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Geschichte der USA

1026
2020
978-3-8385-5399-3
978-3-8252-5399-8
UTB 
Christof Mauch
Anke Ortlepp
Jürgen Heideking

Die Neuauflage des Klassikers zur Geschichte der Vereinigten Staaten bietet einen Überblick der Ereignisse und Entwicklungen bis ins Jahr 2020. Sozial- und kulturgeschichtliche Themen treten neben die Darstellung von Politik, Wirtschaft und Verfassung vor dem Hintergrund einer weltpolitischen Lage, die sich in den letzten 20 Jahren entscheidend verändert hat und zu einer Neubewertung der Rolle der USA als Weltmacht Anlass gibt. Besondere Beachtung finden die Rassenproblematik, ethnische, religiöse und Umweltfragen, Einwanderung sowie die Rolle der Frauen und die deutschamerikanischen Beziehungen. Die Fülle von Fakten und Analysen verbindet der Band mit den Mitteln narrativer Geschichtsschreibung zu einer differenzierten, gut lesbaren Darstellung auf aktuellem Forschungsstand. Die neue kommentierte Bibliographie diskutiert Standardwerke wie auch aktuelle Literatur.

9783838553993/Zusatzmaterial.html
<?page no="0"?> Christof Mauch | Anke Ortlepp Jürgen Heideking Geschichte der USA Geschichte der USA 7. A. Mauch | Ortlepp Heideking Die Neuauflage des Klassikers zur Geschichte der Vereinigten Staaten bietet einen Überblick der Ereignisse und Entwicklungen bis ins Jahr 2020. Sozial- und kulturgeschichtliche Themen treten neben die Darstellung von Politik, Wirtschaft und Verfassung vor dem Hintergrund einer weltpolitischen Lage, die sich in den letzten 20 Jahren entscheidend verändert hat und zu einer Neubewertung der Rolle der USA als Weltmacht Anlass gibt. Besondere Beachtung finden die Rassenproblematik, ethnische, religiöse und Umweltfragen, Einwanderung sowie die Rolle der Frauen und die deutschamerikanischen Beziehungen. Die Fülle von Fakten und Analysen verbindet der Band mit den Mitteln narrativer Geschichtsschreibung zu einer differenzierten, gut lesbaren Darstellung auf aktuellem Forschungsstand. Die neue kommentierte Bibliographie diskutiert Standardwerke wie auch aktuelle Literatur. Geschichte ,! 7ID8C5-cfdjji! ISBN 978-3-8252-5399-8 Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 7. Auflage Mit umfangreichem Online Material 53998 Heideking_L-geb-1983.indd 1 53998 Heideking_L-geb-1983.indd 1 29.09.20 16: 28 29.09.20 16: 28 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 1938 <?page no="2"?> Prof. Dr. Christof Mauch leitet die Abteilung für Amerikanische Kulturgeschichte und ist Direktor des Rachel Carson Center for Environment and Society an der LMU München. Prof. Dr. Anke Ortlepp ist Professorin für Nordamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln. Prof. Dr. Jürgen Heideking war Professor für Angloamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln. Mit umfangreichem Zusatzmaterial unter https: / / www.utb-shop.de/ geschichte-der-usa-11176.html <?page no="3"?> Christof Mauch / Anke Ortlepp / Jürgen Heideking Geschichte der USA 7., aktualisierte und ergänzte Auflage Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> 7., aktualisierte und ergänzte Auflage 2020 6., überarbeitete und erweiterte Auflage 2008 1. Auflage 1996 © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 1938 ISBN 978-3-8252-5399-8 (Print) ISBN 978-3-8385-5399-3 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5399-8 (ePub) Umschlagabbildung: Freiheitsstatue. New York Wahrzeichen und Symbol der Freiheit und der Demokratie. (© Robert Voigt, shutterstock.com, 2016) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 15 1 15 2 21 21 23 26 30 3 32 33 33 35 36 41 1 41 42 44 45 46 2 48 49 51 3 58 4 62 63 65 68 74 5 76 76 78 80 Inhalt Kapitel 1: Kolonien und Empire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zusammenprall dreier Kulturen am Rande der atlantischen Welt Regionale, ethnische und religiöse Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Süden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Neuengland-Kolonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mittelatlantik-Kolonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Küste und Hinterland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kolonien im Empire-Verband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Salutary neglect und imperiale Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsame englische Institutionen und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kolonien im englischen Merkantilsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriege für das Empire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die imperiale Debatte, 1763-1774 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stamp Act-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Townshend-Zölle, „Boston Massacre“ und Bostoner „Tea Party“ . . . Der Erste Kontinentalkongress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ideologischen Ursprünge der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unabhängigkeitserklärung und konstitutionelle Neuordnung . . . . . Der Kontinentalkongress erklärt die Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . Staatenverfassungen, Grundrechteerklärungen und Articles of Confederation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unabhängigkeitskrieg, Bündnisdiplomatie und Pariser Friedensschluss, 1775-1783 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „kritische Periode“, 1783-1787 / 88 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Egalitäre Tendenzen und Krise der Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schwäche des Konföderationskongresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Verfassungskonvent von Philadelphia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ratifizierungsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Federalists an der Macht, 1789-1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hamiltons Finanz- und Wirtschaftsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rückwirkungen der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . Der Jay Treaty mit England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 81 83 84 6 85 85 88 89 92 97 1 98 98 100 102 2 104 104 106 108 111 117 3 121 121 122 123 126 128 129 4 132 132 133 134 137 138 139 Washingtons Farewell Address . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John Adams und der Quasi-Krieg mit Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . Die „Revolution von 1800“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jeffersons Republikanismus als Alternative zum nationalen Machtstaat, 1801-1814 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Niedergang der Federalists und das Ideal der agrarischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Louisiana Purchase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „zweite Unabhängigkeitskrieg“ gegen England . . . . . . . . . . . . . . Die USA am Ende der Revolutionsepoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Era of Good Feeling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzregelungen und Monroe-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Missouri-Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landpolitik, Finanzkrise und Fraktionsbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . Die „Marktrevolution“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bevölkerungswachstum und Binnenwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbau der Infrastruktur und Anpassung des Rechtssystems . . . . . . Landwirtschaft und frühe Industrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialer Wandel und Reformbewegungen im Norden . . . . . . . . . . . . Die Sonderkultur des Südens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Übergang zur Parteiendemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Parteienverständnis im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anfänge der Jacksonian Democracy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jacksons Indianerpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nullifikationskrise und „Bankkrieg“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Whigs als neue Oppositionspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das zweite nationale Parteiensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Territoriale Expansion und Sklavereiproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . Manifest Destiny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texas und Oregon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mexikanisch-Amerikanische Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die USA und die Revolutionen in Europa, 1848 / 49 . . . . . . . . . . . . . . Der Sklaverei-Kompromiss von 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kansas-Nebraska-Gesetz von 1854 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 <?page no="7"?> 141 1 142 142 143 144 146 2 149 149 150 151 153 154 3 156 156 159 161 162 4 164 164 166 167 170 5 173 173 175 179 6 182 182 185 188 189 193 197 1 197 197 Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Eskalation des Nord-Süd-Konflikts und der Weg in den Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Umgestaltung der Parteienlandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das „blutende Kansas“ und das Dred Scott-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lincoln-Douglas-Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lincolns Wahl und der Weg in den Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Amerikanische Bürgerkrieg, 1861-1865 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das militärische Patt, 1861-1863 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seekrieg und Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lincolns Emanzipationserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gettysburg und Vicksburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Niederlage der Konföderation und die Ermordung Lincolns . . . Die Wiedereingliederung des Südens und die Rechte der befreiten Afroamerikaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „präsidentielle Rekonstruktion“, 1865-1867 . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Phase der radikalen Rekonstruktion, 1867-1872 . . . . . . . . . . . . . Die weiße Gegenoffensive im Süden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende der Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erschließung und Transformation des amerikanischen Westens Frederick J. Turners Frontier-These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der transkontinentale Eisenbahnbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der aride Westen und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen . Die Verdrängung der Indianer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufstieg der USA zur führenden Industriemacht . . . . . . . . . . . . Besonderheiten der amerikanischen Industrialisierung . . . . . . . . . . . Die Bedingungsfaktoren der wirtschaftlichen Expansion . . . . . . . . . Konzentration und Konsolidierung der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . Parteipolitik und soziale Konflikte im Gilded Age . . . . . . . . . . . . . . . . Parteimaschinen und „congressional government“ . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Ausgrenzung und rechtliche Diskriminierung der Afroamerikaner in den Südstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frauen im öffentlichen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewerkschaften und Arbeiterbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rebellion der Populisten und die Wahlen von 1896 . . . . . . . . . . . Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Eintritt der USA in die Weltpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen und Motive einer amerikanischen Großmachtpolitik . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 203 206 2 211 211 213 215 217 3 223 223 226 230 233 235 1 235 235 240 246 2 251 251 255 257 261 262 263 3 266 266 268 273 278 284 287 1 288 288 290 Der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerpunkte der amerikanischen Außenpolitik bis zum Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bemühen um eine innere Erneuerung der Vereinigten Staaten . Triebkräfte und Charakter der „progressiven Bewegung“ . . . . . . . . . Reformanliegen und Reformerfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationale Politik in der Reformära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen und Widersprüche der Reformbewegung . . . . . . . . . . . . . . . Die Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg in den Krieg, 1914-1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vereinigten Staaten als Krieg führende Macht, 1917 / 18 . . . . . . . Der Versailler Friede und seine Rückwirkungen in den USA . . . . . . Die Konsequenzen des Ersten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 . . . Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosperität, Konsumkultur und gesellschaftliche Freiräume . . . . . . . Antimodernismus, kulturelle Konflikte und sozialer Protest . . . . . . . Der selektive Unilateralismus der amerikanischen Außenpolitik in den 1920er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vereinigten Staaten in der Krise des demokratisch-kapitalistischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen und Verlauf der Großen Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wahlen von 1932 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „erste“ New Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opposition gegen den New Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „zweite“ New Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Streit um den Supreme Court und die Bewertung des New Deal Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Isolationismus und Neutralität, 1933-1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg in den Krieg, 1938-1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Krieg an der „Heimatfront“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik und Kriegführung, 1942-1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ergebnisse des Krieges aus amerikanischer Sicht . . . . . . . . . . . . Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 . . . . . . . Die Anfänge des Kalten Krieges und die Grundlegung der nationalen Sicherheit, 1946-1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärungsmodelle für die Entstehung des Ost-West-Konflikts . . . . Besatzung und Rekonstruktion in Deutschland und Japan . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="9"?> 297 300 2 304 304 307 313 314 316 318 3 319 319 322 324 326 327 331 337 341 1 342 342 346 351 355 2 360 360 360 362 3 364 364 365 367 Die Neuordnung der Exekutive und der Aufbau des amerikanischen Bündnissystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . NSC 68 und der Korea-Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik und Gesellschaft in der Eisenhower-Ära, 1953-1960 . . . . . . . Der McCarthyismus und das Problem der Bürgerrechte . . . . . . . . . . Leistungen und Widersprüche der Wohlstandsgesellschaft . . . . . . . . Politische Kontinuität und Immobilismus in den 1950er Jahren . . . . Die Außenpolitik der Eisenhower-Administration . . . . . . . . . . . . . . . Erste Antworten auf die Revolutionierung der „Dritten Welt“ . . . . . Eisenhowers Deutschland - und Europapolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höhepunkt und Zerfall des liberalen Konsens, 1961-1968 . . . . . . . . John F. Kennedys Aufbruch zur New Frontier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krisen um Kuba und Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Widersprüche der Dekolonisierung und der Vietnamkonflikt . . Realität und Mythos der „Ära Kennedy“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lyndon B. Johnsons Projekt der „Great Society“ . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ausweitung des Vietnamkrieges und die inneramerikanische Protestbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Epochenjahr 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 8: Krise des nationalen Selbstverständnisses und konservative Renaissance, 1969 - 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die krisenhaften siebziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zerfall der Anti-Kriegs-Front und Auffächerung der Bürgerrechtsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das „Disengagement“ in Vietnam und die Suche nach einem globalen Mächtegleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Watergate-Skandal und der erzwungene Rücktritt Präsident Nixons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik im Schatten von Vietnam und Watergate . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale und kulturelle Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wiederbelebung des amerikanischen Patriotismus . . . . . . . . . . . Nachlassendes Wirtschaftswachstum und soziale Härten . . . . . . . . . Wirtschaftsliberalismus, religiöser Fundamentalismus und Neokonservatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ära Reagan-Bush und das Ende des Kalten Krieges . . . . . . . . . . . Präsident Reagan : Der „große Kommunikator“ im Weißen Haus . . Reaganomics : Amerikanische Wirtschafts - und Finanzpolitik ab 1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amerikanische Außenpolitik von der atomaren Nachrüstung der NATO zur Wiedervereinigung Deutschlands, 1981-1990 . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="10"?> 373 379 383 1 383 2 389 3 395 401 1 401 2 411 412 413 416 419 423 424 3 427 4 432 436 437 440 444 446 455 458 459 462 464 467 5 472 472 476 478 480 483 485 Sowjetisch-amerikanische Annäherung, Überwindung der deutschen Teilung und Ende des Kalten Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Golfkrieg zur Abwahl von Präsident Bush . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 9: Die Vereinigten Staaten nach dem Kalten Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Kampf gegen die konservative Revolution: Die erste Clinton-Administration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosperität, Skandale und Impeachment: Die zweite Clinton-Administration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „postmoderne Präsidentschaft“ und das Erbe der Ära Clinton . . Kapitel 10: Manipulationen und Krisen - Die USA im neuen Jahrtausend . . . . . . . George W. Bush - Umstrittene Wahl und konservativer Wandel . . . Die Terrorattacken vom 11. September und der „Krieg gegen den Terrorismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Afghanistan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg in den Irak-Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Krieg im Irak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innenpolitische Reaktionen auf den 11. September 2001 . . . . . . . . . . Präsidentschaftswahl 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innenpolitische Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . George W. Bushs Erbe und der Kampf um seine Nachfolge . . . . . . . . Barack Obama - Politischer Aufbruch in einem polarisierten Land . Herausforderungen und erste Initiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reform des Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschafts - und Finanzkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die USA in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Obamas Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terrorbekämpfung und Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atomare Rüstungskontrolle - Obamas Iranpolitik . . . . . . . . . . . . . . . Präsidentschaftswahl 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Herausforderungen - Obamas zweite Amtszeit . . . . . . . . . . . . Einwanderungspolitik und Kampf gegen den Klimawandel . . . . . . . Der coole Präsident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Donald Trump - Parteilichkeit und erneute Spaltung . . . . . . . . . . . . Der Präsidentschaftswahlkampf 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Initiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Russia Investigation und Mueller Report . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kongress und Zwischenwahlen von 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Supreme Court und Bundesgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ukraine-Affäre und Impeachment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 10 <?page no="11"?> 487 491 6 494 494 501 508 513 1 513 2 537 3 539 4 553 5 557 6 568 7 591 Die USA und die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Präsidentschaftswahlkampf 2020 und die Coronakrise . . . . . . . . Gesellschaftliche Trends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demographie, Ethnizität, Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bevölkerungsverschiebungen und Strukturwandel der Wirtschaft . Weltmacht im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufnahme der 50 Einzelstaaten in die Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Präsidenten und Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 <?page no="13"?> Vorwort Vor 25 Jahren von Jürgen Heideking begründet, ist die Geschichte der USA nach dessen völlig unerwartetem Tod von dem Münchner Historiker Christof Mauch betreut worden. Während der letzten 20 Jahre hat Christof Mauch den Band im Rahmen von Neuauflagen kritisch durchgesehen, aktualisiert, ergänzt, mit Illustrationen und Tabellen versehen, mehrfach aber auch gekürzt, um den Umfang in Grenzen zu halten. Mit der neuen Auflage, ab der Präsidentschaft von Donald Trump, übernimmt die Historikerin Anke Ortlepp die Geschichte der USA. Damit wird die Betreuung des Bandes in einer Art Stafettenlauf von einer HistorikerInnen-Generation zur nächsten weitergegeben: Christof Mauch hatte bei Jürgen Heideking in Köln habilitiert, Anke Ortlepp bei Christof Mauch in München, und seit einigen Jahren hat Anke Ortlepp den ehemaligen Lehrstuhl von Jürgen Heideking in Köln inne. Die Durchsicht des Textes haben Christof Mauch und Anke Ortlepp gemeinsam vorgenommen. Das Kapitel zum ersten afroamerikanischen Präsidenten Barack Obama und dessen historischer Bewertung stammt von Christof Mauch, das neue Kapitel zur Präsidentschaft von Donald Trump und die kommentierte Bibliographie, die neben aktueller Literatur auch Klassiker enthält, von Anke Ortlepp. Wie in früheren Auflagen wurden auch einige Kürzungen vorgenommen, vor allem in den Kapiteln zum ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Im 21. Jahrhundert, in der Ära von #MeToo und #BlackLivesMatter, sind Leserinnen und Leser für individuelle Befindlichkeiten, für kulturelle Minderheiten und für rassistische und sexistische Diskriminierungen in einer Weise sensibilisiert wie dies bei der ersten Niederschrift der Geschichte der USA noch nicht der Fall war. Vor diesem Hintergrund wurden einzelne politisch konnotierte Ausdrücke ausgetauscht und diverse kulturelle Bewertungen abgeschwächt. Bei all dem haben die AutorInnen allerdings Sorge getragen, dass der Tonfall und der sprachliche Duktus des Texts sowie besonders der Inhaltskern der ursprünglichen Darstellung erhalten blieben. Bei der Aktualisierung des Anhangs, vor allem der kommentierten Bibliographie, haben uns die Kölner Doktorandin Dorothee Schwieters und die wissenschaftlichen Hilfskräfte Maria Wiegel und Stefan Draskic engagiert unterstützt. Die Endredaktion des Textes hat die Münchner Doktorandin Stefanie Schuster mitübernommen. Die Aktualisierung des umfangreichen Registers wurde von Charlotte Huber an der LMU München besorgt. Ihnen allen danken wir herzlich. Unser Dank geht weiterhin an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Narr Francke Attempto Verlags unter Leitung von Herrn Gunter Narr, die dem Projekt großes Interesse entgegengebracht haben, allen voran an Dr. Valeska Lembke und Corina Popp, die die Überarbeitung durchgängig kompetent und zügig begleitet haben. Das Vorwort zu diesem Band schreiben wir im August 2020, während der Parteitag der Demokratischen Partei Joseph Biden als Präsidentschaftskandidaten und Kamala <?page no="14"?> Harris als erste schwarze Vizepräsidentschaftskandidatin für die Wahlen im November nominiert. Der Ausgang der Wahlen wird darüber entscheiden, wie die Regierung in Washington sich den vier historischen Krisen der Gegenwart stellt: der Corona-Pan‐ demie, der größten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression, dem Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und dem drohenden Klimawandel. München und Köln, im August 2020 Christof Mauch und Anke Ortlepp Vorwort 14 <?page no="15"?> Kapitel 1: Kolonien und Empire Die Autoren der Unabhängigkeitserklärung und US-amerikanischen Verfassung wer‐ den häufig als „Gründungsväter“ bezeichnet. Mit ihnen beginnt im strengen Sinne die Geschichte der Vereinigten Staaten. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts gaben sie den politischen Rahmen für die Entwicklung der USA vor, der bis heute Gültigkeit hat. Im Vergleich zur langen Geschichte des nordamerikanischen Kontinents erscheinen die Ereignisse der 1780er Jahre allerdings sehr gegenwartsnah. Schon vor etwa 20.000 Jahren gab es Amerikaner, die über die Beringstraße ein‐ gewandert waren. Die Ureinwohner des Kontinents lebten anfangs von der Jagd, vom Beerensammeln und vom Fischen. Etwa 1000 Jahre vor unserer Zeitrechnung betrieben sie bereits Landwirtschaft. Als sich die ersten europäischen Entdecker - 500 Jahre vor Kolumbus waren dies die Wikinger - für ein paar Jahre in Siedlungen an der Küste Neufundlands niederließen, hatten die Native Americans bereits weite Teile des nordamerikanischen Kontinents besiedelt und vielfältige Wirtschaftsformen entwickelt. Nach verschiedenen vergeblichen Anläufen unternahmen die Engländer im frühen 17. Jahrhundert den Versuch, permanente Kolonien in der „Neuen Welt“ einzurichten. Die vermeintlich großen Schätze des Kontinents, die weiten Räume, die Aussicht auf freie Ausübung der Religion und auf einen persönlichen Neubeginn wirkten wie ein Magnet. Im Gegensatz zu den Siedlungen der Spanier und Franzosen, die sich enger mit den Ureinwohnern verbanden, suchten die Siedler aus England die gesellschaftli‐ chen Einrichtungen und die ökonomische Praxis von der alten in die neue Welt zu „transplantieren“. Dies gelang ihnen nur bedingt. Da sie mit der britischen Krone nur indirekt verbunden waren, entwickelten sie - in ihrer neuen Umgebung und im ständigen transatlantischen Austausch - neue politische und soziale Institutionen. Der Zusammenprall der Kulturen auf dem nordamerikanischen Kontinent, die regionale, ethnische und religiöse Vielfalt der Siedlerkolonien und die Stellung der Kolonien im Herrschafts- und Wirtschaftsverband des englischen Weltreiches bildeten so eine Art Präludium zur amerikanischen Nationalgeschichte. 1 Der Zusammenprall dreier Kulturen am Rande der atlantischen Welt Die Kolonialgeschichte gehört zweifellos zu den Epochen, deren wertende Darstellung von Historikern und Publizisten am gründlichsten überprüft und - begleitet von heftigen Debatten - am stärksten revidiert worden ist. Anfangs wurde sie fast ausschließlich aus europäischer Perspektive und mehr oder weniger in der Form eines Heldenepos erzählt, das die Entdeckung und Erschließung eines „jungfräulichen“ <?page no="16"?> Kontinents durch tapfere Seefahrer und Siedler verherrlicht. Die Kritik an diesem „Eurozentrismus“ hat eine Verlagerung des Interesses und der Sympathien hin zu den Leidtragenden des epochalen Geschehens bewirkt, den indianischen Ureinwohnern und den versklavten African Americans, die bis in die 1980er Jahre meist nur am Rande der historischen Betrachtung auftauchten. Es bleibt zwar unbestritten, dass sich die „weiße“ Kultur durchsetzte, aber man fragt heute doch viel bohrender als früher nach den Schattenseiten und Kosten dieses Erfolges, und man versucht zugleich, auch die langfristigen Wirkungen zu ergründen, die der Zusammenprall und die Interaktion von indianischer, europäischer und afrikanischer Kultur in Nordamerika zeitigten. Am härtesten traf es die Ureinwohner, die den aus Europa und Afrika eingeschlepp‐ ten Krankheitserregern hilflos ausgeliefert waren und deren Ethnien oft schon nach den ersten Kontakten durch Seuchen dezimiert und später durch Kriege, Vertreibungen, Hungersnöte und Alkoholismus immer mehr geschwächt und nicht selten ganz ver‐ nichtet wurden. Die Beziehungen zu den vordringenden Siedlern waren uneinheitlich und wechselhaft: Sie reichten von friedlichem Handel und temporären Bündnissen gegen gemeinsame Feinde bis zu gegenseitigen Terror- und Ausrottungskampagnen, die von den Weißen häufig grausamer, vor allem aber „effizienter“ durchgeführt wurden. An der englischen Siedlungsgrenze (Frontier), wo der „Landhunger“ am größten war, hatten gelegentliche Missionierungs- und Zivilisierungsversuche noch weniger Erfolg als im französischen oder spanischen Einflussbereich. Hier nahm während der Kolonialzeit ein Teil der demographischen Katastrophe ihren Lauf, zu der sich die „Entdeckung“ Amerikas für die Ureinwohner des Kontinents entwickelte. Die Bevölkerungszahlen können nur geschätzt werden, aber sie sind in den letzten dreißig Jahren von der Forschung deutlich nach oben revidiert worden. 1965 ging man noch davon aus, dass zur Zeit des Kolumbus auf dem Gebiet der heutigen USA und Kanadas zwischen 900.000 und 1,5 Millionen Ureinwohner lebten. Inzwischen variieren die Schätzungen zwischen 5 und 12,5 Millionen, wobei die Mehrheit der Wissenschaftler 6 bis 7 Millionen als realistisch betrachtet. Ähnlich verhält es sich mit Untersuchungen zur indianischen Gesamtbevölkerung Nord- und Südamerikas um 1490, die neuerdings auf 45 bis 60 Millionen beziffert wird. Als die englische Kolonisation im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts begann, waren die großen Indianerreiche Südamerikas bereits zerstört und die Bewohner der Karibikinseln weitgehend ausgerottet. Die indianischen Kulturen im Mississippi-Tal hatten ihren Höhepunkt offenbar schon um 1350 überschritten, aber der rapide demographische Niedergang setzte auch hier erst mit der europäischen Kolonisierung ein. Als „Faustregel“ gilt, dass sich die Zahl der Native Americans innerhalb von hundert Jahren nach dem ersten Kontakt mit Europäern um etwa 90 Prozent verringerte. Lebten beispielsweise um 1570, zur Zeit der frühesten englischen Siedlungsversuche an der Festlandsküste, östlich des Mississippi 3 Millionen Indianer, so waren es 1670 gerade noch 300.000. Im südlichen Neuengland schrumpfte die Zahl der Ureinwohner im selben Zeitraum von ca. 120.000 auf 12.000. Hier trafen die Puritaner auf eine indianische Bevölkerung, die durch von Entdeckungsreisenden und Abenteurern eingeschleppte Krankheitserreger so sehr Kapitel 1: Kolonien und Empire 16 <?page no="17"?> geschwächt war, dass sie kaum noch Widerstand leisten konnte. Als sich der Stamm der Pequots im Connecticut-Tal 1637 dennoch gegen die weiße Landnahme zur Wehr setzte, töteten puritanische Milizen und verbündete Indianer etwa 500 Männer, Frauen und Kinder und verkauften viele Überlebende als Sklaven auf die Karibikinseln. Dieses brutale Vorgehen wurde mit dem Hinweis auf die „Sündhaftigkeit“ der „Wilden“ und einem aus der Bibel abgeleiteten Anspruch auf „ungenutztes“ Land gerechtfertigt. Die Geistlichen deuteten die militärischen Erfolge ebenso wie das Massensterben der Indianer an Pocken oder anderen Epidemien als Fingerzeig Gottes, dass die Wildnis für das „auserwählte Volk“ der Puritaner vorbestimmt sei. Abb. 1: Das Dorf Pomeiock, ca. 1590 Ähnliche Folgen zeitigte das Zusammentreffen von Europäern und Native Americans in der südlicher gelegenen Chesapeake-Region, obwohl es den Siedlern der Virginia Company ohne die anfängliche Unterstützung durch den Häuptling Powhatan und dessen Tochter Pocahontas kaum gelungen wäre, dauerhaft Fuß zu fassen. Ein indi‐ anischer Aufstand im Jahr 1622 diente dazu, die systematische Bekämpfung und Dezimierung der einheimischen Stämme zu rechtfertigen. Das Bild des „edlen Wilden“, das in Europa von den Befürwortern der Kolonisierung propagiert wurde und das viele Engländer mit nach Amerika brachten, schlug innerhalb weniger Jahre in ein aggressives Feindbild um. Dabei schrieben die Siedler den Indianern häufig negative Eigenschaften wie Grausamkeit, Heimtücke und Habgier zu, die sie selbst in ihrem 1 Der Zusammenprall dreier Kulturen am Rande der atlantischen Welt 17 <?page no="18"?> Verhalten gegen die Ureinwohner an den Tag legten. Die Zerstörung der indianischen Stammeskulturen konnte nicht ohne negative moralische Rückwirkungen auf die kolonialen Gemeinschaften selbst bleiben, die doch in vieler Hinsicht - etwa durch die Übernahme der Nutzpflanzen Mais und Tabak - von den Native Americans profitiert hatten. Karte 1: Die Indianerkulturen Nordamerikas Als mindestens ebenso schwere und anhaltende, bis in die Gegenwart fortdauernde Belastung sollte sich die Versklavung von Afrikanern erweisen, die auf dem nordameri‐ Kapitel 1: Kolonien und Empire 18 <?page no="19"?> kanischen Kontinent in nennenswertem Ausmaß erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts begann. Die Schwarzen, die ab 1619 nach Virginia gebracht wurden, waren rechtlich zunächst nicht wesentlich schlechter gestellt als die weißen Knechte (indentured servants), die über eine bestimmte Zahl von Jahren die Kosten ihrer Schiffspassage abdienen mussten. Einige Afrikaner erlangten sogar, zumeist wohl als Belohnung für ihren Übertritt zum Christentum, die völlige Freiheit. Sexuelle Kontakte von Schwar‐ zen und Weißen und sogar Mischehen waren keine Seltenheit, obwohl für solches Verhalten Kirchenstrafen und (im Fall der Afrikaner) Peitschenhiebe drohten. Seit den 1660er Jahren wurde der Status der Schwarzen jedoch durch Gerichtsurteile und auf gesetzlichem Wege immer mehr verschlechtert, bis sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Konzept der chattel slavery fest etablierte, das die Afrikaner zu „beweglichem Besitz“ (personal property) und zur Ware degradierte. Hierbei handelte es sich um die einzige gravierende Abweichung vom englischen common law, denn die Institution der chattel slavery existierte nicht im Mutterland, sondern wurde von den Karibikinseln übernommen. Die schrittweise Einführung der Sklaverei auf dem nordamerikanischen Festland muss im größeren Zusammenhang eines Systems der Zwangsarbeit gesehen werden, mit dem die europäischen Mächte (Spanien, Portugal, Niederlande, Frankreich, Eng‐ land) seit dem 16. Jahrhundert die gesamte „Neue Welt“ überzogen. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts an setzten sich die Engländer immer erfolgreicher gegen ihre Konkurrenten durch und legten mit dem Kolonial- und Sklavenhandel den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung Großbritanniens. Im Vergleich zu den Zucker‐ inseln in der Karibik wie etwa Barbados und Jamaica, auf denen eine regelrechte „Vernichtung durch Arbeit“ praktiziert wurde, mutet das Schicksal der Sklaven in den Festlandskolonien noch einigermaßen erträglich an. Während die hohe Todesrate auf den Inseln nur durch ständige Neuzufuhr aus Afrika ausgeglichen werden konnte, nahm die Sklavenbevölkerung in der Chesapeake-Region ab 1720 auf natürliche Weise zu. Weiter südlich, in den malariaverseuchten Reisanbaugebieten South Carolinas, herrschten härtere Bedingungen, und die Lebenserwartung war entsprechend geringer. Dabei wäre den Weißen die Kultivierung von Reis (und später auch Indigo) ohne die Erfahrung und die Hilfe der Afrikaner gar nicht gelungen. South Carolina entsprach auch insofern am ehesten den Zuckerkolonien, als hier schon zu Beginn des 18. Jahr‐ hunderts die Zahl der Sklaven diejenige der weißen Pflanzer und Farmer überstieg. Immer mehr Plantagenbesitzer zogen sich nach Art der spanischen und englischen absentee landowners in Städte wie Charleston und Savannah zurück und überließen die unmittelbare Kontrolle ihren Verwaltern und Sklavenaufsehern. Obgleich Nordamerika nur etwa 5 Prozent der fast 11 Millionen in die westliche Hemisphäre verschleppten Afrikaner aufnahm, handelte es sich doch um weit mehr als nur ein Rinnsal im großen Einwandererstrom. Bis zum Unabhängigkeitskrieg ge‐ langten ca. 300.000 Sklaven als unfreiwillige Immigranten auf das nordamerikanische Festland, gegenüber ca. 500.000 Europäern, die als freie Einwanderer, indentured ser‐ vants oder Sträflinge (convicts) kamen. Um 1770 lebten (bei einer Gesamteinwohnerzahl 1 Der Zusammenprall dreier Kulturen am Rande der atlantischen Welt 19 <?page no="20"?> von 3 Millionen) etwa 500.000 Sklaven in den dreizehn Kolonien, die sich zu den Vereinigten Staaten von Amerika zusammenschlossen. Sie machten ein gutes Drittel der Bevölkerung der südlichen Kolonien aus, deren Wirtschaftssystem zu dieser Zeit bereits ganz auf der Ausbeutung von Sklavenarbeit beruhte. Die ökonomischen Vorteile, die dieses extreme Herr-Knecht-Verhältnis den Weißen einbrachte, mussten mit moralischen und psychologischen Schäden erkauft werden. Niemand erkannte besser als Thomas Jefferson, selbst ein Sklavenhalter, wie tief sich dieses Übel bereits in das Bewusstsein der Menschen eingefressen hatte: In seinen Notes on the State of Virginia beklagte er 1786, die Sklaverei gebe weißen Herren und schwarzen Knechten täglichen Anschauungsunterricht „in den ungezügeltsten Leidenschaften, im schlimmsten Despotismus auf der einen und in herabwürdigender Unterwerfung auf der anderen Seite“. Andererseits konnte sich der liberale Aufklärer Jefferson aber ebenso wenig wie die meisten seiner weißen Landsleute vom Vorurteil ei‐ ner „natürlichen Minderwertigkeit“ der schwarzen Rasse befreien. Die Sklavengesetze (slave codes) der Kolonien sahen bereits für geringe Übertretungen grausame Strafen vor, um Fluchtversuche zu unterbinden und individuellen oder kollektiven Widerstand im Keim zu ersticken. Im Unterschied zu den amerikanischen Ureinwohnern war die schwarze Bevölkerung nicht in ihrer physischen Existenz bedroht, sondern „nur“ zu extremer Anpassung gezwungen. In den nördlichen Kolonien, wo - mit Ausnahme von New York - die Zahl der Schwarzen relativ gering blieb, vollzog sich diese erzwungene Abkehr von den afrikanischen Wurzeln schneller als in den Gebieten südlich von Pennsylvania. Dort entwickelten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts eigenständige Kommunikationsformen und Lebensweisen sowie Ansätze einer afroamerikanischen Kultur. In South Carolina und Georgia schufen Schwarze aus verschiedenen Teilen Afrikas die Sklavensprache Gullah, und auf den Reispflanzungen konnten sich die in großen Gruppen zusammenlebenden Sklaven eine gewisse Autonomie bewahren. Dagegen verschmolzen in Virginia, Maryland und Delaware, wo Weiße und Schwarze auf Tabakplantagen oder Familienfarmen in engen Kontakt kamen, europäische und afrikanische Bräuche, Techniken und Denk- und Verhaltensweisen am ehesten zu neuen Lebensformen. Trotz der gesetzlichen Verbote fand auch - meist als Folge sexueller Ausbeutung von Sklavinnen durch ihre weißen Herren - eine Rassenvermi‐ schung statt. Von einer gegenseitigen kulturellen Bereicherung konnte im Zeichen der Sklaverei aber kaum die Rede sein. Der großen Mehrzahl der weißen Siedler war der Preis für das Überleben und die Entwicklung der Kolonien - die Verdrängung der Ureinwohner und die Unterdrückung der Afrikaner - nicht zu hoch. Die positiven Möglichkeiten, die das Zusammentreffen dreier Kulturen in sich barg, blieben damit weitgehend ungenutzt. Kapitel 1: Kolonien und Empire 20 <?page no="21"?> 2 Regionale, ethnische und religiöse Vielfalt Nicht Einheitlichkeit und Homogenität, sondern mosaikartige Vielfalt war das her‐ vorstechende Merkmal der englischen Festlandskolonien. Ihren Ausgang nahm die Besiedlung - nach einigen gescheiterten Experimenten - von Jamestown im Süden (1607) und Plymouth im Norden (1620), und beide Regionen, das nach Elisabeth I., der „jungfräulichen Königin“, Virginia genannte Gebiet um die Chesapeake Bay und das „Neue England“ (New England) der Puritaner, trugen von Beginn an einen ganz unterschiedlichen Charakter. Der Süden Die Gründung Jamestowns war das Werk von Kaufleuten und adligen Investoren, die, in der Londoner Virginia Company zusammengeschlossen, 1606 eine königliche Charter erwirkt hatten. Bei der Planung des Unternehmens spielten Hoffnungen auf Goldfunde, rasche Profite und die Errichtung einer idealen Feudalgesellschaft eine wichtige Rolle. Stattdessen entstand in den feucht-warmen, fruchtbaren Küstenstri‐ chen von Virginia und Maryland - einem Teil des Charter-Gebiets, das nach dem Rückzug der Virginia Company 1632 von der Krone als Lehen an den katholischen Lord Baltimore vergeben wurde - eine profitable, auf den Export von Tabak speziali‐ sierte Plantagenwirtschaft. Die meisten Landbesitzer lebten auf ihren Pflanzungen (plantations), die im Schnitt 500 acres (200 Hektar) groß waren. Den Mangel an Arbeitskräften behoben sie durch den Import von indentured servants aus Europa und dann, als diese Quelle gegen Ende des 17. Jahrhunderts wegen der günstigen Wirtschaftsentwicklung in England zu versiegen begann, zunehmend durch den Kauf von Sklaven aus Afrika und der Karibik. Für die Vermarktung ihres Hauptprodukts Tabak blieben die Pflanzer der Chesapeake-Region weitgehend auf englische und schottische Kaufleute angewiesen. Einige Jahrzehnte später als an der Chesapeake Bay begann die Kolonialentwicklung in den südlich anschließenden Gebieten, für die acht englische Handelspartner 1663 von Charles II. eine Charter erwarben. Diese zu Ehren des Königs „Carolina“ genannte Kolonie wurde 1691 (formell 1712) in North Carolina und South Carolina aufgeteilt. Während in North Carolina kleine und mittlere Farmen und Pflanzungen überwogen, dominierten in South Carolina die von Sklaven bewirtschafteten großen Reisplantagen, und das günstig gelegene Charleston stieg zum wichtigsten Ausfuhrhafen auf. Noch später, erst 1732, kam die Kolonie Georgia (nach König George II. benannt) hinzu, die als militärischer Puffer gegen das spanische Florida gedacht war, deren Einwohner aber rasch auch in anhaltende Feindseligkeiten mit den Cherokee- und Creek-Indianern verwickelt wurden. Politisch und gesellschaftlich gaben im Süden die Plantagenbesitzer den Ton an. Auf Grund der relativ geringen Lebenserwartung in dem ungesunden Klima verloren die Kinder häufig schon früh einen Elternteil oder sogar beide Eltern. Da sich in solchen 2 Regionale, ethnische und religiöse Vielfalt 21 <?page no="22"?> Fällen in der Regel die weitere Familie ihrer annahm, erlangten Verwandtschaftsbezie‐ hungen und Sippenloyalitäten eine immer wichtigere Bedeutung. Aus ihnen erwuchs die so genannte Virginia Aristocracy, eine durch Blutsbande und wirtschaftliche Inte‐ ressen eng verknüpfte Eliteschicht, die sich auch mittels guter Bildung, kultivierter Le‐ bensart und Sinn für elegante Vergnügungen wie Pferderennen, Jagdgesellschaften und Bälle von der übrigen weißen Bevölkerung abhob. Trotz erheblicher Besitzunterschiede hielten sich die sozialen Spannungen aber in Grenzen, weil die Farmer, Handwerker und Händler ganz im Sinne einer traditionellen Ständegesellschaft die Pflanzer als sozial Höhergestellte anerkannten und ihnen mit Respekt und ehrerbietiger Fügsam‐ keit (deference) begegneten. Die Pflanzerelite wiederum nahm ihre Verantwortung für das Gesamtwohl ernst (abgesehen von der im gesamten Süden unterentwickelten Schulbildung) und bemühte sich, die Führungs- und Leitbildfunktion zu erfüllen, die ihr im Rahmen dieser patriarchalischen deferential society zukam. Außerdem wirkte die Sklaverei der Entstehung einer potenziell gefährlichen Schicht besitzloser weißer Einwanderer entgegen. Wirtschaftlich geriet die Virginia Aristocracy im Verlauf des 18. Jahrhunderts allerdings unter Druck, denn die Notwendigkeit, alle größeren Investitionen (und teilweise auch den anspruchsvollen Lebensstil) mit Hilfe von Krediten aus England zu finanzieren, trieb viele Familien in chronische Verschuldung. Die Auslaugung der Böden durch den Tabakanbau zwang zur ständigen Erweiterung der Anbaufläche oder zum Kauf neuer Plantagen, und sie verführte gelegentlich auch zu riskanten Lands‐ pekulationen in den westlichen Gebieten. In Maryland und Teilen Virginias fanden viele Farmer und Pflanzer im Getreideanbau eine günstige Alternative, was allmählich den gesamten Charakter der Chesapeake-Region mit ihrer aufstrebenden Hafenstadt Baltimore veränderte. Gegen Ende der Kolonialzeit unterschied man deshalb schon einen Upper South (Maryland, Virginia, Delaware), in dem die Sklaverei relativ an Bedeutung verlor, von dem Lower South (die Carolinas und Georgia), der strukturell eher den karibischen Sklavenkolonien ähnelte. In ethnischer Hinsicht stellten die Engländer den größten Bevölkerungsanteil, gefolgt von den Afrikanern, die nicht nur in den Küstenebenen, sondern - in geringerer Zahl - auch auf Farmen des Hinterlands arbeiteten. Dort siedelten vor allem Schotten, deren Vorfahren das nördliche Irland kolonisiert hatten (und die deshalb Scots-Irish genannt wurden), sowie Deutsche, die, zumeist aus Pennsylvania kommend, durch das Shenandoah-Tal nach Süden vordran‐ gen. Das religiöse Leben wurde eindeutig von der Anglikanischen Kirche bestimmt, der englischen Staatskirche (Church of England), die in den südlichen Kolonien als einzige offizielle Kirche anerkannt war. Die meisten Iro-Schotten waren Presbyterianer, die Deutschen entweder Lutheraner oder Reformierte (wie die Mährischen Brüder, die sich unter anderem in Salem, North Carolina, niederließen), doch dies blieben - zusammen mit den Katholiken in Maryland - eher Einsprengsel in einer gemäßigt konservativen anglikanischen Kultur. Das Monopol und die Steuerprivilegien der Anglikanischen Kirche gerieten erst im 18. Jahrhundert ins Wanken, als sich mit den Methodisten und Baptisten neue, dynamische Glaubensgemeinschaften bildeten, die vor allem im Kapitel 1: Kolonien und Empire 22 <?page no="23"?> einfachen Volk Anhänger fanden und an einigen Orten sogar Sklaven aufnahmen. Gemeinsam wehrten sich die Siedler gegen die Einsetzung eines anglikanischen Bischofs, die ihre religiöse und politische Autonomie von England gefährdet hätte. Diese Frage blieb bis in die Revolution hinein ein offener Streitpunkt. Am Vorabend der Revolution lebten einschließlich der Sklaven gut 50 Prozent der Bevölkerung der Festlandskolonien im Süden. Städte und selbst größere Ortschaften blieben in der Plantagen- und Farmwirtschaft eine Seltenheit. Aufs Ganze gesehen bot die Region eine erstaunliche Mischung aus patriarchalischer Gentry-Kultur und pro‐ fitorientierter Sklavenhaltergesellschaft. Die wirtschaftliche Monokultur, der Anbau der staple crops Tabak, Reis und Indigo, band die Kolonien fest an das Mutterland und die europäischen Märkte. Trotz dieser Abhängigkeit wuchs aber das Selbstbewusstsein der Pflanzerelite, die sich im Laufe der Zeit eher noch fester zusammenschloss und gegen ehrgeizige Aufsteiger abzuschirmen suchte. Die Neuengland-Kolonien Bei der Besiedelung der Region, die der Seefahrer und Abenteurer John Smith 1614 New England nannte, stand das religiöse Moment im Vordergrund. Die ersten Siedler waren strenggläubige Calvinisten, Pilgrims, die nicht nur in Opposition zur anglikanischen Staatskirche standen, sondern auch Abstand zu ihren gemäßigten Glaubensbrüdern, den Puritanern, hielten. Nachdem ihr Versuch gescheitert war, im niederländischen Exil eine dauerhafte Existenz zu gründen, kehrten sie nach England zurück und suchten die Unterstützung puritanischer Kaufleute für ein neues Auswanderungsprojekt. Im Besitz eines Patents der Virginia Company brachen dann im September 1620 18 Familien mit insgesamt 102 Personen - nicht alle von ihnen Pilgrims - an Bord der „Mayflower“ von Plymouth in die „Neue Welt“ auf. Sie erreichten aber nicht Virginia, sondern kamen - möglicherweise absichtlich - weiter nördlich in der Massachusetts Bay an. Da sie sich nun außerhalb der Jurisdiktion der Virginia Company befanden, konnten sie nach ihren eigenen Regeln leben. Noch vor der Landung bei Cape Cod unterzeichneten die 41 erwachsenen männlichen Passagiere am 11. November 1620 den Mayflower Compact, der später zu dem amerikanischen Gründungsdokument schlechthin verklärt wurde. Den Vorstellungen der Pilgrims vom biblischen Bund (covenant) entsprechend, etab‐ lierte er einen civil body politic, der die Mitglieder der Gemeinschaft verpflichtete, sich gegenseitig Beistand zu leisten und den Anweisungen der Amtsinhaber zu gehorchen. Damit gaben sie ihrem Verlangen nach Selbstbestimmung und religiöser Autonomie eine politische Form und schufen - unter der Souveränität des englischen Königs James I. - ein Regierungssystem für die neue Kolonie Plymouth Plantation. Wohl nur durch die Zusammenarbeit mit den Indianern, die in dieser Gegend durch Epidemien sehr ge‐ schwächt waren, überstand die Plymouth-Kolonie die harten Anfangsjahre und konnte sich stabilisieren. Ihrer Ausdehnung waren aber enge Grenzen gesetzt, denn die Siedler, die in Bruderschaften (brotherhoods) nach strikten religiösen Regeln lebten, lehnten das Streben nach Wohlstand und weltlicher Macht bewusst ab. Im Gefolge der Glorious 2 Regionale, ethnische und religiöse Vielfalt 23 <?page no="24"?> Revolution, die auch in Neuengland politische Veränderungen bewirkte, ging die Kolonie der Pilgrims mit ihren 7500 Einwohnern schließlich 1691 in Massachusetts auf. Die zweite, letztlich stärkere Wurzel Neuenglands war die 1629 von der Krone mit einer Charter ausgestattete Massachusetts Bay Company. Sie förderte die Auswanderung von Puritanern, einer gemäßigten calvinistischen Glaubensrichtung, die in England vergeblich versucht hatte, die Staatskirche von katholischen „Überresten“ zu reinigen. Unter dem Eindruck der krisenhaften Entwicklung in England und der blutigen Religionskriege in Europa fasste einer ihrer Führer, John Winthrop, den Entschluss, möglichst viele Gläubige und vielleicht sogar das Christentum selbst durch einen Exodus nach Amerika zu retten. In der Wildnis sollte eine „City upon a Hill“, ein dem wahren Glauben geweihtes und dem Rest der Welt zum leuchtenden Vorbild dienendes Gemeinwesen errichtet werden. Nachdem der gebildete und besitzende Winthrop von König Charles I. eine koloniale Charter erlangt hatte, verließen 1.630.900 Puritaner auf elf Schiffen England in Richtung Massachusetts Bay. Bis 1640 strömten in einer ersten „Einwanderungswelle“ über 20.000 englische Puritaner, zumeist im Familienverband, in die neue Kolonie. Ihr Zentrum war Boston, aber das Siedlungsgebiet dehnte sich bald bis zum Connecticut River nach Maine und New Hampshire aus. Zum ersten Gouverneur wurde John Winthrop gewählt, dessen religiös-orthodoxer und elitärer Führungsstil die Kolonie auf lange Zeit hinaus prägte. Das von Winthrop formulierte Sendungsbewusstsein überdauerte die Kolonialzeit und bildet bis heute - in religiöser und in säkularisierter Form - eines der wichtigsten Elemente des amerikanischen Selbstverständnisses und der nationalen Identität. Anders als die Pilgrims waren die Puritaner machtbewusst und strebten nach wirtschaftlichem Erfolg, den sie als Zeichen der göttlichen Gnade und Auserwähltheit werteten. Nicht wenige von ihnen wurden Kaufleute, Reeder und Schiffseigner, die am Küstenhandel und Fischfang, vor allem aber am Überseehandel mit den Karibikinseln und dem Mutterland gut verdienten. Massachusetts Bay war keine Theokratie, denn die Geistlichen übten zwar moralische Autorität, aber normalerweise keine Regierungsämter aus. Andererseits bildeten Kir‐ che und Staat eine feste Einheit, und das Wahlrecht blieb bis 1691 für männliche puritanische Kirchenmitglieder reserviert. Die politische Führung lag in den Händen weniger Familien, die früh eingewandert waren und die besten Besitztitel erworben hatten. Auf der anderen Seite wurde das Prinzip der gemeindlichen Selbstverwaltung (local self-government) großgeschrieben, so dass sich oligarchische mit demokratischen Zügen mischten. Das kirchliche Leben war ebenfalls dezentralisiert und vollzog sich in weitgehend selbstständigen Gemeindebezirken, den Kongregationen (congregations), die der gesamten Glaubensrichtung den Namen Kongregationalismus verliehen. Im Sinne des biblischen covenant forderten die Puritaner die Unterordnung des Einzelnen unter die Gemeinschaft. Die Tugenden, die ihre Geistlichen predigten - Gottesfurcht, Fleiß, Rechtschaffenheit, Bescheidenheit, Selbstbeherrschung -, sollten nicht so sehr dem individuellen Fortkommen als vielmehr dem Wohl der Gemeinden dienen. Um diese Ideale zu verwirklichen, führten sie ein rigides System der geistigen und sozialen Kontrollen ein, das sich bald als Quelle innerer Spannungen erwies. Kapitel 1: Kolonien und Empire 24 <?page no="25"?> Im Extremfall konnte diese Unduldsamkeit zu Hexenverfolgungen, Prozessen und Hinrichtungen führen, wie sie noch in den 1690er Jahren in Salem stattfanden. Der gewöhnliche Ausweg war aber die Flucht Andersdenkender, die im Laufe des 17. Jahrhunderts die Abspaltung dreier Kolonien von Massachusetts zur Folge hatte. 1636 gründete Roger Williams mit einigen Anhängern Providence Plantation auf Rhode Island, wo, wie er versprach, niemand seines Gewissens wegen belästigt werden würde. In der Tat wurde die Kolonie bald für ihre Toleranz und ihren demokratischen Geist bekannt, aber auch für die tiefe Verstrickung ihrer Kaufleute in den transatlantischen Sklavenhandel: Hier liegt einer der Widersprüche, an denen die Geschichte Neueng‐ lands und Nordamerikas insgesamt so reich ist. Auf ähnliche Weise wie Rhode Island entstand Connecticut, nachdem Thomas Hooker in Ungnade gefallen war und mit seiner Kongregation Cambridge hatte verlassen müssen. Unter Hookers Führung schlossen sich 1638 / 39 die Gemeinden am Connecticut River zusammen und vertrieben in blutigen Kämpfen die dort lebenden Pequot-Indianer. 1662 erhielt die Kolonie eine eigene königliche Charter und schloss sich mit der Puritaner-Siedlung in New Haven zusammen. Unablässige Grenzstreitig‐ keiten mit allen benachbarten Kolonien taten der wirtschaftlichen Entwicklung kaum Abbruch: Um 1775 hatte Connecticut etwa 200.000 Einwohner und besaß ein gut ausgewogenes Verhältnis zwischen Landwirtschaft und Handel. Im Norden gehörte das Gebiet zwischen dem Pisquataqua und dem Connecticut River, das die Siedler New Hampshire nannten, bis 1679 zu Massachusetts. Dann wurde es durch Gewährung einer königlichen Charter ebenfalls eine separate Kolonie, die mit Connecticut das Schicksal der unsicheren Grenzen teilte. Im Landes‐ innern leisteten die Indianer, oft mit französischer Unterstützung, Widerstand gegen das Vordringen englischer Kolonisten. Ungelöst blieb bis zur Revolution der Konflikt mit New York um das bergige Vermont-Territorium westlich des Connecticut River. Vermont gehörte deshalb nicht zu den dreizehn „Ursprungskolonien“, sondern blieb unabhängig, bis es 1791 den Vereinigten Staaten beitrat. Trotz der Verselbstständigung von Rhode Island, Connecticut und New Hampshire blieb Massachusetts - mit Plymouth Plantation und dem Maine-Distrikt, die es 1691 von der Krone zugesprochen bekam - die bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Neuengland-Kolonie. Die Hafenstadt Boston hatte 1775 16.000 Einwohner - nicht viel im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung von ca. 300.000. Das Erscheinungsbild der Kolonie und von Neuengland insgesamt prägten nach wie vor Familienfarmen, auf deren eher kargen Böden wie in der Heimat Ackerbau und Viehzucht betrieben wurden, sowie Dörfer und kleine Städtchen mit ihren religiösen meeting houses und den town halls zur lokalen Selbstverwaltung. Ethnisch waren die Neuengland-Kolonien so homogen, dass sie „englischer als England“ wirkten, und im religiösen Bereich herrschte - ungeachtet der theologischen Meinungsverschiedenheiten - weitgehende puritanische Konformität. Im 18. Jahrhundert lockerten sich die sozialen Kontrollen allmählich, und die Autorität des orthodoxen Klerus wurde seit den 1740er Jahren durch eine religiöse Erweckungsbewegung, das Great Awakening, geschwächt. Mit 2 Regionale, ethnische und religiöse Vielfalt 25 <?page no="26"?> Ausnahme von Rhode Island blieben die Privilegien der kongregationalistischen Kirche dennoch erhalten: Anglikaner, Quäker und Baptisten durften ihren Glauben zwar praktizieren, wurden aber nur toleriert. Sie mussten sich von den Behörden registrieren lassen und Steuern entrichten, die nur der puritanischen Obrigkeit und deren Kirchen zugutekamen. Die religiöse Liberalisierung des 18. Jahrhunderts erzeugte auch eine wirtschaftliche Aufbruchstimmung. Unter den gewandelten Umständen konnten die alten puritani‐ schen Tugenden mehr und mehr zu Triebfedern einer an individueller Leistung und Wachstum orientierten Wirtschaft werden. Trotz des Aufschwungs, den der Handel in den Küstenstädten nahm, und trotz des steigenden Wohlstands der Kaufleute und einiger Anwälte zeichnete sich Neuengland aber auch am Ende der Kolonialzeit durch relativ geringe Besitzunterschiede und eine egalitäre Sozialstruktur aus. Allerdings erzeugten das starke Bevölkerungswachstum (auf Grund des gesunden Klimas war die Lebenserwartung wesentlich höher als im Süden) und die Neuzuwanderung einen zunehmenden inneren Druck, der sich nur durch die Erschließung weiteren Siedlungslandes im Westen ausgleichen ließ. Nach dem Willen der puritanischen Gründer sollte möglichst jedes Gemeindemit‐ glied die Bibel lesen können, um mit offenem Geist auf die göttliche Gnade und Erlösung vorbereitet zu sein. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts bauten die Kolonial‐ parlamente deshalb mit Steuergeldern ein System von Grundschulen und höheren Lateinschulen auf, das Neuengland zur Region mit der höchsten Alphabetisierungsrate und der besten Allgemeinbildung in ganz Amerika machte. Schon 1636 war Harvard College in Cambridge gegründet worden, vor allem um Nachwuchs an Geistlichen heranzuziehen, aber auch, um die Gentlemen, die Söhne der führenden Familien, in den Schönen Künsten zu unterweisen. Yale College in New Haven, Connecticut, geht auf das Jahr 1701 zurück und zählt damit ebenfalls zu den ersten nordamerikanischen Universitäten. Gemessen an den anderen Kolonien trat Neuengland also mit einem erstaunlich hohen Bildungsniveau in die Revolutionsepoche ein. Ungeachtet aller Verweltlichungstendenzen lebte das puritanische Erbe in dem Auserwähltheitsglauben fort, der Neuengland eine hervorgehobene Rolle im göttlichen Heilsplan zuwies. Diese Überzeugung von einer „besonderen Mission“, die ursprünglich oft mit Versagensängs‐ ten und Selbstanklagen, etwa in der typisch puritanischen Predigtform der Jeremiade, einherging, strahlte bald auf alle Kolonien aus, verband sich in der Revolution mit der Ideologie des Republikanismus und wurde im 19. Jahrhundert Teil des amerikanischen Nationalbewusstseins. Die Mittelatlantik-Kolonien Im Vergleich mit Neuengland und dem Süden boten die Mittelatlantik-Kolonien sowohl ethnisch als auch kulturell und wirtschaftlich ein abwechslungsreiches Bild. Das hing damit zusammen, dass dieser Raum ursprünglich von Niederländern und Skandina‐ viern besiedelt worden war und erst nach der Mitte des 17. Jahrhunderts an England Kapitel 1: Kolonien und Empire 26 <?page no="27"?> fiel. Die Mündungsgebiete und Flussläufe des Hudson und Delaware wurden z. B. von der niederländischen Westindien-Gesellschaft erschlossen, die sich hauptsächlich für den Pelzhandel mit Indianern interessierte. Die Kolonie, die daraus hervorging, hieß zunächst Neu-Niederlande mit dem Hafen Neu-Amsterdam, gelegen auf einer Insel - dem heutigen Manhattan -, die man den Manhatas-Indianern für Schmuck im Wert von 50 Gulden abgekauft hatte. Die niederländischen Generaldirektoren wirtschafteten al‐ lerdings hauptsächlich in die eigene Tasche und sorgten dafür, dass einige auserwählte Familien riesige Landgüter im Hudson-Tal erhielten, die sie mit Pächtern besetzten. In den 1660er Jahren ging die Kolonie als Folge der englisch-niederländischen Seekriege in den Besitz der englischen Krone über, und Charles II. vergab sie als Lehen an seinen Bruder James, den Herzog von York und Albany. Aus Neu-Niederlande und Neu-Amsterdam wurden deshalb die Kolonie New York und New York City, und Fort Orange im Hudson-Tal hieß fortan Albany. Die Kolonie New Jersey war ebenfalls Teil der niederländisch-skandinavischen Ein‐ flusszone gewesen. Der Herzog von York löste sie 1664 aus seinem Lehensbesitz heraus und übergab sie an zwei seiner Gefolgsleute. Von England aus versuchten die Besitzer, neue Siedler zu gewinnen, indem sie Land unter günstigen Bedingungen anboten, eine gesetzgebende Versammlung in Aussicht stellten und Gewissensfreiheit versprachen. East Jersey (der Norden) nahm einen neuenglischen Charakter an und orientierte sich zu New York City hin, während West Jersey (der Süden) zur ersten Heimstätte der Quäker wurde, unter ihnen William Penn, der spätere Gründer von Pennsylvania. Penn entstammte einer wohlhabenden und einflussreichen englischen Familie, war aber als junger Mann der Society of Friends beigetreten, deren Mitglieder - die Quäker genannt wurden - wegen ihrer Kriegsdienst- und Steuerverweigerung in Konflikt mit den staatlichen und kirchlichen Autoritäten gerieten. Um seinen Glaubensbrüdern und -schwestern die freie Religionsausübung zu ermöglichen, bemühte sich Penn um Landerwerb für Quäkergemeinden in Nordamerika. Seine Handschrift ist bereits in den bemerkenswert liberalen Laws, Concessions, and Agreements of West Jersey von 1677 zu erkennen, einem Dokument, das völlige Gewissensfreiheit, eine großzügige Landvergabe und die Kontrolle des kolonialen Steuerwesens durch eine repräsentative Versammlung garantierte. Im Spektrum der Dissenter, der Abweichler von der anglikanischen Staatskirche, gehörten die Quäker zu den radikalsten Sekten des 17. Jahrhunderts. Sie praktizierten eine ganz auf das Individuum und seine „innere Erleuchtung“ ausgerichtete Religion, die weder kirchliche Institutionen noch einen Klerus und feste Rituale benötigte. Als Pazifisten und Gegner weltlicher Autorität verweigerten sie jeglichen Loyalitätseid, bestanden auf der absoluten Gewissensfreiheit und forderten soziale Reformen zu Gunsten der Unterschichten. In Amerika machten sich Quäkergemeinden - neben Mennoniten aus Deutschland - zu ersten Fürsprechern der Sklavenbefreiung, auch wenn einige Quäker selbst Sklaven besaßen. Auf Fürsprache von Penns Vater, der König Charles II. eine erhebliche Geldsumme geliehen hatte, und auf Grund seiner guten Beziehungen zum englischen Parlament wurde William Penn 1681 mit dem 2 Regionale, ethnische und religiöse Vielfalt 27 <?page no="28"?> gesamten noch nicht zugewiesenen Gebiet zwischen New York und Maryland belehnt. Es umfasste 20 Millionen acres und war damit fast so groß wie das Mutterland. Im Jahr darauf gab Penn der Kolonie seinen Namen und gründete am Zusammenfluss von Delaware River und Schuylkill River die „Stadt der brüderlichen Liebe“, Philadel‐ phia. Sein erster Verfassungsplan für das „heilige Experiment“ zeigt, dass Penn nach Temperament und Erziehung Aristokrat war: Er verband hehre moralische Grundsätze mit einem Regierungs- und Verwaltungssystem, das die politische Macht bei ihm selbst als dem proprietor und bei den von ihm ernannten Beamten konzentrierte. Die Vertreter des Volkes, die von den Landbesitzern gewählt wurden, mussten sich darauf beschränken, die von der Regierung eingebrachten Gesetze entweder anzunehmen oder abzulehnen. Auf diese Weise glaubte Penn, das Fundament für ein harmonisches und stabiles Gemeinwesen gelegt zu haben. Die Wirklichkeit entsprach, wie fast überall in den Kolonien, nicht den Erwartungen und Utopien des Gründers. Penn hatte keine glückliche Hand bei der Auswahl seiner Stellvertreter und geriet in Streit mit den Siedlern, die ihm 1701 eine neue, demokratischere Charter of Liberties abrangen. Die Quäker-Elite lenkte aber weiterhin die Geschicke der Kolonie, was umso bemerkens‐ werter ist, als die Quäker zahlenmäßig gegenüber anderen Religionsgemeinschaften wie Lutheranern, Presbyterianern und Reformierten bald in die Minderheit gerieten. 1704 musste Penn den Siedlern der drei Lower Counties am Unterlauf des Delaware River ein eigenes Parlament zugestehen, beharrte jedoch darauf, dass sie unter der Oberhoheit des Gouverneurs von Pennsylvania blieben. Ungeachtet dieser formalen Verbindung entwickelte sich Delaware, wie die drei Kreise von nun an hießen, zu einer selbstständigen, wenngleich wirtschaftlich eng an Pennsylvania angelehnten Kolonie. Abb. 2: Vertragsschluss zwischen William Penn und einer Gruppe Delaware-Indianer, 1681 Kapitel 1: Kolonien und Empire 28 <?page no="29"?> Ökonomisch waren die Mittelatlantik-Kolonien geprägt durch mittleren bis größeren Farmbesitz, der auf fruchtbaren Böden die Erwirtschaftung von Getreide- und Fleisch‐ überschüssen für den Export, hauptsächlich in die Karibik, aber auch in die südlichen Festlandskolonien und sogar nach Europa ermöglichte. Die Ausnahme von diesem System der Familienfarmen bildeten die feudalen Landgüter (manors) im Hudson-Tal, auf denen auch nach dem Abzug der niederländischen Verwaltung vorwiegend Hol‐ länder als Pächter (tenants) saßen. Ihre Besitzer verfügten weiterhin über enormen politischen Einfluss in New York, sofern sie es nicht vorzogen, nach dem Beispiel vieler karibischer Pflanzer als absentee landowners in Europa von den Pachtzinsen zu leben. New York City erlangte wegen seines exzellenten Hafens überregionale Bedeutung als Handels- und Finanzzentrum. Die Stadt wuchs schneller als Boston und brachte eine koloniale Kaufmannselite hervor, die sich erfolgreich im Überseehandel engagierte. Noch mehr Dynamik legte Pennsylvania an den Tag, das unternehmungslustige Ein‐ wanderer aus ganz Europa anzog, nicht zuletzt Deutsche, die - zum Teil als indentured servants - religiöser Verfolgung und wirtschaftlicher Not zu entkommen suchten. Den Anfang hatten 13 Krefelder Mennoniten-Familien unter der Leitung des Theologen und Juristen Franz Daniel Pastorius gemacht, die 1683 nach 75-tägiger Schiffsreise auf der „Concord“ im Hafen von Philadelphia landeten. Pastorius, ein Freund Penns, wurde zum ersten Bürgermeister von Germantown ernannt, das rasch zur Stadt heranwuchs und lange Zeit Zentrum der deutschen Einwanderung blieb. Zahlenmäßig überwogen bald Pietisten, Lutheraner und Reformierte, die in der Quäkerkolonie „ein ruhiges, ehrliches und gottgefälliges Leben“ führen wollten. Der Einfluss der Quäker machte sich in einem offeneren, weniger patriarchalisch-au‐ toritären geistigen Klima und Familienethos als in Neuengland und im Süden bemerk‐ bar. Penns Wunschbild eines schlichten, von der Zivilisation unverdorbenen Volkes wurde aber sehr schnell durch das Eindringen des Wettbewerbsprinzips korrigiert. Die günstige geographische Lage, eine Regierung, die den Bürgern nur wenig Steuern auferlegte, und eine gesunde Mischung aus Farmern, Handwerkern, Kaufleuten, Klein‐ unternehmern und Arbeitern machte Pennsylvania zum Mittelpunkt des kolonialen Wirtschaftslebens. Diese Struktur und die im Exportgeschäft erzielten Gewinne boten auch die beste Voraussetzung für künftige industrielle Unternehmungen. Philadelphia, zur Zeit der Revolution mit 40.000 Einwohnern die größte Stadt in Nordamerika, entwickelte sich überdies zum geistigen Zentrum der Neuen Welt. Ihr prominentes‐ ter Bürger, der Drucker, Schriftsteller und Naturwissenschaftler Benjamin Franklin, personifizierte im Europa der Aufklärung geradezu das freiheitliche, prosperierende „Wunder im Westen“, das eine Alternative zu Absolutismus und religiöser Intoleranz aufscheinen ließ. Vielfalt herrschte vor allem in ethnischer und religiöser Hinsicht. Während in Mas‐ sachusetts (nach dem ersten Zensus von 1790) 81 Prozent der Bevölkerung englischer Herkunft waren, traf das in New York nur auf 52 Prozent, in Pennsylvania sogar nur auf 35 Prozent zu. In New York und New Jersey machten die Niederländer 17,5 bzw. 16,6 Prozent aus, und hier lebten auch noch Skandinavier, insbesondere Schweden. In 2 Regionale, ethnische und religiöse Vielfalt 29 <?page no="30"?