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Einführung in das Völkerrecht

0518
2020
978-3-8385-5371-9
978-3-8252-5371-4
UTB 
Stephan Hobe

Das bewährte Standardwerk beschreibt leicht verständlich und umfassend die Neuentwicklungen des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung. Es thematisiert zahlreiche aktuelle Problembereiche wie etwa den virtuellen Raum, die Frage nach dem Zugang zu Rohstoffen und den Umgang mit kolonial erbeuteten Kulturgütern. Zudem hat ein eigenständiges Unterkapitel zum Entwicklungsvölkerrecht Eingang in das Werk gefunden. Neben der durchgehenden Aktualisierung wurden unter anderem die Kapitel über das Recht der internationalen Wirtschaftsordnung, die Menschenrechte, das Völkerstrafrecht oder auch das Umweltvölkerrecht besonders überarbeitet. Großer Wert wurde auf Benutzerfreundlichkeit durch zahlreiche Übersichten, Querverweise und Literaturhinweise gelegt. Der Überprüfung des erworbenen Wissens dienen online zur Verfügung stehende Wiederholungs- und Verständnisfragen, die auf die relevanten Stellen des Lehrbuchs verweisen. Auch eine umfangreiche Liste mit vertiefender Literatur zu den einzelnen Kapiteln ist online einsehbar. "Ein hervorragendes Lehrbuch, welches sich primär an eine im Studium befindliche Leserschar richtet. Aufgrund seines durchdachten, didaktischen Stils kann es auch Nicht-Juristen, die sich mit dem Völkerrecht zu befassen haben, empfohlen werden." HuV | Humanitäres Völkerrecht

<?page no="0"?> Stephan Hobe Einführung in das Völkerrecht Begründet von Otto Kimminich 11. Auflage <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 469 <?page no="2"?> Prof. Dr. Dr. h.c. Stephan Hobe lehrt Völkerrecht, Europarecht, europäisches und internationales Wirtschaftsrecht, Luft- und Weltraumrecht an der Universität zu Köln und ist Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls für Völkerrecht, Europarecht, europäisches und internationales Wirtschaftsrecht. Wiederholungsfragen und vertiefende Literatur verfügbar unter: https: / / www.utb-shop.de/ 9783825253714#zusatzmaterial <?page no="3"?> Stephan Hobe Einführung in das Völkerrecht 11., überarbeitete und aktualisierte Auflage Narr Francke Attempto Verlag Tübingen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Cyclonphoto. Flagge der Vereinten Nationen. © iStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 10., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2014 © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 469 ISBN 978-3-8252-5371-4 (Print) ISBN 978-3-8385-5371-9 (ePDF) <?page no="5"?> Vorwort Später als angestrebt kann nunmehr die 11. Auflage des Lehrbuchs vorgelegt werden. Vielfache Arbeiten haben die Notwendigkeit einer kritischen Durchsicht und Aktualisierung des gesamten Textes verlangsamt. Dennoch soll der Hoffnung Ausdruck verliehen werden, dass sich das besondere Bemühen um Aktualität auch gelohnt hat. Neben den zahlreichen Neuerungen - erwähnt seien etwa die Ausführungen zu Terrorismus, CETA und TTIP sowie zu Entwicklungs- und Kulturvölkerrecht und schließlich den völkerrechtlichen Auswirkungen der Cyberangriffe - wird mit dieser Neuauflage der umfangreiche Literaturapparat aus dem Lehrbuch herausgenommen; er ist in Zukunft allerdings online (https: / / www.utb-shop.de/ 9783825253714#zusatzmaterial) abrufbar. Auf wichtige Einstiegsliteratur wird aber weiterhin im Lehrbuch verwiesen. Dies erschien als gangbarer Kompromiss, der u.a. denjenigen geschuldet ist, die sich näher in die völkerrechtlich relevante Literatur einlesen wollen, weil sie sie z.B. für eine entsprechende wissenschaftliche Bearbeitung benötigen. Dazu ist ein Repetitorium ebenfalls online verfügbar, mit dem die Lektüre des Buches gut wiederholt werden kann. Hier einerseits die wissenschaftliche Integrität des Bandes behalten, andererseits aber Studierenden eine Erfolgskontrolle bezüglich der Lektüre zu vermitteln, war Leitgedanke dieses Versuchs. Weiterhin gilt für den Band, dass die Lektüre der so diversen Bereiche des Völkerrechts Studierende u.a. auch der Nachbarwissenschaften in Stand setzen soll, sich an der Diskussion völkerrechtlicher Probleme zu beteiligen und damit ein Stück von der Faszination dieser Disziplin mitzubekommen. Dank zu sagen ist an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mich bei der Neuauflage unterstützt haben. Da ist in allererster Linie Frau Laura Hughes-Gerber, LL.M., sowie Frau stud. iur. Hanna Keller und Herr Wiss. Mit. Jonathan Badstieber. Großer Dank zu sagen ist ebenfalls wiederum Frau Daniela Scholz für die fehlerfreie Erstellung des Manuskripts. Wer Anregungen für etwaige Verbesserungen hat, kann sich gerne jederzeit an mich per Brief oder E-Mail unter stephan.hobe@uni-koeln.de wenden. Köln, April 2020 Prof. Dr. Dr. h.c. Stephan Hobe <?page no="7"?> Inhalt Vorwort V Abkürzungsverzeichnis XVII Materialien zum Studium des Völkerrechts XXIX 1. Grundlagen 1 1.1 Relevanz des Völkerrechts 1 1.2 Zur theoretischen Einordnung des Völkerrechts 6 1.3 Entfaltung und gegenwärtiger Stand des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung 12 1.3.1 Eingrenzungsprobleme 12 1.3.2 Vorformen des Völkerrechts in der Antike 13 1.3.3 Die abendländische Rechtsgemeinschaft im Mittelalter 15 1.3.4 Das „klassische“ Völkerrecht 20 1.3.5 Das moderne Völkerrecht 26 1.3.5.1 Die Völkerbundsära nach Ende des Ersten Weltkrieges 26 1.3.5.2 Die Ära der Vereinten Nationen nach Ende des Zweiten Weltkriegs 31 1.3.5.3 Völkerrecht im Umbruch: Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts 36 2. Die Völkerrechtssubjektivität 45 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte 49 2.1.1 Der Staat im Völkerrecht - die Elemente des Staatsbegriffs 49 2.1.2 Die Anerkennung 52 2.1.3 Das Staatsgebiet 58 2.1.4 Erwerb und Verlust von Staatsgebiet 62 2.1.5 Das Staatsvolk: Staatsangehörigkeit, Staatenlosigkeit und Fremdenrecht 66 2.1.6 Die Staatsgewalt: Der Grundsatz der Gebietsausschließlichkeit 75 2.1.7 Die Staatensukzession 82 2.1.7.1 Begriff und Bedeutung 82 2.1.7.2 Kodifikationsbestrebungen 84 2.1.7.3 Grundsätze 85 2.1.7.4 Die Wiedervereinigung Deutschlands im Lichte der Regeln über die Staatennachfolge 89 2.1.8 Exkurs: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker 90 2.2 Staatenverbindungen 96 2.2.1 Definitionen 96 <?page no="8"?> VIII Inhalt 2.2.2 Internationale Organisationen 99 2.2.3 Insbesondere: Die Organisation der Vereinten Nationen 102 2.2.3.1 Allgemeines 102 2.2.3.2 Organe 104 2.2.3.3 Sonderorganisationen 109 2.2.3.4 Exkurs: Die Debatte um die Reform der Vereinten Nationen 110 2.2.4 Regionale und supranationale Organisationen 113 2.2.4.1 Der Europarat 114 2.2.4.2 Die North Atlantic Treaty Organization 114 2.2.4.3 Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 115 2.2.4.4 Die Organisation Amerikanischer Staaten 118 2.2.4.5 Die Arabische Liga 118 2.2.4.6 Die Afrikanische Union 118 2.2.4.7 Die Europäische Union 119 2.3 Sonderfälle der Völkerrechtssubjektivität 120 2.3.1 Der Heilige Stuhl 120 2.3.2 Der Souveräne Malteserorden 121 2.3.3 Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz 122 2.4 Andere Rechtsstellungen im Völkerrecht 124 2.4.1 Nichtstaatliche internationale Organisationen 124 2.4.2 Transnationale Unternehmen 127 2.4.3 Das Individuum 129 2.4.4 Völker, Volksgruppen, Minderheiten und indigene Völker 133 2.4.5 Das de facto-Regime, Aufständische und Kriegführende sowie Befreiungsbewegungen 136 3. Völkerrechtsquellen 139 3.1 Allgemeiner Überblick 139 3.2 Verträge 141 3.2.1 Kategorien völkerrechtlicher Verträge 143 3.2.2 Völkerrechtliche Verträge und „Soft Law“ 145 3.3 Völkerrechtliches Recht der Verträge 147 3.3.1 Zustandekommen 148 3.3.1.1 Verhandlungsvollmacht 148 3.3.1.2 Vertragsabschluss und dessen Vorwirkungen 149 3.3.2 Inkrafttreten 152 3.3.3 Wirkung gegenüber Dritten 152 3.3.4 Vorbehalte 154 3.3.4.1 Voraussetzungen 155 3.3.4.2 Rechtsfolgen eines unzulässigen Vorbehalts 157 3.3.4.3 Wirkung von Vorbehalten 158 3.3.5 Interpretation/ Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen 159 3.3.6 Willensmängel und Gewaltanwendung 160 <?page no="9"?> IX Inhalt 3.3.7 Vertragsbruch 161 3.3.8 Vertragsbeendigung 161 3.3.9 Vertragskollision 163 3.3.10 Sonderfall: Vertragsrecht internationaler Organisationen 163 3.4 Gewohnheitsrecht 164 3.4.1 Entstehungsvoraussetzungen 164 3.4.1.1 Objektives Element: Praxis 164 3.4.1.2 Rechtsüberzeugung 166 3.4.1.3 Sog. Persistent Objector-Regel 168 3.4.2 Entwicklungen 168 3.4.3 Geltungsverlust und Änderung 170 3.5 Die allgemeinen Rechtsgrundsätze 171 3.6 Ius cogens und Hierarchie der Rechtsquellen 173 3.7 Hilfsmittel zur Feststellung von Völkerrechtsnormen 178 3.8 Die Kodifikation des Völkerrechts 179 3.9 Die Resolutionen der UN-Organe 181 3.10 Sog. „Soft Law“ 183 3.11 Einseitige Handlungen 186 4. Völkerrecht und innerstaatliches Recht 193 4.1 Die Theorien zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht und ihre praktischen Auswirkungen 193 4.1.1 Die monistische Theorie mit Primat des innerstaatlichen Rechts 193 4.1.2 Die monistische Theorie mit Primat des Völkerrechts 194 4.1.3 Die dualistische Theorie 194 4.1.4 Der gemäßigte Dualismus 194 4.2 Das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 198 4.2.1 Die Bindung an die allgemeinen Regeln des Völkerrechts 198 4.2.2 Die Transformation von Völkervertragsrecht in deutsches Bundesrecht 200 4.2.3 Der Grundsatz der Völker- und Europarechtsfreundlichkeit 202 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen - Gewaltverbot/ Interventionsverbot/ Gegenseitigkeit/ Zusammenarbeit 205 5.1 Das Gewaltverbot als Konkretisierung der Pflicht zur Erhaltung des Weltfriedens 205 5.1.1 Entstehungsgeschichte 205 5.1.2 Anwendungsbereich 207 5.1.3 Ausnahme: Das Selbstverteidigungsrecht 211 5.1.3.1 Geschichte und Entwicklung des Selbstverteidigungsrechts 211 5.1.3.2 Der Tatbestand des Art. 51 UN-Charta 212 5.1.3.3 Grenzen des Art. 51 UN-Charta 213 5.1.3.4 Kollektive Selbstverteidigung 216 <?page no="10"?> X Inhalt 5.1.3.5 Präventive Selbstverteidigung 216 5.1.3.6 Selbsthilfe bei der Rettung eigener Staatsbürger 220 5.1.3.7 Selbstverteidigung gegen terroristische Angriffe 221 5.1.4 Ausnahme: Kollektive Sicherheit 222 5.1.4.1 Das System der kollektiven Sicherheit 223 5.1.4.2 Die Konzeption der UN-Charta 223 5.1.4.3 Humanitäre Intervention mit UN-Autorisierung 229 5.1.5 Weitere Ausnahme: Humanitäre Intervention ohne UN-Mandat? 231 5.1.6 Die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) 232 5.1.7 Anhang: Friedenssicherungsmaßnahmen 233 5.1.7.1 Friedenssicherung durch Friedenstruppen 233 5.1.7.2 Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen in Krisengebieten 238 5.2 Das Interventionsverbot als Konkretisierung des Grundsatzes der souveränen Staatengleichheit 239 5.2.1 Anwendungsbereich und Abgrenzung 240 5.2.2 Das Interventionsverbot im Verhältnis der Vereinten Nationen zu ihren Mitgliedstaaten 242 5.2.3 Weitere Konsequenzen aus dem Grundsatz der souveränen Staatengleichheit 243 5.2.3.1 Bindung an das Völkerrecht 243 5.2.3.2 Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und Konferenzen 243 5.2.3.3 Gerichtsbarkeit anderer Staaten 243 5.2.3.4 Act of State Doctrine 244 5.2.3.5 Insbesondere: Immunitäten 244 5.2.4 Exkurs: Cyberwar als Eingriff in die staatliche Souveränität 247 5.3 Das Prinzip der Gegenseitigkeit 248 5.4 Pflicht der Staaten zur gegenseitigen Zusammenarbeit 250 6. Reaktionen auf die Verletzung des Völkerrechts 255 6.1 Mechanismen des Rechtsvollzugs im Völkerrecht 255 6.1.1 Unilateraler Rechtsvollzug, Retorsion und Gegenmaßnahmen 256 6.1.2 Multilateraler Rechtsvollzug und Sanktionen 257 6.1.3 Rechtsvollzug durch internationale Organisationen und Gerichte sowie kollektive Zwangsmaßnahmen 258 6.2 Völkerrechtliche Verantwortlichkeit und Staatenverantwortlichkeit 259 6.2.1 Zurechnung 262 6.2.2 Verstoß gegen eine Völkerrechtsnorm 265 6.2.3 Rechtswidrigkeit des Völkerrechtsverstoßes 265 6.2.4 Rechtsfolge: Schaden und Wiedergutmachung 266 <?page no="11"?> XI 7. Internationale Rechtsprechung und andere Formen der friedlichen Streitbeilegung 267 7.1 Internationale Gerichtsbarkeit 268 7.1.1 Der Internationale Gerichtshof 269 7.1.2 Internationale Gerichtsbarkeit mit spezieller Zuständigkeit 283 7.1.3 Internationale Gerichte mit regionaler Zuständigkeit 285 7.2 Internationale Schiedsgerichtsbarkeit 287 7.3 Diplomatische Verfahren der friedlichen Streitbeilegung 294 8. Diplomaten- und Konsularrecht 301 8.1 Diplomatenrecht 301 8.1.1 Grundsätze nach der Wiener Diplomatenrechtskonvention 302 8.1.2 Weitergehender Schutz von Diplomaten 310 8.2 Konsularrecht 312 9. Das Recht der internationalen Wirtschaftsordnung 317 9.1 Begriff und Entwicklung 317 9.2 Die Welthandelsordnung im Rahmen der WTO 320 9.2.1 Die normative Basis 320 9.2.2 Die Welthandelsorganisation als internationale Organisation 322 9.2.3 Welthandelsabkommen für Güter (GATT 1994) 326 9.2.3.1 Grundprinzipien und -regeln 326 9.2.3.2 Sonderregelungen für Entwicklungsländer 329 9.2.4 Welthandelsabkommen für Dienstleistungen (GATS) 331 9.2.5 Abkommen über handelsrelevante Aspekte geistiger Eigentumsrechte (TRIPS) 332 9.2.6 Perspektiven 333 9.2.7 Preferential Trade Agreements 334 9.3 Internationales Eigentums- und Investitionsrecht 334 9.3.1 Die Notwendigkeit von Investitionsschutz und dessen Mechanismen 335 9.3.2 Investitionsschutzabkommen 336 9.3.3 Investitionsschiedsgerichtsbarkeit - ICSID 340 9.4 Internationales Währungs- und Finanzrecht 341 9.4.1 Der Internationale Währungsfonds (IWF) 342 9.4.2 Die Weltbank 343 9.4.3 Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich 344 9.4.4 Die G8/ G20 345 9.4.5 Das europäische Währungssystem 346 9.4.6 Internationale Finanzmarktregulierung 346 9.4.7 Staatenfinanzierung und -insolvenz 347 9.4.8 Unternehmensverantwortung und internationales Recht 348 9.5 Entwicklungsvölkerrecht 348 9.5.1 Begriff und Geschichte 349 9.5.2 Wesentliche Grundprinzipien des Entwicklungsvölkerrechts 349 9.5.3 Konkretisierungen im Wirtschaftsvölkerrecht 350 Inhalt <?page no="12"?> XII Inhalt 9.5.4 Regulierung des Rohstoffhandels 350 9.5.5 EU-AKP Assoziierungsabkommen 350 9.5.6 Entwicklungsvölkerrecht und Weltfinanzsystem 351 9.5.7 Menschenrecht auf Entwicklung 351 10. Menschenrechte, Minderheiten- und Flüchtlingsschutz 353 10.1 Die Entwicklung des Grundgedankens des Schutzes der Menschenrechte 353 10.2 Die Systematisierung der Menschenrechte 354 10.3 Internationaler Menschenrechtsschutz auf universeller Ebene 356 10.3.1 Verbürgungen auf universeller Ebene 356 10.3.1.1 Die Charta der Vereinten Nationen 356 10.3.1.2 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 358 10.3.1.3 Beiträge der Generalversammlung und des Wirtschafts- und Sozialrats 359 10.3.1.4 Die Internationalen Menschenrechtspakte 360 10.3.1.5 Weitere universelle Konventionen zum Schutz der Menschenrechte 363 10.3.2 Schutzmechanismen auf universeller Ebene 366 10.3.2.1 Charta-basierte Mechanismen 366 10.3.2.2 Vertrags-basierte Mechanismen 371 10.4 Internationaler Menschenrechtsschutz auf regionaler Ebene 377 10.4.1 Die Europäische Menschenrechtskonvention 377 10.4.2 Die Amerikanische Menschenrechtskonvention 382 10.4.3 Die Afrikanische Charta der Rechte der Menschen und Völker 383 10.4.4 Die Arabische Charta der Menschenrechte 384 10.4.5 Die OSZE-Verpflichtungen 385 10.5 Der internationale Flüchtlingsschutz 386 10.6 Der internationale Minderheitenschutz 390 10.6.1 Minderheitenschutz auf universeller Ebene 391 10.6.2 Minderheitenschutz auf regionaler Ebene 394 10.7 Der Kulturgüterschutz 396 10.8 Kolonial erbeutete Kulturgüter 398 11. Staatengemeinschaftsräume 401 11.1 Völkerrechtliches Seerecht 401 11.1.1 Einführung 401 11.1.2 Historische Entwicklung 401 11.1.3 Hohe See 404 11.1.4 Tiefseeboden 407 11.1.5 Anschlusszone und ausschließliche Wirtschaftszone 409 11.1.6 Festlandsockel 410 11.1.7 Inseln, Archipelstaaten, umschlossene und halbumschlossene Meere sowie Meerengen 411 11.1.8 Binnenstaaten 412 <?page no="13"?> XIII 11.1.9 Schutz der Meeresumwelt 412 11.1.10 Streitbeilegung 414 11.1.11 Rechtsprechung des Internationalen Seegerichtshofs 416 11.2 Die Antarktis 417 11.3 Exkurs: Die Arktis 418 11.4 Der Weltraum 419 11.5 Der virtuelle Raum 428 11.6 Exkurs: Internationales öffentliches Luftrecht 428 12. Internationales Umweltrecht 437 12.1 Begriff und Entwicklung 437 12.1.1 Begriff des Umweltvölkerrechts 437 12.1.2 Historische Entwicklung des Internationalen Umweltrechts 437 12.1.2.1 Entwicklungen im internationalen Nachbarrecht 438 12.1.2.2 Entwicklung im Völkervertragsrecht: Aufschwung des Umweltrechts 440 12.2 Akteure des Umweltvölkerrechts 441 12.2.1 Staaten 441 12.2.2 Internationale Organisationen 442 12.2.3 Nichtregierungsorganisationen 443 12.3 Rechtsquellen 443 12.3.1 Grundsätze des Umweltvölkerrechts 444 12.3.2 Vertragsrecht zum Klimaschutz 452 12.3.3 Vertragsrecht zum Schutz der Artenvielfalt 454 12.4 Rechtsdurchsetzung 456 12.5 Völkerrechtliche Haftung für Umweltschäden 458 12.5.1 Allgemeine Staatenverantwortlichkeit 458 12.5.2 Haftung für rechtmäßiges Verhalten 459 12.5.3 Zivilrechtliche Haftung privater Akteure 460 12.6 Ausstrahlung umweltrechtlicher Regeln in andere Bereiche des Völkerrechts 460 12.6.1 WTO/ GATT 460 12.6.2 Umweltrecht und Entwicklung 461 12.6.3 Umweltrecht und Menschenrechte 462 13. Humanitäres Völkerrecht 463 13.1 Das humanitäre Völkerrecht in der Ordnung des Völkerrechts 464 13.1.1 Geschichtliche Entwicklung 466 13.1.2 Die Quellen des humanitären Völkerrechts 467 13.1.2.1 Humanitär-völkerrechtliche Vertragswerke 467 13.1.2.2 Humanitäres Völkergewohnheitsrecht 472 13.2 „Internationaler“ und „nicht-internationaler“ bewaffneter Konflikt 473 13.3 Humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte 477 13.4 Die Grundprinzipien 480 Inhalt <?page no="14"?> XIV Inhalt 13.4.1 Schutz der Zivilbevölkerung 481 13.4.2 Prinzip der Unterscheidung 482 13.4.3 Proportionalitätsgrundsatz 483 13.4.4 Prinzip der militärischen Notwendigkeit 483 13.4.5 Prinzip der Vermeidung unnötiger Leiden 484 13.4.6 Reziprozität 484 13.5 Schutzpositionen bestimmter Personengruppen 485 13.5.1 Schutz von Kriegsgefangenen 487 13.5.2 Schutz von Zivilpersonen 488 13.5.3 Schutz von Ausländern, Einwohnern besetzter Gebiete und Internierten 489 13.5.4 Exkurs: Schutz von illegalen Kombattanten 490 13.6 Die allgemeinen Regeln der Kriegsführung 492 13.6.1 Kriegsgebiet und Kriegsschauplatz 492 13.6.2 Kriegsverträge 493 13.6.3 Mittel und Methoden der Kriegsführung 494 13.6.3.1 Kampfmittel 494 13.6.3.2 Kampfmethoden 499 13.6.4 Schutz von Kulturgütern und Kultstätten im bewaffneten Konflikt 500 13.6.5 Völkerrechtlicher Umweltschutz im Krieg 501 13.7 Rechtsunterworfene über den Kreis der Staaten hinaus 503 13.7.1 UN-Friedensmissionen 503 13.7.2 Private Militärfirmen in bewaffneten Konflikten 504 13.8 Die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts 506 13.9 Die Neutralität 508 14. Völkerstrafrecht 511 14.1 Einführung 511 14.2 Aufbau des IStGH-Statuts 513 14.3 Der Aufbau eines völkerrechtlichen Straftatbestandes 513 14.3.1 Täterschaft 514 14.3.1.1 Unmittelbare Täterschaft 514 14.3.1.2 Mittäterschaft 514 14.3.1.3 Mittelbare Täterschaft 515 14.3.2 Teilnahme 516 14.3.2.1 Veranlassen fremder Straftaten 516 14.3.2.2 Beihilfe 517 14.3.3 Kausalität 517 14.3.4 Der subjektive Tatbestand 517 14.4 Die einzelnen Tatbestände 518 14.4.1 Genozid (Art. 6) 518 14.4.1.1 Der objektive Tatbestand 519 14.4.1.2 Der subjektive Tatbestand 520 14.4.2 Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7) 522 <?page no="15"?> XV 14.4.2.1 Objektiver Tatbestand 522 14.4.2.2 Bemerkungen zu den einzelnen Merkmalen 523 14.4.2.3 Subjektiver Tatbestand 524 14.5 Kriegsverbrechen (Art. 8) 524 14.5.1 Objektiver Tatbestand 525 14.5.1.1 Bewaffneter Konflikt 525 14.5.1.2 Der Zusammenhang zwischen dem bewaffneten Konflikt und den Einzeltaten 526 14.5.1.3 Geschützte Personen 526 14.5.1.4 Die einzelnen Handlungen 526 14.5.2 Subjektiver Tatbestand 528 14.6 Das Verbrechen der Aggression (Art. 8 bis) 528 14.6.1 Objektiver Tatbestand 529 14.6.2 Die relevanten Handlungen 530 14.6.3 Gewohnheitsrechtliche Geltung 530 14.7 „Circumstances precluding wrongfulness“ 530 14.7.1 Die Notwehr und der Notstand 530 14.7.2 Das Handeln auf Befehl 532 14.7.3 Seelische Krankheit oder Störung sowie Rauschzustand 532 14.7.4 Irrtümer 533 14.8 Immunität 534 15. Wichtige Fälle der internationalen Rechtsprechung 535 15.1 Ständiger Internationaler Gerichtshof (StIGH) und Schiedsgerichtsverfahren 535 15.1.1 Chorzów Factory-Fall 535 15.1.2 Lotus-Fall 536 15.1.3 Island of Palmas-Fall 536 15.1.4 Trail Smelter-Fall 537 15.2 Internationaler Gerichtshof (IGH) 538 15.2.1 Korfu Kanal-Fall 538 15.2.2 Reparations for Injuries-Gutachten 539 15.2.3 Haya de la Torre-Fälle (Asyl-Fälle) 540 15.2.4 Völkermordkonventions-Gutachten 540 15.2.5 Nottebohm-Fall 541 15.2.6 Temple of Preah Vihear-Fall 542 15.2.7 Certain Expenses-Gutachten 543 15.2.8 Nordsee-Festlandsockel-Fälle 544 15.2.9 Barcelona Traction-Fall 544 15.2.10 Westsahara-Gutachten 546 15.2.11 Teheraner Geisel-Fall 546 15.2.12 Nicaragua-Fall 547 15.2.13 Lockerbie-Fall 548 15.2.14 Atomwaffen-Gutachten 549 Inhalt <?page no="16"?> XVI Inhalt 15.2.15 Gabčíkovo-Nagymaros-Fall 550 15.2.16 LaGrand-Fall 551 15.2.17 Arrest Warrant-Fall 552 15.2.18 Sperrmauer-Gutachten 554 15.2.19 Demokratische Republik Kongo gegen Uganda 555 15.2.20 Genozid-Fall 556 15.2.21 Costa Rica v. Nicaragua 558 15.2.22 Pulp Mills on the River Uruguay (Argentinien gegen Uruguay) 559 15.2.23 Kosovo-Gutachten 560 15.2.24 Staatenimmunitäts-Fall 561 15.2.25 Whaling in the Antarctic-Fall 562 15.3 International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) 563 Tadić-Fall 563 15.4 Anhang: Übungsfälle aus Ausbildungszeitschriften 564 Sach- und Personenregister 571 <?page no="17"?> Abkürzungsverzeichnis A. Auflage a.A. andere(r) Ansicht a.a.O. am angegebenen Ort a.E. am Ende a.F. alte Fassung AAA Schriftenreihe der Deutschen Gruppe der Association des Auditeurs et Anciens Auditeurs de l’Académie de Droit International de La Haye AASL Annals of Air and Space Law abgedr. abgedruckt ABl. Amtsblatt Abs. Absatz Abschn. Abschnitt Add. Addendum ADMA Annuaire de Droit Maritime et Aérien AEMR Allgemeine Erklärung der Menschenrechte AFDI Annuaire Français de Droit International AfrHRLJ African Human Rights Law Journal AfrJICL African Journal of International and Comparative Law AJCL American Journal of Comparative Law AJIL American Journal of International Law AJPIL Austrian Journal of Public International Law AKP-Staaten Staaten des afrikanischen, karibischen und pazifischen Raums AMRK Amerikanische Menschenrechtskonvention ANC Afrikanischer Nationalkongress Anm. Anmerkung AnnIDI Annuaire de l’Institut de Droit International AöR Archiv des öffentlichen Rechts APSR The American Political Science Review APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte ARIEL Austrian Review of International and European Law ArizJICL Arizona Journal of International and Comparative Law ARSP Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Art. Artikel ASIL American Society of International Law AU Afrikanische Union AußPol. Außenpolitik AustQ Australian Quarterly AustrYIL Australian Yearbook of International Law AVR Archiv des Völkerrechts BayVBl. Bayerische Verwaltungsblätter Bd. Band <?page no="18"?> XVIII Abkürzungsverzeichnis Bde. Bände BDGIR Berichte der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht BDGVR Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht begr. begründet BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BIA Bilateral Impunity Agreement BITs Bilateral Investment Treaties Bost Col ICLR Boston College International and Comparative Law Review BRIC Brasilien, Russland, Indien, China Bsp. Beispiel bspw. beispielsweise BUILJ Boston University International Law Journal Bull. BReg. Bulletin der Bundesregierung BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerwGE Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts BYIL British Yearbook of International Law bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise ca. circa CantaLR Canterbury Law Review CAT Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment CCZ Corporate Compliance Zeitschrift CEDAW Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women CERD Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination ChiJIL Chicago Journal of International Law CHR Commission on Human Rights (UN-Menschenrechtskommission) CLF Criminal Law Forum CMLR Common Market Law Review ColJTL Columbia Journal of Transnational Law ColumLRev Columbia Law Review COPUOS Committee on the Peaceful Uses of Outer Space (Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums) CornILJ Cornell International Law Journal CRAMRA Convention on the Regulation of Antarctic Mineral Resource Activities (Entwurf einer Konvention über die Regelung der antarktischen Bergbautätigkeiten, auch Wellington-Konvention) CRC Convention on the Rights of the Child CSR Corporate Social Responsibility CYIL Canadian Yearbook of International Law d.h. das heißt DA Deutschland-Archiv DenverJILP Denver Journal of International Law and Policy ders. derselbe dies. dieselbe <?page no="19"?> XIX Abkürzungsverzeichnis Diss. Dissertation DJIL Dickinson Journal of International Law DÖV Die öffentliche Verwaltung DPM Die politische Meinung DRiZ Deutsche Richterzeitung DRK Deutsches Rotes Kreuz DSB Dispute Settlement Body DSU Dispute Settlement Understanding dt. deutsch DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt EA Europa-Archiv EAG Europäische Atomgemeinschaft ECOSOC Economic and Social Council (Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen) ECSL European Centre for Space Law Ed. Edition EFTA European Free Trade Association EG(en) Europäische Gemeinschaft(en) EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EHRLR European Human Rights Law Review EJIL European Journal of International Law ELRep European Law Reporter ELRev European Law Review EMRK Europäische Menschenrechtskonvention engl. englisch ENMOD-Konvention Übereinkommen über das Verbot der militärischen oder einer sonstigen feindseligen Nutzung umweltverändernder Techniken EPIL Encyclopedia of Public International Law EPZ Europäische politische Zusammenarbeit ESA European Space Agency (Europäische Weltraumagentur) et al. et alii/ et aliae ETS European Treaty Series EU Europäische Union EuG Europäisches Gericht erster Instanz EuGH Europäischer Gerichtshof EuGRZ Europäische Grundrechte-Zeitschrift Euratom Europäische Atomgemeinschaft EuWehrk Europäische Wehrkunde EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht evtl. eventuell EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWS Europäisches Währungssystem <?page no="20"?> XX Abkürzungsverzeichnis f. folgende FA Foreign Affairs FamRZ Zeitschrift für das gesamte Familienrecht FAO Food and Agricultural Organization of the United Nations F.A.Z. Frankfurter Allgemeine Zeitung ff. fortfolgende FloridaJIL Florida Journal of International Law Fn. Fußnote FordhamILF Fordham International Law Forum FordhamILJ Fordham International Law Journal FordhamLRev Fordham Law Review FS Festschrift FW Die Friedenswarte FYBIL The Finnish Yearbook of International Law GA Genfer Abkommen GAOR General Assembly Official Records GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GATS General Agreement on Trade in Services (Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen) GATT General Agreement on Tariffs and Trade (Allgemeines Zoll- und Handelsübereinkommen) GEF Global Environment Facility (Globale Umweltfazilität) gem. gemäß ggf. gegebenenfalls GJICL Georgia Journal of International Comparative Law GoJIL Göttingen Journal of International Law GPA Government Procurement Agreement (Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen) GS Gedächtnisschrift GSP Generalized System of Preferences GUS Gemeinschaft Unabhängiger Staaten GWILR Geroge Washington International Law Review GYIL German Yearbook of International Law (bis 1976 Jahrbuch für Internationales Recht) h.M. herrschende Meinung HamlineLRev Hamline Law Review HarvHRJ Harvard Human Rights Journal HarvILJ Harvard International Law Journal HdS Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Hg. Herausgeber HICLR Hastings International and Comparative Law Review HJJ Hague Jutsice Journal HLKO Haager Landkriegsordnung HousJIL Houston Journal of International Law HRC Human Rights Committee (UN-Menschenrechtsausschuss) HRLJ Human Rights Law Journal HRQ Human Rights Quarterly <?page no="21"?> XXI HStR Handbuch des Staatsrechts HuV-I Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften i.d.R. in der Regel i.E. im Erscheinen i.S.v. im Sinne von i.V.m. in Verbindung mit IA International Affairs IAEA International Atomic Energy Agency (Internationale Atomenergie-Agentur) IBRD International Bank for Reconstruction and Development (Weltbank) ICAO International Civil Aviation Organization (Internationale Zivilluftfahrtorganisation) ICC International Criminal Court ICCPR International Covenant on Civil and Political Rights ICESC International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights ICJ International Court of Justice ICLQ International and Comparative Law Quarterly ICRC International Committee of the Red Cross ICSID International Center for the Settlement of Investment Disputes ICSIDRev ICSID Review ICTR International Criminal Tribunal for Rwanda ICTY International Criminal Tribunal for the Former Yugoslawia IDA International Development Association IDPs internationally displaced persons IFC International Finance Corporation (Internationale Finanz-Korporation) IFOR International Security Assistance Force IGH Internationaler Gerichtshof IISL International Institute of Space Law IJ International Journal IJGLS Indiana Journal of Global Legal Studies IJIL Indian Journal of International Law IKRK Internationales Komitee vom Roten Kreuz ILA International Law Association ILC International Law Commission ILM International Legal Materials ILO International Labour Organization (Internationale Arbeitsorganisation) ILQ International Law Quarterly ILR International Law Reports IMCO International Maritime Consultative Organization (Zwischenstaatliche Beratende Seeschifffahrtsorganisation) IMF International Monetary Fund (Internationaler Währungsfonds, IWF) IMO International Maritime Organisation (früher IMCO) IMSO International Mobile Satellite Organization IMT International Military Tribunal (Nürnberger Militartribunal) IMTFE International Military Tribunal for the Far East (Tokioter Militärtribunal) Inf.z.Raumentw. Informationen zur Raumentwicklung INMARSAT Internationale Seefunksatellitenorganisation Abkürzungsverzeichnis <?page no="22"?> XXII Abkürzungsverzeichnis insb. insbesondere INTELSAT International Telecommunications Satellite Organisation (Internationale Fernmeldesatellitenorganisation) IntJbPol Internationales Jahrbuch der Politik IntStud International Studies IO International Organization IP Internationale Politik IPbürgR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte IPRax Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts IPwirtR Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte IR International Relations Iran-U.S.C.T.R. Iran-US Claims Tribunal Reports IRO International Refugee Organization (Internationale Flüchtlingsorganisation) IRRC International Review of the Red Cross IRuD Internationales Recht und Diplomatie IS Islamischer Staat ISAF International Security Assisctance Force ISeeGH Internationaler Seegerichtshof ISIL Islamic State of Iraq and the Levant IsraelLRev Israel Law Review IsraelYBHR Israel Yearbook of Human Rights ISS International Space Station (Internationale Raumstation) IStGH Internationaler Strafgerichtshof ItalYBIL Italian Yearbook of International Law ITLOS International Tribunal for the Law of the Sea ITSO International Telecommunications Satellite Organization ITU International Telecommunication Union (Internationale Fernmeldeunion) IWF Internationaler Währungsfonds (International Monetary Fund, IMF) JA Juristische Arbeitsblätter JAIL Japanese Annual of International Law JBl. Juristische Blätter JDI Journal de Droit International (Clunet) JfIR Jahrbuch für internationales Recht (seit 1977 German Yearbook of International Law) JIA Journal of International Affairs JIBL Journal of International Business and Law JICJ Journal of International Criminal Justice JIEL Journal of International Economic Law JILP Journal of Law and Politics JOR Jahrbuch für Ostrecht JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts JPR Journal of Peace Research JR Juristische Rundschau JSpaceL Journal of Space Law Jura Juristische Ausbildung JuS Juristische Schulung <?page no="23"?> XXIII JWT Journal of World Trade JYIL Japanese Yearbook of International Law JZ Juristenzeitung Kap. Kapitel KFOR Kosovo Force Konv. Konvention KSZE Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa LAS League of Arab States lit. litera LJIL Leiden Journal of International Law LNTS League of Nations Treaty Series m.w.N. mit weiteren Nachweisen MAI Multilaterales Abkommen für Investitionen MARPOL Internationales Übereinkommen zur Verhütung von Meeresverschmutzung durch Schiffe McGillLJ McGill Law Journal MDR Monatsschrift für Deutsches Recht MEJ The Middle East Journal MichJIL Michigan Journal of International Law MichLR Michigan Law Review MIGA Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur MJIL Melbourne Journal of International Law MPUNYB Max Planck Yearbook of United Nations Law MR Menschenrechte MVDA Monatsschrift der Vereinigung deutscher Auslandsbeamter NAFTA North American Free Trade Agreement NGO Nongovernmental Organization (Nichtregierungsorganisation) NILR Netherlands International Law Review NJ Neue Justiz NJW Neue Juristische Wochenschrift No. Number (Nummer) NorJIL Nordic Journal of International Law NorTIR Nordisk Tidsskrift for International Ret Nos Numbers NPS Nuclear Power Sources NPT Non-Proliferation Treaty (Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen) NQHR Netherlands Quarterly of Human Rights Nr. Nummer NTIR Nederlands Tijdschrift voor International Recht NuR Natur und Recht NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NYIL Netherlands Yearbook of International Law NYUJILP New York University Journal of International Law and Politics Abkürzungsverzeichnis <?page no="24"?> XXIV Abkürzungsverzeichnis NZWehrR Neue Zeitschrift für Wehrrecht o.g. oben genannte(r) OAS Organization of American States (Organisation Amerikanischer Staaten) OAU Organization of African Unity (Organisation für die Afrikanische Einheit) OECD Organisation for Economic Cooperation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Nachfolgeorganisation der OEEC) OEEC Organisation for European Economic Cooperation (jetzt OECD) ÖJZ Österreichische Juristenzeitung ÖMZ Österreichische Militär-Zeitschrift OPCW Organisation für das Verbot chemischer Waffen OstEurR Osteuropa-Recht OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ÖV Öffentliche Verwaltung ÖZAP Österreichische Zeitung für Außenpolitik ÖZöR Österreichische Zeitung für öffentliches Recht ÖZöRV Österreichische Zeitung für öffentliches Recht und Völkerrecht ÖZPW Österreichische Zeitung für Politikwissenschaft para. Paragraf PASIL Proceedings of the American Society of International Law PCA Permanent Court of Arbitration (Ständiger Schiedshof) PCIJ Permanent Court of International Justice PLO Palästinensische Befreiungsorganisation PolYIL The Polish Yearbook of International Law Proc. Proceedings Protokoll I siehe ZP I Protokoll II siehe ZP II PSQ Political Science Quarterly PTAs Preferential Trade Agreements PVS Politische Vierteljahresschrift RabelsZ Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (begr. von Rabel) RBDI Révue Belge de Droit International RCDIP Révue Critique de Droit International Privé RdC Recueil des Cours RDH Révue de Droit de l’Homme = Human Rights Journal RDI Révue de Droit International, de Sciences Diplomatiques et Politiques (Sottile) RDIDC Révue de Droit International et de Droit Comparé RDPMG Révue de Droit Pénal Militaire et de Droit de la Guerre Res. Resolution RevICL Review of the International Commission of Jurists RGBl. Reichsgesetzblatt RGDIP Révue Générale de Droit International Public RHDI Révue Hellénique de Droit International RIAA Reports of International Arbitral Awards <?page no="25"?> XXV RICR Révue Internationale de la Croix Rouge RID Rechtswissenschaftlicher Informationsdienst RIW Recht der Internationalen Wirtschaft RJIA Romanian Journal of International Affairs Rn. Randnummer ROP Review of Politics ROW Recht in Ost und West RPE Rules of Procedure and Evidence Rspr. Rechtsprechung RTD Civ Révue Trimestrielle Droit Civil RTDC Révue Trimestrielle de Droit Commercial RuP Recht und Politik S. Satz s.a. siehe auch SAYIL South African Yearbook of International Law SchweizJIR Schweizerisches Jahrbuch für Internationales Recht SCSL Special Court für Sierra Leone ser. series (Serie) SIULJ Southern Illinois University Law Journal SJCRCL Stanford Journal of Civil Rights & Civil Liberties Slg. Sammlung sog. so genannt(e) spez. speziell SRÜ Seerechtsübereinkommen StanfordJIL Stanford Journal of International Law stg. ständige StGB Strafgesetzbuch StIGH Ständiger Internationaler Gerichtshof str. streitig StV Der Strafverteidiger SZIER Schweizerische Zeitschrift für Internationales und Europäisches Recht SZR Sonderziehungsrecht(e) TBT Technical Barriers to Trade Agreement TILJ Texas International Law Journal TNCs Transnational Corporations TPRM Trade Policy Review Mechanism (handelspolitischer Prüfungsmechanismus) TRIMs Übereinkommen über handelsbezogene Investitionsmaßnahmen TRIPS Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums) u. und u.a. unter anderem; und andere(s) UIA Union of International Associations ULR Uniform Law Review UN United Nations Abkürzungsverzeichnis <?page no="26"?> XXVI Abkürzungsverzeichnis UNCC United Nations Compensation Commission UNCED United Nations Conference on Environment and Development (Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung) UN-Charta Charta der Vereinten Nationen UNCITRAL UN Commission on International Trade Law (Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht) UNCLOS III United Nations Conference on the Law of the Sea (3. Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen) UNCTAD United Nations Conference on Trade and Development UNDP United Nations Development Programme UNECE United Nations Economic Commission for Europe (Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa) UNEP United Nations Environment Programme (Umweltprogramm der Vereinten Nationen) UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) UNGA United Nations General Assembly UNHCHR United Nations High Commissioner for Human Rights UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees UNIDO United Nations Industrial Development Organization UNO United Nations Organization UNRWA United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East UNTS United Nation Treaty Series UPR Umwelt- und Planungsrecht UPU Universal Postal Union (Weltpostverein) usw. und so weiter VBS Völkerbundsatzung VG Verwaltungsgericht vgl. vergleiche VJIL Virginia Journal of International Law VJTL Vanderbilt Journal of Transnational Law VN Zeitschrift für die Vereinten Nationen VO (EG-)Verordnung VR Verwaltungsrundschau VROW Völkerrecht in Ost und West VRÜ Verfassung und Recht in Übersee VStGB Völkerstrafgesetzbuch VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer WHO World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation) WIPO World Intellectual Property Organization WisILJ Wisconsin International Law Journal WissR Wissenschaftsrecht WMO World Meteorological Organization (Weltorganisation für Meteorologie) WTO World Trade Organisation (Welthandelsorganisation) WÜD Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen WÜK Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen <?page no="27"?> XXVII WVK Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge WVR Wörterbuch des Völkerrechts WWR Wehrwissenschaftliche Rundschau YaleJIL Yale Journal of International Law YBWA The Yearbook of World Affairs YIEL Yearbook of International Environmental Law YIHL Yearbook of International Humanitarian Law z.B. zum Beispiel ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZAR Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik ZEuS Zeitschrift für Europarechtliche Studien ZfG Zeitschrift für Gesetzgebung ZfO Zeitschrift für Ostforschung ZfP Zeitschrift für Politik Ziff. Ziffer(n) ZJS Zeitschrift für das juristische Studium ZLR Zeitschrift für Luftrecht ZLRW Zeitschrift für Luftrecht und Weltraumrechtsfragen ZLW Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht ZÖR Zeitschrift für öffentliches Recht ZP I Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte ZP II Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZStW Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft ZVglRWiss Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft ZUM Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht ZUR Zeitschrift für Umweltrecht ZVR Zeitschrift für Völkerrecht zzt. zurzeit Abkürzungsverzeichnis <?page no="29"?> Materialien zum Studium des Völkerrechts Einführende Literatur: Horn, Lutz, Hinweise für die Bearbeitung völkerrechtlicher Hausarbeiten und Klausuren, JuS 32 (1992), 1025ff.; Menzel, Eberhard, Grundprobleme der Ermittlung, Anwendung und Geltung von Normen des Völkerrechts, JuS 3 (1963), 41ff. Die Studierenden werden im Völkerrecht mit einer besonderen Quellenlage konfrontiert, welche die Recherche nach einschlägigen völkerrechtlichen Verträgen für das Studium vor eine besondere Herausforderung stellt. Nachfolgend sollen nun einige hierfür besonders wichtige Hilfsmittel vorgestellt werden. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass das vorliegende Studienbuch sich an den geltenden juristischen Prüfungsordnungen orientiert und daher so angelegt ist, dass zur Vorbereitung auf eine Prüfung im Völkerrecht - sei es an einer juristischen oder an einer philosophischen bzw. wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät - neben den einschlägigen „Gesetzestexten“ (Vertragssammlungen) keine weiteren Hilfsmittel erforderlich sind. Während Spezialgebiete betreffende Sammlungen in den folgenden Kapiteln am Ende der entsprechenden Abschnitte genannt werden, sind als handliche deutschsprachige Vertragssammlungen allgemeiner Art neben der Sammlung des Sartorius II - Internationale Verträge/ Europarecht, auf die regelmäßig für die in diesem Buch behandelten völkerrechtlichen Verträge hingewiesen wird, zu nennen: Randelzhofer, Albrecht/ Dörr, Oliver (Hg.), Völkerrechtliche Verträge, 15. A., München 2019. Schwartmann, Rolf (Hg.), Völker- und Europarecht, 11. A., Heidelberg 2018. Tomuschat, Christian/ Walter, Christian (Hg.), Völkerrecht, 8. A., Baden-Baden 2018. Für diejenigen, die Völkerrecht als Schwerpunkt studieren oder aus einem anderen Grunde tiefer in die Materie eindringen wollen, wird im Rahmen eines vom Verlag zur Verfügung gestellten Literaturverzeichnisses (https: / / www.utb-shop.de/ 9783825253714#zusatzmaterial) für jeden Abschnitt auf weiterführende Literatur hingewiesen. Die gängigsten allgemeinen Darstellungen aus neuerer Zeit finden sich in der folgenden Liste: Insbesondere in der angloamerikanischen Ausbildung findet man häufig Textbücher, in denen das Völkerrecht weitestgehend anhand von Urteilsauszügen und sonstigen Dokumenten besprochen wird: Harris, David J., Cases and Materials on International Law, 8.-A., London 2015. Heinze, Eric/ Fitzmaurice, Malgosia, Landmark Cases in Public International Law, Dordrecht 1998. Müller, Jörg Paul/ Wildhaber, Luzius, Praxis des Völkerrechts, 3.-A., Bern 2001. Reisman, W.Michael (Hg.), International Law in Contemporary Perspective. Casebook, 2.- A., Mineola/ New York 2004. Als Nachschlagewerke, die in alphabetischer Reihenfolge Einzelthemen des Völkerrechts besprechen, seien insbesondere genannt: Bernhardt, Rudolf (Hg.), Encyclopedia of Public International Law (EPIL), 5. A., Amsterdam u.-a. 1992ff. <?page no="30"?> XXX Materialien zum Studium des Völkerrechts Salmon, Jean (Hg.), Dictionnaire de droit international public, Brüssel 2001. Schoebener, Burkhard (Hg.), Völkerrecht-Lexikon, Heidelberg 2014. Seidl-Hohenveldern, Ignaz (Hg.), Lexikon des Rechts - Völkerrecht, 3.-A., Neuwied/ Kriftel 2001. Strupp, Karl/ Schlochauer, Hans-Jürgen (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Berlin 1960. Wolfrum, Rüdiger (Hg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (MPEPIL), Oxford 2013 oder online (www.mpepil.com). Für Studierende aufbereitete Falllösungen können entweder direkt an völkerrechtlichen Entscheidungen internationaler Gerichte orientiert oder zu didaktischen Zwecken kreiert sein. An entsprechenden Büchern 1 im deutschen Sprachraum sind zu nennen: Blumenwitz, Dieter/ Breuer, Marten, Fälle und Lösungen zum Völkerrecht, 2.-A., Stuttgart 2005. Czarnecki, Ralph/ Lenski, Edgar, Fallrepetitorium Völkerrecht, 2.-A., Heidelberg 2007. Kempen, Bernhard/ Hillgruber, Christian, Fälle zum Völkerrecht, 2. A., München 2012. Kunig, Philip/ Uerpmann-Wittzack, Robert, Übungen im Völkerrecht, 2.-A., Berlin 2006. Schmidt-Jortzig, Edzard/ Schliesky, Utz, 40 Klausuren aus dem Staats- und Völkerrecht, 6.-A., Frankfurt-a.M. 2002. von Arnauld, Andreas, Klausurenkurs im Völkerrecht, 3. A., Heidelberg 2018. Weiß, Wolfgang, Fälle mit Lösungen aus dem Europa- und Völkerrecht. Examensfälle, 2.-A., Neuwied/ Kriftel 2005. Studierende des Völkerrechts, die anhand von Originalfällen tiefer in die Materie eindringen wollen, sind auf Entscheidungssammlungen angewiesen. Während die internationale Gerichtsbarkeit über lange Zeit nicht sehr umfangreich war, nimmt die Zahl der internationalen Judikate nunmehr stetig zu. An wichtigen internationalen Entscheidungssammlungen sind vor allem die des Ständigen Internationalen Gerichtshofs (PCIJ Series) und des Internationalen Gerichtshofs (ICJ Reports) 2 zu nennen; Entscheidungen internationaler Schiedsgerichte findet man in den Reports of International Arbitral Awards (RIAA). 3 Jedoch muss berücksichtigt werden, dass Völkerrecht häufig auch von innerstaatlichen Gerichten und Behörden anzuwenden ist. Ein überaus wertvolles Hilfsmittel sind daher diejenigen Fall- und Entscheidungssammlungen, in denen die völkerrechtliche Praxis eines bestimmten Staates oder verschiedener Staaten aufgezeigt wird. Für Deutschland geschieht dies in der Reihe fontes iuris gentium, die von Viktor Bruns begründet und von 1931 bis 1945 vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Völkerrecht herausgegeben wurde. Seither wird diese Tradition vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg fortgeführt. In der Serie A sectio I sind die Entscheidungen des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, des Ständigen Schieds- 1 Für in JA, Jura und JuS abgedruckte Übungsfälle siehe unten Kap. 15. 2 Eine hervorragende Zusammenstellung der wichtigsten Urteile und Gutachten von StIGH und IGH mit sehr instruktiven Einführungen in die Fälle findet sich bei O. Dörr, Kompendium völkerrechtlicher Rechtsprechung, 2. A., 2014. 3 Zur Arbeit der jeweiligen Gerichte kann auch auf verschiedene Tätigkeitsberichte etwa im GYIL oder dem LJIL hingewiesen werden. <?page no="31"?> XXXI Materialien zum Studium des Völkerrechts gerichtshofs und des Internationalen Gerichtshofs veröffentlicht (siehe hierzu unten Kap. 7). Die Serie A sectio II enthält unter dem Titel „Rechtsprechung der höchsten Gerichte der Bundesrepublik Deutschland in völkerrechtlichen Fragen“ die völkerrechtlich relevanten Entscheidungen des deutschen Reichsgerichts und nach dem zweiten Weltkrieg die völkerrechtliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesgerichtshofs und anderer oberer Gerichte. Die Serie ist 1990 eingestellt worden. Der letzte Band umfasst die Rechtsprechung von 1976 bis 1985. Seit 1986 wird diese Serie unter dem Titel „Max-Planck-Institut (Hg.): Deutsche Rechtsprechung zum Völkerrecht und Europarecht“ fortgeführt. Für die Entscheidungen des IGH wird die Veröffentlichung fortgesetzt in der Reihe „World Court Digest“, in der bisher drei Bände (für die Jahre 1986-2000) erschienen sind. Ebenso wichtig sind für Studierende des Völkerrechts die Vertragssammlungen. Jede völkerrechtliche Bibliothek enthält die Vertragssammlungen des Völkerbunds und der Organisation der Vereinten Nationen. Beide Weltorganisationen machten und machen es ihren Mitgliedern zur Pflicht, alle von ihnen mit anderen Völkerrechtssubjekten abgeschlossenen Verträge beim Sekretariat der Weltorganisation zu registrieren. Das Sekretariat des Völkerbunds veröffentlichte in den Jahren 1920 bis 1946 insgesamt 205 Textbände unter der Bezeichnung League of Nations Treaty Series (LNTS). Die Vereinten Nationen begannen 1946 mit der Publikation der United Nations Treaty Series (UNTS). Die Sammlung wird fortgesetzt. Beide Serien sind online unter http: / / treaties. un.org/ Pages/ LONOnline.aspx oder http: / / treaties.un.org/ abrufbar. Für die Zeit von 1761 bis 1944 enthält der Recueil Martens die wichtigsten Verträge, von denen manche noch heute gelten. Die Sammlung wurde von dem Göttinger Völkerrechtler Georg Friedrich von Martens begründet und später unter wechselndem Namen herausgegeben. Der erste Teil (für die Zeit von 1761 bis 1801) trägt den Titel Recueil des principaux traités; enthält eine Ergänzung bis zum Jahre 1807 sowie einige Verträge aus der Zeit vor 1761 und erschien in vier Bänden als Supplément au recueil. Für die Zeit von 1817 bis 1842 erschienen 16 Bände unter dem Titel Nouveau recueil de traités mit drei Ergänzungsbänden (Nouveaux suppléments) für die Zeit von 1834 bis 1842. Bis 1875 erschienen 20 Bände unter dem Titel Nouveau recueil de traités, für die Zeit von 1876 bis 1908 35 Textbände und ein Registerband (Nouveau recueil général de traités, e série) und schließlich für die Zeit von 1909 bis 1944 weitere 41 Bände (Nouveau recueil général de traités, e série), herausgegeben von Heinrich Triepel. In englischer Sprache ist erschienen: Perry, Clive (Hg.), Consolidated Treaty Series -, 231 Textbände und 15 Indexbände, Dobbs Ferry, NY 1969/ 1985. Sehr hilfreich ist auch der chronologisch geordnete Fundstellennachweis von Wiktor, Christian L., Multilateral Treaty Calendar, Den Haag 1998, für alle multilateralen Verträge weltweit von 1648-1995. Die völkerrechtlichen Verträge der Bundesrepublik Deutschland werden nach ihrer innerstaatlichen Inkraftsetzung (hierzu unten Kap. 4.2) im Bundesgesetzblatt Teil II veröffentlicht. Frühere Verträge finden sich im Reichsgesetzblatt (ab 1922 in Teil II) und im Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes. Darüber hinaus gibt das Auswärtige Amt die Reihe „Verträge der Bundesrepublik Deutschland“ heraus. Einer ähnlichen Praxis bedienen sich die meisten anderen Staaten. <?page no="32"?> XXXII Materialien zum Studium des Völkerrechts In englischer Sprache werden völkerrechtliche Dokumente wie etwa Vertragstexte, aber auch Entscheidungen und Dokumente zur Staatenpraxis zuverlässig und rasch zugänglich gemacht durch das als Beiheft zum American Journal of International Law erscheinende Dokumentarwerk der International Legal Materials (ILM), Washington 1962ff., sowie durch die britischen International Law Reports (ILR) und Lauterpacht, Elihu (Hg.), Fortsetzung der Reihe Annual Digest and Reports of Public International Law Cases, London 1932ff. An wichtigen völkerrechtlichen Zeitschriften und Jahrbüchern, die für eine vertiefte Befassung mit der Materie unverzichtbar sind, sind etwa zu nennen: ▶ Annuaire Francais de Droit International (AFDI), ▶ American Journal of International Law (AJIL), ▶ Archiv des Völkerrechts (AVR), ▶ British Yearbook of International Law (BYIL), ▶ Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ), ▶ European Journal of International Law (EJIL), ▶ German Yearbook of International Law (GYIL), ▶ International and Comparative Law Quarterly (ICLQ), ▶ Leiden Journal of International Law (LJIL), ▶ Révue Générale de Droit International Public (RGDIP), ▶ Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV). 4 Daneben ist auf die Sammlung der Vorlesungen an der Haager Akademie für internationales Recht aufmerksam zu machen, die unter dem Titel Recueil des Cours veröffentlicht wird; im August 2019 lagen 398 Bände vor. An der Haager Akademie werden neben der völkerrechtlichen Hauptvorlesung alljährlich Vorlesungen über Spezialprobleme gehalten, so dass die Publikation nicht nur über die allgemeine Entwicklung des Völkerrechts seit der Zeit der Gründung der Akademie im Jahre 1923 Aufschluss gibt, sondern auch eine Fundgrube für alle Arten von Spezialmonographien darstellt. Am Schluss des Sommerkurses besteht nach Ablegung einer Prüfung die Möglichkeit des Erwerbs eines Diploms. 5 4 Viele Zeitschriften bieten enthaltene Beiträge auch im Internet im Volltext an. 5 Siehe hierzu auch S. Roche, Hague Academy of International Law - Sommerkurs im Völkerrecht, Jura 11 (1989), 279f. Weitere ebenfalls sehr renommierte Sommerkurse mit wechselnder Thematik sind z.-B. die des Europäischen Hochschulinstitutes in Florenz sowie die der Universitäten von Helsinki und Thessaloniki. <?page no="33"?> XXXIII An dieser Stelle noch ein weiterer Hinweis: Für jeden, der sich näher mit dem Völkerrecht befassen will, wird es sich über kurz oder lang als unerlässlich erweisen, mit dem bei Originaldokumenten verwendeten System der von internationalen Organisationen benutzten Abkürzungen, insbesondere dem System der Vereinten Nationen vertraut zu werden. Über Letzteres soll nachfolgend ein kurzer Überblick gegeben werden. 6 Dabei muss zum einen darauf aufmerksam gemacht werden, dass die angeführten Kürzel, die aus einer Kombination von - durch Schrägstrich oder Punkt getrennten - Buchstaben und Zahlen bestehen, nur einen Teil der insgesamt existierenden Abkürzungen darstellen. Zum anderen ist festzuhalten, dass die hier dargelegte Reihenfolge der Kürzel keineswegs strikt eingehalten wird. So kann beispielsweise die Bezeichnung der Untergliederung bzw. Unterserie auch nach der Bezeichnung des technischen Charakters des Dokuments eingefügt sein. Hauptorgan der UNO [Daneben bestehen weitere Organe + verselbstständigte Organisationen mit eigenem Kürzel] Untergliederung/ Unterserie der Hauptgliederung oder einer weiteren Untergliederung („_“ = in historischer Folge laufend durchnummeriert) Technischer Charakter des Dokuments A/ … (Generalversammlung) E/ … (Wirtschafts- und Sozialrat) S/ … (Sicherheitsrat) ST/ … (Sekretariat) T/ … (Treuhandrat) Beispiele für weitere Organe/ verselbstständigte Organisationen: CCPR/ … (Menschenrechtsausschuss unter dem IPbürgR) CERD/ … (Rassendiskriminierungsausschuss) UNEP/ … (Umweltprogramm der UNO) …/ AC._/ … (Ad-hoc-Ausschuss) …/ C._/ … (Ständiger Ausschuss) …/ CN._/ … (Kommission) …/ CONF._/ … (Konferenz) …/ GC/ … (Verwaltungsrat) …/ PC/ … (Vorbereitender Ausschuss) …/ SC._/ … (Unterausschuss) ST/ SG/ … (Büro des Generalsekretärs) A/ SPC/ … (Ausschuss für spezielle politische Fragen) …/ WG._/ … (Arbeitsgruppe) …/ WP._/ … (Arbeitsausschuss) …/ INF/ … (Informationsreihe) …/ NGO/ … (Stellungnahme einer nichtstaatlichen Organisation) …/ PET/ … (Eingabe/ Bittschrift) …/ PV._/ … (Wortprotokolle) …/ RES/ … (Resolution) …/ SR._/ … (Zusammenfassendes Sitzungsprotokoll) …/ WP._/ … (Arbeitspapier) 6 Vgl. dazu auch I.-Stölken, Dokumentenführer Vereinte Nationen, in: R. Wolfrum (Hg.), Handbuch Vereinte Nationen, 2. A., 1991, 1159ff.; P.I.-Hajnal, Guide to United Nations Organization, Documentation-& Publishing, 1978; O. Steiner, Dokumente und Publikationen der Vereinten Nationen und der Sonderorganisationen, 1978. Materialien zum Studium des Völkerrechts <?page no="34"?> XXXIV Materialien zum Studium des Völkerrechts Nummer der Session bzw. Jahreszahl* Durchnummerierung der Dokumente Art der Verbreitung des Dokuments - grundsätzlich nicht begrenzt, außer: Zusätze …/ L._ (Begrenzte Verbreitung des Dokuments - für Dokumente provisorischer Natur) …/ R._ (Eingeschränkte Dokumente - Dokumente sind nur für einen begrenzten Kreis zugänglich) …/ Add._ (Nachtrag/ Ergänzung zu einem Dokument) …/ Amend._ (Berichtigender Zusatz zu einem bereits verabschiedeten Text) …/ Corr._ (Korrektur eines bereits verabschiedeten Textes) …/ Rev._ (Neufassung) *Die Dokumente der Generalversammlung werden erst seit der 31. Session (1976) mit der Nummer der Session bezeichnet, z.- B. A/ RES/ 43/ 200. Vor 1976 wurde nach der Bezeichnung der Art des Dokuments in arabischen Zahlen dessen laufende Durchnummerierung angegeben und danach in Klammern in römischen Zahlen angegeben, auf welcher Jahrestagung das Dokument erstellt wurde. So bezeichnete beispielsweise A/ RES/ 2625 (XXV) die Resolution 2625 der Generalversammlung, die auf der 25. Jahrestagung (1970) verabschiedet wurde. Dokumente des Wirtschafts- und Sozialrates werden seit 1978 jährlich neu durchnummeriert. Sie werden nicht mit der Nummer der Tagung, sondern der Jahreszahl versehen, z.- B. E/ RES/ 1995/ 4. Bei den Dokumenten des Sicherheitsrates wird - naturgemäß - nicht die Nummer der Tagung angegeben, sondern am Ende in Klammern die Jahreszahl beigesetzt, z.-B. S/ RES/ 841 (1993), bzw. in der Klammer in römischen Zahlen die Anzahl der Jahre der Existenz des Sicherheitsrates angegeben, z.-B. S/ RES/ 841 (XLVIII). Beispiele A/ CN.4/ L.1000/ Rev.1 = 1. Neufassung des nur begrenzt verteilten Dokuments 1000 der Kommission 4 der Generalversammlung (= International Law Commission) A/ CONF.39/ PC/ 10/ Add.1 = Ergänzung 1 zu Dokument 10 des Vorbereitenden Ausschusses zur von der Generalversammlung veranlassten Konferenz 39 (= Konferenz über die Kodifikation des Vertragsrechts) Hinzuweisen ist schließlich noch auf die Möglichkeit einer Recherche von Dokumenten, Hintergrundinformationen, Rechtsprechung und Literatur im Internet. 7 Von den Adressen der inter- 7 Generelle Kurzinformationen zur juristischen Suche im Internet finden sich bei: M.-Rohrlich/ M.-Blümel, Jura im Netz: Ausgewählte juristische Quellen im Internet thematisch betrachtet - Das Angebot der Europäischen Union, JuS 38 (1998), 669f.; M.A.-Trede, Die juristischen Angebote des Internet und World- Wide-Web - Eine praktische Einführung, JuS 37 (1997), 763ff.; J.-Kaestner, Nutzungsmöglichkeiten des Internets für Juristen, JuS 36 (1996), 754ff. Ausführlichere Hinweise finden sich in den mittlerweile zahlreichen Publikationen zum Thema Internet für Juristen, wie etwa R. Langenhan/ M.- Langenhan, Internet für Juristen - Internetadressen und ihre Bewertung, 4. A., 2003. <?page no="35"?> XXXV nationalen Institutionen seien hier nur die der UNO (www.un.org) und der Europäischen Union (http: / / europa.eu) hervorgehoben. Zu internationalen Gerichten gelangt man über die Verweise in der Rubrik „International Law“ auf der UNO-Seite. Umfangreiche Sammlungen von Adressen finden sich auch in der RGDIP 103 (1999), 260ff. sowie auf den nachfolgend genannten Internetseiten. Wichtige Homepages internationaler Gerichtshöfe Internationaler Gerichtshof (ICJ) www.icj-cij.org/ Jugoslawientribunal (ICTY) www.icty.org/ Ruandatribunal (ICTR) (aktiv bis 31.12.2015) http: / / unictr.irmct.org/ Internationaler Strafgerichtshof (ICC) www.icc-cpi.int/ Ständiger Schiedsgerichtshof (PCA) www.pca-cpa.org/ Welthandelsorganisation (WTO) www.wto.org/ Internationaler Seegerichtshof (ITLOS) www.itlos.org/ Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) www.egmr.org/ Europäischer Gerichtshof (ECJ) www.curia.europa.eu Die äußerst vielfältigen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung im Internet erschließen sich am besten im Selbststudium und können hier nur angedeutet werden. Ein erster Zugang ist über die Webseiten der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der deutschen und ausländischen Universitäten, insbesondere über die Seiten ihrer völkerrechtlichen Institute möglich, die neben eigenen Informationen Verweise, (zumeist Rubrik Links) zu den Datenbanken weiterer Universitätsinstitute, internationaler Organisationen, Gerichten etc. anbieten. Sehr nützlich sind auch die Seiten des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg (www.mpil.de, insbesondere der Online-Katalog zum Völkerrecht http: / / aleph.mpg.de/ F? func=file&file_name=find-b&local_base=vrh01), wo man neben vielfältigen Verweisen auch wichtige Dokumente findet. Im dortigen OPAC (Online Katalog) besteht weiterhin die Möglichkeit, gezielt Literatur und- Rechtsprechung zu bestimmten Themen oder von bestimmten Autoren zu suchen. Eine Stichwortsuche ermöglicht der Online-Katalog des Friedenspalastes in Den Haag (www.peacepalacelibrary.nl/ ). Ebenfalls nützlich sind die herkömmlichen Internet-Suchmaschinen, wie etwa www.google.de, oder besondere juristische Suchmaschinen, wie etwa http: / / findlaw.com. Zudem existieren viele völkerrechtliche Datenbanken allgemeiner Natur bzw. zu spezifischen Fachgebieten, die nicht einzeln aufgeführt werden können. Exemplarisch seien hier als Datenbanken allgemeiner Natur die Angebote der American Society of International Law (www.asil.org), insbesondere deren Electronic Information System for International Law (www.eisil.org), und der-Universitätsbibliothek Mannheim (Bereich Rechtswissenschaft) genannt (www.bib.uni-mannheim.de). Letztere enthält nach Themengebieten geordnete Links und Verweise zu spezifischen Datenbanksammlungen. Ein Beispiel einer speziellen Datenbank ist etwa das Projekt DIANA zum Thema der Menschenrechte (http: / / avalon.law.yale.edu/ subject_menus/ diana.asp). Materialien zum Studium des Völkerrechts <?page no="36"?> XXXVI Materialien zum Studium des Völkerrechts Eine weitere wichtige Recherchemöglichkeit sind kommerzielle Online-Datenbanken. Diese haben eine Vielzahl von Zeitschriften aus den verschiedensten Ländern in digitalisierter Form vorliegen, so dass Artikel nach Stichwortsuche einfach recherchiert und heruntergeladen werden können. Ein Zugang zu diesen Datenbanken ist jedoch normalerweise nur vor Ort über Bibliotheksrechner möglich, weil diese sehr hohe Nutzungsgebühren verlangen. Besonders hilfreich sind insbesondere die Datenbankangebote von Westlaw, LexisNexis oder Hein Online. <?page no="37"?> 1. Grundlagen 1.1 Relevanz des Völkerrechts Einführende Literatur: Graf Vitzthum, Wolfgang, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8. A., Berlin/ Boston 2019, 1. Abschn., Rn. 2ff. Worum geht es im Völkerrecht? Wer sich mit den Rechtsbeziehungen der Staaten zueinander befassen will, hat sich das Studium eines wichtigen Bereichs des Rechts vorgenommen. Denn es geht, vereinfacht gesprochen, 1 beim Völkerrecht um die rechtliche Basis der internationalen Beziehungen. Tagtäglich berichten die Medien von völkerrechtlich relevanten Sachverhalten. Beispiele für solche Konfliktszenarien sind: Der Öltanker, der auf Hoher See havariert und Leck schlägt, der Abschluss eines Vertrages zwischen zwei Staaten sowie der Fang seltener Fischsorten in der Tiefsee. Das Auftauchen verschollen geglaubten Kulturguts, welches unter Umständen gar widerrechtlich erlangt wurde, oder dessen mutwillige Zerstörung, bewaffnete Konflikte zwischen zwei Staaten, die mit immer neuen Kriegsmitteln, z.-B. unter Verwendung sog. Drohnen oder gar als „Cyberwar“ ausgetragen werden, können weitere relevante Sachverhalte sein. Aber auch Situationen wie Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen in einem Staat oder - umso relevanter im Lichte der Flüchtlingsströme nach Europa-- Flucht und Vertreibung von Einwohnern aus ihrer angestammten Heimat sind hier zu nennen. Und nicht zuletzt sind Berichte über die Anklage eines amtierenden oder ehemaligen Staatsführers vor einem internationalen Gericht sowie über die Abspaltung eines Staatsteils unter Behauptung von neuer Eigenstaatlichkeit erwähnenswert. In jüngster Zeit bestimmen Fragen nach staatsübergreifenden Bekämpfungsstrategien der COVID- 19 Pandemie und solche nach möglicher staatlicher Verantwortung für die Verbreitung des die Pandemie verursachenden Virus die öffentliche Diskussion. Bei all diesen Fällen wird klar, dass es um internationale Konflikte geht, die die nationalen Rechtsordnungen allein nicht zu bewältigen vermögen. Oder welches staatliche Recht sollte die Rechtsfolgen einer Havarie auf der staatenlosen Hohen See regulieren, bzw. einen Staat vor dem bewaffneten Angriff eines anderen Staates schützen? Es geht also bei den soeben skizzierten Sachverhalten um die rechtliche Fundierung der Beziehungen der Staaten untereinander, aber darüber hinaus auch, wie in diesem Buch deutlich werden wird, um das rechtliche Fundament der Beziehungen von Staaten zu internationalen Organisationen und nicht zuletzt um das (rechtliche) Schicksal der einzelnen Menschen in diesen Staaten. Es geht dem Völkerrecht damit zum einen um die Regelung der Handlungen von Hoheitsträgern zueinander. Davon werden zumeist zwischenstaatliche Beziehungen erfasst. Und es geht dem Völkerrecht grundsätzlich auch um die Regelung von Rechtsbeziehungen von Hoheitsträgern zu Privaten, nicht aber um die Regelung des Verhältnisses von Privaten zueinander. Letzteres ist vielmehr, wenn die grenzüberschreitende Rechtsverfolgung etwa zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nach einem Autounfall eines Deutschen, der in Frankreich mit einem Autofahrer britischer Nationalität kollidiert ist, in Rede steht, der Bereich des Internationalen 1 Eine genauere Definition des Völkerrechts wird unten bei 1.2 gegeben. <?page no="38"?> 2 1. Grundlagen Privat- und des Internationalen Prozessrechts. 2 Hierbei handelt es sich zumeist um nationales Zivilrecht - in Deutschland etwa im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) geregelt -, welches im Sinne eines Kollisionsrechts die Frage klärt, nach welchem Recht ein entsprechender Schadensersatzanspruch vor welchem Gericht eingeklagt werden kann. Für die oben angesprochenen Fälle stellen sich konkrete Fragen, auf die das Völkerrecht eine Antwort geben kann: Auf welcher rechtlichen Grundlage kann ein Staat von einem anderen Staat Schadensersatz verlangen, wenn das Öl aus dem auf Hoher See havarierten Tanker schließlich seine Küste verschmutzt hat? Nach welchen Modalitäten können zwei Staaten miteinander einen Vertrag schließen? Auf welcher Grundlage können die Vereinten Nationen ein Embargo oder sogar militärische Zwangsmaßnahmen gegen einen Staat beschließen? Warum werden in diesen Bereichen vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen teils so unterschiedliche Entscheidungen getroffen, wie im Jahre 2012 in den zunächst augenscheinlich ähnlich gelagerten Fällen der inneren Konflikte in Libyen und Syrien? Was sind die Voraussetzungen zwischenstaatlicher Gewaltanwendung und welchen Regeln - wenn überhaupt - unterliegt ein bewaffneter Konflikt, insbesondere dort, wo neuere Entwicklungen die Kriegführung fundamental verändern, etwa durch die Verwendung unbemannter Flugkörper oder bei Angriffen auf die „digitale Festung“ eines Staates mittels Cybertechnologie? Schließlich ist von Interesse, unter welchen Voraussetzungen Rechtsschutz vor einem internationalen Gericht gesucht werden kann. Die Relevanz des Völkerrechts manifestiert sich dabei in aktuellen Konfliktkonstellationen, deren weltpolitische Bedeutung bereits in einigen konkretisierenden Stichworten wie der Annexion der Krim durch Russland, dem Kampf gegen den Islamischen Staat (IS), Exxon Valdez, Kosovo-Konflikt und Staatswerdung des Kosovo, Abspaltung des Südsudan vom Rest Sudans, Anwendung von Waffengewalt gegen den Irak und der mittlerweile beendete Prozess gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic, aber auch existenzielle Menschheitsbedrohungen durch Wasserknappheit, Armut und Hunger auf der südlichen Erdhalbkugel sowie das kontinuierliche Abschmelzen der Polarkappen deutlich wird. Ebenso gilt dies für weitere Vorkommnisse der jüngeren Zeit wie die Flüchtlingsströme aus Afrika, Afghanistan und anderen Teilen der Welt, den zwischen den USA und der Europäischen Union sowie China entfachten Handelskonflikt, die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und dessen Anerkennung durch einige Staaten, für die sich daran anschließenden Beschädigungen verschiedener Botschaften bei Demonstrationen der serbischen Bevölkerung gegen die Unabhängigkeitserklärung in Belgrad, für das Vordringen türkischer Truppen in den Nordirak zur vorbeugenden Bekämpfung vermeintlicher Angriffe von Angehörigen der kurdischen Organisation PKK sowie schließlich für die Geltendmachung bestimmter Ansprüche auf Teile der Arktis durch Russland. Wer sich eingehender mit dem Völkerrecht befassen will, wird schnell Unterschiede zum nationalen Recht entdecken. Verglichen mit den homogen erscheinenden nationalen Rechtsordnungen 2 Dazu etwa G.-Kegel/ K.-Schurig, Internationales Privatrecht, 9. A., 2004; M.-Bos, Droit international public et droit international privé: Deux identités bien distinctes, in: FS Krzysztof Skubiszewski, 1996, 89ff.; P.-Winkler von Mohrenfels, Einführung in das Internationale Privatrecht, Jura 14 (1992), 169ff.; Siehe auch H.P. Schwintowski, Einführung in die Rechtsvergleichung, JA 23 (1991), 241ff. Grundzüge dieser Rechtsdisziplinen sollten auch Studierenden der Wahlfächer bzw. Schwerpunkte zum Völker- und Europarecht bekannt sein. Neuerdings zum Verhältnis des Völkerrechts zum internationalen Privatrecht: A. Mills, The Private History of International Law, ICLQ 55 (2006), 1ff. <?page no="39"?> 3 1.1 Relevanz des Völkerrechts fällt es oftmals schon schwer, das zur Entscheidung eines Sachverhalts relevante Rechtsquellenmaterial, also die streitentscheidenden Normen überhaupt zu benennen. Es ist vornehmlich aus völkerrechtlichen Verträgen oder sog. Gewohnheitsrecht zu gewinnen. Jemand, der an seiner nationalen Rechtsordnung geschult ist, wird also beim Studium des Völkerrechts zunächst auch ein Defizit an Klarheit vermuten. Dabei liegt ein Spezifikum der Völkerrechtsordnung und der entscheidende Unterschied zu den nationalen Rechtsordnungen in der Tat darin, dass es sich beim Völkerrecht um eine zu einem nicht unerheblichen Teil noch unkodifizierte Rechtsordnung handelt und die für die Entscheidung eines der oben skizzierten Sachverhalte relevanten Rechtsnormen also erst durch das Studium des internationalen Vertrags- und Gewohnheitsrechts zu gewinnen sind. Insofern mag man bereits erahnen, dass dies eine faszinierende Herausforderung ist. Eine weitere Besonderheit, mit der man sich beim Studium des Völkerrechts konfrontiert sieht, ist die - verglichen mit nationalen Rechtsordnungen - unterschiedliche Funktionsweise der Völkerrechtsordnung. Von den nationalen Rechtsordnungen ist man die Erkenntnis gewohnt, dass vor allem auch deshalb Ordnung im Staat herrscht, weil Verstöße gegen die Rechtsordnung durch den Staat selbst, also die Staatsgewalt sanktioniert werden. Damit stellt sich natürlich die wichtige Frage - eine Kardinalfrage des Völkerrechts - ob es auch in der zwischenstaatlichen Rechtsordnung einen derartigen Sanktionsmechanismus gibt. Die an dieser Stelle zu gebende vorläufige Antwort ist: Es gibt ihn, aber er funktioniert - naturgemäß - anders als in innerstaatlichen Rechtsordnungen. Darauf wird an vielen Stellen dieses Buches, besonders in Kapitel 6 zur Durchsetzung des Völkerrechts, Kapitel 7 zur friedlichen Streitbeilegung und Kapitel 14 zum völkerrechtlichen Strafrecht zurückzukommen sein. Festzuhalten ist hier wiederum, dass auch diese Andersartigkeit eine Beschäftigung mit der Völkerrechtsordnung besonders interessant macht. Man wird also zusammenfassend sagen können, dass die teilweise komplizierte Rechtsquellenlage und die besondere Problematik der Durchsetzung des völkerrechtlichen Normgefüges geradezu Anreiz bieten für den Wunsch nach einem Mehr an Erkenntnis über das Funktionieren der Rechtsordnung des Völkerrechts. Dass es viele weitere Bezüge und Motive zum Studium des Völkerrechts gibt, steht ohnehin außer Frage. Für Studierende der Rechtswissenschaften erscheint dies schon angesichts der zunehmenden Öffnung des Staates für internationale Zusammenhänge ganz unabdingbar. Man denke nur an den internationalen Wirtschaftsverkehr oder etwa auch an Deutschlands Mitwirkung in den Vereinten Nationen - eine Mitwirkung, die aktuell verstärkt wird durch die wiederholte Wahl Deutschlands als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, zuletzt seit Januar 2019. Völkerrecht in der juristischen Ausbildung. Insofern ist es zu begrüßen, dass die vor einigen Jahren eingeleitete Reform der Juristenausbildung 3 die Möglichkeit bietet, einen entsprechenden Schwerpunktbereich des internationalen Rechts, der an den meisten juristischen Fakultäten das Studium des Völker- und Europarechts zusammengeführt hat, zu wählen. 4 Hierdurch besteht die 3 Siehe hierzu das Gesetz zur Reform der Juristenausbildung vom 11.7.2002, BGBl. 2002 I, 2592, welches am 1.7.2003 in Kraft getreten ist. 4 Hierzu siehe auch W. Rudolf, Das Völkerrecht in der Juristenausbildung, in: FS Bernhardt, 1995, 851ff. Siehe auch S. Hobe/ B. Dauner-Lieb, Zukunftsfähig, Die Juristenausbildung in Deutschland, Forschung und Lehre 25 (2018), S.-314ff.. <?page no="40"?> 4 1. Grundlagen Chance, dem Völkerrecht im Examen einen größeren Stellenwert zu verschaffen, der ihm angesichts der stark gewachsenen Bedeutung der internationalen Beziehungen auch unbedingt zukommen sollte. 5 Dieser hohe Stellenwert hat bereits seinen deutlichen Niederschlag in der Tatsache gefunden, dass in vielen Berufsfeldern der Juristinnen und Juristen heute eine große Nachfrage nach am internationalen Recht Geschulten herrscht. Dies gilt neben dem klassischen Berufsfeld der Diplomatie, etwa im höheren Auswärtigen Dienst, auch für alle anderen Bundes- und viele Landesministerien sowie für international ausgerichtete Anwaltskanzleien, grenzüberschreitend tätige Großunternehmen, internationale Organisationen - darunter die neu entstehenden internationalen Gerichte - aber auch für Nichtregierungsorganisationen und Medien. 6 Ein Beispiel: Auch deutsche Staatsanwälte und Strafrichter bzw. -verteidiger können heute ihren Beruf ohne ein grundlegendes Verständnis von Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention - Recht auf ein faires Verfahren - nicht optimal ausüben. Man sieht also, dass völkerrechtlich ausgebildete Hochschulabsolventen ein breites Berufsfeld vor sich haben. Und - nebenbei bemerkt - macht die denkbar breite völkerrechtliche Grundbildung in ihrer Mischung aus Politik, Geschichte, Volkswirtschaft und eben Rechtswissenschaft die Absolventen dieser Ausbildung zu äußerst gefragten Bewerbern selbst in auf den ersten Blick so fachfremden Betätigungsfeldern wie dem des international tätigen Anwalts, z.-B. im Bereich „Mergers and Aquisitions“. Andere Disziplinen. Aber auch für Studierende anderer Fächer, etwa der Politikwissenschaft, der Geschichtswissenschaft bzw. der Lehre von den internationalen Beziehungen, ist das Studium des Völkerrechts als der normativen Basis für die internationalen Beziehungen unabdingbar. Wird zwar insbesondere von den Anhängern bzw. Nachfolgern der realistischen Schule des Amerikaners Hans J.-Morgenthau und des Neorealismus 7 nach wie vor eine gehörige Portion Skepsis an der Existenz des Völkerrechts als solchem artikuliert, muss dem doch entgegengehalten werden, dass die häufig kritisierte Problematik möglicher fehlender Erzwingbarkeit der Völkerrechtsregeln letztlich keinen maßgeblichen Einwand gegen die Existenz von Völkerrecht darzustellen vermag. Insbesondere Politikwissenschaften. Dabei ist die Bedeutung der Politischen Wissenschaften allgemein und insbesondere der Lehre von den internationalen Beziehungen für das Völkerrecht ganz unbestreitbar. Neben den oben erwähnten realistischen und neorealistischen Schulen, die das 5 Einen wichtigen Bestandteil dieser Ausbildung können dabei die sog. Moot Courts bilden, bei denen Studierende einen fiktiven völkerrechtlichen Fall vor einer Jury plädieren müssen. Der pädagogische Wert dieser aus der anglo-amerikanischen Juristenausbildung stammenden Ausbildungsform kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden; siehe dazu S. Hobe, Juristenausbildung im Umbruch - Moot Courts als Beitrag zur Praxisnähe der Juristenausbildung, in: GS für Hartmut Krüger, 2001, 171ff.-m.w.N.; J.-Wetzel, Internationale Moot Courts, JA 32 (2000), 523ff. Eine ähnliche Funktion erfüllt das interdisziplinär veranstaltete UNO-Planspiel Model United Nations; siehe hierzu D.-Seebach, Das National Model United Nations (NMUN), JuS 42 (2002), 99ff. Zur aktuellen Bedeutung des internationalen Rechts in der Juristenausbildung siehe S. Hobe/ T. Marauhn/ G. Nolte, Grundausbildung im internationalen Recht, JZ 68 (2013), 732ff. 6 Siehe ASIL (Hg.), Careers in International Law: A Guide to Career Paths and Internships in International Law, 2003-2004. 7 Klassisch H.J.-Morgenthau, Politics Among Nations. The Struggle for Power and Peace, 7.-A., 2006; ferner K.-Waltz, Theory of International Politics, 1979; R. Gilpin, The Richness of the Tradition of Political Realism, IntOrg. 38 (1984), 287ff. <?page no="41"?> 5 1.1 Relevanz des Völkerrechts klassische Modell unabhängiger souveräner Nationalstaaten abbilden, gibt es dabei in der politiktheoretischen Analyse der internationalen Beziehungen, etwa im Bereich der die internationale Gemeinschaftsbildung stärker betonenden Integrationstheorie, ebenfalls eine Fülle unterschiedlicher Ausrichtungen, die hier nur überblicksmäßig erfasst werden können. Die pluralistische Theorie von Karl W. Deutsch betont die Gemeinschaftsbeziehungen souveräner Nationalstaaten, 8 der Funktionalismus David Mitranys sieht Ansätze einer Überwindung der Nationalstaaten durch Gemeinschaftsbildung, 9 ein Ansatz, der in der Form des Neo-Funktionalismus von Ernst B. Haas und Leon N.-Lindberg besonders für die Beschreibung der europäischen Integration fruchtbar zu machen versucht wurde. 10 Deutet Carl J.- Friedrichs Föderalismustheorie auf ein föderalistisches Konzept der internationalen Staatenwelt hin, 11 so beschreiben Robert Keohane und Joseph Nye mit ihrer Interdependenztheorie die in verschiedenen Regimen, etwa dem Umwelt- oder Telekommunikationsregime, im Wege des sog. spillover geschaffenen Übergänge von nationalen zu internationalen Ordnungsstrukturen. 12 Und in jüngerer Zeit verstehen Anhänger der Theorie des Konstitutionalismus die Völkerrechtsordnung als eine der innerstaatlichen Verfassungsordnung ähnliche zwischenstaatliche Ordnung mit der UN-Charta als verfassungsrechtlichem Kristallisationspunkt. 13 Das Verhältnis von Völkerrecht und der politikwissenschaftlichen Lehre von den internationalen Beziehungen (international relations theory) ist vielfach beschrieben worden. 14 In der Essenz scheint es wohl so zu sein, dass die Völkerrechtswissenschaft und die Lehre von den internationalen Beziehungen von jeweils unterschiedlichen Perspektiven auf das Recht, insbesondere das Völkerrecht, blicken und es analysieren. Während aus politikwissenschaftlicher Sicht das Völkerrecht als Produkt bestehender Kräftekonstellationen zwischen den im internationalen System handelnden Akteuren zu verstehen ist und sich die Analyse vordringlich darin versteht, diese Kräftebzw. Machtkonstellationen herauszuarbeiten, haben im Völkerrecht Geschulte die Tendenz, den Eigenwert einer rechtlichen Norm als politische Macht potenziell begrenzend herauszustellen und hieraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Dabei steht aber ganz außer Zweifel, dass die genaue Analyse der politischen Konstellationen, die zu einer bestimmten völkerrechtlichen Normsetzung veranlasst und sie begleitet haben, einen wichtigen Aspekt beim Verständnis des Gehalts der Normen darstellt. Was nun die erwähnte politikwissenschaftliche Kritik an der Existenz des Völkerrechts betrifft, wird im Nachfolgenden noch zu zeigen sein, dass der Einwand, es gäbe in der Völkerrechtsordnung keine Erzwingungsmechanismen für die Rechtsregeln, jedenfalls in dieser allgemeinen Form nicht zutreffend ist, im Übrigen aber auch kein 8 K.W. Deutsch, Political Community at the International Level: Problems of Definition and Measurement, 1954. 9 D.-Mitrany, The Progress of International Government, 1933. 10 E.B. Haas, Beyond the Nation State, 1964; L.N. Lindberg, The Political Dynamic of European Economic Integration, 1963. 11 C.J.-Friedrich, Trends of Federalism in Theory and Practice, 1968. 12 R. Keohane/ J.-Nye, Power and Interdependence Revisited, International Organization 41 (1987), 725ff. 13 Siehe für frühe Konzepte A. Verdross, Die Verfasung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926 sowie B. Fassbender, The United Nations Charter as the Constitution of the International Community, LAIO 51 (2009); und A. Peters, Compensatory Constitutionalism: The Function of Fundamental International Norms and Structures, LJIL 19 (2006), 579. 14 Siehe etwa A.-M.-Slaughter, International Law and International Relations, RdC 285 (2000), 21ff. m.w.N. <?page no="42"?> 6 1. Grundlagen hinreichender Maßstab wäre, an dem sich der Rechtscharakter des Völkerrechts messen lassen müsste. Vielmehr erweist es sich nach wie vor als grundlegendes Problem der auf der Basis der Gleichordnung von souveränen Staaten fußenden Völkerrechtsordnung, dass es an zentralen Durchsetzungsmechanismen, also einer der innerstaatlichen Gewalt vergleichbaren zentralen Vollstreckungsinstanz, fehlt, da die Durchsetzung des Völkerrechts vielmehr regelmäßig den Staaten überlassen bleibt, also dezentral erfolgt. Die im Syrienkonflikt durch fehlenden Staatenkonsens verursachte Blockade des UN-Sicherheitsrates gibt ein gutes Beispiel aus jüngerer Zeit für die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Völkerrechts. In der vor uns liegenden Epoche der Globalisierung, die angesichts des fundamentalen Bedeutungswandels von Staatlichkeit durch die größere Bedeutung anderer Akteure neben den Staaten und die zunehmende Öffnung des Staates für die internationale Kooperation 15 nach einem auch rechtlichen Ordnungsrahmen für die Gestaltung der internationalen Beziehungen verlangt, spielt also das Völkerrecht eine maßgebliche Rolle. Dies sollte auch von denjenigen erwogen werden, die in für das Verständnis dieses Rechtsgebietes wesentlichen Nachbardisziplinen, wie der Politischen Wissenschaft, der Geschichte 16 sowie den internationalen Aspekten der Volkswirtschaftslehre, die Bedeutung des Völkerrechts eher als gering veranschlagen. Dabei sei besonders betont, dass ein umfassendes Verständnis des Völkerrechts ohne einen Blick auf diese Nachbarwissenschaften kaum denkbar ist. Und beinahe an eine Selbstverständlichkeit grenzt die Bemerkung, dass aufgrund der vielen internationalen Quellen eine Kenntnis fremder Sprachen und namentlich des Englischen für ein vertieftes Studium des Völkerrechts unabdingbar ist. Welche theoretische Begründung für die Existenz des Völkerrechts herangezogen werden kann, vor welchen besonderen Herausforderungen das Völkerrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts steht und welche Hilfsmittel das Studium des Völkerrechts erleichtern können, soll nun im Nachfolgenden skizziert werden.- 1.2 Zur theoretischen Einordnung des Völkerrechts Einführende Literatur: Peters, Anne, There is Nothing More Practical than a Good Theory: An Overview of Contemporary Approaches to International Law, GYIL 44 (2001), 25ff. Wenn wir uns nun im Folgenden der theoretischen Begründung des Völkerrechts zuwenden wollen, so ist zunächst Klarheit über die Begrifflichkeit zu gewinnen und der Gegenstand zu definieren. Die Bezeichnung Völkerrecht. Die Verwendung der Bezeichnung Völkerrecht ist auf das römische ius gentium zurückzuführen. Dabei war allerdings, anders als dies heute der Fall ist, das ius gentium kein internationales Recht, sondern es stellte sich als römisches Recht dar, welches im gesamten römischen Weltreich zur Regelung des Rechtsverkehrs mit und zwischen Nichtrömern 15 Dazu umfassend J.-Delbrück, Structural Changes in the International System and its Legal Order, SZIER 11 (2001), 1ff. 16 Ein glänzendes Beispiel einer aus historischer Perspektive geschriebenen Studie ist das Werk von M.-Payk, Frieden durch Recht? , Berlin 2019. <?page no="43"?> 7 1.2 Zur theoretischen Einordnung des Völkerrechts galt (siehe auch Kap. 1.3.2). Von den in Latein publizierenden Juristen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit wurde diesem Recht später universaler Geltungsanspruch beigemessen; mit ius gentium war das alle Menschen und Herrschaftsverbände gleichermaßen umfassende Recht gemeint. Mit dem Beginn der Neuzeit bildete sich dann parallel der Gebrauch des Begriffs ius inter gentes heraus. Erst seit dem 18.-Jahrhundert kam im angelsächsischen Sprachraum für das ius inter gentes die Bezeichnung international law auf; nach Herausprägung der nationalstaatlichen Ordnung im 19.- Jahrhundert traten dann zunehmend die Bezeichnungen „Völkerrecht“ oder „internationales öffentliches Recht“ (public international law) hervor. Dabei zeigt die Bezeichnung „Völkerrecht“ zunächst weniger deutlich als die Bezeichnung „public international law“, dass die für die Entstehung und Praktizierung des Völkerrechts maßgeblichen Akteure weniger die Völker als die sie organisatorisch umfassenden Staaten waren und sind. Will man eine kurze Definition des Völkerrechts 17 versuchen, so könnte diese lauten: Völkerrecht umfasst zum einen die Prinzipien und die Verhaltensregeln, an die sich Staaten gebunden fühlen und die sie deshalb in ihren gegenseitigen Beziehungen beachten, sowie solche Rechtsregeln, die sich auf die Funktionsweise internationaler Institutionen und Organisationen sowie deren Beziehungen zueinander und ihre Beziehungen zu Staaten und Individuen beziehen, und schließlich einige Regeln, die auf Individuen und nichtstaatliche Einheiten insoweit Bezug nehmen, als diese Einheiten in den Kreis der internationalen Rechtsgemeinschaft einbezogen sind. Damit ist bereits angedeutet, dass es durchaus nicht mehr nur Staaten sind, die als völkerrechtlich erhebliche Akteure hervortreten; in einem Prozess andauernder Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte 18 sind, wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird (siehe unten Kap. 2), auch internationale Regierungsorganisationen, Individuen, Nichtregierungsorganisationen und transnationale Unternehmen jedenfalls bis zu einem gewissen Grade in den Kreis der völkerrechtlich erheblichen Akteure einbezogen. Wenn man sich so über eine Definition dem Gegenstand des Völkerrechts nähert, wird man bald auch auf die Frage stoßen, warum es überhaupt Völkerrecht als rechtliche Grundlage der Beziehungen zwischen sog. Völkerrechtssubjekten gibt. Mit anderen Worten: Warum gelten bestimmte Verhaltensgebote zwischen den oben beschriebenen Akteuren des internationalen Systems als „Völkerrecht“? Manche würden sogar noch weitergehen und in der Tradition des britischen Juristen John Austin 19 (1790-1859) die Frage stellen, ob es überhaupt Völkerrecht gibt. Dabei ist trotz gelegentlich dahin gehender Behauptungen ernstlich an der Existenz des Völkerrechts als Recht nicht zu zweifeln. Vielmehr wird man - die Probleme sind ja bereits eingangs (siehe oben Kap. 1.1) angesprochen 17 Siehe dazu etwa I.A.-Shearer, Starke’s International Law, 11.-A., 1994, 3; ähnlich M.-Herdegen, Völkerrecht, 18.-A., 2019, §-1, Rn.-4; W. Graf Vitzthum, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8. A., 2019, 1. Abschn., Rn. 22ff. 18 Nach dem Titel des bekannten Aufsatzes von H.-Mosler, Die Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte, ZaöRV 22 (1962), 1ff. 19 J.-Austin, Lectures on Jurisprudence, Bd.-1, 5.-A., 1885, 79. <?page no="44"?> 8 1. Grundlagen worden - sogar so weit gehen können und feststellen müssen, dass der Grad der völkerrechtlichen Verdichtung am Beginn des 21. Jahrhunderts ein bisher nicht gekanntes Ausmaß erreicht hat. 20 Es ist schlicht ein Faktum, dass die Staaten tagtäglich in unzähligen Fällen völkerrechtliche Regelungen beachten, bzw. nach Gründen für die Rechtfertigung für von diesen Regeln abweichendes Verhalten suchen. Der bekannte amerikanische Völkerrechtler Louis Henkin hat dies einmal in die berühmt gewordenen Worte gefasst: „It is probably the case that almost all nations observe almost all principles of international law and almost all of their obligations almost all of the time“. 21 In diesem Buch sind vielfache Belege des entsprechend das Völkerrecht achtenden Staatenverhaltens beschrieben. Vor diesem Hintergrund greift das Hauptargument der Völkerrechtsskeptiker eines Schlusses von fehlender Erzwingbarkeit auf die Nichtexistenz des Völkerrechts nicht durch. Wenden wir uns deshalb nunmehr der Frage nach dem Geltungsgrund des Völkerrechts zu. Dabei sei vorausgeschickt, dass die im Nachfolgenden darzustellenden Geltungstheorien des Völkerrechts nicht unbedingt für die Entscheidung eines praktischen Falles relevant sein müssen. Indes sollte man sich durchaus der Frage nach der Geltungsgrundlage des Völkerrechts jeweils auch theoretisch versichern. Denn die jeweilige Argumentation bis hin zur Lösung eines praktischen Falles kann durchaus das jeweilige völkerrechtliche Vorverständnis eines Betrachters aufzeigen; für die Entscheidung eines Falles kann dieses Vorverständnis also jedenfalls mittelbar relevant sein. Aus der Fülle der zum Geltungsgrund des Völkerrechts vertretenen Theorien sollen hier nur einige exemplarisch vorgestellt werden. Die nachfolgende kurze Darstellung ist damit weder erschöpfend noch erhebt sie Anspruch auf Vollständigkeit. Die hier notwendigerweise zu treffende Auswahl erfasst mit den naturrechtlichen, positivistischen, soziologischen, systemtheoretischen, politikorientierten und die Beziehung von Wirtschaft und Recht betonenden Begründungen die methodologischen Hauptrichtungen des Völkerrechts. 22 Naturrechtstheoretiker. Naturrechtstheoretiker seit der Scholastik (Thomas von Aquin, 1225-1274) leiten den Geltungsgrund des Rechts allgemein und damit auch den des Völkerrechts aus etwas 20 So etwa auch W. Graf Vitzthum, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8. A., 2019, 1.-Abschn., Rn.14ff. 21 Louis Henkin (1917-2010), How Nations Behave, 1968, 42. 22 Nicht näher vorgestellt werden hier weitere, ebenfalls nicht unbedeutende theoretische Ansätze. Zu nennen ist zum einen der Ansatz der sog. Kritischen Rechtsstudien (sog. Critical Legal Studies), die in einer gewissen Variationsbreite einerseits sprachanalytisch, andererseits hermeneutisch inspiriert sind und in dekonstruktivistischer Tendenz namentlich positivistische Ansätze kritisieren, aber z.T. auch die Existenz des Völkerrechts als eigene Disziplin in Frage stellen. Als bedeutende Vertreter sind hier zu nennen D.-Kennedy, A New Stream of International Law Scholarship, WisILJ 7 (1988), 6ff.; M.-Koskenniemi, From Apology to Utopia, 2.A., 2005 sowie A.-Carty, Critical International Law, EJIL-2 (1991), 66ff. Zudem sind zu nennen die Diskurstheorie, dazu M.-Borowski, Discourse Theory in-International Law, GYIL 44 (2001), 64ff., verschiedene sog. Drittweltansätze, dazu J.T. Ghatii, International Law and Eurocentricity, EJIL 9 (1998), 184ff., sowie der feministische Ansatz zum (Völker-)Recht, dazu B.E.-Hernández-Truyol, Crossing Borderlands of Inequality with International Legal Methodologies - The Promise of Multiple Feminism, GYIL 44 (2001), 168ff.; H.-Charlesworth, Feminist Methods in International Law, AJIL 93 (1999), 379ff. <?page no="45"?> 9 1.2 Zur theoretischen Einordnung des Völkerrechts Vorgegebenem her, sei dies Gott (göttliches Gesetz), die Natur oder auch die Vernunft. Alle Normen müssen zudem moralische Gerechtigkeit reflektieren. Eine typische naturrechtliche Begründung des Völkerrechts findet sich etwa in den in der menschlichen Natur begründeten und damit vorstaatlich und vorpositiv garantierten Menschenrechten bzw. der Suche nach allgemeinverbindlichen Werten. Der als „Vater des Völkerrechts“ in die Rechtsgeschichte eingegangene holländische Völkerrechtler Hugo Grotius (1583-1645) ist ebenso zu dieser Gruppe zu rechnen wie die beiden bekannten Spanier Francisco de Vitoria (1483-1546) und Francisco Suarez (1548-1617); 23 aus jüngerer Zeit zeugen Äußerungen Hermann Moslers 24 von naturrechtlicher Prägung. Ebenso wie die Naturrechtslehre basiert die Rechtsschule des Positivismus auf etwas Vorgegebenem: Es ist dies das Axiom einer strengen Trennung von Recht und Moral. Darauf sind sowohl die stark auf den Staatswillen und damit die Souveränität der Staaten abstellenden Theoretiker 25 als auch die normativistischen Theorien gegründet. Die Vertreter der Staatswillenstheorie betonen, dass die Entstehung und Durchsetzung des Völkerrechts ausschließlich auf der freien Willensentschließung der Staaten beruhe. Wie als prononcierte Vertreter der normativistischen Richtung insbesondere Hans Kelsen (1881-1973) 26 und Herbert Hart (1907-1992) 27 vertreten haben, ist jede Rechtsnorm von einer anderen ableitbar. Die entsprechende Normenpyramide basiert schließlich auf der sog. „Grundnorm“, zu der etwa Kelsen u.-a. den Rechtssatz pacta sunt servanda erklärt hatte. 28 Positivisten betonen in der Regel sehr stark die Bedeutung staatlicher Souveränität und vertreten zumeist auch akzentuiert die Theorie vom Staatswillen, die den Konsens zum unbedingten Erfordernis des Zustandekommens aller völkerrechtlichen Regeln macht. 29 Das macht ihre grundsätzliche Schwierigkeit mit dem Konzept des sog. ius cogens, dem zwingenden Völkerrecht, also objektiv geltenden Völkerrechtsnormen, 30 erklärlich. ▶ Die soziologische Völkerrechtsschule plädiert für ein Verständnis des Völkerrechts in seinem soziologischen und politischen Kontext. Wie der Begründer der modernen soziologischen Völkerrechtsschule George Scelle (1878-1961) in seinem Werk von 1944 31 deutlich gemacht hat, transzendiert die soziologische Betrachtung des Völkerrechts dessen Letztbegründung in der staatlichen Souveränität und sieht in der Existenz der Individuen die eigentliche Begründung und die Notwendigkeit des Völkerrechts. 23 Siehe etwa T. Meron, Common Rights of Mankind in Gentili, Grotius and Suarez, AJIL 85 (1991), 110ff. 24 So etwa H.-Mosler, The International Society as a Legal Community, 1980, 82; dazu F. Lange, Between Systematization and Expertise for Foreign Policy: The Practice-Oriented Approach in Germany’s International Legal Scholarship (1920-1980), EJIL 28 (2017), 535 (552ff.). 25 Typisch heute R. Jennings/ A.-Watts, Oppenheim’s International Law, 9.-A., 1992, I/ 1, §-5. 26 H.-Kelsen, Reine Rechtslehre, 2.-A., Wien 1960, 196ff.; siehe zu Kelsen insgesamt die Beiträge zum Symposium „The European Tradition in International Law: Hans Kelsen“, EJIL 9 (1998), 287ff. 27 H.L.-Hart, The Concept of Law, 2. A., 1994, 100ff. 28 H.-Kelsen/ R. Tucker, Principles of International Law, 2. A., 1966, 446f. u. 564; H.-Kelsen, Théorie du droit international public, RdC 84 (1953/ II), 1ff., 123. 29 So auch die frühere sozialistische Völkerrechtstradition; siehe dazu G.-Tunkin, Völkerrechtstheorie, 1972; T. Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht? , 1979; E.-McWhinney, Contemporary Soviet General Theory of International Law: Reflections on the Tunkin Era, CYIL 25 (1987), 187ff.; R.A.-Mullerson, Agora: New Thinking by Soviet Scholars, AJIL 83 (1989), 494ff. 30 Siehe dazu unten Kap. 3. 31 G. Scelle, Droit international public, 1944, insb. 410f. <?page no="46"?> 10 1. Grundlagen ▶ Wesensverwandt mit dieser soziologischen Betrachtung des Völkerrechts sind neuere konstitutionalistische Ansätze, die in Rekurs auf die civitas maxima des Theoretikers Christian Wolff (1679-1754) 32 die global handelnden Akteure des internationalen Systems als in einer internationalen Gemeinschaft 33 begriffen verstehen und damit die Bedeutung von Staatlichkeit relativieren. 34 Eine zwar nicht geschriebene, aber doch vorfindliche internationale Verfassung kennzeichne mit ihrem Primat der Herrschaft des Rechts den Blick auf die Normordnung des Völkerrechts, der eine bestimmte hierarchische Stufenordnung, beginnend bei den zwingenden Normen des Völkerrechts, innewohne. ▶ Im Rahmen der Systemtheorie, die namentlich vom Bielefelder Soziologen und Juristen Niklas Luhmann (1927-1998) entwickelt und vertreten wurde 35 , wird Recht als ein „autopoietisches“, also auf sich selbst bezogenes System konzeptualisiert. Als System wird dabei eine Anzahl von Objekten, die Beziehungen zwischen diesen Objekten und zwischen ihren Eigenschaften verstanden. Ein autopoietisches System ist insofern selbstreferenziell, als es sich selbst durch spezifische Art und Weisen seines Betriebs erzeugt und erhält. In der so intendierten Trennung von Recht und Politik wird das Recht in seiner Beziehung zur Politik analysiert und verstanden, bzw. werden die Beziehungen zwischen Regeln und Macht analysiert. Folglich wird das System des Völkerrechts vom Standpunkt der Systemtheorie her daraufhin betrachtet, ob die in ihm vorgenommenen Akte sich nach dem binären Code legal/ illegal einteilen lassen. Handelt es sich um einen rechtlichen Code, wird die Handlung aus ihrer politischen Umgebung ausgesondert. Das Völkerrecht ist insofern als ein von der internationalen Politik losgelöstes spezifisches System zu verstehen. 36 ▶ An der amerikanischen Yale Law School in New Haven entstand in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts der von Myres McDougal (1906-1998) und seinen Kollegen begründete sog. politikorientierte Ansatz (policy-oriented approach) eines Verständnisses des Völkerrechts. 37 Dieser Ansatz versteht sich als Gegensatz zum Rechtspositivismus. Recht wird hier in seinem 32 Siehe hierzu N. Onuf, Civitas Maxima: Wolff, Vattel and the Fate of Republicanism, AJIL 88 (1994), 280ff. 33 H.-Mosler, The International Society as a Legal Community, 1980; siehe auch S. Oeter, Gemeinwohl in der Völkerrechtsgemeinschaft, in: M.-Anderheide/ W. Brugger/ S. Kirste (Hg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, 2002, 215, 218ff.; A.-Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, 2001; C.- Tomuschat, Die internationale Gemeinschaft, AVR 33 (1995), 1ff.; N. Onuf, The Constitution of International Society, EJIL 5 (1994), 1ff.; die Gemeinschaftswerte auch betonend B.- Simma, From Bilateralism to Community Interest in International Law, RdC 250 (1995/ IV), 225ff. 34 Dazu C.- Walter, Constitutionalizing (Inter)national Governance - Possibilities for and Limits to the Development of an International Constitutional Law, GYIL 44 (2001), 170ff.; B.-Fassbender, The United Nations Charter as Constitution of the International Community, ColJTL 36 (1998), 529ff. 35 Grundlegend hier N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 14.-A., 2010 und ders., Das Recht der Gesellschaft, 3.-A., 2001. Siehe auch S. Smid, Zur Einführung: Niklas Luhmanns systemtheoretische Konzeption des Rechts, JuS 26 (1986), 513ff. 36 Zur völkerrechtlichen Relevanz der Systemtheorie siehe S. Oeter, International Law and General Systems Theory, GYIL 44 (2001), 72ff. 37 Grundlegend etwa M.-McDougal and Associates (Hg.), Studies in World Public Order, New Haven 1987; siehe dazu auch S. Voss, Die Schule von New Haven, 2000; S. Wiessner/ A.- Willard, Policy-Oriented Jurisprudence, GYIL 44 (2001), 96ff. <?page no="47"?> 11 1.2 Zur theoretischen Einordnung des Völkerrechts politischen Kontext als Prozess autoritativer und kontrollierender Entscheidung verstanden und aus der Beobachterperspektive nach verschiedenen Kriterien analysiert. Politik und Recht korrelieren miteinander und sind aufeinander bezogen. Norm und Normativität werden deshalb in der wissenschaftlichen Analyse nach verschiedenen Kriterien betrachtet, wie etwa den an dem Entscheidungsprozess Beteiligten, den Perspektiven (als den Erwartungen der an der Entscheidung Beteiligten), den Situationen der Interaktion in zeitlicher, räumlicher und institutioneller Sicht, den Strategien und Ähnlichem. Völkerrechtliche Regeln sind damit nur mehr Abwägungsfaktoren im politischen Prozess. ▶ Schließlich kann die vor allem in den USA sehr bekannte Schule der Law and Economics auch auf die völkerrechtlichen Beziehungen hin angewendet werden. Insofern werden die Akteure des internationalen Systems in ihrer völkerrechtlichen Relevanz als Teilnehmende an einem Marktgeschehen verstanden und völkerrechtliche Normen anhand ihrer tatsächlichen Auswirkungen (Effizienz) bewertet. 38 Zusammenfassend bleibt also festzustellen, dass es sehr verschiedene Begründungsweisen für die Geltung des Völkerrechts gibt. Die soeben kurz vorgestellten Theorien befassen sich mit möglichen Begründungsweisen der Existenz des Völkerrechts. So würde die naturrechtliche Begründung eines Satzes des zwingenden Völkerrechts, wie z.-B. des Gewaltverbots, etwa auf den göttlichen Willen der Gewaltfreiheit, bzw. den der Zivilisation und damit der menschlichen Natur inhärenten Gedanken eines Ausschlusses gewaltsamen Konfliktaustrags rekurrieren; die Positivisten würden zur Annahme einer allgemeinen Geltung dieser Regel den in einer entsprechenden Vertragsnorm oder allgemein akzeptierten Gewohnheitsrechtsregel erkennbar werdenden universellen Konsens fordern; die soziologische Völkerrechtsschule würde die Schutzfunktion des Staates für das Individuum durch die Vereinbarung des unantastbaren Gewaltverbots postulieren und schließlich würden die Konstitutionalisten die entsprechenden Sätze des zwingenden Völkerrechts als die ehernen völkerrechtlichen Grundsätze an die Spitze einer ungeschriebenen Verfassung der Weltgemeinschaft setzen. Geltungsgrund des Völkerrechts Naturrecht Positivismus Soziologischer Ansatz Konstitutionalismus Systemtheorie Policy-oriented (new haven) Law and economic 38 Ansätze bei J.-Dunoff/ J.-Trachtman, Economic Analysis of International Law, YaleJIL 24 (1999), 1ff.; dies., The Law and Economics of Humanitarian Law Violations in Internal Conflict, AJIL 93 (1999), 394ff. <?page no="48"?> 12 1. Grundlagen 1.3 Entfaltung und gegenwärtiger Stand des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung 1.3.1 Eingrenzungsprobleme Einführende Literatur: Ziegler, Karl-Heinz, Zur Geschichtlichkeit des Völkerrechts, Jura 19 (1997), 449ff. Seit . Eine Völkerrechtsgeschichte im engeren Sinn gibt es erst seit dem 17.- Jahrhundert. Denn viele Völkerrechtshistoriker vertreten zu Recht die Auffassung, dass erst nach dem Entstehen des modernen souveränen Staates seit dem Westfälischen Frieden von 1648 von einer völkerrechtlichen Ordnung gesprochen werden kann. 39 Zwar wird teilweise die Auffassung vertreten, dass Herrschaftsverbände, welche die Bezeichnung „Staat“ verdienen, bereits in der Antike und Urgeschichte vorhanden gewesen seien, bzw. es die im vorhergehenden Kapitel aufgezeigte Verflechtung zwischen Völkerrecht und internationalen Beziehungen verbiete, die historische Betrachtung des Völkerrechts an den formalen Begriff des Staates zu knüpfen. Um den Wandel des Völkerrechts zu begreifen, so wird argumentiert, müsse die ganze Vielgestaltigkeit der Beziehungen zwischen organisierten menschlichen Verbänden in die Betrachtung einbezogen werden. Neben dem Territorialstaat der Neuzeit wird dadurch auch der Personenverband des Mittelalters und noch früherer Zeiten bis zurück zum wandernden Nomadenstamm Gegenstand der Völkerrechtsgeschichte. Immer bleiben aber die innerhalb eines größeren Verbandes geregelten Gruppenbeziehungen (z.-B. zwischen Sippen oder Familien des gleichen Stammes oder Staates) aus der völkerrechtlichen Betrachtungsweise ausgeschlossen. Niemals kann sich also die Völkerrechtsgeschichtsschreibung von der Vorstellung lösen, dass das Völkerrecht zunächst die Beziehungen zwischen Staaten oder zumindest größeren Einheiten regelt. Und für eine einführende Betrachtung der Völkerrechtsentwicklung ist es allemal ausreichend, sich nach einem kurzen Blick auf die Gesamtgeschehnisse im Schwerpunkt der neuzeitlichen Entwicklung seit der Entstehung des modernen souveränen Staates zuzuwenden. Epochen. In der Literatur finden sich für die hier maßgeblich darzustellende Geschichte des Völkerrechts ab 1648 verschiedene Epocheneinteilungen. Die erste konzentriert sich auf die Theorie und unterscheidet nur zwischen den „Klassikern“ (von den spanischen Völkerrechtslehrern des 16. Jahrhunderts bis Grotius) und den „Spätklassikern“, d.-h. den von der Aufklärung beeinflussten Nachfolgern des Grotius bis Vattel. 40 Man kann zudem eine Einteilung nach der Prägung der Völkerrechtsordnung durch die jeweils politisch und geistig führenden Staaten vornehmen, wodurch sich drei Epochen ergeben: das spanische Zeitalter (1500-1648), das französische Zeitalter (1648-1815) und das englische Zeitalter (1815-1919). 41 Allein auf die Praxis bezogen kann auch 39 Zum Problem der Ursprünge des Völkerrechts B. Faßbender, Grund und Grenzen der konstitutionellen Idee im Völkerrecht, in: FS Isensee, 2007, 73ff.; W.G.-Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2.-A., 1988, 26ff.; W. Preiser, Über die Ursprünge des modernen Völkerrechts, in: ders., Macht und Norm in der Völkerrechtsgeschichte, 1978, 9ff. 40 Noch weiter differenzierend W. Preiser/ E.- Reibstein, Völkerrechtsgeschichte, in: H.-J.- Schlochauer/ K.-Strupp, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd.-3, 1962, 680ff. 41 W. Grewe, Die Epochen der modernen Völkerrechtsgeschichte, ZStW 103 (1943), 38ff., 260ff. <?page no="49"?> 13 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung zwischen dem „klassischen Völkerrecht“ (1648-1919) und der darauf folgenden Epoche, in der sich das Völkerrecht „im Umbruch“ befindet, unterschieden werden, nämlich der eines im Wachsen begriffenen Kooperationsvölkerrechts, welches dem gegenwärtigen Globalisierungsprozess sein Gepräge gibt. 42 1.3.2 Vorformen des Völkerrechts in der Antike Einführende Literatur: Preiser, Wolfgang, Die Epochen der antiken Völkerrechtsgeschichte, JZ 11 (1956), 737ff.. . - .- Jahrtausend v. Chr. Das Vorhandensein völkerrechtlicher Beziehungen zwischen organisierten Verbänden in uralten Zeiten wird aus Verträgen geschlossen, die aus jenen Zeiten stammen. Der Nachweis solcher Verträge ist von archäologischen Funden abhängig, die trotz aller Wissenschaftlichkeit der Suche stets als zufällig bezeichnet werden müssen, so dass weder über den zeitlichen Beginn eines „Völkerrechts“ noch über seinen räumlichen und materiellen Regelungsbereich klare Aussagen möglich sind. Immerhin kann auf einen Vertrag aus dem Jahre 3100 v.Chr. zwischen zwei mesopotamischen Stadtstaaten (Lagasch und Umma) hingewiesen werden. Nussbaum, der seine Völkerrechtsgeschichte mit diesem Vertrag beginnen lässt, fügt allerdings mit Recht hinzu, die Bezeichnung „Staat“ sei für die beiden beteiligten Gemeinschaften „etwas gewagt“. 43 Stärkere Beachtung hat in der Literatur eine Gruppe von Verträgen gefunden, die zwischen ägyptischen Pharaonen und hethitischen Königen im zweiten Jahrtausend v.-Chr. abgeschlossen wurden, insbesondere der Vertrag zwischen dem Pharao Ramses II. und dem Hethiterkönig Hattuschil aus dem Jahre 1270 v.Chr. Es handelt sich um Freundschaftsverträge, in denen u.-a. auch die Auslieferung geregelt wird. Solche Verträge sind auch für die Beziehungen zwischen den Hethitern und anderen kleinasiatischen Königreichen nachweisbar. Die Frage, ob durch den Abschluss jener Verträge eine Rechtsordnung zustande kam, die als Völkerrecht bezeichnet werden könnte, ist bisher noch nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit beantwortet worden. Der zweite Präsident des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, der Schweizer Max Huber, hatte die Meinung vertreten, die historische Entwicklung des Völkerrechts verlaufe zwangsläufig „vom rechtsgeschäftlichen Vertrag zur Ausbildung objektiver Verkehrsnormen und zur vertragsmäßigen Vereinbarung partikulärer, kollektiver und universeller Normen“; aber er kommt zu dem Schluss: „Die Völker des antiken, das Mittelmeer umschließenden Kulturkreises haben kein gemeinschaftliches Recht hervorgebracht, wiewohl zwischen allen vereinzelte Rechtsverhältnisse bestanden.“ 44 Hiervon ist eine Ausnahme zu machen, auf die Huber selbst hinweist: die griechischen Stadtstaaten. 42 M. Koskenniemi, History of International Law, since World War II (Juni 2011), MPEPIL (Online-Ed.); siehe für eine weitere Differenzierung auch K.-H.- Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2.- A., 2007, 8.-12. Kapitel. 43 A.-Nussbaum, Geschichte des Völkerrechts in gedrängter Darstellung, 1960, 2. 44 M.-Huber, Die soziologischen Grundlagen des Völkerrechts, 1928, 25f. <?page no="50"?> 14 1. Grundlagen Griechenland. Zwischen den politischen Einheiten der hellenischen Welt, die in der Regel als „Stadtstaaten“ bezeichnet werden, entwickelte sich durch Verträge und Gewohnheit eine völkerrechtsähnliche Rechtsordnung. Ihr Entstehen wurde dadurch begünstigt, dass diese Kleinstaaten, auch wenn sie weit entfernt von Griechenland lagen, doch der gleichen Kultur entstammten. Außerdem scheint die gemeinsame Benutzung eines großen, nicht unter der Herrschaft eines einzigen Staates stehenden Gemeinschaftsraumes, wie ihn das Meer oder ein Meeresteil darstellt, die Herausbildung von Rechtsregeln, sei es für Seehandel oder für Seekrieg, zu fördern. Zahlreich waren die Bündnisverträge, die Koalitionen vor den Kriegen und die Friedensschlüsse nach ihnen. Eine andere Gruppe von Verträgen regelte die Rechtsstellung der Fremden. Hier brachten die Griechen ein Rechtsinstrument hervor, das sehr modern anmutet: Den Isopolitievertrag, durch den die Bürger der am Vertrag beteiligten Staaten im Ausland eine weitgehende Gleichstellung mit den Bürgern des Gastlandes erlangten. Der Schutz der Ausländer wurde durch eigens dafür bestellte Beamte, die proxenoi, wahrgenommen. Die Institution des Schutzes von Ausländern, die „Proxenie“, ist wohl eher staatsrechtlicher als völkerrechtlicher Natur, aber sie ist häufig in Staatsverträge aufgenommen worden. 45 Aus der rechtlich institutionalisierten Gastfreundschaft ging auch das völkerrechtliche Asyl hervor, dessen zweite Wurzel allerdings im religiös-sakralen Bereich, nämlich im Tempelasyl, lag. Rom. Sobald Rom seine Herrschaft über die Mittelmeerländer ausdehnte, zeigte sich ein grundlegender Wandel der Rechtsauffassung bezüglich der Beziehungen zu fremden Völkern: Sie wurden nicht als gleichberechtigt anerkannt. Zwar schlossen die Römer in sämtlichen Entwicklungsstadien des Anwachsens ihrer Macht zahlreiche Verträge mit ihren Nachbarn. Aber auf diese Verträge wurde der Grundsatz „pacta sunt servanda“, der die Grundlage der römischen Privatrechtsordnung - wie jeder Rechtsordnung - war, nicht angewendet. Sie blieben Mittel der Politik und wurden bedenkenlos beiseitegeschoben, wenn Rom stark genug war, sie zu brechen. Rom wollte nicht nur keine höhere Macht über sich anerkennen, sondern auch keine gleichgeordnete Macht. Damit ging es weit über das Souveränitätsdenken hinaus, von dem die Neuzeit beherrscht werden sollte. Roms Streben richtete sich darauf, die gesamte Welt zu beherrschen. Wer noch außerhalb des römischen Herrschaftsbereichs lebte, war als Nichtrömer weder tatsächlicher noch potenzieller Rechtsgenosse. Freilich trieben die Römer auch Handel mit „Barbaren“ und mussten zu diesem Zweck eine Rechtsordnung schaffen, der die Verträge zwischen römischen Bürgern und Fremden (peregrini) zugerechnet werden konnten: Das ius gentium. Da die Gelehrten zu Beginn der Neuzeit, als der Begriff „Völkerrecht“ juristisch definiert wurde, ihre Werke in lateinischer Sprache schrieben und diejenige Rechtsordnung, die wir in moderner Ausdrucksweise Völkerrecht nennen, als „ius gentium“ bezeichneten, entstand die Meinung, auch die Römer hätten bereits ein Völkerrecht gekannt. 46 Aber das ius gentium der Römer war alles andere als ein Völkerrecht. Es leitete seine Geltung allein aus dem rechtsschöpferischen Willen des römischen Imperiums ab und galt nicht für den Verkehr zwischen Rom und anderen Staaten, sondern nur für den Rechtsverkehr zwischen den römischen 45 Vgl. H.-von Frisch, Das Fremdenrecht, 1910, 17. 46 Besonders einflussreich war in dieser Beziehung das Werk des Engländers C.- Phillipson, The international law and custom of ancient Greece and Rome, 1911; für einen völkerrechtlichen Gehalt des ius gentium neuerdings C.-Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung, 1998, 209-m.w.N.; siehe in diesem Sinne auch A. Zack, Studien zum „Römischen Völkerrecht“, 2001. <?page no="51"?> 15 Bürgern und den nichtrömischen Privatpersonen auf dem Gebiet des römischen Imperiums. Es war auch kein Kollisionsrecht oder Normengrenzrecht wie das moderne Internationale Privatrecht, denn es regelte nicht die Frage, welches Recht auf die genannten Beziehungen anzuwenden sei - mit der Möglichkeit, dass nichtrömisches Recht zur Anwendung kommen könnte - sondern enthielt materiellrechtliche Regelungen. Es könnte daher am ehesten als Fremdenrecht bezeichnet werden, obwohl auch diese Kennzeichnung nicht ganz zutreffend ist, weil das ius gentium nicht die gesamte Rechtsstellung des auf römischem Gebiet weilenden Fremden regelte, sondern nur die Beziehungen des Fremden zu römischen Bürgern und zum römischen Staat. Für die Handhabung dieses Rechts war der praetor peregrinus bestellt, der insbesondere auch die Rechtsstreitigkeiten, die aus solchen Beziehungen entstanden, zu schlichten hatte. Da die Fremden außerhalb der römischen Rechtsordnung standen, konnte der Prätor in diesem Fall das ius civile nicht direkt anwenden, sondern höchstens analog und hatte dadurch die Möglichkeit, rechtsschöpfend zu wirken. So kam es, dass das ius gentium häufig moderner war als das überlieferte römische Recht und Gedanken enthielt, die der Prätor aus allgemeinen rationalen Überlegungen ableitete. Dies verleitete eineinhalb Jahrtausende später die Rechtsgelehrten dazu, das ius gentium als eine Art Naturrecht zu betrachten. Sie meinten, es umfasse „jene Einrichtungen rechtlichen Charakters, die bei den verschiedenen Völkern die gleichen sind, weil sie von der Ratio nahegelegt werden.“ 47 Auf die terminologische Problematik der Bezeichnung „Völkerrecht“, law of nations oder droit des gens ist bereits einleitend (Kap. 1.2) hingewiesen worden. Jedenfalls für die Entstehung der heutigen Völkerrechtsordnung ist fraglich, ob für den im Vorstehenden angesprochenen Zeitraum von einem von den Staaten unabhängigen Recht der Völker die Rede sein konnte. Selbst das gegenwärtige Völkerrecht zeigt hier erst Ansätze. 1.3.3 Die abendländische Rechtsgemeinschaft im Mittelalter Einführende Literatur: Peglau, Jens, Francisco de Vitoria als ein Begründer des modernen Völkerrechts, Jura 16 (1994), 344ff. Völkerrecht im Mittealter? Solange das Römische Weltreich bestand, war ein Völkerrecht im oben beschriebenen Sinn undenkbar. Würde sich die Geschichte nach Gesetzen der Logik entfalten, so müsste sich an den Untergang des Römerreichs eine Periode des Völkerrechts anschließen. In der Tat berichten die Chroniken über zahlreiche Verträge, die von germanischen Heerführern und Königen untereinander oder mit Resten der römischen Staatsgewalt in einzelnen Territorien des zerbröckelnden Weltreichs geschlossen wurden. Aber kein Wissenschaftler hat diese Verträge jemals dem Völkerrecht zugeordnet oder den Versuch gemacht, aus ihnen ein Völkerrechtssystem zu konstruieren. Die Tatsache, dass ein Zeitraum von mehr als tausend Jahren, in denen die Geschichte nicht stillstand, Kriege geführt und Frieden geschlossen, Reiche gegründet und vernichtet wurden, ein großräumiger Handel sogar über die Grenzen Europas hinweg und ein nicht zu unterschätzender Kulturaustausch stattfanden, in der Historiographie des Völkerrechts fast völlig ignoriert wird, mutet auf den ersten Blick seltsam an. Aber diese Einschätzung des gesamten Zeitraums, der vom Untergang des Römischen Reiches bis zum Ende des 16. Jahrhunderts reicht, ist in der Geschichtsschrei- 47 J.-Soder, Francisco Suárez und das Völkerrecht, 1973, 109. 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="52"?> 16 1. Grundlagen bung und Völkerrechtswissenschaft einhellig. Allenfalls werden die geistesgeschichtlichen Wurzeln der völkerrechtlichen Lehren der Neuzeit bis in das späte Mittelalter verfolgt oder bestimmte Akte jener Zeit als erste Ansätze späterer Rechtsinstitutionen (wie z.-B. der Souveränität) gedeutet. Die Erklärung für dieses Phänomen liegt im Verständnis des Völkerrechts als einer Rechtsordnung zwischen unabhängigen, gleichberechtigten Staaten. Die Herrschaft des römischen Imperiums hatte eine solche Rechtsordnung deshalb ausgeschlossen, weil die wenigen an der Peripherie des Imperiums existierenden Staaten - in der Zeit der Hochblüte der römischen Weltherrschaft blieb nur das Perserreich unerobert - nicht als gleichberechtigt anerkannt wurden. In den darauf folgenden Jahrhunderten war das Entstehen einer Völkerrechtsordnung deshalb unmöglich, weil die Herrschaftsverbände, die das römische Erbe übernahmen, nicht als Staaten angesprochen werden konnten und weil sie zudem noch an dem Gedanken der Einheit des Imperiums festhielten. Die Verträge, die zwischen germanischen Heerführern, Herzögen und Königen geschlossen wurden, schufen persönliche Rechtsbeziehungen zwischen diesen Personen und erzeugten weitere Rechtswirkungen nur kraft der persönlichen Treueverhältnisse zwischen den Führern und ihren Gefolgsleuten (in späterer Zeit: Lehnsträger). Hieraus erklärt sich die überragende Bedeutung von Treue, Treubruch und Verrat im germanischen Recht. Ein allgemeines Rechtssystem aber kann sich aus solchen persönlichen Beziehungen, die naturgemäß spätestens mit dem Tod der Vertragschließenden enden, nicht entwickeln. Allenfalls kann die allgemeine Achtung des Grundsatzes der Heiligkeit der Verträge angenommen werden. Dieser Grundsatz ist jedoch nicht aus der Vertragspraxis entstanden, sondern bildet deren Voraussetzung. Gerade das Abstellen auf Einzelpersonen und deren Verhalten bringt ferner alle Probleme des Vertragsrechts in überspitzter Form mit sich, wie z.-B. Wegfall der Geschäftsgrundlage durch „Treubruch“, Zweckerreichung, Veränderung der äußeren Umstände usw. Und schließlich erschwerte die Institution des Wahlkönigtums, die sich noch bis ins hohe Mittelalter fortsetzte, die Herausbildung einer jeglichen Rechtskontinuität in den äußeren Beziehungen. Der zweite Grund, warum Beziehungen zwischen den mittelalterlichen Herrschaftsverbänden nicht als völkerrechtliche Ordnung betrachtet werden, ist schwerer zu verstehen, weil er dem ersten zu widersprechen scheint. Die germanischen Völker lehnten die römische Staatsauffassung bewusst ab und hielten an der personenverbandsrechtlichen Struktur fest. Gleichzeitig aber lebte in ihnen die Idee des Römischen Reiches fort. Gerade die Schrecknisse der Zeit der Völkerwanderung und des Zusammenbruchs des römischen Imperiums verstärkten die Sehnsucht nach Ordnung, Frieden und Einheit. Die Glanzzeit des römischen Weltreichs, die sie selbst nur vom Hörensagen kannten, erschien den Germanen als der erstrebenswerte Zustand der Welt. Nur so lässt es sich erklären, dass Jahrhunderte nach dem endgültigen Zusammenbruch des römischen Imperiums ein neues römisches Reich, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, errichtet wurde, dessen Kaiser zwar einem germanischen Volksstamm angehörte und seine Länder nach germanischer Tradition - unter Fortgeltung der alten Volksrechte - regierte, sich aber als Nachfolger der römischen Cäsaren und damit als Wahrer von Recht und Frieden auf dem ganzen bekannten Erdkreis fühlte. 48 Es wäre sicher verfehlt, die Reichsidee „supranational“ zu nennen, denn etwas 48 Siehe hierzu H.- Thieme, Das Heilige Römische Reich und seine Glieder, JuS 21 (1981), 549ff.; J.- Hofmann/ H.-Thieme, Noch einmal: Das Heilige Römische Reich und seine Glieder, JuS 22 (1982), 167ff. <?page no="53"?> 17 Supranationales kann erst bestehen, wenn Nationen vorhanden sind, über die das Überwölbende gespannt werden kann. Auch war sie nicht „international“, da die Reichsidee nicht lediglich den Verkehr zwischen verschiedenen Einheiten vermitteln, sondern tatsächlich eine höhere Einheit darstellen sollte. Am ehesten lässt sich daher der Ausdruck „universal“ verwenden, obwohl Bedenken dagegen schon wegen der räumlichen Begrenzung des Reichs - es erfasste kaum die Hälfte des alten Römerreichs - erhoben werden müssen. Doch muss bei alledem berücksichtigt werden, dass das Reich stets eine ideale Struktur darstellte, so dass es besser ist, von der „Reichsidee“ zu sprechen. Die Reichsidee war nicht an die Grenzen eines territorialen Herrschaftsbereichs gebunden, sondern sogar darauf angelegt, Grenzen zu überwinden, also im echten Sinne universal zu sein. Diese Universalität der Reichsidee, die zugleich zum Einmaligkeitsanspruch des Reichsgedankens führte, liegt wiederum in der Erinnerung an das Römische Reich begründet, das nicht ein Reich unter vielen gewesen war, sondern das Reich schlechthin. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Römer alle außerhalb ihres Herrschaftsbereichs lebenden Völker als Objekte ihrer Expansionspolitik betrachteten, fand nun ihr Gegenstück in der Selbstverständlichkeit, mit der die Vertreter der Reichsidee davon ausgingen, dass es auf der ganzen Welt nur ein Reich und einen Kaiser geben könne. Verstärkt wurde diese Vorstellung dadurch, dass der Kaiser zugleich als Schirmherr des Christentums auftrat, das eben diesen Universalitätsanspruch auf weltanschaulich-religiösem Gebiet erhob und seine Realisierung mit allen Kräften erstrebte. Wie der Kaiser war auch der Papst Sinnbild der Einheit des christlichen Abendlandes und er blieb es sogar in einer Zeit, als die politische Schwäche des Kaisertums längst offenkundig war: Die neuen politischen Einheiten, die innerhalb des Reiches und neben ihm entstanden, sagten sich zuerst von der Befehlsgewalt des Kaisers los, während sie noch Jahrhunderte danach ein Schiedsrichteramt des Papstes in gewissem Umfang anerkannten. Die Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhles, die heute noch besteht (vgl. unten Kap. 2.3.1), hat in jenen Zeiten ihren Ursprung. Auch sonst ist das Mittelalter nicht ganz ohne Interesse für die Völkerrechtsgeschichte. Neben der bereits erwähnten Schiedsgerichtsbarkeit des Papstes und dem Beitrag, den die Hanse zur Schaffung der Grundlagen eines modernen Seerechts leistete, 49 gehören insbesondere die Lehren der Scholastiker über den gerechten und den ungerechten Krieg und die Überlegungen, die im Zuge der Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst, der Loslösung der weltlichen Gewalt von der geistlichen und dem Streben der Territorialherren nach Unabhängigkeit von Kaiser und Papst angestellt wurden, zu denjenigen Gebieten, die wir zumindest in rückschauender Betrachtungsweise dem Völkerrecht zuordnen können. Nur in diesem akademischen Sinn kann von einem „Völkerrecht des Mittelalters“ gesprochen werden. Nussbaum sieht im Mittelalter die „ersten Keime des Völkerrechts“ und meint, dem Völkerrecht sei „trotz der hemmenden Wirkung des supranationalen und feudalen Rechts“ doch „ein gewisser Spielraum“ geblieben. Er fügt jedoch hinzu, dass sich solches Recht hauptsächlich „zwischen Ländern wie England, Frankreich, Kastilien, 49 A.-Wegner, Geschichte des Völkerrechts, 1936, 128, nennt das Seerecht „ein Erzeugnis des Mittelalters“, gibt aber zu, dass die Rechtsbücher, Richtersprüche und Gesetze der Hanse und der großen Seemächte England und Spanien ein „zu großem Teil noch ungehobener Schatz“ sind; siehe auch E.-Reibstein, Das Völkerrecht der deutschen Hanse, ZaöRV 17 (1956/ 57), 38ff. 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="54"?> 18 1. Grundlagen Aragon, Portugal, Schweden und Venedig entwickeln“ konnte, weil sie nicht zum Reich gehörten. „Das Reich als solches ging selten internationale Verpflichtungen ein.“ 50 Es ist interessant, dass Nussbaum nur einen einzigen derartigen Fall eines internationalen Vertrages des Reichs erwähnt, nämlich den Vertrag von Joppa aus dem Jahre 1229 zwischen Kaiser Friedrich- II. und Sultan El Kamil während des fünften Kreuzzugs. Hier war in der Tat das Reich an die Grenzen seines Universalitätsanspruchs gelangt. Nicht von ungefähr brachte die Berührung des mittelalterlichen Europas mit dem Islam, obwohl sie in der Form einer kriegerischen Auseinandersetzung stattfand, neue Impulse in das christliche Abendland, die als Vorboten der Neuzeit gedeutet werden können. In der historischen Literatur ist häufig gefragt worden, wie sich die Reichsidee über Jahrhunderte hinweg behaupten konnte, obwohl doch relativ früh zu erkennen war, dass sie kaum in die politische Praxis umgesetzt werden konnte. Rückschauend musste es so scheinen, als hätten sich die Vorkämpfer der Reichsidee - d.-h. in erster Linie die Kaiser selbst sowie die Mehrzahl ihrer Berater - immer weiter von der Wirklichkeit entfernt. Dabei wird häufig der Vorwurf erhoben, die für die Geschicke des Reichs Verantwortlichen hätten Jahrhunderte lang einem Traumgebilde nachgejagt. Der über diese Frage zwischen den Verfassungshistorikern geführte Streit braucht hier nicht entschieden zu werden. Jedoch ist auf einen Umstand hinzuweisen, der in der früheren Literatur stark vernachlässigt wurde und der wohl dazu beitragen kann, das Festhalten an einer scheinbar irrealen Konstruktion zu erklären. Es ist die Friedensfunktion von Kaiser und Reich auf der einen Seite, die Friedenssehnsucht der mittelalterlichen Menschen auf der anderen. Der Universalitätsanspruch von Kaiser und Reich bestand, wie bereits ausgeführt, nicht um seiner selbst willen. Er war nicht Ausdruck eines expansiven Imperialismus, sondern eines Strebens nach Einheit, Ordnung und Frieden. Eine große Zahl von kaiserlichen Erlassen und Gesetzen zeigt, dass die Kaiser schon sehr bald die ursprünglich allein von der Kirche getragene Idee des „Gottesfriedens“ übernahmen und den Schutz des Friedens im Reich als ihre Hauptaufgabe betrachteten. Bereits im Jahre 1085 wurde in Anwesenheit Kaiser Heinrichs IV. der Gottesfriede für das ganze Reich vom Mainzer Erzbischof verkündet. 51 Bezeichnenderweise waren es bis zum Ende des alten Reiches (1806) die kleinen „Reichsstände“, d.-h. die auf dem Reichstag vertretenen Städte, Ritterschaften, geistlichen und weltlichen Herrschaften, die sich zum Kaiser und zur Reichsidee bekannten, weil sie darin einen Schutz für Recht, Freiheit, Frieden und Unabhängigkeit erblickten. Und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass die Friedenssehnsucht des ganzen Volkes im Mittelalter außerordentlich groß war und sich auf den Kaiser als Symbol des Friedens konzentrierte. Hier entfaltete die Reichsidee tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Das Festhalten an der Reichsidee erscheint unter diesem Aspekt nicht ganz so irreal, wie es zuweilen dargestellt wird. 50 A.-Nussbaum, Geschichte des Völkerrechts, 1960, 26. 51 Hierzu V. Achter, Über den Ursprung des Gottesfriedens, Krefeld 1955; J.-Gernhuber, Die Landfriedensbewegung in Deutschland zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235, Bonn 1952; H.-Hoffmann, Gottesfriede und Treuga Dei, 1964; A.-Kluckhohn, Geschichte des Gottesfriedens, Neudruck 1966. Verbindungslinien zum Völkerrecht älterer Zeiten sind durchaus zu ziehen; vgl. P.A.-Hausmann, Die Spuren der Treuga Dei im Völkerrecht oder Vom Wandel des Friedensverständnisses, in: G.-Picht/ C.-Eisenbart (Hg.), Frieden und Völkerrecht, 1973, 235ff. Siehe auch A.-Buschmann, Der Mainzer Reichslandfriede von 1235 - Anfänge einer geschriebenen Verfassung im Heiligen Römischen Reich, JuS 31 (1991), 453ff. <?page no="55"?> 19 Ferner hat sich am Problem des Friedens die erste wissenschaftliche Diskussion entzündet, die als Völkerrechtstheorie bezeichnet werden könnte. In Anknüpfung an Augustinus (354-430) entwickelte Thomas von Aquin (1225-1274) die Lehre vom gerechten Krieg weiter und stellte sie hinein in das strenge Gedankengebäude der Scholastik, das die Grundprinzipien des wissenschaftlichen Denkens schuf. 