> Pennsylvania stieg der Anteil deutschstämmiger Bürger bis zur Revolution auf knapp ein Drittel, in allen dreizehn Kolonien zusammen auf fast 10 Prozent an. Diese Zahlen bereiteten selbst dem ansonsten aufgeschlossenen und toleranten Benjamin Franklin Sorgen vor einer „Überfremdung“ Pennsylvanias durch Deutsche. Im Hinterland von New York und Pennsylvania siedelten zudem Iren, Schotten, Iro-Schotten und französische Hugenotten, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 ihre Heimat hatten verlassen müssen. Die nördlichste Kolonie mit einer beachtlichen Sklavenbevölkerung war New York (16.000), und auch in New Jersey, Pennsylvania und Delaware lebten jeweils einige tausend unfreie und wenige freie Afrikaner. Von der religiösen Zusammensetzung her hielt New York die Spitze, wo die Anglikaner zwar das offizielle Kirchenregiment stellten, wo aber nicht weniger als zehn größere christ‐ liche Glaubensgemeinschaften (denominations) vertreten waren: Niederländisch-Re‐ formierte, die anfangs die Staatskirche gebildet hatten; Presbyterianer, Lutheraner, Anglikaner, Quäker, Baptisten, Kongregationalisten, Französisch-Reformierte (Huge‐ notten), Deutsch-Reformierte, Pietisten und Katholiken; hinzu kam noch eine jüdische Gemeinde in New York City. Weder in New York noch in Pennsylvania oder anderswo kam es zur völligen „Verschmelzung“ dieser unterschiedlichen ethnisch-religiösen Kulturen, wie es der französische Einwanderer St. John de Crèvecoeur um 1770 in seinen später berühmten Letters from an American Farmer behauptete: „What, then, is the American, this new man? He is neither an European, nor the descendant of an European … Here individuals of all nations are melted in a new race of men, whose labors and posterity will one day cause great changes in the world …“. Diese Aussage hatte eher die Qualität eines Glaubensbekenntnisses und einer Prophezeiung als den Wert einer empirischen Beobachtung; aber schon die Pluralität und das friedliche Nebeneinander so vieler ethnischer Gruppen und religiöser Richtungen waren zu der Zeit einmalig in der atlantischen Welt. Diese Vielfalt machte auch einen bedeutenden Teil des gesellschaftlichen Reichtums aus, denn Wirtschaft und Geistesleben konnten sich nirgends so ungehindert entfalten wie in den Mittelatlantik-Kolonien. Küste und Hinterland Die regionale Differenzierung in Neuengland, Mittelatlantik-Kolonien und (oberen und unteren) Süden wurde ergänzt durch eine Ost-West-Gliederung, die in den weit nach Westen reichenden Kolonien am ausgeprägtesten war. Im Zuge der Erschließung und Besiedlung bildeten sich drei Zonen mit unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozi‐ alen Gegebenheiten heraus. In den Küstengebieten und größeren Flusstälern herrschte wegen der guten Böden und günstigen Transportmöglichkeiten die kommerzielle Landwirtschaft vor, d. h. die Herstellung von Agrarprodukten für die städtischen Märkte oder den Export. Davon profitierten Pflanzer und Familienfarmer gleicherma‐ ßen, die ihren Wohlstand von Generation zu Generation mehren konnten. In dieser Zone entstanden auch die bedeutenden Städte von Boston über New York, Philadelphia und Baltimore bis Charleston, die Handel und Gewerbe an sich zogen. Unternehmer‐ Kapitel 1: Kolonien und Empire 30 <?page no="31"?> ische Naturen fanden hier die besten Aufstiegschancen, denn Geldvermögen ersetzte schon bald (zumindest in Neuengland und den Mittelkolonien) die traditionellen Status- und Rangmerkmale. In dem Maße, wie sich die Sozialstruktur ausdifferenzierte, begann sie sich aber auch zu verfestigen, und nahm die Besitzkonzentration zu. In Boston verfügten z. B. die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung 1690 über 27 Prozent des zu versteuernden Vermögens, 1770 dagegen schon über 44 Prozent. Die Zeitge‐ nossen nahmen die Schichtung der Gesellschaft deutlich wahr und unterschieden zwischen der „better sort of people“, der „middling sort“ und den „lower people“. Zur Oberschicht zählten die Pflanzer und Großgrundbesitzer, die reichen Kaufleute und Schiffseigner sowie die prominentesten Angehörigen der freien Berufe wie Anwälte, Ärzte und Gelehrte. Die relativ breite Mittelschicht wurde gebildet von Lehrern und Pfarrern, Handwerkern, Händlern, Ladenbesitzern, Wirten und Gesellen. Am unteren Ende der städtischen Sozialpyramide befanden sich besitzlose Arbeiter, Seeleute und Dienstboten, deren Zahl in Boston von 1690 bis 1770 um das Vierfache anstieg, sowie indentured servants, die ihre Schiffspassage abarbeiten mussten, freie Afroamerikaner und Sklaven. Große Teile Neuenglands sowie weniger fruchtbare Gebiete im Hinterland der Mittel- und Südkolonien lassen sich einer zweiten Zone zuordnen, in der die Farmfa‐ milien nur so viel (oder wenig mehr) produzierten, als sie selbst verbrauchten. Die Sozialstruktur war in dieser Zone der Subsistenzwirtschaft entsprechend einfach, denn außer Farmern - die selten Sklaven besaßen - gab es hier nur wenige Handwerker und Händler. Allerdings nahm infolge der hohen Geburtenrate die Gruppe derjenigen zu, die kein Land erben konnten und daher ihr Glück in den Städten oder weiter im Westen an der Siedlungsgrenze suchen mussten. Unter den primitiven Bedingungen dieser Frontier-Region, die ständig in Bewegung war, lebten Trapper, die jagten und mit Indianern Pelzhandel trieben, sowie Farmer allein oder mit ihren Familien. Sie gerieten auch immer wieder, meist gegen den Willen der Regierungen, in blutige Konflikte mit Indianern, die sich von ihrem Vordringen besonders bedroht fühlten. Auf Grund dieses allmählichen Voranschiebens der Frontier, das mit dem Übergang von der Subsistenzwirtschaft zur kommerziellen Landwirtschaft verbunden war, er‐ reichte die koloniale Gesellschaft einen hohen Grad der Mobilität - sowohl horizontal (geographisch), als auch vertikal (als sozialer Aufstieg). Die Wirtschaftsstruktur blieb vorwiegend agrarisch: Ca. 80 Prozent der arbeitenden Bevölkerung lebte auf Farmen und Plantagen, 10-15 Prozent waren Handwerker, und die Gruppe der Kaufleute und freien Berufe machte etwa 5 Prozent aus. Die „Feudalisierungstendenzen“ an der Küste und in den Städten wurden im 18. Jahrhundert aufgewogen durch die Westwanderung, die dafür sorgte, dass die Gesellschaft „im Fluss“ blieb. Man schätzt, dass 15 Prozent der ländlichen Bevölkerung innerhalb von 10 Jahren mindestens einmal umzogen, und diese Zahl erhöht sich unter Einschluss der Neueinwanderer auf 40 Prozent. Die Hälfte bis drei Viertel aller landlosen weißen Männer erwarben im Laufe ihres Lebens Landbesitz, und nur einer von zwanzig blieb dauerhaft besitzlos. Durch diese Mobilität und Dynamik hoben sich die dreizehn Siedlungskolonien auf markante 2 Regionale, ethnische und religiöse Vielfalt 31 <?page no="32"?> Weise von den übrigen englischen Besitzungen in der Karibik und an der kanadischen Küste ab. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass gerade sie als Erste den Schritt in die Unabhängigkeit wagten. An der Schwelle zur Revolutionsepoche wies die koloniale Gesellschaft, speziell im Bereich der Werte, Normen und Mentalitäten, zwar noch deutliche aristokratisch-monarchische Merkmale auf, doch gleichzeitig verfügte sie bereits über ein beträchtliches liberales und demokratisches Potenzial. Abb. 3: Die Herkunft der nicht-indianischen Bevölkerung in den britischen Festlandskolonien (1700 - 1775) 3 Die Kolonien im Empire-Verband Regionalisierung und Differenzierung hätten dazu führen können, dass sich die einzelnen Kolonien oder doch zumindest Norden, Mitte und Süden immer weiter auseinanderentwickelten. Dieser durchaus spürbaren Tendenz zur „Fragmentierung“ wirkte die Einbindung in das entstehende „erste“ englische Weltreich entgegen. Zunächst waren die königlichen Charters weit weniger Teil eines Herrschaftsplanes gewesen als Ausfluss des Bemühens, verdiente Untertanen zu belohnen sowie religiöse und soziale Konflikte durch Auswanderung zu entschärfen. Nach dem Ende des Bürgerkriegs und der Restauration der Monarchie wusste die Krone ab den 1660er Jahren den Wert, den die Festlandskolonien innerhalb des mit Hilfe der Navigation Acts ausgebauten englischen Merkantilsystems besaßen, noch besser zu schätzen. Sie trugen zur Versorgung der Karibikinseln und des Mutterlandes mit wichtigen Rohstoffen bei (die von England aus auch profitabel in andere europäische Länder weiterverkauft werden konnten), und sie stellten einen wachsenden Markt für in England hergestellte Fertigprodukte dar. Parlament und Krone bemühten sich von nun an verstärkt um administrative Kontrolle der Siedler, aber ein erster Zentralisierungsschub, der 1688 zur Zusammenfassung aller Kolonien von Massachusetts bis New Jersey im Dominion of New England führte, scheiterte kurz darauf im Zuge der Glorious Revolution. Dennoch Kapitel 1: Kolonien und Empire 32 <?page no="33"?> wuchsen die Festlandskolonien auch weiterhin politisch, wirtschaftlich, militärisch und kulturell enger in das Empire hinein. Salutary neglect und imperiale Kontrolle Nach der Revolution von 1688 / 89 bildete sich über mehrere Jahrzehnte ein lockeres Beziehungsmuster zwischen Mutterland und Kolonien heraus, das der englische Staatsmann und Philosoph Edmund Burke gegen Ende des 18. Jahrhunderts treffend als „heilsame Vernachlässigung“ (salutary neglect) charakterisierte. Allerdings ging das Verlangen nach imperialer Kontrolle nicht ganz verloren, wie sich 1696 in der Einrichtung eines Board of Trade and Plantations in London zeigte. Im selben Jahr ver‐ abschiedete das Parlament einen neuen Navigation Act, der u. a. Vizeadmiralsgerichte (Vice Admiralty Courts) in den Kolonien vorsah, die ohne Geschworene über Fälle von Schmuggel und Piraterie entscheiden konnten. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Kolonien allmählich vom Empire „absorbiert“ wurden, ist im Übergang zu dem System der royal colonies nach dem Vorbild der Karibik-Inseln zu sehen. Die meisten Festlandskolonien waren als charter colonies von Handelsgesellschaften oder als prop‐ rietory colonies von adligen Lehnsmännern gegründet worden. Diese Rechtsform, die in der Regel weitreichende Selbstverwaltungsbefugnisse beinhaltete, wurde bis 1720 mehrheitlich durch das Institut der royal colony ersetzt. Der König selbst ernannte die Gouverneure dieser „königlichen Kolonien“, und die Gouverneure wiederum umgaben sich mit Beratern, Beamten und Richtern ihrer eigenen Wahl. Außerdem war die Gesetzgebung der royal colonies einer strengeren Kontrolle durch den Board of Trade und den Privy Council in London unterworfen. Nur vier Kolonien - Pennsylvania, Maryland, Rhode Island und Connecticut - behielten ihren alten Rechtsstatus bis zur Revolution bei. Gemeinsame englische Institutionen und Kultur Neben verstärkter zentraler Kontrolle wirkten aber noch andere, möglicherweise wichtigere Elemente dem Auseinanderdriften der Kolonien entgegen. Zum einen bildete sich im politischen Leben eine gewisse institutionelle Gleichförmigkeit heraus, die auf das Vorbild des englischen Parlaments zurückzuführen ist. So gaben sich im Laufe der Zeit fast alle Kolonien ein legislatives Zweikammer-System, in dem ein vom Volk (d. h. von den Grundbesitzern und Steuerzahlern) gewähltes Unterhaus (Assembly oder House of Representatives) das Gegengewicht zum Gouverneur, zum Gouverneursrat (dem Oberhaus oder Senat) und zur königlichen Bürokratie bildete. Im Vergleich zu England war die Basis der Repräsentation sehr breit, denn trotz der Zen‐ susbestimmungen konnten im 18. Jahrhundert 50-80 Prozent der erwachsenen weißen Männer aktiv am politischen Leben teilnehmen. In Neuengland hatte jede Gemeinde (Town) das Recht, einen oder zwei Abgeordnete ins Kolonialparlament zu schicken; in der Mitte und im Süden erfolgte die Wahl auf der Ebene der Kreise (Counties) oder 3 Die Kolonien im Empire-Verband 33 <?page no="34"?> Kirchengemeinden (Parishes). Parallel zum Machtgewinn des Westminster-Parlaments trotzten die kolonialen Assemblies den Gouverneuren immer mehr Befugnisse ab, insbesondere im Steuerwesen. Sie bestanden auch, wie das englische Parlament, auf der schriftlichen Fixierung von Rechten und Privilegien, die zum Ausgangspunkt für spätere Grundrechtserklärungen (Bills of Rights) werden konnten. Von New Hampshire bis Georgia machte das Tauziehen zwischen den Parlamenten und den Gouverneuren einen wesentlichen Teil der kolonialen Politik im 18. Jahrhundert aus. Sowohl die Strukturen als auch die Praktiken und Konflikte des englischen Regierungssystems waren also den meisten Siedlern gut vertraut und bildeten sich bis zu einem gewissen Grade in Nordamerika wieder ab. Als weitere Bindemittel kamen das englische Gewohnheitsrecht (common law) und die englische Sprache hinzu. Da das gesamte Gerichtswesen auf dem common law beruhte, wurden seine Regeln auch für diejenigen Siedler verbindlich, die aus anderen, kontinentaleuropäischen Rechtskulturen kamen. Die englische Sprache mussten sie lernen, wenn sie am politischen Leben der Kolonien teilnehmen wollten. Kulturell bewahrten sich beispielsweise die Deutschen in Pennsylvania und die Niederländer in New York ein großes Maß an Autonomie, doch die Abgeordneten, die sie in die Parla‐ mente schickten, um ihre Interessen zu vertreten, waren allesamt zweisprachig. Das ebenso hartnäckige wie falsche Gerücht, Deutsch wäre beinahe die offizielle Sprache der Vereinigten Staaten geworden, geht auf historische Missverständnisse, z. T. auch auf bewusste nationalistische Propaganda im Kaiserreich und in der NS-Zeit zurück. In Pennsylvania und Maryland erschienen ab Mitte des 18. Jahrhunderts deutschsprachige Zeitungen, und die Gesetze beider Kolonien wurden sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache veröffentlicht. Alle Parlamentsdebatten fanden aber auf Englisch statt, und wer über das Geschehen in den Kolonien und Europa informiert sein wollte, der tat gut daran, eine der bedeutenden englischsprachigen Zeitungen zu abonnieren. Solche „Gazetten“ wurden kostenlos vom Postdienst befördert, den die englische Kolonialverwaltung seit 1710 aufbaute und den Benjamin Franklin als königlicher Postmaster General in den 1750er Jahren wesentlich erweiterte. In einer Zeit, als die Kutschfahrt von New York nach Philadelphia drei Tage oder länger dauerte, waren solche Verbindungen für das Zusammengehörigkeitsgefühl besonders wichtig. Die gebildeten Kolonisten verstanden sich als Angehörige einer transatlantischen Kulturgemeinschaft und nahmen durchaus aktiv an den geistigen Bewegungen und Auseinandersetzungen der Europäer teil. Das betraf die Aufklärung, die in Philadelphia besonders starke Resonanz fand, ebenso wie den Pietismus, der das Great Awakening beeinflusste. Viele Söhne wohlhabender Familien absolvierten ihr Studium in England, und die neueste englische und französische Literatur erreichte in relativ kurzer Zeit amerikanische Leser. Besondere Aufmerksamkeit fanden - neben den Werken von Blackstone, Hume und Montesquieu - englische politische Schriftsteller, die das Zeitgeschehen kritisch kommentierten. Bezeichnenderweise wurde in Neuengland und den Mittelkolonien die radikale Form dieser Kritik (vorgetragen von den Real Whigs und Commonwealthmen) stärker rezipiert als ihre gemäßigte Variante in Form Kapitel 1: Kolonien und Empire 34 <?page no="35"?> der Country-Ideologie eines Lord Bolingbroke, die dafür im Süden besser ankam. Ob diese intellektuellen Einflüsse allerdings schon ein amerikanisches Sonderbewusstsein entstehen ließen oder ob sie das gemeinsame englische Erbe festigten, ist schwer zu ermessen. In Philadelphia, das sich nach 1720 zur kulturellen Hauptstadt der Festlandskolonien entwickelte, wurden aufklärerische Ideen am entschiedensten in praktische Neuerun‐ gen umgesetzt. Diese Vorrangstellung der Quäker-Kolonie ist eng mit der Person Benjamin Franklins verbunden, der nach der Jahrhundertmitte, als er sich lange Zeit in diplomatischer Mission in London und Paris aufhielt, zur Leitfigur einer praktisch-ge‐ mäßigten amerikanischen Aufklärung avancierte. Franklin neigte seit seiner ersten Englandreise 1724 / 25 dem Deismus zu, verzichtete aber auf religiöse Spekulation und konzentrierte sich auf sein berufliches Fortkommen. Im Poor Richard’s Almanack säkularisierte er ab 1732 calvinistische Tugenden und übermittelte den Zeitgenossen Verhaltensregeln und Lebensweisheiten, die zu einem Leitfaden für den amerikani‐ schen self-made man wurden. Nach dem Aufstieg zum angesehensten Buchdrucker und Zeitungsverleger Nordamerikas konnte er sich 1748 aus dem Geschäftsleben zurückziehen und seinen wissenschaftlichen und politischen Interessen widmen. Große Bedeutung für die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts erlangten die von ihm 1743 organisierte American Philosophical Society, die Library Company als erste öffentliche Bibliothek in den Kolonien sowie das College of Philadelphia. Um Franklin bildete sich ein Kreis von Aufklärern, aus dem der Astronom David Rittenhouse, der Arzt Benjamin Rush, der Literat Francis Hopkinson und die Künstler Benjamin West und Charles Willson Peale herausragten. Sie hielten Verbindung mit gleich gesinnten Persönlichkeiten und Gruppen in den anderen Kolonien und korrespondierten mit aufklärerischen Organisationen und wissenschaftlichen Akademien in Europa. In der ebenso vitalen wie toleranten und weltlich geprägten Atmosphäre Philadelphias vollzog sich die Gleichsetzung von Amerika, naturwissenschaftlicher Erkenntnis und sozialem Fortschritt, die das öffentliche Bewusstsein der Revolutionsepoche prägen sollte. Das puritanische Neuengland konnte auf diesem Gebiet trotz des relativ hohen Bildungsniveaus nicht ganz mithalten: Erst 1780 gründete der Rechtsanwalt und Politiker John Adams in Boston die American Academy of Arts and Sciences als Gegenstück zur American Philosophical Society. Die Kolonien im englischen Merkantilsystem Die Auswirkungen der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Kolonien und Mutter‐ land auf das Bewusstsein der Siedler lassen sich kaum eindeutig bestimmen. Ihre zunehmende Dichte und Intensität besagen noch nicht, dass sie den Zusammenhalt der Kolonisten förderten. Die Zahlen sind allerdings eindrucksvoll: 1760 engagierte sich die Hälfte der englischen Flotte im Amerikahandel, und die Festlandskolonien, deren Bevölkerung seit 1700 von 250.000 auf über 2 Millionen angestiegen war, nahmen 25 Prozent der englischen Exporte auf. Hatte die gemeinsame Wirtschaftsleistung der 3 Die Kolonien im Empire-Verband 35 <?page no="36"?> Kolonien um 1700 noch 5 Prozent derjenigen des Mutterlandes betragen, so stieg dieser Prozentsatz bis zur Unabhängigkeitserklärung auf ca. 40 Prozent an. Andererseits blieben die einzelnen Kolonien in dem monopolartigen System der Navigation Acts vorrangig auf das Mutterland hin ausgerichtet: Besonders wertvolle enumerated goods wie Tabak, Reis, Indigo, Wolle und Pelze durften nur an das Mutterland verkauft wer‐ den; alle Güter, die aus Europa eingeführt wurden, mussten via England transportiert werden; und den Kolonien war gesetzlich verboten, bestimmte Produkte wie Kleidung, Hüte und Eisen herzustellen und zu exportieren, die mit englischen Waren konkur‐ rierten. Eine wirkliche regionale Arbeitsteilung und wechselseitige Ergänzungen konnten unter solchen Umständen nicht zustande kommen. Der Austausch zwischen den dreizehn Kolonien lag um die Mitte des 18. Jahrhunderts zwar immerhin bei 25 Prozent des Gesamtvolumens, aber der Außenhandel mit der Karibik und England war nach wie vor Motor des Wachstums, denn nur hier konnte man das für zusätzliche Investitionen benötigte Hartgeld verdienen. Daraus erwuchsen Rivalitäten zwischen benachbarten Kolonien, die um einen möglichst großen Anteil am Handelsaufkommen konkurrierten. Kriege für das Empire Ambivalenter Natur scheinen auch die Folgen gewesen zu sein, die sich aus der Beteiligung der Siedler an militärischen Unternehmungen der englischen Krone erga‐ ben. Diese Praxis begann bereits im Pfälzischen Krieg von 1689-1697, mit dem das englisch-französische Ringen um die Vorherrschaft eröffnet wurde und der in Nord‐ amerika als King William’s War seinen Widerhall fand. Sie setzte sich im Spanischen Erbfolgekrieg von 1701 bis 1713 (Queen Anne’s War) fort und erreichte einen ersten Höhepunkt während des Österreichischen Erbfolgekrieges von 1740 bis 1748 (King George’s War). Stets unterstützten koloniale Milizen die regulären britischen Truppen im Kampf gegen Franzosen, Spanier und Indianer, und in der Karibik beteiligten sich amerikanische Freibeuter (privateers) am Kaperkrieg der Seemächte. Wenig deutet aber darauf hin, dass sich aus diesen Aktivitäten ein eigenständiges amerikanisches Bewusstsein, eine vom Mutterland separate Identität ergeben hätte. Zunächst scheinen sie eher das emotionale Band zur Krone und zum jeweiligen englischen König als dem „obersten Kriegsherrn“ noch gefestigt zu haben. Als 1752 bewaffnete Zusammenstöße im Ohio-Tal eine neue Runde des Hegemonialkampfes ankündigten, versuchte Franklin vergeblich, die Kolonien mit seinem Albany Plan of Union von 1754 auf eine gemein‐ same Sicherheitspolitik zu verpflichten. In dem Krieg, der wenig später ausbrach, war die Loyalität der einzelnen Kolonien und ihrer Milizen zur Krone niemals gefährdet, und 1760 feierten die Siedler fast überschwänglich die Thronbesteigung ihres neuen, jugendlichen Königs George III. Dennoch wurde dieser Siebenjährige Krieg, der in den Kolonien wieder einen eigenen Namen erhielt (French and Indian War), in vieler Hinsicht zum Auslöser der amerikanischen Unabhängigkeit. Kapitel 1: Kolonien und Empire 36 <?page no="37"?> Im Juli 1754 erlebte der 22-jährige Major George Washington an der Spitze der virginischen Miliz bei Fort Duquesne, im Gebiet des heutigen Pittsburgh, seine Feuer‐ taufe. Ein Jahr später erlitt er an der Seite eines englischen Generals in derselben Gegend eine schwere Niederlage gegen die Franzosen, die den Krieg letztlich auslöste. In Europa begannen die Feindseligkeiten 1756 mit dem renversement des alliances, bei dem Engländer und Franzosen ihre traditionellen Verbündeten „austauschten“. Frankreich wandte sich von Preußen ab und sagte Österreich seine Unterstützung bei der Rückeroberung Schlesiens zu, während England Habsburg fallen ließ und sich hinter den ehemaligen Gegner Preußen stellte, um eine französische Hegemonie auf dem Kontinent zu verhindern. Das Hauptinteresse des führenden englischen Ministers William Pitt galt aber nicht Preußen, sondern es ging ihm in erster Linie darum, französische Kräfte in Europa zu binden, um die alte Rivalität in Übersee zu Gunsten des eigenen Landes zu entscheiden. Alle Gebiete, in denen die Einflusssphären der beiden Mächte zusammenstießen, wurden deshalb zu Kriegsschauplätzen: Nordamerika, die Karibik, Westafrika, Indien und - als Spanien unklugerweise 1761 noch an der Seite Frankreichs in den Krieg eintrat - auch die Philippinen. Nach französischen Anfangserfolgen konnten die Engländer dank besserer Planung und Logistik überall zum Gegenangriff übergehen und entscheidende Siege erringen. Nirgends war das deutlicher zu erkennen als in Nordamerika, wo die Franzosen im 17. Jahrhundert ein Kolonialreich (La Nouvelle France und Louisiana) geschaffen hatten, das sich - zumindest was die Rechtsansprüche betraf - von Kanada bis zur Mündung des Mississippi erstreckte. Entscheidend für den Kriegsausgang war im September 1759 die Eroberung der stark befestigten Stadt Quebec durch den englischen General James Wolfe, der eine 10.000 Mann starke Armee von Neuschottland herangeführt hatte (und der in dem Kampf ebenso fiel wie sein französischer Gegner Marquis de Montcalm). Im nächsten Frühjahr marschierten Briten und amerikanische Kolonisten von Norden und Süden auf Montreal und zwangen den französischen Gouverneur zur Übergabe Neu-Frank‐ reichs. Im Frieden von Paris 1763 erhielt England ganz Kanada sowie sämtliche Gebiete östlich des Mississippi mit Ausnahme der Stadt New Orleans. Im Süden musste Spanien Florida im Austausch für Kuba abtreten, das die Engländer 1762 erobert hatten. Als Entschädigung überließen die Franzosen den Spaniern New Orleans und das Land westlich des Mississippi, das sie ihnen als Preis für den Kriegseintritt versprochen hatten. Fortan verwalteten die Spanier das gesamte Gebiet unter dem Namen Louisiana von New Orleans aus. Damit war die Existenz des französischen Kolonialreiches in Nordamerika beendet. Die Engländer feierten einen der größten Triumphe ihrer Geschichte, doch gerade der Kriegsausgang in Nordamerika sollte sich rasch als eine Art Pyrrhus-Sieg erwei‐ sen. Zum einen brachte er latente Animositäten und emotionale Gegensätze an die Oberfläche, die sich zwischen den Menschen im Mutterland und in den Kolonien aufgebaut hatten. Während die englischen Offiziere und Beamten klagten, dass ihnen die Siedler nicht den gebührenden Respekt entgegenbrächten und dass es ihnen an 3 Die Kolonien im Empire-Verband 37 <?page no="38"?> Bildung und Manieren mangele, fühlten sich die Amerikaner herablassend und als Menschen zweiter Klasse behandelt. Das traf sie umso härter, als sie in den vergange‐ nen Jahrzehnten - unter dem Einfluss der europäischen Aufklärungsliteratur - das positive „Selbstimage“ eines einfachen, rustikalen, unverdorbenen Volkes entwickelt hatten. Sie rechneten sich die „typischen“ kolonialen Tugenden zu: kraftvoll, energisch und unverbildet; streitbar, aber freiheitsliebend; wohlhabend, aber unberührt von Luxussucht. Gleichzeitig stärkte die Beteiligung an den erfolgreichen Feldzügen ihr Selbstbewusstsein und ihre Überzeugung, nach der Beseitigung der „französischen Gefahr“ für die eigene Sicherheit sorgen und ein American Empire im Westen aufbauen zu können. Karte 2: Die 13 Kolonien bis 1763 Kapitel 1: Kolonien und Empire 38 <?page no="39"?> Das Gefühl der Entfremdung wurde durch den Versuch William Pitts, seine Vision eines rational organisierten und zentral gelenkten Empire zu verwirklichen, noch gesteigert. Seine straffe Empire-Politik war darauf ausgerichtet, alten, nur noch halb‐ herzig befolgten merkantilistischen Regulierungen wieder die gebührende Geltung zu verschaffen. Insbesondere sein Bemühen, den schwungvollen Handel der Kolonien mit den französischen Karibikinseln als Schmuggel und „Verrat“ zu unterbinden, gefährdete die wirtschaftliche Existenz so manches amerikanischen Kaufmannes. Der Premierminister wurde zwar 1761, noch vor dem Friedensschluss, vom König entlassen, weil er die Staatsverschuldung durch seine Kriegsausgaben fast verdoppelt und auf die unerhörte Höhe von 133 Millionen Pfund Sterling getrieben hatte. Mit dieser Schuldenlast hinterließ er allerdings ein Erbe, das, wie sich bald zeigen sollte, die größte Sprengkraft für die Empire-Beziehungen barg. Um nämlich die finanzielle Belastung der unruhigen englischen Bevölkerung in Grenzen zu halten - allein für Zinsen mussten jährlich 5 Millionen Pfund aufgebracht werden, für die Truppen auf den Karibikinseln und in den Festlandskolonien 200.000 Pfund -, suchten George III. und seine Berater nach neuen Einnahmequellen. Amerika bot sich an, denn man hatte, so wurde am Hof und im Parlament argumentiert, den Krieg doch nicht zuletzt zum Schutz der Siedler geführt, die ohnehin viel weniger Steuern zahlten als die Bürger im Mutterland. Von diesem Entschluss nahm die „imperiale Debatte“ über Besteuerung, Repräsentation und Souveränität ihren Ausgang, die innerhalb weniger Jahre die Bindungen löste, die über mehr als ein Jahrhundert entstanden waren. 3 Die Kolonien im Empire-Verband 39 <?page no="41"?> Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 1 Die imperiale Debatte, 1763 - 1774 Am Ende des Siebenjährigen Krieges verstanden sich die meisten Siedler durchaus noch als treue Untertanen der Krone und betrachteten ihre Kolonien als feste Bestandteile des britischen Empire. Allerdings hatte die Erkenntnis zugenommen, dass „Amerika“ in diesem Weltreich einen besonderen, hervorgehobenen Platz einnahm und dass die „Amerikaner“ eine Reihe von Belangen und Überzeugungen teilten, die von denen der Engländer abwichen. Handfeste Interessen gerieten zuerst im Westen in Gefahr, wo sich die Indianer als die eigentlichen Leidtragenden der französischen Niederlage - sie machte die Fortsetzung ihrer bisherigen Neutralitäts- und „Schaukelpolitik“ zwischen den Kolonialmächten unmöglich - nun dem weiteren Vordringen weißer Siedler gewaltsam widersetzten. 1763 schlossen sich im Ohio-Tal und im Gebiet der Großen Seen mehrere Stämme unter dem Ottawa-Häuptling Pontiac zusammen und begannen einen Aufstand, der bis 1766 andauerte. Um den Konflikt einzudämmen, entschloss sich die Krone, der weiteren Ausdehnung des Siedlungsgebiets und der Landspekulation einen Riegel vorzuschieben. Durch königliche Proklamation wurde im Oktober 1763 die Wasserscheide des Appalachen-Gebirges als temporäre Grenze festgesetzt und den weißen Untertanen Seiner Majestät verboten, westlich dieser Linie zu siedeln. Die permanente Stationierung von ca. 10.000 britischen Soldaten in Nordamerika konnte unter diesen Umständen ohne weiteres auch als eine Vorsichtsmaßnahme gegen koloniale Expansions- und Unabhängigkeitsbestrebungen verstanden werden. Die Reformen, mit denen die Regierung Grenville die Politik des salutary neglect beendete, um die Empire-Verwaltung zu straffen und die Staatsfinanzen zu verbessern, fielen ungünstigerweise in eine Rezessionsphase, die den Kriegsboom in den Kolonien abgelöst hatte. Als erste Maßnahme im Rahmen der neuen Strategie traten 1764 der Sugar Act und der Currency Act in Kraft, die dazu gedacht waren, wenigstens 50 Prozent des schon seit langem offiziell erhobenen Importzolls für Zucker von den französischen Karibikinseln auch tatsächlich einzutreiben und die unkontrollierte, inflationsfördernde Papiergeldausgabe einzelner Kolonialparlamente zu unterbinden. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich aber ab, dass in den Kolonien nicht so sehr die zusätzliche finanzielle Belastung als die den Gesetzen innewohnende generelle Tendenz zur verstärkten imperialen Kontrolle den Stein des Anstoßes bildete. So be‐ haupteten die Kritiker, das englische Parlament dürfe zwar im Sinne der Navigation Acts den kolonialen Handel regulieren, nicht jedoch, wie mit dem Sugar Act geschehen, Zoll‐ gesetze zur Steigerung der Staatseinkünfte verabschieden. Der Bostoner Anwalt James Otis vertrat in einer Flugschrift sogar die Auffassung, das Parlament sei überhaupt nicht befugt, die Kolonien ohne deren Zustimmung zu besteuern. Damit wandte er sich gegen <?page no="42"?> Grenvilles Theorie der „virtuellen Repräsentation“, derzufolge das Parlament (verstan‐ den als Gesamtheit von King, Lords und Commons) sämtliche englischen Untertanen, also auch die Kolonisten, vertrat und deren Zustimmung zu Parlamentsbeschlüssen einfach voraussetzen konnte. Hier offenbarte sich eine folgenreiche Auseinanderent‐ wicklung der englischen und der kolonialen Repräsentationspraxis: Während man in England inzwischen davon ausging, dass der Parlamentsabgeordnete nicht seinen Wählern, sondern der Gesamtheit gegenüber verantwortlich war, also ein „freies Mandat“ besaß, tendierten die Kolonien zum „imperativen Mandat“: Die Abgeordneten in den Assemblies vertraten unmittelbar ihre Wähler bzw. die Gemeinden, von denen sie entsandt und gelegentlich sogar mit bindenden Instruktionen ausgestattet wurden. Die Siedler wollten sich deshalb weder mit einer virtuellen Repräsentation noch mit einer Scheinrepräsentation in Form einiger Alibi-Delegierter abfinden, die - wie Benjamin Franklin - das Westminster-Parlament in kolonialen Angelegenheiten berieten. Da sie kaum Hoffnung hatten, jemals „tatsächlich“ und gerecht in London vertreten sein zu können, lief ihr Argument „no taxation without representation“ nicht auf eine Reform des Parlaments, sondern auf die Rückkehr zum Status quo der Vorkriegszeit hinaus. Die Stamp Act-Krise Vor diesem Hintergrund traf das 1765 verabschiedete Steuermarken-Gesetz (Stamp Act) den Nerv der Beziehungen zwischen Kolonien und Mutterland und trieb den Konflikt auf einen ersten Höhepunkt. Von dieser Steuer, die nicht nur für alle Schriftstücke mit rechtlicher Bedeutung, sondern auch für Kalender, Zeitungen, Druckschriften und sogar für Karten- und Würfelspiele erhoben wurde, erhoffte sich die englische Regierung Einkünfte in Höhe von 60.000 Pfund Sterling (umgerechnet auf heutige Preise 5 Millionen Dollar). Es handelte sich um die erste direkte Steuer, die London den Kolonien auferlegte, und sie diente noch dazu explizit der Verbesserung der Haushaltslage. Ominös aus amerikanischer Sicht war auch der Umstand, dass zur Eintreibung der Steuer in den Kolonien eine eigene königliche Bürokratie aufgebaut werden sollte, dass die Vizeadmirals-Gerichte, die ohne Geschworene urteilten, Ver‐ stöße gegen das Gesetz ahnden sollten und dass - gewissermaßen als „flankierende Maßnahme“ - ein Quartering Act erlassen wurde, der die Assemblies verpflichtete, für die Unterbringung der britischen Truppen Sorge zu tragen. Die Regierung Grenville suchte also bewusst die Kraftprobe mit den Kolonien, um sie zur Anerkennung der Autorität und Souveränität des Parlaments zu zwingen. Nach kurzem Zögern nahmen die Siedler den hingeworfenen Fehdehandschuh auf, wobei ihre Führer - die sich Whigs oder patriots nannten - aber eine Kompromissformel suchten, die es den Kolonien erlaubte, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln, ohne aus dem Verbund des Empire ausscheiden zu müssen. Die Opposition manifes‐ tierte sich in dreifacher Weise: Auf der politischen Ebene erhoben die Assemblies, allen voran das Unterhaus von Virginia, Protest gegen das „verfassungswidrige“ Steuermarkengesetz und betonten den Grundsatz, dass nur sie selbst befugt seien, Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 42 <?page no="43"?> in den Kolonien Steuern zu erheben. Das Massachusetts-Parlament ergriff überdies die Initiative zu einem interkolonialen Stamp Act Congress, an dem im Oktober 1765 in New York City 28 Delegierte aus neun Kolonien teilnahmen. Sie verabschiedeten Resolutionen, die den kolonialen Rechtsstandpunkt bekräftigten und Angriffe auf ihre „Rechte und Freiheiten“ zurückwiesen, und sie baten das Westminster-Parlament in ei‐ ner ausgesucht höflichen Petition um die Annullierung des Stamp Act. Im Unterschied zu diesem maßvollen Vorgehen machte sich der Unmut der Bevölkerung in einer Welle von Protesten Luft, die teils auf symbolische Weise Widerstand ankündigten, etwa durch die Errichtung von Freiheitsbäumen (liberty poles) und die Verbrennung von Puppen, die Steuerbeamte oder englische Politiker darstellten (burning in effigy), teils aber auch schon gewaltsame Formen annahmen und von handgreiflichen Attacken gegen Steuerbeamte bis hin zur Zerstörung ihrer Häuser und zur Praxis des „Teerens und Federns“ reichten. Zumeist wurden diese Massendemonstrationen gut vorbereitet und gelenkt von „patriotischen“ Organisationen, insbesondere den Sons of Liberty, die sich aus Kreisen der Handwerkerschaft in allen bedeutenden Orten entlang der Küste bildeten. Es kam aber auch vor, dass ihnen die Kontrolle der „mobs“ entglitt, die dann zu einer Gefahr für die gesamte öffentliche Ordnung werden konnten. Angeheizt und begleitet wurden alle diese Aktionen von einer heftigen Pressekampagne, für die hauptsächlich die Drucker der etwa 30 kolonialen Zeitungen verantwortlich zeichne‐ ten, die sich von der Stempelsteuer besonders hart betroffen fühlten. In wirtschaftlicher Hinsicht schließlich erwiesen sich die hauptsächlich von Kaufleuten initiierten Boy‐ kotte englischer Waren als äußerst wirksam. Sie steigerten nicht nur die Solidarität der Bevölkerung, die ihren „Patriotismus“ durch demonstrativen Verzicht auf Einfuhrgüter und das Bemühen um Selbstversorgung, speziell bei Tuchen, beweisen konnte; sie übte auch spürbaren Druck auf die englischen Kaufleute und indirekt - durch deren Klagen und Proteste - auf die englische Öffentlichkeit und Regierung aus. Die Stamp Act-Krise brachte also schon fast alle wesentlichen Widerstandsformen hervor, die koloniale Elite und Volk, Küste und Hinterland miteinander verbanden und die in ihrer Kombination die Aufstandsbewegung gegen das Mutterland kennzeichneten. Die Reaktionen in England offenbarten ebenfalls ein Muster, das sich bis 1774 mehrfach wiederholen sollte. Aus den wachsenden inneren Spannungen, die sich gegen Ende der 1760er Jahre in den Unruhen um den radikalen Parlamentsabgeordneten John Wilkes entluden, resultierte eine politische Instabilität, die häufige Regierungswechsel zur Folge hatte und zum Schwanken zwischen Konzessionen und Härte verleitete. Sowohl in der Bevölkerung als auch im Parlament gab es Kräfte, die Mäßigung und Ausgleich mit den Kolonien befürworteten; die Vertreter einer harten Linie, zu denen mehr und mehr auch der König selbst gehörte, kamen ihnen aus taktischen Gründen zeitweise entgegen, behielten in entscheidenden Momenten aber doch stets die Oberhand. So setzte das Parlament zwar 1766 - mit Rücksicht auf die englischen Kaufleute und angesichts der Tatsache, dass die Steuerbeamten in den Kolonien längst resigniert hatten - den Stamp Act offiziell außer Kraft; gleichzeitig bekräftigten die Abgeordneten aber auf Veranlassung des neuen Premierministers Lord Rockingham in 1 Die imperiale Debatte, 1763 - 1774 43 <?page no="44"?> einem Declaratory Act das Recht des Parlaments, „to make laws binding the colonies in all cases whatsoever“. Durch dieses Beharren auf der Doktrin der unteilbaren Souveränität wurde aus dem Steuerkonflikt endgültig ein Prinzipienstreit, bei dem die Autorität der englischen Regierung und des Parlaments auf dem Spiel stand. Wenn die Empire-Reformer auch in einem konkreten Punkt nachgegeben hatten, so hielten sie doch an ihrer prinzipiellen Absicht fest, die Kolonien untrennbar in ein besser organisiertes, machtvolles englisches Staatswesen einzubinden. Townshend-Zölle, „Boston Massacre“ und Bostoner „Tea Party“ Bereits ein Jahr später, 1767, unternahm das Parlament einen neuen Vorstoß, indem es eine ganze Reihe von Gütern, die englische Kaufleute nach Amerika einführten, darun‐ ter Tee, mit Zöllen belegte. Diese nach dem verantwortlichen Schatzkanzler Townshend duties genannten Abgaben waren wiederum nur Teil der geplanten umfassenden Ver‐ waltungsreform in den Kolonien, die auf eine Stärkung der königlichen Gouverneure und deren Beamtenschaft zu Lasten der schwer kontrollierbaren Assemblies abzielte. Als Antwort darauf ließen die Patrioten die Unterscheidung zwischen internal taxes (Steuern) und external taxes (Zöllen) fallen, die es bislang ermöglicht hatte, dem Parlament noch gewisse Befugnisse in der Handelsregulierung zuzugestehen. Dies war die Botschaft der populären Essay-Serie, die John Dickinson ab November 1767 als Letters from a Farmer in Pennsylvania veröffentlichte und die in der Warnung vor einer „Tragödie der amerikanischen Freiheit“ gipfelte. Obwohl die Proteste und Boykotte wieder weite Teile des Landes erfassten, verlagerte sich der Brennpunkt des Geschehens nun zunehmend nach Massachusetts, dessen Parlament 1768 nach einem besonders heftigen Einspruch gegen die „Verletzung der natürlichen und verfassungs‐ mäßigen Rechte der Kolonisten“ auf Geheiß Londons von Gouverneur Francis Bernard aufgelöst wurde. In Boston kam im Kreis um den radikalen Agitator Samuel Adams, einen ehemaligen Steuereinzieher, auch erstmals die Forderung nach Unabhängigkeit von England auf, vor der gemäßigte Patrioten zu dieser Zeit noch zurückschreckten und die konservative Anhänger von Recht und Ordnung erschauern ließ. Verschärft wurde die Lage in Boston noch durch die Stationierung britischer Soldaten, die immer wieder mit Zivilisten aneinander gerieten. Eine dieser Konfrontationen endete im März 1770 im so genannten Boston Massacre, dem fünf Demonstranten zum Opfer fielen. Obwohl die Soldaten eher aus Verwirrung und nicht, wie die Patrioten umgehend behaupteten, vorsätzlich und auf Befehl ihrer Offiziere geschossen hatten, gab der Vorfall Anlass zu einem Märtyrerkult, der den Hass auf die Engländer schürte. Vor Gericht wurden die britischen Offiziere und Todesschützen allerdings erfolgreich von Samuel Adams’ Cousin John Adams verteidigt, der in dieser Phase noch zu den moderaten Patrioten zählte. Einen Monat nach dem „Massaker“ traf allerdings die Nachricht ein, der neue Pre‐ mierminister Lord North habe unter dem Eindruck der erfolgreichen amerikanischen Boykottbewegung die Rücknahme der Townshend-Zölle durchgesetzt. Bestehen blieb Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 44 <?page no="45"?> einzig der Teezoll, als Wink an die Kolonisten, dass sich der britische Rechtsstandpunkt nicht geändert hatte. Der Boykott bröckelte daraufhin ab, und die Abgabe auf Tee wurde durch illegale Einfuhr niederländischen Tees weitgehend umgangen. In der Phase der relativen Ruhe, die nun eintrat, beauftragte das Bostoner Town Meeting Ende 1772 ein Korrespondenzkomitee unter Vorsitz von Samuel Adams, Verbindung mit den Gemeinden im Hinterland von Massachusetts aufzunehmen. Das Unterhaus von Virginia folgte dieser Praxis und dehnte sie auf die interkoloniale Ebene aus, so dass rasch ein alle Kolonien übergreifendes Kommunikationsnetz entstand. Davon profitierten die Patrioten, als die englische Regierung im Mai 1773 mit dem Tea Act erneut Öl in die schon fast erloschenen Flammen goss. Das Gesetz war in erster Linie dazu gedacht, die East India Company vor dem Bankrott zu bewahren, indem es ihr verbilligte Teeimporte nach Amerika gestattete. Aus Sicht der Patrioten stand zu befürchten, dass die Gesellschaft selbst bei Berücksichtigung des Einfuhrzolls den Preis für niederländischen Tee unterbieten und ein Monopol erlangen würde. Als Ende 1773 drei Teeschiffe in den Bostoner Hafen einliefen, verweigerte das Town Meeting die Zollabgabe und die Entladung. In der Nacht zum 17. Dezember enterten etwa 60 als Indianer verkleidete Sons of Liberty die Schiffe und warfen die Teeballen im Wert von 10.000 Pfund Sterling in das Hafenwasser. Diese Provokation konnte die Londoner Re‐ gierung nicht hinnehmen, ohne vollends das Gesicht zu verlieren. Der König hielt denn auch die Zeit für gekommen, Härte zu demonstrieren, und das Parlament beschloss im Frühjahr 1774 ein ganzes Bündel von Zwangsmaßnahmen, die Massachusetts praktisch unter ökonomische Quarantäne stellten und politisch entmündigten. Hinzu kam im Juni noch der Quebec Act, der ursprünglich nicht als Strafe gedacht war, der aber wegen der Gewährung religiöser Freiheiten an die katholischen Siedler in Kanada und vor allem wegen der Gebietserweiterung der Kolonie Quebec bis in das Ohio-Gebiet hinein als zusätzlicher Schlag gegen Massachusetts und die Amerikaner insgesamt verstanden wurde. Die Korrespondenzkomitees trugen sehr dazu bei, dass diese von den Patrioten als Intolerable Acts gebrandmarkten Gesetze überall in den Kolonien eine Welle von Solidarität mit Massachusetts auslösten. Anstatt das vom Bostoner Komitee vorgeschlagene umfassende Handelsembargo gegen England zu verhängen, beriefen die Kolonien aber zunächst nur einen allgemeinen Kongress für September 1774 nach Philadelphia ein. Mit Blick auf die inzwischen wieder günstige Wirtschaftslage konnten sich die Kaufleute in den Mittelkolonien nicht recht für Boykottmaßnahmen erwärmen, und die gemäßigten Patrioten wollten die Hoffnung auf Ausgleich noch nicht fahren lassen. Die unvereinbaren Rechtsstandpunkte und die in der Bevölkerung geweckten Emotionen drängten aber in Richtung einer weiteren Eskalation des Konflikts. Der Erste Kontinentalkongress Am Kontinentalkongress, der im September / Oktober 1774 in Philadelphia tagte, nahmen 55 Delegierte aus zwölf Festlandskolonien teil, darunter 30 Anwälte und Richter sowie neun Kaufleute, immerhin aber auch vier Handwerker. Nicht vertreten 1 Die imperiale Debatte, 1763 - 1774 45 <?page no="46"?> waren Georgia, die kanadischen Besitzungen Neuschottland, Neufundland und Quebec und das seit 1763 englische Florida. Da die königlichen Gouverneure bereits mehrere Parlamente aufgelöst hatten, waren die meisten Delegierten von extra-legalen und illegalen Komitees und Konventen gewählt worden, die in weiten Teilen des Landes die faktische Regierungsgewalt übernommen hatten (und nicht selten Gesinnungsterror gegen Andersdenkende ausübten). Im Kongress setzte sich die radikale Fraktion, vertreten durch die Neuengländer Samuel Adams und John Adams und die Virginier Patrick Henry und Richard Henry Lee, gegen die gemäßigten Kräfte aus den Mittel‐ kolonien um John Dickinson und Joseph Galloway durch, die politischen Umsturz und „Mobherrschaft“, wirtschaftliches Chaos und eine Niederlage gegen die Briten vorhersagten. Die Radikalen vermieden das Wort „independence“, machten sich aber den Druck der öffentlichen Meinung geschickt zu Nutze, um die Kongressmehrheit auf einen kämpferischen Kurs festzulegen. In einer Grundsatzerklärung (Declaration of Colonial Rights and Grievances) beschwor der Kongress an vorderster Stelle die „unveränderlichen Gesetze der Natur“ und danach erst die englischen Verfassungsga‐ rantien und die Charter-Rechte der Kolonien. Abgelehnt wurde der Vorschlag Joseph Galloways, als Alternative zum Wirtschaftskrieg Gespräche mit den Briten über eine grundlegende Verfassungsreform zu suchen, die den Kolonien Gleichberechtigung im Empire garantierte. Stattdessen beschlossen die Delegierten, den bedrängten Neueng‐ ländern mit einer Continental Association zur Hilfe zu kommen, die alle Kolonien zur schrittweisen Verschärfung der Boykottmaßnahmen gegen England bis hin zum völligen Abbruch des Handels (einschließlich des Sklavenimports) verpflichtete. Bevor sich der Kongress auf Mai 1775 vertagte, richtete er noch eine eindringliche Petition an den König und ermahnte die Bevölkerung von Großbritannien, Amerika und Quebec zu Wachsamkeit und zur Besinnung auf die Bürgertugenden. Die ideologischen Ursprünge der Revolution Der Gesinnungswandel, der aus treuen Untertanen der Krone Patrioten und Rebel‐ len machte, hatte sich erstaunlich rasch vollzogen. John Adams bezeichnete diesen intellektuellen Prozess rückblickend als den eigentlichen Kern des Geschehens. Die Revolution, so schrieb er 1815 an Thomas Jefferson, habe in den Köpfen der Menschen stattgefunden, und sie sei schon abgeschlossen gewesen, bevor 1775 bei Lexington und Concord Blut vergossen wurde. Diese Beobachtung trifft insofern zu, als die Ursprünge des britisch-amerikanischen Disputs, wie der Historiker Bernard Bailyn nachgewiesen hat, in erster Linie geistig-ideologischer Natur waren. Das beharrliche Pochen auf die „alten englischen Rechte“ diente nicht der Verschleierung materieller Interessen, wenngleich diese sicher auch eine Rolle spielten. Den unerlässlichen Nährboden für die Widerstandshaltung bildete vielmehr ein Geflecht von Denkgewohnheiten, Verhaltensweisen und Wertvorstellungen, das in tiefere Bewusstseinsebenen hinein‐ reichte und breite soziale Schichten beeinflusste. Die gebildeten Kolonisten schöpften ihre Argumente und Konzepte aus vielen Quellen: aus den Werken englischer Juris‐ Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 46 <?page no="47"?> ten wie Sir Edward Coke und William Blackstone; aus der liberalen Natur- und Vertragsrechtslehre John Lockes; aus der Literatur der Aufklärung, speziell in der Variante des schottischen Utilitarismus. Ganz besonders empfänglich waren sie selbst und ihr Publikum aber für die Maximen der englischen Oppositionsliteratur, deren beide Elemente - das radikale aus John Trenchards und Thomas Gordons Cato’s Letters und das konservativ-nostalgische des Patriot King von Lord Bolingbroke - in ihrem Bewusstsein zu einer verhältnismäßig geschlossenen Weltanschauung, zu einer spezifisch amerikanischen Country-Ideologie verschmolzen. Sie diente als Rahmen, in den sich alle anderen, oft widersprüchlichen Denkmuster und geistigen Strömungen einfügen ließen, und der die Orientierung erleichterte, wenn nicht erst ermöglichte. Im Lichte dieser Ideologie mit ihrem extremen Machtmisstrauen, ihrer Hochschätzung der klassisch-römischen Bürgertugend (virtue) und ihren Warnungen vor einem unmerklichen, schleichenden Verlust der Freiheit reimten sich die Ereignisse seit 1763 zu einem logischen Ganzen, zu einer von langer Hand geplanten, weit verzweigten und systematisch vorangetriebenen Verschwörung gegen die Kolonien zusammen. Die neuen Steuern, das Insistieren der Briten auf der absoluten Parlamentssouveränität, der Ausbau der Kolonialverwaltung, die Verlegung von Truppen in die Städte und schließlich die harte Bestrafung von Massachusetts - all das waren keine Reformen, sondern Anhaltspunkte für einen generellen Anschlag auf das Selbstbestimmungsrecht der Kolonisten, auf einen „deliberate, systematic plan of reducing us to slavery“, wie es der junge virginische Pflanzer Thomas Jefferson 1774 in seinem Pamphlet A Summary View of the Rights of British America ausdrückte. Solche Vorstellungen trugen irrationale Züge, aber sie besaßen einen wahren Kern, weil die englische Regierung in der Tat eine fundamentale Veränderung der imperialen Beziehungen anstrebte. Die calvinistischen Geistlichen der Neuengland-Kolonien steigerten die Verschwörungsängste noch durch ihre eigene manichäisch-apokalyptische Sicht der Dinge: Waren ihnen während des Siebenjährigen Krieges noch die Franzosen als Werkzeuge des Antichrist erschienen, so deuteten sie nun die „Privilegierung“ der katholischen Siedler in Quebec und die Bestrafung von Massachusetts durch London als ein neues Kapitel im eschatologischen Kampf zwischen Gut und Böse, der gemäß der Offenbarung des Johannes die Wiederkehr Christi und den Beginn des Millenniums, des tausendjährigen Friedensreiches, einleitete. Damit ging auch die religiöse Klammer verloren, die englische und amerikanische Protestanten über den Atlantik hinweg zusammengehalten hatte. In den Kolonien wirkten die Ängste nicht lähmend, sondern setzten zusätzliche Energien frei. Die „Aufdeckung“ der englischen Machenschaften steigerte offenkundig das Selbstbewusstsein und das Machtgefühl der Patrioten. Hatten sie zunächst nur die Befugnis des Parlaments angezweifelt, „interne“, die Selbstverwaltung der Kolonien berührende Abgaben zu erheben, so stellten sie wenig später die Geltungskraft des imperialen Steuerrechts insgesamt in Frage, um dann schließlich dem King in Parliament jegliche Gesetzgebungskompetenz abzusprechen. Die Berufung auf die Ancient Constitution und die historischen Rechte der Engländer wurde im Laufe der 1 Die imperiale Debatte, 1763 - 1774 47 <?page no="48"?> Debatte durch die Konzepte des Gesellschaftsvertrags und der „natürlichen Rechte“ aller Menschen ergänzt und überwölbt. Auf diese Weise gelang es, die städtischen Mittel- und Unterschichten zu mobilisieren und die Autorität von englischer Regierung und Westminster-Parlament sowie mehr und mehr auch die Zuneigung zur Krone zu untergraben. Die Propaganda der Patrioten und die inkonsequente Haltung der ver‐ antwortlichen Politiker in London entzogen überdies den Gegnern der Unabhängigkeit, den Loyalists oder - im Sprachgebrauch der Patrioten - Tories, die das monarchische System und die gesellschaftliche Hierarchie als gottgegeben verteidigten, allmählich den Boden und stempelten sie zu Feinden des Volkes. Eine wachsende Zahl von Amerikanern, die den patriotischen Führern folgten, empfanden sich demgegenüber nicht mehr als Untertanen, sondern als freie Bürger, die ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen. 2 Unabhängigkeitserklärung und konstitutionelle Neuordnung Die Hoffnungen, die gemäßigte Patrioten und Loyalisten immer noch auf den König setzten, erwiesen sich als illusorisch, denn George III. war noch weniger kompromiss‐ bereit als sein Premierminister Lord North. Schon 1774 meinte er, die „Würfel seien gefallen“ und die Kolonien müssten nun entweder gewaltsam unterworfen werden, oder sie wären für England auf immer verloren. Nach den Parlamentswahlen im November 1774 wurden Truppenverstärkungen und erfahrene Generäle nach Amerika geschickt, und Kompromissvorschläge, wie sie u. a. William Pitt (nun Earl of Chatham) unterbreitete, fanden kein Gehör mehr. In einer Botschaft an den König stellte das Parlament im Februar 1775 fest, die Kolonien befänden sich in offener Rebellion gegen das Mutterland. Ungeachtet der Kritik des prominenten Parlamentsabgeordneten Edmund Burke, die Regierung versuche, ihre Autorität zu wahren, indem sie das Empire zerstöre, erhielt General Thomas Gage in Boston die Weisung, aggressiver vorzugehen und die „Rädelsführer“ des Aufstands zu verhaften. Auf amerikanischer Seite entfachte das Zusammenwirken einer Basis, die sich immer mehr radikalisierte, mit der patriotischen Elite, die den Lauf der Dinge durch interkoloniale Kooperation zu steuern versuchte, eine Dynamik, die den Bruch mit England unvermeidlich werden ließ. Als britische Truppen ein Waffendepot der Miliz von Massachusetts ausheben wollten, kam es am 18. April 1775 bei Lexington und Concord zu ersten Gefechten, bei denen die Amerikaner 95, die Engländer 273 Mann verloren. Unter dem Eindruck dieser Schüsse, deren Echo angeblich „rund um die Welt“ gehört wurde, trat am 10. Mai 1775 in Philadelphia der Zweite Kontinental‐ kongress mit nunmehr 65 Mitgliedern aus dreizehn Kolonien zusammen. Obwohl die Gemäßigten immer noch eine Verzögerungsstrategie betrieben, handelten die Delegierten doch schon wie Vertreter souveräner Staaten. Sie versetzten die Kolo‐ nien in den Verteidigungszustand, betrauten George Washington am 15. Juni mit dem militärischen Oberbefehl und bewilligten die Ausgabe von 2 Millionen Dollar Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 48 <?page no="49"?> Papiergeld für Rüstungszwecke. Am 2. Juli 1775, zwei Wochen nachdem britische Truppen die Bostoner Miliz unter schweren Verlusten vom Bunker Hill vertrieben hatten, übernahm Washington in Cambridge das Kommando über 15.000 Mann aus Neuengland, Pennsylvania, Maryland und Virginia, die der Kongress als „Truppen der Vereinigten Provinzen von Nordamerika“ bezeichnete. Etwa gleichzeitig instruierten die Delegierten den New Yorker General Philip Schuyler, die kanadischen Kolonien, die sich nicht freiwillig anschließen wollten, mit Gewalt zu erobern. Das Scheitern dieses Unternehmens stand schon im Dezember fest, aber es trug dazu bei, die englische Haltung weiter zu verhärten. Unter den gegebenen Umständen konnte ein letzter, halbherziger Vermittlungsvorstoß des Kongresses, in Form der „Olivenzweig-Petition“ an den „Most Gracious Sovereign“, nicht mehr fruchten. Aus der Sicht des Königs befanden sich die Amerikaner nun „in offener und erklärter Rebellion“, und das Parlament dehnte im November 1775 per Gesetz die Blockade von Massachusetts auf alle dreizehn Kolonien aus. Damit war den gemäßigten Kräften im Kongress wie im Westminster-Parlament die Argumentationsgrundlage entzogen. Wer immer noch zögerte, wurde im Januar 1776 durch Thomas Paines Pamphlet Common Sense mitgerissen, das innerhalb weniger Monate zwölf Auflagen erlebte und von dem bald über 150.000 Exemplare in den Kolonien kursierten. Der Autor, der erst zwei Jahre zuvor aus England eingewandert war, griff den bis dahin weitgehend ver‐ schonten George III. in beispielloser Weise als unfähigen und tyrannischen „Pharao“ an und sprach aus, was viele Siedler inzwischen dachten: Nur die Unabhängigkeit könne verhindern, dass die Amerikaner von der politischen Korruption und dem moralischen Verfall Englands angesteckt würden. Die Ziele der Revolution lagen laut Paine nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft: Der eigentliche Kampf müsse gegen das System der Monarchie und für den Aufbau einer gerechten republikanischen Ordnung geführt werden: „Wir haben es in unserer Hand, die Welt von neuem zu beginnen.“ Der phänomenale Erfolg dieser Flugschrift spiegelte das Entstehen einer kraftvollen politischen Öffentlichkeit wider, die den Kontinentalkongress im Frühjahr und Sommer 1776 über eine Welle von Gemeinde- und Provinzversammlungen zur Unabhängigkeitserklärung vorantrieb. Aus der Protestbewegung wurde nun vollends eine Revolution. Der Kontinentalkongress erklärt die Unabhängigkeit Die entscheidende Initiative ging von einem als de facto-Parlament tagenden Provin‐ zialkongress in Virginia aus, der im Mai 1776 die eigene Delegation im Kontinental‐ kongress aufforderte, sich für die Unabhängigkeit einzusetzen. Am 7. Juni stellte daraufhin Richard Henry Lee in Philadelphia den Antrag, der Kongress möge die Kolonien zu „freien und unabhängigen Staaten“ erklären, ausländische Mächte um Hilfe gegen England bitten und eine Konföderation vorbereiten. Es dauerte aber noch knapp einen Monat, bis die Mittelkolonien sowie Maryland und South Carolina auf diese Linie gebracht werden konnten. Am 2. Juli wurde Lees Resolution mit zwölf 2 Unabhängigkeitserklärung und konstitutionelle Neuordnung 49 <?page no="50"?> Stimmen bei Enthaltung New Yorks angenommen. Zwei Tage später blieben die New Yorker Delegierten, die immer noch keine positiven Instruktionen erhalten hatten, einer erneuten Abstimmung fern und ermöglichten so die einstimmige Annahme der Unabhängigkeitserklärung. Der Entwurf zu diesem Dokument stammte aus der Feder von Thomas Jefferson, der mit 33 Jahren zu den jüngsten Delegierten des Zweiten Kontinentalkongresses zählte. Als Sohn eines Landvermessers und Kartographen und einer Angehörigen der prominenten Randolph-Familie hatte Jefferson das William and Mary College in Williamsburg absolviert und war im Alter von 24 Jahren zum Anwaltsberuf zugelassen worden. Seine Herkunft und sein Besitz von 2000 Hektar Land und über 100 Sklaven machten ihn zum Angehörigen der Virginia Aristocracy, die er seit 1769 auch im Unterhaus von Virginia vertrat. Hier schloss er sich der radikalen Fraktion um Patrick Henry an und fiel durch den eleganten Stil auf, mit dem er Resolutionen, Petitionen und andere Stellungnahmen des Parlaments verfasste. Politik war aber nicht seine einzige Leidenschaft: Nachdem er 1772 eine 23-jährige Witwe, Martha Wayles Skelton, geheiratet hatte, baute er den Landsitz Monticello nach klassisch-italienischem Vorbild um und betätigte sich als Schriftsteller, Erfinder und Naturwissenschaftler. Abb. 4: Die Unabhängigkeitserklärung, 4. Juli 1776 (Gemälde von J. Trumbull) Jeffersons Text, den der Kongress nur in wenigen Punkten änderte - eine der Streich‐ ungen betraf seine Kritik an der Sklaverei -, verband das Gedankengut der Aufklärung mit angelsächsischen Rechtstraditionen und den Prinzipien der Country-Ideologie. Die Präambel leitete das Recht auf Loslösung vom Mutterland aus dem Naturrecht ab und betonte, dass es der Respekt vor der öffentlichen Meinung der Welt verlange, einen solch schwer wiegenden Schritt ausführlich zu begründen. Der erste Teil, der langfristig Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 50 <?page no="51"?> die stärkste Wirkung entfaltete, enthielt die politische Philosophie der amerikanischen Revolution. Den Ausgangspunkt bildete das Naturrecht als objektiver Maßstab, an dem alles von Menschen gesetzte Recht zu messen ist. Das Gleichheitspostulat („all men are created equal“) besagt, dass alle Menschen insofern gleich sind, als sie natürliche, unveräußerliche Rechte besitzen; die wichtigsten dieser „selbstverständlichen“ Rechte sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glück („pursuit of happiness“, das im Sinne der schottischen Moralphilosophie an die Stelle von John Lockes Recht auf Eigentum trat). Aufgabe der Regierung ist es, diese Rechte zu schützen und den Bürgern Sicherheit und Glücksstreben zu ermöglichen. Regierung (government) beruht auf der Zustim‐ mung (consent) der Regierten, und sie kann beseitigt und durch eine neue Regierung ersetzt werden, wenn sie ihren Aufgaben nicht gerecht wird. Als zweiter Teil folgte dann ein langes, nicht in allen Einzelheiten korrektes Register der Amtsverstöße Georges III., das den König eines Bruchs des Herrschaftsvertrags überführen sollte. Der Schlussabschnitt besiegelte unter feierlicher Anrufung der göttlichen Vorsehung (Divine Providence) die Loslösung von Großbritannien und die Souveränität der ame‐ rikanischen Staaten. In praktischer Hinsicht war die Unabhängigkeitserklärung einer‐ seits dazu gedacht, die Amerikaner durch die Verkündung fundamentaler Prinzipien und Grundwerte, für die es sich lohnte zu kämpfen, dauerhaft an die revolutionäre Sache zu binden; andererseits sollte sie mit Blick auf Europa die ehemaligen Kolonien als ein handlungsfähiges Völkerrechtssubjekt etablieren, das Bündnisse eingehen konnte. Jefferson hatte keine Originalität angestrebt, und er nannte sein Werk später bescheiden „einen Ausdruck des amerikanischen Geistes“, wie er sich zur Zeit der Revolution dargestellt habe. Von anderen zeitgenössischen Äußerungen hob sich der Text aber durch seinen dynamischen Rhythmus und die gemessene Würde der (aus der Bibel entlehnten) Sprache ab, die den Eindruck der logischen Folgerichtigkeit der Argumentation und der Unvermeidbarkeit der Trennung vom Mutterland verstärkten. Durch die Fähigkeit Jeffersons, komplexe Sachverhalte und Ideen in wenige, mitrei‐ ßende Sätze zu verdichten, gewann die Unabhängigkeitserklärung über ihre praktische Bedeutung hinaus den Charakter eines politisch-philosophischen Epochendokuments. Staatenverfassungen, Grundrechteerklärungen und Articles of Confederation Parallel zur Entstehung der Unabhängigkeitserklärung vollzog sich in den einzelnen Kolonien die Neuordnung des politischen und konstitutionellen Lebens. Angesichts der leidenschaftlichen Auseinandersetzungen, bei denen schon sozial egalitäre, „gleichma‐ cherische“ Forderungen aufkamen, fürchteten viele Gemäßigte und Besitzende um den inneren Frieden und wollten ein Weitertreiben der Revolution verhindern. Aber auch radikale Befürworter der Unabhängigkeit hielten es für dringend geboten, nach dem Zusammenbruch der britischen Regierungsautorität zu stabilen Verhältnissen zurückzukehren und die gefährliche Phase des Nebeneinanders von alten und neuen 2 Unabhängigkeitserklärung und konstitutionelle Neuordnung 51 <?page no="52"?> Institutionen so rasch wie möglich zu beenden. In diesem Prozess der Loslösung von Monarchie und Empire nahm die aufklärerische Idee, das Volk sei der Souverän und könne sich selbst regieren, erstmals konkrete Gestalt an. Die Volkssouveränität wurde schon deshalb zur neuen Legitimationsgrundlage, weil es in der amerikanischen Wirk‐ lichkeit des Jahres 1776 gar keine Alternative zur republikanischen Staatsform gab. Zentrale Bedeutung erlangten die geschriebenen Verfassungen: Eine constitution legte nicht mehr nur die Staatsform und die Kompetenzverteilung der Regierungsorgane fest, sondern errichtete überdies, wie das Town Meeting von Concord in Massachusetts schon im Oktober 1776 feststellte, „ein System von Prinzipien, das die Rechte und Freiheiten der Regierten gegen alle Übergriffe der Regierenden schützt“. Auf Anfrage aus mehreren Hauptstädten hin hatte der Kongress Mitte Mai 1776 empfohlen, jede Kolonie solle „solch ein Regierungssystem einrichten, das nach Meinung der Volksvertreter am besten geeignet ist, das Glück und die Sicherheit ihrer Wählerschaft im Besonderen und Amerikas im Allgemeinen zu gewährleisten“. New Hampshire und South Carolina waren dieser Empfehlung bereits zuvorgekommen und hatten im Januar bzw. März 1776 Verfassungen schriftlich niedergelegt, die ursprünglich als provisorisch angesehen wurden und nur bis zum Ende des Konflikts mit England in Kraft bleiben sollten. Zwischen Juni 1776 (Virginia) und Oktober 1780 (Massachusetts) gaben sich neun weitere Kolonien bzw. Staaten Verfassungen, wobei einige zwei oder sogar drei Anläufe benötigten, bevor die Dokumente in Kraft treten konnten. Connecticut und Rhode Island beschränkten sich darauf, ihre Charter-Urkunden aus dem 17. Jahrhundert von Erwähnungen des Königs und der Monarchie zu „reinigen“. Einen anderen Sonderfall stellte Vermont dar, dessen Bürger sich weder New York noch New Hampshire angliedern lassen wollten und die deshalb im Juli 1777 eine eigene, dem radikal-republikanischen Beispiel Pennsylvanias folgende Verfassung annahmen. Ihren Antrag, als 14. Staat der Union beizutreten, lehnte der Kongress jedoch vorerst ab. Obwohl den Siedlern die Unterscheidung zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht keineswegs fremd war, wichen die Prozeduren der Verfassungsgebung noch beträcht‐ lich voneinander ab. Einige revolutionäre Körperschaften schrieben ohne speziellen Wählerauftrag Verfassungen und setzten sie ebenso eigenmächtig in Kraft. Diese Praxis wurde aber in der Öffentlichkeit bald als unvereinbar mit dem Prinzip der Volkssou‐ veränität kritisiert. Pennsylvania berief deshalb einen speziellen Konvent ein, der sich auf die Ausarbeitung und Verabschiedung von Verfassung und Grundrechteerklärung beschränkte. In Massachusetts einigte man sich schließlich auf ein Verfahren, das in seinen Grundzügen zum Vorbild für die ganze spätere konstitutionelle Entwicklung wurde: Ein nur zu diesem Zweck gewählter Konvent arbeitete die Verfassung aus und legte sie den Bürgern zur Stellungnahme vor; rechtskräftig wurde sie erst nach der Ratifizierung durch das Volk in den Town Meetings. Auf diese Weise erhielt die Verfassung eine „höhere Weihe“ als das Gesetzesrecht und konnte nicht mehr eigenmächtig vom Parlament, sondern nur unter Mitwirkung des souveränen Volkes geändert werden. Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 52 <?page no="53"?> Inhaltlich stellten die neuen Verfassungen Kompromisse zwischen den beiden Flü‐ geln der patriotischen Bewegung dar: dem radikal-republikanischen, der besonderen Wert auf die Bürgerbeteiligung und die Kontrolle der Regierenden legte, und dem konservativ-aufklärerischen, der im Sinne von Montesquieus De l’esprit des lois die Regierungsgewalten und sozialen Kräfte sorgsam ausbalancieren wollte. Das radikale Konzept setzte sich am reinsten in Pennsylvania durch, das konservative in New York und - unter dem Einfluss von John Adams - in Massachusetts. In der Vielfalt der Formen und Verfahrensweisen, die diese ersten revolutionären Verfassungen kennzeichnet, überwogen aufs Ganze gesehen die innovativen gegenüber den tradi‐ tionellen Elementen. Zensusbestimmungen bestanden zwar weitgehend fort, wurden aber doch so sehr gelockert, dass sich die Repräsentation verbesserte, und zwar für die Bevölkerung im Allgemeinen wie für die Farmer des Hinterlands im Besonderen, deren Interessen bislang häufig von den Küstenbewohnern missachtet worden waren. Dieser Einflussgewinn der back country hatte u. a. zur Folge, dass viele Staaten innerhalb kurzer Zeit ihre Hauptstädte von der Küste ins Landesinnere verlegten. Im Schnitt waren jetzt 70-90 Prozent der erwachsenen weißen Männer wahlberechtigt, in New Jersey sogar auch unverheiratete und verwitwete Frauen, die über eigenen Besitz verfügten - eine Klausel, die 1807 zunächst wieder gestrichen wurde. Am untergeordneten rechtlichen Status der Frauen änderten die Verfassungen so gut wie nichts, obwohl sich viele Frauen aktiv an den revolutionären Demonstrationen und Boykotten beteiligt hatten. Abigail Adams’ Appell an ihren Mann John, bei der Verfassungsgebung „die Ladies nicht zu vergessen“, blieb ohne Echo. Reformer wie der Arzt Benjamin Rush in Philadelphia schrieben den Frauen als „republikanischen Müttern“ eine wichtige Funktion bei der politischen und moralischen Erziehung der Jugend zu. Rushs Pläne für ein verbessertes staatliches Schulwesen, das auch Mädchen Bildungschancen eröffnet hätte, fielen aber der Sparsamkeit oder dem Unverständnis der Verfassungs- und Gesetzgeber zum Opfer. Abgesehen von Pennsylvania und Georgia, die nach dem Prinzip des simple go‐ vernment das Einkammer-System einführten, behielten die Staaten Senate bei, die im konservativen Verständnis das Eigentum repräsentieren und dem Schutz der besitzenden Schichten dienen sollten. In der Praxis büßten diese Oberhäuser aber bald viel von ihrer Exklusivität ein, weil sich die meisten Senatoren - ungeachtet höherer Besitzqualifikationen und längerer Amtszeiten im Vergleich zu den Unterhau‐ sabgeordneten - weniger als Sprecher von Klasseninteressen denn als Vertreter der territorialen Einheiten verstanden, in denen sie gewählt wurden. Von Funktion und Arbeitsweise her näherten sich Senate und Unterhäuser deshalb recht schnell einander an. Aus der noch frischen Erinnerung an die Konflikte mit den königlichen Gouver‐ neuren und Richtern heraus wurden die Befugnisse von Exekutive und Judikative in der Regel stark eingeschränkt. Ins Zentrum des Regierungssystems (frame of government) rückte die Legislative, das Parlament, das häufig sowohl die Gouverneure als auch die Richter wählen konnte. Meist ordnete man den Gouverneuren noch einen 2 Unabhängigkeitserklärung und konstitutionelle Neuordnung 53 <?page no="54"?> Exekutivrat bei, der sie kontrollieren und Machtmissbrauch verhindern sollte. Nur New York und Massachusetts ließen die Gouverneure direkt vom Volk wählen und gaben ihnen das Recht, mit einem suspensiven Veto in die Gesetzgebung einzugreifen. Die Parlamentarier selbst unterlagen einer strengen Kontrolle durch ihre Wähler: Dafür sorgten der Grundsatz der jährlichen Wahlen (annual elections), die vielfach noch geübte Praxis des imperativen Mandats, die Ämterrotation sowie die Möglichkeit des Rückrufs von Abgeordneten während der Legislaturperiode. Die Judikative schließlich galt zwar noch nicht als „dritter Regierungszweig“, aber in einigen Staaten besaßen die Obersten Gerichte doch schon genügend Autorität, um in Form der judicial review über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu entscheiden. Die Diskussion über Grundrechte, natural and fundamental rights, war ein wesent‐ licher Teil dieser konstitutionellen Neuordnung. In einigen Staaten gingen die Verfas‐ sungsgeber von der Fortgeltung der alten Rechtsgarantien aus; in anderen formulierten sie separate Grundrechtskataloge und stellten sie als bills of rights oder declarations of rights neben das Organisationsstatut der Regierung, den frame of government; in Massachusetts schließlich fand John Adams 1780 eine wegweisende Lösung, indem er die Grundrechtsartikel als eigenständigen ersten Teil in die Verfassung integrierte. Obgleich die Rechteerklärungen an koloniale Traditionen anknüpften, brachten sie in zweierlei Hinsicht Neues: Zum einen galten die fundamentalen Rechte und Freiheiten nicht mehr länger als „rights of Englishmen“, sondern als von Gott verliehene „natürli‐ che Rechte“; zum anderen diente ihre schriftliche Fixierung über den konkreten Schutz vor staatlicher Willkür hinaus zur Begründung und Sinngebung des republikanischen Regierungssystems. Am deutlichsten kam dies in der Virginia Declaration of Rights zum Ausdruck, die der juristisch versierte Pflanzer George Mason formuliert hatte und die am 28. Juni 1776 vom Provinzialkongress angenommen worden war. Ihre 16 Artikel füllten schon vor der Unabhängigkeitserklärung die Begriffe „limited government“ und „inalienable rights“ mit Inhalt. Zu der Locke’schen Trias von Leben, Freiheit und Eigentum traten der Schutz vor Durchsuchung oder Verhaftung ohne richterli‐ chen Befehl, das Verbot von Folter und grausamen Strafen sowie der Anspruch des Angeklagten auf einen raschen Prozess und ein Geschworenengericht aus seiner Nach‐ barschaft; als spezielle republikanische Freiheiten wurden aufgeführt das Wahlrecht und das Widerstandsrecht, die Pressefreiheit und die unbehinderte Religionsausübung gemäß der Gewissensentscheidung des einzelnen Bürgers. Hinzu kam die Garantie des Milizsystems, das die Revolutionäre - ganz im Sinne der Country-Parole „No standing army! “ - der europäisch-monarchischen Militärtradition entgegenstellten. Diese Rechte und Freiheiten fanden eine wichtige Ergänzung in der Verpflichtung der Bürger zu Gerechtigkeit, Mäßigung, Sparsamkeit, Fleiß und christlicher Nächstenliebe. Hinter den einzelnen Bestimmungen wurde eine republikanische Utopie sichtbar: das Bild des sittenstrengen, sich selbst regierenden Volkes; eines Staatswesens, das ganz auf die Zustimmung seiner Bürger gründet, von denen Tugend (virtue) im klassischen Sinne erwartet wird, d. h. Tatkraft, Rechtschaffenheit und aufopfernde Hingabe an das Gemeinwohl. Aus dieser Perspektive galten die Regierenden nicht länger als Herrscher Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 54 <?page no="55"?> (rulers), sondern waren auf Zeit berufene Treuhänder (trustees) des Volkes. Alle gemeinsam unterstanden dem Recht, das in der Verfassung seine erhabenste Gestalt annahm. Mit dieser Sammlung von Fundamentalsätzen leitete die Virginia Declaration of Rights eine neue Epoche der Verfassungsentwicklung ein, die über die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und die konstitutionellen Kämpfe des 19. Jahrhunderts bis zur Charta der Vereinten Nationen und den verschiedenen Menschenrechtskonventionen des vergangenen und unseres Jahrhunderts reicht. Die amerikanischen Einzelstaaten verwirklichten damit erstmals - auf der Grundlage des englischen Erbes und der kolonialen Erfahrungen - das Modell einer Zivilgesellschaft (civil society), das keine Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft kennt, sondern Politik als Konsequenz des Mehrheitswillens und der öffentlichen Meinung (public opinion) definiert. Der eklatante Widerspruch, der sich zwischen dem in den meisten Verfassungen verankerten Gleichheitspostulat und der Fortdauer des Sklavereisystems auftat, blieb den Zeitgenossen keineswegs verborgen, sondern wurde - zumindest von Maine bis Virginia - Teil der Revolutionsdebatte. Aus mehreren Richtungen geriet die Sklaverei während dieser Zeit unter starken Druck: Die Quäker rangen sich endlich zu einer dezidiert sklavereifeindlichen Haltung durch, und sie erhielten zunehmend Unterstützung von anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere den Baptisten und Methodisten, die im Verlauf des Great Awakening sowohl im Norden als auch im Süden viele Anhänger gewonnen hatten; das Gedankengut der Aufklärung, das die Kolonien von Europa aus erfasste, wirkte zunächst auf eine „Humanisierung“ der Sklaverei, dann aber immer stärker auf ihre Überwindung hin; die republikanische Ideologie, die das Denken und Handeln der radikalen Patrioten bestimmte, war nur schwer mit der permanenten Entrechtung eines Bevölkerungsteils zu vereinbaren, und sie mobilisierte auch viele freie Schwarze und sogar Sklaven, die sich mit Petitionen an die Kolonial- und Staatenparlamente wandten; und schließlich kritisierte auch der liberale Ökonom Adam Smith in seinem 1776 veröffentlichten Werk The Wealth of Nations das Sklaver‐ eisystem als Verstoß gegen die ehernen Gesetze der Wirtschaft und als ineffizient im Vergleich zu „freier“ Arbeit. 1774 bezog der Kontinentalkongress Sklaven in den Boykott englischer Importe ein, und der Krieg unterbrach vollends die Sklaveneinfuhr aus Afrika und der Karibik. Nach der Unabhängigkeitserklärung entstanden in den meisten Staaten nördlich der Chesapeake Bay Antisklaverei-Gesellschaften, die häufig von Quäkern geführt oder beeinflusst wurden und die noch während des Krieges Kontakt zu der beginnenden Abolitionismus-Bewegung in England aufnahmen. Im Krieg selbst stellten die Engländer ebenso wie die Patrioten (mit Ausnahme der Plantagenbesitzer in den Carolinas und Georgia) denjenigen Afroamerikanern die Freiheit in Aussicht, die sich ihnen anschlossen und Militärdienst leisteten. Dieser starke Antisklaverei-Impuls leitete das Ende der peculiar institution im Norden ein, aber er erschütterte sie auch in Virginia und Maryland, deren Pflanzer ohnehin seit geraumer Zeit nach Alternativen zur Tabak-Monokultur suchten. Einige Neuengland-Staaten wie Massachusetts, Connecticut und Vermont (das der Union 2 Unabhängigkeitserklärung und konstitutionelle Neuordnung 55 <?page no="56"?> offiziell erst 1791 beitrat) hoben die Sklaverei per Verfassung, durch Gesetze oder auf dem Weg über Gerichtsurteile umgehend auf. Das Oberste Gericht von Massachusetts stützte sich in einer entsprechenden Entscheidung von 1783 (Quock Walker Case) explizit auf die Grundrechteerklärung in der Staatsverfassung, die den Satz „all men are created equal“ enthielt. Die weiterhin ambivalente Haltung der weißen Bevölkerung kam darin zum Ausdruck, dass den freien Schwarzen einerseits zwar gleiche Rechte einschließlich des Wahlrechts gewährt wurden, dass das Parlament von Massachusetts andererseits aber Ehen von Weißen mit Schwarzen, Mischlingen und Indianern verbot. Die meisten Nord- und Mittelstaaten folgten dagegen dem Beispiel Pennsylvanias, dessen Parlament 1780 die „graduelle“ Sklavenbefreiung beschloss. Die entsprechenden Gesetze legten fest, dass alle Kinder von Sklaven, die nach einem bestimmten Datum geboren wurden, ihre Freiheit erhielten, den Besitzern aber noch bis zur Volljährig‐ keit unentgeltlich dienen mussten. Gekoppelt mit einem Einfuhrverbot von Sklaven bedeutete dies das allmähliche „Absterben“ der Sklaverei im Norden der USA, auch wenn 1810 immer noch 30.000 Sklaven nördlich der Mason and Dixon Line lebten, die seit den 1760er Jahren die Grenze zwischen Pennsylvania und Maryland und damit zwischen Norden und Süden markierte. In Maryland, Delaware und Virginia, wo die Mehrzahl der Afroamerikaner lebte, ließ sich selbst eine graduelle Emanzipation nicht durchsetzen, aber die Kritik an der Sklaverei und ökonomische Überlegungen führten doch immerhin dazu, dass die Freilassung von Sklaven erleichtert wurde. Die Folge war ein rasches Anwachsen der freien schwarzen Bevölkerung im Upper South, etwa in Virginia von 1800 im Jahr 1782 auf über 30.000 im Jahr 1810. Weiter südlich leisteten die Plantagenbesitzer jedoch nicht nur erbitterten Widerstand gegen jeden Versuch, die Sklaverei in Frage zu stellen, sondern nahmen sofort nach dem Friedensschluss von 1783 im großen Stil die Sklaveneinfuhr wieder auf, um die während des Krieges durch Flucht und Tod erlittenen Verluste auszugleichen. Wie schon die Petitionen von freien Schwarzen und Sklaven an die Parlamente der Einzelstaaten zeigten, ließen die Afroamerikaner die Revolution keineswegs passiv über sich ergehen, sondern versuchten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. In dieser Phase erwuchs der schwarzen Bevölkerung eine erste Generation von Führungspersönlichkeiten, Männer und Frauen, die meist schon seit längerer Zeit in Freiheit lebten und durch die religiöse Aufbruchstimmung des Great Awakening beeinflusst worden waren. Zu ihnen gehörten gebildete Afroamerikaner wie Phillis Wheatley, die sich in Boston als Schriftstellerin betätigte, oder Benjamin Banneker, ein Mathematiker und Astronom aus Maryland, der in die wissenschaftliche Elite Philadelphias aufgenommen worden war; aber auch einfache Leute wie Prince Hall, der die Schwarzen in Boston mit Reden, Pamphleten und Petitionskampagnen mobilisierte, und Richard Allen, der seit 1780 als methodistischer Wanderprediger durchs Land zog und wenig später in Philadelphia die erste autonome schwarze Baptisten-Kirche gründete. Solche Initiativen wurden von vielen Afroamerikanern nicht nur als Zeichen einer „geistigen Wiedergeburt“ verstanden, sondern bildeten auch den Auftakt zur Entstehung zahlreicher schwarzer Selbsthilfeorganisationen, die Bildungs- und Sozi‐ Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 56 <?page no="57"?> alaufgaben übernahmen. Von nun an fungierten die Sprecher der freien Schwarzen in den Nord- und Mittelstaaten als „Gewissen der Nation“, weil sie sich in ihrem Kampf gegen die Sklaverei stets auf die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung berufen konnten. Den vorläufigen Abschluss der revolutionären Umwälzung in Amerika bildete die erste Unionsverfassung, die Articles of Confederation, die der nun in Permanenz tagende Kontinentalkongress am 15. November 1777 mitten im Krieg verabschiedete. Sie atmeten ganz den Geist der republikanischen Country-Ideologie mit ihrem Macht‐ misstrauen und ihrer Vorliebe für „einfache“, dezentrale Regierungsstrukturen. In den Kongressdebatten wurde auch häufig auf Montesquieu Bezug genommen, der in De l’esprit des lois gewarnt hatte, dass Republiken ihren freiheitlich-egalitären Charakter einbüßen würden, wenn sie sich einer starken Zentralgewalt unterordneten. Ideal sei dagegen der Zusammenschluss mehrerer kleiner Republiken zu einer lockeren Konföderation, die nach Art der Schweizer Eidgenossenschaft für eine Vertretung der gemeinsamen Interessen nach außen sorge. Dementsprechend schlossen die dreizehn amerikanischen Staaten unter dem Namen „The United States of America“ einen „festen Freundschaftsbund“, in dem jedes einzelne Mitglied souverän blieb und das kollektive Organ, der Konföderationskongress, nur die ihm ausdrücklich übertragenen Befugnisse ausüben durfte. Im Kongress, der aus jährlich von den Staatenparlamenten gewählten Vertretern gebildet wurde, besaß jeder Staat - unabhängig von seiner Größe und Einwohnerzahl - nur eine Stimme. Die Delegierten durften gemäß der republikanischen rotation in office-Maxime in einem Zeitraum von sechs Jahren maximal drei Jahre Dienst tun. Aus ihrer Mitte wählten sie einen Präsidenten, der aber lediglich repräsentative Funktionen zu erfüllen hatte und dessen Amtsperiode auf ein Jahr beschränkt war. Die Arbeit wurde vorwiegend in Komitees geleistet, von denen sich einige in Richtung von Exekutivbehörden wie Außen- und Kriegsdepartment entwickelten. Die Articles of Confederation gaben dem Kongress das Recht, über Krieg und Frieden zu entscheiden, ein Heer und eine Flotte aufzustellen und einen Oberbefehlshaber für die Streitkräfte zu ernennen; ferner durfte der Kongress Verträge mit auswärti‐ gen Mächten schließen, Gesandte entsenden und empfangen, Kredite und Anleihen aufnehmen sowie Münzen prägen und Papiergeld emittieren. Schließlich sollte er Grenzstreitigkeiten der Staaten schlichten, für Seerechtsfragen zuständige Gerichte etablieren und den Postdienst der Union regeln. Andererseits hatte der Kongress keine Gesetzgebungsbefugnis, sondern konnte nur Resolutionen (Ordinances) verabschieden, und durfte weder Steuern noch Zölle erheben. Der Finanzbedarf der Union sollte durch ein Umlage- oder Matrikularverfahren gedeckt werden, bei dem der Kongress die jährlich benötigte Gesamtsumme festsetzte und die Staaten ihren jeweiligen Anteil, der sich nach dem geschätzten Wert des kultivierten Landes bemaß, in die gemein‐ same Kasse einzahlten. Wichtige Entscheidungen mussten mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden, und Änderungen der Articles bedurften der Zustimmung sämtlicher Einzelstaatenlegislativen. Offiziell trat diese Konföderationsverfassung erst am 1. März 2 Unabhängigkeitserklärung und konstitutionelle Neuordnung 57 <?page no="58"?> 1781 in Kraft, nachdem die „landreichen“ Staaten, deren koloniale Charterrechte bis weit nach Westen reichten, die hauptsächlich von Maryland verfochtene Forderung erfüllt hatten, die Gebiete zwischen Appalachen und Mississippi in den Gemeinschafts‐ besitz der Union zu überführen. 3 Unabhängigkeitskrieg, Bündnisdiplomatie und Pariser Friedensschluss, 1775 - 1783 Mit den Staatenverfassungen und den Articles of Confederation schufen sich die Amerikaner ein konstitutionelles Gerüst, das in mancher Hinsicht experimentell und provisorisch war, das aber dennoch den schweren Belastungen des Krieges gegen England standhielt. Nach dem amerikanischen Fiasko im Feldzug gegen Kanada Ende 1775 war die Initiative an die Briten übergegangen. In London glaubte man zunächst, der Lage in den Kolonien mit einer Seeblockade und begrenzten Polizeiaktionen Herr werden zu können. Das änderte sich, als die britischen Truppen im März 1776 unter dem Druck der amerikanischen Belagerer Boston räumen und nach Neuschottland zurückweichen mussten. Nun bereitete sich die stärkste Militärmacht der Welt auf ei‐ nen regulären Krieg vor, u. a. durch die Anwerbung von Söldnern in deutschen Staaten, was die Amerikaner als besonders üblen Affront empfanden. Mangelnde Konsequenz und Weitsicht, die schon die Politik von Regierung und Parlament hatten unwirksam werden lassen, behinderten aber von Anfang an auch die britische Kriegführung. Nacheinander verfolgten die Briten drei unterschiedliche strategische Konzepte, die jeweils nach Anfangserfolgen in Fehlschlägen endeten. In der ersten Phase zielten die englischen Befehlshaber General William Howe und sein Bruder, Admiral Richard Howe, darauf ab, Neuengland vom Rest der Kolonien zu isolieren und Washingtons „Rebellenarmee“ zu zerschlagen. Bis Ende August 1776 landeten sie ca. 32.000 Mann auf dem New York vorgelagerten Staten Island, darunter 8000 Deutsche (die von den Amerikanern „Hessians“ genannt wurden, obwohl keines‐ wegs alle aus den hessischen Territorien kamen). Bei den Kämpfen auf Long Island und Manhattan erwiesen sich die professionellen britischen Soldaten den Milizionären und schlecht ausgebildeten Kontinentaltruppen, die ihnen den Weg versperren wollten, als eindeutig überlegen. Während des Vormarsches nach Philadelphia versäumte General Howe jedoch, Washingtons Armee, die auf 3000 Mann zusammengeschmolzen war, zur Entscheidungsschlacht zu stellen. Ganz im Gegenteil gelang es Washington Ende Dezember nach der riskanten Überquerung des Delaware River durch Teilerfolge bei Trenton und Princeton in New Jersey, die Moral seiner Truppen wieder zu heben. Die Lage blieb aber prekär, und die Unfähigkeit der meisten Staaten, ihre vorgesehene Quote an Soldaten zu erfüllen, nötigte Washington und den Kongress ab 1777, freie Schwarze und dann auch Sklaven (mit dem Versprechen der Freilassung) für die Kontinentalarmee zu rekrutieren. Zum Teil handelte es sich dabei um eine Antwort auf den erfolgreichen Versuch britischer Gouverneure und Befehlshaber, Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 58 <?page no="59"?> Sklaven zur Flucht und zum bewaffneten Widerstand gegen ihre Herren aufzuwiegeln. Insgesamt kämpften etwa 5000 Afroamerikaner auf Seiten der Patrioten, teilweise in eigenen Einheiten unter der Führung weißer Offiziere (dafür entschieden sich Rhode Island und Connecticut), teilweise in gemischten Verbänden. Im Süden rang sich allerdings nur Maryland zur Rekrutierung von Schwarzen durch, während Virginia lediglich Ausnahmen zuließ und das Parlament von South Carolina die vorgeschlagene Bewaffnung von 3000 bis 5000 Sklaven entschieden ablehnte. Der zweite britische Kriegsplan sah vor, die Kolonien durch einen Zangenangriff von der Chesapeake-Bucht und aus Kanada durch das Hudson-Tal zu teilen. General Howe konnte zwar im August 1777 Philadelphia erobern, aber die Koordinierung der militärischen Aktionen misslang, und die von General John Burgoyne entlang des Hudson nach Süden geführte Streitmacht wurde bei Saratoga von den Amerikanern unter General Horatio Gates aufgehalten und in zwei Schlachten dezimiert. Am 16. Ok‐ tober musste Burgoyne kapitulieren, und 6000 Mann, darunter viele Deutsche und Indianer, gerieten in Gefangenschaft. Diese Schlacht markierte einen Wendepunkt des Krieges, denn die französische Regierung, die den Amerikanern bereits seit Frühjahr 1776 insgeheim materielle Unterstützung gewährt hatte, hielt es nun für geboten, offen an die Seite der Vereinigten Staaten zu treten. Im Februar 1778 erkannte sie die USA diplomatisch an und schloss in Paris mit Benjamin Franklin ein Militärbündnis sowie einen Freundschafts- und Handelsvertrag ab. In der Hoffnung, Revanche für die Niederlage im Siebenjährigen Krieg nehmen zu können, weiteten Außenminister Vergennes und König Ludwig XVI. den britisch-amerikanischen Streit zu einer neuen Kraftprobe der Großmächte aus. Ab Juni 1778 befand sich Frankreich im Kriegszustand mit England, und im folgenden Jahr schlossen sich auch Spanier und Niederländer der anti-britischen Koalition an. Mit französischer und niederländischer Finanz- und Waffenhilfe konnten die Amerikaner den Tiefpunkt des Krieges überwinden und ihre Lage erst einmal stabilisieren. Im Sommer 1778 gaben die Briten Philadelphia auf und gingen im Norden, gestützt auf ihre Bastion New York City, zur Defensive über. In der nun beginnenden dritten Phase verlagerten sie den Schwerpunkt ihrer Aktionen auf den Süden, wo General Sir Henry Clinton nach der Landung in Georgia über Charleston nach Virginia vorstieß. Sein Nachfolger Lord Cornwallis konnte das Ziel dieser Strategie, die militärisch schwächeren und durch die Sklaverei zusätzlich verwundbaren Südstaaten aus der Union herauszubrechen, jedoch nicht erreichen. Vielmehr versteifte sich der amerika‐ nische Widerstand, weil der neue Befehlshaber im Süden, General Nathaniel Greene, zu einer flexibleren Taktik überging und weil die Franzosen im Sommer 1780 eine 5500 Mann starke Armee nach Neuengland schickten, wodurch das Kräfteverhältnis generell verschoben wurde. Im Sommer 1781 konzentrierte Cornwallis seine Truppen in Virginia und befestigte den Ort Yorktown am Ausgang der Chesapeake-Bucht. Damit tappte er allerdings in eine Falle, die bis Ende September durch virginische Milizen, durch die französische und die amerikanische Armee - von Graf Rochambeau und Washington aus dem Norden herbeigeführt - und durch eine starke französische Flotte 3 Unabhängigkeitskrieg, Bündnisdiplomatie und Pariser Friedensschluss, 1775 - 1783 59 <?page no="60"?> unter Admiral Grasse geschlossen wurde. Ohne Aussicht auf rechtzeitigen Entsatz musste Cornwallis am 19. Oktober 1781 mit den verbliebenen fast 10.000 Soldaten und Offizieren kapitulieren. Diese demütigende Niederlage brach - sehr zur Enttäuschung des Königs - den Willen von Regierung und Parlament, den Krieg, der im eigenen Volk zunehmend unpopulär geworden war und das Land diplomatisch isoliert hatte, weiter zu verfolgen. Abb. 5: Die Kapitulation von Lord Cornwallis am 19. Oktober 1781 in Yorktown, Virginia In Amerika war der Kampf um die Unabhängigkeit von Beginn an gleichzeitig als konventioneller und als revolutionärer Krieg geführt worden. Ein wichtiger Grund für den Erfolg der Patrioten ist sicher darin zu suchen, dass sie es lernten, beide Kampfesarten zu beherrschen und miteinander zu verbinden. Die Kontinentalarmee, umsichtig geführt von George Washington und nach preußischer Manier gedrillt vom Baron Friedrich Wilhelm von Steuben, blieb unverzichtbar als Symbol der Einheit und Sammelpunkt der patriotischen Kräfte. Washington, zur Zeit der Unabhängigkeits‐ erklärung 44 Jahre alt, war kein militärisches Genie, aber er verstand es, sich mit fähigen Beratern wie Steuben, Alexander Hamilton und dem auf eigene Faust aus Frankreich gekommenen Marquis de Lafayette zu umgeben. Noch tiefer als die meisten anderen Repräsentanten der virginischen Pflanzerelite von dem Country-Ideal des patriotischen Volksführers durchdrungen, strahlte Washington natürliche Autorität aus und übertrug seine Willensstärke und sein Pflichtbewusstsein auf die Menschen in seiner Umgebung. Er glaubte fest daran, dass er von der „Vorsehung“ berufen sei, die amerikanische Freiheit zu verteidigen, und er verknüpfte sein eigenes Schicksal untrennbar mit der „glorious cause“ der Revolution. Die Stärke von Washingtons Armee überstieg selten 18.000 Mann, und sie sank in den harten Winterlagern von Valley Forge nördlich von Philadelphia (1777 / 78) und Morristown, New Jersey (1779 / 80) unter 5000 ab. Angesichts der zahlenmäßigen und materiellen Unterlegenheit hatte Washington kaum eine andere Wahl, als die „Fabius“-Strategie zu verfolgen, mit der er Entscheidungsschlachten auswich und nur gelegentliche Vorstöße wagte. Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 60 <?page no="61"?> Die Briten hatten nicht ohne Grund auf die Unterstützung ihrer Truppen durch Loyalisten, Sklaven und Indianer gehofft. Schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung war loyalistisch gesinnt, und ein weiteres Drittel verhielt sich ängstlich abwartend bzw. bezog aus religiösen Gründen keine Stellung (hierzu zählten viele Quäker und deutsche Pietisten). Als die Howe-Brüder 1776 in New Jersey eine „Befriedungspolitik“ versuch‐ ten und den Bürgern anboten, durch einen Treueid auf die Krone der Bestrafung zu entgehen, meldeten sich innerhalb kurzer Zeit nicht weniger als 5000 reumütige Untertanen. Während des gesamten Krieges kämpften über 20.000 Loyalisten als reguläre Soldaten und viele andere, speziell in dem von Iro-Schotten besiedelten Hinterland der Südstaaten, in loyalistischen Milizen. Obwohl sich die Militärs hüteten, die Indianerstämme an der Frontier zu einem allgemeinen Aufstand gegen die Siedler anzustacheln, waren doch an allen britischen Offensiven indianische Hilfstruppen beteiligt. Im Süden gingen zudem Tausende von Sklaven zu den Briten über, die sie durch das Versprechen der Freiheit zur Flucht ermunterten. Als die englischen Truppen bei Kriegsende Savannah, Charleston und New York City räumten, folgten ihnen zwischen 15.000 und 20.000 Afroamerikaner. Einige dieser Flüchtlinge wurden nach Florida oder Jamaica gebracht (wo sie in Gefahr waren, wieder versklavt zu werden), andere gelangten nach Neuschottland vor der Küste von Britisch-Kanada. Von dort transportierten die Briten in den 1790er Jahren 1100 Schwarze auf eigenen Wunsch nach Afrika in das Gebiet des heutigen Sierra Leone zurück, wo sie die Stadt Freetown gründeten. Während die amerikanischen, französischen und britischen Armeen den Kampf nach den klassischen Regeln von Bewegung, Belagerung und Feldschlacht führten, versan‐ ken weite Teile des Landes im Bürgerkrieg oder erlebten zumindest bürgerkriegsähn‐ liche Zustände. Briten und Patrioten kämpften nicht nur gegeneinander, sondern stets auch um die Gunst und Kontrolle der lokalen Bevölkerung. Je länger der Krieg dauerte, desto weniger konnten die Briten die ihnen treu ergebenen Amerikaner schützen, und desto mehr ging ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung verloren. Die Ausweitung der kolonialen Revolte zu einer breiten, aggressiven Volksbewegung kündigte bereits vor Yorktown die englische Niederlage an und ließ nach 1781 weitere militärische Anstrengungen vollends aussichtslos erscheinen. Zu dieser Einsicht gelangte auch George III., obwohl er lange Zeit eine Art Domino-Theorie verfochten hatte, derzufolge die amerikanische Unabhängigkeit zwangsläufig den Verlust Kanadas, der karibischen Besitzungen und sogar Irlands nach sich ziehen würde. In vieler Hinsicht nahmen die Briten also bittere Erfahrungen vorweg, die Kolonialmächte im Kampf gegen nationale Befreiungsbewegungen später immer wieder sammeln sollten. Aber auch die Amerikaner zahlten mit ca. 25.000 Toten einen hohen Preis für die Trennung vom Mutterland. Von allen Kriegen, an denen die USA bis heute beteiligt waren, forderte nur der Bürgerkrieg, gemessen an der Gesamtbevölkerung, mehr Opfer als der Unabhängigkeitskrieg. Im April 1782 begannen in Paris Friedensverhandlungen, an denen für die Ver‐ einigten Staaten Benjamin Franklin, John Adams und John Jay teilnahmen. Hinter 3 Unabhängigkeitskrieg, Bündnisdiplomatie und Pariser Friedensschluss, 1775 - 1783 61 <?page no="62"?> den Kulissen ergab sich bald Einvernehmen zwischen den Amerikanern, die ihre Unabhängigkeit so schnell wie möglich völkerrechtlich bestätigt sehen wollten, und den Briten, die fürchteten, Franzosen und Spanier könnten lange Verzögerungen zu weiteren Gebietsgewinnen auf Kosten Englands nutzen. Im Frieden von Paris, der schließlich am 3. September 1783 unterzeichnet wurde, erreichten Franklin und seine Kollegen durch geschicktes Taktieren nahezu ihre Maximalziele: England erkannte die amerikanische Unabhängigkeit formell an, trat das gesamte Territorium zwischen den Appalachen und dem Mississippi an die Vereinigten Staaten ab und räumte den Amerikanern Fischfangrechte vor Neufundland und Neuschottland ein. Kanada nördlich der Großen Seen blieb britisch, wobei die Grenzen allerdings noch nicht unzweideutig definiert wurden. Der gleichzeitige Friedensschluss zwischen den euro‐ päischen Mächten brachte keine wesentlichen Veränderungen, abgesehen von der Tatsache, dass England Florida an Spanien zurückgeben musste. Die Amerikaner begrüßten dies mit Blick auf die Zukunft, weil sie davon ausgingen, dass Spanien die schwächere der beiden Kolonialmächte sei. Das aus amerikanischer Sicht wichtigste Ergebnis war natürlich - abgesehen von der Unabhängigkeit selbst - die Öffnung der riesigen Westgebiete, die bislang noch von zahlreichen Indianerstämmen bewohnt waren, in die nun aber bereits Siedler zu strömen begannen. 4 Die „kritische Periode“, 1783 - 1787 / 88 Aus der Sicht vieler Patrioten stellten Revolution und Unabhängigkeit die Fortsetzung der Selbstbefreiung des Menschen aus politischer und religiöser Unmündigkeit dar, die mit der Reformation begonnen hatte. Die Begeisterung, die der militärische Triumph und der günstige Friedensschluss in Amerika auslösten, konnte die Fülle und Tragweite der anstehenden Probleme aber nur kurzfristig überdecken. Das Grundbefinden der 1780er Jahre, die der Historiker John Fiske hundert Jahre später als die „kritische Periode“ der amerikanischen Geschichte bezeichnete, war zwiespältig: Einerseits beflügelten republikanisches Selbstbewusstsein, puritanischer Auserwähltheitsglaube und die Vision eines künftigen American Empire den Tatendrang; andererseits wirkte die Furcht vor dem Abgleiten der Revolution in Anarchie eher lähmend, und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die das Ausscheiden aus dem Empire-Verband und die Kriegsschäden mit sich brachten, schränkten den Handlungsspielraum ein. Die Aufgabe, das Erreichte zu sichern und Stabilität und Wohlstand unter den neuen Bedingungen dauerhaft zu gewährleisten, erwies sich als fast ebenso schwierig wie der Kampf um die Unabhängigkeit. Niemand sah das klarer voraus als George Wa‐ shington, den einige Offiziere in der Endphase des Krieges, als der Kongress seine Soldversprechungen nicht einlösen konnte, wohl gern als Diktator auf den Schild gehoben hätten. Washington ließ sich jedoch nicht anfechten und gab den Oberbefehl im Dezember 1783 in Annapolis, Maryland ordnungsgemäß an den Kongress zurück. Zuvor richtete er allerdings ein Rundschreiben an die Staatenregierungen, in dem er Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 62 <?page no="63"?> seine Landsleute aufforderte, ihre gegenseitigen Vorurteile zu überwinden und die Union zu einem unauflöslichen Staatswesen mit einheitlicher Führung auszubauen. Als Privatmann warb er von seinem Landsitz Mount Vernon weiter im Sinne dieses politischen Vermächtnisses dafür, die Zusammenarbeit zu vertiefen und die nationale Integration voranzubringen. Das generelle Meinungsklima war solchen Gedanken zunächst aber alles andere als günstig. Egalitäre Tendenzen und Krise der Autorität Die amerikanischen Revolutionäre brauchten keine fest gefügte ständische Gesell‐ schaftsordnung mit erblichen Vorrechten und Adelstiteln umzustürzen. Dennoch hatte der Unabhängigkeitskrieg über die bloße Abtrennung vom Mutterland hinaus auch eine auf innere Veränderungen gerichtete soziale Dynamik erzeugt. Der Zwang zur Entscheidung für oder gegen bewaffneten Widerstand sprengte die koloniale Ober‐ schicht, deren Repräsentanten bis in die 1770er Jahre hinein fast überall das politische Geschick der Kolonien bestimmt hatten, und katapultierte „Emporkömmlinge“ in eine sich neu konstituierende republikanische Elite. Zusammen mit den königlichen Gouverneuren, Offizieren und Beamten wurden im Verlauf des Krieges nicht weniger als 80-100.000 Loyalisten aus den dreizehn Staaten vertrieben bzw. verließen Amerika freiwillig in Richtung England oder Kanada. Gemessen an der Gesamtbevölkerung bedeutete das einen größeren Aderlass, als ihn Frankreich im darauf folgenden Jahrzehnt mit der Hinrichtung und Flucht von „Konterrevolutionären“ erlebte. Die Loyalisten rekrutierten sich zwar aus allen Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen, aber Besitzende und Gebildete waren proportional am stärksten vertreten. Wer das Land verließ, musste damit rechnen, dass sein Eigentum konfisziert und zu Gunsten der Staatskasse versteigert wurde. Obgleich solche Zwangsenteignungen die Ausnahme blieben und nach Kriegsende z. T. rückgängig gemacht wurden, verhalfen sie doch etlichen Patrioten zu raschem Reichtum und einer steilen Karriere. Insgesamt ist davon auszugehen, dass in dem Jahrzehnt von 1774 bis 1783 über 70 Prozent der kolonialen Amtsinhaber ihre Stellung verloren und etwa die Hälfte der Oberschicht ausgetauscht wurde. Dass dies nicht ohne Folgen für die gesellschaftliche Stabilität der jungen amerikanischen Staaten bleiben konnte, liegt auf der Hand. Die Veränderungen beschränkten sich aber nicht auf die Umschichtung von Besitz‐ verhältnissen innerhalb der Elite. Bewusstseins- und mentalitätsmäßig zertrümmerte die Revolution das auch in Amerika noch durchaus wirksame monarchisch-ständische Weltbild und stellte die Hierarchien und Statuszuweisungen der deferential society in Frage. Die massenhafte Teilnahme am politischen Prozess, die Entstehung einer „öffentlichen Meinung“ und der Abbau sozialer Schranken durch das Kriegserlebnis lösten eine generelle Autoritätskrise aus, die sich in der Politik der 1780er Jahre erst richtig bemerkbar machte und die bis in die Familienbeziehungen hineinwirkte. Die ra‐ dikal-republikanische Komponente der Country-Ideologie unterstützte den Anspruch des common man, in allen wichtigen Dingen mitreden und mitentscheiden zu dürfen. 4 Die „kritische Periode“, 1783 - 1787 / 88 63 <?page no="64"?> Vermögen und Bildung galten nicht mehr als unerlässliche Voraussetzung für ein politisches Amt, sondern die Fähigkeit zum Regieren wurde jedermann zugebilligt, der sich für das „größte Glück der größten Zahl von Menschen“ einsetzte - eine Formel, die von den schottischen Aufklärern um Adam Ferguson und Francis Hutcheson als Maßstab für „good government“ proklamiert worden war. „Einfache Leute“ erschienen sogar als bessere Repräsentanten des Volkes, weil sie am ehesten mit den Sorgen und Wünschen der Bürger vertraut waren. Dass solche Einstellungen praktische Folgen zeitigten, erkennt man sehr gut an der Zusammensetzung der Staatenparlamente, in denen nun - mit regionalen Unterschieden - doppelt bis dreimal so viele einfache Farmer und Handwerker vertreten waren wie in den vorrevolutionären Assemblies. Hier trugen nun erstmals parteiähnliche Fraktionen ganz offen Interessenkonflikte aus, die zur Kolonialzeit in exklusiven Zirkeln geregelt worden wären und die man im Krieg der Solidarität der Patrioten untergeordnet hatte. So entbrannte in den Legislativen nach der Tilgung der letzten Reste des feudalen Erbrechts der Streit um eine ausgewogene Verteilung der Steuerlasten, um die Vor- oder Nachteile von Papier‐ geld sowie um die Beseitigung wirtschaftlicher Monopole und religiöser Privilegien. Diese egalitäre Tendenz wurde in Wahlreden, Zeitungen und Pamphleten von heftigen rhetorischen Attacken auf noch bestehende oder vermeintliche Vorrechte begleitet. Viele Argumente, die gegen britische „Tyrannei“ und „Versklavung“ vorgebracht worden waren, dienten nun dazu, die soziale Kontrolle der einheimischen Elite weiter zu schwächen. Die revolutionäre Dynamik begann also die gesamte politische Kultur zu transformieren, was die einen als demokratische Verheißung, andere hingegen als Auflösung der gesellschaftlichen Bande interpretierten. Thomas Paines Aufruf, die „Welt neu zu beginnen“, konnte den Amtsinhabern und Parlamentariern nicht als praktische Handlungsanleitung dienen. Auch historisch gab es keinen brauchbaren Präzedenzfall, denn seit Oliver Cromwells gescheitertem Commonwealth im 17. Jahrhundert hatte niemand bewusst ein neues Regierungs‐ system konstruiert. Nach 1784 breitete sich in der revolutionären Führungsschicht allmählich die Überzeugung aus, dass die idealistisch-nostalgischen Vorstellungen, mit denen man den Kampf gegen das Mutterland geführt hatte, den Anforderungen der Unabhängigkeit nicht oder nur teilweise entsprachen. Der starre Antizentralismus der republikanischen Country-Ideologie, der schon im Krieg Koordinierungsprobleme geschaffen hatte, ihr extremes Machtmisstrauen, das eher zur Opposition als zum konstruktiven Regieren befähigte, und die von ihr erzeugte moralische Aversion gegen Handel und Kommerz erschwerten die notwendige Anpassung an die neuen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Die radikalen Patrioten und ihre auf‐ klärerischen Freunde und Bewunderer in Europa hofften, die amerikanischen Staaten würden den Beweis erbringen, dass es eine freiheitliche Alternative zur absoluten Monarchie und zum britischen Empire-Modell gab. In gemäßigteren Kreisen war man jedoch skeptisch, denn konföderative Republiken wie die Schweiz oder die Vereinigten Niederlande galten - im Vergleich zu den „modernen“ zentralisierten Nationalstaaten England und Frankreich - als antiquiert und kaum entwicklungsfähig. Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 64 <?page no="65"?> Noch weniger schien eine Rückkehr zu den Verhältnissen der römischen Republik oder gar zur strengen Genügsamkeit Spartas möglich. Konservative Beobachter hielten es schlichtweg für illusorisch, ein Gemeinwesen auf die freiwillige Zustimmung und die moralischen Tugenden seiner Bürger zu gründen anstatt auf patriarchalische Autorität, Zwang und klare Herrschaftsverhältnisse. Das Geschehen in den ersten Jahren der Unabhängigkeit schien diese Skeptiker und Gegner zu bestätigen, die den Vereinigten Staaten keine lange Überlebensdauer vorhersagten. Im Innern geriet das „amerikanische Experiment“ von zwei Seiten unter Druck: Zum einen erwies sich der Konföderationskongress als unfähig, die ihm gestellten Regierungsaufgaben zu erfüllen; zum anderen gelang es den souveränen Einzelstaaten nicht, aus eigener Kraft die desillusionierende Nachkriegsmisere zu überwinden. Die Schwäche des Konföderationskongresses Der „vagabundierende“ Konföderationskongress symbolisierte in den 1780er Jahren den Zustand einer unvollkommenen Union, der die lenkende Hand und ein lebendiges Kraftzentrum fehlte. Nachdem die Delegierten 1783 aus Furcht vor Soldaten, die ihre Soldzahlungen einforderten, Philadelphia verlassen hatten, konnten sie sich auf keinen festen Sitz mehr einigen, sondern tagten an wechselnden Orten. Die Wahlbestimmungen für Kongressdelegierte verhinderten eine personelle Kontinuität und bewirkten, dass viele der fähigsten Politiker Mitte der 1780er Jahre ausscheiden mussten. Unter diesen Umständen verlor die Öffentlichkeit, die sich ohnehin stärker auf das Geschehen in den jeweiligen Staaten konzentrierte, mehr und mehr das Interesse am Kongress. Dennoch war die Bilanz des Konföderationskongresses nicht völlig negativ. Einen außenpolitischen Erfolg bedeutete der Abschluss des Handelsvertrags mit Preußen 1785. Seine größte Leistung vollbrachte der Kongress kurz vor der Auflösung 1787 mit der Verabschiedung der von Jefferson konzipierten Northwest Ordinance. Sie legte Richtlinien für die weitere territoriale Ausdehnung der Vereinigten Staaten fest, indem sie die Gründung von mehreren neuen Staaten im Gebiet zwischen Ohio und den Großen Seen (Northwest Territory) vorsah. Diese Staaten sollten in die Union aufgenommen werden, sobald sie eine Einwohnerzahl von 60.000 erreicht und sich eine republikanische Verfassung gegeben hatten. Damit war sichergestellt, dass der Westen nicht permanent als Kolonialgebiet verwaltet, sondern nach und nach gleichberechtigt in die Union integriert werden würde. Überdies schloss die Northwest Ordinance jegliche Form von Sklaverei im Ohio-Territorium aus. Ursprünglich hatte Jefferson dieses Verbot auf den gesamten Westen bis hinunter zum Golf von Mexiko ausdehnen wollen, doch sein Vorschlag war am Widerstand der Südstaaten-Delegierten gescheitert. Besonders nachteilig machte sich die Schwäche des Kongresses im Bereich der Außenwirtschaft, des zwischenstaatlichen Handels und der Finanzen bemerkbar. Die Londoner Regierung behinderte auch nach dem Friedensschluss die amerikanischen Exporte in die Karibik und nach England, während englische Kaufleute rasch ihre 4 Die „kritische Periode“, 1783 - 1787 / 88 65 <?page no="66"?> Vorkriegsrolle als Hauptlieferanten von Fertigwaren und Kreditgeber zurückeroberten. Nur sie waren nämlich im Stande, den enormen Konsum- und Investitionsbedarf der Amerikaner zu befriedigen, der sich in acht Kriegsjahren angestaut hatte. Daraus folgten aber hohe Handelsdefizite, ein Abfluss des Hartgeldes nach England und eine steigende Verschuldung amerikanischer Pflanzer und Farmer, die sich Geld liehen oder auf Kredit kauften. Dieser „Konsumrausch“ ging schon 1784 in eine Deflationskrise mit sinkenden Preisen, Geldverknappung und Arbeitslosigkeit über. Der Kongress musste hilflos zuschauen, da er keine Vergeltungsmaßnahmen gegen die britischen Handels‐ beschränkungen ergreifen durfte und folglich weder in der Lage war, die Importe zu drosseln noch die Exporte zu steigern. Weil ihm zudem die Befugnis fehlte, den Handel zwischen den Staaten zu regulieren, konnte er nicht einmal verhindern, dass sich die Engländer Vorteile verschafften, indem sie einen Staat gegen den anderen ausspielten. Auf diese Weise drohte die Gefahr, dass interne Handels- und Zollschranken die Union unterminieren würden. Noch verhängnisvoller wirkte sich die fehlende Zoll- und Steuergewalt des Kongr‐ esses aus, die ihn ganz vom finanziellen Wohlwollen der Staatenparlamente abhängig machte. In dem Maße, wie sich die Wirtschaftskrise verschärfte, nahm nämlich die Bereitschaft der Staaten ab, die Forderungen des Kongresses zu erfüllen, und einige Parlamente stellten ihre Zahlungen ganz ein. Ohne ein sicheres Einkommen war es dem Kongress aber unmöglich, die noch lange nicht bewältigten finanziellen Folgelasten des Krieges zu tragen. Sie resultierten daraus, dass man Steuererhöhungen zur Kriegsfinanzierung so weit wie möglich vermieden und sich stattdessen mit Papiergeldemissionen und Anleihen beholfen hatte. Der größte Teil des Papiergeldes, das der Kongress - parallel zu den einzelnen Staaten - gedruckt hatte, war um diese Zeit bereits aus dem Umlauf gezogen worden. Anders sah es dagegen mit Schuldver‐ schreibungen und Anleihescheinen aus, für die Zinsen gezahlt werden mussten. Eine hohe Priorität besaßen natürlich auch die Auslandsanleihen, die man in Frankreich und den Niederlanden aufgenommen hatte. Die Kreditwürdigkeit des Kongresses im Innern wie nach außen hing davon ab, dass er zumindest seinen Zinsverpflichtungen gegenüber den Gläubigern nachkam. Auf Grund der finanziellen Schwierigkeiten und der schlechten Zahlungsmoral der Einzelstaaten war dies jedoch ab 1785 nicht mehr gewährleistet. Deshalb verfiel der Wert der kontinentalen Schuldverschreibungen, und auch das Vertrauen der europäischen Gläubiger, das für weitere Kredite unabdingbar war, drohte vollends verloren zu gehen. Ende 1786 stand fest, dass der Staatsbankrott nur noch durch grundlegende Änderungen auf dem Finanzsektor vermieden werden konnte. Die Kritik am handlungsunfähigen Kongress verband sich mit wachsender Unzu‐ friedenheit über die Politik der Einzelstaaten, die selbst nach Meinung etlicher radikaler Revolutionsführer „die Demokratie zu weit trieben“. Dieser Vorwurf zielte vor allem auf die Staatenlegislativen, die ihr Übergewicht in den neuen Verfassungssystemen zu einer veritablen Parlamentssouveränität ausbauten. Andererseits trat die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer deutlicher zu Tage. Das Prinzip der jähr‐ Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 66 <?page no="67"?> lichen Wahlen bewirkte häufig wechselnde Mehrheiten, die eine stetige Regierungs- und Verwaltungsarbeit nahezu unmöglich machten. Unter diesen Umständen nimmt es fast wunder, dass doch eine Reihe konstruktiver Leistungen erzielt wurde. Das betraf z. B. die bereits erwähnten Maßnahmen gegen die Sklaverei in den nördlichen Staaten, aber auch die von Jefferson formulierte Bill for Establishing Religious Freedom, die das virginische Parlament 1786 annahm. Durch die rechtliche Gleichstellung aller christlichen Glaubensgemeinschaften und das Verbot, sie mit staatlichen Mitteln zu alimentieren, verwirklichte dieses Gesetz erstmals die strikte Trennung von Kirche und Staat. Generell wurde die politische Auseinandersetzung in den Parlamenten immer härter, und die Mehrheiten nahmen wenig Rücksicht auf die Rechte der Minderheiten oder die Bestimmungen der Verfassungen. Am heftigsten wurde über die Methode gestritten, mit der die Wirtschaftskrise bekämpft werden sollte. Einige Parlamente beschlossen wieder Papiergeldemissionen, um den Mangel an Hartgeld auszugleichen und den Druck der öffentlichen und privaten Schulden zu lindern. Dabei nahmen sie einen inflationären Wertverlust des Papiergeldes in Kauf, der die Gläubiger schädigte und vehemente Beschwerden über die Verletzung des Rechts auf Eigentum auslöste. Andere Parlamente, in denen die Gläubiger mehr Einfluss hatten, setzten eine harte Sparpolitik durch, mit der die Lasten der Krise auf die kleinen Steuerzahler abgewälzt wurden. Ein solcher Kurs barg aber die Gefahr sozialer Unruhen, die dann auch nicht lange auf sich warten ließen. Die gefährlichste Situation entstand im westlichen Massachusetts, wo sich die Farmer, deren Besitz von Zwangsversteigerung bedroht war, weil sie ihre Steu‐ ern nicht zahlen konnten, im Herbst 1786 zusammenschlossen, die Kreisgerichte lahm‐ legten und ein staatliches Waffenlager zu erobern versuchten. Diese Protestbewegung, die nach einem ihrer Anführer, dem ehemaligen Hauptmann der Kontinentalarmee Daniel Shays, Shays’ Rebellion genannt wurde, konnte im folgenden Frühjahr durch den Einsatz von Milizen aus der Küstenregion niedergeschlagen werden. In der gespannten Atmosphäre betrachteten aber viele der führenden Politiker, die bislang noch auf Appelle an die Bürgertugend gesetzt hatten, die agrarischen Unruhen in Massachusetts und in einigen anderen Staaten als Anzeichen einer beginnenden Auflösung des gesellschaftlichen Gefüges der Union. Selbst George Washington, der übertriebenen Berichten aus dem Aufstandsgebiet bereitwillig Glauben schenkte, zweifelte nun daran, ob die Amerikaner wirklich reif seien, sich selbst zu regieren. Unterdessen waren auch die Bemühungen, die finanzielle Lage des Kongresses durch eine Änderung der Konföderationsverfassung zu verbessern, an dem Zwang zur Einstimmigkeit gescheitert. Als letzten Rettungsanker griff man nun die Idee eines allgemeinen Reformkonvents auf, die eine Gruppe von Politikern um den New Yorker Anwalt Alexander Hamilton und den virginischen Pflanzer James Madison - beides enge Vertraute George Washingtons - schon seit Beginn der 1780er Jahre verfolgt hatte. Diese nationalists, wie sie von den radikalen Republikanern abschätzig genannt wurden, diagnostizierten einen inneren Zusammenhang zwischen den Unzulänglich‐ keiten der Konföderationsverfassung und der Instabilität der Einzelstaaten. Aus den 4 Die „kritische Periode“, 1783 - 1787 / 88 67 <?page no="68"?> Erfahrungen, die sie seit dem Krieg auf beiden Ebenen gesammelt hatten, schlossen sie, dass weder Bürgertugend noch Religion die negativen menschlichen Eigenschaften, vor allem Ehrgeiz und Habgier, wirksam kontrollieren konnten; virtue und religion mussten, wie Madison sich ausdrückte, ergänzt werden durch institutionelle Heilmittel gegen die Gebrechen, die der republikanischen Staatsform naturnotwendig innewohn‐ ten. Im Unterschied zu den meisten ihrer Landsleute, deren erste Loyalität dem eige‐ nen Staat oder der Region gehörte, verfügten Hamilton und Madison wie auch Washington über eine „kontinentale Vision“, mit der sie die ungeheuren Entwicklungs‐ möglichkeiten der Vereinigten Staaten vorausahnten. Hamilton hatte hauptsächlich die wirtschaftlichen und militärischen Vorteile einer starken Zentralregierung im Auge. Seine Ziele waren der einheitliche amerikanische Binnenmarkt, eine stabile Währung und eine Militärmacht, mit der jeder potenzielle Gegner in Schach gehalten werden konnte. Das setzte voraus, dass der Kongress finanziell von den Staaten unabhängig wurde und eine wirkliche nationale Führungsrolle erhielt. Madison, der viel historische und staatsrechtliche Literatur heranzog, sorgte sich mehr um die innere Stabilität der Union. Abweichend von Montesquieu behauptete er schon im Frühjahr 1787, eine lockere Konföderation republikanischer Staaten, wie sie die Articles of Confederation geschaffen hatten, könne den sozialen Frieden und die politische Freiheit nicht dauerhaft gewährleisten. Dies sei nur möglich durch die enge Einbindung der Staaten in eine föderativ-nationale Ordnung neuen Stils, die auch Raum lasse für die Ausdehnung nach Westen. Mit Hilfe einer starken Zentralregierung könne die Führungselite die nötige Kontrolle über die Staatenparlamente ausüben, ohne dass dadurch der Republikanismus und das Prinzip der Volkssouveränität gefährdet würden. Madisons und Hamiltons Gedanken standen lange Zeit zu sehr im Widerspruch zur vorherrschenden Meinung, als dass sie Aussicht auf Realisierung gehabt hätten. Noch im September 1786 hielten es nur fünf Staaten für opportun, sich an einer von Hamilton initiierten Konferenz in der Hauptstadt von Maryland, Annapolis, zu beteiligen. Die Versammlung begnügte sich deshalb mit einer Einladung an alle Staatenparlamente, im Mai 1787 Delegierte zu einem Konvent nach Philadelphia zu entsenden. Um die Jahreswende 1786 / 87 schufen dann die Sorge vor dem finanziellen Zusammenbruch der Union und das Erschrecken vor Shays’ Rebellion die stimmungs‐ mäßigen Voraussetzungen für tiefgreifende Reformen. Als der Philadelphia-Konvent seine Arbeit aufnahm, waren alle Staaten außer Rhode Island vertreten, dessen radikale Parlamentsmehrheit die Verfassungsmäßigkeit des Unterfangens anzweifelte. Der Verfassungskonvent von Philadelphia Nach der sozialen Herkunft der Delegierten stellte der Philadelphia-Konvent einen Querschnitt durch die revolutionäre Elite der Pflanzer, Kaufleute und Anwälte dar. Ideologisch überwog aber das zentralistisch-nationale Element, nicht zuletzt deshalb, weil einige der radikalen Volksführer wie Samuel Adams und Patrick Henry freiwillig Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 68 <?page no="69"?> auf die Teilnahme verzichtet hatten. Von den 74 ursprünglich gewählten Abgeordneten fanden sich 55 in Philadelphia ein, wo der Konvent vom 25. Mai bis 17. September 1787 unter dem Vorsitz George Washingtons hinter verschlossenen Türen tagte. Bereits Ende Mai trafen die Delegierten auf Vorschlag des Virginiers Edmund Randolph die grundsätzliche Entscheidung, eine völlig neue Verfassung zu erarbeiten, um die Union zu „konsolidieren“ und im nationalen Sinne umzugestalten. Damit wichen sie bewusst von den Instruktionen des Konföderationskongresses und der meisten Parlamente ab, die Articles of Confederation zu „revidieren und zu verbessern“. Ausgangspunkt der Beratungen war also der Konsens darüber, dass die Union eine handlungsfähige Zentralregierung benötigte, deren Kompetenzen und Machtmittel ausreichen mussten, um den anstehenden wie auch allen erdenklichen zukünftigen Aufgaben gerecht zu werden. Im Einzelnen blieben aber genügend Probleme und Streitpunkte übrig, die zäh diskutiert wurden und den Konvent mehr als einmal an den Rand des Scheiterns brachten. Letztlich erzeugte aber die Furcht, dass ein Misserfolg den Zerfall der Union nach sich ziehen würde, immer wieder genügend Kompromissbereitschaft, um diese Krisen zu überwinden. Vier Problemkreise verwoben sich in der Debatte zu einem komplizierten Geflecht: das Verhältnis zwischen den Einzelstaaten und der Zentralregierung (die in den Entwürfen stets „national government“ und erst am Ende mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung „federal government“, Bundesregierung, genannt wurde); die Machtverteilung innerhalb dieser Zentralregierung; die Repräsentation von großen und kleinen Staaten im zukünftigen Parlament; und der Interessengegensatz zwischen Nord- und Südstaaten, der hauptsächlich in der Sklavereifrage wurzelte. Was den ersten Komplex betraf, so schränkten die Delegierten die Staatensouveränität ein und wiesen der Zentralregierung eine übergeordnete Stellung zu. Von größter praktischer Bedeutung war die Neuordnung der Kompetenzen im wirtschaftlichen Bereich: Die Bundesregierung erhielt nun das Recht, Einfuhrzölle und Steuern zu Zwecken der Verteidigung und allgemeinen Wohlfahrt (common defence and general welfare) zu erheben sowie den Handel zwischen den Staaten und mit dem Ausland zu regulieren. Durch diese Neuformulierung der Steuer- und Handelsbefugnisse (taxing power und commerce power) war die Bundesregierung finanziell weitgehend unabhängig von den Staaten und konnte sich direkt an jeden einzelnen Bürger wenden. Zugleich wurde den Staaten untersagt, Papiergeld auszugeben und Münzen zu prägen. Damit waren die Voraussetzungen für den einheitlichen Binnenmarkt und eine gemeinsame Wirt‐ schafts-, Währungs- und Handelspolitik geschaffen. Die Verfassung garantierte den Staaten eine republikanische Regierungsform und Schutz vor äußeren Angriffen wie vor innerem Umsturz. Zu diesem Zweck durfte die Bundesregierung nicht nur Heer und Flotte unterhalten, sondern auch die Staatenmilizen beaufsichtigen und nötigenfalls gegen Unruhen (domestic violence) einsetzen. Vollendet wurde der Übergang von der konföderativen zur bundesstaatlichen Ordnung durch zwei dehnbare Generalklauseln: Artikel I, Abschnitt 8 ermächtigte den neuen Kongress, alle Gesetze zu beschließen, die er für „notwendig und angemessen“ (necessary and proper) hielt, um die ihm von der 4 Die „kritische Periode“, 1783 - 1787 / 88 69 <?page no="70"?> Verfassung gestellten Aufgaben zu erfüllen; und Artikel VI erklärte die Verfassung und die Gesetze und Verträge der Union zum höchsten geltenden Recht (supreme law of the land), an das jeder Richter ungeachtet der Verfassungen und Gesetze der Einzelstaaten gebunden war. Trotz der Beschneidung ihrer Selbstständigkeit blieben die Staaten aber die Grundeinheiten des Regierungssystems. Das zeigte sich z. B. bei dem in Artikel V festgelegten Verfahren zur Verfassungsänderung: Vorgeschlagen werden konnten Änderungen und Ergänzungen (amendments) entweder von beiden Häusern des Kongresses mit Zweidrittelmehrheit oder von einem Verfassungskonvent, der auf Antrag von zwei Drittel der Staaten zustande kam. Damit ein solcher Vorschlag Geltung erlangte, mussten ihm aber drei Viertel der Staaten - durch Parlamentsbeschluss oder per Ratifizierungskonvent - zustimmen. Bei der Konstruktion der Bundesorgane ließ sich die Mehrheit der Delegierten von der Absicht leiten, ein Übergewicht der Legislative, eine Art Parlamentssouveränität, wie sie sich in den Staaten herausgebildet hatte, zu verhindern. Gewiss stand der Kongress als Verkörperung des Gesamtwillens der Union im Zentrum des Regierungs‐ systems; es musste aber Vorsorge getroffen werden, dass die Rechte von Minderheiten sowie der Geist und Buchstabe der Verfassung selbst gewahrt blieben. Eine möglichst unabhängige Exekutive und Judikative waren dazu gedacht, der legislativen Gewalt Grenzen zu setzen, um das System als Ganzes im Gleichgewicht zu halten. Überragen‐ den Stellenwert gewann dabei die Frage, wie die Exekutive beschaffen sein und welche Befugnisse sie ausüben sollte. Ihre Beantwortung war deshalb so prekär, weil sich hier am deutlichsten die Abwendung von den radikalen Maximen der Revolution zu Gunsten gemäßigter Vorstellungen von einer balance of power im Sinne der englischen konstitutionellen Tradition offenbarte. Ein Ersatz für den König, der dem Parlament Paroli bieten konnte, war nicht leicht zu finden, zumal die ausführende Gewalt im Bewusstsein der Zeitgenossen immer noch mit der erblichen Monarchie identifiziert wurde. Der Konvent erwog eine ganze Reihe von Modellen, die sich zwischen den Extremen eines auf Lebenszeit gewählten Präsidenten (ein Vorschlag Hamiltons, der aber angesichts der öffentlichen Meinung keine Realisierungschance hatte) und einem kollegialen Führungsgremium bewegten, das am ehesten den republikanischen Prinzipien entsprochen hätte. Am Ende setzte sich der Vorschlag des pennsylvanischen Anwalts James Wilson durch, dass „die Exekutive aus einer einzigen Person beste‐ hen“ sollte, obwohl einige Delegierte darin den „Fötus der Monarchie“ zu erkennen glaubten. Nach Meinung der Mehrheit war so am besten gewährleistet, dass die Exekutive über einen einheitlichen Willen und über genügend Energie und Effektivität verfügen würde, um das Wohl der Nation zu verfolgen, und dass gleichzeitig klare Verantwortlichkeiten gegeben seien. Unterschwellig spielte dabei sicher eine Rolle, dass viele Delegierte mit dem Konventsvorsitzenden George Washington bereits den Wunschkandidaten für das neue Amt im Auge hatten. Die Debatte über die Amtszeit spitzte sich auf zwei konkurrierende Vorschläge zu: sieben Jahre ohne Wiederwahl oder vier Jahre mit der Möglichkeit, sich danach erneut zur Wahl zu stellen. Den Ausschlag für das zweite Modell gab schließlich die Überlegung, dass der vierjährige Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 70 <?page no="71"?> Turnus einerseits eine relativ gute Sicherheit gegen Machtmissbrauch bot, das Verbot einer Wiederwahl andererseits die Energie des Amtsinhabers eher lähmen und die Optionen der Bürger zu sehr einschränken würde. Als zuständiges Wahlgremium war lange Zeit der Kongress vorgesehen gewesen, nachdem die Delegierten den Gedanken der direkten Volkswahl als zu radikal, vor allem aber als nachteilig für die kleinen Staaten und die Sklavenstaaten (in denen ja nur verhältnismäßig wenige weiße Wähler lebten) verworfen hatten. Die Entscheidung für eine indirekte Volkswahl stellte also in erster Linie ein Zugeständnis an die kleinen Staaten und das föderative Prinzip dar. Im Wahlmännerkollegium, dessen Mitglieder zunächst von den Staatenparlamenten, nicht von den Bürgern selbst gewählt wurden, verfügte jeder Staat über die gleiche Anzahl Stimmen wie er Abgeordnete und Senatoren in den Kongress entsenden durfte. Durch die Vorschrift, dass die Elektoren je zwei Stimmen hatten, von denen sie eine für einen Kandidaten abgeben mussten, der nicht aus ihrem eigenen Staat stammte, wurde das Gewicht der kleinen Staaten erhöht. Noch deutlicher kam das föderale Element darin zum Ausdruck, dass für die Wahl zum Präsidenten die absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen erforderlich war. Die meisten Delegierten gingen davon aus, dass ein solches Ergebnis nur in Ausnahmefällen eintreten und die letzte Entscheidung deshalb in der Regel doch beim Repräsentantenhaus liegen würde. Hier sah die Verfassung vor, dass bei den Stichwahlen im Repräsentantenhaus nach Staaten abzustimmen sei, wobei jeder Staat, ob groß oder klein, eine Stimme hatte. Ein „Nebenprodukt“ dieser komplizierten Regelung war das Amt des Vizepräsidenten, das an denjenigen Kandidaten fiel, der die zweithöchste Zahl von Wahlmännerstimmen erreichte. In der Summe der Kompetenzen, die der Konvent dem Präsidenten zubilligte, machte er ihn gleichzeitig zum Regierungschef, zum Staatsoberhaupt und zum Oberbefehlsha‐ ber der Streitkräfte. Diese unerhörte Machtfülle wurde allerdings dadurch eingegrenzt, dass der Präsident eine ganze Reihe von Befugnissen mit dem Kongress teilen musste. So sah man vor, dass er zur Ernennung der Minister - wie auch der Richter und anderen hohen Regierungsbeamten - die Zustimmung des Senats benötigte. Seine Befugnis, völkerrechtliche Verträge abzuschließen, musste er ebenfalls mit dem Senat teilen, dessen Zweidrittelmehrheit für die Ratifizierung erforderlich war. Außenpolitischen Alleingängen und militärischen Abenteuern des Präsidenten glaubten die Delegierten dadurch vorbeugen zu können, dass sie die Entscheidung über Krieg und Frieden, die Aufstellung von Heer und Flotte und die Mobilisierung der Milizen dem Kongress überließen. Gestärkt wiederum wurde der Präsident gegenüber der Legislative durch ein Vetorecht, mit dem er Kongressgesetze aufhalten konnte, sofern ihn Repräsentan‐ tenhaus und Senat nicht mit Zweidrittelmehrheit überstimmten. Dabei ging es den Delegierten weniger um die Blockierung von Gesetzesvorhaben als vielmehr, wie Madison erklärte, um die Verhinderung von „überhastet formulierten, ungerechten und verfassungswidrigen“ Gesetzen. Auf diese Weise war der Präsident aktiv und in konstruktiver Weise am Gesetzgebungsprozess beteiligt. Diese Regelungen sind charakteristisch für das Bemühen des Konvents, ein komplexes System der Gewalten‐ 4 Die „kritische Periode“, 1783 - 1787 / 88 71 <?page no="72"?> verschränkung und wechselseitigen Kontrolle zu schaffen, das eher Montesquieus Idealvorstellungen von der englischen Verfassung als dem tatsächlichen System des King in Parliament folgte, wie es im 18. Jahrhundert Gestalt angenommen hatte. Die Präsidentschaft wurde Teil eines mixed and limited government, dessen verfassungs‐ mäßige Begrenzung in erster Linie dem Schutz der individuellen Freiheit vor staatlicher Willkür und Unterdrückung dienen sollte. Das Prinzip der funktionalen Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung wird auch beim Blick auf die Judikative deutlich: Der Konvent etablierte das Oberste Gericht (Supreme Court) zwar erstmals als eigenständigen dritten Regierungszweig, ermächtigte aber den Präsidenten, die Bundesrichter mit Zustimmung des Senats auf Lebenszeit (during good behavior) zu ernennen. Der Vorsitzende des Gerichts wiederum wurde ermächtigt, das Verfahren der Amtsanklage (Impeachment) gegen den Präsidenten zu leiten, das der Konvent als letzte Schranke gegen exekutive Willkür errichtete. An einem solchen Impeachment sind laut Verfassung aber auch die beiden Kammern des Kongresses beteiligt: Das Repräsentantenhaus hat das alleinige Recht, die Anklage zu erheben, und der Senat kann den Präsidenten mit Zweidrittelmehrheit verurteilen. Der Supreme Court, dessen exakte Befugnisse der Kongress erst 1789 im Judiciary Act festlegte, sollte für eine einheitliche Rechtsprechung und die Beachtung der konstitutionellen Grenzen in der ganzen Union sorgen. Welche Autorität er sich später wirklich verschaffen würde, war zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung ebenso wenig vorauszusehen wie Erfolg und Dauerhaftigkeit des Systems insgesamt. Nach dem Willen der Verfassungsväter sollten sich die drei Gewalten aber auf keinen Fall gegenseitig lähmen, sondern vielmehr durch Konkurrenz und Ehrgeiz zu höheren Leistungen anspornen. Im 51. Federalist-Essay fasste Madison diese Überzeugung in dem Satz „ambition must be made to counteract ambition“ zusammen. Bei der Frage nach Struktur und Zusammensetzung des neuen Kongresses gingen die Auffassungen der großen und der kleinen Staaten zunächst weit auseinander. Man einigte sich aber schließlich darauf, bei der Sitzverteilung im Unterhaus (House of Representatives) die Einwohnerzahl zugrunde zu legen, im Oberhaus (Senate) hingegen jedem Staat zwei Sitze zu gewähren. Die Abgeordneten sollten in den Staaten für zwei Jahre direkt gewählt werden (wobei das Wahlrecht Sache der Staaten blieb), die Senatoren von den Staatenparlamenten auf sechs Jahre bestimmt werden. Dieser von Connecticut vorgeschlagene Kompromiss (Connecticut Compromise) entschädigte die kleinen Staaten bis zu einem gewissen Grade für den erlittenen Macht- und Statusverlust, den der Proporz im Repräsentatenhaus erzeugte, denn über den Senat konnten sie nun gleichberechtigt Einfluss auf die Gesetzgebung und die Ernennung von Beamten und Richtern nehmen. Der Nord-Süd-Konflikt hatte seinen Ursprung darin, dass die Südstaaten fürchten mussten, im Kongress wegen ihrer geringeren weißen Bevölkerungszahl vom Norden majorisiert zu werden. Ihre Delegierten im Konvent wollten sicherstellen, dass die künftige Wirtschaftspolitik die Interessen der auf den Export von Agrarprodukten angewiesenen südlichen Pflanzer und Farmer berücksichtigte und dass sich der Rest Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 72 <?page no="73"?> der Union nicht zusammentun konnte, um die Sklaverei zu verbieten. In einem frühen Stadium der Beratungen gestanden die Delegierten der Nord- und Mittelstaaten dem Süden zu, als Grundlage für die Repräsentation im Unterhaus nicht allein die weiße Bevölkerung zu nehmen, sondern drei Fünftel „aller anderen Personen, mit Ausnahme von Indianern“ hinzuzuzählen (eine Umschreibung für das Wort „Sklaven“, das man in der Verfassung vermeiden wollte). Als die Südstaatler jedoch später für die Verabschiedung von Handelsgesetzen Zweidrittelmehrheiten in beiden Häusern des Kongresses verlangten, zogen die anderen Delegationen ihr Zugeständnis wieder zurück, weil sie eine Vormachtstellung des Südens befürchteten. Nur mit großer Mühe gelang es einem speziellen Komitee, die unvereinbar scheinenden Standpunkte im so genannten Great Compromise zusammenzuführen: Der Norden willigte ein, dass die Drei-Fünftel-Klausel bei der Berechnung der Repräsentation angewendet wurde und der Kongress den Sklavenimport bis 1808 nicht unterbinden durfte. Im Gegenzug erklärte sich der Süden bereit, entsprechend der verbesserten Repräsentation mehr direkte Steuern zu zahlen und auf qualifizierte Mehrheiten für Handelsgesetze zu verzichten. In der Schlussphase lehnte der Konvent George Masons Vorschlag ab, einen Grundrechtekatalog zu formulieren. Die Mehrheit hielt dies entweder für unnötig, weil eine solche Bill of Rights die in den Staaten bereits geltenden Bestimmungen duplizieren würde, oder sogar für schädlich, weil sie den Handlungsspielraum der Bundesregierung zu sehr einengen könnte. Am 17. September 1787 nahm der Konvent den Verfassungsentwurf mit den Stimmen der noch vertretenen elf Staaten an und stellte ihn dem Konföderationskongress zu. Außer Rhode Island fehlte jetzt auch New York, weil zwei der drei Delegierten aus Protest gegen den Trend zum Zentralismus vorzeitig abgereist waren und Hamilton allein kein Votum mehr abgeben durfte. Von den 41 Delegierten, die bis zum Schluss im schwül-heißen Philadelphia ausgeharrt hatten, verweigerten drei - George Mason und Edmund Randolph aus Virginia sowie Elbridge Gerry aus Massachusetts - ihre Unterschrift unter das Dokument. Wieder daheim veröffentlichten sie kritische Stellungnahmen zum Werk des Konvents, die erste Kristallisationspunkte für eine allgemeine Oppositionsbewegung bildeten. Die Mehrheit des Konvents hatte mit politischem Widerstand gerechnet und Vorsorge getroffen, dass die Ratifizierung keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereiten würde. Eingedenk der schlechten Erfahrungen mit der Einstimmigkeitsklausel der Articles of Confederation schrieben sie in Artikel VII fest, dass die Zustimmung von neun Staaten genügte, um die Verfassung in Kraft zu setzen. Entscheiden sollten außerdem nicht die Staatenparlamente oder Volksabstimmungen, sondern speziell gewählte Ratifizierungskonvente, von denen man am ehesten Unvoreingenommenheit und Objektivität erwarten durfte. Als der Konföderationskongress Ende September 1787 den Verfassungsentwurf mit dieser Empfehlung kommentarlos an die Staaten weiterleitete, setzte er eine monatelange öffentliche Debatte in Gang, die in ihrer Lei‐ denschaftlichkeit an die Revolution erinnerte, deren Form und Inhalt aber auch schon auf die parteipolitischen Auseinandersetzungen im neuen Bundesstaat vorauswiesen. 