52 Auf dieser Grundlage konnten die Aussagen des Kirchenrechts 53 und der Moraltheologie neu durchdacht und wissenschaftlich begründet und formuliert werden. Die wichtigsten Forscher, die dies taten und deshalb zu den Begründern des Völkerrechts gezählt werden, obwohl sie der akademischen Herkunft nach Moraltheologen waren, sind Francisco de Vitoria (1480-1546), Domingo Soto (1494-1560), Balthasar Ayala (1548-1584), Francisco Suàrez (1548-1617) und Alberico Gentili (1552-1608). Während Augustinus und die Scholastiker den gerechten Krieg allein daran erkennen wollten, ob er aus gerechtem Grund (ex iusta causa) und mit rechter Absicht (intentio recta) geführt wurde, unterschied bereits Vitoria zwischen schuldhaftem und schuldlosem („objektivem“) Unrecht. Der objektiv zwar das Recht verletzende Gegner, der sich subjektiv in gutem Glauben oder in Unkenntnis der Rechtswidrigkeit befinde, dürfe wohl niedergerungen werden, eine Bestrafung aber könne nur gegenüber dem schuldigen Feind in Frage kommen. Vitorias Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Salamanca, Domingo Soto, baute die Lehre vom gerechten Krieg weiter aus und verlangte die Erfüllung von drei Voraussetzungen: auctoritas, causa, forma iuris. Einen Schritt weiter ging Suàrez, der klar herausstellte, dass nach christlicher Auffassung der Krieg nur als Verteidigungskrieg gegen objektives Unrecht und als Strafkrieg gegen einen schuldigen Feind zulässig sei. Zum Unrecht des Krieges muss hier allerdings noch das wirkliche Erforderlichsein der kriegerischen Gewalt hinzukommen. Der letztere Gedanke findet sich bereits bei Augustinus und taucht bei Soto und Suàrez wieder auf. Er ist eine erste Ausprägung des Prinzips, das heute noch das ganze Völkerrecht beherrscht: Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mitteln. Die Beschäftigung mit der Situation des gutgläubig handelnden, aber objektiv im Unrecht befindlichen Kriegführenden warf eine völlig neue Frage auf: Kann der Krieg auf beiden Seiten gerecht sein? Es war Alberico Gentili, der diese Frage schließlich bejahte und den Begriff des bellum iustum ex utraque parte, des beiderseits gerechten Krieges, prägte. Dieser Begriff offenbart einen Epochenabschluss in der Geschichte des Völkerrechtsdenkens und leitet über zum Beginn jener Periode, die im Allgemeinen als „klassisches Völkerrecht“ bezeichnet und von vielen als der Anfang des Völkerrechts überhaupt angesehen wird. Der Grund für diese Beurteilung ist offenkundig: Wenn der Krieg für beide Seiten gerecht sein kann, so wird er moralisch indifferent. Es kann die Rechtsfigur der Neutralität entstehen, also die Annahme einer Pflicht zu unparteiischem Verhalten gegenüber beiden Kriegführenden (siehe unten Kap. 13.9). Eine solche Haltung aber war nur möglich, weil die Einheit des christlichen Abendlandes zerbrochen war und es keine Instanz mehr gab, die moralisches Recht oder Unrecht feststellen konnte. Der Begriff der Souveränität sprengte dann die letzten Fesseln und begründete für jeden Staat das „Recht zum Kriege“ (ius ad bellum). 52 J.-Delbrück/ K.-Dicke, The Christian Peace Ethic and the Doctrine of Just War from the Point of View of International Law, GYIL 28 (1985), 194ff. 53 Das Decretum Gratiani (um 1140) erklärt in pars 2 causa 23, dass der gerechte Krieg keine Sünde ist. 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="56"?> 20 1. Grundlagen Mit der rechtlichen Fixierung dieser beiden Begriffe war die erste Phase der europäischen Staatengeschichte endgültig abgeschlossen und es begann die Epoche des „klassischen Völkerrechts“. 1.3.4 Das „klassische“ Völkerrecht Einführende Literatur: Pieper, Stefan, Der Westfälische Friede und seine Bedeutung für das Völkerrecht, JA 27 (1995), 988ff. Es ist kein Zufall, dass die Völkerrechtsgeschichte aufs Engste mit der europäischen Staatengeschichte verknüpft ist. 54 Die Völkerrechtstheorie, die dem „klassischen Völkerrecht“ zugrunde lag, war eine Frucht europäischen Denkens. Die Bezeichnung „klassisch“ für diese Periode bezeichnet dabei die typische Ausprägung der völkerrechtlichen Ordnung, wie etwa durch die Ausprägung der staatlichen Souveränitätsrechte. Mit Recht ist noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Völkerrecht schlechthin als „europäisches öffentliches Recht“ (ius publicum europaeum) bezeichnet worden, obwohl damals bereits außereuropäische Mächte wie die Vereinigten Staaten von Amerika und südamerikanische Staaten gleichberechtigte Mitglieder der Völkerrechtsordnung waren. Denn diese galten als „europäische“ Staaten, weil sie dem europäischen Kulturkreis entstammten. In dieser Umschreibung der Völkerrechtsgemeinschaft lebte die alte Vorstellung vom christlichen Abendland fort und die Aufnahme von außerhalb des christlich-abendländischen Kulturkreises stehenden Mächten erfolgte ausdrücklich als „Aufnahme in das europäische öffentliche Recht“. 55 Erst im 20.-Jahrhundert, als die Epoche des klassischen Völkerrechts zu Ende ging, wurde der Kreis der Völkerrechtssubjekte neu definiert und es begann der Prozess der echten Universalisierung des Völkerrechts (vgl. unten Kap. 1.3.5.2). Jener Abschnitt der europäischen Staatengeschichte, der mit der Epoche des klassischen Völkerrechts zusammenfällt, ist gekennzeichnet durch den Begriff der Souveränität. Da der in Münster und Osnabrück geschlossene Westfälische Frieden, 56 mit dem der Dreißigjährige Krieg beendet wurde, das erste völkerrechtliche Dokument ist, in dem die Souveränität ausdrücklich bestätigt wird, lässt die Historiographie des Völkerrechts die Epoche des klassischen Völkerrechts mit dem Jahr 1648 beginnen. Aber selbstverständlich lassen sich Beginn und Ende einer Epoche nicht so genau festlegen. Auch der Begriff der Souveränität ist wesentlich älter als der Westfälische Frieden. Er findet sich bei spätmittelalterlichen Autoren 57 und lässt sich als Triebkraft der Bemühungen um die Unabhängigkeit von Kaiser und Papst nachweisen. Seine wesentliche gedankliche Durchdringung ist neben Niccolo Machiavelli (1469-1527) vor allem Jean Bodin (1530-1596) zu verdanken, der in seinem 1576 erschienenen Buch „Les six livres de la République“ in Ansehung der konfessio- 54 Zur Eurozentriertheit der Völkerrechtsgeschichtsbetrachtung, siehe K.-H. Ziegler, Zur Geschichtlichkeit des Völkerrechts, Jura 19 (1997), 449ff. 55 So ausdrücklich Art. 7 des Pariser Friedensvertrages von 1856, durch den die Türkei als Völkerrechtssubjekt anerkannt wurde. 56 Die beiden Dokumente des Westfälischen Friedens von Münster und Osnabrück finden sich in: W.-Grewe, Fontes historiae iuris gentium, Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, Bd.-1: 1493-1815, 183ff. 57 Vgl. F.A.-Frhr. von der Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates, 1952. <?page no="57"?> 21 nellen Bürgerkriege in Frankreich nach Befreiung der Herrschaftseinheit vom universalistischen Anspruch der Kirche sucht und so Souveränität als „la puissance absolue et perpétuelle d’une république“ bezeichnet. Zusammen mit dem modernen Staatsbegriff, den die Umwandlung des Personenverbandes in eine territoriale Herrschaft kennzeichnete, entstand der Begriff der Souveränität also als Kennzeichnung der Unabhängigkeit nach außen und nach innen. Die Formel vom Fürsten, „der keinen Höheren über sich anerkennt“, die Jahrhunderte lang zuerst heimlicher Wunsch, dann offener Schlachtruf der Territorialherren in Auflehnung gegen Kaiser und Papst gewesen war, wurde jetzt zur juristischen Definition ihrer Stellung, die in ihrer Gesamtheit durch den Begriff „Souveränität“ beschrieben wurde. So war die Souveränität zunächst eine Eigenschaft der unabhängigen Fürsten, der „Souveräne“. Das Recht des Verkehrs zwischen den Souveränen als unabhängigen, gleichberechtigten Herrschern, die keinen Höheren über sich anerkennen, wurde in Anlehnung an das römische ius gentium (vgl. oben Kap. 1.3.2) als „Völkerrecht“ bezeichnet, obwohl jedermann wusste, dass dabei von Rechten der Völker keineswegs die Rede war. Mit voller Berechtigung gilt die Souveränität als tragende Säule des gesamten Systems des klassischen Völkerrechts. Diese Grunderkenntnis bildet den Schlüssel für das Verständnis zahlreicher Institutionen und Regeln des klassischen Völkerrechts, wie des Grundsatzes der Staatengleichheit, der Einstimmigkeit bei internationalen Beschlüssen, des Interventionsverbots usw. Vor allen Dingen aber wurde während dieser Epoche aus der Souveränität das Recht zum Kriege (ius ad bellum) abgeleitet. Die von den „Vätern des Völkerrechts“ geführte Kontroverse über den gerechten Krieg war damit endgültig abgebrochen: Jeder Krieg, zu dem ein Souverän (bzw. ein souveräner Staat) sich entschloss, war rechtens. Dieses Prinzip galt bis zum Ende der Epoche des klassischen Völkerrechts im 20.-Jahrhundert. Als der deutsche Kaiser nach verlorenem Weltkrieg im November 1918 in das neutrale Holland flüchtete, verlangten die Siegermächte seine Auslieferung, um ihn als Verursacher des Krieges zur Rechenschaft zu ziehen. Holland wies den Antrag der Großmächte zurück, ohne die Kriegsschuld des Kaisers geprüft zu haben. Die Begründung lag in dem damals noch geltenden Völkerrecht, nach dem kein Souverän wegen des Schreitens zum Kriege zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit hatte Ludwig XIV. auf die Geschütze seiner Armeen schreiben lassen: „ultima ratio regum“. Ob der König die Waffen wirklich als letztes Hilfsmittel einsetzte, nachdem er alle anderen Mittel zur Beilegung eines Konflikts vergeblich eingesetzt hatte, konnte allerdings nicht nachgeprüft werden. Der Krieg war auch rechtlich die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie Clausewitz 58 schrieb. Wohl bemühten sich die Herrscher noch immer, ihre Entscheidung für einen Krieg mehr oder minder sorgfältig zu begründen, aber für die rechtliche Beurteilung dieser Entscheidung war dies belanglos. So war es ganz selbstverständlich, dass das klassische Völkerrecht ohne moralische oder politische Wertung zwischen zwei Rechtszuständen des zwischenstaatlichen Verkehrs unterschied: Krieg und Frieden. Es ist kein Zufall, dass derjenige, der wie kein anderer zur Herausbildung der Theorie des klassischen Völkerrechts beigetragen hat und deshalb in bewusster Absonderung von den spanischen Moraltheologen als „Vater des Völkerrechts“ bezeichnet wird, der Holländer Hugo 58 C. von Clausewitz, Vom Kriege, 16.-A., 1952, 108. 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="58"?> 22 1. Grundlagen Grotius (1583-1645), sein umfassendes Hauptwerk „De iure belli ac pacis libri tres“ betitelte - drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Es erschien 1625 und beschrieb bereits dasjenige System, das wenig später durch den Westfälischen Frieden rechtlich verankert wurde. Hierin stellt Grotius umfassend die damalige Staatspraxis als Quelle des Völkerrechts dar und bestimmt den in den Verträgen dokumentierten Willen der Staaten, also den Konsens der Staatengemeinschaft als eigenständige Geltungsgrundlage (dazu oben Kap. 1.2) des Völkerrechts. Er wurde damit zum Vorreiter einer „Enttheologisierung“ 59 des Völkerrechts. Bald hatte das Völkerrecht die letzten Fesseln des mittelalterlich-scholastischen Denkens abgestreift und war ein wertneutrales Gefüge von Rechtsnormen für den Verkehr von Souveränen und Staaten in Krieg und Frieden geworden. So betrachtet erscheint das System des klassischen Völkerrechts als „Souveränitätsanarchie“, die der freien Entfaltung der politischen und militärischen Macht keine Grenzen setzte und im 18.-Jahrhundert das Zeitalter der Kabinettskriege, im 19. dasjenige des Imperialismus hervorbrachte und trug. Zwischen diesen beiden Epochen ist die relative Einflusslosigkeit der Französischen Revolution auf das System des klassischen Völkerrechts zu verzeichnen. Wenn die Souveränität von ihrem Ursprung her eine Eigenschaft der Souveräne war, d.-h. der von Kaiser und Papst unabhängigen Landesherren, so hätte man meinen müssen, dass sie von derjenigen Weltbewegung, welche die Herrschaft der Fürsten zu stürzen suchte, auf das Heftigste bekämpft würde. Aber nichts dergleichen geschah. An die Stelle der Fürstensouveränität trat im Inneren die Volkssouveränität, nach außen hin aber in Gestalt der Staatssouveränität. Auf der völkerrechtlichen Ebene trat der republikanische Staat das gesamte Erbe der Monarchien an. Die Souveränität blieb als tragender Pfeiler des klassischen Völkerrechts unangetastet. Immerhin ist es ein nicht zu unterschätzender Erfolg des sich durch seine Wertneutralität auszeichnenden „klassischen“ Völkerrechts gewesen, dass schon wenige Jahre nach der Französischen Revolution monarchische und republikanische Staaten am Verhandlungstisch sitzen konnten. Auch der Krieg nahm andere Formen an, sobald er nicht mehr als Kampf zwischen Gut und Böse betrachtet wurde, denn nun entfiel für den Sieger die Berechtigung und auch die Notwendigkeit, den Besiegten zu strafen. Wohl war die Annexion - d.-h. der Gebietserwerb durch einseitige Erklärung des Siegers nach völliger militärischer Niederringung des Gegners - vom Völkerrecht anerkannt; sie war sogar häufig die Motivation zum Krieg. Aber mit derartigen Verschiebungen der Gebietshoheit waren grundsätzlich keine Nachteile für die Bewohner des betreffenden Gebietes verbunden. Völkermord, Vertreibung und Konfiskation von Privateigentum waren in diesem System undenkbar. Das Bestreben, die unbeteiligten Bürger von den Wirkungen der Kriegshandlungen möglichst zu verschonen, stellte einen ersten Ansatz für die Humanisierung des Kriegführungsrechts dar. Während einerseits das ius ad bellum den Souveränen bzw. den souveränen Staaten das Recht gab, nach freier Entscheidung zum Kriege zu schreiten, entstand andererseits ein ius in bello, ein Recht im Kriege, für das sich in Literatur und Staatenpraxis die Bezeichnung „Kriegsrecht“ durchsetzte. Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein bestanden die Völkerrechtslehrbücher aus 59 M. Herdegen, Völkerrecht, 18. A., 2019, §-2, Rn. 4. <?page no="59"?> 23 zwei ungefähr gleich großen Teilen: 1. Friedensrecht, 2. Kriegsrecht. So unterwarf das klassische Völkerrecht zwar nicht den Krieg als solchen, wohl aber die einzelnen Kriegshandlungen einer rechtlichen Nachprüfung und schuf damit die Grundlagen für das humanitäre Völkerrecht, das sich tatsächlich noch während der Geltung des klassischen Völkerrechts im Bereich des Kriegsrechts herausbildete (siehe unten Kap. 13). Auf den ersten Blick mutet es widersinnig an, dass der Gedanke der Menschlichkeit im Völkerrecht ausgerechnet bei der Normierung derjenigen Vorgänge, welche die größten Unmenschlichkeiten mit sich zu bringen pflegen, seinen ersten Niederschlag fand. Aber bei näherer Betrachtung erweist sich, dass die Entwicklung absolut folgerichtig ist. Wieder ist es die Wertneutralität des Völkerrechts und die kühle Behandlung von Krieg und Frieden als zwei prinzipiell unterschiedliche Rechtszustände, die es erlauben, den Zustand des Krieges ohne Rücksicht auf Kriegsschuld und gerechten Kriegsgrund rechtlich zu normieren, um Unbeteiligte zu schützen und die Wirkung der Kriegshandlungen möglichst einzudämmen. 60 Kriegsrecht und Recht zum Kriege weisen daher zwar einen notwendigen dogmatischen Zusammenhang auf, 61 haben aber unterschiedliche Bedeutung: Das Recht zum Kriege (ius ad bellum) ist ein Recht im subjektiven Sinn, d.-h. die Berechtigung des Souveräns bzw. des souveränen Staates, zum Kriege zu schreiten; das Kriegsrecht (ius in bello) ist Recht im objektiven Sinn, d.-h. die Summe aller Rechtsregeln, welche die Kriegführung und die Neutralität betreffen. Das Problem des Friedens wurde vom klassischen Völkerrecht keineswegs völlig außer Acht gelassen. Das „Friedensrecht“ des klassischen Völkerrechts war zwar kein Kriegsverhütungsrecht im Sinne des geltenden Völkerrechts, aber es enthielt zahlreiche Regeln und Institutionen, die der Lösung von Streitigkeiten und Konflikten dienten, wie z.- B. Vermittlung, gute Dienste und Schiedsgerichtsbarkeit (siehe unten Kap. 7.2 und 7.3). Auch wirkte sich das gesamte Friedensvölkerrecht insofern kriegsverhütend aus, als es den zwischenstaatlichen Verkehr in formalisierte Bahnen lenkte. Kriegsbeginn und Kriegsende waren durch Rechtsregeln formalisiert, die dem Kriegsrecht angehörten und von der Kriegserklärung bis zum Friedensschluss reichten. Der Friedensvertrag selbst aber gehörte dem Friedensrecht an und bedeutete daher die Überleitung der Beziehungen der ehemaligen Kriegsgegner aus dem Rechtszustand des Krieges in denjenigen des Friedens. Dennoch muss immer wieder betont werden, dass das klassische Völkerrecht keine allgemeinen Rechtsnormen kannte, die den Staaten die Pflicht auferlegten, den Frieden zu erhalten, wie dies im gegenwärtigen Völkerrecht der Fall ist. In diesem Sinne war das klassische Völkerrecht keine Friedenskraft. Es wäre jedoch ein Irrtum, wenn dem Völkerrecht dieser Zeit vorgeworfen würde, es sei ihm dreihundert Jahre lang nicht gelungen, den Krieg aus der internationalen Politik zu entfernen. Tatsache ist, dass das Völkerrecht drei Jahrhunderte hindurch - nämlich während seiner ganzen „klassischen“ Periode - gar nicht den Versuch unternahm, den Krieg als solchen aus dem Völkerleben zu verbannen. Es wollte ihn vielmehr lediglich „hegen“ 62 , d.-h. eingrenzen. Der 60 Hierzu O. Kimminich, Humanitäres Völkerrecht - Humanitäre Aktion, 1972, 13ff.; zu neuen Herausforderungen des humanitären Völkerrechts siehe R. Gabor, Interesting Times for International Humanitarian Law: Challenges from the „War on Terror“, The Fletcher Forum of World Affairs 27 (2003), 55ff. 61 Vgl. L. Kotzsch, The Concept of War in Contemporary History and International Law, 1956, 84ff. 62 Der Ausdruck „gehegter Krieg“ stammt von C.- Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 1950, 43f.; 120ff., 180; ders., Theorie des Partisanen, 5. A., 2002, 16, 37, 91ff. 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="60"?> 24 1. Grundlagen epochale Wandel von der Kriegsfreiheit zum Kriegsverbot trat erst im 20.- Jahrhundert ein und markierte das Ende der Periode des klassischen Völkerrechts. 63 Der Umbruch zu einer neuen Phase des Völkerrechts bahnte sich mit dem Ersten Weltkrieg an, der seinerseits einen Epochenabschluss in der politischen Geschichte anzeigte. Der Erste Weltkrieg war der deutlich sichtbare Beweis dafür, dass das System des „Europäischen Konzerts“, das der Wiener Kongress von 1814/ 15 errichtet hatte, nicht mehr funktionierte. Damit war die politische Umwelt, in der das klassische Völkerrecht noch einmal einen Höhepunkt erlebt hatte, endgültig zerstört. Allerdings waren die Voraussetzungen für das Funktionieren des Systems bereits in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entfallen. Die Spielregeln des Europäischen Konzerts waren einfach: eine Pentarchie von Großmächten (Großbritannien, Frankreich, Preußen, Österreich-Ungarn, Russland) garantierte einvernehmlich den Frieden in Europa und damit in der ganzen Welt. Das zentrale Prinzip dieses Systems war das „Mächtegleichgewicht“ - ein Prinzip, das die britische Außenpolitik bereits im 18.-Jahrhundert auf den europäischen Kontinent anzuwenden versuchte. Die Erhaltung des Gleichgewichts zwischen fünf Mächten von so unterschiedlicher Größe, Lage, Verfassung und Interessenausrichtung über einen längeren Zeitraum hinweg, in dem naturgemäß erhebliche Veränderungen vor sich gehen, war ein schwieriges Problem. Das Europäische Konzert versuchte, dieses Problem auf folgende Art zu lösen: Zwischen den beteiligten Mächten bestand Einigkeit darüber, dass jeder Machtzuwachs der einen Großmacht durch einen entsprechenden Machtzuwachs aller anderen Großmächte auszugleichen wäre. Dabei war es selbstverständlich, dass keine der beteiligten Mächte einen Machtzuwachs auf Kosten irgendeiner anderen am Europäischen Konzert beteiligten Macht anstrebte, denn dies hätte zur Zerstörung des Systems geführt. Voraussetzung für das Funktionieren dieses Kompensationsspiels war daher das Vorhandensein geographischer und machtpolitischer Räume außerhalb Europas. Diese Voraussetzung war zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als das Europäische Konzert entstand, durchaus gegeben: Afrika und Asien boten hinreichend Gelegenheit zur Expansion. Großbritannien und Frankreich betätigten sich vorwiegend in Afrika und Südasien, Russland im nördlichen Asien (Sibirien). Reibungen traten dabei nicht auf. Russland stieß zwar an die Grenzen Chinas und überschritt sie, aber China war zu schwach, um sich zu wehren. Zusammenstöße zwischen Großbritannien und Frankreich ereigneten sich erst im späten 19.-Jahrhundert (z.-B. im Sudan) und führten nicht zu größeren Konflikten. Österreich fand auf dem Balkan eine Art kolonialer Ersatzbefriedigung auf Kosten des sterbenden Osmanischen Reichs. Deutschland, das nach 1871 die Nachfolge Preußens in der Pentarchie angetreten hatte, wandte sich erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dem Kolonialismus zu und versuchte, an dem weltpolitischen Kompensationsspiel teilzunehmen, ohne zu merken, dass die Voraussetzungen für das Funktionieren des ganzen Systems um diese Zeit bereits weitgehend weggefallen waren und dass es selbst dazu beigetragen hatte, das Gleichgewicht des Systems zu stören. 64 63 Siehe auch S. Hobe/ J. Fuhrmann, Vom ius in bello zum ius contra bellum: Der Beitrag der Haager Friedenskonferenz zur Entwicklung des modernen Völkerrechts, FW 82 (2007), 97ff. 64 Vgl. O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2.-A., 1987, 317, 466; W. Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund, 2.-A., 1987, 1ff., sieht im europäischen Konzert bereits einen direkten Vorläufer zu den späteren Formen institutionalisierter Staatenkooperation zu Friedenssicherungszwecken. <?page no="61"?> 25 Neben dem Vorhandensein von Kompensationsräumen war die Parallelität der Interessen der Großmächte eine weitere Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Systems. Selbstverständlich konnte eine Übereinstimmung sämtlicher Interessen der beteiligten Mächte nicht erwartet werden. Vielmehr ging es um den Konsens bezüglich einiger Grundprinzipien. Als solche betrachteten die Schöpfer des Europäischen Konzerts (der österreichische Staatskanzler Metternich, der französische Außenminister Talleyrand und der englische Diplomat Castlereagh) vor allem die Erhaltung des Friedens in Europa, die Bewahrung der durch den Wiener Kongress errichteten Ordnung und den weiteren Ausbau eben jenes „europäischen öffentlichen Rechts“, von dem im Vorstehenden bereits die Rede war. Alle diese Ziele waren in dem insbesondere von Metternich propagierten „Legitimitätsprinzip“ enthalten, das von seinen Kritikern fälschlicherweise als bloße Stützung der Fürstenherrschaft betrachtet wurde. Man wird den Absichten und Leistungen der Schöpfer des Europäischen Konzerts nicht gerecht, wenn man dieses System als starres Macht- und Ordnungssystem begreift. Es war durchaus auf Veränderung und Fortschritt angelegt und stellte gerade deshalb ein flexibles Prinzip - nämlich dasjenige des Mächtegleichgewichts, das für alle beteiligten Mächte nicht eine feste Größe, sondern nur eine feststehende Relation einsetzt - in den Mittelpunkt. Der Erfolg des Europäischen Konzerts ist unbestreitbar: Es sicherte den Frieden in Europa fast ein ganzes Jahrhundert lang, und zwar in einer Zeit stürmischer Entwicklungen auf politischem, wirtschaftlichem, kulturellem und sozialem Gebiet. Freilich wurden auch in dieser Zeit zahlreiche Kriege geführt; aber die meisten von ihnen lagen außerhalb Europas oder an dessen Rand. Nur die Kriege, an denen Preußen beteiligt war - der Dänische Krieg 1864, der deutsch-österreichische Krieg von 1866 und der deutsch-französische Krieg von 1870/ 71 - spielten sich im Herzen Europas ab und wurden mit Recht als empfindliche Störungen des Europäischen Konzerts betrachtet, weswegen Preußen/ Deutschland in der Beurteilung der anderen Völker - die sich auch in der völkerrechtlichen Literatur jener Zeit niederschlug und noch im 20. Jahrhundert nachwirkte - als der Friedensstörer par excellence erschien. Aber in rückschauender Betrachtungsweise kann auch gesagt werden, dass der Frieden in Europa auf Kosten außereuropäischer Völker erreicht wurde. Im Vorstehenden ist dargestellt worden, dass das Europäische Konzert, gestützt vom Völkerrecht, dem „europäischen“ öffentlichen Recht, den Kolonialismus begünstigte, weil das Kompensationsspiel die Machtpolitik der Mitglieder des Europäischen Konzerts außerhalb Europas geradezu erforderte. Dieses System musste in dem Augenblick an seine Grenzen stoßen, in dem keine freien Kompensationsräume mehr zur Verfügung standen und daher die weitere kolonialistische und imperialistische Betätigung der europäischen Mächte zu direkten Reibungen zwischen ihnen führte. Hinzu kam die Störung des Mächtegleichgewichts durch die Einigung Deutschlands. Nach dem Konzept Bismarcks trat das geeinte Deutschland einfach an die Stelle Preußens in der Pentarchie. Bismarck hatte jedoch nicht bedacht, dass dieser Machtzuwachs eines Mitglieds des Europäischen Konzerts durch entsprechende Machtvergrößerungen der übrigen Mitglieder hätte kompensiert werden müssen, um das Mächtegleichgewicht aufrechtzuerhalten. Stattdessen schwächte er sogar die Macht eines benachbarten Mitglieds (Frankreich) durch die Annexion von zwei wertvollen Provinzen (Elsass und Lothringen), deren Rückgewinnung vierzig Jahre lang das erklärte Hauptziel jener Großmacht blieb, und führte das von ihm geschaffene Deutschland - wenn auch widerwillig - in die Ära des 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="62"?> 26 1. Grundlagen Kolonialismus. Durch diese Außenpolitik, aber auch durch zahlreiche innenpolitische Entwicklungen in sämtlichen Großmächten, wurde die zweite Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Systems zerstört, nämlich die Parallelität der Interessen der Großmächte. Gegen Ende des Jahrhunderts waren somit alle Grundvoraussetzungen für das Funktionieren des Europäischen Konzerts weggefallen und es wäre nötig gewesen, neue Instrumente und Methoden zu entwickeln, um mit den neuen Kräften, die das 19.-Jahrhundert auf allen Gebieten, nicht zuletzt in den Bereichen der Waffentechnik und der Kommunikation, hervorgebracht hatte, fertig zu werden. Stattdessen versuchte man, auf dem Boden des klassischen Völkerrechts und mit den Methoden der Diplomatie des 18. Jahrhunderts die Zukunft zu meistern. Genährt wurde dieser Optimismus durch den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts, auf dessen Grundlage insbesondere das Vertrauen zu Faktoren entstand, die man als friedensfördernd betrachtete, wie z.-B. den internationalen Handel, der in der Tat in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg einen gewaltigen Aufschwung nahm. Man war überzeugt, dass diese Faktoren, wenn ihre Entwicklung rational gesteuert würde, automatisch den Weltfrieden herbeiführen würden, ohne dass es dazu einer grundlegenden Neuorientierung des Völkerrechts bedurft hätte. 1.3.5 Das moderne Völkerrecht Einführende Literatur: Seidel, Gerd, Die Völkerrechtsordnung an der Schwelle zum 21.-Jahrhundert, AVR 38 (2000), 23ff. 1.3.5.1 Die Völkerbundsära nach Ende des Ersten Weltkrieges Epochenabschluss. Nach dem Ersten Weltkrieg, der für Europa die relativ lange Zeit ohne durchgreifende kriegerische Auseinandersetzungen beendet, vollzieht sich ein Epochenwechsel mit starkem Einfluss auf die grundlegenden Prinzipen des Völkerrechts. Unwiderleglich hatte sich erwiesen, dass ungehemmtes Souveränitätsstreben unter den Bedingungen der sprunghaft angestiegenen Industrialisierung zu einer realen Gefahr für die ganze Völkerrechtsgemeinschaft geworden war. Zwischen dem Krieg und dem Industrialismus besteht ein doppelter Zusammenhang: Einerseits ermöglichte die rasch voranschreitende Industrialisierung die Massenproduktion von Waffen, ließ deren Vernichtungskraft stetig wachsen und führte kraft der ihr innewohnenden Expansionstendenzen zur quantitativen Zunahme der Rüstungsproduktion, wodurch die äußeren Voraussetzungen für Rüstungswettläufe gegeben waren; 65 andererseits ist das industrielle System ein kompliziertes Zusammenwirken hochspezialisierter Einheiten und Vorgänge, für das jeder gewaltsame Eingriff verhängnisvoll ist. Im Kern stellte sich die Frage nach der Funktionalität des Krieges bzw. zwischenstaatlicher Gewaltanwendung ganz neu; sie drängte nach der Schaffung von neuen Rechtsregeln für diesen Problemkreis. 66 Ein neues Völkerrecht konnte freilich nicht plötzlich entstehen, sondern musste erst allmählich geschaffen werden. Diese Zeit der Ausarbeitung einer neuen Ordnung ist 65 Zum Zusammenhang zwischen Waffentechnik, Strategie, Heeresverfassung und Staatsverfassung vgl. O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2.-A., 1987, 76ff., 150. 66 Siehe hierzu die aktuelle Studie von M. Payk, Frieden durch Recht, 2018. <?page no="63"?> 27 auch heute noch nicht vorüber. Noch immer befindet sich das Völkerrecht in einer Zeit des Wandels und muss weiterentwickelt werden. Besonders hervorzuheben ist dabei der starke Zuwachs an institutioneller internationaler Kooperation durch die Schaffung internationaler Organisationen. Diese Idee beruhte u.- a. auf der vom Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) in seiner Schrift „Zum Ewigen Frieden“ von 1795 vorgeschlagenen Staatenkonföderation unter republikanischer Verfassung. 67 Sie hatte im 19.-Jahrhundert in der Gründung sog. Flusskommissionen und des Weltpostvereins wie auch der Internationalen Fernmeldeorganisation eine erste Konkretisierung erfahren und sollte nunmehr durch die Gründung des Völkerbundes zentral der Idee der Friedenssicherung dienen. Dies bedeutete zugleich die wachsende Erkenntnis, dass es Aufgaben wie etwa die der Friedenssicherung gäbe, mit deren Erledigung ein einzelner Staat überfordert wäre. Partielles Kriegsverbot. Das erste Dokument, das von dem großen Umbruch des Völkerrechts Zeugnis gibt, ist die Satzung des Völkerbunds. Unter den Prinzipien, die in ihrer Präambel genannt werden, nimmt das Versprechen der Staaten, „bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen, nicht zum Kriege zu schreiten“, den ersten Platz ein. Die Satzungsbestimmungen, die der Einlösung dieses Versprechens dienten, wurden in der juristischen Literatur schon sehr bald unter der Überschrift „Kriegsverhütungsrecht“ zusammengefasst. Dies bedeutete mehr als nur eine neue Terminologie. Bisher hatte sich das mit dem Krieg zusammenhängende Recht auf das Recht der Kriegsführung und die Formalitäten von Kriegsbeginn und Kriegsende beschränkt. Dadurch, dass das Recht nunmehr einen Bereich zu regeln sich anschickte, der noch vor dem Kriegsbeginn lag und über das Kriegsende hinausreichte, brachte es einen Grundzug der Völkerrechtsentwicklung zum Ausdruck, der bereits im 19.- Jahrhundert begonnen hatte und im 20. Jahrhundert zum vorherrschenden Kriterium wurde: die Tendenz zur Ausweitung des Wirkungsbereichs des Völkerrechts. 68 Das Kriegsverhütungsrecht der Völkerbundsatzung besteht aus drei Teilen: Abrüstung (Art. 8 f.), Schiedssprechung (Art. 11-15) und Sicherheit (Art. 10, 16). Abrüstung und Sicherheit waren die beiden Themen, denen sich die Literatur bald ebenso zuwendete wie die öffentliche Meinung. 69 67 Hierzu J.-Delbrück, „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein“ - Kant und die Entwicklung internationaler Organisation, in: K.-Dicke/ K.-M. Kodalle (Hg.), Republik und Weltbürgerrecht, 1998, 181ff.; P. Capps,-The Kantian Project in Modern International Legal Theory, EJIL 12 (2001), 1003ff.; V. Hackel, Kants Friedensschrift und das Völkerrecht, 2000; siehe auch C.-Covell, Kant, die liberale Theorie der Gerechtigkeit und die Weltordnung, Der Staat 37 (1998), 361ff. 68 Vgl. U. Scheuner, 50 Jahre Völkerrecht, in: Fünfzig Jahre Institut für internationales Recht an der Universität Kiel, 1965, 64ff. 69 Dies gilt insbesondere für Deutschland. Der Versailler Vertrag hatte dem Deutschen Reich Abrüstungsmaßnahmen und Rüstungsbeschränkungen auferlegt, die den Beginn einer allgemeinen Abrüstung darstellen sollten. Unter Berufung auf dieses Versprechen verlangten die Staatsmänner der Weimarer Republik unablässig die allgemeine Abrüstung und die Gleichbehandlung Deutschlands. So sah die deutsche Völkerrechtswissenschaft beide Probleme zunächst hauptsächlich unter dem Aspekt der Gleichberechtigung; vgl. V. Böhmert, Die Rechtsgrundlagen für Deutschlands Recht auf Abrüstung seiner Vertragsgegner, 1931; V. Bruns, Deutschlands Gleichberechtigung als Rechtsproblem, 1934; K.-Perels, Hat Deutschland einen Rechtsanspruch auf Abrüstung der Anderen? Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 11 (1932), 26ff.; W. Regendanz/ A.-Werth-Regendanz, Deutschlands militärische Gleichberechtigung, 1932; R. Schmidt/ A.-Grabowsky (Hg.), Deutschlands Kampf um Gleichberechtigung, 1934. 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="64"?> 28 1. Grundlagen Besonders deutlich aber zeigte sich die epochale Wendung in einem Artikel, der zunächst wenig Beachtung fand, nämlich Art. 11 Abs.-1: 70 „Ausdrücklich wird hiermit festgestellt, dass jeder Krieg und jede Bedrohung mit Krieg, mag davon unmittelbar ein Bundesmitglied betroffen werden oder nicht, eine Angelegenheit des ganzen Bundes ist, und dass dieser die zum wirksamen Schutz des Völkerfriedens geeigneten Maßnahmen zu ergreifen hat. Tritt ein solcher Fall ein, so beruft der Generalsekretär unverzüglich auf Antrag irgendeines Bundesmitglieds den Rat.“ Damit war ein Grundpfeiler des klassischen Völkerrechts, nämlich das aus der Souveränität abgeleitete Recht der (souveränen) Staaten zum Krieg (ius ad bellum), zum Einsturz gebracht worden. Die Entscheidung für den Krieg, die im klassischen Völkerrecht allein Sache des zum Krieg schreitenden Staates gewesen war, wurde jetzt ausdrücklich zur Angelegenheit der organisierten Völkerrechtsgemeinschaft erklärt. Der Völkerbund sollte nicht das Europäische Konzert des 19. Jahrhunderts wiederaufleben lassen, sondern er sollte eine echte Weltorganisation sein, was unter anderem durch die baldige Aufnahme der ehemaligen Feindstaaten in den Völkerbund dokumentiert wurde. In Wirklichkeit hat der Völkerbund die von ihm erstrebte Universalität nie erreicht. Aber das ist unerheblich für die Tatsache, dass die Bestimmungen der Völkerbundsatzung im Lichte des von Anfang an erhobenen Universalitätsanspruchs interpretiert werden müssen. Das bedeutet, dass in Art. 11 Abs. 1 der Völkerbundsatzung keineswegs ein Interventionsrecht eines Großmächtekonzerts normiert wird, sondern die Herausnahme einer bestimmten bisher als rein politische Entscheidung begriffenen Aktion aus dem Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit des Staates. Im klassischen Völkerrecht hatte die Entscheidung über Krieg und Frieden konkrete Rechtsfolgen; sie selbst aber war eine politische, von keiner höheren Instanz nachprüfbare Entscheidung. Jetzt wurde sie zur Rechtsfrage, die einer Nachprüfung durch eine internationale Instanz unterworfen war. Ein generelles Kriegsverbot war weder in Art. 11 noch in anderen Bestimmungen der Satzung enthalten. Aber die Feststellung, dass die Entscheidung für den Krieg nicht mehr nur Sache des souveränen Staates sei, bedeutete eine eindeutige Absage an das Prinzip des ius ad bellum. So bewirkte die Völkerbundsatzung nicht nur eine quantitative Ausdehnung des Wirkungsbereichs der völkerrechtlichen Normen und eine Intensivierung ihrer Regelungseffizienz, sondern einen qualitativen Umschlag. Das neue Völkerrecht war nicht nur ausgedehnter und intensiver, sondern es war wesensmäßig anders. Das freie Kriegsführungsrecht der Staaten als vormals vornehmstes Attribut staatlicher Souveränität war substanziell eingeschränkt worden. In der diplomatischen Praxis des Völkerbunds ist von den Möglichkeiten, welche die Satzung im Bereich der Kriegsverhütung und des friedlichen Wandels bot, leider nur wenig Gebrauch gemacht worden. Die Gründe für dieses Versäumnis hängen mit den fundamentalen Schwächen des Völkerbundes zusammen, die ihrerseits teils im Völkerbund und seiner Satzung selbst, teils 70 Vgl. auch O. Göppert, Der Völkerbund, 1938, 207ff.; A. van Ginneken,-Historical Dictionary of the League of Nations, 2006. <?page no="65"?> 29 in seiner politischen Umwelt begründet lagen. Es wäre verfehlt, den Völkerbund - ebenso wie gegenwärtig die UNO - nur danach zu beurteilen, in welchem Grade es ihm gelungen ist, die in seiner Satzung proklamierten Ziele zu erreichen. 71 Wie alle Rechtsnormen wirken auch die Bestimmungen der Satzung einer internationalen Organisation weitgehend unsichtbar, indem sie das Verhalten der Mitglieder so formen, dass die Mechanismen der Zwangsdurchsetzung nicht zur Anwendung gebracht werden müssen, während andererseits die Staatenpraxis der Mitglieder die Interpretation der Satzungsbestimmungen beeinflusst und im Laufe der Zeit auch Veränderungen der Zielvorstellungen bewirken kann. Das unmittelbare Ziel von Art. 11 der Völkerbundsatzung war bescheiden. Es bestand keineswegs in der materiellen Regelung der friedensgefährdenden Streitigkeit, sondern nur in Vorbeugungsmaßnahmen gegen den Krieg und andere Störungen der guten Beziehungen zwischen den Staaten sowie in Maßnahmen zur schnellen Beendigung des Krieges, falls er bereits ausgebrochen war. Es gibt Beispiele dafür, wie Art. 11 durch die Handlungen der Mitglieder des Völkerbunds in seiner Wirkung abgeschwächt wurde. In anderen Fällen aber leisteten die Völkerbundsmitglieder die von ihnen geforderte Unterstützung, wie z.-B. im Chaco-Konflikt, der zwischen Bolivien und Paraguay ausgebrochen war. Da in diesem Fall keine der Streitparteien über eine Rüstungsindustrie verfügte, konnte der Krieg durch ein vollständiges Waffenembargo des Völkerbunds, an dem auch Nichtmitglieder teilnahmen, rasch unterdrückt werden. Diese Maßnahme ging sogar über das hinaus, was Art. 11 vorsah. Art. 12 der Völkerbundsatzung verpflichtete die Bundesmitglieder, jede zwischen ihnen entstehende Streitfrage, die zu einem Bruch führen könnte, entweder der Schiedsgerichtsbarkeit oder dem gerichtlichen Verfahren oder einer Prüfung durch den Rat zu unterbreiten. Ferner durfte vor Ablauf von drei Monaten nach dem Spruch der Schiedsrichter, der gerichtlichen Entscheidung oder dem Bericht des Völkerbundrates auf keinen Fall zum Kriege geschritten werden. Der erlassene Schieds- oder Urteilsspruch musste nach Treu und Glauben ausgeführt werden. Gegen ein Bundesmitglied, das sich dem Schiedsspruch oder Urteil fügte, durfte unter keinen Umständen Krieg geführt werden. Alle diese Vorschriften hatten in ihrer Gesamtheit die rechtliche Wirkung eines partiellen Kriegsverbots: Verboten war jeder Krieg, dem kein Versuch einer friedlichen Streitbeilegung vorangegangen war (Art. 12 Abs. 1 der Satzung), ferner jeder Krieg gegen einen Staat, der eine einstimmige Empfehlung des Völkerbundrats zur Beilegung des Streites angenommen hatte (Art. 15 Abs. 6), jeder Krieg gegen einen Staat, der sich dem in dem Streitfall ergangenen Schiedsspruch oder Gerichtsurteil unterworfen hatte (Art. 13 Abs. 4), und jeder Krieg, der vor Ablauf von drei Monaten nach dem Scheitern der Vermittlung des Rates unternommen wurde (Art. 12 Abs. 1). Generelles Kriegsverbot. Der Völkerbund bemühte sich, das in seiner Satzung enthaltene partielle Kriegsverbot zu stärken und auszudehnen. Nach dem Genfer Protokoll vom 2. Oktober 1924 sollte jeder Angriffskrieg eines Signatarstaates des Protokolls gegen einen anderen Staat, der sich bereit erklärt hatte, den Verpflichtungen des Protokolls zu entsprechen - gleichgültig, ob er das Protokoll unterzeichnet hatte oder nicht - verboten sein. Der Angriffskrieg wurde sogar ausdrück- 71 S. Hoffmann, International relations, in: E.O. Czempiel (Hg.), Die Lehre von den internationalen Beziehungen, 1969, 221. 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="66"?> 30 1. Grundlagen lich als „internationales Verbrechen“ bezeichnet. 72 Das Protokoll trat jedoch insbesondere wegen britischer Bedenken gegen weitreichende Verpflichtungen zur Durchführung von Sanktionen und der Unterwerfung unter eine allgemeine obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit nicht in Kraft. Ein Teil des Friedens- und Sicherheitssystems des Protokolls wurde dann allerdings im Rahmen des Locarno-Paktes vom 16. Oktober 1925 73 zwischen Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien verwirklicht. Die Ausweitung des partiellen Kriegsverbots der Völkerbundsatzung zu einem generellen Kriegsverbot gelang schließlich im Briand-Kellogg-Pakt, benannt nach dem französischen Außenminister Aristide Briand und seinem amerikanischen Kollegen Frank Kellogg, der am 27. August 1928 von 15 Staaten in Paris unterzeichnet wurde und ein Jahr später, am 24. Juli 1929 in Kraft trat. 74 In ihm erklärten die vertragschließenden Staaten, „dass sie den Krieg als Mittel zur Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.“ In der Literatur wird dieser Vertrag oft als „Kriegsächtungspakt“ bezeichnet. Er lässt das Recht eines jeden souveränen Staates auf Selbstverteidigung und die Pflicht der Mitglieder des Völkerbunds zur Beteiligung an Sanktionen gegen einen Aggressor unberührt. Diese beiden rechtlichen Möglichkeiten der Führung eines Krieges bedeuten im Grunde genommen keine Durchbrechung des generellen Kriegsverbots, sondern eher eine Bestätigung desselben. Die völkerrechtliche Selbstverteidigung entspricht der strafrechtlichen Notwehr, die Beteiligung an Sanktionskriegen der Weltorganisation entspricht der strafrechtlichen Nothilfe. Ebenso wie im innerstaatlichen Recht Notwehr und Nothilfe nur die in der speziellen Situation gesetzten Akte rechtfertigen, nicht aber die Strafbarkeit der objektiv verwirklichten Tatbestände als solche aufheben, sind individuelle und kollektive Selbstverteidigung im Völkerrecht alles andere als ein Beweis dafür, dass der Krieg noch immer zulässig ist. Man wird der Bedeutung des Briand-Kellogg-Paktes nicht gerecht, wenn man betont, nur der Angriffskrieg sei verboten, der Krieg als solcher aber bleibe unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Zwar ist dies die praktische Wirkung, denn wenn individuelle und kollektive Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff zulässig sind, so ist tatsächlich „nur“ der Angriffskrieg verboten. Aber nur um ihn ging es letztlich bei dem ius ad bellum des klassischen Völkerrechts. Zur Abwehr eines Angriffs bedurfte es keiner Berufung auf das ius ad bellum. Der klare Rechtsinhalt des Briand-Kellogg-Paktes besteht daher darin, dass der Krieg als solcher geächtet, d.-h. als völkerrechtswidrig gebrandmarkt wird. Wenn gleichzeitig die individuelle und kollektive Selbstverteidigung für zulässig erklärt werden, so ist dies gerade eine Konsequenz aus der Pönalisierung des Krieges, d.-h. aus der Erklärung des Krieges zum internationalen Verbrechen, denn nur gegen strafbare Handlungen sind Notwehr und Nothilfe zulässig. Insgesamt traten dem Briand-Kellogg-Pakt 63 Staaten bei, d.-h. die ganz überwiegende Mehrheit der Staaten der Völkerbundära. Von den Mitgliedern des Völkerbundes fehlten nur vier südame- 72 Hierzu H.-Wehberg, Das Genfer Protokoll betreffend die friedliche Erledigung internationaler Streitigkeiten, 1927. 73 RGBl. 1926 II, 583. 74 Dt. Text in RGBl. 1929 II, 97ff.; hierzu G.-Cohn, Kellogg-Vertrag und Völkerrecht, ZVR 15 (1930), 169ff.; K.- Strupp, Der Kellogg-Pakt im Rahmen des Kriegsvorbeugungsrechts, 1928; H.- Wehberg, Krieg und Eroberung im Wandel des Völkerrechts, 1953. <?page no="67"?> 31 rikanische Staaten, die aber durch den am 10. Oktober 1933 in Rio de Janeiro unterzeichneten Saavedra-Lamas-Vertrag, der am 13. November 1935 in Kraft trat, in ähnlicher Weise gebunden waren wie sie durch den Briand-Kellogg-Pakt gewesen wären. Indes scheiterten Versuche, das Kriegsverbot des Paktes in die Satzung des Völkerbundes zu übernehmen. In der Völkerrechtsliteratur wird trotzdem fast einhellig die Meinung vertreten, dass das Kriegsverbot bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts geworden war. Dieser Rekurs auf das Völkergewohnheitsrecht war auch deshalb erforderlich, weil sich das Deutsche Reich sehr bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten - etwa durch Austritt aus dem Völkerbund - internationalen Vertragspflichten entzog. Auf dieser Rechtsgrundlage konnten am Ende des Zweiten Weltkriegs deutsche und japanische Politiker und Militärs wegen der Vorbereitung und Führung eines Angriffskriegs zur Rechenschaft gezogen werden. 1.3.5.2 Die Ära der Vereinten Nationen nach Ende des Zweiten Weltkriegs Die schon während des Zweiten Weltkriegs in Angriff genommene und kurz nach seinem Ende vollendete Gründung der zweiten auf Universalität angelegten internationalen Organisation, der Vereinten Nationen, zielte nun, insbesondere nach den letztlich gescheiterten Versuchen des Völkerbunds um universelle Friedenssicherung, auf ein erweitertes Friedens-(sicherungs-)konzept ab und suchte nach stärkeren Garantien für die angestrebte Universalität. Diese Organisation hat bislang ein starkes Ansteigen sowohl der Mitgliedstaaten und damit der in den völkerrechtlichen Beziehungen handelnden Staaten, als auch der Regelungsmaterien, begleitet von einer nie zuvor dagewesenen Kodifikationswelle, zu verzeichnen. Generelles Gewaltverbot. Hatte der Briand-Kellogg-Pakt das partielle Kriegsverbot der Völkerbundsatzung zum generellen Kriegsverbot ausgeweitet, so brachte die am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnete Charta der Vereinten Nationen die Ausweitung des Kriegsverbots zum allgemeinen Gewaltverbot. Auch diese Rechtsnorm gilt heute unbestritten als Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts, ist also nicht auf die Mitglieder der Vereinten Nationen beschränkt. Wichtig ist, dass das Gewaltverbot, so wie es in Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta formuliert ist, unabhängig von der Charta der Vereinten Nationen gilt und daher seine Geltung auch dann beibehalten würde, wenn die UNO nicht mehr bestünde. Die einzelnen Konsequenzen, die sich aus dem Gewaltverbot ergeben, werden im Folgenden noch zu erörtern sein (siehe unten Kap. 5.1). Hier ist lediglich darauf hinzuweisen, dass die Schaffung des Gewaltverbots eine konsequente Fortsetzung derjenigen Tendenzen ist, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs auf der Ebene des positiven Völkerrechts wirken. Gewaltverbot und Friedenssicherungspflicht sind diejenigen Prinzipien, die am deutlichsten zeigen, dass sich das Völkerrecht der Gegenwart in einem Umbruch befindet. So gibt es in jüngster Zeit etwa Tendenzen, die auf eine erneute Wandlung des Verständnisses des Gewaltverbots hindeuten, worauf auch an späterer Stelle näher einzugehen ist (dazu unten Kap. 5.1). Das Gewaltverbot und die gewandelte Position der Staaten haben Auswirkungen auf zahlreichen Gebieten des Völkerrechts, die - jedenfalls auf den ersten Blick - weit entfernt von den Grundproblemen von Krieg und Frieden liegen. So muss z.-B. dem Gewaltverbot etwa im Bereich des inter- 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="68"?> 32 1. Grundlagen nationalen Vertragsrechts Rechnung getragen werden (dazu unten Kap. 3.1). Auf diese Fragen wird bei der Darstellung der Inhalte der völkerrechtlichen Regelungen eingegangen werden. Nur auf einige allgemeine Grundzüge des geltenden Völkerrechts ist bereits an dieser Stelle hinzuweisen. Universalisierung des Völkerrechts und Dekolonisierung. Das klassische Völkerrecht war, wie im Vorstehenden ausgeführt, ein europäisches Recht, das die europäischen Staaten im Zuge ihrer kolonialen Eroberungen auf die ganze Welt ausdehnten. Da die Kolonialgebiete nicht selbstständig waren, handelte es sich in Wirklichkeit stets um die Beziehungen zwischen europäischen Staaten, auch wenn sich diese auf fremden Kontinenten gegenüberstanden. Mit der Aufnahme der Türkei und Japan in den Kreis der Völkerrechtsgemeinschaft begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Ausweitung des Völkerrechts über den christlich-abendländischen Kulturkreis hinaus. Die neue Formel, die den Kreis der Völkerrechtssubjekte umschrieb, fand ihren Niederschlag in Art. 38 Abs. 1 lit. c des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofes, der nach dem Ersten Weltkrieg errichtet wurde: Der Gerichtshof sollte danach unter anderem „die von den zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ anwenden. Ein Vierteljahrhundert später war auch die Sicherheit geschwunden, mit der man zwischen „zivilisierten“ und „nichtzivilisierten“ Staaten unterschied. Die Charta der Vereinten Nationen verzichtete daher auf dieses Unterscheidungskriterium und eröffnete die Mitgliedschaft in der Weltorganisation allen „friedliebenden“ Staaten. An diesen drei Formeln für die Umschreibung des Kreises der Völkerrechtssubjekte - christlich-abendländische Staaten im ius publicum europaeum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, zivilisierte Staaten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und friedliebende Staaten in der UNO-Ära - erkennt man deutlich den Prozess der Universalisierung des Völkerrechts, d.-h. der Aufnahme aller Staaten in die Rechtsgemeinschaft des Völkerrechts, die nach wie vor durch die Prinzipien der Gleichheit und Gegenseitigkeit gekennzeichnet ist. Auch sieht man auf den ersten Blick, dass eine echte Universalisierung des Völkerrechts erst im Zuge derjenigen Entwicklung eintrat, die zu den wichtigen weltpolitischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts gehört, nämlich der Dekolonisierung. In Doktrin und Praxis gab es manche Kontroversen um die Frage, ob die im Zuge des Dekolonisierungsprozesses entstandenen und entstehenden „neuen“ Staaten gleichsam automatisch an das zu diesem Zeitpunkt geltende Völkerrecht gebunden sein sollten oder ob sie als Ausdruck ihrer gerade erlangten Souveränität ein Auswahlrecht bezüglich der ihnen genehm erscheinenden Normen des Völkerrechts hätten. Besonders relevant wurde diese Fragestellung im nur fragmentarisch geregelten Recht der Staatennachfolge (dazu unten Kap. 2.1.7) und der Frage der Entschädigungsleistungen bei von Entwicklungsländern vorgenommenen Enteignungsmaßnahmen (dazu unten Kap. 9.3). Man wird an der Feststellung nicht vorbeikommen, dass trotz anders lautender Bestrebungen die „neuen“ Staaten das geltende Völkerrecht mit wenigen Modifikationen akzeptiert haben, weshalb Sonderregeln für die Behandlung von Entwicklungsländern die Ausnahme geblieben sind. 75 75 Siehe etwa C.-Tomuschat, Obligations for States Arising Without or Against Their Will, RdC 241 (1993), 195, 305f.; G.M. Danilenko, Law-Making in the International Community, 1993, 113ff.; M.H.-Mendelson, The Formation of Customary International Law, RdC 272 (1998), 155, 259ff.; C. Ochoa,-The Individual and Customary International Law Formation, VJIL-48 (2007), 119ff.; A.E. Roberts,-Traditional and Modern Approaches to Customary International Law, AJIL 95 (2001), 757ff. <?page no="69"?> 33 Dabei muss anerkannt werden, dass die Vereinten Nationen einen erheblichen Anteil an der Gestaltung des Dekolonisierungsprozesses hatten. Obwohl die Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen keine unmittelbare Bindungswirkung erzeugen, hat die UNO doch auf diesem Wege nicht nur moralischen Druck auf die Kolonialmächte ausgeübt, sondern auch Rechtsnormen verstärkt und entwickelt, die wesentlich zur Auflösung des Systems des Kolonialismus beitrugen, so dass es auch gerechtfertigt erscheint, diese „Entkolonisierung durch Resolutionen“ als bedeutenden Beitrag zu betrachten. 76 Die Entwicklung begann mit der am 14. Dezember 1960 von der Generalversammlung mit 89 gegen 0 Stimmen bei 9 Enthaltungen angenommenen Resolution 1514 (XV), die als „Entkolonisierungs-Resolution“ in die Geschichte eingegangen ist. Sie trägt die offizielle Bezeichnung „Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an Kolonialländer und -völker“. In ihr verkündeten die Vereinten Nationen „feierlich die Notwendigkeit, den Kolonialismus in allen Erscheinungsformen schnell und bedingungslos zu beenden“ und forderten zu diesem Zweck „alsbaldige Schritte“. Auf diese Resolution beriefen sich in der Zukunft alle Organe der Vereinten Nationen, die durch ihre Tätigkeit im Rahmen ihrer Kompetenz zum Prozess der Entkolonisierung (häufig auch Dekolonisierung oder Entkolonialisierung genannt) beitrugen. Die Generalversammlung ließ weitere Beschlüsse folgen. Im Prozess der Entkolonisierung hat auch das Treuhandsystem eine Rolle gespielt. Es ist im XII. Kapitel der UN-Charta (Art. 75ff.) geregelt. Als Treuhandgebiete kommen gemäß Art. 77 drei Kategorien in Betracht: 1. Gebiete, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Satzung unter Mandat standen (das Mandatssystem stammt aus der Zeit des Völkerbunds und wurde für die ehemaligen deutschen Kolonien errichtet); 2. „Hoheitsgebiete, die infolge des Zweiten Weltkriegs von Feindstaaten abgetrennt werden“ (hierbei dachten die Schöpfer der UN-Charta in erster Linie an die damaligen italienischen Kolonien sowie japanische Besitzungen); 3. Gebiete, die von einem Staat freiwillig unter das Treuhandsystem gestellt worden sind. Die Hoffnung, dass Kolonialmächte freiwillig ihre Kolonien dem Treuhandsystem der Vereinten Nationen unterstellen würden, erfüllte sich allerdings nicht. Daher gab es zu keiner Zeit Treuhandgebiete der dritten Kategorie. Die unter die beiden ersten Kategorien fallenden Gebiete erhielten im Zuge der Entkolonisierung ihre Unabhängigkeit. 77 76 So B.V.A.- Röling, The Role of Law in Conflict Resolution, in: A.D. Reuck/ J.- Knight (Hg.), Conflict in Society, 1966, 346ff. 77 Vgl. D.-Rauschning, Das Ende des Treuhandsystems der Vereinten Nationen durch die Staatwerdung der ihm unterstellten Gebiete, JfIR 12 (1965), 158ff.; zur spezifischen Situation in Namibia siehe IGH, International Status of South-West Africa, Gutachten vom 11.07.1950, ICJ Reports 1950, 128. In zwei weiteren Rechtsgutachten - IGH, South-West-Africa - Voting Procedure, Gutachten vom 07.06.1955, ICJ Reports 1955, 67 und IGH, Admissibility of Hearings of Petitioners by the Committee on South West Africa, Gutachten vom 01.06.1956, ICJ Reports 1956, 23, erläuterte der IGH das erste Gutachten in seinen Auswirkungen für die Praxis der Generalversammlung. Schließlich sind GA Res. 2145 (XXI) sowie 2372 (XXII) 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="70"?> 34 1. Grundlagen Von den Treuhandgebieten abgesehen bezog sich der Entkolonisierungsprozess auf die in Kap. XI der Charta der Vereinten Nationen genannten „Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung“. Die Schöpfer der UN-Charta vermieden es schamhaft, von Kolonialgebieten zu sprechen und scheuten sich offenbar, den Kolonialismus als mit der neuen Völkerrechtsordnung unvereinbar zu brandmarken. Jedoch kann diese Wahrheit nicht verschwiegen werden, auch wenn sie in der Charta der Vereinten Nationen diskret umschrieben wird. Art. 73 UN-Charta bezeichnet es als „heiligen Auftrag“ (sacred trust) derjenigen Mitglieder der Vereinten Nationen, „welche die Verantwortung für die Verwaltung von Hoheitsgebieten haben, deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben“ - also der Kolonialmächte -, das Wohl der Einwohner dieser Gebiete „aufs Äußerste zu fördern“ und zu diesem Zweck unter anderem „die Selbstregierung zu entwickeln“. Hierauf gründen sich alle Entkolonisierungsresolutionen. Trotz der Schwierigkeiten, die sich in zahlreichen Einzelfällen ergaben, ist der mit Inkrafttreten der UN-Charta in Gang gesetzte Entkolonisierungsprozess nunmehr abgeschlossen. 78 In der Periode des klassischen Völkerrechts hatten vor allem England und Frankreich die Entwicklung des Völkerrechts in hohem Maße beeinflusst. Im Zuge der Universalisierung sind immer neue Einflüsse in das Völkerrecht eingedrungen. Die südamerikanischen Staaten etwa brachten - obwohl sie mit Recht dem europäischen Kulturkreis und damit dem ius publicum europaeum zugerechnet wurden - durch ihre Staatenpraxis in bestimmten Bereichen ein nur in Südamerika geltendes partikuläres Völkerrecht hervor und beeinflussten die Lehre und Praxis des allgemeinen Völkerrechts durch eigene Stellungnahmen außerhalb des südamerikanischen Völkerrechtskreises. 79 Allerdings ist der tatsächliche oder potenzielle Einfluss außereuropäischer Kulturkreise auf die Weiterentwicklung des Völkerrechts bis vor Anfang des 21. Jahrhunderts noch wenig untervom 12.06.1968 erheblich. In seinem Gutachten, IGH, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia, Gutachten vom 21.06.1971, ICJ Reports 1971, 16, bestätigte der IGH die Auffassung des Sicherheitsrates. Am 21.04.1990 erlangte Namibia seine Unabhängigkeit. 78 Als letztes der sog. Treuhandgebiete wurde Palau am 01.10.1994 unabhängig, zudem zogen sich zuletzt die Kolonialmächte aus Hongkong 1997 und Macao 1999 zurück, womit der Kolonialismus als beendet anzusehen ist; siehe aus der Lit. zu den Bemühungen der Vereinten Nationen resümierend etwa E.-Klein, Nationale Befreiungskämpfe und Dekolonisierungspolitik der Vereinten Nationen, ZaöRV 36 (1976), 618ff.; weitere Literaturangaben in: United Nations, Doc.No.ST/ LIB/ SER.B/ 31, Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples. A Selective Bibliography, 1960-1980 f.; D.C. Zook, Decolonizing Law, HarvHumRtsJ 19 (2006), 95ff. 79 Vgl.: A. Becker Lorca, International Law in Latin America or Latin American International Law? , HarvIntlLJ 47 (2006), 283ff.; W.E.- Butler, Latin American approaches to international law, IntJbPol 1976, 3ff. Ein Beispiel für südamerikanisches partikuläres Völkerrecht ist das diplomatische Asyl, das außerhalb Südamerikas nicht als Institut des Völkerrechts anerkannt wird (siehe Kap.-15.2.3). Als Beispiel für die Auseinandersetzung mit südamerikanischen Völkerrechtslehren mag der Streit um die Drago- Doktrin gelten, mit der die südamerikanischen Staaten den Interventionsanspruch anderer Mächte aufgrund völkerrechtswidriger Behandlung von deren Staatsangehörigen zurückweisen wollten; obwohl es den südamerikanischen Staaten nicht gelang, die Anerkennung der Drago-Doktrin als allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts durchzusetzen, war doch der damit zusammenhängenden Calvo-Klausel, durch die ausdrücklich auf die Geltendmachung des diplomatischen Schutzes verzichtet wird, auch über Südamerika hinaus Erfolg beschieden. <?page no="71"?> 35 sucht worden. 80 Das gilt sogar für so bedeutende Bereiche wie die islamische Rechtstradition 81 und China. 82 Man wird allerdings insbesondere angesichts des im Zeitalter der Globalisierung immer stärkeren Zusammenrückens der Staaten und auch anderer Akteure im internationalen System zukünftig nicht mehr umhinkommen, bei der erforderlichen Suche nach einem gemeinsamen Wertekonsens stärker als bisher die spezifischen Ausprägungen aller Kulturkreise angemessen in Rechnung zu stellen. Namentlich das Problem einer möglichst universellen Geltung der Menschenrechte (siehe dazu unten Kap. 10) weist sehr deutlich auf diese Notwendigkeit hin. Die Ausdrücke „Universalisierung“ und „universelles Völkerrecht“ dürfen nun allerdings nicht zu der Auffassung verleiten, alle Entwicklungstendenzen verliefen auf der ganzen Welt gleichmäßig. Hierfür sind die Bestimmungsgrößen der einzelnen Staaten, vor allem ihre Vergangenheit und ihre gegenwärtige Interessenlage, allzu verschieden. Bestenfalls lassen sich die Staaten mit ungefähr gleicher Entwicklungstendenz und Interessenlage zu großen Gruppen („Regionen“) zusammenfassen. In diesem Sinne wird der Ausdruck Regionalismus in der völkerrechtlichen Literatur verwendet. Als solche Regionen behandelt man z.-B. den westeuropäisch-atlantischen Bereich, den früheren Sowjetblock - jedenfalls insoweit nach dem Zerfall der Sowjetunion sich dort Strukturen institutionalisierter Kooperation entwickelt haben -, Lateinamerika, Südostasien, die arabische Welt und Schwarzafrika sowie Ozeanien. Diese Kategorisierung erfolgt im Wesentlichen aufgrund des jeweils vorhandenen Institutionalisierungsgrades internationaler Kooperation in Regionalorganisationen Als solche wären etwa zu nennen für den europäischen Bereich: die Europäische Union, der Europarat, OSZE, NATO und WEU; auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS); im amerikanischen Bereich die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), der Anden-Pakt, MERCOSUR und NAFTA; in Afrika die Afrikanische Union (AU; früher Organisation für Afrikanische Einheit, OAU) und im südlichen Afrika die SADC; schließlich kontinentübergreifend die Arabische Liga und in (Südost-)Asien und Ozeanien APEC, ASEAN sowie der ANZUS-Pakt. Die UNO versucht, die positiven Aspekte des Regionalismus auszunutzen, um Rechtsentwicklungen, die auf globaler Ebene nicht oder noch nicht mit Erfolg gefördert werden können, wenigstens 80 Allgemein hierzu P. Kunig, Völkerrecht und Übersee, VRÜ 30 (1997), 465ff.; siehe auch C.F. Amerasinghe, The Historical Development of International Law - Universal Aspects, AVR 39 (2001), 367, 388ff. 81 Hierzu M.T. al Ghunaimi, The Muslim Conception of International Law and the Western Approach, 1968; H.-Kruse, Islamische Völkerrechtslehre, 2.-A., 1979; A.A.-Ana’im, Islamic Ambivalence to Political Violence: Islamic Law and International Terrorism, GYIL 31 (1988), 307ff.; D.-Westbrook, Islamic International Law and Public International law: Separate Expressions of World Order, VJIL 33 (1993), 819ff.; M.-Lombardini, The International Islamic Court of Justice: Towards an International Islamic Legal System? , LJIL 14 (2001), 665ff.; C. Lombardi, Islamic Law in the Jurisprudence of the International Court of Justice, ChiJIntlL 8 (2007), 85ff.; J.-Rehman, Islamic State Practices, International Law and the Threat from Terrorism, 2005; Y. Ben Achour, La civilisation islamique et le droit international, RGDIP 110 (2006), 19ff. 82 Hierzu S. Kim, The People’s Republic of China and the Charter-Based International Legal Order, AJIL 72 (1978), 317ff.; W. Pfeifenberger, Die Völkerrechtspolitik der Volksrepublik China im Rechtsausschuß der Generalversammlung der Vereinten Nationen, AVR 17 (1977), 181ff.; H.-von Senger, Völkerrechtliche Begriffe in chinesischer Sicht, GYIL 21 (1978), 387ff.; R. Heuser, Völkerrechtswissenschaft und Völkerrechtstheorie in der Volksrepublik China (1979-88), ZaöRV 49 (1989), 301ff. 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="72"?> 36 1. Grundlagen auf regionaler Ebene zu vollziehen. 83 Eine zu ausgeprägte Verfolgung von Regionalinteressen, insbesondere auch im Rahmen von internationalen Organisationen bzw. bei Abstimmungen auf internationalen Konferenzen, wie sie u.-a. teilweise von Entwicklungsländern betrieben wird, kann dabei aber auch den negativen Effekt haben, dass die zur Stärkung des universell geltenden Völkerrechts erforderliche Suche nach einem gemeinsamen Wertekonsens deutlich erschwert wird. 84 Die UN-Charta befasst sich an mehreren Stellen, etwa in ihrem Kapitel VIII, vornehmlich unter dem Friedenssicherungsaspekt mit dem Verhältnis von universaler und regionaler Friedenssicherung. Das wird noch im Einzelnen darzustellen sein (siehe unten Kap. 2.2.3, 2.2.4 und Kap. 5). An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass gerade im Hinblick auf das Verhältnis von Universalismus und Regionalismus das Völkerrecht im Umbruch begriffen ist, ohne dass sich bislang klare Ergebnisse abzeichnen. 1.3.5.3 Völkerrecht im Umbruch: Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Einführende Literatur: Hobe, Stephan, Die Zukunft des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, AVR 37 (1999), 253ff. Wie wohl im 21.-Jahrhundert eine große Zahl von Friedensbrüchen festzustellen ist, bleibt doch am normativen Anspruch der UN-Charta als wichtigsten Paradigma der internationalen Beziehungen festzuhalten. Doch hat sich der Handlungsrahmen in unserer zunehmend globalisierten Welt deutlich verändert. Auswirkungen der Friedenspflicht auf die Struktur der Staaten. Mit der Normierung der allgemeinen Friedenspflicht der Staaten, die in einem umfassenden Sinne zur Schaffung von Bedingungen aufruft, welche ein friedliches Zusammenleben der Staatengemeinschaft gewährleisten, wirkt das Völkerrecht nun auch unmittelbar auf die Politik der Staaten ein. Dabei wird Friedenspflicht als umfassende positive Pflicht zur Erhaltung des Friedens verstanden, in Abkehr zum Negativen auf die Abwesenheit von Konfrontation beruhenden Friedensbegriff. Das Völkerrecht meint zwar den internationalen Frieden, aber da die Staaten verpflichtet sind, den Frieden mit friedlichen Mitteln zu erhalten, ergibt sich daraus auch die Pflicht eines jeden Staates, seine innere Struktur so zu gestalten, dass er mit den unfriedlichen Kräften in seinem Inneren fertig wird. Wie er dies tut, schreibt ihm das Völkerrecht allerdings nicht vor. Daran zeigt sich, dass die souveränen 83 B. Andemicael, Regionalism and the United Nations, Dobbs Ferry, 1979; R. Dolzer, Universalism and Regionalism, in: A.-Grahl-Madsen/ J.-Toman (Hg.), The Spirit of Uppsala, 1984, 513ff.; S.G.-Gálvez, The Future of Regionalism in an Asymmetrical International Society, in: R.St. MacDonald/ D.M.-Johnston (Hg.), The Structure and Process of International Law, 1983, 661ff.; W. Lang, Der internationale Regionalismus, 1982; E.-Menzel, Universalismus und Regionalismus in den Vereinten Nationen, in: G.-Picht/ C.-Eisenbart (Hg.), Frieden und Völkerrecht, 1973, 485ff.; F.L.-Morrison, The Role of Regional Organizations in the Enforcement of International Law, in: J.-Delbrück (Hg.), Allocation of Law Enforcement Authority in the International System, 1995; Société Française pour le Droit International, Régionalisme et universalisme dans le droit international contemporain, 1977; F.-Przetacznik (Hg.), The-Law-Making Process by Regional International Organizations, RdI 54 (1976), 199ff.; R. Rosecrance, Regionalism and the Post Cold War Era, IJ 46 (1991), 373ff.; R. Wolfrum (Hg.), Strengthening the World Order: Universalism v. Regionalism, 1990. 84 Siehe dazu C.-Tomuschat, Tyrannei der Mehrheit? , GYIL 19 (1976), 278ff. <?page no="73"?> 37 Staaten nach wie vor als die Grundeinheiten des internationalen Systems gelten müssen. Bis in die neueste Zeit erweist sich also der souveräne Staat als der entscheidende Eckpfeiler der völkerrechtlichen Ordnung. Das Völkerrecht ist angesichts des Bedeutungszuwachses internationaler Organisationen und anderer nichtstaatlicher Akteure aber auch längst kein ausschließliches Zwischenstaatenrecht mehr. Damit einher geht eine im Zeitalter der Globalisierung merkliche Neuakzentuierung der Bedeutung des Gehalts staatlicher Souveränität 85 (siehe dazu Kap. 5). Schauen wir auf den Entwicklungsprozess des Völkerrechts wird darin die bereits angesprochene fundamentale Funktionswandlung moderner Staatlichkeit reflektiert, die nun im heraufziehenden Zeitalter der Globalisierung noch schärfer konturiert wird. War der moderne souveräne Staat jedenfalls seit dem Beginn der Periode des klassischen Völkerrechts der unangefochtene Präzeptor der internationalen Beziehungen und der maßgebliche Gestalter völkerrechtlicher Entwicklung, so hatte bereits der sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts langsam abzeichnende und mit der Schaffung des Völkerbundes und erst recht mit der Organisation der Vereinten Nationen immer vehementer zu beobachtende Trend zu internationaler institutionalisierter Kooperation Staaten dazu veranlasst, wesentliche, ihren eigenen Handlungsrahmen übersteigende Aufgaben in internationaler institutionalisierter Zusammenarbeit zu verrichten. Dem hatte das Völkerrecht dadurch Rechnung getragen, dass es allmählich eine Wandlung von einem zunächst nur auf die Koordination zwischenstaatlicher Beziehungen gerichteten Recht, welches der amerikanische Völkerrechtler Wolfgang Friedmann deshalb Koordinationsvölkerrecht genannt hatte, zu einem sog. Kooperationsvölkerrecht 86 vollzog, und welches sein sinnfälligstes Symbol in der Schaffung der Vereinten Nationen fand. Neben den soeben bereits konstatierten Problemlagen, die die Staatlichkeit einem neuen Anpassungszwang im Sinne einer gewissen Kooperationsoffenheit aussetzen, konfrontiert das Zeitalter der Globalisierung den Staat mit einer noch darüber hinausgehenden Herausforderung. Seine „reale Basis“ ist dem Phänomen der Globalisierung dabei zweifelsohne durch die moderne Technologie gegeben, die heute praktisch jeden zu weltweiter Kommunikation, aber eben auch zu wirtschaftlicher Transaktion in Stand setzt. Einer der für den Staat wesentlichen Schauplätze dieses Geschehens sind dabei die internationalen Finanzmärkte. Hier getätigte Transaktionen haben sich lange weitgehend staatlicher Kontrolle entzogen. Aber auch die transnationale Reichweite des Internets sowie das staatsübergreifende Handeln transnationaler Unternehmen machen die immer begrenztere Steuerungsmöglichkeit des Staates für derartige wirtschaftliche Transaktionen deutlich. Allerdings widerspricht diese Liberalisierung nicht gänzlich dem Willen der Staaten, da seit Mitte der neunziger Jahre durch die Verabschiedung des GATT1994 und des WTO-Abkommens sowie der GATS und TRIPSAbkommen die Erleichterung grenzüberschreitenden Wirtschaftens für möglichst viele Güter und Dienstleistungen auf der völkerrechtlichen Agenda steht und von den Staaten gewollt ist und gefördert wird. Das mit Globalisierung zu kennzeichnende Phänomen zeichnet sich dadurch aus, dass es in seinen Wirkungen entgrenzend sein kann, es freilich nach wie vor Sache der Staaten bleibt, zu ent- 85 Siehe auch U. Haltern, Was bedeutet Souveränität? , 2007. 86 W. Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964, 60ff.; dieser Begriff wird heute allgemein akzeptiert, vgl. auch A.-Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre. Vom Kompetenzzum Kooperationsvölkerrecht, 1995, 106ff. 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="74"?> 38 1. Grundlagen scheiden, ob und inwieweit sie sich auf den Globalisierungsprozess einlassen. Neben den Staaten treten in Gestalt von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und transnationalen Unternehmen zunehmend Akteure der sog. internationalen Zivilgesellschaft auf den Plan. Ihr zunehmender faktischer Einfluss auf die Gestaltung der internationalen Beziehungen ist unbestreitbar. Welche Auswirkungen dies auf das Völkerrecht in der Ära der Globalisierung haben wird, muss die weitere Entwicklung zeigen. Jeweils deutet sich hier eine stärkere Beteiligung nichtstaatlicher Akteure an der weiteren Ausgestaltung der modernen Völkerrechtsordnung an. Es wird am Ende entscheidend sein, ob und wie das Völkerrecht auf die globalen Herausforderungen der Staatengemeinschaft im Sinne der Sicherung der für das Überleben der Menschheit wesentlichen globalen Güter (global public goods) Frieden, Umwelt und Weltklima, Sicherheit und ähnlich wichtiger Interessen der Kontrolle internationaler Finanzmärkte reagiert. Hier geht es einzig darum, ob die Staatengemeinschaft den Willen dazu aufbringt, Konsense für rechtliche Regelungen in den dafür vorgesehenen Foren zu organisieren. Aber nicht nur die Anzahl und Wirkungsweise der Akteure, auch die Regelungsmaterien des Völkerrechts haben stark zugenommen - man denke nur an relativ neue Bereiche wie das internationale Umweltrecht, das Weltraumrecht oder auch das internationale Strafrecht. Dies alles deutet wiederum auch auf ein unabweisbares Bedürfnis der Akteure des internationalen Systems hin, ihr Verhalten bestimmten völkerrechtlichen Regeln zu unterwerfen. Ob es schließlich angesichts dieser neuen Konturen gerechtfertigt ist, den Anbruch einer dritten Etappe der völkerrechtlichen Entwicklung - nach Koordination und Kooperation nunmehr Globalisierung - anzunehmen, die sich entscheidend durch eine gewisse Funktionswandlung des Staates und eine Bedeutungsaufwertung anderer, vornehmlich nichtstaatlicher Akteure - eben etwa der transnationalen Unternehmen oder Nichtregierungsorganisationen - auszeichnet und dementsprechend auch Konsequenzen für die Bildung neuen Völkerrechts haben könnte, kann im Moment noch nicht abschließend beurteilt werden. Es wird allerdings schon deutlich, dass die erkennbar werdende Funktionswandlung des modernen Staates als des vormals praktisch einzigen Akteurs der internationalen Beziehungen nicht ohne Auswirkungen auch für die völkerrechtliche Entwicklung bleiben kann. Ob zudem die Entwicklung des Völkerrechts zu Beginn des 21. Jahrhunderts dessen Einheit zu bewahren hilft oder angesichts der offenkundig wachsenden Schwierigkeit der Findung von Konsensen einer immer weiter gehenden Fragmentierung des Völkerrechts den Weg ebnet, ist eine Frage nicht nur der Entwicklung des materiellen Rechts und dessen Kollisionslösungsnormen, sondern auch eine Frage nicht zuletzt der Entwicklung gerichtlicher Durchsetzungsmechanismen und des Verhältnisses der Streitbeilegungsorgane zueinander. 87 Die nachfolgend zu skizzierenden Entwicklungslinien der völkerrechtlichen Entwicklung deuten in diese Richtung. Kalter Krieg. Diese Interdependenzerfahrung nach dem Zweiten Weltkrieg trat zunächst in Gestalt der die Ära des Kalten Krieges kennzeichnenden Politik der gegenseitigen Abschreckung zwischen 87 Siehe zu dem Problembereich auch C. Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, AVR 46 (2008), 1ff. sowie G. Orellana Zabalda, The Principle of Systemic Integration - Towards a Coherent International Legal Order, 2012. Zur Arbeit der International Law Commission: M. Koskenniemi, Fragmentation of International Law, Report of the Study Group of the ILC, UN-Doc. A/ CN.4/ L.682 vom 13.04.2006. <?page no="75"?> 39 den von den beiden Supermächten USA und UdSSR angeführten Machtblöcken in Erscheinung, die 40 Jahre andauerte. Sie hatte das System kollektiver Sicherheit der UN-Charta zur Bedeutungslosigkeit verurteilt und den kollektiven Verteidigungsallianzen NATO und Warschauer Pakt vor dem Hintergrund gegenseitiger nuklearer Vernichtungskapazitäten die entscheidende, wenngleich prekäre Friedenssicherungsfunktion zugewiesen. Die entscheidendste Herausforderung für das Völkerrecht war deshalb in dieser Zeit neben der Bewältigung der Dekolonisierung die Bereitstellung von Mechanismen zur Stabilisierung des labilen „Gleichgewichts des Schreckens“. Ende des Ost-West-Gegensatzes: Auswirkung auf das UN-System kollektiver Sicherheit. Betrachtet man nun die Herausforderungen nach der Zeitenwende von 18/ , so sind es zum einen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts neu aufgebrochene ethnische Konflikte, die - zumeist in Gestalt der Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechts der Völker (siehe unten Kap. 2.1.8) - den Staat mit der Gefahr des Auseinanderfallens etwa im Wege der Dismembration oder Sezession konfrontieren und sogar an die Grenze der Möglichkeit einer Ausübung effektiver Herrschaft über das eigene Staatsgebiet bringen können, also die Stabilität des Staates von innen her bedrohen. 88 Der Staat selbst kann im Falle heterogener ethnischer Bevölkerungszusammensetzung in seiner Existenz infrage gestellt und das Völkerrecht aufgerufen sein, Regeln zur Austarierung dieses Konflikts zu entwickeln (dazu unten Kap. 2.4.4 und Kap. 10). Immerhin war die Zeit nach dem Ende der Teilung Europas in Ost und West diejenige, in der die Übereinstimmung der Großmächte das auf Konsens basierende System der Vereinten Nationen durch die neu erlangte Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates infolge der Einmütigkeit der Großmächte am ehesten verwirklichte. Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes sah es einen Moment lang so aus, als ob das von der Charta der Vereinten Nationen intendierte, infolge ideologisch inspirierter Blockade jedoch weitgehend marginalisierte System kollektiver Sicherheit endlich seine volle Wirksamkeit erlangen sollte. Dies äußerte sich nach der Intervention der UNO im Irak von 1990/ 91 am maßgeblichsten in einer Reihe von im Zeitraum von 1990 bis 1994 vom Sicherheitsrat mandatierten sog. humanitären Interventionen der Vereinten Nationen, etwa in Ruanda, Somalia, dem früheren Jugoslawien, sowie unter dem spezifischen Gesichtspunkt der Wiederherstellung rechtsstaatlicher und demokratischer Verhältnisse in Kambodscha und Haiti (dazu im Einzelnen unten Kap. 5.1.4.3). Das Charakteristische all dieser Aktionen war, dass in Anerkennung einer internationalen Verantwortung für die Gewährleistung friedlicher Zustände, wie sie dem Grundkonzept der UN-Charta ja innewohnt, 89 der (welt-) ordnungsrechtliche Ansatz des Systems kollektiver Sicherheit für Aktionen aktiviert wurde, die nach klassischem Verständnis noch weitgehend als eigene Angelegenheit der souveränen Staaten angesehen worden wären. Nachdem zwischenzeitlich, auch angesichts einer sichtbar werdenden Überforderung der Vereinten Nationen, eine gewisse Zurückhaltung bei der Fortführung dieser Entwicklungslinie zu beobachten war, deutet die Zustimmung eines 88 Vgl. die Referate „Der Wegfall effektiver Staatsgewalt. The Failed State“ von D.-Thürer, M.-Herdegen und G.-Hohloch, in: BDGVR 34 (1996), 9ff., 49ff. und 87ff.; R. Ehrenreich Brooks, Failed States, or the State as Failure? , UChiLRev 72 (2005), 1195ff., R. Geiß, „Failed States“: die normative Erfassung gescheiterter Staaten, 2005; T. Raeymaekers, The Challenges of Frail, Failing and Failed States, Studia diplomatica 58 (2005), 35ff. 89 Siehe dazu nur die Beiträge in S. Hobe (Hg.), Die Präambel der UN-Charta im Lichte der aktuellen Völkerrechtsentwicklung, 1997. 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="76"?> 40 1. Grundlagen großen Teils der internationalen Gemeinschaft, wenngleich nicht aller Staaten, zur Beendigung der ethnisch motivierten Vertreibungen und des Völkermordes im Kosovo im Jahre 1999 auf eine grundsätzliche Akzeptanz des souveränitätsbeschränkenden Kerngehalts dieser humanitären Interventionen - unter bestimmten Voraussetzungen - hin. 90 Bedeutete dies den Durchbruch der Idee der kollektiven Sicherheit - das Ende der Geschichte? 91 . Wandel der Ordnungsmächte. Die massive Herausforderung durch den internationalen Terrorismus hat ab dem Jahr 2001 jedoch die deutliche Neigung der USA erkennbar werden lassen, Konflikte auch militärisch und jedenfalls entweder außerhalb oder durch Dominanz der Organisation der Vereinten Nationen zu lösen. 92 Denn es wurden gleich zu Beginn des 21. Jahrhunderts des Öfteren seitens der Amerikaner Versuche unternommen, anstelle von multilateralen und damit (zumeist) UN-basierten Konfliktlösungsmechanismen die unilaterale, teils in gewisser Spannung zum Völkerrecht stehende Konfliktlösung zu suchen. Die USA waren damit jedenfalls am Anfang dieses Jahrtausends wohl die einzige verbleibende Supermacht; sie traten oft als selbsternannte Weltordnungskraft auf. Das gilt zum einen für den - nicht immer erfolgreichen - Kampf gegen Terrorgruppen wie den Islamischen Staat (IS) oder Al-Qaida. Besonders deutlich wurde dies in der Haltung der USA im Irak-Konflikt 2002/ 03. 93 Das militärische Vorgehen der USA und Großbritanniens, welches nach Auffassung dieser beiden Staaten vor allem der Gefahr dort angeblich vorhandener Massenvernichtungswaffen effektiv begegnen sollte, zeigt eine vorübergehende Trendwende weg von der Kooperationsordnung und hin zum „hegemonialen Internationalismus“. 94 Es fehlte jedoch zum einen an der klaren Zieldefinition für die begonnenen bewaffneten Konflikte seitens der USA, zum anderen erwies sich der militärische Weg der Problemlösung als oftmals nicht gangbar. Hinzu kamen ab 2008 die Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten, die nicht nur die Vereinigten Staaten mit voller Wucht trafen und auch gegenwärtig noch treffen. Sowohl für die Staatengemeinschaft als auch für die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates zeigt die bis heute nicht ganz überwundene internationale Finanzkrise, dass sich der internationale Finanzmarkt in einem staatlicherseits nur sehr schwer steuerbaren Umfang von den Staaten emanzipiert hat. Die Erfahrung nicht nur der militärischen Unerreichbarkeit von durchgreifenden Erfolgen sowie der globalen Finanzkrise, haben damit ein deutliches Ende solcher Hegemonievorstellungen hervorgerufen. Mit Indien und China sind vormals noch als Entwicklungsländer angesehene Staaten 90 C.-Kreß, Staat und Individuum, NJW 52 (1999), 3077ff. 91 Siehe F. Fukuyama, Das Ende der Geschichte, 1992. 92 Hierzu etwa G. Nolte/ M.- Byers (Hg.), United States Hegemony and the Foundations of International Law, 2005; D.-Vagts, Hegemonic International Law, AJIL 95 (2001), 843ff. 93 Siehe hierzu D.- Murswiek, Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, NJW 56 (2003), 1014ff., und unten Kap. 5.1.3.5. 94 In jüngerer Zeit, besonders seit der Zeitenwende von 1989/ 90, sind eine Reihe von grundlegenden politikwissenschaftlichen Abhandlungen zum Problem der Hegemonialstellung der USA und der daraus ableitbaren neuen Weltordnung entstanden: siehe u.a. P. Kennedy, The Rise and Fall of Great Powers: Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, 1987; S. Huntington, The Clash of Civilizations, Foreign Affairs 72 (1993), 22ff.; F.-Fukuyama, The End of History and the Last Man, 1992; R. Kagan, Macht und Ohnmacht, 2003; E.-Todd, Après l’empire. Essai sur la décomposition du système Américain, 2002. <?page no="77"?> 41 neben den Vereinigten Staaten von Amerika und Russland weltordnungspolitisch auf den Plan getreten. Jedenfalls ist an unilaterale Konfliktlösungsansätze wie unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht mehr zu denken. Die im Konsens im Sicherheitsrat beschlossene Flugverbotszone über Libyen, die im Jahr 2012 letztlich die Entmachtung des Diktators Gaddafi beschleunigte, hat einerseits mit ihrer Orientierung am Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect - R2P, siehe dazu näher unten Kap. 5.1.6) ein Zeichen für die verantwortungsbewusste Wahrnehmung der am Staatengemeinschaftsinteresse ausgerichteten Wiederherstellung des Weltfriedens hervorgebracht. Andererseits verdeutlicht die Blockadehaltung Chinas und Russlands angesichts der durch ein suppressives und gewaltsames Vorgehen der Assad-Regierung hervorgerufenen bürgerkriegsähnlichen Zustände in Syrien, dass dort staatengemeinschaftliches Vorgehen ähnlich schwierig zu sein scheint wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Auch Indien hat bereits gezeigt, dass es in der Lage ist, eine ganze Welthandelsrunde zum Scheitern zu bringen. Die globalen Konferenzen über den Welthandel im Rahmen der WTO sowie die zum Weltklima bei der Suche nach einer Nachfolgeregelung für das Kyoto-Protokoll, zeigen, wie kompliziert es geworden ist, Konsense auf internationaler Ebene selbst in ganz essenziellen Fragen zu organisieren. Die immer häufiger wahrnehmbare Flucht in rechtlich unverbindliche Regelungen als beinahe zwangsläufige Konsequenz erscheint so als eine gravierende Bedrohung der völkerrechtlichen „Rule of Law“. Cyber-Kriegführung. Im nach wie vor zentralen Problemfeld der kollektiven Sicherheit bleibt also die Herstellung von Konsens zum Handeln - wie schon in den über 40 Jahren des Kalten Krieges - äußerst prekär, ohne dass eine wirkliche Alternative ersichtlich wäre. Zudem stellen neue, auf moderne Hochtechnologie gestützte Nutzungen moderner Medien etwa durch Herausforderungen wie Cyber-Kriegführung oder auch durch ferngesteuerte Luftfahrzeuge (sog. Drohnen) Herausforderungen an das ius contra bellum und das ius in bello. Im Unterschied zur Ära des Kalten Krieges manifestiert sich dabei allerdings zusehends eine multipolare Weltordnung, in der auch die einflussreichsten staatlichen Akteure nur noch in Zusammenarbeit mit anderen Staaten politische Leitentscheidungen treffen können. Gleichzeitig ist aber aus der Sicht der völkerrechtlich relevanten Akteure die steigende Relevanz nichtstaatlicher Akteure - wie dies wieder in der noch andauernden Weltfinanzkrise deutlich wird - ganz unabweisbar, wie auch die in verschiedenen Zusammenhängen deutlich werdende Möglichkeit des Staatsbankrotts (Argentinien, Griechenland, Venezuela) das Vorstellungsbild des allmächtigen Staates nachhaltig geschwächt hat. Ob damit allerdings eine wieder stärkere Orientierung des Gutes der kollektiven Sicherheit an den Staatengemeinschaftsinteressen verbunden ist oder die Krise des Multilaterismus verstärkt wird, ist derzeit noch nicht genau abzusehen. Verstärkung von Durchsetzungsmechanismen. So ist nach wie vor die Erhöhung der Effektivität der Rechtsordnung des Völkerrechts eine Hauptherausforderung des Völkerrechts unserer Tage. Dass es durchaus Ansätze zur Schaffung einer breiteren Palette von Durchsetzungsinstanzen gibt, zeigt etwa die Gründung der internationalen Straftribunale für Ruanda und Jugoslawien und anderer Tribunale, sowie des Internationalen Strafgerichtshofs zur Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, also schwerster Verstöße gegen das Völkerrecht, sowie des Seegerichtshofs oder die Stärkung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Bereich des regionalen europäischen Völkerrechts. Auch das vielfach als gesetzgeberisches Handeln gedeutete Auftreten 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="78"?> 42 1. Grundlagen des Sicherheitsrates und die in Abkommen der EU oder der Weltbank zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit enthaltenen Konditionalitätsklauseln, die Entwicklungshilfe etwa an die Einhaltung von menschen- oder umweltrechtlichen Standards knüpfen, 95 könnten in diese Richtung deuten. Herausforderungen der Globalisierung. Dass dies noch nicht ausreichend ist, indes die völkerrechtliche Ordnung weiter gestärkt werden muss, zeigen allerdings die aktuellen Herausforderungen des Zeitalters der Globalisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts, die nach ihrer Erwähnung am Anfang hier noch einmal vor Augen geführt werden sollen: Diese sind etwa globale Umweltbedrohungen (Erhöhung des Weltklimas), ein beispielsloses Maß an internationalen Migrationsströmen, vor allem von Afghanistan und afrikanischen Staaten nach Europa, die nach wie vor und mit steigender Tendenz ungleiche Wohlstands- und Technologieverteilung zwischen den Staaten der nördlichen und südlichen Erdhalbkugel, die noch nicht ausreichende Verankerung international einheitlicher Standards zum Schutz der Menschenrechte oder auch die moderne Hochtechnologie, 96 vor allem aber die offenbar noch unzureichenden Anreize für friedliche Konfliktlösung anstelle bewaffneten zwischenstaatlichen Konfliktaustrags sowie unzureichende Regeln zur Bekämpfung oft ethnisch motivierter innerstaatlicher bewaffneter Konflikte. Ein unvermindert anhaltender, besonders die westliche Welt betreffender internationaler Terrorismus, und auch eine neue Entwicklung im Sinne der Nichtachtung des Gewaltverbots wie bei der Annexion der Krim durch Russland sowie der Abschuss des malaysischen Flugzeuges MH17 im Jahre 2014 über der Ostukraine nötigen zu der bedauerlichen Feststellung, dass auch in Europa die Einhaltung des Gewaltverbots nicht mehr eine Selbstverständlichkeit ist. In all diesen Bereichen zeigt sich, dass es der Formulierung und Befolgung staatenübergreifender Regelungen bedarf, um diesen Herausforderungen wirksam zu begegnen. Und die vorhandenen staatenübergreifenden Völkerrechtsregeln haben wiederum Auswirkungen auf den Gehalt staatlicher Souveränität. Es stellt sich etwa die Frage, in welcher Weise Staaten Personen, die sich auf ihrem Gebiet aufhalten, im Hinblick auf die Gewährung von Menschen-, Flüchtlings- oder Minderheitenrechten (dazu Kap. 10) zu behandeln haben. Und daran knüpft die weitere Frage an, ob in Fällen stärkster und massenhafter Missachtung fundamentaler Menschenrechte in einem Staat, z.-B. in Form völkerrechtlicher Verbrechen, die internationale Gemeinschaft in Form der sog. humanitären Intervention (dazu unten Kap. 5.1.4.3) geradezu zum Einschreiten verpflichtet ist (die Schwelle zur Eingreifens-Verpflichtung thematisiert die sog. Internationale Schutzverantwortung (responsibility to protect), dazu unten Kap. 5.1.6) und welche Kriterien strafrechtlicher Verantwortlichkeit in Fällen völkerrechtlicher Verbrechen anzulegen sind (dazu unten Kap. 14). Die Herausforderung des internationalen Terrorismus wirft für die Völkerrechtsordnung an verschiedenen Stellen zu beantwortende Fragen bis hin zu denjenigen gerechtfertigter Selbstverteidigung des Adressaten dieser Verteidigungshandlung und der Stellung terroristischer Gruppen in der Völkerrechtsordnung auf (dazu etwa Kap. 5.1.3.7). Für all diese Herausforderungen muss das Völkerrecht noch befriedigende(re) Antworten bereitstellen, um auch in Zukunft ein einigermaßen friedliches Zusammenleben der Menschen und Staaten garantieren zu können. 95 Siehe etwa G. Oestreich, Menschenrechte als Elemente der dritten AKP-EWG-Konvention von Lomé, 1990. 96 Hierzu siehe etwa F.-Bodendiek/ K.-Nowrot, Bioethik und Völkerrecht, AVR 37 (1999), 176ff.; C.-Byk, Le droit international de la „bioéthique“: „ius gentium“ ou „lex mercatoria“? , JDI 124 (1997), 913ff.; S. Marks, Tying Prometheus Down: The International Law of Human Genetic Manipulation, ChiJIL 3 (2002), 115ff. <?page no="79"?> 43 Epochenvergleich-- Öffnung des Staates. Vergleicht man die gegenwärtige mit früheren Epochen der Völkerrechtsgeschichte, kann indes festgestellt werden, dass der Einfluss des Völkerrechts durchaus gewachsen ist. Die Einbindung des Staates in eine internationale Kooperationsgemeinschaft zur Bekämpfung auch staatenintern begangener schwerster internationaler Verbrechen, 97 lassen dabei den Charakter des Völkerrechts und dessen Relevanz für den einzelnen Staat nicht unberührt. Der moderne souveräne Staat öffnet sich - zwar erst allmählich und auch nicht überall, aber doch zum Teil schon in Ansätzen erkennbar - für Belange, die im Sinne eines internationalen ordre public eine objektiv geltende rechtliche Minimalordnung festlegen, welche im staatengemeinschaftlichen Interesse für ein friedliches, das Überleben der Menschheit sicherndes zwischenstaatliches Zusammenleben erforderlich ist. Dies wird etwa deutlich in der zunehmenden Akzeptanz der bereits skizzierten humanitären Interventionen, äußert sich aber auch ansatzweise in rechtlichen Reaktionen auf die bereits erwähnten globalen Bedrohungen, also solcher Gefährdungslagen wie Unterentwicklung, Migration und Umweltzerstörung, bei deren Bekämpfung der einzelne Staat sichtlich überfordert wäre. Hier ist jedenfalls in Ansätzen bereits erkennbar, dass - nimmt man einmal das internationale Umweltrecht als Beispiel - die Einhaltung bestimmter Staatenverpflichtungen zum Schutze der Umwelt, also einer Bedingung des Überlebens der gesamten Menschheit, im Sinne einer objektiven Ordnung erga omnes von jedem Staate zu fordern, wie auch von ihm und gegen ihn zu vollstrecken ist. Dass dies mutatis mutandis auch für die Bekämpfung des internationalen Terrorismus gelten muss, steht außer Frage. Wandlung der Staatlichkeit: Staat als pouvoir intermédiaire. Der Staat ist jedenfalls durch die Verdichtung internationaler Kooperation, und natürlich besonders dort, wo diese wie innerhalb der Europäischen Union supranationale Züge trägt, 98 selbst in einem Wandlungsprozess zur Kooperationsoffenheit begriffen. Hierbei trägt er einerseits verfassungsstaatliche Vorgaben in den internationalen Kooperationszusammenhang hinein, nimmt indes auch die Ergebnisse internationaler institutionalisierter Kooperation bis hin zu Änderung bzw. Anpassung seiner eigenen Rechtsordnung auf und wird damit gleichsam zum Scharnier, zur pouvoir intermédiaire 99 zwischen staatlicher und internationaler Rechtsordnung. 100 Dabei sollte auch nicht übersehen werden, dass im Zeitalter der Globalisierung die Weltordnung - und auch das Völkerrecht - in einem seit dem Zustandekommen des internationalen Systems nicht gekannten Maße vor neuen Herausforderungen steht. Erst sehr allmählich wird den Staaten bewusst, vor welch fundamentale Herausforderungen diese neue Ära das traditionelle Souveränitätsparadigma stellt. Denn wohl oder übel sitzen alle Staaten, was etwa den Klimawandel angeht, im gleichen Boot, ob groß oder klein. Indes schafft die etwa in den internationalen Kommunikationsprozessen deutlich 97 Siehe etwa M.-Kotzur, Weltrecht ohne Weltstaat - die nationale (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit als Motor völkerrechtlicher Konstitutionalisierungsprozesse? , DÖV 55 (2002), 195ff. 98 Hierzu G.-Nicolaysen, Der Nationalstaat klassischer Prägung hat sich überlebt, in: FS Everling, Bd.- 2, 1995, 945ff. 99 So treffend P. Saladin, Wozu noch Staaten? , 1995, 237ff. 100 Dazu etwa S. Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), 521 f.; ders., Statehood at the End of the 20th Century - The Model of the „Open State“: A German Perspective, ARIEL-2 (1997), 127ff. 1.3 Entwicklung zum Völkerrecht der Globalisierung <?page no="80"?> 44 1. Grundlagen werdende Grenzaufweichung staatlicher Souveränität spürbar werdende Entfremdungsprozesse und Orientierungsängste für die Bürgerinnen und Bürger. Häufig lässt sie dies dort, wo Wahlen möglich sind, nach radikalen und schnellen Lösungen des Regierens rufen. Die Erkenntnis, dass es im wohlverstandenen Eigeninteresse gerade auch der starken Staaten ist, möglichst die gesamte internationale Staatengemeinschaft die Herausforderungen der Globalisierung wie etwa Klimawandel und globale Migrationsströme meistern zu lassen, setzt sich erst sehr zögerlich durch. Auch mögliche Auswirkungen auf das Jahrhunderte lang gültige Souveränitätsparadigma wird erst sehr ansatzweise durch deren Einschränkung etwa im Umwelt- und Menschenrechtsbereich deutlich; von „aufgeklärter Souveränität“ im Sinne von proaktiver, die Flüchtlingsfrage antizipierende Entwicklungspolitik bzw. Umweltpolitik ist bislang nur sehr rudimentär die Rede. Andere Deutungen. Nicht verschwiegen werden soll aber auch, dass jüngere Entwicklungen einer radikalen Abkehr der USA von einer das internationale System stützenden Rolle zur Verfolgung ausschließlich eigener Interessen und die ähnliche Akzentuierung der Politik Russlands sowie das teils aggressive Expansionsstreben Chinas auch als Beginn des Abschieds von der „liberalen Weltordnung“, wie sie nach 1945 herrschte, gedeutet werden. Diese neue fragmentierte Ordnung zeichne sich weniger durch Interdependenz geprägtes Verhalten, sondern durch eine auf Souveränität basierende anarchische Staatenwelt ohne die Möglickheit effektiver überstaatlicher Steuerung aus. 101 Ziel dieses Buches. Das vorliegende Buch will nun eine Einführung in den derzeitigen Stand der Entwicklung des Völkerrechts geben. Durch die Vorstellung der handelnden Akteure (dazu Kap. 2) wie der ihr Handeln bestimmenden Rechtsquellen (dazu Kap. 3) wird eine Einführung in völkerrechtliches Denken angestrebt. Gewissermaßen als ein Leitmotiv soll gelten, bei der Darstellung der nachfolgend zu beschreibenden verschiedenen Materien des Völkerrechts - sei es der allgemeinen Lehren einschließlich der geschichtlichen Entwicklung (Kap. 1.3) und der Durchsetzungsmechanismen (Kap. 6), sei es der Spezialmaterien des besonderen Völkerrechts (Kap. 8-14) - gewisse allgemeine Kriterien hervortreten zu lassen, die ein Urteil über den gegenwärtigen Stand der Völkerrechtsentwicklung erleichtern sollen. Erstens stellt sich die Frage, wie und von wem das Völkerrecht gebildet wird, zweitens, wie und mit welchen Mitteln Völkerrecht durchgesetzt werden kann, und schließlich drittens, ob nach dem ersten Wandel des Völkerrechts von einer Koexistenzzu einer Kooperationsordnung als Kennzeichen des 20. Jahrhunderts 102 das aktuelle Zeitalter der Globalisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen erneuten Wandel der Völkerrechtsordnung erkennen lässt. Das Buch will also Probleme verdeutlichen und zum Weiterdenken anregen. Dabei soll den Studierenden nicht zuletzt ein wenig von der Faszination des Völkerrechts vermittelt werden, die darauf beruht, dass ein so divergentes normatives Gebilde wie das des Völkerrechts dennoch nach bestimmten Grundtheorien und -regeln zu erfassen ist. Insofern sei der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass Leser und Leserinnen, aus welchem Anlass auch immer sie sich diesem Buch zuwenden, Antworten finden oder jedenfalls zum Weiterdenken angeregt werden und damit die Gewissheit erlangen mögen, dass die Befassung mit dem Völkerrecht ein durchaus lohnendes Unterfangen ist. 101 Siehe dazu etwa M. Herdegen, Der Kampf um die Weltordnung, München 2019. 102 Dazu näher Kap. 1.3.5.3. <?page no="81"?> 2. Die Völkerrechtssubjektivität Einführende Literatur: Walter, Christian, Subjects of International Law (Mai 2007), MPEPIL (Online-Ed.). Rechtssubjektivität bedeutet die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Völkerrechtssubjektivität ist daher die Fähigkeit, Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein. Im klassischen Völkerrecht wurde diese Fähigkeit grundsätzlich nur souveränen Staaten zugestanden. Lange Zeit bildete der Heilige Stuhl die einzige Ausnahme von diesem Grundsatz. Im 20.- Jahrhundert hat sich die Zahl der Völkerrechtssubjekte, die nicht souveräne Staaten sind, jedoch stark erhöht. Insbesondere die Verstärkung internationaler institutionalisierter Kooperation, also die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in internationalen Organisationen, hat die Notwendigkeit entstehen lassen, auch anderen Akteuren die im völkerrechtlichen Verkehr erforderliche Rechtssubjektivität zuzuerkennen. Der Internationale Gerichtshof hat diese Notwendigkeit im Jahre 1949 sehr deutlich im berühmten Fall der „Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations“ (siehe dazu unten 15.2.2) zum Ausdruck gebracht, der als zentrale Frage die Völkerrechtssubjektivität der Organisation der Vereinten Nationen zum Inhalt hatte. Der IGH hat hier u.-a. ausgeführt, dass „[t]he subjects of law in any legal system are not necessarily identical in their nature or in the extent of their rights, and their nature depends upon the needs of the community. Throughout its history, the development of international law has been influenced by the requirements of international life, and the progressive increase in the collective activities of States has already given rise to instances of action upon the international plane by certain entities which are not States. This development culminated in the establishment in June 1945 of an international organization whose purposes and principles are specified in the Charter of the United Nations. But to achieve these ends the attribution of international personality is indispensable.“ 1 Rechtssubjektivität im Allgemeinen und Völkerrechtssubjektivität im Besonderen sind also die rechtlichen Ausprägungen der Notwendigkeit eines geregelten Rechtsverkehrs zwischen Staaten, aber eben auch mit anderen Akteuren der internationalen Gemeinschaft, wobei schon jetzt anzumerken ist, dass nicht allen Akteuren Rechtssubjektivität zukommt. Das Recht sucht regelmäßig seinen Anknüpfungspunkt in soziologischen Gegebenheiten. Soweit und sobald dies für die Beziehungen von Akteuren im internationalen System als dem tatsächlichen Bereich, auf den sich das Völkerrecht als Rechtsordnung bezieht, 2 erforderlich wird, wird das Recht einem solchen Akteur auch Subjektsqualität zuerkennen. Durch neue internationale Akteure im Zeitalter der 1 IGH, Reperation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Gutachten vom 11.04.1949, ICJ Reports 1949, 174, dazu unten Kap.-15.2.2. 2 S. Hoffmann, International Systems and International Laws, in: K.-Knorr u.a. (Hg.), The International System, NJ 1961, 205, 210; siehe auch G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht I/ 1 f..-A., 2002, 3. <?page no="82"?> 46 2. Die Völkerrechtssubjektivität Globalisierung stellt sich damit die Frage nach der Anzahl anerkannter Völkerrechtssubjekte jeweils neu. Bereits oben (siehe Kap.- 1.3.5.3) wurde festgestellt, dass man in der Ära der Globalisierung Ansätze eines Bedeutungswandels des Staates und damit auch seiner Grenzen etwa auf Grund der entgrenzenden Wirkung der Kommunikationstechnologie beobachten kann, und die Steuerungsfähigkeit des Staates etwa bezüglich der Fortentwicklung des Völkerrechts einiges von ihrer früheren Exklusivität eingebüßt hat. Der Einfluss bestimmter Akteure der sog. Zivilgesellschaft, also beispielsweise von Nichtregierungsorganisationen oder transnationalen Unternehmen, hat indes erheblich zugenommen. Damit stellt sich die Frage nach deren rechtlicher Einordnung auch-als Frage nach einer möglichen „Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte“. 3 In jedenfalls zweierlei Hinsicht geben die Entwicklungen der jüngeren Zeit insofern Anlass, über die Völkerrechtssubjektivität nachzudenken, freilich in beiden Fällen mit dem Ergebnis, dass die Entwicklungen bislang nicht in eine Völkerrechtssubjektivität gemündet sind. Weder handelt es sich bei sog. Staatsfonds um eine neue Erscheinungsform von Staatlichkeit, noch stellen die G - das Treffen der acht größten Industrienationen - eine neue Form internationaler Organisation dar. Bei den in jüngerer Zeit verstärkt auf internationalen Finanzmärkten aktiv werdenden sog. Staatsfonds handelt es sich nicht um eine neue Form von Völkerrechtspersönlichkeit. Staatsfonds speisen sich oft aus staatlichen Einnahmen z.- B. aus Rohstoffen und Devisen, welche häufig in Staatsanleihen, u.- a. in den USA, investiert werden. Insgesamt wird das Vermögen der Staatsfonds weltweit auf 8,28 Billionen Dollar geschätzt. Deutlich wird, dass es sich hierbei zwar um die Anlage staatlichen Geldes - nicht zuletzt durch staatlich beeinflusste Entscheidungen - handelt, den Staatsfonds trotz ihrer immensen Wirtschaftskraft jedoch keine eigenständige Völkerrechtspersönlichkeit losgelöst vom Staat zukommt. 4 Unterdessen unternimmt jedenfalls eine ausgewählte Gruppe von Staaten seit einer Reihe von Jahren den erneuten Versuch einer gewissen Steuerung der Staatengemeinschaft. So finden etwa seit Mitte der 1970er Jahre - beginnend 1976 als G6 - Treffen der wichtigsten Industriestaaten statt, um politische und wirtschaftliche Fragen von herausragender Bedeutung zu diskutieren. Es handelt sich bei dieser Gruppe um Staats- und Regierungschefs sowie Minister Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Japans, Kanadas, des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten und Russlands, wobei diese Länder mit ihren Staats- und Regierungschefs sowie bestimmten Fachministern, insbesondere den Finanz- und Außenministern, vertreten sind. 5 Seit dem Gipfel von Birmingham 1998 wurden die Treffen der Regierungschefs von denen der Minister abgetrennt. Neben dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs gibt es so einmal im Jahr eine Zu- 3 Siehe dazu bereits H.-Mosler, Die Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte, BDGVR 4 (1961), 39ff. und ders., Die Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte, ZaöRV 22 (1962), 1ff. 4 Vgl. M. Waibel, Opening Pandora’s Box: Sovereign Bonds in International Arbitration, AJIL 101 (2007), 711ff. 5 Zur erweiteten Gruppe der G20 siehe M. Zobl/ D. Thürer/ A. Kern, Die Legitimation der G-20, AVR 51 (2013), 143ff. <?page no="83"?> 47 2. Die Völkerrechtssubjektivität sammenkunft der Außenminister der G sowie anderer Fachminister, etwa für Umwelt. Seit Beginn der Ukraine-Krise 2014 treffen sich die Staats- und Regierungschefs ohne Russland im G7-Format. Die Finanzminister und neben ihnen auch die Notenbankpräsidenten treffen sich im G7-Format (ohne Russland), um ihre Finanzpolitik aufeinander abzustimmen. Einige solcher Treffen bringen etwa, wie im Februar 2008, Entwürfe neuer Regeln für die internationale Finanzarchitektur zur Kontrolle von Staatsfonds u.-ä. hervor. Insofern handelt es sich zwar jeweils um informelle Treffen, die aber darauf abzielen, Initiativen zu von der Staatengemeinschaft zu setzenden Normativakten zur Steuerung der internationalen Politik und des internationalen Wirtschafts- und Finanzverkehrs voranzubringen. Damit wird man wohl von einer normativ orientierten Steuerungsfunktion dieser Staatengruppe für das internationale System sprechen können, die aber jedenfalls bislang keine organisationsmäßige Verfestigung im hergebrachten Sinne erlangt hat. Manche sprechen deshalb insoweit von „soft international organizations“. 2019 hatte Frankreich die G7 Präsidentschaft inne und wollte sich verstärkt auf das Thema Ungleichheit konzentrieren. Wird insofern durch die G7 also hier keine relevante Erweiterung der Völkerrechtssubjekte bewirkt, so stellt sich doch generell die Frage nach der Erweiterungsfähigkeit dieses Kreises. Wenn Völkerrechtsfähigkeit Resultat der Notwendigkeit ist, mit bestimmten Einheiten in rechtlich wirksamer Weise im völkerrechtlichen Verkehr zu kommunizieren, kann auch der Kreis der Völkerrechtssubjekte grundsätzlich nicht begrenzt sein. Vielmehr ist die Frage der Zuerkennung von Völkerrechtssubjektivität danach vorzunehmen, inwieweit eine Wirkungseinheit durch das Völkerrecht selbst mit eigenständigen Rechten bzw. Pflichten ausgestattet ist. Vor diesem Hintergrund gibt es neben den Staaten als den „geborenen“ (also ursprünglichen) Völkerrechtssubjekten mit den internationalen Regierungsorganisationen eine zweite Gruppe unbezweifelbarer „gekorener“, (also von Staaten kreierter) Völkerrechtssubjekte, zu denen sich traditionell mit dem Heiligen Stuhl, dem Souveränen Malteserorden und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz eine weitere Gruppe gesellt hat. Daneben tritt heute eine vierte Gruppe von Akteuren, deren Eigenschaft als partielle Völkerrechtssubjekte jedenfalls noch nicht über alle Zweifel erhaben ist. Dazu zählen neben dem bereits weitgehend als Völkerrechtssubjekt anerkannten Individuum die Nichtregierungsorganisationen und die transnationalen Unternehmen, deren rein faktische Bedeutung in der internationalen Gemeinschaft heute kaum mehr zu bezweifeln ist. Schließlich gilt es, dem möglichen Subjektstatus von Völkern, Volksgruppen, Minderheiten, Aufständischen und Befreiungsbewegungen im völkerrechtlichen Verkehr nachzugehen. <?page no="84"?> 48 2. Die Völkerrechtssubjektivität Völkerrechtssubjekte ▶ Staaten ▶ IKRK, Heiliger Stuhl, Malteserorden ▶ Internationale Regierungsorganisationen Sonstige ▶ NGOs ▶ Transnationale Unternehmen ▶ Völker ▶ Volksgruppen ▶ Minderheiten ▶ Aufständische ▶ Befreiungsbewegungen In terminologischer Hinsicht ist zum einen darauf hinzuweisen, dass in Unterscheidung zur vollen Völkerrechtssubjektivität des „geborenen“ Völkerrechtssubjekts Staat alle anderen Völkerrechtssubjekte als partielle Rechtssubjekte einzuordnen sind. Insoweit stellte der IGH im schon genannten Reparations for Injuries-Fall (siehe dazu Kap.-15.2.2) fest, „The subjects of law […] are not necessarily identical in their nature or in the extent of their rights […]“. 6 Für partielle Völkerrechtssubjekte gilt-- mit Ausnahme derjenigen, die, wie oben angedeutet, aus traditionellen Gründen als Völkerrechtssubjekte anerkannt sind, denen aber wie etwa dem Heiligen Stuhl ein Stück Staatlichkeit fehlt -, dass sich, wie dies bei Regierungsorganisationen ersichtlich ist, der Umfang und die Grenzen ihrer Rechtsfähigkeit aus ihrer Satzung ergeben oder zumindest daraus herleitbar sind. Schon dies zeigt, dass ihnen typischerweise gerade nicht die Fülle der völkerrechtlichen Rechte und Pflichten zusteht. Demgegenüber verweist der Begriff des partikulären Völkerrechtssubjekts auf-das Rechtsinstitut der Anerkennung und darauf, dass jene nur von einigen Staaten anerkannt sind und damit nur im Verhältnis zu diesen Völkerrechtssubjektivität besitzen. Dabei darf freilich diese Definition nicht dazu verleiten, die Anerkennung von vornherein als Voraussetzung für die Völkerrechtssubjektivität zu betrachten (vgl. unten Kap. 2.1.1 und Kap. 2.1.2). Von größter Bedeutung ist weiter die Unterscheidung zwischen völkerrechtlicher Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit. Völkerrechtssubjektivität bedeutet völkerrechtliche Rechtsfähigkeit. Wie im bürgerlichen Recht ist davon die Handlungsfähigkeit zu unterscheiden. Ein wichtiges Beispiel für Völkerrechtssubjekte, deren Handlungsfähigkeit eingeschränkt ist, sind etwa souveräne Staaten, die in die Abhängigkeit von anderen Mächten geraten sind, bzw. Staaten auf dem Wege zur vollen Unabhängigkeit. Ein weiteres wichtiges Beispiel für handlungsunfähige Völkerrechtssubjekte sind die nach einem Krieg von Besatzungsmächten verwalteten besiegten Staaten. In dieser 6 IGH, Reperation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Gutachten vom 11.04.1949, ICJ Reports 1949, 174, 178. <?page no="85"?> 49 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte Weise wurde nach dem Zweiten Weltkrieg der Rechtsstatus des Deutschen Reiches umschrieben: Es war als Völkerrechtssubjekt nicht untergegangen, hatte aber seine völkerrechtliche Handlungsfähigkeit dadurch verloren, dass die Alliierten die oberste Regierungsgewalt in Deutschland durch die Erklärung vom 5. Juni 1945 übernommen hatten. 7 Wichtig ist schließlich auch der Hinweis, dass der Status einer Person oder Körperschaft als partielles Völkerrechtssubjekt, der sich daraus ergibt, dass diese bestimmte völkerrechtliche Rechte genießen, nicht notwendig auch das Recht einschließt, diese Rechte auch geltend zu machen. Dieser Aspekt wird insbesondere bei der Diskussion um den Status von Individuen eine Rolle spielen. 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte Einführende Literatur: Crawford, James R., State (Januar 2011), MPEPIL (Online-Ed.). Nachfolgend soll zunächst dargestellt werden, unter welchen Voraussetzungen eine Verbandseinheit als Staat angesehen werden kann. Daneben ist auf verschiedene Aspekte einzugehen, die sich aus der Staatlichkeit ergeben. 2.1.1 Der Staat im Völkerrecht - die Elemente des Staatsbegriffs Staat ▶ Volk ▶ Gebiet ▶ Gewalt Allgemeines. Die theoretischen Probleme, die mit dem Begriff „Staat“ sowie seinen internen und externen Funktionen und Aufgaben zusammenhängen, werden von der Allgemeinen Staatslehre und der Staatsphilosophie analysiert. Die rechtliche Ordnung und Organisation der einzelnen Staaten obliegt dem Verfassungs- und Verwaltungsrecht eben dieser Staaten. Sie geben Auskunft darüber, was ihre Organe innerhalb des eigenen Staatsgebiets tun dürfen bzw. müssen, und welche Organe hierfür zuständig sind. Das Dürfen und Müssen im internationalen Bereich richtet sich dagegen nach dem Völkerrecht. So stellt das Völkerrecht einerseits eine Begrenzung für das staatliche Handeln dar, andererseits bildet es die Ermächtigungsbzw. Verpflichtungsgrundlage für dieses Handeln. Hierauf wird bei der Erörterung des Verhältnisses von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht (vgl. unten Kap.-4) zurückzukommen sein. Gerade für die den Staat konstituierenden Elemente ist nun allerdings eine enge Verzahnung zwischen Allgemeiner Staatslehre und Völkerrecht zu verzeichnen. Für die Beantwortung der Frage, unter welchen Voraussetzungen von einem Staat gesprochen werden kann, hat sich nämlich in der Völkerrechtstheorie in Anlehnung an die Allgemeine Staatslehre und hier insbesondere die 7 Vgl. das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31.07.1973, BVerfGE 36, 1ff. <?page no="86"?> 50 2. Die Völkerrechtssubjektivität Arbeit Georg Jellineks (1851-1911) die sog. Dreielementenlehre durchgesetzt. 8 Danach besteht ein Staat dann, wenn die drei Elemente Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt in einem entsprechenden Zusammengehörigkeitsverhältnis vorhanden sind. Diese Voraussetzungen sind international in der „Montevideo-Konvention über die Rechte und Pflichten der Staaten“ von 1933 9 formuliert worden und heute weitgehend von der Staatengemeinschaft anerkannt. 10 Die in der Konvention neben den drei klassischen Voraussetzungen genannte vierte Bedingung, wonach der Staat die Fähigkeit zur Aufnahme auswärtiger Beziehungen haben muss, kann nicht als notwendiges Erfordernis gesehen werden. Die Staatenpraxis geht grundsätzlich nicht von einem solchen Erfordernis aus. 11 Vor diesem Hintergrund kann ein menschenleeres Gebiet keinen Staat darstellen. Auch kann ein nicht auf natürliche Art gewachsener Teil der Erdoberfläche nicht als Staatsgebiet angesehen werden, wie der vom Verwaltungsgericht Köln entschiedene Fall des „Fürstentums Sealand“ zeigt. 12 Darin ging es um die Frage, ob eine künstlich angelegte ehemalige Flakstellung als Staatsgebiet in Betracht käme. Auch die Rechtsmacht einer internationalen Organisationoder die Wirtschaftsmacht eines Konzerns können selbst dann, wenn sie stärker sind als diejenige der meisten Staaten, nicht zur Charakterisierung der betreffenden Körperschaft als Staat führen, weil die Elemente „Volk“ und „Gebiet“ fehlen. Wichtig ist schließlich die Zusammengehörigkeit der drei Elemente. Es muss sich um die Ausübung von Staatsgewalt des auf dem betreffenden Gebiet lebenden Volkes handeln. Andernfalls existiert dort kein Staat, sondern eine Fremdherrschaft wie im Falle der früheren Kolonien. Auch die Größe des Staates spielt keine Rolle, wie die Aufnahme etwa von Liechtenstein oder San Marino in die UNO zeigt. 13 Jedoch darf das Erfordernis der Zusammengehörigkeit der drei Elemente des Staates nicht als Legitimitätsforderung missverstanden werden. Das Völkerrecht lässt - trotz einer zunehmenden Diskussion im Sinne eines Mindesterfordernisses demokratischer Strukturen 14 - Demokratien wie Diktaturen an seiner Rechtsgemeinschaft teilhaben. Wichtig ist lediglich, dass die Staatsgewalt, die auf einem bestimmten Gebiet ausgeübt wird, keine Gewalt eines fremden Staates ist. Dagegen ist es unerheblich, in welcher Staats- und Regierungsform sie ausgeübt wird. Dies bestätigt auch die Friendly-Relations-Declaration der Generalversammlung: „Each State has the right freely to choose and develop its political, social, economic and cultural systems“. 15 8 G.-Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3.-A., 1914, 396ff. 9 In der Montevideo-Konvention (LNTS Bd. CLXV, 25) vom 26.12.1933 heißt es in Art. 1: „The State as a person of international law should possess the following qualifications: a) a permanent population; b)-a-defined territory; c) government, and d) capacity to enter into relations with the other States“. 10 Siehe zur deutschen Praxis ZaöRV 35 (1975), 777. 11 Siehe etwa das Gutachten Nr.-1 der Badinter-Kommission, abgedruckt in EJIL 3 (1992), 182. 12 DVBl. 1978, 510. 13 Siehe J.-P. Müller/ L.-Wildhaber, Praxis des Völkerrechts, 3.-A., 2001, 212. 14 T. Franck, The Emerging Right to Democratic Governance, AJIL 86 (1992), 46ff. 15 UNGA Res. 2625 (XXV) vom 24.10.1970; siehe auch IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §§ 263f., dazu unten Kap.-15.2.12. <?page no="87"?> 51 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte Allerdings hat es den Anschein, als ob sich auch hier jedenfalls in Ansätzen eine Änderung der bisherigen Perspektive abzeichnet. So enthält das Völkerrecht zwar bislang in der Tat keine detaillierten Vorschriften darüber, wie die einzelnen Staaten ihre Verfassung gestalten oder ihre Staatsangehörigen behandeln sollen; es normiert nur internationale Verpflichtungen und überlässt es den einzelnen Völkerrechtssubjekten, wie sie diese Verpflichtungen erfüllen. Im Zuge des Ausbaus der Menschenrechte und des Menschenrechtsschutzes (vgl. unten Kap.-10.1) ist allerdings die Skepsis darüber, ob die innerstaatliche Ordnung von Völkerrechts wegen völlig unbeachtlich ist, gewachsen. Zwar beruht das Völkerrecht noch immer auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Ziff. 1 der UN-Charta), aus dem nicht zuletzt auch das Interventionsverbot fließt (vgl. unten Kap.-5.2), auf das sich die Staaten mit Erfolg berufen können, wenn andere Staaten oder internationale Organisationen in ihre inneren Angelegenheiten eingreifen wollen. Das Interventionsverbot gilt gemäß Art. 2 Ziff. 7 der UN-Charta sogar für die Organisation der Vereinten Nationen, vorbehaltlich der Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta. Aber es stellt sich doch zunehmend die Frage, ob dieses Interventionsverbot auch vorbehaltlos in Fällen schwerster staateninterner Missachtung des Völkerrechts gelten kann (siehe dazu oben Kap.-1.3.5.3 und unten Kap.-5.2). Es ist klar, dass der Souveränitätswandel, von dem der Umbruch des Völkerrechts im 20.-Jahrhundert ausgelöst und geprägt worden ist, nicht nur zahlreiche überkommene Völkerrechtsprinzipien beseitigt hat (wie z.-B. ein früher angenommenes ius ad bellum (Recht der souveränen Staaten zur Kriegführung)), sondern auch eine Modifizierung vieler anderer Völkerrechtsnormen mit sich bringt. Der Begriff der Souveränität ist in einem ständigen Entwicklungsprozess begriffen, nicht zuletzt durch das Völkerrecht selbst, welches im Zuge seiner Weiterentwicklung die staatlichen Souveränitätsrechte immer weiter limitiert. Seine Konturen sind deshalb nicht statisch und somit von der Allgemeinen Staatslehre wie von der Völkerrechtswissenschaft in-seinem jeweiligen Entwicklungsstand zu erfassen (dazu ebenfalls oben Kap.-1.3.5.3). Und das gilt ebenso für die nachfolgend (siehe Kap. 2.1.3ff.) in ihrem Bedeutungsgehalt im Einzelnen zu untersuchenden Elemente des Staatsbegriffs. Insofern sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu konstatierende verstärkte Einbindung der Staaten in die internationale Zusammenarbeit in internationalen Organisationen die scharfen Konturen der Elemente, wie sie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts und auch noch nach 1945 erkennbar waren, aufgelöst haben. 16 So ist zum einen festzustellen, dass Staatsgrenzen, trotz ihrer grundsätzlich wichtigen Funktion, doch in vielerlei Hinsicht durchlässiger geworden sind. Zudem weist die Zusammensetzung des Staatsvolks zunehmend Ansätze zu einer Abkehr von der ausschließlichen Bezogenheit auf die Angehörigkeit zu einem bestimmten Volk bzw. einer bestimmten Nation oder Ethnie auf. Und schließlich scheint der Grundsatz höchster und undurchdringlicher Staatsgewalt, also der Gebietsausschließlichkeit, insbesondere im Kontext der europäischen Staatenkooperation in der Europäischen Union, ebenfalls seinen Charakter zu verändern. Zudem stellen sich angesichts internationaler Auflagen an finanziell schwächelnde Staaten zunehmend neue Fragen der Suprematie der Staatsgewalt. 16 Dazu umfassend S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998. <?page no="88"?> 52 2. Die Völkerrechtssubjektivität Die dargestellten Entwicklungen können auch zu einer Erschwernis bei der Beantwortung der Frage nach dem Vorliegen von Staaten beitragen. Dort, wo es unklar ist, ob die genannten drei Voraussetzungen für Staatlichkeit erfüllt sind, mag an eine zusätzliche Bestätigung der Staatlichkeit - etwa im Wege der Anerkennung- gedacht werden. Bevor also die Elemente des Staatsbegriffs im Einzelnen untersucht werden sollen, ist deshalb zunächst die Bedeutung der Anerkennung darzustellen. 2.1.2 Die Anerkennung Einführende Literatur: Murphy, Anthony, State Formation and Recognition in International Law, Juridical Tribune 7 (2017), 6ff. Von vornherein ist darauf hinzuweisen, dass die Anerkennung nur dort praktiziert wird, wo Zweifel an der Völkerrechtssubjektivität eines Staates bestehen. Wo dies nicht der Fall ist, taucht sie in der Staatenpraxis überhaupt nicht auf. Wenn zwei Staaten seit Jahrhunderten normale diplomatische Beziehungen miteinander pflegen, so besteht kein Anlass, eine Anerkennung auszusprechen, wenn etwa in einem der beiden Staaten die Regierung wechselt oder eine Verfassungsänderung stattgefunden hat. Nicht einmal eine erfolgreiche Revolution bietet einen solchen Anlass, sofern nicht das neue Regime die Rechtskontinuität des Staates verleugnet. Bricht ein Krieg zwischen den beiden Staaten aus, so werden die diplomatischen Beziehungen abgebrochen und nach Beendigung des Kriegszustandes wieder aufgenommen. Selbst in diesem Fall bedarf es keiner ausdrücklichen Anerkennung. Mit Absicht ist im Vorstehenden nicht gesagt worden, dass im Falle des Zweifels an der Völkerrechtssubjektivität eines Staates eine Anerkennung notwendig sei. Sie ist nur üblich. Notwendig wäre sie dann, wenn die Anerkennung konstitutive Wirkung für die Völkerrechtssubjektivität hätte oder die anderen Staaten zu ihr verpflichtet wären. Beides ist nicht der Fall. Eine anderweitige Annahme würde dem Prinzip der Staatengleichheit widersprechen (Kap.-5.2.1), wonach Staaten nicht über den Status eines anderen Staates bestimmen dürfen. Seinen immer noch gültigen Ausdruck hat der deklaratorische Charakter der Anerkennung etwa im Deutsche Continental Gas-Gesellschafts-Fall gefunden: „According to the opinion rightly admitted by the great majority of writers on international law, the recognition of a state is not constitutive but merely declaratory. The state exists by itself and the recognition is nothing else than the declaration of its existence recognised by the state from which it emanates.“ 17 Die Anerkennung ist eine einseitige völkerrechtliche Willenserklärung (hierzu siehe auch unten Kap.-3.3.1.2), die eine konstitutive Wirkung nur insofern hat, als sie den Willen des anerkennenden Staates zum Ausdruck bringt, mit dem nunmehr anerkannten Staat normale diplomatische Beziehungen zu pflegen. Oder noch allgemeiner: Vom Zeitpunkt der Anerkennung an muss der 17 Deutsch-Polnisches Schiedsgericht, 5 Annual Digest of Public International Law Cases (1929-30), 11, 13. <?page no="89"?> 53 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte anerkennende Staat den anerkannten Staat als Völkerrechtssubjekt behandeln. Hingegen besagt die Anerkennung nichts darüber, ob das anerkannte Gebilde tatsächlich ein Staat im Sinne der Definition der Allgemeinen Staatslehre und des Völkerrechts ist. Es ist daher durchaus möglich, dass ein Nichtstaat von anderen Staaten anerkannt wird und von ihnen deshalb als Völkerrechtssubjekt behandelt werden muss. Allerdings kann es sein, dass die anerkennenden Staaten dadurch die Rechte eines dritten Völkerrechtssubjekts verletzen, insbesondere desjenigen Staates, von dem sich das anerkannte Gebilde etwa durch einen Bürgerkrieg losgesagt hat. Sie geraten dann in eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit (vgl. unten Kap.-6.2). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Anerkennung zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem noch nicht alle Staatselemente ausgeprägt sind. Eine solche vorzeitige Anerkennung wird typischerweise als Intervention (dazu unten Kap.-5.2) zu werten sein. Umgekehrt ist es für die Völkerrechtssubjektivität eines Staates unerheblich, ob er von anderen Staaten anerkannt wird oder nicht bzw. wie groß die Zahl der ihn anerkennenden Staaten ist. Grundsätzlich steht es den Staaten frei, mit anderen Staaten diplomatische Beziehungen zu pflegen oder nicht. Entsprechend ist auch die Anerkennung der freien Entscheidung der Staaten überlassen, woraus folgt, dass es keine Pflicht zur Anerkennung gibt. Auch die Anerkennung durch eine internationale Organisation kann nicht als Anerkennung durch deren Mitglieder gewertet werden. Für das Wesen der Anerkennung ergibt sich daraus Folgendes: Die Anerkennung ist für die Frage der Staatsqualität unerheblich. Weder kann die Anerkennung einen Nichtstaat zum Staat machen, noch kann die Nichtanerkennung einen vorhandenen Staat beseitigen. 18 Als völkerrechtliche Willenserklärung kann die Anerkennung sowohl ausdrücklich als auch stillschweigend, d.-h. durch konkludentes Handeln, erfolgen. 19 Ein solches konkludentes Handeln ist z.-B. der Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages mit einem bisher nicht anerkannten Staat. Der Unterschied zwischen ausdrücklicher und stillschweigender Anerkennung darf nicht verwechselt werden mit dem Unterschied zwischen de iure- und de facto-Anerkennung. Ebenso falsch wäre es, die de iure-Anerkennung als „rechtliche“ und die de facto-Anerkennung lediglich als „tatsächliche“ Anerkennung zu werten. Vielmehr ist die de iure-Anerkennung endgültig und vollständig, während die de facto-Anerkennung nur vorläufige Rechtswirkungen erzeugt und deshalb unter bestimmten Voraussetzungen wieder zurückgenommen werden kann. 20 Die de facto-Anerkennung empfiehlt sich bei unklaren Situationen, in denen sich der anerkennende Staat noch einen Weg zum politischen Rückzug für den Fall sichern will, dass sich die Verhältnisse anders entwickeln. Bei der Anerkennung als Staat ist diese Situation seltener gegeben, weil vorsichtige Regierungen im Falle einer Staatsneubildung ohnehin abzuwarten pflegen, bis die 18 F.- Klein, Zur Praxis der Anerkennung neuer Staaten durch die Bundesrepublik Deutschland, in: FS Kraus, 1964, 191ff.; J.- Crawford, The Criteria for Statehood in International Law, BYIL 48 (1976/ 77), 93ff.; I.-Brownlie, Recognition in Theory and Practice, in: R.St.J.-Macdonald/ D.M.-Johnston (Hg.), The Structure and Process of International Law, 1983, 627ff.; D.- Feldmann, International Personality, RdC 191 (1985/ II), 343ff.; P.K.-Menon, The Problem of Recognition in International Law - Some Thoughts on Community Interest, NorJIL 59 (1990), 247ff. 19 Hierzu B.J.-Meissner, Formen stillschweigender Anerkennung im Völkerrecht, 1966. 20 Vgl. R.L. Bindschedler, Die Anerkennung im Völkerrecht, BDGVR 4 (1961), 5ff. <?page no="90"?> 54 2. Die Völkerrechtssubjektivität Verhältnisse geklärt- sind. So erfolgte die Anerkennung der Sowjetunion durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika erst im Jahre 1934, d.-h. 17 Jahre nach der Oktoberrevolution. Andere Formen der Anerkennung. Neben der Anerkennung von Staaten kennt das Völkerrecht noch folgende Arten der Anerkennung: 1. Die Anerkennung von Aufständischen als Kriegführende; die Kriegführenden erhalten dadurch eine partielle Völkerrechtssubjektivität zum Zwecke der Anwendung des Kriegsrechts, durch das die Schrecken des Krieges gemildert werden sollen (vgl. unten Kap.-13). 2. Die Anerkennung von Nationalkomitees als Vorstufe der Anerkennung einer Exilregierung (vgl. unten Kap. 2.1.6). 3. Die Anerkennung eines Gebietserwerbs; sie ist nur deklaratorisch, da der Gebietserwerb in der Regel durch eine Einigung zwischen dem erwerbenden und dem abtretenden Staat zu Stande kommt. 4. Die Anerkennung von Regierungen. Wie im Vorstehenden ausgeführt, ist die Anerkennung von Regierungen unnötig. Fällt aber der Regierungswechsel mit einer Revolution zusammen, so kann es fraglich sein, ob in dem betreffenden Land überhaupt noch eine Regierung besteht, mit der diplomatische Beziehungen möglich sind. Diese Frage wird durch die ausdrückliche Anerkennung der Regierung geklärt. Eine derartige Anerkennung hat nichts mit der Anerkennung als Staat zu tun, solange die Kontinuität des Völkerrechtssubjekts, in dem die Revolution stattgefunden hat, nicht zur Debatte steht. Ferner bedeutet die Anerkennung einer Regierung kein Urteil über die innerstaatliche Legitimität oder Legalität der anerkannten Regierung. Voraussetzung für die Anerkennung einer Regierung ist vielmehr - so hat es nach wie vor den Anschein - lediglich deren effektive Herrschaft. Ist die Lage nach einer erfolgreichen Revolution eindeutig und gibt die neue Regierung zu erkennen, dass die Staatskontinuität gewahrt bleiben soll, so bedarf es überhaupt keines Anerkennungsaktes, um die diplomatischen Beziehungen aufrechtzuerhalten. Hat eine revolutionäre Regierung einen Teil des Staatsgebiets unter ihre Herrschaft gebracht, so können die Aufständischen als Kriegführende anerkannt werden, wenn der Bürgerkrieg andauert. Finden keine Kampfhandlungen mehr statt, sodass die Anerkennung als Kriegführende nicht in Frage kommt, so kann das Revolutionsregime als „de facto-Regime“ anerkannt werden. Auch diese Anerkennung ist noch keine Anerkennung als Staat, bedeutet aber einen ersten Schritt in diese Richtung. 21 Bezüglich ihrer Anerkennungspraxis sind die Staaten grundsätzlich frei. Die sog. Tobar-Doktrin, die 1907 von dem damaligen Außenminister von Ecuador verkündet worden war und die Staaten aufforderte, keine Regierung anzuerkennen, die illegal an die Macht gekommen war, hat sich nicht durchgesetzt. Nach der Stimson-Doktrin - benannt nach der Erklärung des US-Außenministers Stimson im Jahre 1932 angesichts des japanischen Angriffs auf China - kann allerdings der gewaltsame Gebietserwerb, die sog. Annexion, keine Anerkennung finden. Dies haben die meisten westlichen Staaten nach der sowjetischen Annexion der baltischen Staaten auch so praktiziert. Auch die Annexion der Krim durch Russland im März 2014 wurde durch die EU- und NATO-Staa- 21 Hierzu J.A.-Frowein, Das de facto-Regime im Völkerrecht, 1968. <?page no="91"?