4 Die „kritische Periode“, 1783 - 1787 / 88 73 <?page no="74"?> Die Ratifizierungsdebatte Noch im Herbst 1787 bildeten sich zwei politische Lager, die mit großem publizisti‐ schem Aufwand um die Gunst einer überraschten und anfangs weitgehend unentschie‐ denen Wählerschaft kämpften. Die Befürworter des Verfassungsentwurfs nannten sich Federalists und stempelten ihre Widersacher als Antifederalists ab. Dieses negative Etikett blieb an den Kritikern des Verfassungsentwurfs hängen, obwohl sie beteuerten, den „wahren“ staatenbündisch-republikanischen Föderalismus zu verteidigen. Die Fronten verliefen in den verschiedenen Staaten recht unterschiedlich und waren zudem stets in Bewegung. Die Federalists hatten ihre Hochburgen in den Städten und Küstenregionen, während die Antifederalists die stärkste Unterstützung von Farmern im agrarischen Hinterland erhielten. Im Wesentlichen handelte es sich aber um eine geistig-ideologische Konfrontation: Was die beiden Lager und ihre prominenten Sprecher trennte, waren mentalitätsmäßig bedingte Unterschiede in der Deutung von Republikanismus und Föderalismus. Die Antifederalists verstanden sich als Hüter der „Ideen von 1776“ gegen elitäres Gedankengut und staatlichen Zentralismus. Sie warfen dem Konvent vor, er habe seine Befugnisse überschritten und ein „konsolidiertes Reich“, ein American Empire, geschaffen, das über kurz oder lang die Staaten völlig entmachten und aufsaugen werde. Unter Berufung auf Montesquieu bestritten sie energisch, dass ein Gebiet von der Größe und Interessenvielfalt der amerikanischen Union von einem Zentrum aus nach republikanischen Grundsätzen regiert werden könne. Die Gefahr, dass dieses System in eine Aristokratie oder Monarchie abgleite, sei umso größer, als die Verfassung keine Grundrechtsgarantien enthalte. Diesem Country-Ideal der überschaubaren, möglichst homogenen Republiken in einem lockeren Staatenbund stellten die Federalists ihr neuartiges Modell eines, so Madison, „teils nationalen, teils föderalen“ Regierungssystems entgegen. Die theoreti‐ sche Rechtfertigung der „Verfassungsrevolution“ lieferten Alexander Hamilton, James Madison und John Jay in einer Serie von 85 Essays, die zuerst unter dem Pseudonym Publius in New Yorker Zeitungen veröffentlicht wurden und im Frühjahr 1788 als The Federalist in Buchform erschienen. Hamilton und sein New Yorker Parteifreund Jay versuchten, dem Begriff „Empire“ den negativen Klang zu nehmen, indem sie ihren Landsleuten ein Friedens- und Handelsreich vor Augen stellten, das mit den europäischen Mächten konkurrieren konnte, ohne sie fürchten zu müssen. Madison ergänzte diese Argumente durch seine originelle Theorie der „ausgedehnten Republik“: Die große, vorerst noch kaum bestimmbare geographische Ausdehnung und die Interessenvielfalt der Union stünden einer festen politischen Integration nicht nur nicht entgegen, sondern erleichterten sie sogar. Da die Zahl der Parteien und Interes‐ sengruppen mit der Größe des Staatsgebiets zunehme, würde es einer Bewegung, die gegen das Gesamtwohl gerichtet sei, unmöglich gelingen können, einen geschlossenen Block zu bilden und die Herrschaft an sich zu reißen. Zu der Gewaltenteilung innerhalb der Bundesregierung und zum Wettbewerb zwischen Bund und Einzelstaaten trete also eine gesellschaftliche Balance hinzu, die das System noch komplexer und damit noch stabiler mache. Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 74 <?page no="75"?> Allen intellektuellen und propagandistischen Anstrengungen ihrer Befürworter zum Trotz wäre die Verfassung dennoch abgelehnt worden, wenn die Federalists nicht versprochen hätten, nach ihrem Inkrafttreten Änderungen und Ergänzungen, speziell eine Absicherung der Grundrechte vorzunehmen. Mit dieser Strategie gelang es, in den Ratifizierungskonventen genügend Delegierte auf die eigene Seite zu ziehen und die Zustimmung so wichtiger Staaten wie Massachusetts, Virginia und New York zu erreichen. Erst New Yorks positives Votum am 26. Juli 1788 machte die Verfassung, die theoretisch nach der Annahme durch den neunten Staat, New Hampshire, am 21. Juni 1788 gültig geworden war, zu einer politischen Realität. Die Ratifizierungsdebatte wurde begleitet von einer Welle von Feierlichkeiten, die ihre Höhepunkte in den großen Bundesparaden (Federal Processions) der Küstenstädte fand. Die starke Beteiligung der Handwerker und Kaufleute an diesen neuartigen Festumzügen unterstrich noch einmal, dass die in Handel und Gewerbe engagierten Bevölkerungskreise die treibende Kraft hinter der konstitutionellen Neuordnung bildeten. Ihre Reaktion war umso en‐ thusiastischer, als sich in den meisten Staaten ein wirtschaftlicher Aufschwung bereits vor der endgültigen Annahme der Verfassung abzeichnete. Die Paraden brachten aber auch das Selbstbewusstsein von Bürgern zum Ausdruck, die ihr Schicksal selbst bestimmten und optimistisch in die Zukunft voranschritten. Das Bemühen um Konsens entsprang der teils intellektuellen, teils gefühlsmäßigen Einsicht, dass es zur Begrün‐ dung einer Nation verbindender Werte und des Glaubens an eine Mission bedurfte, die von Generation zu Generation weitervermittelt wird. Als identitätsstiftende Symbole eigneten sich besonders gut die Gründungsdokumente Unabhängigkeitserklärung und Verfassung, die an hervorgehobener Stelle in den Zügen mitgeführt wurden. Das Be‐ kenntnis zu den Prinzipien der Revolution nahm hier einen quasi-religiösen Charakter an, so dass man die Prozessionen als erste Erscheinungsformen der amerikanischen civil religion bezeichnen kann, einer konfessionsübergreifenden bürgerlichen Religion im Dienste der nationalen Einheit. Gefeiert wurde auch George Washington, dessen Abbildung als Steuermann des neuen Staatsschiffes einer öffentlichen Akklamation zum Präsidenten gleichkam. In der Tat votierten bei den ersten Bundeswahlen im Winter 1788 / 89 sämtliche 69 Wahlmänner für Washington, während sich John Adams mit einem wesentlich bescheideneren Ergebnis und dem undankbaren Amt des Vizepräsidenten zufrieden‐ geben musste. Im Wahlkampf für das Repräsentantenhaus spielten die versprochenen Verfassungsänderungen eine wichtige Rolle: Um erfolgreich zu sein, hielten es viele Fe‐ deralists für geboten, ihre Amendment-Zusage zu erneuern. Nach dem Zusammentritt des Kongresses und der feierlichen Amtseinführung Washingtons am 30. April 1789 in New York City formulierten die Abgeordneten und Senatoren einen Grundrechte‐ katalog, der viele der von den Ratifizierungskonventen vorgeschlagenen Änderungen berücksichtigte. Seine zehn Artikel wurden im Dezember 1791 als Amendments an die Verfassung angehängt. Gemessen an der fast gleichzeitig - unter Mitwirkung Jeffersons - in Paris aus‐ gearbeiteten französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wirkte die 4 Die „kritische Periode“, 1783 - 1787 / 88 75 <?page no="76"?> amerikanische Bill of Rights, wie die ersten zehn Amendments bald genannt wurden, eher bescheiden. Ihr Vorzug bestand aber darin, dass alle ihre Bestimmungen, an erster Stelle die Presse-, Meinungsund Gewissensfreiheit, als Teil des geltenden Rechts vor Gericht einklagbar waren. Allerdings verpflichteten die Garantien nur den Kongress, nicht auch die Einzelstaaten, wie es Madison beabsichtigt hatte. Da die Bill of Rights den Wünschen der gemäßigten Antifederalists entsprach, trug sie dazu bei, die große Mehrheit der Opposition politisch einzubinden. Die Ratifizierung der Verfassung und der Bill of Rights in öffentlicher Debatte sanktionierte darüber hinaus das Werk des Philadelphia-Konvents und verlieh der neuen Ordnung unangreifbare Legitimität. Diese Ordnung färbte nun sogar auf die Staatenverfassungen ab, die - beginnend 1790 in Pennsylvania - an das Modell der United States Constitution angepasst wurden. Überall setzten sich das legislative Zweikammer-Modell und der Grundsatz der Gewaltenteilung durch. Erstaunlich rasch identifizierten sich die Amerikaner mit der Bundesverfassung und bekannten sich zu ihren fundamentalen Prinzipien. Das schloss aber keineswegs aus, dass sie auf dem Boden der Verfassung heftig darüber stritten, wie diese Werte und Prinzipien am besten zu verwirklichen seien. In dieser Hinsicht wirkte die Verfassungsdebatte wie ein Katalysator, der die Entstehung von bundesweiten Parteien und den Aufschwung des Zeitungswesens beschleunigte. Um 1800 erschienen in den USA über 200 Zeitungen - mehr als selbst in England -, die sich fast alle vehement am politischen Tageskampf beteiligten. Konstitutionell und politisch bedeutete das eine wichtige Stufe im Übergang von der partikularen zur nationalen Form der Willensbildung und Entscheidungsfindung. Wenn sich ein großer Teil des mentalen Wandels auch bereits vor der Unabhängig‐ keitserklärung vollzogen hatte, wie John Adams später behauptete, so war die Trans‐ formation des gesellschaftlichen Bewusstseins doch noch längst nicht abgeschlossen. In diesem Sinne hatte Benjamin Rush Recht, der 1787 feststellte, der Krieg sei wohl vorüber, nicht aber die amerikanische Revolution: „Ganz im Gegenteil, nur der erste Akt des großen Dramas ist beendet.“ Die Verfassung institutionalisierte gewissermaßen die Revolution, indem sie für einen offenen politischen Prozess sorgte, durch den das amerikanische politische System und die amerikanische Gesellschaft kontinuierlich weiterentwickelt werden konnten. Zugleich schrieb sie jedoch - zumindest für die absehbare Zukunft - die Sklaverei fest, um den Bestand der Union nicht zu gefährden. Die Frage, ob es bereits eine „amerikanische Nation“ gab und wer ihr als Staatsbürger angehörte, war auch nach Inkrafttreten der Verfassung noch offen. 5 Die Federalists an der Macht, 1789 - 1800 Hamiltons Finanz- und Wirtschaftsprogramm Das Ergebnis der ersten Bundeswahlen versetzte die Federalists in die Lage, ein gutes Jahrzehnt lang die Verfassung nach ihren Vorstellungen auszudeuten und mit Leben zu erfüllen. Den ruhenden Pol in dieser Zeit, die von den Revolutionen und Kriegen Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 76 <?page no="77"?> in Europa überschattet war, bildete George Washington, der wie sein römisches Vorbild Cincinnatus noch einmal Mount Vernon verlassen hatte, um zur Festigung der amerikanischen Union beizutragen. Am meisten Tatkraft und Kreativität bewies Alexander Hamilton, einer der homines novi der Revolution, der sich stets eng an Washington gehalten hatte und nun als Finanzminister (Secretary of the Treasury) die rechte Hand des Präsidenten im Kabinett wurde. Kernstück seines am englischen Beispiel orientierten Programms, das er in den Kongress einbrachte, war die sichere Fundierung der Staatsschulden, die aus dem Krieg resultierten und in den 1780er Jahren noch angewachsen waren. Zusätzlich zur auswärtigen und inneren Schuld der Union (11,7 Millionen bzw. 42 Millionen Dollar) übernahm die Bundesregierung bis 1792 auch die Schulden der Einzelstaaten von insgesamt 18,2 Millionen Dollar. Dabei garantierte sie den Gläubigern (unter ihnen etliche Spekulanten, die Schuldverschreibungen zu niedrigen Marktpreisen aufgekauft hatten) die Annahme sämtlicher Zertifikate zum Nennwert und die Zinszahlung in Hartgeld. Das unabhängige Einkommen, das der Bund hierfür benötigte, verschaffte er sich durch nationale Einfuhrzölle, mit denen auch wirtschaftlicher Druck auf England ausgeübt werden konnte. Wegen der hohen Zolleinnahmen brauchten vorerst keine direkten Steuern erhoben zu werden. Um die finanziellen Transaktionen zu koordinieren und die Währung zu vereinheitlichen, schuf der Kongress auf Vorschlag Hamiltons 1791 die Bank of the United States in Philadelphia (seit 1790 vorläufiger Sitz des Kongresses und der Regierung) in Form einer teils privaten, teils staatlichen Aktiengesellschaft. Der wirtschaftliche Aufschwung trug das Seine dazu bei, dass die Union binnen kurzem über ein solides Finanz- und Währungssystem verfügte, das ihre Kreditwürdigkeit wiederherstellte und genügend Investitionskapital im Land freisetzte bzw. aus Europa anzog. Politisch wirkte die konsolidierte Staatsschuld, wie Hamilton es beabsichtigt hatte, als „Zement der Union“, weil sie die Interessen der einflussreichen Gläubiger fest mit dem Schicksal der Bundesregierung verband. An inneren Widerständen gegen Hamiltons Kurs fehlte es allerdings nicht, zumal im Süden, wo die Pflanzer und Farmer das Gefühl hatten, ihre Belange würden zu Gunsten der Handels- und Kapitalinteressen des Nordens vernachlässigt. Dieser Stimmung fiel Hamiltons letzter großer Plan, das Manufakturwesen der Union systematisch zu fördern, bereits zum Opfer. Auch das Finanzprogramm konnte nur durch Zugeständ‐ nisse an die Südstaaten-Abgeordneten im Kongress vollendet werden. Das wichtigste dieser Zugeständnisse war das Versprechen, die in der Verfassung vorgesehene neue permanente Hauptstadt weiter nach Süden an den Potomac zu verlegen. Auf die Planung dieses District of Columbia nahm George Washington, der im Grenzgebiet von Virginia und Maryland Land besaß, persönlich großen Einfluss. Erste Entwürfe für die Stadt, die noch zu Lebzeiten des ersten Präsidenten „Washington“ genannt wurde, lieferte der französische Architekt Pierre L’Enfant. Die praktische Umsetzung dieser Vision einer nationalen Hauptstadt, die sich mit London und Paris messen konnte, fiel wesentlich bescheidener aus, aber sie erlaubte im November 1800, ein Jahr nach Washingtons Tod, den Umzug der Bundesregierung von Philadelphia an den Potomac. 5 Die Federalists an der Macht, 1789 - 1800 77 <?page no="78"?> Thomas Jefferson war 1789 aus Paris zurückgekehrt, wo er als Gesandter der Vereinigten Staaten die Anfänge der Französischen Revolution miterlebt hatte. In Washingtons Kabinett bekleidete er das Amt des Außenministers (Secretary of State) und gehörte damit zum engsten Beraterkreis des Präsidenten. Im Streit um den Haupt‐ stadtsitz unterstützte er den von Hamilton und Madison ausgehandelten Kompromiss, doch in der Bankfrage, die den Kern des Verfassungsverständnisses berührte, bezog er eindeutig Stellung gegen Hamilton. Wenn der Kongress unter Berufung auf die Generalklauseln der Verfassung eine im Text nicht vorgesehene Zentralbank einrichten dürfe, so argumentierte er, dann kenne die Macht der Bundesregierung praktisch keine Grenzen mehr. Mit seinem Rat, der Kongress solle sich auf die Ausübung der explizit in der Verfassung genannten Befugnisse beschränken, drang er allerdings bei Washington nicht durch. Mehr Verständnis für diesen Grundsatz der strikten, buchstabengetreuen Auslegung der Verfassung fand er dagegen bei Madison, dessen Vorbehalte gegen das „Hamilton’sche System“, das eine permanente Staatsschuld voraussetzte und an‐ geblich Spekulation und Korruption begünstigte, kontinuierlich wuchsen. Trotz ihrer Verehrung für den Präsidenten fiel es Jefferson und Madison auch immer schwerer, den - gemessen an europäischen Verhältnissen bescheidenen - zeremoniellen Glanz zu akzeptieren, den Washington und die Federalists entfalteten, um das Präsidentenamt für die nationale Integration zu nutzen. Im Ideal eines bescheidenen Republikanismus, der die Bedürfnisse des einfachen Mannes und die Rechte der Einzelstaaten stärker berücksichtigte, fanden Jefferson und Madison den gemeinsamen Grund, von dem aus sie Front gegen Hamilton und damit letzten Endes auch gegen Washington zu machen begannen. Sie traten damit an die Spitze einer noch diffusen Oppositionsbewegung von Republicans, zu der sich unversöhnliche Antifederalists und enttäuschte südstaatliche Pflanzer und Farmer zusammenfanden. In den 1790er Jahren erhielten sie vermehrt Zulauf von Angehörigen der städtischen Mittel- und Unterschichten, die sich für die Ideen der Französischen Revolution begeisterten. Auf die Stellung Washingtons, der Anfang 1793 einstimmig im Präsidentenamt bestätigt wurde, hatte das noch kaum Auswirkungen. Im weiteren Verlauf des Jahrzehnts polarisierte das dramatische Geschehen in Europa jedoch die Innenpolitik der Vereinigten Staaten und stellte Regierung und Kongress auch außenpolitisch vor schwierige Entscheidungen. Die Rückwirkungen der Französischen Revolution In den Vereinigten Staaten wurde die Erhebung des französischen Volkes zunächst fast einhellig begrüßt, denn mit ihr schien die Selbstbefreiung der Menschheit aus politischer und religiöser Unmündigkeit, der sich die Amerikaner verpflichtet fühlten, ihre Fortsetzung zu finden. Auch auf französischer Seite betonte man im kosmopoliti‐ schen Geist der Aufklärung die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Revolutionen: Die amerikanischen Verfassungen und Grundrechteerklärungen erschienen in fran‐ zösischen Übersetzungen, und Lafayette, der die Nationalgarde befehligte, verehrte seinem Freund Washington in einer symbolischen Geste den Schlüssel der Bastille. Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 78 <?page no="79"?> Warnende Stimmen wie diejenigen von Vizepräsident John Adams und dessen Sohn John Quincy Adams, die den Revolutionären 1790 / 91 in anonymen Schriften vorwar‐ fen, sie verwechselten Freiheit mit Zügellosigkeit und opferten organisch gewachsene Ordnungen einer abstrakten politischen Doktrin, blieben vereinzelt und fanden zu‐ nächst kaum Widerhall. Als 1792 die Republik erklärt wurde und der Krieg gegen die Interventionsmächte begann, schwoll die Sympathie für die französischen Patrioten in den USA zu einer Welle der Begeisterung an. Jeder Sieg der Revolutionsarmeen wurde in den größeren Städten, insbesondere in Philadelphia, mit Massenkundgebungen, Paraden, Festbanketten und Feuerwerken gefeiert. Nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793 und der französischen Kriegserklärung an England und Spanien begannen sich die Geister jedoch zu scheiden. Nun heizte die Debatte über das Wesen der Französischen Revolution den Streit zwischen Federalists und Republicans gefährlich an und verlieh ihm einen unerbittlich ideologischen Charakter. Wenn diese „Parteien“ auch noch keine feste Organisation besaßen, so knüpften ihre Führer doch schon unionsweite Kontakte und bemühten sich mit Hilfe von extrem einseitigen, kämpferischen Presseorganen um die Mobilisierung einer Massenbasis. Beide Seiten argwöhnten, dass diejenigen Kräfte, die um das Schicksal Frankreichs rangen, auch in den Vereinigten Staaten am Werke seien. Die Republicans deuteten jede Maßnahme und Äußerung Hamiltons als Anzeichen für eine geheime Absicht, die republikani‐ sche Verfassung umzustürzen und eine Aristokratie oder Monarchie einzuführen. Washingtons Person wurde zumeist von diesen scharfen Attacken ausgenommen, aber der Präsident galt bald als naives Werkzeug in den Händen eine Clique von volksfeindlichen „Monokraten“. Die Democratic-Republican Societies, die sich ab 1792 in den Städten nach dem Vorbild der Jakobinerklubs bildeten, erklärten Kritik an der Französischen Revolution schlicht für unvereinbar mit freiheitlicher Gesinnung. Die Federalists hingegen prangerten die Befürworter der Revolution als „Jakobiner“ und „Sansculotten“ an und bezichtigten sie, sich von „gleichmacherischen“ Prinzipien leiten zu lassen, die „im höchsten Maße subversiv für jede Gesellschaftsordnung“ seien. Das Wirken dieses anarchischen, gottlosen Geistes, der in Frankreich zum blutigen Terror führte, glaubten sie u. a. in einer Protestbewegung zu erkennen, mit der sich Farmer in den Westgebieten 1794 gegen die erste direkte Bundessteuer wehrten, die der Kongress auf Whiskey erhoben hatte. Nach einigen ergebnislosen Vermittlungs‐ versuchen schlug die Bundesregierung diese Whiskey Rebellion unter demonstrativem Einsatz militärischer Macht nieder. Als eigentliche Urheber des Aufstands prangerte Washington Ende 1794 öffentlich die Democratic-Republican Societies an, die er für subversiv und illegal erachtete. Diese oft maßlosen gegenseitigen Anklagen und Polemiken waren Ausfluss eines „paranoiden“ politischen Stils, der schon die Auseinandersetzung mit den Briten und Loyalisten gekennzeichnet hatte. Mit ihrem Grundgedanken, dass die Freiheit der Bürger stets gefährdet sei und eifersüchtig verteidigt werden müsse, erwies sich die Country-Ideologie als günstiger Nährboden für Korruptionsängste und Ver‐ schwörungstheorien. Aus der Sicht der Federalists drohte die größte Gefahr für die 5 Die Federalists an der Macht, 1789 - 1800 79 <?page no="80"?> Verfassung von „Demagogen“, die das Volk gegen die Regierung und die „natürliche Elite“ aufhetzten. Die Republicans dagegen misstrauten gerade „den wenigen“, vor allem den Bankiers und Spekulanten, die sich auf Kosten des Volkes bereicherten und ungebührlichen politischen Einfluss ausübten. Dieser Streit, der in mancher Hinsicht an die Verfassungsdebatte anknüpfte, brachte zwei unterschiedliche Republi‐ kanismus-Versionen hervor: die sozial konservative, aber ökonomisch progressive der Federalists, die hauptsächlich in Neuengland Anklang fand; und die egalitär-agrarische, mit der die Republicans den Süden, zunehmend aber auch die Mittelstaaten eroberten. Der europäische Krieg heizte diese Konfrontation noch an, weil die Republicans ohne Zögern für die französische „Schwesterrepublik“ Partei ergriffen, während die Federalists unbedingt eine militärische Konfrontation mit der beherrschenden Seemacht England vermeiden wollten. Washington empfing zwar gegen Hamiltons Rat den französischen Gesandten Edmond Charles Genêt und erkannte damit die Revolutionsregierung implizit an. Er verschloss sich aber den Wünschen der Franzo‐ sen und dem Drängen vieler seiner Landsleute, das Bündnis von 1778 durch einen Kriegseintritt an der Seite Frankreichs zu honorieren. Vielmehr veröffentlichte er im April 1793 eine Neutralitätserklärung, die „freundliches und unparteiisches“ Verhalten gegenüber allen Krieg führenden Staaten in Aussicht stellte und den amerikanischen Bürgern verbot, sich in die Feindseligkeiten einzumischen. Obwohl dieser Kurs die Vereinigten Staaten wirtschaftlich begünstigte - die Exporte nach Europa und in die Karibik stiegen rasch an und beschleunigten den allgemeinen Aufschwung -, löste er innenpolitische Turbulenzen aus. Jefferson befürwortete zwar ebenfalls die Neutralität, hielt das Streben nach „Unparteilichkeit“ zwischen den revolutionären und den gegenrevolutionären Kräften in Europa aber für verhängnisvoll. Nach seinem Ausscheiden aus dem Kabinett Ende 1793 kritisierte er offen die pro-britische Tendenz der amerikanischen Politik, während er den Terror in Frankreich als notwendiges Übel auf dem Weg zu einer gerechten Gesellschaftsordnung verteidigte. Der Jay Treaty mit England Die innenpolitischen Spannungen kulminierten in der Debatte über den Vertrag mit England, den John Jay als Sonderbotschafter Washingtons Ende 1794 in Lon‐ don aushandelte und der im Juni 1795 im Senat nur ganz knapp die notwendige Zweidrittelmehrheit fand. Es war Jay gelungen, einige seit dem Friedensschluss von 1783 ungelöste Fragen zu klären und die Gefahr einer militärischen Konfrontation abzuwenden, die das Vorgehen der Royal Navy gegen den amerikanischen Handel mit Frankreich heraufbeschworen hatte. Dafür musste Jay aber, etwa bei der Defini‐ tion von Konterbande und in der Frage einer Entschädigung für die während des Krieges von den Briten „entwendeten“ Sklaven, schmerzliche Zugeständnisse an den englischen Rechtsstandpunkt machen. Die Republicans klagten die Regierung daraufhin an, sich der Londoner Regierung unterworfen und die befreundeten Fran‐ zosen verraten zu haben. Selbst Washington begann zu schwanken, rang sich aber Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 80 <?page no="81"?> schließlich zur Unterzeichnung des Vertrags durch. Gerechtfertigt fühlte er sich nicht zuletzt durch das provozierende Verhalten Genêts, der auf amerikanischem Boden eine Kampagne entfesselte, um die Öffentlichkeit für militärische Unternehmungen gegen Kanada und Spanisch-Louisiana zu gewinnen. Die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus weigerte sich noch bis Sommer 1796, die erforderlichen Gelder zur Implementierung des Vertrags zu bewilligen. Als der Jay Treaty endgültig in Kraft trat, bekundete das Pariser Direktorium sein Missfallen, indem es die Allianz von 1778 offiziell kündigte. Dieser negative Schritt wurde vorerst dadurch aufgewogen, dass ein weiterer Sonderbotschafter Washingtons, Thomas Pinckney, im Oktober 1795 einen günstigen Vertrag mit der spanischen Regierung ausgehandelt hatte, der den Amerikanern freie Schifffahrt auf dem Mississippi und zollfreie Ausfuhr ihrer Waren über New Orleans zusicherte. Die äußere Bedrohung und die Feindbilder, die Federalists und Republicans in ihrer Propaganda jeweils von England und Frankreich malten, trugen zur Ausbildung einer amerikanischen Identität und nationalistischer Gefühle bei. In dieser Zeit wurden die Vereinigten Staaten auch erstmals zu einem Hort politischer Flüchtlinge, unter denen sich so illustre Persönlichkeiten wie der spätere französische Außenminister Talleyrand und der Herzog von Orléans, der künftige König Louis Philippe, sowie der englische Naturwissenschaftler, Geistliche und Philosoph Joseph Priestley befanden. Gleichzeitig begann eine erste Generation von amerikanischen Historikern, Schrift‐ stellern und Künstlern, das „kulturelle Gedächtnis“ der Gesellschaft im nationalen Sinne zu prägen. In den Geschichtswerken von David Ramsay, Jeremy Belknap und Mercy Otis Warren, in den Dichtungen Francis Hopkinsons und der Connecticut Wits Joel Barlow, Timothy Dwight und David Humphreys sowie in den Historienbildern und Porträts von Charles Willson Peale, Gilbert Stuart und John Trumbull erschienen die amerikanische Revolution und Nationalstaatsgründung als logische Folge eines Freiheitskampfes, der mit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus begonnen hatte. Andererseits wirkten die ideologischen Gegensätze und die nach wie vor starken re‐ gionalen Identitäten einer Übersteigerung und Homogenisierung des amerikanischen Nationalbewusstseins entgegen. Washingtons Farewell Address Am Ende von Washingtons zweiter Amtsperiode schien sich eine unüberbrückbare Kluft zwischen Republicans und Federalists aufzutun, die noch dazu Neuengland immer mehr dem Rest der Union entfremdete. Ungeachtet aller Bitten lehnte der Präsident, der des Dauerstreits müde war und dessen Kräfte nachließen, eine erneute Kandidatur ab. In seiner Abschiedsbotschaft vom September 1796 warnte er die Landsleute eindring‐ lich vor dem „Parteiengeist“, der, geschürt durch ausländische Mächte, das Überleben der Nation gefährde. Bei dieser Verurteilung des Parteienwesens kam eine intellektuelle Begrenzung zum Vorschein, die der Präsident mit den meisten Zeitgenossen teilte: Er nahm für sich und seine Freunde in Anspruch, nur dem Gemeinwohl zu dienen, und 5 Die Federalists an der Macht, 1789 - 1800 81 <?page no="82"?> reservierte das Etikett „Partei“ für den politischen Gegner. In der Praxis hatte sich während seiner Administration schon das erste amerikanische Zweiparteiensystem herausgebildet. Dennoch verhallte die Farewell Address nicht ungehört: Washingtons Ratschlag, mit Europa so viel Handel wie möglich zu treiben, sich aber nicht in europäische Streitigkeiten hineinziehen zu lassen und Bündnisse nur im Notfall, keineswegs aber auf Dauer zu schließen, blieb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein außenpolitische Richtschnur aller amerikanischen Regierungen. George Washington hatte es in seiner achtjährigen Präsidentschaft verstanden, Maßstäbe zu setzen und Präzedenzfälle zu schaffen, die das Amt dauerhaft prägten. Alle seine Schritte - die Zusammenstellung eines Kabinetts, der Gebrauch der „Pat‐ ronage“ bei der Postenvergabe, das Verhalten gegenüber dem Kongress und dem Supreme Court, die Anwendung des Vetos, die Reisen durch alle Staaten der Union, die Empfänge und Teekränzchen, die er und seine Frau Martha in Philadelphia gaben, und vieles mehr - wurden mit höchstem Interesse verfolgt und kommentiert. Besondere Prärogativen beanspruchte Washington für die Planung und Durchführung der Außenpolitik sowie in militärischen Angelegenheiten. Das zeigte sich etwa bei der Neutralitätserklärung 1793, beim Vorgehen gegen die Whiskey Rebellion und bei der Entsendung von Sonderbotschaftern nach London und Madrid. Auch die Beziehungen zu den Indianern regelte er nahezu in eigener Regie, teils auf diplomatischem Wege, teils durch militärischen Druck. Einige Stämme erkannten Washington als „Großen Vater“ an und schickten Abgesandte zu Verhandlungen in die Hauptstadt; andere widersetzten sich dem Vordringen weißer Siedler und suchten Rückhalt bei den Briten in Kanada. Nach einigen demütigenden Niederlagen amerikanischer Truppen befahl Washington 1794 General „Mad Anthony“ Wayne, mit einer besser gerüsteten Armee den Souveränitätsanspruch der Union im Nordwest-Territorium durchzusetzen. In der Schlacht von Fallen Timbers errang Wayne einen entscheidenden Sieg über die Stämme des Ohio-Tals und zwang sie 1795 im Frieden von Greenville, weiteres Territorium zur Siedlung freizugeben. Als Gegenleistung sagten die Vereinigten Staaten jährliche Geldzahlungen zu und verzichteten auf den Anspruch, Land durch Eroberung erwer‐ ben zu können. Das Problem der Afroamerikaner sprach Washington als Präsident nie öffentlich an; nur sehr vorsichtig ließ er privat durchblicken, dass er sich auch für den Süden eine von den Einzelstaaten per Gesetz beschlossene graduelle Emanzipation der Sklaven erhoffe. Im Testament, das er kurz vor seinem Tode 1799 niederschrieb, verfügte er die Freilassung aller auf Mount Vernon lebenden Sklaven beim Tod seiner Frau Martha. So konnte er wenigstens das eigene Gewissen von einer moralischen Last befreien, die er selbst wie die meisten seiner Landsleute nach der Revolution aus dem politischen Bewusstsein verdrängt hatte. Für die weißen Amerikaner und ihren noch ungefestigten Staat war es von größtem Wert, dass Washingtons persönliche Integrität und seine Verfassungstreue außer Frage standen und dass er den Bürgern die Möglichkeit bot, sich nicht nur interesse-, sondern auch gefühlsmäßig mit der Bundesregierung zu identifizieren. Die Verehrung als pater patriae und der beginnende Washington-Kult, der bald Realität und Fiktion vermischte, Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 82 <?page no="83"?> waren ihm eher lästig, aber er nahm sie in Kauf, um die Präsidentschaft zu einem Symbol der nationalen Einheit zu machen. Wie sehr ihm das gelungen war, wurde bei seinem Tod 1799 offenbar, der die Menschen überall im Land ungeachtet ihrer parteipolitischen Orientierung zu Trauerfeiern vereinte. Dauerhaft eingeprägt hat sich Henry Lees Nachruf, Washington sei „der Erste im Krieg, der Erste im Frieden und der Erste im Herzen seiner Landsleute“ gewesen. John Adams und der Quasi-Krieg mit Frankreich Die Nachfolge Washingtons wurde in der Wahl von 1796 exakt entlang der Linien entschieden, die Federalists von Republicans trennten. Im Wahlmännerkollegium erhielt John Adams nur drei Stimmen mehr als Jefferson, dem damit laut Verfassung die Vi‐ zepräsidentschaft zufiel. Er nahm jedoch keinen Anteil an der Administration, sondern führte von Monticello aus den Kampf gegen „Antirepublikaner“ und „Monokraten“, wie er die regierenden Federalists zu nennen pflegte. Inzwischen war das innenpolitische Klima aber zu Ungunsten des französischen Direktoriums umgeschlagen, das 1797 von sich aus die diplomatischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten abbrach. Schon zuvor hatte sich die ursprünglich pro-französische amerikanische Geistlichkeit von der Revolution distanziert. Durch Deisten und andere Verfechter einer „natürlichen Reli‐ gion“ im eigenen Land herausgefordert, gewannen die meisten Pfarrer den Eindruck, der Atheismus greife von Europa auf Amerika über und bedrohe die Fundamente der Gesellschaft. Um die Jahrhundertwende löste diese Reaktion in weiten Teilen der Vereinigten Staaten eine religiöse Erweckungsbewegung aus, die in ihrer emotionalen Intensität dem Great Awakening nahekam. Die neuen revivals waren keineswegs nur rückwärts gewandt: Besonders an der Siedlungsgrenze, wo die Methodisten jetzt die größten Bekehrungserfolge erzielten, atmete die wiederbelebte Volksfrömmigkeit einen dezidiert demokratisch-egalitären Geist. Trotz der wachsenden antifranzösischen Stimmung entsandte Präsident Adams eine Verhandlungsdelegation nach Paris, die den Konflikt über Neutralität und Bündnis‐ verpflichtungen beilegen sollte. Der aus dem Asyl in den USA zurückgekehrte und zum französischen Außenminister aufgestiegene Talleyrand verlangte allerdings über Agenten (die in den amerikanischen Dokumenten als X, Y und Z auftauchten) die Zahlung einer stattlichen Summe, bevor er überhaupt in Verhandlungen eintreten wollte. Als diese Demütigung in Amerika bekannt wurde, breitete sich eine regelrechte Kriegshysterie aus, zu der John Adams durch provokative Äußerungen nicht unwesent‐ lich beitrug. Der Kongress traf militärische Vorbereitungen, die ersten leistungsfähigen Kriegsschiffe der Union wurden in Dienst gestellt, und George Washington erklärte sich noch einmal bereit, den Posten des Oberbefehlshabers zu übernehmen. Adams war aber klug genug, eine Kriegserklärung an Frankreich wegen dieser „XYZ-Affäre“ zu vermeiden, obwohl die Flotten beider Länder seit Frühjahr 1798 einen „Quasi-Krieg“ in Form von Kaperungen und kleineren Seegefechten führten. Der Präsident nahm heftige Proteste aus den Reihen der Federalists und den offenen Bruch mit Alexander Hamilton 5 Die Federalists an der Macht, 1789 - 1800 83 <?page no="84"?> in Kauf, als er 1799 eine neue Delegation nach Paris schickte. Den Abgesandten gelang es bis Oktober 1800, das umstrittene Bündnis im gegenseitigen Einvernehmen zu lösen und das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu Frankreich, das nun von Napoleon regiert wurde, fürs Erste zu bereinigen. Die Federalists, die als Sieger aus den Wahlen von 1796 hervorgegangen waren, versäumten innenpolitisch durch Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Opposition und personelle Querelen die Gunst der Stunde. Erbittert über die Pressepolemiken der Republicans, verabschiedete die Kongressmehrheit im Sommer 1798 vier Gesetze, mit denen der Widerstand in einigen Südstaaten gegen die Aufrüstung gebrochen werden sollte. Diese Alien and Sedition Acts verbanden die Beschneidung der Rechte von Neueinwanderern - das betraf vor allem Flüchtlinge aus Frankreich, die sich auf Seiten der Republicans als Journalisten engagierten - mit verschärften Beleidi‐ gungs- und Verleumdungsbestimmungen für die Presse. Geld- und sogar Haftstrafen drohten einem jeden, der „falsche, skandalöse oder böswillige“ Nachrichten über die Regierung in Umlauf brachte. Auf Initiative Jeffersons und Madisons formulierten die mehrheitlich republikanischen Parlamente von Virginia und Kentucky Ende 1798 Protestresolutionen, die das Vorgehen des Kongresses für verfassungswidrig erklärten und den Einzelstaaten das „natürliche Recht“ zusprachen, sich der Durchführung der Gesetze in den Weg zu stellen. Obwohl die Resolutionen in den anderen Parlamenten wenig Resonanz fanden, kündigte diese doctrine of interposition ein Wiedererstarken der Staaten an, die radikale Republikaner stets für die einzig wirksamen Bollwerke gegen die Allmacht der Bundesregierung gehalten hatten. Verfassungsrechtlich waren die Virginia and Kentucky Resolutions kaum weniger problematisch als die Gesetzge‐ bung der Federalists, weil sie zur Rechtfertigung einer Sezession dienen konnten; sie entsprangen aber der verständlichen Sorge, mit der Presse- und Meinungsfreiheit solle einer der Grundpfeiler der republikanischen Ordnung beseitigt werden. Die „Revolution von 1800“ Die Erregung über die Einschränkung der Grundrechte allein hätte nicht ausgereicht, um die Machtposition der Federalists zu erschüttern. Hinzu kam die selbstzerstörerische Wirkung des Konflikts zwischen Präsident John Adams und Alexander Hamilton, der seit seinem Ausscheiden aus der Regierung 1795 hinter den Kulissen die Fäden zu ziehen suchte. Durch seine öffentliche Kritik an der „schwächlichen“ Politik des Präsidenten gegenüber Frankreich und den „Feinden im Innern“ spaltete er die Anhängerschaft der Federalists. Adams wehrte sich mit dem Hinauswurf zweier Kabinettsmitglieder, die nicht ihm, sondern Hamilton die Treue hielten. Im Unterschied zu diesen Auflösungserscheinungen gelang es den Republicans durch geschicktes Taktieren, eine Achse zwischen den Südstaaten und New York zu schmieden, die den Erfolg bei den Kongress- und Präsidentschaftswahlen von 1800 verbürgte. Jefferson setzte sich gegen Adams durch, erhielt aber im Wahlmännerkolleg genauso viele Stim‐ men wie sein New Yorker Vizepräsidentschaftskandidat Aaron Burr. Laut Verfassung Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 84 <?page no="85"?> lag die Entscheidung nun beim Repräsentantenhaus, das nach Staaten abzustimmen hatte. Da Burr nicht freiwillig verzichtete, konnte Jefferson erst im 36. Wahlgang die notwendigen zehn Staaten hinter sich vereinen. In letzter Instanz verdankte er diesen Ausgang Hamilton, dessen Abneigung gegen den Virginier nicht ganz so intensiv war wie die Rivalität mit seinem New Yorker Landsmann Burr. Sie steigerte sich nun zur offenen Feindschaft, die 1804 im Duell der beiden Politiker endete, bei dem Hamilton ums Leben kam. Am 4. März 1801 wurde Thomas Jefferson als erster Präsident in der neuen Hauptstadt Washington in sein Amt eingeführt. Entgegen allen Befürchtungen, die der harte Wahlkampf mit den gegenseitigen Verdächtigungen und Verleumdungen geweckt hatte, vollzog sich die Übertragung der Macht von der Regierungspartei auf die Opposition in geordneten Bahnen. Jefferson setzte die von Washington begonnene Tradition fort, in der Inaugurationsrede die gemeinsamen Überzeugungen und Prinzi‐ pien zu betonen: „We are all Republicans, we are all Federalists.“ Mit diesem friedlichen Machtwechsel hatte die republikanische Verfassungsordnung eine weitere wichtige Bewährungsprobe bestanden. 6 Jeffersons Republikanismus als Alternative zum nationalen Machtstaat, 1801 - 1814 Der Niedergang der Federalists und das Ideal der agrarischen Republik Der antirevolutionäre Impuls, den die französischen Geschehnisse in England und auf dem europäischen Kontinent hervorriefen, wirkte sich auch in den USA aus. Allerdings war er hier nicht stark genug, um den Republikanismus und das Prinzip der Volkssouveränität selbst in Misskredit zu bringen. Die Wahl Jeffersons und der Aufstieg der Republicans gewährleistete die Fortsetzung politischer Reformen auf Staatenebene, von denen die schrittweise Beseitigung der Besitzqualifikationen und die Ausweitung des Wahlrechts die wichtigste war. Als nationale Partei konnten sich die Federalists von der Niederlage bei den Wahlen von 1800 nicht mehr erholen. Das aufwühlende Erlebnis der Französischen Revolution hatte ihre Führer, die sich als Angehörige der „natürlichen Aristokratie“ verstanden, immer konservativer und ängstlicher werden lassen. Ideologisch und organisatorisch hielten sie an veralteten, patriarchalischen Strukturen fest, und geographisch ließen sie sich in ihre neuenglischen Hochburgen zurückdrängen. Auf Bundesebene fiel ihre Stimme nur noch im Supreme Court ins Gewicht, dessen Vorsitzender John Marshall von Adams ernannt worden war. Der überzeugte Federalist Marshall scheute sich nicht, Kongress und Präsident die Grenzen ihrer Macht aufzuzeigen. 1803 nahm er die Klage eines von Adams kurz vor dem Machtwechsel berufenen, von Jefferson aber nicht mehr bestätigten Friedensrichters zum Anlass, einen Teil des Judiciary Act von 1789 für verfassungswidrig zu erklären. Mit diesem Urteilsspruch im Fall Marbury v. Madison wendete Marshall das richterliche Überprüfungsrecht (judicial review), das in den Einzelstaaten bereits hin und wieder 6 Jeffersons Republikanismus als Alternative zum nationalen Machtstaat, 1801 - 1814 85 <?page no="86"?> praktiziert worden war, erstmals auf die Gesetzgebung des Kongresses an. Dadurch verschaffte er einem Prinzip Anerkennung, das fortan den Lauf der amerikanischen Geschichte erheblich beeinflussen sollte. Unter Chief Justice Marshall fungierte das Oberste Gericht bis 1835 als Regulativ gegen einen zuweilen übermäßigen Partikula‐ rismus, der die Rechte der Staaten (states’ rights) ohne Rücksicht auf den Bundesstaat stärken wollte. Ansonsten war der Weg frei für die Republicans, die nützlichere Lehren aus den revolutionären Umwälzungen in Amerika und Europa gezogen hatten. Jefferson und Madison verleugneten keineswegs ihre Herkunft aus Virginias Pflanzerelite, aber sie propagierten einen egalitären Republikanismus, der die städtische Bevölkerung ebenso ansprach wie die Farmer und die religiösen Enthusiasten an der Frontier. Sie betonten zentrale Werte der Revolution, die unter Washington und Adams aus Sorge um den Bestand und die Sicherheit des Bundesstaates vernachlässigt worden waren: das Mitspracherecht des einfachen Bürgers; die Fähigkeit der Einzelstaaten, Verantwortung für die eigenen Belange zu übernehmen; das Misstrauen gegen kon‐ zentrierte Regierungsmacht, Bürokratie und wirtschaftliche Monopole; die Garantie der Grundrechte; und die Hochschätzung von öffentlicher Moral und Gemeinsinn als Lebenselixier von Republiken. Die Republicans bauten auf den konstitutionellen und wirtschaftlichen Grundlagen auf, die von den Federalists geschaffen worden waren. Sie sorgten nun dafür, dass der Weg des amerikanischen Bundesstaates in das 19. Jahrhundert freiheitlicher und weniger zentralistisch verlief als fast überall sonst auf der Welt. Thomas Jeffersons Leben und Werk waren nicht frei von Widersprüchen. Der Autor der Unabhängigkeitserklärung, der sich als Gegner der Sklaverei ausgab, hielt bis zu seinem Tode Sklaven - mit seiner Haussklavin Sally Hemmings zeugte er sogar, wie eine DNA-Analyse inzwischen mit Sicherheit feststellen konnte, vier Kinder. Der Politiker, der in der Opposition so energisch auf einer strikten Interpretation der Verfassung bestanden hatte, legte seine Befugnisse als Präsident gelegentlich recht weit aus. Er war allerdings weder der doktrinäre Aufklärer, als den ihn manche seiner Schriften auszuweisen scheinen, noch war er - was Hamilton als Erster behauptete - ein prinzipienloser, scheinheiliger Pragmatiker. Jeffersons achtjährige Amtsführung bewirkte keine grundlegende Umgestaltung der amerikanischen Gesellschaft, aber doch eine spürbare Akzentverschiebung und Neuorientierung. Das betraf allerdings eher die Innen- und Finanzpolitik als die Außenpolitik. Hier knüpfte der Präsident an Washingtons Neutralitätskurs an und profitierte zudem von Adams’ diplomatischem Arrangement mit Frankreich. Aus Jeffersons erster Inaugurationsrede stammt die häufig Washington zugeschriebene Warnung vor „entangling alliances“, in Streitigkeiten der Europäer hineinziehenden Bündnissen. Andererseits wünschte sich Jefferson „Friede, Handel und ehrliche Freundschaft mit allen Nationen“, was durchaus den materiellen Interessen der USA entgegenkam. Auf Grund des großen Bedarfs an amerikanischen Agrarprodukten, den die napoleonischen Kriege erzeugten, stieg der Wert der jährlichen Ausfuhren nach Europa und in die Karibik zwischen 1793 und 1807 von 26 Millionen auf Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 86 <?page no="87"?> 108 Millionen Dollar. Exportüberschüsse und Zolleinnahmen ließen die amerikanische Wirtschaft prosperieren und erhöhten das Pro-Kopf-Einkommen trotz des raschen Bevölkerungswachstums (1800 hatten die USA 5,3 Millionen, 1815 schon 8,4 Millionen Einwohner). Die Jefferson-Administration nutzte die reichlichen Zolleinkünfte jedoch nicht zur gezielten Förderung des Manufakturwesens, wie Hamilton dies wohl mit Blick auf die beginnende „industrielle Revolution“ in England getan hätte. Stattdessen bemühte sich der aus der Schweiz stammende Finanzminister Albert Gallatin, durch Sparmaßnahmen und Landverkäufe im Westen (von denen große Gesellschaften und Spekulanten am meisten profitierten) den Bundeshaushalt auszugleichen und die Staatsverschuldung zu reduzieren. Tatsächlich gelang es Gallatin, Überschüsse zu erzielen und die federal debt bis 1808 um annähernd die Hälfte auf 45 Millionen Dollar abzubauen. Jefferson und Gallatin fanden sich zwar mit der Existenz der Bank of the United States ab, deren Gründung sie 1791 als verfassungswidrig bezeichnet hatten. Im Einklang mit der republikanischen Ideologie schaffte der Kongress jedoch sämtliche internen Steuern ab, darunter die kontroverse Whiskeysteuer. Um zu sparen und der Maxime „No standing army! “ Genüge zu tun, wurde außerdem die Friedensstärke der ohnehin schon kleinen Armee auf ca. 3300 Offiziere und Mannschaften verringert. In West Point am Hudson River entstand eine Militärakademie, die den künftigen Offizieren republikanischen Geist einflößen sollte. Die meisten Kriegsschiffe ließ Jefferson außer Dienst stellen. Am deutlichsten unterschied sich Jefferson von seinen Vorgängern Washington und Adams durch den Wunsch, die Autonomie der Einzelstaaten zu stärken und die demo‐ kratische Basis des Regierungssystems zu verbreitern. Als die Alien and Sedition Acts 1801 ausliefen, lehnte der Kongress eine Verlängerung ab und erleichterte gleichzeitig die Einbürgerung von Immigranten, die nun nach fünf Jahren Aufenthalt in den USA die Staatsbürgerschaft erwerben konnten. In den Staatenparlamenten drängten die Republicans darauf, die Wahlbestimmungen in Richtung auf das allgemeine Wahlrecht für weiße Männer auszudehnen. Dieser demokratisch-republikanische Geist kehrte den Trend zum Zentralismus um, der von Hamiltons Finanzprogramm ausgegangen war. Handel und Gewerbe entwickelten sich in den Mittelstaaten und Neuengland zwar günstig, aber der generelle Charakter der amerikanischen Gesellschaft blieb doch agrarisch. Das war ganz im Sinne Jeffersons, der den Vereinigten Staaten das Schicksal Europas mit seinen eng zusammengepressten städtischen Massen und dem demoralisierenden Nebeneinander von Luxus und Elend so lange wie möglich ersparen wollte. Die Realität der nationalen Hauptstadt Washington mit ihren wenigen fertig gestellten Regierungsgebäuden, den weit verstreuten, oft noch primitiven Tavernen und Wohnhäusern und den bei schlechtem Wetter kaum passierbaren Straßen war weit entfernt von den kühnen Träumen Pierre L’Enfants und selbst von den beschei‐ denen Hoffnungen Washingtons. Der neue Präsident hing dem Ideal des Empire of Liberty an, eines Amerika der unabhängigen, freiheitsliebenden Pflanzer, Farmer und Handwerker. Der Verwirklichung dieser Vision dienten vor allem die Erschließung und Besiedlung des Westens, die nun - gewissermaßen als Gegengewicht zur Kom‐ 6 Jeffersons Republikanismus als Alternative zum nationalen Machtstaat, 1801 - 1814 87 <?page no="88"?> merzialisierung - zügig vorangetrieben wurden. Kentucky und Tennessee, denen der Kongress 1792 bzw. 1796 den Status gleichberechtigter Einzelstaaten verliehen hatte, erlebten einen Zustrom von Siedlern, der ihre Bevölkerung bis 1820 zusammen auf etwa eine Million anwachsen ließ. Aus dem Norden und der Mitte wanderten viele Familien nach Ohio ab, das 1803 als erster Staat aus dem Nordwest-Territorium in die Union aufgenommen wurde. Der Louisiana Purchase Kurz nach Jeffersons Amtsantritt zeichnete sich die beunruhigende Möglichkeit ab, dass Spanien die Kolonie Louisiana an Frankreich zurückgab und dass Napoleon, in dem Jefferson mittlerweile den „Verräter der Revolution“ sah, von der Karibik aus ein neues Empire auf dem amerikanischen Kontinent errichtete. Um einer solchen Entwicklung zuvorzukommen, die den amerikanischen Drang nach Westen hemmen musste, fasste Jefferson einen Handstreich auf New Orleans und sogar ein Bündnis mit dem ideologischen Widersacher England ins Auge. Nach der Dezimierung einer fran‐ zösischen Armee auf der Zuckerinsel Santo Domingo durch aufständische Schwarze und vor dem Hintergrund des wiederaufflammenden Krieges in Europa bot Napoleon aber im April 1803 den überraschten amerikanischen Unterhändlern James Monroe und Robert R. Livingston nicht nur New Orleans, sondern ganz Louisiana, das bis zu den Rocky Mountains und an die kanadische Grenze reichte, zum Kauf an. Napoleon benötigte das Geld für seine Rüstungen, und er kalkulierte wohl zu Recht, Frankreich werde Louisiana im Ernstfall doch nicht gegen die Vereinigten Staaten und England halten können. Jefferson griff sofort zu, obwohl er an seiner verfassungsmäßigen Befugnis zweifelte, eigenmächtig zusätzliche Gebiete mit fremder Bevölkerung in die Union zu inkorporieren. Da eine Verfassungsänderung zu lange gedauert hätte, entschied der Präsident, die Verantwortung für den Kauf zu übernehmen und sich anschließend dem Urteil des Kongresses und des Volkes zu stellen. So wechselte Louisiana noch 1803 für 15 Millionen Dollar (nach heutigem Wert etwa 180 Millionen Dollar) den Besitzer, und der Senat hieß den Kauf, der das Staatsgebiet der USA auf einen Schlag verdoppelte, nachträglich mit großer Mehrheit gut. Bestätigt wurde Jeffersons Vorgehen auch durch die unangefochtene Wiederwahl zum Präsidenten im November 1804. Nur die Federalists in Neuengland, die ihren Einfluss weiter schwinden sahen, übten heftige Kritik bis hin zu Drohungen, sie würden ihre Staaten aus der Union herauslösen. Für die Südstaatler war die Integration von New Orleans und Umgebung nicht zuletzt deshalb so bedeutsam, weil auf diese Weise das System der Sklaverei gefestigt und ausgebaut werden konnte. Das Mississippidelta, in dem schon seit der französischen Kolonisation im 17. Jahrhundert viele Schwarze und andere people of color lebten, eignete sich besonders gut für den Baumwollanbau, und der Export der Baumwolle nach Europa erfolgte hauptsächlich über den Hafen von New Orleans. Bald stand die Stadt auch in dem zweifelhaften Ruf, über den größten Sklavenmarkt der USA zu verfügen. Viele Neuengländer glaubten deshalb im Erwerb zusätzlichen Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 88 <?page no="89"?> Sklaventerritoriums das eigentliche Motiv des Louisiana Purchase zu erkennen. Die von den Republicans betriebene und von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragene Politik der Westexpansion gab also den sektionalen Spannungen und dem Parteienkonflikt neue Nahrung. Karte 3: Die 13 Gründerstaaten und die territoriale Expansion bis 1803 Als Staatsmann und Wissenschaftler hatte Jefferson großes Interesse an den Westge‐ bieten, aber er selbst war nie über die Appalachen hinausgelangt. Dafür veranlasste er den Kongress, seinen Sekretär Meriwether Lewis und den Offizier William Clark 1804 auf Erkundungsreise in die neu erworbenen Gebiete zu schicken. Mit Hilfe indianischer Scouts drang die Expedition von St. Louis entlang des Missouri und dann - auf der vergeblichen Suche nach einer schiffbaren Route - über die Rocky Mountains bis nach Oregon und an den Pazifik vor. Lewis und Clark sammelten Informationen, aber auch kuriose Gerüchte über die Ureinwohner, die Geographie, die Bodenschätze und die Pflanzen des Westens. Nach ihrer Rückkehr 1806 konnten sie die ersten verlässlichen Karten für den Raum zwischen Mississippi und Pazifischem Ozean vorlegen. Das war der Auftakt zu einer Vielzahl amerikanischer Forschungsaktivitäten und Handelsunternehmungen, die von den Spaniern in Neu-Mexiko und Kalifornien misstrauisch beobachtet und gelegentlich auch behindert wurden. Der „zweite Unabhängigkeitskrieg“ gegen England Obwohl Präsident Jefferson peinlich genau auf die Wahrung der Neutralität bedacht war, gerieten die Vereinigten Staaten in seiner zweiten Amtszeit zwischen die Mühl‐ 6 Jeffersons Republikanismus als Alternative zum nationalen Machtstaat, 1801 - 1814 89 <?page no="90"?> steine des englisch-französischen Krieges. Sowohl Napoleons Kontinentalsperre als auch die britische Gegenblockade beeinträchtigten den Handel der Neutralen. Schwe‐ rer ins Gewicht fiel aus amerikanischer Sicht die restriktive Haltung Englands, dessen Flotte nach der Schlacht von Trafalgar 1805 den Atlantik beherrschte. Als schlimmste Demütigung wurde das „Matrosenpressen“ der Briten empfunden, die Entführung mehrerer tausend angeblicher englischer Deserteure von gekaperten amerikanischen Handels- und sogar Kriegsschiffen. Jefferson und Außenminister Madison glaubten, die Vereinigten Staaten verfügten über eine scharfe wirtschaftliche Waffe, mit der sie sich zur Wehr setzen konnten, ohne Krieg führen zu müssen. Auf ihre Empfehlung beschloss der Kongress Ende 1807 einen Stopp sämtlicher Exporte aus den USA, der die europäischen Kontrahenten zur Beachtung der Neutralitätsrechte zwingen sollte. Anstatt jedoch Engländer oder Franzosen ernsthaft zu beeindrucken, verleitete dieses Embargo-Gesetz viele neuenglische Kaufleute, die ohnehin mit den Engländern sympathisierten, zum Schmuggel und zu anderen illegalen Aktivitäten. Den Schaden hatten in erster Linie Pflanzer und Farmer, die auf ihren Produkten sitzen blieben. Während der Einfluss des Embargos auf das Geschehen in Europa verschwindend gering blieb, untergrub es daheim die Autorität der Bundesregierung und säte zusätz‐ liches Misstrauen zwischen den Regionen. Innenpolitisch behielten die Republicans trotz dieses Debakels das Heft in der Hand, wie der reibungslose Übergang der Präsidentschaft von Jefferson, der nach zwei Amtsperioden aus Prinzip nicht mehr kandidierte, auf James Madison Anfang 1809 veranschaulichte. Madison gestand schließlich die Wirkungslosigkeit des Embargos ein, und noch im Jahr 1809 hob der Kongress das Gesetz wieder auf. Als klar wurde, dass auch andere Formen diplomatischen und wirtschaftlichen Drucks London nicht zum Einlenken bewegen konnten (während Napoleon zumindest nach außen hin Entgegenkommen signalisierte), erschien einer wachsenden Zahl von Amerikanern der erneute Griff zu den Waffen als einziger Ausweg aus dem Dilemma. Vorbehalte gab es in Neuengland und entlang der Küste, wo man die Gefahr, die von der englischen Flotte ausging, besser einzuschätzen vermochte. Umso energischer schürten die republikanischen Südstaatler, die ein Auge auf das spanische Florida geworfen hatten, und westliche Abgeordnete, die über die Zusammenarbeit der Anglo-Kanadier mit den Indianern an der Frontier erbost waren, die Kriegsstim‐ mung. Den entscheidenden Anstoß gab 1811 die Erhebung einer Konföderation von Stämmen unter dem Shawnee-Häuptling Tecumseh im Ohio- und Mississippi-Gebiet. Tecumseh hatte mit Hilfe der Briten die Indianerkonföderation des Nordwestens aus den 1790er Jahren wiederbelebt und auch die weiter südlich lebenden Stämme einbezogen. Sein Bruder Tenskwatawa, der als Prophet galt, verlieh dem Widerstand durch die Beschwörung einer gemeinsamen indianischen Vergangenheit und durch Weissagungen den Charakter einer religiösen Erweckungsbewegung. Zwar gelang es dem Gouverneur des Indiana-Territoriums, William Henry Harrison, die Indianer in der Schlacht von Tippecanoe zu besiegen und ihre heilige Stadt niederzubrennen, doch die Nachricht von dem Aufstand stärkte die Kriegspartei in Washington. Der Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 90 <?page no="91"?> eher zögerliche Madison beugte sich jetzt dem Druck der War Hawks um Henry Clay aus Kentucky und John C. Calhoun aus South Carolina und forderte die britische Regierung ultimativ auf, die amerikanische Souveränität in den Westgebieten und die Rechte der Neutralen im Atlantik zu respektieren. Ohne lange auf Antwort zu warten, verfasste der Präsident eine Kriegsbotschaft und leitete sie im Juni 1812 an den Kongress weiter. Mit relativ knappen Mehrheiten, in denen sich die sektionalen Differenzen widerspiegelten, erklärten daraufhin der Senat und wenig später auch das Repräsentantenhaus Großbritannien den Krieg. Offiziell war viel vom Schutz der „nationalen Ehre“ und des Völkerrechts die Rede, doch die eigentliche Triebfeder bildete der territoriale Expansionsdrang der Republicans im Süden und Westen der Union. Die militärischen Auseinandersetzungen nahmen allerdings einen wesentlich un‐ günstigeren Verlauf, als die Kriegstreiber vorhergesagt hatten. In der amerikanischen Planung und Rüstung wurden eklatante Mängel und Versäumnisse offenbar, die nicht zuletzt von den ideologischen Vorbehalten der Republicans gegen ein professionelles Militärwesen und von ihrem naiven Vertrauen auf Bürgermilizen herrührten. Weder gelang die Eroberung Kanadas oder Floridas, noch konnte die britische Küstenblockade gebrochen werden. An der kanadischen Grenze lieferten sich die Amerikaner wech‐ selhafte Gefechte mit den Briten und den sie unterstützenden Indianerstämmen, und auf den Großen Seen errang US-Commodore Oliver Perry einige Achtungserfolge über britisch-kanadische Verbände. Im Sommer 1814 mussten die Amerikaner aber erleben, dass ein feindliches Flottengeschwader durch die Chesapeake Bay bis nach Washington vordrang und - offiziell als Vergeltung für amerikanische Attacken in Kanada - die Regierungsgebäude einschließlich der Kongressbibliothek in Brand steckte. Ende 1814 drohte sogar eine groß angelegte britische Zangenoperation von Kanada und New Orleans aus die Union in zwei Teile zu spalten. Die amerikanische Schwäche hatte auch innenpolitische Gründe, denn die Federa‐ lists, geführt von einem jungen Kongressabgeordneten aus New Hampshire, Daniel Webster, behinderten ganz offen die Kriegsanstrengungen der Madison-Administra‐ tion. Einige Gouverneure gingen so weit, ihren Staatenmilizen die Beteiligung an einer Invasion Kanadas zu verbieten. Bostoner Kaufleute und Bankiers weigerten sich, den Krieg durch Anleihen zu finanzieren, und investierten stattdessen in britische Wertpapiere. Auf Einladung des Parlaments von Massachusetts versammelten sich im Dezember 1814 Federalists aus allen Neuenglandstaaten zu einem Konvent in Hartford, Connecticut. Eine Minderheit der Delegierten forderte die Sezession, während sich die Mehrheit mit Verfassungsreformen begnügen wollte, die auf eine Beseitigung der re‐ publikanischen Vorherrschaft in Washington zielten. Inzwischen hatten amerikanische Truppen aber den Vormarsch der Briten aus Kanada bei Albany aufgehalten, und der indianische Widerstand begann zu versiegen, als sich die Nachricht verbreitete, dass Tecumseh im Oktober 1813 an der kanadischen Grenze gefallen war. Auch weltpolitisch ergab sich eine völlig neue Lage: Nach dem Sieg über Napoleon in Europa war die englische Regierung nun daran interessiert, ihre Handelsbeziehungen mit Amerika 6 Jeffersons Republikanismus als Alternative zum nationalen Machtstaat, 1801 - 1814 91 <?page no="92"?> wieder zu normalisieren. Aus der Einsicht heraus, dass keine Seite mehr in der Lage war, einen eindeutigen militärischen Sieg zu erringen, nahmen Unterhändler beider Seiten (für die USA John Quincy Adams, Albert Gallatin und Henry Clay) im flämischen Gent Gespräche auf. Sie führten Weihnachten 1814 zu einem Kompromissfrieden, der im Wesentlichen den Status quo vor Kriegsausbruch wiederherstellte. Die Amerikaner hatten keines ihrer Kriegsziele erreicht, aber die Massen feier‐ ten den Friedensschluss dennoch als Sieg im „zweiten Unabhängigkeitskrieg“. Dem patriotischen Stolz genügten Episoden wie die Verteidigung Baltimores, die einen Augenzeugen, den Rechtsanwalt Francis Scott Key, zum Verfassen der martialischen Verse des „Star-Spangled Banner“ inspiriert hatte; oder General Andrew Jacksons glänzender Sieg über britische Landungstruppen bei New Orleans im Januar 1815 - zu einem Zeitpunkt, als die Feindseligkeiten offiziell bereits beendet waren. Das wichtigste praktische Ergebnis aus amerikanischer Sicht war zweifellos die Bestätigung der terri‐ torialen Souveränität und Integrität der Vereinigten Staaten. Ferner entfielen nach der Wiederherstellung des Friedens in Europa auch die meisten Handelsbeschränkungen, unter denen die amerikanische Republik seit ihrem Ausscheiden aus dem britischen Empire gelitten hatte. Eher gegen die Intentionen der Republicans hatten das Embargo und der Krieg dem amerikanischen Manufakturwesen einen ersten wichtigen Wachs‐ tumsschub versetzt. Innenpolitisch schließlich verscheuchte der Vertrag von Gent das Gespenst der Sezession, das durch die Konfrontation zwischen republikanischen War Hawks und neuenglischen Federalists heraufbeschworen worden war. Zu den Hauptleidtragenden zählten ein weiteres Mal die Indianer, deren Bündnis mit den Engländern nur zu Niederlagen und Landabtretungen geführt hatte. Die USA am Ende der Revolutionsepoche Nach einem halben Jahrhundert voller Kämpfe und Kriege, raschen sozialen Wandels und tiefgreifender konstitutioneller Neuordnungen ging die Revolutionsepoche in Amerika und Europa zu Ende. Im Schatten des Wiener Kongresses vollzogen die Vereinigten Staaten - immer noch als eine Art „Juniorpartner“ - den Eintritt in den Welthandel und in die Politik der großen Mächte. Auf ihrer Seite des Atlantiks setzten die Prinzipien der Volkssouveränität, des Föderalismus und der unantastbaren Grundrechte der staatlichen Macht Grenzen und sicherten die Freiheit des Individuums einschließlich seines Strebens nach Glück, Erfolg und Gewinn. Trotz der großen regionalen Unterschiede und politischen Differenzen war es gelungen, mit Hilfe wirksamer Symbole - die Gründungsdokumente, das Sternenbanner, die (noch inoffi‐ zielle) Hymne - zumindest in Ansätzen eine nationale Identität zu konstruieren. Bei bestimmten regelmäßigen Anlässen - dem Unabhängigkeitstag am 4. Juli, Washingtons Geburtstag, der Inauguration eines Präsidenten - verband die civil religion alle diese Elemente mit ihren ebenso schlichten wie populären Ritualen. Darüber hinaus hatten sich die Amerikaner in der Gestalt des Uncle Sam, bei der ein Armeelieferant aus dem Krieg von 1812 Pate stand, eine volkstümliche Figur geschaffen, auf die sie ihre Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 92 <?page no="93"?> tatsächlichen und vermeintlichen „nationalen Charaktereigenschaften“ projizieren konnten. Vor allem war aber die Geschichte selbst, das gemeinsame Erlebnis von Revolution, Unabhängigkeitskrieg und Verfassungsgebung, zu einem einigenden Band geworden. Jedoch waren auch in Amerika längst nicht alle Verheißungen von Revolution und Unabhängigkeit in Erfüllung gegangen. Die Vorstellung einiger intellektueller Nationalisten, die Vereinigten Staaten könnten sich wirtschaftlich und kulturell ganz von Europa „abnabeln“, erwies sich rasch als illusorisch. Die USA waren nach wie vor ein peripherer Teil des atlantischen Handelssystems, dessen Zentrum in London lag, und die amerikanische Elite übernahm weiterhin künstlerische Stile und geis‐ tige Strömungen wie Klassizismus und Romantik aus Europa. Gemessen an dem Ausbruch kultureller Kreativität im Europa des frühen 19. Jahrhunderts, verbunden mit Namen wie Goethe, Shelley, Beethoven, Turner und Goya, sanken die Vereinigten Staaten eher noch weiter in die Mittelmäßigkeit ab. Der frühe Reformeifer, der eine allgemeine Anhebung des Niveaus im Bildungs- und Gesundheitswesen erstrebt hatte, machte allzu schnell kleinlichen Sparsamkeitserwägungen Platz oder fiel dem Staatenpartikularismus zum Opfer. Die Frauen waren wegen ihrer erzieherischen Funktion als „republican mothers“ zwar ideologisch aufgewertet worden, aber an ihrer untergeordneten rechtlichen Stellung hatte sich kaum etwas geändert, und politisch blieben sie trotz der Mahnungen von Abigail Adams und der Popularität von Mercy Otis Warren weiterhin unmündig. Anstatt das Geschlechterverhältnis nach naturrechtlichen Prinzipien neu zu ordnen, hielten Politiker und Juristen an common law-Grundsätzen fest, denen zufolge verheiratete Frauen weder autonome Rechtssubjekte noch mündige Staatsbürgerinnen waren. Im Verhältnis zu den indiani‐ schen Ureinwohnern geriet die ursprünglich für möglich erachtete Integration durch Assimilierung und Christianisierung allmählich aus dem Blick; vielmehr zeichnete sich als „Lösung“ des Indianerproblems spätestens nach dem Krieg von 1812 / 14 eine brutale Verdrängungspolitik ab. Den sichtbarsten Widerspruch zu den „Ideen von 1776“ bildete aber das Fortbestehen der Sklaverei über das 1808 vom Kongress verhängte Verbot des Sklavenhandels hinaus. Südstaaten-Pflanzer hatten die 20-Jahres-Frist seit Annahme der Verfassung genutzt, um 250.000 neue Afrikaner zu importieren, etwa ebenso viele wie während der gesamten Kolonialzeit. Schon die Beratungen des Verfassungskonvents von Phila‐ delphia und die Ratifizierungsdebatten in den Staaten hatten erkennen lassen, dass der Antisklaverei-Impuls der ersten Revolutionsphase an Kraft verlor. Als Sklavereigegner den neuen Kongress 1790 mit Petitionen bestürmten, stellte sich die Mehrheit unter Führung von James Madison auf den Standpunkt, dass die Sklaverei - anders als der Sklavenhandel - allein Angelegenheit der Einzelstaaten sei. Ab den 1790er Jahren ver‐ schlechterte sich die Lage der Afroamerikaner vor allem aus zwei Gründen weiter: Zum einen führte der blutige Sklavenaufstand in der französischen Kolonie Santo Domingo (Haiti) den amerikanischen Pflanzern die Gefahren des Sklaverei-Systems vor Augen und veranlasste sie zu schärferen Kontrollmaßnahmen. Diese Schutzvorkehrungen 6 Jeffersons Republikanismus als Alternative zum nationalen Machtstaat, 1801 - 1814 93 <?page no="94"?> wurden weiter perfektioniert, als sich in den Südstaaten selbst Anzeichen von Sklaven‐ unruhen - etwa die von Gabriel Prosser organisierte Verschwörung in Virginia im Jahr 1800 - bemerkbar machten. Noch wichtiger war aber ein zweiter Faktor: die steigende Nachfrage nach Baumwolle in Europa, die vor allem die Industrialisierung Englands erzeugte. Bis zur Jahrhundertwende hatten die meisten Sklaven noch auf Tabak-, Zuckerrohr- oder Reisplantagen gearbeitet. Danach ließen technische Innovationen wie Eli Whitneys Entkernungsmaschine sowie die Erschließung fruchtbaren Landes im Südwesten den Baumwollanbau immer lukrativer und die Sklaven als Arbeitskräfte und „Kapital“ entsprechend wertvoller werden. Auch nach 1808 gelangten weiterhin Sklaven in die USA, weil die Bundesregierung über keine geeigneten Mittel verfügte, das Einfuhrverbot durchzusetzen, und weil die weiße Bevölkerung im Süden mit den Schmugglern sympathisierte. Außerdem setzte nun ein schwunghafter interner Handel zwischen den Staaten an der Atlantikküste und dem Mississippital ein, der es den Pflanzern in Richmond, Charleston und Savannah ermöglichte, ihre Sklaven profitabel abzusetzen. Legale und illegale Einfuhren aus Afrika und der Karibik, vor allem aber die natürliche Vermehrung ließen die Zahl der Sklaven im amerikanischen Süden zwischen 1790 und 1820 von 700.000 auf über 1,5 Millionen (= 40 Prozent der Bevölkerung) ansteigen. Das entlarvte die Erwartung vieler Revolutionäre, zu denen auch Jefferson und Madison gehörten, die Sklaverei werde sich nach der Einfuhrsperre von 1808 „auf natürlichem Wege“ erledigen, als Wunschdenken. Die Freilassungen, die während der Revolution im Norden und im Oberen Süden erfolgt waren, fielen dagegen zahlenmäßig kaum ins Gewicht. 