> 55 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte ten als völkerrechtswidrig gekennzeichnet 22 und Sanktionen gegen Russland implementiert, 23 die freilich seit 2019 teilweise wieder gelockert zu werden scheinen. Die Anerkennung des selbst proklamierten Staatspräsidenten Venezuelas Juan Guaidó durch die Europäische Union sowie die Vereinigten Staaten von Amerika betonte indes nur seitens der Anerkennenden die materielle Legitimität des sich auf eine Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung stützenden Politikers. Die Anerkennung von neuen Staaten ist allerdings ebenso wie die Anerkennung von de facto-Regierungen und die Anerkennung von Aufständischen als Kriegführende mit einem Risiko behaftet. Setzt sich nämlich die legale Regierung im Endergebnis durch, so hat der Staat, der die Anerkennung vorschnell ausgesprochen hat, unfreundliche Reaktionen und unter Umständen sogar die Erhebung von Schadensersatzansprüchen seitens des Staates, auf dessen Gebiet der Bürgerkrieg stattgefunden hat, zu erwarten. Deswegen empfiehlt es sich, mit derartigen Anerkennungen zu warten, bis die Situation geklärt ist, oder in der Zwischenzeit nur eine de facto-Anerkennung auszusprechen. Im Gefolge des Zerfalls der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens sind Anfang der Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts zahlreiche Anerkennungserklärungen erfolgt. Während sie für die Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und der ehemaligen Tschechoslowakei kaum Probleme aufwarfen, war dies beim ehemaligen Jugoslawien der Fall. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften und insbesondere Deutschland wurden beschuldigt, durch eine vorzeitige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens den Konflikt verschärft zu haben. Von anderer Seite kam der gegenteilige Vorwurf: Die Anerkennung dieser beiden Staaten sei zu spät erfolgt und mit einer unmenschlichen Bedingung verknüpft gewesen, nämlich der Verweigerung militärischer Hilfe gegen die Aggression Serbiens; eine frühere Anerkennung hätte den Konflikt der beiden jugoslawischen Teilrepubliken mit der Belgrader Zentralregierung rechtzeitig internationalisieren, d.-h. rechtlich von einem Bürgerkrieg in einen internationalen bewaffneten Konflikt überführen können. Die politischen Argumente interessieren hier nicht. Sie haben der Völkerrechtswissenschaft jedoch Anlass gegeben, ihre Anerkennungspraxis zu überprüfen. Als bedeutsam wurde insbesondere angesehen, dass sowohl die Europäischen Gemeinschaften als auch die KSZE zunächst unmissverständlich ihren Wunsch äußerten, Jugoslawien als Staat zu erhalten. Selbst nachdem sich Slowenien und Kroatien am 25. Juni 1991 nach vorangegangenen Plebisziten, in denen sich 88,5% der slowenischen und 93,24% der kroatischen Wähler für die Unabhängigkeit ihrer Republiken ausgesprochen hatten, offiziell für unabhängig erklärt hatten, setzten die Europäischen Gemeinschaften und die KSZE ihre Einheitsbemühungen fort und erreichten im Abkommen von Brioni vom 7. Juli 1991 eine dreimonatige Suspension der beiden Unabhängigkeitserklärungen. Daraufhin verstärkte die jugoslawische Bundesarmee ihre militärischen Aktionen. Es gelang ihr zwar nicht, Slowenien zu erobern, wohl aber große Teile Kroatiens. Der Versuch der Mitgliedstaaten der Europäischen 22 Dazu etwa C. Kreß/ C.J. Tams, Dichtung und Wahrheit, IP 2014, 16, 18f.; T.D. Grant, Annexation of Crimea, AJIL 109 (2015), 68ff. 23 G. Schwendinger/ M. Trennt: Die Russland-Embargo-Verordnung: Wirtschaftssanktionen der EU in der Ukraine-Krise, EuZW 26 (2015), 93. <?page no="92"?> 56 2. Die Völkerrechtssubjektivität Gemeinschaften, gestützt auf die von ihnen vereinbarte Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ), durch Verhandlungen mit den jugoslawischen Streitparteien eine friedliche Lösung herbeizuführen, scheiterte. Daraufhin veröffentlichte die außerordentliche Ministerkonferenz der EPZ am 16.- Dezember 1991 eine Erklärung über die Richtlinien für die Anerkennung neuer Staaten in Osteuropa und der Sowjetunion sowie eine gesonderte Erklärung über Jugoslawien. Entsprechend den Richtlinien 24 , die über die traditionellen Staatskriterien hinaus wesentliche Kriterien zur inneren Verfasstheit eines Staatsverbandes, wie etwa Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Beachtung der Menschenrechte enthielten, wurden die jugoslawischen Republiken gefragt, ob sie die Anerkennung unter den in den Richtlinien niedergelegten Bedingungen erstrebten. Serbien und Montenegro lehnten dies ab, Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien nahmen an. Slowenien und Kroatien wurden daraufhin am 15.- Januar 1992 von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften als souveräne Staaten anerkannt. Die Anerkennung von Bosnien-Herzegowina folgte am 7.- April 1992. Die Anerkennung Mazedoniens verzögerte sich, weil Griechenland Einwände gegen den Staatsnamen erhob. Am 13.-April 1993 wurde es unter dem Namen „Frühere Jugoslawische Republik Mazedonien“ in die Vereinten Nationen aufgenommen, nachdem viele Staaten es anerkannt hatten. 25 Den Untergang der Sozialistischen Jugoslawischen Föderativen Republik konstatierte die Generalversammlung der Vereinten Nationen, einer Empfehlung des Sicherheitsrats folgend, am 22.-September 1992. In der Literatur ist darauf hingewiesen worden, dass die Voraussetzungen für die Staatlichkeit nach der Dreielementenlehre für Bosnien-Herzegowina nicht gegeben waren, insbesondere weil die Regierung von Bosnien-Herzegowina in keinem Teil des Landes, einschließlich der eigenen Hauptstadt, effektive Staatsgewalt ausübte. 26 Die daran anknüpfende Frage, ob die Anerkennung somit eigentlich einen konstitutiven Charakter besitze und als Druckmittel eingesetzt werden solle, um neu entstehenden Staaten bestimmte Organisationsformen aufzuzwingen, 27 erscheint berechtigt. Ein abschließendes Urteil insbesondere in Bezug auf eine Änderung hin zur konstitutiven Wirkung der Anerkennung ist aber wohl auch angesichts des Sonderfalles des zerfallenden jugoslawischen Staatsverbandes noch nicht zu fällen. Dies gilt auch angesichts der Reaktionen der internationalen Gemeinschaft auf die am 17.02.2008 erfolgte Erklärung der Unabhängigkeit des Kosovo. Etliche Staaten, 28 etwa die Hälfte der Staatengemeinschaft, u.-a. die USA, die Bundesrepublik Deutschland und weitere europäische Staaten, - haben als Reaktion auf diese Unabhängigkeitserklärung die Anerkennung des Kosovo als Staat zum Ausdruck gebracht. Demgegenüber 24 Veröffentlicht in ILM 31 (1992), 1485. 25 Der Staatsname ist nach entsprechender bilateraler Einigung mit Griechenland im Januar 2019 zu „Republik Nordmazedonien“ geändert worden. Siehe www.spiegel.de/ politik/ ausland/ mazedonien-heisstnun-offiziell-nordmazedonien-a-1252956.html (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 26 C.-Simmler, Kehrt die Staatengemeinschaft zur Lehre von der konstitutiven Anerkennung zurück? , in: Schriftenreihe der Deutschen Gruppe der AAA, Bd. IX, 1994, 97f.; R. Rich, Recognition of States: The Collapse of Yugoslavia and the Soviet Union, EJIL 4 (1993), 36ff.; P. Hilpold, Die Anerkennung der Neustaaten auf dem Balkan, AVR 31 (1993), 387ff. 27 C.-Simmler, Kehrt die Staatengemeinschaft zur Lehre von der konstitutiven Anerkennung zurück? , in: Schriftenreihe der Deutschen Gruppe der AAA, IX, 1994, 101. 28 Eine formelle Anerkennung erfolgte bereits von 115 Staaten, wobei 10 davon später widerrufen wurden (Stand: Juli 2019). <?page no="93"?> 57 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte hat der UN-Generalsekretär in seinem späteren Bericht an den Sicherheitsrat die Fortgeltung der Sicherheitsratsresolution 1244, mithin also die Weitergeltung der UN-Verwaltung im Kosovo, betont. 29 Nach erheblichen Protesten Serbiens und Montenegros gegen die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo hat die UN-Generalversammlung den Internationalen Gerichtshof am 08. Oktober 2008 mit Resolution 63/ 3 die Abfassung eines Gutachtens zu folgender Frage veranlasst, welches der IGH am 22.07.2010 geliefert hat: 30 „Is the unilateral declaration of independence by the Provisional Institutions of Self-Government of Kosovo in accordance with international law? “ In diesem Gutachten erklärt der IGH, die Unabhängigkeitserklärung Kosovos verstoße nicht gegen das Völkerrecht, weil keine Regel des Völkerrechts eine solche Unabhängigkeitserklärung verbiete. Insbesondere auch Sicherheitsratsresolution 1244 stelle kein solches Verbot dar. Diese Resolution habe nur den vorübergehenden und nicht den finalen Rechtsstatus des Kosovo zum Inhalt gehabt. Ebenso wenig sei die Interimsverfassung der Vereinten Nationen für Kosovo verletzt, weil nicht innerhalb von dieser Verfassung gebildete Organe die Erklärung abgegeben hätten, sondern die Vertreter des Kosovo außerhalb dieser Ordnung gestanden hätten (siehe unten Kap. 15.2.23). Streitig ist die Staatsqualität Palästinas. Eine vergleichsweise hohe Anzahl an Staaten hat dessen Staatsqualität anerkannt. Seit 2012 hat Palästina Beobachterstatus bei der UNESCO und seit 2013 ebenfalls in den Vereinten Nationen. 31 2015 ist Palästina zudem Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs geworden. Im Jahre 2018 hat Palästina nach der Verlegung der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem den Internationalen Gerichtshof angerufen. Sind dies zwar wichtige Indizien, bleibt doch auch unstreitig, dass das von Palästina beanspruchte Staatsgebiet auch von Israel für sich reklamiert wird. Wie aus der einschlägigen Staatenpraxis also bislang überwiegend erkennbar ist, wird eine Anerkennung einer Gebietseinheit als Staat in der Regel vorgenommen, wenn die Voraussetzungen der Dreielementenlehre vorliegen. Der Anerkennung kommt damit nach wie vor, trotz der in jüngerer Zeit skizzierten Entwicklungen, eine deklaratorische Wirkung zu. Wird freilich ein Nichtstaat als Staat anerkannt, so erzeugt diese Willenserklärung für den anerkennenden Staat die normalen Wirkungen einer Anerkennungserklärung. Werden dadurch die Rechte eines anderen Völkerrechtssubjekts verletzt, so entsteht eine völkerrechtliche Haftung. Letztlich bietet damit die Dreielementenlehre der Völkerrechtstheorie ein handliches Einteilungsschema für alle Probleme, die mit dem Völkerrechtssubjekt „Staat“ zusammenhängen. Insofern sollen im Folgenden die gebietsrechtlichen, sodann die personalrechtlichen und schließlich die hoheitsrechtlichen Völkerrechtsprobleme behandelt werden. 29 Siehe den Report of the Secretary-General on the United Nations Interim Administration Mission in Kosovo, vom 28.03.2008, S/ 2008/ 211. 30 Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo, Advisory Opinion of 22 July 2010. 31 Vgl. Resolution 67/ 19 der UN-Generalversammlung. <?page no="94"?> 58 2. Die Völkerrechtssubjektivität 2.1.3 Das Staatsgebiet Erwerb und Verlust von Staatsgebiet haben in der Völkerrechtsgeschichte eine große Rolle gespielt. Gerade auf diesem wichtigen Gebiet hat der Wandel des Völkerrechts vom ius ad bellum zum ius contra bellum bedeutsame Veränderungen hervorgebracht. Bevor aber die völkerrechtlichen Regeln über Erwerb und Verlust von Staatsgebiet behandelt werden, muss Klarheit über die allgemeinen völkerrechtlichen Regeln bezüglich der Ausdehnung des Staatsgebiets geschaffen werden. Zu unterscheiden sind drei Räume: Land, Meer und Luftraum, wobei zum Landgebiet auch die Binnengewässer (Flüsse und Seen; zum Rechtsstatus der internationalisierten Gewässer siehe unten Kap. 2.1.6) gerechnet werden. Grenzen. Während heute die Grenzen zwischen den staatlichen Hoheitsräumen typischerweise genau bestimmt sind, fordert das Völkerrecht für das Vorliegen von Staatlichkeit keine solche detaillierte Festlegung. Es reicht aus, wenn das Territorium im Wesentlichen definierbar ist, selbst wenn die Grenzen im Einzelnen nicht genau fixiert sind. 32 Die Ausdehnung des Staatsgebiets auf dem Land ist am Verlauf der Grenze zu erkennen. Im Grunde genommen handelt es sich dabei allerdings nur um die Sichtbarmachung der Grenze, denn die Grenze selbst ist ein juristischer Begriff. Ihre Funktion ist nicht die Trennung von Menschen und Dingen, sondern die Trennung der räumlichen Anwendungsbereiche zweier Normensysteme, bzw. der Jurisdiktion zweier Staaten. Diese territoriale Trennung wird auf der Erdoberfläche als Linie markiert; sie setzt sich jedoch unterhalb derselben theoretisch bis zum Erdmittelpunkt sowie im Luftraum bis zur Luftgrenze zum Weltraum fort. Auch im physischen Sinn ist daher die Grenze keine Linie, sondern eine Fläche. In verschiedenen völkerrechtlichen Teilordnungen, so etwa im Friedenssicherungsrecht nach Kapitel VII der UN-Charta und ansatzweise auch im internationalen Menschenrechts- und Umweltschutz, ist nun zu beobachten, dass das Völkerrecht in grenzüberschreitender Weise jedenfalls in Ansätzen auf die Überwindung der Trennung nationaler Normensysteme angelegt ist. 33 Zudem relativiert die sprichwörtlich entgrenzende Wirkweise des Internets in deutlicher Weise die grenzziehende Wirkung des Territoriums, woran sich die rechtliche Regulierung zu orientieren hat (dazu auch oben Kap.-1.3.5.3). 34 Die Frage, wie eine Grenze im konkreten Fall festzulegen ist, kann mitunter sehr schwierig sein, wenn die beteiligten Staaten von unterschiedlichen Gebietstiteln, d.h.- Ansprüchen auf ein bestimmtes Territorium, ausgehen. Die zur Grenzziehung heranzuziehenden völkerrechtlichen Regeln sind dabei von verschiedenen Umständen abhängig. 32 Deutsche Continental Gas-Gesellschaft-Fall, Deutsch-Polnisches Schiedsgericht, 5 Annual Digest of Public International Law (1929-30), 11, 15: „In order to say that a state exists and can be recognised as such it is […] enough that the territory has a sufficient consistency, even though its boundaries have not yet been accurately delimited“. 33 Besonders deutlich wird dies in der allerdings nicht dem Völkerrecht angehörenden europäischen Integrationsordnung; siehe insgesamt dazu S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, 183ff. 34 Siehe C.-Engel, Das Internet und der Nationalstaat, BDGVR 39 (2000), 355ff. <?page no="95"?> 59 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte uti possidetis. Haben sich die Parteien etwa in einem Vertrag über die zur Grenzbestimmung heranzuziehenden Regeln geeinigt, so sind diese verbindlich anzuwenden. 35 Auch ein früheres Urteil zwischen den an einem Grenzstreit beteiligten Parteien kann im Rahmen einer erneuten Streitigkeit als Festschreibung der jeweiligen Titel und damit der Grenze zu beachten sein. 36 Ein wesentliches Prinzip zur Grenzziehung ist auch der Grundsatz uti possidetis (lat. Kurzform von: uti possidetis ita possidetis, „wie ihr besitzt, so sollt ihr besitzen“), dem im 19.-Jahrhundert im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten große Bedeutung zukam. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde er im Zusammenhang mit dem Dekolonisierungsprozess in Afrika, später aber auch beim Zerfall Jugoslawiens relevant. Der Grundsatz baut auf dem Prinzip der Stabilität der Grenzen auf, wonach eine einmal festgelegte Grenze im Sinne der Rechtssicherheit auch dann Bestand haben soll, wenn Fehler bei der Grenzfestlegung festgestellt werden. 37 Uti possidetis bedeutet, dass die alten internen verwaltungsrechtlichen Grenzen innerhalb der Kolonien oder die staatsrechtlichen Grenzen innerhalb von Bundesstaaten im Augenblick der Unabhängigkeit oder des Zerfalls des Bundesstaats zu völkerrechtlichen Grenzen umgedeutet werden. 38 Dies gilt nur dann nicht, wenn sich die betroffenen Parteien anderweitig einigen oder eine Partei auf den vom uti possidetis-Prinzip abweichenden Gebietsanspruch einer anderen Partei nicht reagiert, obgleich dies nach den Umständen zu erwarten gewesen wäre, sog. acquiescence (qualifiziertes Stillschweigen). 39 Damit kommt auch dem Verhalten der Parteien im Hinblick auf die Grenzregelung große Bedeutung zu. So kann die lange stillschweigende Duldung fremder Hoheitsakte auf dem eigenen Territorium dem acquiescence-Grundsatz folgend zu einem Gebietsübergang und damit auch zu einem neuen Grenzverlauf führen. 40 Problematisch ist bei der Heranziehung des uti possidetis-Grundsatz, dass schon die kolonialen Grenzen oft unter Missachtung der Zusammengehörigkeit von Volksgruppen festgelegt wurden, und so eine oft künstliche Trennung von Bevölkerungsgruppen manifestiert wird. Diesen 35 IGH, Territorial Dispute (Libyen v. Tschad), Urteil vom 03.02.1994, ICJ Reports 1994, 6, §§-47ff. 36 Grenzstreitfall Argentinien v. Chile, RGDIP 100 (1996), 520. 37 Siehe dazu IGH, Temple of Preah Vihear (Cambodia v. Thailand), Urteil vom 15.06.1962, ICJ Reports 1962, 6, 34; dazu auch unten Kap.-15.2.6.; IGH, Territorial Dispute (Libyen v. Tschad), Urteil vom 03.02.1994, ICJ Reports 1994, 6, §§ 72f.; Aegean Sea Continental Shelf (Greece v. Turkey), Urteil vom 19.12.1978, ICJ Reports 1978, 3, §-85. 38 L. Wildhaber/ J.P. Müller, Praxis des Völkerrechts, 3.-A., 2001, 319; siehe als Beispiel für die Anwendung von uti possidetis. im Prozess der afrikanischen Dekolonisierung IGH, Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali), Urteil vom 22.12.1986, ICJ Reports 1986, 554, §§ 20ff.; im lateinamerikanischen Kontext wurde uti possidetis etwa im IGH, Land, Island and Maritime Frontier Dispute (El Salvador v. Honduras), Urteil vom 11.09.1992, ICJ Reports 1992, 351, §§ 40ff. herangezogen; zur Grenzfestlegung im Falle Jugoslawiens siehe ILR 92, 167ff.; siehe auch IGH, Frontier Dispute (Benin v. Niger), Urteil vom 12.07.2005, ICJ Reports 2005, 90 und dazu F. Spadi, The International Court of Justice Judgment in the Benin-Niger Border Dispute: The Interplay of Titles and ‚Effectivités‘ under the Uti Possidetis Juris Principle, LJIL 18 (2005), 777ff. 39 Siehe dazu den IGH, Land, Island and Maritime Frontier Dispute (El Salvador v. Honduras), Urteil vom 11.09.1992, ICJ Reports 1992, 351, § 80f.; siehe auch schon IGH, Temple of Preah Vihear (Cambodia v. Thailand), Urteil vom 15.06.1962, ICJ Reports 1962, 6, 32. 40 L. Wildhaber/ J.P. Müller, Praxis des Völkerrechts, 3.-A., 2001, 328ff.; siehe dazu auch den Dubai-Sharjah- Grenzstreit, ILR 91, 543. <?page no="96"?> 60 2. Die Völkerrechtssubjektivität Konflikt zwischen der Stabilität der Grenzen und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker löst der IGH einstweilen zu Gunsten der Stabilität, wie sich anschaulich in seinem Urteil im Frontier Dispute-Fall zeigt. 41 Luftraum. Der durch die Luftgrenzen umschlossene Luftraum gehört zum Staatsgebiet. Das gesamte Staatsgebiet ist somit keine Fläche, sondern ein Raum. In den Anfangsjahren des Fliegens hatte man versucht, in Anlehnung an das Prinzip der Meeresfreiheit auch die Luftfreiheit im Völkerrecht durchzusetzen. Aber bereits die erste internationale Regelung der Luftfahrt, die Pariser Konvention von 1919, bekannte sich zu dem Grundsatz, dass jeder Staat „vollständige und ausschließliche Staatsgewalt im Luftraum über seinem Gebiet“ ausübt. Dieses Prinzip, das sich trotz anfänglicher Gegenströmungen bald durchsetzte, nötigt die internationale Luftfahrt zur Erteilung von Genehmigungen von Überflug eines Staatsgebiets und Landung im Staatsgebiet. Die Erteilung dieser Genehmigungen wird erleichtert durch Luftfahrtabkommen für bestimmte Linien oder einen genau bezeichneten Charterverkehr. Den Rahmen für das dichte Netz der Luftfahrtabkommen, das heute die Erde umspannt, bildet ein aus fünf Konventionen bestehendes Vertragswerk, das im Jahre 1 in Chicago ausgearbeitet wurde. Die beiden wichtigsten dieser völkerrechtlichen Verträge sind das Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt 42 und die Vereinbarung über den Durchflug im internationalen Fluglinienverkehr 43 . Die Begrenzung des Luftraums nach oben ist noch immer problematisch. Jedoch besteht Einigkeit darüber, dass der Weltraum nicht zum Gebiet irgendeines Staates gehört (zu Einzelheiten vgl. unten Kap.-11.4). 44 Seewärtige Grenzen. Vom Meer gehört nur ein kleiner Teil zum Staatsgebiet, nämlich das sog. Küstenmeer oder die Küstengewässer. Die Staatsgrenze eines an das Meer grenzenden Staates verläuft nicht am Strand, sondern in einer gewissen Entfernung vom Ufer im Meer selbst. Zwischen dieser Grenze und dem Festlandufer liegen die Küstengewässer. Sobald ein Schiff in die Küstengewässer einfährt, befindet es sich im Gebiet des Küstenstaates. Dieser Augenblick ist mit Hilfe der modernen Navigationsgeräte leicht festzustellen, obwohl die Markierung der Staatsgrenze im Wasser kaum möglich ist. Über die Ausdehnung der Küstengewässer gibt es im Völkerrecht keine einheitliche Regelung. Traditionell beanspruchten die meisten Uferstaaten nur die sog. „Dreimeilenzone“ (sog. Kanonenschussweite als ursprüngliche Reichweite einer Kanonenkugel zur Verteidigung des Staatsgebiets) als Staatsgebiet. Es handelt sich dabei allerdings um Seemeilen (1 sm = 1,85 km). Art. 3 des Seerechtsübereinkommen (SRÜ) vom 10. Dezember 1982 (in Kraft getreten am 16. November 1994; 168 Mitgliedstaaten und die EU, Stand: Juli 2019) 45 bestimmt, dass jeder Staat das Recht hat, die Breite seines Küstenmeers bis zu einer Grenze festzulegen, die höchstens 1 Seemeilen von den in derselben Konvention festgelegten Basislinien entfernt sein darf. Die normale Basislinie ist die Niedrigwasserlinie entlang der Küste (Art. 5). Sonderbestimmungen gelten für Inseln, Ein- 41 IGH, Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali), Urteil vom 22.12.1986, ICJ Reports 1986, 554, §§ 23ff. 42 BGBl. 1956 II, 411. 43 BGBl. 1956 II, 442. 44 S. Hobe, in: Ders./ von Ruckteschell/ Heffernan (Hg.), Cologne Compendium on Air Law in Europe, 2013, 203ff. 45 BGBl. 1994 II, 1799; abgedruckt in Sartorius II, Nr.-350. <?page no="97"?> 61 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte buchtungen und Einschnitte der Küste, Reeden, innere Gewässer (d.-h. Meeresteile, die zwar nach dem allgemeinen Prinzip außerhalb des Küstenmeers liegen, aber wegen der zu geringen Breite einer Buchteinfahrt von der Hohen See abgeschlossen würden) und ähnliche Sonderfälle (Art. 6ff.). Grundprinzip für die Festlegung der Grenze zwischen dem Küstenmeer und der Hohen See ist die Herstellung einer möglichst geraden Basislinie. Allerdings wird dieses Prinzip auf sog. „historische“ Buchten nicht angewendet. Flussmündungen und Buchten bis zu einer Breite von 24 Seemeilen werden nicht mitgerechnet; sie gehören - neben Binnengewässern und Häfen - zu den sog. Eigengewässern. Das SRÜ kennt den Begriff der Eigengewässer nicht, sondern definiert die landwärts der Basislinie des Küstenmeeres gelegenen Gewässer als sog. innere Gewässer (siehe Art. 8 SRÜ), die damit nach Art. 2 (1) SRÜ allein der Souveränität des Küstenstaates unterliegen. Ist eine Inselkette der Küste so vorgelagert, dass sie die Küstenlinie bezeichnet, so gilt diese Linie als Basislinie. Liegt eine Insel oder Inselgruppe weiter vom Ufer entfernt, so besteht um sie herum ein entsprechendes Küstengewässer als Teil des Staatsgebiets, das aber durch einen Streifen der Hohen See von dem übrigen Staatsgebiet getrennt ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat durch Proklamation vom 11. November 1994, die am 1.- Januar 1995 in Kraft getreten ist, das deutsche Küstenmeer auf 12 Seemeilen festgesetzt. Eine Abweichung hiervon ist für die seitliche Abgrenzung zur Republik Polen (Hafeneinfahrt Swinemünde) vorgesehen worden. 46 Mit einem Streit zur Breite der Küstengewässer unter deutscher Beteiligung befasste sich der IGH in den Fisheries Jurisdiction-Fällen. 47 Ohne darauf einzugehen, ob Island Territorialgewässer mit einer Breite von 50 Seemeilen beanspruchen dürfe, könne, so der IGH, ein entsprechendes Ansinnen jedenfalls Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland nicht entgegengehalten werden, da diese in dem betroffenen Seegebiet traditionelle Fischereirechte unterhielten. 48 Die in der Seerechtskonvention für zulässig erklärten Meereszonen, in denen der Uferstaat besondere Rechte ausüben darf (Anschlusszone, ausschließliche Wirtschaftszone) gehören im Gegensatz zum Küstenmeer nicht zum Staatsgebiet des Uferstaates (Einzelheiten hierzu unten Kap.-11.1.5). Friedliche Durchfahrt. Häufig führen internationale Schifffahrtswege durch Küstengewässer. Da diese zum Staatsgebiet der Uferstaaten gehören und insoweit volle Souveränitätsrechte gelten, müssten an sich Einzel- oder Sammelgenehmigungen für die durchfahrenden Schiffe beantragt und erteilt werden. Zur Erleichterung der internationalen Schifffahrt hat sich jedoch im allgemeinen Völkerrecht das Recht der friedlichen Durchfahrt herausgebildet. Es gibt den Schiffen, die auf der Reise zwischen zwei Ländern durch die Küstengewässer eines dritten Landes fahren, ohne 46 Siehe für eine eingehende Beschreibung der deutsch-niederländischen Verhandlungen über eine Nutzung der meereswärtigen Ems-Dollart Grenzregion D.-E. Khan, Die deutschen Staatsgrenzen, 2004, 399ff., die zu einem Vertrag vom 24. Oktober 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die Nutzung und Verwaltung des Küstenmeers zwischen drei und zwölf Seemeilen geführt haben: www.handelsblatt.com/ politik/ international/ staatsvertrag-geschlossenstreit-um-ems-grenze-beigelegt/ 10888454.html (zuletzt abgerufen: Dezember 2019) 47 IGH, Fisheries Jurisdiciton (UK v. Iceland), Urteil vom 25.07.1974, ICJ Reports 1974, 3ff. bzw. IGH, Fisheries Jurisdiction (Germany v. Iceland), Urteil vom 25.07.1974, ICJ Reports, 1974, 175. 48 IGH, Fisheries Jurisdiction (UK v. Iceland), Urteil vom 25.07.1974, ICJ Reports 1974, 3, §- 68 und IGH, Fisheries Jurisdiction (Germany v. Iceland), Urteil vom 25.07.1974, ICJ Reports, 1974, 175, §-60. <?page no="98"?> 62 2. Die Völkerrechtssubjektivität einen Hafen dieses Landes anzulaufen, das Recht, die Küstengewässer ohne besondere Genehmigung zu benutzen. Dieses Recht ist in der Seerechtskonvention von 1982 (Art. 17-26) bestätigt worden. Der Ausdruck „friedliche“ Durchfahrt erklärt sich daraus, dass dieses Recht nur für solche Schiffe gilt, die sich nicht auf der Fahrt zu einem Kriegsschauplatz oder zu einer Gefechtsübung befinden oder gar die Küstengewässer selbst als Kriegsschauplatz oder Schauplatz einer Gefechtsübung benutzen wollen. 49 Dies gilt für Kriegsschiffe ebenso wie für Handelsschiffe. Unterseeboote sind gehalten, bei der Durchfahrt aufzutauchen. 50 Der Luftraum über den Küstengewässern gehört zum Staatsgebiet. Mit einem Recht des friedlichen Durchflugs ist er nicht belastet. Vor einigen Küsten, darunter insbesondere die Küsten Nordamerikas und Europas, senkt sich der Meeresboden nicht steil zur Tiefsee ab, sondern bleibt zunächst noch relativ flach. Diese Landmasse, die unter der Hohen See, also außerhalb des Staatsgebiets, liegt, wird Festlandsockel oder Kontinentalsockel genannt. In Anlehnung an das englische Wort „continental shelf “ findet sich auch manchmal der Ausdruck „Kontinentalschelf “. Über seinen Rechtsstatus machte sich niemand Gedanken, solange nicht bekannt war, dass er Bodenschätze (vor allem Öl und Erdgas) birgt, die mit den vorhandenen Mitteln der Technik gefördert werden können. Einzelheiten werden zu einem späteren Zeitpunkt im Seerecht erörtert (siehe Kap. 11.1). 2.1.4 Erwerb und Verlust von Staatsgebiet Arten des Gebietserwerbs ▶ Okkupation ▶ Ersitzung (Präskription) ▶ Zession ▶ (Annexion) ▶ Adjudikation Das gegenwärtige Völkerrecht kennt drei Arten des Gebietserwerbs: Okkupation, Ersitzung (Präskription) und Zession; daneben sind, vornehmlich in historischer Perspektive, Annexion und Adjudikation zu erwähnen. ▶ Okkupation Unter Okkupation versteht man die Inbesitznahme eines Gebietes, das bisher nicht die Rechtsqualität von Staatsgebiet hatte. Die Inbesitznahme muss dabei durch die Ausübung von Staatsgewalt dokumentiert werden. Dies bedingt, dass die bloße Entdeckung keinen hinreichenden Gebietstitel gewährt. Mit anderen Worten ist Okkupation nur bei sog. terra nullius, also solchem Gebiet möglich, über das nicht bereits staatliche Hoheit ausgeübt wird. Dabei darf sich die Okkupation, wie der Richter Max Huber im Island of Palmas-Fall (dazu unten Kap.-15.1.3) ausgeführt hat, nicht auf 49 K. Hakapäa, Innocent Passage (Mai 2013), MPEPIL (Online-Ed.). 50 Zur sog. „transit passage“ siehe K.-Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-40, Rn.-17ff. <?page no="99"?> 63 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte symbolische Gesten beschränken, sondern muss sich durch die Ausübung von Gebietshoheit manifestieren. 51 Hier ist die Intensität der Ausübung von Gebietshoheit abhängig von der Bevölkerungsdichte. So hat der StIGH im Legal Status of Eastern Greenland-Fall befunden, dass Dänemark Souveränitätsrechte über Grönland innegehabt habe, obwohl der König von Dänemark und Norwegen niemals wirkliche faktische Kontrolle über weite Teile des eisüberzogenen Landes ausgeübt hatte. 52 Die Okkupation als Form des Gebietserwerbs wurde von den europäischen Staaten noch im 19.- Jahrhundert in Afrika und Asien praktiziert; heute ist die Erdoberfläche unter allen Staaten praktisch aufgeteilt. Die einzige Okkupationsmöglichkeit auf der Erdoberfläche würde heute noch die Antarktis bieten, für die in der Vergangenheit mehrere Staaten Gebietsansprüche angemeldet hatten. 53 Durch den Antarktisvertrag vom 1. Dezember 1959 54 ist aber die Okkupation von Staatsgebiet in der Antarktis verboten worden. Dieser Kontinent soll vielmehr allein der friedlichen, wissenschaftlichen Nutzung vorbehalten bleiben (siehe unten Kap.-11.2). ▶ Ersitzung Die Ersitzung von Staatsgebiet hat zu keiner Zeit eine bedeutende Rolle gespielt. Da sich in der Regel leicht feststellen lässt, zu welchem Staat ein bestimmtes Gebiet gehört, sind Fälle, in denen ein Staat gutgläubig ein fremdes Gebiet als sein Staatsgebiet behandelt, äußerst selten. Einige Fälle dieser Art haben sich in unwegsamen südamerikanischen Urwaldgebieten ereignet, in denen die Grenzlinie auf den vorhandenen Karten unrichtig eingetragen war oder die örtlichen Behörden den Verlauf der Grenze nicht kannten. In Schiedsgerichtsurteilen über diese Fälle ist die auf Grotius zurückgehende Formel vom „Besitz seit unvordenklicher Zeit“ verwendet worden. Wichtig ist dabei, dass es sich um einen gutgläubigen Besitz handelt. Die Gutgläubigkeit wird dadurch ausgeschlossen, dass derjenige Staat, zu dessen Gebiet der betreffende Teil der Erdoberfläche gehört, gegen die widerrechtliche Ausübung der Gebietshoheit durch den anderen Staat protestiert (siehe hierzu Kap.-3.11). Auch in dem Fall der Kasikili/ Sedudu-Inseln lässt der IGH die Einordnung der Rechtsnatur der Ersitzung offen. 55 In Fällen, wo die genaue Grenzziehung umstritten ist, wird man aber der Tatsache, dass der ausdrücklichen Ausübung von Hoheitsgewalt in langer Zeit nichts entgegengehalten wurde (sog. acquiescence), eine gewisse Wirkung dergestalt nicht absprechen können, dass damit das Risiko einhergeht, den Gebietstitel zu verlieren (dazu auch schon 2.1.3). 56 51 Island of Palmas-Fall, RIAA II, 858. 52 Legal Status of Eastern Greenland, Urteil vom 05.04.1933, PCIJ, Ser. A/ B, No. 53, 48, 50-51; nach G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 1 f..-A., 1989, 353, beruht der Rechtstitel Dänemarks auf einer Ersitzung und nicht einer Okkupation. 53 Zu jüngeren Ansprüchen Russlands auf Teile der Arktis siehe M. Benitah, Russia’s Claim in the Arctic and the Vexing Issue of Ridges in UNCLOS, ASIL Insight 11 (2007); allgemein zur völkerrechtlichen Bewertung der Arktis siehe: D. König/ T. Neumann, Streit um die Arktis - Bestehendes Vertragswerk reicht aus, VN 1 (2008), 20ff. 54 UNTS Bd.-402, 71; BGBl. 1978 II, 1517, abgedruckt in Sartorius II, Nr.-390. 55 IGH, Kasikili/ Sedudu Island (Botswana v. Namibia), Urteil vom 13.12.1999, ICJ Reports 1999, 1045, §§ 90ff. 56 Siehe dazu IGH, Land, Island and Maritime Frontier Dispute (El Salvador v. Honduras), Urteil vom 11.09.1992, ICJ Reports 1992, 351, § 80f. sowie IGH, Temple of Preah Vihear (Cambodia v. Thailand), Urteil vom 15.06.1962, ICJ Reports 1962, 6, 32. <?page no="100"?> 64 2. Die Völkerrechtssubjektivität Gebietsstreitigkeiten wegen unklaren Sachverhalts sind deshalb in der modernen Staatenwelt selten geworden. Einer dieser seltenen Fälle ist der Streit um die Falkland-Inseln (Malvinen), der im Frühjahr 1982 sogar zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Argentinien und Großbritannien führte und bis heute keine Lösung erfahren hat. Die Inseln waren am 5. April 1764 von dem französischen Seefahrer de Bougainville aus St. Malo (deshalb die Bezeichnung „Les Malouines“) für Frankreich in Besitz genommen worden. Spanien beanspruchte sie jedoch auf Grund seines Monopolanspruchs im Südatlantik. Um weiteren diplomatischen Verwicklungen zu entgehen, verkaufte Frankreich die Inseln 1767 an Spanien. In der Zwischenzeit, nämlich am 17. Januar 1765, waren aber auch Engländer auf den Inseln gelandet und hatten dort eine Siedlung errichtet. Vergeblich versuchte Spanien nach dem Kaufvertrag mit Frankreich, Großbritannien zur Anerkennung seiner Souveränität über die Falkland-Inseln zu veranlassen. Als 1816 Argentinien von der spanischen Kolonialmacht unabhängig wurde, übernahm es auch den Souveränitätsanspruch bezüglich der Falkland-Inseln und errichtete 1820 auf den Inseln, von denen sich die Engländer 1774, ohne ihre Gebietsansprüche formell aufzugeben, wieder zurückgezogen hatten, eine argentinische Verwaltung. Kurz danach begann auch eine argentinische Siedlungstätigkeit, die aber alsbald auf britischen Protest stieß. Am 2. Januar 1833 verschaffte sich eine englische Streitmacht gewaltsam Zutritt zu den Inseln und zwang den von Argentinien - damals noch „Vereinigte Provinzen vom Rio de la Plata“ - eingesetzten Gouverneur zwei Tage später, die Inseln zu verlassen. Seither besiedelte und verwaltete Großbritannien die Inseln, zuletzt mit dem Status einer Kronkolonie. Argentinien protestierte dagegen in regelmäßigen Abständen. Am 2. April 1982 besetzte eine argentinische Streitmacht die Inseln, die zu diesem Zeitpunkt von etwa 1800 britischen Einwohnern bewohnt war. Der Zuzug von Argentiniern war von Großbritannien stets verboten worden. Wenige Wochen später wurde die Insel von britischen Truppen erobert, die den vor der argentinischen Besetzung bestehenden Zustand wiederherstellten. Die Rechtsfragen der rechtmäßigen Gebietshoheit über die Inseln und der Konsequenzen aus der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts (dazu unten Kap.-2.1.8) wurden damit nicht gelöst. 57 ▶ Zession Die heute weitaus wichtigste Rechtsgrundlage des Gebietserwerbs ist die Zession, d.-h. der Erwerb durch einen völkerrechtlichen Vertrag mit demjenigen Staat, von dem das Gebiet erworben wird. Der erwerbende Staat ist der Zessionar, der das Gebiet abtretende Staat ist der Zedent. Der ganze Vorgang wird häufig auch als „Gebietsabtretung“ bezeichnet. Gebietsabtretungen können in den verschiedensten Verträgen vereinbart werden. Einfache Kaufverträge - wie etwa der Verkauf Alaskas an die USA durch das zaristische Russland im Jahre 1867 (Kaufpreis 7,2 Mio. US Dollar) - sind allerdings selten geworden. Häufiger sind Gebietsabtretungen im Zuge von Grenzbereinigungen. Am häufigsten aber finden sich Zessionsbestimmungen in Friedensverträgen. Nach bisher herrschender Lehre sind auch Friedensverträge, obwohl sie unter extrem ungleichen Machtverhältnissen zustande kommen, normale völkerrechtliche Verträge, die von den Vertragspartnern loyal 57 D.-Blumenwitz, Falkland oder Malvinas? , ZP 1982, 318ff.; D.C.-Dicke, Der Streit um die Falkland-Inseln oder Malvinen, in: FS Scupin, 1983, 429ff.; R. Dolzer, Der völkerrechtliche Status der Falkland-Inseln (Malvinas) im Wandel der Zeit, 1986; M.-Schröder, Der Kampf um die Falkland-Inseln, GYIL 27 (1984), 334ff. <?page no="101"?> 65 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte zu erfüllen sind. Unter der Geltung des Gewaltverbots kann jedoch den unter Zwang zu Stande gekommenen Verträgen keine Gültigkeit zugesprochen werden (vgl. unten Kap.-3.3.6). Dies muss auch für den Friedensvertrag gelten, den ein siegreicher Aggressor dem Besiegten aufzwingt. Man wird es als eine zutreffende Beschreibung des geltenden Völkerrechts zu bezeichnen haben, dass, „seitdem sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker als zwingende Völkerrechtsnorm durchgesetzt hat, ein Zessionsvertrag wohl nicht mehr gegen den Willen der Wohnbevölkerung des abzutretenden Gebiets geschlossen werden darf. In der Regel wird die Zustimmung der betroffenen Bevölkerung durch ein Plebiszit festzustellen sein, wobei Selbstbestimmungsrecht und Demokratie zwar eine demokratische, jedoch keine plebiszitäre gebietsbezogene Entscheidung fordern, obwohl in der Praxis die unmittelbare demokratische Legitimierung von Gebietswechseln favorisiert wurde“. 58 ▶ Annexion Scharf von der Zession zu unterscheiden ist die Annexion. Sie ist ein einseitiger Rechtsakt eines Staates, durch den dieser fremdes Staatsgebiet zu seinem eigenen macht. Unter der Geltung des klassischen Völkerrechts (vgl. oben Kap.- 1.3.4) stand den souveränen Staaten das Recht der Annexion zu, wenn sie in einem Krieg den Gegner militärisch völlig niedergerungen und seine Staatsgewalt vernichtet hatten. Die Herbeiführung dieser Situation war häufig der eigentliche Kriegsgrund. Die „Annexionsfreiheit“ war daher untrennbar mit der „Kriegsfreiheit“, d.h.-dem ius ad bellum, verknüpft. Als Folge des grundlegenden Wandels im Völkerrecht des 20. Jahrhunderts (vgl. oben Kap.-1.3.5) ist die Annexion als Gebietserwerbstitel beseitigt worden. 59 Wie früher aus der Kriegsfreiheit die Annexionsfreiheit folgte, folgt heute aus dem Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta (dazu unten Kap.-5.1) das Annexionsverbot. Damit stellt die Annexion keinen legitimen Gebietserwerbstitel mehr dar. Das hat die UN-Generalversammlung angesichts der rechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland im März 2014 in ihrer Resolution 68/ 262 betont. 60 Dem Verbot kommt dabei jedoch keine Rückwirkung zu, da ein früherer Gebietserwerb durch Annexion nach den Regeln des intertemporalen Rechts zu beurteilen ist. Danach ist ein Gebietserwerb nach dem Recht zu bewerten, das zum Zeitpunkt des Erwerbs galt. Zweifelhaft ist die Bedeutung der Adjudikation als Gebietserwerbstitel. Unter Adjudikation im engeren Sinn versteht man die Entscheidung eines internationalen Gerichts oder Schiedsgerichts. Normalerweise treffen internationale Gerichte oder Schiedsgerichte in Gebietsstreitigkeiten nur Feststellungen über den bestehenden Rechtszustand. Die Entscheidungen sind keine Gebietserwerbstitel, sondern nur Bestätigungen oder Zurückweisungen von Ansprüchen, die auf andere Gebietserwerbstitel gestützt werden. Ausnahmsweise können aber zwei Staaten ein internationales Gericht oder Schiedsgericht damit beauftragen, die-Zuteilung eines strittigen Gebiets nach Billigkeit auszusprechen. In diesem Fall-wäre der Gerichtsentscheid ein völkerrechtlicher Gebiets- 58 So A.-Peters, Das Gebietsreferendum im Völkerrecht, 1995, 470ff., 526. 59 Siehe die Friendly Relations Declaration, UNGA Res. 2625 (XXV) vom 24.10.1970. 60 UNGA Res. 68/ 262 vom 1.4.2014. <?page no="102"?> 66 2. Die Völkerrechtssubjektivität erwerbstitel. Als seltenes Beispiel der Adjudikation kann der Grenzstreit zwischen El Salvador und-Honduras genannt werden, den der IGH über Billigkeit infra legem gelöst hat. 61 ▶ Adjudikation Im weiteren Sinn wird unter Adjudikation die Entscheidung einer Großmächtekonferenz über eine Gebietsabtretung verstanden. Im 19.- Jahrhundert, als die Großmächte im Europäischen Konzert für sich das Recht in Anspruch nahmen, über das Schicksal der kleineren Staaten zu entscheiden, waren derartige Adjudikationen keine Seltenheit. Die Völkerrechtsordnung des 20. Jahrhunderts aber kennt eine solche Vorrangstellung der Großmächte nicht mehr. Zwar tragen sie auf Grund ihrer militärischen und wirtschaftlichen Stärke eine besondere Verantwortung für den Weltfrieden, aber sie sind nicht befugt, ohne Mitwirkung der beteiligten Staaten über die Abtretung von Gebieten zu entscheiden. Allerdings wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass die in Friedensverträgen enthaltenen Vereinbarungen über Gebietsabtretungen in Wirklichkeit verhüllte Adjudikationen sind. 2.1.5 Das Staatsvolk: Staatsangehörigkeit, Staatenlosigkeit und Fremdenrecht Allgemeines. Das Staatsvolk muss nicht homogen sein. Die Entscheidung darüber, wer zum Staatsvolk gehört, richtet sich nicht nach ethnischen, biologischen, kulturellen oder sprachlichen Merkmalen, 62 sondern nach einem rein juristischen Begriff, nämlich dem der Staatsangehörigkeit. Die Entstehung des Begriffs der Staatsangehörigkeit hängt mit der Entwicklung des modernen Staates zusammen. Solange der Staat als Personenverband begriffen wurde, konnte von vornherein nicht von einer „Staatsangehörigkeit“ gesprochen werden. Vielmehr bestand ein weit verzweigtes, verschachteltes System von gegenseitigen Treueverhältnissen. Im Staat der Neuzeit gab es zunächst nur Untertanenverhältnisse. Erst als die absolute Monarchie der konstitutionellen Monarchie im 19.- Jahrhundert zu weichen begann, gewann der moderne Begriff der Staatsangehörigkeit seine rechtliche Gestalt. 63 Staatsangehörigkeit. Das Völkerrecht stellt es jedem Staat weitgehend frei, die Bedingungen für den Erwerb und Verlust seiner Staatsangehörigkeit durch innerstaatliches Recht zu regeln. 64 Jedoch zieht es dieser Befugnis insofern eine Grenze, als die innerstaatliche Regelung der Staatsangehörigkeit nicht in die Rechte dritter Staaten einzugreifen befugt ist. Das bedeutet vor allem, dass kein Staat seine Staatsangehörigkeit willkürlich auf die Angehörigen anderer Staaten ausdehnen darf. Erwerb. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit erfolgt hauptsächlich durch zwei Vorgänge: Geburt und Einbürgerung. Hinsichtlich des Erwerbs der Staatsangehörigkeit durch Geburt sind zwei Grundprinzipien möglich: Bodenrecht (ius soli) und Verwandtschaftsrecht (ius sanguinis). 61 Für weitere Beispiele von Adjudikationen siehe K.-Ipsen, Völkerrecht, 7.-A., 2018, §-7, Rn.-53. 62 Zu soziologischen Merkmalen siehe G. Dahm/ J. Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 2, 2.-A., 2002, 3-7. 63 Vgl. R. Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1973. 64 Siehe IGH, Nottebohm Case (second phase) (Lichtenstein v. Guatemala), Urteil vom 06.04.1955, ICJ Reports 1955, 4, 20: „It is for […] every sovereign state, to settle by its own legislation the rules relating to the aquisition of nationality.“; siehe auch unten Kap.-15.2.5. <?page no="103"?> 67 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte Nach dem ius soli-Prinzip erwirbt das Neugeborene die Staatsangehörigkeit desjenigen Landes, in dessen Staatsgebiet die Geburt erfolgt, unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Eltern. Nach dem ius sanguinis-Prinzip erwirbt das Neugeborene die Staatsangehörigkeit der Eltern oder eines Elternteils ohne Rücksicht auf den Ort der Geburt. Die meisten Staaten bekennen sich gegenwärtig zum ius sanguinis-Prinzip, während vor allem auf dem amerikanischen Kontinent das ius soli-Prinzip gilt. Im Fall der Vereinigten Staaten hat Präsident Trump allerdings angekündigt, das ius soli-Prinzip für illegale Einwanderer abzuschaffen. Strittig ist, ob hierfür eine Verfassungsänderung notwendig wäre. 65 Das ius soli-Prinzip eignet sich vor allem für dünn besiedelte Einwanderungsländer, die ein Interesse daran haben, dass die Kinder der Einwanderer an die neue Heimat gebunden werden, auch wenn sich ihre Eltern noch nicht dazu entschlossen haben, die Staatsangehörigkeit des Einwanderungslandes anzunehmen. Das ius soli-Prinzip stellt eine Ausprägung des „Territorialitätsprinzips“ und das ius sanguinis-Prinzip eine solche des „Personalitätsprinzips“ dar. Dass das Völkerrecht beide Prinzipien zulassen muss, ergibt sich aus einer einfachen Überlegung. Wie im Vorstehenden ausgeführt, lehnt sich das Völkerrecht an die Dreielementenlehre an. Neben dem Volk sind also Gebiet und Staatsgewalt die Begriffselemente des Staates, die das Völkerrecht respektiert. Jeder Staat übt die Hoheitsgewalt auf seinem Gebiet aus. Er ist daher befugt, alle Vorgänge, die sich auf seinem Staatsgebiet abspielen, rechtlich zu regeln. Die Geburt eines Kindes ist ein solcher Vorgang. Diese Regelungsbefugnis findet ihre Grenzen an den völkerrechtlichen Rechten anderer Staaten, z.-B. dem Gesandtschafts- und Konsularrecht (dazu unten Kap.-8). Zudem kann die Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung vermittelt werden, wobei die Heirat einen typischen Fall darstellt. Hinsichtlich der Bestimmung der Modalitäten herrscht weitgehend staatliche Freiheit. Beispiel dafür ist die früher überwiegende Regel, nach der der Mann bei der Heirat seine Staatsangehörigkeit seiner eine andere Staatsangehörigkeit besitzenden Ehefrau vermittelte, und die Frau ggf. sogar ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit verlor. Im Zuge der Gleichstellung von Mann und Frau ist aber etwa im deutschen Recht diese Form der Vermittlung der Staatsangehörigkeit aufgehoben worden; nunmehr ist es regelmäßig so, dass eine Eheschließung mit einer Person anderer Staatsangehörigkeit eine Erleichterung der Einbürgerung zur Folge haben soll (vgl. §- 9 StAG). Die Staatsangehörigkeit der Kinder einer gemischten Ehe bestimmt ebenfalls das entsprechende Recht des Vaters oder der Mutter. Das Völkerrecht überlässt hier auch bezüglich der Entstehung möglicher doppelter Staatsangehörigkeiten die Entscheidung den nationalen Rechtsordnungen. 66 Erfolgt der Staatsangehörigkeitserwerb durch Geburt nach den Gesetzen eines Landes, so ist ein weiterer Hoheitsakt nicht nötig. Zu einem späteren Zeitpunkt ist dagegen zum Erwerb der Staatsangehörigkeit ein Hoheitsakt erforderlich, nämlich die besagte Einbürgerung. Mit der oben erwähnten Einschränkung - Beachtung der Rechte anderer Staaten - gestattet das Völkerrecht 65 Vgl. Reuters, Trump contends U.S. Constitution does not Cover Birthright Citizenship, vom 31. Oktober 2018, www.reuters.com/ article/ us-usa-immigration-citizenship-trump/ trump-contends-u-s-constitutiondoes-not-cover-birthright-citizenship-idUSKCN1N51YL, (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 66 Vgl. K.-Hailbronner/ H.-G. Maaßen/ J.-Hecker/ M. Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6.-A., 2017, Teil 1, E, Rn. 2ff. <?page no="104"?> 68 2. Die Völkerrechtssubjektivität den einzelnen Staaten, die Voraussetzungen für die Einbürgerung durch innerstaatliches Recht zu regeln. Völkerrechtswidrig sind zwei Arten der Einbürgerung: Zum einen die aufgezwungene Einzeleinbürgerung und zum anderen die willkürliche Masseneinbürgerung. Einzeleinbürgerung. Die Einzeleinbürgerung setzt stets einen Antrag des Einzubürgernden voraus. Früher war dies die einzige vom Völkerrecht geforderte Voraussetzung. In seinem Urteil vom 6. April 1955, dem Nottebohm-Fall (dazu unten Kap.-15.2.5), entschied der IGH aber, dass die Staaten auch auf Antrag keine beliebigen Einbürgerungen vornehmen dürfen. Zur Begründung führte der Gerichtshof aus: „[…] nationality is a legal bond, having as its basis a social fact of attachment, a genuine connection of existence, interests and sentiments, together with the existence of reciprocal rights and duties. It may be said to constitute the juridical expression of the fact that the individual upon whom it is conferred, either directly by the law or as the result of an act of the authorities, is in fact more closely connected with the population of the State conferring nationality than with that of any other State.“ 67 Das Urteil ist in der Literatur schon bald nach seiner Verkündung heftig kritisiert worden. Die Kritik richtete sich nicht nur gegen die Anwendung des Prinzips der effektiven Staatsangehörigkeit im Völkerrecht. Jenes Prinzip, dessen Hauptanwendungsgebiet das Internationale Privatrecht ist, besagt, dass dann, wenn eine Person mehrere Staatsangehörigkeiten besitzt, derjenigen Staatsangehörigkeit der Vorrang zu geben ist, zu der die betreffende Person die engsten Beziehungen besitzt. 68 Aber darum ging es im Nottebohm-Fall nicht. Dort war über die völkerrechtliche Anerkennung eines Einbürgerungspakts zu entscheiden. Die dafür vom IGH entwickelte Theorie des „echten Bandes“ („genuine link“) wurde und wird in der Völkerrechtsliteratur überwiegend abgelehnt. 69 Es konnte nicht ausbleiben, dass bei dieser Diskussion auch grundlegende Fragen über den Staat und die Staatsangehörigkeit im Völkerrecht des 20.- Jahrhunderts zur Sprache kamen. Übereinstimmend wurde festgestellt, dass die Staatsangehörigkeit ein rein formaler Begriff sei, der nicht mit ethnischen, biologischen oder emotionalen Inhalten gefüllt werden dürfe. Ferner wurde bestätigt, dass die Staatsangehörigkeit infolge der weitgehenden rechtlichen Gleichstellung von Inländern und Ausländern in den Rechtsordnungen der meisten Staaten einen großen Teil 67 IGH, Nottebohm Case (second phase) (Lichtenstein v. Guatemala), Urteil vom 06.04.1955, ICJ Reports 1955, 4, 23; hierzu H. Golsong, Nationalité et protection diplomatique; A propos de l’affaire Nottebohm, JfIR 8 (1957/ 58), 258ff.; E.-Loewenfeld, Der Fall Nottebohm, Ein Beitrag zur Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes im Haag, AVR 5 (1955/ 56), 387ff.; J.-Maury, L’arrêt Nottebohm et la condition de nationalité effective, RabelsZ 23 (1958), 515ff.; A.N. Makarov, Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Fall Nottebohm, ZaöRV 16 (1955/ 56), 407ff. 68 Vgl. P. Weis, Effective Nationality, in: Liber amicorum Adolf F.-Schnitzer, 1979, 501ff. 69 Vgl. etwa M. Kau, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8.-A., 2019, 3. Abschn., Rn.-101, 119; T. Stein/ C. von Buttlar/ M. Kotzur, Völkerrecht, 14.-A., 2017, Rn.-569f.; O. Dörr, Nottebohm Case (März 2007), MPEPIL (Online-Ed.). <?page no="105"?> 69 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte ihrer früheren Bedeutung verloren habe. 70 Die Restbedeutung der Staatsangehörigkeit liegt innerstaatlich in den politischen Rechten, völkerrechtlich in der Befugnis zum diplomatischen Schutz. Masseneinbürgerung. Masseneinbürgerungen sind nur auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrages zulässig, wie er im Falle eines Gebietswechsels zwischen dem gebietserwerbenden und dem gebietsabtretenden Staat abgeschlossen zu werden pflegt. In der Völkerrechtswissenschaft wird allerdings auch die Meinung vertreten, dass bereits der Abtretungsvertrag den Wechsel der Staatsangehörigkeit zur Folge hat. 71 Einige Autoren betonen lediglich die Verpflichtung des gebietserwerbenden Staates, den Bewohnern erworbener Gebiete seine Staatsangehörigkeit zu verleihen. 72 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sind aber bei allen Gebietsveränderungen die staatsangehörigkeitsrechtlichen Probleme entweder in dem die Gebietshoheit ändernden Vertrag selbst (in der Regel ein Zessionsvertrag oder ein Friedensvertrag) oder in einem auf seiner Grundlage geschlossenen eigenen Vertrag geregelt worden. 73 Dabei war es selbstverständlich, dass die auf dem erworbenen Gebiet lebenden Menschen ihre Wohnsitze behielten und die Staatsangehörigkeit des gebietserwerbenden Staates verliehen bekamen, sofern sie keinen entgegenstehenden Willen bekundeten. Eine derartige Willensbekundung wird Option genannt. Das Optionsrecht, d.-h. das Recht, sich entweder für die Beibehaltung der bisherigen Staatsangehörigkeit oder den Erwerb der Staatsangehörigkeit des neuen Inhabers der Gebietshoheit zu entscheiden, ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in allen gebietsverändernden Verträgen - darunter auch den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg, durch die große Gebietsveränderungen bewirkt wurden-- normiert worden. In der Regel war allerdings die Entscheidung für die Beibehaltung der alten Staatsangehörigkeit mit der Pflicht verbunden, den angestammten Wohnsitz zu verlassen und sich in das Restgebiet des alten Heimatstaates zu begeben. Die Option ist eine individuelle Entscheidung über die Beibehaltung der alten Staatsangehörigkeit im Falle eines Gebietswechsels. Sie wird von den Einzelpersonen auf Grund und nach Maßgabe eines darüber geschlossenen völkerrechtlichen Vertrages ausgeübt. Hiervon zu unterscheiden ist das Plebiszit, d.-h. die Abstimmung der ganzen Bevölkerung eines bestimmten Gebiets darüber, ob ein Gebietswechsel stattfinden soll oder nicht. 74 Entscheidet sich die Mehrheit der Bevölkerung für den Gebietswechsel, so ist damit noch keineswegs der Gebietswechsel eingetreten. Hierzu bedarf es vielmehr eines völkerrechtlichen Vertrages zwischen dem abtretenden und dem erwerbenden Staat, der dann seinerseits Bestimmungen über die Staatsangehörigkeit und das Optionsrecht enthält oder einen Staatsangehörigkeits- und Optionsvertrag vorbereitet. Im November 2018 gab 70 Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte J.-Sieber, Das Staatsbürgerrecht im internationalen Verkehr, Bd.-1, 1907, 3, die fortschreitende Gleichstellung von In- und Ausländern als „friedliche Eroberung“ bezeichnet, die so weit fortgeschritten sei, dass von dem Unterscheidungsmerkmal der Staatsangehörigkeit kaum etwas übrig geblieben sei. 71 Vgl. H. Jellinek, Der automatische Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit durch völkerrechtliche Vorgänge, 1951, 66; A.N. Makarov, Staatsangehörigkeit, WVR III, 328. 72 So E.-Kaufmann, Règles générales du droit de la paix, RdC 54 (1935/ IV), 373. 73 Vgl.-A.N. Makarov, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, 2.-A., 1962, 141. 74 Vgl. zum Gebietsreferendum A.- Peters, Das Gebietsreferendum im Völkerrecht, 1995; allgemein zur Option Y. Ronen, Option of Nationality (Juni 2019), MPEPIL (Online-Ed.). <?page no="106"?> 70 2. Die Völkerrechtssubjektivität es im französischem Pazifikterritorium Neukaledonien einen Volksentscheid, in dem sich das Volk gegen die Unabhängigkeit des Territoriums entschieden hat. Zudem behält jeder Staatsangehörige seine Rechte und Pflichten gegenüber seinem Heimatstaat, wenn er sich ins Ausland begibt. Freilich untersteht er im Ausland der Territorialhoheit desjenigen Staates, auf dessen Staatsgebiet er sich befindet, d.-h. er muss die Gesetze des Gastlandes beachten und wird vom Gastland zur Rechenschaft gezogen, wenn er dies nicht tut. Auch in dieser Beziehung bestehen gewisse Ausnahmen zu Gunsten der Personen mit Diplomatenstatus (dazu unten Kap.-8). Gleichzeitig unterliegt er aber weiterhin den Gesetzen seines Heimatstaates. Zwar kann sein Heimatstaat während seines Auslandsaufenthalts keine Zwangsmaßnahmen gegen ihn ergreifen, aber das kann nach der Rückkehr ins Heimatland nachgeholt werden. Im Wege der internationalen Rechtshilfe können ferner auch Rechtsakte im Ausland gesetzt werden, vor allem die Zustellung von Ladungen, die Einvernehmung von Zeugen usw. Ein großer Teil der Rechtshilfe betrifft das Privatrecht, z.-B. die Eröffnung von Testamenten, die Übersendung von Gerichtsentscheidungen und dergleichen. Eine solche Rechtshilfe ist nur auf der Grundlage eines Vertrages zwischen den beteiligten Staaten möglich. 75 Verweigert der im Ausland befindliche Staatsangehörige die Rückkehr in das Land seiner Staatsangehörigkeit, so kommt seine Auslieferung in Betracht. Die früher in der Völkerrechtswissenschaft vertretene Auffassung, es bestünde eine allgemeine Pflicht der Staaten zur Auslieferung von Straftätern, 76 entspricht nicht mehr dem geltenden Völkerrecht. Danach kann eine Auslieferungspflicht stets nur durch einen völkerrechtlichen Vertrag begründet werden. Der Auslieferungsvertrag umschreibt die „auslieferungsfähigen“ Delikte, d.-h. diejenigen Delikte, deren Begehung eine Auslieferungspflicht für den Staat begründet, auf dessen Gebiet sich der Täter aufhält. Die Entscheidung darüber, ob der Tatbestand eines solchen Delikts erfüllt ist oder nicht, steht dem Staat zu, an den sich das Auslieferungsbegehren richtet (sog. Qualifikationskompetenz). Wird dem Auslieferungsbegehren stattgegeben, so erfolgt die Auslieferung stets nur zum Zwecke der Untersuchung und Ahndung desjenigen Delikts, auf welches das Auslieferungsbegehren gestützt worden ist. Nur wegen dieses Delikts darf der Täter nach der Auslieferung vor Gericht gestellt werden (Grundsatz der Spezialität der Auslieferung). In jedem Fall kann einem Auslieferungsbegehren die Berufung auf das Asylrecht entgegengehalten werden, denn das Asyl ist auf der Ebene des Völkerrechts ein Recht des Zufluchtsstaates. Assange-Fall. Ein interessanter Fall aus jüngerer Zeit ist derjenige des australischen Staatsangehörigen Hackers Julian Assange, bekannt geworden vor allem durch die Gründung der Internet-Plattform WikiLeaks, die sich zum Ziel gesetzt hatte, geheim gehaltene Dokumente, namentlich der Vereinigten Staaten und von deren Streitkräften, einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Nachdem er in Schweden im Herbst 2010 Vergewaltigungsvorwürfen ausgesetzt war, machte das Gastland Assanges, das Vereinigte Königreich, Anstalten, jenen nach Schweden auszuliefern. Nachdem Assange im Vereinigten Königreich alle Rechtsmittel gegen eine solche 75 Ein Beispiel eines mehrseitigen Auslieferungsvertrages ist das im Rahmen des Europarates geschlossene Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 12.12.1957, BGBl. 1964 II, 1369. 76 Vgl. H. Lammasch, Auslieferungspflicht und Asylrecht, 1887. <?page no="107"?> 71 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte Überstellung ausgeschöpft hatte, indem er maßgeblich gegen eine Auslieferung geltend machte, zu fürchten, in die Vereinigten Staaten ausgeliefert zu werden, wo ihm ggf. sogar die Todesstrafe drohe, flüchtete er sich im Juni 2012 in die Botschaft Ecuadors in London und bat hier um politisches Asyl, welches ihm im August 2012 auch bewilligt wurde. Er wurde sofort unter diplomatischen Schutz gestellt. Im Januar 2018 erhielt Assange die ecuadorianische Staatsbürgerschaft. Der Vorschlag, Assange als Botschaftsmitarbeiter zu ernennen, wurde von Großbritannien abgelehnt. Sein Aufenthalt in der Botschaft wurde von der UN Working Group on Arbitrary Detention 2015 als willkürliche Inhaftierung eingestuft. 77 Vorbehaltlich der Besonderheiten des - nicht unwesentlich abweichenden (vgl. unten Kap. 8) Rechts auf diplomatisches Asyl - steht doch fest, dass dem Vereinigten Königreich die Zugriffsmöglichkeiten auf die Person Julian Assange fehlten. 78 Am 11. April 2019 und nur auf Verlangen des ecuadorianischen Staates wurde Assange von den britischen Behörden festgenommen. 79 Aus dem Nebeneinander von Territorialhoheit und Personalhoheit der Staaten ergeben sich zahlreiche Probleme, die umso schwieriger zu lösen sind, je dichter die internationalen Verflechtungen werden, aus denen sich Auslandsaufenthalte von Einzelmenschen und die Gründung von Niederlassungen juristischer Personen im Ausland ergeben. Um Härten zu mildern, die sich aus der gleichzeitigen Anwendung der Gesetze des Aufenthaltslandes (bzw. des Landes der Niederlassung) und des Heimatlandes ergeben, 80 schließen die Staaten völkerrechtliche Verträge (Aufenthalts- und Niederlassungsverträge, Freundschaftsverträge, Handelsverträge, Doppelbesteuerungsabkommen usw.), die einen Bestandteil des Fremdenrechts, also des Ausländerrechts der einzelnen Staaten bilden. Es ist schon angeklungen, dass die Staaten weitgehend frei sind in der Wahl des Prinzips der Anknüpfung der Staatsangehörigkeit. Daraus können sich Probleme ergeben. Da es sowohl Staaten 77 Human Rights Council Working Group on Arbitrary Detention Opinion No. /  concerning Julian Assange (Sweden and the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland). 78 Der britische High Court hatte den Asyl-Antrag von Assange 2012 abgelehnt, Urt. vom 30 May 2011, Assange v The Swedish Prosecution Authority. Siehe auch T. Marauhm/ S. Simon, Diplomatisches Asyl für Julian Assange, ZJS 2012, 593ff.; M. Den Heijer, Diplomatic Asylum and the Assange Case, LJIL 26 (2013), 399ff.; M. E. Thebes, The Prospect of Extraditing Julian Assange, North Carolina Journal of International Law & Commercial Regulation, 2012, 889ff.; H. M. Lacey, Government Secrets, National Security and Freedom of the Press: The Ability of the United States to Prosecute Julian Assange, National Security and Armed Conflict Law Review, 2010, 165ff.; T. Lavander, Using the Julian Assange Dispute to Address International Law’s Failure to Address the Right of Diplomatic Asylum, Brooklyn Journal of International Law 39 (2014), 443ff.; B. Schiffbauer (Hg. C. Kress), Julian Assange und das Völkerrecht: Aktuelle Fragen zum Schutz für und durch diplomatische Missionen, Cologne Occasional Papers on International Peace and Security Law, 2013. 79 Spiegel Online, Julian Assange in London festgenommen, vom 11.04.2019, www.spiegel.de/ politik/ ausland/ julian-assange-in-london-festgenommen-a-1262363.html, (zuletzt abgerufen: Dezemer 2019). Siehe hierzu auch Kapitel 8.1. 80 Bei juristischen Personen tritt im Wesentlichen an die Stelle der Staatsangehörigkeit die Rechtsfähigkeit nach dem innerstaatlichen Recht eines bestimmten Landes, die durch die Eintragung in ein Register des betreffenden Landes manifestiert wird; siehe dazu die Diskussion zur „Staatszugehörigkeit“ weiter unten in diesem Abschnitt. <?page no="108"?> 72 2. Die Völkerrechtssubjektivität gibt, die sich zum ius soli-Prinzip bekennen, als auch Staaten, die das ius sanguinis-Prinzip anwenden, führt das Nebeneinander der beiden Prinzipien manchmal zur Staatenlosigkeit, manchmal zur Doppelstaatigkeit. Doppelstaatigkeit entsteht etwa, wenn Eltern aus einem ius sanguinis-Land sich im Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes in einem ius soli-Land aufhalten, denn dann erwirbt das Kind mit der Geburt sowohl die Staatsangehörigkeit des Heimatlandes der Eltern als auch diejenige des Landes, in dem sich der Geburtsort befindet. Die Doppelstaatigkeit hat Vor- und Nachteile. Das Völkerrecht nimmt die doppelte Staatsangehörigkeit hin, obwohl es bislang wohl eher eine Tendenz gab, doppelte Staatsangehörigkeiten wegen der damit verbundenen möglichen doppelten Inanspruchnahme zu den aus der Staatsbürgerschaft resultierenden Pflichten (z.-B. ggf. Wehrpflicht) und der aus doppelten Loyalitäten möglicherweise resultierenden Rechtsunsicherheit im zwischenstaatlichen Verkehr zu vermeiden. 81 Diese Tendenz hatte ihren bezeichnenden Ausdruck in der als Ergebnis der Haager Kodifikationskonferenz am 12. April 1930 unterzeichneten „Konvention über bestimmte Fragen des Konflikts von Staatsangehörigkeitsrechten“, in deren Präambel die Mehrstaatigkeit ausdrücklich als „Übel“ bezeichnet wurde. Derselbe Grundgedanke findet sich auch in dem von 15 europäischen Staaten unterzeichneten „Übereinkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatlern“ vom 6. Mai 1963. 82 Es verpflichtet die Signatarstaaten, Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Mehrstaatigkeit zu ergreifen. Dies wird als völkerrechtliche Pflicht zur Erschwerung der Einbürgerung von Personen verstanden, die nicht staatenlos sind. Es ist aber unbezweifelbar in jüngerer Zeit eine Tendenz zur vermehrten Hinnahme doppelter Staatsangehörigkeiten zu verzeichnen; 83 vor diesem Hintergrund wird die oben skizzierte skeptische Behandlung doppelter Staatsangehörigkeit durch das Völkerrecht zunehmend fraglich. 84 Auf europäischer Ebene ist seit dem 1. März 2000 im Rahmen des Europarates ein Abkommen über Staatsangehörigkeit in Kraft, das in seinen Art. 14ff. den Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen auferlegt, doppelte Staatsangehörigkeiten anzuerkennen, so etwa in Fällen, in denen ein Neugeborenes verschiedene Staatsangehörigkeiten bei der Geburt erlangt. 85 Staatenlosigkeit. Staatenlosigkeit kann etwa dann entstehen, wenn Eltern aus einem ius soli-Land sich zum Zeitpunkt der Geburt in einem ius sanguinis-Land aufhalten. Die Staatenlosigkeit entsteht nicht nur durch das ungünstige Zusammenwirken der beiden Prinzipien für den Erwerb der Staatsangehörigkeit und durch „Vererbung“ - denn die Kinder von Staatenlosen sind in einem ius sanguinis-Land ebenfalls staatenlos -, sondern vor allem durch Ausbürgerung und durch 81 Vgl. K.-Doehring, Völkerrecht, 2.-A., 2004, Rn.-79ff., 87. 82 BGBl. 1969 II, 1954. Deutschland hat das Übereinkommen sowohl unterzeichnet als auch ratifiziert, ist aber seit 2002 nicht mehr Vertragspartei. 83 Vgl. etwa die Nachweise bei K.-Hailbronner/ H.-G. Maaßen/ J.-Hecker/ M. Kau Staatsangehörigkeitsrecht, 7.-A., 2017, Teil 1, E, Rn. 27ff. 84 Vgl. O. Kimminich, The Conventions for the Prevention of Double Citizenship and their Meaning for Germany and Europe in an Era of Migration, GYIL 38 (1995), 224ff. 85 ETS Nr.-166. <?page no="109"?> 73 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte freiwilligen Verzicht auf die Staatsangehörigkeit. Oft wird ein solcher Verzicht vom Heimatland des Verzichtenden nicht anerkannt. Will der Verzichtende die Auslieferung an sein Heimatland verhindern, so muss er um politisches Asyl bitten und ist dann ein „de facto-Staatenloser“. Ein Staatenloser erhält keinen Pass und demzufolge kein Visum, keine anderen Dokumente, keine Arbeitserlaubnis usw. Um das Los der Staatenlosen zu mildern, ist auf Anregung der UNO die Konvention über den Status der Staatenlosen vom 28. September 1954 geschlossen worden, die am 6. Juni 1960 in Kraft getreten ist. 86 Viele Staatenlose sind aber zugleich Flüchtlinge im Sinne der Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (hierzu unten Kap.-10.5). Ausbürgerung. Staatenlosigkeit kann auch durch (Einzel- oder Massen-)Ausbürgerung entstehen. Dabei ist es auch heute noch fraglich, ob bereits ein generelles völkerrechtliches Verbot der Einzelausbürgerung festzustellen ist. Zwar sieht die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 87 von 1948 in ihrem Art. 15 einen Anspruch jedes Menschen auf eine Staatsangehörigkeit vor und verbietet den willkürlichen Entzug derselben. Diese Erklärung der UN-Generalversammlung ist indes rechtlich nicht verbindlich. Art. 24 Abs. 3 des rechtlich verbindlichen Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966 88 sieht hingegen einen Anspruch jedes Kindes auf Erwerb einer Staatsangehörigkeit vor. Er sagt aber nichts über ein mögliches Verbot des Entzugs der Staatsangehörigkeit durch Ausbürgerung. Daraus ist geschlossen worden, dass sich ein auch gewohnheitsrechtlich geltender Satz des Völkerrechts über ein Verbot der Einzelausbürgerung bislang nicht herausgebildet habe. 89 Indes haben etliche Staaten gesetzliche Bestimmungen über die Modalitäten der Ausbürgerung erlassen (vgl. etwa §§- 18ff.- StAG). In Deutschland verbietet zudem Art. 16 Abs. 1 GG die Aberkennung der Staatsangehörigkeit durch einen einseitigen Akt. Die Frage der Einzelausbürgerung ist in letzter Zeit in Bezug auf IS-Kämpfer mit europäischer Staatsangehörigkeit diskutiert worden. 90 Massenausbürgerung. Massenausbürgerungen sind ebenfalls völkerrechtlich zulässig. Sie bedürfen aber noch einer völkerrechtlichen Fundierung, z.-B. im Falle des Souveränitätswechsels über Gebiet und Bevölkerung, wie dies etwa im Falle der Zession angenommen werden kann (dazu oben Kap. 2.1.4). Nicht nur Individuen besitzen im Regelfall zumindest eine Staatsangehörigkeit, auch juristische Personen besitzen eine Staatszugehörigkeit. Dabei geht die überwiegende Praxis dahin, die Staatszugehörigkeit der juristischen Person, die nach Maßgabe einer nationalen Rechtsordnung gegründet ist, danach zu bestimmen, wo sie ihren Sitz hat, was in aller Regel der Staat sein wird, in dem die juristische Person nach nationalem Recht registriert ist (sog. Gründungstheorie). Freilich wird teilweise auch als wesentlich erachtet, in welchem Staat sich die Hauptverwaltung der 86 UNTS Bd.-360, 117; BGBl. 1976 II, 473. 87 Abgedruckt in Sartorius II, Nr.-19. 88 Abgedruckt in Sartorius II, Nr.-20. 89 K. Göcke, Stateless Persons (August 2013), MPEPIL (Online-Ed.); R. Hofmann, Denaturalization and Forced Exile (Februar 2013), MPEPIL (Online-Ed.); K.-Doehring, Völkerrecht, 2.-A., 2004, Rn.-74. 90 Siehe dazu S. Jayaraman, International Terrorism and Statelessness: Revoking the Citizenship of Foreign ISIL Fighters, Chicago Journal of International Law 17 (2016), 178ff. <?page no="110"?> 74 2. Die Völkerrechtssubjektivität juristischen Person befindet (Sitztheorie) oder - etwa bei transnationalen Unternehmen (dazu unten Kap. 2.4.2) - von welchem Staat sie wirtschaftlich kontrolliert wird. 91 Der IGH hat allerdings letztere Theorie, die sog. Kontrolltheorie, im Barcelona Traction-Urteil grundsätzlich abgelehnt (siehe dazu unten Kap.-15.2.9). 92 Der wesentliche Anknüpfungspunkt für die Staatszugehörigkeit von Schiffen und Flugzeugen wie auch Weltraumobjekten ist die Registrierung in nationalen bzw. internationalen Registern. Ist somit deutlich geworden, dass die Staatsangehörigkeit das spezifische Band zwischen dem Staatsangehörigen und seinem Heimatstaat mit der Vermittlung von Rechten und Pflichten beinhaltet, so stellt sich abschließend die Frage nach der völkerrechtlich gebotenen Behandlung der Nichtstaatsangehörigen, der im Völkerrecht sog. Fremden. Hier ist zweifelsohne die Tatsache zu beachten, dass die Fremden Inhaber einer anderen Staatsangehörigkeit sind und deshalb der Personalhoheit eines anderen Staates unterliegen. Auch ist der Aufenthaltsstaat ansonsten bezüglich der Fremden, die seiner Gebietshoheit unterliegen, nicht völlig frei, sondern von Völkerrechts wegen an die Beachtung eines Mindeststandards gebunden, der mit Ausnahme ausdrücklicher Zulassung durch völkerrechtliche Verträge nicht unterschritten werden darf (sog. Fremdenrecht). 93 Dabei hat der/ die Fremde zwar den Anspruch auf eine dem völkerrechtlichen Mindeststandard entsprechende Behandlung; die Geltendmachung möglicher Verletzungen erfolgt indes nach wie vor über seinen Heimatstaat etwa im Wege des diplomatischen oder konsularischen Schutzes. Verletzungen des völkergewohnheitsrechtlichen Mindeststandards bzw. besonderer vertraglicher Verpflichtungen durch den Aufenthaltsstaat werden seitens des Heimatstaates im Wege des sog. diplomatischen Schutzes geltend gemacht. Dafür muss die Person, für die diplomatischer Schutz geltend gemacht werden soll, die Staatsangehörigkeit des Heimatstaates bzw. im Falle von juristischen Personen dessen Staatszugehörigkeit besitzen. Es kommt dabei bei Gesellschaften jeweils auf den Heimatstaat der Gesellschaft, nicht aber auf denjenigen der Aktionäre oder sonstiger Anteilseigner an. Bei mehrfacher Staatsangehörigkeit kann im Wege der Einigung der betroffenen Heimatstaaten eine gemeinsame Geltendmachung des diplomatischen Schutzes gegen den anderen Staat vereinbart werden. 94 Im Übrigen stellen internationale Gerichte zur Ausübung des diplomatischen Schutzes auf die sog. effektive Staatsangehörigkeit ab. 95 91 Siehe P.T. Muchlinski, Corporations in International Law (Juni 2014), MPEPIL (Online-Ed.); A.-Kley- Struller, Staatszugehörigkeit juristischer Personen, SZIER 1 (1991), 163ff.; M. Kau, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8.-A., 2019, 3. Abschn., Rn.-116. 92 IGH, Barcelona Traction, Light and Power Co. (Belgium v. Spain), Urteil vom 05.02.1970, ICJ Reports 1970, 3, §§ 55ff.; siehe aber auch IGH, Elettronica Sicula S.p.A. (ELSI) (USA v. Italy), Urteil vom 20.07.1989, ICJ Reports 1989, 15; hierzu R. Dolzer, Zur Bedeutung der ELSI-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs, IPRax 1992, 137ff.; W. Wengler, Die Entscheidung des IGH im „Elsi“-Fall, NJW 43 (1990), 619f. 93 A.H.-Roth, The Minimum Standard of International Law Applied to Aliens, 1949. 94 Siehe etwa Art. III der Rules regarding International Claims issued by the British Foreign and Commonwealth Office in , abgedruckt in D.J.-Harris, Cases and Materials, 5.-A., 1998, 601. 95 Siehe dazu M. Kau, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8.-A., 2019, 3. Abschn., Rn.-120. Zur Entwicklung des Fremdenrechts in Bezug auf den Schutz möglicher Investoren siehe S. Hobe, Aliens, <?page no="111"?> 75 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte Diplomatischer Schutz ist erst nach Erschöpfung des nationalen Rechtsweges möglich, jedenfalls so lange, wie entsprechende nationale Rechtsbehelfe Aussicht auf Erfolg versprechen. Die klassische Sichtweise sieht im Anspruch auf diplomatischen Schutz ausschließlich ein Recht des Heimatstaates, nicht aber einen Individualanspruch. Dies hatte bereits der StIGH im Mavrommatis-Konzessionenfall deutlich zum Ausdruck gebracht. 96 Die nachfolgend (siehe unten Kap.-2.4.3 und 10.1) noch zu schildernde deutliche Aufwertung der Völkerrechtsstellung des Individuums dürfte es indes heute erlauben, in diesem Anspruch jedenfalls auch einen Individualanspruch des jeweiligen Staatsangehörigen zu sehen, der allerdings nur durch seinen Heimatstaat geltend gemacht werden kann. 97 Die großen Veränderungen, an denen das „Völkerrecht im Umbruch“ (vgl. oben Kap.-1.3.5.3) teilnimmt, könnten die Bedeutung der Staatsangehörigkeit im zwischenstaatlichen Verkehr weiter schwinden lassen. Ihr wesentlicher Bedeutungsgehalt ist im Zeitalter der Globalisierung allerdings immer noch ihre Funktion als Anknüpfungspunkt für die Zuteilung von Rechten und Pflichten. 98 2.1.6 Die Staatsgewalt: Der Grundsatz der Gebietsausschließlichkeit Die völkerrechtlichen Probleme des dritten Elements des Staatsbegriffs der Staatsgewalt, hängen mit denjenigen des Staatsgebiets zusammen. Denn Staatsgewalt darf jeder Staat grundsätzlich nur auf seinem eigenen Gebiet ausüben. Entsprechend heißt es im Lotus-Fall (siehe dazu unten Kap.-15.1.2): „No state may perform acts of sovereignty on the territory of another state“. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass auf einem Staatsgebiet stets nur ein einziger Staat seine Gebietshoheit entfalten darf. Alle anderen Staaten sind hiervon ausgeschlossen. 99 Dieser Grundsatz heißt „Grundsatz der Undurchdringlichkeit der Staatsgewalt“ oder „Grundsatz der Gebietsausschließlichkeit“. in: M. Bungenberg/ J. Griebel/ S. Hobe/ A. Reinisch (Hg.), Handbook of International Investment Law, 2015, 6ff. 96 StIGH vom 30.08.1924, Series A, No 2,12, Anhang No 1. 97 So auch A. von Arnauld, 4. A., Völkerrecht, 2019, Rn. 597ff. 98 G.-R. de Groot, Staatsangehörigkeit im Wandel, 1989, 13; zur keine Form der Staatsangehörigkeit darstellenden noch eine solche vermittelnden Unionsbürgerschaft im Rahmen der Europäischen Union gemäß Art.-17ff. EG und ihrer Funktion siehe etwa S. Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht - Auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat? , Der Staat 32 (1993), 245ff.; S. Hobe, Art. 39, Art. 40 und Art. 46, in P. Tettinger/ K. Stern (Hg.), Kölner Gemeinschaftskommentar, Europäische Grundrechte-Charta, 2006. 99 Siehe dazu IGH, Corfu Channel Case (UK v. Albania), Urteil vom 09.04.1949, ICJ Reports 1949, 4, 35. (dazu unten Kap.- 15.2.1): „Between independent States, respect for territorial sovereignty is an essential foundation of internationalrelations“. <?page no="112"?> 76 2. Die Völkerrechtssubjektivität Jede Setzung eines Hoheitsaktes eines Staates auf fremdem Staatsgebiet ist daher- - wenn nicht eine der im Folgenden aufgezählten Ausnahmesituationen vorliegt - grundsätzlich völkerrechtswidrig. Das Gleiche gilt für den Fall, dass ein Hoheitsakt zwar formell auf dem Gebiet des einen Staates gesetzt wird, sich aber materiell im fremden Staatsgebiet auswirkt. Ein solcher Hoheitsakt liegt z.-B. vor, wenn ein Polizist in Verfolgung seiner Dienstgeschäfte über die Grenze schießt. Territorialitätsprinzip. Insofern ist Gebietshoheit die exklusive Befugnis zur Vornahme von Hoheitsakten auf einem bestimmten Territorium, das nicht der dauernden Verfügungsgewalt des Hoheitsträgers zu unterstehen braucht. Gebietshoheit liefert einen Anknüpfungspunkt für die Inanspruchnahme staatlicher Regelungsgewalt durch das sog. Territorialitätsprinzip. Das Territorialitätsprinzip erlaubt es einem Staat, Rechte und Pflichten für Personen zu begründen, die sich auf seinem Staatsgebiet aufhalten, sowie den Status von Personen und Sachen auf seinem Staatsgebiet zu regeln. Das heute weit zu verstehende Territorialitätsprinzip gestattet es auch, Vorgänge in anderen Staaten mit Auswirkungen auf das eigene Staatsgebiet zu regeln (sog. Wirkungsprinzip). Personalprinzip. Neben dem Territorialitätsprinzip bietet auch das sog. aktive Personalitätsprinzip, welches an das Verhalten von eigenen Staatsangehörigen sowie von Personen mit ständigem Inlandsaufenthalt anknüpft, sowie das passive Personalitätsprinzip zum Schutz eigener Staatsangehöriger im Ausland einen Anknüpfungspunkt für die Ausübung von staatlicher Hoheitsgewalt. Das Schutzprinzip erlaubt es den einzelnen Staaten, eigene Belange und hochwertige inländische Rechtsgüter vor Beeinträchtigungen von außen zu schützen. 100 Daneben besteht noch das Universalitätsprinzip, das die Jurisdiktionsgewalt des Staates auf Situationen erstreckt, die für die gesamte Staatengemeinschaft wesentliche Grundwerte betreffen. Zu den Prinzipien ist im Einzelnen Folgendes zu bemerken: Die Erweiterung des Territorialitätsprinzips durch das sog. Wirkungsprinzip ist seit dem Urteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im Lotus-Fall 101 (dazu unten Kap.- 15.1.2) anerkannt. Allerdings bedarf es eines legitimierenden Anknüpfungspunktes. Ansonsten dürfte ein Verstoß gegen das Interventionsverbot vorliegen. Es muss also mehr oder minder ein Inlandsbezug herzustellen sein. 102 Das aktive Personalitätsprinzip liefert einen Anknüpfungspunkt für die Regelung der Rechte und Pflichten sowie des Status einer Person durch ihren Heimatstaat. Das passive Personalitätsprinzip knüpft hingegen an den Schutz von Personen nach dem Recht ihres Heimat- oder Aufenthaltstaates an. Beispiel für das aktive Personalitätsprinzip ist §- 7 Abs. 2 Nr.- 1 StGB, für das passive Personalitätsprinzip §§-5 Nr.-6 und 7 Abs. 1 StGB. Das Schutzprinzip erlaubt dem Staat, seine Rechtsordnung auch auf Situationen anzuwenden, die außerhalb seines Rechtsgebiets liegen, jedoch wesentliche Interessen, etwa die eigene Sicherheit oder wichtige öffentliche Belange, betreffen. 100 Vgl. zum Gehalt staatlicher Regelungsgewalt die Grundsätze des Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States, Bd.-1, St. Paul, MN 1987. 101 PCIJ, Ser. A, Nr.-10 (1927). 102 Zur Wirkweise des Wirkungsprinzips im EG-Wettbewerbsrecht siehe etwa EuGH Slg. 1989, 5193, Rn.-16f. <?page no="113"?> 77 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte Nach dem Universalitäts- oder Weltrechtsprinzip können bestimmte Rechtsgüter, an denen die gesamte Menschheit ein großes Interesse hat, universell verfolgt werden. Ein Beispiel ist etwa die strafrechtliche Verfolgung der Piraten; darüber hinaus können Völkermord, Sklavenhandel, Kriegsverbrechen, Flugzeugentführungen und terroristische Gewaltakte, also solche Verbrechen, deren Verbot ius cogens-Charakter hat, von jedem Staat unabhängig vom Begehungsort und der Staatsangehörigkeit des Täters verfolgt werden. Anknüpfungspunkte wie etwa das Territorialitätsbzw. das Personalitätsprinzip können dazu führen, dass zwei oder mehrere Staaten einen Regelungsanspruch für einen konkreten Sachverhalt erheben. So hat etwa der amerikanische Helms-Burton-Act von 1996 103 zum Schutz enteigneter Eigentümer mit amerikanischer Staatsangehörigkeit auf Kuba Investoren aus aller Welt, die in Kuba mit enteigneten Vermögenswerten Geschäfte treiben, mit Sanktionen belegt. Dies hat aufgrund der extraterritorialen Wirkung des Act zu kontroversen Auseinandersetzungen geführt. Er führte zu Abwehrmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft, die die Befolgung des amerikanischen Gesetzes durch Unionsbürger und europäische Unternehmen verbot und in den USA nach diesem Gesetz erlangte Ausgleichshandlungen wieder abschöpfte. Bezogen auf die oben angesprochene Gebietsausschließlichkeit haben sich einige nun nachfolgend darzustellende Ausnahmen entwickelt. Ausnahmen von der Gebietsausschließlichkeit ▶ Staatsservituten ▶ Verpachtung ▶ Durchmarsch- und Stationierungsrecht ▶ Internationale Gewässer ▶ Nacheile ▶ Kondominium ▶ Exilregierung ▶ Die Staatsservituten In Anlehnung an die Definition der Dienstbarkeiten des bürgerlichen Rechts (etwa §§-1018ff. BGB) werden als Staatsservituten solche Völkerrechtsverhältnisse bezeichnet, die einem Staat das Recht geben, hoheitliche Handlungen auf dem Gebiet eines anderen Staates vorzunehmen oder die Unterlassung von hoheitlichem Handeln des Gebietsstaates zu verlangen. Als Hauptanwendungsfall der Staatsservituten trat in der Völkerrechtsgeschichte das Verbot der Befestigung bestimmter Teile des Staatsgebiets auf, das in zahlreichen Verträgen (insbesondere Friedensverträgen) enthalten war. Auch das Recht der friedlichen Durchfahrt durch die Küstengewässer (dazu unten Kap. 11.1) wird als allgemeines Servitut betrachtet. Hierbei handelt es sich allerdings um einen Sonderfall, da die friedliche Durchfahrt auf einer Regel des allgemeinen Völkerrechts beruht, während sonst die Staatsservituten nur durch völkerrechtlichen Vertrag begründet werden können. Als weitere 103 ILM 35 (1996), 357. <?page no="114"?> 78 2. Die Völkerrechtssubjektivität Beispiele können etwa Grenzservituten genannt werden, also die Möglichkeit für Nachbarstaaten, Hoheitsakte wie Zoll- oder Grenzkontrollen auf dem fremden Staatsgebiet vorzunehmen. 104 ▶ Die Verpachtung Wie im innerstaatlichen Recht (vgl. §§-581ff. BGB) ist auch auf der Ebene des Völkerrechts eine Verpachtung des eigenen Staatsgebiets an einen anderen Staat möglich. Im Falle der Verpachtung übt der „pachtende“ Staat zwar die Gebietshoheit aus, Zuordnungssubjekt des Gebiets bleibt aber der verpachtende Staat. Der „pachtende“ Staat erhält nur bestimmte, funktional begrenzte Rechte zur Ausübung (auf bestimmte Zeit) übertragen. Aktuelles Beispiel aus der Staatenpraxis ist die am 9. Juni 1898 von China und Großbritannien vereinbarte Verpachtung der sog. New Territories, die 92-% des Gebiets von Hongkong ausmachen. Mit dem Ablauf des 99-jährigen Verpachtungszeitraums wurde das Gebiet am 1. Juli 1997 wieder von Großbritannien an China übergeben. Allerdings hat sich China verpflichtet, 105 das Gebiet bis zum Jahre 2047 als Sonderverwaltungsgebiet zu behandeln. Dieser Status soll Hongkong einen hohen Grad an Autonomie sichern und sein gegenwärtiges Wirtschaftssystem erhalten. 106 ▶ Durchmarschrecht und Stationierungsrecht Durch völkerrechtliche Verträge kann fremden Truppen ein Durchmarschrecht zu bestimmten Zwecken eingeräumt werden. Dies ist häufig die Voraussetzung für den militärischen Wert eines Bündnisvertrages mit einem dritten Staat. Auf Grund des Durchmarschrechts dürfen die fremden Truppen mit Ausrüstung und Hoheitszeichen das Staatsgebiet des fremden Staates in bestimmter Weise (z.-B. auf bestimmten Straßen sowie Luftkorridoren und Wasserwegen) benutzen. Eine Weiterentwicklung des Durchmarschrechts ist das im gegenwärtigen Völkerrecht häufiger praktizierte Stationierungsrecht. Insbesondere im Zusammenhang mit den großen Systemen der kollektiven Selbstverteidigung (z.-B. NATO und der frühere Warschauer Pakt) hat sich die Notwendigkeit ergeben, Truppen auf fremdem Staatsgebiet zu stationieren. Die Rechtsstellung der fremden Truppen muss in besonderen Stationierungsverträgen festgelegt werden. 107 104 Ein Beispiel ist der Badische Bahnhof in Basel; siehe auch S. Marchisio, Servitudes (Februar 2011), MPE- PIL (Online-Ed.). 105 Vgl. Draft Agreement between the Government of the United Kingdom of Great Britain and the Government of the People’s Republic of China on the Future of Hong Kong, ILM 23 (1984), 1366ff., und The Basic Law of the Hong Kong Special Administrative Region of the People’s Republic of China, ILM 29 (1990), 1511ff. 106 Ausführlich zum Rechtsstatus von Hong Kong E.-Johnson, Hong Kong after 1997: A Free City? , GYIL 40 (1997), 383ff. 107 Für den Bereich der NATO sind diese Regelungen im NATO-Truppenstatut (abgedruckt in Sartorius II, Nr.-66b; BGBl. 1961 II, 1190, mit deutschem Ausführungsgesetz vom 18.08.1961, BGBl. II, 1183) enthalten; Einzelheiten sind in Zusatzabkommen geregelt, wie z.-B. im Abkommen über die Einrichtung und den Betrieb internationaler militärischer Hauptquartiere vom 13.03.1967, BGBl. 1969 II, 2009; nach der deutschen Vereinigung wurden in völkerrechtlichen Vereinbarungen u.-a. Änderungen zum Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut vorgenommen, siehe dazu BR-Drucks. 670/ 93, 12, und R. Wolfrum, Deutschland in Verteidigungsbündnissen, in: J.-Isensee/ P.-Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, X, 3. A., 2012, §-221, Rn.-5ff. <?page no="115"?> 79 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte ▶ Internationalisierte Gewässer Wie im Vorstehenden ausgeführt, gehören die Binnengewässer zum Staatsgebiet. Verläuft die Staatsgrenze durch ein Binnengewässer, z.-B. durch einen Fluss, so gehört das Gewässer zum Teil dem einen, zum Teil dem anderen Staat. Die im nichtjuristischen Schrifttum häufig anzutreffende Aussage, ein Fluss bilde die Staatsgrenze zwischen zwei Staaten, ist juristisch ungenau. Die Grenze ist ein rein juristischer Begriff und die Markierung der Grenzlinie hat keine räumliche Ausdehnung. Es gibt keinen Punkt der Erdoberfläche, der „auf der Grenze“ liegt. Alle Punkte liegen vielmehr entweder auf der einen oder auf der anderen Seite der Grenze. Für den normalen Verlauf einer Staatsgrenze in einem Fluss hat das allgemeine Völkerrecht folgende Regeln entwickelt: Bei nicht schiffbaren Flüssen verläuft die Grenze stets genau in der Mitte („Mittellinie“), bei schiffbaren Flüssen in der Mitte der Fahrrinne („Talweg“). Selbstverständlich kann der Grenzverlauf im Einzelnen hiervon abweichen. Jedoch müssen solche Abweichungen durch völkerrechtliche Verträge oder durch zwischen den Uferstaaten geltendes Gewohnheitsrecht begründet sein. Die Tatsache, dass verschiedene Teile eines Grenzflusses zu verschiedenen Staaten gehören, macht den Grenzfluss noch nicht zum internationalisierten Fluss. Jeder Staat ist berechtigt, die zu seinem Gebiet gehörenden Teile des Grenzflusses für alle Zwecke der Schifffahrt, des Fischfangs und der Wassernutzung zu nutzen. In der Regel sind die Uferstaaten eines Flusses allerdings gezwungen, für die gemeinsame Benutzung eines Grenzflusses Verträge abzuschließen. Diese betreffen einzelne oder alle Nutzungsarten und schmälern die Gebietshoheit der Uferstaaten nicht. Internationalisierte Flüsse sind dagegen solche, die ganz oder teilweise zum Gebiet eines Staates gehören, auf denen dieser Staat aber nicht die ausschließliche Gebietshoheit ausüben darf, sondern andere Staaten daran beteiligen muss. Eine solche Internationalisierung kann nur durch völkerrechtliche Verträge erfolgen. Allgemeine Bestimmungen dieser Art enthielt bereits die Wiener Kongressakte vom 9. Juni 1815, die in ihren Art. 108-117 allgemeine Richtlinien für die von den Staaten abzuschließenden Verträge aufstellte. In der Bundesrepublik Deutschland sind es drei Schifffahrtswege, die in dieser Weise internationalisiert worden sind: der Rhein, die Donau und der Kieler Kanal (Nord-Ostsee-Kanal). Der Rhein wurde bereits durch die Rheinschifffahrtsakte von 1831 dem internationalen Schifffahrtsverkehr geöffnet. Heute gilt noch immer die sog. Mannheimer Rheinschifffahrtsakte vom 17. Oktober 1868, 108 ergänzt durch die Art. 354-362 des Versailler Vertrages. Die Internationalisierung der Donau war bereits in Art. 15 des Pariser Friedens von 1856 vorgesehen, wurde aber erst im Londoner Vertrag vom-2. November 1865 ausgeführt. Heute gilt für die Donau die Belgrader Konvention vom 18. August 1948. 109 Der Kieler Kanal wurde durch 108 Neufassung des deutschen Wortlauts in BGBl. 1969 II, 597; Zusatzprotokoll vom 25.10.1972, BGBl. 1974 II, 1385; hierzu R. Hoederath, Großbritannien und das internationale Rheinregime, 1981; J.F.-Hostie, Le statut international du Rhin, RdC 28 (1929/ III), 105ff.; U. Scheuner, Das internationale Recht der Rheinschiffahrt und der nationale Binnenverkehr, 1954; K.-Schilling, Die Freiheit der Rheinschiffahrt, in: FS Kraus, 1954, 207ff.; B.-Vitanyi, La modification récente du régime de navigation du Rhin et la question de régime objectif, RTDC 34 (1981), 279ff. 109 G.-Martius, Die Entwicklung des zwischenstaatlichen Donauschiffahrtsrechts, AVR 1 (1948/ 49), 233ff.; F.- Pichler, Die Donaukommission und die Donaustaaten: Kooperation und Integration, 1973; W. Wegener, Die internationale Donau - Völkerrechtliche Bemerkungen zum Belgrader Donau-Schiffahrts- <?page no="116"?> 80 2. Die Völkerrechtssubjektivität die Art. 380ff. des Versailler Vertrages internationalisiert. 110 Auf internationalisierten Wasserwegen dürfen alle Staaten ihre Flagge zeigen, d.-h. Schiffe verkehren lassen, die in ihren Staaten registriert sind. Der Uferstaat ist nicht berechtigt, die Benutzung des internationalisierten Wasserweges selbständig zu regeln. ▶ Die Nachteile Durch völkerrechtliche Verträge kann das Recht bestimmter Staatsorgane, auf frischer Tat ertappte Rechtsbrecher über die Staatsgrenze hinweg zu verfolgen, begründet werden. Ein allgemeines Recht der Nacheile zu Land besteht jedoch nicht. Anders ist die Rechtslage bezüglich der Nacheile auf die Hohe See (hierzu unten Kap.-11.1.3). In der Regel beschränkten sich die Nacheileverträge auf bestimmte Delikte wie Zollvergehen und Forstfrevel in den Grenzwäldern. In neuerer Zeit sind in Europa etwa im Rahmen des Schengener Abkommens zur Begleitung des dort festgelegten Wegfalls der Grenzkontrollen von den Schengen-Staaten Erklärungen über die Ausübung der Nacheile an den Staatsgrenzen abgegeben worden. 111 ▶ Das Kondominium Das Kondominium bedeutet definitionsgemäß eine Abweichung vom Grundsatz der Gebietsausschließlichkeit. Es ist nämlich dadurch gekennzeichnet, dass zwei Staaten auf ein und demselben Gebiet gemeinsam die Staatsgewalt ausüben. Solche Kondominien kamen früher insbesondere in Kolonialgebieten vor, wenn sich die Kolonialmächte nicht über die endgültige Aufteilung eines Gebietes einigen konnten. Ein Beispiel ist das englisch-ägyptische Kondominium über den Sudan bis 1956. Bis 1993 bestand noch ein Kondominium in Europa: die Republik Andorra, über die kraft alten Rechts das französische Staatsoberhaupt und der Bischof von Urgel (Spanien) gemeinsam die Gebietshoheit ausübten. 112 Seither gehört das Kondominium der Völkerrechtsgeschichte an. abkommen von 1948, 1951; die Westmächte haben die Konvention von 1948, die das Mitspracherecht donaufremder Staaten beseitigte, nicht anerkannt und halten an der Weitergeltung der Pariser Konvention vom 23.07.1921 fest; umstritten war zunächst, ob der Rhein-Main-Donau-Kanal, der sog. „Europa- Kanal“, an der Internationalisierung der beiden durch ihn verbundenen Wasserwege teilnimmt; vgl. W. Götzer, Der völkerrechtliche Status der Donau zwischen Regensburg und Kelheim, 1988; G.- Jaenicke, Die neue Großschiffahrtsstraße Rhein-Main-Donau, 1973; K.W. Kippels, Der völkerrechtliche Status des zukünftigen Europakanals und seine Auswirkungen auf das Rhein- und Donauregime, 1978; H.-J.- Schlochauer, Rechtsfragen grenzüberschreitender Wasserstraßen am Beispiel des Rhein-Main- Donau-Schiffahrtsweges, in: FS Mosler, 1983, 839ff.; B.-Vitanyi, Legal Problems in Connection with the Deep-Draught Rhine-Main-Danube Navigable Waterway after the Additional Protocol to the Act of Mannheim, ZaöRV 41 (1981), 731ff.; K.-Zemanek, Die Schiffahrtsfreiheit auf der Donau und das künftige Regime der Rhein-Main-Donau-Großschifffahrtsstraße, 1976; als Ergebnis ist festgestellt worden, dass durch die Verbindung von Rhein und Donau keine einheitliche internationalisierte Wasserstraße entstanden ist. 110 Vgl.- A.- Böhmer, One Hundred Years: The Kiel Canal in International Law, GYIL 38 (1995), 325ff.; W.O.-Lampe, Die völkerrechtliche Situation des Kieler Kanals gestern und heute, 1985. 111 Siehe dazu H.C.-Taschner, 1997, 41, m.w.N. 112 J.-Crawford, The International Legal Status of the Valleys of Andorra, RDI 55 (1977), 258ff. <?page no="117"?> 81 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte ▶ Die Exilregierung Auch im Falle einer Exilregierung werden gleichzeitig zwei Staatsgewalten auf demselben Staatsgebiet ausgeübt. Die Exilregierung setzt auf dem Staatsgebiet des Gastlandes Hoheitsakte, verwendet ihre Staatssymbole, zieht von ihren ebenfalls im Exil befindlichen Staatsangehörigen Steuern ein, übt die Gerichtsbarkeit über sie durch eigene Gerichtsorgane aus und verfügt häufig sogar über eigene Truppen. Das alles kann nur mit Genehmigung des Gastlandes geschehen. Das Völkerrecht gibt eine klare Antwort auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen eine derartige Genehmigung zulässig ist: nur im Rechtszustand des bewaffneten Konflikts. In Friedenszeiten ist die Duldung einer Exilregierung auf dem eigenen Staatsgebiet völkerrechtswidrig. Politische Flüchtlinge dürfen sich zwar auch in Friedenszeiten in ihrem Gastland politisch betätigen, soweit die Gesetze des Gastlandes dies erlauben. Das Völkerrecht setzt einer solchen Erlaubnis aber gewisse Grenzen, zu denen auch die Bildung einer Exilregierung gehört. 113 Während des Zweiten Weltkrieges amtierten zahlreiche Exilregierungen von Staaten, die von deutschen Truppen besetzt waren, in London. Da Großbritannien sich ebenfalls im Kriegszustand mit dem Deutschen Reich befand, war die Duldung dieser Exilregierungen völkerrechtsgemäß. Wie streng sich Großbritannien an die völkerrechtlichen Regeln hielt, zeigt der Fall Äthiopien. Nach dem italienischen Überfall auf dieses Land im Jahre 1936 flüchtete Kaiser Haile Selassie nach England und wollte dort eine Exilregierung errichten. Dies wurde ihm verweigert, solange sich Großbritannien nicht mit Italien im Kriegszustand befand. Als aber Italien im Juni 1940 in den Krieg eintrat, erfolgte unverzüglich die Anerkennung Kaiser Haile Selassies als Chef einer in London amtierenden äthiopischen Exilregierung. Keine Ausnahme von dem Grundsatz der Gebietsausschließlichkeit ist die Tätigkeit und Rechtsstellung der Diplomaten in den jeweiligen Gastländern (dazu unten Kap.-8). ▶ Sog. Failed States — In Bürgerkriegssituationen Weist ein Staat - etwa wegen einer durch interne Konflikte (Bürgerkrieg) entstandenen Unregierbarkeit - nicht mehr alle für ihn konstituierenden Merkmale auf und fehlt es ihm infolge der nachhaltigen Infragestellung seines Gewaltmonopols insbesondere an der effektiven Herrschaftsgewalt, so führt dies in aller Regel noch nicht zu einer Aberkennung seiner Staatsqualität. Das traditionelle Völkerrecht behandelt vielmehr die Staatsgewalt einer solchen Gebietseinheit „mit wohlmeinendem Desinteresse“. 114 Allerdings hängt die Effektivität einer Staatsgewalt oft dennoch mit deren demokratischer Legitimation zusammen. Betrachtet man die gerade in jüngerer Zeit zunehmend in das Blickfeld der internationalen Gemeinschaft gerückten Fälle - genannt seien nur Liberia, Sierra Leone, Somalia, Ruanda, aber auch Kambodscha und der Libanon und in den letzten Jahren Syrien -, so sind dort Tendenzen dahingehend erkennbar, dass sich die internationale Gemeinschaft, zumeist gestützt auf Kapitel VI oder VII der UN-Charta, mit unterschiedlichem Erfolg in einer Art Treuhänderschaft dieser „Staatsruinen“ annimmt und sich im Sinne des „peace 113 Vgl. O. Kimminich, Völkerrechtsfragen der exilpolitischen Betätigung, AVR 22 (1962), 132ff. 114 M. Herdegen, Der Wegfall effektiver Staatsgewalt im Völkerrecht: „The Failed State“, BDGVR 34 (1995), 49. <?page no="118"?> 82 2. Die Völkerrechtssubjektivität keeping“, „peace building“ oder „peace enforcement“ um die Wiederherstellung geordneter Verhältnisse bemüht 115 (siehe dazu im Einzelnen unten Kap.-5.1.7.1). Insofern ist zwar in diesen Fällen nicht von einem Fortfall der Staatlichkeit zu sprechen. Das Interesse an Kontinuität überwiegt vielmehr gegenüber der Bedeutung der Elemententrias. Wohl aber kann man von gravierenden Ausnahmen zum Grundsatz der Gebietsausschließlichkeit sprechen. — Finanziell prekäre Staatlichkeit In jüngerer Zeit ist in zunehmendem Maße deutlich geworden, dass es weitere Fälle defizitärer Staatlichkeit als Problemfälle für die internationale Gemeinschaft gibt. So nutzen etwa Piraten den Wegfall effektiver Staatsgewalt zur Entfaltung ihrer kriminellen Aktivitäten auf den Weltmeeren. Zudem rücken zunehmend Staaten in den Nähebereich der Kategorie failed states angesichts ihrer zunehmend schwindenden Zahlungsfähigkeit, die sie regelmäßig in ein wachsendes Abhängigkeitsverhältnis von internationalen Geldgebern bringt. Ob es sich nun um Argentinien im Jahre 2000 gehandelt hat, ob dies ab 2008 für Griechenland galt oder ab 2017 für Venezuela - jedenfalls kann derartig drohende Zahlungsunfähigkeit und die entsprechend von internationalen Geldgebern wie etwa dem Internationalen Währungsfonds an Bedingungen geknüpfte Kreditvergabe dazu führen, dass die politische Manövrierfähigkeit solcher Staaten nachhaltig eingeschränkt ist. 116 Ist in diesen Fällen zwar vom Vorhandensein der Staatsgewalt nach wie vor auszugehen, wird doch sehr deutlich, dass das Element der Unabhängigkeit dieser Staatsgewalt in diesen Fällen nachhaltig infrage gestellt wird. Zum Verneinen der Staatlichkeit als solcher hat dies allerdings in all diesen Fällen bislang nicht geführt. ▶ Sonstige Ausnahmen Letztlich wird man, einmal abgesehen von den Fällen der freiwilligen Nichtausübung von Hoheitsgewalt, etwa im Bereich der Europäischen Union (dazu unten Kap.- 2.2.4.7), rechtssystematisch auch in Fällen der auf Grund des Kapitels VII der UN-Charta möglichen kriegerischen Besetzung eines Staates von Beschränkungen der Gebietsausschließlichkeit sprechen können. Wegen des stärkeren Konnexes zu dem entsprechenden speziellen Rechtsgebiet werden solche Fragen aber erst dort, also bei der Darstellung des Friedenssicherungsrechts (unten Kap.- 5.1.4) behandelt werden. 2.1.7 Die Staatensukzession 2.1.7.1 Begriff und Bedeutung Dismembration. Genauso wie Staaten bei Vorliegen der dargelegten Kriterien entstehen können, können sie bei ihrem Wegfall, insbesondere dem Wegfall des Merkmals des Staatsgebiets, auch untergehen; hingegen ist bereits oben (siehe dazu 2.1.6) festgestellt worden, dass jedenfalls vorübergehende Erosionsprozesse der Staatsgewalt die Staatsqualität eines deshalb als „failed state“ 115 D.-Thürer, Der Wegfall effektiver Staatsgewalt: „The Failed State“, BDGVR 34 (1995), 19. 116 Siehe auch S. Hobe, Europarecht, 9. A., 2017, §-21, Rn. 1050f. <?page no="119"?> 83 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte einzustufenden Staates noch nicht zum Verschwinden bringen. Im Nachfolgenden soll deshalb von solchen Regeln des Völkerrechts die Rede sein, die die völkerrechtliche Pflichtenbindung eines Territoriums nach einem Wechsel der Souveränität betreffen. Dies kann etwa der Fall sein bei einer Zession, also der Verschiebung einer Grenze zwischen zwei fortbestehenden Staaten, einer Sezession, also der Abspaltung eines Gebietsteils aus einem fortbestehenden Staat unter Gründung eines neuen Staates im abgespaltenen Gebietsteil, bei einer Dismembration, also dem Zerfall eines Staates in zwei oder mehrere Staaten unter Beendigung der Existenz des Vorgängerstaates, im Falle eines Zusammenschlusses zweier oder mehrerer Staaten zu einem neuen Staat unter Aufgabe der Staatlichkeit der Vorgängerstaaten und bei einer Inkorporation, also der Eingliederung eines Staates in einen anderen fortbestehenden Staat unter Verlust seiner bisherigen eigenstaatlichen Existenz. 117 Dabei muss freilich gleich zu Beginn vor einem Missverständnis gewarnt werden. Bislang ist das nur vorzustellende Recht der Staatennachfolge keineswegs im Sinne eines umfassenden Korpus von Rechten aller die Rechtsnachfolge nach einem Souveränitätswechsel betreffenden Rechtsfolgen geregelt; vielmehr haben sich bislang nur in einigen Teilbereichen - nämlich hinsichtlich der Frage des Schicksals völkerrechtlicher Verträge, der Staatsangehörigkeit, des Vermögens und der Staatsschulden sowie der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen - Regeln über die Nachfolge von Staaten herausgebildet. Diese folgen jedoch nur beschränkt einheitlichen Regeln, sie hängen vielmehr einerseits vom Grund des Wechsels der territorialen Souveränität, andererseits von der jeweiligen Sachmaterie ab. Insgesamt lässt sich sagen, dass es jeweils um Spezialsukzessionen geht und nicht um eine umfassende Universalsukzession. 118 Insbesondere die gravierenden Änderungen der Staatenwelt in Mittel- und Osteuropa nach 1990, genannt seien hier nur die Beispiele der früheren UdSSR, der früheren Tschechoslowakei und des früheren Jugoslawien, aber auch die Vereinigungen Nord- und Südjemens ebenfalls 1990 und schließlich die deutsche Vereinigung, haben das bislang zumeist gewohnheitsrechtlich geregelte Rechtsgebiet der Staatennachfolge um etliche Fälle der Staatenpraxis bereichert. Noch jüngere Beispiele betreffen die Rückgabe Hong Kongs 1997 durch Großbritannien an China sowie die seit 2006 ins Blickfeld geratene Unabhängigkeit des Kosovo und die Loslösung Südsudans vom Rest Sudans im Jahre 2011. Insgesamt bleibt diese Rechtsmaterie nach wie vor in ihren Ausdifferenzierungen unübersichtlich. Immerhin haben sich einige nachfolgend darzustellende Grundsätze in den genannten Teilbereichen herausgebildet, die sich jeweils zwischen den Polen der „Kontinuität“ bzw. „Diskontinuität“ bewegen, also die Frage betreffen, ob bestehende völkerrechtliche Rechte oder Verpflichtungen des Vorgängerstaats fortgelten sollen. Dass das Recht des Nachfolgestaats für das neu hinzugekommene Territorium gelten muss, ergibt sich bereits aus dem Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen (Art. 29 WVK). Problematisch sind daher vor allem die Fälle, in denen ein völlig neuer Staat entstanden ist, etwa (früher) im Rahmen der Dekolonisierung oder (heute häufiger) durch Auflösung bzw. Abspaltung. 117 Vgl. U. Fastenrath, Das Recht der Staatensukzession, BDGVR 35 (1995), 9, 14. 118 M. Kau, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8. A., 2019, 3. Abschn., Rn.-190. <?page no="120"?> 84 2. Die Völkerrechtssubjektivität 2.1.7.2 Kodifikationsbestrebungen Die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen hatte das Recht der Staatensukzession bereits 1949 für kodifikationsfähig erklärt, es aber zunächst zurückgestellt. Erst 1962 nahm die Kommission das Problem in ihr Arbeitsprogramm auf und beschloss 1967, es in drei Teilgebiete zu zerlegen: 1. Sukzession in Bezug auf Verträge; 2. Sukzession in Bezug auf andere Materien als Verträge; 3. Sukzession in Bezug auf die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen. Der letztgenannte Punkt wurde alsbald erneut zurückgestellt, 119 für den ersten Punkt legte die Kommission 1974 einen Konventionsentwurf vor, der auf einer diplomatischen Konferenz 1977/ 78 in Wien beraten wurde. Das Ergebnis der Beratungen ist die „Wiener Konvention über Staatensukzession in Bezug auf Verträge“ vom 22. August 1978. 120 Sie betrifft ausdrücklich nur die „Staatensukzession in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und insbesondere mit den in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Völkerrechtsprinzipien“ (Art. 6). Die Konvention beantwortet also im Einzelfall nicht die Frage, ob eine Staatensukzession vorliegt, sondern regelt nur gewisse Rechtsfolgen der Staatensukzession, sofern diese zu bejahen ist. Im Mittelpunkt der Wiener Konvention über Staatensukzession in Bezug auf Verträge von 1978 steht deren Art. 8. Danach werden die im Zeitpunkt der Staatensukzession bestehenden vertraglichen Rechte und Pflichten des Vorgängerstaates durch ein Devolutionsabkommen nicht automatisch zu Rechten und Pflichten des Nachfolgestaates. Dasselbe gilt für die einseitige Erklärung eines Nachfolgestaates (Art. 9). Für die im Zuge der Entkolonisierung neu entstandenen Staaten stellt Art. 16 die Grundregel auf, dass der neue Staat nicht verpflichtet ist, in die vom ehemaligen Mutterland abgeschlossenen Verträge einzutreten. Jedoch kann er bei multilateralen Verträgen durch eine notifizierte Willenserklärung den Status einer Vertragspartei erlangen (Art. 17). Bei bilateralen Verträgen hängt die Weitergeltung für den Nachfolgestaat von der Einigung zwischen diesem und dem anderen Vertragspartner ab. Diese Einigung kann entweder ausdrücklich oder stillschweigend erfolgen (Art. 24). Die Einzelheiten sind zum Teil recht kompliziert. So war z.-B. auch die Frage zu regeln, was zu gelten hat, wenn ein neuer Staat aus Gebieten gebildet worden ist, die früher zu verschiedenen Mutterländern gehörten (Art. 30), oder welche Rechtsfolgen die Vereinigung oder Aufteilung von Staaten nach sich zieht (Art. 31ff.). In Lehre und Praxis stießen die in der Konvention aufgestellten Regeln auf Widerspruch, so dass die Konvention „auch keinen nachhaltigen Einfluss auf das Gewohnheitsrecht ausgeübt hat“. 121 Bezüglich des zweiten Bereichs der Staatensukzession, der durch eine Konvention geregelt werden soll („andere Materien als Verträge“), hat die Völkerrechtskommission beschlossen, eine weitere Eingrenzung auf folgende Gegenstände vorzunehmen: Staatsvermögen, Staatsarchive 119 Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass nach Art. 4 der Wiener Konvention von 1978 freilich die Staatennachfolge in Verträge im Grundsatz auch auf die Nachfolge in internationale Organisationen anwendbar ist. 120 UN Doc./ CONF 80/ 31, ILM 17 (1978), 1488; ZaöRV 39 (1979) 279; deutsche Fassung abgedruckt in M.-Schweitzer/ W.-Rudolf, Friedensvölkerrecht, 3.-A., 1985, 606; in Kraft getreten am 06.11.1996 mit derzeit 23 Ratifikationen und 14 weiteren Unterschriften (Stand: Dezember 2019); im Folgenden abgekürzt: Konv. 1978. 121 U. Fastenrath, Der deutsche Einigungsvertrag im Lichte der Staatennachfolge, AJPIL 44 (1992/ 93), 22. <?page no="121"?> 85 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte und Staatsschulden. Bei Letzterem handelt es sich jedoch nur um völkerrechtlich begründete Schulden, nicht um etwaige Rechte privater ausländischer Gläubiger. 122 Nach jahrelanger Vorarbeit konnte die Völkerrechtskommission einen Konventionsentwurf vorlegen, über den eine von den Vereinten Nationen wieder nach Wien einberufene Konferenz, an der 90 Staaten teilnahmen, im Frühjahr 1983 beriet. Die Mehrheit der Konferenzteilnehmer stimmte schließlich dem Entwurf zu, doch waren es - mit Ausnahme der Türkei - ausschließlich Staaten der Dritten Welt und des Ostblocks. Bis heute hat die „Wiener Konvention über die Staatennachfolge in Staatsvermögen, Staatsarchive und Staatsschulden“ vom 8. April 1983 123 noch nicht die für ihr Inkrafttreten erforderliche Zahl von 15 Ratifikationen erreicht. 124 Auf Grund der erheblichen Kritik, welche die Konvention erfahren hat, kann sie nur mit großer Vorsicht als Wiedergabe gewohnheitsrechtlicher Regeln betrachtet werden. Deutschland ist bisher keinem dieser Verträge beigetreten. 2.1.7.3 Grundsätze Vor dem Hintergrund dieser Kodifikationsbemühungen und insbesondere auch der jüngeren Staatenpraxis ist es immerhin möglich, einige Grundsätze des Rechtes der Staatennachfolge zu umreißen. ▶ Gebiet Zunächst zum Fall der Inkorporation eines Staates in einen anderen. Hier ist bezüglich des Schicksals der völkerrechtlichen Verträge Folgendes festzuhalten: Alle Verträge des den untergehenden Staat aufnehmenden Staates erstrecken nach dem Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen ihren Anwendungsbereich nunmehr auf das so vergrößerte Staatsgebiet (vgl. auch Art. 15 Konv. 1978). Für die vom untergegangenen Staat geschlossenen Verträge ist wohl im Grundsatz vom Erlöschen der entsprechenden Verträge auszugehen (Grundsatz der Diskontinuität, vgl. etwa Art. 8ff., 15), wobei dem aufnehmenden Staat oft die Möglichkeit eingeräumt wird, mit den Vertragspartnern den Fortbestand bzw. die Modifikation der entsprechenden Verträge zu verhandeln. Damit wird der in der Doktrin als „clean slate rule“ oder auch „tabula rasa“-Doktrin 125 bezeichnete Diskontinuitätsgrundsatz abgemildert. 126 In jüngerer Zeit ist freilich unter Bezugnahme auf die Staatenpraxis in den Fällen der Staatennachfolge der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei eine generelle, auf die Herausbildung einer Norm des Völkergewohnheitsrechts gerichtete Staatenpraxis konstatiert worden, universelle Verträge für alle Nachfolgestaaten übergangsweise fortgelten zu lassen, bis der Nachfolgestaat dem-Depositar seine endgültige Rechtsnachfolge oder seinen Rücktritt vom Vertrag noti- 122 M. Herdegen, Völkerrecht, 18.-A., 2019, §-30, Rn.-3. 123 Text in ILM 22 (1983), 306ff.; im Folgenden abgekürzt: Konv. 1983. 124 Derzeit 7-Ratifikationen und 7 weitere Unterschriften (Stand: Dezember 2019). 125 K.-Doehring, Völkerrecht, 2.-A., 2004, Rn.-172. 126 M. Kau, in W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8.-A., 2019, 3. Abschn., Rn.-191, geht davon aus, dass Kontinuität Grundprinzip der Konv. 1978 ist; ebenso M. Kamminga, State Succession in Respect of Human Rights Treaties, EJIL 7 (1996), 469ff. <?page no="122"?> 86 2. Die Völkerrechtssubjektivität fiziert hat. 127 Zudem sei eine deutliche, in die Bildung von Völkergewohnheitsrecht einmündende Tendenz dahingehend zu erblicken, Staaten zur Bestätigung universeller menschenrechtlicher und humanitärer Verträge zu verpflichten, wie dies etwa der UN-Menschenrechtsausschuss im Hinblick auf die Fortgeltung des IPbürgR im an China 1997 zurückgegebenen Hong Kong feststellte. 128 Darin kommt ein zunehmend pragmatisches Verständnis des Diskontinuitätsprinzips zum Ausdruck, welches dem verstärkten Bedürfnis der internationalen Beziehungen auch nach vertraglicher Kontinuität, zumal in wesentlichen wertsetzenden Bereichen, in gewisser Weise Rechnung trägt. 129 Die Diskontinuitätsregel gilt im Übrigen nicht für sog. radizierte, also gebietsbezogene Verträge, insbesondere Grenzverträge (Art. 11 Konv. 1978) und solche Verträge, deren Gegenstand sich auf die Nutzung des vom Souveränitätswechsel betroffenen Gebietes bezieht (Art. 12 Konv. 1978). 130 Bezüglich der Staatsangehörigkeit der Bewohner eines durch Inkorporation untergegangenen Staates dürfte, obwohl diese Frage noch nicht abschließend geklärt ist, wohl von einem entsprechenden Wechsel der Staatsangehörigkeit auf die des übernehmenden Staates auszugehen sein, insbesondere um der Gefahr einer Staatenlosigkeit der Bewohner dieses Gebietes (vgl. dazu oben Kap.-2.1.5) zu begegnen. 131 Das Staatsvermögen des übernommenen Staates geht in das des übernehmenden Staates über (Art. 9-13 Konv. 1983), für das Privatvermögen der Bewohner gelten die Grundsätze der Eigentumsordnung des übernehmenden Staates. Auch für die Schulden des inkorporierten Staates soll im Grundsatz das gleiche, also deren Übernahme durch den inkorporierenden Staat gelten (Art.-33-36 Konv. 1983). Liegt der Fall der Inkorporation nur eines Staatsteils vor, gilt wiederum der Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen für beide betroffenen Staaten; ansonsten ist die Rechtslage insbesondere im Hinblick auf Staatsschulden 132 und für die Staatsangehörigkeit komplizierter. Im letzteren Bereich scheint vieles für ein Optionsrecht der betroffenen Bewohner des inkorporierten Staatsteils zu sprechen. Bei der Bildung eines Bundesstaates durch Zusammenschluss mehrerer Staaten erlischt die Staatsqualität der vorbestehenden Staaten nicht vollständig. Dies dürfte dazu führen, auch den neu entstandenen Bundesstaat an die vertraglich begründeten Verpflichtungen der vorbestehenden Staaten gebunden zu halten, freilich nur in Bezug auf das eingebrachte Gebiet und wenn Sinn und Zweck des Vertrages einer solchen teilweisen Anwendung nicht entgegenstehen (Art. 31 127 T. Schweisfurth, Das Recht der Staatensukzession, BDGVR 35 (1995), 49, 224ff.; hiergegen B. Kempen/ C. Hillgruber, Völkerrecht, 2. A., 2012, §-20, Rn.-66f. 128 T. Schweisfurth, Das Recht der Staatensukzession, BDGVR 35 (1995), 226; wohl zustimmend M. Herdegen, Völkerrecht, 18.-A., 2019, §-29, Rn.-4f.; kritisch hierzu B. Kempen/ C. Hillgruber, Völkerrecht, 2.-A., 2012, §- 54, Rn.- 67; zum Ganzen auch M.- Kamminga, State Succession in Respect of Human Rights Treaties, EJIL 7 (1996), 469ff. 129 Auch das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum serbischen Kriegsverbrecher Jorgic vom 12.12.2000 in einem obiter dictum erwogen, dass Bosnien und Herzegowina 1992 automatisch per Staatennachfolge (Art. 34 Konv. 1978) der Völkermord-Konvention von 1948 beigetreten sei; s. BVerfG, NJW 54 (2001), 1848 f. 130 Zur Problematik der militärischen Nutzung des Gebietes und der in diesem Falle möglicherweise doch geltenden clean slate-Regel siehe K.-Doehring, Völkerrecht, 2.-A., 2004, Rn.-173. 131 So auch K.-Doehring, Völkerrecht, 2.-A., 2004, Rn.-175; U. Fastenrath, Der deutsche Einigungsvertrag im Lichte des Rechts der Staatennachfolge, AJPIL 44 (1992/ 93), 1, 28. 132 Dazu K.-Doehring, Völkerrecht, 2.-A., 2004, Rn.-180. <?page no="123"?> 87 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte Konv. 1978). Entsprechendes dürfte für Staatsschulden gelten (Art. 39 Konv. 1983). Bezüglich der Staatsangehörigkeit besteht nach dem Zusammenschluss nur noch eine einheitliche, nämlich die des neu entstandenen Bundesstaates. Beim Zerfall eines Bundesstaates unter Entstehung neuer Staaten werden jedenfalls die radizierten Verträge fortgelten. ▶ Schulden Prinzipiell problematisch ist die Regelung bezüglich der Schulden der untergegangenen Staaten. Das Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 133 sah hier etwa die anteilige Übernahme der Schulden durch die neuen Staaten vor. Aber eine gefestigte rechtliche Regelung besteht bislang noch nicht. Art.-37 Konv.-1983 bestätigt diesen Grundsatz, wie auch die Regelung bei der Auflösung der CSSR 1992/ 93. 134 Auch für die Regelung der Staatsangehörigkeit entstehen prinzipiell problematische Fragen, wobei der Wille der Wohnbevölkerung im Wege der Gewährung eines Optionsrechts wohl zu berücksichtigen sein dürfte. Für diesen Bereich gibt es seit 1996 zumindest einen Entwurf der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen. 135 Hiernach gilt eine Vermutung für die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsortes, der jedoch im Einzelfall widersprochen werden kann. Des Weiteren ist hinzuweisen auf die Sonderregelungen, die die Konventionen von 1978 und 1983 durch die sog. „newly independent states“ aufstellt, also durch solche Staaten, die aus der Dekolonisierung hervorgegangen sind. Im Grundsatz soll hier die Bindung des dekolonisierten Staates an Vereinbarungen des Vorgängerstaates möglichst gering sein; so soll ihnen bei multilateralen Verträgen bzw. der Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation ein Optionsrecht zukommen, es sei denn, Sinn und Zweck der Verträge stünden dem entgegen. Zudem soll der Neustaat von Vorbehalten des Vorgängers freigestellt sein und die Fortgeltung bilateraler Verträge vom Konsens beider neuer Partner abhängen. 136 Schließlich sollen diese neuen Staaten unbelastet von Schulden des Vorgängerstaates ihre Existenz beginnen können (Art.-38 Konv. 1983). Doch fehlt gerade den diesbezüglichen Regeln bislang der entsprechende Rückhalt in der Staatengemeinschaft, so dass von ihrer allgemeinen Geltung wohl noch nicht auszugehen ist. Diese Sonderregeln sind denn auch der Hauptgrund für die geringen Ratifikationsstände beider Konventionen. ▶ Staatsarchive Staatsarchive gehen, wobei auch hier nach der entsprechenden Konvention von 1983 Sonderregelungen für dekolonisierte Staaten gelten sollen, unabhängig von der Art und Weise des Gebietswechsels auf den Nachfolgestaat über, jedenfalls wenn sie für die Verwaltung der betreffenden Gebiete notwendig sind (sog. Betreffprinzip). 137 133 BGBl. 1953 II, 333. 134 Vgl. M. Kau, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8.-A., 2019, 3. Abschn., Rn.-200. 135 Siehe M. Kau, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8.-A., 2019, 3.-Abschn., Rn.-205. 136 Vgl. Teil III der Konvention von 1978; H.D.-Treviranus, Die Konvention der Vereinten Nationen über Staatensukzession bei Verträgen, ZaöRV 39 (1979), 259, 267. 137 Einzelheiten bei W. Fiedler, State Succession, EPIL IV (2000), 647f. <?page no="124"?> 88 2. Die Völkerrechtssubjektivität ▶ Mitgliedschaftsrechte in internationalen Organisationen Bei Mitgliedschaftsrechten in internationalen Organisationen schließlich findet grundsätzlich keine automatische Nachfolge statt, obwohl dies nach Art. 4 Konv. 1978 grundsätzlich möglich wäre. Die jeweils neuen Staaten müssen in der Praxis vielmehr um Aufnahme etwa in die UNO ersuchen; dies galt z.-B. nach der Sezession Pakistans von Indien 1947 und der Loslösung Bangladeschs von Pakistan 1971, sowie bei der Aufnahme der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ging man aber dann doch - wohl zur Vermeidung weiterer Konflikte mit Russland - von einer automatischen Fortsetzung der Mitgliedschaftsrechte in den UN-Organen und besonders im Sicherheitsrat durch Russland aus. Ähnliches kann auch in jüngerer Zeit im Falle der Nachfolgestaaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien 138 konstatiert werden. Die bereits früher geäußerten Zweifel 139 an der Möglichkeit einer sog. sui generis-Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen durch den IGH im Falle Rest-Jugoslawiens 140 haben neuerdings Bestätigung gefunden: Die lange offen stehende Frage, ob das frühere Jugoslawien durch Dismembration untergegangen ist oder nur durch mehrere Separationen dezimiert wurde, hat nämlich nun zu widersprüchlichen Ergebnissen beim IGH geführt. Denn nur für den letzteren Fall kann man für das heutige Serbien eine automatische Staatennachfolge etwa in die Vereinten Nationen, aber auch in die Völkermord-Konvention von 1948 annehmen. Die in der Staatengemeinschaft vorherrschende Ansicht, dass Jugoslawien jedoch 1992 untergegangen ist 141 und Serbien (damals mit Montenegro) erst 2000 in die UNO „neu“ aufgenommen wurde, hatte daher die logische Konsequenz, dass der IGH in den 1999 anhängig gemachten und 2004 entschiedenen Klagen Serbiens gegen 10 NATO-Staaten wegen des Kosovo-Konflikts diese für unzulässig hielt; denn Serbien sei (noch) kein UN-Staat und daher nicht gem. Art. 35 IGH-Statut klageberechtigt gewesen. In seinem Fhoskova Urteil vom 26. Februar 2007 zur Klage Bosnien-Herzegowinas gegen Serbien und Montenegro wegen Verletzung der Völkermord-Konvention hingegen bejahte die Mehrheit der Richter die Parteifähigkeit Serbiens mit der Begründung, eine entsprechende Zulässigkeitsentscheidung von 1996 habe materielle Rechtskraft erlangt (res judicata). Diese Widersprüchlichkeit ist nur ein Beispiel für die Folgen einer Tendenz, nach der Fragen der Staatennachfolge in der Praxis eher anhand tagespolitischer Erwägungen als im Rahmen klarer völkerrechtlicher Grundsätze entschieden werden. 138 Vgl. T. Schweisfurth, Das Recht der Staatensukzession, BDGVR 35 (1995), 113ff. 139 Siehe 8. Auflage, 108. 140 Siehe das IGH-Urteil vom 03.02.2003 im Fall Application for Revision of the Judgment of July  in the Case Concerning Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Yugoslavia), Preliminary Objections (Yugoslavia v. Bosnia and Herzegovina); hierzu R.-Geiß, Revision Proceedings before the International Court of Justice, ZaöRV 63 (2003), 167ff. 141 Kritisch hierzu B. Kempen/ C. Hillgruber, Völkerrecht, 2. A., 2012, §-20, Rn.-56. <?page no="125"?> 89 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte 2.1.7.4 Die Wiedervereinigung Deutschlands im Lichte der Regeln über die Staatennachfolge Wie bereits im Vorstehenden angedeutet, erhob sich auch im Zusammenhang mit der Einigung Deutschlands im Jahre 1990 die Frage nach der Fortgeltung der von den beiden deutschen Staaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge. 142 Da die Völkerrechtssubjektivität und die völkerrechtliche Kontinuität der Bundesrepublik Deutschland durch die Wiedervereinigung nicht berührt wurde, stand die Fortgeltung der von ihr geschlossenen Verträge außer Zweifel. Auch die Bindung an die vor 1945 vom Völkerrechtssubjekt Deutschland abgeschlossenen Verträge war angesichts der Fortexistenz des Völkerrechtssubjekts Deutschland nach 1945 143 in der Form der (Teil-) Identität mit der Bundesrepublik Deutschland unzweifelhaft, da bereits keine Staatensukzession vorlag. Zu klären war lediglich die Erstreckung der von der Bundesrepublik Deutschland vor dem 03. Oktober 1990 abgeschlossenen Verträge auf das Gebiet der neuen Bundesländer. Da die DDR zum selben Zeitpunkt als Völkerrechtssubjekt zu existieren aufgehört hatte, verloren nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts von diesem Zeitpunkt an auch die von ihr geschlossenen Verträge ihre Gültigkeit. Dies hätte an sich das Erlöschen des Einigungsvertrags 144 selbst zu dem genannten Zeitpunkt zur Folge gehabt. Jedoch bestimmt Art. 45 Abs. 2 des Einigungsvertrags ausdrücklich, dass der Einigungsvertrag nach Wirksamwerden des Beitritts als Bundesrecht der Bundesrepublik Deutschland fortgilt. Da im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur untergegangenen DDR ein Fall der Staatensukzession vorlag, war die Frage der Fortgeltung, Änderung oder Beendigung der völkerrechtlichen Verträge der DDR im Einigungsvertrag zu regeln. Die betreffenden Vorschriften des Einigungsvertrags (Art. 11 und 12) stellen ein Devolutionsabkommen dar. Art. 11 des Einigungsvertrags bekräftigt, dass die Verträge der Bundesrepublik Deutschland einschließlich solcher Verträge, die Mitgliedschaften in internationalen Organisationen oder Institutionen begründen, ihre Gültigkeit behalten und die daraus folgenden Rechte und Verpflichtungen sich grundsätzlich auch auf das Gebiet der ehemaligen DDR, d.-h. der neuen Bundesländer, beziehen. Jedoch wird in Art. 11 S.-2 hinzugefügt: „Soweit im Einzelfall Anpassungen erforderlich werden, wird sich die gesamtdeutsche Regierung mit den jeweiligen Vertragspartnern ins Benehmen setzen.“ Bezüglich der Verträge der DDR umreißt Art.- 12 des Einigungsvertrags eine Regelung, mit deren Hilfe die Frage der Fortgeltung, Anpassung oder Beendigung dieser Verträge im Einvernehmen mit den Vertragspartnern der DDR gelöst werden kann. In ihrer Denkschrift zum Einigungsvertrag erklärte die Bundesregierung, dass der Einigungsvertrag den gesamten Bereich der Fortgeltung völkerrechtlicher Verträge nicht im Einzelnen regeln konnte. „Die Parteien des Einigungsvertrages beschränken sich deshalb auf Grundprinzipien, die nach Herstellung der Einheit für die weitere Behandlung der völkerrechtlichen Verträge und Ver- 142 Insgesamt zu Fragen der Wiedervereinigung siehe I.-von Münch, Deutschland: gestern - heute - morgen, Verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Probleme der deutschen Teilung und Vereinigung, NJW 44 (1991), 865ff. 143 Vgl. dazu BVerfGE 36, 1. 144 In Auszügen abgedruckt in Sartorius II, Nr.-605. <?page no="126"?> 90 2. Die Völkerrechtssubjektivität einbarungen maßgeblich sein sollen.“ Speziell zu Art.-11 erklärte die Denkschrift: „Die Vertragsparteien folgen ferner dem völkerrechtlichen Grundsatz der ‚beweglichen Vertragsgrenzen‘.“ 145 2.1.8 Exkurs: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker Es ist vielsagend, dass der einzige völkerrechtliche Fachausdruck, in dem das Staatsbegriffselement „Volk“ ausdrücklich genannt wird, völlig aus dem Rahmen der Grundstruktur des Völkerrechts herausfällt. Das Völkerrecht ist kein Recht der Völker, sondern in erster Linie ein Recht der souveränen Staaten. Dennoch entstand im 20.-Jahrhundert das Selbstbestimmungsrecht der Völker, und es ist kein Zufall, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker genau zu jenem Zeitpunkt auf der völkerrechtlichen Ebene in Erscheinung trat, in dem der große Umbruch des Völkerrechts begann, nämlich am Ende des Ersten Weltkriegs. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist heute eine der Bestimmungsgrößen des Völkerrechts im Umbruch, von dem bereits oben (siehe Kap.-1.3.5.3) die Rede war. Die zutreffend auch von Russland aufgeworfene Frage der Geltung des Selbstbestimmungsrechts der Völker sollte durch das von Russland inszenierte Referendum der Bewohner der Krim beantwortet werden. 146 Auch in anderen Staaten Europas wie etwa in Nordirland und aktuell in Spanien mit dem nach Unabhängigkeit strebenden Katalonien steht die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf der politischen Tagesordnung. 147 Die Idee der individuellen Selbstbestimmung entstammt der Philosophie der Aufklärung. Der Übergang vom Einzelrecht zum Gruppenrecht zeigte sich bereits in dem Ringen um die Religionsfreiheit. Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker konnte jedoch erst nach der Herausbildung des politischen Volksbegriffs beginnen. Dieser entstand erst im 19.- Jahrhundert. Die mittelalterlichen Herrschaftsverbände waren so organisiert, dass das Volk darin nicht als politische Größe erschien. In der Neuzeit trat der moderne Staat zunächst in der Form der absoluten Monarchie auf, in der das Untertanenverhältnis im Vordergrund stand. Die Monarchen erwarben Gebietsteile ohne Rücksicht auf die Nationalität der darin lebenden Menschen. Erst im 19.-Jahrhundert begannen sich die Zuordnungen zu verschieben. Das Untertanenverhältnis wurde vom Staatsangehörigkeitsverhältnis (dazu oben Kap.- 2.1.5) verdrängt. Nach der Revolution von 1848 setzte sich der politische Volksbegriff durch, als dessen erster Theoretiker der Italiener P.S. Mancini gilt, der 1851 seine Antrittsvorlesung an der Universität Turin über „Die Nationalität als Grundlage des Völkerrechts“ hielt. Dem in der Folgezeit entwickelten „Nationalitätsprinzip“ gab der schweizerische Staatsrechtler Johann Caspar Bluntschli eine präzise Form: „Jede Nation ein Staat. Jeder Staat ein nationales Wesen.“ 145 Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode, Drucksache 11/ 7760, 362; zum gesamten Fragenkomplex vgl. D.-Blumenwitz/ G.-Gornig, Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands, 2 Bde., 1992; R. Wittkowski, Die Staatensukzession in völkerrechtlichen Verträgen unter besonderer Berücksichtigung der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, 1992. 146 A. Peters, in: C. Calliess (Hg.), Staat und Mensch im Kontext des Völker- und Europarechts. Liber Amicorum für Torsten Stein, The Crimean Vote of March 2014 as an Abuse of the Institution of the Territorial Referendum, 255ff.; S. F. van den Driest, Crimea’s Separation from Ukraine: An Analysis of the Right to Self-Determination and (Remedial) Secession in International Law, NILR 62 (2015), 329ff. 147 Siehe etwa P. Hilpold (Hg.), Autonomie und Selbstbestimmung in Europa und im internationalen Vergleich, 2016. <?page no="127"?> 91 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte Von Anfang an war klar, dass sich das Nationalitätsprinzip vor allem gegen die Vielvölkerstaaten wandte. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der erste Theoretiker des Selbstbestimmungsrechts, Karl Renner, in einem Vielvölkerstaat wirkte. 148 Auf die internationale Ebene gelangte die Selbstbestimmungsidee erst durch den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Die Reihe seiner diesbezüglichen Verlautbarungen begann mit der Friedensbotschaft vom 22. Januar 1917. In den Friedensschlüssen nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Selbstbestimmungsrecht jedoch keineswegs ausnahmslos verwirklicht. Denjenigen Nationalitäten, die zu den Siegern gezählt wurden, gestatteten die Siegermächte die Gründung von Pseudo-Nationalstaaten unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht. Da diese Staaten aber gleichzeitig die historischen Grenzen der alten Vielvölkerstaaten für sich beanspruchten, wurden sie selbst zu Vielvölkerstaaten, die denjenigen Nationalitäten, die nicht zu den Staatsnationen gehörten, das Selbstbestimmungsrecht verweigerten. Nur in einigen Gebieten (Oberschlesien, Masuren, Kärnten) wurden in den Jahren 1920 und 1921 Abstimmungen auf Grund der Friedensverträge von Versailles und St. Germain durchgeführt. Die daran anschließende Grenzziehung durch die Siegermächte entsprach allerdings nicht ganz dem Ergebnis dieser Abstimmungen. 