1810 waren ca. 190.000 Afroamerikaner rechtlich frei (= 13,5 Prozent der gesamten schwarzen Bevölkerung der USA), und knapp 110.000 von ihnen lebten in den Südstaaten. Danach ging der prozentuale Anteil der freien Schwarzen jedoch kontinuierlich zurück, weil die Südstaatenparlamente (mit Ausnahme von Delaware und Maryland) die Emanzipation immer mehr erschwerten oder ganz verboten. Pläne, durch den Verkauf von Land im Westen Finanzmittel zu beschaffen, mit denen die Sklavenbesitzer entschädigt werden könnten, ließen sich nicht realisieren. Auch die Bemühungen um eine Rücksiedlung von Schwarzen nach Afrika, die seit dem Frieden von 1814 zunahmen und 1816 zur Gründung der American Colonization Society führten, konnten an Wachstum und Ausbreitung der Sklaverei nichts ändern. Unabhängigkeitskrieg und Revolution hatten dazu beigetragen, die demographi‐ schen und ideologischen Unterschiede zu verschärfen, die hinsichtlich der Sklaverei von jeher zwischen Norden und Süden bestanden. Der Gründergeneration war es nicht gelungen, den von vielen schmerzlich verspürten Widerspruch zwischen Recht und Moral auf der einen und wirtschaftlichen Interessen und rassischen Vorurteilen auf der anderen Seite zu lösen. Privat standen politische Führer wie Washington, Jefferson und Madison dem System der Sklaverei durchaus kritisch gegenüber, aber sie fanden nicht den Mut, an die Spitze einer Bewegung zur Überwindung dieses gesellschaftlichen Übels zu treten. Da es ihnen nie ganz gelang, sich von der Annahme einer „natürlichen Minderwertigkeit“ der Schwarzen frei zu machen, sahen sie auch keine echte Möglichkeit für ein dauerhaftes friedliches Zusammenleben von weißen Kapitel 2: Revolution, Verfassungsgebung und Anfänge des Bundesstaates, 1763 - 1814 94 <?page no="95"?> und schwarzen Bürgern in der neuen Republik. Nach 1820 blieb den Gegnern der Skla‐ verei wenig mehr übrig, als das weitere Vordringen dieser „eigentümlichen Institution“ (peculiar institution) in die Westgebiete zu verhindern. Die Probleme, die sich aus dem Zusammenhang von territorialer Expansion und Sklaverei für den Bestand der Union ergaben, traten nun immer deutlicher zu Tage. 6 Jeffersons Republikanismus als Alternative zum nationalen Machtstaat, 1801 - 1814 95 <?page no="97"?> Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 Nach 1815 unterschieden sich die Vereinigten Staaten fundamental vom kolonialen Amerika der 1760er Jahre, aber sie entsprachen keineswegs den Wunschbildern, die Revolutionären wie John Adams oder Thomas Jefferson vorgeschwebt hatten. Um diese Zeit existierte in den USA, wie der Historiker Gordon S. Wood schreibt, „die am meisten egalitäre, individualistische und erwerbsorientierte Gesellschaft der Welt“. Im Verlauf der Revolution und der beiden Kriege gegen England waren die materiellen wie die geistigen Fesseln gesprengt worden, die Nordamerika noch mit der ständisch-hierarchischen Welt der frühen Neuzeit verbunden hatten. Die common people, die einfachen Leute, traten handelnd in die Geschichte ein, und wer politisch reüssieren wollte, konnte ihre Wünsche und Ängste nicht mehr außer Acht lassen, geschweige denn sie verächtlich behandeln. Diesem Transformationsprozess fielen die idealistischen Vorstellungen von den überschaubaren Gemeinschaften tugendhaf‐ ter, selbstloser Bürger oder von der wohlmeinenden Herrschaft einer „natürlichen Aristokratie“ zum Opfer. Dafür bot das neue Amerika jedem Einzelnen seiner weißen männlichen Bürger unvergleichlich gute Chancen, das eigene Los ohne Rücksicht auf traditionelle Rangordnungen und gesellschaftliche Konventionen zu verbessern. Jetzt begann Crèvecoeurs Aussage Sinn zu machen, dass in Amerika ein „neuer Mensch“ geboren werde, der seine europäischen Vorurteile und Gewohnheiten gegen neue Lebensformen austauscht, der neuen Regierungen gehorcht und nach neuen Prinzipien handelt. Das bedeutete zwar keineswegs den Abbau aller sozialen Schranken und Hierarchien oder gar eine Annäherung der Besitzverhältnisse zwischen Arm und Reich. Es traf natürlich auch nicht auf die Sklaven, die meisten freien Afroamerikaner und die Masse der Frauen zu, die materiell und rechtlich von ihren Vätern und Ehemännern abhängig blieben. Die neue Gesellschaftsordnung war aber doch bemerkenswert offen, durchlässig und mobil, und ihre Struktur formte sich immer stärker aus den wandelbaren Gegebenheiten von persönlichem Verdienst, beruflichem Erfolg und politischem Ansehen. In den Südstaaten spielte Land- und Sklavenbesitz nach wie vor die beherrschende Rolle, aber überall sonst bemaß sich der soziale Status eher nach der Fähigkeit, Kapital zu akkumulieren und es in Handel und Industrie Gewinn bringend anzulegen. Equality, verstanden als soziale Ebenbürtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz, wurde zum zentralen Wert und wirksamen Schlagwort, obwohl die Besitzunterschiede eher zuals abnahmen. Die „Gründerväter“ John Adams und Thomas Jefferson, die ihre politischen Gegen‐ sätze in einer 1812 wieder aufgenommenen Korrespondenz allmählich überwanden, fühlten sich von dem rastlosen Streben der Amerikaner nach materiellen Gütern eher befremdet. Die große Mehrheit ihrer Landsleute machte aber resolut-optimistisch von den sich bietenden Gelegenheiten Gebrauch und setzte damit eine wirtschaftliche und <?page no="98"?> gesellschaftliche Dynamik in Gang, die nicht mehr zum Stillstand kommen sollte. Der auf das private Interesse ausgerichtete Individualismus und der durch ihn entfesselte Wettbewerb wurden zum Kern einer neuen, „liberalen“ amerikanischen Identität. Starke Gegengewichte bildeten jedoch weiterhin der egalitäre, gemeinschaftsorien‐ tierte Republikanismus, der die Werte der Revolution hochhielt, und die evangelikale Volksfrömmigkeit, die immer wieder soziale Reformimpulse freisetzte. Die Entstehung eines nationalen Marktes und der Übergang vom Agrar- und Handelskapitalismus zur Industrialisierung erzeugten Spannungen zwischen den sich neuformierenden Gesellschaftsschichten sowie zwischen privatem Egoismus und der Notwendigkeit des sozialen Zusammenhalts. Aus diesen Spannungen ging bis zur Jahrhundertmitte eine eigentümliche, regional unterschiedlich geprägte Kultur hervor, in der sich frühindustrieller Kapitalismus, demokratischer Republikanismus und evangelikaler Protestantismus gegenseitig durchdrangen. Die Risiken und Gefahren des hemmungslosen Besitzindividualismus veranschau‐ lichte schlaglichtartig die Finanzpanik von 1819, die aus übersteigerter Landspekula‐ tion im Westen resultierte und eine mehrjährige Rezession nach sich zog. Dieser Krise sollten bis 1860 noch zwei weitere schwere wirtschaftliche Einbrüche folgen, doch keiner von ihnen konnte für längere Zeit den säkularen Wachstumstrend aufhalten, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte. In dreifacher Hinsicht standen die Zeichen im postrevolutionären Amerika auf Expansion: Politisch verlangten immer mehr Menschen nach Mitsprache und wurden immer breitere Bevölkerungsschichten durch die Parteien in den politischen Prozess einbezogen; ökonomisch wuchsen die Vereinigten Staaten zu einem großen Binnenmarkt zusammen und weiteten gleichzei‐ tig ihre Handelsbeziehungen zum Rest der Welt aus; und territorial gelang ihnen im Krieg gegen Mexiko 1846-1848 der endgültige Durchbruch zum Pazifik. Gerade diese rasche Expansion, ab den 1840er Jahren verbunden mit einer Masseneinwanderung aus Europa, verschärfte aber auch die regionalen Gegensätze und heizte den Streit um die Sklaverei an, der 1861 in die Zerreißprobe des Bürgerkriegs führte. 1 Die Era of Good Feeling Grenzregelungen und Monroe-Doktrin Nach dem zweiten Krieg gegen England innerhalb einer Generation schienen die Ame‐ rikaner endlich zu sich selbst gefunden zu haben. Die Hoffnungen auf gesellschaftliche Harmonie und wirtschaftlichen Fortschritt bündelten sich in dem Begriff der Era of Good Feeling, den ein Bostoner Journalist prägte und der bald mit der Präsidentschaft von James Monroe (1817-1825), dem vierten Virginier nach Washington, Jefferson und Madison, verbunden wurde. Es schien, als könne der Parteienstreit nun endgültig beigelegt werden, denn auch die verbliebenen Federalists unterstützten Monroe, und John Adams’ Sohn John Quincy Adams, ein typischer Repräsentant der gebildeten neuenglischen Elite, trat in Monroes Kabinett ein. Das gestiegene nationale Selbstbe‐ Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 98 <?page no="99"?> wusstsein der Amerikaner spiegelte sich am deutlichsten in der Außenpolitik, die John Quincy Adams über mehr als ein Jahrzehnt, zuerst als Secretary of State und dann als Präsident (1825-1829), maßgeblich mitbestimmte. Adams, der in Europa diplomatische Erfahrungen gesammelt hatte, stellte das nationale Interesse der Vereinigten Staaten über alle parteipolitischen und sektionalen Erwägungen. Er ging von der Prämisse aus, dass Distanz zu Europa und territoriale Expansion auf dem nordamerikanischen Kontinent die Voraussetzungen für das Überleben des „republikanischen Experiments“ seien. Da England weiterhin als gefährlicher Gegner galt, und da auch die innere Stabilität der Union zu berücksichtigen war, sollte diese Expansion behutsam und unter Vermeidung von Kriegen erfolgen. Flankiert werden musste sie durch eine Ausweitung und Diversifizierung des amerikanischen Handels, der immer noch stark auf die Nordatlantikroute konzentriert war. Die Schwächung der Kolonialmacht Spanien durch Revolten und Unabhängigkeits‐ bewegungen in Lateinamerika nutzte John Quincy Adams, um mit dem Erwerb von Florida einen Präzedenzfall zu schaffen. Das seit dem Louisiana Purchase zwischen Spanien und den USA umstrittene West-Florida war schon 1810 von Präsident Madison annektiert worden. Der Druck auf Ost-Florida wuchs durch das Vordringen amerika‐ nischer Siedler und durch militärische Strafexpeditionen, die General Andrew Jackson 1818 ohne Rücksicht auf die spanische Souveränität gegen Seminolen-Indianer und geflohene Sklaven unternahm. Bei den Grenzverhandlungen, die Adams seit 1817 mit dem spanischen Gesandten Luis de Onís führte, nutzte er diese Konstellation geschickt aus. 1819 erreichte er einen Vertragsabschluss, der den USA gegen die Übernahme von 5 Millionen Dollar spanischer Schuldverpflichtungen endgültig ganz Florida sicherte. Dieser Adams-Onís-Vertrag (oder Transcontinental Treaty) reichte aber noch weiter, denn erstmals wurde die gesamte spanisch-amerikanische Grenze vom Golf von Mexiko bis zum Pazifik fixiert. Während die USA ihren Anspruch auf Texas fallen ließen, verzichtete Spanien auf alle Gebiete jenseits der Rocky Mountains, die nördlich des 42. Breitengrades, d. h. nördlich von Kalifornien lagen. Diesen Erfolg sicherte Adams durch Verhandlungen mit England ab, die er schon als Gesandter in London begonnen hatte. Nachdem 1817 die beiderseitigen Flottenstärken auf den Großen Seen begrenzt worden waren, einigte man sich in der Konvention von 1818 darauf, dass von den Seen zu den Rocky Mountains der 49. Breitengrad die amerika‐ nisch-kanadische Grenze bilden sollte. Im riesigen Oregon-Gebiet jenseits der Rocky Mountains überschnitten sich die Souveränitätsansprüche von Spanien, Russland, Großbritannien und den USA. Während die Präsenz der kanadischen Northwest Company für London sprach, berief sich Washington auf die Expedition von Lewis und Clark sowie auf die Gründung der Pelzhandelsstation Astoria, die allerdings 1813 an die Briten gefallen war. 1818 vereinbarte man nun, das gesamte Territorium für zehn Jahre unter gemeinsame englisch-amerikanische Verwaltung zu stellen - eine Regelung, die 1827 auf unbegrenzte Zeit verlängert wurde. Von diesen Abmachungen und dem Adams-Onís-Vertrag führte eine gerade Linie zu der außenpolitischen Botschaft, die Präsident James Monroe am 2. Dezember 1 Die Era of Good Feeling 99 <?page no="100"?> 1823 an den Kongress richtete und die später als Monroe-Doktrin bekannt wurde. Den Hintergrund bildete Adams’ Sorge vor einer Intervention der Heiligen Allianz gegen die südamerikanischen Staaten, insbesondere Mexiko, deren Unabhängigkeit die USA gerade anerkannt hatten. Darüber hinaus galt es, ein russisches Vordringen im pazifischen Westen zu verhindern, nachdem Zar Alexander I. exklusive Handelsrechte für die Russian American Company von Alaska bis Kalifornien reklamiert hatte. Im Kern enthielt Monroes Botschaft eine Warnung an die Adresse der europäischen Mächte und Russlands, dass die Vereinigten Staaten jegliche Rekolonisierung oder den Erwerb neuer Kolonien in Amerika als Gefahr für ihre eigene Sicherheit betrachten würden. Im Gegenzug sagten die USA zu, sich aus den europäischen Angelegenheiten einschließlich der existierenden Kolonien in Kanada, der Karibik und Südamerika herauszuhalten. Den europäischen Regierungen blieb natürlich die Diskrepanz zwi‐ schen dem rhetorischen Anspruch und dem tatsächlichen politisch-militärischen Durchsetzungsvermögen der Amerikaner nicht verborgen. Konservative Staatsmänner wie Metternich verstanden Monroes Konzept der „westlichen Hemisphäre“, in der die europäischen Gesetze der balance of power nicht gelten sollten, dennoch als unerhörte Herausforderung und bestritten die völkerrechtliche Grundlage des Kolonisierungs‐ verbots. In der Praxis wurde die Freiheit der südamerikanischen Staaten vorerst weniger durch die Vereinigten Staaten als durch England garantiert, das den Kontinent als seine vorrangige wirtschaftliche Interessensphäre betrachtete. Die Rivalitäten und ideologischen Gegensätze der europäischen Mächte, die John Quincy Adams in sein Kalkül einbezog, minderten die Kriegsgefahr und verschafften den USA eine für die innere Konsolidierung dringend benötigte, mehr als zwanzigjährige außenpolitische Ruhephase. Sie ließ sich auch zur Steigerung des Handels und zur Suche nach neuen Märkten nutzen, was die Bundesregierung nach Kräften durch Handelsverträge, den Ausbau des Konsulardienstes und die Verstärkung der Kriegsflotte förderte. Der Missouri-Kompromiss Vom Beginn des Jahrhunderts bis 1819 waren drei Sklavenstaaten (Louisiana, Missis‐ sippi, Alabama) und drei „freie“ Staaten (Ohio, Indiana, Illinois) neu in die Union aufgenommen worden, die nun 22 Mitglieder zählte. 1819 beantragten auch die Siedler von Missouri beim Kongress die Aufnahme, da die Bevölkerung des Territoriums die erforderliche Zahl von 60.000 erreicht hatte, 10.000 von ihnen Sklaven. Während die früheren Beitritte eher routinemäßig abgewickelt worden waren, entbrannte im Kongress über diesen Antrag erstmals ein heftiger Streit, der die politische Sprengkraft der Sklavereifrage schlaglichtartig deutlich machte. Die Vertreter der Nordstaaten, die im Repräsentantenhaus auf Grund ihrer Bevölkerungsstärke die Mehrheit hatten, wollten eine Klausel in die von Missouri vorgelegte Verfassung einfügen, die den Staat auf eine graduelle Emanzipation der Sklaven verpflichtet hätte. Der Senat, in dem sich Sklavenstaaten und freie Staaten genau die Waage hielten, lehnte jedoch eine solche Bedingung ab. Daraufhin verweigerte das Repräsentantenhaus dem Aufnahmeantrag Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 100 <?page no="101"?> von Missouri die Zustimmung, und im Gegenzug blockierte der Senat den Beitritt von Maine, das bislang zu Massachusetts gehört hatte, nun aber ein eigener Staat werden wollte. In monatelangen, äußerst mühsamen Beratungen, die dem Sprecher des Repräsentantenhauses, Henry Clay, den Beinamen des Great Pacificator eintrugen, fand der Kongress aber doch noch einen Ausweg aus dem Dilemma: Maine wurde 1820 als freier Staat aufgenommen, und Missouri durfte im folgenden Jahr ohne Bedingungen, d. h. als Sklavenstaat beitreten, wodurch das Nord-Süd-Gleichgewicht im Senat erhalten blieb; dafür akzeptierten die Südstaatler das permanente Verbot der Sklaverei im Rest des 1803 erworbenen Louisiana-Territoriums oberhalb einer Linie (36 Grad 30 Minuten nördlicher Breite), die von der Südwestecke Missouris bis zu den Rocky Mountains gezogen wurde. Wie schon im Verfassungskonvent von Philadelphia, so hatte auch diesmal wieder die Furcht vor dem Auseinanderfallen der Union einen Kompromiss erzwungen, der die Sklavereifrage eine weitere Generation lang politisch neutralisierte. Allen Beteiligten war aber schmerzhaft bewusstgeworden, dass das Schicksal der Westgebiete, der schwarzen Bevölkerung und der Union auch in Zukunft untrennbar miteinander verbunden sein würde. Manche Hoffnung knüpfte sich in dieser Zeit noch an das Konzept der „Rekolonisie‐ rung“ von Afroamerikanern in der Karibik, Kanada oder Afrika. Der 1816 gegründeten American Colonization Society (ACS) gehörten Mitglieder aus dem Norden und dem Oberen Süden an, denen es weniger um die Beseitigung der Sklaverei als um die Entfernung der freien Schwarzen ging. Man verwies auf das Beispiel der Engländer, die schon 1787 viele der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg nach Kanada geflohe‐ nen Schwarzen in ihre westafrikanische Kolonie Sierra Leone gebracht hatten. Mit Unterstützung der Bundesregierung und mit finanzieller Hilfe von Staatenregierungen, Kirchen und Privatpersonen gelang es der ACS zu Beginn der 1820er Jahre, Land an der afrikanischen Küste südlich von Sierra Leone zu kaufen und schwarze Emigranten anzusiedeln. Seit 1824 hieß diese Kolonie offiziell „Liberia“, und der erste Hauptort, dessen Name Christopolis auf die Missionierungsabsichten der ACS hinwies, wurde zu Ehren von Präsident Monroe in „Monrovia“ umbenannt. Da der Kongress aber bald das Interesse an dem Projekt verlor, blieben die praktischen Möglichkeiten der ACS eng begrenzt. Bis 1830 transportierte die Gesellschaft lediglich 1400 Afroamerikaner - die meisten von ihnen waren schon seit längerem frei gewesen - nach Afrika und gab ihnen dort Starthilfe für Ackerbau und Handwerk. Nicht wenige der Neuankömmlinge litten unter dem tropischen Klima und starben an Fieberkrankheiten. Die überlebenden Einwanderer gerieten rasch mit der einheimischen Bevölkerung in Konflikt und etablierten sich als Führungsschicht, die politische und soziale Vorrechte beanspruchte. 1847 erklärten die Siedler Liberia zur unabhängigen Republik und nahmen eine Verfassung nach dem Vorbild der US Constitution an. Die Hoffnungen auf einen breiten Strom von Kolonisten aus den Vereinigten Staaten, deren Regierung den neuen Staat übrigens erst 1862 diplomatisch anerkannte, erfüllten sich jedoch nicht. Zwar war der Wunsch, nach Afrika emigrieren zu dürfen, seit der Revolution auch gelegentlich von Sprechern der schwarzen Bevölkerung geäußert worden, entweder aus Resignation 1 Die Era of Good Feeling 101 <?page no="102"?> angesichts der fortgesetzten Diskriminierung oder als Ausdruck eines erwachenden schwarzen Nationalismus. Die große Mehrheit der freien Afroamerikaner, die Afrika nur noch vom Hörensagen kannte, lehnte solche Konzepte aber ab und zog es vor, gemeinsam mit den weißen Abolitionisten in den USA für die Überwindung der Sklaverei und die rechtliche und soziale Gleichstellung der Schwarzen zu kämpfen. Bei Ausbruch des Bürgerkriegs, der dieses Ziel in greifbare Nähe rückte, lebten ca. 12.000 Afroamerikaner in Liberia. Anderen Siedlungsexperimenten, etwa auf Haiti oder in Kanada, war noch weniger Erfolg beschieden. Obwohl die „Rekolonisierung“ also keinen wirklichen Beitrag zur Lösung des Rassenproblems in den USA leistete, ging die utopische Hoffnung auf eine Rückkehr in die afrikanische „Heimat“ aber nie ganz verloren und konnte auch nach dem Bürgerkrieg gelegentlich wiederbelebt werden. Landpolitik, Finanzkrise und Fraktionsbildungen Die Spannungen und Widersprüche, die sich unter der ruhigen Oberfläche der Era of Good Feeling angesammelt hatten, kamen durch die Finanzpanik von 1819 und die darauf folgende vierjährige Rezession zum Vorschein. Wie schon die Krise von 1783 bis 1787 resultierte auch dieser Einbruch im Wesentlichen aus einem überhitzten Nachkriegsboom, der durch steigende Importe aus England, in die Höhe schnellende Preise für neues Land im Westen und eine unkontrollierte Ausweitung des Kredits durch die Banken gekennzeichnet war. Die Second Bank of the United States, die der Kongress nach dem Auslaufen der ersten Bank-Charter 1816 eingerichtet hatte, und die in den Einzelstaaten gegründeten privaten State Banks vermehrten den Banknotenumlauf zwischen 1812 und 1817 von 45 auf 100 Millionen Dollar. Dieses Kapital wurde überwiegend in Land angelegt, das die Bundesregierung nach dem Krieg im Westen zu relativ niedrigen Preisen verkaufte. Das Farmland gelangte jedoch in den meisten Fällen nicht direkt an die Siedler, sondern auf dem Umweg über Landgesellschaften, die große Spekulationsgewinne machten und sich noch größere erhofften. Die Bundesregierung hatte den Mindestpreis für Verkäufe aus der public domain auf 2 Dollar pro acre festgesetzt. Bei den öffentlichen Versteigerungen boten die Agenten der Landgesellschaften wesentlich höher, weil sie wussten, dass sie das Land, aufgeteilt in lots von 40 bis 160 acres, für über 50 Dollar pro acre an landhungrige Farmer weiterverkaufen konnten. Die Farmer wiederum waren bereit, sich bei den Banken zu verschulden, weil die Preise für Agrarprodukte, nicht zuletzt wegen einer starken Nachfrage aus dem kriegsverwüsteten Europa, stetig nach oben kletterten. Die Orgie der Landspekulation erreichte 1819 ihren Höhepunkt, als zehnmal so viel Bundesland verkauft wurde wie im Schnitt der Vorkriegsjahre. Um diese Zeit ließen jedoch Rekordernten in Europa die Nachfrage nach amerikanischem Getreide sinken, und gleichzeitig gerieten die während des Krieges aufgebauten Manufakturbetriebe in Neuengland durch billige englische Importe in Schwierigkeiten. Als die Banken daraufhin die Kreditvergabe einschränkten, platzte der spekulative Luftballon, und die Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 102 <?page no="103"?> Preise für Land und Agrarprodukte stürzten ab. Es dauerte bis 1823, bevor sich die Lage stabilisierte und die Wachstumskräfte wieder die Oberhand gewannen. Die Krise hatte weitreichende Folgen, denn sie intensivierte das Nachdenken über eine zeitgerechte Wirtschaftspolitik und beschleunigte damit die Umformung der amerikanischen Parteienlandschaft. In der ökonomischen Diskussion kristallisierten sich zwei unterschiedliche Ansätze heraus: Auf der einen Seite gewann das von Henry Clay propagierte American System an Attraktivität, das ein aktives Eingreifen der Bundesregierung mit dem Ziel vorsah, die Vereinigten Staaten durch hohe Zölle zum Schutz der heimischen Industrie und durch eine Verbesserung der Infrastruktur so weit wie möglich selbstgenügsam und unabhängig von Europa zu machen. Dieses nationale Programm stieß auf den Widerstand derjenigen, die wirtschaftspolitische Entscheidungsbefugnisse am besten bei den Staatenparlamenten aufgehoben sahen und eine eher noch stärkere Dezentralisierung befürworteten. Der Zorn vieler Farmer und Landspekulanten richtete sich vor allem gegen die Second Bank of the United States, die mit ihren Rückzahlungsforderungen an die Staatenbanken das Signal zu der allgemeinen Kreditkontraktion gegeben hatte. Zu diesen beiden Polen hin begannen nun die politischen Kräfte zu gravitieren, die bei Beginn von Monroes Amtszeit noch einträchtig das Ende der Parteienherrschaft verkündet hatten. Die Illusion eines „parteilosen“ Zustandes ergab sich daraus, dass die Federalists nach 1815 praktisch von der nationalen Bühne verschwunden waren. Nun zerfiel auch das Lager der Republicans in Fraktionen, aus denen dann in einem längeren Prozess ein neues Zweiparteien-System hervorging. Bei den Wahlen von 1824 konkurrierten nicht weniger als fünf Kandidaten, die sich alle als Republicans bezeichneten. Da keiner von ihnen die absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen erreichte, fiel die Entscheidung im Repräsentantenhaus, das den führenden Bewerber, General Andrew Jackson, überging und den Zweitplatzierten, John Quincy Adams, zum Präsidenten kürte. Adams verdankte den Sieg vor allem Henry Clay, der nach der Enttäuschung über sein eigenes schlechtes Abschneiden alles darangesetzt hatte, Jacksons Einzug ins Weiße Haus zu verhindern. Adams ernannte Clay zum Außenminister und nahm damit den Vorwurf der Jackson-Anhänger in Kauf, die Wahl durch eine geheime Absprache (corrupt bargain) manipuliert zu haben. Wichtiger als taktische Schachzüge war aber die programmatische Übereinstimmung zwischen Clay und Adams, die alle national gesinnten Republikaner sammeln und das American System auf der Grundlage eines Bündnisses zwischen den Neuenglandstaaten und dem Westen in die Tat umsetzen wollten. Der strenge und moralisch integre, nach außen oft mürrisch und steif wirkende Adams ging dabei noch über Clays Vorstellungen hinaus, indem er neben Zollschutz und Verbesserungen der Verkehrswege auch Gesetze zur Förderung von Künsten und Wissenschaften einschließlich des Baus einer nationalen Universität und eines Observatoriums vorschlug. Gegen diesen Kurs der nationalen Republikaner formierte sich aber sowohl im Kongress als auch in den Einzelstaaten, hauptsächlich im Süden und Südwesten, wachsender Widerstand unter dem Banner von Demokratie und Staatensouveränität (states’ rights). Zur Integrationsfigur dieser Bewegung, die sich 1 Die Era of Good Feeling 103 <?page no="104"?> zunächst „the Democracy“ und später dann Demokratische Partei (Democratic Party) nannte, stieg bis 1828 der populäre Sieger von New Orleans, Andrew Jackson, auf. Bevor der neue Parteiengegensatz seine volle Schärfe erreichte, nahmen die Ameri‐ kaner auf symbolträchtige Weise endgültig Abschied von der Revolutionsepoche. In einer erstaunlichen Koinzidenz starben am 4. Juli 1826, auf den Tag genau fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung, sowohl John Adams als auch Thomas Jefferson. Viele Zeitgenossen schrieben dieses Ereignis der göttlichen Vorsehung zu und verstanden es als Bestätigung dafür, dass dem „amerikanischen Experiment“ ein tieferer, transzendenter Sinn innewohnte. 2 Die „Marktrevolution“ Der komplexe Vorgang, der in der neueren Forschung als „market revolution“ bezeich‐ net wird, ergab sich aus dem Ineinandergreifen von vier Faktoren: dem raschen Bevölkerungswachstum, dem Ausbau des Verkehrswesens, der Kommerzialisierung der Landwirtschaft und dem Beginn der Industrialisierung. Dabei bedingten sich der Ausbau marktwirtschaftlicher Strukturen und das Voranschieben der Frontier nach Westen gegenseitig und erzeugten eine immer stärkere Eigendynamik. Ökonomisches Wachstum und technische Neuerungen gingen mit tiefgreifenden Änderungen im Denken und in den sozialen Beziehungen einher, und sie vergrößerten zudem die wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede zwischen den Nord- und Südstaaten. Die paradoxe Folge war, dass die Einbindung immer weiterer Bevölkerungskreise in eine nationale Marktwirtschaft die sozialen und regionalen Gegensätze verschärfte und damit die Gefahr des Zerfalls der Union heraufbeschwor. Bevölkerungswachstum und Binnenwanderung Zwischen 1790 und 1820 war die Bevölkerung der Vereinigten Staaten von 4 auf 10 Millionen gestiegen, 1840 betrug sie 17 Millionen, und 1860 lebten mit 31,5 Millionen (davon 3,9 Millionen Sklaven und ca. 500.000 freie Schwarze) bereits mehr Menschen in den USA als in England und fast ebenso viele wie in Frankreich oder in den deutschen Staaten. Dieses Wachstum resultierte zunächst ganz überwiegend aus der „natürlichen“ Vermehrung, d. h. einer hohen Geburten- und einer relativ niedrigen Sterberate. Im 19. Jahrhundert begann allerdings ein säkularer Trend zu niedrigeren Geburtenraten: Während eine amerikanische Frau 1810 im Durchschnitt noch sieben Kinder zur Welt brachte, waren es um die Jahrhundertmitte nur noch fünf. Bis 1860 wurde das Sinken der Geburtenrate jedoch durch verstärkte Einwanderung wettgemacht, so dass sich die Bevölkerung auch weiterhin, wie schon zur Kolonialzeit, etwa alle 23 Jahre verdoppelte. Da das Durchschnittsalter der Einwanderer recht niedrig war, blieben die Amerikaner im internationalen Vergleich ein „junges“ Volk, was sicher zu ihrer Beweglichkeit und ihrem robusten Tatendrang beitrug. Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 104 <?page no="105"?> Wegen der napoleonischen Kriege waren von 1790 bis 1820 nur 250.000 Europäer in die USA eingewandert. Auch im Zeitraum von 1820 bis 1840 hielt sich der Zustrom mit 750.000 in Grenzen. Ab 1820 übernahm die Bundesregierung die „Buchführung“ und ließ sich die Zahlen aus den wichtigsten Einwanderungshäfen Boston, New York, Philadelphia, Baltimore und New Orleans melden. Die gesetzlichen Bestimmungen waren sehr günstig, denn der Naturalization Act von 1802 sah lediglich eine Resi‐ denzpflicht von fünf Jahren vor, nach deren Ablauf Neuankömmlinge eingebürgert werden konnten. Sie mussten sich dann zur Verfassung bekennen und, falls sie adlig waren, ihre Adelstitel aufgeben. Zu einem echten Massenphänomen wurde die Einwanderung in den beiden letzten Jahrzehnten vor dem Bürgerkrieg, als über vier Millionen Menschen nach Amerika strömten. In den Spitzenjahren 1847-1854 kamen auf 10.000 Einwohner jeweils über 100 Immigranten, was die höchste Einwanderungs‐ rate proportional zur Bevölkerung in der gesamten Geschichte der Vereinigten Staaten bedeutete. Die Ursachen lagen in einer Kombination von „Druck-“ und „Zugkräften“ (push and pull factors), die den Menschen das Leben in Europa verleideten und die USA als einzige hoffnungsvolle Alternative erscheinen ließen. In Irland bewirkte eine Kartoffelkrankheit langanhaltende Hungersnot, in den deutschen Staaten, den Schweizer Kantonen und Skandinavien stieg der Druck durch starkes Bevölkerungs‐ wachstum und Landknappheit, und in England machte die Industrialisierung viele Handwerker arbeitslos. Zahlenmäßig weniger bedeutsam, aber politisch und kulturell durchaus folgenreich war die Flucht oder erzwungene Auswanderung von Liberalen und Demokraten, die, wie die deutschen „Achtundvierziger“, aktiv an den gescheiterten europäischen Revolutionen der Jahre 1848 / 49 teilgenommen hatten. Auf der anderen Seite des Atlantiks lockten billiges Siedlungsland, höhere Löhne und die Aussicht auf soziale Gleichheit und religiöse wie politische Freiheit. Ermöglicht wurde die massenhafte Wanderungsbewegung durch das steigende transatlantische Handels- und Verkehrsaufkommen, denn ab den 1840er Jahren machten die Reedereien die Auswanderung zum profitablen Geschäft, weil sie ihre Frachtschiffe auf dem Weg nach Amerika mit Menschen beladen konnten. Hinzu kamen Transportverbesserungen in den USA selbst, die das Vordringen der Siedler ins Landesinnere erleichterten und beschleunigten. Den Hauptanteil der Einwanderer in den beiden Jahrzehnten vor dem Bürgerkrieg (mit ca. 3 Millionen gut 70 Prozent) stellten die Iren und die Deutschen, die sich in ihrer neuen Heimat aber recht unterschiedlich orientierten. Die Iren blieben zumeist als industrielle Arbeitskräfte in den Städten der Ostküste, vor allem in Boston und in New York, dessen Einwohnerzahl zusammen mit Brooklyn bis 1860 die Millionengrenze überschritt. Häufig füllten sie Lücken aus, die durch die starke Binnenwanderung nach Westen entstanden. Die meisten Deutschen strebten dagegen, ebenso wie die Schweizer und Skandinavier, in das Ohio-Tal und das Gebiet der Großen Seen, wo sie Farmland erwerben wollten. Häufig führte sie ihr Weg schließlich aber doch in Städte wie Cincinnati, Cleveland, Chicago, Milwaukee und St. Louis, die nun in dieser Region rasch zu wachsen begannen. Die Zentren der Immigration lagen also ganz überwiegend 2 Die „Marktrevolution“ 105 <?page no="106"?> im Nordosten und Nordwesten (dem heutigen Mittleren Westen) der USA, wohingegen der Süden mit Ausnahme von Texas nur wenige Neueinwanderer aufnahm. Hatten 1820 noch gut drei Viertel aller Amerikaner in den Ostküsten-Staaten gelebt und nur ein Viertel westlich der Appalachen, so war dieses Verhältnis 1860 schon ausgeglichen. Den stärksten Bevölkerungszuwachs verzeichnete der Mittlere Westen, der seinen Anteil an der Gesamtbevölkerung in diesem Zeitraum von 9 auf 29 Prozent mehr als verdreifachen konnte, während derjenige des Südwestens (einschließlich Texas) nur von 14 auf 19 Prozent stieg. Der pazifische Westen, der 1848 an die USA fiel, beherbergte 1860 erst minimale 2 Prozent der insgesamt 31,5 Millionen Amerikaner. Da etwa zwei Drittel der irischen und ein Drittel der deutschen Einwanderer Katholiken waren, veränderte sich nicht nur die ethnische, sondern auch die religiöse Zusammensetzung der USA. Bis 1840 überwog trotz aller Diversität und regionalen Besonderheiten das britisch-protestantische Element. Die Einheit von Sprache, politi‐ schen Institutionen, Recht, Geschichtsbewusstsein und freiheitlicher Ideologie, die sich als „amerikanische Kultur“ herausgebildet hatte, war eindeutig angelsächsisch und protestantisch geprägt. Das begann sich nun zu ändern, sehr zum Leidwesen eines Teils der ansässigen und bereits in diesen mainstream assimilierten Bevölkerung, die ab Mitte der 1840er Jahre mit fremdenfeindlichen Protesten reagierte. Im darauf folgenden Jahrzehnt trug dieser „Nativismus“, der vor allem die Städte an der Ostküste und im Nordwesten erfasste, mit zur Destabilisierung der politischen Lage bei. Ausbau der Infrastruktur und Anpassung des Rechtssystems Bevölkerungswachstum und Vordringen der Frontier standen in einem engen Zu‐ sammenhang. Der Druck auf die „alten“ Siedlungsgebiete an der Ostküste konnte nur durch die Westwanderung gemildert werden, und der unermesslich scheinende Landreichtum des Westens wirkte zugleich als Magnet, der Immigranten aus Europa anzog. Innerhalb weniger Jahrzehnte verfünffachte sich das erschlossene Territorium, und die Siedlungsgrenze erreichte im Nordwesten den Missouri, im Südwesten die Mitte von Texas. Die freizügige Landpolitik der Bundesregierung ging auf Kosten der Indianer, von denen 1820 noch ca. 120.000 östlich des Mississippi lebten. Sie wurden nun rücksichtslos verdrängt und in Gebiete westlich des Mississippi umgesiedelt. Die „Eroberung“ des Westens durch Binnenwanderung und Immigration hatte zur Voraussetzung, dass das Verkehrswesen der Union grundlegend verbessert wurde, ja dass eine ganz neue Infrastruktur entstand. Diese „Transportrevolution“ begann schon Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Ausbau der Überlandstraßen (turnpikes), insbeson‐ dere der National Road von Maryland nach Columbus, Ohio. Nicht die Straßen, sondern Wasserwege - Kanäle und Flüsse - bildeten aber das erste nationale Verkehrsnetz der Vereinigten Staaten. Als Robert Fultons Dampfschiff „Clermont“ 1807 die Fahrt auf dem Hudson River von New York nach Albany in 32 Stunden bewältigte, rückte das Problem einer Verbindung mit den Großen Seen und den Flussläufen von Mississippi und Ohio in den Blickpunkt. Nach dem Krieg von 1812 / 14 begann die Ära des Kanalbaus, zu Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 106 <?page no="107"?> dessen Prunkstück sich der Erie-Kanal entwickelte. Den ersten Spatenstich tat der Gouverneur des Staates New York, DeWitt Clinton, am Unabhängigkeitstag des Jahres 1817, womit er nicht nur die nationale Bedeutung des Projekts, sondern vor allem die Initiative und das finanzielle Engagement seiner Regierung dokumentieren wollte. Als acht Jahre später, im Oktober 1825, das letzte Teilstück des über 500 km langen Kanals eröffnet wurde, konnte man von New York aus über den Hudson und den Erie-See die Siedlungsgebiete des Nordwestens erreichen. Frachtgüter und Menschen wurden nun wesentlich schneller und billiger als bisher per Kanalboot, Segel- und Dampfschiff nach Westen befördert, und auf dem umgekehrten Wege gelangten Agrarprodukte und Fleisch aus dem Westen an die Ostküste. Der Bau des Erie-Kanals kostete 7 Millionen Dollar, die hauptsächlich durch Anlei‐ hen des Staates New York aufgebracht wurden. Bis 1833 hatte sich diese Investition amortisiert, und die Kanalgesellschaft und der Staat machten Gewinne. Der Erfolg löste ein regelrechtes „Kanalfieber“ aus, das die interessierten Staaten und Gemeinden in den 1820er und 1830er Jahren zur Ausgabe von insgesamt 140 Millionen Dollar veranlasste. Erstmals stellten auch europäische Investoren in größerem Maßstab Kapital für amerikanische Vorhaben zur Verfügung. Bis 1840 erreichte das Kanalnetz eine Ausdehnung von fast 5000 km, und in den 1850er Jahren verkehrten über 700 Dampfschiffe im Westen zwischen den Großen Seen und dem Golf von Mexiko, wo New Orleans nun zum größten Umschlaghafen der USA aufstieg. Die Kanäle blieben ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, aber schon ab Mitte der 1830er Jahre wurde die Eisenbahn zum bevorzugten Transportmittel. Den Anfang machte 1827 die Baltimore and Ohio Railroad Company, die im folgenden Jahrzehnt die Chesapeake and Ohio-Kanalgesellschaft aus dem Geschäft drängte. 1852 überquerten bereits vier Bahnlinien die Appalachen und stellten Verbindungen zu den Städten des Nordwes‐ tens her. Zunächst wurden viele Einzelstrecken mit unterschiedlichen Spurbreiten gebaut, doch dann erfolgte eine allmähliche Anpassung und „Konsolidierung“ der Hauptverkehrswege. Chicago entwickelte sich zum westlichen Knotenpunkt eines nationalen Eisenbahnnetzes, das bis 1860 auf über 30.000 Meilen anwuchs und damit etwa so lang war wie alle in der Welt verlegten Schienenstränge zusammen. Die Reise von Boston nach St. Louis, die 1830 noch gut zwei Wochen gedauert hatte, konnte man nun mit einigem Glück in drei Tagen absolvieren. Um diese Zeit war auch schon eine transkontinentale Eisenbahnlinie geplant, die aber erst nach Ende des Bür‐ gerkrieges vollendet werden konnte. Kennzeichnenderweise wurden allerdings zwei Drittel aller Bahnstrecken im Norden gebaut und verliefen in Ost-West-Richtung. Die Tatsache, dass es 1860 nur drei Nord-Süd-Verbindungen gab, weist auf die zunehmende wirtschaftliche Sonderentwicklung des Südens hin. Parallel zum Eisenbahn-Boom revolutionierte der Telegraph, mit dem Samuel Morse 1844 erste Experimente zwischen Baltimore und Washington unternommen hatte, das Kommunikationswesen. 1860 waren bereits 50.000 Meilen Kabel verlegt, denn man erkannte schnell, welch enorme Bedeutung diese Neuerung für Verkehr, Wirtschaft und Finanzen - und nicht zuletzt auch für die Kriegführung - haben würde. 2 Die „Marktrevolution“ 107 <?page no="108"?> Die Initiativen zur Verbesserung der Infrastruktur gingen ganz überwiegend von den Einzelstaaten und nicht von der Bundesregierung aus. In der Regel erteilten die Parlamente privaten Aktiengesellschaften (corporations) per Gesetz Charters, die als Rechtsgrundlage zum Bau von Straßen, Kanälen und Eisenbahnlinien dienten. Häufig erwarben die Staaten dann mit Steuergeldern Aktien der von ihnen zugelassenen Gesellschaften. Dieses System des „Staatenmerkantilismus“ stand im Einklang mit der restriktiven Auslegung der Bundesverfassung, wie sie die Republicans seit Jeffersons Präsidentschaft praktiziert hatten. Es wurde gefördert durch die Bereitschaft der Gerichte, den Einzelstaaten in wirtschaftlichen Angelegenheiten einen großen Ermes‐ sensspielraum zuzubilligen und Privatinteressen, etwa in Fragen der Landenteignung für den Bau von Verkehrswegen, hinter das Wohl der Gemeinschaft zurückzustellen. Das common law-Konzept des unantastbaren Eigentumsrechts wurde dabei unter Verweis auf die „soziale Nützlichkeit“ und die Souveränität des Volkes umgeformt und mit der Notwendigkeit wirtschaftlicher Entwicklung in Einklang gebracht. Während sich also die Bundesregierung - teils absichtlich, teils notgedrungen - passiv verhielt, griffen die Einzelstaaten durchaus aktiv lenkend und ordnend in das Wirtschaftsge‐ schehen ein. Dieses Commonwealth System genannte dezentrale Entwicklungsmodell war in den 1820er Jahren schon so sehr im Bewusstsein der Menschen verankert, dass sich John Quincy Adams’ und Henry Clays nationales American System nicht mehr durchsetzen konnte. Aus der Präferenz für das Commonwealth System erwuchsen nicht unwesentliche Gefahren für die Autorität und den Zusammenhalt des Bundesstaates, die der von John Marshall geleitete Supreme Court abzuwehren bemüht war. Im Fall McCulloch v. Mary‐ land bestätigte das Gericht 1819 die von Maryland angefochtene Verfassungsmäßigkeit der Zweiten Nationalbank mit dem Hinweis, die Gründerväter hätten nicht beabsich‐ tigt, die Bundesregierung von den Einzelstaaten abhängig zu machen. In Gibbons v. Ogden (1824) hob Marshall ein vom Staat New York verliehenes Schifffahrtsmonopol auf dem Hudson River auf, weil es im Widerspruch zum Recht des Kongresses stand, den Handel zwischen den Staaten (interstate commerce) zu regulieren. Auf diese Weise wirkte der Supreme Court der Errichtung von internen Handels- und Verkehrsschran‐ ken entgegen und unterstrich demonstrativ den Vorrang der Bundesverfassung vor einzelstaatlichen Gesetzen und Maßnahmen. Mit seiner Strategie, der Bundesregierung einen möglichst weiten Handlungsspielraum zu erhalten und gleichzeitig die Eigen‐ tumsrechte von Individuen und inkorporierten Gesellschaften gegen Eingriffe der Staaten zu schützen, geriet Marshall jedoch immer mehr in die Defensive. Als er 1835 starb, stand eindeutig die Doktrin der states’ rights im Vordergrund, deren zentrifugale Dynamik die Unionsbande erheblich lockerte. Landwirtschaft und frühe Industrialisierung Das wirtschaftliche Wachstum nahm seinen Ausgang von der Erweiterung der An‐ baufläche und der Kommerzialisierung der Landwirtschaft. Dieser Vorgang erfasste Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 108 <?page no="109"?> die gesamte Union, trug jedoch regionalspezifische Züge und hatte unterschiedliche Konsequenzen. Enorme agrarische Steigerungsraten erzielte der Nordwesten, wo die neu entstehenden Familienfarmen Getreide, vor allem Mais, anbauten sowie Fleisch und Milchprodukte erzeugten. Technische Neuerungen wie die von John Deere verbesserten Pflugscharen und Mäh- und Dreschmaschinen, die sich schon in den 1840er Jahren durchsetzten, trugen wesentlich zu diesem Boom bei. Die Farmer mussten über den Eigenbedarf hinaus für den Markt produzieren, weil sie nur so die Schuldverpflichtungen erfüllen konnten, die sie für den Aufbau ihrer Existenz notgedrungen eingegangen waren. Dadurch wurden sie allerdings auch von dem oft schwer durchschaubaren Marktgeschehen abhängig, insbesondere von der Zinsentwicklung und den schwankenden Getreidepreisen, die in den Krisen von 1819-1823 und 1839-1843 viele Familien zur Aufgabe und zum Abwandern in die Städte zwangen. Hier suchten sie Arbeit in den Industrien, die inzwischen im Zusammenhang mit der Landwirtschaft entstanden waren: in den Schlachthöfen und bei der Fleischverpackung; beim Landmaschinenbau, in der Holzverarbeitung und in Brauereien. Während St. Louis weiterhin das „Tor zum Westen“ bildete, stieg Chicago zum wirtschaftlichen Kraftzentrum des Mittleren Westens auf. Hier vollzog sich am anschaulichsten der Übergang vom konkreten geographischen Ort „Markt“, auf dem die Farmer ihre Erzeugnisse verkauften, zum komplexen und abstrakten ökonomischen System „Markt“, das Vieh, Getreide und andere Produkte in standardisierte, industria‐ lisierte Waren verwandelte und in Geldwerte umsetzte. Entscheidende Bedeutung für die gesamte Region erlangte jedoch der Austausch mit den Ostküstenstaaten, der durch die neuen Verkehrswege ermöglicht wurde. Nachdem man gelernt hatte, Eis zur Kühlung von Eisenbahnwaggons zu nutzen, lieferte der Mittlere Westen nahezu jahreszeitunabhängig Lebensmittel an die Küste. Auf diese Weise wurden die Voraussetzungen für das Entstehen einer Massenkonsumgesellschaft geschaffen. Der Nordosten konnte sich nun zunehmend auf Handel, Bankwesen und Industrie spezialisieren, wobei die großen Städte Boston, New York und Philadelphia als Motoren des Wachstums fungierten. Die Landwirtschaft hatte in den Neuengland‐ staaten stets mit ungünstigen Voraussetzungen zu kämpfen gehabt und kam nun gegen die billige Konkurrenz aus dem Westen nicht mehr an. Da auch der Nordatlantikhandel wegen des starken britischen Wettbewerbs an Lukrativität einbüßte, erkundeten die Kaufleute neue Möglichkeiten in Lateinamerika, im pazifischen Raum und in Afrika. In immer stärkerem Maße floss Handels- und Bankkapital nun aber in Manufakturen und Industriebetriebe. Hierfür wählten die Händler-Unternehmer seltener die Form der in‐ korporierten Aktiengesellschaft als Partnerschaften oder die alleinige Firmenführung, um möglichst frei von staatlicher Regulierung zu bleiben. Ausgehend von Neuengland, wurde das traditionelle Handwerkswesen - oft über die „protoindustrielle“ Zwischen‐ stufe der Verlags- oder Heimarbeit - allmählich durch das neue System der Fabrikarbeit ersetzt. Arbeitsteilung und Mechanisierung zur Senkung der Kosten und zur Steigerung der Produktion ließen in den 1820er Jahren eine Textilindustrie, im Jahrzehnt darauf auch eine Schuhindustrie entstehen. Die ersten Fabrikbelegschaften rekrutierten sich 2 Die „Marktrevolution“ 109 <?page no="110"?> aus Farmerstöchtern, die in den großen Textilbetrieben von Lowell und Waltham in Massachusetts zu Tausenden unter strenger Disziplin nahezu kaserniert lebten. Viele dieser mill girls empfanden die bescheiden entlohnte Tätigkeit (die sie in der Regel nur bis zur Heirat ausübten) dennoch als Befreiung aus der völligen Abhängigkeit von ihren Familien. Ab 1840 bildeten dann die europäischen Einwanderer ein größeres und billigeres Reservoir an industriellen Arbeitskräften. Zwischen 1840 und 1860 nahm die unternehmerische Initiative fast explosionsartig zu. Besonders spektakulär wuchs die Industrie im Nordosten, wo über die Hälfte der bis dahin 140.000 amerikanischen Fabriken entstand. Hier wurden nun gut zwei Drittel aller heimischen Industriegüter erzeugt, und der Wert der Produktion stieg in den beiden Jahrzehnten von 500 Millionen auf 2 Milliarden Dollar. Die Ausbrei‐ tung des Fabriksystems signalisierte den Übergang vom „Händler-Kapitalismus“ des frühen 19. Jahrhunderts zum Industriekapitalismus, der in England bereits weiter fortgeschritten war. Der amerikanische Erfolg ergab sich aus einer Kombination von arbeitskräftesparenden Innovationen und Ausbeutung der im Übermaß vorhandenen natürlichen Ressourcen. Die Dampfkraft, durch Kohle erzeugt, ersetzte allmählich die traditionelle Wasserkraft; beim Kanal- und Eisenbahnbau lernten die Amerikaner, Werkzeuge und Maschinen zu verbessern und Ersatzteile zu standardisieren. Einen Rückstand gegenüber England gab es vor allem noch auf dem Gebiet der Eisenproduk‐ tion, wo weiterhin Importe aus Europa nötig waren. Bis zur Jahrhundertmitte verband eine zunehmend komplexe und diversifizierte Wirtschaft den Nordosten und den Mittleren Westen, zwei Regionen, die sich gut ergänzten und wechselseitig zu erhöhter Aktivität anspornten. Zwar war der Norden insgesamt noch überwiegend agrarisch geprägt, aber der Strukturwandel zur industrie‐ llen Gesellschaft zeichnete sich schon deutlich ab: Der Anteil der in der Landwirtschaft beschäftigten Amerikaner, der 1820 noch bei 80 Prozent gelegen hatte, ging bis 1850 auf 55 Prozent zurück. Um diese Zeit verdienten immerhin schon 14 Prozent der arbeiten‐ den Bevölkerung ihren Lebensunterhalt in Fabriken, und die Zahl der Menschen, die in Städten mit über 10.000 Einwohnern lebten, näherte sich der 5-Millionen-Grenze. Das Wachstum des inneren Marktes ging einher mit der Expansion des Außenhandels, den Neuengländer und New Yorker Yankees nun bereits weltumspannend betrieben. Große Hoffnungen richteten sich auf den asiatischen Markt, den die amerikanische Regierung durch Verträge mit China (1844) und Japan (1855) zu „öffnen“ hoffte. Das religiöse Moment spielte dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn die Kaufleute folgten häufig den protestantischen Missionaren, die erste Kontakte mit fremden Völkern knüpften. Expansion und Kommerzialisierung bestimmten auch das Bild des Südens, allerdings auf eine ganz eigene Weise. In den Küstenstaaten des oberen Südens - Virginia, Maryland, Delaware -, wo die ausgelaugten Böden eine Umstellung von Tabakauf Weizenanbau erforderlich machten, war wenig Dynamik zu verspüren. Durch den steigenden Bedarf der Textilindustrien in England und im amerikanischen Nordosten gewann nun die plantagenmäßige Baumwollproduktion überragende Bedeutung. Das Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 110 <?page no="111"?> Anbaugebiet und damit auch das System der Sklavenarbeit dehnte sich rasch von South Carolina und Georgia über das Mississippi-Delta bis nach Texas aus, und der Südwesten wurde zur eigentlichen Wachstumszone. Tabak, Reis und Zuckerrohr verschwanden nicht völlig aus der Landschaft, aber King Cotton herrschte unumschränkt als das mit weitem Abstand wichtigste Ausfuhrprodukt. Zwischen 1820 und 1860 verzehnfachte sich der Export von 500.000 auf 5 Millionen Ballen. Bis dahin brachte der Verkauf von Baumwolle rund zwei Drittel des Gesamterlöses ein, den die USA im Außenhandel erzielten. Wichtigste Abnehmer blieben die Engländer, die auch ihre traditionelle Funktion als Kreditgeber für die Plantagenbesitzer beibehielten. Die Baumwollpflanzer handelten durchaus als Unternehmer, die gewöhnt waren, in den Marktkategorien von Wettbewerb, Investition, Gewinn, Angebot und Nachfrage zu denken. Sklaven betrachteten sie zugleich als Arbeitskräfte und Kapital, d. h. als eine „Ressource“, die im Zuge des Baumwollbooms knapp und teuer wurde. Rein ökonomisch gesehen, hatte sich die Sklaverei keineswegs „überlebt“, sondern versprach weiterhin hohe Profite. Entsprechend wuchs der Druck der Pflanzer auf die Staatenregierungen und den Kongress, die 1808 verbotene Sklaveneinfuhr wieder zu legalisieren. Da sich die Baumwollerzeugung nur durch Vergrößerung der Anbaufläche steigern ließ, werteten die Pflanzer alle Versuche, die Sklaverei territorial einzugrenzen, als Beeinträchtigung ihrer Zukunftschancen. Insgesamt herrschte noch der Eindruck ungebrochener Pros‐ perität vor, und selbst die Mehrzahl der Farmer, die wenige oder keine Sklaven besaßen, wurde in den Prozess der Kommerzialisierung einbezogen. Andererseits blieb der Aufbau von Industrien im Süden gerade wegen des monokulturellen Charakters der Baumwolle in den Anfängen stecken. Aus heutiger Sicht erkennt man, was den meisten Zeitgenossen verborgen blieb: dass die Wirtschaft des Südens zwar wuchs, sich aber nicht - im Sinne einer Modernisierung - entwickelte. Dadurch geriet die Region in Abhängigkeit vom Weltmarkt (auf dem Baumwolle vorerst noch gute Preise erzielte) wie von den Bankiers und Kaufleuten aus dem Norden, die Binnenhandel und Küstenschifffahrt kontrollierten. Sozialer Wandel und Reformbewegungen im Norden Das Vordringen marktwirtschaftlicher Strukturen bis an die Frontier und die begin‐ nende Industrialisierung und Urbanisierung erzeugten Spannungen, die sich in den Wachstumszonen des Nordens besonders deutlich bemerkbar machten. Schrankenlo‐ ser Egoismus drohte den Respekt für Ordnung und Stabilität zu zerstören, der Geist des Wettbewerbs nahm wenig Rücksicht auf die Schwachen und Außenseiter, und das Streben nach Glück und Besitz prallte mit dem republikanischen Ideal einer gerechten Gesellschaft zusammen. In dieser Situation erwuchsen vornehmlich aus der Mittelschicht eine Reihe von Reforminitiativen, die dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel moralische Richtung zu geben versuchten. Trotz der zyklischen Rezessionen, die vielfältige Ursachen hatten und von dem unzulänglichen amerikanischen Kreditsystem regelmäßig noch verschärft wurden, 2 Die „Marktrevolution“ 111 <?page no="112"?> verzeichneten die USA ab 1800 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von einem Prozent pro Jahr. Hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens und des allgemeinen Lebensstandards lagen die Amerikaner damit bereits 1860 vor den Bürgern der westeuropäischen Staaten. Der Zuwachs an Wohlstand kam jedoch den einzelnen Bevölkerungsgruppen - selbst wenn man Indianer, Sklaven und freie Afroamerikaner unberücksichtigt lässt - keineswegs gleichmäßig zugute. Auf der einen Seite setzte sich, speziell in den Städten, die Konzentration des Reichtums fort (1860 verfügten 10 Prozent der Bevölkerung über zwei Drittel des nationalen Vermögens), während am entgegengesetzten Ende der sozialen Leiter die Zahl der besitzlosen Tagelöhner und Arbeiter zunahm. Zwischen diesen Extremen formierte sich aber eine breite Mittel‐ schicht aus erfolgreichen Farmern und städtischem Bürgertum, deren Wertmaßstäbe, Ideologien und Weltsicht in hohem Maße den „amerikanischen Charakter“ prägten. Auf die Erfahrung des sozialen Wandels reagierte die Bevölkerung ambivalent: Fasziniert von den Möglichkeiten, die das Neue bot, litten viele Menschen doch unter dem Verlust der traditionellen Werte und sorgten sich um eine ungewisse Zukunft. Das traf vor allem auf die Handwerkerschaft zu, deren Status und Selbstbewusstsein durch das Aufkommen von Maschinen und Fabrikarbeit gefährdet waren. Gegen das vordringende marktwirtschaftliche System hielten Handwerker und Gesellen am beharrlichsten das Ideal des Republikanismus hoch, den Glauben, dass jeder Bürger Anspruch auf politische Mitsprache und wirtschaftliche Unabhängigkeit habe und dass er entsprechend seinen individuellen Leistungen bezahlt werden müsse. Aus den Handwerkervereinigungen gingen die ersten Gewerkschaften hervor, die sich 1834 zur National Trades’ Union zusammenschlossen. Die republikanische Ideologie verschwand also keineswegs aus dem öffentlichen Bewusstsein, sondern lieferte eine zumindest rhetorisch wirksame Waffe gegen die Kräfte der Marktwirtschaft und des Kapitalismus. Republikanisches Gedankengut erwies sich dabei als recht anpassungsfähig und wurde - von der Kritik staatlicher und privater Monopole über die Denunzierung „aristokratischer“ Politiker und Bankiers bis zur Verteidigung des Streikrechts - vielen Bedürfnissen gerecht. Aufs Ganze gesehen überwogen Optimismus und eine teils nüchternpragmatische, teils emotional-erwartungsvolle Haltung. Als Teilnehmer am Marktgeschehen lernten die Menschen zu kalkulieren und auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, ohne dabei - von Einzelfällen abgesehen - die Bedürfnisse der Umgebung und das Gesamtwohl völlig aus den Augen zu verlieren. Die tägliche Erfahrung der - geographischen und sozialen - Mobilität, die Pioniersituation an der Siedlungsgrenze und eine Arbeitsethik, die jedem Erfolg versprach, wenn er sich nur genügend anstrengte, sparsam wirtschaf‐ tete und einen moralisch einwandfreien Lebenswandel führte, wirkten der Ausbildung von Klassenbewusstsein entgegen. Die Amerikaner fühlten sich jedoch hin- und her‐ gerissen zwischen der Hoffnung auf Befreiung, Verbesserung und „Zivilisierung“ des Individuums und dem Verlangen nach sozialer Ordnung, Stabilität und Disziplin. Auf der einen Seite nahm das traditionelle, von Vorstellungen der Erbsünde beeinflusste Menschenbild im Zuge der religiösen Erweckungsbewegungen und durch die Vermitt‐ Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 112 <?page no="113"?> lung europäischen Gedankenguts positivere Züge an: Die Natur des Menschen galt nun im Prinzip als gut, und der Gesellschaft wurde die Aufgabe gestellt, dem Einzelnen die freie Entfaltung seiner Anlagen und Fähigkeiten zu ermöglichen. Die Erwartung des Millenniums ging allmählich über in die Hoffnung, die Menschen ließen sich schon im Diesseits „perfektionieren“. Andererseits empfanden gerade wohlsituierte Angehörige der Mittelschicht die Entstehung eines ungebildeten, „unmoralischen“ Proletariats aus Industriearbeitern und Neueinwanderern als beängstigend. Dem Bemühen, diese Widersprüche zu lösen, entsprangen die vielfältigen Reformbestrebungen, die zu den auffallendsten kulturellen Erscheinungen der Epoche zählen. Den religiösen Hinter‐ grund des Reformeifers erkannte schon Alexis de Tocqueville, der die USA Anfang der 1830er Jahre bereiste und in seinem Buch De la Démocratie en Amérique schrieb, in der Neuen Welt gehe der Geist der Religiosität mit dem Geist der Freiheit Hand in Hand, und das gesellschaftliche Gefüge der Vereinigten Staaten ruhe auf den moralischen Grundsätzen der christlichen Religion. Die Reformbewegung hatte ihren Ursprung in dem so genannten burned-over district im westlichen New York um die Stadt Rochester, wo der presbyterianische Prediger Charles G. Finney zur Zeit des Kanalbaufiebers in den 1820er Jahren ein revival auslöste, das bald alle protestantischen Bekenntnisse erfasste. Die Wirkungen reichten weit über die religiöse Sphäre und über den Staat New York hinaus. Von Anfang an kennzeichnend war die starke Beteiligung von Frauen aus der Mittelschicht. Sie ergriffen die Gelegenheit, der Passivität und Isolierung zu entrinnen, die durch die strikte Rollenverteilung in der bürgerlichen Familie gefördert wurden. Der Strom der religiös-reformerischen Aktivitäten teilte sich im Wesentlichen in zwei Richtungen auf: Einerseits war ein Hang zum Separatismus und zum Entwurf utopischer Gegenwelten zu beobachten, andererseits eine weltoffene Verbindung von Religiosität, Individualis‐ mus und sozialem Engagement. Zur ersten Kategorie gehörten die Shaker, deren Name von einem rituellen Tanz herrührt und die in den 1840er Jahren im Nordosten und Nordwesten ca. 20 Gemeinden mit 6000 Mitgliedern bildeten. Sie führten ein eheloses, zölibatäres Leben, bekannten sich zur Gleichheit der Geschlechter und betrauten häufig Frauen mit Führungsaufgaben. Stärker weltliche, teilweise schon frühsozialistische Züge trugen die Gemeinschaftsexperimente von New Harmony in Indiana, von Brook Farm in Massachusetts und von Oneida im westlichen New York. New Harmony wurde 1825 von dem schottischen Industriellen und Philanthropen Robert Owen als Village of Cooperation gegründet, in dem alle Mitglieder völlig gleichberechtigt zusammenleben und -arbeiten sollten. Obwohl das Projekt keine lange Lebensdauer hatte, entstanden immer wieder neue Gemeinden von Owenites. In Brook Farm suchte ab 1841 eine Gruppe Bostoner Bürger, darunter die Schriftsteller Ralph Waldo Emerson und Nathaniel Hawthorne, die ideale Gesellschaft und die Synthese von Geist und Natur zu verwirklichen. Die Oneida Perfectionists lehnten jede Form von Privatbesitz ab, stellten eigene Regeln für die sexuellen Beziehungen untereinander auf und erzogen ihre Kinder gemeinsam. Während die meisten dieser utopischen Gemeinschaften nach relativ kurzer Zeit an wirtschaftlichen oder psychologischen Schwierigkeiten 2 Die „Marktrevolution“ 113 <?page no="114"?> scheiterten, hielt sich Oneida mit ca. 300 Personen bis in die 1880er Jahre, sorgte allerdings auch durch den Versuch, ideale Menschen zu „züchten“, für negatives Aufsehen. Eine Mittelposition zwischen Weltflucht und Weltverbesserung nahmen die Mor‐ monen ein, die mit großen Anfangsschwierigkeiten kämpfen mussten, dafür aber umso erstaunlichere langfristige Erfolge erzielten. Joseph Smith hatte die Religionsgemein‐ schaft nach Bekehrungserlebnissen während der 1820er Jahre im westlichen New York ins Leben gerufen, um die „Heiligen der letzten Tage“ zu sammeln und das „neue Jerusalem“ zu bauen. 1830 fasste er seine Offenbarungen in dem Book of Mormon zusammen, dessen Botschaft hauptsächlich bei einfachen Leuten Gehör fand, die wenig Anteil am Wirtschaftsboom entlang des Erie-Kanals hatten. Durch eine strikte soziale Organisation, die den Kirchenältesten uneingeschränkte Macht gab, weckten die Mormonen viel Misstrauen. Mit seiner rasch auf 30.000 Menschen wachsenden An‐ hängerschar zog Smith Anfang der 1840er Jahre über Missouri und Ohio bis Illinois, wo er die Stadt Nauvoo gründete. Interner Streit über die Praxis der Polygamie, die Smith nach einer neuen Erleuchtung befürwortete, und Anfeindungen von außen endeten 1844 mit der Verhaftung und Ermordung des Religionsstifters und seines Bruders. Aus diesem Ereignis zogen die Führer der Pro-Polygamie-Fraktion den Schluss, dass sie ihre religiöse Freiheit nur jenseits der Grenzen der USA wahren konnten. Smiths Nachfolger Brigham Young führte daraufhin fast 12.000 Gläubige mehrere tausend Kilometer durch die Prärie und über Gebirgspässe nach Westen. Auf spanischem Territorium, am Great Salt Lake, ließen sie sich nieder und begannen unter einer theokratischen Regierungsform mit dem Bau von Bewässerungssystemen und der planvollen Anlage agrarischer Gemeinden. Als in den 1850er Jahren nicht-mormonische Siedler in das von Mexiko abgetretene Gebiet vordrangen und die Bundesregierung ihre Aufmerksamkeit dem neuen Utah-Territorium zuwandte, leisteten die Mormonen Widerstand, der sogar gewaltsame Formen annahm. Auch nach dem Bürgerkrieg wehrten sie sich noch lange gegen die Forderung Washingtons, die Vielehe abzuschaffen. Als die transkontinentale Eisenbahn gebaut war und die USA wirtschaftlich immer enger zusammenwuchsen, kam aber eine radikal-separatistische Politik nicht mehr in Frage. 1896 beugte sich Utah dem Druck von Kongress und Supreme Court, erklärte die Polygamie für illegal und wurde als Staat in die Union aufgenommen. Die organisierten Reformbewegungen ähnelten einander darin, dass sie gesellschaft‐ liche Missstände auf moralische Verfehlungen zurückführten, die sich durch kollektive Buße und Umkehr überwinden ließen. Sie schöpften ihre Kraft aus dem evangelikalen Protestantismus und dem Selbstbewusstsein des Bürgertums, und ihre wichtigsten Instrumente waren die Reform Societies, private Vereinigungen von Gleichgesinnten, deren Allgegenwart Tocqueville beeindruckte: Seiner Meinung nach fand das „Prinzip des bürgerlichen Zusammenschlusses“ nirgends so erfolgreich für die unterschiedlichs‐ ten Zwecke Verwendung wie in den USA, wo man davon ausgehe, dass sich jede Aufgabe mittels einer gemeinsamen Willensanstrengung lösen lasse. Das Bemühen der Reformer galt hauptsächlich denen, die unter den sozialen Veränderungen litten, die Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 114 <?page no="115"?> benachteiligt waren oder ganz von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden. Ihre Aktivi‐ täten blieben weitgehend unkoordiniert, wenngleich sie im Laufe der Zeit durchaus lernten, Einfluss auf Parlamente und Regierungen auszuüben, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Erst im Nachhinein hat man die gesamte Bewegung wegen des kompromisslosen Strebens nach moralischer Reinheit und des Vertrauens auf private Wohltätigkeit unter dem Begriff Benevolent Empire zusammengefasst. Im starken Alkoholkonsum glaubten viele Reformer die Quelle zu erkennen, aus der die schlimmsten Übel wie Verbrechen, Armut, Misshandlung von Frauen und Prostitution flossen. Die Initiative ergriff der presbyterianische Pfarrer Lyman Beecher aus Boston, der seit Mitte der 1820er Jahre in Neuengland die totale Abstinenz predigte. In der Folgezeit traten mehr als eine Million Menschen, die meisten von ihnen Arbeiter, lokalen oder regionalen Temperance Societies bei und legten das Gelübde ab, keinen Alkohol oder zumindest keinen „hard liquor“ mehr zu trinken. Der Kampf für Prohibitionsgesetze führte aber nur in wenigen Staaten zum Erfolg, weil sich irische und deutsche Einwanderer vielerorts heftig gegen den Zwang zur Nüchternheit wehrten. Ein anderer Reformschwerpunkt war seit den 1830er Jahren das öffentliche Bil‐ dungswesen. Dessen Verbesserung sollte nicht nur der Entfaltung der Persönlichkeit und dem Fortschritt der Nation dienen, sondern schien auch besonders geeignet, soziale Spannungen abzubauen und die Eingliederung der Immigranten zu erleichtern. Die Vorreiterrolle spielte, wie stets auf diesem Gebiet, der Staat Massachusetts, der 1837 einen Board of Education unter dem Reformer Horace Mann einsetzte. Mann sorgte dafür, dass neue Schulen gebaut, die Lehrerausbildung verbessert und feste Lehrpläne aufgestellt wurden. Bis 1850 errichteten die Neuenglandstaaten ein aus Steuergeldern finanziertes System von Elementarschulen, an denen zehn Monate im Jahr unterrichtet wurde und die auch Jungen und Mädchen aus der Unterschicht offenstanden. Massachusetts führte 1852 als erster Staat die Schulpflicht ein; auch freie Afroamerikaner erhielten Unterricht, allerdings zumeist in rassengetrennten Schulen. Gemessen daran blieben die Bildungschancen im Westen auf Grund der geringen Be‐ völkerungsdichte und der Geldknappheit (oder wegen des mangelnden Verständnisses der Farmbevölkerung) eingeschränkt. Immerhin besuchten 1860 im Norden bereits über 70 Prozent der Kinder eine Grundschule, und die Alphabetisierungsrate von 94 Prozent war auf der ganzen Welt unübertroffen. Auf die unhaltbaren Zustände in den Gefängnissen wiesen Reformer wie die Lehre‐ rin Dorothea Dix aus Massachusetts hin. Hinter ihren Mauern vegetierten, auf engstem Raum zusammengepfercht, Kriminelle, Geisteskranke, Obdachlose und Schuldner, die das geliehene Geld nicht zurückzahlen konnten. Die Female Moral Reform Society machte es sich zur Aufgabe, die Schuldhaft und öffentliche Hinrichtungen abzuschaf‐ fen, Heime für die geistig und psychisch Kranken einzurichten und die Armen und unversorgten Alten in almshouses unterzubringen. Die neuen Gefängnisse glichen Manufakturbetrieben, in denen die Häftlinge durch strenge Disziplin und Zwangsarbeit auf sinnvolle Tätigkeiten in der Freiheit vorbereitet werden sollten. Armut wurde 2 Die „Marktrevolution“ 115 <?page no="116"?