149 Nur in einem einzigen Fall gelang es, das Selbstbestimmungsrecht der Völker bereits in der Völkerbundära wirksam ins Spiel zu bringen. Als Finnland 1917 seine Unabhängigkeit erlangte, forderte es für sich die historischen Grenzen des zaristischen Russland und damit die Einverleibung der von einer schwedischen Bevölkerung bewohnten Åland-Inseln, die vorher zusammen mit Finnland zu Russland gehört hatten, in den finnischen Staat. Die Bevölkerung der Inseln verlangte unter ausdrücklicher Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht den Anschluss an Schweden. Mit Hilfe der britischen Regierung brachte Schweden den Fall vor den Völkerbund, der ein internationales Expertenkomitee unter dem Vorsitz des schweizerischen Völkerrechtlers Max Huber einsetzte. Das Komitee legte am 20. September 1920 dem Völkerbundrat ein Gutachten vor, in dem das Selbstbestimmungsrecht der Völker als ein „Prinzip“ bezeichnet wurde, das in bestimmten Situationen Anwendung finde, aber nicht zu echten Rechtsansprüchen führen könne, weil die Völkerbundsatzung das Selbstbestimmungsrecht noch nicht als einen völkerrechtlichen Rechtssatz anerkannt hatte. 150 Dennoch forderte der Völkerbundrat Finnland auf, ein Autonomiestatut für die Åland-Inseln zu erlassen. Finnland kam der Aufforderung nach. Das noch heute geltende Autonomiestatut für die Åland-Inseln, das durch wiederholte Novellierungen noch verbessert worden ist, garantiert den auf diesen Inseln lebenden 148 Vgl. K.-Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 2.-A., 1918; die 1.-A.-dieses Buches war 1902 in Wien unter dem Pseudonym „R. Springer“ und mit dem Titel „Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat“ erschienen; es war das erste wissenschaftliche Werk über das Selbstbestimmungsrecht; zwischen der 1. und 2.-A.-dieses Buches erschien ferner das Werk des Österreichers O. Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, 1907; um diese Werke und das ganze Nationalitätenproblem in Österreich zu studieren, wurde im Jahre 1913 der junge Josef Dschugaschwili, der spätere Stalin, nach Wien gesandt; er hielt sich dort einige Zeit auf und berichtete später in einer Artikelserie in der Zeitschrift Prosweschtschenje über seine Erfahrungen; die Sowjetunion bekannte sich dann ausdrücklich zum Selbstbestimmungsrecht als „Grundlage der sowjetischen Föderation“, siehe etwa A.-Wyschinsky, The Law of the Soviet State, 1954, 249. 149 Vgl. O. Kimminich, Der Selbstbestimmungsgedanke am Ende des Ersten Weltkrieges - Theorie und Verwirklichung, in: R. Breyer (Hg.), Deutschland und das Recht auf Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg, 1986, 11ff. 150 Hierzu H. Raschhofer, Selbstbestimmung und Völkerbund, 1969. <?page no="128"?> 92 2. Die Völkerrechtssubjektivität Schweden im Rahmen des finnischen Staatsverbandes Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie, vor allem aber die Erhaltung ihrer Sprache und Kultur, und bietet einen wirksamen Schutz vor Überfremdung. Im Gegensatz zur Völkerbundsatzung erwähnt die Charta der Vereinten Nationen das Selbstbestimmungsrecht der Völker ausdrücklich, und zwar in Art. 1 Ziff.  und in Art. . An beiden Stellen wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker als eine Grundlage der Beziehungen zwischen den Staaten bezeichnet. Die anfängliche Unsicherheit bezüglich der juristischen Bedeutung dieser Chartabestimmungen - der französische Text verwendet ausdrücklich den Ausdruck „Recht“, während der englische sich mit dem Wort „Prinzip“ begnügt -, ist längst überwunden. Durch die langjährige Praxis der Vereinten Nationen ist Klarheit in dem Sinne geschaffen worden, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker eine echte Norm des Völkerrechts ist. 151 Etliche Autoren gehen noch einen Schritt weiter und betrachten das Selbstbestimmungsrecht als eine zwingende Völkerrechtsnorm (ius cogens). 152 Nur selten wird noch die Auffassung vertreten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker habe ius cogens-Charakter - oder überhaupt Rechtsnormcharakter-- nur im Zusammenhang mit der Entkolonisierung gehabt. 153 Die hartnäckigen Leugner des Selbstbestimmungsrechts der Völker verweisen auf den Grundsatz „uti possidetis“, den der IGH im Grenzstreit zwischen Mali und Burkina Faso zur Anwendung gebracht hat. 154 Er besagt, dass bestehende Grenzen nicht durch die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts verändert werden dürfen. Dies mag in der Entkolonisierungsdekade der sechziger Jahre dazu beigetragen haben, die Lage in einigen Teilen Afrikas zu stabilisieren. Der dafür bezahlte Preis war allerdings sehr hoch, denn die Aufrechterhaltung der in der Kolonialzeit gezogenen Grenzen verlängerte in vielen Fällen die gewaltsame Teilung von Völkern. Es ist deshalb fraglich, ob dieser Grundsatz als allgemeines Prinzip des Völkerrechts akzeptiert werden kann. 155 151 So schon K.-Doehring, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz des Völkerrechts, BDGVR 14 (1974), 47f.; siehe auch S. Oeter, Self-Determination, Rn.- 1, in: B.- Simma et al. (Hg.), Charter of the United Nations, 3.- A., 2012, 313ff.; D.- Thürer/ T. Burri, Self-Determination (Dezember 2008), MPEPIL (Online-Ed.). 152 So insbesondere H.-Gros Espiell, The Right to Self-Determination, 2 Bde., 1980/ 81; ders., Der Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker in heutiger Sicht, VN 30 (1982), 54ff.; ders., Self-Determination and ius cogens, in: A.-Cassese (Hg.), UN Law-Fundamental Rights, 1979, 167ff. 153 Vgl. O. Kimminich, Die Renaissance des Selbstbestimmungsrechts nach dem Ende des Kolonialismus, in: FS Meissner, 1985, 601ff. 154 Vgl. IGH, Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali), Urteil vom 22.12.1986, ICJ Reports 1986, 554. 155 J.- Frowein, Self-Determination as a Limit to Obligations under International Law, in: C.- Tomuschat (Hg.), Modern Law of Self-Determination, 1993, 216, bezweifelt zudem, ob die europäische Schiedskommission (Badinter-Kommission) das uti possidetis-Prinzip im Falle des ehemaligen Jugoslawiens zutreffend angewendet hat, und beklagt die „Kühnheit“, mit der in dem diesbezüglichen Gutachten vom 02.11.1991 (abgedruckt in EJIL 3 (1992), 183f.) die Unveränderbarkeit der Grenzen unter Bezugnahme auf das genannte Prinzip gefordert wurde; zur Geschichte dieses Prinzips vgl. S. Torres Bernárdez, The „Uti Possidetis Juris Principle“ in Historical Perspective, in: FS Karl/ Zemanek, 1994, 162ff.; siehe freilich auch C.-Simmler, Das uti possidetis-Prinzip, 1999, die den Grundsatz dem universellen Völkergewohnheitsrecht zurechnet. <?page no="129"?> 93 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte Eine starke Bekräftigung erhielt das Selbstbestimmungsrecht der Völker durch die beiden internationalen Menschenrechtspakte vom 19. Dezember 1966. Sie erklären in ihrem Art. 1 übereinstimmend: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung“. In den Durchführungsabkommen zu diesen Menschenrechtspakten wird das Selbstbestimmungsrecht definiert als Recht der Völker, „frei über ihren politischen Status zu bestimmen und frei ihre wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung zu verfolgen“. Die sog. Friendly Relations Declaration der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 24. Oktober 1970 (Resolution 2625/ XXV) 156 hat diese Definition noch verfeinert. Danach haben kraft der Selbstbestimmung „alle Völker das Recht, ohne Eingriff von außen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung frei zu verfolgen, und jeder Staat ist verpflichtet, dieses Recht in Übereinstimmung mit den Satzungsvorschriften zu achten“. Ferner heißt es in der Erklärung: „Die Errichtung eines souveränen und unabhängigen Staates, die freie Vereinigung oder Verschmelzung mit einem unabhängigen Staat oder der Übergang zu irgendeinem anderen, vom Volk frei bestimmten politischen Status stellen Verwirklichungen des Selbstbestimmungsrechts durch das betreffende Volk dar. Jeder Staat ist verpflichtet, von Gewaltmaßnahmen Abstand zu nehmen, die vorerwähnte Völker darin hindern, den hier in Rede stehenden Grundsatz ihres Rechts auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit zu verwirklichen. Solche Völker sind, wenn sie dergleichen Gewaltmaßnahmen in Verfolgung der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts Widerstand leisten, berechtigt, in Übereinstimmung mit den Ziel- und Grundbestimmungen der Satzung Unterstützung zu erbitten und zu erhalten.“ In der Essenz ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker freilich nur ein Formalprinzip, welches Völkern und Volksgruppen 157 das Recht gibt, in bestimmten Situationen über ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staatsverband zu entscheiden. Diese Entscheidung kann auch positiv ausfallen. Die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts muss also nicht zwangsläufig zur Zerstörung eines Vielvölkerstaates führen. Sie kann auch den Verbleib eines Volkes oder einer Volksgruppe in einem Vielvölkerstaat rechtlich fixieren. Allerdings besteht eine solche Hoffnung nur dort, wo die Existenz des Volkes bzw. der Volksgruppe, ihre wirtschaftliche Sicherung und die Erhaltung ihrer Sprache und Kultur mit oder ohne völkerrechtliche Absicherung durch die Verfassung und die Gesetze des Gesamtstaates gewährleistet sind. Dies kann durch die Gewährung einer Autonomie oder durch föderalen Aufbau des Staatsgebiets entsprechend den Siedlungsgebieten seiner Völker und Volksgruppen erreicht werden. 158 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker darf daher nicht einfach mit dem Recht auf Sezession gleichgesetzt werden. Nur in einer bestimmten Situation spitzt sich das Selbstbestimmungsrecht zum Sezessionsrecht zu. 159 Das Selbstbestimmungsrecht schwebt insofern keineswegs wie ein ewiges Damoklesschwert über jedem souveränen Staat. 156 Abgedruckt in Sartorius II, Nr.-4. 157 Dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch „Teilen eines Staatsvolkes zusteht, ist mittlerweile ebenfalls unbestritten, vgl. D.-Frey, Selbstbestimmungsrecht, Sezession und Gewaltverbot, in: Schriftenreihe der Deutschen Gruppe der AAA, Bd. IX, 1994, 46. 158 Vgl. O. Kimminich, A „Federal“ Right of Self-Determination? , in: C.-Tomuschat (Hg.), Modern Law of Self-Determination, 1993, 83ff. 159 C. Tomuschat, Self-Determination in a Post-Colonial World, in: ders. (Hg.), Modern Law of Self-Determination, 1993, 9, beschreibt diese Situation anschaulich: „… wenn ein Staatsapparat zum Terror- <?page no="130"?> 94 2. Die Völkerrechtssubjektivität Fraglich ist also letztlich, in welcher Situation die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu einem Rechtsanspruch eines Volkes oder einer Volksgruppe auf Sezession von einem Gesamtstaatsverband, dem dieses Volk oder diese Volksgruppe bisher angehört hat, führen kann. Die Friendly Relations Declaration vom 24. Oktober 1970 sagt hierzu: „Nichts in den vorhergehenden Absätzen darf dahin ausgelegt werden, als solle dadurch irgendeine Handlung gerechtfertigt oder begünstigt werden, welche die Unversehrtheit des Gebiets oder die politische Einheit souveräner oder unabhängiger Staaten gänzlich oder teilweise zerstören oder antasten würde, wenn diese Staaten sich dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker entsprechend verhalten und dementsprechend über eine Regierung verfügen, die das gesamte zum Gebiet gehörige Volk ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt.“ Das bedeutet: Solange in einem Vielvölkerstaat das Selbstbestimmungsrecht der Völker beachtet wird, und das Verlangen eines Volkes oder einer Volksgruppe nach Autonomie oder Selbstregierung im Rahmen eines Föderalismus oder Regionalismus nicht gewaltsam unterdrückt oder eine formell gewährte Autonomie oder Föderalismusstruktur nicht auf subtile Weise von der Zentralregierung unterlaufen wird, kann das Selbstbestimmungsrecht nicht in ein Recht auf Sezession münden. Vielmehr ist das Recht auf Sezession eine Konsequenz der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts. Zu beachten ist schließlich, dass das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes oder einer Volksgruppe nicht durch die Gewährung eines Autonomiestatuts oder einer föderalen Struktur ein für alle Mal konsumiert werden kann. Diejenige Situation, in der nach geltendem Völkerrecht die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker auch zur Sezession vom Gesamtstaat berechtigt, 160 kann jederzeit durch repressive Maßnahmen des Gesamtstaates erneut herbeigeführt werden. In einer-solchen Situation ist es dem Gesamtstaat nicht erlaubt, auf den Verbrauch des Selbstbestimmungsrechts durch frühere verfassungsrechtliche Akte hinzuweisen. Trotz der bisher erreichten theoretischen Klarheit ist das größte in der Praxis noch immer schwer zu lösende Problem bei der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker das Verhältnis zwischen Selbstbestimmungsrecht und Gewaltverbot. Auch das Gewaltverbot, das in Art. 2 Ziff. 4 der Charta der Vereinten Nationen ausdrücklich bekräftigt wird, ist zwingendes Recht. Zusammen mit der aus ihm abgeleiteten allgemeinen Friedenspflicht ist es ein Eckpfeiler der geltenden Völkerrechtsordnung. Die Friendly Relations Declaration vom 24. Oktober 1970, die den unterdrückten Völkern das Recht einräumt, für ihren Widerstand gegen Gewaltmaßnahmen, mit denen sie an der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts gehindert werden sollen, Unterstützung zu erbitten und zu erhalten, darf nach der ganz überwiegenden Meinung der Völkerrechtslehre nicht zu einer Relativierung des Gewaltverbots führen. 161 Das ergibt sich aus dem Hinweis auf die „Übereinstimmung mit den Ziel- und Grundbestimmungen der Charta“ in der Friendly Relations Declaration. Nach geltendem Völkerrecht genießt daher das Gewaltverbot Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, obwohl beide Rechtsnormen in gleicher Weise zwingendes Völkerrecht darstellen. instrument wird, das bestimmte Bevölkerungsgruppen quält, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Gruppen weiterhin verpflichtet sind, loyal in dem betreffenden Staat zu verbleiben.“ 160 D.-Murswiek, The Issue of a Right of Secession - Reconsidered, in: C.-Tomuschat (Hg.), Modern Law of Self-Determination, 1993, 27, bezeichnet deshalb das Selbstbestimmungsrecht als eine „latente Option“. 161 Vgl. H.-Rumpf, UNO-Prinzipien im Widerspruch, in: FS Schlochauer, 1981, 577f. <?page no="131"?> 95 2.1 Die souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte Die Kritiker des Gewaltverbots meinen, dass der Vorrang des Gewaltverbots vor dem Selbstbestimmungsrecht dem letzteren jede Chance der Verwirklichung nehme. Sie übersehen, dass das Völkerrecht auch unter der Geltung des Gewaltverbots dem Völkerrechtsbrecher keinen Freibrief erteilt. Abgesehen davon, dass in vielen Situationen auf Völkerrechtsbrüche auch mit gewaltlosen Mitteln wirksam reagiert werden kann, kennt auch das geltende Völkerrecht das „naturgegebene“ Recht auf Notwehr an, wie Art. 51 der UN-Charta bekräftigt. Zwar steht dieses Recht nach dem genannten Artikel nur souveränen Staaten zu. Aber die in der Friendly Relations Declaration vom 24. Oktober 1970 beschriebene Situation gleicht derjenigen der Notwehr. Die Besonderheit beim Selbstbestimmungsrecht der Völker liegt darin, dass dieses Recht einem Rechtsträger (Volk oder Volksgruppe) zusteht, der kein souveräner Staat ist bzw. über keinen souveränen Staat verfügt. Das eigentliche Problem liegt daher darin, die Rechtsverwirklichung trotz mangelnder Völkerrechtssubjektivität zu ermöglichen. Die Charta der Vereinten Nationen bietet eine grundsätzliche Lösung für dieses Problem, die ebenfalls in Art. 51 UN-Charta angedeutet wird: die kollektive Reaktion auf den Völkerrechtsbruch. Jeder Einsatz kollektiver bewaffneter Macht auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen setzt jedoch einen Beschluss des Sicherheitsrats gemäß Art. 39 UN-Charta voraus, in dem festgestellt wird, dass eine Bedrohung oder ein Bruch des internationalen Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt. Die Friendly Relations Declaration vom 24. Oktober 1970 deutet die Möglichkeit an, dass in der Situation der gewaltsamen Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens gesehen werden könnte. In der bisherigen Praxis der Vereinten Nationen ist hierüber jedoch noch nicht entschieden worden. Einseitige Maßnahmen eines Staates, der einem um die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts kämpfenden Volk mit militärischen Mitteln zu Hilfe eilen will, stoßen an die Grenze des im geltenden Völkerrecht fest verankerten Gewalt- und Interventionsverbots (vgl. dazu unten Kap.-5.1 und 5.2). Auf Grund des Vorrangs des Gewaltverbots sind militärische Maßnahmen von dem Recht auf Hilfeleistung ausgeschlossen. In Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen kommen sie nur als kollektive Maßnahmen im Rahmen des VII. Kapitels der UN-Charta in Frage. Dies erklärt die militärische Zurückhaltung der einzelnen Staaten und Bündnisgruppen in Krisengebieten wie z.-B. im ehemaligen Jugoslawien. In der Literatur ist darauf hingewiesen worden, dass durch die Rechtsakte der europäischen Organisationen (OSZE, EU) regionales Völkerrecht entstanden ist, das in Bezug auf die Voraussetzungen des zum Sezessionsrecht erstarkten Selbstbestimmungsrecht der Völker großzügiger ist. 162 Am Gewaltverbot kann aber auch regionales Völkerrecht nicht rütteln. Und vor allem bleibt stets zu berücksichtigen, dass Völker und Volksgruppen zwar Träger des Selbstbestimmungsrechts der Völker sind, dass ihnen aber nach wie vor die Völkerrechtssubjektivität verwehrt bleibt (dazu auch unten Kap.-2.4.4). Dieser Status ist in diesem Kontext den souveränen Staaten vorbehalten. Der heutige Stand der Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht lässt sich damit wie folgt zusammenfassen: Als in Art. 1 Ziff. 2 und Art. 55 der UN-Charta und in den Menschenrechtspakten von 1966 genannt ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker heute auch, vornehmlich auf Grund- 162 D.-Frey, Selbstbestimmungsrecht, Sezession und Gewaltverbot, in: Schriftenreihe der Deutschen Gruppe der AAA, Bd. IX, 1984, 74. <?page no="132"?> 96 2. Die Völkerrechtssubjektivität lage der Generalversammlungsresolutionen 1514 (XV) und 2625 (XXV), gewohnheitsrechtlich anerkannt. Das hat der Internationale Gerichtshof etwa im Gutachten zur Westsahara 163 und zuletzt im Ost-Timor-Fall 164 ausdrücklich bestätigt. Dabei ist, sieht man zunächst vom Dekolonisierungskontext ab, zwischen einem „inneren“ und einem „äußeren“ Recht der Völker auf Selbstbestimmung zu unterscheiden. 165 Das „innere“ Selbstbestimmungsrecht gibt neben dem Recht zur Bestimmung der politischen Regierungsform auch das Recht, frei und ohne äußere Einflussnahme über seine kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Dies kann, wenn es sich bei dem Volk um eine nach bestimmten Merkmalen zu bestimmende Minderheit auch innerhalb des Staatsvolkes handelt (dazu unten Kap.-2.4.4), auf die Bewahrung von Eigenheiten (Kultur, Sprache etc.) hinauslaufen. Ein Sezessionsrecht, also die Geltendmachung des „äußeren“ Selbstbestimmungsrechts, erwächst daraus schon wegen des generell geltenden Gewaltverbots und der vom Völkerrecht über die uti possidetis-Doktrin grundsätzlich für schützenswert erachteten Staatlichkeit bestehender Staaten nur unter ganz speziellen Bedingungen. Während des Dekolonisierungsprozesses wurde das Selbstbestimmungsrecht als ein Recht auf Loslösung aus dem bisherigen und Gründung eines eigenen Staatsverbandes für die früheren Kolonien anerkannt. Über diesen sehr spezifischen Kontext hinaus hat sich ein generelles Recht auf Sezession bislang nicht durchsetzen können, was etwa auch die Friendly Relations Declaration zeigt. Das Völkerrecht ist vielmehr bestrebt, einen Ausgleich zwischen territorialer Integrität der Staaten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zu suchen. Dies kann etwa zur Gewährung eines Autonomie Status oder zur Zuerkennung von Minderheitenschutzrechten im Staatsverband führen. Nur im Ausnahmefall, also etwa bei schwersten, die Kategorie völkerrechtlicher Verbrechen erreichenden Verletzungen des Völkerrechts und insbesondere der Menschenrechte, kann das „innere“ in ein „äußeres“ Selbstbestimmungsrecht und damit in ein Recht auf Lossagung vom bisherigen Staatsverband umschlagen. 166 2.2 Staatenverbindungen 2.2.1 Definitionen Schließen sich zwei oder mehrere Staaten zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks zusammen, spricht man gemeinhin von einer Staatenverbindung. Dem soll auch hier gefolgt werden, obwohl dieser Begriff sich, wie zutreffend festgestellt wird, 167 letzter dogmatischer Präzision entzieht. Gerade unter dem hier relevanten Gesichtspunkt, d.-h. der Frage, ob der Staatenzusammenschluss selbst Völkerrechtssubjektivität besitzt, ist entscheidend, in welcher Form der Zusammenschluss 163 IGH, Western Sahara, Gutachten vom 16.10.1975, ICJ Reports 1975, 12, dazu unten Kap.-15.2.10. 164 IGH, East Timor (Portugal v. Australia), Urteil vom 30.06.1995, ICJ Reports 1995, 90, vgl. für den aktuellen Stand der Diskussion K. Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-10, Rn. 6ff. 165 Vgl. D.-Murswiek, Die Problematik eines Rechtes auf Sezession - neu betrachtet, AVR 31 (1993), 307ff.; S. Oeter, Selbstbestimmungsrecht im Wandel - Überlegungen zur Debatte um Selbstbestimmungsrecht, Sezessionsrecht und „vorzeitige Anerkennung, ZaöRV 52 (1992), 741ff. 166 S. Oeter, Selbstbestimmungsrecht im Wandel - Überlegungen zur Debatte um Selbstbestimmungsrecht, Sezessionsrecht und „vorzeitige Anerkennung“, ZaöRV 52 (1992), 741, 772; D.-Murswiek, Die Problematik eines Rechts auf Sezession - neu betrachtet, AVR 31 (1993), 307, 325ff. 167 K.-Doehring, Völkerrecht, 2.-A., 2004, Rn.-126. <?page no="133"?> 97 2.2 Staatenverbindungen erfolgt. Völkerrechtssubjektivität ist heute in der Regel bei internationalen Regierungsorganisationen anzunehmen. Diese stellen allerdings ihrerseits bereits einen speziellen Typus der Staatenverbindung dar. Die überkommene Lehre hat als Grundtypen für Staatenverbindungen zumeist den Bundesstaat und den Staatenbund herausgestellt, obwohl diese Typisierung, wie noch zu zeigen ist, dem modernen Erscheinungsbild der Staatenverbindungen nicht mehr voll gerecht wird. ▶ Staatenbund: Bund von Staaten; Bund kein Völkerrechtssubjekt ▶ Bundesstaat: Bund wird Völkerrechtssubjekt; Einzelstaaten genießen Völkerrechtssubjektivität nach Maßgabe der innerstaatlichen Verfassung ▶ Internationale Organisation: vertraglicher Zusammenschluss von Staaten zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks, i.-d.-R. Völkerrechtssubjekt Bundesstaat. Ein Bundesstaat ist nämlich allenfalls dann, wenn er aus vormals souveränen Einzelstaaten zusammengesetzt ist, eine Staatenverbindung; hiernach ist es, wie das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland zeigt (vgl. Art. 20 Abs. 1, 32 und 59 GG) gerade der Sinn des Bundesstaats, nur noch als Gesamtstaat Völkerrechtssubjektivität zu besitzen, den in ihm aufgehenden Einzelstaaten aber gerade nicht mehr diese Subjektivität zukommen zu lassen. Der Bundesstaat ist somit auf völkerrechtlicher Ebene Inhaber der Gebietshoheit, der Personalhoheit (eine einheitliche Staatsangehörigkeit im Bundesgebiet), Haftungsadressat im Fall der Verletzung völkerrechtlicher Pflichten etc. Zudem können die bundesstaatlichen Verfassungen den Einzelstaaten gewisse Rechtspositionen etwa im Bereich des Vertragsschlusses oder auch Vertretungsbefugnisse (vgl. etwa Art. 23 Abs. 6 GG) einräumen. Aber dies macht die Einzelstaaten nicht zu Subjekten des Völkerrechts, da sich ihre Handlungsfähigkeit nur nach der Maßgabe der bundesstaatlichen Verfassung richtet. Staatenbund. Bei einem Staatenbund hingegen - als ein solcher war der Deutsche Bund zwischen 1815 und 1866 zu bezeichnen - verlieren dessen Mitglieder nicht den Status der Völkerrechtssubjektivität als Staaten und erlangt der Bund selbst keine Völkerrechtssubjektivität. Insofern ist hier in der Tat von einer Staatenverbindung zu sprechen, wie sie heute etwa im Zusammenschluss der Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zu beobachten ist. 168 Internationale Regierungsorganisationen, also der vertragliche Zusammenschluss von Staaten als die bedeutendste Ausprägung der Staatenverbindung, können als ein moderner Typus des Staatenbundes dergestalt bezeichnet werden, dass sie, konkreter als der Staatenbund, eine feste 168 Dazu T. Schweisfurth, Vom Einheitsstaat (UdSSR) zum Staatenbund (GUS) - Juristische Stationen eines Staatenzerfalls und einer Staatenbundentstehung, ZaöRV 52 (1992), 541ff. <?page no="134"?> 98 2. Die Völkerrechtssubjektivität Struktur durch ihre auf Dauer bestellten Organe und einen vertraglich fest umrissenen Zweck besitzen. Sie besitzen in der Regel eigene Völkerrechtssubjektivität, die unabhängig von derjenigen der Mitgliedstaaten ist (im Einzelnen siehe dazu unten Kap.-2.2.2). Nur der Vollständigkeit halber sei auf einige weitere, zumeist der Vergangenheit angehörende Formen von Staatenverbindungen hingewiesen: Das völkerrechtliche Protektorat beruht auf einem völkerrechtlichen Vertrag, in welchem der protegierte dem protegierenden Staat unter Verlust eigener Völkerrechtssubjektivität untergeordnet ist. 169 Das Kondominium (dazu bereits Kap.-2.1.6) zeichnet sich dadurch aus, dass zwei oder mehrere Staaten über ein Gebiet gemeinsam Souveränitätsrechte ausüben, das Gebiet also über keine autonome Staatsgewalt verfügt und deshalb kein eigenständiges Völkerrechtssubjekt ist. Die bis 1980 andauernde gemeinsame Ausübung der Souveränitätsrechte für die Neuen Hebriden durch Frankreich und Großbritannien stellte ein solches Kondominium dar. 170 Wird gemeinsame Gebietshoheit über ein den beteiligten Staaten fremdes Gebiet ausgeübt, spricht man von Koimperium. Als ein solches war die Zone von Tanger in der Zeit zwischen 1923 und 1956 zu qualifizieren; sie gehörte zwar zu Marokko, trat aber seit 1924 in ein protektoratsähnliches Regime der an der Algeciras-Akte beteiligten Staaten ein. 171 Eine Staatenverbindung, die durch das gleiche Staatsoberhaupt (z.- B. König oder Königin von Großbritannien) begründet wird, wird als Personal- oder Realunion bezeichnet. Die Partner bleiben selbständige Staaten. Dies war die Grundlage des britischen Empire. Das spätere britische Commonwealth of Nations ist indes durch die Tatsache gekennzeichnet, dass es aus konstitutionellen Monarchien wie auch aus Republiken besteht, so dass sich die besonderen Beziehungen der Mitglieder des Commonwealth kaum mehr von den gewöhnlichen zwischenstaatlichen Beziehungen unterscheiden. Kolonien, Mandate und Treuhandgebiete können zwar über ein beträchtliches Maß an Selbstverwaltung verfügen, sind indes jedoch keine selbständigen Völkerrechtssubjekte. Im Zuge der abgeschlossenen Dekolonisierung hat die rechtliche Typisierung praktisch keine aktuelle Relevanz mehr, auch wenn man etwa in der Erscheinungsform des failed State (dazu bereits oben Kap.-2.1.6) dann, wenn die internationale Gemeinschaft dort eine Art Übergangsadministration errichtet hat, manche Ähnlichkeit zu einem Treuhandgebiet erkennen kann. Die nachfolgende Darstellung soll sich nunmehr an der wichtigsten Erscheinungsform der organisierten Staatenverbindung, der internationalen Organisation, orientieren. 169 Zum Status Monacos als „Quasi-Protektorat“ siehe G .Guidi, Monaco (September 2007), MPEPIL (Online-Ed.). 170 Dazu D. P. O’Connell, The Condominium of the New Hebrides, BYIL 43 (1968/ 69), 71ff. 171 Erklärung der internationalen Tangerkonferenz vom 29.10.1956 zur Beendigung dieses Regimes, abgedruckt in EA 12 (1957), 947ff. <?page no="135"?> 99 2.2 Staatenverbindungen 2.2.2 Internationale Organisationen Einführende Literatur: Schmalenbach, Kirsten, International Organizations or Institutions, General Aspects (Juli 2014), MPEPIL (Online-Ed.). Mit der vorangestellten Präzisierung können die internationalen Organisationen als Fortentwicklung der Staatenbünde bezeichnet werden. Die Unterscheidung zu den herkömmlichen Staatenverbindungen rechtfertigt sich dadurch, dass der Zweck internationaler Organisationen spezifischer ist als der Zweck von Staatenverbindungen der herkömmlichen Art. Ihre Entstehung verdanken sie der sich schon im 19.-Jahrhundert ansatzweise ausbreitenden Erkenntnis, dass bestimmte Aufgaben wegen ihres staatenübergreifenden Charakters nicht länger von den einzelnen Staaten allein bewältigt werden konnten, es vielmehr dafür einer neuen Form institutionalisierter zwischenstaatlicher Zusammenarbeit bedurfte. Ab 1815 kam es zu Zwecken einer effektiveren Verwaltung internationaler Wasserläufe, wie etwa für Rhein und Donau, zur Gründung internationaler Flusskommissionen. Zu diesen traten seit 1865 eine Reihe sog. Verwaltungsunionen, wie die Internationale Telegraphenunion und der Weltpostverein hinzu. Die jenen „Organisationen“ - dieser Terminus begann sich erst langsam durchzusetzen - auferlegten Aufgaben beschränkten sich zunächst auf vornehmlich technische Materien, wie eben die Administration internationaler Wasserläufe und die Aufstellung internationaler Regeln für den Post- und Telegraphenverkehr, so dass ihre Existenz in keiner Weise mit der Souveränität ihrer Mitgliedstaaten kollidieren konnte. Mit dem Völkerbund 1919 beginnt sich dann durch die Einbeziehung der Friedenssicherungsidee als einem institutionalisierten Sicherungsmechanismus der auch heute noch in der Organisation der Vereinten Nationen anzutreffende Prototyp einer internationalen Organisation mit universalem Anspruch herauszuschälen. 172 Für diesen neuen Prototyp stellt sich, je nach Maßgabe der von der internationalen Organisation zu bewältigenden Aufgaben, die Frage, ob und insbesondere inwieweit die Souveränität der Mitgliedstaaten nicht jedenfalls einer durch die Mitgliedschaft begründeten Modifikation unterworfen ist. Internationale Organisationen besitzen in der Regel Völkerrechtssubjektivität. 173 Sie können als auf Dauer angelegte Vereinigungen von zwei oder mehr Staaten auf dem Gebiet des Völkerrechts, die Aufgaben selbständig wahrnehmen und über eigene handlungsbefugte Organe verfügen, beschrieben werden. 174 Die Staaten, die eine internationale Organisation gründen, haben es allerdings in der Hand, über die Völkerrechtsfähigkeit der von ihnen geschaffenen Organisation zu entscheiden. Ob und in welchem Umfang die einzelne internationale Organisation die Völkerrechtssubjektivität besitzt, ergibt sich aus ihrer jeweiligen Satzung. Diese ist ein multilateraler Vertrag, der von den Gründungsmitgliedern ausgearbeitet und in Kraft gesetzt wird. Je nachdem, 172 Zur Entstehungsgeschichte der internationalen Organisationen vgl. K.-Dicke, Effizienz und Effektivität internationaler Organisationen, 1994, 45ff.; B.-Faßbender, Die Völkerrechtssubjektivität internationaler Organisationen, ÖZöRV 37 (1986/ 87), 17f. 173 So für die Vereinten Nationen das Urteil des IGH vom 11.04.1948 über den Ersatz von im Dienste der Vereinten Nationen erlittenen Schäden, IGH, Reperation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Gutachten vom 11.04.1949, ICJ Reports 1949, 174; dazu unten Kap.-15.2.2. 174 K.-Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-8, Rn.-2ff. <?page no="136"?> 100 2. Die Völkerrechtssubjektivität ob in der Satzung die Möglichkeit zum Beitritt anderer Staaten eröffnet wird oder nicht, spricht man von einer offenen oder von einer geschlossenen Organisation. Der Beitritt zur Satzung ist gleichbedeutend mit dem Beitritt zur Organisation. Besitzt die internationale Organisation die Völkerrechtsfähigkeit, so richtet sich deren Umfang nach der Zielsetzung der Organisation, die ebenfalls aus der Satzung ersichtlich ist. Da alle internationalen Organisationen im Vergleich zum souveränen Staat nur eine begrenzte Zielsetzung aufweisen, kommt für sie grundsätzlich nur eine partielle Völkerrechtssubjektivität in Frage. Diese besteht - im Gegensatz zu derjenigen der Staaten als den „geborenen“ Völkerrechtssubjekten - nicht automatisch, sondern setzt die - sich zumeist schon im Gründungsvertrag widerspiegelnde - Anerkennung als Völkerrechtssubjekt durch die Staaten voraus. Insofern lässt sich allgemein folgende konsentierte Begrifflichkeit der internationalen Regierungsorganisation feststellen: Es handelt sich um einen Zusammenschluss von Staaten aufgrund völkerrechtlichen Vertrages zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks mit eigenem handlungsbefugtem Organ. Nach dem räumlichen Geltungsbereich der Satzung - oder mit anderen Worten: nach dem Kreis ihrer Mitglieder - wird zwischen universalen und regionalen Organisationen unterschieden. Erstere sind für den Beitritt aller Staaten der Erde geöffnet, Letztere erfüllen ihre Zwecke nur in einer bestimmten Region. Die volle Universalität haben von Anfang an vornehmlich der Völkerbund und die Organisation der Vereinten Nationen erstrebt. Während dem Völkerbund die Erreichung dieses Ziels schon wegen des Nichtbeitritts der USA unmöglich war, hat es die UNO mit 193 Mitgliedstaaten praktisch erreicht. Da die internationalen Organisationen ihrem Wesen nach völkerrechtliche Staatenverbindungen sind, bleibt die Völkerrechtssubjektivität ihrer Mitglieder (ungeschmälert) erhalten. Deren völkerrechtliche Handlungsfähigkeit ist allerdings entsprechend der Satzung insofern eingeschränkt, als gewisse Funktionen, die herkömmlicherweise von ihnen als souveräne Staaten in eigener Verantwortung erfüllt werden, nunmehr von der internationalen Organisation - bzw. von deren Organen - wahrgenommen werden. Jedoch wirken die Mitgliedstaaten an der Tätigkeit der Organisation satzungsgemäß mit, und zwar nicht nur bei der Schaffung der Organe, sondern auch bei deren Willensbildung. Auf der Grundlage des Prinzips der Staatengleichheit (vgl. unten Kap.-5.2) wird das geltende Völkerrecht von dem Grundsatz der Stimmengleichheit beherrscht, d.-h. jeder Mitgliedstaat einer internationalen Organisation hat nur eine Stimme, ohne Rücksicht auf seine Größe, sein militärisches Potenzial, seine Wirtschaftsmacht und sein weltpolitisches Gewicht. Von diesem Prinzip kann jedoch abgewichen werden, wenn die Mitgliedstaaten ihren diesbezüglichen Willen in der Satzung der Organisation bekundet haben. An die Stelle des Prinzips der Stimmengleichheit tritt dann das Prinzip der Stimmenwägung: die Mitgliedstaaten der Organisation bekommen je nach ihrer Bedeutung für die spezielle Aufgabe der Organisation eine Anzahl von Stimmen zugeteilt <?page no="137"?> 101 2.2 Staatenverbindungen (sog. weighted voting z.-B. bei IWF oder der Weltbank, siehe unten Kap. 9). Dies kann entweder so geschehen, dass den einzelnen Staaten jeweils eine feste Stimmenzahl zusteht, oder so, dass bestimmte Staatenkategorien innerhalb der Organisation über eine festgelegte Gesamtzahl von Stimmen verfügen, und schließlich so, dass die Anzahl der Stimmen von einer Bezugsgröße abhängt, die in Verbindung mit der speziellen Aufgabe der Organisation steht - z.-B. Truppenstärke, Bevölkerungszahl, Produktionsvolumen, finanzielle Beteiligung usw. -, was zur Folge hat, dass sich das Stimmengewicht der einzelnen Staaten verändern kann. 175 Es ist bereits festgestellt worden, dass die Existenz internationaler Organisationen vom Willen der Mitgliedstaaten abhängt, diese also im Gegensatz zu den Staaten nicht „geborene“, sondern „gekorene“ Subjekte des Völkerrechts sind. Sie besitzen zudem in der Regel völkerrechtliche Handlungsfähigkeit, also insbesondere die Fähigkeit zum Vertragsschluss und zum diplomatischen Verkehr. 176 Allerdings können aus der festgestellten Rechtsfähigkeit der internationalen Organisationen nicht pauschal ihre Handlungsfähigkeit sowie die aktive und passive Deliktsfähigkeit abgeleitet werden. Vielmehr bedarf es dazu der Begründung durch das jeweilige Organisationsrecht. Die - freilich bislang nicht in Kraft getretene - „Wiener Konvention über das Recht der Verträge zwischen Staaten und Internationalen Organisationen sowie zwischen Internationalen Organisationen“ von 1986 macht u.-a. die generelle Vertragsschlusskompetenz der internationalen Organisationen deutlich. Internationale Organisationen besitzen zudem in der Regel, aber wiederum abhängig vom Willen der Mitgliedstaaten, das aktive und passive Gesandtschaftsrecht. Ihre Immunität bzw. die Immunität ihrer Bediensteten richtet sich von Fall zu Fall nach den Vereinbarungen des jeweiligen Sitzstaatsabkommens. Problematisch und umstritten bleibt dabei die Beantwortung der Frage, ob und in welchem Umfang ein Durchgriff von Gläubigern auf die die internationale Organisation bildenden Mitgliedstaaten möglich ist. 177 Der einzig wirklich streitige Fall des internationalen Zinnrats endete in den 1970er Jahren mit einem Vergleich. 178 Die Haftung internationaler Organisationen und insbesondere die Frage, ob diese ausschließlich oder nur neben den Mitgliedstaaten bei der Begehung völkerrechtlicher Delikte haften, ist ebenfalls nicht allgemein, sondern nur von Fall zu Fall zu beurteilen. Für die Organisation der Vereinten Nationen ist diese Frage vom Internationalen Gerichtshof positiv beantwortet worden. 179 175 J.-Kranz, Le vote pondéré dans les organisations internationales, RGDIP 85 (1981), 313ff.; H.A.-Schwarz- Liebermann von Wahlendorf, Mehrheitsentscheid und Stimmenwägung, 1953; E.- McIntyre, Weighted Voting in International Organizations, IO 8 (1954), 484ff.; H.-Newcombe/ C.-Young/ E.-Sinaiko, Alternative Pasts: a Study of Weighted Voting at the United Nations, IO 31 (1977), 579ff. 176 IGH, Reperation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Gutachten vom 11.04.1949, ICJ Reports 1949, 174, 179; dazu unten Kap.-15.2.2. 177 Vgl. dazu N. Ruffert/ C. Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, §-7 III. 178 Vgl. dazu N. Ruffert/ C. Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, §-7 III, Rn. 232ff. 179 IGH, Reperation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Gutachten vom 11.04.1949, ICJ Reports 1949, 174. Seit dem Jahre 2011 geben die „Draft Articles on the Responsibility of International Organizations“ der International Law Commission darüber Auskunft. Danach ist grundsätzlich bei zurechenbarem Handeln eines Organs die Haftung der internationalen Organisation eröffnet - insgesamt sind diese Regeln ähnlich denen zur Staatenverantwortlichkeit (vgl. unten Kap. 6.2). In dieser Hinsicht <?page no="138"?> 102 2. Die Völkerrechtssubjektivität Die Gesamtzahl aller internationalen Organisationen auf der ganzen Welt kann nicht mit Sicherheit angegeben werden, da alle Weltstatistiken mit großer Verzögerung publiziert werden und im Augenblick ihrer Veröffentlichung meist überholt sind. 180 Die allgemeine Tendenz zur Vermehrung der internationalen Organisationen ist jedoch unverkennbar. Der Grund dafür liegt in der Tatsache begründet, dass das „Völkerrecht der Zusammenarbeit“ ein Mindestmaß an Institutionalisierung erfordert. Zugleich bewirkt die Ausdehnung des Wirkungsbereichs des Völkerrechts ein Anwachsen der materiellen Aufgaben internationaler Organisationen. 181 2.2.3 Insbesondere: Die Organisation der Vereinten Nationen Einführende Literatur: Payandeh, Mehrdad, Einführung in das Recht der Vereinten Nationen, JuS 52 (2012), 506ff. 2.2.3.1 Allgemeines Die Bedeutung der Organisation der Vereinten Nationen (United Nations Organization, UNO; Organisation des Nations Unies, ONU) für die allgemeine Entwicklung des Völkerrechts ist bereits mehrfach angedeutet worden. Mit Recht wird die gegenwärtige Epoche des Völkerrechts auch als „UNO-Ära“ bezeichnet. Mit dem Vorläufer der UNO, dem Völkerbund (Satzungsunterzeichnung am 28. Juni 1919, Inkrafttreten der Satzung am 10. Januar 1920, Auflösung am 19. April 1946), endete die Epoche des klassischen Völkerrechts und begann das Völkerrecht der Zusammenarbeit (dazu oben Kap.-1.3.5). Die UNO ist nicht Rechtsnachfolgerin des Völkerbunds. Eine Zeitlang bestanden die beiden Weltorganisationen sogar nebeneinander (24.-Oktober 1945 - 19.-April 1946). Die Charta der UNO (im Folgenden auch UN-Charta) wurde auf der Konferenz von San Francisco im Frühjahr 1945 ausgearbeitet und am 26. Juni 1945 unterzeichnet. Sie trat am 24. Oktober 1945 in Kraft. Die eigentliche Arbeit der UNO begann mit dem Zusammentritt der ersten Generalversammlung (Vollversammlung) am 10. Januar 1946 in London. Durch Beschluss der Generalversammlung vom 14. Dezember 1946 wurde der Sitz der UNO nach New York verlegt. An der Konferenz von San Francisco hatten 46 Staaten teilgenommen, die unter der Bezeichnung „Vereinte Nationen“ den Krieg gegen die Achsenmächte - vor allem das Deutsche Reich und Japan - geführt hatten. Von ihrem Ursprung her gesehen war daher die UNO ein Kriegsbündnis. Ihre Hauptaufgabe lag aber von vornherein jenseits des Krieges, denn satzungsgemäß soll sie in erster Linie den Weltfrieden sichern. Gleichrangig mit diesem Ziel aber ist das Ziel des sozialen wird eine internationale Organisation als eine solche definiert, die durch einen völkerrechtlichen Vertrag gegründet wird und Rechtspersönlichkeit besitzt (vgl. Art. 2 (a) Draft Articles on the Responsibility of International Organisations). Siehe insgesamt zum Problemkreis auch K.-Ginther, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit internationaler Organisationen gegenüber Drittstaaten, 1969; W. Meng, Internationale Organisationen im völkerrechtlichen Deliktsrecht, ZaöRV 45 (1985), 324ff.; I.-Pernice, Die Haftung internationaler Organisationen und ihrer Mitarbeiter, AVR 26 (1988), 406ff. 180 Siehe insgesamt Yearbook of International Organizations, 36.-A., 1999/ 2000, Bd.-1B, 2356. 181 Siehe dazu I.-Seidl-Hohenveldern/ G.-Loibl, Das Recht der internationalen Organisationen einschließlich der supranationalen Gemeinschaften, 7.-A., 2000, 309ff. <?page no="139"?> 103 2.2 Staatenverbindungen Fortschritts. So erklärt die Präambel der Charta, es sei Ziel der UNO, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“ und „den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern“. Zwischen diesen beiden Formulierungen steht das Bekenntnis zu den Menschenrechten und zu dem Ziel, „Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können“. 182 Die Fortentwicklung des Völkerrechts auf der Basis des Kriegsverbots und des allgemeinen Gewaltverbots gehört daher ebenfalls zu den erklärten Hauptzielen der UNO. Aus diesen Gründen musste die UNO von vornherein die Universalität erstreben, obwohl sie ursprünglich ein Kriegsbündnis war. Im Gegensatz zum Völkerbund, dessen Satzung in die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg aufgenommen worden war, wurde die UNO nicht mit der Liquidation der Kriegsfolgen belastet. Sie musste allerdings den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs die Möglichkeit geben, diese Kriegsfolgeprobleme zu lösen und ein Wiederaufleben der Aggression zu verhindern. Zu diesem Zweck gestattet die Charta in Art.-53 Ziff. 1 ausnahmsweise Zwangsmaßnahmen gegen einen „Feindstaat“ auf Grund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats. Gemäß der Legaldefinition in Art. 53 Ziff. 2 UN-Charta bezeichnet dabei der Ausdruck „Feindstaat“ jeden Staat, der während des Zweiten Weltkriegs Feind eines Unterzeichnerstaates der Charta, d.-h. eines Gründungsmitgliedes der UNO war. Art. 107 der Charta gibt generell den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs die Befugnis, im Zuge der Friedensregelungen Maßnahmen gegen die Feindstaaten ohne Rücksicht auf die UN-Charta zu treffen. Eine solche Freistellung war erforderlich, damit die Maßnahmen zur Verhinderung der Wiederaufnahme der Kriegspolitik nicht am Gewaltverbot der UN-Charta scheiterten. Heute wird man sagen können, dass spätestens mit der Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen im Jahre 1973 die Voraussetzungen für die Anwendung der Feindstaatenklauseln gegenüber Deutschland entfallen sind. 183 Die Bundesrepublik Deutschland ist der UNO mit Wirkung vom 7. Juni 1973 zusammen mit der damaligen DDR beigetreten; seit der Wiedervereinigung Deutschlands (dazu auch oben Kap.-2.1.7.4) ist nur noch die Bundesrepublik Deutschland, als das fortbestehende deutsche Völkerrechtssubjekt, Mitglied der Vereinten Nationen. Die Bundesrepublik Deutschland war aber bereits vor 1973 Mitglied zahlreicher Sonderorganisationen der UNO und hatte ihre aktive Mitarbeit im Frühjahr 1950 begonnen, als zum ersten Mal Vertreter der Bundesregierung an den Konferenzen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) teilnahmen. 1951 wurde sie in die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und die UNESCO aufgenommen, 1952 in die Internationale Fernmeldeunion, den Weltwährungsfonds (IMF) und die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD), 1954 in die Weltorganisation für Meteorologie (WMO), 1955 in den Weltpostverein (UPU), 1956 in die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) und die Internationale Finanz-Korporation, 1957 in die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA), 1959 in die Zwischenstaatliche Beratende Seeschifffahrts-Organisation (IMCO) und 1960 in die Internationale Entwicklungs-Organisation. Dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) war 182 Zur normativen Aussagekraft der Präambel siehe S. Hobe (Hg.), Die Präambel der UN-Charta im Lichte der aktuellen Völkerrechtsentwicklung, 1997. 183 T. Stein/ C. von Buttlar/ M. Kotzur, Völkerrecht, 14.-A., 2017, Rn.-781. <?page no="140"?> 104 2. Die Völkerrechtssubjektivität sie bereits am 1. Oktober 1951 beigetreten. Seit 1952 zahlt die Bundesrepublik Deutschland Beiträge zum Weltkinderhilfswerk (UNICEF), zum Etat des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) und zum Hilfswerk der Vereinten Nationen für die arabischen Flüchtlinge aus Palästina (UNRWA). 184 Organisationsstruktur der Vereinten Nationen im Überblick (alle Artikel sind solche der UN-Charta) Sicherheitsrat Art. 23ff. 15 Mitglieder davon 5 ständige: China, Frankreich, Großbritannien, Russland, USA Generalversammlung Art. 9ff. Vertreter aller 193 Mitgliedstaaten Sekretariat Art. 97ff. (Generalsekretär) Unterorgane u.a.: ► Strafgerichtshöfe für Jugoslawien (ICTY) und Ruanda (ICTR), ► Friedenstruppen z.B. UNMIK, UNIKOM ► International Law Commission (ILC) ► Spezielle Programme u. Organe u.a.: UNICEF (Kinderhilfswerk) UNHCR (Hochkommissar für Flüchtlinge) UNCTAD (Konferenz für Handel und Entwicklung) UNEP (Umweltprogramm) UNDP (Entwicklungsprogramm) Treuhandrat Art. 86 Tätigkeit eingestellt Wirtschafts- und Sozialrat Art. 61ff. 54 gewählte Mitglieder der Generalversammlung Internationaler Gerichtshof Art. 92 15 Richter, gewählt von Sicherheitsrat und Generalversammlung Sonderorganisation (über Art. 63 UN-Charta) u.a. ILO (Arbeit), FAO (Ernährung), UNESCO (Erziehung/ Kultur), WHO (Gesundheit), IMF (Währung), IBRD (Weltbank) 2.2.3.2 Organe Gegenwärtig (Dezemember 2019) zählt die UNO 193 Mitglieder. 185 Sie alle besitzen je eine Stimme in der Generalversammlung, einem der Hauptorgane der UNO, die alljährlich im Herbst in New York zusammentritt. Nach Art. 10 UN-Charta ist die Generalversammlung grundsätzlich für alle 184 Zur deutschen UNO-Arbeit vor dem Beitritt vgl. H.-Dröge/ F.-Münch/ E.-von Puttkamer, Die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinten Nationen, 1966; U. Scheuner/ B.-Lindemann (Hg.), Die Vereinten Nationen und die Mitarbeit der Bundesrepublik Deutschland, 1973. 185 Der Beitragsschlüssel für den Haushalt der Vereinten Nationen 2007 bis 2009 von 192 Mitgliedern findet sich in VN 55 (2007), 116f. <?page no="141"?> 105 2.2 Staatenverbindungen Angelegenheiten zuständig, die unter die-Kompetenz der UNO fallen; jedoch soll sie gemäß Art. 12 UN-Charta keine Empfehlung über einen Gegenstand erlassen, solange der Sicherheitsrat im Rahmen seiner Zuständigkeit mit einer Angelegenheit befasst ist. Allerdings hat die Generalversammlung während der Korea-Krise in ihrer Resolution „Uniting for Peace“ vom 3.-November 1950 186 festgestellt, sie habe das Recht, auch die vor dem Sicherheitsrat schwebenden Angelegenheiten zu behandeln, wenn der Sicherheitsrat infolge der Uneinigkeit seiner ständigen Mitglieder handlungsunfähig sei. Diese Resolution drückt den später noch mehrfach (Suez-Krise 1956; Ungarn-Aufstand 1956; Afghanistan 1980) unternommenen Versuch der UN-Generalversammlung aus, politischen Druck auf den Sicherheitsrat auszuüben, wenn dieser wegen der Ausübung des Veto-Rechts blockiert ist. Derartigen Resolutionen kann allerdings nach dem deutlichen Willen der UN-Charta (argumentum e contrario Art. 25 UN-Charta) keine rechtliche Verbindlichkeit zukommen, und damit der Sicherheitsrat auch nicht aus seiner Hauptverantwortung für die Erhaltung des Weltfriedens entbunden werden. Ihre Bedeutung liegt daher eher im politischen Bereich etwa als Grundlage der Einberufung einer Notstandssondertagung der Generalversammlung. 187 Zur Vorbehandlung der Angelegenheiten der Generalversammlung bestehen die folgenden sieben Ausschüsse, in denen ebenfalls alle Mitglieder vertreten sind: : Ausschüsse der Generalversammlung 1. Allgemeiner politischer Ausschuss 2. Wirtschafts- und Finanzausschuss 3. Ausschuss für soziale, humanitäre und kulturelle Angelegenheiten 4. Treuhandausschuss 5. Verwaltungs- und Budgetausschuss 6. Rechtsausschuss 7. Besonderer politischer Ausschuss Kleinere Ausschüsse können für besondere Aufgaben gebildet werden. Ferner kann die Generalversammlung Nebenorgane einsetzen (Art. 22 UN-Charta). Zur Kodifikation und Weiterentwicklung des Völkerrechts hat sie bereits im Jahr 1947 die Völkerrechtskommission (International Law Commission, ILC) gebildet. 188 Hierbei handelt es sich um ein 186 UNGA Resolution 377 A (V); hierzu H.-Reicher, The Uniting for Peace Resolution on the thirtieth anniversary of its passage, ColJTL 19 (1981), 1ff.; C.-Tomuschat, „Uniting for Peace“ - Ein Rückblick nach 50 Jahren, FW 76 (2001), 289ff. 187 E.-Klein/ S. Schmahl, in: W. Graf Vitzthum (Hg.), Völkerrecht, 8.-A., 2019, 4. Abschn., Rn.-130. 188 A.-Watts, The International Law Commission 1949-1998, 3 Bde., 1999; United Nations (Hg.), The International Law Commission Fifty Years After: An Evaluation, 2000; C.- Tomuschat, Die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, VN 36 (1988), 180ff.; T.M.-Franck/ M.-El Baradei, The Codification and Progressive Development of International Law, AJIL 76 (1982), 630ff.; S.P. Jagota, The Role of the International Law Commission in the Development of International Law, IJIL 16 (1976), 459ff.; R. S. Pathak, The Role of the International Law Commission in the Codification and Progressive Development of International Law, LJIL 17 (1977), 1ff.; B.G.- Ramcharan, The International Law Commission, 1977; D.J.-Sinclair, The International Law Commission, 1987. <?page no="142"?> 106 2. Die Völkerrechtssubjektivität Gremium von 34 unabhängigen Rechtsexperten, die jeweils auf die Dauer von 5 Jahren gewählt die wichtigsten Rechtssysteme der Welt repräsentieren sollen. 189 Die Abstimmung in der Generalversammlung wie auch in den Hauptausschüssen erfolgt auf der Basis der Gleichheit der Mitglieder (Art. 18 Ziff. 1 UN-Charta), wobei die Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder ausschlaggebend ist. In wichtigen Fragen, wie etwa der Aufnahme oder dem Ausschluss von Mitgliedern oder der Suspension von Mitgliedschaftsrechten (Art. 4-6 UN-Charta) bedarf es der 2/ 3-Mehrheit (Art. 18 Ziff. 2 UN-Charta). Die Mehrheitsverhältnisse in der Generalversammlung geben den zahlenmäßig weit überlegenen Staaten der Dritten Welt ein besonderes Gewicht. Neben der Generalversammlung bezeichnet Art. 7 UN-Charta noch folgende weitere Hauptorgane der UNO: Sicherheitsrat, Wirtschafts- und Sozialrat, Treuhandrat, Internationaler Gerichtshof und das Sekretariat. Seit der Resolution 1991 der UN-Generalversammlung vom 17. Dezember 1963 besteht der Sicherheitsrat aus 15 Mitgliedern, von denen fünf ständig im Sicherheitsrat vertreten sind (Volksrepublik China, Frankreich, Russland (früher die UdSSR), Großbritannien, USA); die übrigen zehn nicht ständigen Mitglieder werden von der Generalversammlung für die Dauer von zwei Jahren gewählt. Deutschland wurde für den Zeitraum von 2019 bis 2020 wieder nach 1977-78, 1987-88, 1995-96, 2003-04 und 2011-12 als nichtständiges Mitglied in den Sicherheitsrat gewählt. Die Aufgaben des Sicherheitsrates sind vor allem in Art. 24 UN-Charta zusammengefasst. Er trägt die Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und ist mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe von allen Mitgliedern der Vereinten Nationen beauftragt. Im Gegensatz zur Generalversammlung, die nur Empfehlungen - in Form von Resolutionen - aussprechen kann, hat der Sicherheitsrat die Möglichkeit, im Rahmen der ihm zur Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit eingeräumten Befugnisse (Art. 39ff. UN-Charta) seine Beschlüsse mit bindender Wirkung auszustatten (Art. 25 UN-Charta). Es steht ihm allerdings frei, auch Empfehlungen auszusprechen. Im Falle einer Friedensgefährdung (siehe zu alledem ausführlich unten Kap. 5.1) hat der Sicherheitsrat zunächst festzustellen, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt (Art. 39 UN-Charta), bevor er Empfehlungen beschließt oder Maßnahmen trifft. Zu den zulässigen Maßnahmen gehören auch militärische Aktionen. Infolge der weltpolitischen Gegebenheiten ist das von der UNO vorgesehene System der kollektiven Sicherheit bislang allerdings nur in Ansätzen zur Entfaltung gelangt (hierzu unten Kap.- 5.1.4). Der in Art. 47 UN-Charta vorgesehene Generalstabsausschuss ist nie gebildet worden. Auch die anfangs ins Auge gefasste eigene UN-Streitmacht besteht bis heute nicht. Vielmehr müssen die Vereinten Nationen, wenn sie die Anwendung bewaffneter Gewalt nach Art. 42 UN-Charta beschließen, nach Art. 48 der UN-Charta an einen Mitgliedstaat oder mehrere Mitgliedstaaten herantreten, damit diese im Namen der Vereinten Nationen und unter UN-Flagge die Militäroperation durchführen. Der einzige Fall neben der insoweit später noch gesondert zu schildernden UN-Militäroperation 189 Zu ausführlichen Informationen siehe die Homepage der ILC: http: / / legal.un.org/ ilc/ (zuletzt abgerufen: Dezember 2019); entsprechende Tätigkeitsberichte der ILC finden sich im German Yearbook of International Law. <?page no="143"?> 107 2.2 Staatenverbindungen gegen den Irak im Jahre 1991 (dazu unten Kap.-5.1.4.2), in dem eine UN-Streitmacht auf Grund eines Beschlusses gem. Art. 39 UN-Charta einen bewaffneten Konflikt gegen den als Aggressor gebrandmarkten Staat geführt hat, war der Korea-Krieg (1950-1953). Die diesbezüglichen Beschlüsse des Sicherheitsrats waren in Abwesenheit der Sowjetunion gefasst worden. Da Art. 27 Ziff. 3 UN-Charta bestimmt, dass alle Beschlüsse des Sicherheitsrats, die nicht bloße Verfahrensfragen betreffen, der Zustimmung von neun Mitgliedern einschließlich sämtlicher ständiger Mitglieder bedürfen, hat über die rechtliche Beurteilung des damaligen Eingreifens von UN-Streitkräften - vorwiegend mit Kontingenten aus den USA, Großbritannien, Australien und der Türkei - von Anfang an Streit geherrscht. 190 In der Praxis der Vereinten Nationen hat sich eine andere Art des Eingreifens zum Zwecke der Friedenssicherung entwickelt, deren Rechtsgrundlage von Fall zu Fall durch Resolutionen der Generalversammlung und des Sicherheitsrats geschaffen worden ist: die Entsendung von sog. Friedenstruppen. Die Aufgaben und Befugnisse der jeweils aus Kontingenten der einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden UNO-Streitkräfte sind unterschiedlich und ergeben sich jeweils aus den Rechtsakten, die zu ihrer Schaffung gesetzt wurden. Nach der bisherigen Praxis haben sich zwei Hauptfunktionen ergeben: Beobachtung und Kontrolle. Dementsprechend wird zwischen Beobachtern (observer missions) und „Friedenstruppen im engeren Sinn“ (peacekeeping forces) unterschieden. Da jedoch beide unter den Oberbegriff der friedenssichernden Tätigkeiten (peacekeeping operations) fallen, wird die Bezeichnung „Friedenstruppe“ häufig auch für bloße Beobachtermissionen angewendet. Zu beachten ist, dass einige der jüngeren Operationen der Vereinten Nationen im Sinne einer Friedensstabilisierung deutlich über frühere Aufgabenstellungen hinausgehen (etwa UNMIK im Kosovo). Die UNO bedient sich dabei zur Durchsetzung dieses „robusten Mandats“ der Friedenssicherung teilweise der NATO als militärischem Rückgrat. Das, sowie die zunehmend auf den Sicherheitsrat übergehende Mandatierung dieser Operationen, wird unter dem Gesichtspunkt der Ermächtigungsgrundlage im Einzelnen bei der Beschreibung des Friedenssicherungsmechanismus der UN-Charta darzustellen sein (dazu unten Kap. 5.1.4.2). Der Wirtschafts- und Sozialrat (Economic and Social Council, ECOSOC) besteht aus 54 Mitgliedern, die von der Generalversammlung für drei Jahre gewählt werden (Art. 61 UN-Charta). Er ist für die Förderung der in Art. 55 UN-Charta genannten weiteren Ziele der UNO verantwortlich: Verbesserung des Lebensstandards, Vollbeschäftigung, wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt, Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer und medizinischer Art, internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kultur und der Erziehung, Verwirklichung der Menschenrechte. Seine Existenz und Aufgabenzuweisung zeigt die deutlich erweiterte Friedenssicherungskonzeption der Vereinten Nationen, die im Sinne eines positiven Friedensbegriffs (dazu auch unten Kap.-5.1.4.2) bereits präventiv Konfliktursachen bekämpfen will. Der Wirtschafts- und Sozialrat kann nur Empfehlungen abgeben, Konventionen entwerfen, Konferenzen im Rahmen seiner Zuständigkeit einberufen, Vereinbarungen mit Sonderorganisationen 190 T. Bruha, Security Council, in: R. Wolfrum (Hg.), United Nations: Law, Policies and Practice, 1995, 1147, 1151ff. <?page no="144"?> 108 2. Die Völkerrechtssubjektivität abschließen und die Tätigkeit der Spezialorganisationen koordinieren. Zusammen mit den Sonderorganisationen hat er insbesondere ein umfassendes Berichtssystem aufgebaut. Der Treuhandrat (Art. 86 UN-Charta) soll nach der Charta aus den Mitgliedern bestehen, die Treuhandgebiete verwalten, sowie den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats und so vielen weiteren von der Generalversammlung für je drei Jahre gewählten Mitgliedern, wie erforderlich sind, damit der Treuhandrat aus einer gleichen Anzahl von Treuhändern und Nichttreuhändern besteht. Treuhandgebiete waren die ehemaligen Mandatsgebiete des Völkerbunds, die abgetrennten Kolonien der ehemaligen Feindstaaten und alle sonstigen Gebiete, die dem Treuhandsystem der UNO unterstellt werden. Durch die Entkolonisierungswelle der sechziger Jahre ist das Treuhandsystem der UNO obsolet geworden. Als letztes der elf Territorien, die dem Treuhandsystem unterstellt waren, erhielt das Gebiet „Pazifikinseln“ - bestehend aus vier Inselgruppen, die bis dahin von den USA verwaltet worden waren - mit der Resolution 683 (1990) des Sicherheitsrats vom 22. Dezember 1990 einen neuen Rechtsstatus. Danach war das Treuhandabkommen in modifizierter Form nur noch für eine der Inselgruppen, die Republik Palau, anwendbar, während die anderen in ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu den Vereinigten Staaten getreten sind. 191 Mit Resolution 956 des Sicherheitsrates wurde die Republik Palau allerdings am 1. Oktober 1994 ebenfalls unabhängig. Noch im gleichen Jahr hat der Treuhandrat daher seine Tätigkeit vorläufig eingestellt. Das Sekretariat besteht aus einem Generalsekretär und den sonstigen Bediensteten (Art. 97 UN-Charta). Der UN-Generalsekretär wird auf Empfehlung des Sicherheitsrats von der Generalversammlung für die Dauer von fünf Jahren gewählt. Er darf von keiner Regierung eines Landes Weisungen annehmen oder erbitten. Bisherige Generalsekretäre der UNO ▶ Trygve Lie, Norwegen (1946-1953) ▶ Dag Hammarskjöld, Schweden (1953-1961) ▶ U Thant, Burma (1961-1971) ▶ Kurt Waldheim, Österreich (1971-1981) ▶ Javier Pèrez de Cuéllar, Peru (1982-1992) ▶ Boutros Boutros-Ghali, Ägypten (1992-1997) ▶ Kofi Annan, Ghana (1997-2006) ▶ Ban-Ki Moon, Südkorea (2007-- 2016) ▶ António Guterres, Portugal (seit 2017) Der Internationale Gerichtshof (IGH), der in Art. 7 UN-Charta ebenfalls als Hauptorgan der UNO genannt wird, wird nachfolgend in Kap. 7.1.1 behandelt. 192 Während die Hauptorgane (Generalversammlung, Sicherheitsrat, Wirtschafts- und Sozialrat, Treuhandrat, IGH und Sekretariat) ausdrücklich in der UN-Charta genannt und jeweils in 191 Hierzu P. Kunig/ S. Rublack, Kolonisiert nach der Entkolonisierung? , VN 39 (1991), 55ff. 192 Tätigkeitsberichte des IGH finden sich im German Yearbook of International Law, sowie auch regelmäßig im Leiden Journal of International Law. <?page no="145"?> 109 2.2 Staatenverbindungen einem eigenen Kapitel in den Grundzügen geregelt werden, erklärt Art. 7 Ziff. 2 UN-Charta für die Nebenorgane nur pauschal: „Je nach Bedarf können in Übereinstimmung mit dieser Charta Nebenorgane eingesetzt werden.“ Diese Bestimmung sagt nichts darüber aus, welches der Hauptorgane der UNO befugt ist, Nebenorgane einzusetzen. Da aber Art. 7 Ziff. 2 der UN-Charta die „Übereinstimmung mit dieser Charta“ fordert, ist zunächst nach speziellen Ermächtigungen in anderen Bestimmungen der Charta zu suchen. Sie finden sich in Art. 22 UN-Charta für die Generalversammlung und in Art. 29 UN-Charta für den Sicherheitsrat. Beide Hauptorgane bekommen dort die Befugnis, Nebenorgane einzusetzen, soweit sie dies zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben für erforderlich halten. Art. 68 der UN-Charta verpflichtet den Wirtschafts- und Sozialrat, Kommissionen für wirtschaftliche und soziale Fragen und für die Förderung der Menschenrechte einzusetzen. 193 Auch „alle sonstigen zur Wahrnehmung seiner Aufgaben erforderlichen Kommissionen“ hat der Wirtschafts- und Sozialrat gemäß Art. 68 UN-Charta zu schaffen. Auch diese Kommissionen werden als Nebenorgane, und zwar des Wirtschafts- und Sozialrats, angesehen. Doch sind auch außerhalb der speziellen Ermächtigungen der Art. 22, 29 und 68 der UN-Charta Nebenorgane eingerichtet worden. Diese Praxis wird unmittelbar auf Art. 7 Ziff. 2 UN-Charta gestützt. Nebenorgane können ständig oder vorübergehend sein. Als ständige Nebenorgane der Generalversammlung existieren auf der Grundlage von Art. 22: sieben Hauptausschüsse, zwei Ständige Ausschüsse (Beratender Ausschuss für Verwaltungs- und Haushaltsfragen und Beitragsausschuss) und zwei Verfahrensausschüsse (Beglaubigungsausschuss und Präsidialausschuss) sowie 74 weitere Nebenorgane. Eines der wichtigsten von ihnen ist das Amt des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR). 194 2.2.3.3 Sonderorganisationen Von den Nebenorganen zu unterscheiden sind die Sonderorganisationen, die Art. 57 UN-Charta in das System der UNO einbezieht, weshalb man auch von der „UN-Familie“ spricht. Sie sind nicht Gründungen der UNO, sondern entstehen durch Verträge zwischen souveränen Staaten als eigenständige internationale Organisationen. Jeder dieser Verträge ist zugleich die Verfassung (Satzung) der betreffenden internationalen Organisation. Die UNO erstrebt die Identität des Kreises ihrer Mitglieder mit den Mitgliederkreisen der einzelnen internationalen Organisationen, die den Status von Sonderorganisationen gemäß Art. 57 der UN-Charta genießen. Jedoch ist dies nicht zwingend vorgeschrieben. Einige der Sonderorganisationen (wie z.-B. der Weltpostverein) sind lange vor der UNO gegründet worden. Art. 57 UN-Charta regelt keine organisatorische Verflechtung mit der UNO, sondern sieht nur vor, dass die Sonderorganisationen „gemäß Art. 63 mit den Vereinten Nationen in Beziehung gebracht“ werden. Jedoch begrenzt er die Betätigungsfelder der Sonderorganisationen auf die folgenden Gebiete: Wirtschaft, Sozialwesen, Kultur, Erziehung, Gesundheit und „verwandte Gebiete“. Die Beziehungen jeder einzelnen Sonderorganisation zur UNO müssen durch ein Abkommen mit dem Wirtschafts- und Sozialrat geregelt werden, das 193 Vgl. unten Kap.-10.3.1.3. 194 Hierzu unten Kap.-10.5. <?page no="146"?> 110 2. Die Völkerrechtssubjektivität der Genehmigung durch die Generalversammlung bedarf (Art. 63 Ziff. 1 UN-Charta). Der Wirtschafts- und Sozialrat kann die Tätigkeit der Sonderorganisationen koordinieren (Art. 63 Ziff. 2 UN-Charta) und geeignete Schritte unternehmen, um von den-Sonderorganisationen regelmäßige Berichte zu erhalten (Art. 64 Ziff. 1 UN-Charta). Wichtige Sonderorganisationen ▶ Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) ▶ Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) ▶ Internationale Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) ▶ Weltpostverein (UPU) ▶ Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) ▶ Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) ▶ Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ▶ Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung/ Weltbank (IBRD) ▶ Internationale Entwicklungsorganisation (IDA) ▶ Internationale Finanzkorporation (IFC) ▶ Internationale Fernmelde-Union (ITU) ▶ Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO) ▶ Weltgesundheitsorganisation (WHO) ▶ Weltorganisation für Meteorologie (WMO) ▶ Internationaler Währungsfonds/ Weltwährungsfonds (IMF) ▶ World Intellectual Property Organization (WIPO) 2.2.3.4 Exkurs: Die Debatte um die Reform der Vereinten Nationen Reformvorschläge für das System der Vereinten Nationen hat es schon viele gegeben. 195 In seiner Rede vor der 58. Generalversammlung der Vereinten Nationen am 23. September 2003 hatte der damalige Generalsekretär Kofi Annan die Gründung einer hochrangigen Gruppe angesehener Persönlichkeiten angekündigt und sie mit der Aufgabe der Findung praktikabler Reformüberlegungen beauftragt. Der Bericht sollte zum einen aktuelle und zukünftige Sicherheitsbedrohungen identifizieren und analysieren, zweitens evaluieren, welchen Beitrag kollektive Maßnahmen bei der Bewältigung dieser Bedrohungen leisten könnten und drittens konkrete Vorschläge dazu machen, wie das System kollektiver Sicherheit effektiver ausgestaltet werden könnte. Im Kern sollte es darum gehen, die Vereinten Nationen effektiver bei der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen zur Sicherung des Weltfriedens insbesondere bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus werden zu lassen. 195 Ausführlich zur Reform der Vereinten Nationen siehe die Beiträge in J. Varwick/ A. Zimmermann, Die Reform der Vereinten Nationen - Bilanz und Perspektiven, 2006. <?page no="147"?> 111 2.2 Staatenverbindungen Unter dem Vorsitz des ehemaligen thailändischen Ministerpräsidenten tagte ein Panel ehemaliger hochrangiger Politiker und Diplomaten, welches schließlich in dem Report: „A more secure world: Our shared responsibility“ 196 verschiedene Vorschläge unterbreitete. Es schlug analog zu dem erweiterten positiven Friedensbegriff (dazu unten Kap. 5.1.4.2) auch einen erweiterten Sicherheitsbegriff vor. Zu den möglichen Bedrohungen der internationalen Sicherheit werden etwa sozio-ökonomische Bedrohungen sowie Armut, Infektionskrankheiten oder Umweltzerstörung, zwischenstaatliche Konflikte, innerstaatliche Konflikte, Massenvernichtungswaffen, Terrorismus und organisierte Kriminalität gezählt. Responsibility to Protect. Ein wesentlicher Punkt der Reformvorschläge war die Forderung der Verabschiedung der sog. „Responsibility to Protect“ 197 . Dieses Prinzip soll zum Ziel haben, dass alle Regierungen, die Mitglied der Vereinten Nationen sind, eine Verantwortung zum Schutze ihrer eigenen Staatsangehörigen haben; sollten sie nicht fähig oder willens sein, dies zu tun, so solle der gesamten Völkergemeinschaft eine Verantwortung zukommen, dagegen zu intervenieren. 198 Der wesentlichen Rolle des Staates im internationalen System solle dadurch Rechnung getragen werden, dass etwa Entwicklungsländer auch tatsächlich zu Akten der Terrorismusbekämpfung, zu denen sie verpflichtet werden sollen, durch entsprechende Unterstützung in Stand gesetzt werden sollen. Entwicklungspolitik rückte somit ins Zentrum kollektiver Sicherheit, wobei die Umsetzung der Millenniumserklärung von 2000 eine Anhebung der öffentlichen Entwicklungshilfe auf 0,7 % des Bruttoinlandsprodukts, Reformen im Bereich guter Regierungsführung in Entwicklungsländern, der Abschluss der Doha-Runde bis 2006 und ein weitreichender Schuldenerlass für hoch verschuldete Entwicklungsländer gefordert wurde. Es wurde eine Stärkung der Vereinten Nationen im Bereich der Konfliktprävention und die Schaffung einer schnellen Eingreiftruppe angestrebt. Im Bereich der Friedenskonsolidierung schlug die Kommission eine entsprechende Kommission für Friedenskonsolidierung (sog. Peace Building Commission) vor, die gemäß Art. 29 der UN-Charta vom Sicherheitsrat als dessen subsidiäres Organ eingerichtet werden könne. 199 Neben Vertretern des Sicherheitsrates sollten der Kommission wichtige Geberländer und Vertreter der Bretton Woods-Institutionen sowie des jeweils auf der Tagesordnung stehenden sog. Post Konflikt-Staates angehören. 196 United Nations, Report of the Secretary-General’s High-Level Panel on Threats, Challenges and Change, A More Secure World: Our Shared Responsibility, 2004. 197 Siehe United Nations, Report of the Secretary-General’s High-Level Panel on Threats, Challenges and Change, A More Secure World: Our Shared Responsibility, 2004, 65f. 198 Zur Diskussion um die „Responsibility to Protect“ siehe etwa: C. Stahn, Responsibility to Protect: Political Rhetoric or Emerging Legal Norm? , AJIL 101 (2007), 99ff.; R. Hamilton, The Responsibility to Protect: From Document to Doctrine - But What of Implementation? , HarvHRJ 19 (2006), 289ff.; Y. Kim, Responsibility to Protect, Humanitarian Intervention and North Korea, JIBL 5 (2006), 74ff.; V. Nanda, The Global Challenge of Protecting Human Rights: Promissing New Developments, DenverJILP 34 (2006), 1ff.; N. Schrijver, The Future of the Charter of the United Nations, MPUNYB 10 (2006), 1, 9ff.; zu ihrer möglichen Bewährung in der Praxis siehe S. Hobe, The Responsibility to Protect and Security Council Action in Libya, IJIL 51 (2011), 502ff. 199 Die Peacebuilding Commission wurde mit Resolution der Generalversammlung am 30. Dezember 2005 Wirklichkeit (UN-Doc. A/ RES/ 60/ 180); siehe dazu im Folgenden zu Ergebnissen der Reformbestrebungen. <?page no="148"?> 112 2. Die Völkerrechtssubjektivität Für das nukleare Nicht-Verbreitungs-Regime wurde die Ausarbeitung eines neuen Übereinkommens, im Bereich der Terrorismusbekämpfung, sowie eine Stärkung des Sicherheitsrates auch im Zuge von Zwangsmaßnahmen vorzugehen, gefordert. Zudem pochte das Panel unter Zurückweisung von Möglichkeiten der präemptiven Selbstverteidigung (siehe dazu unten Kap.- 5.1.3.5) auf die Einhaltung der normativen Grundlegung des Gewaltverbots und bejahte die Notwendigkeit humanitärer Interventionen zur Verhinderung humanitärer Katastrophen. Reform des Sicherheitsrats. Für die Reform des Sicherheitsrates wurden verschiedene Modelle vorgeschlagen: etwa eine Erweiterung des Rates auf 24 Mitglieder, dabei entweder zusätzliche ständige Mitglieder ohne Vetorecht oder eine Zuwahl nur bei den nicht ständigen Mitgliedern, alles jedenfalls ohne Einfluss auf die gegenwärtige Struktur des Vetorechts. Schließlich wurden in einem weiteren Bericht im Jahr 2006 unter dem Titel „Delivering as One“ Vorschläge für eine Reform der Sonderorganisationen der Vereinten Nationen und deren Verhältnis zur Mutterorganisation gemacht. 200 Schon diese Berichte zeigen, dass die in der öffentlichen Diskussion oftmals in den Mittelpunkt des Interesses rückende Frage der neueren Zusammensetzung des Sicherheitsrates durchaus nicht der einzige Gesichtspunkt der Ansätze zur Reform der Vereinten Nationen ist. Will man derzeit den Stand der Reformbemühungen, die seit dem Bericht des High Level Panels stattgefunden haben, aber noch nicht abgeschlossen sind, beschreiben, so ist im Wesentlichen das Folgende festzuhalten: Das Millennium+-Treffen der Staats- und Regierungschefs vom 14.-16. September 2005 in New York plante im Sinne einer Implementierung der UN-Reform die Millenniumsentwicklungsziele zu bilanzieren und später zur Erreichung die Ziele bis 2015 zu verankern. Dabei sollte es konkret um die Erneuerung des Menschenrechtsschutzinstrumentariums gehen, der Beschlussfassung über Konzepte zur Bekämpfung des Terrorismus und einer weitgehenderen Abrüstungsstrategie zur Friedenskonsolidierung durch Friedenstruppen. Vorbereitet war dies auch durch ein im März 2005 vom UN-Generalsekretär Kofi Annan vorbereitetes Dokument mit den Titel „In Larger Freedom“, 201 in welchem Annan die Aufgabe der Vereinten Nationen, ein würdevolles Leben zu ermöglichen, die höhere Effizienz der Arbeitsstruktur der Vereinten Nationen, sowie die Schaffung eines Menschenrechtsrates in den Mittelpunkt gestellt hatte. Der Gipfel im September 2005 erbrachte im Bereich Frieden und Sicherheit zwar eine grundsätzliche Einigung über die Notwendigkeit einer Reform des Sicherheitsrates unter dem Gesichtspunkt der Erhöhung von dessen Legitimation, allerdings weiterhin Uneinigkeit über Details. 202 Für den Bereich der Friedenskonsolidierung wurde 200 Report of the High-Level Panel on UN System-Wide Coherence in the Areas of Development, Humanitarian Assistance and the Environment, vom 9. November 2006, UN-Doc.A/ 61/ 583. 201 In Larger Freedom: Towards Development, Security and Human Rights for All, Report of the Secretary- General, vom 21. März 2005, UN-Doc. A/ 59/ 2005. 202 Siehe etwa: J. Martens, Die Entwicklungsagenda nach dem Millenium+5 Gipfel - eine Checkliste unerledigter Aufgaben, in: J. Varwick/ A. Zimmermann (Hg.), Die Reform der Vereinten Nationen - Bilanz und Perspektiven, 2006, 201ff. <?page no="149"?> 113 2.2 Staatenverbindungen die Einrichtung einer entsprechenden Kommission beschlossen. 203 Die entsprechende Resolution wurde am 30. Dezember 2005 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Mit dieser Resolution wurde die Peacebuilding Commission als sog. „intergovernmental advisory body“ errichtet. 204 Inzwischen ist neben der Errichtung auch die Verabschiedung des ersten Berichts der Kommission im Juli 2007 als Erfolg dieser Reformbestrebungen zu verzeichnen. 205 Zwar konnte man sich im September 2005 nicht auch noch auf die Etablierung des Menschenrechtsrates einigen. Dies gelang aber schließlich im Jahr 2006 (siehe dazu unten Kap.-10.3.2.1). 206 Als Momentaufnahme ist derzeit festzuhalten, dass erste Ansätze zu einer Reform der Organisation der Vereinten Nationen gemacht sind; die Etablierung des Menschenrechtsrates und der andauernde Diskussionsprozess um die Veränderung der Zusammensetzung des Sicherheitsrates 207 sowie die starke Konzentrierung der Zuständigkeit der Vereinten Nationen im Bereich Friedenssicherung, Friedenskonsolidierung, Konfliktnachsorge und Konfliktprävention deuten dabei ein noch weitgehend unausgeschöpftes Potential an. Eine Reform erscheint, gerade damit die Vereinten Nationen auf zunehmende Bedrohungen wie etwa Klimawandel oder Terrorismus reagieren können, umso wichtiger. Ob und inwieweit dies alles nicht zuletzt auch zu weiteren institutionellen Reformen führen kann, hängt nun von den Mitgliedern der Vereinten Nationen selbst ab, wobei naturgemäß den ständigen Ratsmitgliedern hier eine Hauptverantwortung und gemäß Art. 108 der UN-Charta auch ein Vetorecht zukommt. Dieses Vetorecht erschwert institutionelle Reformen, die das heutige Kräftevehältnis zwischen den Nationen, wie etwa die zunehmende Bedeutung anderer BRIC Länder, angemessen wiederspiegeln könnten. Reformüberlegungen und die Ergebnisse von Reformen werden nachfolgend auch bei der Vorstellung der jeweiligen Spezialmaterie beschrieben und bewertet. 2.2.4 Regionale und supranationale Organisationen Die soeben beschriebenen Organisationen sind solche, die potentiell allen Staaten zur Mitgliedschaft offen stehen und deshalb universale internationale Organisationen genannt werden. Daneben gibt es freilich auch eine nicht unbeträchtliche Anzahl solcher internationaler Organisationen, 203 Dazu ausführliche Informationen unter: www.unric.org/ de/ frieden-und-sicherheit/ 113 (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 204 Siehe etwa G. Thallinger, The UN Peacebuilding Commission and Transitional Justice, German Law Journal 8 (2007); S. Weinlich, Weder Feigenblatt noch Allheilmittel - Die neue Kommission für Friedenskonsolidierungen der Vereinten Nationen, VN 54 (2006), 2ff. 205 Report of the Peacebuilding Commission on its First Session, vom 25. Juli 2007 (UN-Doc A/ 62/ 137-S/ 2007/ 458). 206 E. Strauss, Menschenrechtsschutz im UN System - Zu den Auswirkungen der Reform der Vereinten Nationen auf das Amt des Hohen Kommissars für Menschenrechte, VN 54 (2006), 19ff. 207 Y. Blum, Proposals for the UN Security Council Reform, AJIL 99 (2005), 632ff.; B. Fassbender, UN Reform auf schwankendem Boden - zum Stand der Diskussion um die Zukunft des Sicherheitsrates, Die Politische Meinung 50 (2005), 67ff.; S. Gareis, Reform vertagt - Deutschland muss weiter auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat warten, VN 54 (2006), 147ff.; T. Giegerich, A Fork in the Road - Constitutional Challenges, Chances and Lacunae of UN Reform, GYIL 48 (2005), 29ff.; B. Höfstötter, Einige Anmerkungen zur Reform des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, ZaöRV 66 (2006), 143ff.; F. Thomas, Collective Security and reform: Between the Necessary and the Possible, ChiJIL 6 (2006), 597ff. <?page no="150"?> 114 2. Die Völkerrechtssubjektivität die sich nach ihrem - im Gründungsvertrag festgelegten - Zweck Aufgaben in einer bestimmten Region zuwenden, aus der sich in aller Regel auch die Mitgliedstaaten rekrutieren. Diese werden Regionalorganisationen genannt. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass ein Nebeneinanderbestehen regionaler und universeller Organisationen nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert ist, sofern möglicherweise sich überschneidende Aufgabenbereiche sorgsam voneinander abgegrenzt werden. Nachfolgend sollen nun nur solche Regionalorganisationen kurz vorgestellt werden, die von besonderem Interesse sind, die aber nicht in einem spezielleren Zusammenhang, etwa dem der kollektiven Selbstverteidigung, beschrieben werden. Dem schließt sich mit der Europäischen Union der besondere Typus der supranationalen Organisation an, der sich durch eine besonders verdichtete zwischenstaatliche Zusammenarbeit auszeichnet. 2.2.4.1 Der Europarat Die erste in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1949 entstandene Regionalorganisation, die dem Zwecke der Förderung wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Ziele dient, ist in ihrer Mitgliedschaft auf solche europäischen Staaten beschränkt, die die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Grundfreiheiten achten. Der Europarat hat insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges ein starkes Anwachsen seiner Mitgliederzahl zu verzeichnen gehabt, die heute bei 47 liegt. Neben einigen wichtigen im Rahmen des Europarats verabschiedeten Abkommen wie etwa der Europäischen Sozialcharta von 1961, 208 dem Europäischen Übereinkommen über Staatenimmunität von 1972 und dem europäischen Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus von 1977 sowie dem Rahmenabkommen zum Schutze von Minderheiten von 1995, ist die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 mit derzeit 16 Zusatzprotokollen (Protokoll 15 ist - Stand Dezember 2019 - noch nicht in Kraft) von herausragender Bedeutung. 209 Sie enthält einen kodifizierten Menschenrechtskatalog, der im Rahmen des europäischen Menschenrechtsschutzsystems zu behandeln sein wird (siehe unten Kap.-10.4.1). Das Regelwerk des Europarates umfasst bislang insgesamt 225 Vertragswerke, von denen die große Mehrheit mittlerweile in Kraft getreten ist. 210 Mit dem Ministerkomitee und der Beratenden Versammlung verfügt der Europarat über ein Exekutiv- und ein parlamentarisches Organ; zudem gibt es für den Bereich der Europäischen Menschenrechtskonvention den (ständigen) Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 211 mit Sitz in Straßburg. 2.2.4.2 Die North Atlantic Treaty Organization Die North Atlantic Treaty Organization (NATO) mit Sitz in Brüssel wurde durch den Vertrag von Washington am 4.-April 1949 gegründet. Derzeit umfasst die NATO 29 Mitgliedstaaten: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Nieder- 208 Sartorius II, Nr.-115. 209 Teilweise abgedruckt in Sartorius II, Nr.-130ff.; das 13. Zusatzprotokoll zur EMRK im Hinblick auf die Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen ist am 01.07.2003 in Kraft getreten. 210 https: / / www.coe.int/ de/ web/ conventions/ full-list (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 211 Bezeichnung seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur EMRK am 01.11.1998. <?page no="151"?> 115 2.2 Staatenverbindungen lande, Norwegen, Portugal, Spanien, Türkei, USA, Vereinigtes Königreich, sowie die 1999 beigetretenen Länder Polen, Tschechien und Ungarn, die im Jahre 2004 beigetretenen drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen und schließlich Slowenien, Rumänien, Bulgarien, Slowakei, Albanien, Kroatien und Montenegro. Auch bestehen Partnerschaftsabkommen mit Russland und der Ukraine. Ursprünglich fungierte die NATO als Verteidigungsbündnis, das in seiner Ausrichtung durch den Kalten Krieg geprägt wurde. Entsprechend sieht Art. 5 des NATO-Vertrages vor, dass alle Mitglieder einem angegriffenen Mitglied militärischen Beistand leisten sollen, wobei die Form der zu leistenden Unterstützung im Ermessen eines jeden Mitgliedstaates steht. In seiner Geschichte hat das oberste Entscheidungsgremium der NATO, der Nordatlantikrat, der nach dem Konsens-Prinzip entscheidet, bislang nur ein einziges Mal das Vorliegen eines bewaffneten Angriffes auf eines seiner Mitglieder und damit das Bestehen einer Beistandspflicht festgestellt. Interessanterweise war dies hinsichtlich der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 der Fall, die sicherlich nicht das klassische Beispiel eines bewaffneten Angriffs darstellen. 212 Nicht zuletzt dieses Ereignis hat nach militärischen Einsätzen der NATO im ehemaligen Jugoslawien, insbesondere im Kosovo im Jahre 1999, zu einer Neuorientierung der NATO geführt. 213 Um den Herausforderungen des 21.-Jahrhunderts besser gewachsen zu sein, beschlossen die Verteidigungsminister der NATO-Mitgliedstaaten im Juni 2003, aufbauend auf den in 2002 gefassten Beschlüssen des Prager Gipfels, neben einer Reform der Befehlsstruktur die Schaffung einer robust ausgerüsteten und schnell einsetzbaren NATO-Eingreif-Truppe (sog. NATO Response Force). 214 Insgesamt hat sich die NATO im letzten Jahrzehnt als Organisation zur regionalen Friedenssicherung etabliert, die auch von den Vereinten Nationen als „regional arrangement“ im Sinne von Art. 53 UN-Charta begriffen wird 215 , was potentiell auf eine Ausweitung des Einsatzgebietes hinauslaufen kann. 2.2.4.3 Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit Sitz in Wien ist 1995 aus der früheren Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) hervorgegangen, die zu Zeiten des Kalten Krieges durch internationale Konferenzen den Abrüstungs- und Kooperationsdialog zwischen Ost und West in nicht formalisierter Weise in Gang bringen sollte. Teilnehmer waren damals 34 europäische Staaten, Kanada und die USA sowie der Heilige Stuhl. Ihr erstes wesentliches Dokument hatte die KSZE im Jahre 1975 mit der Schlussakte der Konferenz von Helsinki hervorgebracht. Diese Schlussakte enthält - ausdrücklich in völkerrechtlich 212 Siehe die noch vorbehaltliche Entscheidung des Nordatlantikrats vom 12.11.2001, Press Release (2001) 124, sowie die Stellungnahme des NATO-Generalsekretärs Lord Robertson vom 02.10.2001; dazu auch C.-Stahn, International Law at a Crossroad, ZaöRV 62 (2002), 185. 213 Siehe auch schon das bereits 1991 in Washington verabschiedete „strategische Konzept“, das die Friedenssicherung und Stabilität in Europa, ausgerichtet an den Grundwerten der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Achtung der Menschenrechte, zu den Aufgaben der NATO erhebt, Bull. BReg. Nr.-24, 03.05.1999, 222ff.; dazu auch G.-Nolte, Die neuen Aufgaben von NATO und WEU: Völker- und verfassungsrechtliche Fragen, ZaöRV 54 (1994), 95ff. 214 NATO Presseerklärung (2003) 065 vom 12.06.2003. 215 Siehe auch schon BVerfGE 90, 286, 350f. <?page no="152"?> 116 2. Die Völkerrechtssubjektivität unverbindlicher Weise - die Grundsätze der souveränen Staatengleichheit, der territorialen Integrität und Zusammenarbeit der Staaten auf der Grundlage der Gleichberechtigung, aber auch die Anerkennung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Über verschiedene Nachfolgekonferenzen in Belgrad (1977/ 78), Wien (1986/ 87) und Helsinki (1992) hinaus war bereits die „Charta von Paris für ein neues Europa“ von 1990 216 Ausdruck des Endes des Ost-West-Gegensatzes. Darin findet sich ein ausdrückliches Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und der Achtung der Menschenrechte als gemeinsame Grundlage. Auf der Budapester Gipfelkonferenz von 1994 wurde die Umbenennung in Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ab dem 1. Januar 1995 vereinbart. Durch diese Umbenennung sollte sich jedoch weder der Charakter der Verpflichtungen noch der Status der KSZE ändern. Die OSZE, der heute 57 Mitgliedstaaten aus Europa, Zentralasien und Nordamerika, sowie 11 Partnerstaaten aus anderen Regionen der Welt angehören, verfügt über verschiedene Institutionen, deren Sitze auf unterschiedliche europäische Länder verteilt wurden und die dort die Aufgaben der Organisation erfüllen. Ihren Hauptsitz hat die OSZE in Wien, während weitere OSZE-Institutionen und -Gremien sich in Genf, Warschau, Den Haag und Kopenhagen befinden. Die OSZE besteht aus einer Vielfalt verschiedener Organe und Gremien, sowie einer Reihe von Feldmissionen und angegliederten Kommissionen. Insbesondere folgende Hauptorgane wurden geschaffen: der Gipfel der Staats- und Regierungschefs, der jedoch nur sehr unregelmäßig - zuletzt 1999 - tagt, der Ministerrat (Ministerial Council), der auf Ebene der Außenminister das zentrale politische Forum darstellt, der Hohe Rat (Senior Council) - ein Ausschuss hoher Beamter -, der Ständige Rat (Permanent Council), der sich aus ständigen Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt und damit das primäre Konsulations- und Entscheidungsforum darstellt, der Amtierende Vorsitzende (Chairman in Office), der von seinem Vorgänger und Nachfolger unterstützt wird und mit diesen die sog. Troika bildet, das Sekretariat mit Sitz in Wien, dem der Generalsekretär (Secretary General) vorsteht, die Parlamentarische Versammlung (Parlamentary Assembly), der Vergleichs- und Schiedshof mit Sitz in Genf und weitere angegliederte Gremien, wie etwa das Konfliktverhütungszentrum, das Forum für Sicherheitskooperation (Forum for Security Co-operation), das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte BDIMR (Office for Democratic Institutions and Human Rights ODIHR) mit Sitz in Warschau, der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten (High Commissioner on National Minorities), der Beauftragte für die Freiheit der Medien (OSCE Representative on Freedom of the Media) sowie viele verschiedene weitere Missionen und Feldoperationen. 217 Alle Organe außer der Parlamentarischen Versammlung handeln grundsätzlich nach dem Konsensprinzip, d.h.-ohne Abstimmung sind Entscheidungen dann getroffen, wenn kein Mitgliedstaat widerspricht; allerdings können Entscheidungen bei groben Verstößen gegen die Menschenrechte 216 Erklärung der Staats- und Regierungschefs zum Abschluss des KSZE-Gipfeltreffens in Paris (19.- 21.11.1990), abgedruckt in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 24.11.1990, Nr.-137, 1409ff. 217 Ausführliche Informationen zu den einzelnen Organen finden sich auf der Homepage der OSZE: www. osce.org (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). <?page no="153"?> 117 2.2 Staatenverbindungen oder die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung auch ohne Zustimmung des Staates, gegen den ein Beschluss gefällt werden soll, getroffen werden. Unklarheit bestand darin, ob der OSZE - trotz ihres Namens - bereits der Rechtsstatus einer internationalen Organisation zukommt; die KSZE hatte diesen Rechtsstatus jedenfalls noch nicht inne. Dem Sekretariat, dem Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte und den anderen vom Ministerrat festgelegten Institutionen wurde vom Ministerrat die Rechtsfähigkeit im innerstaatlichen Rechtsverkehr zuerkannt. Außerdem werden den Beamten Vorrechte und Immunitäten gewährt. Ob man angesichts des klaren Bekenntnisses von 1994 zur Folgenlosigkeit der Umbenennung für ihren Status der OSZE bereits heute den Rechtsstatus einer internationalen Organisation zusprechen kann, ist jedoch vor allem deshalb fraglich, weil nach außen zumeist noch die Teilnehmerstaaten-- wenn auch in ihrer Verbundenheit durch die OSZE-Institutionen - handeln. Es spricht aber einiges dafür, dem bereits heute stark ausdifferenzierten Gebilde bei einer weiteren organisatorischen Verfestigung auch den Status einer internationalen Organisation zuzusprechen. Während die KSZE sich ursprünglich primär mit der Konflikt- und Krisenprävention befasste, sind die Aufgaben der OSZE deutlich umfangreicher. Neben Waffenkontrolle, Terrorismusbekämpfung und Wahlbeobachtung gehören auch Demokratisierung und Menschenrechte sowie Wirtschafts- und Umweltsicherheit zu ihren nunmehr weit gefächerten Aufgabenfeldern. Organe der OSZE (vereinfacht)* Gipfel der Staats- und Regierungschefs Ministerrat Ständiger Rat Hoher Rat Forum für Sicherheitskooperation Parlamentarische Versammlung Amtierender Vorsitzender Troika BDIMR (ODIHR) Konfliktver -hütungszentrum Generalsekretär Sekretariat Vergleichs- und Schiedshof Hochkommissar für nationale Minderheiten *Es handelt sich um ein aus didaktischen Gründen stark vereinfachtes Schaubild <?page no="154"?> 118 2. Die Völkerrechtssubjektivität 2.2.4.4 Die Organisation Amerikanischer Staaten Die am 30. April 1948 in Bogotá gegründete Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) geht auf die Internationale Union der Amerikanischen Republiken von 1890 zurück. Ihre Hauptaufgabe ist die Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit auf dem amerikanischen Kontinent, die Förderung der Demokratie und die friedliche Beilegung von Streitigkeiten. Der OAS gehören heute 35 Staaten an. 218 Dabei ist ihre friedenssichernde Funktion durch den Rio-Pakt vom 2. Juli 1947 mit der dort vorgesehenen Errichtung eines kollektiven Sicherheitssystems, also dem gegenseitigen Schutz gegenüber Aggressoren innerhalb und außerhalb des Systems institutionalisiert. Die OAS-Charta verweist auf diesen Pakt. Dem höchsten Organ der OAS, der Generalversammlung, in der alle Mitgliedstaaten vertreten sind, stehen, orientiert am Mehrheitsprinzip, die wesentlichen Entscheidungsbefugnisse zu. Zudem gibt es einen Interamerikanischen Wirtschafts- und Sozialrat, einen Rat für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, sowie das Generalsekretariat als ständiges Administrativorgan. Eine sehr wesentliche Funktion übt die OAS, ähnlich dem Europarat, auf dem Gebiet der Wahrung der Menschenrechte auf der Grundlage der Amerikanischen Menschenrechtskonvention von 1969 aus. Hierzu wurden mit der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und dem Interamerikanischen Gerichtshof Institutionen geschaffen, von denen im Rahmen der Schilderung des Menschenrechtsschutzes noch die Rede sein wird (unten Kap.-10.4.2). 2.2.4.5 Die Arabische Liga Gegründet am 22. März 1945 mit Sitz in Kairo, sind derzeit 22 arabische und afrikanische Staaten sowie die PLO Mitglieder der Arabischen Liga (League of Arab States, LAS). Ihre Ziele sind neben der Behandlung von den arabischen Kulturkreis betreffenden Fragen die friedliche Konfliktbeilegung sowie die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht. Die Organe der zwar nicht ausdrücklich in ihrer Satzung als Regionalorganisation ausgewiesenen, indes als solcher anerkannten Organisation sind der aus Vertretern der Mitgliedstaaten bestehende Ligarat, ein Wirtschafts- und Verteidigungsrat, ein Generalsekretariat sowie mehrere Ausschüsse. 2.2.4.6 Die Afrikanische Union Die Afrikanische Union (AU) mit Sitz in Addis Abeba, Äthiopien, wurde im Juli 2002 von 53 afrikanischen Staaten gegründet. Mittlerweile hat sie 55 Mitgliedstaaten. Die AU löste die fast vierzig Jahre alte Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) ab, deren Aufgabe einer Förderung der Entkolonialisierung als erfüllt betrachtet wurde. Ziel der Afrikanischen Union ist es, eine stärkere Kooperation der afrikanischen Staaten in verschiedensten politischen und wirtschaftlichen Bereichen herbeizuführen und so das Gewicht Afrikas auf der internationalen Ebene zu stärken. 218 Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass Venezuela am 27. April 2017 den Rücktritt aus der OAS erklärt hat. Der Rücktrittsprozess hätte ca. zwei Jahre in Anspruch nehmen sollen. Im Rahmen der Regierungskrise hat der Vorsitzende der Nationalversammlung Guaidó Venezuelas Rücktritt widerrufen. Seitdem fungiert ein Sonderbeauftragter als venezolanischer Delegierter. <?page no="155"?> 119 2.2 Staatenverbindungen Die Afrikanische Union orientiert sich dabei teilweise an der Aufgaben- und Institutionsstruktur der Europäischen Union. Besonders erwähnenswert ist die Regelung eines Interventionsrechts, das den Mitgliedstaaten im Falle einer entsprechenden Entscheidung der Versammlung der Staats- und Regierungschefs das Recht gewährt, in schwerwiegenden Situationen, namentlich bei Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, auch militärisch aktiv zu werden. Diese Regelung, die auf dem Gedanken einer vorweggenommenen Zustimmung zur Intervention des betroffenen Mitgliedstaates aufbaut, steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Gewaltmonopol des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. 2.2.4.7 Die Europäische Union Bei der Europäischen Union handelt es sich um eine internationale Organisation besonderen Typs. Sie wird auch mit dem Begriff der „supranationalen Organisation“ gekennzeichnet. Ebenso wie andere internationale Organisationen ist sie durch einen multilateralen völkerrechtlichen Vertrag (Gründungsvertrag) entstanden, in dem die Mitgliedstaaten allerdings - anders als in den meisten anderen internationalen Organisationen - einen Teil ihrer Hoheitsrechte zur Ausübung auf die Organisation übertragen haben. Eine der Besonderheiten einer supranationalen Organisation besteht also darin, dass ihr durch die Mitgliedstaaten Hoheitsrechte zur selbständigen Ausübung durch ihre Exekutivorgane übertragen werden, mit der Konsequenz der unmittelbaren Berechtigung und Verpflichtung der Bürger der Mitgliedstaaten. Diese Eigenschaft hat das von klassischen internationalen Organisationen geschaffene Recht grundsätzlich nicht. Durch die Ausübung der übertragenen Rechtssetzungskompetenzen ist mittlerweile eine autonome Unionsrechtsordnung entstanden, die nicht mehr allein mit den Mitteln des Völkerrechts zu fassen ist. Dies spiegelt den besonders hohen Grad der Integration wider, der die Union prägt. Gleichwohl ist die EU kein Staat, da den Mitgliedstaaten wesentliche Hoheitsrechte und insbesondere das wesentlichste Recht, nämlich über Art und Umfang der Übertragung der Hoheitsrechte zu entscheiden (sog. Kompetenz-Kompetenz), verblieben ist. Die EU wurde 1952 als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), sowie 1957 als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, später EG) und als Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) von sechs Staaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande) gegründet; 219 die EGKS hörte nach dem Auslaufen ihres auf 50 Jahre angelegten Vertrages im Jahre 2002 auf zu existieren. Aus den beiden anderen Gemeinschaften ist durch den Vertrag von Lissabon vom 01.10.2009 die Europäische Union hervorgegangen. Die heute 28- (mit dem Austritt Großbritanniens 27) Mitgliedstaaten umfassen seit dem Jahre 2004 auch acht Staaten aus Mittel- und Osteuropa (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei, Ungarn; seit dem Jahre 2007 auch Rumänien und Bulgarien sowie seit 2013 Kroatien). 19 der 28 Mitgliedstaaten sind Mitglied der über eine einheitliche Währung (den Euro) und eine gemeinsame Zentralbank in Frankfurt verfügenden europäischen Währungsunion. 220 Die ehemals drei, 219 Zum 50. Geburtstag dieser sog. Römischen Verträge, siehe S. Hobe/ A. End, 50 Jahre Römische Verträge - Vorreiter einer modernen Rechtsentwicklung, Integration 2 (2007), 116ff. 220 https: / / europa.eu/ european-union/ about-eu/ euro/ which-countries-use-euro_de (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). <?page no="156"?> 120 2. Die Völkerrechtssubjektivität nunmehr zwei Gemeinschaften sind nach dem Vertrag von Lissabon die durch den Maastrichter Vertrag gegründete Europäischen Union (EU) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Die wechselvolle Geschichte der Europäischen Union hatte zwischenzeitlich in den Jahren 2002 und 2003 zum allerdings nie in Kraft getretenen Entwurf einer europäischen Verfassung geführt. 221 Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des deutschen Zustimmungsgesetzes zum Maastrichter Unionsvertrag 222 die Europäische Union als einen Staatenverbund gekennzeichnet, in dem alle Mitgliedstaaten den wesentlichen Bestandteil ihrer Souveränitätsrechte bewahren, sich freilich auch im Wege der Übertragung bestimmter Hoheitsrechte in einen engen Rechtsverbund begeben haben. Das Gericht wollte damit das rechtlich Einzigartige dieses Integrationsverbandes zum Ausdruck bringen, ohne freilich eine neue Kategorie der Staatenverbindung zwischen Staatenbund und Bundesstaat zu kreieren. In seiner Entscheidung zum Lissaboner Vertrag von 2009 hat es diese Linie fortgeschrieben, dabei aber die wesentliche Legitimation der Europäischen Union in den Mitgliedstaaten, also in Deutschland, durch dort zu stärkende demokratische Elemente gefordert. Wollte man die Union doch an den traditionellen Kategorien des Staatenbundes bzw. Bundesstaates messen, so spräche wohl einiges dafür, sie derzeit noch als primär staatenbündische Elemente beinhaltende, in Teilbereichen aber auch supranational verfasste Organisation unter Einbeziehung intergouvernementaler Politikbereiche zu skizzieren. Dieser Auffassung ist auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil gefolgt und hat gleichzeitig die hohen verfassungsrechtlichen Hürden zur Errichtung eines europäischen Bundesstaates betont. 223 Ob und ggf. wie unter diesen Vorzeichen im Gefolge fortschreitender Integration die Schwelle zur Schaffung eines europäischen Bundesstaates überschritten wird, die Kompetenz-Kompetenz also endgültig von den Mitgliedstaaten auf die Union übergehen wird und ob dies - wie angesichts tiefgreifender Meinungsverschiedenheiten etwa in der Flüchtlings- und Migrationspolitik deutlich wird - überhaupt angestrebt wird, bleibt der zukünftigen politischen Entscheidung der Mitgliedstaaten vorbehalten. 2.3 Sonderfälle der Völkerrechtssubjektivität Zunächst sollen hier solche Verbandseinheiten vorgestellt werden, deren Völkerrechtssubjektivität zwar nicht diejenige der Staaten erreicht, aus historischen Gründen aber im Wesentlichen unbestritten ist. 2.3.1 Der Heilige Stuhl Als Ausnahme von dem Grundsatz, dass nur souveräne Staaten Völkerrechtssubjekte sind, war bereits im klassischen Völkerrecht der Heilige Stuhl als Völkerrechtssubjekt anerkannt. Der Heilige Stuhl ist das Oberhaupt der katholischen Kirche, d.- h. der Papst. 224 Im Grunde genommen 221 Siehe hierzu S. Hobe, Europarecht, 9. A., 2017, Rn. 44, 59. 222 BVerfGE 89, 155. 223 BVerfGE 123, 267, NJW (62) 2009, 2267, Rn. 228f. 224 Vgl. K.-Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-11, Rn.-1, der darauf hinweist, dass laut der Legaldefinition des Codex Iuris Canonici unter dem Begriff Heiliger Stuhl entweder der römische Bischof, d.-h. der Papst, oder die römische Kurie mit dem gesamten Verwaltungsapparat verstanden wird. <?page no="157"?> 121 2.3 Sonderfälle der Völkerrechtssubjektivität handelt es sich also um die Völkerrechtssubjektivität einer Einzelperson, aber diese Einzelperson wird nicht als solche gewertet, sondern vielmehr in ihrer Stellung als Oberhaupt der katholischen Kirche. Von einer Völkerrechtssubjektivität des Papstes wird nicht gesprochen. Solange die Kirche auch über eine weltliche Macht in Form des Kirchenstaates verfügte, trat die Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhles nicht in Erscheinung. Sie zeigte sich aber in der Zeit, in welcher dem Oberhaupt der katholischen Kirche kein Staatsgebiet zur Verfügung stand (1870-1929), in der aber dennoch zahlreiche Staaten, darunter auch nichtchristliche, diplomatische Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl unterhielten. Durch die am 11. Februar 1929 zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien abgeschlossenen Lateranverträge wurde der Staat der Vatikanstadt geschaffen. Dieser Staat weist alle Elemente des Staatsbegriffs (Volk, Gebiet und Staatsgewalt) auf und ist daher - auch wenn es sich um einen Zwergstaat handelt - ein normaler souveräner Staat und als solcher Völkerrechtssubjekt. Sein verfassungsmäßiges Oberhaupt ist der Papst. Trotz dieser personellen Verbindung ist die Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhles streng von der Völkerrechtssubjektivität des Staates der Vatikanstadt zu unterscheiden. Die Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhles ist nur historisch zu erklären, und zwar aus der Rolle, die das Oberhaupt der katholischen Kirche im Mittelalter spielte (vgl. oben Kap.-1.3.3). Nicht alle Staaten erkennen die Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhles an und unterhalten diplomatische Beziehungen zu ihm. Deshalb ist der Heilige Stuhl nur ein partikuläres Völkerrechtssubjekt. Ferner muss seine Rechtsstellung schon deshalb von derjenigen der souveränen Staaten verschieden sein, weil ihm alle drei Begriffselemente des Staates fehlen. Er besitzt daher nur eine partielle Völkerrechtsfähigkeit. 225 Im Rahmen seiner traditionellen, durch das Kirchenrecht umschriebenen Aufgabe nimmt der Heilige Stuhl am völkerrechtlichen Verkehr teil und besitzt insoweit die Völkerrechtssubjektivität, die sich qualitativ nicht von der Rechtsfähigkeit anderer Völkerrechtssubjekte unterscheidet. Wie diese unterzeichnet und ratifiziert daher der Heilige Stuhl völkerrechtliche Verträge. Unter ihnen nehmen die Konkordate, d.-h. die Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl und einzelnen Staaten über Kirchen- und Religionsangelegenheiten auf dem Territorium der betreffenden Staaten, eine Sonderstellung ein. An der Weiterentwicklung des Völkerrechts durch die Kodifikation von Teilgebieten nimmt der Heilige Stuhl besonderen Anteil. So hat er alle großen Konventionen und multilateralen Verträge der UNO- Ära mitgestaltet und unterzeichnet, darunter auch solche, die niemals praktische Auswirkungen für ihn haben können, wie z.B.-den Atomsperrvertrag und den Atomteststopvertrag. Doch unterscheidet sich auch insofern der Heilige Stuhl nicht von anderen Völkerrechtssubjekten, z.B.-kleinen und armen Staaten, die ebenfalls nicht in der Lage sind, eine Atomrüstung zu betreiben, aber trotzdem die vorgenannten Verträge unterzeichnet haben, um die darin enthaltenen Völkerrechtsprinzipien zu stärken. 2.3.2 Der Souveräne Malteserorden Auch der Malteserorden ist ein partikuläres Völkerrechtssubjekt mit partieller Völkerrechtssubjektivität. Er ist weder Staat noch internationale Organisation. Im Gegensatz zum Heiligen Stuhl, der zu keiner Zeit mit den Elementen des Staatsbegriffs ausgestattet war, verfügte jedoch 225 Siehe zu beiden Begriffen auch oben Kap. 2. <?page no="158"?> 122 2. Die Völkerrechtssubjektivität der Malteserorden (früher: Johanniterorden) noch bis 1798 über ein Staatsgebiet (Malta). Seit dem 19.- Jahrhundert residiert er in Rom und konzentriert sich auf humanitäre Tätigkeiten. Noch in der Völkerbundzeit nahm er auch aktiv an der Fortbildung des humanitären Völkerrechts teil. Als der Völkerbund im Jahre 1927 eine Konferenz zum Zwecke eines „Welthilfsverbands“ einberief, wurde auch der Malteserorden eingeladen und erhielt in dem von der Konferenz ausgearbeiteten Statut die Rechtsstellung einer „internationalen Hilfsorganisation“. In der UNO-Ära arbeitet der Malteserorden nicht mehr an der Fortbildung des Völkerrechts mit, sondern beschränkt sich auf humanitär-karitative Tätigkeiten. Nur an den internationalen Rot-Kreuz-Konferenzen nimmt er noch teil. Er verfügt über Lazarettschiffe, Rettungsflugzeuge und andere Einrichtungen für die Krankenpflege und den Katastrophenhilfsdienst. In der Völkerrechtslehre gilt die Völkerrechtssubjektivität des Ordens nach wie vor als gesichert. In der Praxis richtet sich seine Rechtsstellung nach der Haltung der einzelnen Staaten. Vor allem die katholischen Länder Südeuropas und Lateinamerikas unterhalten diplomatische Beziehungen zum Malteserorden. Die Malteser-Hilfsdienste in den einzelnen Ländern sind private Organisationen, deren Rechtsstellung sich nach dem innerstaatlichen Recht der betreffenden Länder richtet. 2.3.3 Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz Obgleich häufig die Aussage anzutreffen ist, das Internationale Rote Kreuz sei völkerrechtsfähig, muss diese Feststellung juristisch dahingehend präzisiert werden, dass nur einem einzigen Organ des Internationalen Roten Kreuzes, nämlich dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, die Völkerrechtssubjektivität zugestanden wird. Organisation. Die Organisation des Roten Kreuzes besteht aus drei Teilen, die auf drei verschiedenen Ebenen agieren: Internationale Rot-Kreuz-Konferenzen, nationale Rotkreuzgesellschaften, Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Der juristische Aufbau wird am ehesten verständlich, wenn bei den nationalen Rotkreuzgesellschaften begonnen wird, obwohl gerade sie nicht auf völkerrechtlicher Ebene tätig werden. Ihre Rechtsstellung richtet sich vielmehr nach dem innerstaatlichen Recht derjenigen Staaten, auf deren Gebiet sie organisiert sind. Ihre Position innerhalb des Internationalen Roten Kreuzes aber hängt von der Anerkennung durch das IKRK sowie von der Anerkennung der Regierung ihres eigenen Landes als Hilfsdienst des militärischen Sanitätsdienstes ab. Die Anerkennung durch das Internationale Komitee erfolgt auf Grund von Art. VI des Organisationsstatuts des IKRK.-Die Anerkennung durch den jeweiligen Staat ist ein Hoheitsakt, der nach dem Recht des betreffenden Staates gesetzt wird, aber völkerrechtliche Wirkungen hat, denn gem. Art. 26 des Genfer Abkommens zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde vom 12. August 1949 wird das Personal „der von ihrer Regierung in gehöriger Form anerkannten und ermächtigten nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes“ dem durch diese Konvention geschützten Sanitätspersonal gleichgestellt. Die Voraussetzungen für die Anerkennung einer nationalen Rotkreuzgesellschaft durch das IKRK sind bereits auf der Rotkreuzkonferenz von 1887 in Karlsruhe festgelegt worden. Heute gelten die auf der Rotkreuzkonferenz von 1948 in Stockholm aufgestellten Regeln. <?page no="159"?> 123 2.3 Sonderfälle der Völkerrechtssubjektivität Die nationalen Rotkreuzgesellschaften sind in der Liga der Rotkreuzgesellschaften zusammengefasst. Diese verfügt zwar über selbständige Organe, die sich aus Mitgliedern verschiedener Staaten zusammensetzen, aber sie ist kein Völkerrechtssubjekt, sondern eine nichtstaatliche internationale Organisation. Als „oberstes Organ“ des Internationalen Roten Kreuzes pflegt die Rotkreuzkonferenz bezeichnet zu werden, die in unregelmäßigen Abständen zusammentritt, um Vorschläge für die Abänderung der Genfer Konventionen und der übrigen Rotkreuzverträge zu machen. Zur Konferenz gehören die Delegierten aller nationalen Rotkreuzgesellschaften der Signatarstaaten der Genfer Konventionen und der Liga der Rotkreuzgesellschaften sowie das IKRK. Es ist in der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung einmalig, dass in einem Organ die Vertreter nichtstaatlicher Organisationen gleichberechtigt mit den Vertretern souveräner Staaten zusammenarbeiten. Die Rotkreuzkonferenz besitzt ebenfalls keine Völkerrechtssubjektivität. Sie kann keine Konventionen abschließen oder in Kraft setzen, sondern nur anregen und vorbereiten. Die praktische Wirkung dieser Tätigkeit darf aber nicht unterschätzt werden. Von der Rotkreuzkonferenz kamen wesentliche Impulse für die Genfer Konventionen von 1929 und 1949 sowie für die Zusatzprotokolle von 1977 (hierzu unten Kap.-13.1.2.1). Ganz anders ist die Stellung des IKRK. 226 Ihm wird Völkerrechtssubjektivität zugebilligt. Das erscheint paradox, weil gerade das IKRK in Wirklichkeit nicht international ist, sondern nach der rechtlichen Konstruktion einen ausschließlich aus maximal 25, derzeit 20 Schweizer Bürgern bestehenden und auf Schweizer Privatrecht beruhenden Verein mit Sitz in Genf darstellt. Dieser wurde 1863 auf Initiative des Genfer Bürgers Henry Dunant gegründet. Diese Tatsache hat gelegentlich Anlass zu Kritik gegeben. Jedoch gewährleistet gerade die Beschränkung auf Schweizer Bürger eine enge Verbindung zwischen dem IKRK und der schweizerischen Neutralität, die ihrerseits das internationale Wirken des Roten Kreuzes in sämtlichen militärischen Konflikten ermöglicht hat. Während die Liga der Rotkreuzgesellschaften in Kriegszeiten funktionsunfähig wird, weil ihre Angehörigen in Staaten leben, die sich im Kriegszustand miteinander befinden, was zugleich auch ein Zusammentreten einer Internationalen Rotkreuzkonferenz während großer Kriege unmöglich macht, kann das IKRK, gestützt auf die schweizerische Neutralität, weiter tätig bleiben. Denkt man an die gewaltigen Aufgaben, die dem IKRK in jedem internationalen Konflikt gestellt sind, so mag man darüber verwundert sein, dass diese ungeheure Verantwortung allein auf einer kleinen Zahl von Schweizer Bürgern lastet. Allerdings werden die Schweizer Bürger mittlerweile durch umfangreiches internationales Personal weltweit unterstützt. Es befinden sich zurzeit ca. 1200 Delegierte im Feldeinsatz vor Ort, während ungefähr 800 Mitarbeiter im IKRK Hauptquartier in Genf beschäftigt sind. Die unbestreitbaren Erfolge der Arbeit des IKRK lassen jedenfalls keine Zweifel an der Effektivität seiner Arbeit zu. 226 Vgl. zur Arbeit des IKRK ausführlich D.V. Forsythe, The International Committee of the Red Cross and International Humanitarian Law, HuV-I 2003, 64ff.; siehe auch unter (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). <?page no="160"?> 124 2. Die Völkerrechtssubjektivität 2.4 Andere Rechtsstellungen im Völkerrecht Neben die soeben benannten, jeweils keine volle Völkerrechtssubjektivität besitzenden, aber aus diversen Gründen als (partielle) Völkerrechtssubjekte behandelten Einheiten tritt noch eine weitere Gruppe von Akteuren, denen sämtlich eine gewisse Relevanz bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen nicht abzusprechen ist. Dies hängt bei etlichen der Akteure, wie etwa den Nichtregierungsorganisationen, den transnationalen Unternehmen und dem Individuum mit der derzeitigen Entwicklung des internationalen Systems im Zeitalter der Globalisierung zusammen, von der oben (Kap.-1.3.5.3) bereits die Rede war. Diese Entwicklung war ja dadurch gekennzeichnet, dass die Steuerungsfunktion des souveränen Staates angesichts globaler Herausforderungen und damit verbundener verstärkter nichtstaatlicher Interessenartikulation auf eine ernste Probe gestellt zu werden scheint, weil sich ein nicht unerheblicher Teil von - auch rechtlich relevanten - kommerziellen wie nichtkommerziellen Transaktionen außerhalb der Reichweite der souveränen Nationalstaaten vollzieht. Da, wie bereits hervorgehoben wurde, der Kreis der Völkerrechtssubjekte zahlenmäßig nicht begrenzt ist, ist für die nachfolgend darzustellenden Akteure im Einzelnen zu untersuchen, ob sie vom Völkerrecht bereits mit einer Rechtsstellung ausgestattet sind, die es erlaubt, auch hier von partieller Rechtssubjektivität zu sprechen. 2.4.1 Nichtstaatliche internationale Organisationen Aus diesem Kreise sind zunächst die nichtstaatlichen internationalen Organisationen zu nennen, die auch als Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organisations, NGOs) bezeichnet zu werden pflegen. 227 Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass sie sich, anders als die Regierungsorganisationen, nicht als Staatenverbindungen aus Staaten zusammensetzen, sondern aus natürlichen (und juristischen) Personen verschiedener Staaten. Sie wirken zur Verfolgung bestimmter ideeller Zwecke (etwa Menschenrechtsschutz oder Umweltschutz) über Staatsgrenzen hinweg. Die wachsende Bedeutung der Nichtregierungsorganisationen wird schon an ihrem zahlenmäßig raschen Anwachsen (waren es 1951 noch 832, so wurden im Jahre 2015 8976 NGOs registriert; 228 sowie der Vielzahl der Gebiete, auf denen sie tätig werden, erkennbar. Dazu zählen etwa, um nur einige Beispiele zu nennen, die Bereiche der Wohlfahrt, Erziehung, Jugendfürsorge, Medizin, Wirtschaft, der kirchlichen Zusammenarbeit und des Sports. Das Internationale Olympische Komitee gehört ebenso zu den Nichtregierungsorganisationen wie der Internationale Schriftstellerverband PEN, die internationale Juristenvereinigung ILA, der Weltkirchenrat und der Weltgewerkschaftsbund. Dabei kann das Wirken der Nichtregierungsorganisationen die verschie- 227 Zur Problematik des Rechtsstatus der NGO siehe etwa S. Hobe, Der Rechtsstatus der Nichtregierungsorganisationen nach geltendem Völkerrecht, AVR 37 (1999), 152ff., S. Hobe, Non-Governmental Organizations (März 2010), MPEPIL (Online-Ed.), sowie M.- Hempel, Die Völkerrechtssubjektivität internationaler nichtstaatlicher Organisationen, 1999. 228 Quelle: Union of International Association (UIA), Yearbook of International Organizations: Statistics on International Organisations, Bundeszentrale für politische Bildung 2015; www.bpb.de/ nachschlagen/ zahlen-und-fakten/ globalisierung/ 52808/ ngos (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). <?page no="161"?> 125 2.4 Andere Rechtsstellungen im Völkerrecht densten Formen annehmen. Es kann sich um reines Lobbying, um den prononcierten Versuch der Einflussnahme auf Regierungshandeln sowie auf staatliche und internationale Gesetzgebung und schließlich auch um die Einbeziehung in das Tätigwerden internationaler Organe handeln. Nichtregierungsorganisationen werden auf nationaler Ebene unterschiedlich behandelt. In manchen Staaten besteht eine Registrierungspflicht, die oft mit der Verpflichtung zur Offenlegung der Finanzen verknüpft ist. Auf völkerrechtlicher Ebene besteht eine solche Offenlegungspflicht allerdings nicht. Eine Beurteilung des aktuellen völkerrechtlichen Status der Nichtregierungsorganisationen wird von der für jede dieser Organisationen gesondert zu beantwortenden Frage abhängig zu machen sein, inwieweit die Regeln des Völkerrechts diese Organisationen konkret mit Rechten und Pflichten ausstatten. Dabei bietet zunächst Art. 71 der UN-Charta einen normativen Ansatzpunkt. Hiernach steht den Nichtregierungsorganisationen nach Maßgabe verschiedener Kategorien ein Konsultativstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat zu. Dieser Status war lange durch die Res. 1296 (XLIV) des Wirtschafts- und Sozialrats vom 23. Mai 1968 geregelt und findet sich nunmehr in dessen Resolution 1996/ 31 vom 25. Juli 1996. Nach dieser Resolution haben die NGOs der Kategorie I das Recht, zu allen Sitzungen des Wirtschafts- und Sozialrats Beobachter zu entsenden sowie Anträge und Materialien bis zu einem Höchstumfang von 2000 Wörtern an alle Mitgliedstaaten zu versenden, Sachfragen auf die vorläufige Tagesordnung des Wirtschafts- und Sozialrats setzen zu lassen und auf Antrag oder Aufforderung förmlich konsultiert zu werden. Auch in den Ausschüssen und Kommissionen des Wirtschafts- und Sozialrats haben sie auf Antrag oder Aufforderung ein Rede- und Anhörungsrecht. Dieses Recht haben auch die Organisationen der Kategorie II, ebenso wie das Recht, zu allen Sitzungen des Wirtschafts- und Sozialrats Beobachter zu entsenden. Anträge und Materialien (bis zu einer Höchstgrenze von 500 Wörtern) dürfen die NGOs der Kategorie II aber nur auf Antrag von mindestens einem Mitgliedstaat versenden. Weitere Rechte stehen den Organisationen der Kategorie II nicht zu. In die Kategorie I werden diejenigen NGOs aufgenommen, deren grundsätzliches Interesse sich auf fast alle Tätigkeitsbereiche und Aufgabengebiete des Wirtschafts- und Sozialrats erstreckt und die den Nachweis erbringen, dass sie in der Lage sind, auf den Gebieten Sozialwesen, Kultur, Erziehung, Gesundheit, Wissenschaft, Technologie und Menschenrechte wesentliche Beiträge für die Arbeit der Weltorganisation leisten zu können. Als weiteres Erfordernis tritt die Repräsentation von größeren Bevölkerungsteilen in einer Vielzahl von Ländern hinzu. Für die Aufnahme in die Kategorie II genügt ein spezifisches Interesse an partiellen Aufgabenbereichen des Wirtschafts- und Sozialrats, die internationale Anerkennung als qualifizierte Fachorganisation des betreffenden Fachgebiets sowie eine repräsentative Vertretung des jeweiligen Fachgebietes. NGOs, die nicht die Voraussetzungen für die Aufnahme in eine der beiden Kategorien erfüllen, können auf Antrag in ein Register (roster) aufgenommen werden, das der Wirtschafts- und Sozialrat führt. Voraussetzung hierfür ist, dass die betreffende nichtstaatliche internationale <?page no="162"?> 126 2. Die Völkerrechtssubjektivität Organisation nach Meinung des Wirtschafts- und Sozialrats oder des Ausschusses für nichtstaatliche Organisationen in einzelnen Problemkreisen und Sachfragen einen nützlichen Beitrag für die-Arbeit der Vereinten Nationen leisten kann. Die in das Register aufgenommenen NGOs dürfen Beobachter entsenden, haben aber Anhörungs- und Konsultationsrechte nur in den Ausschüssen und auch dort nur auf Antrag und Aufforderung. 229 Seit der Reform der Zulassungsbedingungen werden die Vorschriften vom Wirtschafts- und Sozialrat restriktiv gehandhabt. Zur Kategorie I gehörten Ende 1996 nur 35 NGOs, darunter die folgenden: Internationale Handelskammer (deutsches Mitglied: Deutscher Industrie- und Handelskammertag), Internationaler Bund freier Gewerkschaften (deutsches Mitglied: Deutscher Gewerkschaftsbund), Internationaler Genossenschaftsverband, Internationaler Rat für Sozialarbeit, Internationaler Verband landwirtschaftlicher Erzeuger (deutsches Mitglied: Deutscher Bauernverband), Internationale Arbeitgeber-Organisation (deutsches Mitglied: Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände), Internationaler Gemeindeverband (deutsche Mitglieder: Deutscher Städtetag, Deutscher Landkreistag), Internationale Vereinigung der offiziellen Fremdenverkehrsorganisationen, Interparlamentarische Union, Liga der Rotkreuz-Gesellschaften, Weltbund der Partnerstädte, Internationaler demokratischer Frauenbund, Weltverband der Arbeitnehmer (deutsches Mitglied: Christlicher Gewerkschaftsbund Deutschlands), Weltgewerkschaftsbund, Weltverband der Gesellschaften für die Vereinten Nationen (deutsches Mitglied: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen), Weltfrontkämpferverband (Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland: Verband der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner; Reichsbund der Zivil- und Kriegsgeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen). Zur Kategorie II gehörten 276 NGOs, darunter Arbeitgeberverbände, Frauenvereinigungen, Organisationen für Handel und Wirtschaft, für Verkehr und Transportwesen, für Menschenrechte, für Familie und Jugend, für Soziales und Wohlfahrt. Diese Vorschriften deuten bereits an, dass Nichtregierungsorganisationen bestimmte abgestufte Mitwirkungsbefugnisse im Rahmen des Sekundärrechts der Vereinten Nationen verliehen werden sollen. Es gibt aber insbesondere im Bereich der Menschenrechte, wo Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch ganz bedeutende Aufgaben erfüllen, Hinweise auf noch deutlichere völkerrechtliche Berechtigungen der Nichtregierungsorganisationen. So zeigen etwa Art. 34 der Europäischen und Art. 44 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention sowie die Verfahrensregeln des Ausschusses für die Verhinderung von Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten, die ihnen Antragsbefugnisse im Namen von Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen einräumen, dass auch das primäre Völkerrecht jenen NGOs in diesem Bereich echte Berechtigungen zuerkennen kann. Die gewachsene Bedeutung der Nichtregierungsorganisationen hat also im Völkerrecht Niederschlag gefunden. Wo dies, wie etwa im Bereich der Normerzeugung, jedenfalls derzeit noch nicht formalisiert ist, ist doch darauf hinzuweisen, dass NGOs nicht nur in informeller Weise in den Pro- 229 Die Anzahl der NGOs mit Konsultativstatus beim ECOSOC betrug im Jahre 2018 5161 NGOs: https: / / csonet.org/ ? menu=100 (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). <?page no="163"?> 127 2.4 Andere Rechtsstellungen im Völkerrecht zess der Normsetzung durch intensive Kommunikation mit Staatenvertretern involviert sind - als Beispiele wären etwa die Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung von 1992 oder die Rom-Konferenz zur Verabschiedung des Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof 1998 zu nennen -, sondern, wie etwa das Beispiel der Landminenkonvention zeigt, zum Teil der internationale Normsetzungsprozess überhaupt erst auf Initiative der NGOs zu Stande kommt. 230 Deswegen erscheint es zunehmend fraglich, ob eine partielle Völkerrechtssubjektivität der NGOs noch immer kategorisch abzulehnen ist. Vielmehr wird man heute davon auszugehen haben, dass zwar nicht generell, wohl aber von Fall zu Fall den entsprechenden NGOs partielle Völkerrechtssubjektivität zukommen kann. 2.4.2 Transnationale Unternehmen Die zweite Gruppe von Akteuren, denen auf Grund ihrer gestiegenen faktischen Bedeutung im Zeitalter der Globalisierung auch eine möglicherweise gesteigerte rechtliche Funktion zuzubilligen ist, sind die sog. transnationalen Unternehmen (Transnational Corporations, TNCs). Darunter sind Unternehmen zu verstehen, die über Produktionsstätten und Niederlassungen in mehreren Staaten verfügen, einen großen Teil ihrer Umsätze im Ausland tätigen und ihre strategische Unternehmensplanung weltweit ausrichten. Sie werden durch internationale Kapitaltransaktionen tätig. Die Auslandsniederlassungen sind in der Regel selbständig, so dass die TNCs fast immer multinationale Konzerne sind. Die entsprechende Auslandsorientierung derartiger Unternehmen begann langsam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 231 setzte sich dann stärker nach dem Ersten Weltkrieg fort und steigerte sich kontinuierlich bis in die heutige Zeit. Ob es sich dabei um IBM, ITT, Shell, Exxon, Unilever oder Google handelt: Die Bedeutung dieser Unternehmen wird neben ihrer beträchtlichen, das Bruttosozialprodukt manchen Staates bei weitem übersteigenden Wirtschaftskraft schon aus ihrer transnationalen Wirkweise deutlich. Dieses hatte insbesondere bezüglich der Auslandsinvestitionen dieser Unternehmen lange Zeit eine recht kritische Haltung der Gruppe der Entwicklungsländer gefördert, die befürchteten, dass die wirtschaftliche Stärke solcher Unternehmen diese in eine dominierende, ihre nationale Souveränität missachtende Verhandlungsposition versetzen könnte. Die Aktivitäten sowie die steigende Bedeutung der transnationalen Unternehmen hatten insbesondere in den 1980ern zu internationalen Bemühungen verschiedenster Institutionen mit dem Ziel geführt, jedenfalls sog. Verhaltensmaßregeln für die transnationalen Unternehmen zu verabschieden. Als solche sind etwa die entsprechenden Entwürfe für Kodizes der Internationalen Handelskammer, der Internationalen Arbeitsorganisation, der Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 232 und schließlich auch der Vereinten Nationen zu nennen. 233 Die Arbeit 230 Siehe zuletzt die Referate von C. Ohler und J. von Bernstorff zum Thema „Die Rolle nicht-staatlicher Akteure bei der Entwicklung und Implementierung des Völker- und Europarechts“ auf der Staatsrechtslehrertagung 2019 in Marburg (noch unveröffentlicht), sowie die Referate von T. Domej, O. Dörr, A.-Dutta, P. Hilpold, S. Huber, N. Krisch, G. Rühl und S. Vöneky auf der Wiener Tagung der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht in BDGIR 50 (2020). 231 Zur frühen Form in Gestalt der Hanse, bzw. der britischen und holländischen Ostindienkompanie siehe etwa G. Dahm/ J. Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht I/ 2, 2.-A., 2002, 246ff. m.w.N. 232 Nachzulesen unter www.oecd.org (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 233 Dazu E.-U. Petersmann, Codes of Conduct, EPIL I (1992), 627ff. <?page no="164"?> 128 2. Die Völkerrechtssubjektivität der Vereinten Nationen etwa endete in einem „UN-Entwurf von Verhaltensmaßregeln für Transnationale Unternehmen“ sowie der Etablierung eines UN-Zentrums für Transnationale Unternehmen. 234 Diese Verhaltensmaßregeln versuchen, die transnationalen Unternehmen an die Respektierung der Souveränität des Gaststaates etwa bei Auslandsinvestitionen zu binden. Daneben steht u.-a. die Beachtung der Menschenrechte und die Festschreibung bestimmter Mindestarbeitsbedingungen. Doch ist es seinerzeit nicht zu einer Einigung über diesen Verhaltenskodex gekommen, weil ein Konsens zwischen den Industriestaaten, die den transnationalen Unternehmen möglichst viel Handlungsfreiheit erhalten wollten, und den Entwicklungsländern sowie der sozialistischen Staatenwelt, die jeweils auf die Verabschiedung möglichst rigider Regeln drängten, nicht zu Stande kam. Inzwischen hat sich dieser Streit insoweit abgemildert, als viele Entwicklungsländer erkannt haben, dass entscheidende Entwicklungsfortschritte nur durch Auslandsinvestitionen der transnationalen Unternehmen zu erreichen sind, und die früheren sozialistischen Staaten ihren ideologisch inspirierten Widerstand aufgegeben haben. So besteht seit 1994 eine Kommission für internationales Investment als Beratungsorgan des Wirtschafts- und Sozialrats. 235 Es ist aber bislang zu keiner Verabschiedung eines entsprechenden Verhaltenskodex gekommen. Auch ist bislang nicht von einer gewohnheitsrechtlichen Bindung der transnationalen Unternehmen an das Völkerrecht auszugehen. Damit ist im Regelfall also anzunehmen, dass mögliche Verstöße gegen Völkerrecht, etwa im Bereich der Menschenrechte, jeweils über den Heimatstaat des transnationalen Unternehmens geltend zu machen sind. Freilich ist heute vermehrt zu beobachten, dass etliche transnationale Unternehmen - oft unter Marketingaspekten-- sich selbst Verhaltensmaßregeln auferlegen, die z.-B. darauf abzielen, keine auf Grund von Kinderarbeit entstandenen Produkte zu vertreiben. In eine ähnliche Richtung deutet der 2000 vom Generalsekretär der Vereinten Nationen initiierte Global Compact, ein Regelwerk, das der Unterzeichnung durch (transnationale) Unternehmen offen steht und mit dem sich diese zur Einhaltung bestimmter Standards im Bereich des Menschenrechts- und des Umweltschutzes verpflichten. 236 Und auch generell ist zu beobachten, dass das Völkerrecht zunehmend die Interessen wie auch die Pflicht 237 privater Wirtschaftssubjekte in den Blick nimmt. So zeigt sich, dass in einem zunehmendem Maße Unternehmen als Streitbeteiligte von internationalen Organen zugelassen werden. Das gilt etwa nach der Seerechtskonvention von 1982 für Meeresbergbau betreibende Unternehmen in sie betreffenden Streitfällen (vgl. Annex VI Art. 20 Abs. 2 SRK), 238 sowie nach der Entscheidung des 234 Siehe ILM 23 (1984), 626 und W. Spröte, Negotiations on a United Nations Code of Conduct on Transnational Corporations, GYIL 33 (1990), 331. 235 Vgl. L. A. Kimbell, General Developments, YIEL 5 (1994), 136. 236 Dazu A.-Blüthner, Ein Globalisierungspakt über Werte und Effizienz, in: S. Hobe (Hg.), Kooperation oder Konkurrenz internationaler Organisationen, 2001, 72ff.; kritisch etwa E. Oshionebo, The U.N. Compact and Accountability of Transnational Corporations: Separating Myth from Reality, FloridaJIL 19 (2007), 1ff. 237 Dazu etwa A. Emmerich-Fritsche, Zur Verbindlichkeit der Menschenrechte für transnationale Unternehmen, AVR 45 (2007) 541ff., die eine Bindung der Unternehmen an Menschenrechte bejaht. 238 Sartorius II, Nr.-350a. <?page no="165"?> 129 2.4 Andere Rechtsstellungen im Völkerrecht Appellate Body der Welthandelsorganisation vom 12. Oktober 1998 im Shrimps-Turtle-Verfahren, 239 wonach eine direkte und nicht nur staatenunterstützte Funktion von Unternehmen im WTO- Streitbeilegungsverfahren nach geltendem WTO-Recht (Art. 13 der Vereinbarung der Regeln und Verfahren zur Streitbeilegung) 240 möglich sei. Diese zunächst den verfahrensrechtlichen Bereich betreffenden Entwicklungen zeigen sehr deutlich, dass das internationale Recht in stärkerem Maße als je zuvor bereit ist, der enormen Bedeutung dieser Unternehmen Rechnung zu tragen. Wenn man sich zudem vergegenwärtigt, dass mittels moderner Kommunikationstechnologie der Transfer von Kapital um die gesamte Welt innerhalb eines transnationalen Unternehmens jederzeit in sehr kurzer Zeit möglich ist, und dabei dieser weltweite Kapital-Transfer weitgehend staatlicher Kontrolle entzogen ist, wird man jedenfalls in Zukunft wohl kaum noch umhinkommen, insbesondere die Handlungen der Staatsgrenzen überschreitenden und sich damit tendenziell einzelstaatlicher Regelung entziehenden transnationalen Unternehmen auch materiellrechtlichen internationalen Regelungen zu unterziehen. Will man also heute, wie dies wohl überwiegend getan wird, noch die Völkerrechtssubjektivität transnationaler Unternehmen verneinen, 241 ist eine solch kategorische Position in Zukunft wahrscheinlich immer deutlicher in Frage zu stellen. 242 Auch die sich abzeichnenden Bestrebungen zur Schaffung eines Weltkartellrechts 243 (dazu auch unten Kap.-9.2.6) weisen in diese Richtung. 2.4.3 Das Individuum Wie die transnationalen Unternehmen tauchte im klassischen Völkerrecht das Individuum überhaupt nicht auf der völkerrechtlichen Ebene auf. Es war durch seinen Staat „mediatisiert“; alle völkerrechtsunmittelbaren Beziehungen waren also ausschließlich Sache der Staaten, die insofern auch die Interessen der Einzelnen vermittelten. Die Völkerrechtslehre verweigerte den Einzelnen nicht nur die Position eines Völkerrechtssubjekts, sondern betrachtete das Individuum sogar als reines Objekt der Völkerrechtsnormen. Diese „Objekttheorie“ kann heute als überwunden gelten. 244 Immer häufiger wird sogar die Meinung vertreten, dass in jeder Rechtsordnung letztlich nur der Mensch Rechtssubjekt sein kann, und dass auch die Staaten und internationalen Organisationen ihre Rechtssubjektivität in der Ordnung des Völkerrechts von Einzelmenschen ableiteten. 245 239 Dazu S. Ohlhoff, Beteiligung von Verbänden und Unternehmen in WTO-Streitbeilegungsverfahren, EuZW 10 (1999), 139. 240 Sog. Dispute Settlement Understanding, abgedruckt in ILM 33 (1994), 1226ff.; siehe dazu auch unten Kap.-9.2.2. 241 Meinungsstand bei G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Band I/ 2, 2.-A., 2002, 243ff.,-257. 242 Siehe zu neuen Entwicklungen in diesem Bereich A.-Seibert-Fohr, Die Deliktshaftung von Unternehmen für die Beteiligung an im Ausland begangenen Völkerrechtsverletzungen, Anmerkungen zum Urteil Doe I v. Unocal Corp. des US Court of Appeal (9th Circuit), ZaöRV 63 (2003), 195ff. 243 Siehe etwa J.-Basedow, Weltkartellrecht, 1998. 244 Vgl. G.-Manner, The Object Theory of the Individual in International Law, AJIL 46 (1952), 428ff. 245 So bereits H. Krabbe, Die Lehre von der Rechtssouveränität, 1906, L. Duguit, Traité du droit constitutionnel, 2.-A., 1921, N.E. Politis, Les nouvelles tendances du droit international, 1927. <?page no="166"?> 130 2. Die Völkerrechtssubjektivität Bereits in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war dieses Thema diskutiert worden und zwar unter Hinweis auf das damals im Entstehen begriffene Minderheitenrecht (dazu unten Kap. 2.4.4 und Kap.-10.6). Die Völkerrechtslehre kam zu dem Ergebnis, dass von einer Völkerrechtsfähigkeit der Einzelnen nicht gesprochen werden könne, weil das Minderheitenrecht nur den Völkerbund und die Staaten berechtigte und verpflichtete, so dass die Einzelnen nur als Begünstigte, nicht aber als eigene Rechtsträger auftraten. Später war es der begrenzte Zutritt von Einzelpersonen zu internationalen Gerichten, der den Gedanken nahe legte, die Einzelperson als partielles Völkerrechtssubjekt zu betrachten. In diesem Zusammenhang war das Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs von 1928 im Danziger Eisenbahnarbeiter-Fall von Bedeutung. Dabei ging es um die Frage, ob sich die in den Dienst der polnischen Staatsbahnverwaltung eingetretenen Beamten der Danziger Eisenbahn vor Danziger Gerichten zur Wahrung finanzieller Ansprüche auf das Beamtenabkommen zwischen Danzig und Polen berufen könnten. Der StIGH betonte zwar einerseits, dass dem Abkommen die Funktion einer Berechtigung Einzelner nicht zukommen könne, andererseits aber auch, dass es generell möglich sei, solche Individualrechte durch Vertrag einzuräumen. 246 Auch hier blieben aber die Staaten die eigentlichen Träger der Rechte, und die Völkerrechtswissenschaft war einhellig der Auffassung, dass „die Staaten die Herren der Sache geblieben seien.“ Verschiedene Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg gebieten es nun allerdings, das Individuum als partielles Völkerrechtssubjekt anzuerkennen. Die maßgebenden Entwicklungen sind einmal die Herausprägung eines immer dichter werdenden Netzes menschenrechtlicher Verbürgungen, welche, beginnend mit der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (AEMR), die zunehmend auch universell akzeptierte Vorstellung einer Vorstaatlichkeit der menschlichen Würde und ihres Schutzes mit sich brachten. Gerade wegen dieser Vorstaatlichkeit handelt es sich aber bei den Menschenrechten nicht um bloße - vom Staat jederzeit rücknehmbare - Vergünstigungen, sondern um genuine, von allen Staaten anzuerkennende Berechtigungen der Einzelnen. Die nach wie vor unbezweifelbar bestehenden Defizite vor allem bei der Durchsetzbarkeit dieser Rechte, etwa im Bereich des internationalen Flüchtlingsrechts (dazu unten Kap.-10.5), stehen dieser Tatsache nicht entgegen. Betrachtet man die Reichweite der universellen (AEMR, IPbürgR und IPwirtR) sowie regionalen (EMRK, AMRK, Afrikanische Charta der MR) Menschenrechtsverbürgungen und vergleicht die ihnen inhärenten Durchsetzungsmechanismen (dazu im Einzelnen unten Kap.- 10.4) mit dem Standard des allgemeinen Völkerrechts bezüglich der Durchsetzungsmöglichkeit dieser Rechte, so wird erkennbar, dass die bloße Zuweisung einer Objektposition an das Individuum seiner gegenwärtigen Rolle im Völkerrecht nicht mehr gerecht würde. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht jede vertraglich geschützte menschenrechtliche Regelung tatsächlich auch Individualrechte zuweist. Manche Konventionen verstehen sich lediglich als Niederlegung staatlicher Schutzpflichten im Menschenrechtsbereich, ohne gleichzeitig Individualrechte zu gewähren. Wiederum andere Konventionen gewähren zwar Individualrechte, stellen jedoch keine oder nur unzureichende Mechanismen zur individuellen Geltendmachung dieser Rechte auf der internationalen Ebene bereit. Dies ist jedoch ohne Einfluss auf den Status, den die Einzelnen als Völkerrechtssubjekte 246 StIGH, Jurisdiction of the Courts of Danzig, Advisory Opinion, Reports PCIJ, Series B-N 15, 17. <?page no="167"?> 131 2.4 Andere Rechtsstellungen im Völkerrecht im Rahmen letztgenannter Konventionen genießen, da die Geltendmachbarkeit von Rechten kein notwendiges Kriterium der Inhaberschaft völkerrechtlicher Rechte ist. Sozusagen komplementär zu den Berechtigungen des internationalen Menschenrechtsschutzes besteht die nach 1945 zunächst von den Nürnberger und Tokioter Kriegsverbrechertribunalen angenommene strafrechtliche Verantwortlichkeit des Individuums für völkerrechtliche Verbrechen. Mochte man über einen längeren Zeitraum trotz der Bemühungen der International Law Commission um Kodifizierung der entsprechenden völkerrechtlichen Regeln 247 noch Zweifel daran hegen, ob sich bestimmte Regeln des Völkerstrafrechts über die Fälle der Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkrieges hinaus insbesondere auch in Form der spezifischen individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit herausgeprägt hatten, so ist daran nach den in jüngster Zeit durch die Statuten des Jugoslawien-Tribunals (Art. 7 ICTY-Statut) und des Ruanda-Tribunals (Art. 6 ICTR-Statut) und insbesondere auch des am 1. Juli 2002 in Kraft- getretenen Statuts für einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof (Art. 25ff. IStGH-Statut) kein Zweifel mehr möglich. Das Völkerrecht selbst ist also-mit konkreten Unrechtstatbeständen an das Individuum adressiert, das sich für sein Handeln nicht mehr hinter seinem Staat „verstecken“ kann (dazu unten Kap.-14). Eine ähnliche Entwicklung hat der Status von Individuen im Bereich des Konsularrechts genommen. Auch hier gilt nunmehr als anerkannt, dass das Individuum aus der Konsularrechtskonvention von 1963 (WÜK, dazu unten Kap.-8.2) unmittelbare Rechte herleiten kann. Hintergrund dieser Feststellung war das Urteil des Internationalen Gerichtshofs) im LaGrand-Fall. 248 Dabei ging es darum, dass die deutschen Staatsangehörigen Karl und Walter LaGrand unter Missachtung von Art. 36 WÜK in den USA wegen Mordes zum Tode verurteilt und auch hingerichtet wurden. Der IGH sah in Art. 36 WÜK eine Zuweisung von Individualrechten, wonach fremden Staatsangehörigen sowohl das Recht zukommt, über die Möglichkeit, konsularischen Beistand zu suchen, informiert zu werden, als auch diesen Beistand in Anspruch zu nehmen. Als Folge des LaGrand-Urteils ist damit zu rechnen, dass auch in anderen Bereichen Regelungen mit einer besonderen individualschützenden Funktion als Individualrechte anerkannt werden. 249 Bereits heute wird man dabei die Position von Investoren auch als eine solche partieller Völkerrechtssubjektivität bezeichnen können. 250 247 Siehe dazu die langjährigen Arbeiten der ILC, die erst 1996 den endgültigen Entwurf des „Draft Code on Crimes against the Peace and Security of Mankind“ vorlegten. 248 LaGrand-Fall, Urteil vom 27.06.2001, in Auszügen abgedruckt in EuGRZ 28 (2001), 287ff.; siehe dazu auch die Besprechungen von K.- Oellers-Frahm, Die Entscheidung des IGH im Fall LaGrand - Eine Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit und der Rolle des Individuums im Völkerrecht, EuGRZ 28 (2001), 265ff.; U. Häußler, Diplomatischer und konsularischer Schutz im Ausland inhaftierter deutscher Staatsangehöriger, JA 34 (2002), 112ff.; C. Hoppe, Implementation of LaGrand and Avena in Germany and the United States: Exploring a Transatlantic Divide in Search of a Uniform Interpretation of Consular Rights, EJIL 18 (2007), 317ff.; für eine kritische Anmerkung zu dem Urteil siehe C.-Hillgruber, JZ 57 (2002), 94ff. 249 C.-Tams, Das LaGrand-Urteil - IGH, EuGRZ 28 (2001), 287; JuS 41 (2001), 287ff. 250 T.R. Braun, Ausprägungen der Globalisierung: Der Investor als partielles Subjekt im Internationalen Investitionsrecht, 2012. <?page no="168"?> 132 2. Die Völkerrechtssubjektivität Im Jahr 2006 hat die ILC zudem „Draft Articles on Diplomatic Protection“ verabschiedet. 251 Hierin wird der Staat für berechtigt erklärt, diplomatischen Schutz über seine natürlichen Personen (mit seiner Staatsangehörigkeit) wie auch seine juristischen Personen (es wird die Kontrolltheorie angewendet) auszuüben. 252 Auch im Gefolge der Terroranschläge des 11. Septembers 2001 gab der völkerrechtliche Status des Individuums erneut Anlass für Diskussionen. In diesem Zusammenhang stellte sich nämlich die Frage, ob Terroristen als mögliche Urheber eines bewaffneten Angriffs im Sinne des Art. 51 UN-Charta in Frage kommen könnten. In der völkerrechtlichen Lehre wird dies zur Rechtfertigung von Reaktionsmaßnahmen zumindest gegen die Terrorgruppierung der Al Qaida weitestgehend bejaht (siehe dazu unten Kap. 5.1.3.7). Daraus lässt sich der Rückschluss ziehen, dass Individuen jedenfalls dann, wenn sie als Terroristen agieren, die Fähigkeit zur Begehung von bewaffneten Angriffen zukommt. Ob sich daraus auch eine allgemeine Deliktsfähigkeit bzw. Völkerrechtssubjektivität im Bereich der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit ableiten lässt, kann allerdings derzeit noch nicht abschließend beurteilt werden. Schließlich erscheint bezüglich der Geltendmachung des diplomatischen Schutzes ein Verständnis im Sinne eines ausschließlich dem Heimatstaat zustehenden Rechtes mit der Aufwertung der Rechtssubjektqualität des Individuums nicht mehr vereinbar. 253 Sicher ist es so, dass der Heimatstaat dieses Recht auf diplomatischen Schutz gegenüber dem Drittstaat geltend macht. Er macht damit aber jedenfalls auch - sozusagen treuhänderisch - die Rechtsverletzung des Individuums geltend. Insofern kann nicht mehr gesagt werden, dass ausschließlich ein Recht des Staates bestehe. 254 Im Ergebnis ist deshalb festzuhalten, dass insbesondere die Entwicklungen nach 1945 eine erhebliche Verstärkung der Rechtsposition des Individuums mit sich gebracht haben. Durch diese wird es zwar nicht auf die gleiche Stufe mit den Staaten gestellt, es wird ihm aber ganz unzweifelhaft ein sich auch in der wachsenden Einräumung eines ius standi, d.-h. eines Rechtes auf auch prozessuale Geltendmachung seiner materiellen Rechtspositionen, ausdrückender partieller Subjektstatus gewährt. Angesichts der vielfältigen entgrenzend wirkenden multimedialen Entwicklungen des Zeitalters der Globalisierung ist zudem eine Verstärkung dieses Trends zu erwarten. Insofern ist 251 Doc. GAOR, 61 sess., Supplement No. 10 (A/ 61/ 10). 252 Siehe dazu A. Vermeer-Künzli, As if: The Legal Fiction in Diplomatic Protection, EJIL 18 (2007), 37ff. und dies., The Protection of Individuals by Means of Diplomatic Protection, 2007; C. Amerasinghe, Diplomatic Protection, 2008. 253 Zur Problematik siehe D.- Blumenwitz, Die deutsche Staatsangehörigkeit und die Schutzpflicht der Bundesrepublik Deutschland, in: FS Ferid, 1978, 439ff.; N. Brunner, Die Frage nach dem Anspruch des Bürgers auf diplomatischen Schutz, 1983; K.- Doehring, Die Pflicht des Staates zur Gewährung diplomatischen Schutzes, 1959, 45ff.; W.K.-Geck, Der Anspruch des-Staatsbürgers auf Schutz gegenüber dem Ausland nach deutschem Recht, ZaöRV 17 (1956/ 57), 476ff.; K.-Hailbronner, Deutsche Staatsangehörigkeit und diplomatischer Schutz durch die BRD, JZ 30 (1975), 596ff.; E.-Klein, Diplomatischer Schutz und grundrechtliche Schutzpflicht, DÖV 30 (1977), 704ff. 254 K.- Doehring, Völkerrecht, 2.- A., 2004, Rn.- 870 und Fn. 35 spricht in diesem Zusammenhang von der Geltendmachung zweier Rechtsverletzungen durch den Staat: einer eigenen durch die Verletzung des Staatsbürgers und daneben der menschenrechtlich relevanten des Staatsbürgers selbst. <?page no="169"?> 133 2.4 Andere Rechtsstellungen im Völkerrecht es für manche bereits gerechtfertigt, das Vorliegen sogenannter subjektiv-internationaler Rechte im Völkerrecht zu bejahen. Zudem sei es gerechtfertigt, das Individuum zum primären Völkerrechtsubjekt zu machen. 255 2.4.4 Völker, Volksgruppen, Minderheiten und indigene Völker Was soeben im Sinne einer partiellen Völkerrechtssubjektivität für das Individuum festgestellt werden konnte, gilt - freilich nicht in dem gleichen Umfang - auch für die nunmehr zu beschreibenden „Gruppen“ von Individuen. Sie stehen, wie sogleich zu zeigen sein wird, im Schnittpunkt zweier teilweise gegenläufiger Interessen, von denen bereits bei der Darstellung des Selbstbestimmungsrechts der Völker (siehe oben Kap.-2.1.8) die Rede war. Dies ist zum einen der souveräne Staat mit seinem Anspruch auf Erhaltung der Staatsgrenzen, dem sich zum anderen Ansprüche auf Selbstbestimmung von Völkern, Volksgruppen und/ oder Minderheiten innerhalb des Staatsverbandes oder von außen entgegenstellen können. Das gilt zunächst für Völker und Volksgruppen. Schon der Versuch einer exakten Definition des „Volkes“ sieht sich der Schwierigkeit ausgesetzt, die rechtlich erheblichen Konturen dieses personalen Substrats genau zu fassen. 256 Dies gilt weniger für den Fall, dass ein durch das Staatsangehörigkeitsband wesentlich kohärentes Staatsvolk zu bestimmen wäre. Ungleich schwieriger ist vielmehr der Fall definitorisch zu erfassen, dass auf einem Staatsgebiet mehrere Bevölkerungsschichten den Anspruch erheben, als Volk Inhaber des Selbstbestimmungsrechts zu sein, bzw. die sich als Volk verstehende Einheit auf dem Territorium verschiedener Staaten siedelt. Mit aller Behutsamkeit wird man „Volk“ als Gruppe von Menschen verstehen können, die sich durch objektive Merkmale kultureller und ethnischer Art wie Sprache, Religion, Ethnie und ein gemeinsames geschichtliches Erbe, sowie durch subjektive Merkmale wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl auszeichnet. 257 Dabei ist, wie sogleich zu zeigen ist, der Volksbegriff, so er sich nicht mit dem des Staatsvolks deckt, in erster Linie für die Bestimmung von Rechten der Minderheiten und indigenen Völker maßgebend. Wenn das Völkerrecht heute den Völkern ein Selbstbestimmungsrecht gewährt, bedeutet dies vornehmlich ein auf die Schaffung adäquater Rahmenbedingungen für das Leben des Staatsvolks gerichtetes „inneres“ Selbstbestimmungsrecht. Dies kann für den Fall des Bestehens spezifischer, sich durch bestimmte Merkmale wie Ethnie, Religion oder gemeinsame Sprache auszeichnender Volksgruppen auf die völkerrechtliche Verpflichtung zur möglichsten Harmonisierung des Miteinanderlebens solch verschiedener Gruppen im Staatsverband hinauslaufen. Nur für den äußersten Fall schwerster Verletzung der Menschenrechte wird darüber hinausgehend auch ein Sezessionsrecht als Geltendmachung eines „äußeren“ Selbstbestimmungsrechts hinzugerechnet. 255 Insbesondere A. Peters, Das subjektive internationale Recht, JÖR nF 59 (2011), 411ff.; sowie dies., Jenseits der Menschenrechte, 2014 passim; diese Tendenz - zu Unrecht- - negierend B. Grzeszick, Rechte des Einzelnen im Völkerrecht, AVR 43 (2005), 312ff. 256 Beispielhaft insofern G. Dahm/ J. Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht I/ 2, 2.-A., 2002, §§-82f. 257 Siehe K.-Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-10, Rn.-53ff. <?page no="170"?> 134 2. Die Völkerrechtssubjektivität Schon auf dieser theoretischen Grundlage ist ersichtlich, dass das Völkerrecht einen eigenständigen Subjektstatus von Völkern oder Volksgruppen nicht anerkennt. In diesem Kontext bislang am weitesten ist allerdings die Frage der Zuerkennung einer völkerrechtlichen Rechtsposition für Minderheiten gediehen, als deren Spezialfall sich der Rechtsstatus der indigenen Völker erweist. Insbesondere der Zerfall der früheren Sowjetunion und anderer Staaten Ost- und Mitteleuropas hat das Problem des Minderheitenschutzes wieder zu einem völkerrechtlichen Thema gemacht. Schon der Völkerbund war mit diesem Problem nach dem Ersten Weltkrieg konfrontiert gewesen. Nach dem Zerfall der verschiedenen Reiche (z.-B. des Ottomanischen Reiches und Österreich-Ungarns) und der Herausbildung neuer Nationalstaaten sollte das System des Völkerbundes den jeweiligen Minderheiten in den neuen Nationalstaaten dieselben politischen und bürgerlichen Rechte wie den Angehörigen dieser Staaten garantieren. Fünf spezielle Minderheitenschutzverträge betrafen die Situation im serbo-kroatisch-slowenischen Staatsverband, in Polen, Rumänien, Griechenland und der Tschechoslowakei. Spezielle Minderheitenschutzklauseln waren überdies Bestandteil der Friedensverträge mit Österreich, Bulgarien, Ungarn und der Türkei. Daneben gab es Verträge, die die Situation der Minderheiten in Oberschlesien, Danzig und dem Memelland betrafen. Schließlich gaben Albanien, Litauen, Lettland, Estland sowie der Irak bei ihrer Aufnahme in den Völkerbund spezifische Erklärungen ab; hinzu kam eine Erklärung Finnlands bezüglich der Åland-Inseln. 258 Allerdings muss man sich im Klaren darüber sein, dass die den Minderheiten zuerkannten Rechtspositionen eher als staatliche Verpflichtungen denn als regelrechte Berechtigungen der Minderheiten oder ihrer Angehörigen zu verstehen waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es dann zwar zur universell angelegten Entwicklung des Schutzes der Menschenrechte. Wie aber bereits angedeutet, war deren Stoßrichtung deutlich individualrechtlich. Erst Art. 27 des 1966 verabschiedeten Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte brachte das Thema eines Schutzes von Minderheiten als Gruppen auf die völkerrechtliche Tagesordnung. Nach einer bislang am ehesten akzeptierten Definition des UN-Spezialberichterstatters Francesco Capotorti zur Frage der nationalen Minderheiten in seiner Studie über die „Rechte von Personen, die zu einer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit gehören“, ist unter Minderheit zu verstehen: „A group numerically inferior to the rest of the population of a State, in a non-dominant position, whose members - being nationals of the State - possess ethnic, religious or linguistic characteristics differing from those of the rest of the population and show, if only implicitly, a sense of solidarity, directed towards preserving their culture, traditions, religion or language.“ 259 258 Siehe P. Thornberry, in: C.-Tomuschat (Hg.), Modern Law of Self-Determination, 1993, 101, 106ff. 259 F.-Capotorti, Study on the Rights of Persons Belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, 1991, 96. <?page no="171"?> 135 2.4 Andere Rechtsstellungen im Völkerrecht Ob ausschließlich die entsprechenden, in der Definition genannten Abgrenzungskriterien eine Minderheit ausmachen, oder ob auch sog. Flüchtlinge, die als Ergebnis von Migration nunmehr als Gruppe in einem Staat leben, als sog. „neue Minderheit“ anzusehen sind, 260 ist streitig. 261 In Art. 27 des IPbürgR heißt es nun, dass in Staaten mit entsprechenden Minderheiten, „den Angehörigen solcher Minderheiten nicht“ bestimmte Rechte, etwa auf die Entwicklung ihres eigenen kulturellen Lebens, „gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe“ vorenthalten werden dürfen. In verschiedenen Fällen (etwa dem Lovelace-Fall, dem Kitok-Fall und dem Lubikon Lake Band- Fall - dazu unten Kap.-10.6.1 a.E.) hatte der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen Gelegenheit, die rechtliche Tragweite dieser Bestimmung zu analysieren. Im Jahre 1994 kam der Ausschuss in einem Generalkommentar zu Art. 27 IPbürgR zu dem Ergebnis, dass im Kern die Minderheitenschutzrechte mit den staatlichen Rechten auf Souveränität und territoriale Integrität zu harmonisieren seien. Dabei komme allerdings den indigenen Völkern eine bestimmte Sonderbehandlung zu. Dies spricht, wie auch Art. 1 der Erklärung der UN-Generalversammlung über die Rechte der Angehörigen nationaler Minderheiten von 1992 und tendenziell auch der im Rahmen von OSZE und Europarat im regionalen europäischen Rahmen kodifizierte Minderheitenschutz, noch nicht dafür, Minderheiten als eigenständige partielle Völkerrechtssubjekte anzusehen. Auch das Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats sowie die Charta der Regional- und Minderheitensprachen von 1992 262 und die OSZE Abschlussdokumente mit minderheitsrelevanten Ausführungen, die alle ganz deutlich individualrechtlich ausgerichtet sind, sprechen im Ergebnis dagegen, dem geltenden Völkerrecht bereits die Zuerkennung partieller Subjektivität für Minderheiten zu entnehmen. 263 Ein wenig weiter geht das Völkerrecht allerdings mit dem Schutz indigener Völker. 264 Seit etwa 20 Jahren bemühen sich die Vereinten Nationen verstärkt, eingeborenen Bevölkerungsgruppen individualwie kollektivrechtlichen Schutz angedeihen zu lassen. Beispiele für entsprechende indigene Völker sind etwa die Aborigines in Australien, die eingeborenen Amerikaner oder Indianer in Amerika, die Inuit in Kanada, die Maori in Neuseeland und die Sami (Lappen) in Finnland, Norwegen, Russland und Schweden. Die Gesamtzahl der in den verschiedenen Regionen der Welt lebenden indigenen Völker wird auf 370 Millionen geschätzt. Seit 1992 sind die Rechte der Angehörigen indigener Völker in einem vom Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen angenommenen „Entwurf einer Erklärung über die Rechte indigener Völker“ festgehalten; dieser Entwurf ist aber noch kein Bestandteil des geltenden Völkerrechts. Als solch indigene Völker kann man mit einer Definition des UN-Spezialberichterstatters Martinez Cobo von 1983 verstehen: 260 So etwa R. Wolfrum, in: C.-Brölmann/ R. Lefeber/ M.-Ziek (Hg.), Peoples and Minorities in International Law, Dordrecht u.-a. 1993, 153ff. 261 Dagegen etwa D.- Franke/ R. Hofmann, Nationale Minderheiten - ein Thema für das Grundgesetz? , EuGRZ 19 (1992), 401f. 262 Siehe zu beidem sowie zu weiteren Problemen des Minderheitenschutzes unten Kap.-10.6. 263 Ebenso P. Malanczuk, Akehurst’s modern Introduction to International Law, 7.-A., 1997, 105ff. 264 Vgl. dazu die ausführlichen Beiträge zum Status und Schutz der Rechte indigener Völker in verschiedenen Staaten: The Status and Rights of Indigenous Peoples in Different Regions, in: ZaöRV 59 (1999), 369ff. <?page no="172"?> 136 2. Die Völkerrechtssubjektivität „Indigenous communities, peoples and nations are those which, having a historical continuity with pre-invasion and pre-colonial societies that developed on their territories, consider themselves distinct from other sectors of the societies now prevailing in those territories, or parts of them. They form at present non-dominant sectors of society and are determined to preserve, develop and transmit to future generations their ancestrial territories and their ethnic identity, as the basis of their continued existence as peoples, in accordance with their own cultural patterns, social institutions and legal systems.“ 265 Darin wird der deutliche Konnex zur Minderheitenfrage erkennbar. Die erwähnte Erklärung erkennt den indigenen Völkern das Selbstbestimmungsrecht zu, gibt ihnen u.-a. das Recht, ihre kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Charakteristika zu entwickeln, gewährt ihnen das Recht auf volle Partizipation am staatlichen Leben und insbesondere das kollektive Recht, in Frieden und Sicherheit als eigenständige Völker zu leben. Man wird dies als ein Recht auf innere Selbstbestimmung innerhalb der staatlichen Ordnung, welcher die Völker angehören, in der Perspektive der Zuerkennung eines Autonomiestatus zu verstehen haben. Damit geht die im Erklärungsentwurf enthaltene spezifische Form des Minderheitenschutzes wegen der Gewährung auch kollektiver Rechtspositionen über den „traditionellen“ Minderheitenschutz hinaus und dürfte eine normative Grundlage für die Zuerkennung partieller Völkerrechtssubjektivität bilden. 266 Die Rechtsentwicklung ist zu einem gewissen vorläufigen Abschluss durch die Verabschiedung der „Declaration on the Rights of Indigenous Peoples“ am 13.-September 2007 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen gekommen. 267 In dieser Deklaration werden individuelle und kollektive Rechte von Ureinwohnern sowie das Recht auf Kultur, Identität und Sprache formuliert. Ein Recht auf Sezession soll es hingegen nicht geben. Obwohl diese Generalversammlungsdeklaration nicht rechtlich verbindlich ist, wird darin doch deutlich, dass sie einen schon vorher sich verfestigt habenden Rechtsstand noch einmal zum Ausdruck bringt. Sie hat damit die Tendenz für die Zuerkennung partieller Völkerrechtssubjektivität der Ureinwohner weiter deutlich gestärkt. 2.4.5 Das de facto-Regime, Aufständische und Kriegführende sowie Befreiungsbewegungen Für die Bestimmung der Regeln des - etwa aus humanitären Gründen gebotenen-- Rechtsverkehrs mit Verbandseinheiten, die zwar nicht mehr oder noch nicht volle Staatsqualität besitzen, indes keiner fremden Souveränität unterstehen, hat sich eine Staatenpraxis dahingehend entwickelt, sie als die Beziehungen von Staaten mit de facto-Regimen zu bezeichnen. Im Rahmen solcher Beziehungen wird beispielsweise die Entsendung von Gesandten nicht als die Begründung normaler diplomatischer Beziehungen bewertet und kann auch ein Vertragsschluss nicht als Anerkennung 265 M. Cobo, Study of the Problem of Discrimination Against Indigenous Populations, UN Doc. E/ CN. 4/ Sub. 2/ 1983/ 21/ Add. 8, para. 379. 266 Skeptisch P. Malanczuk, Akehurst’s modern Introduction to International Law, 8.-A., 2019, 372ff. 267 UN-Doc. A/ Res./ 61/ 295 (2007). <?page no="173"?> 137 2.4 Andere Rechtsstellungen im Völkerrecht des Gebildes als Staat gewertet werden. Eine Aufnahme in internationale Organisationen ist einem de facto-Regime verwehrt; es ist ein partielles Völkerrechtssubjekt, das sich freilich zu einem Staat weiterentwickeln kann. 268 Aufständische befinden sich in einem (meist bewaffneten) Kampf, also einem Bürgerkrieg, gegen die etablierte Regierung. Dritte Staaten sind grundsätzlich wegen des Interventionsverbots rechtlich gehindert, den Aufständischen im Kampf gegen die Regierung Hilfe zu leisten (dazu unten Kap.- 5.2.2). Sie können aber dennoch Rechtsbeziehungen zu den Aufständischen aufnehmen, wenn es etwa um die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung bzw. der Verwundeten und Gefangenen geht. Eine auf die Festlegung dieser Modalitäten gerichtete vertragliche Abrede impliziert die partielle Anerkennung der Aufständischen, nicht aber deren Anerkennung als Staat. 269 Aufständische erlangen erst eine partielle Rechtssubjektivität, wenn sie als Kriegführende oder als Insurgenten anerkannt werden. Die letztere Form der Anerkennung lässt sich nur in der amerikanischen Praxis nachweisen. Sie unterscheidet sich nicht wesentlich von der Anerkennung als Kriegführende. Durch die Anerkennung der Aufständischen als Kriegführende wird ein bewaffneter Konflikt zum Krieg im völkerrechtlichen Sinn. Das bedeutet, dass das humanitäre Recht Anwendung findet (Einzelheiten dazu unten Kap.-13.2.). Nur in diesem Umfang erlangen die als Kriegführende anerkannten Aufständischen eine begrenzte Völkerrechtsfähigkeit. Sie kommt in erster Linie den Verwundeten und Kriegsgefangenen des Konflikts - und zwar sowohl auf Seiten der Aufständischen als auch auf Seiten der Regierung, gegen die sich der Aufstand richtet - zugute. Diese „Humanisierung“ des Konflikts bietet der legalen Zentralregierung einen Anreiz, die Anerkennung der Aufständischen als Kriegführende auszusprechen. Eine Anerkennung als Staat ist damit nicht verbunden. Trotzdem schrecken die legalen Regierungen vor einer derartigen Anerkennung zurück. So lassen sich im 20.-Jahrhundert keine solchen Fälle mehr nachweisen. Von der Völkerrechtslehre wird darauf hingewiesen, dass die Anerkennung der Aufständischen seitens der legalen Regierung auch Rechtswirkungen für dritte Staaten hat: Sie erwerben die Rechte und Pflichten von Neutralen (hierzu unten Kap.- 13.9). Sprechen dritte Staaten die Anerkennung von Aufständischen als Kriegführende aus, so tritt jene Wirkung nur für sie selbst ein, d.-h. die anerkennenden Staaten erlangen die Rechtsposition von Neutralen. Dies bedeutet vor allem, dass sie sich jeder Unterstützung der Kampfhandlungen enthalten müssen. Fragt man, warum sich unter diesen Umständen ein dritter Staat dazu entschließt, die Aufständischen als Kriegführende anzuerkennen, so ergibt sich eine einfache Erklärung: vor der Anerkennung der Aufständischen als Kriegführende sind dritte Staaten wegen des Interventionsverbots gehindert, die Aufständischen in irgendeiner Weise zu unterstützen. Sie dürfen nur der legalen Regierung auf deren Bitte militärische oder nichtmilitärische Hilfe leisten. Sobald aber ein dritter Staat infolge der Anerkennungserklärung die Position eines Neutralen erworben hat, darf er keiner Seite mehr - also auch nicht der legalen Regierung - militärische Hilfe gewähren; dagegen darf er beiden 268 Einzelheiten bei J.A.-Frowein, Das de facto-Regime im Völkerrecht, 1968. 269 Siehe J.A. Frowein, Recognition (Dezember 2010), MPEPIL (Online-Ed.). <?page no="174"?> 138 2. Die Völkerrechtssubjektivität Seiten humanitäre Hilfe angedeihen lassen. Die legale Regierung kann es von nun an dem dritten Staat nicht mehr verwehren, die Aufständischen mit nichtmilitärischen Mitteln zu unterstützen, sofern sie selbst die gleiche Unterstützung von dem betreffenden dritten Staat erhält. Die Gleichbehandlung gehört zu den Pflichten des Neutralen. Gelingt es Aufständischen, auf dem von ihnen besetzten Gebiet über längere Zeit hinweg die effektive Herrschaftsgewalt auszuüben, so erlangen sie den Status eines stabilisierten de facto-Regimes. Diese Thematik ist in den letzten Jahren aufgrund des Islamischen Staates (bis 2014 als Islamischer Staat im Irak und in Syrien bzw. Islamischer Staat im Irak und der Levante bekannt) wieder stärker ins Bewusstsein gerückt und viel diskutiert worden. 270 Sofern das stabilisierte de facto-Regime faktisch die Voraussetzungen der Staatlichkeit nach der Dreielementenlehre erfüllt, kann es „nicht von dem gegnerischen Staat und auch nicht von Drittstaaten dauerhaft als völkerrechtliches Nullum betrachtet werden“. 271 Als Beispiel aus der jüngeren Zeit für ein de facto-Regime ist das Taliban-Regime in Afghanistan zu nennen, das bis zum militärischen Eingreifen insbesondere der USA im Jahre 2001 in Reaktion auf den 11.-September weite Gebiete Afghanistans beherrschte. Die Taliban waren zwischen 1998 und 2001 Adressat verschiedener Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, in denen ihnen insbesondere aufgegeben wurde, Unterstützungshandlungen für den internationalen Terrorismus zu unterlassen. 272 Dass sich die Vereinten Nationen damit die Gruppierung der Taliban und nicht Afghanistan als Adressaten aussuchten, erklärt sich damit, dass die Taliban in den Vereinten Nationen bei deren Mitgliedern kaum Anerkennung als legitime Vertretung Afghanistans erfahren hatten, gleichzeitig aber eine stabilisierte de facto-Herrschaft über 90-% des afghanischen Territoriums ausübten und daher als Machtfaktor nicht zu ignorieren waren. Als besondere Kategorie der Aufständischen sind die nationalen Befreiungsbewegungen zu bezeichnen, die unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker (dazu oben Kap.-2.1.8) einen - zumeist bewaffneten - Kampf gegen die als Fremdherrschaft bezeichnete Staatsgewalt führen. Als Beispiele können hier etwa der Afrikanische Nationalkongress (ANC) bis zur Regierungsübernahme der Bevölkerungsmehrheit in Südafrika und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) genannt werden. Befreiungsbewegungen kommt zunächst einmal zwar keine originäre Völkerrechtssubjektivität zu, sie können diese freilich, ähnlich wie Aufständische, als Kriegführende durch Anerkennung im Verhältnis zum anerkennenden Völkerrechtssubjekt erlangen. 273 In der Praxis wurde einigen Befreiungsbewegungen wie etwa der PLO Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen eingeräumt; dies und die von den Vereinten Nationen, der Arabischen Liga und der früheren OAU praktizierte sehr weitgehende Anerkennungspraxis sowie spätestens das Oslo-Abkommen der PLO mit Israel über die Selbstregierung vom 13. September 1993 hat der PLO partielle Völkerrechtssubjektivität als Vertreterin des palästinensischen Volkes eingetragen. 270 Siehe zum Beispiel K.-Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-10, Rn. 6ff. 271 K.-Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-11, Rn.-15. 272 R. Wolfrum/ C.E.- Philipp, The Status of the Taliban Their Obligations and Rights under International Law, MPUNYB 6 (2002), 559; dies., Die Taliban - ein Subjekt des Völkerrechts? in: S. von Schorlemer (Hg.), Praxishandbuch UNO, 2003, 145ff. 273 Zur Problematik der Erfüllung der Kriterien des Art. 1 Abs. 4 des I.- Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen von 1977 siehe K.-Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-8, Rn.-10f. <?page no="175"?> 3. Völkerrechtsquellen Einführende Literatur: Wolfrum, Rüdiger, Sources of International Law (Mai 2011), MPEPIL (Online-Ed.). Die Quellen des Völkerrechts befassen sich mit dessen Basis und dessen Ursprung. 1 Diese aus dem Blickwinkel des nationalen Rechts einigermaßen erstaunliche Überlegung muss deshalb angestellt werden, weil zunächst einmal nicht selbstverständlich ist, dass überhaupt Recht zwischen Völkerrechtssubjekten in Geltung sein soll und wenn dies der Fall ist, welches Recht gilt. Es ist also beim Studium der Rechtsquellen wichtig, sich vor Augen zu führen, dass mangels eines einheitlichen Gesetzgebers, wie man ihn innerhalb des Staatsverbandes vorfindet, die Staaten und andere Völkerrechtssubjekte in der Regel erst bestimmen müssen, welche Regeln als Völkerrecht gelten sollen. 2 Sie können dies auf verschiedene Weise tun, wovon im Nachfolgenden die Rede sein soll. Dabei wird deutlich werden, dass sich das Völkerrecht in seiner rein horizontalen Struktur, deren deutlichstes Kennzeichen der Vertrag ist, allmählich auch in vertikalen Strukturen fortentwickelt hat, die im Sinne von Mindestessentialia des internationalen Zusammenlebens in objektiver Geltung befindlich sind. Dazu stellt sich schließlich die Frage, wer sich überhaupt auf völkerrechtliche Normen stützen kann. 3.1 Allgemeiner Überblick Einführende Literatur: von Ungern-Sternberg, Antje, Völkerrechtsquellen im Wandel Teil 1-2, Jura 32 (2010), 841ff., Jura 33 (2011), 39ff. Allgemein gilt Art. 38 Abs. 1 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (IGH-Statut) 3 als autoritative Auflistung der Völkerrechtsquellen, wobei diese Auflistung bereits einige Unschärfen aufweist. In einem Überblick stellen sich die Quellen des Völkerrechts wie folgt dar: Quellen des Völkerrechts Primärquellen: ▶ Verträge ▶ Gewohnheitsrecht ▶ allgemeine Rechtsprinzipien Erkenntnis- oder Hilfsquellen: ▶ Urteile ▶ Lehrmeinungen 1 Siehe etwa: G. Jaenicke, Völkerrechtsquellen, in: K. Strupp/ H.-J. Schlochauer (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. III, 1962, 766. 2 Zum Umgang mit Völkerrechtsquellen siehe Materialien zum Studium des Völkerrechts. 3 Abgedruckt in Sartorius II, Nr.-2. <?page no="176"?> 140 3. Völkerrechtsquellen Weitere Rechtsquellen: ▶ Resolutionen der UN-Generalversammlung ▶ Resolutionen des UN-Sicherheitsrates ▶ ILC Draft Articles ▶ sog. Soft Law Beschränkt man sich darauf, diese mittlerweile allgemein anerkannte Aufzählung der Völkerrechtsquellen zu untersuchen, so ergibt sich folgendes Bild. Es ist zu unterscheiden zwischen drei Hauptrechtsquellen: (a) die völkerrechtlichen Verträge, (b) das Völkergewohnheitsrecht sowie (c) die allgemeinen Rechtsgrundsätze; daneben bilden die Doktrin und die Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen sog. Hilfsrechtsquellen bzw. Rechtserkenntnisquellen. Sowohl das Vertragsals auch das Gewohnheitsrecht beruhen dabei letztlich im Wesentlichen auf der Willensübereinkunft, an welche im Prinzip nur solche Staaten gebunden sind, die entweder Vertragspartei geworden sind oder die Geltung der entsprechenden Regeln des Völkergewohnheitsrechts für sich akzeptiert, sich ihm also nicht durch Protest (dazu unten Kap. 3.11) widersetzt haben. Dies gilt auch für die allgemeinen Rechtsgrundsätze als dritte Rechtsquelle, die als allgemein akzeptierte Rechtskonzepte der verschiedenen nationalen Rechtssysteme gerade durch ihre weltweite Akzeptanz auch als Völkerrechtssätze verwendet werden können. Allerdings gibt es auch Rechtssätze, wie etwa das Gewaltverbot, die bereits über die Willensübereinkunft hinaus verobjektiviert als zwingende Sätze des Völkerrechts (sog. ius cogens) allgemein gelten und damit von den zuvor skizzierten Sätzen des nachgiebigen ius dispositivum zu unterscheiden sind (dazu unten Kap. 3.6). Die Tatsache, dass heute die Existenz sogenannten zwingenden Völkerrechts (ius cogens) allgemein anerkannt ist, wie die Artikel 53 und 62 der Wiener Vertragsrechtskonvention zeigen, löst einige Probleme der Rechtsquellenhierarchie. Allerdings ist nach wie vor nicht im Einzelnen völlig geklärt, welche Grundsätze dem zwingenden Völkerrecht zuzuordnen sind. In jedem Fall wird indes die Frage nach einer gewissen Hierarchiesierung des Völkerrechts thematisiert. Dem wird im Nachfolgenden nachzugehen sein. Auf einer anderen Ebene liegt die Unterscheidung zwischen universellem und partikulärem Völkerrecht. Das universelle Völkerrecht wird auch allgemeines Völkerrecht genannt. Es gilt auf der ganzen Welt. Das partikuläre Völkerrecht gilt dagegen nur für den Verkehr zwischen bestimmten Völkerrechtssubjekten, z.- B. den Staaten einer Region 4 , den Mitgliedern eines Bündnisses oder einer internationalen Organisation, oder auch nur zwischen zwei oder mehreren Staaten. Die Unterscheidung zwischen allgemeinem und partikulärem Völkerrecht liegt auf einer anderen Ebene als die Unterscheidung zwischen Völkergewohnheitsrecht und Vertragsrecht. Die letztere Unterscheidung gibt Auskunft über die Entstehung der Völkerrechtsnormen, die erstere über den Geltungsbereich. Allerdings setzt die Erzeugung von allgemeinem Völkerrecht durch Vertrag voraus, dass tatsächlich alle Staaten der Erde dem Vertrag beitreten. Dieser Zustand wird 4 Siehe zum regionalen Gewohnheitsrecht insbesondere den Asylum-Fall, unten Kap.-15.2.3. <?page no="177"?> 141 3.2 Verträge bei den großen internationalen Konventionen 5 nahezu vollständig erreicht. Soweit aber einzelne Staaten den Konventionen nicht beigetreten sind, können sie an die in den betreffenden Konventionen enthaltenen Prinzipien nur kraft Gewohnheitsrechts gebunden werden, sofern es sich nicht um die originären Verfassungsgrundsätze der gegenwärtigen Staatengemeinschaft handelt. In der Regel beruht daher das allgemeine Völkerrecht auf Gewohnheit und übereinstimmender Rechtsüberzeugung, das partikuläre Völkerrecht auf Verträgen. Aber das kann den theoretischen Unterschied nicht verwischen. Ferner ist es auch in der Praxis nicht ungewöhnlich, dass Völkergewohnheitsrecht nur für eine begrenzte Anzahl von Völkerrechtssubjekten gilt. Sogar zwischen zwei Staaten kann sich partikuläres Völkergewohnheitsrecht herausbilden. Daher ist festzuhalten: Es gibt universelles und partikuläres Völkergewohnheitsrecht, ebenso wie es universelles und partikuläres Völkervertragsrecht gibt. Geltungsbereich und Erzeugungsart der Völkerrechtsnormen müssen unterschieden werden. Von noch grundlegenderer Bedeutung für das heutige Verständnis der Völkerrechtsquellen sind die sich im Zeitalter der Globalisierung abzeichnenden Veränderungen der Akteure. Die starke Zunahme an Akteuren führt in sehr vielen Fällen zu einer immer schwieriger zu erzielenden Möglichkeit des Konsenses. Wird deshalb zunehmend auf formale Rechtserzeugungsmechanismen verzichtet und Verträge mit Standards, Maximen, Verhaltenskodizes, anderen und damit auch weicheren Formen der Normierung abgeschlossen oder angestrebt, kann dies nicht ohne Einfluss auf die traditionelle Rechtsquellentrias etwa bei der Bildung des Völkergewohnheitsrechts wie auch bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen bleiben. 6 3.2 Verträge Einführende Literatur: Fitzmaurice, Malgosia, Treaties (Februar 2010), MPEPIL (Online-Ed.). Die Tatsache, dass der Vertrag nicht nur ein Rechtsverhältnis zwischen zwei oder mehreren Parteien schafft, sondern auch eine Rechtsquelle ist, kennzeichnet das Völkerrecht und hebt es vom Privatrecht ab. Zwar können unter der Geltung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit auch im Privatrecht atypische Verträge abgeschlossen werden; aber der Vertragsabschluss bleibt doch stets ein Rechtsgeschäft. Der privatrechtliche Vertrag begründet subjektive Rechte (Berechtigungen) und Pflichten der Partner (auch Signatarstaaten genannt), aber er erzeugt kein Recht im objektiven Sinne. Dagegen ist der völkerrechtliche Vertrag eine Rechtsquelle, sein Abschluss ist kein bloßes Rechtsgeschäft, sondern rechtssetzendes Handeln. Der völkerrechtliche Vertrag bringt nicht nur subjektive Rechte und Pflichten der Vertragspartner zum Entstehen, sondern auch Recht im objektiven Sinn. Sowohl das Zivilrecht als auch das Völkervertragsrecht gehen aber von derselben Prämisse aus, nämlich der Gleichordnung der Vertragsparteien. Von daher ähneln sich die Voraussetzungen: Ein völkerrechtlicher Vertrag beruht auf der Willensübereinkunft von mindestens zwei Völkerrechtssubjekten, muss von einem Rechtsbindungswillen getragen sein und dem Völkerrecht unterliegen. Die Art. 2 Abs.-1 lit.-a-WVK und Art.-2 Abs.-1-lit.-a der WVKIO 5 Vgl. unten Kap. 3.2. 6 Detaillierte Skizzierung der Situation bei W. Weiss, Die Rechtsquellen im Zeitalter der Globalisierung: Zu Notwendigkeit neuer Quellenkategorien, AVR 53 (2015), 220ff. <?page no="178"?> 142 3. Völkerrechtsquellen enthalten eine entsprechende Definition. Ob sich die Parteien rechtlich binden wollen, ist durch Auslegung zu ermitteln, wobei auch die Umstände des Zustandekommens zu berücksichtigen sind. Gegen einen Bindungswillen sprechen unverbindliche Formulierungen, wie etwa bloße Absichtserklärungen oder Bekräftigungen. Zu beachten ist, dass ein Rechtsbindungswille bereits dann abzulehnen ist, wenn Zweifel an der Bindungsabsicht verbleiben. 7 Die Voraussetzung, dass der Vertrag dem Völkerrecht unterfallen muss, ist erforderlich, damit er von privatwirtschaftlichen Verträgen der Staaten abgegrenzt werden kann. Sobald der Vertrag dem nationalen Recht einer der Parteien untergeordnet ist, wie es bei Kaufverträgen zwischen Staaten die Regel ist, handelt es sich nicht mehr um einen völkerrechtlichen Vertrag. Die Einzelheiten über die Vereinbarung völkerrechtlicher Verträge sind unten dargestellt. Das Recht, welches ein völkerrechtlicher Vertrag zum Entstehen bringt, ist selbstverständlich partikuläres Völkerrecht, da es nur für den Verkehr zwischen den Vertragspartnern gilt. Nur dann, wenn einem Vertrag alle Staaten der Erde beigetreten sind, wird das Vertragsrecht zum universellen Völkerrecht. Dieser Fall ist jedoch rein theoretisch, weil es in der Praxis noch nicht gelungen ist, alle Staaten ausnahmslos zum Beitritt zu einem bestimmten Vertrag zu bewegen. Aber bei etlichen der wichtigsten internationalen Konventionen, wie etwa der UN-Charta, den Wiener Konventionen über das Recht der Verträge und dem Diplomatenrecht, sowie den beiden Menschenrechtspakten von 1966 ist eine sehr große Zahl von Staaten Vertragspartner geworden. Völkerrechtliche Verträge - bilaterale ebenso wie multilaterale - können auch Rechtsnormen des bereits geltenden allgemeinen Völkerrechts enthalten. So wiederholt z.-B. die Charta der Vereinten Nationen, 8 die ihrer Natur nach ein multilateraler Vertrag ist, den die Gründungsmitglieder abgeschlossen haben und dem die später aufgenommenen Mitglieder beigetreten sind, bereits vorher geltende Sätze des allgemeinen Völkerrechts, wie etwa das in Art. 51 UN-Charta anerkannte Recht der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung. Man spricht hier auch von Kodifikation. So gibt es eine Anzahl anschaulicher Beispiele dafür (Vertragsrechtskonvention; Diplomatenrechtskonvention), dass der Abschluss einer Konvention im Wesentlichen bereits bestehendes Völkergewohnheitsrecht wiedergibt. 9 Verträge können aber auch neuem allgemeinem Völkerrecht den Boden bereiten. Häufig berufen sich die völkerrechtliche Literatur und Rechtsprechung auf das Vorhandensein gleichlautender Vertragsbestimmungen, um eine diesen Vertragsbestimmungen entsprechende Regel des allgemeinen Völkerrechts nachzuweisen, z.-B. auf den Grundsatz der Nichtauslieferung politischer Flüchtlinge, der sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in fast allen Auslieferungsverträgen findet. Jedoch ist die bloße Existenz übereinstimmender Verträge nicht immer ein ausreichender 7 Siehe K. Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-12 Rn. 3. 8 Abgedruckt in Sartorius II, Nr.-1. 9 Bezüglich des Verhältnisses zwischen völkerrechtlichen Verträgen und Völkergewohnheitsrecht, vgl. R. Baxter, Treaties and Custom, RdC 129 (1970/ I), 25ff., G.L.-Scott, Multilateral Treaties and the Formation of Customary International Law, DenverJILP 25 (1996), 71ff.,; M.E.-Villiger, Customary International Law and Treaties, 2. A., 1997, und K.-Wolfke, Treaties and Custom: Aspects of Interrelation, in: J.-Klabbers (Hg.), Essays on the Law of Treaties, 1998, 31ff. Zur Relevanz des Rainbow Warrior-Falls in diesem Zusammenhang vgl. M.-Shaw, International Law, 8. A., 2017, 589ff. <?page no="179"?> 143 3.2 Verträge Nachweis für eine einhellige Rechtsüberzeugung der Völkerrechtssubjekte. Vielmehr kann gerade die Tatsache, dass solche Verträge bestehen, darauf schließen lassen, dass noch keine allgemeine Rechtsüberzeugung vorhanden ist und die Parteien daher eine ausdrückliche vertragliche Regelung für notwendig halten. Multilaterale Verträge können dennoch die Grundlage für die Entwicklung eines entsprechenden Gewohnheitsrechts über den Kreis der Signatarstaaten hinaus bieten, denn sie geben bereits die Rechtsauffassung einer größeren Zahl von Völkerrechtssubjekten wieder. 3.2.1 Kategorien völkerrechtlicher Verträge Für völkerrechtliche Verträge bestehen mehrere Einordnungen. So wird nach der Entstehung sowie der Zahl der Vertragsparteien differenziert. Darüber hinaus wird von Teilen der Völkerrechtslehre der Versuch gemacht, zwischen rechtssetzenden und rechtsgeschäftlichen Verträgen (law-making treaties und contract treaties) zu unterscheiden. 10 Da aber im Grunde jeder völkerrechtliche Vertrag rechtssetzende Wirkung für die Parteien hat, ist die Ansicht vorzuziehen, dass jeder völkerrechtliche Vertrag Recht schafft. 11 Nach der Zahl der an einem völkerrechtlichen Vertrag beteiligten Vertragspartner unterscheidet man zwischen bilateralen und multilateralen Verträgen. An einem bilateralen (zweiseitigen) Vertrag sind nur zwei Völkerrechtssubjekte beteiligt, an einem multilateralen (mehrseitigen) Vertrag sind mehr als zwei Völkerrechtssubjekte beteiligt. Nach der alten Vorgehensweise wurde ein Vertrag mit Unterschrift der Staatenvertreter in Kraft gesetzt. Durchgesetzt hat sich insbesondere bei komplexen Verträgen aber das Ratifikationsverfahren, welches, wie später noch näher erläutert wird, ein erfolgreiches innerstaatliches Zustimmungsverfahren zur Bedingung des Inkrafttretens erhebt. Der Kreis der Partner (sog. Signatarstaaten) multilateraler Verträge kann, wenn die ursprünglichen Signatarstaaten dies im Vertragstext vorgesehen haben, durch Beitritte erweitert werden. Der Beitritt erfolgt durch einseitige Erklärung eines Völkerrechtssubjekts, das nicht am Abschluss des Vertrages beteiligt war. Will man möglichst viele Staaten zum Beitritt ermuntern, so gibt man ihnen im Vertragstext die Möglichkeit, Vorbehalte zu einzelnen Punkten zu erklären (näheres hierzu unten Kap. 3.3.4). Von den multilateralen Verträgen zu unterscheiden sind diejenigen völkerrechtlichen Verträge, an denen eine größere Zahl von Staaten in der Weise beteiligt sind, dass sich Einzelstaaten und Staatengruppen gegenüberstehen, wie z.-B. bei den Friedensverträgen, die nach Koalitionskriegen geschlossen werden. Trotz der Vielzahl von beteiligten Staaten sind solche Verträge ihrem Wesen nach bilaterale Verträge. Weil sie aber gemeinsam ausgehandelt und unterzeichnet werden, nennt man sie auch Halbkollektivverträge (Beispiele: die Friedensverträge von Versailles, St. Germainen-Laye und Trianon, 1919). 10 Vgl. J. Crawford, Brownlie’s Principles of Public International Law, 9. A., 2019, 29; M.-Herdegen, Völkerrecht, 18. A., 2019, §-15, Rn.-7; M.-Shaw, International Law, 8. A., 2017, 70. 11 F.-Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd.- 1 f.. A., 1975, 63 unter Berufung auf H. Kelsen, Principles of International Law, 1952, 319f.; E.- Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, 1911, 160ff. <?page no="180"?> 144 3. Völkerrechtsquellen Der Ausdruck Kollektivvertrag hat die gleiche Bedeutung wie der Ausdruck multilateraler Vertrag. Die Wiener Schlussakte vom 9. Juni 1815 gilt als erster Kollektivvertrag in der Geschichte des Völkerrechts. Im Zuge der Intensivierung der völkerrechtlichen Regelungen kam es immer häufiger dazu, dass die Staaten sich bereitfanden, bestimmte allgemeine Rechtsregeln für den gegenseitigen Verkehr in multilateralen Verträgen festzulegen. Diese Verträge heißen Konventionen. In ihnen werden jeweils für ein bestimmtes Gebiet völkerrechtliche Normen aufgestellt. Sie erfüllen daher im internationalen Bereich die Funktion der Gesetzgebung (Beispiele unten Kap. 3.8). Der rechtssetzende Willensakt liegt in der Beteiligung am Abschluss der Konvention oder im Beitritt zu ihr. Der räumliche Wirkungsbereich dieser Normsetzung ist auf den Kreis der Konventionspartner beschränkt. Wenn jedoch die überwiegende Mehrzahl der Völkerrechtssubjekte Partner einer Konvention ist, so kann diese zur Grundlage der Staatenpraxis und damit des Völkergewohnheitsrechts werden. 12 Aber auch ohne dass es zur Bildung von Gewohnheitsrecht kommt, kann ein-Vertrag eine objektive, allgemein geltende Ordnung errichten. In der Literatur werden drei Kategorien von Verträgen unterschieden, die diese Rechtswirkung-hervorbringen: Verfügungsverträge, institutionelle Verträge und Statusverträge. Der Verfügungsvertrag findet seine Parallele im privatrechtlichen Vertrag über dingliche Rechte, der ebenfalls Wirkungen gegenüber Dritten erzeugt; z.- B. begründet der Eigentumserwerb des Käufers einer Sache dessen Rechtsstellung als Eigentümer nicht nur gegenüber dem Partner des Kaufvertrags, sondern auch gegenüber jedem Dritten. Im Völkerrecht kommen hierfür vor allem Gebietsabtretungsverträge (Zessionsverträge) in Frage. Hat der Staat A ein bestimmtes Gebiet an den Staat B abgetreten, so haben es auch dritte Staaten als Gebiet des Staates B zu behandeln. Andererseits ist der Staat B nicht nur gegenüber A, sondern auch gegenüber dritten Staaten im Rahmen der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit (vgl. unten Kap. 6.2) für das verantwortlich, was auf dem abgetretenen Territorium geschieht. Als institutionelle Verträge werden diejenigen völkerrechtlichen Verträge bezeichnet, die internationale Organisationen oder andere Institutionen begründen. Sofern die betreffende internationale Organisation nach dem Gründungsvertrag oder ihrer Satzung Völkerrechtssubjektivität besitzt (vgl. oben Kap. 2.2.2), ist diese Rechtsstellung auch von den am Gründungsvertrag nicht beteiligten Staaten zu respektieren. Statusverträge beschreiben die Rechtsstellung eines Staates, eines Gebietes oder einer internationalen Verkehrsstraße als eine für alle verbindliche Ordnung. Wird diese von der Mehrheit der übrigen Völkerrechtssubjekte anerkannt, weil die durch den Vertrag begründete Ordnung für den Frieden der Welt oder einer bestimmten Region oder für internationale Gemeinschaftsaufgaben von Bedeutung ist, so wird die ursprünglich vertragliche Regelung zum Bestandteil der allgemeinen internationalen Rechtsordnung und ist dem Willen der Vertragsstaaten entzogen. Die Signatarstaaten des Vertrages können die ursprünglich von ihnen geschaffene Ordnung nicht mehr ändern; andererseits besteht die Ordnung auch weiter, wenn die Vertragsstaaten untergegangen sind. Ein 12 Vgl. M.- Lachs, Evolution des Kollektivvertrags, JfIR 8 (1959), 23ff.; S. Rosenne, United Nations Treaty Practice, RdC 86 (1954/ II), 281ff. <?page no="181"?> 145 3.2 Verträge Beispiel für einen Statusvertrag ist der Suezkanal-Vertrag, dessen internationaler Rechtsstatus durch einen multilateralen Vertrag vom 29.-Oktober 1888 festgelegt wurde. Zu den neun Signatarstaaten gehörte auch das Deutsche Reich; sieben weitere Staaten traten später bei. Der Vertrag garantiert in Art.-1 die freie Durchfahrt durch den Suezkanal für Handelsschiffe und Kriegsschiffe aller Flaggen in Kriegs- und Friedenszeiten und verbietet jegliche Kriegshandlung gegen den Kanal und seine Nebenanlagen. Nach dem Konflikt von 1956 hat Ägypten den Vertrag von 1888 in einer Erklärung vom 24.-April 1957 13 erneut ausdrücklich anerkannt. Aber auch alle anderen Staaten sind verpflichtet, die internationale Rechtsstellung des Suezkanals anzuerkennen, weil der Vertrag von 1888 als Statusvertrag eine allgemeine internationale Ordnung errichtet hat. Auch der Antarktisvertrag von 1961 lässt sich als Statusvertrag bezeichnen. Darin wird die friedliche und rein wissenschaftliche Nutzung der Antarktis festgelegt; auf wirtschaftliche Ausbeutung und militärische Nutzung wird gem. Art.-I Abs.-1 des Vertrags verzichtet. Ein weiteres Beispiel für einen Statusvertrag ist der Weltraumvertrag von 1967, der u.-a. die Aneignung des Weltraums und der Himmelskörper durch einzelne Staaten sowie das Verbringen von Atomwaffen in den Weltraum ausschließt. In der Literatur werden diese Statusverträge 14 gelegentlich als Ordnungsverträge oder normative Verträge bezeichnet. Der letztere Ausdruck ist wenig glücklich gewählt, weil er zu dem Irrtum verleiten könnte, nur die Statusverträge seien Rechtsquellen. Typen von Verträgen ▶ Bilaterale Verträge Zwei Vertragsstaaten ▶ Multilaterale Verträge Mehr als zwei Vertragsstaaten ▶ Konventionen Allgemeine Rechtsregeln für den gegenseitigen Verkehr (z. B. WVK, WÜD) ▶ Verfügungsverträge Übertragen von Rechten auf den Vertragspartner ▶ Institutionelle Verträge Begründen Internationale Organisationen ▶ Statusverträge Beschreiben der Rechtsstellung eines Gebiets als eine für alle verbindliche Ordnung 3.2.2 Völkerrechtliche Verträge und „Soft Law“ Abzugrenzen sind völkerrechtliche Verträge vom grundsätzlich unverbindlichen sog. „Soft Law“ (siehe dazu Kap. 3.10). Hier sind insbesondere zwei Entwicklungen interessant. Die zunächst bloßen politischen Absichtserklärungen stellen keine völkerrechtlichen Verträge dar. Derartige Absprachen mögen zwar auf einer Willensübereinkunft mehrerer Staaten beruhen, ihnen fehlt es aber an der verbindlichen Rechtswirkung. Ein solches Dokument ist beispielsweise die Absichts- 13 UNTS Bd.-265, 300ff. Zu den damit zusammenhängenden Problemen vgl. E.-Brüel, Die völkerrechtliche Stellung des Suezkanals und die Nationalisierung der Kanalgesellschaft, AVR 7 (1958/ 59), 24ff.; L.-Gross, Passage through the Suez Canal of Israel bound cargo and Israel ships, in: L.- Gross, Essays on International Law and Organization, 1984, Bd. II, 1079ff.; R. Lapidoth, The Suez Canal, the Gulf of Suez, and the 1979 Treaty of Peace Between Egypt and Israel, in: FS Bindschedler, 1980, 617ff. 14 Grundlegend dazu E.-Klein, Statusverträge im Völkerrecht, 1980. <?page no="182"?> 146 3. Völkerrechtsquellen erklärung zwischen dem portugiesischen und dem deutschen Bildungsministerium im Bereich der Berufsbildung, die am 7. Februar 2019 zum zweiten Mal erneuert wurde. Eine darin enthaltene typische Formulierung für eine Absichtserklärung ist beispielsweise, dass die Parteien die „Absicht vereinbaren“, gemeinsame Veranstaltungen zur Berufsausbildung durchzuführen. Auch Verhaltenskodizes erreichen nicht die Qualität völkerrechtlicher Verträge, 15 auch wenn oft auf deren Verrechtlichung gehofft wird. 16 Vielmehr handelt es sich um unverbindliche Empfehlungen von internationalen Organisationen oder auch Unternehmen, welche die zwischenstaatlichen Beziehungen, aber auch die Verhaltensweise der international tätigen Wirtschaft optimieren sollen. Ursprünglich waren derartige Kodizes insbesondere für den internationalen Wirtschaftsverkehr relevant. So gibt beispielsweise die dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik in der Fassung von 2006 in Punkt 13 vor, die Regierungen „sollten aktive Politik zur Förderung der vollen, produktiven und frei gewählten Beschäftigung als Hauptziel verkünden und verfolgen“. Beispiele für Verhaltenskodizes sind etwa die früheren Leitsätze für multinationale Unternehmen, 17 die heutigen Regeln der sog. „Corporate Social Responsibility“ auf völkerrechtlicher Ebene 18 oder auch im Kunsthandel in Bezug auf Kulturgut 19 . Jüngere Entwicklungen deuten aber an, dass Kodizes auch in anderen Bereichen wie der Förderung grundlegender Menschenrechtsstandards Bedeutung gewinnen. 20 Eine rechtliche Möglichkeit, Vorgaben aus Kodizes durchzusetzen, besteht nicht. Stets sollte aber bedacht werden, dass freiwillige Verpflichtungen oft herangezogen werden, um rechtsverbindliche Generalklauseln mit Leben zu füllen. So kann eine Verbindlichkeit gleichsam über die Hintertür eingeführt werden. 21 Da auch einige internationale Verträge als Kodex bezeichnet werden, 22 ist auch hier nicht die Überschrift, sondern der Inhalt maßgeblich für die rechtliche Bindung der Vereinbarung. Insgesamt ist die Einordnung dessen, was deutlich keine rechtliche Tragweite hat, indes aber das Verhalten der von den Kodizes Betroffenen steuern soll, nicht einfach vorzunehmen. Denn grundsätzlich wird wohl daran festzuhalten sein, dass alles, was den Anspruch darauf erhebt, Recht zu sein, also ein Tun oder Unterlassen zu bewirken, auch Verbindlichkeit aufweisen muss, was weichere Regelungen unterhalb der normativen Verfestigung gerade nicht wollen. Es ist dort oftmals von „politischer Absichtserklärung“ die Rede und gerade nicht von rechtlicher Verbindlichkeit. 15 K. Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-12, Rn. 11. 16 Siehe zu Kodizes K.M. Meessen, Internationale Verhaltenskodizes und Sittenwidrigkeitsklauseln, NJW 34 (1981), 1131ff. 17 https: / / www.oecd.org/ daf/ inv/ mne/ 48004323.pdf (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 18 I. Bantekas, Corporate Social Responsibility in International Law, BUILJ 22 (2004), 309; M. Krajewski/ M. Bozorgzad/ R. Heß, Menschenrechtliche Pflichten von Multinationalen Unternehmen in den OECD Leitsätzen: Taking Human Rights More Seriously, ZaöRV 76 (2016), 309ff. 19 UNESCO, International Code of Ethics for Dealers in Cultural Property, CLT/ CH/ INS-06/ 25 rev, 1999. 20 Siehe Gemeinsamer Standpunkt der EU für Rüstungsexporte, https: / / eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/ LexUriServ.do? uri=OJ%3AL%3A2008%3A335%3A0099%3A0103%3AEN%3APDF (zuletzt abgerufen: Dezember 2019), der trotz entsprechenden Wunsches des Parlaments nicht rechtsverbindlich ist. 21 Siehe zu dieser Konstellation etwa K.M. Meessen, NJW 1981, 1131ff.; R. Kopp/ E.A. Klostermann, CCZ 2009, 155ff. 22 So z.B. der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1966. <?page no="183"?> 147 3.3 Völkerrechtliches Recht der Verträge 3.3 Völkerrechtliches Recht der Verträge Im Gegensatz zum Vertragsrecht, das als Rechtsquelle (dazu oben Kap. 3.2) alle in völkerrechtlichen Verträgen enthaltenen Rechtsnormen umfasst, regelt das Recht der Verträge die Fragen des Zustandekommens, der Interpretation und der Beendigung von völkerrechtlichen Verträgen als Rechtsgeschäfte. Völkerrechtliche Verträge sind also zugleich Rechtsgeschäfte und Völkerrechtsquellen. Pacta sunt servanda. Grundlage der verbindlichen Kraft der Verträge - sowohl in ihrer rechtsgeschäftlichen Wirkung als auch in ihrer Wirkung als Rechtsquellen - ist der Satz pacta sunt servanda, auch Grundsatz der Heiligkeit der Verträge genannt. Dieser Grundsatz ist nicht durch die Staatenpraxis entstanden, sondern geht ihr voraus. Die völkerrechtlichen Verträge könnten keine rechtserzeugende Wirkung entfalten, wenn der Grundsatz der Heiligkeit der Verträge sich erst allmählich als Völkergewohnheitsrecht durchgesetzt hätte, was zugleich bedeuten würde, dass er durch entsprechendes derogierendes Völkergewohnheitsrecht wieder beseitigt werden könnte. In der Völkerrechtslehre wird allgemein anerkannt, dass der Satz pacta sunt servanda jeder Beeinträchtigung durch die Staatenpraxis entzogen ist und dass „bereits die ersten völkerrechtlichen Vertragsabschlüsse von der Geltung jener Norm abhängig waren“ 23 . Hans Kelsen sah hier sogar eine „Grundnorm“ des Völkerrechts (siehe oben Kap. 1.2). Die Aufnahme dieses Grundsatzes in Art. 26 der Wiener Vertragsrechtskonvention 24 hat insofern nur deklaratorische Bedeutung. Das Recht der Verträge betrifft nicht den Inhalt, sondern die Form und Geltung der Verträge. Diese Materie war lange Zeit Gegenstand des Völkergewohnheitsrechts, aber die UNO hat es unternommen, diesen wichtigen Teil des Völkerrechts zu kodifizieren. Nach mehrjährigen Vorbereitungen durch die Völkerrechtskommission tagte in den Jahren 1968/ 69 die Wiener Vertragsrechtskonferenz, die mit der Unterzeichnung der Konvention über das Recht der Verträge vom 23.-Mai-1969 (Wiener Vertragsrechtskonvention) 25 endete. Die Konvention ist nach der Ratifikation durch 35 Staaten am 27.-Januar-1980 in Kraft getreten. Zurzeit ist die Konvention von 116 Staaten, dem Heiligen Stuhl und Palästina ratifiziert (Stand: Dezember 2019). Nicht ratifiziert haben teils bedeutende Staaten wie die USA, Afghanistan, Iran und Kenia. Nach herrschender Meinung hat die WVK im Wesentlichen - nicht z.-B. bei den Regeln über Vorbehalte - das bereits vorher geltende Gewohnheitsrecht kodifiziert und wird deshalb in Rechtsprechung und Literatur auch dann herangezogen, wenn ein Staat sie noch nicht ratifiziert hat. Jedoch muss in einem solchen Fall bei einem Rechtsstreit regelmäßig die gewohnheitsrechtliche Geltung der betreffenden Völkerrechtsnorm nachgewiesen werden. Relevant ist dies insbesondere bei Streitigkeiten mit den USA. Das Recht der Verträge, so wie es in der Wiener Vertragsrechtskonvention niedergelegt ist, umfasst also Bestimmungen über den Abschluss von Verträgen und deren Inkrafttreten, Vorschriften über die Anwendung und Interpretation von Verträgen, deren Wirksamkeit, Beendigung und 23 A. Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, 24. 24 Abgedruckt in Sartorius II, Nr.-320. 25 Titel: Vienna Convention on the Law of Treaties; Dt. Text in BGBl. 1985 II, 926, abgedruckt in Sartorius II, Nr.-320. <?page no="184"?> 148 3. Völkerrechtsquellen Suspendierung sowie den Fundamentalgrundsatz pacta sunt servanda. Die WVK kodifiziert dabei das zwischen den Staaten geltende Vertragsrecht. Eine weitere, allerdings bislang nicht in Kraft getretene Wiener Konvention von 1986 befasst sich mit Regeln über Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen sowie zwischen internationalen Organisationen. 26 Sie ist in den wesentlichen Bestimmungen deckungsgleich mit der nachfolgend zugrunde gelegten WVK. Nicht näher behandelt werden soll außerdem die Frage der rechtlichen Einordnung von Verträgen zwischen Völkerrechtssubjekten und Rechtspersonen, die sich wie Unternehmen oder Nichtregierungsorganisationen jedenfalls derzeit erst in Einzelfällen an der Schwelle zur Völkerrechtspersönlichkeit befinden. 27 Aktuelle Arbeit der Völkerrechtskommission. Die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen befasst sich seit einiger Zeit wieder mit dem Recht der Verträge. So hat die Kommission etwa auf ihrer 58.-Tagung im Jahr 2006 das besondere Thema der Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen behandelt. 28 Zudem hat sie sich mit den Auswirkungen von bewaffneten Konflikten auf Verträge befasst. 29 Auf der 59.-Tagung im Jahre 2007 hat sie sich im Zusammenhang mit dem Themenbereich „Vorbehalte zu Verträgen“ 30 mit der Verabschiedung eines Entwurfs für Leitlinien befasst. 2011 wurde schließlich an die Ergebnisse von 2006 angeknüpft und eine „Guide to Practice“ für die Problematik der Vorbehalte verabschiedet. 31 Diese „Guide to Practice“ wurde 2013 auch von der Generalversammlung unterstützt. 32 3.3.1 Zustandekommen Nachfolgend werden nun die Voraussetzungen für das Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge näher dargestellt. 3.3.1.1 Verhandlungsvollmacht Die erste Voraussetzung für den Vertragsabschluss ist die Vollmacht der Unterhändler zur Abgabe des Vertragsangebots bzw. zu dessen Annahme, oder mit anderen Worten: Verhandlungsvollmacht. Sie wird in Art.-7 und 8 WVK behandelt. Die Vollmacht wird von dem verfassungsmäßig 26 Dazu unten Kap. 3.3.10. 27 Vgl. dazu K.- Doehring, Völkerrecht, 2. A., 2004, Rn.- 397ff.; K.-H.- Böckstiegel, Der Staat als Vertragspartner ausländischer Privatunternehmen, 1971, passim; J.- Stoll, Vereinbarungen zwischen Staat und ausländischem Investor, 1982. 28 Siehe International Law Commission, Report on the Work of its Fifty-eighth Session, Official Records of the General Assembly, Sixty-first session, Supplement No. 10 (A/ 61/ 10), 293-362. 29 UNGA OR, Sixty-first session, Supplement No. 10 (A/ 61/ 10), 382-393. 30 Siehe International Law Commission, Report on the Work of its Fifty-ninth Session, General Assembly, Official Records, Sixty-Second Session, Supplement No. 10 (A/ 62/ 10), 15-121. 31 Abgedruckt im Yearbook der ILC 2011, Vol. II Part 1, Rn. 102-105. 32 Resolution der Generalversammlung 68/ 111 vom 16. Dezember 2013. <?page no="185"?> 149 3.3 Völkerrechtliches Recht der Verträge zur völkerrechtlichen Vertretung befugten Organ ausgestellt. Das ist in der Regel das Staatsoberhaupt, der Regierungschef oder der Außenminister. In Deutschland bspw. vertritt gem. Art.- 59 Abs.-1-GG der Bundespräsident den Bund nach außen und unterzeichnet auch die Verträge. Regelmäßig überlässt er die völkerrechtliche Vertretung allerdings der Bundesregierung. Verhandeln die zur völkerrechtlichen Vertretung befugten Organe selbst, so benötigen sie keine weitere Vollmacht. Da den Unterhändlern nicht zugemutet werden kann, das Verfassungsrecht ihrer Verhandlungspartner zu kennen, stellt das allgemeine Völkerrecht bestimmte Vollmachtsvermutungen auf. Danach benötigen Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Außenminister keine spezielle Vollmacht für die Abgabe von Willenserklärungen im Zusammenhang mit einem Vertragsabschluss. Auch Missionschefs im Sinne des Diplomatenrechts brauchen keine Vollmacht vorzulegen, wenn sie einen Vertrag zwischen dem Entsendestaat und dem Empfangsstaat abschließen, denn sie haben bei ihrem Amtsantritt bereits eine Beglaubigung vorgelegt, die ihre Verhandlungsvollmacht gegenüber dem Empfangsstaat nachweist. Ähnliches gilt für Diplomaten, die bei einer internationalen Konferenz oder Organisation akkreditiert sind, denn auch diese Beauftragung erstreckt sich auf den Abschluss von Verträgen im Rahmen des Zuständigkeitsbereichs der betreffenden Konferenz oder internationalen Organisation (vgl. insgesamt Art.-7 Abs.-1 und 2 WVK). Der Grundsatz des Art.-46 WVK, wonach sich ein Staat nicht darauf berufen kann, dass mit der Zustimmung zum Vertrag gegen seine innerstaatliche Rechtsordnung verstoßen wird, gilt nicht unbegrenzt. Eine Ausnahme greift, wenn „die Verletzung offenkundig war und eine innerstaatliche Rechtsvorschrift von grundlegender Bedeutung betraf “ (Art.-46 Abs.-2 WVK). Hiermit hat sich die WVK in der Frage der Beachtlichkeit innerstaatlicher Kompetenzüberschreitung für die Evidenztheorie entschieden (siehe zum Verhältnis von staatlichem Recht und Völkerrecht unten Kap. 4.2). Eine offensichtliche Überschreitung dürfte, gemessen an Sinn und Zweck von Art.-46 Abs.-2 WVK, dann vorliegen, wenn die Kompetenzüberschreitung für einen objektiven Staatenvertreter ohne Weiteres ersichtlich ist. Insbesondere bei den nach der WVK benannten zur Vertretung befugten Staatsorganen dürfte die Offenkundigkeit regelmäßig abzulehnen sein. 3.3.1.2 Vertragsabschluss und dessen Vorwirkungen Im Völkerrecht herrscht, wie auch weitgehend in den nationalen Rechtsordnungen, der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Völkerrechtliche Verträge werden, wie dargestellt, durch aufeinander bezogene, inhaltlich vom Völkerrecht geprägte Willenserklärungen zwischen Völkerrechtssubjekten geschlossen. Dabei spielen nicht die Bezeichnung (Vertrag, Abkommen, Protokoll, Konvention oder Pakt) oder der Regelungsgegenstand die maßgebende Rolle, sondern der Rechtsbindungswille der Partner (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. a WVK). Verträge können schriftlich oder auch nichtschriftlich abgeschlossen werden; das Rechtsregime der WVK gilt gemäß deren Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 lit. a aber nur bei schriftlichen Abmachungen zwischen Staaten. Ein völkerrechtlicher Vertrag kommt also in gleicher Weise zustande wie ein privatrechtlicher Vertrag nach deutschem Recht, nämlich durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen in Form von Angebot und Annahme. Beim bilateralen Vertrag müssen entsprechend zwei Willenserklärungen von Völkerrechtssubjekten in der Weise aufeinandertreffen, dass eine Willenserklärung <?page no="186"?> 150 3. Völkerrechtsquellen ein durch einfache Zustimmung annehmbares konkretisiertes Vertragsangebot ist. Die Annahme des Vertragsangebots unter Bedingungen gilt als Ablehnung des Angebots verbunden mit einer neuen Offerte, die ihrerseits der Annahme bedarf. Es ist das Ziel diplomatischer Verhandlungen, die beiden Willenserklärungen der Völkerrechtssubjekte so zu präzisieren, dass sie den Erfordernissen des Vertragsangebots bzw. der Annahmeerklärung genügen. Die alte Völkerrechtsregel, dass ein völkerrechtlicher Vertrag mit der Unterschrift der dazu bevollmächtigten Staatenvertreter in Kraft tritt, wird allerdings häufig durch die sog. Ratifikationsklausel durchbrochen. Haben die Vertragspartner die Ratifikationsklausel in den Vertrag aufgenommen, so bedeutet dies, dass der betreffende Vertrag erst nach der Ratifikation - genauer: nach dem Austausch oder der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden - in Kraft tritt. Die Ratifikation ist die an den Vertragspartner gerichtete Mitteilung darüber, dass der- Vertrag innerstaatlich in Kraft gesetzt ist. In Deutschland ist etwa für die meisten Verträge nach Art. 59 Abs. 2 GG die Zustimmung des Bundestags erforderlich. Erst nach dieser Zustimmung kann der Vertrag ratifiziert werden. Bei bilateralen Verträgen wird der Austausch der Ratifikationsurkunden vereinbart, bei multilateralen wird ein Ort festgelegt, an dem alle Vertragspartner die- Ratifikationsurkunden hinterlegen müssen. In der Regel sehen multilaterale Verträge eine Mindestzahl von hinterlegten Ratifikationsurkunden als Voraussetzung für das völkerrechtliche Inkrafttreten vor. Solange diese Mindestzahl nicht-erreicht ist, tritt daher auch für diejenigen Staaten, die bereits ratifiziert haben, die völkerrechtliche Bindung nicht ein. Enthält ein Vertrag keine Bestimmungen über die Ratifikation, so verbleibt es bei der Regel, dass die völkerrechtliche Bindung mit der Unterschrift der bevollmächtigten Vertreter entsteht. Die Ratifikationsklausel ist jedoch heute so häufig, dass sie eigentlich die Regel darstellt, während die Verpflichtung durch bloße Unterschrift zur Ausnahme geworden ist. Die Willensübereinstimmung wird am Ende der Verhandlungen durch die Unterschrift der Bevollmächtigten bekräftigt (Unterzeichnung, in neuerer Zeit auch „Zeichnung“, vgl. Art. 11 WVK). Dies gilt für bilaterale wie für multilaterale Verträge. Häufig erstreckt sich die Vollmacht der Unterhändler nicht auf die Unterzeichnung des Vertrages. In diesem Fall zeichnen die Unterhändler den von ihnen vereinbarten Vertragstext lediglich mit dem Anfangsbuchstaben ihres Namens, der Paraphe, ab; dieser Vorgang heißt Paraphierung und legt den Vertragstext lediglich vorläufig fest. In der Regel ist die darauffolgende Unterzeichnung nur noch ein Formalakt. Mit der Unterzeichnung liegt der Vertragstext unverrückbar fest, gleichgültig, ob der Vertrag die Ratifikationsklausel enthält oder nicht (Art. 14 WVK). Ist das Erfordernis der Ratifikation nicht ausdrücklich im Vertrag festgelegt, so tritt die völkerrechtliche Wirkung des Vertrags, d.- h. die völkerrechtliche Bindung der Vertragspartner an den Vertrag, mit dem Zeitpunkt der Unterzeichnung ein. In der modernen Staatenpraxis hat sich jedoch die Gewohnheit herausgebildet, bilaterale Verträge erst nach der Ratifikation durch beide Vertragspartner und multilaterale Verträge erst nach der Ratifikation durch eine bestimmte, im Vertrag selbst festgelegte Mindestzahl von Signatarstaaten völkerrechtlich wirksam werden zu lassen. Ist eine Ratifikation erforderlich, so spricht man vom zusammengesetzten Verfahren. <?page no="187"?> 151 3.3 Völkerrechtliches Recht der Verträge Die Ratifikation ist die formelle Mitteilung des zur völkerrechtlichen Vertretung Befugten - für die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 59 Abs. 1 GG des Bundespräsidenten 33 - an den Vertragspartner über die vollzogene Umwandlung des völkerrechtlichen Vertrages in innerstaatliches Recht und darüber, dass der Vertrag als bindend angesehen wird (siehe dazu auch Kap. 4.2). Da beim bilateralen Vertrag beide Vertragspartner ratifiziert haben müssen, bevor der Vertrag völkerrechtlich in Kraft tritt, setzt die Ratifikationsklausel den Zeitpunkt des Austausches der beiden Ratifikationsurkunden, in denen besagte Mitteilung enthalten ist, als Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages fest. Bei multilateralen Verträgen tritt an die Stelle des Austausches die Hinterlegung der im Vertrag festgelegten Mindestanzahl von Ratifikationsurkunden an einem ebenfalls im Vertrag festgelegten Ort. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens wird dann ebenso bekannt gemacht wie der Vertrag selbst (Art. 16 WVK). Von der Bundesrepublik Deutschland geschlossene Verträge werden im Bundesgesetzblatt Teil II veröffentlicht. Das Erfordernis der Ratifikation gibt den nach innerstaatlichem Verfassungsrecht zur Mitsprache befugten Organen - für Deutschland gemäß Art. 59 Abs. 2 GG der Bundestag und der Bundesrat - die Möglichkeit, den Vertrag abzulehnen, ohne dass dadurch eine völkerrechtliche Haftung entsteht, denn in diesem Fall entfaltet die Unterzeichnung noch keine Bindungswirkung. Kann der Vertrag aufgrund des Widerspruchs innerstaatlicher Organe also nicht in Vollzug gesetzt werden, haftet der Staat vor der Ratifikation hierfür nicht. Der Vertragstext kann aber auch in diesem Fall nicht mehr einseitig von irgendeinem Organ eines vertragschließenden Staates geändert werden. Wird eine Änderung gewünscht, so müssen neue Verhandlungen mit dem Vertragspartner geführt werden. Das Erfordernis der Ratifikation kann sich ausnahmsweise auch aus anderen Willensbekundungen als einer ausdrücklichen Ratifikationsklausel im Vertragstext ergeben, nämlich durch vorherige Vereinbarung der Vertragspartner, durch Unterzeichnung unter dem Vorbehalt der Ratifikation, durch eine entsprechende Ausgestaltung der Vollmacht des Unterhändlers oder durch entsprechende Erklärungen während der Verhandlungen. Zustandekommen eines völkerrechtlichen Vertrages (zusammengesetztes Verfahren) 1. Verhandlungen (2. Paraphierung) 3. Unterzeichnung 4. Innerstaatliches Zustimmungsverfahren 5. Ratifikation 6. Verkündung (in BGBl. II) Sofern die Unterzeichnung den Vertrag noch nicht in Kraft setzt, kann sie aber bereits Vorwirkungen entfalten. So dürfen Staaten keine Handlungen vornehmen, welche den Vertragszweck vereiteln könnten. Dieses in Art. 18 WVK festgelegte Prinzip besteht übrigens auch bei noch nicht 33 Siehe dazu auch M. Zuleeg, Abschluss und Rechtswirkung völkerrechtlicher Verträge in der Bundesrepublik Deutschland, JA 15 (1983), 1ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland 1980, Bd. II, 221ff.; M. Nettesheim, Die Aufgaben des Bundespräsidenten, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hg.) Handbuch des Staatsrechts III, 3. A., 2005, §-62 Rn. 42ff. <?page no="188"?> 152 3. Völkerrechtsquellen wirksamen Richtlinien der Europäischen Union. Dieser Verpflichtung kann sich der Unterzeichnerstaat aber dadurch entziehen, dass er seine Absicht klar zum Ausdruck bringt, nicht mehr Vertragspartei werden zu wollen (Art.-18-lit.-b). Eine solche Erklärung hatten etwa die USA hinsichtlich ihrer Unterzeichnung des Pariser Klimawandelabkommens abgegeben. Der US-amerikanische Präsident Donald Trump nahm die Unterschrift seines Vorgängers Barack Obama zurück. 3.3.2 Inkrafttreten Ein völkerrechtlicher Vertrag tritt grundsätzlich mit Unterzeichnung bzw. Ratifikation in Kraft. Eine bedeutende Ausnahme besteht indes bei multilateralen Verträgen. Hier wird oft vereinbart, dass der Vertrag erst dann in Kraft tritt, wenn eine ausreichende Zahl an Signatarstaaten vorhanden ist. Die WVK bspw. wurde 1969 abgeschlossen, trat aber erst am 27.-1. 1980 in Kraft, nachdem Togo als entscheidender 35. Staat der Konvention beigetreten war (vgl. Art. 84 Abs. 1 WVK). Die EMRK bedurfte gem. ihres Art. 59 Abs. 3 dagegen nur zehn Vertragsstaaten für ihr Inkrafttreten. Möglich ist es auch, einen bestimmten Tag, ab dem ein Vertrag in Kraft treten soll, zu vereinbaren. Vorbehaltlich anderer Vereinbarungen sind aber solche Parteien, die nach dem Inkrafttreten einen Vertrag ratifizieren, unverzüglich gebunden (s.a. Art. 59 Abs. 4 EMRK, wonach es auf die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde ankommt). Zu beachten ist, dass Parteien die vorläufige Anwendung des Vertrags oder von Vertragsteilen anordnen können (Art. 25 WVK). Eine entsprechende Erklärung kann in den Vertrag selbst aufgenommen oder auch von zwei oder mehr Parteien vereinbart werden. Möglich ist eine Beschränkung der vorläufigen Anwendung auf bestimmte Vorschriften. Kommen Staaten den aus der vorläufigen Wirkung folgenden Verpflichtungen nicht nach, so finden die Rechtsfolgen über die Nichterfüllung völkerrechtlicher Verträge Anwendung. 3.3.3 Wirkung gegenüber Dritten Einem völkerrechtlichen Vertrag können Drittstaaten (d.-h. Staaten, die den Vertrag nicht unterzeichnet haben) beitreten, wenn der Vertragstext dies zulässt oder die Signatarstaaten die Beitrittsmöglichkeit auf andere Weise eröffnet haben (Art. 15 WVK). 34 Durch den Beitritt dritter Staaten zu einem bilateralen Vertrag wird dieser zum multilateralen Vertrag. Die Beitrittsmöglichkeit ist insbesondere für Konventionen von Bedeutung. Grundsätzlich sind nur die Partner eines Vertrages an ihn gebunden und damit Träger der in ihm niedergelegten Rechte und Pflichten (Art. 34 WVK); für Drittstaaten sollen weder Rechte noch Pflichten entstehen. Diese Grundregel wird nach dem römisch-rechtlichen Grundsatz „pacta tertiis nec nocent nec prosunt“ auch pacta tertiis-Regel genannt. 35 Sie resultiert aus der Gleichheit souveräner Staaten und ist auch im deutschen Privatrecht bekannt. Es ist allerdings nicht aus- 34 Dazu H.F.-Köck, Der Beitritt zu völkerrechtlichen Verträgen, ÖZöR 20 (1970), 217ff. 35 W. Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum/ Proelß. (Hg.), Völkerrecht, 8. A., 2019, 1. Abschn., Rn.-120 bezeichnet diese Regel als eine Regel des Völkergewohnheitsrechts. Die römisch-rechtliche Herkunft der pacta tertiis-Regel betont T.-Schweisfurth, International Treaties and Third States, ZaöRV 45 (1985), 653. <?page no="189"?> 153 3.3 Völkerrechtliches Recht der Verträge geschlossen, dass Verträge faktische Wirkungen gegenüber Dritten entfalten. Die WVK regelt, unter welchen Voraussetzungen Verträge an ihnen nicht beteiligte Staaten, sog. „Drittstaaten“, zu begünstigen oder zu verpflichten vermögen. 36 Im Hinblick auf drittbegünstigende Verträge steht es gemäß der in Art. 34 und 36 WVK niedergelegten Regel den Drittstaaten frei, die Begünstigung anzunehmen. Dann müssen sie aber auch alle Pflichten, die der Vertrag mit sich bringt, beachten. Gemäß Art. 36 Abs. 1 S.-2 WVK wird die Zustimmung der begünstigten Partei jedoch vermutet. Fraglich war diesbezüglich, ob auch drittbegünstigende Verträge für ihre Wirksamkeit nicht der vorherigen Zustimmung des Drittstaates bedürfen. Allerdings ist dem nicht zu folgen, denn es steht dem begünstigten Staat frei, von den ihm eingeräumten Rechten Gebrauch zu machen. Insofern stellt die Lösung der Art. 34 und 36 WVK eine angemessene Lösung dar. Für sog. Verträge zulasten Dritter sehen die Regeln der Art. 34 und 35 WVK vor, dass solche Verpflichtungen für Drittstaaten nur mit deren schriftlicher Zustimmung Gültigkeit erlangen können. Das ist ein deutlicher Ausfluss des Prinzips staatlicher Souveränität. 37 Eine Ausnahme, also die Unterwerfung unter ein bestehendes, den Drittstaat potenziell belastendes, Rechtsregime mag bei sog. Status-Verträgen, also Verträgen über den völkerrechtlichen Status eines Territoriums (z.B.- die Antarktis), anzunehmen sein. Solche Verträge sehen Regelungen für Räume vor, die keiner staatlichen Herrschaft unterliegen. 38 Nach einer prominent vertretenen Meinung sollen solche Vertragswerke die gesamte Staatengemeinschaft binden, obwohl sie keine universelle Geltung erlangt haben, sofern nicht Einspruch erhoben wird. Begründet wird diese Ansicht damit, dass die vertragsschließenden Parteien im allgemeinen Interesse handelten und von daher eine völkerrechtliche Kompetenz zur Regelung verliehen bekämen. 39 In der Tat scheint es erstrebenswert, Regelungsregime für bisher ordnungsfreie Räume, die aber von der Staatengemeinschaft genutzt werden, zu entwickeln. Wie soeben angesprochen können Verträge faktische Wirkung gegenüber Drittstaaten entfalten. Ein solcher Fall sind Verfügungsverträge, welche die Rechtslage zwischen zwei Staaten derart gestalten, dass auch andere Staaten mittelbar hiervon betroffen sind. Beispielhaft sei die Einigung über Grenzverläufe zwischen zwei Staaten genannt. Das so definierte Staatsgebiet ist auch von Drittstaaten zu respektieren. Hier resultiert die Beachtung der neu gesetzten Grenze aber aus dem Prinzip der territorialen Integrität, deren Umfang von den betroffenen Staaten selbst festgelegt werden kann, nicht aus dem Vertrag selbst. Über die eigenen Grenzen darf ein Staat grundsätzlich frei verfügen, und diese Entscheidung ist von anderen Staaten zu respektieren. 36 Dazu H.-Neuhold/ J.-Kropholler, Völkerrechtlicher Vertrag und Drittstaaten, BDGVR 28 (1988), 9ff. 37 Zum Problem der faktischen im Unterschied zur rechtlichen Belastung etwa infolge von Embargomaßnahmen siehe K.-Doehring, Völkerrecht, 2. A., 2004, Rn.-347. 38 Beispiele sind der Weltraumvertrag vom 1.12.1959 oder das Seerechtsübereinkommen vom 10.12.1982. 39 So E. Klein, Statusverträge im Völkerrecht, 1980, 75, 191, 345f.; ferner T. Stein/ C. von Buttlar/ M. Kotzur, Völkerrecht, 14. A., 2017, §-55, Rn. 907. <?page no="190"?> 154 3. Völkerrechtsquellen 3.3.4 Vorbehalte Die Wiener Vertragsrechtskonvention regelt in ihren Art. 19ff. das Recht der Vorbehalte. 40 Mit einem Vorbehalt möchte der entsprechende Staat seine Bindung an einen völkerrechtlichen Vertrag begrenzen. Vorbehalte sind damit insbesondere ein Mittel, um eine möglichst hohe Zahl von Ratifikationen zu garantieren, bergen aber gleichzeitig die Gefahr, dass die normative Kraft des Vertrages bei zu vielen und zu weitgehenden Vorbehalten „verwässert“ wird. Die Wichtigkeit einer gewissen Flexibilität zeigt sich daran, dass es bis heute keinen völkerrechtlichen Vertrag gibt, der universell anerkannt worden ist, nicht einmal die UN-Charta ist universelles Völkerrecht. Eine prominente Regelung von Vorbehalten stellt Art. 57 EMRK dar. Demnach sind allgemeine Vorbehalte zur EMRK zwar nicht möglich, beitrittswillige Staaten dürfen aber einen Vorbehalt vereinbaren, sofern eine Bestimmung der EMRK mit einem nationalen Gesetz nicht vereinbar ist. Eine Bindung an die Konvention ist dann für das entsprechende Gesetz ausgeschlossen. So hat Deutschland einen Vorbehalt abgegeben, nach welchem Art. 2 S.-2 des Zusatzprotokolls zur EMRK keine Verpflichtung begründet, Schulen religiöser oder weltanschaulicher Art staatlich zu finanzieren. Ebenso bedeutsam sind Vorbehalte bezüglich der Anerkennung der Gerichtsbarkeit des IGH, welche als Beitritt zu einem Vertrag zu verstehen ist: Deutschland hat diese Gerichtsbarkeit in seiner Unterwerfungserklärung unter anderem für militärische Handlungen ausgeschlossen. 41 Damit ist schon gezeigt, dass Vorbehalte in mannigfaltiger Form auftreten können, so dass die ILC beschlossen hat einige dieser Formen in eine abstrakte Definition zu gießen. So gibt es Vorbehalte, welche die Verpflichtungen ihres Urhebers oder aller Vertragsstaaten begrenzen, oder solche Vorbehalte, welche die territoriale Anwendbarkeit eines Vertrags begrenzen (vgl. Art. 1.1.1 bis 1.1.6 des ILC-Entwurfs 2011). Denkbar sind aber auch Vorbehalte, welche die Überwachung der Vertragseinhaltung oder die Streitschlichtungsmechanismen betreffen (ILC 3.1.5.7). Schwierigkeiten ergeben sich also im Spannungsfeld zwischen dem Streben nach Universalität und der Integrität eines Vertrages. Insofern verwundert es nicht, dass trotz der Regelungen der Art. 19ff. WVK nicht alle Fragen bezüglich der Vorbehalte geklärt sind. Die Arbeiten der ILC an den Vertragsvorbehalten hatten Art. 19 WVK als Ausgangspunkt, dessen einzelne Merkmale erläutert werden. Zudem wird an einem Praxisleitfaden zur Entscheidungskompetenz hinsichtlich der Gültigkeit eines Vorbehalts und der rechtlichen Folgen unwirksamer Vorbehalte gearbeitet. 42 Diese Arbeit hat die ILC auf ihrer 59. Sitzung im Jahr 2007 fortgesetzt. 43 In der 63. Sitzung 2011 verabschiedete die ILC schließlich den bereits erwähnten, umfangreichen „Guide to Practice on Reservations Treaties“. 44 Das 630 Seiten starke Dokument, welches über 20 Jahre von der ILC 40 Siehe dazu W. Heintschel von Heinegg, Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen, Jura 14 (1992), 457ff. 41 Dazu unten bei Kap. 7.1. 42 Vgl. dazu International Law Commission, Report on the Work of its Fifty-eighth Session, Official Records of the General Assembly, Sixty-first Session, Supplement No. 10 (A/ 61/ 10). 43 Siehe dazu den Text des Entwurfs der Richtlinie zu den Vorbehalten zu Verträgen in: UNGA OR Sixtysecond Session, Supplement No. 10 (Doc.A/ 62/ 10), 46-121. 44 GA, OR, Sixty-sixth session, Supplement No. 10 Add 1, Doc.A/ 66/ 10, Add. 1, siehe dazu A. Pellet, The ILC Guide to Practice on Reservations to Treaties: A General Presentation by the Special Rapporteur, EJIL 24 (2013), 1061ff.; M. Wood, Institutional Aspects of the Guide to Practice on Reservations, EJIL 24 (2013), 1099ff. <?page no="191"?> 155 3.3 Völkerrechtliches Recht der Verträge unter deren Special Rapporteur, Alain Pellet, erarbeitet wurde, ist als nicht rechtsverbindlicher praktischer Hinweis zu verstehen. Der Entwurf kann angesichts der enormen praktischen Bedeutung von Vertragsvorbehalten als Kennzeichnung eines der Kernprobleme das Spannungsverhältnis zwischen der Regel der Formulierungsmöglichkeit eines Vorbehalts (Art. 19 WVK) und andererseits deren Ablehnbarkeit, wie sie in Art. 20 WVK beschrieben ist, bezeichnet werden. 45 Abzugrenzen ist der Vorbehalt von der interpretierenden Erklärung, der ebenfalls eine große praktische Bedeutung zukommt. Dabei kommt es, ähnlich wie bei Verträgen selbst, nicht darauf an, wie die Erklärung bezeichnet ist, sondern welche Wirkungen sie hat. Sofern es darum geht, bestimmte Regelungen eines Vertrags auszuschließen, liegt ein Vorbehalt vor, 46 so auch nach Art. 1.3 ILC-Entwurf. Macht dagegen ein Staat geltend, dass er eine bestimmte Vertragsvorschrift nur in einer bestimmten Weise verstanden haben will, ohne sich gegen die Vorschrift an sich zu wenden, so liegt nach Art. 1.2 ILC-Entwurf eine interpretierende Erklärung vor. Ob ein Vorbehalt oder eine interpretierende Erklärung vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln. Nach Art. 1.3.1 ILC-Entwurf ist eine Formulierung nach gutem Glauben unter Berücksichtigung ihrer gewöhnlichen Bedeutung auszulegen. Es soll der Wille des Erklärenden im Lichte des Vertragstextes festgestellt werden. Es kommt also auf eine objektive Sichtweise an. 3.3.4.1 Voraussetzungen Man orientierte sich bei den Verhandlungen über die entsprechenden Regelungen der Wiener Vertragsrechtskonvention insbesondere an den Feststellungen des Internationalen Gerichtshofs in seinem Gutachten zu Vorbehalten zur Völkermordkonvention. 47 Nach der Wiener Vertragsrechtskonvention kann ein Staat bei der Unterzeichnung, der Ratifizierung oder der Abgabe der Beitrittserklärung Vorbehalte formulieren. Der Vorbehalt muss also vor Eintritt der Bindungswirkung erklärt werden. Im Text des Vertrages darf der Vorbehalt zunächst nicht ausdrücklich ausgeschlossen sein. Die Vertragspartner selbst legen also grundsätzlich fest, ob Vorbehalte zu bestimmten, von ihnen geschlossenen Verträgen zulässig sein sollen. Möglich ist auch, dass die Vertragsparteien nur Vorbehalte mit bestimmtem Inhalt gestatten. Zu beachten ist, dass es einer Annahme des Vorbehalts durch die Vertragsstaaten nach Art. 20 Abs. 1 WVK nur dann bedarf, wenn dies ausdrücklich vorgesehen ist. Ferner müssen alle Vertragsparteien dem Vorbehalt zustimmen, wenn die umfassende Anwendung des Vertrags Grundlage der Verhandlungen war (Art. 20 Abs. 2 WVK). Darüber hinaus ist ein Vorbehalt, der gegen Sinn und Zweck eines Vertrages verstößt, gemäß Art. 19 lit.-c WVK unbeachtlich. Ob ein solcher Verstoß vorliegt, mag im Einzelfall zweifelhaft sein. Nach der ILC ist ein Vorbehalt dann nicht mit der Zielrichtung eines Vertrags vereinbar, wenn er ein wesentliches und für dessen Grundlagen notwendiges Element, welches die Existenzberechtigung des Vertrags betrifft, berührt (Art. 3.1.5 ILC-Entwurf). Der Vertragszweck 45 Dazu A. Pellet, The ILC Guide to Practice on Reservations to Treaties: A General Presentation by the Special Rapporteur EJIL 24 (2013), 1061, 1065ff. 46 T. Stein/ C. von Buttlar/ M. Kotzur, Völkerrecht, 14.-A., 2017, §-6 Rn. 73. 47 IGH, Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of Genocide, Gutachten vom 28.05.1951, ICJ Reports 1951, 15; siehe unten Kap. 15.2.4. <?page no="192"?> 156 3. Völkerrechtsquellen selbst ist, ähnlich wie die Verbindlichkeit, in gutem Glauben zu bestimmen. Die einzelnen Bestimmungen sind in ihrem Kontext, der sich aus Titel, Präambel und sekundär auch aus der Historie ergibt, für die Zweckermittlung heranzuziehen (Art. 3.1.5.1 ILC-Entwurf). Wie diese Wendungen zeigen, handelt es sich um eine von notwendig vagen Kriterien abhängige Prüfung. So ist insbesondere umstritten, ob und in welchem Umfang Vorbehaltserklärungen zu menschenrechtlichen Abkommen möglich sind. Dies wird etwa vom Human Rights Committee verneint. 48 Nach der ILC sollen Sinn und Zweck eines Vertrags mittels guten Glaubens und unter Berücksichtigung von Vertragstitel und Präambel ermittelt werden. Auch darf auf die Entstehungsgeschichte, die Umstände des Vertragsabschlusses und ggf. die bisherige Praxis der Parteien abgestellt werden. 49 Ein besonders umstrittenes Beispiel sind in diesem Zusammenhang die sog. „Scharia-Vorbehalte“. 50 Menschenrechtliche Verträge werden hier unter den Vorbehalt gestellt, dass sie mit der Scharia vereinbar sein müssen. 51 Mit Blick auf wesentliche Menschenrechte wie etwa die Gleichbehandlung der Geschlechter oder die Religionsfreiheit haben insbesondere europäische Staaten diese Vorbehalte zurückgewiesen. 52 Aufmerksamkeit erlangte auch ein Disput europäischer Staaten mit den USA bezüglich solcher die Todesstrafe betreffenden Verpflichtungen aus dem IPbürgR. Gegen die Vorbehalte der USA, welche die dortige Praxis schützen sollten, legten mehrere europäische Staaten Widerspruch mit der Begründung ein, dass diese mit Ziel und Zweck des Vertrags nicht zu vereinbaren seien. Denn Art. 4 Abs. 2 IPbürgR hält ausdrücklich fest, dass das Recht auf Leben und menschliche Behandlung selbst im Notfall nicht eingeschränkt werden darf. Aufgrund dieser Entscheidung liegt es nahe, dass das Recht auf Leben und menschliche Behandlung zum Kernbestand des IPbürgR gehört. 53 Voraussetzungen von Vorbehalten ▶ Kein Ausschluss von Vorbehalten im Vertrag, Art. 19 lit. a WVK ▶ Die konkrete Form des Vorbehalts ist nicht ausgeschlossen, Art. 19 lit. b WVK ▶ Formulierung des Vorbehalts vor Eintritt der Bindungswirkung, Art. 19 WVK ▶ Ggf. Annahme durch andere Vertragsstaaten, Art. 20 WVK ▶ Kein Verstoß gegen Sinn und Zweck des Vertrags, Art. 19 lit. c WVK 48 General Comment N 24 (52) - CCPR/ C/ 21/ rev.1/ Add.6 vom 02.11.1994, abgedruckt in: HRLJ 15 (1994), 464ff.; dies wurde bestätigt im Fall Kennedy v. Trinidad and Tabago, Beschwerde Nr.-845/ 1999, Entscheidung vom 02.11.1999, abgedruckt in: EuGRZ 28 (2001), 615ff.; dazu C.-Stahn, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, EuGRZ 28 (2001), 607ff. 49 Guide to Practice on Reservations to Treaties, 3.1.5.4. 50 So trat z.-B. Libyen 1989 dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Diskriminierung der Frau unter dem Vorbehalt bei, dass die Anwendung des Vertrags mit der Scharia vereinbar sein muss, siehe UN Doc. ST/ LEG/ SER.E/ 12, 170. 51 Siehe hierzu M.G. Fischer/ A. Diab, NJW 60 (2007), 2972ff. 52 Umfassend zum Thema T. Giegerich, ZaöRV 55 (1995), 713ff., 714. 53 Siehe dazu T. Giegerich, EuGRZ 22 (1995), 1ff., 13f. <?page no="193"?> 157 3.3 Völkerrechtliches Recht der Verträge 3.3.4.2 Rechtsfolgen eines unzulässigen Vorbehalts Ein unzulässiger Vorbehalt ist nichtig und entfaltet somit keinerlei Rechtswirkung (Art. 4.5.1 ILC-Entwurf). Damit ist aber noch nicht geklärt, wie sich diese Nichtigkeit auf die Vertragsbindung des den Vorbehalt erklärenden Staates auswirkt. Die WVK regelt nur die Frage, wann ein Vorbehalt unzulässig ist, lässt aber die Rechtsfolgen einer nichtigen Vorbehaltserklärung offen. Denkbar wäre hier zum einen die Annahme einer vorbehaltlosen Bindung, 54 andererseits aber auch die Annahme, der betreffende Staat habe sich ohne Vorbehalt überhaupt nicht binden wollen. Folglich sind der entsprechende Bindungswille des den Vorbehalt erklärenden Staates und die Reaktionen der Vertragspartner auf die Vorbehaltserklärung zu prüfen. 55 Nach Art. 4.5.3 ILC-Entwurf soll ein unzulässiger Vorbehalt zu einer uneingeschränkten Vertragsbindung führen. Der betroffene Staat soll allerdings jederzeit erklären können, dass er ohne den entsprechenden Vorbehalt nicht an den Gesamtvertrag gebunden sein möchte. 56 Ein weiterer Ansatz, der auf die Rechtsprechung des IGH über die Vorbehalte zum Genozid-Abkommen zurückgeht, 57 stellt es in das Belieben der Vertragsparteien, selbst gegen Sinn und Zweck des Vertrages verstoßende Vorbehalte durch Annahme wirksam werden zu lassen. Indes scheint es vorzugswürdig, dass bei Ungültigkeit eines Vorbehalts zunächst eine vorbehaltlose Bindung besteht, wie es auch der EGMR annimmt. 58 Hierfür spricht bereits, dass die den unwirksamen Vorbehalt erklärende Partei die Unwirksamkeit zu verantworten hat und sich durch Erklärung von der vertraglichen Bindung lösen kann. So wird ein angemessener Ausgleich zwischen dem Konsensprinzip, der Rechtssicherheit und der Vertragsbindung geschaffen. Man kann den unzulässigen Vorbehalt auch nicht für dennoch wirksam halten, da Art. 19 WVK ansonsten bedeutungslos wäre. Jene Ansicht, welche aufgrund der Unwirksamkeit eines Vorbehalts die gesamte Vertragsbindung eines Staates aufheben will, ohne eine entsprechende Erklärung zu verlangen, ist hingegen mit Aspekten der Rechtssicherheit nur schwer in Einklang zu bringen. Demnach könnte sogar ein vergleichsweise unbedeutender Vorbehalt die Geltung des gesamten Vertrags für die den Vorbehalt erklärende Partei infrage stellen. Unklarheiten über die Gültigkeit eines Vorbehalts können bei dem hier vorgeschlagenen Verständnis auch nicht missbraucht werden, um sich von dem Gesamtvertrag zu lösen. Auch kann es, wie es auch die ILC vertritt (Art. 4.5.2 Nr.-1 ILC-Entwurf), nicht in das Belieben der Vertragsparteien gestellt werden, unzulässige Vorbehalte anzunehmen. Der insofern einschränkende Art. 19 WVK wäre auch bei einer solchen Lösung überflüssig, 59 und auch das in Art. 31 WVK statuierte Gebot zur objektiven Auslegung würde vernachlässigt. 60 54 In diesem Sinne entschied der EGMR im Belilos-Fall, Belilos v. Schweiz, Ser. A Nr.-132 (1988), EuGRZ 16 (1989), 21; vgl. auch M.-Herdegen, Völkerrecht, 18.-A., 2019, §-15, Rn.-24. 55 Zu dem Problem der Zulässigkeit von Vorbehalten zu multilateralen Verträgen allgemein, vgl. G.- Dahm/ J.- Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, I/ 3, 2. A., 2002, 570ff.; speziell zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der Vorbehaltserklärungen der USA zum IPbürgR siehe etwa T. Giegerich, Vorbehalte zu Menschenrechtsabkommen, ZaöRV 55 (1995), 713ff.; D.P. Stewart, The Covenant on Civil and Political Rights, HRLJ 14 (1993), 77ff.; siehe auch K.-Doehring, Völkerrecht, 2. A., 2004, Rn.-351; zur Zulässigkeit von Vorbehaltserklärungen zur EMRK siehe J.-Frowein/ W. Peukert, EMRK Kommentar, 2. A., 1996, 750. 56 Siehe hierzu Yearbook of the International Law Commission, 2011, Vol. II, Part Two, 4.5.3. 57 ICJ Genocide Convention, Fn. 47. 58 Siehe auch von Ungern-Sternberg, Jura 32 (2010), 841ff., 844; EGMR A 132, Ziff. 50ff. 59 So auch A. von Arnauld, Völkerrecht, 4. A., 2019, Rn. 224. 60 So zutreffend K. Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-17 Rn. 15. <?page no="194"?> 158 3. Völkerrechtsquellen Rechtsfolgen von unzulässigen Vorbehalten Grundsatz: ein unzulässiger Vorbehalt ist nichtig und entfaltet keine Rechtswirkung; somit bleibt der Staat, der den Vorbehalt erklärt, an den gesamten Vertrag gebunden. 3.3.4.3 Wirkung von Vorbehalten Durch den Vorbehalt werden die Vertragspflichten des den Vorbehalt erklärenden Staates abweichend vom Vertragstext modifiziert. Infolge des Prinzips der Reziprozität (Gegenseitigkeit; dazu unten Kap. 5.3) gilt dann allerdings die gleiche Modifizierung für den Vertragspartner (Art. 21 Abs. 1 WVK). Ansonsten bleibt das Vertragsverhältnis zwischen den anderen Parteien unberührt. Zu beachten ist die Regelung des Art. 20 Abs. 5 WVK, wonach die Annahme eines Vorbehalts dann fingiert wird, wenn keine anderweitige Regelung getroffen und dem Vorbehalt nicht widersprochen worden ist. Es kommt also in aller Regel auf den Widerspruch der Vertragspartner an, ansonsten wird ein rechtzeitig erklärter Vorbehalt wirksam. Problematisch ist nun die Frage, was gilt, wenn nur ein Teil der Vertragspartner den Vorbehalt annimmt. Nach einer früher vertretenen Ansicht wurde der Staat, dessen Vorbehalt von nur einer Vertragspartei abgelehnt wurde, gar nicht Vertragspartei. So wurden freilich Bemühungen um eine universelle Geltung von Verträgen erheblich erschwert. Art. 20 Abs. 4 lit. b sowie Art. 21 Abs. 3 WVK bestimmen den Ausschluss derjenigen Vertragsbestimmung, auf die sich der abgelehnte Vorbehalt bezieht, dies aber nur zwischen der erklärenden und der den Vorbehalt ablehnenden Partei, und auch nur in dem Ausmaß, welches der Vorbehalt vorsieht. Sonstige Vertragsvorschriften werden ohne Besonderheiten angewendet. Bei einem multilateralen Vertrag können infolgedessen die Beziehungen zwischen den einzelnen Vertragspartnern unterschiedlich sein, ohne dass der Vertragstext selbst (der nicht auf etwaige Vorbehalte hinweist) geändert werden müsste. Bei der Rechtsanwendung ist deswegen genau darauf zu achten, ob die Mitgliedstaaten Vorbehalte erklärt haben. Die Wirkung der Ablehnung von Vorbehalten Niemand widerspricht Vorbehalt gilt inter omnes Nur ein Teil der Vertragsstaaten widerspricht Vorbehalt gilt nur gegenüber den nicht widersprechenden Staaten. Gegenüber den widersprechenden Staaten gelten die Bestimmungen, auf die sich der Vorbehalt bezieht, nicht. Bei bilateralen Verträgen werden Vorbehalte von der überwiegenden Meinung der Völkerrechtslehre und der ILC (Art. 1.6.1 ILC-Entwurf) nicht für zulässig erachtet. 61 Ein vor der Unterzeichnung eines bilateralen Vertrages erklärter Vorbehalt ist nichts anderes als ein Vertragsangebot oder Teil eines Vertragsangebots, das vom Verhandlungspartner angenommen oder zurückgewiesen werden kann. Im ersten Fall kommt der Vertrag von vornherein mit dem Inhalt im Sinne des Vertragsangebots zustande, im letzteren Fall fehlt die Willenseinigung und der Vertragsabschluss 61 Dazu K.-Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-17 Rn. 7. <?page no="195"?> 159 3.3 Völkerrechtliches Recht der Verträge scheitert. Nach der Unterzeichnung eines bilateralen Vertrages bedeutet die Erklärung eines Vorbehaltes praktisch die Neueröffnung von Vertragsverhandlungen, bei denen sich die gleiche Situation wie im Vorstehenden ergibt. Auch bei multilateralen Verträgen wurde früher die ausdrückliche Annahme des von einem Staat erklärten Vorbehalts durch die anderen Signatarstaaten als Voraussetzung für die Rechtswirksamkeit des Vorbehalts gefordert. Nach heutiger Lehre und Praxis genügt aber auch die stillschweigende Annahme. 62 3.3.5 Interpretation/ Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen Für die Interpretation völkerrechtlicher Verträge gilt folgende Grundregel: Die im Vertrag verwendeten Ausdrücke sollen gemäß Art. 31 Abs. 1 WVK auf der Grundlage ihrer herkömmlichen Bedeutung im Lichte des Vertragszusammenhangs und der Ziele und Zwecke des Vertrages ausgelegt werden. Art. 31 Abs.  WVK zählt diejenigen Instrumente und Dokumente auf, die als im Zusammenhang stehend mit dem Vertrag im Sinne der allgemeinen Auslegungsregel des Abs. 1 betrachtet werden: Präambel, Anhänge, Vereinbarungen zwischen den Vertragsparteien mit Bezug auf den Vertragsabschluss und alle weiteren Instrumente, die von einer oder mehreren Parteien mit Bezug auf den Vertragsabschluss abgeschlossen und vereinbart und von den übrigen Parteien als ein zum Vertrag gehöriges Instrument anerkannt worden sind. Dabei gelten modifiziert auch die im nationalen Recht bekannten Auslegungsmethoden. Sie müssen zumeist dann angewendet werden, wenn die Vertragspartner unbestimmte Rechtsbegriffe - etwa die Lösung einer Streitigkeit unter Bezugnahme auf den Grundsatz der Billigkeit - verwendet haben. Nach Art. 31 Abs. 1 WVK ist zunächst der Wortlaut einer Bestimmung zu ermitteln. Zudem sind der Zusammenhang der Bestimmung im oben beschriebenen Sinne sowie Sinn und Zweck des Vertrags bei der Auslegung zu berücksichtigen. Bei diesen Auslegungsmethoden ist der Grundsatz von Treu und Glauben als maßgebender Auslegungsgrundsatz zu berücksichtigen; ein Prinzip, das ohnehin die zwischenstaatlichen Beziehungen kennzeichnen sollte. Zurückhaltung zeigt die WVK sodann allerdings bei der Berücksichtigung der travaux préparatoires, also der schriftlich festgehaltenen Verhandlungsgeschichte, die erst als ergänzendes Auslegungsmittel zusammen mit den Umständen des Vertragsschlusses gemäß Art. 32 WVK herangezogen werden soll, wenn die Auslegung nach Art. 31 WVK „die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt“ oder „zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt.“ Dabei ist es möglich, dass der Vertragstext insbesondere bei bereits lang existenten Verträgen eine dynamische Auslegung erfahren kann. Eine solche dynamische Auslegung und Konkretisierung verwendete das BVerfG beispielsweise bezüglich des neuen strategischen Konzepts der NATO. Diesem Konzept nach wandelte sich das Bündnis grob gesagt von einer Verteidigungsgemeinschaft zu einer Krisenreaktionsgemeinschaft, sodass eine Vertragsänderung, welche die Rechtsfolgen des Art. 59 GG ausgelöst hätte (dazu Kap. 3.3.1.2), nicht vorlag. 63 62 W. Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum/ Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8. A., 2019, 1. Abschn., Rn.-121. 63 Siehe BVerfG 104, 151ff., Rn. 94. <?page no="196"?> 160 3. Völkerrechtsquellen Die Auslegung soll also maßgeblich vom durch den Vertragsschluss verobjektivierten Willen der Vertragspartner 64 geleitet sein. 65 Erschwert wird die Auslegung meist dadurch, dass Rechtsbegriffe in den Rechtsordnungen der Signatarstaaten unterschiedliche Bedeutungen aufweisen können. Für Auslegungsfragen sind zwar alle authentischen Sprachfassungen heranzuziehen, sofern keine anderweitige Regelung besteht (Art. 33 Abs. 1 WVK). Hier ist zu beachten, dass die Auslegung autonom erfolgt, d.-h. es kommt nicht darauf an, welche Bedeutung der Wortlaut in der Sprache der Signatarstaaten hat, sondern mittels einer systematischen und teleologischen Interpretation ist vor allem die Präambel oder verwandtes Vertragsrecht heranzuziehen. 66 Insbesondere der EuGH betont in seiner Rechtsprechung oft die Eigenständigkeit der Verträge, die eine genuin europarechtliche Interpretation erforderte. Klassisches Beispiel ist der Begriff der öffentlichen Ordnung, der oft zur Einschränkung der Grundfreiheiten dient. Eine am deutschen Gefahrenabwehrrecht orientierte, also weite Interpretation würde dazu führen, dass die Grundfreiheiten bei der bloßen Verletzung von Gesetzen in ihrer Anwendung beschränkt wären. Die enge Interpretation des EuGH verlangt dagegen schwerwiegende Beeinträchtigungen von überragend wichtigen Allgemeininteressen, sodass etwa die Terrorismusbekämpfung darunter fällt, nicht aber die Maßnahmen zur Entlastung von Verwaltung oder des Staatshaushalts. 67 Nur eine solche Interpretation ist überzeugend, da die Anwendung der Grundfreiheiten ansonsten in das Belieben der Mitgliedstaaten gestellt wäre. Es ist also durchaus sinnvoll, völkerrechtliche Verträge nicht allein anhand des divergierenden Begriffsverständnisses der Signatarstaaten, sondern eigenständig auszulegen. Vertragsinterpretation 1. Allgemeine Auslegungsmethoden (Art. 31 WVK) ▶ Wortlaut ▶ Kontext ▶ Sinn und Zweck 2. Ergänzende Auslegungsmethoden (Art. 32 WVK) ▶ Verhandlungsgeschichte (travaux préparatoires) 3.3.6 Willensmängel und Gewaltanwendung In Völkerrechtslehre und Staatenpraxis haben Willensmängel beim Vertragsabschluss Anlass zu erheblichen Kontroversen gegeben. Grundsätzlich kennt das Völkerrecht ähnliche Willensmängel wie das Privatrecht: Irrtum, arglistige Täuschung und Zwang (Art. 48ff. WVK). Sie haben aber im Völkerrecht einen wesentlich engeren Anwendungsbereich, weil dort das Verfahren des Vertragsabschlusses, beginnend mit der Bevollmächtigung und der Nachprüfung der Vollmachten 64 Siehe insgesamt G. Dahm/ J. Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 3, 633-ff, 2. A., 2002. 65 Zu Auslegungsproblemen bei mehrsprachigen Verträgen: D.- Shelton, Reconcilable Differences? The Interpretation of Multilingual Treaties, HICLR 20 (1997), 611ff. und M.-Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1973. 66 von Ungern-Sternberg, Jura 32 (2010), 841ff., 845. 67 Zu diesem Problem S. Hobe, Europarecht, 9. A., 2017, §-15 Rn. 772. <?page no="197"?> 161 3.3 Völkerrechtliches Recht der Verträge durch die Verhandlungspartner, stark formalisiert ist und in der Regel von erfahrenen, hochqualifizierten Juristen durchgeführt wird. Trotzdem enthält die Wiener Vertragsrechtskonvention einen Tatbestand, der im Privatrecht als solcher nicht auftaucht: Die Bestechung eines Staatenvertreters (Art. 50 WVK). Bezüglich der Anwendung von Zwangsgewalt hat die Charta der Vereinten Nationen auf der Grundlage des Gewaltverbots des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta eine bedeutsame Fortbildung des völkerrechtlichen Vertragsrechts bewirkt: Während früher nur der gegen den Unterhändler selbst ausgeübte Zwang zur Nichtigkeit des Vertrages führte, tritt diese Rechtsfolge nach heute geltendem Recht schon dann ein, wenn durch den Einsatz von völkerrechtswidriger Gewalt eine Zwangssituation für den gesamten Staat entstanden ist (Art. 52 WVK). Unter der Geltung dieser Rechtsnorm wäre eine Wiederholung der Vorgänge vom September 1938, als die Tschechoslowakei sich unter dem massiven Druck des Vereinigten Königreichs und Frankreichs den Forderungen Hitlers beugte, weil sie im Weigerungsfalle mit einem Krieg rechnen musste, unmöglich. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass die Androhung und Anwendung von Gewalt nicht automatisch zur Ungültigkeit des Vertrages führen. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Gewalt im Einklang mit der UN-Charta angewendet wurde (vgl. Art. 75 WVK). Ein besonders hart umkämpfter Fortschritt der Wiener Vertragsrechtskonvention ist deren Art. 53, der jeden Vertrag, welcher gegen eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts (ius cogens) verstößt, für von Anfang an nichtig erklärt. Da das Gewaltverbot zu den zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts gehört, ist der unter Anwendung oder Androhung von Gewalt abgeschlossene Vertrag auch aus diesem Grunde nichtig (ausführlich zu Art. 53 WVK unter Kap 3.6). 3.3.7 Vertragsbruch Der Vertragsbruch eines Partners berechtigt den oder die anderen Partner des Vertrags zur gänzlichen oder teilweisen Auflösung des Vertrags (Rücktritt vom Vertrag) oder - nach seiner/ ihrer Wahl - zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen (Art. 60 WVK). Selbstverständlich kann sich der in seinen Rechten verletzte Vertragspartner auch auf den Grundsatz pacta sunt servanda, der in Art. 26 WVK ausdrücklich niedergelegt ist, berufen und die Vertragserfüllung verlangen. 3.3.8 Vertragsbeendigung Viele völkerrechtliche Verträge verlieren ihre Gültigkeit durch Zeitablauf. Das ist jedoch nur dann der Fall, wenn der Vertrag selbst dies so bestimmt, d.-h. von vornherein nur für eine bestimmte Zeit abgeschlossen worden ist. Mit dem Ablauf dieses Zeitraums tritt der Vertrag automatisch außer Kraft. Andere Verträge sind zwar auf unbestimmte Zeit geschlossen, sehen aber vor, dass der Vertrag seine Wirksamkeit verliert, wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt. Ein solcher Vertrag ist ausdrücklich unter einer auflösenden Bedingung abgeschlossen. Hiervon zu unterscheiden ist die Änderung wesentlicher Umstände, die beim Vertragsschluss die Geschäftsgrundlage dargestellt haben (clausula rebus sic stantibus, d.h.: Grundsatz ist bei jedem <?page no="198"?> 162 3. Völkerrechtsquellen Vertrag die Prämisse, dass die Geschäftsgrundlage erhalten bleibt). 68 Ein Wegfall der Geschäftsgrundlage beendet jedoch den Vertrag nicht automatisch, sondern kann nur unter bestimmten Voraussetzungen zum Rücktritt berechtigen. 69 Die WVK regelt diesen Tatbestand in Art. 62, der die Voraussetzungen des Rücktrittsrechts im Falle einer grundlegenden Änderung der Umstände aufzählt. Ob auch die Änderung der Politik eines Staates für die Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen der clausula rebus sic stantibus ausreichen soll, war bereits bei den Beratungen über Art. 62 WVK umstritten. Während sich heute die überwiegende Meinung gegen die Anerkennung einer Vertragsbeendigung aus innenpolitischen Gründen schon wegen der grundsätzlichen Irrelevanz solcher Umstände für die Beurteilung völkerrechtlicher Pflichten ausspricht, lassen sich doch auch Tendenzen beobachten, die im Einzelfall Raum für ein Recht zur Vertragsbeendigung geben. 70 Der IGH sah eine solche Interpretation im Gabčíkovo-Nagymaros-Fall (siehe unten Kap. 15.2.15) allerdings skeptisch. Zu beurteilen war ein Vertrag zwischen Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei aus dem Jahre 1977, in welchem sich Ungarn zum gemeinsamen Bau eines Staudammsystems in der Donau verpflichtete. Nach der Revolution 1989 war dieses Projekt politisch unerwünscht. Der IGH entschied allerdings, dass ein grundlegender politischer und wirtschaftlicher Wandel nicht zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage führe. Der Bestand des politischen Systems sei nicht ausreichend mit dem Vertragszweck verbunden gewesen. 71 Der Rücktritt vom Vertrag ist einer der wichtigsten Beendigungsgründe. Der Rücktritt hat diese Wirkung jedoch nur dann, wenn er zulässig ist. Hauptfälle der Zulässigkeit sind Vertragsverletzungen durch die Gegenseite (Art. 60 WVK) und die grundlegende Änderung der Umstände in den Grenzen des Art. 62 WVK. Ferner ist der Rücktritt zulässig, wenn sich nach Vertragsabschluss herausstellt, dass die Erfüllung des Vertrags objektiv unmöglich ist und „sich die Unmöglichkeit aus dem endgültigen Verschwinden oder der Vernichtung eines zur Ausführung des Vertrags unerlässlichen Gegenstands ergibt“ (Art. 61 WVK). Der IGH hat im oben genannten Fall die völkergewohnheitsrechtliche Geltung der Regeln über die Beendigung und Suspendierung von Verträgen bestätigt. 72 Völkerrechtliche Verträge können eine Kündigungsklausel enthalten. Solche Verträge enden, sobald einer der Vertragspartner von dem ihm vertragsmäßig zustehenden Kündigungsrecht Gebrauch gemacht hat. Auch ohne ausdrückliche Klausel können die Vertragsparteien die Zulässigkeit der Kündigung jederzeit durch gegenseitiges Einvernehmen nach Konsultation aller anderen 68 Für einen der wenigen Fälle, in denen die clausula rebus sic stantibus praktisch relevant wurde, siehe EuGH, Racke ./ . Hauptzollamt Mainz, Entscheidung vom 16.06.1998, Rs. C 162/ 92, dazu G.-Aschenbrenner, ELRep 1998, 404f. Entsprechende Überlegungen gab es schon im Vorfeld der WVK, siehe dazu K. Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-18, Rn. 94. 69 Hierzu die grundlegenden Ausführungen von E.-Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, 1911. Vgl. ferner W. Rohls, Die Voraussetzungen der clausula rebus sic stantibus im Völkerrecht, 1989; A.- Vamvoukos, Termination of Treaties in International Law. The Doctrines of rebus sic stantibus and Desuetude, 1985. 70 Siehe dazu C.-Simmler, „Change of Policy“, AVR 37 (1999), 226ff. 71 IGH, Gabčíkovo-Nagymaros Project (Hungaria v. Slovakia), Urteil vom 25.09.1997, ICJ Reports 1997, 7., dazu siehe unten Kap. 15.2.15. 72 IGH, Gabčíkovo-Nagymaros Project (Hungaria v. Slovakia), Urteil vom 25.09.1997, ICJ Reports 1997, 7. <?page no="199"?> 163 3.3 Völkerrechtliches Recht der Verträge Vertragsstaaten, sofern mehr als zwei Staaten an dem Vertrag beteiligt sind, begründen (Art. 54 WVK). Enthält ein Vertrag keine Bestimmungen über Beendigung, Kündigung oder Rücktritt, so sind Kündigung und Rücktritt grundsätzlich ausgeschlossen. Ausnahmen gelten nur, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien die Möglichkeit einer Kündigung oder eines Rücktritts zuzulassen beabsichtigen oder ein Kündigungs- oder Rücktrittsrecht sich aus der Natur des Vertrages herleiten lässt (Art. 56 WVK). Das von Art. 54 WVK geforderte Einvernehmen zwischen allen Vertragsparteien wird in der Regel ebenfalls auf vertraglichem Wege hergestellt (Auflösungsvertrag, actus contrarius). Die gleiche Wirkung hat der Abschluss eines neuen Vertrages zwischen denselben Parteien die den ursprünglichen Vertrag geschlossen haben, über denselben Vertragsgegenstand. In diesem Fall wirkt der neue Vertrag als actus contrarius, auch wenn der alte Vertrag nicht ausdrücklich erwähnt wird. Stets sollte daran gedacht werden, dass ein Vertrag, der gegen bestehendes (Art. 53 WVK) oder neu entstandenes (Art. 64 WVK) ius cogens verstößt, nichtig ist (dazu Kap. 3.6). Allerdings steht es den Parteien nicht frei, diese Rechtsfolge abzubedingen, da sie automatisch eintritt. 3.3.9 Vertragskollision Zu einer Vertragskollision kommt es, wenn sich die in verschiedenen Verträgen festgehaltenen Pflichten widersprechen. Hierbei sind grundsätzlich zwei Konstellationen zu unterscheiden: Eine Kollision von Pflichten, die gegenüber einem identischen Vertragspartner besteht sowie Pflichtenkollisionen, die gegenüber verschiedenen Vertragspartnern bestehen. Unproblematisch ist der erstgenannte Fall. Nach Art. 30 Abs. 2 WVK hat der frühere Vertrag nur noch insoweit Geltung, als er mit dem späteren Vertrag vereinbar ist. Den Parteien steht es natürlich frei, das Verhältnis von zwei Verträgen abweichend von Art. 30 WVK zu bestimmen. Anders stellt sich die Lage bei kollidierenden Pflichten, die gegenüber mehreren Vertragsparteien bestehen, dar. Aufgrund der unterschiedlichen Parteien ist eine Aufhebung der früheren Regel nicht möglich. Scheitert eine Auslegung, so haftet jener Staat, der kollidierende Pflichten nicht einhalten kann, nach den Regeln der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit. Für den Fall, dass nicht alle Staaten eines früheren Vertrags Parteien des späteren Vertrags werden, bestimmt Art. 30 Abs. 4 lit. b WVK, dass der gemeinsame, also erste Vertrag, die zwischenstaatlichen Beziehungen regelt. Eine besondere (Vorrang-)Stellung nimmt demgegenüber die UN-Charta nach deren Art. 103 ein (dazu Kapitel 3.6). 3.3.10 Sonderfall: Vertragsrecht internationaler Organisationen Für die Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen sowie für Verträge, die internationale Organisationen untereinander schließen, wurde, wie eingangs erwähnt, eine eigene Konvention entworfen, die am 21.-März 1986 von 27 Staaten und zehn internationalen Organisationen unterzeichnet worden ist. 73 Sie regelt dieselbe Materie wie die Vertragsrechtskonvention 73 UN. Doc. A/ CNF 129/ 15; dt. Text in BGBl. 1990 II, S.-1415; engl. Text in ILM 25 (1986), 543ff. <?page no="200"?> 164 3. Völkerrechtsquellen von 1969 für diejenigen Verträge, an denen internationale Organisationen beteiligt sind und berücksichtigt deren besondere Probleme, die sich aus ihrer partiellen Völkerrechtssubjektivität und ihrer Organisationsstruktur ergeben, welche völlig anders ist als die souveräner Staaten. Die Konvention von 1986 ist nach der Hinterlegung von bislang 32 staatlichen Ratifikationen (inkl. Palästina) und 12 Bestätigungen von internationalen Organisationen (Stand: Dezember 2019) noch nicht in Kraft getreten, weil 35 staatliche Ratifikationen benötigt werden. 3.4 Gewohnheitsrecht Einführende Literatur: Treves, Tullio, Customary International Law (Novermber 2006), MPEPIL (Online-Ed.). Wie das innerstaatliche Gewohnheitsrecht ist auch das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht ein ungeschriebenes, weder durch einen Gesetzgeber noch durch ausdrückliche Vereinbarung zwischen den Völkerrechtssubjekten gesetztes Recht. Als solches hat es die Entwicklung des Völkerrechts entsprechend den Bedingungen eines internationalen Systems ohne zentrale Rechtssetzungsinstanz über eine sehr lange Zeit maßgeblich bestimmt. Erst nach 1945 ist ein deutlicher Trend zur Kodifikation des Völkerrechts zu beobachten (siehe dazu näher unten Kap. 3.8), wobei auch insbesondere bereits bestehendes Völkergewohnheitsrecht schriftlich fixiert wurde. Zudem wird die Bildung neuen Völkergewohnheitsrechts durch die multipolare Weltordnung, in der sich verschiedene Rechtsordnungen mit verschiedenen Traditionen gegenüberstehen, erschwert. Trotz dieser Schwierigkeiten kommt dem Völkergewohnheitsrecht eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. So ist beispielsweise die Bindung an einseitige Rechtsakte, wie etwa die Anerkennung, völkergewohnheitsrechtlich geltendes Recht. Zudem wird auch diskutiert, ob eine gewohnheitsrechtliche Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft für die Zivilbevölkerung in Krisengebieten besteht (dazu unten Kap. 5.1.6) oder schwerste Menschenrechts- und andere Völkerrechtsverletzungen eine Intervention in den Krisenstaat auch ohne Mandat des Sicherheitsrats ermöglichen und damit eine gewohnheitsrechtliche Ausnahme vom Gewaltverbot darstellen (Kap. 5.1.5). 3.4.1 Entstehungsvoraussetzungen 3.4.1.1 Objektives Element: Praxis Damit eine Regel als Völkergewohnheitsrecht gilt, müssen ein objektives sowie ein darauf bezogenes subjektives Element vorliegen. Die „Gewohnheit“ ist das objektive Element, also ein sich wiederholendes oder andauerndes Verhalten, durch das Gewohnheit erst entstehen kann. Selbstverständlich muss es sich um eine Gewohnheit von Völkerrechtssubjekten handeln, d.-h. in erster Linie eine solche der Staaten. Hierfür verwendet das Völkerrecht den Ausdruck „Staatenpraxis“. Der Begriff Staatenpraxis umfasst alle Akte, die auf der Ebene des zwischenstaatlichen Verkehrs von den dafür zuständigen Organen eines Völkerrechtssubjekts gesetzt worden sind. Der Ausdruck entstand in einer Zeit, als außer dem Heiligen Stuhl nur Staaten Völkerrechtssubjekte waren. Er gilt aber heute unverändert fort. Darunter fallen insbesondere rechtsverbindliche Handlungen nationaler Organe, die den genannten internationalen Bezug aufweisen, etwa Gesetze oder Ge- <?page no="201"?> 165 3.4 Gewohnheitsrecht richtsurteile. Doch auch Erklärungen hochrangiger Staatsrepräsentanten oder gar das Unterlassen von Handlungen können im Einzelfall zur Ermittlung einer Staatenpraxis herangezogen werden. Als Akteure, die eine Staatenpraxis erzeugen können, kommen entgegen einer früher vertretenen Ansicht also nicht bloß solche Organe in Betracht, die innerstaatlich zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge ermächtigt sind. Vielmehr können alle drei Gewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) an der Bildung einer Staatenpraxis mitwirken. Zudem wird man heute die Praxis anderer Völkerrechtsubjekte, wie die von internationalen Regierungsorganisationen auch für die Entstehung von Gewohnheitsrecht als relevant ansehen können. 74 Wichtig ist, dass die Staatenpraxis, wenn sie zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht beitragen soll, unmittelbar die Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen betreffen muss. Innerstaatliche gesetzliche Regelungen tragen selbst dann nicht zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht bei, wenn sie sich auf internationale Zusammenhänge beziehen. So erlegten z.-B. amerikanische Gesetze aus den Jahren 1935/ 37 den US-Bürgern weitergehende Pflichten im Rahmen der amerikanischen Neutralität auf als es das Völkerrecht erforderte. Einen Beitrag zur Änderung des geltenden Neutralitätsrechts konnte diese innerstaatliche Gesetzgebung mangels eines über die Vereinigten Staaten hinausgehenden Bezugs jedoch nicht leisten. Dagegen zog der IGH nationale Gesetze zur Staatenimmunität heran, um über deren gewohnheitsrechtliche Reichweite zu entscheiden. 75 Insbesondere die Rechtsprechung nationaler Gerichte wird, wie zuletzt im Fall Deutschland vs. Italien, 76 vom IGH häufig für den Nachweis einer Praxis herangezogen. 77 Also können nationale Gerichtsentscheidungen zwar ein wertvolles Hilfsmittel für den Nachweis gewohnheitsrechtlicher Regeln sein, sind aber niemals selbst eine Völkerrechtsquelle. 78 Enthalten innerstaatliche positive Rechtsnormen allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne des Art. 38 Abs. 1 lit. c des IGH-Statuts (vgl. unten Kap.-3.5), so gelten diese Rechtsgrundsätze als solche auf völkerrechtlicher Ebene. Von einer gewohnheitsrechtsbildenden Kraft der innerstaatlichen Gesetzgebung kann daher auch in diesem Fall nicht gesprochen werden. Ebenso unerheblich ist es, wenn zwei Staaten gleichlautende innerstaatliche Rechtssätze zur Regelung eines bestimmten Sachverhalts anwenden. Völkergewohnheitsrecht entsteht nur durch eine den oben aufgezeigten subjektiven und objektiven Voraussetzungen entsprechende zwischenstaatliche Übung, also Staatenpraxis. Allerdings können zwei oder mehrere Völkerrechtssubjekte ausdrücklich die Anwendung identischer innerstaatlicher Rechtsnormen im zwischenstaatlichen Verkehr - z.-B. zur Beilegung von Streitigkeiten - vereinbaren. In diesem Fall entsteht die völkerrechtliche Norm jedoch nicht durch das bloße Vorhandensein identischer innerstaatlicher Normen, sondern allein durch den völkerrechtlichen Vertrag. Entwickelt sich zwischen zwei oder mehreren Staaten ein Gewohnheitsrechtssatz mit dem Inhalt, 74 A. von Arnauld, Völkerrecht, 4. A., 2019, Rn. 252. 75 IGH, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy), Urteil vom 03.02.2012, ICJ Reports 2012, 99, § 70f. 76 IGH, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy), Urteil vom 03.02.2012, ICJ Reports 2012, 99, §§-55, 72ff. 77 Siehe hierzu ausführlich B. Kempen/ C. Hillgruber, Völkerrecht, 2. A., 2012, §-14, Rn. 97ff. 78 Insbesondere in der anglo-amerikanischen Literatur werden die nationalen Gerichtsentscheidungen als Nachweis für die Staatenpraxis zurate gezogen, siehe M. Shaw, International Law, 8. A., 2017, 103ff.; vgl. auch J. Crawford, Principles of Public International Law, 9. A., 2019, 22f. <?page no="202"?> 166 3. Völkerrechtsquellen dass identische innerstaatliche Rechtsnormen auf die Beziehungen zwischen den betreffenden Staaten anzuwenden sind, so beruht die Anwendung des gleichlautenden innerstaatlichen Rechts auf eben jenem Völkergewohnheitsrechtssatz. Auch in diesem Fall liegt daher keine gewohnheitsrechtsbildende Wirkung identischer innerstaatlicher Rechtsnormen vor. Welche Kriterien sind nun aber für die Feststellung einer Praxis anzuwenden? Bei der Frage nach der Reichweite einer bestimmten Praxis kann es nicht auf alle Staaten ankommen, denn nicht alle sind in gleicher Weise am Völkerrechtsleben beteiligt. Ein Staat ohne Küste kann sich z.-B. nicht an der Praxis zum Festlandsockel beteiligen. Deswegen werden andere, selten unumstrittene Kriterien herangezogen. Maßgeblich kann die Bedeutung der Staaten sein, welche sich aus Faktoren wie politischem Einfluss, geographischer Lage oder auch der Einwohnerzahl ergeben kann. In Gebieten, in denen nur ein kleiner Teil an Staaten aktiv ist, ist nur das Handeln dieser Staaten für die Herausbildung einer Staatenpraxis relevant. So können die relativ wenigen Staaten, welche über die Mittel zur Raumfahrt verfügen, auf dem Gebiet des Weltraumrechts schon eine Praxis begründen. 