> nicht mehr als gottgegeben hingenommen, sondern galt als Folge charakterlicher Mängel, die sich durch Erziehung beheben ließen. Gegen Mitte des Jahrhunderts ließ der Reformimpuls allerdings schon wieder nach, so dass überfüllte Gefängnisse und Heime die Regel blieben. Das religiös-reformerische Ferment, das die Kultur des Nordens in Bewegung hielt, fand in der südstaatlichen Sklaverei einen weiteren wichtigen Angriffspunkt. Beflügelt durch das Verbot der Sklaverei im britischen Empire 1833 und in Opposition zu den Siedlungsplänen der American Colonization Society, die nur einer kleinen Zahl freier Schwarzer zugutekamen, entstand in den 1830er Jahren eine Antisklavereibe‐ wegung unter radikalem Vorzeichen. Hauptinitiator war William Lloyd Garrison aus Massachusetts, ein Journalist, der in seiner Bostoner Wochenzeitung Liberator gegen graduelle Reformen und für die sofortige und vollständige Emanzipation der Sklaven eintrat. Aus einem Konvent in Philadelphia ging 1833 die American Anti-Slavery Society hervor, die fünf Jahre später schon 1350 lokale Gesellschaften mit 250.000 Mitgliedern zählte. Die Bewegung sprach auch die fast 400.000 freien Afroamerikaner an, die in Frederick Douglass, einem aus Maryland nach Boston geflohenen ehemaligen Sklaven, ihren Sprecher fanden. Die Zeitung North Star, die Douglass seit seiner Übersiedlung in den Staat New York in Rochester herausgab, propagierte nicht nur die Befreiung der Sklaven, sondern ihre rechtliche und soziale Gleichstellung mit den Weißen. Die „Abolitionisten“, wie sich die Sklavereigegner nannten, waren allerdings nicht nur bei den Weißen des Südens verhasst, sondern erschienen auch vielen Nordstaatlern als Fanatiker, die den inneren Frieden der Nation bedrohten. Attacken weißer Mobs auf abolitionistische Redner und Drucker steigerten jedoch nur die Entschlossenheit und Kreuzzugsmentalität ihrer Anhänger. In den 1840er Jahren fächerte sich die Bewegung weiter auf: Während gemäßigte Kräfte ihre Aktivitäten zunehmend in Parteien und Parlamente verlegten, organisierten entschiedenere Abolitionisten ein System von Fluchtwegen (underground railroad) für Sklaven in den Norden bis nach Kanada, und einige schwarze und weiße Extremisten befürworteten sogar gewaltsame Lösungen. Garrison selbst lehnte die Anstachelung zu Sklavenaufständen ab, wandte sich dafür aber gegen die Verfassung, die er wegen der Sklavereiartikel für hoffnungslos kompro‐ mittiert hielt, und erhob die radikale Forderung, man solle notfalls die Sklavenstaaten aus der Union ausschließen. Im Kongress fand die abolitionistische Agitation wenig Widerhall, weil die Südstaatler 1836 durch die so genannte gag rule erreicht hatten, dass Anti-Sklaverei-Petitionen routinemäßig ohne Diskussion zu den Akten gelegt werden mussten. Umso gewaltiger war das öffentliche Echo, das Harriet Beecher Stowe, die Tochter Lyman Beechers und Ehefrau eines Pfarrers in Maine, Anfang der 1850er Jahre mit ihrem Roman Uncle Tom’s Cabin erzielte. Der Bestseller-Erfolg dieses Werkes, das die Sklaverei auf einfühlsame, teils sentimentale Weise als unmoralische, Individuen, Familien und das Gemeinwesen zerstörende Einrichtung attackierte, zeigte an, dass der Anti-Sklaverei-Protest in ein neues Stadium getreten war. Im Zusammenhang mit dem Abolitionismus formierte sich schließlich auch die erste amerikanische Frauenbewegung. Frauen waren in den abolitionistischen Organisati‐ Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 116 <?page no="117"?> onen stark vertreten und unterhielten sogar eigene lokale Gruppen. An der Frage, ob sie Führungspositionen auf nationaler Ebene übernehmen sollten, schieden sich jedoch die Geister: Garrison, der eng mit den Schwestern Sarah und Angelina Grimké zusammenarbeitete, bejahte sie; aber eine gegnerische Fraktion - die auch an Garrisons Eigensinnigkeit und seiner kritischen Sicht der Verfassung als eines „covenant with death“ Anstoß nahm, lehnte sie strikt ab und verließ die American Anti-Slavery Society. Schmerzlich empfanden engagierte Frauen auch die Zurücksetzung, die weiblichen Delegierten aus den USA 1840 auf dem internationalen Anti-Sklaverei-Kongress in London von den Organisatoren zuteilwurde. Die reformerischen Frauen wehrten sich außerdem gegen den aufkommenden bürgerlichen „Kult der Häuslichkeit“ (cult of domesticity), der immer höhere Barrieren zwischen der Sphäre des Familienlebens und der (männlichen) Arbeitswelt errichtete. 1848 beriefen Lucretia Mott, eine Quäkerin aus Philadelphia, und Elizabeth Cady Stanton, die Tochter eines New Yorker Richters, die sich in London begegnet waren, einen Frauenrechts-Konvent nach Seneca Falls im Norden New Yorks ein. An dem Treffen nahmen auch einige männliche Abolitionisten wie Frederick Douglass teil. Der Konvent verabschiedete eine von der Ideologie des Republikanismus durchdrungene Declaration of Sentiments, die mit Bezug auf die Unabhängigkeitserklärung feststellte, dass „alle Männer und Frauen gleich geboren sind“. Die Frauenbewegung proklamierte bereits das Wahlrecht als „Grundstein des Unternehmens“, aber in der Praxis gaben sich die Reformerinnen vorerst mit bescheide‐ nen Verbesserungen im Bildungswesen und beim Eigentumsrecht verheirateter Frauen zufrieden. Als sich die sektionale Krise in den 1850er Jahren verschärfte, ordneten sie ihre eigenen Wünsche vorerst dem großen Ziel der Beseitigung der Sklaverei unter. Dennoch galten die USA aus europäischer Sicht schon vor dem Bürgerkrieg als das „Land des Matriarchats“, in dem die Männer angeblich ihre Ehefrauen verwöhnten und im Schaukelstuhl wiegten. Dieses Stereotyp traf nur insofern zu, als Frauen in den Vereinigten Staaten wohl auf Grund des Männerüberschusses seit der Kolonialzeit einen höheren gesellschaftlichen Status genossen als in der „Alten Welt“. Das brachte auch günstigere Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und ein relativ freiheitliches, affektives Eltern-Kind-Verhältnis mit sich, das zu den kennzeichnenden Merkmalen der amerikanischen Familienstruktur gerechnet wird. Die Sonderkultur des Südens Die Südstaaten nahmen durchaus am Prozess der Kommerzialisierung und marktwirt‐ schaftlichen Integration teil, blieben aber kulturell doch viel stärker der Vergangenheit zugewandt. Im Süden bildeten sich eigene Sitten, Wertvorstellungen, Verhaltensmus‐ ter und Rechtsverhältnisse heraus. Es entstand eine eigentümliche Mischung aus paternalistischen und demokratischen, traditionellen und modernen Elementen, eine Gesellschaft, die kapitalistisches Gewinnstreben und das Ideal der Ritterlichkeit ohne weiteres miteinander vereinbaren konnte. Das Sklavereisystem, auf dem die Wirtschaft fußte und das man euphemistisch als peculiar institution umschrieb, wirkte in alle 2 Die „Marktrevolution“ 117 <?page no="118"?> Daseinsbereiche hinein. Es grenzte den Süden nicht nur sozial und kulturell vom Norden ab, sondern teilte die Region selbst in eine dominante weiße und eine eher im Verborgenen existierende afroamerikanische Lebens- und Kulturgemeinschaft. Dabei war schon der weiße Süden alles andere als homogen und monolithisch. Ein Viertel aller Familien besaß Sklaven, aber die Hälfte von ihnen weniger als fünf, und nur etwa 3000 Pflanzerfamilien (= ein Prozent) konnten über mehr als 100 Sklaven verfügen. Die größte Bevölkerungsgruppe machten nicht die wohlhabenden oder weniger wohl‐ habenden Sklavenhalter und die mit ihnen eng verbundenen Berufe wie Händler und Anwälte aus, sondern die Familienfarmer (yeomen), die über den Eigenbedarf hinaus für den Markt produzierten. Weitere 10 Prozent der insgesamt 8,8 Millionen weißen Südstaatler lebten 1860 in ärmlichen Verhältnissen in den unfruchtbaren pine barrens des Hinterlandes und betrieben Subsistenzwirtschaft. Diese sozialen Unterschiede wurden durch den Stadt-Land-Gegensatz und eine regionale Differenzierung ergänzt, denn die Lebensverhältnisse in den Küstenregionen und im Mississippidelta wichen erheblich von denen im dünn besiedelten Landesinnern und an der südwestlichen Frontier ab. Es gab also durchaus Interessengegensätze, insbesondere zwischen den Pflanzern und Händlern auf der einen und den Farmern und Pionieren auf der anderen Seite, die ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit bedroht sahen. Dennoch verband die weiße Bevölkerung eine Solidarität, die sich zum Bürgerkrieg hin in einen regelrechten Süd‐ staaten-Nationalismus steigerte. Diese Solidarität erwuchs zum einen aus rassischen Superioritätsgefühlen gegenüber den Schwarzen, zum anderen aus dem geistigen Bann, in den Konzepte und Bilder der Pflanzerideologie wie „Ritterlichkeit“, „Stolz“, „Ehre“, der „Kavalier“ oder die „Southern Lady“ auch die einfachen Weißen schlugen. In der Öffentlichkeit und in den Parlamenten, wo die Pflanzerelite zwar noch überrepräsen‐ tiert war, aber keineswegs mehr allein das Sagen hatte, herrschte Einmütigkeit über die besonderen Tugenden und moralischen Vorzüge des southern way of life. Nahezu ohne Widerspruch vollzog sich seit der Jahrhundertwende der Übergang von einer defensiven zu einer offensiv-kämpferischen Rechtfertigung der Sklaverei als eines positiven Guts. Dieses neuartige pro-slavery argument, das bis zu einem gewissen Grade eine Reaktion auf den Abolitionismus darstellte, hatte viele Facetten: Aus der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart leitete man ab, dass Ungleichheit eine natürliche menschliche Bedingung sei; der Sklaverei wurde eine Schutzfunktion für die sozial Schwachen zugeschrieben, die den „Lohnsklaven“ in den Fabriken des Nordens versagt blieb; die Bibel ließ sich so auslegen, dass die Sklaverei als ständige Herausforderung an die Weißen erschien, Nächstenliebe zu üben. Eine solche Position bezogen die Kirchen im Süden ganz offiziell, was in den 1840er Jahren zur Spaltung der Methodisten und Baptisten in je einen nördlichen und südlichen Flügel führte. Insgesamt schloss sich der weiße Süden immer enger zusammen, um seine Interessen und seine überlieferten Werte und Ideale gegen die Bedrohung zu verteidigen, als die er die individualistische und egalitäre Gesellschaft des Nordens wahrnahm. Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 118 <?page no="119"?> Es spricht für die Belastbarkeit und den Durchhaltewillen der Afroamerikaner, dass sie unter dem extremen Druck eines rassischen Ausbeutungssystems zumindest ein gewisses Maß an kultureller Autonomie und Identität wahren oder entwickeln konnten. Trotz der in vieler Hinsicht offenkundigen Brutalität und Unmenschlichkeit der Sklaverei ließ die nordamerikanische Variante dieses globalen Phänomens ihren Opfern Spielräume, die sie zu nutzen verstanden. Um 1840 war bereits die Mehrheit der 2,5 Millionen Sklaven in Amerika geboren, und es gab - anders als in der Karibik und Südamerika, wo die Männer überwogen - etwa gleich viele schwarze Männer und Frauen. Im Laufe der folgenden 20 Jahre stieg die Zahl der Sklaven fast ausschließlich durch natürliche Vermehrung noch einmal um ca. 1,4 Millionen an, und der Schwerpunkt der afroamerikanischen Bevölkerung verlagerte sich durch eine erzwungene Binnenwanderung von der Ostküste zum Mississippidelta. Zwar arbeite‐ ten die meisten Sklaven und Sklavinnen nach wie vor auf den Baumwollplantagen (1860 ca. 60 Prozent), aber eine wachsende Zahl war in Handwerksbetrieben tätig bzw. wurde von den Besitzern als Arbeiter an Manufakturen und Industriebetriebe „ausgeliehen“ oder „vermietet“. Die ca. 250.000 freien Schwarzen des Südens fanden vor allem als Handwerker, Kleinhändler und Dienstleistende (z. B. Friseure) in den größeren Gemeinden ein Auskommen. Einige Städte wie New Orleans wiesen einen relativ hohen Anteil von mixed-race Personen und freien Schwarzen (gens de couleur libre) auf, die als Elite in der Spannung zwischen Rassensolidarität und Anpassung an weiße Normen standen. Nach der Sklavenemanzipation auf den britischen Karibikinseln und in Mexiko engten allerdings viele Südstaaten aus Angst vor Rebellionen den Bewegungsspielraum der freien Afroamerikaner durch Zusätze zu ihren slave codes wieder erheblich ein. Diese Aufstandsfurcht, die den weißen Süden seit der haitianischen Revolution und der 1800 in Virginia aufgedeckten, durch das Geschehen in der Karibik inspirierten Verschwörung des Gabriel Prosser plagte, war nicht völlig unbegründet. 1822 wurde eine von dem freien Schwarzen Denmark Vesey geplante Erhebung mehrerer tausend Sklaven in South Carolina kurz vor ihrem Beginn vereitelt, und 1831 fielen 59 Menschen dem Mordzug des visionären schwarzen Predigers Nat Turner durch Southampton County, Virginia, zum Opfer. Angesichts der militärischen Überlegenheit der Sklaven‐ besitzer konnte das System als solches jedoch auf gewaltsame Weise - sei es durch kollektive Aktionen oder durch einzelne Mordanschläge - nicht erschüttert werden. Widerstandsbereiten Sklaven boten sich Alternativen wie Sabotage (z. B. Zerstörung von Werkzeugen und Maschinen bis hin zur Brandstiftung), Arbeitsverweigerung (etwa durch Vortäuschen von Krankheit) oder Flucht (in den Norden, nach Mexiko oder in die Anonymität freier schwarzer Gemeinden). Sehr häufig kam es auch zu spontanen Konfrontationen zwischen individuellen Sklaven und ihren Aufsehern oder Besitzern, die häufig mit der Flucht des Sklaven endeten. Die Schätzungen, wie viele Schwarze nach 1830 auf eigene Faust oder über die underground railroad in den Norden und in das „gelobte Land“ Kanada gelangten, variieren zwischen 30.000 und 100.000. Besondere Verdienste als Fluchthelferin erwarb sich die ehemalige Sklavin 2 Die „Marktrevolution“ 119 <?page no="120"?> Harriet Tubman, die selbst von einer Plantage in Maryland floh und später über 70 Verwandten und Nachbarn zur Flucht verhalf. Von einer weitgehenden „Zufriedenheit“ der Afroamerikaner, wie lange Zeit in der Literatur behauptet wurde, kann jedenfalls keine Rede sein. Am häufigsten war aber wohl das schlichte Bemühen, sich so gut wie möglich einzurichten und das Leben in der Sklaverei erträglich zu gestalten. Hier liegen die Wurzeln für eine distinkte afroamerikanische Kultur. Abb. 6: Harriet Tubman Anfang der 1870er Jahre Da die Kleinfamilie jederzeit auseinandergerissen werden konnte, und da junge Sklavinnen häufig Opfer sexueller Ausbeutung durch ihre Besitzer wurden, kam dem größeren Familienverband zentrale Bedeutung zu. Unter seinem Dach entwickelte sich eine spezifische schwarze Familienmoral, die enge Bindungen an die Verwandten (kinship ties) betonte und Nachbarn verpflichtete, notfalls Verwandtschaftsrollen zu übernehmen. Einen weiteren wesentlichen Bezugspunkt im Leben der Sklaven bildete die Religion, zum Teil noch in Form von afrikanischen Kulten, hauptsächlich aber als protestantisches Christentum, zu dem sich seit Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr Schwarze bekannten. Auf ganz charakteristische Weise hatten sie teil an den Erweckungsbewegungen des frühen 19. Jahrhunderts: Schwarze Prediger, zumeist Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 120 <?page no="121"?> Methodisten oder Baptisten, übertrugen in ihrer Bibelauslegung die Vorstellung vom „auserwählten Volk“ auf die versklavten Brüder und Schwestern und gaben ihnen Hoff‐ nung, dass Gott sie aus der „ägyptischen Gefangenschaft“ erlösen und die ungerechten weißen Herren bestrafen werde. Dagegen begannen Unterschiede, die aus der Zeit vor der Versklavung herrührten, zu verblassen. So wurden zwar noch heimatliche Dialekte gesprochen, aber die meisten Schwarzen verständigten sich untereinander und mit den Weißen in einer selbstgeschaffenen Sprache (Gullah), die englische Vokabeln mit grammatischen Formen aus Afrika verband und in den Carolinas gesprochen wurde, oder in Mundarten des Englisch (pidgin oder Black English). Das kulturelle Erbe Afrikas lebte vor allem im Tanz, in der expressiven Musik und den Gesängen (spirituals) fort, die Gottesdienste und Familienfeste belebten und eine Art seelische Therapie gegen die eintönige Arbeit boten. Aus allen diesen Elementen - Familie, Sprache, Religion, Kunst - formte sich ein Bewusstsein der Andersartigkeit und der Verbundenheit, die sich im Untergrund formierte. Was den schwarzen Sklaven - im Unterschied etwa zu den russischen leibeigenen Bauern - jedoch fehlte, waren Ansätze einer politischen Organisation und Selbstverwaltung. Es blieb bei einer afroamerikanischen Subkultur, die dazu beitrug, den Unterschied zwischen Norden und Süden noch mehr zu betonen. Als wirtschaftliches System „funktionierte“ die Sklaverei bis in den Bürgerkrieg, aber der Preis, den der Süden dafür entrichten musste, war eine tief gespaltene, auf Gewalt gegründete und deshalb letztlich instabile Gesellschaft. 3 Der Übergang zur Parteiendemokratie Das Parteienverständnis im Wandel Eine der wichtigsten mentalen Veränderungen, die mit der „Marktrevolution“ einher‐ gingen, betraf die Einstellung zu den Parteien. Obwohl parties schon seit längerem zum politischen Alltag gehörten, galten sie bis in die 1820er Jahre hinein als Fremdkörper in einem wohlgeordneten republikanischen Staatswesen. John Quincy Adams stand noch ganz in der Tradition der „Präsidenten über den Parteien“, ja er trieb sie sogar auf die Spitz e, indem er sich ausdrücklich weigerte, im Kongress und in der Öffentlichkeit für seine Vorhaben zu werben. Das Emporkommen neuer politischer Eliten in den Einzelstaaten und der Druck von der Wählerbasis, den grassroots, wirkten nun aber zusammen, um eine solche Haltung zunehmend obsolet zu machen. Am deutlichsten manifestierte sich das Verlangen nach politischer Demokratie in den Wahlrechtsände‐ rungen, die fast überall vorgenommen wurden. Einige Staaten weiteten das Wahlrecht auf alle Steuer zahlenden Männer aus, andere gaben die traditionelle Verbindung zwischen Besitz und Bürgerrechten ganz auf. Da die neuen Staaten im Westen zumeist von Anfang an das allgemeine Wahlrecht für weiße Männer einführten, gab es 1830 in 20 der 26 Staaten überhaupt keine Zensusbestimmungen mehr. Immer mehr Staaten gingen auch dazu über, ihre Gouverneure, Präsidenten-Wahlmänner und Richter durch Volkswahl bestimmen zu lassen. Entsprechend nahmen das Interesse und die 3 Der Übergang zur Parteiendemokratie 121 <?page no="122"?> Beteiligung der Bürger zu; die Presse erhöhte den Unterhaltungswert der Wahlkämpfe, und Politik wurde endgültig zu einem Massenphänomen. Vor diesem Hintergrund verlor der Begriff „Demokratie“, der zu Beginn des Jahr‐ hunderts noch mit schrankenloser Mehrheitsherrschaft gleichgesetzt worden war, seinen negativen Beiklang. Gleichzeitig änderte sich das Bild der Parteien, die nun mehr und mehr als legitime, für die Willensbildung in einer Demokratie unerlässliche Einrichtungen erschienen. Die theoretische Begründung lieferte eine Gruppe von New Yorker Politikern, die in der Hauptstadt Albany unter der Führung des „kleinen Magiers“ Martin Van Buren die Republikanische Partei auf Staatsebene reorganisierte und modernisierte. Aus der Sicht der Albany Regency, wie man diese erste lokale „Parteimaschine“ der USA nannte, war es ganz natürlich, dass sich die Amerikaner der Parteien bedienten, um ihre Interessen zu artikulieren und durchzusetzen. Im Unterschied zu Europa, wo die Höfe und der Adel die Politik manipulierten, so lautete die Begründung, beruhe das Verhältnis von Wählern und Regierenden in den USA auf enger Abhängigkeit und gegenseitigem Vertrauen. Parteienkampf und Parteidisziplin seien deshalb nichts Anstößiges, sondern moralisch vertretbar und praktisch notwen‐ dig. Auf diese Weise wurde der Geist des Wettbewerbs und der Konkurrenz, der sich im Wirtschaftsleben ausbreitete, in die politische Arena übertragen. Die Anfänge der Jacksonian Democracy Bei den Wahlen von 1828 setzte sich dieses neue Bewusstsein unionsweit durch und ebnete den Weg für das Zweiparteien-System der Democrats und Whigs, das die amerikanische Politik bis in die 1850er Jahre bestimmen sollte. Van Buren gelang es, ein schlagkräftiges Anti-Adams-Bündnis aus all den bis dahin zersplitterten Gruppen und Fraktionen zu schmieden, die bundesstaatliche Interventionen in der Form von Clays American System ablehnten. Diese Koalition reichte von der virginischen Pflanzerelite und den states’ rights-Ideologen um John C. Calhoun über die Befürworter einer aggres‐ siven Westexpansion bis zu Geschäftsleuten, Handwerkern und Arbeitern im Nordos‐ ten, die sich von der Industrialisierung bedroht fühlten. Mit General Andrew Jackson präsentierte die Democratic Party einen Kriegshelden und charismatischen Volksführer, der das genaue Gegenbild zu dem intellektuellen, steifen und unnahbaren Adams darstellte. Jackson war in Tennessee durch Heirat in die lokale Elite aufgestiegen, hatte sich erfolgreich als Anwalt und Landspekulant betätigt und ließ seine Plantagen von Sklaven bearbeiten. Die meisten Amerikaner identifizierten ihn aber nicht mit der Pflanzeraristokratie, sondern sahen in ihm den self-made man aus dem Westen, der unabhängig von mächtigen Interessengruppen und Fraktionen den Willen des Volkes in die Tat umsetzen würde. Dieses Image, das von der demokratischen Propaganda geschickt verstärkt und mit romantischen Zügen versehen wurde, sowie Van Burens kluger Schachzug, alle Wahlkampfanstrengungen auf die besonders umstrittenen Staaten zu konzentrieren, trugen Jackson den Sieg über Adams ein. Anders als sein Vorgänger zögerte der neue Präsident nicht, verdiente Parteifreunde mit Staatsämtern Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 122 <?page no="123"?> zu belohnen und dadurch das in den Einzelstaaten schon erprobte „Beutesystem“ (spoils system) zu einer nationalen Einrichtung zu machen. Die Inaugurationsfeier, zu der „das Volk“ eingeladen wurde, verlief so tumultuarisch, dass Jackson sich vor dem Andrang der Gäste aus einem Fenster des Weißen Hauses retten musste. Das war der Auftakt für die Ära der Jacksonian Democracy, die über Jacksons achtjährige Präsidentschaft hinaus bis weit in die 1840er Jahre reichte. Anders als Adams und Clay wollte Jackson kein konstruktives Regierungsprogramm verwirklichen, sondern den „einfachen Mann“ von den Klammern befreien, mit denen der Bundesstaat und mächtige Wirtschaftsinteressen angeblich seine Entfaltung behinderten. Ideologisch gab es viele Berührungspunkte zum Jefferson’schen Republikanismus, dessen Sprache sich der Präsident und seine Anhänger geschickt zu bedienen wussten. Mit größtem Misstrauen begegneten sie der Zusammenballung wirtschaftlicher Macht und allem, was auf Privilegien und Monopole hindeutete. Eingriffe des Bundesstaates, selbst in Form von sozialen und kulturellen Reformen, schienen nur den Unternehmern und Bankiers des Nordostens zugutezukommen, nicht aber der Masse der Farmer, Handwerker und Arbeiter. Deren Anliegen ließen sich nach Meinung der Jacksonians am ehesten auf lokaler Ebene, an den grassroots artikulieren, und sie konnten besser von den Regierungen und Parlamenten der Einzelstaaten als von der Bundesregierung verwirklicht werden. Die Idole der Jacksonian Democracy waren Männer wie David Crockett, ein Indianerkämpfer an der Siedlungsgrenze, Humorist und Politiker, der 1821 in das Parlament von Tennessee gewählt wurde. Mit seiner „natürlichen Klugheit“ (bei der es sich oft eher um Gerissenheit handelte) und seiner Respektlosigkeit gegenüber der sozialen Elite verkörperte er den Wandel der politischen Kultur. Die Vorstellungen, die Jackson selbst von der Rolle der Bundesregierung und der Präsidentschaft hatte, waren im Wesentlichen negativ; er scheute sich nicht, seine Philosophie mit dem Instrument des Vetos durchzusetzen, das er häufiger gegen Gesetzesinitiativen des Kongresses einlegte als alle seine Vorgänger im Weißen Haus zusammen. Von einer reinen „Verhinderungspolitik“ zu sprechen, wie es zuweilen geschieht, wird aber weder Jacksons Persönlichkeit noch den komplexen politischen Zusammenhängen gerecht. Schon zu Beginn seiner Amtszeit bewies der Präsident in der Indianerfrage, dass er sehr wohl aktiv handeln konnte, wenn die Interessen der Union, wie er sie verstand, dies erforderten. Jacksons Indianerpolitik Aus seinen Feldzügen gegen Stämme an der südlichen Frontier zu Beginn des Jahrhun‐ derts hatte Jackson die Lehre gezogen, dass der Versuch, die Indianer zu „zivilisieren“, aussichtslos war und nur eine strikte Trennung von den Weißen helfen würde. Wie viele seiner Landsleute hielt er die Ureinwohner für „Wilde“ (savages), deren Lebensformen man nicht zu respektieren brauchte und die weichen mussten, damit die republikanische Vision des Empire of Liberty im Westen in Erfüllung gehen konnte. In seiner ersten Botschaft an den Kongress kündigte er 1830 an, er werde dafür sorgen, dass alle Indianer, 3 Der Übergang zur Parteiendemokratie 123 <?page no="124"?> die sich noch im Osten der USA aufhielten, in Gebiete jenseits des Mississippi verbracht würden. Das betraf in erster Linie die so genannten „fünf zivilisierten Stämme“ der Cherokee, Creek, Chickasaw, Choctaw und Seminolen, die in South Carolina, Georgia und Florida - z. T. unter dem Schutz von Bundestruppen - Ackerbau und Handel betrieben. Ihre Assimilation ging so weit, dass sie eine Schrift einführten, Verfassungen entwarfen und sogar Sklaven hielten. Den Präsidenten ließ das kalt: Als Sofortmaßnahme zog er das Militär ab, wodurch die Stämme unter stärkeren Druck der Einzelstaaten und der weißen Siedler gerieten, die ein Auge auf das für den Baumwollanbau geeignete fruchtbare Land geworfen hatten. Wenig später verabschiedete der Kongress mit knapper Mehrheit den Indian Removal Act, der Land westlich des Mississippi als Entschädigung bereitstellte und auf dessen Grundlage Agenten der Bundesregierung - häufig unter mehr als zweifelhaften Begleitumständen - fast 100 Umsiedlungsverträge mit Indianerstämmen abschlossen. Juristischen Widerstand gegen den Indian Removal leisteten vor allem die Cherokees, die den Staat Georgia vor dem Supreme Courtverklagten, weil er ihre 1827 verabschiedete Verfassung nicht anerkannte und ihr Land unter fünf Counties aufteilen wollte. Das Oberste Gericht erklärte sich 1831 zwar mit der Begründung für unzuständig, die Cherokees seien keine „foreign nation“ im Sinne der US Constitution und hätten deshalb kein Klagerecht. Chief Justice John Marshall nutzte aber die Gelegenheit, in seiner schriftlichen Stellungnahme zum Fall Cherokee Nation v. Georgia die nordamerikanischen Indianerstämme als „einheimische abhängige Nationen“ (domestic dependent nations) zu definieren, die in einem ganz speziellen Abhängigkeits- und Treuhandschaftsverhältnis zur Bundesregierung stünden. Diese Betonung der bundesstaatlichen Autorität in allen Indianerangelegenheiten entsprach ganz der Linie, die Marshall bereits 1823 im Fall Johnson v. McIntosh vorgezeichnet hatte, als er den Indianern einen Rechtsanspruch auf ihr Stammesland zubilligte, den nur die Bundesregierung durch vertraglich vereinbarten Kauf oder militärische Eroberung ablösen könne. Die Klage zweier weißer Missionare, die ohne Erlaubnis des Staates Georgia bei den Cherokees lebten und deshalb von einem Staatsgericht zu Zwangsarbeit verurteilt worden waren, lieferte Marshall 1832 eine Handhabe, die rechtliche Stellung der Indianer im amerikanischen Verfassungssystem noch präziser zu fassen. Unter seinem Vorsitz entschied der Supreme Court im Fall Worcester v. Georgia, dass die Missionare zu Unrecht verurteilt worden seien und das entsprechende Gesetz Georgias gegen die Gesetze und die Verfassung der Union verstoße. Über seine Darlegungen in Cherokee Nation v. Georgia hinaus bescheinigte Marshall nun den Indianerstämmen, sie hätten sich von jeher mit eigenen Institutionen und Gesetzen selbst regiert und besäßen deshalb als „a distinct people“ einen ähnlichen Status wie die Einzelstaaten. Die Stämme seien von der Bundesregierung stets als „Nationen“ behandelt worden, und sie blieben auch nach dem Abschluss von Verträgen separate politische Gemeinschaften, die innerhalb ihrer territorialen Grenzen uneingeschränkte Hoheit (exclusive authority) ausübten. Ihr Recht auf das von diesen Grenzen umschlossene Land werde von den Vereinigten Staaten nicht nur anerkannt, sondern sogar garantiert. Offensichtlich wollte der Federalist John Marshall - auf dem Höhepunkt des „Nullifikations“-Streits zwischen Präsident Jackson Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 124 <?page no="125"?> und der Regierung von South Carolina - mit diesem Urteil einerseits die Kompetenzen der Bundesregierung gegen Übergriffe von Einzelstaaten stärken, andererseits aber auch die von Präsident und Kongress verfolgte Indianerpolitik in Frage stellen. Angesichts der Popularität des Removal-Konzepts dachte Jackson aber gar nicht daran, sich in dieser Hinsicht vom Supreme Court Vorschriften machen zu lassen. Marshall habe sein Urteil gefällt, so soll er gesagt haben, und nun müsse der Chief Justice auch selbst zusehen, dass es befolgt werde. In der Praxis setzten sich sowohl die Einzelstaaten als auch der Kongress und die Administration über den Spruch des Obersten Gerichts hinweg und trieben die Umsied‐ lung der Indianer, die häufig einer Deportation gleichkam, entschlossen weiter voran. 1832 verübten Bundestruppen und Milizen im westlichen Illinois ein Massaker an den Fox und Sauk, dem mehr als 800 Krieger zum Opfer fielen, und vertrieben die Reste der Stämme über den Mississippi. Als der Kongress 1837 ein Indianerterritorium zwischen Missouri und Red River im heutigen Oklahoma einrichtete, war die Verdrängung der „fünf zivilisierten Stämme“ bereits in vollem Gange. Den traurigen Höhepunkt bildete der fast 2000 km lange „Zug der Tränen“ (trail of tears), den die verbliebenen Cherokees 1838 unter Bewachung von Bundestruppen antraten und auf dem über 4000 der 17.000 Stammesmitglieder umkamen. Jenseits des Mississippi mussten sich die Indianer mit einem Drittel des ursprünglichen Landes und weniger fruchtbaren Böden begnügen, aber selbst das erwies sich nur als vorübergehender Schutz vor dem Landhunger der weißen Siedler. Obwohl Teile des Seminolenstammes gemeinsam mit geflohenen Sklaven in Florida noch jahrelang einen Guerrillakrieg gegen das weiße Militär führten, war die organisierte Präsenz von Indianern östlich des Mississippi um 1840 beendet. Jackson hatte unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Ureinwohner ebenso außerhalb der republikanisch-demokratischen Ordnung standen wie die Sklaven der Südstaaten. Durch diese harte, von der großen Mehrheit der Bevölkerung jedoch gebilligte Haltung war es ihm gelungen, die politische Basis seiner Partei im Westen und Südwesten der USA zu festigen. Aus historischer Perspektive behielt aber nicht Andrew Jackson, sondern John Marshall das letzte Wort. Im 20. Jahrhundert besannen sich die Amerikaner wieder darauf, dass die Urteile des Supreme Court aus den Jahren 1823, 1831 und 1832 nicht nur den Vorrang der Bundesgewalt in Indianerangelegen‐ heiten bestätigten, sondern auch Prinzipien und Richtlinien enthielten, die indianische Besitzansprüche rechtfertigten und ein weitgehendes Selbstbestimmungsrecht der Native Americans anerkannten. Seither gehören die Begriffe der „domestic dependent nations“ und der „distinct political communities“, die aus Marshalls Urteils-“Trilogie“ stammen, zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen, auf denen der politische Kampf um die Autorität, Ressourcen und Finanzen der Indianerreservate geführt wird. 3 Der Übergang zur Parteiendemokratie 125 <?page no="126"?> Nullifikationskrise und „Bankkrieg“ Präsident Jackson hatte die wichtigen Regierungsämter nach rein parteipolitischen Gesichtspunkten vergeben und stützte sich vor allem auf einen engen Beraterzirkel, das so genannte „Küchenkabinett“, in dem neben Außenminister Martin Van Buren demokratische Zeitungsverleger den größten Einfluss ausübten. Es entsprach dem generellen Klima der Zeit, dass Wirtschafts- und Finanzthemen die Diskussionen von Regierung und Kongress beherrschten. Eine Quelle ständiger Reibungen waren die Zölle, aus denen der Bundesetat in der Hauptsache finanziert wurde. Durch Zölle verteuerte der Kongress aber auch gezielt Einfuhren aus Europa, um heimische Industrien zu schützen. Das ging wiederum häufig zu Lasten der agrarischen Süd‐ staaten, die stärker als andere Regionen auf den Import europäischer Fertigwaren angewiesen waren. Hinter dieser Benachteiligung argwöhnten manche Südstaatler Absichten des Nordens, die peculiar institution zu schwächen. Ende 1832 kam es zur Krise, als ein Konvent des Staates South Carolina die Zollgesetze von 1828 und 1832 für null und nichtig erklärte, die Eintreibung von Bundeszöllen in South Carolina verbot und für den Fall bundesstaatlicher Gewaltanwendung mit Austritt aus der Union drohte. Die juristische Begründung für diesen „Nullifikations“-Beschluss hatte Jacksons Vizepräsident John C. Calhoun schon 1828 in einem anonymen Pamphlet unter Bezugnahme auf die Kentucky- und Virginia-Resolutionen von 1798 geliefert. Ab 1831 bekannte er sich offen zu der Ansicht, im föderalen System der USA habe die Souveränität der Staaten Vorrang vor Mehrheitsentscheidungen des Kongresses. Dieses Argument sollte zum Kern der states’ rights-Philosophie der Südstaaten bis ins 20. Jahrhundert hinein werden. Im Wahlkampf des Jahres 1832 kam es zum offenen Bruch zwischen Jackson und Calhoun, der vom Amt des Vizepräsidenten zurücktrat und als Senator für seine staatsrechtlichen Theorien weiterstritt. Jackson brandmarkte die Sezessionsdrohung South Carolinas als Verrat an der Union, auf dem die Todesstrafe stehe, und ließ sich vom Kongress ermächtigen, die Missachtung der Verfassung und der Gesetze der USA gewaltsam zu beenden. Jetzt trat der Präsident in der Pose eines Sprechers des amerikanischen Volkes auf, das von der Bundesregierung den Ausbau der Demokratie und eine weitere Westexpansion erwartete. Der Kongress entschärfte jedoch den Konflikt, indem er eine stufenweise Senkung des Zolltarifs auf den Stand von 1816 beschloss. Calhoun fand sich mit dieser Regelung ab, zumal South Carolina keine aktive Unterstützung von anderen Staaten erhielt. Die Ressentiments gegen den Norden wirkten aber weiter fort, und die Frage nach der „wahren“ Natur des föderativen Systems blieb in der Schwebe. Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 126 <?page no="127"?> Abb. 7: Andrew Jackson bekämpft zusammen mit Martin Van Buren die Bank of the United States, dargestellt als vielköpfiges Monster (Satire von 1836) Im Wahlkampf von 1832 war neben dem Streit mit South Carolina Jacksons Absicht, die auf 20 Jahre befristete Charter der Second Bank of the United States nicht zu verlängern, zum zentralen Thema geworden. Die Gegner hatten diese Frage hochgespielt, um den Präsidenten in Verlegenheit zu bringen, da sie annahmen, er könne sich eine Zerstörung der Bank aus Gründen der wirtschaftlichen Vernunft nicht leisten. Die Demokraten nahmen die Herausforderung jedoch an und machten die Bank zum Symbol ihres Kampfes gegen die Privilegien und Monopole der Ostküstenelite. In der Begründung des Vetos, mit dem Jackson eine Verlängerung der Charter über 1836 hinaus verhin‐ derte, griff er die Bank in demagogischer Weise als eine Institution an, die „gefährlich für die Freiheiten des Volkes“ sei und zum Ziel habe, „die Reichen reicher und die Mächtigen mächtiger“ zu machen. Auf diese Weise brachte er alle diejenigen hinter sich, die interessens- oder gefühlsmäßig gegen die Industrialisierung eingestellt waren. Durch die Favorisierung von Staatenbanken gegenüber der Bundesbank gewann er al‐ lerdings auch die Unterstützung von Unternehmern, die dem wirtschaftlichen Wandel positiv gegenüberstanden, ihn jedoch ungestört von bundesstaatlicher Einmischung und „Wall Street“-Kontrolle auf lokaler Ebene vorantreiben wollten. Nach der ungefährdeten Wiederwahl gegen Henry Clay stand Jacksons zweite Amtszeit von 1833 bis 1837 ganz im Zeichen des „Bankkrieges“ (bank war), in dem sich die politischen und ideologischen Gegensätze der Zeit dramatisch verdichteten. Jack‐ 3 Der Übergang zur Parteiendemokratie 127 <?page no="128"?> sons Finanzminister Roger B. Taney verfügte gegen den Widerstand des Kongresses, dass die Gelder der Regierung aus der Second Bank of the United States abgezogen und in Einzelstaats-Banken deponiert wurden. Die Direktoren der Second Bank wiederum versuchten, mit einer Verknappung des Kredits Druck auf Jackson auszuüben. Der Präsident blieb jedoch unerbittlich: Obwohl der Senat warnte, dass der republikanische Charakter des Gemeinwesens durch „die Konzentration aller Macht in den Händen eines Mannes“ auf dem Spiel stehe, erlosch die Charter 1836, und die Second Bank, zur Privatbank reduziert, musste 1841 Konkurs anmelden. Schon 1837 brach jedoch der Spekulationsboom zusammen, der den Bankkrieg begleitet hatte, und die USA glitten in eine fünfjährige Depressionsphase ab. Jacksons Kreuzzug gegen die Reichen und Mächtigen war daran nicht schuldlos, denn er schirmte im Grunde nur die Kräfte der Marktwirtschaft von bundesstaatlicher Regulierung ab. Der Supreme Court unter Marshalls Nachfolger Roger B. Taney (1836-1864) setzte Jacksons dezentrale, antimonopolistische Wirtschaftspolitik in verfassungsrechtliche Doktrin um und be‐ hielt diesen Kurs bis in die Zeit des Bürgerkriegs bei. Als Jackson 1837 das Weiße Haus verließ, war er sicherlich der populärste Amerikaner seiner Zeit. Auch von heutiger Warte aus sind - ungeachtet aller Schattenseiten - die Tatkraft und Entschlos‐ senheit bemerkenswert, mit der er die Demokratisierung der USA vorangetrieben, die Einheit der Union verteidigt und die konstitutionellen Befugnisse des Präsidenten voll ausgeschöpft hat. In der Verbindung von Zielstrebigkeit, Machtbewusstsein, moralischer Selbstgerechtigkeit und materiellem Erfolgsstreben verkörperte er einen neuen Typus des Amerikaners, der sich anschickte, die Autonomie des Individuums zu einer umfassenden politischen und wirtschaftlichen Kraftentfaltung zu nutzen. Die Whigs als neue Oppositionspartei Die Bank-Kontroverse förderte die Neuformierung der politischen Kräfte und das Wiedererstehen eines nationalen Zweiparteien-Systems. Nach dem Scheitern der elitär-altmodischen National Republicans bauten die Gegner Jacksons ab 1832 eine neue unionsweite Koalition auf, die den Bedingungen der Parteiendemokratie besser Rechnung trug. An die Spitze traten der unverwüstliche Henry Clay, Senator Daniel Webster aus Massachusetts als Sprecher der neuenglischen Wirtschaftsinteressen und für einige Jahre auch John C. Calhoun, den die erbitterte persönliche Feindschaft mit Jackson von den Demokraten trennte. Auf lokaler und regionaler Ebene fanden die Op‐ positionsgruppen unter dem Parteinamen Whigs zusammen, der Erinnerungen an die Glorious Revolution von 1688 und den amerikanischen Unabhängigkeitskampf weckte. Das wichtigste verbindende Element war in mancher Hinsicht die Abneigung gegen Jackson, den die oppositionelle Propaganda als King Andrew fortwährend mit dem absolutistischen Gebaren europäischer Monarchen assoziierte. Ideologisch schufen die Whigs aus der Mischung traditioneller und fortschrittlich-reformerischer Ideen eine moderne Variante des Konservatismus. Einerseits hielten sie Gemeinschaftswerte und Bürgerpflichten gegen hemmungslosen Individualismus und Demagogie hoch; Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 128 <?page no="129"?> andererseits gaben sie sich noch technikbesessener und fortschrittsgläubiger als die zuversichtlichsten Demokraten. Zur Begeisterung über den wirtschaftlichen Aufstieg der USA gesellte sich ein religiös und moralisch motivierter Reformwille, dem es um die Beseitigung der Missstände in Fabriken, Gefängnissen und Krankenhäusern, generell um die „Zivilisierung“ der Gesellschaft ging. Was die Whigs am meisten von den Demokraten unterschied, war ihre Überzeugung, dass die Bundesregierung die Pflicht habe, auf die „progressive Verbesserung der Lebensbedingungen der Regierten“ hinzuwirken. Ähnlich den Demokraten fand die neue Partei Anhänger in allen Regionen und erhielt Zulauf aus allen Gesellschaftsschichten. Charakteristisch war die Allianz zwi‐ schen den Wirtschaftseliten des Nordens, unternehmerisch eingestellten Südstaatlern, den protestantischen Reformbewegungen der Mittelschicht und benachteiligten Grup‐ pen, die sich von ökonomischem Wachstum eine Verbesserung ihrer Lage versprachen: im Norden die Arbeiterschaft und die freien Schwarzen, im Süden Teile der Farmbevöl‐ kerung, die unter der Bevormundung durch die Pflanzeraristokratie litten. Die Masse der amerikanischen Farmer und Pflanzer blieb allerdings der Demokratischen Partei treu, die nach der Wahl Van Burens zum Präsidenten 1836 auch verstärkt die städtische Arbeiterschaft umwarb und dabei vor allem bei den katholischen Neueinwanderern Erfolge erzielte. Hinsichtlich der Parteipräferenzen und individuellen Wahlentschei‐ dungen verwoben sich also auf komplexe Weise Klassenzugehörigkeit mit ethnischen und religiösen Faktoren. Beide großen Parteien erwuchsen aus der Konfrontation mit der Marktwirtschaft, die althergebrachte republikanische Werte und Überzeugungen in Frage stellte. Die Demokraten betonten die Autonomie, Freiheit und Rechtsgleichheit des Einzelnen, und sie glaubten zunehmend in der territorialen Expansion einen Aus‐ weg aus den Schwierigkeiten der Zeit zu erkennen. Die Whigs stellten wirtschaftliches Wachstum und moralische Vervollkommnung über Gebietserweiterungen im Westen und fanden damit Rückhalt bei den aufstrebenden Mittelschichten. Beide Parteien vermieden es bewusst, die Sklaverei zu thematisieren, weil dies nicht nur die Union, sondern ihren eigenen inneren Zusammenhalt gefährdet hätte. Bis in die 1850er Jahre hinein wirkte das Zweiparteien-System deshalb als Klammer, die ein weiteres Auseinanderdriften der Regionen verhinderte. Das zweite nationale Parteiensystem Die Konkurrenz von Demokraten und Whigs politisierte das öffentliche Leben der USA in einem bis dahin kaum vorstellbaren Ausmaß. Wahlkämpfe wurden zu Massen‐ spektakeln, die das Volk durch Paraden, Debatten der Kandidaten, Pressekampagnen, griffige Slogans und anschauliche Symbole in ihren Bann zogen. 1836 lag die Wahlbetei‐ ligung bei 55 Prozent, 1840 gaben schon 80 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, und danach sank die Beteiligung nur einmal (1852) unter 70 Prozent, um 1860 mit 81,2 Prozent einen neuen Höhepunkt zu erreichen. Seit den 1830er Jahren erfolgte die Nominierung der Präsidentschaftskandidaten nicht mehr hinter verschlossenen Türen 3 Der Übergang zur Parteiendemokratie 129 <?page no="130"?> durch den caucus der Kongressfraktionen, was nun als elitär und undemokratisch galt, sondern auf einem nationalen Parteikonvent, wie es erstmals die kurzlebige Anti-Freimaurerpartei in New York praktiziert hatte. Obwohl die Parteiführungen meist geschickt Regie führten, verstärkte diese Innovation das Gefühl, jeder Bürger könne auf die Kandidatenkür und das Parteiprogramm, die platform, unmittelbar Einfluss nehmen. Für die weißen amerikanischen Männer, zum Teil auch für die freien Schwarzen des Nordens, war damit - anders als für die Europäer - das Verlangen nach politischer Demokratie in Erfüllung gegangen, noch bevor die Industrielle Revolution ihren Höhepunkt erreichte. Die Parteiloyalitäten erwiesen sich als erstaunlich stabil, und das Kräfteverhältnis war so ausgeglichen, dass für Kongress- und Staatenwahlen kaum sichere Prognosen gestellt werden konnten. Auf der höchsten Ebene, der Präsidentschaft, waren die Whigs jedoch vom Pech verfolgt. Zweimal gelang es ihnen, in diese Domäne der Demokraten einzubrechen: Bei den Wahlen von 1840, die ganz im Zeichen der wirtschaftlichen Depression standen, siegte ihr Kandidat William Henry Harrison aus Ohio über Jacksons Nachfolger Van Buren. Kennzeichnenderweise verhalf ihm das Jackson-Image zu diesem Erfolg, denn seine Anhänger porträtierten ihn als Kriegshelden und abge‐ härteten Mann von der Frontier, der in einer Blockhütte aufgewachsen sei und sich als einzigen Luxus hin und wieder ein Glas Cider gönne. Harrison starb aber schon einen Monat nach seiner Amtseinführung, und Vizepräsident John Tyler, der an seine Stelle trat, schwenkte auf die politische Linie der Demokraten um. 1848 nominierten die Whigs General Zachary Taylor, der sich im Krieg gegen Mexiko Verdienste erworben hatte. Auch er starb jedoch im Amt, und sein Nachfolger Millard Fillmore konnte die Partei in der Krise der 1850er Jahre nicht mehr zusammenhalten. Er beendete seine Karriere 1856 als Präsidentschaftskandidat der populistischen, fremdenfeindlichen American Party. Die Integrationskraft des Parteiensystems wurde insbesondere durch den starken Zustrom an Einwanderern und die wachsenden wirtschaftlichen und mentalitätsmä‐ ßigen Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden auf die Probe gestellt. Ein Symptom dieser Unruhe war das Aufkommen neuer Parteien, die gelegentlich spektakuläre Wahlerfolge erzielten. Dazu gehörte die Anti-Masonic Party, deren An‐ hänger in New York gegen Van Burens Albany Regency kämpften, hinter der sie eine freimaurerische Verschwörung vermuteten. 1840 unterstützten die Anti-Freimaurer die Kandidaten der Whigs, was wesentlich dazu beitrug, dass Harrison über Van Buren siegte. Vier Jahre später trat erstmals eine abolitionistische Gruppierung an, die Liberty Party unter James G. Birney aus Kentucky, für die allerdings lediglich 3 Prozent der Wähler votierten. Ihre Stimmengewinne in einigen Staaten gingen zu Lasten von Henry Clay und ebneten dem expansionistischen Demokraten James K. Polk den Weg ins Weiße Haus. Nach dem Krieg gegen Mexiko sammelten sich die Anti-Sklaverei-Kräfte 1848 in der Free Soil Party und stellten Van Buren als Präsident‐ schaftskandidaten auf. Mit ihrem Wahlslogan „Free soil, free speech, free labor, and free men“ nahmen sie den Demokraten im Norden verhältnismäßig viele Stimmen ab, Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 130 <?page no="131"?> so dass sich überraschend der Whig-Bewerber General Zachary Taylor durchsetzte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war unübersehbar, dass die territoriale Ausdehnung bis zum Pazifik und eine neue Welle der Westwanderung es immer schwieriger machen würden, die Sklavereifrage aus der nationalen Politik herauszuhalten. Sobald dieses Tabu brach, stand aber nicht nur das Parteiensystem, sondern die Union selbst auf dem Spiel. Abb. 8: Die Entwicklung der großen Parteien (1792 - 1854) 3 Der Übergang zur Parteiendemokratie 131 <?page no="132"?> 4 Territoriale Expansion und Sklavereiproblematik Manifest Destiny In den 1840er Jahren erlebten die USA, deren Territorium sich erst 1803 durch den Louisiana Purchase verdoppelt hatte, einen neuen Expansionsschub, der einen Zuwachs von 1,5 Millionen Quadratkilometern brachte und den Aufstieg zur kontinentalen Macht vollendete. Die wirtschaftlichen Erfolge, das rasche Bevölkerungswachstum und die religiösen Erweckungsbewegungen schufen eine Stimmung, die ihren besten Ausdruck in dem Schlagwort von der Manifest Destiny fand. Der Begriff stammt aus der Feder des New Yorker Publizisten John L. O’Sullivan, der 1845 in der Democratic Review schrieb, es sei die „schicksalhafte Bestimmung“ der Amerikaner, sich über den Kontinent auszubreiten, „den uns die Vorsehung für die freie Entwicklung unserer Jahr für Jahr sich vermehrenden Millionen zugewiesen hat“. Wie ein Baum den Boden und die Luft beanspruchen könne, die er zur vollen Entfaltung brauche, so hätten die USA das Recht, ihr „großes Experiment der Freiheit und föderativen Selbstregierung“ voranzutreiben. O’Sullivan fasste damit eine Vision in Worte, die sich der Phantasie der Amerikaner bereits bemächtigt hatte und die aus einer Mischung von anglo-pro‐ testantischem Nationalismus und Fortschrittsgläubigkeit erwuchs. Nur wenige, wie Henry Clay und sein jugendlicher Bewunderer Abraham Lincoln, lehnten solche Ideen grundsätzlich ab, und sie waren machtlos gegen die Popularisierer und Romantiker, die den Geist der Manifest Destiny im politischen Diskurs, der Literatur und der bild‐ enden Kunst verbreiteten. Als säkularisierte Form der puritanischen Heilserwartung durchtränkte Manifest Destiny die gesamte Kultur der Epoche, verlieh den Erfahrungen von Demokratisierung, Westwanderung und Aneignung der Natur einen tieferen Sinn und prägte sich dauerhaft in das kollektive Geschichtsbewusstsein ein. Die Vorstellung einer zivilisatorischen Mission war untrennbar mit materiellen Interessen verbunden, die vom Wunsch nach Siedlungsland und zusätzlicher Anbaufläche für Baumwolle über die Ausbeutung von Bodenschätzen im Westen bis zur Öffnung neuer Märkte im pazifischen Raum reichten. Dabei blieben die geographischen Grenzen der „offenbaren Bestimmung“ und die Methoden ihrer Realisierung vorerst recht vage: Bezog sie sich nur auf Texas und Oregon, oder gehörten auch Kanada, Mexiko und die Karibikinseln dazu? Würde die Expansion friedlich vonstatten gehen, oder durfte bzw. musste auch Waffengewalt angewendet werden? Die Westausdehnung, wie sie dann tatsächlich erfolgte, war in doppelter Hinsicht ein paradoxer Vorgang. Zum einen bedeutete die Expansion des Empire of Liberty in der Praxis auch eine Expansion der Sklaverei und lief damit dem Prozess der Emanzipation entgegen, der 1793 / 94 in Haiti begonnen und in den 1820er Jahren Lateinamerika, im Jahrzehnt darauf die britischen Karibikinseln erreicht hatte. Zum Zweiten war es gerade der Zugewinn an neuen Gebieten im Westen, mit dem das „amerikanische Experiment“ nach außen abgesichert werden sollte, der die Vereinigten Staaten in die innere Krise und schließlich in den Bürgerkrieg trieb. Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 132 <?page no="133"?> Texas und Oregon Nach der Unabhängigkeit von Spanien hatte Mexiko Siedler aus Europa und den Vereinigten Staaten in die Nordprovinz Texas eingeladen, deren Zahl bis Mitte der 1830er Jahre ca. 35.000 erreichte. Seit dem Verbot der Sklaverei 1829 schwelte aber ein Konflikt zwischen der mexikanischen Regierung und den Siedlern, der 1836 offen ausbrach, als unter Präsident Antonio López de Santa Ana eine neue, zentralistische Verfassung in Kraft trat. Noch im selben Jahr erklärten die texanischen Siedler ihre Unabhängigkeit und verabschiedeten eine eigene Verfassung, die den Besitz von Skla‐ ven legitimierte. In dem Krieg, der daraufhin zwischen Mexiko und der abtrünnigen Provinz ausbrach, blieben die USA offiziell neutral, unterstützten die Siedler aber auf privater Basis mit Freiwilligen, Waffen und Geld. Der Kampf um die Alamo-Garnison in der Nähe von San Antonio, bei dem 200 Unabhängigkeitskämpfer, unter ihnen David Crockett, von 3000 Mexikanern aufgerieben wurden, weckte patriotische Gefühle und verklärte sich in der Erinnerung („Remember the Alamo! “) zum Gründungsmythos. Als die Texaner durch den Sieg in der Schlacht von San Jacinto im April 1836 de facto die Unabhängigkeit errangen, baten sie die USA um Anerkennung und Aufnahme in die Union. Präsident Jackson, der sich zuvor vergeblich bemüht hatte, den Mexikanern Texas und Kalifornien abzukaufen, zögerte nun aber aus Sorge vor internationalen Verwicklungen und nicht zuletzt auch deshalb, weil im Norden während des Wahl‐ kampfes Opposition gegen die Eingliederung eines riesigen Sklavengebiets laut wurde. Kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt erkannte Jackson 1837 die Republik Texas an, aber im folgenden Jahr scheiterte ein texanischer Aufnahmeantrag im Kongress, wo John Quincy Adams das Gespenst einer Verschwörung der Sklavenstaaten (slave power conspiracy) gegen den Norden an die Wand malte. Diesem Vorwurf setzten die Südstaatler in der Folgezeit eine eigene Verschwö‐ rungstheorie entgegen, die besagte, dass Großbritannien die USA von Kanada über Kalifornien bis Texas „einkreisen“ und die Sklaverei zerstören wolle, um seine Vor‐ machtstellung auf dem Kontinent zu festigen. Das war nicht völlig aus der Luft gegriffen, weil die englische Regierung in der Tat Gefallen an einem unabhängigen Texas als Bollwerk gegen die weitere Expansion der USA nach Süden und Westen fand. Mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Großbritannien drängte London die Texaner, wenn schon nicht die Sklaverei, so doch wenigstens den Sklavenhandel zu unterbinden. Gleichzeitig rückten Kalifornien und Neu-Mexiko stärker ins Blick‐ feld, die immer mehr Händler, Siedler und Abenteurer aus den USA anzogen. Da abzusehen war, dass Mexiko diese Gebiete nicht würde halten können, traute man in Washington und im Süden der britischen Regierung zu, sie wolle den Vereinigten Staaten bei der Besitzergreifung zuvorkommen. Auf diese Weise zeichnete sich die Gefahr ab, dass der englisch-amerikanische Interessenkonflikt in der Texas-Frage auf die gesamte Pazifikregion von Kalifornien bis Oregon übergriff. Alarmiert durch die britische Einflussnahme in Texas, drängten die Südstaatler die Tyler-Administration zur Eile und legten sie auf einen Anschluss der Republik an die USA fest. Nach Geheimverhandlungen mit der texanischen Regierung konnte John C. Calhoun, nun 4 Territoriale Expansion und Sklavereiproblematik 133 <?page no="134"?> Außenminister unter Tyler, dem Senat im April 1844 einen Eingliederungsvertrag (Annexation Treaty) zuleiten. Mit seiner vorbehaltlosen Verteidigung der Sklaverei provozierte Calhoun jedoch so viel Widerstand, dass die zur Annahme des Vertrags erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht zustande kam. Der Wahlkampf von 1844 stand daraufhin ganz im Zeichen der Außenpolitik, die wie selten zuvor die Gemüter erregte und nationale Leidenschaften weckte. Calhoun und der von ihm unterstützte Präsidentschaftskandidat der Demokraten, James K. Polk, verfolgten die Strategie, die Themen Texas und Oregon miteinander zu verknüpfen, um den Anti-Annexionisten im Norden den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Norden herrschte nämlich seit Anfang der 1840er Jahre das „Oregon-Fieber“, das durch Berichte von Reisenden und Missionaren über fruchtbares Siedlungsland, reiche Fischgründe und gute Möglichkeiten des Pelzhandels mit den Indianern ausgelöst worden war. Interessierte Kreise an der Ostküste und im Mittleren Westen schürten diesen „Drang nach Westen“, und 1843 erreichte ein erster großer Siedlerzug mit Planwagen auf dem Oregon Trail das Gebiet südlich des Columbia River. Das Wahlprogramm der Demokraten forderte nun nicht nur die Aufnahme von Texas als Staat in die USA, sondern auch die Einverleibung des gesamten Oregon-Territoriums, das bislang unter britisch-amerikanischer joint occupation stand, bis zur Grenze Alaskas. Durch den Wahlsieg von James K. Polk über Henry Clay, der in der Texas-Frage schwankte, ging das Kalkül der Annexionisten voll auf. Noch vor dem offiziellen Amtswechsel im Weißen Haus sprachen sich Senat und Repräsentantenhaus im Februar 1845 in Form einer gemeinsamen Resolution (für die, anders als bei Verträgen, nur die einfache Mehrheit benötigt wurde) zu Gunsten einer Angliederung von Texas aus. Die endgültige Aufnahme in die Union erfolgte im Dezember 1845 unter dem Druck der Öffentlichkeit und mit Nachhilfe wirtschaftlicher Interessenten, obwohl die Grenzen des neuen Staates zu Mexiko umstritten waren. Gleichzeitig verschärfte Präsident Polk den Oregon-Konflikt mit Großbritannien bis an die Schwelle des Krieges, indem er das 1827 verlängerte Abkommen über die gemeinsame Verwaltung des Territoriums aufkündigte und den Anspruch der USA auf das gesamte Gebiet bis nördlich des 54. Breitengrades anmeldete. Die Londoner Regierung wollte eine militärische Konfrontation vermeiden und offerierte die Teilung Oregons entlang dem 49. Breitengrad - eine Kompromisslösung, die Polk selbst ungeachtet der aggressiven Wahlkampfparole „Fifty-four fourty or fight! “ insgeheim anvisiert hatte. Der Grenzver‐ trag vom Juni 1846, der die Teilung völkerrechtlich festschrieb und den Briten Vancouver Island beließ, enttäuschte nur die radikalen Expansionisten im Norden. Immerhin waren die USA nun offiziell eine pazifische Macht geworden, und das, obwohl in Oregon erst wenig mehr als 5000 Amerikaner lebten. Der Mexikanisch-Amerikanische Krieg Die Einigung über Oregon kam gerade zur rechten Zeit, um den USA den Rücken für den erwarteten Zusammenstoß mit Mexiko freizuhalten. Das Hauptinteresse Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 134 <?page no="135"?> der Polk-Administration galt seit Anfang 1846 bereits Neu-Mexiko und vor allem Kalifornien mit seinem fruchtbaren Siedlungsland und seinen ausgezeichneten Häfen und reichen Bodenschätzen. Nach dem Beitritt von Texas ermunterte Außenminis‐ ter James Buchanan „Unabhängigkeits“-Bestrebungen kalifornischer Siedler (den ca. 7000 Mexikanern standen hier nur 700 Amerikaner gegenüber) und bereitete die Flotte auf eine Intervention vor. Zur gleichen Zeit bot ein Abgesandter Präsident Polks, John Slidell, der mexikanischen Regierung in geheimer Mission ca. 30 Millionen Dollar als Kaufpreis für den gesamten Südwesten an. Die innenpolitische Situation in Mexiko ließ ein solches Geschäft jedoch nicht zu, denn die Nationalisten weigerten sich, den Rio Grande als Grenze anzuerkennen, und verlangten die gewaltsame Rückeroberung der „gestohlenen Provinz“ Texas. Als das Scheitern der Slidell-Mission feststand, provozierte Polk den Krieg, indem er amerikanische Truppen in das umstrittene Gebiet am Rio Grande beorderte. Ein Scharmützel mit mexikanischen Soldaten nahm er zum Anlass, seine schon vorbereitete „Kriegsbotschaft“ an den Kongress zu richten, der am 13. Mai 1846 Mexiko offiziell den Krieg erklärte. Proteste europäischer Staaten hatten den Präsidenten nur noch in seiner Entschlossenheit bestärkt, eine rasche mili‐ tärische Entscheidung zu suchen. Die große Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung unterstützte den Krieg in einer Aufwallung patriotischer Gefühle, zumal sich schnell Erfolge einstellten. Kritik gab es hauptsächlich in Neuengland, wo das Parlament von Massachusetts die Aktionen des Kongresses als „verfassungswidrig“ verurteilte und viele Menschen von den finsteren Machenschaften der Slave Power überzeugt waren. Zu den Opponenten im Kongress zählte der Whig-Abgeordnete Abraham Lincoln aus Illinois, der den Einmarsch nach Mexiko für eine verfassungswidrige Aggression hielt. Karte 4: Die territoriale Expansion bis 1853 4 Territoriale Expansion und Sklavereiproblematik 135 <?page no="136"?> Auf den Kriegsschauplätzen leisteten die Mexikaner tapferen Widerstand, hatten aber der überlegenen Strategie und Logistik der Amerikaner wenig entgegenzusetzen. Bis Anfang 1847 waren Kalifornien und Neu-Mexiko durch das Zusammenwirken eines „Expeditionskorps“, das Captain John C. Frémont schon 1845 nach Westen geführt hatte, mit aufständischen Siedlern sowie Flotten- und Armeeinheiten fast vollständig unter amerikanischer Kontrolle. Im Süden drangen die Truppen General Zachary Taylors weit über den Rio Grande vor und schlugen im Februar 1847 bei Buena Vista einen von Santa Ana geführten Gegenangriff zurück. Da die Mexikaner Verhandlungen ablehnten, fiel die Entscheidung erst durch einen Vorstoß über See nach Veracruz und die Eroberung von Mexiko City durch die Armee General Winfield Scotts im September 1847. Nach dieser Operation, die der Manchester Guardian mit den Feldzü‐ gen Alexanders des Großen, Hannibals und Napoleons verglich, zeigte sich eine neue mexikanische Regierung zum Friedensschluss bereit. Bis Februar 1848 handelte Polks Sondergesandter Nicholas Trist in Guadalupe Hidalgo, einem Vorort Mexiko Citys, einen Vertrag aus, in dem Mexiko auf Kalifornien und Neu-Mexiko verzichtete und die Rio Grande-Grenze anerkannte. Dafür zahlten die USA 15 Millionen Dollar an Mexiko und übernahmen mexikanische Schuldverpflichtungen in Höhe von weiteren 3,25 Millionen Dollar. Diese Ausgaben und die hohen Kriegskosten von 97,7 Millionen Dollar wurden rasch durch die Entdeckung relativiert, dass der kalifornische Boden Gold im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar barg. Polk und seine engsten Berater waren eine Zeit lang unsicher, ob sie sich mit diesem Resultat von militärischem Zwang und finanzieller Bestechung zufriedengeben oder das Ziel noch höherstecken und möglicherweise ganz Mexiko annektieren sollten. Wachsende Kritik der Whigs und Spannungen in der eigenen Partei deuteten aber die Schwierigkeiten an, die sich allein schon aus der Eingliederung von Neu-Mexiko und Kalifornien ergeben würden. Unter diesen Umständen siegte die Vernunft, und Polk leitete den Friedensvertrag an den Senat weiter, der ihn im März 1848 zügig ratifizierte. Ungeachtet der beträchtlichen Verluste - 13.000 der knapp 100.000 eingesetzten Amerikaner fielen oder starben an Krankheiten - bestärkte der Ausgang des Krieges die politischen, religiösen und rassischen Überlegenheitsgefühle, die auf amerikanischer Seite seit langem virulent waren. Beim Unterlegenen blieben Ressentiments zurück, die das gegenseitige Verhältnis dauerhaft belasteten. So sehr der Nationalstolz der Mexikaner aber verletzt war, so wenig gelang es ihnen, eine starke gemeinsame Front gegen den vitalen Nachbarn im Norden zu errichten. Politische Instabilität und chronische Finanznot engten den Handlungsspielraum der Regierungen ein und machten sie anfällig für Versuchungen: Schon 1853 sah sich der gerade aus dem Exil zurückgekehrte Santa Ana gezwungen, den USA im so genannten Gadsden Purchase für 10 Millionen Dollar ein weiteres Stück mexikanischen Territoriums zu verkaufen, über das Südstaatler eine Bahnlinie zum Pazifik bauen wollten. Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 136 <?page no="137"?> Die USA und die Revolutionen in Europa, 1848 / 49 Obgleich die Aufmerksamkeit der amerikanischen Regierung und Bevölkerung vom Krieg gegen Mexiko stark beansprucht wurde, blieben die revolutionären Erschütte‐ rungen in Europa keineswegs unbeachtet. Als erstes Land nahmen die USA nach dem Sturz der Monarchie und der Proklamation der Republik im Frühjahr 1848 diplomatische Beziehungen mit der neuen französischen Regierung auf. Präsident Polk würdigte in einer Grußadresse vom 3. April die „friedliche Erhebung des französischen Volkes“, die bewiesen habe, „dass der Mensch in diesem aufgeklärten Zeitalter fähig ist, sich selbst zu regieren“. Auf diplomatischer Ebene betonte die Administration zwar das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes, ließ aber keinen Zweifel daran, dass die Amerikaner moralisch Partei für die Sache der Republik und des Fortschritts ergriffen. Die Revolution in Deutschland löste ebenfalls begeisterte Zustimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit aus, vor allem natürlich unter den Deutsch-Amerikanern an der Ostküste und im Mittleren Westen. Einige von ihnen, so etwa der in South Carolina als Professor lehrende Franz Lieber, machten sich auf den Weg nach Europa, um Demokratie und Republikanismus zum endgültigen Sieg zu verhelfen. Aus Deutschland kamen im Gegenzug Emissäre in die USA, als erster Friedrich Hecker im Oktober 1848, die auf Vortragsreisen um moralische und materielle Unterstützung warben. Wie im Falle Frankreichs beeilte sich die Washingtoner Regierung, die provisori‐ sche deutsche Zentralgewalt anzuerkennen und diplomatische Beziehungen mit ihr aufzunehmen. Der Gesandte in Berlin, Andrew Jackson Donelson, überreichte dem Reichsverweser Erzherzog Johann im September 1848 sein Beglaubigungsschreiben, und Friedrich Ludwig von Rönne wurde einen Monat später als Vertreter der Reichs‐ regierung in Washington akkreditiert. Die amerikanischen Diplomaten in Deutschland beschränkten sich nicht darauf, Rat in Verfassungsfragen zu erteilen, sondern sie erkundeten auch die Möglichkeiten einer stärkeren wirtschaftlichen Kooperation. Darüber hinaus leiteten sie sogar konkrete Schritte zur militärischen Zusammenarbeit, speziell im Flottenwesen ein. Mit den meisten ihrer Landsleute teilten sie die Hoffnung, dass die Übertragung amerikanischer Verfassungsprinzipien auf Europa eine neue Ära des politisch-gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritts einleiten werde. Im Wahlkampf von 1848 bekundeten Demokraten und Anhänger der Free Soil Party offen ihre Sympathien für die europäischen Revolutionäre, während die Whigs größere Zurückhaltung gegenüber radikalprogressiven und sozialistischen Bestrebungen an den Tag legten und vor einer Interventionspolitik warnten. Südstaatlern wie Calhoun missfiel der Zentralismus, den sie nicht nur in Frankreich, sondern auch in der Pauls‐ kirchenverfassung entdeckten, und noch weniger behagte ihnen die Emanzipation der Sklaven auf den französischen Karibikinseln. Im Unterschied zur Polk-Administration, die von einem militanten Fortschrittsgeist beherrscht war und die Ausbreitung der Demokratie in Europa gewissermaßen als transkontinentale Erscheinungsform der Manifest Destiny verstand, zog sich der Whig-Präsident Zachary Taylor ab März 1849 4 Territoriale Expansion und Sklavereiproblematik 137 <?page no="138"?> wieder auf die völkerrechtlichen Grundsätze der Nichteinmischung und Neutralität zurück. Um diese Zeit war das Scheitern der mitteleuropäischen Volkserhebungen bereits abzusehen, und in der amerikanischen Öffentlichkeit begann der Revolutions‐ enthusiasmus der Ernüchterung und Enttäuschung zu weichen. Die leidenschaftliche Anteilnahme am liberalen Aufbruch in Europa konnte unter diesen Umständen keine größeren praktischen Wirkungen entfalten. Angesichts des moralischen En‐ gagements der Bevölkerung und der vielfältigen Aktivitäten der US-Diplomaten auf dem Kontinent wäre es jedoch verfehlt, von einem generellen „Isolationismus“ der amerikanischen Politik in dieser Phase zu sprechen. Die Solidarität mit den europäischen Revolutionären lebte in der Hilfe weiter, die man den Flüchtlingen und Vertriebenen gewährte, darunter einigen tausend deutschen „Achtundvierzigern“ oder Forty-eighters mit Männern wie Friedrich Hecker, Franz Sigel und Carl Schurz an der Spitze. Auch einige Frauen, etwa Mathilde Franziska Anneke, die sich in Wisconsin dem frühen Women’s Movement anschloss, sollten in der amerikanischen Politik und Kultur noch eine bedeutende Rolle spielen. Interventionsideen zu Gunsten einer universalen Verbreitung des Republikanismus blieben im Kreis des Young America virulent, einer jugendlichen, militant-progressiven Minderheitsgruppe innerhalb der Demokratischen Partei. Ihr politischer Führer war Stephen A. Douglas, Senator von Illinois, ihr eifrigster Propagandist George N. Sanders, der 1848 sogar Waffen nach Eu‐ ropa liefern wollte und wenig später dem ungarischen Revolutionär Louis Kossuth die Ausrüstung von Freiwilligen für den Freiheitskampf in seiner Heimat versprach. Einige Repräsentanten des Jungen Amerika, unter ihnen auch Sanders, wurden später von Präsident Franklin Pierce (1853-1857) auf Diplomatenposten nach Europa entsandt, wo sie mit Exilrevolutionären wie Garibaldi, Mazzini, Kossuth und Herzen Pläne für neue Erhebungen schmiedeten. Die Interventions- und Expansionsideen dieser Bewegung, die zugleich kosmopolitisch und nationalistisch war, gingen dann aber in der immer schärfer werdenden inneren Auseinandersetzung über die Sklavereifrage unter. Der Sklaverei-Kompromiss von 1850 Mit dem Sieg über Mexiko und dem Frieden von Guadalupe Hidalgo trat der Nord-Süd-Konflikt 1848 in ein neues Stadium ein. Die gegensätzlichen Positionen waren schon im Streit um einen Antrag markiert worden, den der demokratische Abgeordnete David Wilmot aus Pennsylvania kurz nach Kriegsausbruch erstmals im Kongress eingebracht hatte. Dieses Wilmot Proviso sah ein Verbot der Sklaverei in allen Gebieten vor, die Mexiko an die USA abtreten würde. Im Repräsentantenhaus fand der Vorschlag wiederholt breite Unterstützung bei Whigs und Demokraten aus dem Norden, und auch vierzehn nördliche Staatenparlamente machten sich für ihn stark. Der Senat, in dem die Befürworter der Sklaverei mehr Einfluss hatten, stimmte das Proviso dagegen ebenso regelmäßig nieder. Das relativ gute Abschneiden der sklaver‐ eifeindlichen Free Soil Party bei den Wahlen von 1848 (ihr Präsidentschaftskandidat Van Buren errang 14 Prozent der im Norden abgegebenen Stimmen) beunruhigte die Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 138 <?page no="139"?> Südstaatler zusätzlich. Einen neuen Höhepunkt erreichte die Debatte im Kongress, als Kalifornien 1850 den Antrag stellte, in die Union aufgenommen zu werden. 