79 Ein weiteres Problem stellt sich bezüglich der Mindestdauer für die Staatenpraxis. Insbesondere ist umstritten, ob ein sog. instant customary law möglich ist (siehe auch unter 3.4.2.) Zwar stellte der IGH einmal fest, dass die besonders kurze Dauer der Entstehung von Staatenpraxis nicht schädlich sein muss. 80 Eine spontane Bildung von Völkergewohnheitsrecht würde im Ergebnis aber zu einer Abschaffung des Merkmals der Praxis führen. Spontane und einmalige Handlungen dürften nämlich nicht die notwendige Konsistenz aufweisen, welche für die Feststellung von verbindlichem Völkerrecht unabdingbar ist. Aus der Definition des Völkerrechts als Recht des zwischenstaatlichen Verkehrs ergibt sich letztlich, dass die Staatenpraxis, die zur Bildung von Gewohnheitsrecht führt, nicht einseitig sein darf. Voraussetzung ist also eine gegenseitige, inhaltlich übereinstimmende Praxis. Wiederholt ein einzelner Staat einseitige Rechtsakte, so entsteht hieraus ohne Rücksicht auf die Dauer einer solchen Praxis oder die Rechtsüberzeugung, von der sie getragen wird, kein Völkergewohnheitsrecht, ja nicht einmal eine Selbstbindung des betreffenden Staates für die Zukunft. 3.4.1.2 Rechtsüberzeugung Wie bereits angedeutet genügt die bloße Wiederholung von Akten der Staatenpraxis nicht, um Völkergewohnheitsrecht entstehen zu lassen. Die Gewohnheit muss vielmehr von einer Rechtsüberzeugung getragen sein. So fordert die Völkerrechtslehre die Erfüllung zweier Voraussetzungen für den Nachweis des Vorhandenseins einer gewohnheitsrechtlichen Völkerrechtsnorm. Zum einen als objektive Voraussetzung die gerade beschriebene, wiederholte oder regelmäßige, ein- 79 So gibt es nach den offiziellen Informationen der UN derzeit nur 60 Staaten, die Weltraumgegenstände registriert haben: www.unoosa.org/ oosa/ en/ spaceobjectregister/ submissions/ states-organisations.html (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 80 IGH, North Sea Continental Shelf Cases (Germany v. Denmark; Germany v. Netherlands), Urteil vom 20.02.1969, ICJ Reports, 1969, 3, §-74. <?page no="203"?> 167 3.4 Gewohnheitsrecht heitliche Übung jedenfalls solcher Staaten, deren Interessen besonders von der Regelung berührt sind, auch consuetudo genannt. Zum anderen ist als subjektive Voraussetzung die Überzeugung erforderlich, rechtlich zu diesem Verhalten verpflichtet zu sein (sog. opinio iuris sive necessitatis). Für das Feststellen einer opinio iuris werden insbesondere die Äußerungen von Staatenvertretern oder der UN-Generalversammlung herangezogen. 81 Je nach der räumlichen Ausdehnung dieser Übung entsteht bei gleichzeitigem Vorliegen der zweiten Voraussetzung entweder universelles oder partikuläres Völkergewohnheitsrecht. Damit von einer universalen Rechtsüberzeugung gesprochen werden kann, müssen nicht alle Staaten bzw. Völkerrechtssubjekte diese Überzeugung teilen. 82 Eine bestimmte Zahl an erforderlichen Staaten gibt es nicht, nach vorherrschender Ansicht muss aber die überwiegende Mehrheit eine entsprechende opinio iuris aufweisen. Jedenfalls ist, wie der IGH präzisierend aufgeführt hat, die Rechtsüberzeugung solcher Staaten, die von einer entsprechenden Rechtsentwicklung besonders betroffen wären, in erhöhtem Maße relevant. 83 Resolutionen der UN-Generalversammlung können, sofern man überhaupt von einer einheitlichen Übung ausgehen kann, in aller Regel nur mit größter Vorsicht herangezogen werden, um eine opinio iuris festzustellen. Denn diesen Resolutionen soll ja nach der Konzeption der Charta gerade keine rechtliche Verbindlichkeit zukommen. Entstehung von Völkergewohnheitsrecht ▶ Staatenpraxis (objektives Element) ▶ Rechtsüberzeugung (opinio iuris-- subjektives Element) Das Erfordernis dieser Voraussetzungen hat der Internationale Gerichtshof mehrfach, so im Nordsee-Kontinentalsockel-Fall von 1969, 84 dem Kontinentalsockel-Fall zwischen Libyen und Malta von 1985, 85 dem Nicaragua-Fall von 1986, 86 in seinem Gutachten zur völkerrechtlichen Zulässigkeit des Einsatzes von Atomwaffen von 1996 87 und zuletzt 2012 im Fall Deutschland vs. Italien 88 , betont. 81 IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Gutachten vom 08.07.1996, ICJ Reports 1996, 226, §§ 71ff.; IGH, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy), Urteil vom 03.02.2012, ICJ Reports 2012, 99, §-77. 82 So auch der IGH, Asylum Case (Colombia v. Peru), Urteil vom 20.11.1950, ICJ Reports 1950, 266, IGH, North Sea Continental Shelf Cases (Germany v. Denmark; Germany v. Netherlands), Urteil vom 20.02.1969, ICJ Reports, 1969, 3. 83 IGH, North Sea Continental Shelf Cases (Germany v. Denmark; Germany v. Netherlands), Urteil vom 20.02.1969, ICJ Reports, 1969, 3. 84 IGH, North Sea Continental Shelf Cases (Germany v. Denmark; Germany v. Netherlands), Urteil vom 20.02.1969, ICJ Reports, 1969, 3, §§ 71ff., dazu unten Kap.-15.2.8. 85 IGH, Continental Shelf (Lybia v. Malta), Urteil vom 03.06.1985, ICJ Reports 1985, 13, §-27. 86 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §-183; siehe auch unten Kap.-15.2.12. 87 IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Gutachten vom 08.07.1996, ICJ Reports 1996, 226, §-64; siehe auch unten Kap.-15.2.14. 88 IGH, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy), Urteil vom 03.02.2012, ICJ Reports 2012, 99, §-55. <?page no="204"?> 168 3. Völkerrechtsquellen Liegt nur die objektive Voraussetzung vor, so entsteht durch die wiederholte oder regelmäßige, einheitliche Übung kein Völkergewohnheitsrecht, sondern nur Völkercourtoisie (Völkersitte). Das sind Regeln, die nicht als Rechtsverpflichtung anerkannt werden, sondern auf Sitte, Höflichkeit, Anstand oder Ritterlichkeit beruhen. Liegt nur die subjektive Voraussetzung vor, handelt also ein Völkerrechtssubjekt in der irrigen Annahme, gewohnheitsrechtlich zu solchem Verhalten verpflichtet zu sein, so ist der konkrete Rechtsakt zwar wirksam, aber er trägt nicht zur Bildung von Gewohnheitsrecht bei. 3.4.1.3 Sog. Persistent Objector-Regel Ein Teil der Völkerrechtsliteratur fügt den beiden genannten Bedingungen noch eine dritte hinzu, nämlich die widerspruchslose Hinnahme der Gewohnheit seitens der anderen Völkerrechtssubjekte. Dieses Erfordernis wird in der älteren Literatur, die sich auf zwei Voraussetzungen beschränkt, dadurch angedeutet, dass eine einheitliche Übung gefordert wird. Danach genügt für die Annahme von Staatenpraxis nicht einmal eine stillschweigende Duldung, sondern es bedarf einer ausdrücklichen Zustimmung. In der Gegenwart, die durch einen raschen Wandel aller Phänomene gekennzeichnet ist, wird nicht nur die Zeitdauer kürzer bemessen, die für notwendig erachtet wird, damit von einer wiederholten oder regelmäßigen Übung gesprochen werden kann, 89 sondern es kann auch nicht mehr verlangt werden, dass sich alle in Betracht kommenden Völkerrechtssubjekte tatsächlich an der Übung beteiligen. Deshalb will die heute herrschende Völkerrechtslehre ausdrücklich eine bloße Duldung seitens der nicht an der Übung beteiligten Staaten genügen lassen. Insofern erscheint es jedenfalls am sichersten, wenn ein Staat, der eine Regel nicht als gewohnheitsrechtlich geltend gegen sich wirken lassen will, ihr andauernd widerspricht. 90 Inwiefern neben Staaten noch andere Völkerrechtssubjekte an einer möglicherweise relevanten Praxis mitwirken, ist derzeit noch nicht abschließend geklärt. Man spricht insofern auch von der (Staaten-)Praxis internationaler Organisationen. Immerhin spricht vieles dafür, dass im Zeitalter der Globalisierung auch andere Akteure als Staaten und Regierungsorganisationen an der Bildung der (Staaten-)Praxis teilhaben können. 91 3.4.2 Entwicklungen Die klassischen Voraussetzungen für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht sind nach wie vor fundamentaler Kritik ausgesetzt. Deren berechtigter Kern liegt insbesondere in den methodischen Schwierigkeiten einer Begründung des Vorliegens von Völkergewohnheitsrecht, vor allem 89 Als maßgeblich für den Aspekt der Zeitdauer vgl. IGH, North Sea Continental Shelf Cases (Germany v. Denmark; Germany v. Netherlands), Urteil vom 20.02.1969, ICJ Reports, 1969, 3, §-73, der äußert, dass unter gewissen Bedingungen eine kurze Zeitperiode ausreichend ist. Vgl. auch R. Piotrowicz, The Time Factor in the Creation of Rules of Customary International Law, PolYIL 21 (1994), 69ff. 90 Zur sog. Persistent Objector Regel vgl. IGH, Asylum Case (Colombia v. Peru), Urteil vom 20.11.1950, ICJ Reports 1950, 266, 277f. 91 Dazu S. Hobe, Die Zukunft des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, AVR 37 (1999), 253ff.; siehe auch A. von Arnauld, 4. A., 2019, Rn. 252. <?page no="205"?> 169 3.4 Gewohnheitsrecht da große methodische Unsicherheit bezüglich der Sicherung entsprechender Rechtserkenntnis besteht. 92 Man meint, „diese stark auf der Analogie zur vergleichsweise idyllischen Atmosphäre des innerstaatlichen - und hier wieder insbesondere des bürgerlichen-- Rechts basierende Konzeption“ 93 genüge nicht mehr den Erfordernissen der Gegenwart. Das bedächtige Heranreifen einer Völkerrechtsnorm durch lang dauernde, von der Rechtsüberzeugung getragene Übung entspricht nicht den Vorstellungen einer schnelllebigen Welt. So hatte die Theorie der spontanen Rechtserzeugung, 94 nach der das Völkergewohnheitsrecht allein aus der Rechtsüberzeugung entsteht und die Übung nur deren Bestätigung darstellt, 95 zwischenzeitlich großen Anklang gefunden. Einige Stimmen wollten daher eine Umkehrung des Verhältnisses von Übung (Staatenpraxis) und Überzeugung (opinio juris) annehmen: Bei der Feststellung von Gewohnheitsrecht gehe der IGH von einer opinio iuris aus und untersuche erst anschließend die Staatenpraxis. 96 Indes zeigt das Vorgehen des Gerichtshofs im Fall Deutschland vs. Italien, dass der IGH nach wie vor an der „klassischen“ Reihenfolge festhält. 97 Andere haben auf einen inhärenten Widerspruch der traditionellen Lehre vom Gewohnheitsrecht hingewiesen: Wenn Völkergewohnheitsrecht nur durch die gleichzeitige Erfüllung der objektiven und der subjektiven Voraussetzung entsteht, so muss die Überzeugung, rechtlich zu diesem Handeln verpflichtet zu sein, bereits bei dem ersten Akt der diesbezüglichen Staatenpraxis vorliegen. Es kann sich dabei aber nur um einen Rechtsirrtum handeln, da ja in diesem Augenblick noch keine Rechtsnorm vorhanden ist, die zu diesem Verhalten verpflichtet. Weil ferner eine einheitliche Übung verlangt wird, kann eine Rechtsnorm überhaupt erst entstehen, nachdem zahlreiche Völkerrechtssubjekte wiederholt oder regelmäßig derartige Akte gesetzt haben. Alle diese Akte aber müssen zwangsläufig - da ja die Völkerrechtsnorm noch nicht entstanden ist - auf einem Rechtsirrtum beruhen. 98 Um diesem Einwand zu begegnen, ist darauf hingewiesen worden, „dass neue Rechtsbehauptungen selten im rechtsleeren Raum auftreten, sondern sich in der Regel auf irgendein allgemeines Rechtsprinzip oder eine andere Rechtsnorm berufen und aus ihnen konkrete Normen des Völkerrechts ableiten. […] Solche Rechtsbehauptungen könnten die Initialzündung zur allmählichen Herausbildung einer Norm des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts werden, indem sie sich in der Staatenpraxis durchsetzten.“ 99 Die subjektive Voraussetzung - also die Über- 92 Siehe M. Mendelson, The Subjective Element in Customary International Law, BYIL 66 (1995), 177ff. 93 B. Simma, Das Reziprozitätselement in der Entstehung des Völkergewohnheitsrechts, 26. 94 Zum Stichwort des „instant customary law“ vgl. insbes. B. Cheng, United Nations Resolutions on Outer Space: ‚Instant‘ International Customary Law? , IJIL 5 (1965), 23ff.; siehe auch M.-Mendelson, RdC 272 (1998), 370ff. Allgemein zu den Voraussetzungen des Völkergewohnheitsrechts: S. Talmon , Determining Customary International Law: The ICJ’s Methodology between Induction, Deduction and Assertion, 26 EJIL (2015), 417ff. 95 Vgl. R. Ago, Der Begriff des positiven Rechts in der Völkerrechtstheorie, AVR 6 (1956/ 57), 257ff.; ders., Science juridique et droit international, RdC 90 (1956/ II), 849ff. 96 In diese Richtung Kempen/ Hillgruber, Völkerrecht, 2. A., 2012, §-14, Rn. 95; A. von Arnauld, Völkerrecht, 4. A., 2019, Rn. 260. 97 Vgl. IGH, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy), Urteil vom 03.02.2012, ICJ Reports 2012, 99, §§ 55ff. 98 Vgl. J.L.-Kunz, The Nature of Customary Law, AJIL 47 (1953), 662ff. 99 A. Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, 106f. <?page no="206"?> 170 3. Völkerrechtsquellen zeugung, rechtlich zu diesem Verhalten verpflichtet zu sein - ist daher auch dann erfüllt, wenn die Überzeugung vorhanden ist, eine im Werden befindliche Norm zu beobachten. 100 Gerade in jüngerer Zeit sind zudem nicht nur aus rechtstheoretischer Sicht Zweifel an der Begründung der Existenz von Regeln des Völkergewohnheitsrechts durch die Praxis internationaler Gerichte und die Doktrin geäußert worden, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Auch wird oft darauf hingewiesen, dass das wachsende Bedürfnis der internationalen Gemeinschaft nach universellen Rechtsregeln für globale Probleme, etwa den Klimaschutz, bedeutende Veränderungen im Rechtserzeugungsprozess und namentlich für den Bereich des Gewohnheitsrechts mit sich gebracht habe. An die Stelle der traditionellen Kriterien einer möglichst weitreichenden Staatenpraxis und opinio iuris trete zunehmend eine weniger formalisierte Form der Gewohnheitsrechtsbildung. So würden etwa die Ergebnisse, die auf Konferenzen der Vereinten Nationen als Diskussionsforen universellen Zuschnitts im Wege der Debatte und anschließender Konsensbildung der Staaten erzielt worden sind, wesentlich zur Herausprägung von Gewohnheitsrecht in relativ kurzer Zeitspanne beitragen. Der Staatenpraxis und opinio iuris komme dabei weniger eine formende als vielmehr eine bestätigende Wirkung zu, die einen deutlichen Legitimitätszuwachs mit sich bringe. Dabei könne auch widersprechendes Verhalten einiger Staaten an der Bildung entsprechenden Völkergewohnheitsrechts nichts ändern. Damit werde aber, wie betont wird, keinesfalls eine Legislativfunktion bestimmter formal nicht zur Rechtssetzung berufener Organe internationaler Organisationen, etwa der UN-Generalversammlung, anerkannt (dazu unten Kap. 3.9), sondern nur auf die Bedeutung derartiger multilateraler Diskussionsforen für die schnelle und vom traditionellen Vorstellungsbild abweichende Bildung von Völkergewohnheitsrecht hingewiesen. Hinzuweisen bleibt jedenfalls darauf, dass angesichts der im Zeitalter der Globalisierung zunehmend schwierigeren Konsensfindung unter den Staaten eine Tendenz deutlich wird, zum einen weniger formale Voraussetzungen an die Bildung von Völkergewohnheitsrecht zu stellen. Aber auch die rechtliche Aufwertung von formal nicht verbindlichen Konsens ermöglichenden Akten in sogenannten Verhaltenskodizes, Entwürfen der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen sowie Resolutionen der UN-Generalversammlung und ähnlichem mehr, deuten stark darauf hin, dass es neben der Rechtsquelle des Völkervertragsrechts viele Vorformen solcher Versuche der Konsensfindung gibt. 101 Für das Völkergewohnheitsrecht bedeutet dies ohne Zweifel zusätzliche Erkenntnisschwierigkeiten. 3.4.3 Geltungsverlust und Änderung Es ist zu beachten, dass Gewohnheitsrecht dadurch, dass es lange nicht angewendet wird und sich kein Völkerrechtssubjekt mehr auf seinen Bestand beruft, seine Geltung verlieren kann. Man spricht dann von desuetudo. Möglich ist es aber auch, dass sich Völkergewohnheitsrecht im 100 A. Verdross, Entstehungsweisen und Geltungsgrund des universellen völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts, ZaöRV 29 (1969), 640. 101 Instruktiv W. Weiß, Die Rechtsquellen des Völkerrechts in der Globalisierung, AVR 53 (2015), 220ff. <?page no="207"?> 171 3.5 Die allgemeinen Rechtsgrundsätze Laufe der Zeit wandelt. Hierfür ist wiederum das Vorliegen einer Staatenpraxis und einer opinio iuris erforderlich. Ein Beispiel bildet die Staatenimmunität, die mit der zunehmenden privatwirtschaftlichen Betätigung von Staaten nunmehr auf genuin hoheitliche Akte beschränkt ist. Früher dagegen waren alle staatlichen Handlungen von der Staatenimmunität erfasst. 102 3.5 Die allgemeinen Rechtsgrundsätze Einführende Literatur: von Ungern-Sternberg, Antje, Völkerrechtsquellen im Wandel, Jura 33 (2011), 40f. Art. 38 Abs. 1 lit. c des IGH-Statuts 103 nennt als dritte Völkerrechtsquelle die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze. Im Vorstehenden ist erwähnt worden, dass diese Formel die Ausweitung des Kreises der Völkerrechtssubjekte erkennen lässt, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen hat. 104 Hatte sich in den ersten Jahrhunderten des klassischen Völkerrechts die Völkerrechtsgemeinschaft auf den Kulturkreis des christlichen Abendlandes beschränkt, so waren es nunmehr die „zivilisierten Staaten“, die als Mitglieder dieser Rechtsgemeinschaft anerkannt wurden. Dementsprechend musste auch die Definition der Völkerrechtsquellen formuliert werden. Heute ist an die Stelle dieses Kriteriums das Kriterium der „Friedensliebe“ getreten. Alle friedliebenden Staaten werden in die UNO aufgenommen (Art. 4 Ziff. 1 UN-Charta), und bisher ist noch niemals die Aufnahme eines Staates in die UNO an mangelnder Friedensliebe bzw. mangelnder Überzeugung von der Friedensliebe des betreffenden Staates gescheitert. Die Völkerrechtsgemeinschaft ist tatsächlich universal. Deshalb verwendet die Völkerrechtsliteratur heute nur den Ausdruck „allgemeine Rechtsgrundsätze“ und verzichtet auf den Zusatz „von den Kulturvölkern anerkannte …“, der sich nach wie vor in Art. 38 Abs. 1 lit. c des IGH-Statuts findet. Der Internationale Gerichtshof, der die Nachfolge des Ständigen Internationalen Gerichtshofs des Völkerbunds antrat, übernahm auch dessen Statut. Nur so ist die Aufrechterhaltung jener Formulierung, die in das Völkerrechtssystem der Gegenwart nicht mehr passt, zu erklären. Allgemeine Rechtsgrundsätze ▶ Allgemeine Wert- und Systementscheidungen ▶ in den Rechtssystemen der UN-Mitglieder ▶ die von grundlegender Bedeutung sind ▶ und sinnvollerweise auf die zwischenstaatlichen Beziehungen angewendet werden können. Bsp.: Die Grundsätze der Geschäftsführung ohne Auftrag; Schadensersatzpflicht aufgrund von Vertragsverletzungen; Grundsätze des Bereicherungsrechts; Beweislastregeln; estoppel. Aber auch nach dieser von der herrschenden Völkerrechtslehre vorgenommenen Korrektur ist die Bedeutung des Begriffs „allgemeine Rechtsgrundsätze“ nicht einfach zu fassen, und je mehr 102 Zum Beispiel auch T. Stein/ C. von Buttlar/ M. Kotzur, 14.- A., 2017, §- 11, Rn. 143; IGH, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy), Urteil vom 03.02.2012, ICJ Reports 2012, 99, §-59. 103 Abgedruckt in Sartorius II, Nr.-2. 104 Vgl. oben Kap.-1.3.5.2. <?page no="208"?> 172 3. Völkerrechtsquellen Staaten bei der Herauskristallisierung allgemeiner Rechtsgrundsätze berücksichtigt werden müssen, desto schwieriger wird diese Aufgabe. Einhellig sind die Völkerrechtstheoretiker nur zu dem Ergebnis gelangt, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze keine Detailregelungen beinhalten, sondern das Verhalten der Völkerrechtssubjekte nur in groben Umrissen andeuten. Die Juristenkommission des Völkerbunds, die das Statut des StIGH entwarf, war aber der Meinung, dass das Völkerrecht, wenn es auf Vertragsrecht und Gewohnheitsrecht beschränkt bliebe, den Richter häufig ohne die Möglichkeit lasse, eine Sachentscheidung zu treffen. Die Bedeutung von Art. 38 Abs. 1 lit. c des IGH-Statuts zeigt sich gerade darin, dass die Vorschrift den Gerichtshof ermächtigt, unter Berufung auf allgemeine Rechtsgrundsätze einem Anspruch stattzugeben, der bei der ausschließlichen Anwendung von Vertrags- und Gewohnheitsrecht hätte abgewiesen werden müssen. Mit der zunehmenden Verdichtung des internationalen Vertragsrechts, insbesondere der Kodifizierung des Völkerrechts durch Konventionen, nimmt die Bedeutung der allgemeinen Rechtsgrundsätze allerdings weiter ab. Gleichzeitig ermöglichen es die verfeinerten Methoden der Rechtsvergleichung, das Vorhandensein identischer Vorschriften in den verschiedenen Rechtsordnungen nachzuweisen. Aber nicht alle in sämtlichen großen Rechtssystemen nachzuweisenden innerstaatlichen Rechtssätze sind zugleich allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne des Art. 38 Abs.-1 lit. c des IGH-Statuts. In das Völkerrecht können nur solche Rechtssätze Aufnahme finden, die eine Lösung für ein Problem liefern, das im Völkerrecht analog besteht. Das Völkerrecht ist kein „großgeschriebenes Privatrecht“. 105 Seine Rechtssubjekte sind anders definiert als diejenigen des Privatrechts. Viele der von ihm geregelten Sachverhalte unterscheiden sich grundlegend von denjenigen Sachverhalten, die das Privatrecht regelt. So gibt es viele Institute des innerstaatlichen Rechts, die keine Parallele im Völkerrecht haben und umgekehrt. Ferner ist zu beachten, dass nicht Rechtssätze des innerstaatlichen Rechts als solche in das Völkerrecht übernommen werden, sondern nur die aus den Rechtssätzen des innerstaatlichen Rechts abgeleiteten allgemeinen Prinzipien. Es handelt sich also bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen um allgemeine Prinzipien, die im jeweiligen nationalen Recht der Staaten verschiedener Rechtskreise beheimatet sind und deren weltweite Kohärenz auch ohne eine spezifische Kodifikation auf die Existenz eines universell gültigen Rechtsprinzips schließen lässt. Dabei ist zuzugeben, dass sich die Existenz dieser Prinzipien ähnlich schwierig nachweisen lässt, wie manche Regeln des Völkergewohnheitsrechts. Deshalb herrscht auch in der Völkerrechtslehre hinsichtlich der Aufzählung allgemeiner Rechtsprinzipien große Unsicherheit. Immerhin lassen sich einige allgemein konsentierte Rechtsprinzipien nennen. So hat der Ständige Internationale Gerichtshof im „Chorzów Factory-Fall“ 106 es als ein allgemeines, in allen Rechtskulturen beheimatetes Prinzip angesehen, dass derjenige, der für einen Schaden verantwortlich ist, diesen wiedergutzumachen habe. Darüber hinaus werden etwa der Grundsatz, dass Verpflichtungen nach Treu und Glauben zu erfüllen sind, 107 das Verbot des Rechtsmiss- 105 T.E.-Holland, Studies in International Law, 1898, 152. 106 PCIJ Series A 17 (1929), 29; siehe dazu unten Kap.-15.1.1. 107 G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 1 f..-A., 2002, 64. <?page no="209"?> 173 3.6 Ius cogens und Hierarchie der Rechtsquellen brauchs 108 und Rechtsinstitute wie Verjährung, Verwirkung 109 oder Rechtsverlust durch Zeitablauf 110 als solche allgemeinen Rechtsprinzipien angesehen. Es ist kein Zufall, dass diese Grundsätze dem Zivilrecht entnommen werden, da das öffentliche Recht, welches meist subordinationsrechtlich geprägt ist, im von der Gleichheit der Staaten geprägten Völkerrecht wenig Platz hat. 3.6 Ius cogens und Hierarchie der Rechtsquellen Einführende Literatur: Frowein, Jochen A., Ius Cogens (März 2013), MPEPIL (Online-Ed.). Nach der Darstellung der Quellen des Völkerrechts ist nun auf die Problematik ihrer möglichen Hierarchie einzugehen. Für deren Verständnis wesentlich ist zunächst die Unterscheidung zwischen ius dispositivum und ius cogens. Eine zum ius dispositivum (abdingbares Völkerrecht) gehörende Völkerrechtsnorm steht zur Disposition der Parteien eines völkerrechtlichen Vertrages bzw. der Völkerrechtssubjekte, die durch ihre Staatenpraxis Völkergewohnheitsrecht hervorbringen. Früher wurde die Auffassung vertreten, dass ein völkerrechtlicher Vertrag jeden beliebigen Inhalt haben könne, das Völkerrecht also kein zwingendes Recht kenne. 111 Im Zuge der Diskussionen, die dem Abschluss der Wiener Konvention über das Recht der Verträge (WVK, Vertragsrechtskonvention) vom 23. Mai 1969 112 vorangingen, setzte sich aber der Gedanke des ius cogens durch. 113 Nach Art. 53 WVK ist ein Vertrag, der zum Zeitpunkt seines Abschlusses gegen eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts verstößt, von Anfang an nichtig. Dieselbe Rechtsfolge sieht Art. 64 WVK für den Fall vor, dass eine bestehende vertragliche Regel mit einer neuen zwingenden Norm kollidiert. Nichtigkeit ist bislang die einzige von Artikel 53 und 64 vorgesehene Sanktion für den Bruch einer ius cogens-Regel, auch wenn inzwischen andere Konsequenzen, wie z.-B. der Verlust staatlicher Immunität diskutiert werden. 114 Eine solche zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts liegt nach Art. 53 WVK dann vor, wenn eine Völkerrechtsregel von der Gesamtheit der internationalen Staatengemeinschaft als eine Norm akzeptiert und anerkannt wird, von der keine Abweichung zulässig ist. Welche Völkerrechtsnormen ius cogens-Charakter besitzen, wird in der Vertrags- 108 A. Verdross/ B. Simma, Universelles Völkerrecht, Nachdruck der 3.-A. 1984, 2010, §-461. 109 K.-Doehring, Zum Rechtsinstitut der Verwirkung im Völkerrecht, in: FS Seidl-Hohenveldern, 1988, 51ff.; zur Statusverwirkung: ders., Statusverwirkung um Völkerrecht, ZaöRV 67 (2007), 375ff. 110 G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 1 f..-A., 2002, 70-m.w.N. in Fn. 70. 111 Vgl. P. Guggenheim, Traité de droit international public, Bd 1 f..-A., 1967, 127ff. 112 Abgedruckt in Sartorius II, Nr.-320. 113 Vgl. S. Verosta, Die Vertragsrechtskonferenz der Vereinten Nationen 1968/ 69 und die Wiener Konvention über das Recht der Verträge, ZaöRV 29 (1969), 654ff. 114 Vgl. zum Verhältnis von staatlicher Immunität und ius cogens: I.-Bantekas, AJIL 92 (1998), 765ff. und M. Gavounelli/ I.-Bantekas, AJIL 95 (2001), 198ff., jeweils mit Anmerkungen zu dem Fall Prefecture of Voiotia v. Federal Republic of Germany, in dem es um die Frage des Verlustes der Immunität der Bundesrepublik Deutschland vor griechischen Gerichten wegen Verstoßes gegen zwingendes humanitäres Völkerrecht durch deutsche Besatzungstruppen während des Zweiten Weltkrieges ging; dazu siehe auch S. Hobe, Durchbrechung der Staatenimmunität bei schweren Menschenrechtsverletzungen - NS-Delikte vor dem Aeropag, IPRax 21 (2001), 368ff. <?page no="210"?> 174 3. Völkerrechtsquellen rechtskonvention nicht angegeben. Sie können als Normen definiert werden, die im Interesse der ganzen Staatengemeinschaft bestehen und tief im allgemeinen Rechtsbewusstsein der Staaten verankert sind. 115 Normen, die dem ius cogens zugehören, gelten für alle Völkerrechtssubjekte. Mit Recht werden sie zu den unentbehrlichen Verfassungsgrundsätzen der Völkerrechtsgemeinschaft gezählt. 116 Ius cogens ist also stets universelles Völkerrecht, aber nur ein kleiner Teil des universellen Völkerrechts ist ius cogens. Welche Rechtsnormen zum ius cogens gehören, richtet sich nach der Struktur und Zielsetzung des Völkerrechtssystems der jeweiligen Epoche. Ungeachtet des im Folgenden dargestellten geringen Normenbestandes hat sich ius cogens in der Völkerrechtswissenschaft und -praxis fest etabliert. 117 Im Fall Deutschland vs. Italien machte Italien beispielsweise geltend, die Staatenimmunität könne bei Verstößen gegen ius cogens nicht gelten. 118 Inwieweit die Vereinten Nationen an ius cogens gebunden sind, ist bereits zwischen Europäischem Gericht (EuG) und Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Gegenstand einer intensiven Auseinandersetzung gewesen. 119 Während der Kreis der im Einzelnen zum ius cogens gehörenden Normen unterschiedlich weit gezogen wird, scheint sich doch für das gegenwärtige Völkerrecht ein Konsens dahingehend abzuzeichnen, dass hierzu jedenfalls das Gewalt- und Interventionsverbot 120 sowie das Apartheids- und Sklavereiverbot 121 und die Achtung der grundlegenden Menschenrechte, 122 wie sie in der Pönalisierung konkreter internationaler Verbrechenstatbestände (Völkermord, Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dazu Kap. 14) konkretisiert sind, zählen. Nicht dazu gehören soll dagegen ein Recht auf die Überprüfung belastender Entscheidungen durch ein (unabhängiges) Gericht. 123 Mit der Anerkennung der soeben skizzierten Regeln zwingenden Völkerrechts besteht für die internationale Gemeinschaft also ein Kreis von Regeln objektiv geltenden Rechts, der nicht mehr zur Disposition der Völkerrechtssubjekte steht. Ein Vertrag, der einen Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht zum Inhalt hat, wäre trotz des anderslautenden Willens der Vertragspartner nichtig (so Art. 53 WVK), und entsprechendes entgegenstehendes Völkergewohnheitsrecht könnte erst gar nicht entstehen. 115 A. Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, 27; ausführlicher A.-Verdross, Jus dispositivum and jus cogens in: International Law, AJIL 60 (1966), 55ff. 116 A. Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts, 1973, 21. 117 U. Linderfalk, Normative Conflict and the Fuzziness of the International ius cogens Regime, ZaöRV 69 (2009), 961ff. Dort finden sich auch einige Beispiele zu aktuellen Diskussionen um ius cogens. 118 IGH, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy), Urteil vom 03.02.2012, ICJ Reports 2012, 99, §§ 92ff.; siehe Kap. 15.2.24. 119 Siehe EuG, Urteil vom 21.9.2005, Rs. T-315/ 01, Rn. 226ff.; EuGH, Urteil vom 3.9.2008, verb. Rs. C-402 und 415/ 05, Rn. 87ff. Dazu M. Payandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, ZaöRV (66) 2006, 41ff. (46ff.). 120 Siehe unten Kap. 5. 121 Siehe A. von Arnauld, Völkerrecht, 4. A., 2019, Rn. 257. 122 Siehe unten Kap. 10. 123 EuG, Urteil vom 21.9.2005, Rs. T-315/ 01, Rn. 341. <?page no="211"?> 175 3.6 Ius cogens und Hierarchie der Rechtsquellen Regeln des zwingenden Völkerrechts (ius cogens) ▶ Gewaltverbot ▶ Interventionsverbot ▶ Verbot der Apartheid ▶ Sklavereiverbot ▶ Achtung der grundlegender Menschenrechte ▶ Völkermordverbot Für die Durchsetzung dieser zwingenden Völkerrechtsregeln ist nun grundlegend, dass allgemein von ihrer erga omnes-Wirkung 124 auszugehen ist, d.-h. sie statuieren Pflichten, die gegenüber allen Völkerrechtssubjekten gelten und deren Nichterfüllung von jedem anderen Völkerrechtssubjekt gerügt werden kann. In seinem Urteil vom 5.- Februar 1970 (Barcelona Traction-Fall) 125 hat der IGH erga omnes-Normen als Rechtsnormen definiert, durch welche „derart bedeutsame Rechte begründet werden, dass alle Staaten ein rechtliches Interesse an ihrem Schutz haben“. Ausdrücklich nennt der IGH das Aggressionsverbot, das Verbot des Völkermordes und die Prinzipien und Regeln betreffend die grundlegenden Menschenrechte einschließlich des Schutzes vor Sklaverei und Rassendiskriminierung. 126 Es bleibt - wenngleich der Internationale Gerichtshof dies so nicht ausdrücklich formuliert - festzuhalten, dass die Pflichten, die sich aus einer ius cogens-Norm ergeben, immer erga omnes-Pflichten sind. Erga onmes-Pflichten Pflichten, die gegenüber allen Völkerrechtssubjekten gelten und deren Nichterfüllung von jedem anderen Völkerrechtssubjekt gerügt werden können. Konkret bedeutet dies, dass alle Staaten, auch wenn sie nicht unmittelbar in eigenen Rechten verletzt sind, den Bruch erga omnes geltender Völkerrechtsnormen sanktionieren können, da eine mögliche Verletzung solcher Rechtssätze die Staatengemeinschaft als Ganzes und somit auch jeden einzelnen Staat betrifft. Die besondere Bedeutung der ius cogens-Normen hat bereits die Frage nach der Hierarchie der Rechtsquellen berührt. Die komplexe Frage einer Hierarchie der Völkerrechtsquellen kann hier allerdings nur angedeutet werden. Das IGH-Statut gibt insofern einen ersten Anhaltspunkt, als es in Art. 38 Abs. 1 lit. d Gerichtsentscheidungen und Doktrin die Funktion einer Hilfsrechtsquelle zuerkennt. Wir werden später sehen, dass die Kategorisierung als Hilfsrechtsquellen zwar dogmatisch konsequent ist, sich gerade bei bedeutenden Urteilen des Internationalen Gerichtshofs aber 124 Dazu C.-Annacker, The Legal Régime of Erga Omnes Obligations in International Law, AJPIL 46 (1994), 131ff.; J.-Delbrück, „Laws in the Public Interest“ - Some Observations on the Foundations and Identification of erga omnes Norms in International Law, in: FS Jaenicke, 1998, 15ff.; M.-Ragazzi, The Concept of International Obligation Erga Omnes, 1997. 125 Dazu unten Kap. 15.2.9. 126 IGH, Barcelona Traction, Light and Power Co. (Belgium v. Spain), Urteil vom 05.02.1970, ICJ Reports 1970, 3, §-34. <?page no="212"?> 176 3. Völkerrechtsquellen immer wieder die Frage stellen lässt, ob diese nicht durchaus mehr als nur ein Rechtserkenntnismittel darstellen. Grundsätzlich ist von der Gleichwertigkeit der drei Hauptrechtsquellen auszugehen. 127 Dies folgt etwa aus der Wiener Vertragsrechtskonvention, wo ausdrücklich keine Regel über ein mögliches Rangverhältnis der Quellen aufgestellt wurde. Freilich ergibt sich aus der Natur der Sache, dass Verträge ausschließlich die ihnen beigetretenen Parteien binden, und insofern die für die Vertragsparteien speziellste Rechtsquelle darstellen, während das Gewohnheitsrecht für alle Staaten, die sich seiner Entstehung und Wirksamkeit nicht beharrlich widersetzt haben (als sog. persistent objector, siehe oben 3.4.1.3.), Bindungskraft entfaltet. 128 Dabei ist bis heute nicht geklärt, ob ein persistent objector sich einfach durch Protest der Bindungswirkung einer ius cogens-Norm widersetzen kann. 129 Den deutlichsten Hinweis auf eine gewisse Hierarchie der Völkerrechtsquellen bietet indes der bereits erwähnte Art. 3 der Wiener Vertragsrechtskonvention durch seinen Verweis auf ius cogens, wonach solche Verträge, die gegen ius cogens verstoßen, von Beginn an nichtig sind. 130 Denn wenn die durch Vertrag und/ oder Gewohnheitsrecht gebildeten Normen des zwingenden Völkerrechts als objektives Völkerrecht und somit als international public order unabhängig vom Willen der Völkerrechtssubjekte gelten, so stehen sie an oberster Stelle der Völkerrechtsquellen. Verdeutlicht wird dies durch Art. 64 WVK, der auch für den Fall des neu entstandenen ius cogens eine Nichtigkeit aller mit der neuen Norm kollidierenden Vertragsbindungen anordnet. Gleichzeitig erlauben beide Vorschriften der WVK den Umkehrschluss, dass sonstige Hierarchisierungen zwischen den Rechtsquellen des Völkerrechts nicht anzunehmen sind. Zwischen Verträgen und Völkergewohnheitsrecht gilt ansonsten grundsätzlich das Prioritätsprinzip: 131 Ein Vertrag kann einerseits Völkergewohnheitsrecht konkretisieren und ist insofern als späteres und konkreteres Recht jedenfalls zwischen den Vertragsparteien vorrangig zu berücksichtigen. Aber auch eine von einem Vertrag abweichende spätere Praxis kann den Inhalt eines Vertrags modifizieren, wenn diese Praxis von der entsprechenden opinio iuris getragen wird. Es gilt also der Grundsatz lex posterior derogat legi priori (das jüngere Gesetz verdrängt das ältere). 132 Die in Kap. 3.5 dargestellten allgemeinen Rechtsprinzipien werden von der internationalen Rechtsprechung eher subsidiär dann herangezogen, wenn keine klare völkervertrags- oder gewohnheitsrechtliche Regel nachzuweisen ist. Dies bedeutet jedoch keine Durchbrechung des Grundsatzes der besonderen Schutzwürdigkeit der Verträge. Bei der Anwendung des Satzes lex 127 Ebenso etwa P. Daillier/ A.- Pellet, Droit international public, 7. A., 2002, Rn.- 60 und T. Stein/ C. von Buttlar/ M. Kotzur, , Völkerrecht, 14.-A., 2017, §-12, Rn.-159. 128 Vgl. auch Asylum-Fall, unten Kapitel 15.2.3 und IGH, Fisheries Case (UK v. Norway), Urteil vom 18.12.1951, ICJ Reports 1951, 116, 131. 129 Dafür: M.-Herdegen, Völkerrecht, allerdings nur bis zur 2. A., 2002, §-3, Rn.-4; dagegen zu Recht: A.-Cassese, International Law in a Divided World, 1986, 178. 130 A. Paulus/ J. R. Leiß, in: B. Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3. A., 2012, Art. 103, Rn. 80. 131 M.-Akehurst, The Hierachy of the Sources of International Law, BYIL 47 (1974/ 75), 278. 132 Ähnlich T. Stein/ C. von Buttlar/ M. Kotzur, Völkerrecht, 14. A., 2017, §-12, Rn. 158; vgl. auch W. Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, 1983. <?page no="213"?> 177 3.6 Ius cogens und Hierarchie der Rechtsquellen posterior derogat legi priori (späteres Recht bricht früheres Recht) ist nämlich stets mit größter Sorgfalt auf die absolute Identität der beteiligten Völkerrechtssubjekte zu achten. Besteht z.- B. Völkergewohnheitsrecht für alle westeuropäischen Staaten (regionales, partikuläres Völkergewohnheitsrecht), so würde kein davon abweichender Vertragsschluss etwa zwischen Belgien und Frankreich diese aus dem partikulären Völkergewohnheitsrecht ausnehmen und für sie spezielles, zunächst rein vertragliches Völkerrecht begründen. Natürlich sind die westeuropäischen Staaten nicht gehindert, einen multilateralen Vertrag zu schließen, der von dem alten Gewohnheitsrecht abweicht. Umgekehrt können die Vertragsparteien eines bilateralen oder multilateralen Vertrages durch später entwickeltes Gewohnheitsrecht von dem Vertrag abweichen. Haben etwa die westeuropäischen Staaten einen multilateralen Vertrag geschlossen, so können sie durch ein zwischen ihnen entstandenes Gewohnheitsrecht (vgl. oben 3.4) von diesem Vertrag abweichen. Dies setzt jedoch voraus, dass tatsächlich alle Vertragsparteien an der Bildung des Gewohnheitsrechts beteiligt sind. Würde ein einzelner Staat oder eine bestimmte Gruppe von Vertragsparteien versuchen, eine mit dem Vertrag nicht in Einklang stehende Staatenpraxis durchzusetzen, so würden er oder sie völkerrechtswidrig handeln. Neues Völkergewohnheitsrecht könnte durch eine derartige Staatenpraxis nicht entstehen. Der Grundsatz lex posterior derogat legi priori ist ebenfalls auf die Klärung des Vorrangs zweier Verträge anzuwenden, die beide den gleichen Regelungsgegenstand haben (Art. 30 WVK). Eine wichtige Ausnahme stellt insofern Art. 13 UN-Charta dar, wonach die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der UN-Charta den Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften vorgehen. Diese Bedeutung der Regelung hat der IGH im Lockerbie-Fall noch einmal hervorgehoben. 133 Libyen weigerte sich unter dem damaligen Staatsoberhaupt Gaddafi, Attentäter auszuliefern, welche ein Passagierflugzeug über der schottischen Stadt Lockerbie gesprengt hatten. Libyen begründete seine ablehnende Haltung, die gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrates (sekundäres Recht der UN) verstieß, mit Völkervertragsrecht. 134 Doch der IGH stellte fest, dass Pflichten aus der UN-Charta gem. Art. 103 der Charta Vorrang hätten. Damit sei für sämtliche Mitgliedstaaten der UN die Vertragsabschlussfreiheit eingeschränkt. Indes sind die Folgen eines Verstoßes gegen die UN-Charta offen und umstritten. So wird vorgeschlagen, der Charta denselben Effekt wie dem ius cogens einzuräumen, so dass sonstiges Völkerrecht im Konfliktfall nichtig wäre. Eine andere Ansicht differenziert: Nur für Verstöße gegen die Charta selbst sei von der Nichtigkeit auszugehen, bei Verstößen gegen Resolutionen des Sicherheitsrates dagegen soll das entgegenstehende Recht lediglich unanwendbar sein, solange die Resolution gültig ist. Die wohl herrschende Meinung geht dagegen lediglich von einer Unanwendbarkeit entgegenstehenden Rechts aus. Solange der Konflikt besteht, kann die im Rang nachfolgende Norm allerdings jeglicher praktischer Bedeutung beraubt sein. 133 IGH, Lockerbie-Case (Lybia v. UK), Provisional Measures, Entscheidung vom 14.04.1992, ICJ Reports 1992, 3, §-39; siehe unten Kap. 15.2.13. 134 Zur Diskussion A. Paulus/ J. R. Leiß, in: B. Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3. A., 2012, Art. 103, Rn. 76. <?page no="214"?> 178 3. Völkerrechtsquellen Namentlich der Grundsatz der Rechtssicherheit streitet dabei für die vorherrschende Ansicht, denn insbesondere bei Wegfall sekundärer Verpflichtungen aus der UN-Charta würden aufgrund der Nichtigkeit vormals entgegenstehender Verträge Regelungslücken entstehen, bemüht wird auch ein Interesse an der Stabilität der Rechtsbeziehungen. 135 Folglich ist davon auszugehen, dass gegen die UN-Charta verstoßendes Völkerrecht lediglich unanwendbar, nicht aber nichtig ist. Normhierarchie ▶ Ius cogens (Sklaverei-, Folter-, Gewaltverbot, Völkermordverbot) ▶ Verpflichtungen aus der UN-Charta, Art. 103 ▶ Sonstiges Völkerrecht (Konflikte auf der dritten Ebene sind über den lex specialis-, bzw. den lex posterior-Grundsatz zu lösen.) 3.7 Hilfsmittel zur Feststellung von Völkerrechtsnormen Art. 38 des IGH-Statuts zählt auf, was der Gerichtshof bei der Entscheidung der ihm unterbreiteten Streitigkeiten anzuwenden hat. Neben den drei im Vorstehenden behandelten Völkerrechtsquellen erwähnt Art. 38 Abs. 1 lit. d die richterlichen Entscheidungen und die Lehren anerkannter Völkerrechtslehrerinnen und -lehrer aus den verschiedenen Regionen der Welt. Dies darf aber nicht zu dem Irrtum verleiten, dass auch die richterlichen Entscheidungen und die Völkerrechtslehre Völkerrechtsquellen darstellten. Art. 38 Abs. 1 lit. d fährt nämlich fort: „[…] als Hilfsmittel zur Feststellung der Rechtsnormen.“ Obwohl gemäß Art. 59 des IGH-Statuts die Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs als nur für die Parteien und nur in Bezug auf den jeweiligen Fall bindend erklärt wird (Wirkung inter partes), hat die Rechtsprechung des IGH als Rechtserkenntnismittel große Bedeutung erlangt (dazu im Einzelnen auch unten Kap. 7.1.1). Selbst die innerstaatliche Rechtsprechung auf völkerrechtlichem Gebiet, die häufig in eigenen Sammlungen zusammengefasst wird, findet starke Beachtung bei der Prüfung des Vorhandenseins und Inhalts von Völkerrechtsnormen. 136 Beispiele für die herausragende Bedeutung mancher IGH-Entscheidungen sind etwa der Nordseekontinentalsockel-Fall 137 (siehe unten Kap. 15.2.8) für die Kriterien des Völkergewohnheitsrechts, der Barcelona-Traction-Fall 138 (siehe unten Kap. 15.2.9) für die Verpflichtungen erga omnes sowie z.-B. der Teheran Geisel-Fall (siehe unten Kap. 15.2.11) für das Diplomatenrecht. Hier formuliert 135 Hierzu A. Paulus/ J. R. Leiß, in: B. Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3. A., 2012, Art. 103, Rn. 77ff. 136 Diese Frage ist ihrerseits nicht nur für internationale Gerichte von Interesse, sondern auch für innerstaatliche Gerichte, die Völkerrecht anzuwenden haben. Vgl. R. Wenig, Die gesetzeskräftige Feststellung einer allgemeinen Regel des Völkerrechts durch das Bundesverfassungsgericht, 1971. Hierzu auch unten Kap.-4.2. 137 IGH, North Sea Continental Shelf Cases (Germany v. Denmark; Germany v. Netherlands), Urteil vom 20.02.1969, ICJ Reports, 1969, 3. 138 IGH, Barcelona Traction, Light and Power Co. (Belgium v. Spain), Urteil vom 05.02.1970, ICJ Reports 1970, 3. <?page no="215"?> 179 3.8 Die Kodifikation des Völkerrechts der IGH meist in der Interpretation völkerrechtlicher Normen oder der Auslegung des Gewohnheitsrechts Gesichtspunkte, die oftmals eine kreative Auslegung bzw. Rechtsfortbildung darstellen. Insofern ist die Rolle des IGH bei der Völkerrechtsbildung kaum zu überschätzen. Aber auch andere Spruchkörper, wie etwa die Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda haben in bedeutender Weise zur Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts beigetragen (siehe dazu unten Kap.-13 und Kap.-14). 139 Nach Art. 21 Abs. 2 des IStGH-Statuts ist anerkannt, dass frühere Entscheidungen des IStGH ein gewisses Eigengewicht haben können. 140 Die wissenschaftliche Durchdringung dieser Probleme leistet ihrerseits gute Dienste bei der Feststellung der Völkerrechtsnormen. Aus diesem Grunde hat Art.-38 Abs.-1 lit. d des IGH-Statuts die Völkerrechtslehre als Hilfsmittel der Rechtserkenntnis hervorgehoben. In der Tat zeigt die Lektüre der Entscheidungen internationaler Gerichte, dass die Völkerrechtswissenschaft in der völkerrechtlichen Praxis eine Rolle spielt. Auch in der Tätigkeit zahlreicher Völkerrechtler als Richter an internationalen Gerichten oder Schiedsgerichten, Mitglieder der International Law Commission, als Delegierte bei internationalen Konferenzen, insbesondere Kodifikationskonferenzen, und als Beamte internationaler Organisationen kommt die enge Verzahnung zwischen Völkerrechtswissenschaft und Völkerrechtspraxis zum Ausdruck. 3.8 Die Kodifikation des Völkerrechts Die Unsicherheit über Existenz und Inhalt völkerrechtlicher Normen, die sich aus dem im Vorstehenden geschilderten System der Völkerrechtsquellen zwangsläufig ergibt, wird gerade im Zuge der Tendenzen der Gegenwart (vgl. oben Kap. 1.3.5), zu denen insbesondere die zunehmende Verdichtung der Völkerrechtsnormen, die Ausweitung ihres Wirkungsbereichs und die Vertiefung ihrer Regelungsintensität gehören, als unbefriedigend empfunden. Da ein internationaler Gesetzgeber nicht vorhanden ist, kann die Kodifikation des geltenden Völkerrechts nur durch multilaterale Verträge (Konventionen) erfolgen. Solche Konventionen wiederholen häufig vertragliches Völkerrecht, noch häufiger aber formulieren sie bereits vorher geltendes Völkergewohnheitsrecht. Mit Inkrafttreten der Konvention verlieren die betreffenden Rechtsnormen nicht ihren Charakter als Völkergewohnheitsrecht. Die verbindliche Kraft der kodifizierten völkerrechtlichen Regeln leitet sich allerdings für die Parteien des neuen Vertrags aus der entsprechenden Konvention ab, während „Drittstaaten“ als Nichtvertragsparteien weiter an das fortbestehende Völkergewohnheitsrecht gebunden sind. Der Vorteil einer Kodifikation bestehenden Gewohnheitsrechts gegenüber nicht schriftlich niedergelegtem Völkergewohnheitsrecht liegt darin, dass der schwierige Nachweis des Vorhandenseins einer Regel des Völkergewohnheitsrechts (vgl. oben Kap.-3.4) nicht mehr erforderlich ist. Allenfalls kann nunmehr die Interpretation der Konventionsbestimmungen noch Probleme bereiten. Davon abgesehen aber ist die Existenz der Rechtsnormen durch ihre Aufnahme in die Konvention, ihr Inhalt durch den Konventionstext, dargelegt. 139 Siehe etwa R. Heinsch, Die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts durch die Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, 2007. 140 J. Vogel, Individuelle Verantwortlichkeit im Völkerstrafrecht, ZStW 114 (2002), 403ff. (418). <?page no="216"?> 180 3. Völkerrechtsquellen An der Kodifikation des Völkerrechts wird seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv gearbeitet. Einen ersten Erfolg stellt die Kodifikation des Kriegsrechts durch die Haager Landkriegsordnung von 1907 dar (vgl. unten Kap. 13.1.2.1). Der Völkerbund organisierte die Haager Kodifikationskonferenz von 1930, die aber nur mäßigen Erfolg hatte. Im südamerikanischen Raum bemühten sich die „panamerikanischen Konferenzen“ um die Kodifikation des für Südamerika geltenden regionalen Völkerrechts. Die insbesondere auf den Konferenzen von Havanna (1928) und Montevideo (1933) ausgearbeiteten Kodifikationsentwürfe wurden allerdings nur zum Teil ratifiziert. Die Charta der Vereinten Nationen verpflichtet in ihrem Art. 13 die Generalversammlung unter anderem, sich um die Kodifikation des Völkerrechts zu kümmern. In Erfüllung dieser Pflicht setzte die Generalversammlung die Völkerrechtskommission (International Law Commission - ILC) ein (siehe dazu oben Kap. 2.2.3), deren Statut in Art. 15 eine klare Unterscheidung zwischen der Feststellung schon bestehenden Rechts und seiner Fortbildung (die ebenfalls zu den Aufgaben der Generalversammlung gemäß Art. 13 UN-Charta gehört) macht. Die Kommission nahm ihre Tätigkeit am 12. April 1949 auf. Sie begann unverzüglich eine Liste derjenigen Völkerrechtsgebiete aufzustellen, die sie für „kodifikationsreif “ hielt. Hierzu gehörten vor allem die folgenden Rechtsgebiete: Anerkennung von Staaten und Regierungen, Staatensukzession, Staatenimmunität, extraterritoriale Strafgerichtsbarkeit, die Hohe See, Küstengewässer, Staatsangehörigkeit, Fremdenrecht, Asylrecht, Vertragsrecht, Recht der Diplomatie und Konsularrecht, Staatenhaftung und Schiedsverfahren. Auf einer Reihe diplomatischer Konferenzen, die unter den Auspizien der UNO nach intensiver Vorbereitung durch die Völkerrechtskommission stattfanden, wurden mehrere dieser Rechtsgebiete in großen Konventionen kodifiziert, andere, wie etwa das der Staatenhaftung, sind auch derzeit noch im Prozess der Kodifikation. Den oben erwähnten Vorteilen der Kodifikation des Völkerrechts steht ein gewichtiger Nachteil gegenüber. Will man einer geplanten Konvention die allgemeine Zustimmung sichern, so muss man die Normierungen auf der Minimalebene des allgemeinen Konsenses halten, was oft bedeutet, dass die Kodifikation für viele Staaten, deren Praxis bereits ein höheres Stadium der Rechtsentwicklung widerspiegelt, einen Rückschritt darstellt. Immer wieder stehen die Schöpfer solcher Konventionen vor der Entscheidung, entweder den Entwicklungsstand der fortschrittlichen Staaten zum Maßstab zu nehmen und damit zu riskieren, dass die Konvention erst spät oder überhaupt nicht oder nur für einen kleinen Kreis von Staaten in Kraft tritt, oder weit hinter dem Entwicklungsstand der fortschrittlichen Staaten zurückzubleiben, um die Konvention rascher und mit größerer Annäherung an die stets erstrebte Universalität in Kraft treten zu lassen. Fast immer entscheidet man sich für die letztere Alternative, was zu der Kritik Anlass gibt, dass die wohlgemeinten Kodifikationsversuche letztlich nicht zur zeitgemäßen Fortentwicklung des Völkerrechts beitragen. Im Einzelnen sind folgende Konventionen auf Vorarbeit der ILC zurückzuführen: Wiener Vertragsrechtskonvention, Wiener Diplomaten- und Konsularrechtskonvention und natürlich die „Draft Principles on Responsiblity of States for Internationally Wrongful Acts“. <?page no="217"?> 181 3.9 Die Resolutionen der UN-Organe Erfolgreiche Kodifikationsvorhaben der ILC ▶ Wiener Vertragsrechtskonvention ▶ Wiener Diplomatenkonvention ▶ Wiener Konsularrechtskonvention ▶ Draft Principles on Responsibility of States ▶ etc. Doch kann man auch der Auffassung sein, dass, trotz der Möglichkeit allfälliger, inhaltliche Unterschiede überdeckender Formelkompromisse, allein die universelle Kodifizierung von Recht ein Wert an sich ist und in wünschenswerter Weise die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen vorantreibt. 3.9 Die Resolutionen der UN-Organe Wie bereits angemerkt, haben die Resolutionen der UN-Generalversammlung die Fortentwicklung des Völkerrechts nicht unwesentlich beeinflusst. 141 Jedoch ist ihre Einordnung in das System der Völkerrechtsquellen nicht ganz einfach. Soweit sie nur bestehendes Völkergewohnheitsrecht wiedergeben, haben sie von vornherein nur deklaratorische Wirkung. Als Verträge kann man sie selbst dann nicht werten, wenn die Stimmabgabe der einzelnen Mitglieder der Generalversammlung auf vertraglichen Vereinbarungen beruhen sollte, denn die Resolution selbst ist stets eine Willensäußerung der Generalversammlung. Gelegentlich sind die Resolutionen als Hilfsmittel zur Feststellung von Völkerrechtsnormen im Sinne von Art.- 38 Abs.- 1- d des IGH-Statuts bezeichnet worden. 142 Aber auch hiergegen lässt sich einwenden, dass die Voraussetzungen dieser Vorschrift in Gestalt einer Resolution der Generalversammlung schwerlich erfüllt sind, da Art. 10 UN-Charta der Generalversammlung grundsätzlich nur sehr beschränkte Rechtssetzungsbefugnisse zuerkennt. 143 Der Wortlaut dieser Norm bestimmt, dass nur „diskutiert“ werden darf und eventuell „Empfehlungen“ ausgesprochen werden dürfen. In der Regel sind daher Resolutionen der Generalversammlung auch nicht bindend. Traditionell werden zwei sachliche Geltungsbereiche der Maßnahmen der UNO unterschieden: interne Fragen und operative regulations. Für den ersteren Bereich wird die bindende Wirkung der UNO-Maßnahmen von niemandem bezweifelt. Hinsichtlich des zweiten sind die Meinungen geteilt. Die Maßnahmen, die interne Fragen betreffen, erzeugen ein Gemeinschaftsrecht, das sich nach innen richtet und damit eine Art Anstaltsrecht ist. Dagegen werden die operative regulations 141 Vgl. oben Kap.-1.3.5.2; siehe eine Auflistung der wichtigsten UNGA-Resolutionen bei D.-Rauschning u.a., Key Resolutions of the United Nations General Assembly 1946-1996 f.. 142 Vgl. D.H.N. Johnson, The Effect of Resolutions of the General Assembly of the United Nations, BYIL 32 (1955/ 56), 101ff. 143 Vgl. M.-Bohn, Die Kodifikation des Völkerrechts durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen, 1972, 147ff.; E.-Klein/ S. Schmahl, Art. 10, in: B.-Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3.-A., 2012, Rn. 42ff. <?page no="218"?> 182 3. Völkerrechtsquellen mit dem Ziel beschlossen, über die UNO hinaus zu wirken. Die Konstruktionen, mit denen ihre Rechtsnormqualität begründet wird, sind mannigfaltig. Völkervertragsrecht kann auf diesem Wege nicht geschaffen werden. Freilich ist bereits vorstehend darauf hingewiesen worden, dass multilaterale Verhandlungsforen wie die Generalversammlung der Vereinten Nationen bei der Auffindung eines zwischenstaatlichen Konsenses durchaus prägend wirken können (siehe oben Kap. 3.4.2). Es erscheint also nicht unmöglich, unter spezifischen Voraussetzungen, etwa einer mit überwältigender Mehrheit verabschiedeten Resolution der Generalversammlung, deren essenzielle Bestandteile zudem ggf. wiederholter Gegenstand der Debatten und Beschlussfassungen dieses Gremiums in verschiedenen Kontexten waren, jedenfalls indizielle Bedeutung für die Begründung bzw. den Nachweis einer diesbezüglichen Staatenüberzeugung zuzumessen, der so Bedeutung für die Begründung oder Fortentwicklung einer Norm des Gewohnheitsrechts zukommen kann. 144 Folgende Resolutionen der UN-Generalversammlung haben in der Folgezeit nach ihrer Verabschiedung erhebliche Bedeutung erlangt. Wichtige Resolutionen der UN-Generalversammlung ▶ Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 145 ▶ Die Prinzipien zur Erforschung und Nutzung des Weltraums von 13.12.1963 146 ▶ Die Erklärung über freundschaftliche Beziehungen der Staaten vom 24.10.1970 147 ▶ Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten vom 12.12.1974 148 ▶ Die Definition der Aggression vom 14.12.1974 149 ▶ Die Territoriale Integrität der Ukraine vom 27.03.2014 150 ▶ New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten vom 19.09.2016 151 Sie waren samt und sonders Grundlage späterer völkerrechtlicher Kodifikationen. Ganz davon abzugrenzen sind Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Diese haben, insbesondere wenn der Sicherheitsrat seine Hauptaufgabe der Verantwortung für den Weltfrieden nach Kapitel VII der UN-Charta nachkommt, gemäß Art. 25 der UN-Charta für alle Mitglieder der Vereinten Nationen Verbindlichkeit. 144 F.- Ermacora, Das Problem der Rechtssetzung durch internationale Organisationen (insbesondere im Rahmen der UN), BDGVR 10 (1971), 51ff.; H. Miehsler, Zur Autorität von Beschlüssen internationaler Institutionen, in: C.-Schreuer (Hg.), Autorität und internationale Ordnung, 1979, 42-m.w.N.; W. Graf Vitzthum, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8.-A., 2019, 1. Abschn., Rn.-150; O. Schachter, International Law in Theory and Practice, 1991, 87ff. 145 UNGA Res. 217 A (III). 146 UNGA Res. 1962 (XVIII). 147 UNGA Res. 2625 (XXV). 148 UNGA Res. 3281 (XXIX). 149 UNGA Res. 3314 (XXIX). 150 A/ RES/ 68/ 262. 151 A/ RES 71/ 1. <?page no="219"?> 183 3.10 Sog. „Soft Law“ In diesem Zusammenhang haben jüngere Aktivitäten des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen auch Anlass zu intensiven Diskussionen über eine rechtssetzende Funktion des Sicherheitsrates als neue Tendenz gegeben. Die Rede ist etwa von der Sicherheitsratsresolution 1373 (2001), mit welcher der Sicherheitsrat die Terroranschläge von Al Qaida auf das World Trade Center in New York verurteilte und in Allgemeingültigkeit diese Angriffe als Angriffe auf die zivilisierte Welt bezeichnete, die Anlass für individuelle oder kollektive Selbstverteidigungsaktionen gäben. 152 Auch Sanktionen, die individuelle und belastende Maßnahmen enthalten, zum Beispiel wenn eine umfassende Kontensperrung gegen des Terrorismus verdächtige Personen verhängt wird, kommen schon aufgrund der unmittelbaren Umsetzung in die Nähe von rechtssetzenden Maßnahmen. 153 Bei der Errichtung des Tribunals für den Libanon - ein weiterer Akt der Wahrnehmung legislativer Befugnisse - hat der Sicherheitsrat als Anlass die Bedrohung des Weltfriedens durch die Ermordung des libanesischen Ministerpräsidenten erklärt, das Tribunal eingesetzt und ihm per Resolution gleich auch ein Organisationsstatut beigefügt. 154 3.10 Sog. „Soft Law“ Einführende Literatur: Thürer, Daniel, Soft Law (März 2009), MPEPIL (Online-Ed.). Die schwer einzuordnenden Akte internationaler Organisationen, vor allem die Flut von Empfehlungen, Beschlüssen, Resolutionen und Deklarationen zahlreicher Gremien, Organe und Sonderorganisationen der UNO und regionaler Einrichtungen haben die Diskussion über das System der völkerrechtlichen Rechtsquellen stark angeregt. In diesem Zusammenhang ist ein neuer Begriff entstanden: soft law („weiches Völkerrecht“). Um Missverständnissen vorzubeugen ist allerdings zunächst festzuhalten, dass das weiche Völkerrecht, jedenfalls insoweit es sich nicht um weich formulierte völkerrechtliche Verträge handelt, keine eigene Völkerrechtsquelle bildet. Vielmehr sind darunter solche Normen zu verstehen, die nicht vor internationalen Gerichten angeführt werden können und deren Verletzung nicht die Staatenhaftung auslöst. 155 Die Auffassungen zur Existenz weichen Völkerrechts sind freilich sehr unterschiedlich. Für einige bietet dieses Konzept einen bequemen Ausweg aus dogmatischen Schwierigkeiten, wenn eine internationale Organisation oder Konferenz sich zwar nicht auf die Schaffung einer verbindlichen Völkerrechtsnorm einigen kann, aber trotzdem in feierlicher Form eine Prinzipienerklärung verkündet. Dies mag etwa zu Erklärungen dahingehend führen, man habe Zeichen gesetzt und moralische Verpflichtungen begründet, die sogar noch mehr wert seien als „bloße Rechtsbindungen“. Dass es problematisch sein kann, von einem „Recht ohne Rechtsbindung“ zu sprechen, ist in 152 UNSC-Res. 1373 (2001), vom 28.09.2001; vgl. dazu etwa M.L. Fremuth/ J. Griebel, On the Security Council as a Legislator: Blessing or a Curse for the International Community? , NordJIL 76 (2007), 339ff. 153 UNSC-Res. 1267 (1999). Die dazugehörige Personenliste ist abrufbar unter www.un.org/ sc/ committees/ 1267/ pdf/ AQList.pdf (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 154 UNSC-Res. 1757 (2007), vom 30.05.2007. 155 Siehe zum Ganzen C.-Ingelse, Soft Law? , PolYIL 20 (1993), 75, 77; T. Gruchalla-Wesnierski, A Framework for Understanding „soft law“, McGillLJ 30 (1984), 37ff.; W. Weiß, Die Rechtsquellen des Völkerrechts in der Globalisierung, AVR 53 (2015), 220ff. <?page no="220"?> 184 3. Völkerrechtsquellen der Fachliteratur indes häufig dargelegt worden. 156 Von dieser Warte aus betrachtet mag der Begriff des soft law als Symptom einer tiefgreifenden Krise des Völkerrechts erscheinen. 157 Der gesamte Problembereich kann aber auch anders gesehen werden. Eine mögliche Abneigung gegen den Begriff des soft law beruht zum Teil darauf, dass tatsächlich alle auf eine moralische Wirkung abzielenden Verlautbarungen von Konferenzen und Organisationen bereits als soft law angesehen werden. Tatsache ist, dass der Begriff des soft law nicht die Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht verwischen soll und darf. Was nur zur Schaffung moralischer Pflichten etwa als Verhaltenskodex oder gar nur zu Propagandazwecken verkündet worden ist, kann nicht die Qualität einer Rechtsnorm haben. Soweit es bereits geltendem Recht entspricht, stärkt es bestehende Rechtsnormen; soweit es im Entstehen begriffene Rechtsnormen (d.-h. solche in statu nascendi) betrifft, fördert es die Bildung entsprechenden Gewohnheitsrechts und mag dessen Kodifizierung vorbereiten. Auch als Indiz für eine beabsichtigte künftige gewohnheitsrechtsbildende Staatenpraxis mögen derartige Akte von Bedeutung sein. Im Vertragsrecht ist ferner seit Langem anerkannt, dass es internationale Übereinkommen gibt, die keine Rechtsbindung erzeugen (sog. Gentlemen’s Agreements). Es ist also entscheidend auf den Rechtsbindungswillen der Vertragsparteien abzustellen. Als ein typisches Gentlemen’s Agreement gilt etwa der sog. „Luxemburger Kompromiss“ von 1966, in dem 6 EG Mitgliedstaaten „besondere Absprachen zur praktischen Vorgehensweise bei Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat“ getroffen hatten, sofern besonders wichtige Interessen eines Mitgliedstaates betroffen seien. 158 Ein anderes Beispiel sind die Beschlüsse der KSZE, die aufgrund eines Übereinkommens aller Beteiligter gerade keine Rechtsverbindlichkeit erlangen sollten (siehe dazu oben Kapitel 2.2.4.3). 159 Bei der Abgrenzung von unverbindlichen Absichtserklärungen und bindenden Übereinkünften ist nach Auffassung des IGH eine objektivierende Sichtweise zugrunde zu legen (objektiver Empfängerhorizont). 160 Solche Autoren, die sich intensiv mit dem soft law beschäftigt haben, weisen darauf hin, dass es mitunter gar nicht so weich sei. Gegenüber Verletzungen des soft law kann die Retorsion (siehe unten Kap. 6.1) ergriffen werden. Die Repressalie ist allerdings nicht zulässig. 161 Jedoch kann sich der Staat, dem eine soft law-Regel entgegengehalten wird, nicht mehr auf entgegenstehendes Völkerrecht berufen oder auf weniger weitreichendes Völkerrecht zurückziehen. Ferner kann eine 156 Vgl. etwa für eine Kritik an der Existenz des soft law P. Weil, Vers une normativité relative en droit international, RGDIP 86 (1982), 5ff. 157 Vgl. B. Simma, Völkerrecht in der Krise? , ÖZAP 20 (1980), 273. Zu entsprechenden Entwicklungen im Weltraumrecht siehe S. Hobe, International Space Law in its First Half Century, IISL Proc. 2006, 373ff. 158 Dazu R. Streinz, Die Luxemburger Vereinbarung: rechtliche und politische Aspekte der Abstimmungspraxis im Rat der Europäischen Gemeinschaften seit der Luxemburger Vereinbarung vom 29. Januar 1966, 1984. 159 Dazu auch J. Marquier, Soft Law - Das Beispiel des OSZE-Prozesses, 2004. 160 IGH, Maritime Delimitation and Territorial Questions between Qatar and Bahrain (Qatar v. Bahrain), Urteil vom 01.07.1994, ICJ Reports 1994, 112, §§ 21ff.; siehe dazu auch J.-Klabbers, Qatar v. Bahrain: The Concept of „Treaty“ in International Law, AVR 33 (1995), 361ff. 161 A. Bleckmann, Grundprobleme und Methoden des Völkerrechts, 1982, 339. <?page no="221"?> 185 3.10 Sog. „Soft Law“ Verletzung des soft law unfreundliche Akte anderer Staaten vor allem im wirtschaftlichen Bereich nach sich ziehen. In der Weltmeinung wird dem das soft law verletzenden Staat dieses Handeln meist ebenso vorgeworfen wie eine „echte“ Völkerrechtsverletzung. Soft law hat sich bisher vor allem im Bereich der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern herausgebildet. Dort spielen insbesondere sog. Verhaltenskodizes (codes of conduct) eine Rolle. 162 Überall dort, wo die Absicht der an der Bildung von soft law-Regeln Beteiligten klar ist, stößt die Verwendung dieses Begriffs auf geringere Bedenken. In solchen Fällen ist es wahrscheinlich, dass die soft law-Regel eines Tages zur echten Völkerrechtsnorm wird. Allerdings muss gleichzeitig davor gewarnt werden, mit Hilfe des soft law-Begriffs den Unterschied zwischen dem geltenden Recht und dem „erstrebten Recht“ zu verwischen. 163 Aber auch im Bereich des internationalen Umweltrechts (dazu unten Kap. 12) stellt etwa das Rio-Paket von 1992 - bestehend aus fünf wechselbezüglichen Dokumenten, darunter zwei völkerrechtlichen Verträgen, zwei rechtlich unverbindlichen Deklarationen und der Agenda 21 als politischem Aktionsprogramm - ein Beispiel für die Funktion des weichen Völkerrechts in der modernen Ordnung des Völkerrechts dar. Denn in dem Paket sind rechtlich unverbindliche mit rechtsverbindlichen Dokumenten verknüpft. Man kann insofern anschaulich von „zebra codes“ sprechen. 164 Durch diese Verbindung soll erreicht werden, dass die rechtlich verbindlichen Abkommen zur Erreichung eines möglichst breiten Staatenkonsenses möglichst im Vagen gehalten werden und unter Rekurs auf rechtlich zwar unverbindliche, in der Zielsetzung aber weitergehende Standards interpretiert werden können. Auch die weitere Rechtsverpflichtung der Staaten im Bereich des internationalen Umweltrechts erfolgt zunehmend abgestuft, meist über eine zunächst verabschiedete Rahmenkonvention - etwa die Weltklimakonvention -, der später Protokolle folgen, die konkrete Staatenverpflichtungen (z.-B. zur Emissionsreduktion) beinhalten. 165 Damit zeigt sich, dass sich die internationale Rechtssetzung in bestimmten Bereichen gerade des weichen Völkerrechts bedient, um so dem Endziel einer umfassenden Rechtsverpflichtung näher zu kommen. Soft law wird insoweit als geeignetes Instrument zur internationalen Zusammenarbeit angesehen. Im Lichte der andauernden Krise der Rechtsquellen spielen moderne Konstrukte wie das soft law eine immer wichtigere Rolle im Völkerrecht. 162 Vgl. I. Seidl-Hohenveldern, International Economic Soft Law, RdC 163 (1979/ II), 173ff.; vgl. ähnlich auch T. Stein/ C. von Buttlar/ M. Kotzur, Völkerrecht, 14.-A., 2017, §-4, Rn.-32. 163 Vgl. P. Weil, Vers une normativité relative en droit international? , RGDIP 86 (1982), 45. 164 E.-Riedel, Standards and Sources, EJIL 2 (1991), 58, 83. 165 Dazu eingehend E.-Riedel, Change of Paradigm in International Environmental Law, Law and State 57 (1998), 22, 31ff.; zur Einordnung der sog. General Comments zur Auslegung des IPwirtR durch den Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (dazu unten Kap.-10.3.1.4) als soft law siehe etwa E.-Riedel, Universaler Menschenrechtsschutz - Vom Anspruch zur Durchsetzung, in: G.-Baum/ E.-Riedel/ M.-Schaefer (Hg.), Menschenrechtsschutz in der Praxis der Vereinten Nationen, 1998, 25, 41. <?page no="222"?> 186 3. Völkerrechtsquellen 3.11 Einseitige Handlungen Einführende Literatur: Cedeño, Victor R./ Torres Cazorla, Maria I., Unilateral Acts of States in International Law (Januar 2019), MPEPIL (Online-Ed.). Neben den soeben genannten Quellen, namentlich Verträgen, Gewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen, zu denen auch noch Akte internationaler Organisationen hinzukommen, können völkerrechtliche Rechte und Pflichten auch durch einseitige Rechtsakte begründet werden. 166 Obwohl es bislang erst in Ansätzen gelungen ist, eine Systematik für die einseitigen Rechtsakte zu entwickeln, beschäftigt sich die International Law Commission seit 1996 mit der Kodifikation des Rechts der einseitigen Rechtsakte. 167 Darauf wird zurückzukommen sein. Einseitige Handlungen ▶ Beispiele: Anerkennung, Protest, Verzicht ▶ entfalten Rechtswirkung ▶ setzen Rechtsbindungswillen voraus (IGH) In der Regel wird unterschieden zwischen einseitigen Rechtsakten im Rahmen des Vertragsabschlussverfahrens, einseitigen Akten, die auf die Entstehung von Gewohnheitsrecht einwirken und selbständigen einseitigen Rechtsakten. 168 Zu den selbständigen einseitigen Rechtsakten, also solchen Akten, die nicht mit vom Recht der Verträge erfasst werden, gehören etwa die Anerkennung, der Protest, die Notifizierung und der Verzicht; teilweise wird auch das Versprechen bzw. die Zusicherung dazu gezählt. Grundsätzlich kann einseitigen Akten rechtliche Bindungswirkung zukommen, wobei lange Zeit umstritten war, woraus sich dies ergibt. Im Gegensatz zum Völkervertragsrecht ist das Recht der einseitigen Erklärungen trotz entsprechender Bemühungen der ILC noch nicht Gegenstand einer Kodifikation geworden. Die Bindung von Staaten an deren einseitige Rechtsakte war lange Zeit umstritten, bemüht wurden das estoppel-Prinzip und der im Völkerrecht bedeutsame Grundsatz pacta sunt servanda. Letztlich musste sich auch der IGH mit der Frage befassen. Im Nuclear Tests-Fall hatte er über die Frage zu entscheiden, ob Äußerungen des französischen Verteidigungsministers gegenüber Medienvertretern, nach welchen Frankreich im Jahre 1975 keine atmosphärischen Atomwaffentests durchführen würde, völkerrechtlich verbindlich waren. Der Gerichtshof bejahte diese Frage. Der bindende Charakter einseitiger Erklärungen ergebe sich nämlich aus Treu und Glauben. 169 Dagegen ist die 166 Vgl. IGH, Nuclear Tests (Australia v. France), Urteil vom 20.12.1974, ICJ Reports 1974, 253, §-43 - „… It is well recognized that declarations made by way of unilateral acts, … may have the effect of creating legal obligations“. 167 Siehe International Law Commission, Report on the Work of its Fifty-Eighth Session, Official Records of the General Assembly, Sixty-First Session, Supplement No. 10 (A/ 61/ 10). 168 K.-Zemanek, Unilateral Legal Acts Revisited, Essays in Honour of E. Suy, 1998, 209ff., 210f. 169 IGH, Nuclear Tests (Australia v. France), Urteil vom 20.12.1974, ICJ Reports 1974, 253, §-46. <?page no="223"?> 187 3.11 Einseitige Handlungen Bindung bestimmter einseitiger Rechtsakte, namentlich der Anerkennung und des Widerrufs, gewohnheitsrechtlich anerkannt. 170 Nach der Rechtsprechung des IGH ist die Verbindlichkeit eines einseitigen Versprechens davon abhängig, ob der versprechende Staat mit entsprechendem Bindungswillen gehandelt hat und beim Empfänger des Versprechens ein entsprechender Vertrauensschutz besteht. 171 Dabei ist für die wichtige Unterscheidung zwischen einer rechtlich bindenden Erklärung und bloß politischen Erklärungen nicht nur auf den Text der Erklärung, sondern auch auf die Umstände der Abgabe der Erklärung abzustellen. Dies ist vom Internationalen Gerichtshof in der Entscheidung betreffend den Grenzstreit zwischen Burkina Faso und Mali 172 ausgeführt worden. Zudem gehen Staatenpraxis und Rechtsprechung davon aus, dass dem Empfängerstaat die Erklärung zur Kenntnis gebracht wird, ohne dass allerdings für die Art des Erklärungszugangs genaue Kriterien benannt werden. 173 Schließlich ist festzuhalten, dass einseitige Rechtsakte grundsätzlich an keine Form gebunden sind, also schriftlich wie mündlich erfolgen können. 174 Zudem setzen sie die völkerrechtliche Handlungsbefugnis des erklärenden Organs voraus; dabei muss die Erklärung dem wirklichen Willen des Erklärenden entsprechen. 175 Die Regeln für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge sind indes auf einseitige Rechtsakte nur begrenzt anwendbar. 176 Die Rechtsfolgen der Willenserklärungen, die durch einseitige Rechtsakte begründet werden, entstehen in der Regel mit dem Zugang der entsprechenden Willenserklärung bei dem betreffenden Völkerrechtssubjekt. Voraussetzungen für das Vorliegen verbindlicher einseitiger Handlungen ▶ Bsp.: Anerkennung, Verzicht ▶ Eine entsprechende Erklärung, die mündlich oder schriftlich erfolgen kann ▶ Möglichkeit der Kenntnisnahme, bspw. durch Notifikation oder öffentliche Erklärung ▶ Rechtsbindungswille (IGH) ▶ Handlungsbefugnis des erlassenden Organs Notifikation. Eine besondere Möglichkeit der Mitteilung von einseitigen Handlungen stellt die Notifikation dar. Wenn Erklärungen oder andere einseitige Akte eines Völkerrechtssubjekts eine völkerrechtliche Wirkung erzeugen sollen, so kann dies durch Bekanntgabe an den Adressaten auf diplomatischem Weg erfolgen. Dieser Vorgang heißt Notifikation (Notifizierung). Bestehen diplomatische Beziehungen zwischen dem Staat, der die Mitteilung bekannt gibt, und dem Staat, der die Mitteilung empfängt, so bereitet der „diplomatische Weg“ keine Schwierigkeiten. Bestehen keine diplomatischen Beziehungen, so erfolgt die Notifikation entweder durch die Vermittlung einer Schutzmacht oder unter Ausnutzung anderer Kontakte. So ist, um ein Beispiel aus der jüngeren 170 K. Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, §-18, Rn. 6. 171 Siehe IGH, Nuclear Tests (Australia v. France), Urteil vom 20.12.1974, ICJ Reports 1974, 253, §§ 43ff. 172 IGH, Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali), Urteil vom 22.12.1986, ICJ Reports 1986, 554. 173 Siehe W. Fiedler, Zur Verbindlichkeit einseitiger Versprechen im Völkerrecht, GYIL 19 (1976), 35, 66. 174 IGH, Nuclear Tests (Australia v. France), Urteil vom 20.12.1974, ICJ Reports 1974, 253, §-45. 175 Gulf of Maine (Canada v. USA), Urteil vom 12.10.1984, ICJ Reports 1984, 246, §§-137ff. 176 G. Dahm/ J. Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht I/ 3, 2. A., 1989, 768. <?page no="224"?> 188 3. Völkerrechtsquellen deutschen Geschichte zu erwähnen, die Gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972 zu den sog. Ostverträgen der Bundesrepublik Deutschland mit der UdSSR und der Volksrepublik Polen 177 dem Leiter der polnischen Handelsmission in der Bundesrepublik Deutschland überreicht worden. Die Notifikation selbst hat keinen rechtlichen Inhalt. Sie ist lediglich eine formalisierte Bekanntgabe einer völkerrechtserheblichen Tatsache. Als solche kommen nicht nur einseitige Willenserklärungen in Betracht, sondern auch konkludentes Handeln. Nachfolgend sollen mit Protest, Anerkennung und Verzicht sowie Zustimmung wichtige Beispiele einseitiger Rechtsakte vorgestellt werden. Protest. Von besonderer Relevanz ist der Protest. Er ist ein formeller Einspruch eines souveränen Staates gegen einen als völkerrechtswidrig empfundenen Akt oder Anspruch eines anderen Staates. Die Protestfähigkeit ist ein Teil der völkerrechtlichen Rechts- und Handlungsfähigkeit. Proteste von Privatpersonen, privaten Organisationen und Verbänden sind keine Proteste im Sinne des Völkerrechts. Auch die Willensäußerungen innerstaatlicher Organe, z.-B. des Parlaments, können für sich allein noch keine völkerrechtliche Wirkung hervorbringen. Vielmehr muss die innerstaatliche Willensäußerung zunächst durch einen Willensakt des mit Völkerrechtssubjektivität ausgestatteten Staates auf die völkerrechtliche Ebene gehoben werden. So wurde z.-B. die o.-g. Erklärung des Deutschen Bundestages vom 17.-Mai 1972 zunächst von der Bundesregierung als deren eigene Stellungnahme übernommen und dann den Vertragspartnern der Ostverträge notifiziert. Rechtswirkungen kann der Protest nur entfalten, wenn der protestierende Staat Rechte innehat, gegen deren Verletzung er sich zur Wehr setzt. Zweck des Protestes ist es, diese Rechte zu wahren und in ihrem Bestand zu erhalten. Liegen solche Rechte nicht vor, so ist der Protest unerheblich und berechtigt den anderen Staat zur Zurückweisung. Die Grundlage der Rechte, gegen deren Verletzung protestiert wird, kann verschieden sein. Neben vertraglichen Rechten kommen auch die im allgemeinen Völkerrecht begründeten Rechte in Betracht, gegen deren Verletzung jeder Staat auch dann protestieren kann, wenn er nicht unmittelbar betroffen ist. So kann z.-B. jeder Staat gegen die Verletzung des Grundsatzes der Meeresfreiheit durch irgendeinen Staat protestieren, ohne Rücksicht darauf, ob die unter seiner eigenen Flagge fahrenden Schiffe belästigt worden sind oder nicht. Ähnliches gilt für die Verletzung eines multilateralen Vertrages. Auch hier ist ein Protest dann möglich, wenn die Rechtsverletzung einen anderen Vertragspartner trifft. Voraussetzung ist aber, dass auch der protestierende Staat an die Konvention gebunden ist. Bei bilateralen Verträgen ergibt sich naturgemäß, dass der protestierende Staat zugleich der verletzte sein muss. Dritte Staaten haben nicht das Recht, gegen die Verletzung eines Vertrages, an dem sie nicht teilhaben, zu protestieren. Ein Beispiel hierfür ist der sowjetische Einmarsch in die Tschechoslowakei im August 1968. Handelte es sich um eine Verletzung des im allgemeinen Völkerrecht begründeten Interventionsverbots, so waren alle übrigen Staaten berechtigt, dagegen zu protestieren. Handelte es sich ausschließlich um eine Verletzung des Warschauer Pakts oder anderer Kollektivverträge innerhalb 177 Text im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1972, Nr.-72, 1047. <?page no="225"?> 189 3.11 Einseitige Handlungen des sozialistischen Lagers, so waren nur die Signatarstaaten dieser Kollektivverträge zum Protest berechtigt. Diese Staaten beriefen sich allerdings auf ihr Recht - sogar ihre Pflicht- - zum Eingreifen aufgrund eben dieser besonderen Beziehungen innerhalb des sozialistischen Lagers und wiesen den Vorwurf einer Verletzung des allgemeinen Völkerrechts und der bestehenden Verträge unter Verweis auf die im Warschauer Vertrag von allen Vertragspartnern wechselseitig gegebenen Zustimmungen zum Eingreifen zurück. Schließlich setzt der rechtswirksame Protest voraus, dass die Rechtsverletzung, gegen die protestiert wird, tatsächlich stattgefunden hat, und dass der Staat, an den sich der Protest wendet, für diese Rechtsverletzung verantwortlich ist. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist der Protest rechtlich wirkungslos. Der rechtswirksame Protest hat zur Folge, dass die Rechte, deren Verletzung gerügt wird, dem protestierenden Staat erhalten bleiben. Es mag sein, dass die tatsächliche Lage infolge ungünstiger Machtverhältnisse von der Rechtslage abweicht, dass also der Protest im faktischen Bereich ohne Erfolg bleibt. Die Rechtswirkung aber tritt dennoch ein. Ebenso rechtserheblich ist das Unterlassen eines Protestes. Erhebt ein Staat in einer Situation, die ihn zum Protest berechtigt, keinen Protest, so verliert er die betreffende Rechtsposition. Das Gleiche gilt, wenn dem verbalen Protest ein gegenteiliges konkludentes Handeln folgt. Beispiel: Protest der Tschechoslowakei gegen das Münchner Abkommen von 1938 bei gleichzeitiger Wahrnehmung der Rechte, die das Abkommen der Tschechoslowakei einräumte, z.- B. Beteiligung an der internationalen Kommission, die zur Ausfüllung und Durchführung des Abkommens errichtet wurde. Dadurch zwingt das Völkerrecht die Staaten zur konsequenten Verteidigung ihrer Rechte. Nur dann, wenn gegen die Verletzung einer Regel des allgemeinen Völkerrechts zu protestieren ist, kann nicht gefordert werden, dass tatsächlich jeder Staat der Welt protestiert. Das Völkerrecht begnügt sich vielmehr auch hier - wie beim Zustandekommen von Völkergewohnheitsrecht - mit der Quasi-Einstimmigkeit. Entsprechend gilt für das Völkergewohnheitsrecht (siehe oben Kap.-3.4), dass nur dasjenige Völkerrechtssubjekt, welches sich beharrlich der Geltung einer Praxis widersetzt (sog. persistent objector), die Bindungswirkung entsprechenden Gewohnheitsrechts verhindern kann. Dient der Protest hier auch nicht dazu, eine Rechtsverletzung zu rügen, sondern sich der Entstehung von Recht zu widersetzen, so wird doch in beiden Fällen das Bestreben deutlich, eine Vertrauensgrundlage für ein bestimmtes Verhalten nicht entstehen zu lassen. Anerkennung. Das Gegenteil des Protestes ist die Anerkennung. Sie bringt den Willen des erklärenden Staates zum Ausdruck, die Rechtmäßigkeit einer Situation oder eines Anspruchs nicht oder nicht mehr bestreiten zu wollen. Die wichtigsten Kategorien der Anerkennung sind bereits im Vorstehenden behandelt worden: die mit deklaratorischer Wirkung ausgestattete Anerkennung als Staat, 178 die Anerkennung als Kriegführende; 179 dazu tritt noch die Anerkennung von Sicherheitszonen nach dem Genfer Recht. 180 Die Anerkennung von Sicherheitszonen hat gemäß Art. 14 178 Vgl. oben Kap.-2.1.2. 179 Vgl. oben Kap.-2.4.5. 180 Vgl. unten Kap.-13.5.2 und 13.6.1. <?page no="226"?> 190 3. Völkerrechtsquellen der Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen 181 allerdings gegenseitig zu erfolgen, d.-h. durch eine Vereinbarung. Dadurch wird das einseitige Rechtsgeschäft der Anerkennung in ein zweiseitiges Rechtsgeschäft hineingenommen. Gelegentlich erfolgt auch die Anerkennung von Regierungen. Da innerstaatliche Veränderungen so lange unerheblich sind, wie keine Unterbrechung der Kontinuität des Völkerrechtssubjekts eintritt, hat die Anerkennung einer neuen Regierung in der Regel keine rechtliche Bedeutung. In den Fällen, in denen unklar ist, ob der Regierungswechsel die völkerrechtliche Kontinuität unterbricht oder nicht, kann die Anerkennung der Regierung die Auffassung des anerkennenden Staates von der völkerrechtlichen Kontinuität des anderen Staates zum Ausdruck bringen. Hat eine Unterbrechung der Kontinuität stattgefunden, so bedeutet die Anerkennung der Regierung in der Regel zugleich die Anerkennung als Staat. In jüngster Zeit hat die Anerkennung im Rahmen der arabischen Revolutionen an Bedeutung gewonnen. So hatte etwa die deutsche Bundesregierung am 13.6.2011 den libyschen Nationalen Übergangsrat und die französische Regierung am 20.11.2012 die syrische Oppositionsbewegung als legitime Vertreter des jeweiligen Staates anerkannt. Hierbei ist anzumerken, dass die Anerkennung von Oppositionsbewegungen durchaus eine Verletzung des Interventionsverbots darstellen kann. Ähnlich wird von der von den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union Anfang 2019 vollzogenen Anerkennung des sich zum Venezuelanischen Übergangspräsidenten erklärt habenden Oppositionspolitikers Guaidó zu sagen sein. Ein weiterer Fall der Anerkennung ist die Anerkennung von einzelnen Rechtspositionen, insbesondere Gebietserwerbstiteln. Zu beachten ist aber, dass ein unrechtmäßiger Erwerb niemals durch die Anerkennung seitens dritter Staaten rechtmäßig werden kann. Erfolgt die Anerkennung seitens desjenigen Staates, der die betreffende Rechtsposition früher innehatte, so hat sie die Wirkung einer Rechtsübertragung. Durch eine einseitige Willenserklärung kann schließlich jedes Völkerrechtssubjekt auf ihm zustehende Rechte, nicht aber auf ihm obliegende Pflichten, verzichten. Der Verzicht kann ausdrücklich oder stillschweigend, d.-h. durch konkludentes Handeln, erfolgen. Dieses konkludente Handeln ist zu unterscheiden von dem echten Stillschweigen, d.-h. dem Unterlassen eines Protests. Wie zuvor ausgeführt führt dieses Unterlassen zum Rechtsverlust und hat daher die gleiche Wirkung wie ein Verzicht. Der Verzicht durch konkludentes Handeln beruht dagegen auf Willensäußerungen des berechtigten Staates, die unabhängig davon, ob er zum Protest berechtigt ist, erkennen lassen, dass er ein ihm zustehendes Recht preisgibt. Jeder Staat kann auch auf Rechte verzichten, die ihm kraft allgemeinen Völkerrechts zustehen. Ein Verzicht beeinträchtigt jedoch die Existenz der betreffenden Regel des allgemeinen Völkerrechts nicht. Zu erwähnen ist schließlich die Zustimmung als eigene Kategorie der einseitigen Völkerrechtsakte. Das Hauptbeispiel ist die Unterwerfung unter die obligatorische Gerichtsbarkeit des IGH gemäß Art. 36 Abs. 2 des IGH-Statuts (vgl. unten Kap. 7.1.1). 181 Abgedruckt in Sartorius II, Nr.-54. <?page no="227"?> 191 3.11 Einseitige Handlungen Zudem werden teilweise auch das Versprechen 182 und die völkerrechtliche Geschäftsführung ohne Auftrag 183 zu den einseitigen Handlungen gezählt. Bezüglich des Versprechens hat der IGH im Nuclear Tests Fall entschieden, dass es auf eine Annahme gerade nicht ankommt. 184 Widerrufsvorbehalt. Einseitige Völkerrechtshandlungen sind schließlich der Widerruf und der Vorbehalt. Letzterer steht im Zusammenhang mit der Geltung völkerrechtlicher Verträge und wurde daher dort behandelt (siehe Kap. 3.3.4). Die International Law Commission hat auf ihrer 58. Sitzung der 50. Tagung im Jahr 2006 zehn kommentierte Leitlinien zu den einseitigen Akten von Staaten (Guiding Principles applicable to unilateral declarations of States capable of creating legal obligations) verabschiedet und damit ihre Arbeit zu diesem Themenbereich beendet. 185 Dabei ist zunächst festzuhalten, dass sich der Anwendungsbereich der Leitlinien auf normale Erklärungen, welche mit dem Willen abgegeben werden, rechtliche Verpflichtungen zu erzeugen, beschränkt. Nach den Leitlinien sind einseitige Erklärungen, die im Widerspruch zu einer zwingenden Völkerrechtsnorm stehen, nichtig. Weitere Bestimmungen betreffen die fehlende Bindungswirkung gegenüber anderen Staaten und den Widerruf. Die Materie ist innerhalb der ILC äußerst umstritten. Insofern handelt es sich bei den jetzt erzielten Leitlinien um einen Minimalkonsens, der sich auf die Rechtsprechung internationaler Gerichte stützt, freilich nach der Intension der ILC selbst der Generalversammlung lediglich zur Kenntnisnahme unterbreitet wurde. 182 P. Daillier/ A.-Pellet, Droit international public, 7.-A., 2002, Rn.-237; W. Graf Vitzthum, in: W. Garf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8.-A., 2019, 1. Abschn., Rn.-149. 183 M. Herdegen, Zur Geschäftsführung ohne Auftrag (negotiorum gestio) im Völkerrecht, in: FS Doehring, 1989, 303ff. 184 IGH, Nuclear Tests (Australia v. France), Urteil vom 20.12.1974, ICJ Reports 1974, 253, §-50. 185 Abgedruckt in Yearbook der ILC 2006, II, Part Two. <?page no="229"?> 4. Völkerrecht und innerstaatliches Recht Einführende Literatur: Will, Martin, Völkerrecht und nationales Recht, JURA 37 (2015), 1164ff. 4.1 Die Theorien zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht und ihre praktischen Auswirkungen Betrachtet man die Frage des Verhältnisses von Völkerrecht zum nationalen Recht, so ist bereits zu Beginn die Fragestellung auf die für die Praxis wesentlichen Grundzüge zu reduzieren. Es geht nämlich insbesondere um die Frage, inwieweit Völkerrecht in der innerstaatlichen Rechtsordnung zu beachten ist und sodann um die Frage, welchen Rang das Völkerrecht in der nationalen Rechtsordnung einnimmt. Nachfolgend soll diesen Fragen zunächst einmal allgemein nachgegangen werden, bevor spezifisch auf die deutsche Rechtsordnung einzugehen ist. Das Verhältnis vom Völkerrecht zur nationalen Rechtsordnung lässt sich im Kern als monistisch oder dualistisch beschreiben. Dabei geht es aber-- und dies ist als wesentlich zu betonen - jeweils um die Einstellung des nationalen Verfassungsrechts zum Völkerrecht. Es geht jeweils nicht um die Frage, diese Fragestellung aus der Sicht des Völkerrechts zu beantworten, welches die Verhältnisbestimmung den Staaten überlässt. Dementsprechend kann das Völkerrecht als eine in sich geschlossene Rechtsordnung bezeichnet werden. Es definiert seine Subjekte und deren Rechte und Pflichten, hat seine eigenen Rechtserzeugungsmethoden, dehnt sich auf immer weitere Tätigkeitsbereiche seiner Subjekte aus und verfügt über Verfahrensweisen und Streitschlichtungsmechanismen. Die Frage nach dem Verhältnis dieser in sich geschlossenen Rechtsordnung zu den Rechtsordnungen der einzelnen Staaten lässt sich deshalb kaum von der Frage nach dem Geltungsgrund des Rechts trennen. Deshalb weisen die Theorien über das Verhältnis zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht ebenso viele Spielarten auf wie die Meinungen über den Geltungsgrund (zu letzterem siehe oben Kap. 1.2). In groben Zügen geht es jeweils um die Grundfrage, ob Völkerrecht und staatliches Recht als einheitliche Rechtsordnung zu betrachten sind (sog. monistische Lehre) oder als jeweils (mehr oder minder) autonome Rechtsordnungen (sog. dualistische Lehre). Hier können jedenfalls vier Theorien zum Verhältnis zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht unterschieden werden, wobei in der aktuellen Praxis ein „gemäßigter Dualismus“ vertreten wird. 4.1.1 Die monistische Theorie mit Primat des innerstaatlichen Rechts Monismus. Nach der monistischen Theorie ist das Völkerrecht nichts anderes als ein äußeres Staatsrecht, d.-h. reiner Ausdruck des Willens der Staaten. Monistisch ist diese Theorie insofern, als dass sie nur das innerstaatliche Recht als Grundlage der Rechtsverpflichtung anerkennt. Das Völkerrecht ist nach dieser Theorie keine selbständige, sondern eine abgeleitete Rechtsordnung. Untersucht man aber diese Ableitung näher, so erkennt man, dass es sich hier nicht um eine monistische, sondern um eine pluralistische Theorie handelt, denn die Ableitung des Völkerrechts erfolgt zwangsläufig aus sehr vielen verschiedenen innerstaatlichen Rechtsordnungen. Einer der <?page no="230"?> 194 4. Völkerrecht und innerstaatliches Recht Hauptvertreter der monistischen Theorie hat dies selbst herausgestellt: „Jeder Satz des Völkergewohnheitsrechts hat so viele Geltungsgründe, als sich Staaten zu seiner Geltung bekennen; es ist verankert im staatlichen Recht und ein Stück desselben.“ 1 Da der Geltungsgrund des Völkerrechts damit im innerstaatlichen Recht gesehen wird, wird auch die Vorrangfrage im Sinne eines Primats des innerstaatlichen Rechts verstanden. Monismus Dualismus (gemäßigt) ▶ Primat des innerstaatlichen Rechts ▶ Primat des Völkerrechts ▶ Adoptionslehre ▶ Transformationslehre ▶ Vollzugslehre 4.1.2 Die monistische Theorie mit Primat des Völkerrechts Nach dieser Theorie ist das Völkerrecht die ursprüngliche Rechtsordnung, aus der sich das innerstaatliche Recht ableitet. 2 Entsprechend wird dem Völkerrecht eine Vorrangstellung im Verhältnis zum innerstaatlichen Recht eingeräumt. Kollidieren die Rechtsordnungen, dann setzt sich das Völkerrecht durch. 4.1.3 Die dualistische Theorie Dualismus. Nach dieser Theorie hingegen sind Völkerrecht und innerstaatliches Recht autonome Rechtsordnungen, die auf verschiedenen Ebenen stehen, so dass es unmöglich ist, ein theoretisches Über- und Unterordnungsverhältnis zu konstruieren. Vielmehr bestehen Rechte und Pflichten auf beiden Rechtsebenen, und es ist Aufgabe der juristischen Theorie und Praxis, Pflichtenkollisionen zu vermeiden bzw. die daraus entstehenden Konflikte zu lösen. 3 An die dualistische Theorie schließt sich das im Folgenden zu erörternde Problem der Transformation an. 4.1.4 Der gemäßigte Dualismus Schon vor Jahrzehnten betrachtete man den Streit zwischen diesen Theorien, der ein halbes Jahrhundert lang die Völkerrechtsdogmatik bewegt hatte, als in der Gegenwart praktisch bedeutungslos. 4 Aber gerade in neuerer Zeit ist aus konkreten Anlässen heraus das Verhältnis zwischen 1 H.-Pohl, Völkerrecht und Außenpolitik in der Reichsverfassung, 1929, 4; ebenso M.-Wenzel, Juristische Grundprobleme I - Der Begriff des Gesetzes, 1920, 387; A.- Zorn, Grundzüge des Völkerrechts, 2.- A., 1903, 300ff. 2 Hauptvertreter dieser Theorie ist Hans Kelsen; vgl. H.- Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 2.-A., 1928; ders., Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, ZaöRV 19 (1958), 234ff.; ders., Vom Geltungsgrund des Rechts, in: FS Verdross, 1960, 157ff. 3 Hauptvertreter und eigentlicher Begründer der dualistischen Theorie ist Heinrich Triepel; vgl. H.-Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899. 4 Vgl. H.-Wagner, Monismus und Dualismus; eine methodenkritische Betrachtung zum Theorienstreit, AöR 89 (1964), 212ff. <?page no="231"?> 195 4.1 Die Theorien zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht innerstaatlichem Recht und Völkerrecht wieder analysiert worden. 5 Dabei wurde auch die aktuelle Praxis durchleuchtet und im Ergebnis mit dem Schlagwort „gemäßigter Dualismus“ gekennzeichnet. 6 Eine Staatenpraxis, die von der wesensmäßigen Verschiedenheit der beiden Rechtsordnungen bei gleichzeitiger Ablehnung eines absoluten Über- und Unterordnungsverhältnisses ausgeht, steht vor der Notwendigkeit, völkerrechtliche Normen in innerstaatliches Recht umzusetzen, wenn sie im innerstaatlichen Bereich vollzogen werden sollen. Auch hierzu sind in der Völkerrechtslehre verschiedene Theorien entwickelt worden, denen sich jeweils die Staatenpraxis einzelner Länder angeschlossen hat. Aus England, dessen Völkerrechtspraxis bis zum Ende des 19.-Jahrhunderts von überragender Bedeutung für die gesamte Entwicklung des Völkerrechts war, stammt die Adoptionstheorie, auch Inkorporationstheorie genannt. Die auch heute noch im angelsächsischen Bereich oft zitierte Formel „international law is part of the law of the land“ geht auf Blackstone zurück. 7 Sie besagt, dass das Völkerrecht automatisch Bestandteil des innerstaatlichen Rechts ist. So haben die britischen Gerichte häufig auf Grund von Völkerrecht entschieden, ohne zu prüfen, ob die betreffende Völkerrechtsnorm in innerstaatliches Recht umgesetzt worden ist. Hier ist darauf hinzuweisen, dass durch diesen Grundsatz auch der Einfluss des betreffenden innerstaatlichen Rechts auf das Völkerrecht gestärkt wird, denn es liegt nahe, dass die Gerichte bei der Interpretation von Völkerrechtsnormen das Rechtsverständnis ihres eigenen Landes mit einfließen lassen. 8 Seit dem 19.-Jahrhundert hat sich die völkerrechtsfreundliche Haltung der angelsächsischen Praxis allerdings gewandelt. Heute gelten Normen des Völkergewohnheitsrechts nur dann als innerstaatliches britisches Recht, wenn sie britischen Gesetzen nicht widersprechen. Verträge werden erst durch einen Transformationsakt britisches Recht. Der dualistischen Konzeption vom Verhältnis zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht entspricht die Transformationslehre. Sie besagt, dass die völkerrechtlichen Normen zum Zwecke des innerstaatlichen Vollzugs in das Recht des betreffenden Staates umgewandelt werden müssen und sich dabei wesensmäßig verändern. Diese Veränderung ist es, die den Namen Transformation rechtfertigt. Es handelt sich nicht um einen bloßen Akt der Verschiebung einer Rechtsnorm von der völkerrechtlichen auf die innerstaatliche Ebene, sondern um eine echte Verwandlung. Gerade hieran hat sich aber ein rechtsdogmatischer Streit entzündet. Mit Skepsis wird gefragt, ob eine solche wesensmäßige Verwandlung von Völkerrecht in innerstaatliches Recht nötig und möglich ist. Eine gemäßigte Transformationstheorie will das Kriterium der inhaltlichen Verwandlung der Rechtsnormen in den Hintergrund treten lassen. 9 5 Vgl. D.-Thürer, Völkerrecht und Landesrecht, SZIER 9 (1999), 217ff.; W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967; H.-W. Arndt, Völkerrecht und deutsches Recht, in: FS Rudolf, 2001. 6 W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967, 141ff. 7 W. Blackstone, Commentaries on the Laws of England, 1769, Book IV, Chap. 5, Nachdruck 1966, 67; Blackstone selbst gebrauchte allerdings noch nicht die Bezeichnung „international law“, sondern sprach vom „Law of Nations“. 8 Hierzu U. Scheuner, L’influence du droit interne sur la formation du droit international, RdC 68 (1939/ II), 99ff. 9 So z.B. W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967, 159, 164. <?page no="232"?> 196 4. Völkerrecht und innerstaatliches Recht Daneben erfreut sich die Vollzugslehre einer wachsenden Beliebtheit. Diese Theorie verkennt nicht, dass die innerstaatliche Anwendung völkerrechtlicher Normen eines staatlichen Rechtsaktes bedarf, sie sieht aber die Bedeutung dieses Rechtsaktes nur darin, dass er Völkerrecht für innerstaatlich vollziehbar erklärt. Eine Inhaltsänderung der völkerrechtlichen Norm tritt nach dieser Theorie durch den Umsetzungsakt nicht ein. 10 Während das Bundesverwaltungsgericht der Transformationslehre anhängt, 11 ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht sehr explizit. Teilweise scheint es indes der Vollzugslehre (dazu sogleich) zuzuneigen. 12 Die modernen Verfassungen enthalten Vorschriften über das Verhältnis des Völkerrechts zur Rechtsordnung ihres eigenen Landes. Man wird dabei Österreich, 13 die Schweiz, 14 Frankreich 15 und die USA 16 eher dem Monismus zurechnen können. Das bedeutet etwa, dass es in den Verfassungsordnungen eine Norm gibt, die das internationale Recht in die Rechtsordnung überführt. 17 Diese Vorschriften des positiven Rechts sind von allen Organen des betreffenden Landes zu beachten, sie beenden dennoch den Theorienstreit nicht. Auch in der Bundesrepublik Deutschland, über deren einschlägige Verfassungsbestimmungen im folgenden Abschnitt zu sprechen sein wird, wird darüber gestritten, welche Grundauffassung vom Verhältnis zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht in diesen Vorschriften zum Ausdruck kommt. Die herrschende Meinung neigt zu der Formel vom „gemäßigten Dualismus“. Wie im Vorstehenden ausgeführt, besagt diese Formel jedoch noch nichts darüber, in welcher Weise die auf der Grundlage dieser Theorie notwendige Umsetzung von Völkerrecht in innerstaatliches Recht bewirkt wird. In dieser Beziehung werden die einschlägigen Grundgesetzartikel zum Teil als echte Transformation, zum Teil als Grundlage eines Vollzugsbefehls interpretiert (hierzu unten Kap. 4.2). Das Völkerrecht selbst enthält keine Normen über sein Verhältnis zum innerstaatlichen Recht und über die Art und Weise, wie die Völkerrechtsnormen in innerstaatliches Recht umzusetzen sind, sofern sich die Praxis des betreffenden Staates zur dualistischen Theorie bekennt. Das Völkerrecht kennt nur eine Grundnorm, die von allen Staaten beachtet werden muss: Kein Staat darf sich der Erfüllung seiner völkerrechtlichen Pflichten durch den Hinweis auf sein innerstaatliches Recht - einschließlich des Verfassungsrechts - entziehen (vgl. Art.-27 WVK). Ist also ein Staat zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen völkerrechtlich verpflichtet - sei es auf Grund von 10 So K.J.- Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, BDGVR 6 (1964), 22; Partsch referiert über die Ergebnisse einer Studienkommission der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht; vgl. auch BVerfGE 90, 286, 364; in dieser Entscheidung scheint sich eine Tendenz des BVerfG hin zur Vollzugslehre anzudeuten. 11 BVerwG 95, 42, 49. 12 BVerfGE 111, 307, 316. 13 Siehe C. Grabenwarter, Völkerrecht, Recht der EU und nationales Recht, in: A. Reinisch (Hg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. I, 5. A., 2013, 111. 14 Siehe Fassbender, Völkerrecht und Landesrecht, AJP 4 (2014), 437. 15 Vgl. P. Puig, RTDciv. 2001, 749; B. Beigeritz, Recueil Dalloz 2001, 1636. 16 Vgl. der insbesondere auch darauf hinweist, dass sich dieses Verständnis gerade wandelt P. Dubinsky, International Law in the Legal System of the United States, AJCL 58 (2010), 455ff., 468. 17 Vgl. etwa Artikel VI, para. 2 der US-Verfassung. <?page no="233"?> 197 Völkergewohnheitsrecht oder sei es auf Grund eines Vertrages - so hat er seine Pflicht zu erfüllen. Erfordert diese Pflichterfüllung den Erlass oder die Änderung innerstaatlicher Gesetze oder Rechtsverordnungen, so ist der Staat zu entsprechendem gesetzgeberischen Handeln verpflichtet. Ist er dazu nicht in der Lage, weil die Verfassung den Erlass solcher Rechtsvorschriften verbietet oder weil der amtierenden Regierung die erforderliche parlamentarische Mehrheit fehlt, so muss der Staat das von den Vertragspartnern in ihn gesetzte Vertrauen enttäuschen. Hierbei gerät er jedoch nicht in die völkerrechtliche Verantwortung. Mangels einer völkerrechtlichen Pflicht zur Ratifikation von Verträgen entsteht auch keine völkerrechtliche Haftung. Insofern mag er immerhin versuchen, durch die Erklärung eines Vorbehalts bei der Vertragsunterzeichnung (siehe dazu oben Kap.-3.3.4), ein solches Vertrauen erst gar nicht entstehen zu lassen. In der Regel enthalten auch die Verfassungen Vorschriften, die dazu beitragen sollen, diese für den Staat problematische Situation zu vermeiden. Ausnahmsweise kann die Verletzung einer Bestimmung von innerstaatlichem Recht im Zusammenhang mit dem Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages Berücksichtigung finden, wenn die Verletzung offenkundig war und eine innerstaatliche Rechtsvorschrift von grundlegender Bedeutung betraf (vgl. Art.-46 WVK). Die Umsetzung von Völkerrecht in innerstaatliches Recht ist aber nicht das einzige Problem der Staatenpraxis in Bezug auf das Verhältnis von Völkerrecht zu innerstaatlichem Recht. Sie betrifft nur die bewusste Realisierung völkerrechtlicher Pflichten und Rechte auf innerstaatlicher Ebene. Daneben besteht noch das Problem der Beurteilung völkerrechtsrelevanter Akte der Staatsgewalt insbesondere der Gesetzgebung, die ohne spezielle Zielrichtung auf Transformation oder Vollzug völkerrechtlicher Normen gesetzt werden. Hier sind drei Möglichkeiten zu unterscheiden: 1. völkerrechtskonformes Landesrecht, 2. völkerrechtswidriges Landesrecht, 3. völkerrechtsüberschreitendes Landesrecht. Das völkerrechtskonforme innerstaatliche Recht bietet keine Schwierigkeiten. Da es mit dem Völkerrecht übereinstimmt, ist ein Konflikt zwischen Rechten oder Pflichten auf der innerstaatlichen und der völkerrechtlichen Ebene ausgeschlossen. Bei völkerrechtswidrigem Landesrecht kommt der im Vorstehenden zitierte Grundsatz zum Tragen: Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, die dem Völkerrecht widersprechen, können weder den betreffenden Staat selbst, noch die durch sein Recht verpflichteten oder berechtigten Organe und Einzelpersonen von völkerrechtlichen Pflichten entbinden oder ihnen völkerrechtliche Rechte nehmen. Wird ein anderes Völkerrechtssubjekt durch völkerrechtswidriges Landesrecht eines Staates in seinen Rechten verletzt, so kann es die Aufhebung der völkerrechtswidrigen Vorschriften verlangen. Das Gleiche gilt für völkerrechtswidrige Verwaltungsakte und Gerichtsentscheidungen. 18 Auch durch Urteile höchster Gerichte, z.- B. des Verfassungsgerichts, können völkerrechtliche Pflichten nicht modifiziert werden. 19 18 Vgl. P. Schlosser, Das völkerrechtswidrige Urteil nach deutschem Prozessrecht, Zeitschrift für Zivilprozeß 79 (1966), 164ff. 19 Mit Recht hat daher das Bundesverfassungsgericht stets die Auffassung vertreten, dass es über völkerrechtliche Verträge, die Gegenstand einer Normenkontrolle sind, nur mit innerstaatlicher Wirkung urteilen kann; vgl. BVerfGE 1, 371; 1, 413; 2, 367; 6, 295; 16, 227; hierzu O. Kimminich, Das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 93 (1968), 485, 490ff. 4.1 Die Theorien zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht <?page no="234"?> 198 4. Völkerrecht und innerstaatliches Recht Völkerrechtsüberschreitendes Landesrecht ist dasjenige innerstaatliche Recht, das - ohne gegen zwingende Normen des Völkerrechts zu verstoßen - Völkerrechtssubjekten oder anderen Rechtsträgern eine bessere Rechtsstellung einräumt als das geltende Völkerrecht. Seiner Definition nach kann es niemals völkerrechtswidrig sein. Verstößt nämlich die Einräumung weitergehender Rechte gegen zwingendes Völkerrecht, so fällt die betreffende landesrechtliche Norm unter die Kategorie des völkerrechtswidrigen Landesrechts. Völkerrechtsüberschreitendes Landesrecht kann von dem betreffenden Staat beseitigt werden, ohne dass er gegen das Völkerrecht verstößt bzw. in eine völkerrechtliche Haftung gerät. 4.2 Das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Einführende Literatur: Schmahl, Stefanie, Das Verhältnis der deutschen Rechtsordnung zu Regeln des Völkerrechts, JuS 53 (2013), 961ff. Grundgesetz und Völkerrecht. Das Grundgesetz beschäftigt sich an zwei Stellen mit der Umsetzung von Völkerrecht in deutsches Recht. Art.  GG bestimmt: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes“. In Art.  Abs.  GG wird festgelegt, dass Verträge, „welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen“, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes bedürfen. 4.2.1 Die Bindung an die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Zielsetzung des Art. 25 GG ist es, alle Träger deutscher öffentlicher Gewalt des Bundes und der Länder (Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichte) zur Beachtung und Befolgung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu verpflichten. Dabei wirft die Formulierung dieser Bestimmung einige Probleme auf. Zunächst einmal ist davon auszugehen, dass mit den in Art. 25 GG angesprochenen allgemeinen Regeln des Völkerrechts keine eigenständige Kategorie der Völkerrechtsquellen, sondern vornehmlich das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze (siehe dazu oben Kap. 3.4 und Kap. 3.5) gemeint sind. Dabei soll in dem Kriterium der Allgemeinheit zum Ausdruck kommen, dass die Regeln des Völkergewohnheitsrechts von der überwiegenden Mehrheit der Staaten akzeptiert werden. 20 Hierbei ist im Unterschied etwa zu Art. 4 der Weimarer Reichsverfassung nicht erforderlich, dass die Bundesrepublik Deutschland selbst die entsprechende Regel anerkennt. Ob hierunter auch das lokale oder partikuläre Völkergewohnheitsrecht zu zählen ist, ist streitig. 21 Neben den allgemeinen Rechtsgrundsätzen kann auch das Völkervertrags- 20 BVerfGE 15, 25, 34; dazu auch S. Hobe, Art. 25, Rn.-19ff., insbesondere Rn.-23, in: K.H.-Friauf/ W.-Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, 2019. 21 Dafür etwa C.-Tomuschat, Handbuch des Staatsrechts, Band VIII, 3. A., 2010, §-172, Rn.-13; S. Hobe, Art. 25, Rn.- 21, in: K.H.- Friauf/ W. Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, 2019; a.-a.-O.; O. Rojahn, in: I.-von Münch/ P. Kunig, GG-Kommentar, Bd.-1, 6.-A., 2012, Art. 25, Rn.-6. <?page no="235"?> 199 4.2 Das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht nach dem Grundgesetz recht, insoweit es bestehendes Völkergewohnheitsrecht kodifiziert, über Art. 25 GG als entsprechende völkergewohnheitsrechtliche Norm in den Rechtsraum der Bundesrepublik Deutschland gelangen. 22 Wie die allgemeinen Regeln des Völkerrechts in das Bundesrecht inkorporiert werden, wird dabei vom Grundgesetz offen gelassen; der Wortlaut lässt sich sowohl im Sinne der Transformationstheorie als auch im Sinne der Adoptionstheorie deuten. 23 In der Formulierung, dass „Rechte und Pflichten für die Bewohner des Bundesgebiets“ erzeugt werden, kommt zunächst der Bezug auf natürliche und juristische Personen, die sich als In- oder Ausländer im Bundesgebiet aufhalten, zum Ausdruck. Zudem beschränkt sich Art. 25 GG nicht auf rein individualgerichtete Normen, wie dies in der Lehre vertreten wird. 24 Denn wenn es Sinn der Vorschrift sein soll, die Einhaltung völkerrechtlicher Gebote im innerstaatlichen Bereich durch alle Staatsorgane zu garantieren, so wäre eine solche Einschränkung sinnwidrig. Äußerst umstritten ist schließlich die Frage, welcher Rang den über Art. 25 (in Deutschland) anwendbaren allgemeinen Regeln des Völkerrechts zukommt. Hier bietet sich eine differenzierende Betrachtungsweise an: Diejenigen Regeln des allgemeinen Völkerrechts, die als zwingendes Völkerrecht zu bezeichnen sind, genießen jedenfalls Verfassungsrang, richtigerweise aber wohl sogar „Überverfassungsrang“, da sie selbst dem Willen des Verfassungsgebers entzogen sind. Für alle anderen Regeln des Völkerrechts ist zumindest der von der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre angenommene Zwischenrang zwischen Grundgesetz und allgemeinen Gesetzen anzunehmen, 25 wobei auch hier einiges dafür spricht, diesen Regeln Verfassungsrang zuzubilligen. 26 Denn Recht, auf welches in einer Rechtsnorm verwiesen wird, muss folgerichtig auch den Rang des verweisenden Rechtssatzes haben. Somit bewirkt die Regel des Art. 25 GG eine Verpflichtung der deutschen Staatsorgane, das Bundesrecht entsprechend dem allgemeinen Völkerrecht zu gestalten, dem Völkerrecht widersprechendes Recht nicht anzuwenden bzw. es völkerrechtskonform auszulegen und anzuwenden. Alle Völkerrechtsnormen, die nicht generell durch Art. 25 GG transformiert werden, bedürfen zu ihrer Umsetzung in innerstaatliches deutsches Recht eines besonderen Transformationsaktes (Spezialtransformation). Das Grundgesetz sagt an keiner Stelle ausdrücklich, wie diese Spezialtransformation vollzogen wird. Art. 59 Abs. 2 GG bestimmt lediglich, dass Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften (Bundestag und Bundesrat) in der Form eines Bundesgesetzes bedürfen. 22 So etwa S. Hobe, Art. 25, Rn.- 26, in: K.-H.- Friauf/ W. Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum GG, Loseblatt, 2019; a.a.O.; O. Rojahn, in: I.-von Münch/ P. Kunig, GG-Kommentar, Bd.-1, 6.-A., 2012, Art. 25, Rn.-10; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 6.-A., 2013, 155. 23 So jedenfalls das BverfG, E 46, 342, 403. 24 Etwa von P. Kunig, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8.-A., 2019, 2. Abschn., Rn.-148. 25 P. Kunig, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelsß (Hg.) Völkerrecht, 8.-A., 2019, 2. Abschn., Rn.-152; T. Stein/ C. von Buttlar/ M. Kotzur, Völkerrecht, 14. A., 2017, Rn.-201. 26 Dafür etwa A.-Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, DÖV 49 (1996), 137ff.; R. Streinz, in: M.-Sachs, GG-Kommentar, 8.-A., 2018, Art. 25, Rn.-85ff.; R. Herzog, Hierarchie der Verfassungsnormen und ihre Funktion beim Schutz der Grundrechte, EuGRZ 17 (1990), 483ff., 486; S. Hobe, Art. 25, Rn.-34, in: K.-H.-Friauf/ W. Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, 2019. <?page no="236"?> 200 4. Völkerrecht und innerstaatliches Recht Die Formulierungen werden in der Praxis so weit interpretiert, dass die meisten völkerrechtlichen Verträge der Bundesrepublik darunter fallen. 4.2.2 Die Transformation von Völkervertragsrecht in deutsches Bundesrecht Der verfassungsrechtliche Zweck von Art. 59 Abs. 2 GG ist zwar nur die Garantie der Zustimmung oder Mitwirkung des Parlaments und der Ländervertretung, soweit die Zustimmung der letzteren nach dem Grundgesetz erforderlich ist. Aber nach einhelliger Meinung wird in dem Zustimmungsgesetz zugleich der Transformationsakt gesehen, der notwendig ist, um einen völkerrechtlichen Vertrag innerstaatlich in Kraft zu setzen. Deshalb wird zusammen mit dem Zustimmungsgesetz der Text des Vertrages im Bundesgesetzblatt (Teil II) veröffentlicht. Die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle richtet sich zwar formell gegen das Zustimmungsgesetz, erfasst aber materiell den Inhalt des Vertrages, da nur nach dem Inhalt beurteilt werden kann, ob die Inkraftsetzung des Vertrages verfassungswidrig ist oder wäre. Ausnahmsweise ist im Falle der Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen die Normenkontrollklage bereits vor der Ausfertigung des Gesetzes zulässig, sobald das Gesetz vom Bundestag verabschiedet worden ist, da ansonsten bereits eine Bindung eintritt und keine Möglichkeit mehr bestünde, das Gesetz nachträglich anzugreifen. 27 Das Gleiche gilt für Verfassungsbeschwerden gegen Zustimmungsgesetze. 28 Das Bundesverfassungsgericht hat aus verschiedenen verfassungsrechtlichen Bestimmungen (Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 24 - 26, Art. 59 Abs. 2) den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes abgeleitet. Nach der Rechtsprechung des Gerichtes sind damit deutsche Verfassungsorgane verpflichtet, neue Völkerrechtssnormen zu befolgen und alles zu tun, damit Verletzungen des Völkerrechts unterbleiben. Zudem sind durch deutsche Verfassungsorgane begangene Völkerrechtsverstöße umgehend zu korrigieren. Auch sollen deutsche Verfassungsorgane das Völkerrecht besonders dann zur Geltung bringen, wenn andere Staaten es verletzen. 29 Eine weitere Ausprägung der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ist der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Interpretation der einfachen Gesetze. 30 Das bedeutet etwa, dass in Fällen existierender Normenkollision davon auszugehen ist, dass der deutsche Gesetzgeber sich nicht in Widerspruch zu völkerrechtlichen Bindungen setzen wollte. 31 Zudem ist der Gesetzgeber auch verfassungsrechtlich verpflichtet, die Gesetzeslage möglichst den völkerrechtlichen Verpflichtungen anzupassen. Allerdings kann der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit nicht dazu führen, dass bestehende verfassungsrechtliche Bindungen überschritten werden. So geht das BVerfG etwa davon aus, dass eine Auslegung entgegen eindeutigen Gesetzes- oder Verfassungsrechts methodisch nicht ver- 27 BVerfGE 1, 410. 28 BVerfGE 24, 53. 29 Siehe BVerfG, NJW 2016, 1296, 1300. 30 BVerfGE 6, (309, 362f.; 92, 26 48; 111, 307 317f.; 112, 124ff., näheres zum Verhältnis zwischen nationalem Recht und Völkerrecht vgl. M. Hartwig, Bericht zur völkerrechtlichen Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2013, ZaöRV 77 (2017), 1019ff., 1029ff. 31 BVerfGE 74, 358ff., 370. <?page no="237"?> 201 tretbar sei. 32 Darüber hinaus billigt das Gericht die bewusste Entscheidung des Gesetzgebers, sich über eine völkerrechtliche Verpflichtung hinwegzusetzen, das sogenannte Treaty Override. 33 Die Möglichkeit eines Treaty Override ergebe sich vor allem aus dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der parlamentarischen Diskontinuität, dem es widerspreche, wenn der Bundestag mit Zustimmung zu einem völkerrechtlichen Vertrag künftige Parlamente dauerhaft und unwiderruflich binden könne. Letztlich kann also der Grundsatz der Völkerrechtstreue bzw. -freundlichkeit nicht als absoluter Zweck an sich betrachtet werden. Was hingegen Verpflichtungen aus Menschenrechtsabkommen, namentlich solche aus der Europäischen Menschenrechtskonvention betrifft, nimmt das Bundesverfassungsgericht eine differenziertere Betrachtung vor. Grundsätzlich geht das Gericht von einer starken Bindungswirkung aus, die sich aus dem Verfassungsrecht ähnlichen Rang der EMRK ergebe. 34 Die EMRK wird dabei regelmäßig als Auslegungshilfe zur Interpretation der Grundrechte des Grundgesetzes herangezogen, wobei hier die Gewichtung unterschiedlich vorgenommen werden kann. So hat etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Persönlichkeitsrecht der Caroline von Hannover stärker gegenüber der Pressefreiheit geschützt, als dies das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung getan hat. 35 Grenzen der Übernahme eines EGMR-Urteils in das deutsche Recht hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Rechtsstreits um ein Streikrecht für Beamte aufgezeigt. 36 Hatte der EGMR ein solches Streikrecht nicht pauschal ausgeschlossen und das Bundesverwaltungsgericht dies für eine durch den Gesetzgeber und nicht durch Auslegung zu lösende Kollision mit dem Grundgesetz gehalten 37 , so hat das Bundesverfassungsgericht am Streikverbot für Beamte als hergebrachtem Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG festgehalten. Völkerrechtliche Abkommen können durch die Überprüfung des Zustimmungsgesetzes im Wege der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr.- 2 GG durch die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages überprüft werden. Zudem ist auch eine Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr.-4a GG möglich, wenn das Vertragsgesetz unmittelbar in Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte eingreift. Das Gericht hält dann die Prüfung eines Gesetzes bereits vor Ausfertigung für zulässig, wenn unmittelbar nach der Ausfertigung die Ratifikation erfolge, weil dann die Bundesregierung keinen Einfluss mehr auf die völkerrechtliche Bindung Deutschlands nehmen könne. 38 Nach Ratifikation kann das Zustimmungsgesetz des völkerrechtlichen Vertrages durch Verfassungsbeschwerde bzw. konkrete 32 BVerfGE, NJW 2016, 1295ff., 1298ff., 1300, Rn. 73f. 33 Siehe dazu R. Frau, Der Gesetzgeber zwischen Verfassungsrecht und völkerrechtlichem Vertrag, 2015. 34 Siehe etwa BVerfG, NJW 2011, 2113, 2115, RN 52 sowie Beschluss vom 05.07.2013, 2 BvR 708/ 12, RN 21. 35 Vgl. EGMR, Case of von Hannover v. Germany, 24.06.2004-- No. 59320/ 00, Rn. 50ff.; Case of von Hannover v. Germany (No. 2), 07.02.2012 - Nos 40660/ 08 und 60641/ 08, Rn. 95ff.; N. Klass, Der Schutz der Privatsphäre durch den EGMR im Rahmen von Medienberichterstattungen, ZUM-2014, 264ff., die hier schon darauf verweist, dass das BVerfG mittlerweile seine Rechtsprechung angepasst hat. 36 BVerfG NJW 2018, 2695. 37 BVerwGE 149, 117, Rn. 58 sowie NVwZ 2015, 811. 38 BVerfGE 24, 33, 53. 4.2 Das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht nach dem Grundgesetz <?page no="238"?> 202 4. Völkerrecht und innerstaatliches Recht Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG geprüft werden. Das Normverifikationsverfahren gem. Art. 100 Abs. 2 GG gilt für Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze. Stets gilt also der im Vorstehenden erwähnte Grundsatz, dass auch das Bundesverfassungsgericht den Inhalt eines völkerrechtlichen Vertrages nicht ändern kann. Insofern hat die verfassungsgerichtliche Überprüfung eines völkerrechtlichen Vertrages nur dann Sinn, wenn für die Unterhändler der Bundesrepublik Deutschland noch die Möglichkeit besteht, nach Verkündung des Urteils eine Änderung des Vertragstextes im Verhandlungswege herbeizuführen. Dies ist wiederum nur möglich, solange der Vertrag völkerrechtlich noch nicht in Kraft getreten ist, denn vom Zeitpunkt des völkerrechtlichen Inkrafttretens an gilt der Grundsatz pacta sunt servanda und die Bundesrepublik Deutschland könnte nur versuchen, einen völlig neuen Vertragsabschluss zu erreichen. Im Urteil vom 31.-Juli 1973 zum „Grundlagenvertrag“ mit der DDR hat das Bundesverfassungsgericht auf diese Lage hingewiesen und die Ratifizierung des Vertrages vor Beendigung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens ausdrücklich gerügt. 39 Die Ratifikation ist die an den Partner des völkerrechtlichen Vertrags gerichtete Mitteilung, dass der Vertrag innerstaatlich in Kraft gesetzt worden ist. Sie wird von dem nach der Verfassung zuständigen Staatsorgan abgegeben, für die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 59 Abs. 1 GG vom Bundespräsidenten. Bei den unter Art. 59 Abs. 2 GG fallenden völkerrechtlichen Verträgen darf die Ratifizierung erst nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens, einschließlich der Ausfertigung und Verkündung im Bundesgesetzblatt, erfolgen. Die meisten völkerrechtlichen Verträge enthalten die „Ratifikationsklausel“, d.-h. die Bestimmung, dass sie völkerrechtlich erst in Kraft treten, wenn bei bilateralen Verträgen beide Vertragspartner, bei multilateralen Verträgen eine bestimmte Mindestzahl von Signatarstaaten ratifiziert haben (zu Einzelheiten siehe oben Kap. 3.3.2). Dadurch wird ein Auseinanderklaffen zwischen der völkerrechtlichen und der innerstaatlichen Rechtslage vermieden: Die völkerrechtliche Bindung tritt erst ein, wenn sichergestellt ist, dass die durch den Vertrag begründeten Pflichten durch innerstaatliches Recht oder auf Grund von innerstaatlichem Recht erfüllt werden. Völkerrechtliche Vereinbarungen, die nicht unter Art. 59 Abs. 2 S.-1 GG fallen, werden gemäß Art. 59 Abs. 2 S.-2 GG durch einen anderen Transformationsakt in innerstaatliches Recht umgewandelt, der in der Regel durch eine Publikation im Bundesanzeiger kundgemacht wird. 4.2.3 Der Grundsatz der Völker- und Europarechtsfreundlichkeit Die großzügige generelle Einbeziehung des allgemeinen Völkerrechts in das Bundesrecht mit Vorrang vor den einfachen Gesetzen gem. Art. 26 GG hat dem Grundgesetz mit Recht den Ruf einer völkerrechtsfreundlichen Verfassung eingetragen. Diese Völkerrechtsfreundlichkeit zeigt sich aber auch außerhalb der Regeln über die Umsetzung von Völkerrecht in innerstaatliches Recht. Das Grundgesetz enthält etliche Normen, die die Voraussetzung für die Kooperationsof- 39 Vgl. BVerfGE 36, 1; hierzu O. Kimminich, Das Urteil über die Grundlagen der staatsrechtlichen Konstruktion der Bundesrepublik, DVBl. 116 (1973), 657ff. <?page no="239"?> 203 fenheit Deutschlands 40 schaffen. Dazu gehört etwa gemäß Art. 23 GG 41 die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union sowie gemäß Art. 24 GG 42 die Möglichkeit einer solchen Hoheitsrechtsübertragung auf zwischenstaatliche Einrichtungen, die Eröffnung der Möglichkeit des Beitritts zu einem System der kollektiven Sicherheit und die Verpflichtung zum Beitritt zu Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Eine Sonderrolle in der Diskussion zum Verhältnis vom internationalen Recht zum innerstaatlichen Recht nimmt das europäische Unionsrecht ein, wobei dahingestellt sein kann, ob es sich hierbei um (besonderes) Völkerrecht 43 oder um eine Rechtskategorie sui generis 44 handelt. Diese Sonderrolle findet ihre Begründung in den supranationalen Wirkungen, der unmittelbaren Geltung und dem Anwendungsvorrang, die dem Unionsrecht zukommen. Diese durch Art. 23 GG und der Rechtsprechung des BVerfG auch verfassungsrechtlich gesicherte Wirkung heben das europäische Unionrecht jedenfalls aus dem „gewöhnlichen Völkerrecht“ heraus, 45 sodass die völkerrechtlichen Grundsätze nicht nahtlos übertragbar erscheinen. Es ist daher gerechtfertigt, von einem „Verfassungsverbund“ 46 zwischen europäischer und nationaler Rechtsordnung zu sprechen, welcher durch checks-and-balances gekennzeichnet ist und durch die Gerichte der verschiedenen Ebenen kontrolliert wird. 47 Anerkannt ist jedenfalls in der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union der Vorrang des Unionsrechts vor sämtlichen mitgliedstaatlichen Rechtsakten. Für die Wirkung des Unionsrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung bedeutet das, dass innerstaatliche Rechtsakte in der Regel so auszulegen sind, dass sie mit dem Unionsrecht im Einklang stehen. Soweit eine solche unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, ist das entgegenstehende nationale Recht unanwendbar. Insgesamt ist durch das europäische Unionsrecht ein eher monistisches Modell des Verhältnisses zu dem nationalen Recht zu verzeichnen. EU-Verordnungen sind ohne weiteren Umsetzungsakt in den Mitgliedstaaten anwendbar (vgl. Art. 288 Abs. 2 AEUV). Richtlinien verpflichten hingegen den Mitgliedstaat, entsprechendes ausführendes nationales Recht zu erlassen, wobei auch hier in Fällen abgeschlossener unionsrechtlicher Regelungen eine Art Direktwirkung auch von Richtlinien anzunehmen ist. 40 Vgl. dazu grundlegend K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964. 41 Vgl. die aktuellen Kommentierungen in: H.- von Mangoldt/ F.- Klein/ C.- Starck (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, 7.-A., 2018 und S. Hobe, Art. 23, in: K.-H.-Friauf/ W. Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, 2019. 42 Siehe dazu allgemein R. Streinz; Art. 24, in: M.-Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 8.-A., 2018; C.D.-Classen, Art. 24, in: H.-von Mangoldt/ F.-Klein/ C.-Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 7.-A., 2018; S. Hobe, Art. 24, in: K.-H.-Friauf/ W. Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, 2019. 43 Vgl. Übersicht in: S. Hobe, Europarecht, 9. A., 2017, §-10, Rn. 491. 44 So der EuGH in ständiger Rechtssprechung, der das Unionsrecht als autonome Rechtsordnung qualifiziert; EuGH Slg. X (1964), 1141 (Costa/ ENEL). 45 S. Hobe, Europarecht, 9. A., 2017, §-10, Rn. 499. 46 A. Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 29 (2010), 1ff. 47 Das BVerfG spricht insofern von einem Kooperationsverhältnis, BVerfGE 89, 155.; vgl. dazu: T. Michels, Die dreidimensionale Reservekompetenz des BVerfG im Europarecht - Von der Solange-Rechtsprechung zum Honeywell-Beschluss, JA 44 (2012), 515ff. 4.2 Das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht nach dem Grundgesetz <?page no="240"?> 204 4. Völkerrecht und innerstaatliches Recht Streitig ist in jüngerer Zeit vor allem die Prüfung der Grenze des Übertragbaren durch das Bundesverfassungsgericht gewesen. Spätestens seit seinem Honeywell-Beschluss 48 hat das Gericht den Anwendungsvorrang des Unionsrechts anerkannt. Es plädiert deshalb für eine eher zurückhaltende Ausübung der Ultra-vires-Kontrolle. Insbesondere in seinem Urteil zum OMT-Beschluss der Europäischen Zentralbank hatte das Bundesverfassungsgericht „gewichtige Einwände“ gegen das, ein Überschreiten der Grenzen durch die EU verneinendes, Urteil des Gerichtshofs erhoben, jedoch eine „offensichtliche“ Kompetenzüberschreitung verneint. 49 Insgesamt soll die Ultra-vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts die Wahrnehmung einer Kompetenz-Kompetenz der EU verhindern. Das Gericht spricht von einer Identitätskontrolle, der Prüfung der Grenzen des Übertragbaren. Es gehe darum, „ob die durch Artikel 79, Abs. 3 für unantastbar erklärten Grundsätze bei der Übertragung von Hoheitsrechten durch den deutschen Gesetzgeber oder durch eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union berührt werden.“ So wird etwa mit Blick auf das Demokratieprinzip dem deutschen Gesetzgeber aufgegeben sicherzustellen, „dass dem deutschen Bundestag bei einer Übertragung von Hoheitsrechten Artikel 23, Abs. 1 GG eigene Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht verbleiben und dass er in der Lage bleibt, seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung wahrzunehmen.“ 50 Schließlich ist Art.  GG 51 zu nennen mit dem Verbot des Angriffskrieges, der Kriegspropaganda und anderer Handlungen, die das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören geeignet sind, sowie dem Bekenntnis zur Einschränkung der Produktion, Beförderung und Verbreitung von Kriegswaffen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang schließlich die Normierung des Asylrechts in Art.-16a GG. Während nach allgemeinem Völkerrecht das Asylrecht ein Recht des asylgewährenden Staates ist, hat das Grundgesetz dem politisch Verfolgten ein subjektives Recht auf Asylgewährung eingeräumt, das allerdings verfahrensrechtlich begrenzt ist. 48 BVerfGE 126, 286. 49 BVerfGE 142, 123. 50 BVerfGE 142, 123. 51 Dazu R. Streinz, Art. 26, in: M.-Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 8.-A., 2018; S. Hobe, Art. 26, in: K.H.-Friauf/ W. Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, 2019. <?page no="241"?> 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen - Gewaltverbot/ Interventionsverbot/ Gegenseitigkeit/ Zusammenarbeit Wiewohl im Einzelnen die philosophische Herleitung als auch der konkrete Umfang solcher Normen, die für den Erhalt der Völkerrechtsgemeinschaft insgesamt notwendig sind, nicht ganz unstreitig ist, und dies insbesondere auch für die terminologische Einteilung in sogenannte Grundrechte und Grundpflichten der Staaten gilt, besteht doch insgesamt ein Konsens darüber, dass jedenfalls so grundlegende Rechte wie das Recht auf Gleichheit, Existenz, Unabhängigkeit, Selbstverteidigung, Souveränität und Teilnahme am zwischenstaatlichen Verkehr als Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen anzusehen sind. 1 Im Nachfolgenden sollen mit dem Gewaltverbot als der Konkretisierung der Pflicht zur Friedenserhaltung, dem Interventionsverbot als Konkretisierung des Prinzips der souveränen Staatengleichheit und dem Gegenseitigkeitsprinzip jedenfalls drei das heutige Völkerrecht in essenzieller Weise kennzeichnende Sollensgebote bzw. Strukturprinzipien näher beschrieben werden, denen mit der Pflicht der Staaten zur gegenseitigen Zusammenarbeit ein in seinen konkreten Konturen noch undeutliches weiteres Prinzip angefügt wird. Dabei wird erkennbar, dass insbesondere im Bereich des Gewaltverbots neue Herausforderungen in der Form schwerster ethnischer Konflikte (Kosovo), durch die terroristische Bedrohung seit dem 11. September 2001 oder durch den Irak-Konflikt von 2003 2 sowie die innerstaatlichen Konflikte in Libyen 2011, in Syrien ab 2012 und schließlich die Ukraine-Krise mit der gewaltsamen Besetzung der Krim im Frühjahr 2014 die Frage nach dem Wandel und einer möglichen Neuakzentuierung vieler dieser völkerrechtlichen Grundprinzipien, die für das Funktionieren der Völkerrechtsordnung essenziell sind, aufwerfen. Dies gilt nicht zuletzt auch im Hinblick auf neue Gefahren wie sog. Cyber-Angriffe. 5.1 Das Gewaltverbot als Konkretisierung der Pflicht zur Erhaltung des Weltfriedens Einführende Literatur: Schadtle, Kai, Das völkerrechtliche Gewaltverbot und seine Ausnahmen, Jura 31 (2009), 686ff. 5.1.1 Entstehungsgeschichte Wie bereits bei der Darstellung der Historie des Völkerrechts (siehe oben Kap.-1.3) deutlich wurde, ist die Herausbildung des Gewaltverbots das Ergebnis eines längeren Prozesses der Fortentwicklung des Völkerrechts. Verschiedene Etappen dieser bedeutenden Veränderung - weg vom absoluten Kriegführungsrecht der Fürsten bzw. Staaten zu Beginn der Epoche des klassischen 1 G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 3, 2.-A., 2002, 780. 2 Zur völkerrechtlichen Bewertung siehe etwa V.S. Mani, „Humanitarian“ Intervention Today, RdC 313 (2005), 254ff. <?page no="242"?> 206 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen Völkerrechts nach der Neuordnung des internationalen Systems durch den Westfälischen Frieden im Jahre 1648 und hin zum heutigen Rechtszustand - machen deutlich, dass es sich in der Tat um eine Entwicklung von nicht zu unterschätzender Bedeutung handelt. Dabei gilt auch hier wieder, sich zu verdeutlichen, dass es sich beim Gewaltverbot um ein Postulat handelt, welches zwar bedauerlicherweise immer wieder gebrochen wird, indes als (normatives) Leitmotiv der internationalen Beziehungen anzusehen ist. Galt also mit der Entstehung des modernen internationalen Systems nach dem Westfälischen Frieden von 1648 zunächst das freie Kriegführungsrecht der Fürsten (sog. liberum ius ad bellum), so zeigten sich dessen erste Fragmentierungstendenzen zum Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts, als Zar Nikolaus II. die damaligen Großmächte zu konkreten Abrüstungsschritten bewegen wollte. Die 1899 und 1907 entstandenen sog. Haager Abkommen, benannt nach dem Ort ihres Abschlusses, sahen zwar keineswegs die Abschaffung des freien Kriegführungsrechts vor, sorgten aber doch immerhin vor allem im IV. Haager Abkommen von 1907 3 und der in seinem Anhang aufgeführten Haager Landkriegsordnung (HLKO) 4 für Regeln der Kriegführung, also ein ius in bello (dazu unten Kap.-13). Dies war getragen von der Idee der Humanisierung der Kriegführung, mit der Intention, über die allmähliche Erweiterung des ius in bello auch zur Abschaffung des ius ad bellum, also des „Rechtes zum Krieg“, zu gelangen. Das II.