1848 war im Tal des Sacramento Gold gefunden worden, und der anschließende gold rush, der allein im Jahr darauf ca. 80.000 Fourty-niners ins Land brachte, hatte die Bevölkerung auf über 100.000 anschwellen lassen. Die 1849 ausgearbeitete Verfassung, mit der sich Kalifornien um Aufnahme bewarb, enthielt ein Sklavereiverbot, das nicht zuletzt deshalb zustande gekommen war, weil die Weißen keine Konkurrenz durch Afroamerikaner wünschten - weder in Form von Sklaven noch von freien Schwar‐ zen. Kaliforniens Antrag gefährdete nicht nur die zahlenmäßige Balance zwischen Sklavenstaaten und „freien“ Staaten, die inzwischen bei 15: 15 stand. Er warf darüber hinaus die Frage nach der Zukunft sämtlicher neu erworbener Gebiete auf, bei deren Beantwortung der geographisch begrenzte Missouri-Kompromiss von 1820 nicht mehr als alleinige Richtschnur dienen konnte. Es dauerte sieben Monate, bis der Kongress nach zähem Ringen eine Lösung fand, die den drohenden Bruch der Union noch einmal abwendete. Wieder war Henry Clay beteiligt, aber das Hauptverdienst gebührte dem demokratischen Senator von Illinois, Stephen A. Douglas, der prinzipielle Erwägungen hinter eine pragmatische Interessenpolitik zurückstellte. Auf dieser Basis sammelte er Nordstaaten-Demokraten und Südstaaten-Whigs, um eine Reihe von Maßnahmen durchzubringen, die zusammen ein Kompromisspaket bildeten. Der Norden konnte als Erfolge verbuchen, dass Kalifornien als „freier“ Staat aufgenommen wurde, das Oregon-Territorium sklavenfrei blieb und der Sklavenhandel im District of Columbia, d. h. der Hauptstadt Washington, nicht mehr erlaubt war. Dafür erreichte der Süden, dass den beiden neuen Territorien Utah und New Mexico in Aussicht gestellt wurde, ihre Einwohner dürften vor der Staatswerdung selbst über Zulassung oder Verbot der Sklaverei entscheiden. Damit erkannte der Kongress implizit eine Zuständigkeit der Territorien für die Sklavenfrage an, die der 1848 unterlegene demokratische Präsident‐ schaftskandidat Lewis Cass als Erster unter dem Schlagwort popular sovereignty in die Diskussion gebracht hatte. Wie diese Souveränität praktisch ausgeübt werden sollte, ließ Douglas allerdings bewusst offen. Ein weiteres Zugeständnis an den Süden war die Verabschiedung des Fugitive Slave Act, der die Rückgabe von geflohenen Sklaven an ihre Besitzer erleichtern sollte, indem er die Strafen für Fluchthilfe verschärfte und die Prozessrechte verdächtiger Schwarzer noch mehr einengte. Dieses Gesetz war allerdings im Norden sehr unpopulär, und jeder Versuch, seine Bestimmungen konkret anzuwenden, lieferte den Abolitionisten neue Propagandamunition. Insgesamt gesehen stellte der „Kompromiss von 1850“ einen Sieg der Interessenpolitik dar, der die fundamentalen Probleme ausklammerte. Gleichzeitig breitete sich im Norden wie im Süden das Gefühl aus, dass die Grenzen der Kompromissbereitschaft erreicht seien. Das Kansas-Nebraska-Gesetz von 1854 Nach dem Wahlsieg von 1852 versuchten die Demokraten auf gewohnte Weise, die inneren Spannungen durch außenpolitische Expansion abzubauen. Eines der begehr‐ 4 Territoriale Expansion und Sklavereiproblematik 139 <?page no="140"?> testen Ziele, das bereits Polk ins Auge gefasst hatte, war die spanische Karibikinsel Kuba. Alle Bemühungen der Administration von Präsident Franklin Pierce (1853- 1857), Kuba zu kaufen oder Vorwände für eine militärische Intervention zu schaffen, scheiterten aber am Widerstand Spaniens und an der Abneigung des Nordens, einen zusätzlichen Sklavenstaat in die Union zu integrieren. Die amerikanischen Diplomaten in Europa bestärkten Pierce in seiner Überzeugung, die USA hätten das Recht, den Spaniern Kuba notfalls gewaltsam abzunehmen. Als ihr „Ostende-Manifest“ 1855 in die amerikanische Presse gelangte, löste es aber nur einen neuen Proteststurm gegen die Slave Power des Südens aus. Letztlich erfolglos verlief auch eine von Pierce gedeckte Expedition amerikanischer Abenteurer nach Mittelamerika, die den gesamten Isthmus, zumindest aber Nicaragua in die Union bringen sollte. Der Anführer William Walker schwang sich zum Diktator von Nicaragua auf und führte die Sklaverei wieder ein. Präsident Pierce erkannte sein Regime diplomatisch an, konnte aber nicht verhindern, dass Walker 1857 vertrieben und 1860 in Honduras hingerichtet wurde. Die Anstrengungen, die gemäßigte Kräfte in beiden großen Parteien unternahmen, um die Sklavereifrage aus der Innenpolitik herauszuhalten, wurden 1854 von Senator Douglas unterlaufen. Sein Plan einer transkontinentalen Eisenbahnlinie erforderte eine Regelung für das so genannte unorganized territory zwischen Mississippi und Rocky Mountains. Der Missouri-Kompromiss von 1820 hatte bestimmt, dass dieses Gebiet des Louisiana Purchase oberhalb der Linie 36 Grad 30 Minuten nördlicher Breite sklavenfrei bleiben sollte. Douglas schlug dem Kongress vor, nach Ablösung der indianischen Landrechte zwei neue Territorien einzurichten, Nebraska im Norden und Kansas im Süden, deren Bewohner dann selbst über die Sklaverei entscheiden würden. Mit diesem Teilungsplan und mit seiner Bereitschaft, das Prinzip der popular sovereignty über den Missouri-Kompromiss zu stellen, gewann Douglas die Zustimmung der Südstaatler, die nun eine Chance sahen, zumindest im Kansas-Territorium die Sklaverei durchzusetzen. Viele Menschen im Norden, Demokraten ebenso wie Whigs, empfanden das im Mai 1854 verabschiedete Gesetz jedoch als endgültigen Beweis für die Absicht der Slave Power, das Sklavereisystem auf die gesamten Vereinigten Staaten auszudehnen. Im Streit um Kansas und Nebraska, der jetzt mit aller Heftigkeit losbrach, sollte offenbar werden, dass es keine einheitliche Vision für die Zukunft mehr gab und dass das Parteiensystem seine Kraft eingebüßt hatte, die sektionalen Interessengegensätze zu überbrücken und auszugleichen. Kapitel 3: Demokratisierung, Marktwirtschaft und territoriale Expansion, 1815 - 1854 140 <?page no="141"?> Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 Die Sklaverei mit all ihren Begleiterscheinungen und Konsequenzen war zweifellos die zentrale Ursache des Bürgerkrieges, der das „amerikanische Experiment“ von 1861 bis 1865 auf eine schicksalhafte Probe stellte. Die zunehmende Nervosität der Menschen und ihre wachsende Anfälligkeit für Verschwörungstheorien waren Anzeichen dafür, dass sich die Grundwidersprüche dieses 1776 begonnenen Projekts nur noch mühsam verschleiern ließen und auf eine gewaltsame Lösung hindrängten. Das betraf zum einen den Gegensatz zwischen dem Gleichheitsgebot in der Unabhängigkeitserklärung und der Unfreiheit von Millionen schwarzer Amerikaner, der durch die inzwischen in weiten Teilen der Welt erfolgte Sklavenbefreiung zusätzlich akut wurde. Das betraf aber auch die konstitutionelle Ungewissheit über die wahre Natur der Union, die von der Mehrheit für permanent und unauflöslich erachtet wurde, während eine beträcht‐ liche Minderheit, vor allem im Süden, dem am entschiedensten von John C. Calhoun verfochtenen Konzept einer lockeren, gegebenenfalls kündbaren Konföderation sou‐ veräner Staaten anhing. Konflikt verschärfend wirkten die rasche Westexpansion der 1840er Jahre, die das Sklavereiproblem in die neuen Territorien trug, sowie die zunehmende wirtschaftliche und soziale Diskrepanz zwischen Norden und Süden im Gefolge der market revolution, die in beiden Teilen der Union ein kulturelles Sonderbewusstsein entstehen ließ. Je größer der demokratisch-reformerische Elan im Norden wurde, desto aggressiver verteidigte die Südstaatenelite ihren aristokratischen Lebensstil und desto schwieriger wurde das Bemühen um Kompromiss und Konsens. Das Parteiensystem von Whigs und Demokraten, das lange Zeit den Rahmen für den regionalen Interessenausgleich gebildet hatte, büßte seine Integrationskraft ab 1850 mehr und mehr ein und löste sich schließlich ganz auf. Unter diesen Umständen ließen die Anlässe, die den Nord-Süd-Konflikt zur unversöhnlichen Konfrontation steigerten, nicht lange auf sich warten. Aus der Rückschau erscheint es folgerichtig, dass der Sieg des Nordens im Bürgerkrieg das national-föderale Verfassungsprinzip bestätigte und die Sklaverei aus dem demokratischen Staatswesen verbannte. Zu Beginn der 1860er Jahre war die Situation aber vollkommen offen, und die Geschichte hätte ohne die überragende Führungsleistung Abraham Lincolns durchaus eine andere Wendung nehmen können. <?page no="142"?> 1 Die Eskalation des Nord-Süd-Konflikts und der Weg in den Bürgerkrieg Die Umgestaltung der Parteienlandschaft Die allgemeine Unruhe und das Gefühl des Umbruchs wurden in den frühen 1850er Jahren durch spektakuläre politische Erfolge einer nativistischen, militant fremden‐ feindlichen Bewegung genährt, die als Reaktion auf die Masseneinwanderung entstan‐ den war und die ihrerseits dazu beitrug, das alte Parteiensystem aus den Angeln zu heben. Ursprünglich ein geheimbundartiger Zusammenschluss von lokalen Anti-Im‐ migrationsklubs, nahm diese Know-Nothing-Bewegung bald unionsweit als American Party an Wahlen teil, wobei sie in einigen Staaten des Nordostens und Mittleren Westens sogar Gouverneursposten und Parlamentsmehrheiten erobern konnte. Die ideologische Triebfeder war der Anti-Katholizismus, der sich vor allem gegen die Neu‐ einwanderer aus Irland und Deutschland richtete, gegen die man den protestantischen Charakter der USA, die Moral und die Demokratie verteidigen zu müssen glaubte. Seinen Höhepunkt erreichte der nativistische „Kreuzzug“ 1854 / 55, als die American Party Zulauf von ehemaligen Whigs und konservativen Demokraten erhielt und damit zur Erschütterung des herkömmlichen Parteiengefüges beitrug. Danach ging es durch die Inkompetenz vieler Abgeordneter, die abschreckende Gewalttätigkeit radikaler Anhänger und die Uneinigkeit in der Sklavereifrage allerdings rasch bergab. Nach 1856 wurden die meisten Wähler der American Party, die erstmals das Gefahrenpotenzial des Fremdenhasses im Einwanderungsland USA hatte sichtbar werden lassen, von einer anderen Neugründung, der Republican Party, aufgesogen. Der Aufstieg der Republikanischen Partei korrespondierte jedoch vor allem mit dem Niedergang der Whigs, deren Zusammenhalt nach dem Tod ihrer beiden prominentes‐ ten Politiker Henry Clay und Daniel Webster 1852 und endgültig nach dem Kansas Nebraska Act von 1854 an der Sklavereifrage zerbrach. Während sich die nördlichen Reformer (Conscience Whigs) enttäuscht von der Partei abwendeten, reagierten die An‐ hänger im Süden (cotton whigs) allergisch auf die wachsende Kritik an der Sklaverei und machten sich selbstständig oder gingen - teilweise auf dem Umweg über die American Party - zu den Demokraten über. Im Norden verband die Empörung über das Kan‐ sas-Nebraska-Gesetz alle diejenigen ehemaligen Whigs, Demokraten und Free-Soilers, die eine Ausdehnung der Sklaverei in die westlichen Territorien unter allen Umständen verhindern wollten. Ihre zunächst örtliche Zusammenarbeit führte 1854 zur Gründung der Republican Party, deren Name bewusst an das freiheitlich-egalitäre Erbe Jeffersons anknüpfte. 1856 schloss sich auch Abraham Lincoln an, bis dahin ein loyaler Whig, der nun die lokale Parteiorganisation in Illinois aufbaute. Obwohl die Republicans nur im Norden aktiv waren, rechneten sie sich gute Chancen für die Eroberung der Macht in Washington aus: Die Nordstaaten-Demokraten waren durch den Abfall der sklavereifeindlichen Douglas-Gegner geschwächt, und der Süden stellte inzwischen nur noch ein Drittel der amerikanischen Wähler. Bei den Präsidentschaftswahlen von Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 142 <?page no="143"?> 1856 hätte sich der Bewerber der Republikanischen Partei, John C. Frémont, beinahe gegen den Demokraten James Buchanan durchgesetzt. Im Norden konnte er viele ehemalige Anhänger der Demokratischen Partei sowie nativistische Wähler auf seine Seite ziehen, die den Kandidaten der American Party, Millard Fillmore, wegen seiner Sympathien für die Südstaaten ablehnten. Frémont fehlten nur wenige Stimmen in den Schlüsselstaaten Pennsylvania und Illinois, um ins Weiße Haus einzuziehen. Durch die schon während der Wahl beginnende Auflösung der American Party wurden die Republikaner im Norden immer stärker. Sie profitierten außerdem von der Wirtschaftskrise, die 1857 kurz nach Buchanans Amtsantritt einsetzte und für die sie die Demokraten verantwortlich machten. Mit taktischem Geschick, das teilweise an Opportunismus grenzte, warben sie nun auch um Wählergruppen, denen die Sklaverei mehr oder weniger gleichgültig war. Künftigen Siedlern im Westen stellten sie billiges Farmland durch ein homestead-Gesetz in Aussicht, den Arbeitern und Industriellen an der Ostküste versprachen sie hohe Schutzzölle, den Zusammenhalt der Regionen wollten sie durch ein großes Infrastrukturprogramm im Sinne von Clays American System verbessern, und mit Blick auf die Nativisten befürworteten sie längere Wartefristen bei der Einbürgerung von Immigranten. Auf diese Weise entstand eine werbewirksame Mischung aus Elementen der free labor-Ideologie, der wirtschaftlichen Modernisierung und der moralischen Reform. Bis 1858 hatte sich die politische Landschaft der USA grundlegend geändert: Die Whigs waren verschwunden, und den im Norden erheblich geschwächten, im Süden dagegen gestärkten Demokraten stand nun eine Republikanische Partei gegenüber, die sich ganz auf die Nordstaaten konzentrierte. Nach dem Gegensatz von Federalists und Republicans, der die Zeit von 1790 bis 1820 bestimmt hatte, und der Konkurrenz von Demokraten und Whigs seit Ende der 1820er Jahre handelte es sich hierbei um das dritte Zweiparteiensystem der USA. Anders als seine beiden Vorgänger trug es jedoch nicht mehr zur Stabilisierung der Union bei, sondern erhöhte durch seine regionale Ausrichtung die Spannungen zwischen Norden und Süden. Das „blutende Kansas“ und das Dred Scott-Urteil Die zunehmende Neigung, Konflikte gewaltsam auszutragen, offenbarte sich im Streit um Kansas, wo Abolitionisten und Free-Soilers aus Neuengland und Sklavereibefür‐ worter aus Missouri seit 1854 eine Art Stellvertreterkrieg zwischen Norden und Süden führten. Beide Seiten versuchten, ihre moralischen Grundsätze, ihr Gesellschaftsmodell und ihre Verfassungsvorstellungen im Kansas-Territorium zu verwirklichen, das da‐ durch die Blicke aller Amerikaner auf sich zog. Einen traurigen Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen 1856, als Guerrillatrupps aus dem Süden die Hauptstadt der Free-Soilers niederbrannten und Sklavereigegner unter Führung des religiösen Fanatikers John Brown aus Rache ein Massaker an unbeteiligten Siedlern verübten. Im Jahr darauf goss der Supreme Court mit seiner Entscheidung im Fall Dred Scott v. Sanford noch Öl ins Feuer. Das Gericht nahm die Frage, ob der Sklave Dred Scott durch 1 Die Eskalation des Nord-Süd-Konflikts und der Weg in den Bürgerkrieg 143 <?page no="144"?> den zeitweiligen Aufenthalt in Wisconsin und im sklavenfreien Minnesota-Territorium seine Freiheit erlangt hatte oder nicht, zum Anlass, ein Grundsatzurteil zu fällen, das in den Südstaaten bejubelt wurde, im Norden dagegen Protest und Empörung hervorrief. Chief Justice Roger Taney verwarf die Klage Dred Scotts gegen seinen Besitzer mit der Begründung, Schwarze - Sklaven gleichermaßen wie freie Afroamerikaner - seien keine amerikanischen Staatsbürger und dürften daher nicht den Supreme Court anrufen. In seiner ausführlichen Begründung, die nach dieser formalen Entscheidung eigentlich nicht mehr nötig gewesen wäre, bezeichnete er Schwarze als „beings of an inferior order“, die keine Rechte hätten, die ein weißer Mann respektieren müsse. Mit dem Hinweis, dass das Besitzrecht an Sklaven laut dem 5. Amendment auch in den Territorien uneingeschränkt gelte, erklärte er darüber hinaus implizit den Missouri-Kompromiss von 1820 und alle nachfolgenden Sklavereikompromisse für verfassungswidrig. Präsident Buchanan hatte die - mehrheitlich aus dem Süden stammenden - Richter hinter den Kulissen zu diesem radikalen Schritt ermutigt, weil er sich in der illusionären Hoffnung wiegte, der Spruch des Supreme Court werde allgemein akzeptiert werden und für Beruhigung sorgen. Tatsächlich bewirkte das Urteil das genaue Gegenteil, denn die Sklavereigegner im Norden zeigten sich weniger denn je bereit, die Bestimmungen des Fugitive Slave Act von 1850 zu respektieren und das Oberste Gericht als letzte Instanz der Verfassungsinterpretation anzuerkennen. Noch dazu verschärfte Buchanans Taktik die Spannungen in der eigenen Partei, weil eine derart dezidierte pro-Sklaverei-Haltung die popular sovereignty-Position von Senator Douglas im Norden untergrub. Die Parteinahme für die Sklavereianhänger in Kansas, mit der Buchanan seine Südstaaten-Sympathien offen demonstrierte (obgleich er aus Pennsylvania stammte), vertiefte die Kluft zwischen ihm und Douglas weiter und beschwor die Gefahr einer Spaltung der Demokraten herauf. Das starrsinnige Festhalten des Präsidenten an den wenig aussichtsreichen Plänen seines Vorgängers Franklin Pierce, neue Sklavenstaaten in der Karibik und in Mittelamerika für die Union zu erwerben, war ein weiterer Beleg dafür, dass die Administration einseitig die Interessen des Südens vertrat. Der Gedanke, durch Expansion nach außen die Explosion im Innern zu verhindern, spielte aber bis zum Schluss auf beiden Seiten - bei Demokraten wie Republikanern - eine gewisse Rolle. Die Lincoln-Douglas-Debatten Die Sklavereifrage und der Nord-Süd-Konflikt bestimmten die Zwischenwahlen von 1858, bei denen es in Illinois zu dem denkwürdigen, bis heute faszinierenden Aufei‐ nandertreffen von Stephen Douglas und Abraham Lincoln kam. Konkret ging es um die Bestätigung von Douglas’ Senatssitz in Washington, die das neu zu wählende Parlament von Illinois vollziehen musste. Unionsweites Interesse erweckte diese Angelegenheit, weil Lincoln, den die Republikaner als Gegenkandidaten nominiert hatten, Douglas zu einer Serie von sieben öffentlichen Debatten an verschiedenen Orten in Illinois herausforderte. Als Sohn einfacher Farmer, der an der Frontier in Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 144 <?page no="145"?> Kentucky aufgewachsen war und der es dann als Autodidakt zum erfolgreichen Anwalt in Springfield, Illinois, gebracht hatte, entsprach Lincoln ganz dem egalitär-fortschritt‐ lichen Image, das sich die Republikanische Partei geben wollte. Auffallend war seine lange, schlaksige Figur, mit der er die meisten Landsleute und speziell den 1,60 m großen „Little Giant“ Douglas überragte; charakterlich galt Lincoln („honest Abe“) als absolut integer und zuverlässig, und seit der Zeit im Parlament von Illinois und im US-Repräsentantenhaus genoss er den Ruf eines ausgezeichneten Redners mit Humor und einer bildhaft-praktischen, an die Bibel angelehnten Sprache. Lincoln hatte schon mit seiner Nominierungsrede großes Aufsehen erregt, als er unter dem Bibelzitat „a house divided against itself cannot stand“ vorhersagte, die Union werde nicht auf Dauer „half slave and half free“ bleiben können. Der Massen‐ zulauf zu den Debatten und das überregionale Interesse, das von den großen Zeitungen befriedigt wurde, spiegelten den Stand des allgemeinen Demokratisierungsprozesses in den USA wider, dokumentierten aber auch das gespannte politische Klima angesichts des drohenden Zerfalls der Union. Die Redeschlachten vor Tausenden von Menschen, deren Format exakt vereinbart worden war, ließen lokale Fragen fast unberührt und kreisten ganz um die Sklavereiproblematik. Douglas modifizierte seinen bekannten Standpunkt der popular sovereignty, indem er behauptete, die Siedler in den Territorien könnten auch nach dem Dred Scott-Urteil durch lokale Maßnahmen das Vordringen der Sklaverei verhindern. Demgegenüber wertete Lincoln den Spruch des Supreme Court als weiteres Indiz für eine Verschwörung, die auf die Ausbreitung der Sklaverei über ganz Amerika abziele. Im Unterschied zu seinem Kontrahenten setzte sich Lincoln auch mit der moralischen Dimension des Konflikts auseinander. Er wies zwar Douglas’ Vorwurf zurück, er wolle die politische und soziale Gleichheit von Schwarzen und Weißen herstellen, und gestand zu, dass die verfassungsmäßigen Rechte der Südstaatler berücksichtigt werden müssten. Andererseits ließ er keinen Zweifel daran, dass er die Sklaverei als ein moralisches Übel verurteilte, weil sie die Schwarzen um die Früchte ihrer Arbeit betrog und das undemokratische Herr-Knecht-Verhältnis zementierte. Wenn man diesem Krebsschaden am Körper der Union beikommen wolle, dann gelte es zunächst einmal, das weitere Vordringen der Sklaverei in die Territorien zu verhindern. Das Dred Scott-Urteil dürfe nicht das letzte Wort darstellen, sondern müsse auf politischem Wege überwunden werden. Wiederholt mahnte Lincoln zur Rückbesinnung auf die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung, wenn die Nation nicht ihre Bestimmung verfehlen sollte. Obwohl die Republikaner im November 1858 in Illinois Stimmengewinne verzeich‐ neten, konnte Douglas bei der Senatorenwahl im Parlament sein Mandat verteidigen. Als weit bedeutsamer erwies sich jedoch, dass Lincoln durch die Debatten an Statur gewonnen hatte und ins Bewusstsein der amerikanischen Öffentlichkeit gerückt war. Insofern verschafften ihm die Streitgespräche eine günstige Ausgangsbasis für das kommende Duell mit Douglas um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten. 1 Die Eskalation des Nord-Süd-Konflikts und der Weg in den Bürgerkrieg 145 <?page no="146"?> Lincolns Wahl und der Weg in den Krieg Der Wahlkampf von 1860 wurde durch eine neue Aktion John Browns überschattet, der - insgeheim ermuntert und unterstützt von prominenten nordstaatlichen Aboliti‐ onisten - das Signal für einen allgemeinen Sklavenaufstand im Süden geben wollte. Der Handstreich, den er im Oktober 1859 mit seinen Söhnen und einigen Anhängern gegen das bundesstaatliche Waffenarsenal in Harpers Ferry, Virginia, am Zusammenfluss von Potomac und Shenandoah unternahm, verfehlte diesen Zweck jedoch völlig und führte stattdessen zum Tod mehrerer Angreifer und zur Gefangennahme und Hinrichtung Browns. In den Augen vieler Nordstaatler machte ihn dies zum Märtyrer und zur Symbolfigur des Widerstands gegen die Sklaverei; im Süden wiederum schürte die abolitionistische Propaganda die Ängste vor einem Wahlsieg der Republikaner, denen man die Absicht zuschrieb, die peculiar institution und damit die Grundlage der südlichen Wirtschaft zerstören zu wollen. Auf dem nationalen Nominierungskonvent der Republikaner setzte sich Lincoln durch, weil seine maßvolle Haltung in der Sklavereifrage am ehesten mehrheitsfähig erschien und weil sein Heimatstaat Illinois zu den wichtigen swing states zählte, deren Wahlmännerstimmen den Ausschlag geben konnten. Lincolns Chancen stiegen auf Grund des Zwists im Lager der Demokraten, denen es nicht gelang, sich auf einen einzigen Kandidaten zu einigen, und die stattdessen mit zwei Bewerbern - Stephen Douglas und John C. Breckinridge aus Kentucky - ins Rennen gingen. Zur weiteren Zersplitterung trug eine Restfraktion der Whigs um den ehemaligen Senator von Tennessee, John Bell, bei, die unter dem Namen Constitutional Union Party in den Grenzstaaten zwischen Norden und Süden Erfolge erzielte. Douglas brach mit der Tradition und führte erstmals einen persönlichen, intensiven Wahlkampf, erhielt aber trotz seines Stimmenanteils von 21 Prozent nur 12 Wahlmännerstimmen. Die große Mehrheit der Südstaatler scharte sich hinter Breckinridge, der es - trotz einer geringeren Gesamtstimmenzahl als Douglas - auf 72 Wahlmänner brachte. Lincoln war in zehn der Südstaaten von der Wahl ausgeschlossen worden, gewann dafür aber im Norden alle Staaten außer New Jersey unangefochten, dazu im Westen Kalifornien und Oregon. Insgesamt erhielt er etwa 40 Prozent der Wählerstimmen, doch das Wahlsys‐ tem bescherte ihm eine absolute Mehrheit von 180 Stimmen im Elektorenkolleg. Auch in beiden Häusern des Kongresses dominierten nun die Republikaner. Unmittelbar nach der Wahl schritten die radikalen südstaatlichen Fire Eaters zur Tat, die Lincoln als Abolitionisten und „black Republican“ attackiert hatten. Der Prozess der Sezession begann in South Carolina, wo die states’ rights-Philosophie schon immer fest verwurzelt gewesen war und wo der Sklavenanteil an der Bevölkerung 58 Prozent ausmachte. Analog zur Verfassunggebung von 1787 / 88 wurde ein Konvent gewählt, der South Carolina am 20. Dezember 1860 einstimmig zum souveränen Staat erklärte. Diesem Beispiel folgten bis zum Februar 1861 mit Mississippi, Florida, Alabama, Georgia, Louisiana und Texas sechs weitere Staaten. Vertreter dieser sieben Sezessionsstaaten bildeten dann in Montgomery, Alabama, die Confederate States of America und gaben sich eine eigene Verfassung. Als Präsident auf sechs Jahre wurde Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 146 <?page no="147"?> Jefferson Davis gewählt, ein wohlhabender Baumwollpflanzer aus Mississippi, der eine Offizierslaufbahn absolviert und unter Präsident Pierce als Kriegsminister amtiert hatte. Während der noch amtierende Präsident Buchanan diese Entwicklung passiv hin‐ nahm, ließ Lincolns Verfassungsverständnis einen einseitigen Austritt aus der Union nicht zu; für ihn handelte es sich um eine interne Rebellion, die er als Präsident und Oberbefehlshaber der Streitkräfte beenden musste. Bei seinem Amtsantritt im März 1861 hegte er kaum noch Hoffnung, die radikalen Sezessionisten beeinflussen zu können, gab sich dafür aber umso größere Mühe, die sklavenhaltenden border states von Delaware, Maryland und Virginia im Osten bis Missouri und Arkansas im Westen durch eine moderate Taktik auf seine Seite zu ziehen. Er sicherte ihnen zu, dass er die Sklaverei dort, wo sie existiere, nicht antasten werde; dagegen lehnte er einen Kompromiss, der die freien Territorien auch nur teilweise für die Sklaverei öffnen würde, kategorisch ab. Ebenso bestand er darauf, weiterhin über das Eigentum der Union in den abgefallenen Staaten verfügen zu können. Dieser letzte Streitpunkt spitzte sich im April auf die Frage nach dem Schicksal von Fort Sumter im Hafen von Charleston, der Hauptstadt South Carolinas, zu. Als sich Lincoln entschied, die abgeschnittene Besatzung auf dem Seeweg versorgen zu lassen, zwangen die Südstaatler den Kommandanten nach zweitägigem Beschuss am 14. April zur Kapitulation. Damit war die Grenzlinie zwischen Frieden und Krieg überschritten: Am nächsten Tag forderte Lincoln die Staaten auf, 75.000 Milizionäre zu stellen, um „die Rebellion niederzuschlagen“, und am 19. April verhängte er eine Seeblockade über die Häfen des Südens. Die Bevölkerung in den von beiden Seiten umworbenen Staaten der Grenzzone zwischen Norden und Süden sah sich nun gezwungen, Farbe zu bekennen. Vier border states (Virginia, Arkansas, Tennessee und North Carolina) schlossen sich der Konföde‐ ration an, die nun elf Staaten umfasste. Am schwersten wog dabei die Entscheidung Virginias, das Richmond als Hauptstadt zur Verfügung stellte und die Konföderation mit fähigen Militärs, allen voran dem Kommandeur der Akademie West Point, General Robert E. Lee, versorgte. Allerdings leisteten virginische Unionsanhänger internen Widerstand, der zur Abtrennung der westlichen Counties und 1863 zur Gründung des Staates West Virginia führte. Durch entschlossenes Handeln sicherte Lincoln der Union die Loyalität der übrigen vier border states Missouri, Kentucky, Maryland und Delaware. In Missouri taten sich dabei die Deutsch-Amerikaner unter ihren Führern Carl Schurz und Franz Sigel hervor, die Lincoln später zu Generälen beförderte. In Maryland, das wegen seiner geographischen Lage, des Hafens von Baltimore und der Flottenakademie in Annapolis überragende Bedeutung besaß, machte Lincoln deutlich, dass er seine verfassungsmäßigen Kompetenzen im Interesse des Überlebens der Union sehr weit auszulegen gedachte. Unter Hinweis auf die nationale Krise und die war powers des Präsidenten setzte er die Habeas corpus-Garantien gegen willkürliche Verhaftung außer Kraft, damit Administration und Militär härter gegen Sezessionisten vorgehen konnten. Diese Einschränkung der Grundrechte wurde schon von Zeitge‐ nossen heftig kritisiert und ist bis heute in der Geschichtsforschung umstritten. Nur 1 Die Eskalation des Nord-Süd-Konflikts und der Weg in den Bürgerkrieg 147 <?page no="148"?> so ließ sich aber der Abfall Marylands verhindern, der die militärische Sicherung der Hauptstadt Washington und die strategische Lage des Nordens insgesamt außer‐ ordentlich erschwert hätte. Lincoln stellte in diesem Fall den Erhalt der Union, zu dem er sich durch seinen Amtseid verpflichtet fühlte, über rein rechtliche Erwägungen. Andererseits barg die Teilnahme von Sklavenstaaten wie Maryland, Missouri und Kentucky auf Seiten der Union durchaus auch Probleme und zwang Lincoln entgegen seiner inneren Überzeugungen zur politischen Rücksichtnahme. Er betonte deshalb immer wieder, dass der Krieg nicht zur Befreiung der Sklaven, sondern allein zur Wiederherstellung der Union geführt werde; noch Mitte 1862 - ein Jahr nachdem die Leibeigenschaft im Russischen Reich aufgehoben worden war - befürwortete er eine graduelle Sklavenemanzipation mit Entschädigung der Eigentümer und die „Kolonisierung“, d. h. die eigentlich längst überholte Rückführung der Schwarzen nach Afrika oder in die Karibik. Karte 5: Die USA im Bürgerkrieg (1861 - 1865) Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 148 <?page no="149"?> 2 Der Amerikanische Bürgerkrieg, 1861 - 1865 Das militärische Patt, 1861 - 1863 Der Bürgerkrieg ist zweifellos das einschneidendste Ereignis in der bisherigen Ge‐ schichte der Vereinigten Staaten, und er nimmt deshalb in der kollektiven Erinnerung der Amerikaner, im Norden wie im Süden, den Rang eines nationalen Epos ein. Zu Beginn rechneten beide Seiten mit einem raschen Sieg: Die Nordstaatler planten den Durchmarsch nach Richmond, der aber schon im Juli 1861 in der ersten Schlacht von Manassas (oder Bull Run) gründlich misslang; die Südstaatler setzten auf die Uneinigkeit und mangelnde Opferbereitschaft der Bevölkerung im Norden, und sie erhofften sich außerdem Unterstützung von Großbritannien, da sie annahmen, dass die englische Textilindustrie nicht auf die amerikanische Baumwolle verzichten konnte. Auch diese Rechnung ging jedoch nicht auf, und aus dem „kurzen Krieg“ wurde ein langjähriges, blutiges Ringen, in mancher Hinsicht sogar der erste „totale Krieg“ der modernen Geschichte. Die Ausgangslage sprach eindeutig für den Norden: Den 11 Sezessionsstaaten mit 9 Millionen weißer Bevölkerung standen 23 Unionsstaaten mit 22 Millionen Einwoh‐ nern gegenüber. In ökonomischer Hinsicht war das Verhältnis noch unausgewogener: Unter dem Druck des Krieges steigerte die Konföderation zwar die Modernisierungs‐ anstrengungen, vor allem in der Schwerindustrie und im Verkehrswesen, aber sowohl in Bezug auf landwirtschaftliche und industrielle Produktion als auch auf das Schienen- und Kanalnetz lag sie weit hinter der Union zurück. Der Norden brauchte zunächst nur seine Reserven auszuschöpfen, die durch den wirtschaftlichen Einbruch der späten 1850er Jahre brachlagen. Die ökonomische Erholung wurde dann durch die Einlösung der republikanischen Wahlversprechen - Reform des Bankensystems, Zollerhöhun‐ gen, Siedlungsförderung im Westen, Eisenbahnbau - noch verstärkt. Während die Südstaaten unter der Seeblockade litten und durch ungehemmte Papiergeldausgabe die Inflation anheizten, gelang dem Norden durch effiziente Steuererhebung und erfolgreiche Werbung für Staatsanleihen eine relativ problemlose Kriegsfinanzierung. Auf den Schlachtfeldern ließen sich die Vorteile der Union jedoch lange Zeit nicht in durchschlagende Erfolge ummünzen. Die Konföderation konnte aus der Defensive herausoperieren, und die Weißen im Süden standen zunächst geschlossener hinter ihrer Führung als die Nordstaatler hinter Lincoln. Der Präsident musste nicht nur zwischen den verschiedenen Fraktionen der Republikaner im Washingtoner Kongress lavieren, sondern hatte auch gegen eine lautstarke Opposition von „Friedensdemokraten“ auf der Ebene der Einzelstaaten anzukämpfen. In erster Linie wurden die überlegenen personellen und materiellen Ressourcen des Nordens aber durch das größere militär‐ ische Talent von Generälen wie Robert E. Lee und Thomas H. „Stonewall“ Jackson ausgeglichen. Die wichtigsten Kriegsschauplätze lagen weit voneinander entfernt an der Ostküste und im Mississippi-Gebiet. Im Osten, wo sich die Massenheere zwischen Washington und Richmond schwere Schlachten lieferten, nahm die Ausei‐ 2 Der Amerikanische Bürgerkrieg, 1861 - 1865 149 <?page no="150"?> nandersetzung den Charakter eines Abnutzungskrieges an. Die Blutopfer waren enorm hoch, weil noch in traditionell geschlossener Formation gekämpft wurde, obwohl die Feuerkraft der Artillerie und die Zielgenauigkeit der Gewehre wesentlich zugenommen hatten. So fielen im September 1862 bei Antietam in Maryland an einem einzigen Tag 6000 Soldaten, mehr als im Unabhängigkeitskrieg und im Krieg von 1812 / 14 zusammen. Schwerverwundete hatten angesichts der mangelhaften medizinischen Versorgung wenig Überlebenschancen, und ansteckende Krankheiten rafften zusätz‐ lich viele Menschen hinweg. Diese Verluste zwangen beide Seiten - erstmals in der Geschichte der USA - zur Einführung der Wehrpflicht, gegen die es im Norden erhebliche Widerstände bis hin zu lokalen Aufständen gab. Beim folgenschwersten dieser draft riots musste im Sommer 1863 in New York City Militär gegen eine Menschenmenge eingesetzt werden, die Afroamerikaner als „Schuldige“ an Krieg und Wehrpflicht angriff und lynchte. Die Bilanz der Unruhen war erschreckend: etwa ein Dutzend ermordete Schwarze und mehr als hundert getötete Aufrührer. Lincolns unnachgiebige Haltung trug aber auch in diesem Fall zur Stabilisierung der Lage bei. Im Unterschied zum militärischen Patt im Osten, das der vorsichtige und zögerliche Nordstaaten-Befehlshaber General George B. McClellan nicht zu brechen vermochte, konnte die Union im Westen durch eine bessere Koordinierung der Kräfte und eine bewegliche Fluss- und Landoffensive strategische Vorteile erzielen. Hier gelang unter Führung von Commodore (später Admiral) David G. Farragut und General Ulysses S. Grant bis zum Sommer 1862 die Eroberung von New Orleans und Baton Rouge sowie die Einnahme wichtiger Forts im Grenzgebiet von Kentucky und Tennessee. Das Ziel einer Kontrolle des gesamten Mississippi-Tales und der Spaltung der Konföderation in zwei Teile wurde 1862 jedoch nicht mehr erreicht. Seekrieg und Außenpolitik Im Laufe des Jahres 1862 steigerte sich die Effektivität der Seeblockade durch Erfolge der US Navy. Die Hoffnung der Konföderierten, den Ring um ihre Häfen mit Hilfe einer zukunftsträchtigen technischen Innovation zu brechen, musste im März 1862 begraben werden: Das erste gepanzerte Kriegsschiff der Welt, die „Merrimac“, fügte der Blockadeflotte bei Hampton Roads vor der Küste Virginias zwar große Verluste zu, die in Washington kurzfristig Panik auslösten; der Norden konterte jedoch umgehend mit einer eigenen Version dieser neuen Waffe, dem Panzerschiff „Monitor“, das die „Mer‐ rimac“ zum Rückzug nach Norfolk zwang. Die Blockade war auch danach keineswegs undurchlässig, aber sie behinderte doch die Versorgung und den Baumwollexport der Südstaaten erheblich und trug zum rapiden Wertverlust des Konföderations-Dollars bei. Die Blockadefrage spielte auch eine wichtige Rolle in dem Kampf, den sich Norden und Süden an der diplomatischen Front lieferten. Lincoln und Außenminister William Seward setzten alles daran, die europäischen Mächte, insbesondere England, von einer Intervention zu Gunsten des Südens abzuhalten. Sie konnten jedoch nicht verhindern, Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 150 <?page no="151"?> dass die Londoner Regierung unter Verweis auf die Blockade und das Völkerrecht der Konföderation den Status einer Krieg führenden Macht zuerkannte. Napoleon III., dem eine Schwächung der USA mit Blick auf die französische Intervention in Mexiko gelegen gekommen wäre, und andere europäische Regierungen schlossen sich an. Die Südstaatler sahen darin einen ersten Schritt zur vollen diplomatischen Anerkennung und militärischen Unterstützung durch die Europäer. Es stellte sich allerdings bald heraus, dass sie dabei die politische Vorsicht der Briten unter und deren wirtschaftliche Abhängigkeit von der amerikanischen Baumwolle bei weitem überschätzt hatten. Premierminister Lord Russell wollte eine Verwicklung in den Krieg nicht zuletzt mit Rücksicht auf Kanada vermeiden, und die Nöte der englischen Textilindustrie wurden rasch durch gesteigerte Baumwolleinfuhren aus Ägypten und Indien gemildert. Außerdem erlebte der Handel mit der Union, die Großbritanniens wichtigster Getreidelieferant war, während des Krieges einen Aufschwung. Schwerer wog aber wohl noch, dass die englische Öffentlichkeit, insbesondere auch die Arbei‐ terschaft in den Industriegebieten, ihre sklavereifeindliche Haltung beibehielt und trotz wirtschaftlicher Einbußen mit den Nordstaaten sympathisierte. Die gefährlichste Krise konnte im Dezember 1861 entschärft werden, als Washington zwei konföderierte Diplomaten, die von der US Navy auf einem englischen Schiff verhaftet worden waren, wieder freiließ. Solange England neutral blieb, wagte sich auch kein anderer europäischer Staat offen einzumischen. Indirekt gewährte die britische Regierung Jefferson Davis ab Frühjahr 1862 eine gewisse Unterstützung, indem sie privaten Schiffswerften erlaubte, Blockadebrecher und Kaperschiffe für den Süden zu bauen. Eine echte Chance zur Anerkennung der Konföderation hätte nur bestanden, wenn den Südstaaten-Armeen entscheidende Siege gelungen wären. Diese Aussicht schwand aber nach den Schlachten von Gettysburg und Vicksburg im Sommer 1863 vollends dahin. Lincolns Emanzipationserklärung Seit Beginn des Krieges versuchten Schwarze aus dem Süden, der Sklaverei zu entkommen und in Gebiete zu gelangen, die von den Unionsarmeen gehalten wurden. Auf diese Weise brachten sie von sich aus das Thema der Sklavenbefreiung auf die Tagesordnung, das bis dahin nur die Abolitionisten und radikalen Republikaner bewegt hatte. Die Praxis einiger Generäle, die Sklaven in ihrem Befehlsbereich an die Eigentümer im Süden auszuliefern, erregte im Norden große Empörung. Lokale Emanzipationsentscheidungen, wie sie von anderen Kommandeuren getroffen wur‐ den, hob Lincoln aus verfassungsrechtlichen Gründen wieder auf. Danach behalfen sich die meisten Befehlshaber damit, übergelaufene Sklaven gemäß dem Kriegsrecht zur „Konterbande“ zu erklären, um sie nicht an ihre Besitzer zurückgeben zu müssen. Auf eigene Faust zogen sie Schwarze auch schon zu Schanzarbeiten und einfachen Hilfsdiensten heran. Diese Praxis, der Lincoln zunächst skeptisch gegenübergestanden hatte, wurde später vom Kongress durch die Confiscation Acts legalisiert. 1862 nahm 2 Der Amerikanische Bürgerkrieg, 1861 - 1865 151 <?page no="152"?> die Antisklaverei-Stimmung im Norden zu, und Lincoln gelangte zu der Einsicht, dass der Krieg nur unter dem Banner der Emanzipation gewonnen werden konnte. Nach Rücksprache mit dem Kabinett wartete er aber noch einen militärischen Erfolg ab - den er mit Antietam gekommen sah -, bevor er am 22. September 1862 seine „provisorische Emanzipationserklärung“ veröffentlichte. Bis zum 1. Januar 1863 sollten danach alle Sklaven frei sein, die sich in den von „Rebellen“ kontrollierten Gebieten aufhielten. Das schloss vorerst noch die Sklaven in den border states aus, die auf Seiten der Union kämpften. Gegner Lincolns prangerten das als eine inkonsequente und scheinheilige Entscheidung an, doch der Präsident ging davon aus, dass seine Notstandsbefugnisse als Oberbefehlshaber nicht weiter reichten und die Sklaverei in den Unionsstaaten nur durch eine Verfassungsänderung aufgehoben werden konnte. Ihm war aber bewusst, dass die Proklamation eine Dynamik entwickeln würde, die zwangsläufig zur vollständigen Beseitigung des Sklavereisystems führen würde. Abb. 9: Besuch Präsident Lincolns bei Unionstruppen in Antietam, Maryland, 1862 Abgesehen davon, dass Lincoln nun endlich seine moralische Aversion gegen die Sklaverei mit der offiziellen Regierungspolitik in Einklang bringen konnte, verfolgte er mehrere politische und militärische Ziele. Zum einen signalisierte er den Nordstaatlern, die mit dem bisherigen Verlauf des Krieges unzufrieden waren, dass der Kampf unter Aufbietung aller Kräfte bis zum vollständigen Sieg weitergeführt werden würde; nur das große Ziel der Sklavenbefreiung konnte die Opfer rechtfertigen, die bisher erbracht worden waren und noch erbracht werden mussten. Zum Zweiten bestand nun die Möglichkeit, ehemalige Sklaven als Soldaten zu rekrutieren, was ab Anfang 1863 auch in immer größerem Maßstab geschah. In eigenen Verbänden kämpften freie Schwarze und befreite Sklaven von nun an unter weißen Offizieren mit der Waffe Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 152 <?page no="153"?> in der Hand für die Abschaffung der Sklaverei. Einige dieser Einheiten, wie das 54. Massachusetts-Infanterieregiment, erwarben sich durch besondere Tapferkeit hohe Achtung und einen - in Denkmälern, Gedichten und Filmen verewigten - legendären Namen. Bis zum Kriegsende dienten etwa 200.000 Schwarze in den Armeen und der Flotte des Nordens und trugen dazu bei, dass sich das militärische Kräfteverhältnis zu Gunsten der Union verschob. Drittens erschwerte die Emanzipationserklärung außenpolitisch die Intervention fremder Mächte, weil die europäischen Regierungen kaum den Vorwurf riskieren konnten, sie griffen zum Erhalt der Sklaverei in den Bürgerkrieg ein. Viertens schließlich bedeutete die Ankündigung der Emanzipation einen psychologischen Schlag gegen den Süden, weil sie die Gefahr einer sozialen Revolution heraufbeschwor und einen Keil zwischen die Sklavenbesitzer und ihre weniger wohlhabenden weißen Landsleute trieb. In der Tat veränderte die Emanzipa‐ tionserklärung, die am 1. Januar 1863 in Kraft trat, die Natur des Krieges und leitete eine neue, radikalere Phase ein: Aus dem Kampf der Armeen wurde eine Konfrontation zweier Gesellschaftsordnungen, die zusätzliche Energien und Leidenschaften freisetzte und nur mit der Zerstörung des unterlegenen Systems enden konnte. Gettysburg und Vicksburg Die ungünstige Lage im Westen veranlasste die Führung der Konföderation im Sommer 1863 zu einer groß angelegten Offensive auf dem östlichen Kriegsschauplatz, die den Kampfeswillen der Union entscheidend schwächen und die diplomatische Anerkennung durch die europäischen Mächte doch noch ermöglichen sollte. General Lee umging mit seiner Armee von 75.000 Mann die Hauptstadt Washington und stieß weit nach Norden vor. Bei Gettysburg in Pennsylvania kam es daraufhin vom 1. bis 3. Juli 1863 zur größten Schlacht des Bürgerkrieges, die den Süden 28.000, den Norden 23.000 Tote und Verwundete kostete. Den Höhepunkt des Ringens bildete „Pickett’s Charge“, der mutige, aber aussichtslose Ansturm einer Südstaaten-Division über freies Feld auf die befestigten Positionen des Gegners. Lees Armee war besiegt, aber zur Enttäuschung Lincolns ließ der Befehlshaber der Union den Südstaaten-General mit den Resten seiner Truppen über den Potomac entkommen. Dennoch bedeutete Gettysburg einen Wendepunkt des Krieges, denn der Süden war nach diesem Aderlass nicht mehr zur Offensive fähig, und Lee konnte sich nur noch um den Schutz von Richmond kümmern. Die Zäsur wurde noch unterstrichen durch die Kapitulation der Festung Vicksburg am (symbolträchtigen! ) 4. Juli 1863 vor den Truppen General Grants. Damit waren die Stromgebiete des Mississippi und des Tennessee voll unter Unionskontrolle und die Ost-West-Verbindungen der Konföderation gekappt. Bei der Einweihung des Soldatenfriedhofs von Gettysburg hielt Lincoln im November 1863 eine kurze, aber weit über den Anlass hinauswirkende Rede. In dieser Gettysburg Address schlug er den Bogen zur Unabhängigkeitserklärung von 1776 und sprach die Hoffnung aus, dass die amerikanische Nation durch die im Krieg gebrachten Opfer „eine Wiedergeburt der Freiheit“ erleben werde, damit die Demokratie („government 2 Der Amerikanische Bürgerkrieg, 1861 - 1865 153 <?page no="154"?> of the people, by the people, for the people“) im Interesse der ganzen Welt überleben könne. Der erinnernde Bezug auf die Gründung der Union verbürgte Kontinuität und band Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Moment der Trauer und der Weihe zusammen. Die Niederlage der Konföderation und die Ermordung Lincolns Im März 1864 reorganisierte Lincoln die Militärführung der Union und schlug eine neue Strategie ein. Er betraute General Grant mit dem Oberbefehl über alle Unionsarmeen und gab ihm Order, die Kräfte der Konföderation im Raum Richmond durch kontinu‐ ierliche Angriffe und ohne Rücksicht auf eigene Verluste zu zerschlagen. Gleichzeitig sollte General William T. Sherman von Westen her nach Georgia vorstoßen und Atlanta erobern. Der Präsident selbst hielt durch einen neu geschaffenen Generalstab enge Verbindung zu beiden Heerführern. Die blutigen Kämpfe in Virginia brachten die Unionsregierung noch einmal in politische Bedrängnis, weil die Forderungen der oppositionellen Demokraten unter Lincolns ehemaligem Heerführer George B. McClellan nach Waffenstillstand und Friedensverhandlungen im Wahlkampf von 1864 zunehmend Gehör fanden. Im entscheidenden Augenblick stärkte dann aber die Nachricht vom Fall und der Zerstörung Atlantas, der Hauptstadt Georgias, am 2. September 1864 die Moral der Republikaner und stellte sicher, dass Lincoln im November wiedergewählt wurde. Der Tenor seiner zweiten Antrittsrede im März 1865 war versöhnlich, aber der Präsident ließ keinen Zweifel daran, dass die „Sünde der Sklaverei“, die offenkundig Gottes Strafgericht auf die gesamte amerikanische Nation gezogen hatte, restlos getilgt werden musste. Auf einem geheimen Treffen mit Friedensemissären der Konföderation in Hampton Roads hatte Lincoln schon im Monat zuvor bekräftigt, dass es in der Sklavereifrage „kein Zurück“ mehr gebe und dass der Süden nur nach einer bedingungslosen Einstellung der Kämpfe auf Entgegenkommen hoffen dürfe. Etwa zur gleichen Zeit brachte der Kongress das 13. Amendment auf den Weg, das die Sklaverei im gesamten Geltungsbereich der Verfassung verbot. Von Atlanta war General Sherman inzwischen Richtung Osten zu seinem „Marsch ans Meer“ aufgebrochen, bei dem die Unionstruppen eine breite Spur der Verwüstung hinter sich herzogen. An der Küste wandte sich Sherman nach Norden und dehnte die „Strategie der verbrannten Erde“ auf die verhasste „Keimzelle“ der Sezession, South Carolina, aus. Dieses Vorgehen, das die Zivilbevölkerung bewusst in das Kriegsgeschehen einbezog und zum Opfer machte, zielte darauf ab, die Südstaatler zu demoralisieren und ihren Kampfeswillen endgültig zu brechen. Zusammen mit dem brutalen Guerrillakrieg, den sich beide Seiten in den border states lieferten, war dies das deutlichste Kennzeichen des Übergangs von einer „zivilisierten“ zu einer alle bisherigen Regeln und Konventionen missachtenden „totalen“ Kriegführung. Sher‐ mans Terrorkampagne zeigte rasch Wirkung, denn die Armeen des Südens begannen sich infolge von Desertionen aufzulösen, und die Spannungen innerhalb der weißen Bevölkerung nahmen immer mehr zu. Durch das Vordringen Grants von Norden und Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 154 <?page no="155"?> die Erfolge Shermans im Süden wurde die Lage für die konföderierten Truppen in Richmond unhaltbar. Anfang April 1865 räumte General Lee die Stadt, und nachdem die Vereinigung mit den Resten einer anderen Konföderationsarmee misslungen war, kapitulierte er am 9. April in Appomattox Court House vor seinem Gegenspieler Grant. Auf das Ehrenwort hin, nicht weiterzukämpfen, wurden die geschlagenen Truppen entlassen, und die Offiziere durften sogar ihre Pferde behalten. Dennoch handelte es sich insofern um eine „bedingungslose Kapitulation“, als Lincoln und der Kongress Verhandlungen mit der Konföderationsregierung oder den Staatenregierungen im Süden strikt ablehnten. Jefferson Davis wurde später verhaftet und saß zwei Jahre in einem Gefängnis in Virginia, bevor er ohne Prozess freikam. Einen letzten dramatischen Höhepunkt erreichte der Bürgerkrieg am 14. April 1865, als Präsident Lincoln - inmitten der überschwänglichen Siegesfeiern und vier Tage vor der Kapitulation der letzten Konföderationsarmee unter General Joseph E. Johnston - im Washingtoner Ford’s Theater durch ein Pistolenattentat so schwer verletzt wurde, dass er noch in derselben Nacht starb. Der Täter, der Schauspieler John Wilkes Booth, führte eine südstaatliche Verschwörergruppe an, die auch Außenminister Seward und Vizepräsident Andrew Johnson hatte „beseitigen“ wollen. Sie warfen Lincoln und den Republikanern vor, den Sklaven Bürgerrechte gewähren zu wollen. Booth kam Ende April bei einem Feuergefecht mit Unionstruppen um, und vier seiner Mitverschwörer bzw. Mitwisser wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Im Norden löste die Ermordung Lincolns nicht nur Schock und Trauer aus, sondern gab auch jenen Auftrieb, die eine strenge Bestrafung der Rebellen im Süden forderten. Sie glaubten, in Andrew Johnson, einem self-made man und ehemaligen demokratischen Senator von Tennessee, der als Militärgouverneur seines Heimatstaates Härte bewiesen hatte, einen Verbündeten im Weißen Haus zu haben. Der tote Präsident erlebte derweil im öffentlichen Bewusstsein des Nordens eine Apotheose als Märtyrer und Sinnbild der unteilbaren Nation. Bei der feierlichen Überführung des Leichnams von Washington in den Heimatort Springfield nahmen gut sieben Millionen Amerikaner von Lincoln Abschied. Der Süden schuf sich dagegen die Legende von der Lost Cause, wonach Lee und seine Männer im Kampf für eine gerechte Sache der gewaltigen Übermacht des Nordens ehrenhaft unterlegen waren. Mehr als 1,5 Millionen Nordstaatler und etwa 900.000 Südstaatler hatten in den Bür‐ gerkriegsarmeen gekämpft; die Zahl der Gefallenen und Gestorbenen wird auf 620.000 geschätzt - 360.000 von ihnen aus dem Norden, 260.000 aus dem Süden. Aber auch die Zivilbevölkerung hatte schwer zu leiden gehabt, und weite Gebiete des Südens waren verwüstet und verarmt. Die Forschung macht mit Nachdruck auf die „Kontingenz“ des Geschehens aufmerksam: Danach war der Ausgang des Krieges nicht durch das materielle Kräfteverhältnis der beiden Seiten oder durch andere Faktoren determiniert, sondern das Schicksal der Union hing bei wesentlichen turning points wie Antietam, Gettysburg und Atlanta in der Schwebe. Als Hauptergebnisse des Krieges ragen die Sklavenemanzipation und die Sicherung der nationalen Einheit hervor: Die Befreiung der versklavten Afroamerikaner bedeutete für den Süden einen ökonomischen und 2 Der Amerikanische Bürgerkrieg, 1861 - 1865 155 <?page no="156"?> sozialen Umbruch, dessen Folgen auf Jahrzehnte hinaus den Charakter der Region und die Mentalität ihrer Bevölkerung prägten; die Wiederherstellung der Union brachte - zumindest potenziell - einen Machtzuwachs der Zentralregierung in Washington mit sich und erhob die „modernen“ Prinzipien und Lebensformen des Nordens endgültig zum kulturellen Mainstream der USA. Aus der „Union“ der Vorkriegszeit war für die Mehrheit der Amerikaner in den Nordstaaten bewusstseins- und gefühlsmäßig die „Nation“ geworden, der Lincoln in seinen Reden eine transzendentale Bestimmung und eine fast mystische Qualität gegeben hatte. Darin lassen sich Parallelen zu den „nationalen Einigungskriegen“ in Europa erkennen. Anders als im Bismarck-Reich sah man aber in den Vereinigten Staaten kaum Widersprüche zwischen Nationalismus und Demokratie, denn der Sieg des Nordens hatte die bis dahin vollzogene Demokra‐ tisierung von Staat und Gesellschaft eindrucksvoll bestätigt. Für Lincoln stellte die Nation niemals einen Wert an sich dar, sondern er verstand sie als unersetzliches Vehikel für die schrittweise Annäherung an die Ideale der menschlichen Freiheit und Gleichheit. Nicht das nationale Interesse, sondern die demokratische Botschaft der Unabhängigkeitserklärung bildete in letzter Instanz die Richtschnur seines Handelns. Auch die größten amerikanischen Schriftsteller und Dichter des 19. Jahrhunderts wie Melville, Hawthorne, Thoreau, Whitman und Emerson verliehen dem Begriff „Amerika“ eine eher moralisch-religiöse denn eine staatliche Dimension, und sie feierten die amerikanische Demokratie als Teil des göttlichen Erlösungswerkes für die gesamte Menschheit. 3 Die Wiedereingliederung des Südens und die Rechte der befreiten Afroamerikaner Die „präsidentielle Rekonstruktion“, 1865 - 1867 Wie jede gewaltsame Konfliktlösung warf der Bürgerkrieg kaum weniger neue Fragen auf, als er gelöst hatte. Vordringlich waren natürlich die Reintegration der Sezessionsstaaten und eine Klärung des Rechtsstatus der ehemaligen Sklaven. Hieraus entwickelte sich ein Machtkampf zwischen dem Präsidenten und dem Kongress und darüber hinaus eine neue Kraftprobe zwischen Norden und Süden, die beide letzten Endes auf dem Rücken der schwarzen Bevölkerung ausgetragen wurden. Inhaltlich ging es dabei im Wesentlichen um drei Punkte: um das Verhältnis von bundesstaatlicher und einzelstaatlicher Autorität, die Definition der amerikanischen Staatsbürgerschaft, und die praktische Bedeutung von Gleichheit und Freiheit für die Afroamerikaner. Über den besten Weg zur Wiederherstellung der Union hatte es bereits zwischen Lincoln und dem Kongress Meinungsverschiedenheiten gegeben. Lincoln neigte einer moderaten „Restauration“ zu, die sich - wie das in den von Unionstruppen besetzten Staaten Louisiana, Arkansas und Tennessee geschah - auf die politische Ausschaltung der führenden Sezessionisten, eine Regierungsübernahme durch loyale Politiker und die Einfügung des Sklavereiverbots in die Staatenverfassungen beschränkte. Er ging Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 156 <?page no="157"?> davon aus, dass die Südstaaten juristisch immer der Union angehört hatten und die „Restauration“ deshalb so weit wie möglich von den Staaten selbst im Zusammen‐ wirken mit dem Präsidenten als Oberbefehlshaber der Streitkräfte vorgenommen werden sollte. Ein anderes Motiv war sicherlich die realistische Annahme, dass die weißen Südstaatler gegen eine Umwälzung der Besitzverhältnisse und eine völlige Gleichstellung der Schwarzen erbitterten Widerstand leisten würden. Lincoln schlug deshalb vor, dass die Reorganisation einer Staatenregierung beginnen konnte, sobald 10 Prozent der Wähler von 1860 einen Loyalitätseid auf die Union geleistet hatten. Im Kongress wuchs jedoch der Einfluss radikaler Abgeordneter und Senatoren, die Lincolns Verfassungsinterpretation widersprachen - ihrer Meinung nach standen die Sezessionsstaaten außerhalb der Union und konnten nur per Bundesgesetz wieder eingegliedert werden - und die gleichzeitig auf eine wirtschaftliche und soziale Bes‐ serstellung der befreiten Sklaven drängten. Ihr Programm war in der Wade-Davis Bill vom Juli 1864 enthalten, die Loyalitätsbekundungen einer Mehrheit der weißen Männer zur Voraussetzung der Reintegration erklärte und alle Südstaatler von den Wahlen zu verfassunggebenden Versammlungen ausschloss, die gegen die Union gekämpft hatten. Vor seinem Tode war Lincoln um einen Ausgleich mit dem Kongress bemüht gewesen, aber ob er zustande gekommen wäre, lässt sich schwer sagen. Immerhin machte der Präsident Zugeständnisse in der Frage des Wahlrechts für Schwarze, das er zunächst auf ehemalige Unionssoldaten und gebildete Afroamerikaner beschränkt wissen wollte. Obwohl Andrew Johnson im Ruf eines erbitterten Gegners der Südstaaten-Aristo‐ kratie stand, behielt er als Präsident Lincolns ursprünglichen Kurs nicht nur bei, sondern milderte ihn zur allgemeinen Überraschung sogar noch ab. Er verlangte lediglich, dass die abtrünnigen Staaten ihren Sezessionsbeschluss rückgängig machten und das 13. Amendment ratifizierten, das die Sklaverei verbot. Eine großzügige Am‐ nestieregelung, die Johnson noch durch zahlreiche persönliche Begnadigungen hoher Amtsträger der Konföderation ausdehnte, erlaubte den meisten weißen Südstaatlern wieder die politische Betätigung. Johnson genoss offenkundig die Macht, die ihm sein verfassungsmäßiges Begnadigungsrecht (pardon power) über die Pflanzerelite gab, und er hoffte wohl, sich auf diese Weise eine politische Basis im Süden schaffen zu können. Er näherte sich immer mehr den Demokraten an, die er mit konservativen Republikanern zu einer neuen Partei, der „National Union“, vereinigen wollte. Bis Ende 1865 hatten sämtliche Südstaaten die vom Präsidenten gestellten Bedin‐ gungen erfüllt und reklamierten die gleichberechtigte Teilnahme am politischen Leben der Union. Andererseits zeigten jedoch die Berichte aus dem Süden immer deutlicher, dass die Plantagenbesitzer im Einvernehmen mit den Parlamenten und Regierungen ihrer Staaten alle Selbstbestimmungsregungen von ehemaligen Sklaven brutal unter‐ drückten. Die Schwarzen, die auf eigenes Farmland gehofft hatten, mussten vielfach schlecht bezahlte Kolonnenarbeit (gang labor) auf den alten Plantagen leisten und wurden durch gesetzliche Vorschriften (Black Codes) auf einen sklavenähnlichen Status herabgedrückt. Ausschreitungen weißer Mobs und gezielte Gewalttaten (lynchings) sollten nicht nur die afroamerikanische Bevölkerung einschüchtern, sondern auch 3 Die Wiedereingliederung des Südens und die Rechte der befreiten Afroamerikaner 157 <?page no="158"?> die weißen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Freedmen’s Bureau entmutigen, das der Kongress damit beauftragt hatte, den Übergang der schwarzen Bevölkerung von der Sklaverei zur Freiheit durch praktische Hilfe, Ausbildung und Rechtsschutz zu erleichtern. Der offizielle Name dieser Behörde - Bureau of Refugees, Freedmen, and Abandoned Lands - zeigte an, dass der Kongress zumindest in bescheidenem Ausmaß auch an die Verteilung von Land an ehemalige Sklaven gedacht hatte. Die Südstaatler setzten aber alle Hebel in Bewegung, um solche aus ihrer Sicht revolutionären Maßnahmen zu verhindern. Als der Kongress im Dezember 1865 wieder zusammentrat, veranlassten diese alarmierenden Nachrichten die republikanische Mehrheit dazu, den gewählten Abge‐ ordneten und Senatoren aus dem Süden ihre Sitze zu verweigern. Stattdessen richteten die Republikaner ein Joint Committee on Reconstruction ein, das zusammen mit dem Präsidenten ein neues Programm ausarbeiten sollte. Eine solche Kooperation scheiterte 1866 jedoch in erster Linie am Verhalten Johnsons, der selbst moderate Maßnahmen des Kongresses wie eine Verlängerung der Existenz des Freedmen’s Bureau oder die Definition der Bürgerrechte von befreiten Sklaven (die noch nicht das Wahlrecht einschloss) harsch kritisierte und mit seinem Veto belegte. Das kostete ihn allerdings den letzten Rückhalt bei den gemäßigten Republikanern, die nun zusammen mit den Radikalen um Thaddeus Stevens und Charles Sumner die Vetos überstimmten. Gemein‐ sam legten Gemäßigte und Radikale im April 1866 den Entwurf eines 14. Amendments vor, das in der Frage der Bürgerrechte über die bisherige Position hinausging. Danach waren alle in den USA geborenen oder naturalisierten Personen Bürger der USA und ihres jeweiligen Staates; kein Staat durfte die Bürgerrechte der Vereinigten Staaten einschränken oder einem Bürger ohne ordentliches Gerichtsverfahren (due process of law) Leben, Freiheit oder Besitz nehmen; ebenso wenig durfte er ihm die Rechtsgleichheit und den Rechtsschutz (equal protection of the law) verwehren. Falls ein Staat das Wahlrecht seiner Bürger einschränkte, sollte seine Repräsentation im Kongress entsprechend verringert werden. Abgerundet wurden diese - bewusst recht vage gehaltenen - Bestimmungen durch eine Klausel, die besagte, dass ehemalige Füh‐ rungspersönlichkeiten und Mandatsträger der Konföderation solange kein politisches Amt ausüben durften, bis der Kongress sie mit Zweidrittelmehrheit amnestierte. Ermutigt von Präsident Johnson, der nun vollends auf einen schroffen Konfrontati‐ onskurs ging, lehnten die Staatenparlamente des Südens (nur der border state Tennessee bildete eine Ausnahme) die Ratifizierung des Amendments ab, womit es vorerst gescheitert war. Bei den Zwischenwahlen von 1866 erntete Johnson jedoch nicht den erhofften Beifall der Öffentlichkeit; ganz im Gegenteil bauten die Republikaner ihre Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses so weit aus, dass sie ohne Mühe jedes Veto des Präsidenten überstimmen konnten. Damit waren die Weichen gestellt für eine neue, härtere Rekonstruktionspolitik, zugleich aber auch für einen Verfassungskonflikt zwischen Exekutive und Legislative, der an Intensität noch den „Bankkrieg“ der 1830er Jahre hinter sich lassen sollte. Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 158 <?page no="159"?> Die Phase der radikalen Rekonstruktion, 1867 - 1872 Im Frühjahr 1867 verabschiedete der Kongress über das Veto Johnsons hinweg den Reconstruction Act, der den Süden (außer Tennessee) in fünf Besatzungszonen unter dem Kommando von Unionsgenerälen aufteilte. Diese Militärgouverneure erhielten den Auftrag, alle erwachsenen schwarzen Männer als Wähler zu registrieren und danach für die Annahme neuer Staatenverfassungen sowie für die Wahl neuer Staatenparlamente zu sorgen. Als Hauptbedingungen für die Wiederaufnahme der Staaten in die Union setzte der Kongress fest, dass die Verfassungen das Wahlrecht der schwarzen Männer (black suffrage) garantieren mussten und dass die Parlamente das 14. Amendment ratifizierten. Dieses Programm, das außer dem Recht auf Bildung und einer Bodenreform zu Gunsten der ehemaligen Sklaven alle Forderungen der radikalen Republikaner erfüllte, wurde im ständigen Streit mit Präsident Johnson verwirklicht. Im Süden entstanden nun die reconstruction governments, in denen unionstreue weiße Südstaatler, Republikaner aus dem Norden und Afroamerikaner zusammenarbeiteten. Siedlergruppen, die erst vor kürzerem aus Europa eingewandert waren, wie die Deut‐ schen in Texas, schlossen sich ebenfalls in der Regel dieser republikanischen Koalition an. Das eigentlich Revolutionäre (und für viele Weiße Unerträgliche) war jedoch die Beteiligung von Schwarzen, die insgesamt mehr als 600 Parlamentsabgeordnete stellten und in einer Reihe von Staaten auch Regierungsämter bekleideten. Dreizehn Afroamerikaner wurden während dieser Zeit in das US-Repräsentantenhaus gewählt, und 1870 entsandte das Parlament von Mississippi den Pfarrer Hiram R. Revels als ersten Schwarzen in den US-Senat. Während es sich bei den Staatenabgeordneten mehrheitlich um ehemalige Sklaven (freedmen) handelte, fielen die höheren Posten gewöhnlich an Schwarze, die schon vor dem Bürgerkrieg ihre Freiheit erlangt hatten. Zu den ersten Maßnahmen der Rekonstruktions-Regierungen gehörte die Aufhe‐ bung der diskriminierenden Black Codes, die häufig lediglich umformulierte slave codes gewesen waren. Auf der Grundlage der neuen, fortschrittlichen Verfassungen bemühten sie sich dann um soziale und humanitäre Reformen, um eine Verbesserung der Infrastruktur und um den Aufbau von Industrien, die den landlosen ehemaligen Sklaven Arbeit geben sollten. Viele der Projekte waren allerdings zu ehrgeizig und kostspielig, um in den Südstaaten, die noch unter den Kriegsfolgen litten, echte Realisierungschancen zu haben. Erfolge stellten sich dagegen im Bildungswesen ein, das im Süden stets vernachlässigt worden war. Alle Staaten bauten nun öffentliche Schulen, in denen der Unterricht - oft von Mitarbeitern des Freedmen’s Bureau oder nordstaatlicher Reformgesellschaften - kostenlos erteilt wurde. An der Tatsache, dass die Schulen fast durchweg „segregiert“, d. h. nach Rassen getrennt waren, nahm unter den gegebenen Umständen kaum jemand Anstoß. Das Verlangen vieler Schwarzer, ihr Schicksal selbst zu gestalten, spiegelte sich auch im Bau eigener Kirchen und in religiö‐ sen Zusammenschlüssen wie der National Baptist Convention und der African Methodist Episcopal Church wider. Schwarze Kirchen, die schon vor der Emanzipation maßgeblich zur Ausformung einer afroamerikanischen Kultur und Identität beigetragen hatten, erfüllten nun zusätzliche Aufgaben als Sozialstationen und politische Versammlungs‐ 3 Die Wiedereingliederung des Südens und die Rechte der befreiten Afroamerikaner 159 <?page no="160"?> stätten. Pfarrer agierten häufig gleichermaßen als geistliche und weltliche community leaders und hielten - zusammen mit Handwerkern - den höchsten Anteil an der neuen politischen Elite der Schwarzen im Süden. Abb. 10: Die ersten afroamerikanischen Senatoren und Repräsentanten des US-Kongresses, 1872 Die konservativen Weißen, die all dies als höchst bedrohlich und umstürzlerisch ansa‐ hen, setzten ihre Hoffnungen zunächst noch auf Präsident Johnson. Der Kongress hielt den Präsidenten aber mit Hilfe des Tenure of Office Act in Schach, der ihm untersagte, hohe Beamte, Offiziere und Richter ohne einen entsprechenden Parlamentsbeschluss zu entlassen. Damit wollten die Republikaner insbesondere Kriegsminister Edwin M. Stanton und Armee-Oberbefehlshaber Grant schützen, die das radikale Rekonstrukti‐ ons-Programm befürworteten und maßgeblich zur praktischen Durchsetzung beitru‐ gen. Als Präsident Johnson in der Überzeugung, das Gesetz sei verfassungswidrig, Stanton Anfang 1868 trotzdem entließ, kam es zum offenen Konflikt. Gemäß der Im‐ peachment-Klausel in der Verfassung erhob das Repräsentantenhaus im Februar 1868 mit großer Mehrheit Amtsanklage gegen Johnson, wobei die Verletzung des Tenure of Office Act den Hauptvorwurf bildete. Tatsächlich war dies aber der Höhepunkt eines politischen Machtkampfes zwischen den beiden Regierungszweigen, den Johnson Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 160 <?page no="161"?> durch provozierende Reden und Handlungen zusätzlich aufgeheizt hatte. Da die Re‐ publikaner im Senat, der das Urteil fällen musste, über die nötige Zweidrittelmehrheit verfügten, schien Johnsons Amtsenthebung sicher. Der politische Hintergrund der Anklage und die Sorge, die Autorität der Exekutive könnte irreparabel beschädigt werden, veranlassten dann aber im Mai mehrere Republikaner, mit der demokratischen Minderheit gegen die Amtsenthebung zu stimmen. Johnson entging auf diese Weise knapp der Absetzung, aber er hatte doch eine Niederlage erlitten, die ihn während der letzten Monate im Weißen Haus politisch lähmte. Für die Präsidentschaftswahlen im November 1868 wurde er nicht mehr nominiert, und der republikanische Kandidat, der Kriegsheld Ulysses S. Grant, setzte sich mühelos gegen den demokratischen Bewerber Horatio Seymour durch. Die Republikaner nutzten den Sieg, um im Kongress einen weiteren Verfassungszusatz zu beschließen, der den Staaten ausdrücklich verbot, ihren Bürgern das Wahlrecht „auf Grund von Rasse, Hautfarbe oder früherer Knechtschaft“ zu versagen. Die Ratifizierung dieses 15. Amendments erfolgte 1870, wobei mehrere Nordstaaten auffallend zögerten und vier Südstaaten nur zustimmten, um endlich wieder in die Union zurückkehren zu dürfen. Damit waren einige Lücken, die das 14. Amendment bei der Definition des Staatsbürgerrechts gelassen hatte, geschlossen, jedoch längst nicht alle, wie sich in der politischen Praxis bald zeigen sollte. Enttäuscht reagierten viele weibliche Abolitionisten, da beide Amendments die privilegierte Stellung der Männer absicherten und Frauen allen ihren Forderungen und Protesten zum Trotz auch weiterhin vom Wahlrecht ausgeschlossen blieben. Die weiße Gegenoffensive im Süden Bis 1871 hatten alle ehemaligen Konföderationsstaaten die Bedingungen der radikalen Rekonstruktion erfüllt und waren wieder Teil der Union. Die günstige Rechtslage ent‐ sprach aber nicht der Verfassungswirklichkeit im Süden, die sich seit Ende der 1860er Jahre drastisch verschlechtert hatte. Konservative und rassistische Weiße waren hier ungeachtet der militärischen Besetzung in die Offensive gegangen, um ihr Land von der Herrschaft der Schwarzen und der Republikaner zu „erlösen“. In einem Staat nach dem anderen gelang es ihnen, die Kontrolle über die Staatenparlamente zurückzuerobern. Dabei profitierten sie von politischen Fehlern und Unregelmäßigkeiten der Rekonst‐ ruktions-Regierungen, die bei der mangelnden Erfahrung der meisten Abgeordneten und Minister gar nicht ausbleiben konnten. Berechtigte Kritik mischten sie propagan‐ dawirksam mit einer pauschalen Verächtlichmachung der weißen Republikaner im Süden als scalawags (wertloses Vieh) und der aus dem Norden zugewanderten Politiker und Geschäftsleute als profitgierige carpetbaggers, die nur ihre leeren Satteltaschen füllen wollten. Die Strategie der radikalen Demokraten zielte aber weit über das gewöhnliche Ringen um parlamentarische Mehrheiten hinaus. Integraler Bestandteil war eine Terror- und Mordkampagne, die den politischen Gegner einschüchtern und die schwarze Bevölkerung wieder gefügig machen sollte. Geführt wurde dieser Untergrundkrieg für home rule und white supremacy von Geheimgesellschaften, die 3 Die Wiedereingliederung des Südens und die Rechte der befreiten Afroamerikaner 161 <?page no="162"?