-Haager Abkommen vom 18.-Oktober 1907 5 , welches als Drago-Porter-Konvention bekannt wurde, sah zudem in seinem Artikel 1 für den Bereich der Eintreibung von Vertragsschulden eine Beschränkung der Anwendung von Waffengewalt vor. Nach dem Ersten Weltkrieg stellte die Völkerbundsatzung (VBS) als das den Völkerbund konstituierende Vertragsdokument einen weiteren Versuch zur Beschränkung des freien Kriegführungsrechts dar. Zwar blieb es beim staatlichen Kriegführungsrecht; die Satzung erklärte aber jede Kriegführung gemäß Art.- 11 zu einer Sache des gesamten Bundes und unterwarf die Konfliktparteien dem verpflichtenden Versuch, die Streitigkeit vor der Anwendung von Waffengewalt der Schiedsgerichtsbarkeit oder dem Völkerbundsrat zu unterbreiten (Art.-12 Abs. 1 S.-1 VBS). Gegen Staaten, die sich einer Entscheidung dieser Gremien unterwarfen, durfte nicht zum Kriege geschritten werden. Und auch nach erfolglos bleibenden Versuchen zur friedlichen Streitbeilegung durfte erst nach drei Monaten zum Krieg geschritten werden (sog. cool-off-period; dazu auch Kap.-1.3.5.1). Die in Bezug auf das Kriegführungsrecht in der Völkerbundsatzung noch offen gebliebene Frage versuchte zunächst das sog. Genfer Protokoll von 1 6 mit der Anordnung eines umfassenden Kriegsverbots zu beseitigen; das Protokoll trat indes nie in Kraft. Ein Teil seiner Konzeption im Sinne der Schaffung eines Friedens- und Sanktionssicherheitssystems wurde schließlich im Locarno-Pakt vom 16. Oktober 1925 7 zu realisieren versucht, bevor erstmals der Briand-Kellogg-Pakt vom 27.-August 1928 8 ein allgemeines Kriegsverbot statuierte (dazu auch Kap.-1.3.5.1). 3 RGBl. 1910, 107. 4 RGBl. 1910, 132. 5 RGBl. 1910, 59. 6 Protokoll für die friedliche Erledigung internationaler Streitigkeiten vom 02.10.1924, siehe AJIL 19 (1925), 9. 7 RGBl. 1926 II, 583; siehe dazu umfassend M. Breuer/ N. Weiß (Hg.), Das Vertragswerk von Locarno und seine Bedeutung für die internationale Gemeinschaft nach 80 Jahren, 2007. 8 RGBl. 1929 II, 97. <?page no="243"?> 207 5.1 Das Gewaltverbot All diese Anläufe, die deutliche Ansätze zur Beschränkung des freien Kriegführungsrechts zum Inhalt hatten, konnten letztlich den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern. Jedoch war bei Gründung der Vereinten Nationen im Jahre 1945 vor diesem Hintergrund klar, dass weder Krieg noch andere Formen der Gewaltanwendung in Zukunft Mittel der internationalen Politik sein sollten. Die Charta der Vereinten Nationen normierte vielmehr in Art.-1 Ziff.-1 die Pflicht zur Erhaltung des Weltfriedens als normatives Grundprinzip. So kam es zur Aufnahme des allgemeinen Gewaltverbots in Art.- Ziff.  der UN-Charta, der in seinem sogleich näher zu beschreibenden Anwendungsbereich die Anwendung von Gewalt ausschließt, indes zwei wichtige Ausnahmen in Gestalt der staatlichen Selbstverteidigung und Maßnahmen kollektiver Sicherheit kennt. All das ist im Nachfolgenden darzustellen. Überblicksmäßig sieht das System erlaubter bzw. verbotener Gewaltanwendung nach der UN-Charta wie folgt aus: Grundsatz Ausnahmen Selbstverteidigung Art. 51 UN-Charta Kollektive Sicherheit Art. 39-50 UN-Charta Gewaltverbot Art. 2 (4) UN-Charta In jüngerer Zeit ist dabei das Gewaltverbot in fast jeglicher Beziehung in die Diskussion geraten. Dies hängt wesentlich mit der Struktur des „offenen Tatbestandes“ des Gewaltverbots zusammen, der die im Tatbestand selbst nicht näher qualifizierte „Androhung der Anwendung von Gewalt“ untersagt. Entsprechend muss für die sogleich nachzuvollziehende Konkretisierung des Tatbestandes von besonderer Bedeutung sein, wie die wesentlichen Ausnahmen vom Gewaltverbot ausgestaltet sind. Und hier sind in besonderer Weise neuere Akzentuierungen zu beobachten. So geht es etwa bei der Inanspruchnahme des Selbstverteidigungsrechts um die Qualität des Angriffs als „bewaffneter“ Angriff, um die Bestimmung des Angreifers und damit des Gegners der Selbstverteidigungsmaßnahmen und um qualitative wie auch zeitlich quantitative Schwellen, die für das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs zu fordern sind. 9 5.1.2 Anwendungsbereich Im Zuge der Aufzählung der Grundsätze der Organisation der Vereinten Nationen und ihrer Mitglieder heißt es in Art.-2 Ziff. 4 UN-Charta: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“. 9 Siehe insbesondere O. Dörr, Das völkerrechtliche Gewaltverbot und die Vereinten Nationen, in: J.-Varwick/ A. Zimmermann, Die Reform der Vereinten Nationen - Bilanz und Perspektiven, 2006, 145, 149. <?page no="244"?> 208 Im Unterschied zur Völkerbundsatzung verbietet die UN-Charta damit jede Form von Gewaltanwendung. So kann das Gewaltverbot auch dann einschlägig sein, wenn eine bewaffnete Auseinandersetzung nicht ausdrücklich als Krieg durch militärische Gewalt einsetzende Staaten charakterisiert ist. Auch Maßnahmen unterhalb der Schwelle eines Krieges können also unter das Gewaltverbot fallen. Mit anderen Worten kommt damit dem Begriff der Gewalt eine zentrale Bedeutung für die Anwendung des Gewaltverbots zu. Dabei ist unzweifelhaft, dass militärische Gewalt etwa in jeder Art der Anwendung von Waffengewalt gegen das Hoheitsgebiet oder die Streitkräfte eines anderen Staates vom Gewaltbegriff erfasst ist. Darüber hinaus fallen auch hierunter, wie der Internationale Gerichtshof im Nicaragua-Fall 10 ausdrücklich festgestellt hat, die mit Waffengewalt durchgeführten Handlungen bewaffneter Banden, Gruppen von Freischärlern oder Söldnern, die ein Staat in einen anderen Staat entsandt hat. Weiterhin können nach Auffassung des IGH auch die Unterstützung bewaffneter Banden und Rebellengruppen durch Waffenlieferungen, die logistische Unterstützung oder andere Unterstützungshandlungen als Gewaltausübung im Sinne des Gewaltverbots angesehen werden. 11 Schließlich wurde auch die Verminung von Häfen als Verstoß gegen das Gewaltverbot betrachtet. 12 Umstritten ist hingegen, ob auch die Anwendung wirtschaftlichen und politischen Drucks vom Gewaltverbot erfasst ist. Bereits die Entstehungsgeschichte spricht gegen eine solche Erweiterung des Schutzbereichs. 13 Auch hat im Nicaragua-Fall der Internationale Gerichtshof die wirtschaftlichen Maßnahmen der USA gegen Nicaragua, wie etwa die Unterbrechung der Wirtschaftshilfe im Jahre 1981, nicht unter dem Gesichtspunkt des Gewaltverbots geprüft. 14 Ob und wie in diesem Zusammenhang Hackerangriffe im Rahmen sog. „Cyberattacken“ einzuordnen sind, ist völlig offen - diskutiert wird etwa eine Qualifikation anhand der Erheblichkeit, wenn also die Auswirkung der Attacke einem bewaffneten Angriff gleichkommt. Da aber eine solche Schwelle trotz vielfältiger Vorfälle in jüngster Zeit (z.-B. „Stuxnet“) wohl noch nicht überschritten wurde, erscheint jedenfalls derzeit eher eine Einordnung im Rahmen des Interventionsverbots geboten. Art.-2 Ziff. 4 UN-Charta stellt die Androhung von Gewalt der Anwendung von Gewalt gleich. Etwa die Mobilmachung oder Truppenkonzentrationen, aber auch die Ankündigung des Raketenbeschusses können dann als Androhung von Gewalt einen Verstoß gegen Art.-2 Ziff. 4 darstellen, wenn konkret die Anwendung militärischer Gewalt in Aussicht gestellt wird. Vor der Klärung der nach dem 11. September 2001 besonders aktuell gewordenen Frage, unter welchen Umständen Terroranschläge von privaten Gruppen verbotene Gewalt im Sinne des Art.-2 Ziff. 4 darstellen können, ist zunächst festzuhalten, dass jede auf dem Gebiet eines anderen Staates ausgeübte physische Gewalt von gewisser Erheblichkeit den Tatbestand des Gewaltverbots 10 Siehe dazu unten Kap.-15.2.12. 11 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §-195. 12 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §-227. 13 UNICO III, 237; VI, 334f. 14 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §§-222ff. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="245"?> 209 verwirklicht. Freilich ergibt sich darüber hinaus als weitere Konsequenz, dass nach jedenfalls weit überwiegender Auffassung das Gewaltverbot nur von einem Völkerrechtssubjekt verletzt werden kann. 15 Im Zusammenhang mit den terroristischen Aktionen - wie zum Beispiel der Anschlag vom 11. September 2001 - stellt sich deshalb die an anderer Stelle (unten Kap.-5.1.3.7) zu erörternde Frage, ob diese Aktionen einem Staat zuzurechnen sind bzw. die Terroristengruppen eigenen Völkerrechtssubjektstatus genießen. Schließlich verbietet Art.-2 Ziff. 4 die Gewaltanwendung der Staaten nur „in ihren internationalen Beziehungen“. Damit werden zwei Konstellationen grundsätzlich vom Gewaltverbot nicht erfasst: Erstens die Gewaltanwendung innerhalb der Grenzen eines Staates, wobei es hier mittlerweile zu Fällen gekommen ist, in denen der Sicherheitsrat zumindest eine Gefahr für den Weltfrieden bejaht hat (siehe dazu unten Kap.- 5.1.4.2), und zweitens die sog. Intervention auf Einladung, also die Situation, dass eine Regierung einen ausländischen Staat um bewaffnete Hilfe bei der Bekämpfung von Aufständischen bittet, die nach herrschender Auffassung als völkerrechtlich zulässig angesehen wird. 16 Allerdings kann die Beteiligung eines Drittstaates im Wege der Hilfeleistung für Aufständische auch eine unzulässige Gewaltanwendung darstellen. Dabei hat der IGH nach der Qualität der Unterstützung unterschieden. Eine direkte militärische Beteiligung stellt einen Verstoß gegen Art.-2 Ziff. 4 dar. Die logistische Unterstützung der Aufständischen durch einen Drittstaat kann ebenfalls hierunter fallen, die Finanzierung von Aufständischen allerdings nicht. 17 Freilich können die entsprechenden Handlungen unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen das Interventionsverbot (dazu unten Kap.-5.2) relevant sein. Schließlich wurde mit der sog. Friendly Relations Declaration über die Grundsätze des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen vom 24. Oktober 1970 18 versucht, dem Gewaltverbot schärfere Konturen zu verleihen. Zwar besitzt die Deklaration als Resolution der UN-Generalversammlung keine Rechtsverbindlichkeit, sie spiegelt jedoch in bestimmten Aspekten die Rechtsüberzeugung der Staaten wider und stellt hierfür niedergeschriebenes Völkergewohnheitsrecht dar. Nach dieser Deklaration hat jeder Staat die Pflicht, jegliche gewaltsame Handlung zu unterlassen, die einem anderen Staat das Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit der Völker nimmt. In Befreiungskriegen soll nach der Deklaration den Völkern das Recht zustehen, Unterstützung für den Befreiungskampf in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der UN-Charta zu suchen und zu erhalten. Diese Deklaration hat im Dekolonisierungskontext besondere Bedeutung gehabt. Heute wird die Ausübung von Gewalt zur Verhinderung des Selbstbestimmungsrechts durch die beherrschende Macht als unzulässig angesehen. Dabei wird der neue Problemhorizont allerdings eher durch die Möglichkeit akzentu- 15 Kritsch aber C. Antonopoulos, The Turkish Military Operation in Northern Iraq of March-April 1995 and the International Law on the Use of Force, JACL 1 (1996) 33f. 16 Siehe dazu ausführlich G.-Nolte, Eingreifen auf Einladung, 1999. 17 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §-228. 18 UNGA Res. 2625 (XXV v. 24.10.1970). 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="246"?> 210 iert, Selbstbestimmung in internationalen Verhandlungsprozessen anstatt im Wege der dann nach ihrer Zulässigkeit zu beurteilenden Gewaltausübung durch das um Selbstbestimmung ringende Volk zu erlangen. 19 Auch der von der ILC erstellte sog. Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind vom 26. Juli 1996 20 kann sich bei Fragen der Anwendbarkeit des Gewaltverbots als Auslegungshilfe erweisen. Darüber hinaus sind hierzu verschiedene Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen wie etwa Resolution 678 und 687 (Irak), 748 (Libyen) oder 807 (Kroatien) heranzuziehen. Nach überwiegender Literaturauffassung und insbesondere der Auffassung des Internationalen Gerichtshofs im Nicaragua-Fall hat das Gewaltverbot nicht nur völkergewohnheitsrechtliche Qualität, sondern gehört sogar zum zwingenden Völkerrecht (sog. ius cogens). 21 Trotz der immer wiederkehrenden Verstöße gegen das Gewaltverbot kann es zu keiner anderen Beurteilung seiner Rechtsqualität kommen, da, wie auch der IGH festgestellt hat, eine allgemeine Rechtsüberzeugung der Staaten von der objektiven Unentbehrlichkeit des Gewaltverbots besteht. 22 Insofern rekurriert der IGH auf das Bestehen einer allgemeinen opinio iuris, die er vor allem aus der Friendly Relations Declaration als Artikulation dieser Rechtsüberzeugung ableitet. 23 Von seinem Aufbau und seiner Struktur aus betrachtet muss das Gewaltverbot, wie oben bereits erwähnt, weitgehend als offener Tatbestand angesehen werden. 24 Nicht von vornherein festgelegt und somit für die Interpretation offen ist etwa, was unter „Gewalt“ oder „Gewaltanwendung“ zu verstehen ist. Dies hat zur Folge, dass die normative Spannweite der Norm erst im Wege der möglichen Ausnahmen vom Gewaltverbot deutlich wird: Es ist zum einen das staatliche Selbstverteidigungsrecht und zum anderen das kollektive Interventionsrecht nach Kapitel VII der UN-Charta. Darin sowie in bestimmten Verlautbarungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen, wie etwa der bereits erwähnten Friendly Relations Declaration, und auch in bestimmten Urteilen des Internationalen Gerichtshofs sind insofern bedeutende Konkretisierungen dieses sehr weiten Tatbestandes zu erkennen. 25 19 Siehe Sicherheitsratsresolution 1042 und Resolution der Generalversammlung 52/ 52. 20 UN Doc. A/ 51/ 10 (1996). 21 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §§-188ff.; G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 3, 2.-A., 2002, 822ff.; K.-Ipsen, Völkerrecht, 7.-A., 2018, §-55, Rn.-38ff. 22 So auch G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 3, 2.-A., 2002, 822ff. 23 Kritisch dazu A.-Randelzhofer/ O. Dörr, Art.-2 (4), in: B.-Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3.-A., 2012, Rn.-63ff. 24 Zu dem Inhalt und den Grenzen des Gewaltverbots siehe etwa C. Kress, Gewaltverbot - Teil 1, Eckstein mit Grauzone, F.A.Z. Einspruch, 27.03.2019, verfügbar unter www.iipsl.jura.uni-koeln.de/ sites/ iipsl/ Lehre/ Materialien/ SS_2019/ Kriegsrecht/ Zusatz01.pdf (zuletzt aufgerufen: Dezember 2019) sowie C. Kress, Gewaltverbot - Teil 2, Die Graustufen der Gewalt, F.A.Z. Einspruch, 03.04.2019. 25 Siehe insgesamt umfassend dazu A. Randelshofer/ O. Dörr, in: B. Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3. A., 2012, Art.-2; O. Dörr, Das völkerrechtliche Gewaltverbot und die Vereinten Nationen, in: J.-Warwick/ A. Zimmermann, Die Reform der Vereinten Nationen - Bilanz und Perspektiven, 2006, 145ff. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="247"?> 211 Weil aber heute auch weitere Ausnahmen vom Gewaltverbot etwa in Form der kollektiven humanitären Intervention - ggf. sogar ohne Mandat des Sicherheitsrats - diskutiert werden (siehe Schaubild unter 5.1.1), ist nicht erstaunlich, dass die Konturen des Gewaltverbots immer undeutlicher werden. Gewaltverbot (Interpretation mit Hilfe der Friendly Relations Declaration) ▶ bewaffnet: militärisch ▶ wirtschaftlich: str. ▶ Cyber: - ▶ Terror: + ▶ innerhalb der Staatsgrenzen: - ▶ auf Einladung: - 5.1.3 Ausnahme: Das Selbstverteidigungsrecht Einführende Literatur: Greenwood, Christopher, Self-Defence (April 2011), MPEPIL (Online-Ed.). Derzeit beinhaltet die UN-Charta zwei relevante Ausnahmen zum Gewaltverbot: das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht (Art. 51) sowie Reaktionen im Bereich des Systems kollektiver Sicherheit nach Art. 39-42 UN-Charta. Die Feindstaatenklauseln der Art.-53 und 107, die den Siegermächten Handlungsfreiheit hinsichtlich des Vorgehens gegen die im Zweiten Weltkrieg besiegten Staaten (insbesondere Deutschland und Japan) und Bündnisse einräumen sollten, besitzen nach einhelliger Auffassung heute keine Bedeutung mehr. 26 5.1.3.1 Geschichte und Entwicklung des Selbstverteidigungsrechts Die historische Entwicklung des staatlichen Selbstverteidigungsrechts korreliert mit der Entwicklung des Gewaltverbots. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war angesichts des bis zu diesem Zeitpunkt noch geltenden allgemeinen Kriegsführungsrechts das staatliche Selbstverteidigungsrecht nur von geringer Bedeutung. Aber bereits der Briand-Kellogg-Pakt von 1928, der das generelle Kriegsverbot festlegte, kannte als Ausnahme das Selbstverteidigungsrecht. Insofern war Kriegführung nur zum Zweck der Selbstverteidigung rechtmäßig. Zwar hat unter der UN-Charta mit der Statuierung des weitreichenden Gewaltverbots das staatliche Selbstverteidigungsrecht neben dem kollektiven Sicherungsmechanismus nach Art.-39ff. der Charta den Charakter einer von zwei Ausnahmen vom Gewaltverbot. Dennoch muss im Hinblick auf die Praxis seit 1945, die über lange Zeit das System kollektiver Sicherheit angesichts der gegenseitigen Paralyse der Großmächte im Sicherheitsrat nicht wirksam zur Entstehung kommen ließ, davon ausgegangen werden, dass das staatliche Selbstverteidigungsrecht nach wie vor die zentrale Ausnahme für die Anwendung zwischenstaatlicher Gewalt darstellt. 26 Dazu etwa M. Wood, United Nations Charter, Enemy States Clauses (September 2006), MPEPIL (Online-Ed.). 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="248"?> 212 5.1.3.2 Der Tatbestand des Art. 51 UN-Charta Der Tatbestand der Selbstverteidigung setzt als wesentliche Voraussetzung einen bewaffneten Angriff („armed attack“) gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen voraus. Als bewaffnete Angriffe sind in der Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung vom 14.-Dezember 1974 27 beispielhaft die Beschießung oder Bombardierung des Hoheitsgebietes eines Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates, die Blockade der Häfen oder Küsten eines Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates und ein Angriff eines Staates durch die Land-, See- oder Luftstreitkräfte oder die See- und Luftflotte eines anderen Staates genannt. Einwirkungen auf einen Staat, die unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs liegen - was nach h.M. anhand der Intensität der Gewaltanwendung zu beurteilen ist 28 - lösen das Selbstverteidigungsrecht nicht aus, selbst wenn sie gegen wesentliche Rechte des angegriffenen Staates gerichtet sind. 29 Die Versuche während der Völkerbundzeit, die tatbestandliche Unklarheit des Begriffs „armed attack“ durch eine Definition zu füllen, und entsprechende Versuche der Vereinten Nationen, namentlich der ILC sowie eines Sonderausschusses der Generalversammlung, endeten in der Aggressionsdefinition 3314 (XXIX) der Generalversammlung vom 14. Dezember 1974. Bei Heranziehen der Aggressionsdefinition ist allerdings zu berücksichtigen, dass dort vom sog. „act of aggression“ im Sinne des Art.-39 der UN-Charta und nicht ausdrücklich vom Begriff der „armed attack“, wie er in Art.-51 verwendet wird, die Rede ist. 30 Auch das Nicaragua-Urteil des Internationalen Gerichtshofs hat bezüglich dieser semantischen Differenz keine Klärung erbracht, wenn dort der Gerichtshof in allgemeinen Worten einen generellen Konsens über die Natur solcher Handlungen, die als bewaffnete Angriffe behandelt werden sollten, referiert. Allerdings hat der IGH ausdrücklich Grenzzwischenfälle nicht als bewaffnete Angriffe bezeichnet. 31 Die Bezugnahme des IGH auf die Aggressionsdefinition gibt dabei allgemeine Hinweise auf die Konkretisierung des Merkmals des „bewaffneten Angriffs“. Insgesamt ist allerdings festzuhalten, dass die Kontur dieses für das Vorliegen der Voraussetzungen staatlicher Selbstverteidigung entscheidenden Tatbestandsmerkmals bis heute nicht völlig randscharf zu Tage getreten ist. Typischerweise wird die Aggressionsdefinition aber als Festlegung des Kernbereichs des bewaffneten Angriffs verstanden und entsprechend herangezogen. Insgesamt ist festzustellen, dass der Tatbestand der Selbstverteidigung durch die unklare Begrifflichkeit des „bewaffneten Angriffs“ undeutlich ist und deshalb weitgehend von in der Praxis bzw. der Rechtsprechung getroffenen Interpretationen konkretisiert wird. Folgende Konkretisierungen scheinen heute allgemein anerkannt: 27 UNGA Res. 3314 (29). 28 Dazu K.-Kersting, „Act of Aggression“ and „armed attack“, NZWehrR 23 (1981), 130ff.; G.-Meier, Der Begriff des „bewaffneten Angriffs“, AVR 16 (1973), 373ff.; a.A. K.-Ipsen, Völkerrecht, 7.-A., 2018, §-55, Rn.-19; A. Randelzhofer/ G. Nolte, in: B. Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, Art.-51, Rn.-6. 29 Zur Diskussion der möglicherweise differierenden Anwendungsbereiche von Art.-2 Ziff. 4 und Art.-51 siehe A.-Randelzhofer, in: B. Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3.-A., 2012, Art.-51, Rn.-6ff. 30 Siehe auch die travaux préparatoires, die bestätigen, dass eine Definition des bewaffneten Angriffs nicht beabsichtigt war, dazu A.-Randelzhofer, in: B. Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3.-A., 2012, Art.-51, Rn.-17. 31 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §-195. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="249"?> 213 Der „bewaffnete Angriff “ stellt die - gemessen an dem Ausmaß der Gewalt und ihrer Wirkung - massive militärische Gewaltanwendung dar. 32 Dieser bewaffnete Angriff muss von außen auf das Gebiet eines Staates, nicht etwa aus dem vom Staat selbst beherrschten Gebiet kommen. 33 Zudem dürfte anerkannt sein, dass auch private Gewaltanwendung, wenn sie das Ausmaß einer staatlichen Militäraktion erreicht, ein bewaffneter Angriff sein kann. Dies scheinen nämlich die Prämissen der Sicherheitsrats-Resolutionen 1368 (2001) 34 und 1373 (2001) 35 zu sein. 36 Das hat allerdings nach wie vor wohl zur Folge, dass die Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung nur gegen einen anderen Staat unter der Voraussetzung möglicher Zurechnung zu richten ist. Die Entsendung von Gewalttätern, wie auch die Gewährung von Unterschlupf (sog. safe haven) machen einen Staat zum Angreiferstaat. 5.1.3.3 Grenzen des Art. 51 UN-Charta Nach dem soeben Gesagten kommt sowohl der Grenzziehung der Selbstverteidigung für das tatbestandliche Vorliegen als auch die Frage nach dem Umfang des Selbstverteidigungsrechts auf der Rechtsfolgenseite große Bedeutung zu. Nach bisher herrschender Auffassung ist die Selbstverteidigung nur zulässig, wenn sie zeitlich unmittelbar auf den bewaffneten Angriff erfolgt und verhältnismäßig ist. Dabei ist insbesondere das Unmittelbarkeitskriterium, welches oft auch unter dem Stichwort der Gegenwärtigkeit abgehandelt wird, heute in einem gewissen Erosionsprozess begriffen. Schon früher war allerdings anerkannt, dass das Kriterium nicht in völliger Striktheit anzuwenden ist. Notwendige militärische Vorbereitungsmaßnahmen für die Verteidigung konnten regelmäßig ergriffen werden, bevor zur Verteidigung angesetzt wurde. Das Verhalten der Vereinigten Staaten nach einem der Terrororganisation Al Qaida von Osama bin Laden zugerechneten Anschlag auf die amerikanische Botschaft in Kenia - als die USA erst etliche Zeit später zum Gegenschlag ausholten - ließ nun bereits angesichts nur verhaltener vereinzelter Proteste gewisse Zweifel an einem zeitlich strikt verstandenen Unmittelbarkeitskriterium aufkommen. Und auch nach den terroristischen Angriffen vom 11. September 2001 sprachen die Handlungen der Vereinigten Staaten, die ihre Luftoperation gegen Afghanistan erst am 7. Oktober 2001 begannen, gegen die ursprüngliche Auffassung. Die bisherige Ansicht zur Begründung des Unmittelbarkeitskriteriums war nämlich auf den bekannten Caroline-Fall gegründet, der auch heute noch als Ausgangspunkt des geltenden Rechts verstanden wird. Der damalige amerikanische Außenminister Daniel Webster hatte im Jahre 1837 die Voraussetzung der Selbstverteidigung auf die Formel gebracht, dass die Notwendigkeit der Selbstverteidigung 32 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §§-191, 195, siehe dazu auch unten Kap.-15.2.12; IGH, Oil Platforms (Iran v. USA), Urteil vom 6.11.2003, ICJ Reports 2003, 161, §§-51 und 65. 33 IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Gutachten vom 9.7.2004, ICJ Reports 2004, 136, §-139; siehe dazu auch unten Kap.-15.2.18. 34 Siehe Präambel Abs. 3. 35 Siehe Präambel Abs. 4. 36 Siehe dazu insgesamt H.-G. Dederer, Krieg gegen Terror, JZ 59 (2004), 421, 424-426. 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="250"?> 214 „instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation“ sein müsse. 37 Im Caroline-Fall hatten britische Streitkräfte im Dezember 1837 den in einem US-amerikanischen Hafen in der Nähe der Niagara-Fälle vor Anker liegenden Dampfer Caroline zerstört, der von Sympathisanten eines in Kanada gegen die britische Herrschaft angezettelten Aufstandes dazu benutzt worden war, die Aufständischen mit Waffen und kampfbereiten Mannschaften zu unterstützen. Großbritannien berief sich gegenüber den USA zur Rechtfertigung seines Handelns auf Selbstverteidigung. Wann liegt also die von der Caroline-Formel erfasste Situation vor? Zur Beantwortung dieser Frage wird heute in diesem Zusammenhang das Argument vorgetragen, einerseits dürfe ein Angreifer durch sein Verhalten nicht allein die Regeln des Spieles bestimmen und andererseits müsse dem Angegriffenen ein gewisser Ermessensspielraum hinsichtlich der Art und Weise seiner Verteidigung zugestanden werden. 38 So wird nunmehr etwa das Vorgehen der USA gegen die terroristische Bedrohung nach dem 11. September 2001 als Selbstverteidigung unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt, sie hätten gute Gründe gehabt, zunächst eine Allianz gleichgesinnter Staaten zu bilden, um ihrer Verteidigung eine kollektive Grundlage zu geben und auch erst abzuwarten, ob die Taliban-Führung effektive Schritte unternehme, um sich von den Taten der Terroristen zu distanzieren. 39 Dies alles läuft auf ein gewandeltes, weniger wörtliches Verständnis des Unmittelbarkeitskriteriums hinaus. Tatbestandliche Voraussetzungen der Selbstverteidigung 1. Bewaffneter Angriff ▶ durch Staat ▶ Problemfall: durch private Akteure 2. Gegenwärtigkeit des Angriffs ▶ (Unmittelbarkeitskriterium: Caroline-Formel) 3. Verhältnismäßigkeit der Selbstverteidigung (ICJ im Nuclear Test-Fall) ▶ Erforderlichkeit ▶ Angemessenheit 4. Unmittelbare Anzeige an den Sicherheitsrat (zeitliche Begrenzung? ) Darüber hinaus müssen Selbstverteidigungsmaßnahmen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Sie müssen also insbesondere erforderlich und im Hinblick auf das angestrebte Ziel angemessen in Bezug auf den vorausgegangenen Angriff sein. Dies hat der Internationale 37 Vgl. die Note vom 24.04.1841, abgedr. bei A.-McNair (Hg.), International Law Opinions, Vol. II, 1956, 222 und C. Greenwood, Caroline, The (April 2009), MPEPIL (Online-Ed.). 38 C.-Tomuschat, Der 11. September 2001 und seine rechtlichen Konsequenzen, EuGRZ 29 (2002), 535, 542; K.-Ipsen, Völkerrecht, 7.-A., 2018, §-56, Rn.-20. 39 C.-Tomuschat, Der 11. September 2001 und seine rechtlichen Konsequenzen, EuGRZ 29 (2002), 541f. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="251"?> 215 Gerichtshof im Gutachten über die Vereinbarkeit der Androhung und des Einsatzes von Nuklearwaffen mit dem Völkerrecht im Jahre 1996 bestätigt. 40 Der Maßstab der Verhältnismäßigkeit bestimmt also Art und Intensität der Selbstverteidigung, die sich an derjenigen des Angriffs zu orientieren habe. Auch die Art der Kampfführung wird insofern davon mitbestimmt. Militärische Maßnahmen dürfen grundsätzlich nur der Selbstverteidigung dienen; Bestrafungsaktionen sind jedenfalls bis vor Kurzem als nicht vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gedeckt angesehen worden. Hierzu ist allerdings im Lichte jüngerer Ereignisse vermerkt worden, dass die auf Beseitigung des Taliban-Regimes gerichteten Aktionen der USA, wenn man sie nicht nur als Reaktion auf die terroristischen Gewaltakte der Al Qaida, sondern auch als Beseitigung der für die Weltordnung durch ein gewaltbereites Regime ausgehenden Gefahr versteht, als qualitativer Umschlag i.S. möglicher Legitimierung der präventiven Selbstverteidigung zu bewerten seien. 41 Ob man die entsprechenden Resolutionen des Sicherheitsrates vom 28. September und 12. November 2001 (SC Res. 1373 und 1377 (2001)) - die immerhin auf Kapitel VII der Charta Bezug nehmen bzw. von „most serious threats to international peace“ durch den internationalen Terrorismus sprechen - in dem Sinne deuten kann, dass damit auch die Beseitigung des Regimes erfasst sein kann, wird allerdings nicht deutlich. Dass dies möglicherweise eine der spezifischen Bedrohung des Terrorismus angemessene Interpretation staatlicher Selbstverteidigung in solchen Fällen sein kann, in denen wie vom internationalen Terrorismus eine ständige Gefahr für den internationalen Frieden und die Sicherheit ausgeht, steht außer Zweifel. Ob allerdings angesichts der Unbestimmtheit der Ziele weiterer terroristischer Bedrohungen entsprechende Gewaltreaktionen auch jeweils vom staatlichen Selbstverteidigungsrecht nach Art.-51 der Charta gedeckt sind, ist im Augenblick jedenfalls noch nicht genau erkennbar. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass bei jeder Inanspruchnahme eines Selbstverteidigungsrechts im Sinne des Art.- 51 UN-Charta eine Anzeigepflicht gegenüber dem Sicherheitsrat besteht (vgl. Art. 51 S.-2 UN-Charta), um ihm die Möglichkeit des Aufgreifens der Angelegenheit zu geben. Diese Pflicht lässt die Grundkonzeption der UN-Charta deutlich werden, wonach die Möglichkeit unilateraler Gewaltanwendung möglichst auf ein Minimum zurückzudrängen ist und im Grundsatz das System kollektiver Sicherheit (dazu unten Kap.-5.1.4) zum Einsatz kommen soll. Weiter weist, worüber in Literatur und Staatenpraxis Einigkeit besteht, bereits die Formulierung des Art.-51 der UN-Charta, wo vom „naturgegebenen“ Recht auf Selbstverteidigung die Rede ist, darauf hin, dass das staatliche Selbstverteidigungsrecht völkergewohnheitsrechtlichen Charakter besitzt. 42 Eine zeitliche Begrenzung der Selbstverteidigung ist nach Art.-51 S.-2 der UN-Charta dann gegeben, wenn sich der Sicherheitsrat der Angelegenheit angenommen und „die erforderlichen 40 IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Gutachten vom 08.07.1996, ICJ Reports 1996, 226, §-30; dazu unten Kap.-15.2.14. 41 C.-Tomuschat, Der 11. September 2001 und seine rechtlichen Konsequenzen, EuGRZ 29 (2002), 543; zur präventiven Selbstverteidigung siehe unten Kap.-5.1.3.5. 42 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §- 176; vgl. auch Y. Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6.-A., 2017, 177ff. 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="252"?> 216 Maßnahmen getroffen“ hat. Das damit angedeutete Verhältnis von staatlichen Selbstverteidigungsmaßnahmen nach Art.- 51 und Maßnahmen kollektiver Sicherheit nach Art.- 39ff. der Charta ist allerdings in jüngerer Zeit - wiederum angesichts der terroristischen Bedrohung und hier insbesondere durch Resolution 1373 vom 28. Februar 2001 - insofern unklarer geworden, als dort unter Berufung auf Kapitel VII der Charta im Grunde genommen eine Bestätigung des staatlichen Selbstverteidigungsrechts der Vereinigten Staaten zum Ausdruck gebracht wird, eines Rechts also, welches zu bestätigen angesichts seiner Naturgegebenheit eigentlich kaum als Aufgabe des Sicherheitsrats anzusehen ist. Insofern ist festzuhalten, dass auch hinsichtlich der Grenzen staatlicher Selbstverteidigung derzeit vieles im Flusse ist und klare Konturen insbesondere angesichts der neu ins Bewusstsein gerückten terroristischen Bedrohungsszenarien nur schwer erkennbar sind. Umfang des Selbstverteidigungsrechts auf der Rechtsfolgenseite 1. Verhältnismäßige Maßnahmen 2. In Reaktion auf einen (noch) gegenwärtigen Angriff 3. Unter Beachtung der Anzeigepflicht an den Sicherheitsrat 4. Bis der Sicherheitsrat die „erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“ 5.1.3.4 Kollektive Selbstverteidigung Ausdrücklich wird in Art.- 51 der UN-Charta den Staaten die kollektive Selbstverteidigung ermöglicht. Sie ist wie das individuelle Selbstverteidigungsrecht als Ausnahme vom Gewaltverbot anzusehen. Unter kollektiver Selbstverteidigung ist die Hilfeleistung eines Staates für einen anderen Staat, der sich einem bewaffneten Angriff ausgesetzt sieht, zu verstehen. Unerheblich ist dabei, ob der Hilfe leistende Staat selbst in dem konkreten Fall zur individuellen Selbstverteidigung berechtigt ist. Auf der Basis des Art.-51 sind Militär- und Beistandspakte abgeschlossen worden, die nicht nur eine Beistandsverpflichtung in Ausübung des Rechts auf kollektive Sicherheit enthalten, sondern auch Basis für Organisationen kollektiver Selbstverteidigung sind. Ein solches kollektives Selbstverteidigungsbündnis ist die NATO (dazu oben Kap.-2.2.4.2), die freilich in jüngerer Zeit, wie das Beispiel der Intervention im nicht dem NATO-Bereich angehörenden Kosovo zeigt, auch deutlich über den Bereich kollektiver Selbstverteidigung hinausgehende Aufgaben übernommen hat. 43 Wichtig ist im Zusammenhang mit der kollektiven Selbstverteidigung letztlich noch, dass die Unterstützung Dritter dem sich verteidigenden Staat nicht aufgedrängt werden darf. 5.1.3.5 Präventive Selbstverteidigung Höchst umstritten ist die Frage, ob und in welchem Umfang nach UN-Charta und Gewohnheitsrecht eine sog. präventive 44 Selbstverteidigung, also Selbstverteidigung vor dem Vorliegen eines aktuellen Angriffs möglich ist. Befürworter eines präventiven Selbstverteidigungsrechts 43 Dazu G.-Nolte, Die „neuen“ Aufgaben von NATO und WEU, ZaöRV 54 (1994), 96. 44 Zur Unterscheidung zwischen „anticipatory“ und „preemptive self-defence“, vgl. R. Hofmann, International Law and the Use of Military Force Against Iraq, GYIL 45 (2002), 11 und 31f. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="253"?> 217 machen geltend, das Selbstverteidigungsrecht müsse, um überhaupt effektiv sein zu können, auch im Vorfeld eines konkreten bewaffneten Angriffs ausgeübt werden können. Wurde diese Auffassung auch schon bisher vertreten und praktiziert, so hat sich die Diskussion nach den terroristischen Angriffen vom 11. September 2001 dahingehend weiterentwickelt, dass nun auch behauptet wird, ohne konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Angriffs könne präventive Selbstverteidigung stattfinden. 45 Dies lege etwa das z.- B. in den terroristischen Angriffen nach dem 11. September 2001 zum Ausdruck gekommene neue Gefährdungspotenzial, welches sich durch seine Unberechenbarkeit auszeichne, besonders nahe. Insofern wird die schon immer erörterte sog. antizipatorische Selbstverteidigung („anticipatory self-defence“) von der dieses neue Gefährdungspotenzial ins Auge fassenden präemptiven Selbstverteidigung („preemptive self-defence“) unterschieden. 46 Beide Modalitäten der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts sind indes nicht unproblematisch. 47 Beide Begriffe sind in den letzten Jahren noch einmal in den Vordergrund gerückt aufgrund steigender Spannungen zwischen den USA und Nordkorea sowie den USA und dem Iran. 48 Zunächst zur bereits seit Langem diskutierten - und praktizierten - antizipatorischen Selbstverteidigung: Diese steht erstens zumindest in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Wortlaut des Art.-51, der Selbstverteidigungsmaßnahmen deutlich als Reaktion auf einen schon vorliegenden bewaffneten Angriff („when an armed attack occurs“) formuliert. Zum Zweiten scheint, wie noch auszuführen sein wird (siehe unten Kap.-5.1.4), das gesamte System der UN-Charta, also auch ihr Kapitel VII als System kollektiver Sicherheit, die Anwendung von Waffengewalt nur jeweils als Reaktion auf einen schwerwiegenden Völkerrechtsbruch und insbesondere die Anwendung von Gewalt zu gestatten. 49 Der Internationale Gerichtshof hat im Nicaragua-Fall ebenfalls von Selbstverteidigung als der Konsequenz eines bewaffneten Angriffs gesprochen. 50 Er hat allerdings seine auf Gewohnheitsrecht rekurrierende Auffassung auf den besonderen von ihm zu entscheidenden Fall bezogen. 45 Ansatzpunkte dafür finden sich in der Nationalen Sicherheitsstrategie („National Security Strategy“), die Dezember 2017 von der Trump Administration neu erlassen wurde, siehe www.whitehouse.gov/ wp-content/ uploads/ 2017/ 12/ NSS-Final-12-18-2017-0905.pdf (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 46 W.M.- Reisman/ A. Amstrong, Claims to Pre-emptive Uses of Force: Some Trends and Projections and Their Implications for Worlds Order, in: M. Schmitt/ J. Pejic (Hg.), Liber Amicorum Yoram Dinstein, 2007, 79ff.; siehe auch R. Hofmann, International Law and the Use of Military Force Against Iraq, GYIL 45 (2002), 11 und 31f. 47 Siehe auch etwa T.D. Gill, The Temporal Dimension of Self-Defense: Anticipation, Preemption, Prevention and Immediacy, in: M. Schmitt/ J. Pejic (Hg.), Liber Amicorum Yoram Dinstein, 2007, 113ff. 48 Siehe dazu etwa G. E. Maggs, How the United States Might Justify a Preemptive Strike on a Rogue Nation’s Nuclear Weapon Development Facilities under the UN Charter, Syracuse L. Rev. 57 (2007), 465ff.; siehe auch M. Hakimi, North Korea and the Law on Anticipatory Self-Defense, EJIL Talk 28.03.2017. 49 So insbesondere Y. Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 6.-A., 2017, 183. 50 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §-195. 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="254"?> 218 Staatenpraxis. Die Staatenpraxis in diesem Bereich ist uneinheitlich. 51 Während nach dem Präventivangriff Israels auf Ägypten im Sechs-Tage-Krieg von 1967 einige Staaten diesen Präventivschlag für zulässig hielten, wurde der israelische Bombenangriff auf den im Bau befindlichen irakischen Atomreaktor Tamuz I im Jahre 1981 überwiegend kritisch aufgenommen. 52 Der UN-Sicherheitsrat verurteilte mit Resolution 487 vom 19. Juni 1981 einstimmig den israelischen Angriff und auch europäische wie afrikanische und asiatische Staaten lehnten in diesem Zusammenhang ein aus der UN-Charta herzuleitendes Recht auf Präventivmaßnahmen ab. 53 Ist insofern die Staatenpraxis keinesfalls konsistent, so ist auch eine Lösung dieses Problems keinesfalls einfach. Denn Befürworter eines ggf. restriktiv zu verstehenden antizipatorischen Selbstverteidigungsrechts verweisen, in Anlehnung an die Caroline-Formel, auf die Notwendigkeit eines Erstschlags zur „Rettung“ des Selbstverteidigungsrechts. 54 Sie haben sich jedoch zum einen mit dem Wortlaut des Art.-51 UN-Charta auseinanderzusetzen und zum anderen entstehen durch diese Auffassung nicht unerhebliche Schwierigkeiten bei der Abgrenzung noch erlaubter vorverlagerter Verteidigungshandlungen von nicht mehr erlaubten „Präventivkriegen“. Die antizipatorische Selbstverteidigung wird von ihren Befürwortern meist unter Bezugnahme auf die bereits benannte Caroline-Formel für die Fälle „in which the necessity of self-defence is instant, overwhelming and leaving no choice of means, and no moment for deliberation“ jedenfalls als völkerrechtsgemäß erachtet. Zweifel an der Legalität antizipatorischer Selbstverteidigung lassen sich hierdurch jedoch nicht ausräumen, insbesondere, wenn man auf das große Ziel der Charta Bezug nimmt, staatliche Gewalt auf ein Minimum zurückzudrängen. Dieses Ziel findet in dem nachfolgend darzustellenden System kollektiver Sicherheit seinen deutlichsten Ausdruck. Dieses System würde jedenfalls tendenziell durch das Zulassen antizipatorischer Selbstverteidigung insofern konterkariert, als es dann jeweils der staatlichen Eigeneinschätzung obläge, unilateral Gewalt anzuwenden. Die in Art.-51 S.-2 der Charta vorgegebene Verknüpfung der Ausübung staatlicher Selbstverteidigung mit den durch die Anrufung des Sicherheitsrates auszulösenden Mechanismen kollektiver Sicherheit legen es nämlich eigentlich nahe, den Sicherheitsrat nicht durch Präventivschläge bereits vor vollendete Tatsachen zu stellen; auch dies sollte zur äußerst restriktiven Ausübung von Maßnahmen präventiver Selbstverteidigung Anlass geben. Dies muss besonders vor dem Hintergrund der militärischen Auseinandersetzung im Irak im Jahre 3 betont werden. 55 Ein Staat, der sich von einem bevorstehenden Angriff bedroht fühlt, darf zu Selbstverteidigungsmitteln allenfalls dann greifen, wenn ihm in Anwendung der Caroline-Formel keinerlei Zeit mehr bleibt, abzuwarten, bis der Sicherheitsrat die erforderlichen Maßnahmen 51 Schilderung der Praxis bei T. Franck, Recourse to Force, 2003, 99ff.; siehe allgemein zur antizipatorischen Selbstverteidigung auch A.-Randelzhofer/ G. Nolte, Art.-51, in: B.-Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3.-A., 2012, Rn. 49. 52 Nachweise bei K.-Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, BDGVR 26 (1986), 80f. 53 K.-Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, BDGVR 26 (1986), 82. 54 So etwa K.-Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, BDGVR 26 (1986), 85 und 109, These 9. 55 Siehe zu dem bewaffneten Konflikt im Irak auch M.E.-Kurth, Der dritte Golfkrieg aus völkerrechtlicher Sicht, ZRP 36 (2003), 195ff. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="255"?> 219 getroffen hat, der Angriff also unmittelbar bevorsteht. In diesem Zusammenhang wird, wie oben skizziert, von antizipatorischer Selbstverteidigung („anticipatory self-defence“) gesprochen. 56 Dabei ist der Staat für das Vorliegen der Angriffslage beweispflichtig; diese muss evident sein, sodass widrigenfalls nur eine Bedrohungs-, aber eben keine Angriffslage vorliegt. Dass aber eine solche Angriffslage 2003 seitens des Irak evident war, war bereits nach den vorangegangenen Erörterungen im Sicherheitsrat, vor allem aber angesichts der später von den USA vorgelegten „Beweisen“ zu im Irak angeblich vorhandenen Massenvernichtungswaffen zu bezweifeln. 57 In den Fällen des Vorliegens einer allgemeinen Bedrohungslage handelt es sich dagegen, wenn sie gewaltsam bekämpft wird, wie oben angedeutet, um sog. präemptive Selbstverteidigung („preemptive self-defence“), welche darauf gerichtet ist, die bloße Möglichkeit auszuschalten, dass ein anderer Staat oder eine nicht-staatliche Einheit überhaupt in die Lage kommt, einen Angriff zu starten, und damit zeitlich also noch weiter vorverlagert ist. Ob sich ein solches Verständnis der Selbstverteidigung mit dem von der UN-Charta vorgesehenen System der kollektiven Sicherheit überhaupt noch vereinbaren lässt, erweist sich aus den oben genannten Gründen erst recht als schwer begründbar. 58 Denn zum einen ist die Innehabung eines Potenzials zur Kriegsführung für sich genommen nicht völkerrechtswidrig, zum anderen ist die Angriffsfähigkeit noch viel unsicherer zu bewerten und der Einschätzungsspielraum zur Bewertung eines Bedrohungspotenzials so weit, dass dies wohl nicht einzelnen Staaten überlassen werden sollte. Auf solche Probleme wiesen auch etliche Staaten - u.-a. die USA - die Türkei hin, die im Februar 2008 zur präemptiven Abwehr vermeintlicher Angriffe von Kurden auf irakisches Territorium vorgedrungen war und dort Durchsuchungsaktionen gestartet sowie Gebäude u.-ä. zerstört hat. 59 Auch im Frühjahr 2018 hat die Türkei eine militärische Operation im kurdisch kontrollierten Afrin, Syrien durch eine angeblich „täglich steigende Bedrohung“ gegen die Türkei gerechtfertigt. 60 Mit anderen Worten wird man die Rechtslage dergestalt beschreiben können, dass nach Maßgabe der skizzierten Beweislastverteilung antizipatorische Selbstverteidigung in von der Caroline-Formel umrissenen Ausnahmefällen zulässig sein kann, während dies für sog. präemptive Selbstverteidigung als höchst zweifelhaft erscheint. 56 R. Hofmann, International Law and the Use of Military Force Against Iraq, GYIL 45 (2002), 31. 57 Siehe dazu D.-Murswieck, Die amerikanische Präventivstrategie und das Völkerrecht, NJW 56 (2003), 1014, 1017; M.E. O’Connell, The Myth of Preemptive Self-defence, ASIL Task Force on Terrorism, 2002, 8f.; R. Hofmann, International Law and the Use of Military Force Against Iraq, GYIL 45 (2002), 9ff.; C.- Schaller, Massenvernichtungswaffen und Präventivkrieg - Möglichkeiten der Rechtfertigung einer militärischen Intervention im Irak aus völkerrechtlicher Sicht, ZaöRV 62 (2002), 641ff. 58 Siehe nur R. Hofmann, International Law and the Use of Military Force Against Iraq, GYIL 45 (2002), 32. 59 Siehe dazu etwa Fred W. Baker III, Gates Meets with Turks, Urges Open Dialogue, in: American Forces Press Service, vom 28.02.2008; www.dvidshub.net/ news/ 16797/ gates-meets-with-turks-urges-open-dialogue; siehe auch: Spiegel Online, USA besorgt über türkische Bodenoffensive im Irak, vom 22.02.2008; www.spiegel.de/ politik/ ausland/ 0,1518,537081,00.html (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 60 Siehe dazu Spiegel Online, Türkische Armee besetzt syrische Stadt Afrin, vom 18.03.2018; www.spiegel. de/ politik/ ausland/ afrin-tuerkische-armee-uebernimmt-kontrolle-a-1198670.html (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). Zu dieser Thematik siehe auch Kapitel 5.1.3.7. 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="256"?> 220 Zeitpunkte möglicher Selbstverteidigung Reaktiv die Selbstverteidigung erfolgt als Reaktion auf einen Angriff (Normalfall: Art. 51 UN-Charta). Antizipatorisch ein absehbarer, unmittelbar bevorstehender Angriff soll verhindert werden. Präemptiv potenziellem Angreifer soll die Möglichkeit zum künftigen Angriff genommen werden. Präventive Selbstverteidigung Repressive Selbstverteidigung Präventive Selbstverteidigung Repressive Repressive Repressive Angriff 5.1.3.6 Selbsthilfe bei der Rettung eigener Staatsbürger Von möglicher Gewaltanwendung begleitete staatliche Maßnahmen zum Schutze eigener Staatsbürger in anderen Staaten wurden teilweise als humanitäre Intervention bezeichnet. 61 Um sie deutlich als Ausübung des staatlichen Selbstverteidigungsrechts zu kategorisieren, soll hier von Selbsthilfeaktionen die Rede sein. Ein Beispiel für eine solche Aktion ist etwa die gewaltsame Befreiung der von palästinensischen Terroristen entführten Air France-Maschine durch israelische Streitkräfte auf dem ugandischen Flughafen von Entebbe. Bei der Befreiungsaktion wurden Soldaten Ugandas getötet. 62 Nach einer Auffassung sind solche Befreiungsmaßnahmen ohne Zustimmung des betroffenen Staates, auf dem die zur Rettung Anlass gebenden Handlungen stattfinden, völkerrechtswidrig. 63 Die gegenteilige Auffassung rechtfertigt ein solches Eingreifen zur Rettung eigener Staatsangehöriger mit einem weit verstandenen Selbstverteidigungsrecht oder aber der Einschränkung des Gewaltverbots durch humanitäre Zwecksetzungen. 64 Die völkerrechtliche Zulässigkeit von Selbstverteidigungsmaßnahmen wird dogmatisch etwa daraus hergeleitet, dass die Bedrohung eigener Staatsangehöriger auf fremdem Territorium einem bewaffneten Angriff gegen das eigene Territorium gleichgestellt wird. Dem wird entgegengehalten, diese Herleitung sei nicht unproblematisch, weil nicht die Existenz des Heimatstaates selbst gefährdet sei. 65 Uneinheitliche Staatenpraxis. Die Staatenpraxis ist uneinheitlich. Im Entebbe-Fall sahen nur einige westliche Staaten die israelische Aktion als völkerrechtsgemäß an und auch die internationalen Reaktionen auf den Befreiungsversuch der amerikanischen Geiseln durch die USA im Iran im Jahre 1980 bzw. die US-amerikanische Intervention in Grenada im Jahre 1989 wurden nicht ein- 61 So etwa von U. Beyerlin, Die israelische Befreiungsaktion von Entebbe in völkerrechtlicher Sicht, ZaöRV 37 (1977), 213ff. 62 Siehe dazu U. Beyerlin, Die israelische Befreiungsaktion von Entebbe in völkerrechtlicher Sicht, ZaöRV 37 (1977), 213ff. 63 Etwa A.-Verdross/ B. Simma, Universelles Völkerrecht, Nachdruck der 3.A., 1984, 2010, §-1338; A.-Randelzhofer, Art.-2 (4), in: Simma et al. (Hg.), Charter of the United Nations, 3.-A., 2012, Rn. 58ff.; U. Beyerlin, Die israelische Befreiungsaktion von Entebbe in völkerrechtlicher Sicht, ZaöRV 37 (1977), 239. 64 So etwa D.W. Bowett, Self-Defence in International Law, 1958, 91ff.; H. Strebel, ZaöRV 37 (1977), 691ff. 65 A. Randelzhofer/ O. Dörr, Art.-51, in: B.-Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3.-A., 2012, Rn. 28. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="257"?> 221 heitlich bewertet. In aktuelleren Fällen wie etwa der Rettung von Staatsangehörigen europäischer Staaten aus Ruanda 1994 oder aus dem Kongo 1998 lag die Einwilligung der Konfliktpartei vor, so dass sich diese Fälle als Basis einer Staatenpraxis nur mit Vorbehalt eignen. Insgesamt wird allerdings jeweils zu bedenken sein, ob jedenfalls in Fällen, in denen wegen Unfähigkeit oder wegen Unwilligkeit des anderen Staates zum Schutze höchstrangiger Rechtsgüter wie Leib und Leben die Abwägung dieser bedrohten Rechtgüter mit dem Souveränitätsrecht des betroffenen Staates nicht doch zur Möglichkeit der Rettung eigener Staatsangehöriger in Ausübung des entsprechend seiner Grenzziehung wahrgenommenen Selbstverteidigungsrechts des Heimatstaates führen muss. 66 5.1.3.7 Selbstverteidigung gegen terroristische Angriffe Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben - wie schon oben in Kap.-5.1.3.3 angedeutet - das Problemfeld einer möglichen Selbstverteidigung gegen terroristische Angriffe mit all seinen Facetten besonders deutlich hervortreten lassen. Für die Beurteilung der Möglichkeit staatlicher Selbstverteidigung gegen diese Angriffe sind drei Ebenen der Probleme zu unterscheiden: Erstens müssen die Angriffe jemandem zuzuordnen sein, sodann ist zweitens zu fragen, welche Reaktionen daraufhin gerechtfertigt sind und schließlich ist drittens zu klären, gegen wen die ergriffenen Maßnahmen zu richten und ob sie verhältnismäßig sind. 67 Denn schon bei der Beurteilung der Frage, ob die von den Terroristen in die New Yorker Zwillingstürme manövrierten Flugzeuge als bewaffnete Angriffe auf die Vereinigten Staaten zu betrachten sind, tritt das Problem offen zu Tage, ob ausschließlich Staaten Urheber bewaffneter Angriffe sein können. Entspricht dies wahrscheinlich der historischen Vorstellung der Schöpfer der UN-Charta, so lässt doch gerade die Formulierung ihres Art.-51 es zu, auch andere als gerade staatliche Angriffe vom Tatbestand erfasst zu sehen. 68 Insofern wird man auch darüber hinausgehend formulieren können, dass jedenfalls ein Völkerrechtssubjekt den bewaffneten Angriff durchgeführt haben muss, bzw. die Akte einem Staat oder anderen Subjekten des Völkerrechts zurechenbar sein müssen. Will man dabei nicht so weit gehen und Terroristen selbst als Völkerrechtssubjekte ansehen, 69 so müsste nach klassischem Verständnis von Art.-51 UN-Charta der Angriff jedenfalls in einer rechtlich relevanten Weise einem Staat zuzuordnen sein. In letzter Zeit ist die Relevanz dieser Zurechnungsproblematik nochmal mit Bezug auf den Islamischen Staat in den Vordergrund gerückt. In diesem Sinne werden Konflikte im 21.-Jahrhundert asymmetrischer als je zuvor. Zurechnungskriterien: effective/ overall control. Für eine Zurechnung muss ein gewisser Grad an Kooperation zwischen Staat und Individuum gegeben sein. Dies ist im Falle einer Beauftragung gegeben, sowie wenn der Staat die Handlung kontrolliert (siehe dazu auch Kap.-6.2). Letzteres wird als effektive Kontrolle im Sinne des Nicaragua-Urteils des IGH zu verstehen sein und nicht im 66 Dafür M.-Herdegen, Völkerrecht, 18.-A., 2019, §-34, Rn.-32; dagegen M.-Bothe, in: W. Graf Vitzthum/ A. Proelß (Hg.), Völkerrecht, 8.-A., 2019, 8. Abschn., Rn.-21; K.-Ipsen, Völkerrecht, 7.-A., 2018, §-56, Rn.-46; G.-Nolte, Eingreifen auf Einladung, 1999. 67 So zutreffend G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 3, 2.-A., 2002, 825. 68 J.A.-Frowein, Der Terrorismus als Herausforderung für das Völkerrecht, ZaöRV 62 (2002), 887. 69 In diesem Sinne aber wohl T. Bruha/ M.-Bortfeld, Terrorismus und Selbstverteidigung - Voraussetzung und Umfang erlaubter Sebstverteidigungsmaßnahmen nach den Anschlägen vom 11. September 2001, VN 49 (2001), 165. 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="258"?> 222 Sinne der sog. overall control aus dem humanitärrechtlichen Tadić-Fall des Jugoslawien-Tribunals 70 und zwar dergestalt, dass die Aktivitäten der betroffenen Gruppe von dem Völkerrechtssubjekt im eigentlichen Sinne gesteuert wurden. 71 Allerdings wird nach den Ereignissen des 11. September 2001 vielfach in Frage gestellt, ob die für den Nicaragua-Fall entwickelten Kriterien der effektiven Kontrolle ohne Weiteres auf terroristische Angriffe übertragbar sind. 72 Das Problem kommt nun vielmehr bei der Frage auf, wer Gegner einer Selbstverteidigungsaktion sein kann. Wenn man nämlich - wie teilweise vertreten 73 - auf der ersten Ebene einen terroristischen Anschlag von der Größenordnung des 11. September 2001 als „bewaffneten Angriff “ i.S.v. Art.- 51 UN-Charta ausreichen lässt, ohne diese Handlung einem bestimmten Staat zuzurechnen, dann stellt sich auf der dritten Ebene das Problem, ob der Angegriffene mögliche Selbstverteidigungsmaßnahmen gegen den Staat richten darf, auf dessen Gebiet sich die Terroristen befinden, obgleich dieser nicht gegen das Gewaltverbot verstoßen hat. Im Falle der terroristischen Anschläge war dies so lange für den Staat Afghanistan zu bejahen, wie die Taliban-Herrschaft anhielt, weil das Taliban-Regime, welches Al Qaida-Kämpfern Rückzugsmöglichkeiten (sog. „safe havens“) gewährt hatte, überdies jegliche Kooperation mit den Terror bekämpfenden Staaten abgelehnt hatte. 74 Diese Wertung implizieren auch die entsprechenden Resolutionen des Sicherheitsrats. Der Sicherheitsrat hatte nämlich in seinen Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) unter Berufung auf die Terrorakte das Recht auf Selbstverteidigung im Sinne der UN-Charta bekräftigt. Ebenso hat der Nordatlantikrat der NATO die Terroranschläge des 11. September 2001 als „bewaffneten Angriff “ gemäß Art.-5 des NATO-Vertrages eingestuft. 5.1.4 Ausnahme: Kollektive Sicherheit Einführende Literatur: De Wet, Erika/ Wood, Michael, Collective Security (Juli 2013), MPEPIL (Online-Ed.). Die zweite Ausnahme vom Gewaltverbot neben dem staatlichen Selbstverteidigungsrecht ergibt sich im Rahmen des Systems kollektiver Sicherheit. Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen sind im Einzelnen Kapitel VII der UN-Charta zu entnehmen; indes sind vor der Schilderung der aktuellen Charta-Konzeption einige Vorbemerkungen erforderlich. 70 Zum Kriterium der „allgemeinen Kontrolle“, vgl. den Tadić-Fall, unten Kap.-15.3. 71 T. Bruha, Neuer Internationaler Terrorismus: Völkerrecht im Wandel? , in: H.-J.-Koch (Hg.), Terrorismus, 2002, 68f.; M.-Krajewski, Selbstverteidigung gegen bewaffnete Angriffe nicht-staatlicher Organisationen - Der 11. September 2001 und seine Folgen, AVR 40 (2002), 189ff. 72 Vgl. T. Bruha, Neuer Internationaler Terrorismus: Völkerrecht im Wandel? , in: H.-J.-Koch (Hg.), Terrorismus, 2002, 71; C.-Stahn, International Law at Crossroads? The Impact of September 11, ZaöRV 62 (2002), 219; C.-Tomuschat, Der 11. September 2001 und seine rechtlichen Konsequenzen, EuGRZ 29 (2002), 542; die Frage ausdrücklich offen lassen G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R.-Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 3, 2.-A., 2002, 825. 73 C.-Tomuschat, Der 11. September 2001 und seine rechtlichen Konsequenzen, EuGRZ 29 (2002), 540. 74 So auch J.A.-Frowein, Der Terrorismus als Herausforderung für das Völkerrecht, ZaöRV 62 (2002), 887; M.-Byers, ICLQ 51 (2002), 409; A.-Cassese, Terrorism is Also Disrupting Some Crucial Legal Categories of International Law, EJIL 12 (2001), 997; S.D.-Murphy, Terrorism and the Concept of „Armed Attack“ in Article 51 of the U.N. Charter, HarvILJ 43 (2002), 50f. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="259"?> 223 5.1.4.1 Das System der kollektiven Sicherheit Kollektive Sicherheitssysteme sind solche Friedenssicherungsmechanismen, die, beruhend auf dem absoluten Verbot der Erstanwendung von Waffengewalt, einem potenziellen Aggressor sowohl von außerhalb als auch von innerhalb des Systems die kollektive Macht der rechtstreuen Mitglieder gegenüberstellen. Sie beruhen also auf einem absoluten Gewaltanwendungsverbot, wie es in Art.- 2 Ziff. 4 der UN-Charta verwirklicht ist, wobei es in Gestalt des Sicherheitsrates eine Instanz gibt, welche Rechtsbrüche feststellt und auch für die Durchführung der Sanktionen gegen Rechtsbrecher sorgen kann. Daneben besteht eine Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung. Anders als Systeme kollektiver Verteidigung, auf die etwa Art.- 51 der UN-Charta rekurriert, sind Systeme kollektiver Sicherheit gegen jeden potenziellen Aggressor - innerhalb und außerhalb des Systems - gerichtet und beinhalten die gegenseitige Verpflichtung der Mitglieder des Systems, jeden möglichen Friedensbrecher kollektiv in die völkerrechtlich gebotenen Schranken zu weisen. Das beruht auf der Idee, dass das militärische Potenzial der Mitglieder des kollektiven Sicherheitssystems abschreckend genug sein muss, um einen potenziellen Aggressor von seinem Vorhaben abzuhalten bzw. Aggressionen wirksam zu sanktionieren. 5.1.4.2 Die Konzeption der UN-Charta Die Vereinten Nationen stellen nach dem Völkerbund den zweiten Versuch der Errichtung einer universellen Friedenssicherungsorganisation dar. Wie schon der Völkerbund errichten sie damit ebenfalls ein System kollektiver Sicherheit. Indes wurde versucht, evidente Schwächen der Konzeption des Völkerbundes, der letztlich auch mit dem Problem zu kämpfen hatte, dass ihm niemals zur gleichen Zeit alle Großmächte der damaligen Zeit angehörten, zu vermeiden. Letztlich soll damit auch - wie sich in Art.-51 der UN-Charta entsprechend der Idee kollektiver Sicherheit ausgedrückt findet - die Möglichkeit unilateraler Gewaltanwendung auf ein Minimum reduziert und durch die Kanalisierung in eine kollektive Entscheidung - über die sich zumindest die fünf ständigen Ratsmitglieder einig sein müssen - kontrollierbarer gemacht werden. Gewaltverbot. Betrachtet man die Konzeption der UN-Charta näher, so ist zum einen festzuhalten, dass das Gewaltverbot in Art.-2 Ziff. 4 verwirklicht ist. Verstöße gegen das Gewaltverbot müssen allerdings erst die Qualifikation einer Bedrohung oder eines Bruchs des internationalen Friedens bzw. die einer Angriffshandlung im Sinne des Art.-39 der Charta haben, um den Friedenssicherungsmechanismus des VII.- Kapitels der UN-Charta auszulösen. Dabei kommt die zentrale Aufgabe der Feststellung entsprechender Situationen dem Sicherheitsrat zu, der gemäß Art.-24 der Charta die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit überantwortet bekommen hat. Der Sicherheitsrat ist es auch, der die Art der nach Art.-40-42 UN-Charta zu wählenden Sanktionen festlegt. Diese Sanktionen - als Beschlüsse des Rates grundsätzlich für UN-Mitglieder gemäß Art.-25 UN-Charta bindend 75 - sind dann in Ermangelung eigener Streitkräfte der Vereinten Nationen entweder von einem Staat oder von einer Gruppe von Staaten gegen den Friedensbrecher durchzusetzen (Art.-43-48 UN-Charta). 75 Zur Problematik der Bindungskraft A. Peters, in: B. Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3.-A., 2012, Art.-25, Rn.-20ff. 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="260"?> 224 Tatbestandsvoraussetzungen: Bedrohung/ Bruch des Friedens. Eine zentrale Bedeutung haben somit die Begriffe Bedrohung des Friedens und Bruch des Friedens oder Angriffshandlung, da eine entsprechende Feststellung des Sicherheitsrats in Art.-3 UN-Charta Voraussetzung für die Festlegung von Sanktionen gegen potenzielle Friedensbrecher ist. Zutreffend ist Art.-39 UN-Charta als eine von Unbestimmtheit tatbestandlicher Voraussetzungen gekennzeichnete offene Ermächtigungsnorm bezeichnet worden. 76 Dabei ist es in der Praxis zudem so, dass der Sicherheitsrat oftmals nicht ausdrücklich unter die Tatbestandsvoraussetzungen des Art.-39 subsumiert, sondern allgemein auf Kapitel VII als Ermächtigung der von ihm angeordneten Handlungen hinweist. Die in Art.-39 UN-Charta angesprochene Angriffshandlung wird durch Resolution 3314 (XXIX) der Generalversammlung, der sog. „Aggressionsdefinition“, im Wege einer Auslegungshilfe konkretisiert. In der Praxis rekurriert der Sicherheitsrat allerdings höchst selten auf das Vorliegen einer Angriffshandlung. 77 Entsprechend kommen in der Praxis den Begriffen des Bruchs des Friedens oder der Bedrohung des Friedens im Sinne des Art.-1 Ziff. 1 der UN-Charta größere Bedeutung zu. Bruch des Friedens bedeutet danach ein mit Waffengewalt ausgetragener Konflikt zwischen zwei oder mehr Staaten. Sowohl der bewaffnete Angriff im Sinne des Art.-51 als auch der Verstoß gegen das Gewaltverbot im Sinne des Art.-2 Ziff. 4 der UN-Charta sind hierzu zu zählen. Mit dem Tatbestandsmerkmal „Bedrohung des Friedens“ wird darüber hinaus eine Gefährdungslage im Vorfeld eines Friedensbruches beschrieben. Bedrohung des Friedens bezeichnet die Gefährdungslage im Vorfeld eines Friedensbruchs. Dabei war nach überkommenem Begriffsverständnis auch die Situation der Friedensbedrohung von der Vorstellung des zwischenstaatlichen Konflikts als nächster Stufe im Sinne eines Friedensbruchs gekennzeichnet. Frieden in diesem Sinne wurde lange Zeit als Abwesenheit von gewaltsamen Konflikten zwischen Staaten verstanden. Indes hat sich der Sicherheitsrat in seiner Praxis seit 1990 im Sinne eines nunmehr positiven Friedensbegriffs kontinuierlich von diesem engen Begriffsverständnis gelöst. Die über die bloße Abwesenheit von Krieg und militärischen Konflikten hinausgehenden, nicht militärische Ursachen von Instabilität im wirtschaftlichen, sozialen, humanitären und ökologischen Bereich umfassenden Kriterien möglicher Friedensbedrohung, wie sie vom Präsidenten des Sicherheitsrates am 31. Januar 1992 herausgestellt worden waren, weisen über die Frage zwischenstaatlicher Gewaltanwendung auf mögliche staateninterne Ursachen von Konflikten hin. Praxis des Sicherheitsrats. In einer Reihe von Konflikten hat der Sicherheitsrat durch seine Resolutionen diese Konzeption aufgenommen. Nach Resolution 688 (1991) zum Schutz von Teilen der irakischen Zivilbevölkerung vor systematischer staatlicher Verfolgung und Resolution 794 (1992), welche zum Eingreifen im von völligem Zerfall staatlicher Ordnungsstrukturen im Bürgerkrieg gekennzeichneten Somalia ermächtigte, waren es primär staateninterne Konflikte, die wegen des Ausmaßes des menschlichen Leids und damit auch der zu besorgenden oder bereits geschehenen 76 M.-Herdegen, Völkerrecht, 18.-A., 2019, §-41, Rn.-8. 77 Nachweise der Praxis bei N. Krisch, Art.-39ff. in: B. Simma et al. (Hg.), The Charter of the United Nations, 3.-A., 2012, Rn.-16ff. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="261"?> 225 Menschenrechtsverletzungen als Bedrohung des internationalen Friedens angesehen wurden. Die Kennzeichnung der Friedensbedrohung als einer Bedrohung des internationalen Friedens hat sich dabei für den Sicherheitsrat - jedenfalls in der ersten Phase seiner Befassung mit derartigen Fällen - besonders durch massive grenzüberschreitende Flüchtlingsströme manifestiert, die sich destabilisierend auf die Region auswirkten. Darüber hinausgehend hat der Sicherheitsrat in Resolution 940 (1994) die Mitgliedstaaten aber auch zu militärischen Maßnahmen im Sinne der Wiedereinsetzung einer gewählten Regierung des Präsidenten Aristide in Haiti, also eines rein staateninternen Vorgangs, ermächtigt. Auch Situationen im früheren Jugoslawien, insbesondere in Bosnien-Herzegowina, sind etwa unter dem Hinweis auf schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch ethnische Säuberungen Anknüpfungspunkte der Sicherheitsratsresolution 771 (1992) sowie 787 (1992) gewesen. Schließlich wurden die Verfolgungsmaßnahmen gegen die albanische Zivilbevölkerung im Kosovo als Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit durch die Sicherheitsratsresolutionen 1199 (1998), 1203 (1998) sowie 1244 (1999) gekennzeichnet. Nach den Terroranschlägen vom 11.-September 1 wurden auch derartige Akte des internationalen Terrorismus in den Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit qualifiziert. Dies gilt auch für die Anordnung einer sogenannten „No Fly Zone“ in Libyen durch UNSC Res. 1973 (2011) zur Bekämpfung des libyschen Diktators Ghaddafi im Jahre 2011. 78 Gegenbeispiele eines Untätigbleibens der Staatengemeinschaft umfassen etwa die genozidartigen Zustände im Sudan (Darfur) 79 in dem bereits 2003 ausgebrochenen Konflikt oder das bereits im Jahre 2000 beginnende menschenrechtswidrige Vorgehen der Regierung von Simbabwe unter Präsident Robert Mugabe gegen weiße Farmer; in dem seit 2011 von schweren innerstaatlichen Konflikten gekennzeichneten Syrien, wo jedenfalls unbestritten auch Giftgas gegen die Bevölkerung eingesetzt wurde, ist es wegen der Uneinigkeit der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates über die Verursachung dieser Giftgaseinsätze vor allem wegen des russischen Vetos jedenfalls bis August 2019 nicht zu einem Eingreifen des Sicherheitsrates gekommen. Nichtdestotrotz hat der Sicherheitsrat seit dem Anfang des Konflikts bis zum heutigen Tag fünfzehn Resolutionen zum Syrienkonflikt erlassen. Friedensbegriff. Dogmatisch steht, wie gezeigt, ein weites Verständnis des Begriffs der Friedensbedrohung und damit überhaupt der weite Friedensbegriff durchaus im Einklang mit der Grundkonzeption der UN-Charta, die, in Verbreiterung der Konzeption des Völkerbundes, flankierend zur militärischen Stabilisierung des Gewaltverbots auch die sozialen, menschenrechtlichen, ökologischen und ökonomischen Ursachen von Konflikten einbezieht. Wesentlich ist es allerdings, darüber hinaus auch zu erkennen, dass etwa die schwerwiegende Verletzung völkerrechtlicher Grundpflichten, wie im Falle völkerrechtlicher Verbrechen, nicht mehr als eigene Angelegenheit der Staaten im Sinne ihrer geschützten domaine réservé nach Art.- 2 Ziff.- 7 UN-Charta (dazu unten Kap.-5.2) angesehen werden kann. Damit ist auch im Staatsinneren die staatliche Dispositionsbefugnis jedenfalls insofern begrenzt, als dass eine äußerste Menschenrechtsverletzungen vermeidende Schutzpflicht der Staaten für ihre Bürger als völkerrechtlich geboten anzusehen ist. 78 Dazu etwa S. Hobe/ M.L. Fremuth, „No Fly Zones“, ZLW 60 (2011), 386ff. 79 Siehe auch Sicherheitsratsresolution 1593 (2005) vom 31.03.2005; dadurch verwies der Sicherheitsrat die Situation im Sudan an den IStGH, der sich damit beschäftigen wird, inwiefern tatsächlich die Voraussetzungen eines Genozids vorliegen. 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="262"?> 226 Schon angesprochen wurde, dass einerseits der Sicherheitsrat in der bekannten Zusammensetzung seiner fünf ständigen und zehn nichtständigen Mitglieder sowohl die Analyse eines Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des Art.-39 vornimmt als auch die folgenden Maßnahmen anordnet. Er nimmt im Ergebnis in der Regel eine von normativen Kriterien gekennzeichnete politische Gesamtbewertung einer entsprechenden Konfliktsituation vor. Dabei spielen nicht zuletzt die Kräfteverhältnisse im Sicherheitsrat dergestalt eine Rolle, dass wegen des Vetorechts der ständigen Ratsmitglieder aus Art.-27 Ziff. 3 der UN-Charta einerseits Sanktionen gegen ein ständiges Ratsmitglied und seine Alliierten nicht angeordnet werden können, und andererseits auch in den gravierendsten Konfliktsituationen ein Konsens jedenfalls der ständigen Ratsmitglieder in Bezug auf das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale und der adäquaten Sanktionierung gesucht werden muss. Diese dominante Rolle der ständigen Ratsmitglieder in Fragen der Erhaltung des Weltfriedens kann mit Fug und Recht als eine Grundwirkungsbedingung der Organisation der Vereinten Nationen, aber auch als Lehre aus dem Scheitern des Völkerbundes insofern betrachtet werden, als damit jedenfalls die fünf Siegermächte des Zweiten Weltkrieges eine Position erlangten, die ihnen als Führungsmächten eine unterstützende Funktion der Organisation der Vereinten Nationen überhaupt erst ermöglichte. Dass damit eine Blockade des Sicherheitsrats wegen oftmals gegenläufiger Interessen der ständigen Ratsmitglieder und damit während 40 Jahren Kalten Krieges eine Paralyse der Arbeit der Vereinten Nationen verbunden war, muss wohl als Konzession an die politischen Gegebenheiten, obwohl vielfach zutreffend kritisiert, akzeptiert werden. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Grundannahme der Charta, Kriegführung gegen eines der ständigen Ratsmitglieder, die allesamt Atommächte sind, sei unmöglich, als nicht unrealistisch erscheint. Das schließt natürlich eine - derzeit ebenso unrealistisch erscheinende - Erweiterung des Sicherheitsrats zur Erreichung höherer Repräsentativität der gesamten UN-Mitgliedschaft nicht aus. 80 Rechtsfolge. Im VII.-Kapitel der UN-Charta ist dem Sicherheitsrat nun eine Palette von Möglichkeiten als Sanktionen bzw. Handlungsoptionen nach der Feststellung der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des Art.-39 eröffnet. Er kann sowohl friedliche Zwangsmaßnahmen nach Art.-41 wie etwa wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen (Embargo oder Boykott) anordnen, als auch sich für ein militärisches Vorgehen gemäß Art.- 42 der UN-Charta entscheiden. Dabei beruht, was militärische Aktionen der Vereinten Nationen angeht, die ursprüngliche Grundkonzeption der Charta darauf, dass in Ermangelung einer eigenen UN-Armee, deren Aufstellung bei der Gründung der Vereinten Nationen keine Akzeptanz fand, die über Art.-43 UN-Charta mit möglichst allen Mitgliedstaaten geschlossenen Sonderabkommen Verpflichtungen dieser Staaten bezüglich der Zurverfügungstellung von Streitkräften beinhalten sollten. Indes ist es bislang zum Abschluss dieser Sonderabkommen in über 60 Jahren des Bestehens der Organisation nicht gekommen; vielmehr sieht der Sicherheitsrat regelmäßig die Ermächtigung einzelner oder mehrerer Mitgliedstaaten zur Durchführung militärischer Zwangsmaßnahmen auf der Basis des Art.- 42 vor, wie ihm dies in Art.-48 der Charta ermöglicht ist. Das war etwa nach allerdings bestrittener Meinung die Grundlage des Tätigwerdens der USA und ihrer Verbündeten im Irak-Krieg von 1990/ 91. 81 80 Siehe zur Reform der Vereinten Nationen oben Kap.-2.2.3.4. 81 Siehe dazu etwa U. Heinz/ C. Philipp/ R. Wolfrum, Zweiter Golfkrieg - Anwendungsfall von Kapitel VII der UN-Charta, VN 39 (1991), 121ff. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="263"?> 227 Wirkungsweise des Systems kollektiver Sicherheit 1. Wer handelt? Sicherheitsrat (Entscheidung nach Art. 39 iVm. 27 (3) UN-Charta) 2. Tatbestand: Bedrohung oder Bruch des Friedens bzw. Angriffshandlung 3. Rechtsfolge: wenn Tatbestand des Art. 39 erfüllt, eröffnen sich folgende Wahlmöglichkeiten des Sicherheitsrats: ▶ Aufforderung, vorläufigen Maßnahmen Folge zu leisten (Art. 40) oder ▶ Empfehlungen (Art. 39) oder ▶ Beschluss von friedlichen Zwangsmaßnahmen (Art. 41) (Bsp.: Embargo, Boykott) oder, sofern Maßnahmen nach Art. 41 unzulänglich sein würden oder sich als unzulänglich erwiesen haben: ▶ Beschluss von militärischen Zwangsmaßnahmen (Art. 42) (Bsp.: Einsätze der See-, Luft- oder Landstreitkräfte). In der Praxis: Ersuchen an Mitgliedstaaten, Truppenkontingente zu stellen. Im Bereich der in Art.- 41 der UN-Charta vorgesehenen Maßnahmen unterhalb der Schwelle der Gewaltanwendung sind als bekannte Embargo-Maßnahmen des Sicherheitsrats etwa das Rhodesien-Embargo und das Südafrika-Embargo, angeordnet in den Sicherheitsratsresolutionen 232 vom 16. Dezember 1966 und 253 vom 29. Mai 1968 sowie 418 vom 4. November 1977, zu nennen. Die Verhängung von Waffenexportverboten durch die Sicherheitsratsresolutionen 788 vom 19.-November 1992 (Liberia), 918 vom 17. Mai 1994 (Ruanda) und 1160 vom 30.-März 1998 (Bundesrepublik Jugoslawien) waren darüber hinaus eine erste Stufe weitergehender wirtschaftlicher Sanktionen. Zu dieser Form der Sanktionierung ist zu bemerken, dass ihre Wirkung umstritten ist. Immer wieder wird geltend gemacht, dass diese als Beugemittel gedachten Maßnahmen oftmals nicht diejenigen wirklich treffen, auf die sie abzielen. Vielmehr verstehen es die sanktionsunterworfenen Regierungen oftmals, die Zivilbevölkerung unter entsprechenden Wirtschaftssanktionen der Vereinten Nationen leiden zu lassen. Wahlrecht. Festzuhalten ist schließlich, dass der Sicherheitsrat grundsätzlich ein Wahlrecht zwischen nicht militärischen und militärischen Sanktionen hat; Art.-42 führt dazu allerdings aus, dass zu militärischen Sanktionen erst dann gegriffen werden soll, wenn der Sicherheitsrat der Überzeugung ist, dass die nichtmilitärische Variante nicht ausreichend ist oder sich nicht als ausreichend erwiesen hat, um der in Art.-39 gekennzeichneten Situation Herr zu werden. Post-Konflikt-Maßnahmen. Besondere Erwähnung sollte darüber hinaus die Tatsache finden, dass der Sicherheitsrat sich in jüngerer Zeit verstärkt unter Bezugnahme auf Kapitel VII der Charta mit Maßnahmen der Post-Konfliktbewältigung befasst. Hierzu sind unter anderem neben 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="264"?> 228 der angeordneten Errichtung der Straftribunale für das frühere Jugoslawien und Ruanda (dazu Kap.- 7.1.2), Maßnahmen der Rüstungskontrollüberwachung - Inspektionssystem im Irak nach dem 2. Golfkrieg auf der Basis von Ratsresolution-687-- und der Kriegsfolgenentschädigung zu zählen. Davon soll auch an anderer Stelle noch die Rede sein (siehe unten Kap.-5.1.7.2). Interpretationsbefugnis. Insofern zeigt sich bereits, dass der Sicherheitsrat eine relativ breite Interpretationsbefugnis bezüglich seiner Kompetenzen nach Kapitel VII besitzt. Daraus leiten sich immer wieder Fragen nach der möglichen Begrenzung der Kompetenzen des Sicherheitsrats und insbesondere nach deren Überprüfbarkeit durch den Internationalen Gerichtshof (IGH) ab. Im Lockerbie-Fall 82 hat sich der Internationale Gerichtshof inzident mit der Überprüfung der Kompetenzen des Sicherheitsrates befasst und eine judizielle Kontrolle zumindest in dem konkreten Fall durch den Gerichtshof abgelehnt. 83 Dem ist insofern zuzustimmen, als nach der Konzeption der Vereinten Nationen das politisch handelnde Organ Sicherheitsrat zwar an bestimmte Grundregeln etwa des zwingenden Völkerrechts gebunden ist, sein politisches Mandat allerdings nur schwerlich bei einer entsprechenden Kontrollbefugnis des Gerichtshofs ausüben könnte. Neben dem Sicherheitsrat obliegen auch der Generalversammlung gemäß Art.-11 der UN-Charta Aufgaben bei der Friedenssicherung. Immer dann, wenn der Generalversammlung durch ein Mitglied der Vereinten Nationen, durch den Sicherheitsrat oder durch einen Nicht-Mitgliedstaat eine Frage vorgelegt wird, kann die Generalversammlung Empfehlungen an die betreffenden Staaten, den Sicherheitsrat oder an beide richten. Mit der Uniting for Peace-Resolution 84 während des Korea-Krieges bestätigte die Generalversammlung die primäre Verantwortlichkeit des Sicherheitsrats für die Bewahrung des Weltfriedens, stellte darüber hinaus aber fest, dass dann, wenn der Sicherheitsrat wegen Uneinigkeit seiner ständigen Mitglieder seine Verantwortlichkeit in den Fällen einer Friedensbedrohung, eines Friedensbruchs oder von Aggressionsakten nicht wahrnehmen könne - was wegen der sowjetischen Weigerung einer Teilnahme an den Ratssitzungen der Fall war -, die Generalversammlung sich mit der Angelegenheit befassen und Empfehlungen an den Sicherheitsrat abgeben könne („shall consider the matter immediately with a view to making appropriate recommendations to members for certain collective measures […]“). Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten betreffend bestimmter Aufwendungen der Vereinten Nationen (Certain Expenses-Gutachten, siehe unten Kap.-15.2.7) die subsidiäre Zuständigkeit der Generalversammlung zur Abgabe von Empfehlungen bei der Friedenssicherung bestätigt. Allerdings sollen Entscheidungen oder Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta gemäß Art.-11 Ziff.-2 dem Sicherheitsrat vorbehalten sein. 85 Erwähnenswert ist schließlich, dass in Kapitel VIII der UN-Charta Maßnahmen regionaler Abmachungen zur Wahrung von Frieden und Sicherheit vorgesehen sind. Solche Regionalorganisatio- 82 Siehe dazu unten Kap.-15.2.13. 83 Vielmehr nahm der IGH anhand einer prima facie-Prüfung im Rahmen der Entscheidung über vorläufige Maßnahmen an, dass die betreffende Sicherheitsratsresolution gemäß Art. 103 UN-Charta Vorrang vor anderen vertraglichen Verpflichtungen der betroffenen Parteien habe, siehe im Einzelnen dazu unten Kap.-15.2.13. 84 UNGA Res. 377 (V) vom 03.11.1950; dazu C.- Tomuschat, „Uniting for Peace“ - Ein Rückblick nach 50-Jahren, FW 76 (2001), 289ff. 85 IGH, Certain Expenses of the United Nations, Gutachten vom 20.07.1962, ICJ Reports 1962, 151, 164. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="265"?> 229 nen dienen in ihrem jeweiligen Bereich der Erhaltung oder Wahrung von Frieden und Sicherheit. Zu nennen sind hier etwa die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), 86 die Afrikanische Union (AU) 87 und in Europa vor allem die OSZE (früher KSZE). 88 Insgesamt ist zu sagen, dass das System kollektiver Sicherheit, welches während des Ost-West- Konflikts über 40 Jahre seine Funktionsfähigkeit nicht unter Beweis stellen konnte, zu Beginn der 1990er Jahre zunächst im Begriff war, seine Wirkweise stärker zu entfalten. Gerade in jüngster Zeit wird es allerdings durch Bestrebungen eher unilateralen Vorgehens seitens der Vetomächte immer wieder auf eine Belastungsprobe gestellt. Dies war besonders augenfällig im Falle des Vorgehens der USA und Großbritanniens als ständigen Ratsmitgliedern gegen den Irak trotz fehlenden Konsenses des Sicherheitsrates über die Ermächtigung zur Gewaltanwendung in Sicherheitsratsresolution 1441 vom 8. November 2002 oder auch im Falle offenkundigen Unterlassens des Tätigwerdens, wie etwa im Falle Sudan oder Simbabwe. Andererseits hat der Sicherheitsrat beim Vorgehen gegen Libyen zum Ende der diktatorischen Herrschaft des Machthabers Ghaddafi durch das Erteilen eines Mandats zur Errichtung einer Flugverbotszone über Libyen im Jahre 2011 Einigkeit bewiesen (siehe oben), die ihm indes mit dem russischen Veto gegen ein Vorgehen gegen Syrien im Jahre 2019 wieder abhanden gekommen ist. 5.1.4.3 Humanitäre Intervention mit UN-Autorisierung Interpretation der Friedensbedrohung. Bereits bei der Beschreibung des Begriffs der Friedensbedrohung wurde auf die Fälle Südrhodesien und Südafrika hingewiesen sowie insbesondere darauf, dass dort massive Menschenrechtsverletzungen durch die Politik der Rassendiskriminierung für die internationale Gemeinschaft jedenfalls mittelbar Anlass für die Verhängung von Kollektivmaßnahmen durch den Sicherheitsrat nach Art.- 41 der UN-Charta gewesen waren (siehe oben Kap. 5.1.4.2). Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts verstärkte der Sicherheitsrat die Tendenz der Annahme einer Friedensbedrohung in Fällen massiver Menschenrechtsverletzungen. Wohl gemerkt handelt es sich hier um etwas anderes als in den Fällen des Eingreifens im Wege der Selbsthilfe zum Schutze eigener Staatsangehöriger. Hier geht es vielmehr um das vom Sicherheitsrat mandatierte Eingreifen beim Vorliegen einer Situation innerhalb eines Staates, die durch die massive Verletzung von Menschenrechten gekennzeichnet ist. 89 So hat etwa das Europäische Parlament in seiner Entschließung zum Recht auf Intervention aus humanitären Gründen von 1994 90 das Ziel einer humanitären Intervention als eine Aktion definiert, die „den Schutz der Menschengrundrechte von Personen, die Staatsangehörige anderer Staaten und/ oder dort ansässig sind, durch einen Staat oder eine Gruppe von Staaten [umfasst], wobei dieser Schutz die Drohung mit Gewalt oder die Anwendung von Gewalt beinhaltet“. Beispiele für ein solches Handeln sind die Resolution 688 des Sicherheitsrates aus dem Jahre 1991, in der eine durch kurdische und schiitische 86 Dazu oben Kap.-2.2.4.4. 87 Dazu oben Kap.-2.2.4.6. 88 Siehe dazu oben Kap.-2.2.4.3; ausführlich dazu auch: C.-Walter, Vereinte Nationen und regionale Organisationen, 1996. 89 Siehe dazu etwa V.S. Mani, „Humanitarian“ Intervention Today, RdC 313 (2005), 148ff. 90 ABl. 1994, Nr. C 128, 225. 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="266"?> 230 Flüchtlingsströme anlässlich des Irak-Kuwait-Konflikts manifest werdende grenzüberschreitende Wirkung von Menschenrechtsverletzungen und damit eine Friedensbedrohung angenommen und der Einrichtung von Schutzzonen zugestimmt wurde. Ähnliches konnte für die Errichtung von Sicherheitszonen in Bosnien-Herzegowina durch die Sicherheitsratsresolutionen 824 (1993), 836 (1993) und 844 (1993) festgestellt werden. Es war in diesen Fällen also jeweils für den Sicherheitsrat relevant, dass die gravierende Völkerrechtsverletzung in Form von schweren Menschenrechtsverstößen als Friedensbedrohung im Sinne von Kapitel VII der UN-Charta anzusehen war. Eine neue Dimension erreichten die Autorisierungen humanitärer Interventionen mit Resolution 794 des Sicherheitsrates vom 3. Dezember 1992, welche die Grundlage für die letztlich nicht erfolgreiche Militäroperation „New Hope“ war, in der der Sicherheitsrat die Vereinigten Staaten von Amerika mit dem militärischen Oberbefehl über amerikanische, französische, belgische und andere Truppen ausstattete, um über die Entwaffnung von Milizen ein sicheres Umfeld für humanitäre Hilfeleistungen in Somalia herzustellen. Ohne dass hier auf ein grenzüberschreitendes Element des Konflikts abgestellt wurde, stellten allein die sich durch schwerste Menschenrechtsverletzungen auszeichnenden internen Verhältnisse Somalias den Ermächtigungsgrund dar. Ähnliches galt für die Sicherheitsratsresolution 929 (1994) als Ermächtigung für ein militärisches Eingreifen im vom Bürgerkrieg heimgesuchten Ruanda. In der Sicherheitsratsresolution 940 (1994), mit der der Sicherheitsrat ein militärisches Eingreifen in Haiti zur Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse autorisierte, war wiederum eine staateninterne Situation, nämlich die Frage der Wiederherstellung und Stabilisierung von Demokratie, Ermächtigungsgrund für militärisches Einschreiten. Seit dieser Zeit ist allerdings diese den Vereinten Nationen eine aktive Rolle zuerkennende Praxis des Sicherheitsrates, die im Ergebnis eine erhebliche Einschränkung der domaine réservé der Staaten bedeutet, in dieser Form nicht mehr festzustellen. Insbesondere hat sich im Falle des von Massenvertreibungen und Völkermord heimgesuchten Kosovo oder auch im Fall der genozidartigen Zustände in Darfur (Sudan) oder 2008 in Burma der Sicherheitsrat nicht zu einem solchen Mandat verständigen können. Dies hat, da die NATO im Kosovo dennoch militärisch tätig wurde, Anlass zu Überlegungen eines eigenständigen Ermächtigungsgrundes der humanitären Intervention auch ohne Mandatierung des Sicherheitsrates gegeben, worauf noch an anderer Stelle einzugehen ist (vgl. unten Kap.-5.1.5). Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass an humanitären Zwecksetzungen orientierte Interventionen in fremde Staaten in der Praxis des Sicherheitsrats verschiedene Voraussetzungen erfüllen müssen, um als rechtmäßig angesehen werden zu können. Eine humanitäre Intervention ist demnach als rechtmäßig zu qualifizieren. Rechtmäßigkeit von humanitären Interventionen ▶ wenn schwerste Verletzungen des Völkerrechts, i.- d.- R. Menschenrechtsverletzungen gegenüber einer Vielzahl von Personen innerhalb eines Staates (nicht notwendigerweise mit grenzüberschreitender Wirkung) begangen werden, ▶ wenn Abhilfe anderweitig nicht möglich ist ▶ und deshalb ein Mandat des Sicherheitsrates zur Intervention ermächtigt. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="267"?> 231 5.1.5 Weitere Ausnahme: Humanitäre Intervention ohne UN-Mandat? Ob es eine humanitäre Intervention einer Staatengruppe auch ohne Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, sozusagen als ungeschriebene Ausnahme vom Gewaltverbot gibt bzw. diese heute völkerrechtlich anerkannt ist, ist streitig. Nachdem bereits in früheren Zeiten das Problem der Zulässigkeit einer solchen humanitären Intervention diskutiert, aber größtenteils abgelehnt worden war, 91 entzündete sich die Streitfrage erneut am Vorgehen der NATO im Kosovo im Jahre 1999 zur Rettung der von Völkermord und Vertreibung bedrohten albanischen Bevölkerungsmehrheit der Kosovaren. Bekanntlich hatte sich die NATO unter Führung der USA zur Verhinderung einer noch größeren humanitären Katastrophe zum militärischen Vorgehen entschieden, auch weil angesichts der ablehnenden Haltung Russlands und Chinas keine Autorisierung einer Intervention durch den Sicherheitsrat zu erwarten war. Vorstehend (oben Kap.-5.1.4.3) ist nun aufgezeigt worden, dass humanitäre Interventionen nur nach Ermächtigung durch den Sicherheitsrat von der UN-Charta gedeckt sind. Eine solche ausdrückliche Autorisierung fehlte aber im Fall des Kosovo-Konflikts. Diejenigen Stimmen, die die Rechtmäßigkeit des Vorgehens im Kosovo betonen, stellen vor allem die Notwendigkeit des Tätigwerdens zur Verhütung von Schlimmerem, also vor allem größter humanitärer Probleme heraus. Sie verweisen zur dogmatischen Rechtfertigung darauf, dass Art.-2 Ziff. 4 der UN-Charta als die territoriale Unversehrtheit schützende Bestimmung in ein Verhältnis zu den an anderer Stelle der Charta anerkannten humanitären Aspirationen gesetzt werden müsse 92 und zudem angesichts der internationalen Befürwortung der Intervention namentlich durch alle NATO-Staaten eine jedenfalls in der Entwicklung befindliche gewohnheitsrechtliche Basis solcher Interventionen anzunehmen sei. 93 Die gesamte Charta und damit auch das Gewaltverbot stünden unter dem Grundsatz, dass kein Staat seine Bürger terrorisieren dürfe. 94 Auf einer etwas anderen Ebene wird einerseits auf die vorhandene Blockade des Sicherheitsrats sowie andererseits darauf verwiesen, dass die humanitäre Intervention als Selbsthilfeaktion zugunsten des sein Selbstverteidigungsrecht nicht mehr auszuüben imstande befindlichen Volkes der Kosovo-Albaner anzusehen und so auch gerechtfertigt sei. 95 Doch sind all diese Ansätze, ungeachtet ihrer über jeden Zweifel erhabenen moralischen Intention, letztlich nicht frei von Unsicherheiten. Wenn es der Philosophie der Charta entspricht, Gewaltanwendung grundsätzlich nicht unilateral und wenn kollektiv, dann nur nach Autorisierung des Sicherheitsrates zu gestatten, und eine solche Autorisierung nicht zu erlangen ist, fällt es schwer, 91 Für eine Übersicht über den Streitstand vor dem Kosovo-Konflikt vgl. A.C.-Arend/ R.J.-Beck, International Law and the Use of Force, 1993, 112-137. 92 C. Greenwood, International Law and the NATO Intervention in Kosovo, ICLQ 49 (2000), 929. 93 A. Cassese, Ex iniuria ius oritur: Are We Moving towards International Legitimation of Forcible Humanitarian Countermeasures in the World Community? , EJIL 10 (1999), 27 und 44; ähnlich auch C.-Kress, Staat und Individuum in Krieg und Bürgerkrieg, NJW 52 (1999), 3082. 94 So der Botschafter der Niederlande im Sicherheitsrat, S.C.O.R. (LIV), 4011th Meeting, 10 June 1999, 19; vgl. auch T. Franck, Recourse to Force, 2003, 170. 95 K.-Doehring, Völkerrecht, 2.-A., 2004, Rn.-1015; J.-Delbrück, Effektivität des UN-Gewaltverbots, FW 74 (1999), 152ff. 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="268"?> 232 weitere ungeschriebene Ausnahmen vom Gewaltverbot zu akzeptieren, insbesondere angesichts der Gefahr des Missbrauchs durch Staaten, die im eigenen Interesse handeln. Und ob bereits eine entsprechende Gewohnheitsrechtsbildung vorliegen kann, mag ebenfalls angesichts der beharrlich ablehnenden Haltung zweier ständiger Mitglieder des Sicherheitsrates in der Frage der UN- Intervention im Kosovo zu bezweifeln sein. Diese Spaltung ist weiterhin in den unterschiedlichen Einstellungen der ständigen Sicherheitsratsmitglieder zum Syrienkonflikt zu sehen. Schließlich ist auch zweifelhaft, ob angesichts der dauernden Befassung des Sicherheitsrates mit der Angelegenheit wirklich von dessen ein anderweitiges Vorgehen rechtfertigender Nichtbefassung auszugehen ist. Insofern ist der Beurteilung, das Eingreifen sei „technically illegal but morally legitimate“ 96 gewesen, nichts hinzuzufügen. Letztlich wird auch anhand zweier weiterer Beispiele deutlich, dass von einer entsprechenden Gewohnheitsrechtbildung bislag keine Rede sein kann: Zum einen die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft, im Jahre 2011 ein Vorgehen gegen Libyen nur nach der Sicherheitsratsresolution 1973 zu autorisieren, zum anderen das Ausbleiben eines Eingreifens der internationalen Gemeinschaft in Syrien trotz unverkennbarer humanitärer Notlage mangels Resolution des Sicherheitsrats zum Vorgehen in Syrien aufgrund russischen Vetos, gerade auch wegen vorübergehender, später verworfener amerikanischer Überlegungen in Richtung einer nur von den westlichen Sicherheitsratsmächten gestützten Intervention. Nichtdestrotz führen westliche Staaten solche Militäroffensiven bis heute noch durch, z.B. die Luftschläge der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königsreichs und Frankreichs in Syrien im April 2018, sodass man heutzutage zweifellos von einer de facto Praxis sprechen kann. 97 5.1.6 Die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) Einführende Literatur: von Arnauld, Andreas, Souveränität und Responsibility to Protect, FW 84 (2009), 11ff. Als eine in der Entwicklung befindliche neuere normative Figur der jüngeren Zeit ist nunmehr die sogenannte staatliche Schutzpflicht (responsibility to protect) zu begreifen. Sie ist eine Frucht der jüngeren Diskussion um die Effektivierung der Arbeit der Vereinten Nationen, von der oben berichtet wurde (siehe oben Kap. 2.2.3.4). War bis dahin das Eingreifen aus humanitären Gründen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt eines die staatliche Souveränität beeinträchtigenden „Rechtes zum Eingreifen“ betrachtet worden, so wird seit dem Bericht der Commission on Intervention and State Sovereignty aus dem Jahr 2001 und einer Grundsatzrede des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan von 1999 vor der UN-Generalversammlung von einer Verantwortung der internationalen Gemeinschaft zum Eingreifen in Fällen schwerster Verletzung der Menschenrechte gesprochen. Beim Vorliegen bestimmter Kriterien, wie dem Ernst der Bedrohung, der Redlichkeit der Motive, dem Einsatz als letztem Mittel und der Beachtung des 96 So T. Frank, Recourse to Force, 2002, 170, unter Berufung auf die von Richard Goldstone geleitete Independent International Commission on Kosovo, The Kosovo Report: Conflict, International Response, Lessons Learned, 2002, 164. 97 Dazu siehe etwa Die Zeit, USA werten Luftschläge als Erfolg, vom 14. April 2018: www.zeit.de/ politik/ ausland/ 2018-04/ syrien-usa-luftangriffe-giftgas-einsatz-ostghuta-russland-un-sicherheitsrat (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="269"?> 233 Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, soll eine objektive, aus humanitären Gründen zur Intervention verpflichtende Situation bestehen. 98 Trotz hochrangiger Unterstützung etwa durch die Commission on Intervention, den Ausschuss zur Erarbeitung bestehender UN-Reformschritte, 99 wird man aber derzeit diese Schutzverantwortung allenfalls als ein „Recht im Werden“ und noch nicht als völkerrechtlich voll wirksames Prinzip betrachten können. 100 Freilich kann das Tätigwerden des Sicherheitsrates in Libyen im Jahre 2011 durchaus als eine Ausprägung der Konzeption der Schutzverantwortung angesehen werden, die sich im Falle Syriens 2013 dann allerdings nicht fortgesetzt hat. 101 5.1.7 Anhang: Friedenssicherungsmaßnahmen 5.1.7.1 Friedenssicherung durch Friedenstruppen Neben den dem Sicherheitsrat ausdrücklich in Kapitel VII zu Gebote stehenden Möglichkeiten der Friedenssicherung ist seit der Anfangszeit der Organisation der Vereinten Nationen, insbesondere aber nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, in zunehmendem Maße die Entsendung sog. Friedenstruppen getreten. Gerade diese verstärkte Inanspruchnahme des sog. peacekeeping hat die Einsetzung von Friedenstruppen zu einem Mittel der Friedenssicherung werden lassen. Dieses Mittel hat freilich über die Zeit in verschiedener Hinsicht bedeutsame Wandlungen erfahren. Ursprüngliche Form. Die „peacekeeping operation“ wird jedenfalls in ihrer ursprünglichen Form definiert als eine „unter Verwendung von Streitkräften durchgeführte Aktion in der Situation eines internationalen bewaffneten Konflikts auf der Grundlage der Zustimmung aller beteiligten Parteien und - von den Zwecken der Selbstverteidigung abgesehen - ohne Anwendung von Waffengewalt“. 102 Da die von der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat gesetzten Rechtsakte ihrerseits einer Rechtsgrundlage in der Charta der Vereinten Nationen bedürfen, ist diese die letztliche Grundlage für die Schaffung und Tätigkeit aller UN-Friedenstruppen. Die Beschlüsse der UN-Organe haben es bisher vermieden, einzelne Chartabestimmungen zu nennen. In der Literatur ist häufig auf Art.- 40 UN-Charta hingewiesen worden, der dem Sicherheitsrat die Befugnis gibt, vorläufige Maßnahmen zu treffen und deren Befolgung zu verlangen (Art.-40 S.-3 UN-Charta). Andere Autoren halten die Vorschriften des Kapitels VI der Charta (Art.-33ff. UN-Charta, friedliche Beilegung von Streitigkeiten) für die einschlägige Rechtsgrundlage. Wieder 98 Siehe zum Perspektivwechsel I. Winkelmann, „Responsibility to Protect“: Die Verantwortung der Internationalen Gemeinschaft zur Gewährung von Schutz, in: FS Tomuschat, 2006, 449ff.; C.- Stahn, Responsibility to Protect, AJIL 101 (2007), 99ff. 99 Siehe dazu bereits oben Kap.-2.2.3.4. 100 So auch I. Winkelmann, „Responsibility to Protect“: Die Verantwortung der Internationalen Gemeinschaft zur Gewährung von Schutz, in: FS Tomuschat, 2006, 459f.; vgl. auch E. Luck, Der verantwortliche Souverän und die Schutzverantwortung, VN 56 (2008), 51ff.; skeptisch auch C. Stahn, Responsibility to Protect, AJIL 101 (2007), 120. 101 S. Hobe, The Responsibility to Protect and Security Council Action in Libya, IJIL 51 (2011), 502ff. 102 E. Suy, United Nations Peacekeeping System, in: R. Bernhardt (Hg.), EPIL IV, 2000, 1143ff. 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="270"?> 234 andere siedeln die Rechtsgrundlage zwischen Kapitel VI und VII als sog. Kapitel VI 1/ 2 an. 103 Bezüglich der Generalversammlung werden entsprechende Befugnisse in Art.-11 und 14 UN-Charta gesehen, die der Generalversammlung Kompetenzen im Zusammenhang mit der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit einräumen. Die meisten Kommentatoren vertreten jedoch die Auffassung, dass als Rechtsgrundlage der UN-Friedenstruppen nicht so sehr einzelne Charta-Bestimmungen, sondern die Gesamtheit aller Charta-Bestimmungen in Frage komme, in denen der Hauptzweck der UN-Charta, nämlich die Erhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, zum Ausdruck kommt. 104 Dabei stellt sich trotz fehlender ausdrücklicher Erwähnung in der UN-Charta die Frage der Kompetenzen bezüglich Bereitstellung und Kommando der Friedenstruppen in der Praxis so dar, dass zwar viele Mitgliedstaaten bis heute keine exklusive Kompetenz des Sicherheitsrates in dieser Sache annehmen und die Generalversammlung, wie der IGH in einem Gutachten zum Ausdruck gebracht hat, eine solche Kompetenz beanspruchen könnte. 105 Trotz alledem hat der Sicherheitsrat aber diesbezüglich eine dominierende Stellung inne. Dies gilt auch im Verhältnis zum Generalsekretär. Dieser kontaktiert zwar die Mitgliedstaaten bezüglich der Zurverfügungstellung von Personal und wirkt an der Entscheidung über Größe und Zusammensetzung der Truppe mit, der Sicherheitsrat legt indes die Grundsätze für die Zusammenstellung der nationalen Kontingente fest und prüft deren Anwendung durch den Generalsekretär; dem Sicherheitsrat kommt damit die entscheidende Rolle zu. Beobachter- und Friedenstruppen der UN bis 1 106 Beobachtertruppen Jahr Name Einsatzgebiet 1948-heute UN Truce Supervision Organization in Palestine (UNTSO) Israel und Nachbarstaaten 1949 UN Military Observer Group in India and Pakistan (UNMOGIP) Indien/ Pakistan 1958 UN Observer Group in Lebanon (UNOGIL) Libanon 1963-64 UN Yemen Observer Mission (UNYOM) Jemen 1965-heute UN India and Pakistan Observer Mission (UNIPOM) bis 1966, als United Nations Military Observer Group in India and Pakistan (UNMOGIP) bis heute Indien/ Pakistan 103 Siehe insgesamt M. Herdegen, Völkerrecht, 18.-A., 2019, §-41, Rn.-32. 104 Vgl. M. Zwanenburg, International Military Forces (Septermber 2015), MPEPIL (Online-Ed.). 105 IGH, Certain Expenses of the United Nations, Gutachten vom 20.07.1962, ICJ Reports 1962, 151, 172. 106 Für eine umfassende Liste der UN Friedensmissionen bis zum heutigen Tag siehe etwa https: / / peacekeeping.un.org/ sites/ default/ files/ 180413_unpeacekeeping-operationlist_2.pdf (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="271"?> 235 Friedenstruppen Jahr Name Einsatzgebiet 1956-67 United Nations Emergency Force (UNEF I) 107 Suezkanal 1973-79 United Nations Emergency Force (UNEF II) 108 Suezkanal 1960-64 Opération des Nations Unies pour le Congo (ONUC) 109 Kongo 1962-63 UN Security Force (UNSF) 110 West-Iran 1964-heute UN Force in Cyprus (UNFICYP) 111 Zypern 1956-67 UN Disengagement Observer Force (UNDOF) 112 Golan-Höhen 1978-heute UN Interim Force in Lebanon (UNIFIL) 113 Libanon 1988-89 United Nations Iran-Iraq Military Observer Group (UNIIMOG) 114 Iran/ Irak 1989 United Nations Transitions Assistance Group in Namibia (UNTAG) 115 Namibia Der Einsatz in Somalia durch die United Nations Operation in Somalia (UNOSOM) vom 9. Dezember 1992 bis zum 3. März 1995 ist besonders erwähnenswert, da dieser ausdrücklich als „humanitäre Hilfsaktion“ bezeichnet wurde, aber mit Waffengewalt durchgeführt werden musste; er begründete damit eine neue Dimension des sog. robust peacekeeping. Anlass für die Hilfsaktion war eine durch den völligen Zusammenbruch der somalischen Staatsgewalt hervorgerufene oder zumindest verschlimmerte Hungersnot, verbunden mit blutigen Unruhen. Zum ersten Mal erkannte der Sicherheitsrat die Situation des failed State, d.-h. des souveränen Staates, der ohne Aggression von außen in seiner Existenz bedroht ist (siehe dazu oben Kap. 2.1.6 a.E.). Die dem Sicherheitsrat durch Art.-24 UN-Charta übertragene Hauptverantwortung betrifft aber nicht die Sicherung der Existenz der souveränen Staaten, sondern ausdrücklich nur „die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“. Besteht zwischen zwei souveränen Staaten eine Streitigkeit, „deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden“ (Art.-33 UN-Charta), so hat der Sicherheitsrat Befugnisse im Rahmen des Kapitels VI der UN-Charta (Art.-33-38 UN-Charta). Liegt eine Bedrohung bzw. ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vor (Art.-39 UN-Charta), so kann der Sicherheitsrat Beschlüsse mit bindender Wirkung gemäß Kapitel VII UN-Charta (Art.-39-50 UN-Charta) verabschieden. Im Falle des Friedensbruchs und der Aggression muss der Sicherheitsrat, bevor er derartige Maßnahmen beschließt, einen konkreten Staat als Aggressor kennzeichnen. Der failed State ist aber kein Aggressor. Übrig bleibt nur die Möglichkeit, die Verhältnisse im zusammengebrochenen 107 Resolution der Generalversammlung Res. 1000 (ES-1, 05.11.1956) und Res. 1001 (ES-1, 07.11.1956). 108 Resolution des Sicherheitsrats vom 25.10.1973, UN SC Res. 340. 109 Resolution vom 14.07.1960, UN SC Res. 143. 110 Grundlage: Resolution der Generalversammlung vom 21.09.1962, UNGA Res. 1752 (XVII). 111 Grundlage: Resolution des Sicherheitsrats vom 04.03.1964, UN SC Res. 186. 112 Grundlage: Resolution des Sicherheitsrats vom 31.05.1974, UN SC Res. 350. 113 Grundlage: Resolution des Sicherheitsrats vom 19.03.1978, UN SC Res. 425 und 426; wurde im Jahre 2006 durch Sicherheitsratsresolution 1701 (2006) in ein sog. robustes Mandat umgewandelt. 114 Grundlage: Resolution 619 vom 09.08.1988. 115 Resolutionen 628 und 629 vom 16.01.1989. 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="272"?> 236 Staat auf Grund der drohenden massiven humanitären Katastrophe als Bedrohung des Friedens im Sinne von Art.-39 UN-Charta zu bezeichnen. All dies basiert letztlich auf der Vorstellung des Tätigwerdens der Vereinten Nationen als eine Art „Weltpolizei“ im soeben skizzierten Sinne (vgl. oben Kap.- 5.1.4.3), wie dies auch insbesondere der Konzeption des amerikanischen Präsidenten Franklin D.-Roosevelt bei der Gründung der Vereinten Nationen im Jahre 1945 entsprochen hatte. In etwas abgewandelter, aber noch schärferer Form stellten sich ähnliche Probleme bei der Entsendung einer UN-Friedenstruppe in das ehemalige Jugoslawien (United Nations Protection Force, UNPROFOR). Hier war anfangs noch unklar, ob es sich bei den Auseinandersetzungen um einen internationalen bewaffneten Konflikt (Krieg) oder um einen nicht internationalen bewaffneten Konflikt (d.-h. einen Bürgerkrieg) handelte. Der Sicherheitsrat umging diese Frage, indem er den Schutzauftrag in den Vordergrund stellte. Das Mandat konnte schwerlich als Friedenstruppe im Sinne der herkömmlichen peacekeeping forces bezeichnet werden, weil die Konfliktparteien kein entsprechendes Friedensabkommen geschlossen hatten. Andererseits ging der Auftrag von UNPROFOR weit über den einer „observer mission“ hinaus. In der politischen und diplomatischen Sprache, aber auch in der Fachliteratur, entstand der Begriff der „peacemaking forces“, der vielleicht zukunftsweisend sein sollte, aber gerade im Falle des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien wenig angebracht war, weil die zahlenmäßig zu schwache UN-Truppe den Frieden nicht erzwingen konnte. Eine Wende trat erst nach dem militärischen Sieg der kroatischen Armee im Sommer 1995 ein. Am 20. Dezember 1995 übergaben die UN-Einheiten offiziell die Befehlsgewalt an die NATO. Dies war möglich geworden auf der Grundlage des in Dayton (USA) abgeschlossenen Rahmenabkommens vom 21.-November 1995. 116 Die NATO-Streitkräfte hatten den Auftrag, die Durchführung des Dayton-Abkommens zu überwachen und erhielten deshalb die Bezeichnung „Implementation Force“ (IFOR). Friedenstruppen und -missionen der UN seit 1990 Jahr Name Einsatzgebiet 1991 United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara (MINURSO) 117 Westsahara 1992-95 United Nations Operation in Somalia (UNOSOM I und II) 118 Somalia 1992-95 United Nations Protection Force (UNPROFOR) 119 Ex-Jugoslawien 1999-heute Kosovo Force (KFOR) und United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK) 120 Kosovo 1999-heute UN Organization Mission in the Democratic Republic of the Congo (MONUC) 121 ; seit 2005: United Nations Organization Stabilization Mission in the Democratic Republic of the Congo (MONUSCO) 122 Demokratische Republik Kongo 116 ILM 35 (1996), 89ff. 117 Siehe SC Res. 690 (1991). 118 Sicherheitsratresolutionen Nr.-751 (24.04.1992), Nr.-814 (26.03.1993). 119 Resolution 743 vom 21.02.1992. 120 Grundlage beider Missionen: Resolution 1244 des Sicherheitsrates vom 10. Juni 1999. 121 Siehe SC Res. 1279 (1999). 122 Siehe SC Res. 1925 (2005). 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="273"?> 237 2001-2014 International Security Assistance Force (ISAF) 123 Afghanistan 2002-heute United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 124 Afghanistan 2003-2018 United Nations Mission in Liberia (UNMIL) 125 Liberia 2004-2017 United Nations Operations in Côte d’Ivoire (UNOCI) 126 Elfenbeinküste 2004-2017 United Nations Stabilization Mission in Haiti (MINUSTAH) 127 Haiti 2005-2011 United Nations Mission in Sudan (UNMIS) 128 Sudan 2007-2010 United Nations Mission in the Central African Republic and Chad (MINURCAT) 129 Zentralafrikanische Republik/ Tschad 2007heute African Union/ United Nations Hybrid Operation in Darfur (UNAMID) 130 Sudan (Darfur) 2011-heute United Nations Interim Security Force for Abyei (UNISFA) 131 Sudan (Abyei) 2011-heute 2012 2013 - heute 2014 - heute 2017 - heute United Nations Mission in the Republic of South Sudan (UNMISS) 132 United Nations Supervision Mission in Syria (UNSMIS) 133 United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali (MI- NUSMA) 134 United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in the Central African Republic (MINUSCA) 135 United Nations Mission for Justice Support in Haiti (MINUJUSTH) 136 Südsudan Syrien Mali Zentralafrikanische Republik Haiti Schließlich ist noch die Einsetzung einer Internationalen Sicherheitsbeistandstruppe (ISAF) in Afghanistan durch Resolution 1386 (2001) des Sicherheitsrats zur Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und Umgebung erwähnenswert. 123 Grundlage: Resolution des Sicherheitsrates 1386 (2001) vom 20. Dezember 2001. Diese Friedensmission wurde allerdings von der NATO geführt. 124 Siehe SC Res. 1401 (2002). 125 Siehe SC Res. 1509 (2003). 126 Siehe SC Res. 1528 (2004). 127 Siehe SC Res. 1542 (2004). 128 Siehe SC Res. 1590 (2005). 129 Siehe SC Res. 1778 (2007). 130 Erstmals wurde eine gemischte Truppe aus Vereinten Nationen und Afrikanischer Union zur Friedenssicherung tätig; die Mission erhielt durch Sicherheitsratsresolution 1769 (2007) ein entsprechendes Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta; siehe auch die UNAMID-homepage: http: / / unamid.unmissions. org (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 131 Siehe SC Res. 1990 (2011). 132 Siehe SC Res. 1996 (2011). 133 Siehe SC Res. 2043 (2012). 134 Siehe SC Res. 2100 (2013). 135 Siehe SC Res. 2149 (2014). 136 Siehe SC Res. 2350 (2017). 5.1 Das Gewaltverbot <?page no="274"?> 238 Auch die Entsendung der „Kosovo Force“ (KFOR)-Truppen - im Wesentlichen aus Truppen von Mitgliedstaaten der NATO unter Einbeziehung Russlands zusammengesetzt (SR Res. 1244/ 1999) - zur Wiederherstellung einer dauerhaften Ordnung und Ermöglichung der sicheren Rückkehr der vertriebenen Bevölkerung in die jugoslawische Provinz Kosovo zeigt ein sehr weitgehendes, auf Kapitel VII der UN-Charta beruhendes Mandat des Sicherheitsrats zur Friedenssicherung entgegen dem Willen der Regierung Rest-Jugoslawiens, die die Massenvertreibungen und den Völkermord im Wesentlichen betrieben hatte. Hierbei stellte die massive NATO-Militärpräsenz zunächst für eine Periode von zwölf Monaten, die später verlängert wurde, die wesentliche Grundlage der Operation dar. Problematisch für alle Friedenstruppen erweist sich gerade in jüngerer Zeit die Zusammensetzung im Wege freiwilliger Zurverfügungstellung von Truppenkontingenten durch die Mitgliedstaaten, die dazu immer weniger in der Lage bzw. willens sind, so dass nunmehr auch für Friedensmissionen auf den Einsatz von privaten Militärfirmen zurückgegriffen wird. 137 Ein Blick in die Geschichte der Einsätze von UN-Friedenstruppen zeigt zwei wesentliche Verlagerungen: Formal hat sich die Kompetenz zur Schaffung einer aus Kontingenten der Mitgliedstaaten zusammengesetzten Friedenstruppe von der Generalversammlung hin zum Sicherheitsrat verlagert. Inhaltlich hat sich der Auftrag der Friedenstruppen von der bloßen Beobachtung der Einhaltung von internationalen Abmachungen zur Beendigung von bewaffneten Konflikten auf den Schutz von Menschen in einem bestimmten Krisengebiet hin verändert. Geblieben ist allerdings die Grundvoraussetzung für den Einsatz von Beobachter- oder Friedenstruppen jeglicher Art, nämlich die Zustimmung derjenigen Länder, auf deren Gebiet die betreffenden UNO-Kräfte tätig werden sollen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Sicherheitsrat das System der kollektiven Sicherheit gegen einen Aggressor zur Anwendung bringt, bzw. wenn, wie im Falle des failed State (Somalia), eine funktionsfähige Regierung als Ansprechpartner nicht mehr vorhanden ist. 138 Die Frage der eigentlichen Rechtsgrundlage für den Einsatz von UN-Friedenstruppen jeglicher Art ist damit zwar noch nicht vollständig beantwortet. Die Legalität solcher Missionen kann aber jedenfalls im Grundsatz keinen ernsthaften Zweifeln unterliegen. Wünschenswert wäre allerdings, und das zeigt bereits die Unterschiedlichkeit der geschilderten Fälle, dass de constitutione ferenda die Voraussetzungen und möglichen Rechtsfolgen der peacekeeping-Operationen auch ihren normativen Niederschlag in der Charta der Vereinten Nationen fänden. 5.1.7.2 Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen in Krisengebieten Die Einrichtung internationaler Strafgerichtshöfe für das frühere Jugoslawien und für Ruanda durch den Sicherheitsrat und auf der Basis des Kapitels VII durch die Sicherheitsratsresolutionen 827 (1993) und 955 (1994) sind Maßnahmen der „Konfliktnachsorge“ (hierzu siehe Kap. 7.1). Darüber hinaus haben die Vereinten Nationen auch in verschiedenen anderen Fällen ebenso im 137 Siehe C. Lehnardt, Privatisierter Frieden? Die Rolle privater Militärfirmen in UN-Friedensmissionen, VN 2008, 60ff.; zur Rolle privater Militärfirmen in bewaffneten Konflikten siehe auch unten Kap.-13.7.2. 138 Zur Problematik des „failed State“ siehe bereits oben Kap.-2.1.6. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="275"?> 239 5.2 Das Interventionsverbot Sinne der Post-Konfliktbearbeitung gehandelt. So haben etwa, wie bereits vorstehend angedeutet wurde, die Vereinten Nationen im keine eigenen Strukturen von Staatsgewalt mehr aufweisenden Somalia anstelle der somalischen Staatsgewalt elementare Ordnungsfunktionen ausgeübt. Darüber hinaus haben die Vereinten Nationen hoheitliche Funktionen im Inneren in folgenden Fällen übernommen: die United Nations Transitional Authority in Kambodscha, 139 der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina nach dem Dayton-Abkommen, 140 die Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen in Ostslawonien, 141 die United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK), 142 die trotz der Erklärung ihrer Unabhängigkeit im Februar 2008 immer noch Bestand hat, 143 die Übergangsverwaltung in Osttimor (UNTAET), 144 das seit der Unabhängigkeit im Jahre 2002 als Timor-Leste bezeichnet wird und in dem aber weiterhin die sog. United Nations Integrated Mission in Timor Leste (UNMIT) die Regierung bei der Stabilisierung des Landes unterstützt 145 , sowie die bereits erwähnte, zur Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und Umgebung geschaffene International Security Assistance Force (ISAF) 146 . Die Übergangsverwaltungen dienen zum einen der administrativen Bewältigung der Probleme, sie umfassen jedoch auch humanitäre und militärische Aspekte. All diese Übergangsverwaltungen sind jeweils auf Kapitel VII der UN-Charta gestützt. 5.2 Das Interventionsverbot als Konkretisierung des Grundsatzes der souveränen Staatengleichheit Einführende Literatur: Kunig, Philip, Intervention, Prohibition of (April 2008), MPEPIL (Online-Ed.). Art.- Ziff. 1 der UN-Charta statuiert das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten. Dieses aus zwei für das Verständnis des Völkerrechts wesentlichen und aufeinander bezogenen Rechtsbegriffen - Souveränität und Gleichheit - zusammengesetzte Grundprinzip der zwischenstaatlichen Beziehungen hat als eine Grundkonstituante den Grundsatz der Souveränität. Die historische Entwicklung dieses Grundprinzips ist unter dem Gesichtspunkt der allmählichen Abschaffung des ius ad bellum bis hin zum Gewaltverbot (ius contra bellum) unter der UN-Charta geschildert worden (siehe oben Kap.-5.1 sowie Kap.-1.2 und Kap.-1.3); man muss sich also darüber im Klaren sein, dass es keinen statischen Souveränitätsbegriff gibt, sondern die Frage des faktischen Könnens von Staaten zunehmend zu einer Frage des rechtlich determinierten Dürfens geworden ist. In diesem Zusammenhang ist zutreffend formuliert worden, Souveränität sei als „sovereignty under law“ zu 139 SC Res. 745 (1992). 140 Text in ILM 31 (1992), 174. 141 SC Res. 1037 (1996). 142 SC Res. 1244 (1999). 143 Siehe zum Weiterbestehen der Resolution 1244 (1999) den Bericht des Generalsekretärs, Report of the Secretary-General on the United Nations Interim Administration Mission in Kosovo, S/ 2008/ 211 vom 28.03.2008; siehe zur Kosovo-Problematik auch oben Kap.-2.1.2. 144 SC Res. 1272 (1999). 145 Siehe SC Res. 1745 (2007). 146 SC Res. 1386 (2001). <?page no="276"?> 240 verstehen. 147 Dies wird an vielen Stellen des in diesem Buch geschilderten Völkerrechts deutlich, wenn etwa von der Reduktion des einstmals freien Kriegführungsrechts der Staaten auf das nur wenige Ausnahmen kennende Gewaltverbot, von der menschenrechtlichen Durchwirkung des staatlichen Aktionsraums in Fällen humanitärer Intervention oder auch von der Beurteilung der Immunität von Staatsrepräsentanten, der völkerstrafrechtlichen Ahndung schwerster völkerrechtlicher Delikte bzw. der staatlichen Verpflichtung zur Erhaltung der Umwelt die Rede ist. Letztlich ist es eine Konsequenz dieses Souveränitätsprinzips und seiner gegenseitigen Anerkennung, dass alle Staaten völkerrechtlich betrachtet gleich zu behandeln sind. Dabei ist sogleich dem Missverständnis zu begegnen, der Grundsatz der souveränen Gleichheit beschreibe den faktischen Zustand etwa einer Gleichheit der politischen Einflussmöglichkeit oder der ökonomischen bzw. technologischen Voraussetzungen aller Staaten. Vielmehr geht es beim Grundsatz der souveränen Staatengleichheit darum, im Sinne eines normativen Grundprinzips festzuhalten, dass im Sinne der Charta alle Staaten rechtlich gleich zu behandeln sind. An diesen Grundsatz sind nun verschiedene Konsequenzen geknüpft, von denen eine explizite und eine implizite im hiesigen Diskussionszusammenhang relevant sind. Ausdrücklich verbietet Art.- Ziff.  der UN-Charta der Organisation der Vereinten Nationen Eingriffe in die inneren Angelegenheiten der Staaten. Hierbei handelt es sich ausdrücklich um ein an die Organisation gerichtetes Verhaltensgebot im Sinne des Respekts für einen Bereich, der wiederum normativer Konkretisierung bedarf. Dass hier durch die neuere Praxis des Sicherheitsrats der Bereich der inneren Angelegenheiten (domaine réservé) einer deutlichen Reduktion unterzogen ist, ist bei der Schilderung des Systems kollektiver Sicherheit bereits deutlich geworden (siehe oben Kap.-5.1.4). Das nachfolgend schwer zu beschreibende allgemeine Interventionsverbot enthält nun das für das Völkerrecht sehr grundlegende Gebot, dass sich kein Staat in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einmischen darf. Von diesem zwischenstaatlichen Interventionsverbot soll hier nunmehr zunächst die Rede sein. 5.2.1 Anwendungsbereich und Abgrenzung Eine verbotene Intervention muss zwei Tatbestandsmerkmale erfüllen: Zum einen muss eine Einmischung in den Bereich der inneren Angelegenheiten vorliegen, zum anderen muss diese Einmischung unter Androhung oder Anwendung von Zwang erfolgt sein. Tatbestandsmerkmale der Intervention Einmischung in die inneren Angelegenheiten + Androhung oder Anwendung von Zwang 147 Siehe zum Souveränitätsbegriff in jüngerer Zeit etwa S. Oeter, Souveränität - Ein überholtes Konzept? in: H.-J.-Cremer u.-a. (Hg.), FS Steinberger, 2002, 259ff. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="277"?> 241 Innere Angelegenheiten. Zu den inneren Angelegenheiten gehören all solche nicht vom Völkerrecht geregelten Angelegenheiten, die dem den Staaten vorbehaltenen Bereich unterfallen. Dazu hat der Internationale Gerichtshof die Wahl des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Systems und die Formulierung der auswärtigen Politik gezählt. 148 Zu bedenken ist dabei allerdings, dass mit der zunehmenden Interdependenz der Staaten, insbesondere im Zuge ihrer Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen, sehr viele Bereiche nur noch in zwischenstaatlicher bilateraler oder multilateraler Kooperation erledigt werden können. Im Friedenssicherungsrecht zeigt sich etwa, dass Selbstverteidigung nur so lange erlaubt sein soll, wie sich nicht der Sicherheitsrat einer konkreten Angelegenheit angenommen hat (vgl. Art.-51 S.-1 a.E. UN-Charta). Hierauf ist Bedacht zu nehmen, wenn der Bereich der innerstaatlichen Zuständigkeit bestimmt wird. Wesentlich ist darüber hinaus, dass die Einmischung von einem Zwang begleitet ist. Der im 19.-Jahrhundert entwickelte sog. klassische Interventionsbegriff stellte bei der Begriffsbestimmung auf den Einsatz bzw. die Androhung militärischer Gewalt ab. Dort wurde also primär die territoriale Integrität der Staaten geschützt. Eine solche Begrifflichkeit würde nun zu einer völligen Deckungsgleichheit des Gewaltverbots mit dem Interventionsverbot führen. In der Erkenntnis, dass es auch unterhalb der Schwelle zwischenstaatlicher Gewaltanwendung weitere Formen der Ausübung von Zwang gegen andere Staaten gibt, ist davon auszugehen, dass sich der Interventionsbegriff im Laufe des 20. Jahrhunderts gewandelt hat. Die Generalversammlungsresolution 2131 (XX) vom 21. Dezember 1965, die Friendly Relations Declaration 149 sowie die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten 150 bezeichnen etwa neben bewaffneten Interventionen noch andere Formen der Einmischung als völkerrechtswidrig. Wenngleich diese Resolutionen nur teilweise vom allgemeinen Konsens getragen waren, bringen sie doch eine gewisse Entwicklungstendenz i.S. einer Anerkennung der völkerrechtlichen Relevanz von unterhalb der Gewaltanwendung liegendem Zwang zum Ausdruck. Nun liegt aber gerade das zentrale Problem bei der Bestimmung des im Sinne des Interventionsverbots völkerrechtlich relevanten Zwangs. Angesichts der Schwierigkeit, hier zu allgemein gültigen Begriffsbestimmungen zu kommen, empfiehlt sich eine Orientierung an Fallgruppen. Dabei dürfte zum einen als gesichert anzusehen sein, dass auch das Interventionsverbot das Verbot der Ausübung militärischer Gewalt umfasst. Für weitere Formen der Zwangsanwendung ist dem Interventionsverbot durch das Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Nicaragua-Fall eine gewisse Kontur gegeben worden. Danach wird etwa die Unterstützung von Rebellen, also von Aufständischen, sei es in finanzieller Hinsicht, durch Waffenlieferungen oder auch im Wege von Ausbildung und logistischer Hilfe, immer dann als ein Verstoß gegen das Interventionsverbot angesehen, wenn sie nicht ausschließlich humanitärer Natur ist. Insbesondere zählen auch Waffenlieferungen an Aufständische hierunter. 151 148 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §-205; ähnlich die Friendly Relations Declaration, UNGA Res. 2625 (XXV) vom 24.10.1970. 149 UNGA Res. 2625 (XXV) vom 24.10.1970. 150 UNGA Res. 3281 (XXIX) vom 12.12.1974. 151 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §-242. 5.2 Das Interventionsverbot <?page no="278"?> 242 Problematischer und entsprechend restriktiver zu beurteilen sind Maßnahmen, die zwar auch gegen einen anderen Staat gerichtet sind, allerdings etwa im Sinne feindlicher Propaganda zum Umsturz aufrufen oder legale oder gewalttätige Aktionen fördern. In aller Regel werden derartige Aktionen noch nicht dem Interventionsverbot unterfallen. Bezüglich des sogenannten wirtschaftlichen Zwangs ist einerseits auf die verschiedentlich artikulierte Mehrheitsmeinung der Mitgliedstaaten der Generalversammlung etwa in der Friendly Relations Declaration 152 Bezug zu nehmen, die diesen im Kontext des Interventionsverbots für relevant hält; andererseits ist der Internationale Gerichtshof bei der Beurteilung derartiger Maßnahmen und ihrer Subsumtion unter das Interventionsverbot durchaus zurückhaltend. 153 Zudem ist es trotz verschiedentlicher Versuche schwierig, hier allgemeingültige Kriterien zu entwickeln. 154 Das Interventionsverbot gilt, wie auch der Internationale Gerichtshof namentlich unter Bezugnahme auf die Friendly Relations Declaration bestätigt hat, auch als Satz des Völkergewohnheitsrechts. 155 Interventionsverbot Definition: Androhung oder Anwendung von unterhalb der Gewaltanwendung stehendem Druck (P) fällt auch wirtschaftlicher Druck hierunter? Nicaragua-Fall 5.2.2 Das Interventionsverbot im Verhältnis der Vereinten Nationen zu ihren Mitgliedstaaten Wie angedeutet enthält Art.-2 Ziff. 7 eine ausdrückliche Ausformung des im Verhältnis der Organisation der Vereinten Nationen zu ihren Mitgliedstaaten geltenden Interventionsverbots. Die Charta postuliert entsprechend, dass die Organisation der Vereinten Nationen keine „Befugnis […] zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören“, hat. Dieses normative Postulat ist an alle Organe der Vereinten Nationen gerichtet. Wesentlich ist zudem der Zusatz, dass schon kraft Charta-Definition aus der innerstaatlichen Zuständigkeit die Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel-VII herausgenommen ist. Denn könnte sich ein Staat, der zunächst den Tatbestand des Art.- 39 der Charta durch eine Handlung erfüllt, sich also als Friedensbrecher oder Friedensbedroher gezeigt hat, mit Erfolg gegen mögliche Zwangsmaßnahmen darauf zurückziehen, dass diese Handlungen seiner innerstaatlichen Zuständigkeit unterstünden, so würde das gesamte System kollektiver Sicherheit von vornherein seiner Wirksamkeit beraubt. 152 UNGA Res. 2625 (XXV). 153 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §-245. 154 Siehe etwa W. Kewenig, Die Anwendung wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen im Völkerrecht und im internationalen Privatrecht, BDGVR 22 (1982), 16; K.-Bockslaff, Das völkerrechtliche Interventionsverbot als Schranke außenpolitisch motivierter Handelsbeschränkungen, 1987, 82ff. 155 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §-202. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="279"?> 243 5.2.3 Weitere Konsequenzen aus dem Grundsatz der souveränen Staatengleichheit 5.2.3.1 Bindung an das Völkerrecht Als weitere Konsequenz des Prinzips der Staatengleichheit kann gelten, dass völkerrechtliche Regeln für Staaten nur-- mit Ausnahme des sog. zwingenden Völkerrechts (dazu oben Kap.-3.6) - mit ihrem Willen in Geltung kommen können. Dieser Grundsatz findet sich einerseits im freien Vertragsschlussrecht des Völkervertragrechts (dazu oben Kap.- 3.3), wie auch andererseits in der Möglichkeit des Dissentierens (persistent objector) zur Vermeidung einer Bindung durch Völkergewohnheitsrecht (dazu oben Kap.-3.4). Im Zuge der Dekolonisierung haben etwa die zur Unabhängigkeit gelangten ehemaligen Kolonien vehement, wenn auch im Ergebnis im Wesentlichen erfolglos, geltend gemacht, sie hätten an der Formulierung des nunmehr auch für sie bindenden Völkerrechts keinen Anteil gehabt. 5.2.3.2 Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und Konferenzen Ebenso müsste als Organisationsprinzip für die Beschlussfassung in internationalen Organisationen aus dem Prinzip souveräner Staatengleichheit die strikte Geltung des Einstimmigkeitsprinzips abgeleitet werden. In den Vereinten Nationen findet freilich, etwa in der Generalversammlung, ohne Ausnahme das Mehrheitsprinzip Anwendung. Hier hat ein Überstimmtwerden allerdings insofern keine Rechtsfolgen, als die Generalversammlung nur Empfehlungen aussprechen kann. Im Sicherheitsrat, der auch bindende Beschlüsse fassen kann, gilt ebenfalls das Mehrheitsprinzip, für die ständigen Mitglieder allerdings das Prinzip der Einstimmigkeit, was einem faktischen Vetorecht der ständigen Mitglieder gleich kommt. Die hierin liegende Spannung ist vielfach geschildert worden. Sie berücksichtigt die Sonderstellung der ständigen Mitglieder und stellt somit eine bei Entstehung der Vereinten Nationen als Grundwirkungsbedingung für notwendig gehaltene Modifikation des Grundsatzes souveräner Staatengleichheit dar. 156 Eine weitere Schlussfolgerung aus dem Grundsatz der Staatengleichheit ist das Prinzip der Stimmengleichheit auf internationalen Konferenzen, in Organen internationaler Zusammenschlüsse und bei allen sonstigen Gelegenheiten der Stimmzählung. Das Prinzip besagt, dass jeder Staat ohne Rücksicht auf seine Größe oder sonstige Machtfaktoren, die ihm eigen sind, nur eine Stimme besitzt. Dieses Prinzip ist in der Organisation der Vereinten Nationen voll verwirklicht. Hingegen bedienen sich zahlreiche internationale Organisationen etwa im Finanzbereich (z.-B. IWF, Weltbank, dazu unten Kap.-9.1 und 9.4) des Prinzips der Stimmwägung, um das unterschiedliche Gewicht, das die Mitglieder der Organisationen in Bezug auf den speziellen Organisationszweck besitzen, zum Ausdruck zu bringen. 157 5.2.3.3 Gerichtsbarkeit anderer Staaten Im Bereich der Gerichtsbarkeit wird aus dem Grundsatz der Staatengleichheit gefolgert, dass jeder Staat vor internationalen Gerichten die gleiche Rechtsstellung besitzt und dass ihm die gleichen Rechtsmittel zustehen (Prinzip der Waffengleichheit). Vor allen Dingen aber gilt der Grundsatz, 156 Siehe dazu bereits oben Kap.-5.1.4.2. 157 J.-Kranz, Le vote pondéré dans les organisations internationales, RGDIP 85 (1981), 313. 5.2 Das Interventionsverbot <?page no="280"?> 244 dass kein Staat über einen anderen Staat oder dessen Zustimmung vor seinen nationalen Instanzen zu Gericht sitzen kann. Dieser auf dem Rechtsgrundsatz par in parem non habet imperium beruhende Grundsatz ist sogleich (Kap.-5.2.3.5) unter dem Gesichtspunkt der Immunitäten noch näher zu behandeln. 5.2.3.4 Act of State Doctrine Eine weitere vor allem im angelsächsischen Bereich aus dem Prinzip der Staatengleichheit abgeleitete Doktrin ist dagegen umstritten. Angesprochen ist die sog. Act of State Doctrine, welche besagt, dass „Akte, die eine Regierung im Hinblick auf Personen, Sachen oder Rechte, welche sich auf ihrem Staatsgebiet befinden, setzt, von den Organen der inneren Vollziehung eines anderen Staates (Gerichte und Verwaltungsbehörden) als rechtmäßig angesehen werden müssen und damit auch jene Rechtswirkungen, die die genannten Regierungsakte im Ausland nach sich ziehen“. 158 Hierzu ist anzumerken, dass im Völkerrecht grundsätzlich keine Verpflichtung zur uneingeschränkten Anerkennung der Hoheitsakte eines anderen Staates besteht. In Bezug auf völkerrechtswidrige Hoheitsakte ist zwischen der Verletzung von zwingendem Recht (ius cogens) und nachgiebigem Recht (ius dispositivum) zu unterscheiden. Im letzteren Fall wird man eine Rechtspflicht zur Verweigerung der Anerkennung des fremden Hoheitsaktes nicht herleiten können. Soweit allerdings zwingendes Recht verletzt wurde, würde die Anerkennung des völkerrechtswidrigen Hoheitsaktes ihrerseits eine Völkerrechtsverletzung darstellen. Hiervon unberührt ist nur die Grundregel, dass es jedem Staat unbenommen bleiben muss, einer nur gegen ihn gerichteten Völkerrechtsverletzung freiwillig zuzustimmen. Die von der angelsächsischen Völkerrechtslehre geforderte allgemeine Pflicht zur Anerkennung ausländischer Hoheitsakte kann jedoch nicht auf den Grundsatz der Staatengleichheit gestützt werden und wird daher ganz überwiegend abgelehnt. Eine Aufnahme in die kontinentale europäische Rechtsprechung hat die Act of State Doctrine nicht gefunden. 159 Ihre Bedeutung im amerikanischen Recht wird dadurch-freilich nicht geschmälert. 160 5.2.3.5 Insbesondere: Immunitäten Bereits bei der Darstellung des Grundsatzes der Staatengleichheit (oben Kap.- 5.2) ist auf die Konsequenzen des Rechtssatzes par in parem non habet imperium hingewiesen worden. Ein Immunität genießendes Rechtsobjekt oder Rechtssubjekt einer fremden Hoheitsmacht ist der nationalen Gerichtsbarkeit eines dritten Staates im Wesentlichen entzogen. Von Völkerrechts wegen sind also die staatlichen Gerichte an der vollen Ausübung ihrer Jurisdiktionsbefugnis bei der Beurteilung des Verhaltens eines dritten Staates bzw. dessen Repräsentanten gehindert. Dies kann etwa für Staaten, Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder, Diplomaten und Konsuln sowie für fremde Truppen und Kriegsschiffe gelten. Nachfolgend soll neben dem Grundsatz der 158 P. Fischer/ H.F.-Köck, Allgemeines Völkerrecht, 6.-A., 2004, 141. 159 Siehe G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 1 f..-A., 1989, §-75, 490-m.w.N. in Fn. 38-42. 160 F.L. Kirgis, Understanding the Act of State Doctrine’s Effect, AJIL 82 (1988), 58ff.; M.-Singer, The Act of State Doctrine of the United Kingdom: An Analysis, with Comparisons to United States Practice, AJIL-75 (1981), 283ff. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="281"?> 245 Staatenimmunität nur derjenige der persönlichen Immunität der Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder dargestellt werden; die für Diplomaten und Konsuln geltenden Regeln folgen bei der Darstellung des Diplomaten- und Konsularrechts (unten Kap.-8). 161 Staatenimmunität. Der Grundsatz der Staatenimmunität, der aus dem soeben dargestellten Grundsatz der Staatengleichheit hergeleitet wird, galt zu Zeiten eines staatliche Souveränität geradezu verabsolutierenden Koordinationsvölkerrechts fast unbegrenzt, mit der Folge, dass es den souveränen Staaten untersagt war, übereinander zu Gericht zu sitzen. Dies fand in der Herausprägung und weitgehenden Anerkennung der Act of State Doctrine im anglo-amerikanischen Rechtskreis, 162 also der Anerkennung auch völkerrechtswidriger Staatsakte durch nationale Gerichte, seine Bestätigung. Heute hat sich im Zuge der Wandlung der Völkerrechtsordnung zu einer Kooperationsordnung (dazu bereits oben Kap.-1.3) die grundsätzliche Unantastbarkeit des Staatshandelns dahingehend gewandelt, dass hoheitliche und nicht hoheitliche Akte unterschiedlich zu behandeln sind. Staatliche Hoheitsakte, sog. acta iure imperii, sind nach wie vor fremder Jurisdiktionsgewalt entzogen, während dies bei nicht hoheitlichem Handeln, den sog. acta iure gestionis, nicht gilt. Im gerichtlichen Erkenntnisverfahren wird diese Regel ebenso angewendet, wie dies etwa bei Klagen früherer NS-Zwangsarbeiter 163 bzw. bei Klagen von Hinterbliebenen von NS-Opfern auf Schadensersatz anzunehmen ist. 164 Die Unterscheidung in nicht hoheitliches und 161 Zur Frage der Immunität militärischer Einrichtungen und von Kriegsschiffen siehe etwa K.-Doehring, Völkerrecht, 2.-A., 2004, Rn.-692ff. 162 Dazu bereits oben Kap. 5.2.3.4 m.w.N. 163 US Court of Appeals, Hugo Princz v. Republic of Germany, ILM 33 (1994), 1483. 164 Ein anschauliches Beispiel für die Missachtung dieser Regel ist das Urteil des Obersten Griechischen Gerichtes im Fall Distomo, welches die Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland wegen der Erschießung ziviler Geiseln durch eine SS-Einheit im Jahre 1944 vornahm. Siehe dazu mit Nachweisen der einschlägigen internationalen Rechtsprechung S. Hobe, Durchbrechung der Staatenimmunität bei schweren Menschenrechtsverletzungen - NS-Delikte vor dem Aeropag, IPRax 2001, 368ff. Eine eingeschränkte Immunität gilt auch im Vollstreckungsverfahren, wobei das Völkergewohnheitsrecht vor Zwangsmaßnahmen in einem anderen Staat schützt, siehe etwa BVerfGE 64, 1; House of Lords, Alcom Ltd. v. Republic of Colombia, ILM 23 (1984), 719. Insofern erweist sich auch der griechische Vollstreckungsversuch in das in Athen gelegene Gebäude des deutschen Goethe-Instituts in der Rechtssache Distomo als völkerrechtswidrig; vgl. dazu auch das Urteil des BGH vom 26.06.2003, Az.-III ZR 245/ 98, welches die Anerkennung des Urteils des griechischen Gerichts ausschließt, weil das Urteil dem völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität widerspricht. Steht somit nach Völkerrecht fest, dass es Ansprüche Einzelner gegen ehemalige Kriegsgegner nicht gibt, sieht sich Deutschland in jüngerer Zeit als Staat wiederholt Schadensersatzansprüchen Griechenlands und Polens wegen nationalsozialistischer Verbrechen im 2. Weltkrieg ausgesetzt. Dabei verweist Deutschland gegenüber den Reparationsansprüchen Griechenlands darauf, dass sich diese bereits durch Zahlungen Deutschlands nach dem Pariser Abkommen von 1946 und dem Globalentschädigungsabkommen von 1960 erledigt hätten. Gegenüber der seit 2017 nach der Regierungsübernahme durch die Partei PIS vertretenen Meinung, Deutschland habe bislang nicht adäquate Reparationsleistungen getätigt, wird von deutscher Seite darauf hingewiesen, dass zum einen ein Verzicht der ehemaligen Sowjetunion gegenüber der ehemaligen DDR aus dem Jahre 1953 auch die polnischen Ansprüche gegenüber Deutschland umfasst habe, was ausdrücklich während der Verhandlungen zum deutsch-polnischen Vertrag vom 9.12.1970 bestätigt worden sei. Jedenfalls seien solche Ansprüche aber hernach weder im 2 plus 4-Vertrag vom 12.9.1990 noch in dem deutsch - polnischen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 5.2 Das Interventionsverbot <?page no="282"?> 246 hoheitliches Handeln eines Staatenvertreters kann dabei zu schwierigen Abgrenzungen etwa im Bereich seines deliktischen Handelns oder auch beim Handeln von Staatsunternehmen führen, auf die hier aber nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. 165 Persönliche Immunitäten. Eine besondere Stellung im Völkerrecht haben insbesondere Staatsoberhäupter sowie Regierungschefs und Regierungsmitglieder inne. 166 Das Staatsoberhaupt als oberster Repräsentant des Staates genießt nämlich grundsätzlich volle Immunität, und zwar sowohl für acta iure imperii als auch für acta iure gestionis. Für letztere ist er, jedenfalls für die Zeit der Innehabung des Staatsamtes, von der Jurisdiktionsgewalt des Aufenthaltsstaates umfassend befreit. Allerdings gibt es heute bereits deutliche Anhaltspunkte für eine Änderung der internationalen Staatenpraxis dahingehend, dass nach Beendigung seines Amtes das Staatsoberhaupt nicht nur für privates Handeln während der Amtszeit von Drittstaaten zur Verantwortung gezogen werden kann, sondern jedenfalls dann auch für hoheitliches Handeln, wenn dieses Handeln in besonders gravierender Weise gegen die Grundsätze des völkerrechtlichen ordre public, etwa durch Begehung völkerrechtlicher Verbrechen (dazu unten Kap.-14) verstoßen hat. Darauf deuten nicht nur die Entscheidungen des britischen House of Lords im Falle des ehemaligen chilenischen Junta-Chefs Pinochet 167 und die vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Entscheidung des Bundesgerichtshofs über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder der DDR-Regierung für die Todesschüsse an der Berliner Mauer, 168 sondern auch die Bestimmungen der Statuten der ad hoc-Straftribunale für Jugoslawien (Art.-7 Nr.-2) und Ruanda (Art.-6 Nr.-2) sowie Art.-27 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs hin, die alle die Berufung auf Immunität versagen. Fälle. Für Minister besteht über den genauen Umfang der Immunität in Zivil- und Strafverfahren vor Fremdengerichten nach wie vor Unsicherheit. Für den Fall von Außenministern hat der Internationale Gerichtshof im Arrest Warrant-Fall vom 11. April 2000 (Democratic Republic of Congo v. Belgium) 169 eine absolute Immunität in Strafverfahren vor nationalen Gerichten, also eine Befreiung von ausländischer Strafgerichtsbarkeit angenommen. 170 17. Juni 1991 geltend gemacht worden und somit verwirkt, ggf. sogar verjährt. Siehe zum Gesamten P. d’Argent, Reparations after World War II (Mai 2009), MPEPIL (Online-Ed.). 165 Siehe dazu K.-Doehring, Völkerrecht, 2.-A., 2004, Rn.-663 f.; sowie H. Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, 1985. 166 Zu Regierungschefs und Regierungsmitgliedern siehe im Einzelnen A.- Watts, The Legal Position in International Law of Heads of States, Heads of Governments and Foreign Ministers, RdC 247 (1994/ III), 9ff.; K.-Doehring, Völkerrecht, 2.-A., 2004, Rn.-673, sowie M.-Bothe, Die strafrechtliche Immunität fremder Staatsorgane, ZaöRV 31 (1971), 246ff. 167 House of Lords, Urteil vom 17.12.1998, ILM 38 (1999), 430, sowie Urteil vom 24.03.1999, ILM 38 (1999), 581ff.; dazu allgemein K.-Ambos, Der Fall Pinochet und das anwendbare Recht, JZ 54 (1999), 16ff.; H.-Ahlbrecht/ K.-Ambos (Hg.), Der Fall Pinochet(s), 1999. 168 BGHSt 40, 218; dazu S. Hobe/ C.-Tietje, Government Criminality, GYIL 37 (1994), 386ff. 169 ILM 41 (2002), 536ff.; siehe dazu K.R. Gray, Case Concerning the Arrest Warrant of 11 April 2000 (Democratic Republic of the Congo v. Belgium), EJIL 13 (2002), 723ff.k; J.-Wouters, The Judgement of the International Court of Justice in the Arrest Warrant Case: Some Critical Remarks, LJIL 16 (2003), 253ff. 170 ILM 41 (2002), 563ff., Ziff. 51ff. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="283"?> 247 Darüber hinausgehend ist nicht zu übersehen, dass es auch Tendenzen gibt, die Immunität amtierender Staatsoberhäupter für acta iure imperii in solchen Fällen zu verneinen. Die entsprechenden Statuten der Strafgerichtshöfe lassen sich in diesem Sinne auslegen und die Erhebung einer Anklage gegen den damals noch amtierenden jugoslawischen Präsidenten Milošević seitens des Jugoslawien-Tribunals, sowie des sudanesischen Präsidenten Umar al-Baschir vor dem Internationalen Strafgerichtshof im Jahre 2009 und 2010 171 erscheint als ein Indiz in diese Richtung. So begrüßenswert eine solch deutliche Grenzziehung auch für staatliche Hoheitsakte wäre, so fraglich erscheint es momentan doch noch, ob eine so weitreichende Einschränkung der Immunität des Staatsoberhauptes, die das ebenfalls respektable Interesse am notfalls auch mit einem Rechtsbrecher aufrechtzuerhaltenden völkerrechtlichen zwischenstaatlichen Verkehr zurückdrängt, bereits dem geltenden Völkerrecht zu entnehmen ist. Diese Skepsis wird vom Internationalen Gerichtshof in dem oben angesprochenen Arrest Warrant-Fall bestätigt. Denn nach Ansicht des IGH hat sich das Völkergewohnheitsrecht noch nicht dahingehend entwickelt, dass eine Durchbrechung der Immunität von Regierungsmitgliedern für die Dauer ihrer Amtszeit angenommen werden könnte. 172 Das wird durch die Entscheidung des Internationalen Gerichtshof vom 3.2.2012 in dem Rechtsstreit zwischen Deutschland und Italien (siehe unten 15.2.24) wegen der italienischen Beschlagnahme u.- a. der deutschen Villa Vigoni in Italien als Vollstreckungsgegenstand für Schadensersatzforderungen italienischer Zwangsarbeiter unter dem nationalsozialistischen Unrechtsregime insofern bestätigt, als der IGH in diesen Vollstreckungshandlungen eine Verletzung der deutschen Immunität gesehen hat, die auch durch schwere Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsarbeit nicht aufgeweicht werde. 5.2.4 Exkurs: Cyberwar als Eingriff in die staatliche Souveränität Aufgrund zahlreicher Vorfälle in jüngster Zeit 173 ist die Problematik des Cyberwar, also die „Kriegführung mit virtuellen Mitteln“, in den Fokus auch der Völkerrechtslehre gerückt. Grundsätzlich kommt hierbei eine Einordnung solcher Attacken als Verstoß gegen das Interventionsverbot, als unzulässige Gewaltanwendung und als bewaffneter Angriff in Betracht. Verfehlt ist es hierbei jedoch wohl, von vornherein eine Einordnung virtueller Attacken in eine der genannten Kategorien vorzunehmen. 174 Denn dies würde weder Sinn und Zweck der Abstufungen in der UN-Charta entsprechen, noch eine sachgerechte Bewertung mit ihren rechtlichen Konsequenzen erlauben. Vielmehr ist eine Differenzierung analog zu physischen Auswirkungen anhand von Art und Ausmaß des Angriffs vorzunehmen. 175 Zwar wird man den Begriff des „bewaffneten Angriffs“ („armed 171 Zwei Haftbefehle wurden ausgestellt, www.icc-cpi.int/ darfur/ albashir (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 172 ILM 41 (2002), 563ff., Ziff. 58; für eine Beschreibung moderner Tendenzen des Immunitätsrechts siehe die Referate von H. Krieger, A. Ziegler, S. Talmon und H. Schack auf der Luzerner Zweijahres-Tagung 2013 der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht. 173 Vgl. M. Roscini, World Wide Warfare - Jus ad bellum and the Use of Cyber Force, MPUNYB 14 (2010), 88f. 174 Siehe auch Y. Dinstein, Computer Network Attacks and Self-Defense, International Law Studies 76 (2002), 99ff. 175 C. Dunlap, Towards a Cyberspace Legal Regime in the 21st Century: Considerations for American Cyberwarriors, Nebraska Law Review 88 (2009), 714ff. 5.2 Das Interventionsverbot <?page no="284"?> 248 attack“) (siehe hierzu Kap. 5.1.3.2) in Art. 51 UN-Charta selbst nicht so weit ausdehnen können, dass er auch „virtuelle Waffen“ (etwa Viren und Trojaner) umfasst. 176 Denn hier bildet der Wortlaut wohl eine nicht überwindbare Grenze, da „bewaffnet“ bzw. „armed“ ein physisches Element in sich trägt. 177 Dennoch wäre es nicht mit dem Geist der UN-Charta vereinbar, wenn das „naturgegebene Recht“ auf Selbstverteidigung nur deshalb nicht greifen würde, weil die Schäden nicht physisch vermittelt, sondern bloß durch virtuelle Maßnahmen hervorgerufen werden. Daher ist eine Betrachtung anhand der Schwere der Schäden unter Anwendung der Maßstäbe bei konventionellen Mitteln anzuwenden, womit man ggf. zu einer analogen Anwendung von Art. 51 UN-Charta kommen kann. 178 Wenn die Auswirkungen daher den Schäden bei einem konventionellen bewaffneten Angriff entsprechen, kann auch von einem „virtuellen bewaffneten Angriff “ und damit von einer analogen Anwendung des Art. 51 UN-Charta ausgegangen werden. Bleiben die Auswirkungen unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs, so sind die Maßnahmen je nach Art und Ausmaß entweder als Gewaltanwendung außerhalb von Art. 51 UN-Charta (analog) oder als Verstoß gegen das Interventionsverbot zu werten. Letzteres wird insbesondere der Fall sein, wenn Daten lediglich ausgespäht werden, in virtuelle Sicherheitsbereiche eingedrungen wird oder insgesamt lediglich computerbezogene Auswirkungen vorhanden sind, die nicht wesentlich die Verteidigungsbereitschaft eines Staates mindern. 179 Nicht auszuschließen ist jedoch, dass sich der Begriff des „bewaffneten Angriffs“ im Wege der Vertragspraxis und auch im allgemeinen Wortlaut zukünftig so weiterentwickelt, dass er auch virtuelle Waffen umfasst. 180 Offen sind dabei auch noch Fragen der Zurechnung von „cyber attacks“, welche von Privatpersonen ausgehen. Diese Personen können sich bei computergestützten Angriffen überall auf der Welt aufhalten, auch außerhalb des angegriffenen bzw. des angreifenden Staates. Hier dürfte eine Zurechnung eines Hackerangriffs zum Aufenthaltsbzw. Veranlasserstaat analog zu den Zurechnungskriterien bei konventionellen Maßnahmen anzunehmen sein. Insofern wird also auch dann eine Zurechnung zu bejahen sein, wenn ein Staat die „Cyberattacke“ effektiv kontrolliert oder wenn den Hackern bewusst Unterschlupf für ihr Vorhaben gewährt wird. In den letzten Jahren ist diese Thematik mit der Zunahme solcher virtueller Angriffe insbesondere auf staatliche Institutionen umso wichtiger geworden. 5.3 Das Prinzip der Gegenseitigkeit Einführende Literatur: Verdross, Alfred/ Simma, Bruno, Universelles Völkerrecht, 3.- A., Berlin 2010, §§ 64ff. 176 So aber wohl: A. von Arnauld, Völkerrecht, 4. A., 2019, Rn. 1086. 177 Vgl. Oxford Dictionary zu „armed“: „equipped with or carrying a firearm or firearms“. 178 S. Hobe/ R. Popova, Law in Cyberspace? , ZLW 67 (2018), 254-278; A. Randelzhofer/ G. Nolte, Action with Respect to Threats, Breaches of Peace, and Acts of Aggression, in: B. Simma/ D.-E. Khan/ G.Nolte/ A. Paulus (Hg.), The Charter of the United Nations, 3. A., 2012, Art. 51, Rn. 43. 179 Y. Dinstein, Computer Network Attacks and Self-Defense, International Law Studies 76 (2002), 101, M. Roscini, World Wide Warfare - Jus ad bellum and the Use of Cyber Force, MPUNYB 14 (2010), 93. 180 Vgl. A. Randelzhofer/ G. Nolte, Action with Respect to Threats, Breaches of Peace, and Acts of Aggression, in: B. Simma/ D.-E. Khan/ G.Nolte/ A. Paulus (Hg.), The Charter of the United Nations, 3. A., 2012, Art. 51, Rn. 43. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="285"?> 249 5.3 Das Prinzip der Gegenseitigkeit Weitgehend unumstritten ist die Völkerrechtsordnung vom Grundsatz der Gegenseitigkeit geprägt. Dies ist u.- a. Ausfluss der Tatsache, dass es sich um Rechtsregeln für souveräne und gleiche Staaten und andere Völkerrechtssubjekte handelt. Der Grundsatz der Gegenseitigkeit (Reziprozität) bildet neben der bona fides, also dem einvernehmlichen Zusammenwirken der Staaten und der Erfüllung der Pflichten nach Treu und Glauben, aus der etwa auch das Verbot des Rechtsmissbrauchs herzuleiten ist, 181 einen weiteren wichtigen Pfeiler der Völkerrechtsordnung. 182 Der Grundsatz der Gegenseitigkeit kommt einmal bei der Entstehung völkerrechtlicher Normen zur Geltung. Es wird deutlich, dass beim Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge durch die Vereinbarung von Leistung und Gegenleistung, aber auch bei der Entstehung des Völkergewohnheitsrechts, der Rekurs auf die Reziprozität in der Staatenpraxis relevant wird. 183 Darüber hinaus spielt Reziprozität auch bei der Erfüllung einmal geltenden Völkerrechts eine wesentliche Rolle. Die Erwartung und Verwirklichung gegenseitiger Vorteile, aber auch die Wechselseitigkeit von Zugeständnissen lässt Staaten ihre Verpflichtungen in der Regel ohne äußeren Zwang erfüllen, was sich als Grundvoraussetzung für das auf-der Ebene der Gleichordnung funktionierende System des Völkerrechts erweist. Konkrete Ausprägung hat der Grundsatz der Gegenseitigkeit etwa im Rahmen des Wirtschaftsvölkerrechts und hier insbesondere im GATT gefunden. Gewährte Handelsvorteile der Staaten müssen untereinander im Gleichgewicht bleiben, den Handelsvorteilen für einen Staat sollen gleichwertige Zugeständnisse der anderen Staaten gegenüber stehen (vgl. Art.- XXIII und Art.-XXVIII GATT; dazu unten Kap.-9.2.3). Allfällige Versuche, insbesondere der Entwicklungsländer bei ihrem Bestreben um die Etablierung einer neuen Weltwirtschaftsordnung anstelle des Grundsatzes der Gegenseitigkeit einen Grundsatz präferenzieller Behandlung in das Welthandelsrecht einzufügen, sind nur von teilweisem Erfolg gekrönt gewesen. Teil IV des GATT und insbesondere dessen Art.-XXV Abs. 5 (sog. Waiver-Klausel) sowie Vorschriften über den Meeresbergbau in Teil XI des Seerechtsübereinkommens von 1982 (dazu unten Kap.-11.1) als Teilverwirklichung der Idee des „gemeinsamen Erbes der Menschheit“ stellen solche spezifischen Ausprägungen und teilweise Modifikationen des Grundsatzes der Gegenseitigkeit dar. Eine besondere Ausprägung der Reziprozität im Sinne einer Gegenseitigkeitserwartung findet sich auch im humanitären Völkerrecht (siehe dazu unten Kap.-13.4.6). Auch Formen der Sanktionierbarkeit von Völkerrechtsverstößen, etwa Retorsion oder Repressalie (dazu unten Kap.-6.1) sind vom Grundsatz der Reziprozität gekennzeichnet. 184 Insofern ist hier festzuhalten, dass Selbsthilfemittel, die im normalen zwischenstaatlichen Verkehr nicht erlaubt sind, eben immer nur als Reaktion auf völkerrechtswidriges Verhalten eines anderen Staates als Partner der Völkerrechtsordnung und nur nach Maßgabe der zugefügten Völkerrechtsverletzung zulässig sind. Insgesamt ist zu beobachten, dass zwar gewisse Tendenzen zur Verobjektivierung bestimmter Grundregeln der Völkerrechtsordnung im Sinne einer zunehmenden Anerkennung 181 Siehe dazu G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht I/ 3, 2.-A., 2002, 845ff. 182 A. Verdross/ B.-Simma, Universelles Völkerrecht, Nachdruck der 3.-A. 1984, 2010, §-62. 183 Zu letzterem B.-Simma, Das Reziprozitätselement in der Entstehung des Völkergewohnheitsrechts, 1970, 14. 184 A. Verdross/ B.-Simma, Universelles Völkerrecht, Nachdruck der 3.-A. 1984, 2010, §-67. <?page no="286"?> 250 von deren zwingendem Charakter als ius cogens-Norm mit erga omnes-Wirkung zu konstatieren sind, sich dadurch allerdings (noch) nicht grundsätzlich die rezip-roke Struktur der Völkerrechtsordnung verändert hat. 5.4 Pflicht der Staaten zur gegenseitigen Zusammenarbeit Einführende Literatur: Delbrück, Jost, The International Obligation to Cooperate, in: H. Hestermeyer et al. (Hg.), FS Wolfrum, Leiden 2012, 3ff. Wenn in historischer Perspektive von der gegenwärtigen Völkerrechtsepoche der Zusammenarbeit unter dem spezifischen Aspekt der Globalisierung die Rede war (oben Kap.-1.3.5.3), stellt sich unweigerlich die Frage, welchen rechtlichen Stellenwert die gegenseitige staatliche Zusammenarbeit besitzt und ob es darüber hinausgehend sogar eine Zusammenarbeitspflicht der Staaten im allgemeinen Völkerrecht gibt. In der Tat ist diese Frage vehement im Zusammenhang mit den letztlich weitgehend erfolglosen Bestrebungen der dekolonisierten Staaten um die Umgestaltung der internationalen Wirtschaftsordnung in eine neue Weltwirtschaftsordnung gestellt worden. Wenn sich das Völkerrecht heute vom bloßen Koexistenzzum Kooperationsrecht gewandelt hat (dazu bereits oben Kap.- 1.3.5.3), ist zu fragen, ob diese neue Struktur im Zeitalter der Globalisierung auch Auswirkungen auf mögliche zwischenstaatliche Zusammenarbeitsgebote hat. Ansätze für kooperatives Verhalten der Staaten und ggf. auch für den darüber hinausgehenden solidarischen Charakter des Völkerrechts sind etwa die Art.-1 f., 55 und 56 der UN-Charta sowie andere modifizierte Staatengemeinschaftsinteressen als auch besonders die Menschenrechte. 185 Hinzugetreten sind in jüngster Zeit jedoch weitere Bedrohungen, welche aufgrund ihres weltweiten Charakters Bedrohungen der ganzen Menschheit darstellen können und auf welche die Staatengemeinschaft reagiert hat. Hierzu zählen Umweltprobleme wie der Klimawandel, das Artensterben und der Verlust an Biodiversität, ebenso wie die politische Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und wirtschaftliche Probleme infolge internationaler Finanzkrisen. Verstärkte staatliche Interdependenz. Das Zeitalter der Globalisierung bringt die technologische, kommunikative und wirtschaftliche Vernetzung der gesamten Welt in nie gekannter Intensität mit sich. Daher stellt sich die Frage der Zusammenarbeit im Allgemeinen und insbesondere einer Zusammenarbeitspflicht neu. Es gilt nun vorrangig, angesichts der geringer werdenden Steuerungskapazität der Staatenwelt im internationalen System und der immer prononcierteren Etablierung nichtstaatlicher Akteure 186 auch eine (völker-)rechtliche Ausgestaltung dieser globalen Interdependenz zu erreichen. Die globalen Herausforderungen des 1. Jahrhunderts verlangen nach staatengemeinschaftlichen Lösungen. Insofern würde es dem Interesse aufgeklärter souveräner Staaten am ehesten entsprechen, im Sinne bestimmter Staatengemeinschaftsinteressen zur Vermeidung bzw. Bekämpfung globaler Problemlagen wie etwa Überbevölkerung und Unterentwicklung, nuklearer 185 Siehe etwa zu verschiedenen dogmatischen Begründungen eines Solidaritätsprinzips U. Scheuner, Solidarität unter den Nationen als Grundsatz in der internationalen Gemeinschaft, in: FS Menzel, 1975, 251ff.; R. Wolfrum, International Law of Cooperation (April 2010), MPEPIL (Online-Ed.); R.- Schütz, Solidarität im Wirtschaftsvölkerrecht, 1994. 186 Dazu S. Hobe, Die Zukunft des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, AVR 37 (1999), 253ff. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="287"?> 251 5.4 Pflicht der Staaten zur gegenseitigen Zusammenarbeit Proliferation, globaler Migration und Umweltzerstörung bzw. internationalem Terrorismus, zusammenwirkend zu handeln. Darin kommt bereits zum Ausdruck, dass es sich angesichts der neuen Interdependenz der Staatenwelt praktisch kein Staat mehr erlauben kann, sich der Zusammenarbeit im Sinne des grenzüberschreitenden Austausches von Gütern, Dienstleistungen und Menschen vollständig zu entziehen. Normativ gewendet stellt sich freilich sodann die Frage, ob insofern noch das Postulat des klassischen Völkerrechts aufrechtzuerhalten ist, jeder Staat sei völlig frei in der Entscheidung über jedwede Form der Zusammenarbeit mit anderen. Fragt man entsprechend nach der normativen Fundierung einer möglichen Zusammenarbeitspflicht, so fällt jede generelle Antwort schwer, wenngleich heute Ansätze in Richtung einer solchen Verantwortlichkeit erkennbar sind. Hatte die Friendly Relations Declaration von 1970 bereits auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der Staaten verwiesen, ist heute im internationalen Wirtschaftsrecht ein signifikanter und auch normativ verfestigter Trend zur weiteren Öffnung nationaler Märkte zum Austausch von Gütern und Dienstleistungen und damit auch zu stärkerer Zusammenarbeit zu beobachten (siehe dazu unten Kap.-9). Umweltrecht. Auch das moderne internationale Umweltrecht (dazu unten Kap.-12) zeichnet sich verstärkt durch die Aufstellung von Kooperationspflichten zum Schutze des Staatengemeinschaftsguts Umwelt aus. Kann man insofern von einer Verantwortungsgemeinschaft sprechen, ist der normative Schlüsselbegriff derjenige einer „common, but differentiated responsibility“, 187 wie ihn die Rechtsregimes zum Schutze der Ozonschicht von 1985 und 1987 188 , die Klimarahmenkonvention von 1992 189 und die Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt von 1992 190 formulieren. Danach haben Industriestaaten wie Entwicklungsländer zwar eine grundsätzlich gemeinsame Verantwortung für den Erhalt globaler öffentlicher Güter (z.-B. der Umwelt); die Industriestaaten haben aber darüber hinaus die Verpflichtung, die Entwicklungsländer auf ihrem Weg dahin etwa durch finanzielle Hilfe und Technologietransfer zu unterstützen. Sieben der Deklarationen von Rio de Janeiro von 1992 heben die gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortlichkeit der Staaten deutlich hervor. Diese spezifische Verantwortlichkeit enthält einmal die Notwendigkeit zur Kooperation durch die Unteilbarkeit der ökologischen Grundlagen, auf denen das Leben auf dem Planeten Erde beruht, und leitet daraus andererseits die Bildung einer globalen Partnerschaft ab. 191 Menschenrechtsschutz. Und schließlich ist auch im Bereich des Menschenrechtsschutzes zu beobachten, dass dessen zunehmende Verdichtung, besonders verdeutlicht in der erga omnes-Wirkung bestimmter Menschenrechte, tendenziell kooperative Handlungspflichten der Staaten zum Schutze des Individuums mit sich bringt. Dogmatisch nimmt diese Verpflichtung bei schwersten Menschenrechtsverletzungen die Form einer Schutzverantwortung („responsibility to protect“) (dazu oben Kap. 5.1.6) der Staatengemeinschaft an, deren normativer Gehalt im gegenwärtigen Völkerrecht jedoch, wie oben gezeigt, noch in der Diskussion ist. 192 187 Dazu B.-Kellersmann, Die gemeinsame, aber differenzierte Verantwortlichkeit von Industriestaaten und Entwicklungsländern für den Schutz der globalen Umwelt, 2000. 188 BGBl. 1988 II, 902, 1014. 189 BGBl. 1993 II, 1784. 190 BGBl. 1993 II, 1742. 191 So zutreffend G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 3, 2002, 860. 192 Dazu: A. Rausch, Responsibility to Protect, 2011. <?page no="288"?> 252 Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Erkannt wurden seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts akute, aber keineswegs neue Bedrohungen, für die die Staatengemeinschaft in unterschiedlichen Konstellationen eine Lösung gesucht hat. Dazu gehören die seit dem 11. September 2001 in den Fokus getretenen Bedrohungen des Friedens durch den internationalen Terrorismus 193 . Das Tätigwerden des UN-Sicherheitsrats, der NATO und weiterer Verbündeter der USA, wodurch unter anderem das Recht zur Selbstverteidigung der USA im konkreten Fall 194 sowie ausdrücklich die Pflicht zur Zusammenarbeit der UN-Mitglieder in der Terrorbekämpfung anerkannt wurde, 195 zeigt eindrucksvoll, wie aktuelle Ereignisse die Weiterentwicklung des Völkerrechts prägen können. Finanzmärkte. Auch das Funktionieren der internationalen Finanzmärkte und der Staatenfinanzierung wurde seit der von den USA ausgehenden Subprime-Krise und der Euro-Staatsschuldenkrise als Staatengemeinschaftsinteresse erkannt. 196 Auch wenn die hierzu getroffenen rechtsverbindlichen Maßnahmen gegenwärtig noch Stückwerk sind, so wurde damit doch anerkannt, dass das Funktionieren eines internationalen Finanzmarktes für das globale Wirtschaftswesen und damit für die Menschheit insgesamt ein vitales Interesse darstellt, welches es zu schützen gilt. 197 Zwar wird man, insgesamt betrachtet, nicht so weit gehen können, der völkerrechtlichen Grundordnung ein Zusammenarbeitsgebot, vergleichbar etwa dem des Art.-4 Abs. 3 des EU-Vertrages für das gegenseitige Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, auch für das Verhältnis der Vereinten Nationen zu ihren Mitgliedstaaten oder auch etwa der Staaten untereinander entnehmen zu können. Das gegenwärtige Völkerrecht bringt allerdings an etlichen Stellen immer deutlichere Belege dafür, dass sich durch die Formulierung von schützenswerten Staatengemeinschaftsinteressen auch die Verpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit verstärkt. Dies findet beispielhaft in Art.-136 des Seerechtsübereinkommens oder der angesprochenen gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit zum Erhalt der globalen Umwelt markanten Ausdruck. Damit liegt die Vermutung nahe, dass sich in der Epoche der Globalisierung und verstärkt seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ein Völkerrecht der Zusammenarbeit herausbildet. Hierbei korrespondiert die Pflicht zur Zusammenarbeit mit der in der Entwicklung befindlichen Lehre von den „global public goods“ als solchen Gütern, deren Schutz nur global organisiert werden kann und im Interesse der gesamten Staatengemeinschaft liegt. Völlig neu sind solche Ideen jedoch nicht, denn schon Vattel stand 1758 auf dem Standpunkt, es gebe eine natürliche Pflicht von Staaten, anderen Staaten im Falle von Hungersnot oder anderen Unglücksfällen bis zur Grenze der eigenen Existenzgefährdung zu helfen. 198 Die wachsende rechtliche Formulierung dieser Staaten- 193 Vgl. J. Frowein, Der Terrorismus als Herausforderung für das Völkerrecht, ZaöRV 62 (2002), 879, 883ff. 194 Sicherheitsrat Res. 1368 (2001) und 1373 (2001); NATO-Ratsbeschluss vom 04.10.200, Declaration on the Fight against Terrorism. 195 Sicherheitsrat Res. 1373 (2001). 196 C. Tietje, Architektur der Weltfinanzordnung, in: Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, Heft 109, 2011, 39. 197 Zu einem ähnlichen Fazit kommt auch: C. Tietje, Architektur der Weltfinanzordnung, in: Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, Heft 109, 2011, 39. 198 E. de Vattel, Droit des Gens, 1758, Buch II, Kap.-1, §-2. 5. Die Grundprinzipien der zwischenstaatlichen Beziehungen <?page no="289"?> 253 5.4 Pflicht der Staaten zur gegenseitigen Zusammenarbeit gemeinschaftsinteressen 199 akzentuiert diese Pflichtenbindung durch einen Gemeinwohlbezug im Sinne des Versuchs der Lösung globaler Problemlagen neu und versucht damit, den Interessen der gesamten Menschheit und so auch denen besonders hilfsbedürftiger Staaten gerecht zu werden. Ungelöst ist jedoch bisher, welchen Rang die stärker werdende rechtliche Akzentuierung einer Pflicht zur Zusammenarbeit im Völkerrecht einnehmen soll und wie sich ihr Verhältnis zu den übrigen Grundprinzipien des Völkerrechts gestaltet. 200 Diese Frage wird dort relevant, wo die Staatengemeinschaft zum Schutz eines global public good einen Staat zur Zusammenarbeit auffordert, dieser sich jedoch mit Verweis auf seine Souveränität dauerhaft verweigert, wie etwa lange Zeit beim Konflikt um das iranische Atomprogramm. 201 Ob das Völkerrecht hier immer Lösungen im Interesse der gesamten Menschheit wird finden können, bleibt abzuwarten. 199 Dazu B.- Simma, From Bilateralism to Community Interest in International Law, RdC 250 (1994/ VI), 219ff. 200 Vgl. Darstellung bei: N. Petersen, Determining the Domestic Effect of International Law through the Prism of Legitimacy, ZaoRV 72 (2012), 233, 228ff.; kritisch zu einer allgemeinen Pflicht zur Zusammenarbeit: G.-Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/ 3, 2002, 855ff. 201 Vgl. zur Pflicht zur Zusammenarbeit unter dem Nichtweiterverbreitungsvertrag: M. Bedjaoui, Treu und Glauben, Völkerrecht und die Abschaffung der Atomwaffen, in: M. Bedjaoui/ D. Deiseroth/ K. Bennoune/ E. J. Shafer, Völkerrechtliche Pflicht zur nuklearen Abrüstung? , 2009, 29, 69ff. <?page no="291"?> 6. Reaktionen auf die Verletzung des Völkerrechts Einführende Literatur: Delbrück, Jost, The Impact of the Allocation of International Law Enforcement Authority on the International Legal Order, in: ders. (Hg.), Allocation of Law Enforcement Authority in the International System, Berlin 1995, 135ff. Eine Rechtsordnung, die wie die des Völkerrechts im Wesentlichen von Gleichen, nämlich den souveränen Staaten, gesetzt wird, hat deshalb auch spezifische Mechanismen zu entwickeln, um ihre Geltung zu bewahren und durchzusetzen. Zwar ist es, worauf bereits hingewiesen wurde (siehe oben Kap.-1.1), keinesfalls so, dass die für das Völkerrecht teilweise problematische Erzwingbarkeit der Rechtsgebote grundsätzliche Zweifel an der Existenz dieser Rechtsordnung begründeten. Dennoch erscheint es erforderlich, sich der Besonderheiten der Rechtsdurchsetzung im Völkerrecht zunächst allgemein zu versichern, bevor die spezifischen Reaktionen auf rechtswidriges Verhalten vorzustellen sind. Notwendig für ein Verständnis dieser Materie ist es damit, auf den Bereich der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit einzugehen, da-dieser festlegt, unter welchen Voraussetzungen eine Verletzung des Völkerrechts gegeben ist, auf die ggf. mit Mitteln der Durchsetzung reagiert werden kann. Bei dem Herangehen an das Problem der Rechtsdurchsetzung sollte man sich daher immer bewusst sein, dass wegen des Fehlens einer zentralen Durchsetzungsinstanz die Rechtsdurchsetzung im Völkerrecht besonders schwierig ist. Die Staaten selbst müssen die Durchsetzung in die Hand nehmen, wie die aktuellen Beispiele möglicher Gegenmaßnahmen gegen die völkerrechtliche Annexion der Krim durch Russland und das Ausbleiben von Sanktionen gegen das von Präsident Assad beherrschte Syrien eindrucksvoll unterstreichen. 6.1 Mechanismen des Rechtsvollzugs im Völkerrecht Einführende Literatur: Dahm, Georg/ Delbrück, Jost/ Wolfrum, Rüdiger, Völkerrecht, Band I/ 3, 2.-A., Berlin 2002, 981ff. Völkerrecht ist ein von souveränen Staaten gebildetes Recht. Dieses sich im Grundsatz der Staatengleichheit niederschlagende Strukturmerkmal bringt es mit sich, dass es grundsätzlich auch die Staaten selbst sein müssen, die das Völkerrecht durchsetzen. Dies ergibt sich zwangsläufig aus dem Umstand, dass es im Völkerrecht - vielleicht mit Ausnahme des UN-Sicherheitsrates - kein zentrales Organ zur Rechtsdurchsetzung gibt, welches für alle Staaten verbindlich entscheiden kann und diese Entscheidungen auch zwangsweise durchzusetzen vermag. 1 Generell geschieht die Rechtsdurchsetzung im Völkerrecht zum einen dadurch, dass die Staaten die Gebote der Völkerrechtsordnung für innerstaatlich verbindlich erklären (vgl. oben Kap.- 4) und entsprechend die Voraussetzung für die Durchsetzung etwa umweltrechtlicher, luftrechtlicher oder wirtschaftsrechtlicher Gebote, ja sogar für die Durchführung eines Wirtschaftsembargos, 1 R. Uerpmann, Grenzen zentraler Rechtsdurchsetzung im Rahmen der Vereinten Nationen, AVR 33 (1995), 107. <?page no="292"?> 256 6. Reaktionen auf die Verletzung des Völkerrechts schaffen. Man spricht insofern von der dezentralen Durchsetzung des Völkerrechts, die den Regelfall darstellt. 2 Zum anderen können die betroffenen Staaten dezentrale Rechtsdurchsetzung durch das Ergreifen von Reaktionsmaßnahmen betreiben, wobei sich allerdings die Frage stellt, welche Maßnahmen das Völkerrecht angesichts seiner weitreichenden Grundgebote wie dem Gewaltverbot und dem Interventionsverbot (dazu Kap.-5.1 und Kap.-5.2) zulässt. Neben Maßnahmen der Selbstverteidigung, die in Reaktion auf einen bewaffneten Angriff ergriffen werden können (siehe Kap.-5.1.3.2), erlaubt das Völkergewohnheitsrecht unterhalb dieser Schwelle als mögliche staatliche Selbsthilfe die Retorsion und solche Gegenmaßnahmen, die früher als Repressalien bezeichnet wurden. 6.1.1 Unilateraler Rechtsvollzug, Retorsion und Gegenmaßnahmen Die Retorsion bezeichnet eine zwar unfreundliche, aber nicht völkerrechtswidrige Maßnahme zu dem Zweck, den anderen Staat zur Beendigung eines unfreundlichen oder völkerrechtswidrigen Aktes zu bewegen. Das klassische Beispiel für eine Retorsion ist der Abbruch der diplomatischen Beziehungen, da das Völkerrecht keine Pflicht zu deren Aufrechterhaltung vorsieht. Auch etwa die Einstellung von Entwicklungshilfe ist darunter zu zählen. Staaten sind in der Verhängung von Retorsionen frei, solche Maßnahmen sind folglich nicht an das Verhältnismäßigkeitsgebot gebunden. 3 Retorsion unfreundlicher völkerrechtsgemäßer Akt Gegenmaßnahme (Repressalie) (gerechtfertigte) Völkerrechtsverletzung Unilaterale Reaktionsmöglichkeiten Hingegen ist die Gegenmaßnahme selbst (auch Repressalie genannt) ein grundsätzlich völkerrechtswidriger Akt, der jedoch als Reaktion auf ein vorangegangenes völkerrechtswidriges Handeln eines anderen Staates gerechtfertigt sein kann. Die International Law Commission (ILC) regelt die Voraussetzungen der Gegenmaßnahme in den Art.-49ff. ihres Entwurfes zur Staatenverantwortlichkeit von 2001 (dazu eingehend unten Kap.-6.2), 4 da Gegenmaßnahmen zur Durchsetzung von Ansprüchen auf Wiedergutmachung eingesetzt werden können. 5 Gegenmaßnahmen sind gem. Art.-52 Abs. 1 des ILC-Entwurfs vor ihrer Ergreifung dem anderen Staat anzukündigen, um den Rechtsbrecher ggf. zur Einstellung seines völkerrechtswidrigen Verhaltens zu bewegen. 2 Siehe dazu etwa J.-Delbrück (Hg.), Allocation of Law Enforcement Authority in the International System, 1995. 3 K. Ipsen, Völkerrecht, 7.-A., 2018, §-30, Rn.-43. 4 Der ILC-Entwurf (Draft Articles on the Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts) findet sich abgedruckt in ZaöRV 62 (2002), 797ff. sowie im Sartorius II, Ordnungsziffer 6. 5 Dazu eingehend D.J.-Bederman, Counterintuiting Countermeasures, AJIL 96 (2002), 817ff.; D.-Alland, Countermeasures of General Interest, EJIL 13 (2002), 1221ff. <?page no="293"?> 257 6.1 Mechanismen des Rechtsvollzugs im Völkerrecht Weiter sind sie an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden (Art.-51 ILC-Entwurf). Sie müssen allerdings nicht unbedingt hinsichtlich der Rechtspflichten ergriffen werden, die von der Rechtsverletzung des anderen Staates betroffen waren. Der verletzte Staat kann daher über seine Gegenmaßnahmen auch Pflichten suspendieren, die dem Rechtsbrecher in einem ganz anderen Bereich geschuldet werden. Nach ganz überwiegender Meinung bleibt jedoch die Anwendung von Waffengewalt im Rahmen von Gegenmaßnahmen unzulässig (siehe auch Art.-50 ILC-Entwurf). 6 6.1.2 Multilateraler Rechtsvollzug und Sanktionen Ob es darüber hinaus bei der Verletzung sog. erga omnes-Pflichten, d.-h. Pflichten, die der gesamten Staatengemeinschaft geschuldet sind, ein Reaktionsrecht auch nicht unmittelbar betroffener Staaten etwa zur Ahndung schwerster Völkerrechtsverletzungen gibt (z.- B. Embargo einzelner Staaten in Reaktion auf ethnische Säuberungen), ist streitig. 7 Die Existenz solcher Normen geht zurück auf das Urteil des IGH im Barcelona-Traction-Fall (siehe unten Kap.-15.2.9), in dem neben Gewaltverbot und Völkermord auch grundlegende Menschenrechte als Normen betrachtet wurden, die auf Grund ihrer Wichtigkeit die Interessen aller Staaten berühren. 8 Die ILC hat in einem früheren Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit diese Frage u.-a. unter dem inzwischen nicht mehr gebräuchlichen Begriff des „international crime“ abgehandelt. 9 Dies ist aber in der Erwägung revidiert worden, die Problembereiche der Staatenverantwortlichkeit und der strafrechtlichen individuellen Verantwortlichkeit (siehe dazu unten Kap.-14) begrifflich klar voneinander zu trennen. In ihrem Entwurf von 2001 befasst sich die ILC in Art.- 48 mit Reaktionsrechten Dritter, wobei sie Dritten nur das Recht einräumt, die Beendigung der Rechtsverletzung und die Beachtung der verletzten Rechtspflicht zu fordern. 10 Besondere Reaktionsrechte Dritter sind danach nicht vorge- 6 G. Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Band I/ 3, 2.-A., 2002, 988; K.-Ipsen, Völkerrecht, 7.-A., 2018, §-30, Rn.-55; zur Problematik von Repressalien bei sog. self-contained regimes siehe IGH, United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran (USA v. Iran), Urteil vom 24.05.1980, ICJ Reports 1980, 3, §-86 sowie K.-Zemanek, The Unilateral Enforcement of International Obligations, ZaöRV 47 (1987), 32ff. 7 Siehe dazu J.-Frowein, Die Verpflichtung erga omnes im Völkerrecht und ihre Durchsetzung, in: FS Mosler, 1983, 241ff. und ders., Reactions by not Directly Affected States to Breaches of Public International Law, RdC 248 (1994/ IV), 353ff.; K.-Zemanek, New Trends in the Enforcement of erga omnes Obligations, MPUNYB 4 (2000), 1ff. 8 IGH, Barcelona Traction, Light and Power Co. (Belgium v. Spain), Urteil vom 05.02.1970, ICJ Reports 1970, 3, §§-33f. 9 Siehe Art.-19 und 40 Abs. 3 der in erster Lesung 1996 verabschiedeten Draft Articles on State Responsibility, abgedruckt in ZaöRV 62 (2002), 797ff. sowie im Sartorius II, Ordnungsziffer 6; siehe dazu etwa A.-de Hoogh, Obligations Erga Omnes and International Crimes, 1996; zur neueren Entwicklung siehe auch E.-Wyler, From ‚State Crime‘ to Responsibility for‚ Serious Breaches of Obligations under Peremptory Norms of General International Law‘, EJIL 13 (2002), 1147ff. 10 Siehe dazu und zur Abgrenzung eines Drittstaates vom sog. „injured state“ des Art.-42 des ILC-Entwurfes E.-Brown Weiss, Invoking State Responsibility in the Twenty-First Century, AJIL 96 (2002), 799ff. und I.-Scobbie, The Invocation of Responsibility for the Breach of ‚Obligations under Peremptory Norms of General International Law‘, EJIL 13 (2002), 1201ff.; siehe auch E.-Wyler, From ‚State Crime‘ to Responsibility for ‚Serious Breaches of Obligations under Peremptory Norms of General International Law‘, EJIL 13 (2002), 1147ff. <?page no="294"?> 258 6. Reaktionen auf die Verletzung des Völkerrechts sehen. Ob es sich bei dieser Beschränkung von Drittreaktionsrechten um ein mit dem bestehenden Völkerrecht zu vereinbarendes Konzept handelt, muss jedoch bezweifelt werden. Als multilateraler Rechtsvollzug ist weiterhin das Handeln von nicht-universellen Staatenbündnissen, etwa der NATO, bei Verletzungen des Völkerrechts zu qualifizieren. Auch hier reagiert zwar kein einzelner Staat in Reaktion auf vorangegangenes völkerrechtswidriges Handeln, jedoch können diese Bündnisse mangels Universalität nicht allgemeinverbindlich völkerrechtliche Gegenmaßnahmen anordnen. So sind beispielsweise die NATO-Beschlüsse nach dem 11. September 2001, in denen für die Terroranschläge auf die USA der Bündnisfall, das heißt das Recht zur Selbstverteidigung durch den Angegriffenen und die übrigen Bündnispartner, festgestellt wurde, zwar gewichtige Anzeichen für eine vorherrschende Rechtsauffassung, die unter Umständen zu Völkergewohnheitsrecht werden kann, aber noch keine rechtsverbindliche Feststellung selbst. Der multilaterale Rechtsvollzug unterscheidet sich daher wesensmäßig nur wenig vom unilateralen Rechtsvollzug und muss sich an denselben Kriterien messen lassen. 6.1.3 Rechtsvollzug durch internationale Organisationen und Gerichte sowie kollektive Zwangsmaßnahmen Kollektive Zwangsmaßnahmen. Es wird also ersichtlich, dass der Schwerpunkt der Rechtsdurchsetzung, der Struktur der Völkerrechtsordnung entsprechend, nach wie vor dezentral ist. Eine Ausnahme hiervon ist freilich für den Bereich der internationalen Friedenssicherung in Gestalt des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu erkennen (dazu auch Kap.- 5.1.4). 11 Seine Aufgabe besteht zum einen in der Feststellung einer zu Sanktionen Anlass gebenden Störung des internationalen Friedens gemäß Art.- 39 der UN-Charta. Sodann kann er die zur Beilegung der Friedensstörung erforderlichen Maßnahmen gemäß Art.-41 und 42 der Charta auswählen, die als „kollektive“ Zwangsmaßnahmen in Abgrenzung zu dezentralen als „Sanktionen“ bezeichnet werden. 12 Der Sicherheitsrat ist jedoch insoweit ein unvollkommenes Exekutivorgan, als dieser in seinem Tätigkeitsbereich auf Frieden und Sicherheit begrenzt ist und der Gebrauch des Vetorechts durch mindestens eines der ständigen Mitglieder ein gebotenes Eingreifen verhindern kann. Dies unterscheidet ihn grundlegend von Durchsetzungsorganen in nationalen Rechtssystemen, die typischerweise gehalten sind, bei Rechtsverletzungen auch einzugreifen. Beim Sicherheitsrat handelt es sich nun zweifellos um ein zwar nach Maßgabe der UN-Charta konstituiertes und sich grundsätzlich auf ihrer Grundlage bewegendes Organ, welches allerdings vornehmlich nach politischen Erwägungen handelt und deshalb einer judiziellen Überprüfung etwa durch den Internationalen Gerichtshof nicht unterliegt. 13 Gerichtliche Durchsetzung. Ebenfalls der Rechtsdurchsetzung dient die Inanspruchnahme von justizförmigen oder ähnlichen Verfahren. Dies gilt einmal für die Inanspruchnahme innerstaat- 11 R. Uerpmann, Grenzen zentraler Rechtsdurchsetzung im Rahmen der Vereinten Nationen, AVR 33 (1995), 107ff. 12 Siehe G. Dahm/ J.-Delbrück/ R. Wolfrum, Völkerrecht, Band I/ 3, 2.-A., 2002, 981. 13 Im Wesentlichen bestätigt im Lockerbie-Fall, siehe unten Kap.-15.2.13. <?page no="295"?> 259 6.2 Völkerrechtliche Verantwortlichkeit und Staatenverantwortlichkeit licher Gerichte, die Völkerrecht dann anwenden, wenn ihre Zuständigkeit begründet ist und die innerstaatliche Rechtsordnung eine Anwendung vorsieht. Des Weiteren gilt dies auch für Institutionen mit teilweise gerichtsähnlichem Charakter, die vornehmlich der Durchsetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen dienen. Unterhalb der Stufe förmlicher internationaler Gerichte sind dabei etwa der UN-Menschenrechtsrat (siehe dazu Kap.- 10.3.2.1) bzw. Inspektions- und Verifikationsmechanismen im Bereich von Abrüstung und Rüstungskontrolle zu nennen. Hier kann entweder auf bilaterale Mechanismen verwiesen werden (wie on-site inspections, z.-B. im INF-Vertrag von 1987) oder auch auf den Aufbau internationaler Organisationen mit Überwachungsfunktion wie im Bereich der Chemiewaffen- oder der Landminenkonvention. Auch schiedsrichterliche Verfahren, die an anderer Stelle noch genau zu behandeln sein werden (siehe unten Kap.-7.2), dienen zur Konfliktlösung entweder zwischen Staaten (z.-B. der Internationale Schiedshof in Den Haag), oder auch zwischen Staaten und Privaten (z.-B. ICSID in Washington, siehe dazu auch Kap.-9.3.3). Daneben stellen internationale Spruchkörper die spezifischste Form friedlicher Streitbeilegung und damit eine Form von Rechtsdurchsetzung durch internationale Organisationen dar. Dass ihnen teilweise noch der obligatorische Charakter fehlt, d.- h. nicht alle Mitgliedstaaten etwa der Vereinten Nationen auch automatisch der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs unterfallen, soll hier keinen zentralen Einwand darstellen. Für die internationale Gerichtsbarkeit sind etwa zu nennen: der Internationale Gerichtshof in Den Haag (siehe Kap.-7.1.1), der Internationale Seegerichtshof in Hamburg (siehe Kap.-7.1.2), der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag (siehe Kap.-7.1.2 und 14.1), die Ruanda- und Jugoslawien-Tribunale (siehe Kap.-7.1.2) sowie das Tribunal in Sierra Leone und im Libanon (siehe Kap.-7.1.2), der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (Kap.-10.4.1), der amerikanische Menschenrechtsgerichtshof (siehe Kap.-10.4.2) sowie in einer jedenfalls justizförmig ausgeprägten Weise die sog. Panels und die Berufungsinstanz (sog. Appellate Body) bei der WTO in Genf (siehe dazu Kap.-9.2). Festzuhalten bleibt hierbei, dass der kollektive Rechtsvollzug durch bevollmächtigte Organe universeller internationaler Organisationen, wie dem UN-Sicherheitsrat, oder durch bevollmächtige Organe spezieller internationaler Organisationen in ihrem Zuständigkeitsbereich, wie den WTO- Spruchkörpern, die rechtsverbindliche Auslegung, Anwendung und in gewissen Grenzen auch Weiterentwicklung des Völkerrechts, z.T. ebenfalls unter Zuhilfenahme von Zwangsmaßnahmen, zukommt, was dem generellem, dezentral vollzogenen Völkerrecht fremd ist. 6.2 Völkerrechtliche Verantwortlichkeit und Staatenverantwortlichkeit Einführende Literatur: Crawford, James R., State Responsibility (September 2006), MPEPIL (Online-Ed.). Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit befasst sich zum einen mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Verletzung des Völkerrechts durch ein Völkerrechtssubjekt anzunehmen ist. Zum anderen regelt sie, welche konkreten Konsequenzen sich daraus ergeben. Es geht hier also - wie angesprochen - neben Fragen der Schadenswiedergutmachung auch um die Voraus- <?page no="296"?> 260 6. Reaktionen auf die Verletzung des Völkerrechts setzungen für eine nach dem Völkerrecht mögliche Reaktion auf völkerrechtswidriges Verhalten. Einem weiten Verständnis der Verantwortlichkeit folgend umfasst diese auch die Zulässigkeit und Gestaltung der oben bereits besprochenen Gegenmaßnahmen und damit Aspekte der Durchsetzung des Völkerrechts. 14 Das Recht der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit ist bislang ungeschriebenes Gewohnheitsrecht. Allerdings ist die International Law Commission (dazu oben Kap.-3.8) seit 1955 dabei, einen Kodifikationsentwurf für dieses Rechtsgebiet auszuarbeiten. 15 Sie hat nach einem sehr langwierigen Prozess in zweiter Lesung einen Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit verabschiedet, der nach positiver Aufnahme in der UN-Generalversammlung den Staaten als Grundlage für eine multilaterale Konvention anempfohlen wurde. 16 Dieser für sich genommen unverbindliche ILC-Entwurf von 1, für den die ILC auch eine umfangreiche Kommentierung vorgelegt hat, 17 spiegelt weitgehend bestehendes Völkergewohnheitsrecht wider und ist, obwohl er die Staatenverantwortlichkeit behandelt, im Kern auch auf die Verantwortlichkeit anderer Völkerrechtssubjekte übertragbar. 18 So gibt es seit 2012 auch einen ILC-Entwurf über die Verantwortlichkeit internationaler Organisationen. Er folgt weitgehend dem Entwurf über die Staatenverantwortlichkeit. Jeder „wrongful act“ einer internationalen Organisation führt zu deren völkerrechtlicher Verantwortlichkeit (Art. 3 DARIO) und verpflichtet zur Wiedergutmachung (Art. 31 DARIO), wobei das Verhalten namentlich der Organe ihre Verantwortlichkeit hervorruft, wenn nicht Recht- 14 P. Malanczcuk, Zur Repressalie im Entwurf der International Law Commission zur Staatenverantwortlichkeit, ZaöRV 45 (1985), 307. 15 Zur Kodifikationsgeschichte siehe J.-Crawford, The ILC’s Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts: A Retrospect, AJIL 96 (2002), 874ff. und M.-Spinedi, From One Codification to Another: Bilateralism and Multilateralism in the Genesis of the Codification of the Law of Treaties and the Law of State Responsibility, EJIL 13 (2002), 1099. 16 Die Generalversammlungsresolution und der ILC-Entwurf finden sich abgedruckt in ZaöRV 62 (2002), 797ff. sowie (der Entwurf) im Sartorius II, Ordnungsziffer 6; dazu auch C.-Tams, All’s Well That Ends Well - Comments on the ILC’s Articles on State Responsibility, ZaöRV 62 (2002), 759ff. und J.-Crawford/ J.-Peel/ S. Olleson, The ILC’s Articles on Responsibility for Internationally Wrongful Acts: Completion of the Second Reading, EJIL 12 (2001), 963ff. 17 Im Internet veröffentlicht unter http: / / legal.un.org/ ilc/ texts/ instruments/ english/ commentaries/ 9_6_2001.pdf (zuletzt abgerufen: Dezember 2019) sowie in J.- Crawford, The International Law Commissions Articles on State Responsibility: Introduction, Text and Commentaries, 2005. 18 “Draft Articles on the Responsibility of International Organizations”, adopted by the ILC at its 63rd Session 2011, in YB ILC 2011, Vol. II, Part 2. Siehe dazu auch W. Czaplinksi, International Responsibility of International Organisations - an Outline, PolYIL 27 (2004/ 05), 49ff.; T. Giegerich, Verantwortlichkeit und Haftung für Akte internationaler und suprainternationaler Organisationen, ZVglRWiss 104 (2005), 163ff.; E. Suzuki/ S. Nanwani, Responsibility of International Organizations - the Accountability Mechanisms of Multilateral Development Banks, MichJIL 27 (2005), 177ff.; V. Nanda, Accountability of International Organizations - Some Observations, DenverJILP 33 (2005), 379ff.; Canadian Council on International Law (Hg.), Responsibility of Individuals, States and Organizations: Proceedings of the 35th Annual Conference of the Canadian Council on International Law, Ottawa, October 26-28, 2006, Ottawa 2007; G. Simsek, The Responsibility of Member States for the Violations of International Obligations by International Organisations, Exeter 2004; C. Vedder, Die Außenbeziehungen der EU und die Mitgliedstaaten: Kompetenzen, gemischte Abkommen, völkerrechtliche Verantwortlichkeit und Wirkungen des Völkerrechts, EuR 3 (2007), 57ff. <?page no="297"?> 261 6.2 Völkerrechtliche Verantwortlichkeit und Staatenverantwortlichkeit fertigungsgründe wie „höhere Gewalt“ oder „Nothilfe“ (Art. 20 - 27) einschlägig sind. Ungeklärt und inkohärent ist bislang die Frage einer möglichen Durchgriffshaftung auf die Mitgliedstaaten geregelt. Nach britischem Recht wurde jedenfalls eine Verantwortung der Mitgliedstaaten des Internationalen Zinnrats abgelehnt. 19 Es ist derzeit jedoch unklar, ob das bereits ein generalisierbarer Befund ist. Allerdings wurden Fragen der Verantwortung für rechtmäßiges aber risikobehaftetes Handeln, wie dies etwa im Weltraumhaftungsabkommen geregelt ist (dazu unten Kap.-11.4), ausgeklammert und bleiben einem besonderen Rechtsregime vorbehalten. 20 Nicht zuletzt aufgrund der großen Autorität der ILC soll die Staatenverantwortlichkeit anhand ihres Entwurfes besprochen werden. Dessen Regeln werden - soweit nicht anders beschrieben - als Spiegel bestehenden Gewohnheitsrechts gesehen. Der Entwurf erfasst diejenigen Regeln, die auf die Verletzung beliebiger Primärrechtsregeln, also Gebots- und Verbotsnormen des Völkerrechts, Anwendung finden. Er wird daher auch als System sekundärer Regeln begriffen. 21 Chorzów-Factory-Fall. Der Entwurf gründet die Staatenverantwortlichkeit in seinem ersten Artikel auf dem seit dem Chorzów-Factory-Fall (siehe unten Kap.-15.1.1) geltenden, gewohnheitsrechtlich verfestigten Satz, wonach jedes völkerrechtswidrige Verhalten eines Staates dessen internationale Verantwortlichkeit nach sich zieht. 22 Jede völkerrechtliche Verantwortlichkeit setzt Deliktsfähigkeit voraus. Alle Völkerrechtssubjekte (siehe oben Kap.-2) sind dabei entsprechend dem Umfang ihrer völkerrechtlichen Kompetenzen deliktsfähig. Individuen galten über lange Zeit als im Bereich der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit nicht deliktsfähig. Neuerdings wird dies jedoch zumindest für den Bereich der Selbstverteidigung insoweit in Frage gestellt, als auch Terroristen als mögliche Urheber eines bewaffneten Angriffs betrachtet werden. 23 Voraussetzung für eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit ist, dass ein völkerrechtlicher Unrechtstatbestand, ein „internationally wrongful act“, so wie er in Art.- 2 des ILC-Entwurfs umrissen ist, verwirklicht ist: Es muss ein einem Staat zurechenbares Verhalten (Handeln oder Unterlassen) vorliegen, welches den Bruch der dem Staat obliegenden Völkerrechtsverpflichtung darstellt. 24 19 Dazu M. Hirsch, The Responsibility of International Organizations Toward Third Parties: Some Basic Principles, 1995, S.-112ff. 20 Dazu R. Harndt, Völkerrechtliche Haftung für die schädlichen Folgen nicht verbotenen Verhaltens, 1993. 21 Siehe dazu etwa J.-Combacau/ D.-Alland, Primary and Secondary Rules in the Law of State Responsibility, NYIL 16 (1985), 81ff. 22 Chorzów Factory-Fall, PCIJ Series A., No. 17 (1928), 47; Art.- 1 ILC-Entwurf: „Every internationally wrongful act of a State entails the international responsibility of that State“. 23 Siehe dazu unten Kap.-5.1.3.7; siehe auch etwa T. Bruha, Neuer Internationaler Terrorismus: Völkerrecht im Wandel, in: H.-J.-Koch (Hg.), Terrorismus - Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, 2002, 64f.; C.-Tomuschat, Der 11. September 2001 und seine rechtlichen Konsequenzen, EuGRZ 28 (2001), 540. 24 Art.- 2 ILC-Entwurf: „There is an internationally wrongful act of a State when conduct consisting of an action or omission: a) is attributable to the State under international law; and b) constitutes a breach of an international obligation of the State“. <?page no="298"?> 262 6. Reaktionen auf die Verletzung des Völkerrechts Dabei ist zunächst entscheidend, dass beide Parteien deliktsfähig sind. Der in Anspruch Genommene muss aktiv deliktsfähig sein, also rechtsfähig und handlungsfähig. Die andere Seite muss nur passiv rechtsfähig sein. Die Deliktsfähigkeit von Individuen ist wegen des parallelen Menschenrechtsschutzes von eher geringem Interesse, die passive Deliktsfähigkeit, etwa von Terroristengruppen, wird zunehmend angenommen. 25 6.2.1 Zurechnung Vor der tatbestandlichen Prüfung der völkerrechtlichen Ver- oder Gebotsnorm ist sodann die Frage der Zurechnung zu klären. Damit ist die Zuordnung der Handlung einer natürlichen Person zu einem bestimmten Völkerrechtssubjekt, in der Regel also zu einem Staat und einer internationalen Organisation gemeint. Der Grund hierfür besteht darin, dass Staaten als juristische Personen nicht unmittelbar selbst handlungsfähig sind, sondern jeweils durch mit ihnen verbundene natürliche Personen handeln. Da auf der völkerrechtlichen Ebene nur die Handlungen von Völkerrechtssubjekten relevant sind, rückt die Frage der Zurechenbarkeit der Handlung einer natürlichen Person zu einem Staat damit an den Anfang einer jeden Prüfung. Dabei ist jedoch anzumerken, dass ihr häufig keine große Beachtung zu schenken sein wird, da die Frage staatlichen Handelns zumeist unproblematisch anzunehmen ist. In einzelnen Fällen kann - wie sogleich noch zu besprechen sein wird - die Zurechnung allerdings eine zentrale Problematik darstellen. Schuld und Schaden. Schuld und Schaden stellen in der insoweit nicht unumstrittenen Konzeption der ILC keine Voraussetzungen der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit dar. Die Schuld besteht - sofern die jeweilige Norm nicht einen besonderen Sorgfaltsmaßstab vorschreibt - auch ohne Nachweis vorsätzlichen oder fahrlässigen Verhaltens. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass ein entsprechender Nachweis bei der Verantwortlichkeit von Staaten kaum möglich ist. Ein Schaden wird nicht gefordert, da jede Völkerrechtsverletzung für sich schon als Schaden gilt und prinzipiell auch immaterielle Schäden wieder gutzumachen sind. Zur Veranschaulichung der Deliktsprüfung dient das an späterer Stelle aufgeführte Prüfungsschema. 26 Zurechnung-Organhandel. Unter welchen Voraussetzungen nun eine Handlung zurechenbar ist, bestimmt sich nach verschiedenen völkerrechtlichen Regeln, die teilweise auf das innerstaatliche Recht zurückgreifen. Einem Staat ist zunächst das Verhalten der von ihm ernannten Organe, den sog. de iure-Organen, zurechenbar (Art.-4 Abs. 1 ILC-Entwurf). Dabei ist irrelevant, welche Funktion oder hierarchische Stellung dem Organ zukommt oder ob es für die Zentralregierung oder dezentrale Hoheitsverbände tätig wird. Soweit das Organ gemäß einer ihm zugewiesenen Kompetenz gehandelt hat, ist die Handlung dem Staat zurechenbar. Gleiches gilt aber auch für Handlungen von natürlichen oder juristischen Personen, die auf Grund einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung hoheitlich handeln dürfen (Art.- 5 ILC-Entwurf). Art.- 4 und 5 sind gute Beispiele für den Rückgriff des Völkerrechts auf die innerstaatliche Rechtsordnung. In gewissem Rahmen sind auch Handlungen zurechenbar, die die von Art.-4 und Art.- 5 erfassten Personen- 25 Siehe auch A. von Arnauld, Völkerrecht, 4. A., 2019, Rn. 385ff. 26 Infra; siehe auch die eingehenden Erläuterungen der Deliktsprüfung in: P. Kunig/ R. Uerpmann, Übungen im Völkerrecht, 2.-A., 2006, 3ff. <?page no="299"?> 263 6.2 Völkerrechtliche Verantwortlichkeit und Staatenverantwortlichkeit gruppen unter Überschreitung ihrer Kompetenzen (ultra vires) vornehmen (Art.-7 ILC-Entwurf). Dies kann sowohl der Fall sein, wenn sich das Organ bei der Handlung staatlicher Mittel bedient (Theorie der Mittel), als auch, wenn es nach äußerem Anschein staatlich zu handeln scheint (Theorie des Anscheins). 27 Handeln von Privatpersonen. Hingegen ist das Handeln von Privatpersonen dem Staat grundsätzlich nicht zurechenbar. In Ausnahmefällen (vgl. Art.-8 ILC-Entwurf) können ihm allerdings Handlungen von Individuen als solche von de facto-Organen zugerechnet werden. Nach Art.-8 ILC-Entwurf soll dies der Fall sein, sofern dem Staat eine Beauftragung, Anleitung oder Kontrolle hinsichtlich der Handlung nachgewiesen werden kann. Der Begriff der Kontrolle basiert dabei wesentlich auf den Feststellungen des IGH im Nicaragua-Urteil (siehe unten Kap.-15.2.12), in dem dieser eine „effective control“ des Staates über die handelnden Personen als Maßstab für eine Zurechnung forderte. 28 Ohne diesen Begriff positiv zu definieren, stellte der Gerichtshof fest, dass jedenfalls ein Finanzieren, Organisieren, Trainieren und Ausrüsten einer Gruppierung und auch die Auswahl militärischer Ziele samt Operationsplanung nicht als ausreichend für eine Zurechnung angesehen werden könne. In Anwendung dieses restriktiven Maßstabs verneinte der Gerichtshof daher eine Verantwortlichkeit der Vereinigten Staaten von Amerika für Handlungen der Contras in Nicaragua, obgleich diese die Rebellen in verschiedenster Weise massiv unterstützt hatten. Spätere Urteile, insbesondere das Urteil der Berufungskammer des ICTY im Tadić-Fall (siehe unten Kap.-15.3), haben schon eine „overall control“ als ausreichend angesehen. Danach komme es besonders auf die staatliche Rolle bei Planung, Organisation und Koordinierung der von der handelnden Gruppierung durchgeführten militärischen Maßnahme an. 29 Freilich wird zutreffend darauf aufmerksam gemacht, dass die Konzeption von „overall control“ spezifisch auf die militärische Ausrichtung der von General Tadić befehligten Gruppen zugeschnitten war. Nach dem 11. September 2001 wird zudem diskutiert, ob etwa eine Zurechnung auch schon infolge Duldung oder Gewährung sicherer Rückzugsgebiete an Terroristen angenommen werden kann. 30 Die Staatenpraxis scheint in Richtung einer solch extensiven Zurechnungsregel zu weisen. Eine neue Entwicklung in der Frage einer Zurechnung von Handlungen von de facto-Organen findet sich in dem Urteil des IGH vom 26. Februar 2007 im sog. Genozid-Fall 31 (Bosnien-Herzegovina v. Serbien-Montenegro), wobei bereits jetzt angemerkt werden sollte, dass die darin ver- 27 Siehe den Youman-Fall, RIAA IV, 110, 116, den Mallen-Fall, RIAA IV, 176 und den Caire-Fall, RIAA V, 516, 530f.; siehe auch F.-Przetacznik, The international Responsibility of the State for Ultra Vires Acts of their Organs, RDI 61 (1983), 129ff. 28 IGH, Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Urteil vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14, §-115. Dazu Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Urteil vom 26.02.2007, ICJ Reports 2007, 43, §-400. 29 Tadić, Appeals Judgement, Entscheidung vom 15.07.1999, Ziff. 137, dazu Kap.-15.3. 30 Siehe etwa T. Bruha/ M.-Bortfeld, Terrorismus und Selbstverteidigung, VN 49 (2001), 166. 31 IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Urteil vom 26. Februar 2006, ICJ Reports 2007, 43; vgl. dazu unten Kapitel 15.2.20. <?page no="300"?> 264 6. Reaktionen auf die Verletzung des Völkerrechts tretenen Rechtsansichten teilweise erheblich von den bisherigen Konzepten abweichen. So vertritt der IGH die Auffassung, es handele sich bei Art.-8 ILC-Entwurf nicht um eine Zurechnungsregel; die Verantwortlichkeit beruhe vielmehr auf dem staatlichen Befehl oder der Kontrollhandlung selbst. 32 Weiter wird die Zurechnungskategorie der de facto-Organe als Art.-4 ILC-Entwurf unterfallend angesehen, wobei als alleinige Zurechnungsregel für de- facto-Organe auf das Vorliegen einer „complete dependence“ abgestellt wird. 33 Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Rechtsauffassungen auf lange Sicht durchsetzen werden; Zweifel sind jedenfalls angebracht, bedenkt man die konzeptionellen Neuerungen insbesondere gegenüber dem Verständnis der ILC. In dem ILC-Entwurf finden sich zudem eine Reihe weiterer sehr spezieller Zurechnungsregeln, darunter auch Art.-11. Dieser erlaubt eine rückwirkende Zurechnung, wenn - und in dem Umfang wie - ein Staat das fragliche Handeln als-sein eigenes nachträglich anerkannt hat. Soweit zur Begründung auf den Teheraner Geisel-Fall (siehe unten Kap.- 15.2.11) verwiesen wird, ist festzustellen, dass der IGH darin - entgegen einer weit verbreiteten Meinung - ausdrücklich nicht von einer rückwirkenden Zurechnung ausgegangen ist. 34 Hier dürfte der ILC-Entwurf das bestehende Völkergewohnheitsrecht fortentwickelt haben. 35 Wie angesprochen sind Staaten grundsätzlich immer nur für das Verhalten ihrer Organe verantwortlich, nicht jedoch für das Handeln von Privatpersonen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass den Staat eine Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit einer nicht zurechenbaren Handlung treffen kann. 36 Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Staat ein Handlungsgebot missachtet und dadurch einen anderen Staat oder dessen Staatsangehörige schädigt. Hierfür ist der vom Internationalen Gerichtshof entschiedene Teheraner Geisel-Fall ein ausgezeichnetes Beispiel. Zwar war der Angriff der (privaten) Demonstranten auf die amerikanische Botschaft dem iranischen Staat nicht zurechenbar; jedoch wurde schon in der Versagung des insbesondere nach Art.- 22 der Diplomatenrechtskonvention gebotenen Schutzes der Botschaft (dazu unten Kap.-8) eine Völkerrechtsverletzung gesehen. 37 Hier haben etwa die USA die sogenannten „safe 32 IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Urteil vom 26.02.2007, ICJ Reports 2007, 43, §-397. 33 IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Urteil vom 26.02.2007, ICJ Reports 2007, 43, §-391; siehe dazu J.-Griebel/ M.-Plücken, New Developments Regarding the Rules of Attribution? The International Court of Justice’s Decision in Bosnia v. Serbia, LJIL 21 (2008) 601ff. 34 IGH, United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran (USA v. Iran), Urteil vom 24.05.1980, ICJ Reports 1980, 3, § 59: „[…] congratulations after the event […] and other subsequent statements of official approval […] do not alter the initially independent and unofficial character of the militants’ attack on the embassy“. 35 J.-Griebel, Die Zurechnungskategorie der de facto-Organe im Recht der Staatenverantwortlichkeit, 2004, 222ff. 36 Zu solchen Konstellationen eingehend A.-Epiney, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten für rechtswidriges Verhalten im Zusammenhang mit Aktionen Privater, 1992. 37 Daneben stellte der Gerichtshof auch die Verletzung der Art.-22 II, 24-27, 29 der Wiener Diplomatenrechtskonvention von 1961 und der Art.-5 und 36 der Wiener Konsularrechtskonvention von 1963 fest, IGH, United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran (USA v. Iran), Urteil vom 24.05.1980, ICJ Reports 1980, 3, §-67. <?page no="301"?> 265 6.2 Völkerrechtliche Verantwortlichkeit und Staatenverantwortlichkeit haven“ oder „harbouring“-Doctrine vertreten, wonach bereits der Aufenthalt von Terroristen auf fremdem Staatsgebiet zur Zurechnung der Terrorakte zu einem Staat führe, wenn dieser unfähig oder nicht willens sei, etwas gegen sie zu unternehmen. Für Andere sollen substantielle Unterstützungshandlungen erforderlich, aber auch genügend sein. Erst hinsichtlich einer späteren Phase der Ereignisse nahm der IGH dann insbesondere infolge von Erklärungen des Revolutionsführers Khomenei an, die iranische Regierung habe sich die fortdauernde Besetzung und Geiselnahme zurechenbar zu eigen gemacht, und damit eine eigene, unmittelbare völkerrechtliche Verantwortung ausgelöst. 38 6.2.2 Verstoß gegen eine Völkerrechtsnorm Das Vorliegen eines Verstoßes gegen das Völkerrecht ist die zentrale Voraussetzung der Staatenverantwortlichkeit. Dabei muss das verletzte Völkerrechtssubjekt vom Schutzzweck der Norm erfasst sein und gleichzeitig muss das verletzende Völkerrechtssubjekt Adressat der Norm sein. Der Ursprung der Völkerrechtsnorm ist dabei unerheblich. 39 Unterlassen kann nur dann einen Völkerrechtsverstoß darstellen, wenn eine völkerrechtliche Pflicht zum Handeln besteht. Auch Beihilfe und Anstiftung, bzw. im weiteren Sinne Teilnahme an dem völkerrechtswidrigen Akt eines anderen Völkerrechtssubjekts sind möglich. 40 Die Schuldhaftigkeit des Verhaltens, also vorsätzliches oder fährlässiges Handeln, ist dagegen für die Feststellung des Völkerrechtsverstoßes irrelevant. 41 Die Möglichkeit einer Haftung für rechtmäßiges Verhalten, also dort, wo kein Völkerrechtsverstoß vorliegt, wird für sog. „ultra-harzardous activities“ im Bereich des Umweltvölkerrecht diskutiert (dazu unten Kap. 12.5.2). 6.2.3 Rechtswidrigkeit des Völkerrechtsverstoßes Rechtfertigungsgründe - oder in der Sprache des ILC-Entwurfs: „circumstances precluding wrongfulness“ - schließen die Verantwortlichkeit des Staates für die Verwirklichung des Unrechtstatbestandes aus. Im ILC-Entwurf fallen hierunter die Einwilligung (Art.- 20), Selbstverteidigung (Art.-21, siehe dazu speziell auch Kap.-5.1.3), höhere Gewalt (force majeure, Art.-23), also unvorhergesehene und unbeherrschbare äußere Ereignisse, wie z.- B. Naturkatastrophen, sowie Tatbestände des Notstands (Art.-24 und 25). Auch die bereits vorstehend angesprochene Gegenmaßnahme (Art.-22) rechtfertigt - wie oben beschrieben (siehe Kap.-6.1) - eine Völkerrechtsverletzung in Reaktion auf einen vorangegangenen Völkerrechtsbruch. 38 IGH, United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran (USA v. Iran), Urteil vom 24.05.1980, ICJ Reports 1980, 3, §§-67ff. 39 Vgl. M. Shaw, International Law, 8. Aufl., 2017, 591ff., 696ff.; IGH, Gabčíkovo-Nagymaros-Project, (Hungary v. Slovakia), Urteil vom 25.09.1997, ICJ Reports 1997, 7. 40 Allgemein dazu: M. Hakimi, State Bystander Responsibility, EJIL 21 (2010), 341. 41 A. von Arnauld, Völkerrecht, 4. A., 2019, Rn. 395. <?page no="302"?> 266 6. Reaktionen auf die Verletzung des Völkerrechts Prüfung einer Völkerrechtsverletzung 1. Liegt ein „internationally wrongful act“ eines deliktsfähigen Völkerrechtssubjektes vor? a) Zurechnung b) Verstoß gegen eine Völkerrechtsnorm c) Rechtswidrigkeit d) Verschulden (umstritten) e) Schaden (umstritten) 2. Rechtsfolge: Schaden und Wiedergutmachung 6.2.4 Rechtsfolge: Schaden und Wiedergutmachung Als Rechtsfolge eines völkerrechtlichen Delikts gilt seit dem Chorzów Factory-Fall (siehe unten Kap.- 15.1.1), dass „any breach of an engagement involves an obligation to make reparation“ und dass die Wiedergutmachung „shall wipe out all the consequences of the illegal act and reestablish the situation which would, in all probability, have existed if that act had not been committed“. 42 Dem tragen die Art.-28ff. des ILC-Entwurfs Rechnung. 43 Als Wiedergutmachung kann entweder Naturalrestitution oder die Leistung von Schadensersatz (unter Einschluss des entgangenen Gewinns) in Betracht kommen (Art.-35f. ILC-Entwurf). Anzumerken hierbei ist, dass der Schaden erst als Bestandteil der Rechtsfolge Bedeutung gewinnt, jedoch nicht selbst Voraussetzung einer Verletzung des Völkerrechts („Völkerrechtsdelikts“) ist. 44 Denn Wiedergutmachung kann auch bei immateriellen Schäden in Form der Genugtuung (etwa durch förmliche Entschuldigung) verlangt werden (Art.-37 ILC-Entwurf). Zur Durchsetzung solcher Forderungen kann der verletzte Staat Gegenmaßnahmen ergreifen (dazu oben Kap.-6.1). Besondere Rechtsfolgen werden von der ILC schließlich an die schwerwiegende Verletzung einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts gemäß Art.- 40f.- ILC-Entwurf geknüpft. Die Besonderheit der Regeln besteht jedoch darin, dass hier dritte Staaten insoweit in die Pflicht genommen werden, als es untersagt wird, die Rechtsverletzung als rechtmäßig anzuerkennen oder einen Beitrag zur Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustandes zu leisten. 45 42 Chorzow Factory-Fall, PCIJ, Series A, No. 17, 28 und 47. 43 Dazu D.-Shelton, Righting Wrongs: Reparations in the Articles on State Responsibility, AJIL 96 (2002), 833ff. 44 A. von Arnauld, Völkerrecht, 4. A., 2019, Rn. 396. 45 C.-Tams, Do Serious Breaches Give Rise to Any Specific Obligations of the Responsible State? , EJIL 13 (2002), 1161ff. <?page no="303"?> 7. Internationale Rechtsprechung und andere Formen der friedlichen Streitbeilegung Einführende Literatur: Pellet, Alain, Peaceful Settlement of International Disputes (August 2013), MPEPIL (Online-Ed.). Die „Frieden durch Recht“-Philosophie der UN-Charta stellt zugleich ein wesentliches Fundament der modernen Völkerrechtsordnung dar. Hieraus folgt fast zwangsläufig die zentrale Rolle, die etwa Kapitel VI der UN-Charta insbesondere der Rechtsprechung als einem bedeutenden Instrument internationaler Streitschlichtung zuweist. Man kann mit guten Gründen sogar eine Rechtspflicht zur Nutzung friedlicher Mittel der Streitbeilegung als konstitutionelles Element der heutigen Staatengemeinschaft ansehen. Mechanismen zur friedlichen Streitbeilegung sind die einzigen heute akzeptierten konflikt- und somit gewaltvorbeugenden Mittel im internationalen Bereich. Denn die Ausnahmen vom Gewaltverbot in der UN-Charta haben alle einen rein defensiven bzw. reaktiven Charakter (siehe oben Kap.-5.1). Es besteht daher eine Pflicht der souveränen Staaten, sich der friedlichen Streitbeilegung zu bedienen. Diese Rechtspflicht wird in Art.-2 Ziff. 3 UN-Charta angedeutet. Angesichts der hohen Mitgliederzahl der Weltorganisation ist es gerechtfertigt, diese Rechtsnorm ebenso wie das Gewaltverbot des Art.-2 Ziff. 4 UN-Charta, das im Kern die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung impliziert, als allgemeines Völkerrecht zu betrachten. Das Gewaltverbot wäre sinnlos, wenn das Völkerrecht nicht in der Lage wäre, friedliche Konfliktlösungen auf der Grundlage des Rechts anzubieten. Die Konfliktlösung ist ein Kriterium jeder Rechtsordnung, nicht nur des Völkerrechts. Die Rechtsgeschichte zeigt allerdings, dass jede Rechtsordnung lange Zeiträume benötigt, um diese Funktion zu entfalten und wirkungsvoll zu organisieren. Im innerstaatlichen Bereich hat dieser Vorgang in allen Rechtskreisen viele Jahrhunderte gedauert. Im Völkerrecht ist er noch nicht abgeschlossen. Aber die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in Bewegung gekommenen Entwicklungen (vgl. oben Kap.-1.3.5) haben ihn beschleunigt. 1 Die Charta der Vereinten Nationen enthält in ihrem VI. Kapitel (Art.-33-38) Richtlinien für die friedliche Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern der UNO. Art.-33 UN-Charta zählt neben schiedsgerichtlichen und gerichtlichen Entscheidungen u.a. die folgenden Mittel der friedlichen Streitbeilegung auf: Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich (ausführlich unter Kap. 7.3). Die Aufzählung ist nicht abschließend, denn Art.- 33 UN-Charta fährt fort: „… oder andere friedliche Mittel eigener Wahl“. Die Staaten sind aufgerufen, in Erfüllung der ihnen obliegenden allgemeinen Friedenspflicht neue Methoden der friedlichen Streitbeilegung zu entwickeln. Die Prinzipienerklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen über 1 Vgl. O. Kimminich, Die Funktion des Rechts bei der Verhinderung, Verursachung und Beilegung von Konflikten, in: R. Weiler/ V. Zsifkovits (Hg.), Unterwegs zum Frieden, 1973, 443ff.; Q.-Wright, The Role of Law in Controlling International Conflict, in: FS Kraus, 1964, 359ff. <?page no="304"?> 268 7. Internationale Rechtsprechung und andere Formen der friedlichen Streitbeilegung freundschaftliche Beziehungen vom 24. Oktober 1970 (Friendly Relations Declaration) 2 erwähnt das Prinzip der friedlichen Streitschlichtung an zweiter Stelle unmittelbar nach dem Gewaltverbot. Im Nachfolgenden sollen entsprechend die verschiedenen institutionellen und diplomatischen Mechanismen der Streitschlichtung dargestellt werden, die es im Völkerrecht gibt. Wie bereits mehrfach angesprochen, ist die Ebene der Durchsetzung völkerrechtlicher Normen noch unterentwickelt. Die im Vergleich zu nationalen Rechtsordnungen noch sehr geringe Anzahl rechtsprechender Institutionen bzw. ihrer Judikate legt insofern Zeugnis von der noch immer bestehenden Strukturschwäche des Völkerrechts als einem Recht unter wesentlich Gleichen ab. Allerdings zeigt sich doch auch, dass gerade in jüngerer Zeit einige hoffnungsvolle Ansätze im Sinne der Stärkung internationaler Streitschlichtungsinstanzen zu verzeichnen sind. Und gerade die Offenheit der Völkerrechtsordnung für weitere Entwicklungen bietet Gelegenheit und Chance, neue Formen der formellen oder informellen Streitbeilegung hervorzubringen und einer Bewährungsprobe zu unterziehen. 7.1 Internationale Gerichtsbarkeit Einführende Literatur: Berger, Julien, Einführung in die internationale Gerichtsbarkeit, JuS 57 (2017), 828ff. Universelle Gerichte ▶ Internationaler Gerichtshof (Den Haag) ▶ Internationaler Strafgerichtshof (Den Haag) ▶ Internationaler Seegerichtshof (Hamburg) ▶ Dispute Settlement Body der WTO (Genf) Regionale Gerichte ▶ Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Straßburg) ▶ Gerichtshof der Europäischen Union (Luxemburg) ▶ Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte (San José, Costa Rica) ▶ Afrikanischer Gerichtshof für Menschenrechte (Arusha, Tansania) Schiedsgerichte ▶ Permanent Court of Arbitration (PCA, Den Haag) ▶ Iran-United States Claims Tribunal (Den Haag) ▶ Internationales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID, Washington, D.C.) Ad-hoc-Strafgerichtshöfe der Vereinten Nationen ▶ Jugoslawien-Tribunal (Den Haag) ▶ Tribunal für Ruanda (Arusha, Tansania) ▶ Sondertribunal für den Libanon (Den Haag) 2 Resolution 2625 (XXV), GAOR XXV, Supplement 28, 121ff. „Über die Grundprinzipien des Völkerrechts für die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten“. <?page no="305"?> 269 7.1 Internationale Gerichtsbarkeit Seit dem Ende des Kalten Krieges hat das Völkerrecht eine wachsende Anzahl neu geschaffener internationaler Gerichte hervorgebracht. Auf universaler Ebene sind etwa zum bereits existierenden Internationalen Gerichtshof der Internationale Seegerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof hinzugekommen. Weitere Institutionen mit spezieller geographischer oder materieller Zuständigkeit wurden entweder neu gegründet oder ausgebaut, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte oder die ad hoc-Straftribunale für das frühere Jugoslawien und Ruanda. Auch in den Bereichen des Wirtschafts- und Umweltrechts gibt es mittlerweile viele zumindest gerichtsähnliche Mechanismen oder es wird deren Etablierung angestrebt (siehe hierzu Kap.-9.2.2 bzw. Kap.-12.4). Insgesamt kann man also nicht mehr davon sprechen, dass es keine gerichtliche Durchsetzung von Völkerrecht gebe. 3 Im Gegenteil: Teilweise wird durch die wachsende Anzahl internationaler Gerichte bereits eine Fragmentierung des Völkerrechts befürchtet. 4 Man darf jedoch trotz allem zwei Aspekte nicht vernachlässigen: Zum einen ist - im Grundsatz - kein Staat verpflichtet, sich einer gerichtlichen Institution zu unterwerfen. Es ist also immer eingangs zu prüfen, ob der vermeintlich das Recht brechende Staat durch freiwilligen Akt - entweder in genereller Weise oder auf den Einzelfall bezogen - diese spezielle Gerichtsbarkeit als für sich bindend akzeptiert hat. Zum anderen ist ebenfalls zu betonen, und dies verdeutlicht die Verbindung zum Zusammenspiel mit der internationalen Politik (siehe oben Kap. 1.1), dass die Befolgung eines internationalen Judikats im Regelfall wiederum nur freiwillig erfolgt. Das Fehlen gerichtlicher Automatismen und Zwangsmittel kennzeichnet daher das Völkerrecht und verdeutlich auch hier, dass das internationale Recht nur so stark ist, wie die beteiligten Staaten es wollen. 7.1.1 Der Internationale Gerichtshof Der Internationale Gerichtshof (IGH) mit Sitz in Den Haag ist in Kapitel XIV der UN-Charta geregelt und das „Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen“ (Art.-92 UN-Charta). Er ist das bedeutsamste aller völkerrechtlichen Gerichte und wird teilweise auch als „Weltgerichtshof “ bezeichnet. 5 Wie im Folgenden noch zu zeigen ist, ist diese Bezeichnung in Anbetracht der vergleichsweise geringen Anzahl der bisher entschiedenen Fälle und seiner praktischen Beschränkungen etwas irreführend. Jedoch haben einzelne Urteile wegweisende Bedeutung erlangt (vgl. etwa die Auswahl in Kap.-15.2) und der IGH hat mittlerweile eine Position inne, in der die Staaten faktisch seine Rechtsprechung nicht außer Acht lassen können. Allgemeines. Der IGH ist der Nachfolger des 1922 gegründeten Ständigen Internationalen Gerichtshofs (StIGH), der im Vorstehenden im Zusammenhang mit der Aufzählung der Völker- 3 Trotzdem spielen nationale Gerichte eine wichtige Rolle bei der Auslegung, Durchsetzung und Anwendung von Völkerrecht, vgl. Kap. 4.1. 4 Siehe zu diesem Gesamtkomplex auch die Beiträge zum Symposium „The Proliferation of International Tribunals: Piecing Together the Puzzle“, NYUJILP 31 (1999). Allgemein zu den Herausforderungen der internationalen Gerichtsbarkeit vgl. K. Alter/ J. Gathii/ L. Helfer, Backlash against International Courts in West, East and Southern Africa: Causes and Consequences, in: EJIL 27 (2016), 293-328; M. Weisburd, Failings of the International Court of Justice (Oxford 2016); A. Yusuf, From Reluctance to Acquiescence: The Evolving Attitude of African States Towards Judicial and Arbitral Settlement of Disputes, LJIL 28 (2015), 605 - 621. 5 Vgl. T. Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, 262. <?page no="306"?> 270 7. Internationale Rechtsprechung und andere Formen der friedlichen Streitbeilegung rechtsquellen in Art.-38 IGH-Statut bereits erwähnt worden ist. 6 Der IGH hat das Statut des StIGH ohne inhaltliche Änderungen übernommen und nur insofern der neuen Rechtslage angepasst, als der IGH ein Organ der Vereinten Nationen und sein Statut Teil der UN-Charta ist, woraus sich formelle Textänderungen ergaben. Staaten, die sich dem StIGH unterworfen hatten, konnten ohne zusätzlichen Akt in die Zuständigkeit des neuen Gerichtshofs überführt werden (Art.- 36 Abs. 5 IGH-Statut). Verweise in internationalen Verträgen, die eine Streitschlichtung vor dem StIGH vorsahen, gelten in Bezug auf den IGH weiter (Art.-37 IGH-Statut). Trotz der Übernahme des Statuts ist der IGH aber nicht die bloße Fortsetzung des StIGH, sondern ein neuer Gerichtshof, der auf der Grundlage der UN-Charta neu errichtet wurde. Da alle Mitglieder der Vereinten Nationen automatisch Vertragsparteien des Statuts des IGH sind (Art.-93 Ziff. 1 UN-Charta), ist das IGH-Statut mit einer amtlichen deutschen Übersetzung zusammen mit dem Gesetz über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur UNO im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden. 7 Bereits vorher konnte aber die Bundesrepublik Deutschland vor dem IGH auftreten, da sie die Parteifähigkeit gemäß Art.-35 Abs.-2 des Statuts erworben hatte. 8 Mit der Aufnahme in die Weltorganisation wurde diese Rechtsstellung von der umfassenderen Rechtsstellung als UN-Mitglied absorbiert. Der IGH ist trotz des vom IStGH unterschiedlichen Namens auch ein ständiges Gericht und unterscheidet sich dadurch wesentlich von der Schiedsgerichtsbarkeit (siehe unten Kap.-7.2). Hier können die Parteien - von der noch zu erörternden Einrichtung des ad hoc-Richters einmal abgesehen - die Richter nicht selbst wählen oder die Verfahrensordnung sowie das anzuwendende Recht durch Parteivereinbarung bestimmen, sondern sie finden die Gerichtsorganisation, das Verfahrensrecht und die Bestimmung des anzuwendenden Rechts in Art.-38 des Statuts vorab festgelegt. Eine derartige Einrichtung ist das Kennzeichen einer sich verdichtenden internationalen Organisation. Aber trotzdem spielt der IGH in der Völkerrechtsgemeinschaft keineswegs die gleiche Rolle wie die richterliche Gewalt innerhalb der Staaten. Trotz der im Vorstehenden zitierten Bestimmung des Art.- 93 UN-Charta ist der IGH nämlich nicht automatisch für alle Streitigkeiten zwischen UN-Mitgliedern zuständig. Vielmehr beruht seine Zuständigkeit stets auf einer Vereinbarung der Parteien. Art.- 95 UN-Charta erlaubt zudem ausdrücklich auch eine Streitbeilegung durch andere Instrumente. Hieran zeigt sich erneut die aus der Staatengleichheit resultierende und auf Freiwilligkeit basierende Struktur des Völkerrechts, die sich auch unter dem Eindruck der neuesten Entwicklungen noch nicht grundlegend gewandelt hat. Art.-93 UN-Charta macht lediglich die Mitglieder der UNO zu Parteien des IGH-Statuts, das ebenso wie die UN-Charta seiner Natur nach ein multilateraler Vertrag ist. Das Statut regelt die Organisation des Gerichtshofs und sein Verfahren und bestimmt in Art.-36 Abs. 1: „Die Zuständigkeit des Gerichtshofs erstreckt sich auf alle ihm von den Parteien unterbreiteten Rechtssachen sowie auf alle in der Charta der Vereinten Nationen oder in geltenden Verträgen und Übereinkommen besonders vorgesehenen Angelegenheiten.“ Die Bindung der UN-Mitglieder an das IGH-Statut verpflichtet also diese Staaten nicht, 6 Vgl. Kap.-3.7; zum StIGH vgl. A.P.Fachiri, The Permanent Court of International Justice, Nachdruck der 2.-A.-(London 1932), 1980. 7 BGBl. 1973 II, 505ff.; abgedruckt in Sartorius II, Nr. 2. 8 Vgl. D.- Blumenwitz, Die mögliche Gestaltung der Beziehung der Bundesrepublik Deutschland zum Internationalen Gerichtshof, GYIL 21 (1978), 207ff. <?page no="307"?> 271 7.1 Internationale Gerichtsbarkeit ihre internationalen Streitigkeiten - oder auch nur einen Teil derselben - dem IGH vorzulegen. Auch die Charta enthält eine solche Verpflichtung nicht. Art.-94 Ziff. 1 UN-Charta lautet: „Jedes Mitglied der Vereinten Nationen verpflichtet sich, bei jeder Streitigkeit, in der es Partei ist, die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs zu befolgen.“ Das ist praktisch nur die gleiche Verpflichtung, die jeder Staat, der sich einer Schiedsgerichtsbarkeit unterworfen hat, auf sich nimmt. Oder mit anderen Worten: Die UN-Charta regelt nicht die Zuständigkeit des IGH, sondern nur die Frage der Parteifähigkeit vor dem IGH. Es gibt keine Verpflichtung zur Vorlage einer Streitigkeit, sondern nur eine solche zur Befolgung des Urteils in einem freiwillig angestrengten Verfahren. Zuständigkeit/ Zulässigkeit/ Begründetheit. In der internationalen Gerichtsbarkeit wird üblicherweise zwischen Zuständigkeit des Gerichtes (jurisdiction) sowie Zulässigkeit (admissibility) und Begründetheit (merits) der Klage unterschieden. Der IGH hat eine duale Zuständigkeit, nämlich zum einen für Streitfälle zwischen Staaten (contentious cases), zum anderen für Gutachtenanfragen von seinen Organen und von internationalen Organisationen (advisory opinions). Für beide Verfahrensarten gelten ähnliche Zulässigkeitsvoraussetzungen. In allgemeiner Hinsicht gehört hierzu, dass es sich um ein Rechtsproblem handelt und nicht um eine politische Frage, deren Justiziabilität sich einem Gericht entziehen würde. Ein Rechtsschutzbedürfnis muss gegeben, das Problem also in der Gegenwart noch existent und relevant sein. Vor allem müssen unter Umständen andere Mittel der Streitbeilegung erfolglos versucht worden sein; hierzu gehört etwa beim diplomatischen Schutz von Privatpersonen (siehe oben Kap.- 2.1.5 a.E.) insbesondere die Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges. 9 Parteifähigkeit. Nach der UN-Charta gibt es drei Möglichkeiten, die Parteifähigkeit vor dem IGH zu erwerben: 1. durch Mitgliedschaft in der UNO (Art.-93 Ziff. 1, automatischer Erwerb der Parteifähigkeit); 2. im Wege des Beitritts zum Statut als Nichtmitglied der UNO durch Beschluss der Generalversammlung auf Empfehlung des Sicherheitsrats (Art.- 93 Ziff. 2; auf diesem Wege haben die Schweiz, bevor sie UN-Mitglied wurde, Liechtenstein und San Marino die Parteifähigkeit beim IGH erworben); 3. durch Zulassung aufgrund von Art.-35 Abs. 2 des IGH-Statuts. Art.-35 bestimmt zunächst in Abs. 1, dass der Zugang zum IGH allen Staaten offen steht, die Vertragsparteien des Statuts sind, und fährt dann in Abs. 2 fort: „Die Bedingungen, unter denen der Zugang zum Gerichtshof anderen Staaten offen steht, werden […] vom Sicherheitsrat festgelegt.“ Der Sicherheitsrat hat am 15. Oktober 1946 einen entsprechenden Beschluss gefasst. Danach dürfen Nichtmitglieder der UNO die Parteifähigkeit vor dem IGH erwerben, wenn sie in einer ausdrücklichen Erklärung dieselben Verpflichtungen auf sich nehmen wie Vertragsparteien. Die Bundesrepublik Deutschland hat diese Erklärung lange vor ihrem Beitritt zur UNO mehrfach für die aus einzelnen Verträgen entstehenden Streitigkeiten abgegeben, z.B. am 18. April 1955, 10 am 7. Mai 1956, 11 9 Hierzu C.F.- Amerasinghe, The Local Remedies Rule in an Appropriate Perspective, ZaöRV 36 (1976), 727ff.; J.- Fawcett, The Exhaustion of Local Remedies: Substance or Procedure, BYIL 31 (1954), 452ff.; T.-Haesler, The Exhaustion of Local Remedies in the Case Law of International Courts and Tribunals, 1968. 10 BGBl. 1956 II, 810ff.; Anlass: Beitritt zum Brüsseler Vertrag vom 17.03.1948. 11 BGBl. 1956 II, 809ff.; Anlass: Beitritt zur Völkermordkonvention. <?page no="308"?> 272 7. Internationale Rechtsprechung und andere Formen der friedlichen Streitbeilegung und am 29. April 1961. 12 Aufgrund der mittlerweile fast alle Staaten erfassenden globalen Mitgliedschaft der UNO (siehe oben Kap.-2.2.3) hat diese Problematik für aktuelle Streitigkeiten jedoch an Bedeutung verloren. Die wichtigste Grundentscheidung bezüglich der Parteifähigkeit enthält Art.- 34 Abs. 1 des IGH-Statuts: „Nur Staaten sind berechtigt, als Parteien vor dem Gerichtshof aufzutreten.“ Damit wurde die alte Grundregel des klassischen Völkerrechts bestätigt, wonach Einzelpersonen und nichtstaatliche Personenverbindungen keinen Zugang zu internationalen Gerichten haben. 13 Aber auch einigen traditionell anerkannten Völkerrechtssubjekten wird die Parteifähigkeit in streitigen Verfahren vor dem IGH verwehrt, nämlich den internationalen Organisationen, dem Heiligen Stuhl, dem IKRK usw. Was die Streitbeteiligung etwa von Nichtregierungsorganisationen als amici curiae betrifft, zeichnet den IGH eine eher restriktive Linie aus, anders als etwa WTO-Panels oder Menschenrechtsbeschwerinstanzen. Gutachtenverfahren. Zur Einholung von Rechtsgutachten (auch avis consultatif), also bei einem nicht-streitigen Verfahren vor dem IGH, sind im Gegensatz dazu alle „Einrichtungen“ berechtigt, „die durch die Charta der Vereinten Nationen oder im Einklang mit ihren Bestimmungen zur Einholung eines solchen Gutachtens ermächtigt“ sind (Art.-65 Abs. 1 des IGH-Statuts), also internationale Organisationen bzw. deren Organe; einzelne Staaten sind jedoch ausgeschlossen. Art.-96 Ziff. 1 UN-Charta ermächtigt die Generalversammlung und den Sicherheitsrat automatisch zur Einholung von Rechtsgutachten des IGH ohne inhaltliche Einschränkung. Art.-96 Ziff.-2 bestimmt ferner, dass andere Organe und die Sonderorganisationen der UNO von der Generalversammlung ermächtigt werden können, ebenfalls Gutachten des IGH über Rechtsfragen einzuholen, sofern diese in ihrem Tätigkeitsbereich liegen. 14 Gemäß ihrer Rechtsnatur haben Gutachten keinen bindenden Charakter. 15 12 BGBl. 1961 II, 102 6ff.; Anlass: Beitritt zur Europäischen Konvention über die friedliche Beilegung von Streitigkeiten. 13 Hier liegt auch ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem IGH und dem IStGH, vor dem Individuen angeklagt werden können, dazu oben Kap.-2.4.3. 14 Dies wurde etwa bei der Anfrage der WHO zur Zulässigkeit des Einsatzes von Atomwaffen verneint (siehe unten Kap.-15.2.14). 15 Vgl. R. Ago, „Binding“ advisory opinions of the International Court of Justice, AJIL 85 (1991), 439ff.; M.-Pomerance, The Advisory Function of the International Court in the League and U.N. Eras, Baltimore/ London 1973; L.B.-Sohn, Broadening the Advisory Jurisdiction of the International Court of Justice, AJIL 77 (1983), 124ff.; A.-M. La Rosa/ E. Saint-Pierre Guilbault, Advisory Opinions of International Courts on Issues of the International Labour Organization (Februar 2011), MPEPIL (Online-Ed.). <?page no="309"?> 273 7.1 Internationale Gerichtsbarkeit Gutachtenverfahren vor dem IGH A. Zuständigkeit des IGH (jurisdiction) ▶ Verfahrensgegenstand unterfällt der Unterwerfung und fällt unter die Zuständigkeit des IGH (Rechtsfrage) B. Zulässigkeit des Verfahrens (admissibility) I. Parteifähigkeit ▶ Sicherheitsrat/ Generalversammlung und weitere ermächtigte UN- Organe im Gutachtenverfahren II. Rechtsschutzbedürfnis III. Besondere Verfahrensvoraussetzungen beim Gutachtenverfahren 1. Antragsbedürfnis Nur bei ermächtigten UN-Organen muss der Verfahrensgegenstand auch in ihren Aufgabenbereich fallen 2. Keine zwingenden Gründe sprechen gegen Gutachten IV. Form C. Begründetheit (merits) ▶ Rechtliche Beurteilung der Sachfrage Wichtige Gutachtenverfahren: Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Gutachten 1949: Die Vereinten Nationen sind kraft ihrer Natur ein Völkerrechtssubjekt, obwohl die UN-Charta keine explizite rechtliche Grundlage bietet. 16 Western Sahara, Gutachten 1975: Das Gericht konnte keine rechtliche Verbindung der Westsahara zu Marocco feststellen, die das Völkerrechtsprinzip des Selbstbestimmngsrechts der Völker beeinträchtigt. 17 Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Gutachten 1996: Aus den oben genannten Voraussetzungen zum Gebrauch von Atomwaffen folgt, dass dieser Gebrauch grundsätzlich gegen internationales Recht verstößt. 18 Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory. Gutachten 2004: Die erga omnes Verpflichtung, die Israel verletzt, ist unter anderem das Selbstbestimmungsrecht der Völker […]. 19 Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo, Gutachten 2010: Die Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 stellt keinen Verstoß gegen internationales Völkerrecht dar. 20 16 Vgl. IGH, Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Gutachten vom 11.04.1949, ICJ Reports 1949, 174; siehe auch Kap. 15.2.2. 17 Vgl. IGH, Western Sahara, Gutachten vom 16.10.1975, ICJ Reports 1975, 12, siehe auch Kap. 15.2.10. 18 Vgl. IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Gutachten vom 08.07.1996, ICJ Reports 1996, 226.; siehe auch 15.2.14. 19 Vgl. IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Gutachten vom 09.07.2004, ICJ Reports 2004, 136; siehe auch 15.2.18. 20 Vgl. IGH, Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo, Gutachten vom 22.07.2010, ICJ Reports 2010, 403; siehe auch Kap. 15.2.23. <?page no="310"?> 274 7. Internationale Rechtsprechung und andere Formen der friedlichen Streitbeilegung Zusammensetzung. Der IGH besteht aus 1 Richtern, die aus verschiedenen Staaten kommen müssen (Art.-3 Abs. 1 des Statuts), alle großen Kulturkreise und Rechtssysteme der Welt repräsentieren sollen und von der Generalversammlung und vom Sicherheitsrat für die Dauer von neun Jahren gewählt werden. 21 Die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates waren bis neulich immer vertreten. 22 Eine Wiederwahl ist zulässig. Ein Richter wird nicht dadurch für befangen erachtet, dass sein Heimatstaat Streitpartei ist. Im Gegenteil: Gehört dem Gerichtshof kein Richter an, der die Staatsangehörigkeit der Parteien eines aktuellen Rechtsstreits besitzt, so sind diese berechtigt, jeweils einen weiteren Richter zur Entscheidung über diesen Streitfall zu bestimmen (Art.-31 Abs. 2 und 3 des Statuts). Diese sog. ad hoc-Richter wirken völlig gleichberechtigt an der Entscheidung mit (Art.-31 Abs. 7 des Statuts). Der Bestimmung liegt die Hoffnung zugrunde, dass die zu Richtern bestellten Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler absolut objektiv sind. Faktisch stimmen jedoch sowohl ad hoc benannte als auch reguläre Richterinnen und Richter häufig entsprechend der politischen Linie ihres Heimatstaates ab, zumal sie ja auch von diesem nominiert wurden. 23 Der IGH hört üblicherweise Fälle im Plenum; auf Wunsch der Parteien kann ein Fall auch an spezielle Kammern verwiesen werden. Dies ist bisher jedoch erst sechs Mal passiert. Die 1993 von diesbezüglich interessierten Richtern ins Leben gerufene Kammer für Umweltsachen wurde noch nie genutzt. Neben Zweifeln an der Objektivität der Richter des IGH, die sich in der Zeit des Kalten Krieges oft bis zu Zweifeln an der richterlichen Unabhängigkeit verdichteten, wird die Bedeutung des IGH nicht nur in der öffentlichen Meinung, sondern auch im strengen juristischen Sinn, vor allem jedoch von den seine Zuständigkeit betreffenden Regeln und dort besonders vom Mechanismus der Fakultativklausel des Art.-36 Abs. 2 IGH-Statut beeinträchtigt. Wer die Position des IGH in der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung richtig einschätzen will, muss vor allem wissen, wie sich diese Vorschrift in das System des geltenden Völkerrechts einfügt. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass das allgemeine Völkerrecht keinen Rechtssatz enthält, der eine obligatorische internationale Gerichtsbarkeit zu tragen vermöchte. Auch die Charta der Vereinten Nationen kann einen solchen Rechtssatz nicht enthalten, denn die UNO beruht - wie Art.-2 Ziff. 1 UN-Charta betont - „auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“. Damit steht fest, dass die Unterwerfung unter eine internationale Gerichtsbarkeit wie den IGH oder die Schiedsgerichtsbarkeit nur in relativ beschränkten Fällen erfolgt: Zum einen durch einen Schiedskompromiss gemäß Art.-36 Abs. 1, 1. Alt. IGH-Statut, der die Zuständigkeit des IGH für 21 Deutschland hat bislang drei Richter zum IGH entsandt: Erster deutscher Richter war Hermann Mosler (1976-1985), von 1994 bis 2003 amtierte der Diplomat Carl-August Fleischhauer und in der Zeit von 2003 bis 2012 der Münchener Völkerrechtsprofessor Bruno Simma. Erster deutscher Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof (IStGH) war Walther Schücking von 1930-1935. 22 Seit Februar 2018 ist der Brite Christopher Greenwood nicht mehr IGH-Richter und Großbritannien daher nicht mehr auf der Richterbank vertreten. 23 Zur Auswahl und Tätigkeit der Richter vgl. C.F. Amerasinghe, Judges of the International Court of Justice - Election and Qualification, LJIL 14 (2001), 335ff.; M.-Lachs, A few Thoughts on the Independence of Judges of the International Court of Justice, ColJTL 25 (1987), 593ff.; O. Schachter, Creativity and Objectivity in International Tribunals, in: FS Mosler, 1983, 813ff.; J.R. Sun, National Judges in Advisory Proceedings of the International Court, IJIL 19 (1979), 20ff. <?page no="311"?> 275 7.1 Internationale Gerichtsbarkeit einen Einzelfall begründet, 24 was auch durch rügelose Einlassung in einen beim IGH anhängigen Rechtsstreit möglich ist, sog. forum prorogatum; 25 sie wird zum anderen erreicht durch Unterwerfung in bi- oder multilateralen Abkommen entsprechend Art.-36 Abs. 1 f.. Alt., sowie schließlich drittens durch einseitige Erklärung gemäß der sogleich vorzustellenden Fakultativklausel des Art.- 36 Abs. 2 IGH-Statut. Grundsätzlich ist bei allen Unterwerfungserklärungen, ob vertraglich oder einseitig vorgenommen, zu prüfen, ob die Erklärung zum Zeitpunkt der Klageeinreichung Gültigkeit besitzt und ob der streitige Sachverhalt unter den von der Erklärung umfassten Bereich fällt. Es steht jedoch ebenfalls fest, dass das Problem der friedlichen Streitbeilegung nur dann im Einklang mit den Grundprinzipien des „neuen“ Völkerrechts gelöst werden kann, wenn sich der Gedanke der obligatorischen Gerichtsbarkeit im Völkerrecht durchsetzt. 26 Wie bei allen Tendenzen der völkerrechtlichen Entwicklung in der seit dem Ende des klassischen Völkerrechts bestehenden Umbruchsituation müssen die entscheidenden Impulse von den Mitgliedern der Völkerrechtsgemeinschaft jedoch selbst ausgehen. Das Statut des IGH eröffnet ihnen hierzu die Möglichkeit in: Art. 3 Abs.  IGH-Statut „Die Vertragsstaaten dieses Statuts können jederzeit erklären, dass sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs von Rechts wegen und ohne besondere Übereinkunft gegenüber jedem anderen Staat, der dieselbe Verpflichtung übernimmt, für alle Rechtsstreitigkeiten über folgende Gegenstände als obligatorisch anerkennen: a) die Auslegung eines Vertrags; b) jede Frage des Völkerrechts; c) das Bestehen jeder Tatsache, die, wäre sie bewiesen, die Verletzung einer internationalen Verpflichtung darstellt; d) Art oder Umfang der wegen Verletzung einer internationalen Verpflichtung geschuldeten Wiedergutmachung.“ 24 So etwa das Verfahren IGH, Land, Island and Maritime Frontier Dispute (El Salvador v. Honduras: Nicaragua Intervening), ICJ Reports 1992, 351. Das Urteil erging am 11.09.1992. 25 H.M.; hierzu S. Yee, Forum Prorogatum in the International Court, GYIL 42 (1999), 147ff.; M.-Bedjaoui, The Forum Prorogatum Before the International Court of Justice: The Resources of an Institution or the Hidden Face of Consensualism, ICJ Yearbook 1996-1997, 216ff. Siehe auch den Fall Certain Criminal Proceedings in France (Republic of the Congo v. France), der vom 09.12.2002 bis zu der Unterstellung im Jahr 2010 beim IGH anhängig war. 26 Hierzu G.-Bacot, Réflexions sur les clauses qui rendent obligatoires les avis consultatifs de la C.P.J.I. et de la C.I.J., RGDIP 94 (1980), 1027ff.; R. Bernhardt, Das Gegenseitigkeitsprinzip in der obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit, in: FS Guggenheim, 1968, 615ff.; K.- Oellers-Frahm, Probleme und Grenzen der obligatorischen Gerichtsbarkeit, AVR 27 (1989), 442ff.; F.- Przetacznik, The Compulsory Jurisdiction of the International Court of Justice as a Prerequisite for Peace, RDI 68 (1990), 39ff.; R. Szafarz, Compulsory Jurisdiction of the International Court of Justice, 1993; R.P. Anand, Enhancing the Acceptability of Compulsory Procedures of International Dispute Settlement, MPUNYB 5 (2001), 1ff. <?page no="312"?> 276 7. Internationale Rechtsprechung und andere Formen der friedlichen Streitbeilegung Diese Bestimmung wird Fakultativklausel genannt, weil sie die Entscheidung in das Belieben der Staaten stellt. 27 Der Begriff „obligatorisch“ („compulsory“, „obligatoire“) ist daher etwas irreführend, denn wiederum erfolgt die Verpflichtung erst nach einem freiwilligen Akt. Man könnte insofern auch von einem „opting-in“ sprechen. Die Besonderheit von Art.- 36 Abs. 2 liegt eher darin, dass die Zuständigkeit des IGH uneingeschränkt und im Voraus akzeptiert wird, während Abs. 1 jeweils nur bestimmte Rechtssachen oder -materien abdeckt. Die Erklärung gemäß der Fakultativklausel ist beim Generalsekretär der Vereinten Nationen zu hinterlegen, der sie den Vertragsparteien des Statuts und dem Kanzler des IGH übermittelt. Vorbehalte zur Zuständigkeit. Um interessierten Staaten die Akzeptanz der uneingeschränkten Zuständigkeit zu erleichtern, kann sie jedoch „vorbehaltlos oder vorbehaltlich einer entsprechenden Verpflichtung mehrerer oder einzelner Staaten oder für einen bestimmten Zeitabschnitt abgegeben werden“ (Art.-36 Abs. 3 des Statuts). Hier besteht also eine Parallele zum allgemeinen Recht der völkerrechtlichen Verträge (siehe oben Kap.-3.2). Vorbehalte zur Zuständigkeit ratione personae können z.B. Staaten in derselben Hemisphäre, solche zur Zuständigkeit ratione temporis etwa Streitigkeiten gegen ehemalige Kolonialstaaten vor ihrer Unabhängigkeit ausschließen. Von der Möglichkeit der Befristung haben viele Staaten Gebrauch gemacht, um nach Ablauf einer gewissen Zeit (in der Regel fünf Jahre) erneut über die Ausnutzung der Fakultativklausel zu entscheiden. Andere Staaten haben widerrufliche Erklärungen abgegeben. Dagegen ist der Vorbehalt der Gegenseitigkeit selten, da er im Grunde überflüssig ist. Denn der Grundsatz der Reziprozität (siehe dazu unten Kap.-5.3) beherrscht das gesamte Völkerrecht und hat zur Folge, dass die Unterwerfung unter die obligatorische Gerichtsbarkeit des IGH, die ja im Belieben der Staaten steht, in jedem Fall nur gegenüber denjenigen Staaten gilt, welche die gleiche Verpflichtung übernommen haben. Vorbehalt der staatlichen Zuständigkeit. Viele Staaten versehen ihre gemäß Art.- 36 Abs. 2 des IGH-Statuts abgegebene Erklärung jedoch auch mit einem inhaltlichen Vorbehalt (ratione materiae, z.B. seerechtliche Streitigkeiten oder Grenzfragen). Dies ist grundsätzlich auch zulässig. Problematisch ist jedoch insbesondere der Vorbehalt der staatlichen Zuständigkeit. Danach soll der IGH auch nach Inkrafttreten der Unterwerfungserklärung nicht für diejenigen Streitigkeiten zuständig sein, die zu den inneren Angelegenheiten des betreffenden Staates zählen (so 27 Vgl. S. Alexandrov, Reservations in Unilateral Declarations Accepting the Compulsory Jurisdiction of the International Court of Justice, 1995; ders., Accepting the Compulsory Jurisdiction of the International Court of Justice with Reservations: An Overview of Practice with a Focus on Recent Trends and Cases, LJIL 14 (2001), 89ff.; R.-Arnold, Probleme der Fakultativklausel in der internationalen Gerichtsbarkeit, in: FS von der Heydte, 1977, 3ff.; H.W.-Briggs, Reservations to the Acceptance of Compulsory Jurisdiction of the International Court of Justice, RdC-93 (1958/ I), 223ff.; J.-Crawford, The Legal Effect of Automatic Reservations to the Jurisdiction of the International Court, BYIL 50 (1979), 63ff.; N. Kebbon, The World Court’s Compulsory Jurisdiction under the Optional Clause, NorJIL 58 (1989), 257ff.; J.G.-Merrills, The Optional Clause Today, BYIL 50 (1979), 87ff.; S. Oda, Reservations in the Declarations of Acceptance of the Optional Clause and the Period of Validity of those Declarations, BYIL 59 (1988), 1ff.; M.-Rotter, Art.-36 Abs. 2 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes, in: FS Verdross, 1980, 631ff. <?page no="313"?> 277 7.1 Internationale Gerichtsbarkeit etwa der sog. Connally-Vorbehalt der USA). 28 Ein solcher Vorbehalt ist in Art.-36 des IGH-Statuts nicht vorgesehen. Er stützt sich vielmehr auf das Interventionsverbot, das gemäß Art.- 2 Ziff. 7 UN-Charta auch für die Organe der UNO (also auch für den IGH) im Verhältnis zu deren Mitgliedern gilt. Diese Beschränkung der Rechtsprechung des IGH auf Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach nicht zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, ergibt sich aber bereits daraus, dass der IGH als internationales Gericht nur für völkerrechtliche Streitigkeiten zuständig ist. Dies wird durch Art.-38 des Statuts bekräftigt, wonach der IGH die ihm unterbreiteten Streitigkeiten „nach dem Völkerrecht“ zu entscheiden hat. Und auch dann, wenn die Parteien dem IGH ausdrücklich eine Entscheidung nach Billigkeit gestatten (ex aequo et bono, Art.- 38 Abs. 2 IGH- Statut), bedeutet dies nur, dass der IGH befugt ist, Lücken im Völkerrecht durch rechtsschöpfende Entscheidungen zu schließen. Soweit daher die Vorbehalte der Staaten sich darauf beschränken, die Unzuständigkeit des IGH für Streitigkeiten zu betonen, die „nach Völkerrecht ausschließlich zur Zuständigkeit innerstaatlicher Organe gehören“, ist der Vorbehalt nur deklaratorisch. Soweit er aber in vagen Formulierungen die Zuständigkeit des IGH für solche Streitigkeiten ausschließt, welche „die Lebensinteressen“ des betreffenden Staates berühren, ist seine Zulässigkeit umstritten. Art.- 36 Abs. 1 des IGH-Statuts bietet keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Zwar bestimmt er, dass sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs „auf alle ihm von den Parteien unterbreiteten Rechtssachen“ erstreckt, was u.a. bedeutet, dass zwei Parteien durch Vereinbarung auch solche Rechtsstreitigkeiten dem IGH unterbreiten können, die nach allgemeinem Völkerrecht zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören. Aber bei dem Vorbehalt der staatlichen Zuständigkeit bei Erklärungen aufgrund der Fakultativklausel geht es um ein anderes Problem: Die Erklärung bewirkt ja die Anerkennung der obligatorischen Gerichtsbarkeit des IGH, d.h. der Möglichkeit, einen Streit nicht nur durch Parteivereinbarung, sondern durch einfache Klage gegen einen anderen Staat - der die obligatorische Gerichtsbarkeit des IGH in gleicher Weise anerkannt hat - vor den IGH zu bringen. Hier taucht dann die Frage auf, inwieweit die beklagte Partei den Umfang des Vorbehalts selber bestimmen kann. In der bisherigen Praxis haben sich die Staaten häufig auf einen von ihnen erklärten Vorbehalt berufen, um im konkreten Fall die Zuständigkeit des IGH zu verneinen. 29 Dieses Verhalten widerspricht dem Art.-36 Abs. 6 des IGH-Statuts, nach dem der Gerichtshof bei Zweifeln an seiner Zuständigkeit selbst über die Frage der Zuständigkeit zu entscheiden hat (sog. Kompetenz-Kompetenz). Ein sog. „automatischer“ Vorbehalt, nach dem ein Staat zum Zwecke der Zuständigkeitsbegrenzung des IGH sich also nicht nur auf das Vorliegen 28 Dazu C. Stahn, Connally Reservation (Dezember 2006), MPEPIL (Online-Ed.); siehe zum im Nicaragua- Fall (unten Kap.-15.2.12) relevant gewordenen Vandenberg-Vorbehalt K.-Ipsen, Völkerrecht, 7. A., 2018, § 59, Rn. 59. 29 Zwei Beispiele: 1. der Streit Fisheries Jurisdiction zwischen Großbritannien und Island (wegen der Fischereigewässer um Island), in dem der IGH seine Zuständigkeit ausdrücklich bejaht und Island zu einem bestimmten Verhalten aufgefordert hat, während Island das Verfahren vor dem IGH überhaupt nicht zur Kenntnis nahm, ICJ Reports 1972, 12 (30), 1973, 3 (49). 2. Der Streit Nuclear Tests zwischen Australien, Japan und Neuseeland einerseits, Frankreich andererseits wegen der französischen Atombombenversuche im Pazifik, ICJ Reports 1973, 99ff. u. 135ff. sowie 1974, 253ff. und 457ff.; siehe auch G.-Hoog/ H.-Schröder-Schüler, Französische Kernwaffenversuche im Südpazifik, 1973. <?page no="314"?> 278 7. Internationale Rechtsprechung und andere Formen der friedlichen Streitbeilegung einer innerstaatlichen Angelegenheit beruft, sondern darüber hinaus für sich das Recht reklamiert, dies selbst festzustellen, ist somit unzulässig. 30 Ein Vorbehalt wird jedoch nicht automatisch deswegen unwirksam, weil er eventuell gegen höherrangiges Recht verstößt. Seine Vereinbarkeit mit materiellem Völkerrecht ist, so der IGH, strikt von der Frage der Zuständigkeit des Gerichts bzw. der Zulässigkeit der Klage zu trennen und erst auf der Ebene der Begründetheit zu erörtern. 31 Umstritten ist weiterhin, was aus einem unzulässigen Vorbehalt folgt. Während man argumentieren könnte, ein unzulässiger Vorbehalt lasse die eigentliche Unterwerfungserklärung unberührt, womit es zu einer Bejahung der Zuständigkeit käme, hat der IGH betont, dass Unterwerfungserklärung und Vorbehalt einen einheitlichen Akt darstellten. Er unterstrich hierbei den konsensualen Charakter des Völkerrechts und führte aus, dass im existierenden System ein Staat nicht gegen seinen Willen gezwungen werden könne, die Zuständigkeit des Gerichtshofes zu akzeptieren. Unterwerfungserklärungen und Vorbehalte seien daher im Lichte der Intention des Staates zu interpretieren. Der Vorbehalt der staatlichen Zuständigkeit hat die ohnehin begrenzte Wirkung der Fakultativklausel erheblich eingeschränkt: Im April 2019 hatten nur 73 Staaten Erklärungen gemäß Art.-36 Abs. 2 des IGH-Statuts abgegeben und dies zumeist mit weitreichenden Vorbehalten. 32 Zum 01.05.2008 hat die BRD ihrerseits als 66. Staat die entsprechende Unterwerfungserklärung abgegeben. 33 Verfahren. Das Verfahren vor dem IGH ist im Statut sowie in seiner regelmäßig angepassten Verfahrensordnung 34 geregelt. Hiernach gibt es zumeist eine schriftliche und eine mündliche Phase. Die Verhandlungen des Gerichts sind öffentlich. Staaten lassen sich während des Verfahrens häufig von renommierten Völkerrechtsprofessorinnen und Völkerrechtsprofessoren und international tätigen Großkanzleien beraten. Sofern eine Streitpartei Einwendungen gegen die Zuständigkeit bzw. Zulässigkeit der Klage vorbringt, wird üblicherweise dieser Teil getrennt von der Begründet- 30 Vgl. P. Guggenheim, Der sog. automatische Vorbehalt der inneren Angelegenheiten gegenüber der Anerkennung der obligatorischen Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofes in seiner neuesten Gerichtspraxis, in: FS Verdross, 1960, 117ff. 31 Vgl. IGH-Urteil vom 04.12.1998 im Fall Fisheries Jurisdiction (Spain v. Canada), insb. Ziff. 44-56. Zu diesem Urteil L. De La Fayette, The Fisheries Jurisdiction Case (Spain v. Canada), ICLQ 48 (1999), 664ff.; R. Churchill, Fisheries Jurisdiction Case (Spain v. Canada), LJIL 12 (1999), 597ff. 32 https: / / www.icj-cij.org/ en/ declarations (zuletzt abgerufen: Dezember 2019); zudem folgende weitere Beispiele: Großbritannien, welches als einziges ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates eine allgemeine Unterwerfungsklausel abgegeben hat, hat zugleich alle Streitigkeiten mit Mitgliedstaaten des Commonwealth für die Zeit vor 1969 ausgeschlossen. Die USA haben ihre Unterwerfungsklausel während des Nicaragua-Falles (siehe Kap.- 15.2.12) zurückgezogen. Im Fall LaGrand (siehe a.E. dieses Abschnitts) wurde die Zuständigkeit des IGH auf ein Fakultativprotokoll zur Wiener Konsularrechtskonvention gem. Art.-36 Abs. 1 f.. Alt. IGH-Statut gestützt. 33 Zuvor hatte eine Studiengruppe der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht für die Abgabe einer solchen Erklärung plädiert (siehe den Abdruck der Erklärung in ZaöRV 67 (2007), 825ff.). Siehe dazu auch J.-Fuhrmann, Die Unterwerfung der Bundesrepublik Deutschland unter die Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs nach Art.-36 Abs. 2 IGH-Statut, BOFAXE No. 319D, vom 20.05.2008, www. ifhv.de; C. Tams/ A. Zimmermann, Deutschland und der Internationale Gerichtshof-- Zeit für eine allgemeine Unterwerfungserklärung, DGVN Policy Paper 2/ 2007. 34 Die letzte Version ist vom 14.04.2005. <?page no="315"?> 279 7.1 Internationale Gerichtsbarkeit heit verhandelt. Die Nebenintervention dritter Staaten ist zulässig, wenn diese in einem rechtlichen Interesse betroffen sein können. Ein Verfahren ohne die freiwillige Teilnahme Dritter ist jedoch nicht möglich, wenn im Wesentlichen deren Verhalten in Streit steht. 35 Gem. Art.-41 IGH-Statut kann der Gerichtshof vorsorgliche Maßnahmen (sog. Preliminary Measures) erlassen, wenn dies aus seiner Sicht für die Sicherung des in Frage stehenden Rechts erforderlich ist. Der IGH hat mittlerweile festgestellt, dass eine solche Anordnung bindend ist, da sonst das mögliche Urteil unterlaufen werden kann. 36 Das Nichterscheinen einer Partei verhindert bei sonstiger Zulässigkeit der Klage nicht den Fortgang der Verhandlungen und ein abschließendes Urteil. 37 Das Urteil wird mit Stimmenmehrheit der anwesenden Richter bzw. bei Stimmengleichheit durch die Stimme des Präsidenten des Gerichtshofes gefällt. Gegen ein Urteil ist keine Berufung möglich, es kann lediglich ein Antrag auf dessen Interpretation und in sehr begrenztem Umfang auf Wiederaufnahme 38 gestellt werden. Zwischen Klageanhängigkeit und Urteil liegen z.Zt. durchschnittlich ca. zweieinhalb Jahre. Einige Verfahren brauchen jedoch erheblich länger, wie etwa der Fall Barcelona Traction (siehe unten Kap.-15.2.9), der erst nach elf Jahren entschieden wurde. Inter partes-Wirkung des Urteils. Zwar gilt ein Urteil des IGH gem. Art.- 59 IGH-Statut nur inter partes, also nur für die entschiedene Rechtssache und die daran beteiligten Streitparteien. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass Urteile wie auch Gutachten eine sehr viel weitergehende Ausstrahlungswirkung entfalten können. De facto stellen sie zumeist Präzedenzfälle für andere Verfahren - auch vor anderen Institutionen - dar, deren argumentatives Gewicht erheblich ist. Besonders ergiebig sind auch die mittlerweile üblichen und ebenso zahlreichen wie ausführlichen Sondervoten (separate bzw. dissenting opinions), die häufig klarer als das zumeist kompromisshaft formulierte Urteil mögliche Argumente oder Rechtsregeln akzeptieren oder ablehnen. Die Durchsetzung eines IGH-Urteils durch den UN-Sicherheitsrat gem. Art 94 Ziff. 2 UN-Charta spielte bisher keine Rolle. 35 Siehe zu IGH, East Timor (Portugal v. Australia), Urteil vom 30.06.1995, ICJ Reports 1995, 90, P. Hilpold, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker vor dem IGH - der Osttimor-Fall, ZÖR 53 (1998), 263ff.; A.-Zimmermann, Die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofes zur Entscheidung über Ansprüche gegen am Verfahren nicht beteiligte Staaten: Anmerkungen aus Anlass der Entscheidung des IGH im Streitfall zwischen Portugal und Australien betreffend Ost-Timor, ZaöRV 55 (1995), 1051ff. Siehe auch P. Palchetti, Opening the International Court of Justice to Third States: Interventionand Beyond, MPUNYB-6 (2002), 139ff. 36 Zur Beachtung einstweiliger Anordnungen im LaGrand-Fall siehe K.-Oellers-Fahm, Pacta sunt servanda-- Gilt das auch für die USA? , EuGRZ 26 (1999), 437ff. 37 Zur Nichtteilnahme am Verfahren bzw. der Nichtakzeptanz angeblich „politischer“ Urteile durch verfahrensbeteiligte Staaten siehe IGH, Fisheries Jurisdiction, (Germany v. Iceland), Merits, Urteil vom 25.07.1974, ICJ Reports 1974, 175; IGH, United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran (USA v. Iran), Urteil vom 24.05.1980, ICJ Reports 1980, 3, und IGH, Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v.-USA), Merits, Entscheidung vom 27.06.1986, ICJ Reports 1986, 14. 38 Hierzu R. Geiß, Revision Proceedings before the International Court of Justice, ZaöRV 63 (2003), 167ff. <?page no="316"?> 280 7. Internationale Rechtsprechung und andere Formen der friedlichen Streitbeilegung Wertung. So fällt im Allgemeinen das Urteil über Wert und Bedeutung der Rechtsprechung des IGH noch sehr gemischt aus. Von der Warte der Weltpolitik aus gesehen betrafen die Entscheidungen in der Vergangenheit überwiegend eher unbedeutendere Fragen, etwa solche der territorialen oder seerechtlichen Grenzziehung. Auch der Umfang der Rechtsprechungstätigkeit war bislang eher gering: Beim IGH wurden von 1946 bis Januar 2019 176 39 Verfahren anhängig gemacht. 40 Das Ende des Ost-West-Konflikts brachte jedoch ein signifikantes Ansteigen der beim IGH anhängigen Rechtssachen. Mit Urteilen und Gutachten zu solchen auch politisch sensiblen Themen wie der Ausübung militärischer Gewalt, dem Schutz fundamentaler Menschenrechte, dem Einsatz von Atomwaffen oder zuletzt der Immunität von Regierungsmitgliedern 41 nimmt der IGH zunehmend auch zu Grundfragen des Völkerrechts Stellung und hat insofern etwa auch Einfluss auf den sich wandelnden Souveränitätsbegriff und die Stellung des Individuums im Völkerrecht genommen. Schließlich hat die Tätigkeit des IGH auf den Gebieten, welche seine Entscheidungen und Gutachten betrafen, einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Festigung und Fortentwicklung des Völkerrechts geleistet. Als Mittel der Streiterledigung steht die Rechtsprechung des IGH aufgrund der begrenzten Zuständigkeit des Gerichtshofs freilich bislang in keinem Verhältnis zu den tatsächlich existierenden Streitfällen. Auch darf man den IGH politisch nicht überfordern. Er selber hat im Lockerbie-Fall (siehe unten Kap.-15.2.13) sein Verhältnis zum UN-Sicherheitsrat - eine der wohl sensibelsten Fragen des Selbstverständnisses einer internationalen Judikative - offen gelassen. Doch auch wenn man meinen könnte, als „höchstes Rechtsprechungsorgan“ einer internationalen Organisation sei er auch zur Kontrolle der anderen Organe dieser Institution berufen, kann kaum davon ausgegangen werden, dass die Schöpfer der Charta angesichts der Bedeutung, die sie dem Sicherheitsrat als einem nicht zuletzt politisch agierenden und entscheidenden Organ zumaßen, dessen Unterordnung unter den IGH im Sinne hatten. Deutschland vor dem IGH. Die Bundesrepublik Deutschland hat den IGH viermal angerufen, und zwar jeweils mit Erfolg. 42 Im ersten vom IGH entschiedenen Fall mit deutscher Beteiligung hatte der Gerichtshof im Jahre 1969 im Nordseekontinentalsockel-Fall entschieden, dass Deutschland von dem gewohnheitsrechtlich gültigen Äquidistanzprinzip für die Abgrenzung des 39 https: / / www.icj-cij.org/ en/ cases (zuletzt abgerufen: Dezember 2019). 40 Der StIGH hat in der Zeit vom 30.01.1922 (erste Sitzung) bis zum 18.04.1946 (Auflösung) 32 Urteile gefällt und 27 Gutachten verfasst. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Tätigkeit des StIGH während des Krieges unterbrochen werden musste. 41 Urteil vom 14.02.2002 im Arrest Warrant-Fall (Congo v. Belgium), ILM 41 (2002), 536ff.; siehe hierzu W. Weiß, Völkerstrafrecht zwischen Weltprinzip und Immunität, JZ 57 (2002), 696ff. 42 Bei der ersten Anrufung ging es um den Festlandsockel unter der Nordsee (IGH, North Sea Continental Shelf (Germany v. Denmark; Germany v. Netherlands), Urteil vom 20.02.1969, ICJ Reports 1969, 3), dazu unten Kap.- 15.2.8; die zweite betraf die Ausdehnung des Küstenmeeres durch Island und wurde vom IGH durch Urteil vom 25.07.1974 (IGH, Fisheries Jurisdiction (Germany v. Iceland) (Merits), Urteil vom 25.07.1974, ICJ Reports 1974, 175) entschieden; der dritte Fall befasste sich mit der Verurteilung und Hinrichtung der LaGrand-Brüder unter Missachtung ihrer konsularischen Rechte (IGH, LaGrand Case (Germany v. USA), Urteil vom 27.06.2001, ICJ Reports 2001, 466); das letzte Mal rief Deutschland den IGH an, um die Verletzung seiner Staatenimmunität durch Italien feststellen zu lassen (IGH, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy), Urteil vom 03.02.2012, ICJ Reports 2012), siehe Kap. 15.2.24. <?page no="317"?> 281 7.1 Internationale Gerichtsbarkeit Festlandsockels profitieren konnte. Hernach gab der IGH im Jahre 2001 Deutschland im Fall der Brüder LaGrand Recht und entschied, dass die USA gegen ihre Verpflichtungen aus der Wiener Konsularrechtskonvention von 1963 verstoßen hatten, indem sie den Angeklagten, die zwar lange Zeit in den USA gelebt hatten, aber die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, während des Verfahrens keinen Zugang zu deutschen Konsularbehörden gewährt hatten. 43 Zudem entschied der IGH am 10.02.2005 in dem Fall Liechtenstein v. Deutschland (sog. Certain Property Case) zugunsten Deutschlands. Hier hatte Liechtenstein Deutschland auf Schadensersatz für Eigentum verklagt hat, das nach dem Zweiten Weltkrieg durch die damalige Tschechoslowakei aufgrund der sog. Beneš-Dekrete beschlagnahmt worden war. Der IGH wies indes den Antrag Liechtensteins mit der Begründung ab, dass er keine Zuständigkeit besitze, um diesen Rechtsstreit zu entscheiden. 44 Und schließlich obsiegte Deutschland gegen Italien im Jahre 2012 mit seiner Rechtsauffassung, dass italienische Gerichte keine Zuständigkeit hätten, Deutschland zum Schadensersatz wegen von den Nationalsozialisten an Italienern begangenen Straftaten zu verurteilen. 45 Übersicht zum streitigen Verfahren vor dem IGH (vereinfacht; alle Artikel ohne besondere Kennzeichnung bezeichnen solche des IGH-Statuts) I. Vorprüfung: Parteifähigkeit ▶ Art. 3 Abs. 1: ausschließlich Staaten (nicht internationale Organisationen, Individuen etc.) ▶ Art. 3 Abs. 1: Vertragsstaaten des Statuts Art. 93 Ziff. 1 UN-Charta: alle UN-Mitgliedstaaten Art. 35 Abs. 2 f.i.V.m. Art. 93 Ziff. 2 UN-Charta: spezielle Erklärung bei Staaten, die nicht Mitglieder der UN sind 43 IGH, LaGrand Case (Germany v. USA), Urteil vom 27.06.2001, ICJ Reports 2001, 466; siehe Kap. 15.2.16; eine Zusammenfassung des Urteils findet sich in JA 34 (2002), 112 sowie in JZ 57 (2002), 91ff. (mit Anmerkung von C.-Hillgruber). Die LaGrand Entscheidung hatte zu Veränderungen im US-Amerikanischen Recht geführt und diente als Präzedenzfall für eine gleichgelagerte Entscheidung vom 31.3.2004 im Fall Mexikos gegen die USA (Avena and other Mexican Nationals). Siehe zum Ganzen K.-Oellers-Frahm, Der Internationale Gerichtshof stärkt die Stellung des Individuums im Völkerrecht, NJW 50 (2001), 3688ff.; dies., Berichte zu Fällen des IGH: Grenzstreitigkeit Kamerum v. Nigeria, Souveränität über Palau Ligitan und Palau Sipadan, Lockerbie-Fall/ Beendigung; Revisionsantrag El Salvador, Avena, VN 52 (2004), 97ff. C.-Tams/ C. Hoppe, Implementation of LaGrand and Avena in Germany and the United States: Exploring a Transatlantic Divide in Search of a Uniform Interpretation of Consular Rights, EJIL 18 (2007), 336ff.; C. Tams, Das LaGrand-Urteil, JuS 42 (2002), 324; T. Nagel/ D.-Norba, Der Fall LaGrand und das Völkerrecht, JA 32 (2000), 132ff., sowie die Hinweise bei Kap.-2.4.3. 44 IGH, Certain Property (Liechtenstein v. Germany), Urteil vom 10.02.2005, ICJ Reports 2006, 6. 45 IGH, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy), Urteil vom 03.02.2012, ICJ Reports 2012, 99, §§ 72ff. <?page no="318"?> 282 7. Internationale Rechtsprechung und andere Formen der friedlichen Streitbeilegung II. Zuständigkeit (jurisdiction) ▶ Art. 3 Abs. 1, 1. Alt.: Parteivereinbarung (ad hoc Kompromiss) Evtl. Problem: Vertragsschluss? daneben: Rügeloses Einlassen des Beklagten (forum prorogatum), h.M. (+) ▶ Art. 3 Abs. 1 f.. Alt.: „kompromissarische“ Verweise in internationalen Verträgen — allgemeine Streitbeilegungsabkommen — Streitbeilegungsklauseln in Abkommen zu spezifischen Rechtsmaterien Art. : auch Verweise an den StIGH ▶ Art. 3 Abs.  (Fakultativklausel): „obligatorische“ Streitbeilegung durch Unterwerfungserklärung Art. 36 Abs. 5: auch Erklärungen bzgl. StIGH Art. 36 Abs. 3: Vorbehalte möglich: Gegenseitigkeit, bestimmte Zeit, bestimmte Staaten Evtl. Problem: inhaltliche Vorbehalte (str.): — innerstaatliche Angelegenheiten (domaine réservé) (+) — „automatischer“ Vorbehalt (-) Evtl. Problem: Reichweite der „Gegenseitigkeit“? Evtl. Problem: Wirkung eines unzulässigen Vorbehalts? III. Zulässigkeit (admissibility) ▶ Rechtsfrage: Streitfrage anhand völkerrechtlicher Grundsätze lösbar? Evtl. Problem: Politischer Konflikt? (political question doctrine) ▶ Klagebedürfnis: Bestehender Streitgegenstand (Klagegrund nicht erledigt und tatsächliche Uneinigkeit der rechtlichen Beurteilung) ▶ Nebenintervention von Drittstaaten Art. 62: rechtliches Interesse am Streitgegenstand Art. 63: weitere Mitgliedstaaten eines multilateralen Vertrages ▶ Erschöpfung alternativer Streitbeilegungsmechanismen notwendig? Pflicht hierzu in Unterwerfungsabrede enthalten? Bei diplomatischem Schutz: Vertretungsbefugnis des klagenden Staates — Evtl. Problem: Staatsangehörigkeit von natürlichen Personen: „genuine connection/ link“? — Evtl. Problem: Staatszugehörigkeit von juristischen Personen (str.) Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges durch geschützte Person (local remedies rule) ▶ Form: Schriftlichkeit (Art. 40) ▶ Frist: keine Frist, aber Rechtsmissbrauchsverbot IV. Begründetheit (merits) ▶ Maßstab: Rechtsquellen des Art 38 Abs. 1 ▶ Anzuwendender Maßstab kann durch Erklärung erweitert oder begrenzt werden ▶ „Billigkeit“ (ex aequo et bono): nur bei Parteivereinbarung (Art. 38 Abs. 2) <?page no="319"?> 283 7.1 Internationale Gerichtsbarkeit V. Urteil (judgment) ▶ Art. : Entscheidung durch Mehrheit des Gerichts (bei Stimmengleichheit Entscheidung durch den IGH-Präsidenten) ▶ Art.  i.V.m. Art.  UN-Charta: Bindungswirkung nur für Parteien dieses Falles (inter partes) ▶ Art. : Endgültiges Urteil (keine Berufung möglich, nur Auslegung des Urteils auf Anfrage) ▶ Art. 1: Wiederaufnahme des Verfahrens im Ausnahmefall (Bekannt werden neuer Tatsachen) 7.1.2 Internationale Gerichtsbarkeit mit spezieller Zuständigkeit Das Bild der internationalen Gerichtsbarkeit wäre unvollständig, wenn nicht auch an dieser Stelle die gerade in jüngerer Zeit in den verschiedensten Bereichen entstandenen Gerichte mit spezieller Zuständigkeit genannt würden, obwohl sie auch später bei der Erörterung der betreffenden Spezialmaterien Erwähnung finden werden. Denn nur so ist ein abgerundetes Bild des derzeitigen Standes der internationalen Gerichtsbarkeit und auch die vorsichtige Aussage möglich, dass es wahrnehmbare Tendenzen in die Richtung einer Ausweitung dieser Instrumente der Streitbeilegung gibt. So ist es, wie anfänglich gesagt, etwa in den Bereichen des internationalen Seerechts, des Völkerstrafrechts und für die Beilegung wirtschaftlicher Streitigkeiten im Rahmen der WTO bereits zur Etablierung von Streitschlichtungsinstanzen gekommen und es werden derartige Überlegungen für das internationale Umweltrecht angestellt. Internationaler Seegerichtshof. Der mit dem Inkrafttreten des Seerechtsübereinkommens (SRÜ) in Hamburg eingerichtete Internationale Seegerichtshof (siehe unten Kap.-11.1.10) gründet seine Rechtsprechungsgewalt auf Teil XV des SRÜ; sein Statut ist in Anlage VI zum SRÜ festgelegt. 46 Eine Streitschlichtung durch ihn ist neben der des IGH, der allgemeinen Schiedsgerichtsbarkeit sowie der speziellen Schiedsgerichtsbarkeit nur einer von vier nach dem SRÜ alternativ zur Verfügung stehenden Mechanismen. 47 Seine Urteile haben über see- und umweltrechtliche Fragen hinaus auch Bedeutung für das allgemeine Völkerrecht, so etwa bei Fragen der Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsschutzes und bei der Staatszugehörigkeit eines Schiffes, also Fragen, die sich häufig auf der Zulässigkeitsebene eines Verfahrens stellen. Hier können sich auch Diskrepanzen mit anderen internationalen Streitschlichtu