> sich zumeist aus ehemaligen Soldaten und Offizieren der Konföderation rekrutierten. Am weitesten verbreitet und am meisten gefürchtet war der Ku-Klux-Klan, den der Südstaaten-General Nathan Bedford Forrest bereits 1865 in Tennessee gegründet hatte und der sich zu einer Art „militärischem Arm“ der Demokratischen Partei im Süden entwickelte. Der Klan wurde zwar vom Kongress verboten und von den Militärgouverneuren - unterschiedlich konsequent - bekämpft, aber der Schrecken, den seine Anhänger schon durch ihre äußere Erscheinung (schwarze Umhänge und spitz zulaufende weiße Kapuzen) und ihre Rituale (nächtliche Umzüge mit brennenden Kreuzen) verbreiteten, ließ sich nie hinreichend eindämmen. Politischer Druck und paramilitärischer Terror allein hätten aber wohl nicht ausge‐ reicht, um die Errungenschaften der Rekonstruktion zunichte zu machen. Letztlich ausschlaggebend war der Umstand, dass die ökonomische Abhängigkeit, in der fast alle Afroamerikaner und ein beträchtlicher Teil der weißen Bevölkerung von der traditionel‐ len Pflanzer- und Unternehmerelite lebten, nicht überwunden werden konnte. Weder der Kongress noch die republikanischen Staatenparlamente brachten die Kraft und den Mut zu einer umfassenden Bodenreform auf, die aus der Masse der ehemaligen Sklaven selbstständige Kleinfarmer gemacht hätte. Ein solcher Eingriff in die existierenden Besitz- und Machtverhältnisse wäre allerdings nur unter dem lang andauernden Schutz nordstaatlicher Bajonette durchführbar gewesen. Tatsächlich wurde die Militärpräsenz im Süden aber schon seit 1869 verringert, und die Bereitschaft der Bevölkerung des Nordens, Besatzungstruppen zu finanzieren, nahm von Wahl zu Wahl ab. Ein kleiner Teil der ehemaligen Sklaven fand Beschäftigung in der Industrie, die viel langsamer wuchs als von den Republikanern erwartet. Noch weniger Schwarze gelangten in den Besitz einer Farm oder fanden Siedlungsland außerhalb des Südens, vor allem in Kansas. Die meisten Afroamerikaner blieben als Lohnarbeiter oder Kleinpächter (sharecroppers) auf den alten Baumwoll-, Zucker- oder Reispflanzungen und hatten kaum Gelegenheit, von ihren politischen Rechten Gebrauch zu machen - es sei denn im Sinne ihrer früheren Herren. Immerhin konnten sie die eng zusammengedrängten Sklavenquartiere verlassen und Familienunterkünfte bauen, die über die gesamte Plantage verstreut lagen. Das Ende der Rekonstruktion Im Norden nahm das Interesse an Rekonstruktion und Rassenproblematik nach der Wiederwahl Präsident Grants 1872 und insbesondere nach dem schweren wirtschaft‐ lichen Einbruch von 1873 rapide ab. Mehr und mehr Weiße zeigten sich von der demokratischen Propaganda für home rule beeindruckt und schrieben die Misserfolge im Süden der Inkompetenz und Minderwertigkeit der Schwarzen zu. Ebenso wie die Demokraten propagierten auch die liberalen Republikaner, die sich 1872 von der Partei abgespalten hatten, den Rückzug der Besatzungstruppen und eine Begnadigung der wenigen noch vom öffentlichen Leben ausgeschlossenen Ex-Konföderierten. Der Kongress gab diesem Drängen schrittweise nach, zumal die Demokraten 1874 erstmals wieder die Mehrheit im Repräsentantenhaus eroberten. Der Verlust der militärischen Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 162 <?page no="163"?> Unterstützung bedeutete aber unweigerlich das Ende der Rekonstruktions-Regierun‐ gen und die Machtübernahme der Demokraten im Süden. 1877 kontrollierten die Republikaner nur noch drei Südstaaten - Louisiana, South Carolina und Florida -, und hier standen auch die letzten schwachen nordstaatlichen Truppenkontingente. Der Kongress unternahm zwar mit dem Civil Rights Act von 1875 noch einen schwachen Versuch, der Diskriminierung der Schwarzen entgegenzuwirken, doch der Supreme Court, der die Befugnisse der Bundesregierung in Rassenfragen von Anfang an sehr eng ausgelegt hatte, erklärte dieses Gesetz wenige Jahre später für verfassungswidrig. Die Präsidentschaftswahlen von 1876 fielen so knapp aus, dass der Erfolg des Republikaners Rutherford B. Hayes nur durch ein informelles Übereinkommen mit den Demokraten sichergestellt werden konnte. Um die nötigen Wahlmännerstimmen zu erhalten, sagten die Republikaner eine wirtschaftliche Unterstützung des Südens, vor allem aber den Abzug der letzten Unionstruppen zu. Hayes hatte ohnehin schon im Wahlkampf versprochen, die militärische Besetzung zu beenden, und er ließ den Worten rasch Taten folgen. Die Bevölkerung des Nordens, deren Aufmerksamkeit voll und ganz von Wirtschaftsfragen absorbiert war, nahm das Ende der Rekonstruktion und den Sturz der letzten republikanischen Staatenregierungen 1877 nur noch am Rande wahr. Fortan galten die Bürgerrechte der Schwarzen und die Rassenbeziehungen als lokale Angelegenheiten, aus denen sich die Bundesregierung besser heraushielt - nicht nur im Süden, sondern auch im Norden und Westen. Die Rekonstruktion war weder, wie noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein behaup‐ tet wurde, eine gewaltsame Schmähung des wehrlosen Südens durch rachsüchtige, ausbeuterische Yankees, noch darf sie, was in jüngerer Zeit häufig geschah, als viel zu kurz greifendes, nahezu folgenloses Unterfangen abgetan werden. Beide Sichtweisen verkennen die Komplexität und Vielschichtigkeit der Veränderungen, die sich nach dem Krieg im Süden vollzogen. Gemessen an der epochalen Bedeutung der Sklavenbefreiung fiel der politische und soziale Wandel, den die Rekonstruktion bewirkte, bescheiden und enttäuschend aus. In manchen Bereichen wie Familie, Gemeindeleben und Erziehungs‐ wesen gab es aber beträchtliche Verbesserungen, und einzelne Gruppen - die schon seit längerem freien Schwarzen, die mixed race-Elite in Louisiana, die Schwarzen in den Städten - zogen mehr Nutzen aus dem gesellschaftlichen Umbruch als andere. Bedeutsam, wenngleich schwer messbar, waren auch der Bewusstseinswandel und das gewachsene Selbstvertrauen vieler Schwarzer. Andererseits ist unverkennbar, dass jeder denkbaren Art von Rekonstruktion durch die vorherrschenden Mentalitäten und die gegebenen materiellen Rahmenbedingungen enge Grenzen gezogen waren. Auch im Norden konnten sich nur wenige Weiße vorstellen, gleichberechtigt mit den Schwar‐ zen zusammenzuleben. Die große Mehrheit zog deshalb in den 1870er Jahren eine Aussöhnung mit den Kriegsgegnern von einst dem unbefristeten militärischen Schutz der schwarzen Bürgerrechte vor. Wirtschaftlich war der Süden durch die Kriegsfolgen weiter hinter den Norden zurückgefallen, woran die Rekonstruktions-Regierungen nichts hätten ändern können, selbst wenn sie noch so fähig und unbestechlich gewesen wären. Bei den ehemaligen Konföderierten hinterließen Niederlage, erzwungene Eman‐ 3 Die Wiedereingliederung des Südens und die Rechte der befreiten Afroamerikaner 163 <?page no="164"?> zipation und militärische Besetzung seelische Wunden und Ressentiments, die sich mit Versöhnungsrhetorik und nationalem Pathos nur mühsam überdecken ließen. Die Re‐ publikanische Partei, die man für Sklavenbefreiung und Rekonstruktion verantwortlich machte, blieb im „soliden Süden“ (solid South) der konservativen weißen Demokraten auf Jahrzehnte hinaus chancenlos. Der Bürgerkrieg hatte die Abtrennung des Südens verhindert, seine Sonderentwicklung aber keineswegs beendet, ja das Bewusstsein einer „Southern culture“ eher noch gestärkt. 4 Die Erschließung und Transformation des amerikanischen Westens Durch Bürgerkrieg und Rekonstruktion war die amerikanische Nation psychologisch sehr gespalten. Aus der Sicht Washingtons erforderte dies eine Rücksichtnahme auf die Interessen und Empfindlichkeiten der Regionen und Einzelstaaten, die den politischen Handlungsspielraum der Bundesregierung eng begrenzte. Es verwundert deshalb nicht, dass auf Lincoln eine Reihe schwacher Präsidenten folgte, die sich weitgehend damit begnügten, den Willen des Kongresses zu exekutieren. Die Außenpolitik verlor viel von dem expansiven Schwung, den ihr die Ideologie der Manifest Destiny vor der Jahrhundertmitte vermittelt hatte. Der Kauf Alaskas von Russland 1867 stellte zwar einen enormen territorialen Zuwachs dar, doch die öffentliche Reaktion war eher negativ, da sich nur wenige Amerikaner eine Vorstellung von der strategischen Bedeu‐ tung dieses Gebiets machen konnten und kaum jemand ahnte, welche unermesslichen Bodenschätze dort schlummerten. Vereinzelt gab es noch die Hoffnung, dass Alaska durch einen Beitritt Kanadas zur Union direkt mit den Vereinigten Staaten verbunden werden könnte. In der Praxis wurden aber keinerlei Schritte unternommen, die zur Erfüllung dieses alten Traums hätten führen können; seine Realisierung rückte nach der Gründung des Dominion Kanada im Jahr 1867 - dieser Akt der Selbstbehauptung erfolgte nicht zuletzt als Reaktion auf den Ausgang des amerikanischen Bürgerkriegs - ohnehin in weite Ferne. Im ausgehenden 19. Jahrhundert konzentrierten die Amerika‐ ner ihre Energien auf von Krisen nur kurzfristig gebremste Industrialisierung und die Erschließung der riesigen Westgebiete. Frederick J. Turners Frontier-These Im Bericht der Zensusbehörde von 1890 fand sich die Feststellung, es gebe keine Frontier im Sinne einer geographischen Siedlungsgrenze mehr. Dies nahm der Historiker Frederick Jackson Turner, der an der University of Wisconsin in Madison lehrte, zum Anlass einer Neuinterpretation der amerikanischen Geschichte, die als „Frontier-These“ berühmt geworden ist. In dem 1893 vor der American Historical Association in Chicago gehaltenen Vortrag „The Significance of the Frontier in American History“ behaup‐ tete Turner, dass der Westen weit mehr als nur ein „Sicherheitsventil“ für soziale Konflikte in den bereits besiedelten Gebieten der USA gewesen sei. Vielmehr habe Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 164 <?page no="165"?> die Frontier der amerikanischen Demokratie als eine Art „Jungbrunnen“ gedient, als Quelle der Erneuerung traditioneller Werte und Ort der ständigen Bewährung für das Individuum. Den nach Westen vordringenden Pionier verstand Turner - ganz im Sinne Thomas Jeffersons - als den eigentlichen Träger demokratischer Ideale, und die Frontier erschien ihm als Inbegriff dessen, was die Vereinigten Staaten von Europa unterschied und was sie zum Fortschritt der Menschheit beitrugen. An der Siedlungs‐ grenze, wo sich Natur und Zivilisation begegneten, wurde nicht nur das Individuum umgeformt, sondern erhielt die gesamte Nation ihren spezifischen, unverwechselbaren „amerikanischen Charakter“. Während die Reformvorschläge, mit denen Turner dem Verschwinden der Frontier begegnen wollte, wenig Aufmerksamkeit fanden, entwi‐ ckelte der „Frontier-Mythos“, der den Glauben an die Einzigartigkeit und besondere Bestimmung der USA bekräftigte, ein bis in die Gegenwart wirkendes Eigenleben. Die Geschichtswissenschaft kreidet Turner zwar etliche Irrtümer und Versäumnisse an: So hat er offenkundig die Bedeutung des Einflusses unterschätzt, den die Ostküste mit ihren Institutionen, Werten und Ideologien auf den Westen ausübte; darüber hinaus idealisierte er die Frontier, indem er negative Aspekte wie Gewalttätigkeit, Landspekulation, hemmungslose Ausbeutung der Natur und Zerstörung indianischer Kulturen vernachlässigte. Ebenso wenig schenkte er dem Beitrag der Frauen, der Schwarzen und der Asiaten zur „Eroberung des Westens“ die gebührende Beachtung. Dennoch wird die von Turner angeschnittene Frage des „American exceptionalism“ auch heute noch lebhaft diskutiert. Die Glorifizierung des „Wilden Westens“ in Medien und Werbung sowie die Neigung, die Raumfahrt oder andere moderne Technologien als die New Frontier bzw. Last Frontier zu bezeichnen, lassen erkennen, welch enorme Sug‐ gestivkraft der Frontier-Metapher das gesamte 20. Jahrhundert hindurch innewohnte. Abb. 11: John Gast, American Progress, 1872 4 Die Erschließung und Transformation des amerikanischen Westens 165 <?page no="166"?> Der transkontinentale Eisenbahnbau Selbst bei nüchterner Betrachtung springt die verkehrsmäßige Erschließung des amerikanischen Westens als eine der bedeutendsten kollektiven Leistungen (und eines der größten Abenteuer) des 19. Jahrhunderts ins Auge. Zum Symbol des „Eisenbahn‐ zeitalters“ wurde die Union and Central Pacific Railroad von Omaha, Nebraska, nach Sacramento, Kalifornien, für deren Bau der Kongress 1862 mitten im Bürgerkrieg das Startzeichen gegeben hatte und die im Mai 1869 die erste durchgehende Verbin‐ dung zwischen Ost- und Westküste ermöglichte. Beide beteiligten Bahngesellschaften, die Union Pacific Company und die Central Pacific Company, erhielten zusammen 20 Millionen Dollar Kredite von der Bundesregierung, die sie als Sicherheiten für die von ihnen ausgegebenen Aktien benutzen konnten. Profitabler waren noch die großzügigen Zuweisungen an Bundesland beiderseits des Schienenstrangs, das an große Siedlungsgesellschaften weiterverkauft wurde. Für die Union Pacific Co. arbei‐ teten vorwiegend Einwanderer aus Europa und Bürgerkriegsveteranen, darunter viele Schwarze; die Central Pacific Co. warb dagegen hauptsächlich Chinesen an, die als besonders genügsam und ausdauernd galten. Damit begann die asiatische Immigra‐ tion in die USA, die binnen kurzem von Ausschreitungen und diskriminierenden Maßnahmen gegen die „gelben Kulis“ begleitet wurde. Die Chinesen, deren Zahl bis Anfang der 1880er Jahre auf über 300.000 anstieg, waren denn auch die erste ethnische Gruppe, die - beginnend mit dem Chinese Exclusion Act von 1882 - offiziell von der Einwanderung in die USA ausgeschlossen wurde. Auf die Union and Central Pacific Railroad folgten bis 1890 noch vier weitere transkontinentale Eisenbahnlinien. Zusammen mit den von Einzelstaaten, Kreisen und Städten ebenfalls reichlich subventionierten Seitenlinien entstand so binnen kurzem ein relativ dichtes Verkehrsnetz, das den Westen mit den Industrie- und Bevölkerungszentren der Ostküste und des Mittleren Westens verband und an dessen Knotenpunkten neue Siedlungen aus dem Boden schossen. Insgesamt wuchs das amerikanische Schienennetz zwischen 1870 und der Jahrhundertwende von 53.000 auf ca. 200.000 Meilen, womit es weiterhin länger war als die Bahnlinien im Rest der Welt zusammengenommen. Eisenschienen wurden durch leistungsfähigere Stahlschienen ersetzt, und Verkehrshindernisse wie verschiedene Spurbreiten und unterschiedliche technische Standards, die zunächst noch üblich waren, konnten in den 1880er Jahren beseitigt werden. Gleichzeitig mit dem Schienenbau zog man Telegraphenleitungen, die während des Bürgerkriegs in Gebrauch gekommen waren und die nun eine blitz‐ schnelle Nachrichtenübermittlung von einem Ende der Union zum anderen zuließen. Wie der Kanal- und Eisenbahnbau seit den 1820er Jahren zur Entstehung einer Markt‐ wirtschaft zwischen Ostküste und Mississippi beigetragen hatte, so förderte diese neue „Transport- und Kommunikationsrevolution“ die Ausbreitung des Marktsystems über den gesamten Kontinent. Die Konsequenzen waren vielfältiger Art: ein Aufschwung der Eisen- und Stahlindustrie, des Kohlebergbaus und des Maschinenbaus; die Verbes‐ serung und Standardisierung der Eisenbahntechnik, die weltweit vorbildlich wurde; eine regionale wirtschaftliche Spezialisierung und Arbeitsteilung als Voraussetzung für Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 166 <?page no="167"?> den Übergang zur Massenproduktion; eine Reduzierung der Frachtkosten pro Tonne um ca. 50 Prozent von 1870 bis 1890; eine Verringerung der Reisezeit zwischen New York und Chicago um die Hälfte auf 24 Stunden; der Anstieg der Einwandererzahlen und die Beschleunigung der Siedlung im Westen durch massive Werbekampagnen und Landverkäufe der Bahngesellschaften; und ein neues Verhältnis der Menschen zu Raum und Zeit, das vom Eisenbahnfahrplan bestimmt wurde und u. a. in den 1880er Jahren zur Einteilung der USA in vier Zeitzonen führte. Außerdem nahmen die Railroad Companies, die mit neuen Methoden des Managements, der Finanzierung, des Wettbewerbs und des Verhältnisses zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft experimentierten, trotz zahlreicher Pleiten und Skandale Modellcharakter für das amerikanische big business an. Der aride Westen und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Mehr als irgendein anderer Umweltfaktor war es die große Trockenheit, die den amerikanischen Westen definierte. In seinem Werk The Great Plains hatte der Histori‐ ker Walter Prescott Webb bereits 1931 klassisch formuliert, dass die amerikanische Gesellschaft westlich des Mississippi nur „auf einem Bein“ stehe. An der Ostküste gab es Land, Wasser und Holz, im Westen wurden der Zivilisation „zwei Beine abgenommen - Wasser und Holz“. Der im Dienste der US-Regierung stehende Ethnograph John Wesley Powell hatte bereits 1878 anlässlich einer Exkursion in den Westen prophezeit, dass zwei Fünftel der Fläche der Vereinigten Staaten nur zu 3 Prozent regulär, das heißt ohne Bewässerung, bewirtschaftbar seien. Powells Einsicht widersprach jenem amerikanischen Optimismus, der in der erfolgreichen Besiedelung des Ostens eine modellhafte, über den ganzen Kontinent hinweg fortschreibbare Entwicklung sah. Entgegen den von Hollywood vorgeführten Mythen von der Tapferkeit der Cowboys waren es meist nicht feindliche Indianerstämme, sondern klimatische Bedingungen und mangelnde Erfahrung, die sich in den ersten Jahrzehnten der Viehwirtschaft fatal für Menschen und Tiere auswirkten. Neuere Studien zur Umweltgeschichte zeigen, dass es in öden und kargen Territorien, wie Hochgebirgen oder Hochebenen, strikter Gesetze oder Konventionen zur Schonung der Ressourcen bedarf. Im Gegensatz zu den Prärieindianern, die ein nomadisches Dasein führten, verfügten die aus Europa oder dem amerikanischen Osten eingewanderten Siedler nicht über die nötige Kenntnis der ökologischen Gesetze. Hunderttausende verhungerter oder erfrorener Rinder wurden zum Opfer dieser Unkenntnis. Tragisch verlief auch die Geschichte des nordamerikanischen Bisons. Für die Native Americans waren die zotteligen Tiere Nahrung, Kleidung und Obdach. Die Zerstörung der natürlichen Lebenswelt, die Einschleppung von Krankheiten wie Tuberkulose und mehrere Jahre großer Dürre hatten bereits um 1850 zu einer Dezimierung der Büffelherden geführt, die im Wettbewerb um Wasserstellen gegenüber den Mustangs meist den Kürzeren zogen. Aber zur systematischen Ausrottung des Bisons kam es erst, als an der Ostküste zunächst die Nachfrage nach Büffelmänteln und Pemmikan 4 Die Erschließung und Transformation des amerikanischen Westens 167 <?page no="168"?> (einem mit Fett und Beeren versetzten Dörrfleisch) rapide zunahm und wenig später eine neue Gerbmethode die Verwendung des billigen Büffelleders für Gurte und Treibriemen ermöglichte. Mit dem industriellen Verwendungszweck und dem Markt im Osten war das Büffelschießen rund ums Jahr ein Profitunternehmen, und mit der Ankunft der Eisenbahn im Westen wurde das Schicksal der Bisonherden - man schätzt ihren ursprünglichen Bestand auf 30 Millionen Tiere - vollends besiegelt. Von den Waggons schossen „Sportjäger“ wild und sinnlos auf die Bisons los (übrigens hatte auch William F. „Buffalo Bill“ Cody seine spektakuläre Karriere als Büffeljäger der Kansas Pacific Railroad Company begonnen). Die Eisenbahner ernährten sich von Bisonfleisch, während sie die in Salz eingelegten Zungen der Tiere - eine kulinarische Modespezialität der 1860er und 70er Jahre - en masse in die Großstädte der USA verfrachteten. Allein in Texas, Colorado und Kansas wurden zwischen 1872 und 1874 knapp viereinhalb Millionen Bisons von weißen Jägern und über eine Million von Indianern erlegt. Im Westen, wo zwischen 1864 (Nevada) und 1896 (Utah) zehn neue Staaten entstan‐ den, beschleunigte der Eisenbahnbau die Nutzung und Ausbeutung der Bodenschätze. Auf die Schatzsucher und Prospektoren der Vorkriegszeit folgten die Bergbaugesell‐ schaften, die über das nötige Kapital verfügten und Ingenieure, Arbeiter und Maschinen gezielt einsetzen konnten. Am begehrtesten waren neben Gold und Silber nun Kupfer, Zinn und Zink, die in großen Mengen im Gebiet der Rocky Mountains gefunden wurden. An dieser Mining Frontier bildete sich eine eigene Gesellschaft heraus, in deren Mittelpunkt die boom town stand, die oft innerhalb weniger Wochen von einem Dutzend auf mehrere tausend Einwohner anwuchs, fast ebenso oft aber einige Jahre später als verlassene Geisterstadt zurückblieb. Ein Beispiel ist Virginia City im Gold- und Silberbergbaugebiet von Nevada, das 1873 über ein sechsstöckiges Hotel, ein Opernhaus, vier Banken und 131 Saloons verfügte, dessen Einwohnerzahl von 20.000 aber bis 1900 wieder auf 4000 gesunken war. In solche Orte zog es Charaktere wie Wyatt Earp, Doc Holliday, James B. „Wild Bill“ Hickock, „Calamity Jane“ (Martha Jane Cannary) und „Little Annie“ Oakley, die schon zu Lebzeiten western folk heroes wurden. Das gewöhnliche Frauenschicksal im Westen - einer zunächst vorwiegend von Männern bevölkerten Region - entsprach aber weder dem Bild der Goldsucherin und Revolverheldin in Männerkleidung noch demjenigen der Saloontänzerin oder Prostituierten. Alle diese Typen waren zwar anzutreffen, doch die meisten Frauen begleiteten ihre Männer und Brüder und arbeiteten im Haushalt oder in Restaurants und Wäschereien. Mehr als die Männer kümmerten sie sich auch um das Gemeinschaftsleben, und nicht selten starteten sie Kampagnen gegen den Alkohol, die Gewalttätigkeit und andere Laster an der Frontier. Die Atmosphäre von Gewalt und Gesetzlosigkeit, die in der Anfangsphase der Besiedlung häufig herrschte, machte in den meisten Fällen schon recht bald strengeren Maßstäben Platz, denen Bürgerkomitees oder starke Einzelpersönlichkeiten Geltung verschafften. Kaum weniger wichtig als die Bodenschätze war das Holz, das zu Baumaterial, Eisenbahnschwellen, Möbeln, Papier etc. verarbeitet wurde und darüber hinaus noch Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 168 <?page no="169"?> zur Heizung diente. Die Lumber Companies im pazifischen Nordwesten nutzten den Timber and Stone Act von 1878 aus, indem sie durch Strohmänner große Waldgebiete aufkaufen ließen, die der Kongress eigentlich in 160-acres-Stücken an Siedler hatte abgeben wollen. Auf diese Weise machten sie aus dem Holzgeschäft eine lukrative In‐ dustrie, die ganze Landstriche kahlschlug. In den 1870er Jahren meldete ein preservation movement Bedenken gegen die rücksichtslose Ausbeutung der Natur durch Holz- und Bergbaugesellschaften an und forderte zum besseren Schutz des öffentlichen Landes auf. Den ersten wichtigen Erfolg konnte diese Bewegung 1872 verzeichnen, als der Kongress den 9000 Quadratkilometer großen Yellowstone National Park im Gebiet von Wyoming, Montana und Idaho einrichtete. Der steigende Fleischbedarf in den Städten und das dichtere Eisenbahnnetz bewirk‐ ten einen Aufschwung der Viehzucht, für die sich die weiten Gebiete des Westens und Südwestens besonders gut eigneten. Zu den charakteristischen Ereignissen der Nachkriegszeit gehörten die von Cowboys begleiteten Züge der Rinderherden auf den cattle trails von Texas nach Bahnknotenpunkten wie Abilene und Dodge City in Kansas, wo die Transportzüge zu den Schlachthöfen von St. Louis und Chicago starteten. Die Viehhöfe von Chicago verwerteten Anfang der 1880er Jahre bereits über siebeneinhalb Millionen Rinder und Schweine. Chicago wurde, wie es der Umwelthistoriker William Cronon nicht ohne ironische Untertöne formulierte, zur „Metropole der Natur“. Die Abhängigkeit zwischen Natur und Großstadt, Landbear‐ beitung und Fleischverarbeitung gewann im Kalkül der Fleischproduzenten eine völlig neue Dimension. Die „meatpacking industry“ - in den 1930er Jahren wurde sie zum größten Industriezweig der USA - verband Chicago sowohl aufs Engste mit den Maisfarmern westlich der Alleghenies wie mit den Ranchern des Mittleren Westens. Erstere produzierten Futter für die Schweine; letztere züchteten Rinder. Die Praxis der Rinderzüchter, ihre Tiere auf der offenen Prärie grasen zu lassen, beschwor jedoch Konflikte mit den vordringenden Farmern herauf. Als der Kongress den Ranchern Mitte der 1880er Jahre verbot, öffentliches Land einzuzäunen, kauften einige wenige Großunternehmer die verbliebenen Weidegebiete auf und brachten das Viehgeschäft unter ihre Kontrolle. Durch die Anwendung von wissenschaftlichen Methoden bei der Züchtung und Fütterung verwandelten sie das romantisch wirkende ranching in eine rationelle Rinder-Industrie. Mit der Westwanderung der Farmer, die durch den Eisenbahnbau und die billige Landvergabe gefördert wurde, löste die Landwirtschaft die Viehzucht als wichtigsten Agrarzweig ab. Manche Hoffnung fiel dem rauen und trockenen Klima zum Opfer, aber die beginnende Landflucht wurde zunächst noch durch den Zuzug neuer Siedler ausgeglichen. Auf der Grundlage des Morrill Land Grant Act von 1862 entstanden überall im Westen Colleges und Universitäten, die sich speziell der agrarischen Forschung widmeten und neue Anbaumethoden und Produkte erprobten und einführ‐ ten. Gleichzeitig verstärkte die rasch voranschreitende Mechanisierung auch in der Landwirtschaft die Tendenz zu leistungsfähigen Großunternehmen. In den 1870er Jahren operierten auf den riesigen Weizenfeldern der so genannten „Bonanza-Farmen“ 4 Die Erschließung und Transformation des amerikanischen Westens 169 <?page no="170"?> bereits Vorläufer der modernen Mähdrescher, die von bis zu dreißig Pferden gezogen wurden. Mit der Kommerzialisierung der Landwirtschaft stieg allerdings der Grad der Abhängigkeit der Farmer von den Märkten an der Ostküste und in Europa. Ein Überangebot von Agrarprodukten ließ die Preise rasch absinken, Depressionen im industriellen Sektor verminderten ohne Vorwarnung die Nachfrage, und Natur‐ katastrophen wie Dürreperioden, Insektenplagen und Wirbelstürme bildeten eine ständige Existenzbedrohung. Aufs Ganze gesehen war jedoch ein starker Anstieg der amerikanischen Agrarproduktion zu verzeichnen, was dem Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten in den Städten zugutekam. Im Unterschied zu Europa, woher die meisten Einwanderer stammten, konnten sich nun sogar Arbeiterfamilien an ganz gewöhnlichen Wochentagen Fleisch als Nahrungsmittel leisten. Die Verdrängung der Indianer Der Eisenbahnbau und die Entstehung von Millionen neuer Farmen in den Gebieten westlich des Mississippi bedeuteten das Ende für die noch existierenden eigenständigen Indianerkulturen. Farmer, Ingenieure und Bauarbeiter betrachteten die Ureinwohner als Teil der - ebenso grandiosen wie gefährlichen - Natur des Westens, die es zu zähmen und zu überwinden galt. In Washington war man hauptsächlich an der Sicherung der Verkehrsverbindungen und am Schutz der Siedler interessiert und gedachte das „Indianerproblem“ durch die Einrichtung neuer Reservate zu lösen. Ähnlich wie die Seminolen in den 1830er Jahren in Florida wichen die Indianer auf den Great Plains der weißen Übermacht nicht kampflos, sondern leisteten teil‐ weise erbitterten Widerstand. Sporadische Auseinandersetzungen während des Bür‐ gerkriegs, bei dem sich die meisten Indianer neutral verhalten hatten, gingen ab 1865 in blutige Kämpfe und regelrechte Kriege über, die 25 Jahre lang andauerten. In diesem Vierteljahrhundert wurde das Bild des Indianers geprägt, wie es uns heute noch in Wildwestfilmen und Abenteuerbüchern begegnet. Das lag sicher daran, dass der Lebensstil der Prärieindianer für die Weißen trotz seiner Bedrohlichkeit etwas Romantisches an sich hatte: Ihre Reit- und Jagdkünste in der Weite der Great Plains, ihre spitzen Zelte (tepees), ihre Trommeln und Tänze, ihr Federschmuck und ihre farbenfrohe Kleidung symbolisierten bald den Native American schlechthin. Agenten der Bundesregierung hatten Vertreter von ca. 150.000 Indianern 1868 in Fort Laramie mit Geschenken und der Zusage jährlicher Zahlungen zum Rückzug in zwei große Reservate bewegen können, die auf dem Dakota-Territorium für die nördlichen Sioux-Stämme und in Oklahoma für die südlichen Prärieindianer eingerichtet werden sollten. Hinzu kamen verstreute kleinere Schutzgebiete für die Apache, Navaho und Ute im Südwesten sowie für Bergindianer in den Rocky Mountains und Kalifornien. Diese Vereinbarungen scheiterten jedoch daran, dass einerseits Siedler und Goldsucher die Grenzen der Reservate missachteten, andererseits einzelne Indianerstämme immer wieder in ihre alten Jagdgebiete zurückzukehren versuchten. Die Folge waren ständige bewaffnete Zusammenstöße mit den Truppen der US-Armee, aus denen der Konflikt Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 170 <?page no="171"?> um die Black Hills (im heutigen South Dakota) herausragt. Als dort Anfang der 1870er Jahre Gold gefunden wurde, bemühte sich die Bundesregierung zunächst erfolglos, dieses von den Sioux als Heiligtum verehrte Gebiet zu kaufen. Dann öffnete sie es einseitig für Prospektoren und Siedler und schickte 1876 Militär zu deren Schutz. Im Gegenzug verbündeten sich die Sioux mit den nördlichen Cheyenne-Stämmen und lieferten den Bundestruppen unter der Führung der Häuptlinge Sitting Bull und Crazy Horse mehrere heftige Gefechte. Ihren größten, aber auch letzten Sieg feierten sie am 25. Juni 1876 in der Schlacht am Little Bighorn River, bei der die 250 Mann starke Kavallerieeinheit des ebenso ehrgeizigen wie unbesonnenen Colonel George A. Custer vollständig vernichtet wurde. Auf längere Sicht hatten die Indianer jedoch keine Chance gegen die regulären Truppen, die zwar nicht sehr zahlreich, dafür aber überlegen bewaffnet waren und ihre Bewegungen mit Hilfe der neuen Nachrichten- und Verkehrsverbindungen ko‐ ordinieren konnten. Präsident Grant ließ seinen Generälen William T. Sherman und Philip H. Sheridan freie Hand, die im Bürgerkrieg erfolgreich erprobte Strategie der „verbrannten Erde“ gegen die Indianerstämme anzuwenden. Sie zielte darauf ab, durch systematische Zerstörung indianischer Siedlungen, die speziell im Winter ein leichtes Ziel boten, und durch die Dezimierung der Büffelherden den Kriegern jegliche mater‐ ielle Grundlage und Motivation für die Fortsetzung ihres Widerstands zu nehmen. Stets fanden sich allerdings auch Indianer, die dem Militär als Pfadfinder (Scouts) oder einfache Soldaten Hilfsdienste leisteten. Dagegen durften die indianischen Häuptlinge und ihre Gefolgschaft nicht auf Sympathie in der weißen Bevölkerung hoffen. Vielmehr überschlug sich die Massenpresse des Ostens geradezu mit Forderungen nach einer rücksichtslosen Unterdrückung der „Rebellion“. Crazy Horse kapitulierte 1877 und wurde noch im selben Jahr - angeblich bei einem Fluchtversuch - erstochen; Sitting Bull wich zunächst nach Kanada aus, stellte sich aber 1881 den amerikanischen Behör‐ den und trat später noch in Buffalo Bills Wildwest-Shows auf. Die überlebenden Sioux wurden in Reservate umgesiedelt, die Cheyenne sogar nach Oklahoma deportiert. 150 von ihnen machten sich 1878 auf den Heimweg, fielen unterwegs aber einem Massaker zum Opfer. Einer Odyssee glich das Schicksal der Nez Percés, die in Oregon lebten. Sie versuchten, der Einweisung in ein Reservat durch einen mehrere hundert Kilometer langen Marsch über Idaho und Montana in Richtung kanadische Grenze zu entgehen. Die Armee nahm sie 1877 kurz vor dem Ziel gefangen und transportierte sie nach Oklahoma. Einige Jahre später durften sie dann jedoch auf Reservate im Nordwesten zurückkehren. Etwa zur gleichen Zeit brach die Armee auch den Widerstand der Indianer in der südlichen Prärie und im Südwesten. General Sheridan besiegte die Kiowas, Comanchen und Cheyenne 1874 / 75 im Red River War im nördlichen Texas; die 74 „Anstifter“ dieses „Aufstandes“ wurden in Reservate nach Florida deportiert. Im Südwesten zogen sich die Kämpfe gegen Navahos und Apachen bis 1886 hin, als mit Geronimo der letzte Apachen-Häuptling im Grenzgebiet zu Mexiko aufgab. Nach Gefängnisaufenthalten in Florida und Alabama starb er schließlich 1909 in einem Fort in Oklahoma. Das 4 Die Erschließung und Transformation des amerikanischen Westens 171 <?page no="172"?> traurige Ende dieser Epoche von Indianerkriegen markierten 1890 die Ereignisse am Wounded Knee Creek in South Dakota. Sie nahmen ihren Ausgang von einer religiösen Erweckungsbewegung unter den Indianern des Westens und Südwestens, deren Prophezeiungen und Rituale - speziell der „Geistertanz“ - die Siedler und selbst die Bundesregierung stark beunruhigten. Als die Sioux im Winter 1890 zu einem großen Treffen der Stämme einluden, an dem auch Sitting Bull teilnehmen sollte, verhaftete ein Armeekommando den Häuptling in North Dakota. Diese präventive Aktion endete allerdings mit dem Tod Sitting Bulls und einiger seiner Krieger. Wenig später wurde eine Gruppe von 340 Sioux, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, die auf dem Weg zu dem - inzwischen bereits abgesagten - Indianertreffen waren, am Wounded Knee Creek von Soldaten umstellt. Bei der Entwaffnung der Männer am 29. Dezember kam es zu einem Handgemenge, woraufhin die Soldaten aus Gewehren und Kanonen das Feuer eröffneten und etwa 300 wehrlose Indianer töteten. Nach diesem Massaker erlosch die Gegenwehr der Ureinwohner, und in den Reservaten breiteten sich Resignation und Apathie aus. Erst die Bürgerrechtsbewegung der 1960er und 1970er Jahre brachte „Wounded Knee“ als Symbol für die Leiden und den Widerstand der Native Americans ins Gedächtnis der Nation zurück. Das übergreifende Ziel der Indianerpolitik blieb die Assimilation, das Aufgehen der Indianer in die weiße Gesellschaft. Nach dem Bürgerkrieg hatten sich die Kirchen verstärkt dieser Umerziehungsaufgabe angenommen, doch mit ihrem Bemühen, alle „heidnischen“ Sitten und Gebräuche auszumerzen, trugen sie nur noch zur Demora‐ lisierung der Indianer bei. In den 1880er Jahren wuchs allerdings die Kritik an den Zuständen in den Reservaten und an der schon fast sprichwörtlichen Korruption des Bureau of Indian Affairs. Die Vorschläge der Reformgesellschaften, die sich nun bildeten (Women’s National Indian Rights Association; Indian Rights Association), waren am Modell der weißen Farmerfamilie orientiert, obwohl den Indianern die privatwirt‐ schaftliche Nutzung von Grund und Boden unbekannt war. Dem Drängen der Reformer nachgebend, verabschiedete der Kongress 1887 den Dawes Severalty Act, der jeder indianischen Familie, die es wünschte, 65 Hektar Farmland oder 130 Hektar Weideland aus der Reservatfläche übereignete. Der Verkaufserlös des restlichen Reservatslandes - das oft die fruchtbarsten Gebiete umfasste - sollte als Startkapital für die indianischen Farmer verwendet werden. Obwohl die Regierung auf 25 Jahre die Treuhandschaft für das zugewiesene Land übernahm, ging ein großer Teil des indianischen Grund und Bodens recht bald an Spekulanten und Betrüger verloren, die ihn mit hohem Gewinn an weiße Siedler weiterverkauften. Die ungewollten Hauptergebnisse der Reformen waren also eine beträchtliche Verkleinerung der Reservate und eine fortschreitende Verarmung der indianischen Bevölkerung. Im Oklahoma-Territorium, das ursprünglich nicht unter den Dawes Act fiel, zeitigte der unersättliche weiße „Landhunger“ ganz ähnliche Ergebnisse. 1889 kam es hier zum ersten von mehreren land rushes, bei dem sich weiße Siedler Land aneignen konnten, das man den Indianern auf verschiedene Weise abgenommen und „freigegeben“ hatte. Nach und nach wurden die Führer der „fünf zivilisierten Stämme“ dann überredet, Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 172 <?page no="173"?> die Bestimmungen des Dawes Act anzuerkennen und zusammen mit den Weißen eine Staatsverfassung zu entwerfen. Als Oklahoma 1905 in die Union aufgenommen wurde, besaßen die Native Americans nur noch einen kleinen Teil des Landes, das ihnen die Bundesregierung ursprünglich als Reservat zur Verfügung gestellt hatte. Dieser Prozess der Reduzierung der Reservate und der Verelendung ihrer Bevölkerung vollzog sich fast überall mit scheinbarer Naturgesetzlichkeit. Nur ganz wenige Stämme, hauptsächlich Pueblo-Indianer im Südwesten, lebten am Ende des Jahrhunderts noch auf dem Land ihrer Vorfahren. Die Krise nahm existenzbedrohende Ausmaße an: Der Zensus von 1890 verzeichnete in den gesamten USA noch knapp 250.000 Indianer, und bis zur nächsten Volkszählung von 1900 sank die Urbevölkerung auf unter 240.000 ab, was ihren historischen Tiefpunkt markierte. Die Native Americans hatten ihre kulturelle Identität weitgehend verloren, und ihre physische Existenz hing von den Zuwendungen der Bundesregierung und den Spenden wohltätiger Organisationen ab. Die stille Hoffnung mancher Amerikaner, das Indianerproblem werde sich bald „von selbst erledigen“, ging jedoch nicht in Erfüllung. Wider Erwarten fanden die Überleb‐ enden der Indianerkriege die Kraft, durch Anpassung an die veränderte Lage und Rückbesinnung auf alte Stammestraditionen der Gefahr einer vollständigen ethnischen Auslöschung zu entgehen. 5 Der Aufstieg der USA zur führenden Industriemacht Besonderheiten der amerikanischen Industrialisierung Der säkulare wirtschaftliche Wachstums- und Modernisierungsprozess, der die Ge‐ schichte der Vereinigten Staaten im Grunde seit ihrer Entstehung bestimmte, trat nach dem Bürgerkrieg in eine neue Phase: Im Innern wurde die Industrie zum beherrsch‐ enden Sektor, und im Weltzusammenhang rückten die USA von der Peripherie des kapitalistischen Systems allmählich näher zum Zentrum. Bereits 1851, anlässlich der ersten Weltausstellung in London, hatte es ein Kommentator im Economist für „so sicher wie die nächste Sonnenfinsternis“ gehalten, dass die USA letztlich England über‐ flügeln würden. Unter Wissenschaftlern ist immer noch umstritten, ob der Bürgerkrieg diese Entwicklung beschleunigte oder eher etwas verzögerte; im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts brach sie sich jedenfalls stürmisch Bahn. Wenn in diesem Zusammen‐ hang von einem amerikanischen „Exzeptionalismus“ gesprochen wird, dann meint das vor allem zwei generelle Trends: Erstens vollzog sich die forcierte Industrialisierung in den USA dezentraler und weniger staatlich gelenkt oder reguliert als in fast allen anderen Ländern; es entstand deshalb auch kein bürokratischer Leviathan in Gestalt eines übermächtigen Zentralstaates, der die Freiheit seiner Bürger bedrohen konnte. Zweitens gab es zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und politischer Demokratie zwar erhebliche Spannungen, aber keinen unüberwindlichen Gegensatz. Obwohl die Interessenkonflikte an Zahl und Härte zunahmen, blieb eine Spaltung der Gesellschaft 5 Der Aufstieg der USA zur führenden Industriemacht 173 <?page no="174"?> in klar unterscheidbare, sich prinzipiell bekämpfende Klassen aus. Werner Sombarts Frage aus dem Jahr 1906, warum es in den USA keinen Sozialismus gebe, wird heute in erster Linie mit dem Hinweis auf die vielfach fragmentierte, pluralistische Einwande‐ rergesellschaft der Vereinigten Staaten beantwortet. Immer noch im Gespräch ist auch der Erklärungsansatz von Sombarts Kollegen Max Weber, der einen Zusammenhang zwischen den religiös-kulturellen Sprüngen der USA und ihrer Wirtschaftsordnung postulierte. Seine 1920 veröffentlichte Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ entfaltete ähnlich weitreichende Wirkungen wie Turners Frontier-These. Gewiss spielte aber auch die amerikanische Verfassungstradition eine wichtige Rolle, die den Menschen die Überzeugung vermittelte, alle notwendigen Änderungen und Anpassungen könnten ohne revolutionäre Umwälzungen unter Berufung auf die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung und im Rahmen der 1787 / 88 geschaffenen Ordnung vorgenommen werden. Trotz gelegentlich heftiger Kritik an den Erscheinungsformen des Kapitalismus stand die Verwirklichung eines alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepts in den USA deshalb niemals ernsthaft zur Debatte. Der seit Beginn des Jahrhunderts bekannte Kreislauf von Aufschwung und Krise, Boom und Bust, setzte sich nach 1865 in noch schnellerer Folge fort. In jedem Jahrzehnt war ein mehr oder minder harter und lang anhaltender wirtschaftlicher Einbruch zu verzeichnen: 1866 / 67; 1873-1878; 1884-1887; 1893-1897. Die komplexen Ursachen solcher Konjunkturzyklen blieben selbst den gebildeten Zeitgenossen verborgen, und die Panik, mit der Unternehmer und Gläubiger auf wirtschaftliche Schwankungen reagierten, verschlimmerte regelmäßig ihre Folgen. Selbst unter heutigen Wirtschafts‐ historikern sind die relative Gewichtung und das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren noch umstritten. Es lässt sich allerdings bereits für diese Zeit eine lebhafte Wechselwirkung zwischen rein inneramerikanischen Investitions-, Produktions- und Konsumentscheidungen und den weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen - etwa im Bereich der Rohstoffpreise und der internationalen Kreditbedingungen - beobachten. Die Wirtschaftskrisen verursachten enorme soziale Härten, aber sie konnten den Wachstumstrend stets nur kurzfristig bremsen. Die Dynamik der Industrialisierung lässt sich am besten an der starken Zunahme der gesamten Arbeiterschaft (work force) und an der dramatischen Verschiebung vom Agrarzum Industriesektor ablesen: Die Zahl der Arbeitskräfte in der Industrie und anderen nichtagrarischen Berufen betrug 1870 ca. 6 Millionen (bei einer arbeitsfähigen Bevölkerung von knapp 13 Milli‐ onen); 1900 waren dagegen (bei einer auf etwa 30 Millionen Menschen gestiegenen Arbeiterschaft) schon mehr als 18 Millionen Amerikaner im industriellen Sektor tätig; 1910 zählten 37,5 Millionen Menschen zur work force, von denen mehr als zwei Drittel (25,7 Millionen) im industriellen Sektor arbeiteten. In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts zeigten alle volkswirtschaftlich relevanten Indikatoren steil nach oben: Der Wert der produzierten Güter stieg von ca. 3 Mrd. Dollar 1870 auf über 13 Mrd. Dollar 1900; das Bruttosozialprodukt verdreifachte sich zwischen 1869 und 1896; das Nationalvermögen wuchs von 1860 bis 1900 um 550 Prozent, das Pro-Kopf-Einkommen Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 174 <?page no="175"?> von 1860 bis 1890 um 150 Prozent, das Nettoeinkommen der Industriearbeiter im selben Zeitraum um 50 Prozent; die Produktivität pro Kopf und Arbeitsstunde konnte gegen Ende des Jahrhunderts im Durchschnitt jedes Jahr um ein Prozent erhöht werden; und der Wert aller Exporte kletterte von 234 Millionen Dollar 1865 auf 2,5 Mrd. Dollar 1900, wobei ab 1896 regelmäßig Exportüberschüsse erzielt wurden. An der Wende zum 20. Jahrhundert war London zwar immer noch das Handels- und Finanzzentrum der Welt; in Bezug auf die Industrieproduktion hatten die USA aber bereits Großbritannien und das - ebenfalls rasch aufstrebende - Deutsche Reich hinter sich gelassen. Aus der überwiegend agrarischen Union war eine führende Industrie- und Exportnation geworden; das traditionelle Schuldnerland USA führte nun selbst Kapital aus und war auf dem besten Weg, zum Gläubigerland zu werden. Die Bedingungsfaktoren der wirtschaftlichen Expansion Nach dem Bürgerkrieg setzte wieder starkes Bevölkerungswachstum ein, hervorge‐ rufen durch eine sehr hohe Geburtenrate in Verbindung mit der „zweiten Welle“ der Masseneinwanderung. Zwischen 1870 und 1890 schnellte die Einwohnerzahl der USA von 40 auf über 60 Millionen Einwohner empor, wobei knapp ein Drittel des Zuwachses auf das Konto der Immigration ging. Die großen Schifffahrtslinien boten immer billigere Atlantikpassagen an, und in den USA lockten wie eh und je günstiges Farmland, hohe Löhne, politische Freiheit und religiöse Toleranz. Die Freiheitsstatue des französischen Bildhauers Frédéric Auguste Bartholdy, die 1886 im Hafen von New York eingeweiht wurde, verkörperte die Hoffnung, dass die USA ein „offenes“ Land und eine Zufluchtsstätte für die Armen, Unterdrückten und Ausgestoßenen der Welt bleiben würden. Die monumentale Figur der Liberty war ein Geschenk der Französischen Republik an die USA, das die traditionelle Freundschaft der beiden Länder seit dem Unabhängigkeitskrieg bekräftigen sollte. In das Innere des Sockels der Statue wurde das Gedicht der jüdischen Einwanderin Emma Lazarus, „The New Colossus“, eingraviert: Give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free, The wretched refuse of your teeming shore, Send these, the homeless, tempest-tost to me, I lift my lamp beside the golden door! Die Depression der 1890er Jahre bewirkte dann aber einen vorübergehenden starken Rückgang der Immigration und dokumentierte damit den engen Zusammenhang zwischen Wirtschaftslage und Zuwanderung. Nativismus und Fremdenfeindlichkeit, 5 Der Aufstieg der USA zur führenden Industriemacht 175 <?page no="176"?> die im Jahrzehnt zuvor wieder aufgeflammt waren, veranlassten die Bundesregierung nun, die Kontrolle und Regulierung der Einwanderung zu übernehmen. 1891 schloss der Kongress erstmals bestimmte Gruppen wie Geisteskranke, völlig Mittellose, wegen Verbrechen oder schwerer Vergehen Vorbestrafte und Träger ansteckender Krankheiten von der Einreise aus; 1892 wurde auf Ellis Island vor dem „goldenen Tor“ nach Manhattan eine Durchgangsstation eingerichtet, die von nun an fast alle Einwanderungswilligen aus Europa passieren mussten. Abb. 12: Hester Street in New York, 1903 Im Zeitraum von 1865 bis 1890 waren die Herkunftsländer der Neuankömmlinge noch dieselben wie vor dem Krieg, aber zahlenmäßig übertrafen die Deutschen (zu denen ab 1871 auch Elsass-Lothringer und andere Minderheiten des Kaiserreichs gerechnet wurden) nun deutlich Iren, Briten und Skandinavier. Vom Beginn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ließen sich insgesamt 5,5 Millionen von ihnen in den Vereinigten Staaten nieder, die damit gut 90 Prozent aller auswanderungswilligen Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 176 <?page no="177"?> Deutschen absorbierten. Der Anteil der Frauen an der deutschen USA-Immigration lag bei erstaunlich hohen 40 Prozent. Die Deutschen siedelten vorwiegend als Farmer und Handwerker im Mittleren Westen, während die meisten Iren in den großen Städten der Ostküste als Industriearbeiter ihr Glück versuchten. Regional bedeutsam war die Immigration von Asiaten an der Westküste, wo in den großen Städten die ersten Chinatowns entstanden und wo sich die Japaner im Umkreis der Städte auf Gemüse- und Obstanbau spezialisierten. Der wichtigste ökonomische Beitrag der Immigration in dieser Phase bestand sicher darin, die Westgebiete mit Siedlern zu füllen, die sowohl Produzenten als auch Konsumenten waren, und die Industrie mit - für amerikanische Verhältnisse - billigen Arbeitskräften zu versorgen. Während 1870 nur ein Drittel aller Industriearbeiter nicht in den USA geboren war, lag der Ausländeranteil 1900 bei 60 Prozent. Die Kombination von hoher Geburtenrate und Masseneinwanderung bescherte den Vereinigten Staaten zudem eine jugendlich-dynamische Bevölkerung und förderte die Mobilität und Verstädterung: 1900 lebten bereits 40 Prozent der Amerikaner in Städten, Millionen US-Bürger wechselten nicht nur einmal, sondern mehrfach den Wohnsitz, und der Zusammenschluss von New York City mit Brooklyn, Staten Island und Teilen von Queens ließ 1898 die erste Metropole von nunmehr über 3 Millionen Einwohnern entstehen. Städte waren nicht nur Produktionszentren und Märkte, sondern sie kurbelten selbst durch die Vergabe öffentlicher Aufträge die Wirtschaft an. Durch den Bevölkerungszuwachs und die verkehrsmäßige Erschließung des Konti‐ nents kam nun erst die Tatsache voll zum Tragen, dass die USA über einen riesigen Binnenmarkt verfügten, der - anders als in Europa - nicht durch politische Grenzen und Zollschranken behindert wurde. In diesem nationalen Markt standen natürliche Ressourcen wie Land, Bodenschätze und Holz praktisch unbegrenzt zur Verfügung. So ergänzten sich beispielsweise die Kohlevorkommen in den Alleghenies auf ideale Weise mit den Eisenerzfunden im Gebiet des Lake Superior, und beides zusammen wurde zur Grundlage der Eisen- und Stahlindustrie in Pittsburgh, Cleveland und Detroit. Im Zuge der weltweiten Abkehr von der Freihandelspolitik, die sich seit den 1870er Jahren vollzog, schützten auch die USA ihre Industrien durch hohe Zölle gegen die ausländische Konkurrenz. Diese Zölle sorgten für viel innenpolitischen Zündstoff und beschworen auch erste Handelskonflikte, etwa mit dem Deutschen Reich, herauf. Sie erfüllten aber ihren Zweck, den industriellen Wachstumsprozess abzusichern und zu beschleunigen. Da die Löhne in den USA trotz der Masseneinwanderung relativ hoch blieben, ließ der Anreiz niemals nach, Arbeitskräfte durch Maschinen und neue Technologien einzusparen. Das Bemühen um wissenschaftliche Effizienz verkörperte wohl am besten Frederick W. Taylor, der als Ingenieur in einer Stahlfabrik in den 1880er Jahren begann, Arbeitsvorgänge in einzelne Bewegungen zu zerlegen und jeden Handgriff mit der Stoppuhr zu messen. Auf diesem „Taylorismus“ konnte dann die moderne Fließband- und Akkordarbeit aufbauen. Der Rationalisierungsdruck führte dazu, dass Erfindungen und organisatorische Verbesserungen schneller als in anderen Industrieländern in die 5 Der Aufstieg der USA zur führenden Industriemacht 177 <?page no="178"?> Praxis umgesetzt und verwertet wurden. Der hohe Stellenwert, den die Amerikaner dem Bildungswesen und der praxisorientierten Forschung zuerkannten, erklärt sich ebenfalls zumindest teilweise aus ökonomischen Notwendigkeiten und Zwängen. Zur Dynamik des Wachstums trugen nicht zuletzt vermehrte Investitionen aus dem Ausland und eine steigende Sparrate in den USA selbst bei. Der größte Teil des gesparten Geldes (12 Mrd. Dollar 1900 im Vergleich zu 1 Mrd. Dollar 1860) wurde nun im Industriesektor angelegt. Gleichzeitig verfeinerte sich die Technik des Investierens durch die Entstehung privater Großbanken und eines öffentlichen Kapitalmarktes an der New Yorker Börse. Das Geld- und Kreditsystem der USA blieb aber trotz der im Bürgerkrieg durchgeführten Reformen die Achillesferse der wirtschaftlichen Entwicklung. Erst 1914 wurde mit dem Federal Reserve System eine - immer noch recht dezentrale und beschränkt handlungsfähige - bundesstaatliche Kontroll- und Steuerungsinstanz eingerichtet. Wachstum und Expansion wurden schließlich durch das generelle Meinungsklima des späten 19. Jahrhunderts gefördert. Der für die USA seit langem charakteristische Fortschrittsoptimismus, den der Bürgerkrieg nur vorübergehend hatte dämpfen kön‐ nen und der auch nach Wirtschaftskrisen immer wieder schnell zurückkehrte, fand Rückhalt in modernen Evolutionstheorien, wie sie die Engländer Charles Darwin und Herbert Spencer vertraten. In den USA popularisierte vor allem der Yale-Professor William Graham Sumner „sozialdarwinistische“ Ideen von einem naturgesetzlichen Fortschrittsprozess menschlicher Gesellschaften, der durch Anpassung, Vererbung und Auslese gesteuert wird. Nach Sumner war dem Wohl der Zivilisation am besten gedient, wenn der Staat die starken, zur Machtausübung und zur Übernahme von Verantwortung befähigten Individuen gewähren ließ und ihre Rechte, speziell das Eigentumsrecht, schützte. Im Bewusstsein der Öffentlichkeit verband sich diese Phi‐ losophie mit traditionellen Vorstellungen von individueller Freiheit und begrenzter Regierung; der Gedanke, Regierungen und Parlamente hätten nicht viel mehr zu tun, als dem „freien Spiel der Kräfte“ Raum zu schaffen, diente zur Rechtfertigung des laissez faire-Kapitalismus, der sich in den USA um diese Zeit besonders vehement durchsetzte. Bis zum Bürgerkrieg hatten die Einzelstaaten das Wirtschaftsleben in ihrem jewei‐ ligen Bereich kontrolliert und reguliert. Ihr Einfluss ging aber in dem Maße zurück, wie die wirtschaftlichen Aktivitäten die Grenzen von Staaten und Regionen zu überwinden begannen. Die Bundesregierung war vorerst weder zur nationalen Wirtschaftsregulie‐ rung befähigt, noch hielt man sie für berechtigt, eine solche Aufgabe zu erfüllen. Von ihr wurde allenfalls erwartet, dass sie die Wirtschaft durch Subventionen und Zölle stimulierte und dass sie durch die Verhinderung von Monopolen für Chancengleichheit sorgte. Auf diese Weise entstand im föderativen System der USA gewissermaßen eine „staatsfreie“ Sphäre, in der die Unternehmer unbehindert von gesetzlichen Vorschriften und parlamentarischer Kontrolle schalten und walten konnten. Juristen und Richter des Supreme Court förderten diese Tendenz mit der Doktrin des dual federalism, derzufolge Bundesregierung und Staatenregierungen in getrennten Sphären operierten, zwischen denen eine breite Zone gesellschaftlicher Eigenverantwortlichkeit lag. Nur sehr lang‐ Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 178 <?page no="179"?> sam gewann die Überzeugung an Boden, dass die Bundesregierung diese „Lücke“ füllen müsse, um den Missbrauch privater Macht zu verhindern. Konzentration und Konsolidierung der Wirtschaft Während das Denken der meisten Menschen noch dem Ideal einer republikanischen Gesellschaft von Kleinproduzenten verhaftet war, vollzogen sich in der amerikanischen Wirtschaft tief greifende qualitative Veränderungen, die heute mit Begriffen wie economies of scale und corporate consolidation beschrieben werden. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstand eine big business economy, in der große Konzerne den Ton angaben und die Regeln des Wettbewerbs aufstellten. Auslöser waren die vielfach chaotischen Zustände, die infolge des (bis zur Jahrhundertwende) insgesamt sinkenden Preisni‐ veaus und des ständigen Wechsels von Überangebot und Mangel auf den Märkten herrschten. Nur große Gesellschaften (corporations) waren unter diesen Umständen in der Lage, die jeweils neuesten Maschinen anzuschaffen und sie voll auszulasten. Zugleich profitierten sie am meisten von Preisnachlässen bei Rohstoffeinkäufen und von Transportrabatten. Dieses Streben nach dem richtigen Maßstab wirtschaftlichen Handelns (economies of scale) wurde ergänzt durch das Bemühen der Unternehmer, selbst für die Stabilität und Berechenbarkeit des Marktgeschehens zu sorgen. Ein erster Schritt zur „Ordnung“ und „Konsolidierung“ des Marktes waren informelle Absprachen zwischen konkurrierenden Gesellschaften, die vor allem Produktionsquoten und Preise betrafen. Solche Kartelle (pools) erwiesen sich jedoch als extrem krisenanfällig, und sie wurden zudem 1887 vom Kongress im Rahmen des Interstate Commerce Act als Wettbewerbshindernisse verboten. Unterdessen hatten Unternehmer wie John D. Rockefeller und Gustavus Swift jedoch bereits geeignetere Organisationsformen gefunden. Sie nutzten dabei die Rechtsform des trust aus, die es erlaubte, mehrere Gesellschaften einem zentralen Management zu unterstellen. Eine Fortentwicklung des Trust stellte die Dachgesellschaft (holding company) dar, in die alle Anteilseigner der beteiligten Gesellschaften ihren Aktienbesitz einbringen konnten. Die Voraussetzung hierfür schuf das Parlament von New Jersey, als es 1888 den dort inkorporierten Gesellschaften die Genehmigung erteilte, Besitz in anderen Staaten zu erwerben. Durch Zusammenschlüsse (mergers) gelang es nun, ganze Produktionsbereiche wie etwa die Erdölverarbeitung zusammenzufassen („horizontale Integration“) oder einen Wirt‐ schaftszweig in seiner Gesamtheit von der Rohstoffgewinnung bis zur Vermarktung des Endprodukts („vertikale Integration“) zu kontrollieren. Bis zur Jahrhundertwende entstanden auf diese Weise etwa 300 große Konzerne in Form von Trusts und Holdings mit jeweils über 10 Millionen Dollar Eigenkapital. Der Eisenbahnbau brachte die ersten Wirtschaftsmagnaten oder „industriellen Raub‐ ritter“ (robber barons) wie Cornelius Vanderbilt hervor, der bis zu seinem Tode 1877 die Verkehrsverbindungen zwischen New York, den Großen Seen und dem Mittleren Westen monopolisierte. Die Krise der 1890er Jahre, in der viele Bahngesellschaften zusammenbrachen, löste einen neuen Konzentrationsschub aus. Als Sanierer sprang 5 Der Aufstieg der USA zur führenden Industriemacht 179 <?page no="180"?> der New Yorker Bankier John Pierpont Morgan ein, der sich bei der Gelegenheit maßgeblichen Einfluss auf die Unternehmenspolitik der neuen Bahngesellschaften sicherte. Das Bankhaus Morgan & Co. wurde zur Inkarnation des Machtstrebens einer Finanzelite in der New Yorker Wall Street, die über ihre Beauftragten in den Vorständen vieler Gesellschaften und durch ihre guten politischen Beziehungen das gesamte Wirtschaftsgeschehen mitbestimmte. In der Eisen- und Stahlindustrie dominierte Andrew Carnegie, der im Alter von 13 Jahren aus Schottland eingewandert war und sein erstes Geld als Hilfsarbeiter in einer Textilfabrik verdient hatte. 1901 verkaufte er seine Carnegie Steel Co. für die damals unvorstellbar hohe Summe von 492 Millionen Dollar an Morgan, der das Unternehmen mit anderen Stahlbetrieben zum ersten Milliarde-Dollar-Konzern, der United States Steel Corporation, zusammenfügte. Auch hinsichtlich der Belegschaft von 168.000 stieß US Steel in eine neue wirtschaftliche Dimension vor. Von dem Erlös, den Carnegie für sein Unternehmen erzielte, behielt er selbst 225 Millionen Dollar, der Rest ging an seine Manager. Eine ähnliche Rolle wie Carnegie in der Eisen- und Stahlbranche spielten John D. Rockefeller in der Erdölindustrie (Standard Oil of New Jersey) und Gustavus Swift in der Fleisch- und Nahrungsmittelindustrie; in der Elektrobranche legten George Westinghouse, Thomas A. Edison und Alexander G. Bell mit ihren Erfindungen das Fundament für drei mäch‐ tige Konzerne: Westinghouse Electric, General Electric und American Telephone & Telegraph. Da die Elektrizität um diese Zeit das Kerosin als Beleuchtungsmittel ablöste, schien das Erdöl an Bedeutung zu verlieren. Wenig später wurde das „schwarze Gold“ aber zum Grundstoff der chemischen Industrie, in der die hugenottische Familie Du Pont de Nemours aus Delaware den Ton angab, und zum Ausgangsprodukt von Benzin, das im beginnenden Automobilzeitalter (1903 gründete Henry Ford seine Motor Company in Detroit) höchste Bedeutung erlangte. Die Unternehmer von Vanderbilt über Morgan bis Ford handelten nach den Grund‐ sätzen von Sparsamkeit, Effizienz und zentralisiertem Management, und sie verbanden Organisationstalent und Erfindungsreichtum mit Cleverness und entschlossener, zu‐ weilen rücksichtsloser Härte im Geschäftsleben. Die patriarchalische, gewerkschafts‐ feindliche Einstellung dieser Repräsentanten der industriellen „Gründergeneration“ der USA war ebenso typisch wie ihr Wunsch, den eigenen Namen durch philanthropi‐ sches Engagement oder künstlerisch-wissenschaftliches Mäzenatentum zu verewigen. Davon zeugen noch heute u. a. die Morgan Library in New York, die Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, das Carnegie Endowment for International Peace, die Rockefeller Foundation und die Ford Foundation. Der ökonomische Konzentrationsprozess und die Monopolbildung in den verschie‐ denen Branchen riefen wachsende öffentliche Kritik hervor. Auf diese Stimmung reagierte der Kongress mit dem Interstate Commerce Act, der erstmals eine unab‐ hängige staatliche Aufsichtsbehörde, die Interstate Commerce Commission, für das Verkehrswesen schuf. Drei Jahre später, 1890, folgte der Sherman Antitrust Act, der aber schon im Gesetzgebungsverfahren verwässert wurde. Wenn die Gerichte seine Bestimmungen anwendeten, dann paradoxerweise viel seltener gegen Konzerne als Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 180 <?page no="181"?> gegen Gewerkschaften, deren Streiks sie als illegale Behinderung der Wirtschafts- und Handelsfreiheit im Sinne des Gesetzes betrachteten. Einen neuen Anlauf zur Kontrolle der von vielen Amerikanern als schier grenzenlos und bedrohlich empfundenen Unternehmermacht wagte der Kongress erst nach der Jahrhundertwende im Zeichen der progressiven Reformbewegung. Aus der Rückschau betrachtet, waren die Befürch‐ tungen der Konzern-Gegner wenn nicht unbegründet, so doch stark übertrieben, denn in einer Wirtschaft, die sich ständig im Umbruch befand, konnten selbst die erfolgreichsten Unternehmer Konkurrenz und Wettbewerb nicht auf Dauer ausschal‐ ten. Ihre illusorische Jagd nach Monopolstellungen trieb einen Konzentrationsprozess voran, der keineswegs nur Nachteile hatte, sondern auch für mehr Ordnung in den Marktbeziehungen sorgte und die Leistungsfähigkeit der amerikanischen Industrie insgesamt erhöhte. Im Bereich von Wissenschaft und Bildung fanden die USA nach dem Bürgerkrieg Anschluss an den europäischen Standard, der um diese Zeit mehr und mehr von den deutschen Universitäten bestimmt wurde. Der interkulturelle Austausch zwischen den USA und Deutschland hatte schon am Ende der napoleonischen Kriege eingesetzt, als - beginnend mit George Ticknor, Edward Everett, Joseph Cogswell und George Bancroft - eine wachsende Zahl von Amerikanern an den Universitäten von Berlin, Göttingen, München, Leipzig, Heidelberg, Halle und Bonn studierte. Die Gründung der University of Michigan in Ann Arbor durch Henry Philipp Tappan markierte 1852 den ersten Versuch, das höhere amerikanische Bildungswesen im Sinne deutscher Ideale der akademischen Lehr- und Lernfreiheit und der Einheit von Forschung und Lehre umzuformen. Weitere Bemühungen folgten, als der Kongress im Krieg durch den Morrill Act die Errichtung von einzelstaatlichen Universitäten erleichterte und als industrielle Geldgeber im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs, den der Nordosten und der Mittlere Westen nach dem Sieg der Union erlebten, öffentliche und private Bildungseinrichtungen förderten. Während bis dahin die Vorbereitung auf den Beruf im Zentrum der Bestrebungen amerikanischer Colleges und Universitäten gestanden hatte, wurden nun die wissenschaftliche Forschung und die Persönlichkeitsbildung als höchste Ziele proklamiert. Das galt auch für die Hochschulen, die Frauen aufnahmen oder sich auf die akademische Ausbildung von Studentinnen spezialisierten wie die zur Gruppe der Seven Sisters gehörenden Radcliffe, Smith, Vassar und Bryn Mawr Colleges. Am ausgeprägtesten war der deutsche Einfluss an der New Yorker Cornell University, an der Johns Hopkins University in Baltimore und an der University of Chicago, deren Graduiertenseminare neue Maßstäbe für das Studium in den USA setzten. Das traf auf die Naturwissenschaften ebenso zu wie auf die Geisteswissenschaften: So bildete etwa der Historiker Herbert B. Adams, der in Heidelberg promoviert worden war, an der Johns Hopkins University eine ganze Generation amerikanischer Geschichtsforscher aus und gehörte darüber hinaus zu den Mitbegründern der American Historical Asso‐ ciation. An allen drei Universitäten lehrten auch deutsche Professoren, die ihrerseits halfen, zusätzliche Kontakte zwischen Studenten und Dozenten diesseits und jenseits des Atlantiks zu knüpfen. Aufs Ganze gesehen erfolgte im letzten Drittel des 19. Jahr‐ 5 Der Aufstieg der USA zur führenden Industriemacht 181 <?page no="182"?> hunderts in den Vereinigten Staaten keine kritiklose Übernahme, sondern eine kreative Anverwandlung des auf Wilhelm von Humboldt zurückgehenden deutschen Univer‐ sitätsmodells an die amerikanischen Verhältnisse, die sich durch das Vorherrschen des demokratischen Geistes und durch das Frontier-Erlebnis doch erheblich von denen im gerade geeinten Deutschen Kaiserreich unterschieden. Zweifellos wurden in diesen Jahrzehnten die Grundlagen für die Spitzenstellung geschaffen, die amerikanische Universitäten im 20. Jahrhundert in nahezu allen Wissensbereichen eroberten. 6 Parteipolitik und soziale Konflikte im Gilded Age Parteimaschinen und „congressional government“ Der Schriftsteller Mark Twain gab der Nachkriegsepoche ihren Namen, als er vom „vergoldeten Zeitalter“ (gilded age) sprach, hinter dessen glänzender Fassade die geistig-moralischen Sitten verfielen und sich soziales Elend ausbreitete. Zu diesem negativen Image hatte Präsident Ulysses S. Grant nicht wenig beigetragen, in dessen Amtszeit von 1869 bis 1877 die enge Verflechtung von politischen und wirtschaftlichen Interessen und die Bereicherungssucht hoher Regierungsbeamter durch mehrere Skandale offenkundig geworden waren. Die Demokraten nutzten diese Blößen zu einem Propagandafeldzug gegen Korruption und Sonderprivilegien (special privileges), der ihr Ansehen in der Wählergunst wieder steigen ließ. Auch in der Republikanischen Partei selbst begann es zu gären, wie die vorübergehende Abspaltung der Liberal Republicans im Jahr 1872 zeigte. Korruption und Manipulation waren sicherlich verbreitet, aber bei näherer Betrachtung entzieht sich das politische Leben im Gilded Age doch jeder pauschalen Kritik oder einfachen Schematisierung. Aus heutiger Sicht und im internationalen Vergleich des späten 19. Jahrhunderts ist sein hervorstechendes Merkmal der intensive politische Wettbewerb auf allen Ebenen von der Gemeinde bis zum Kongress. Politik wurde außerordentlich ernst genommen: Man versprach sich von ihr persönliches Fortkommen ebenso wie eine Lösung der großen nationalen Probleme; die meisten Bürger identifizierten sich stark mit einer der beiden großen Parteien und hielten ihr gewöhnlich über Jahrzehnte hinweg die Treue. Darüber hinaus nahm Politik vollends den Charakter eines Massenvergnügens an, dessen Unterhaltungswert von den inzwischen allgegenwärtigen Zeitungen noch gesteigert wurde. Die durchschnittliche Beteiligung an Präsidentschaftswahlen lag in dieser Zeit bei 78,5 Prozent der wahlberechtigten Amerikaner - ein Politisierungsgrad, der seither nicht mehr erreicht wurde. Wahlen waren aber nur der letzte Akt eines aufwändigen Verfahrens, zu dem Paraden, von den Kandidaten veranstaltete Feste, öffentliche Rededuelle und Parteikonvente gehörten, und die von Propagandakampagnen mit Flugblättern, Broschüren, Kandidatenporträts, Slogans und Anstecknadeln (campaign buttons) begleitet wurden. All dies geschah ohne feste, dauerhafte Parteiorganisatio‐ nen, ohne eine stabile staatliche Bürokratie und mit einem Minimum an verbindlichen Regeln. Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 182 <?page no="183"?> Für ein gewisses Maß an Ordnung in diesem Chaos sorgten die städtischen und einzelstaatlichen „Parteimaschinen“, deren wichtigste Aufgabe darin bestand, bei den Wahlen die nötigen Stimmen zu mobilisieren. Die „Bosse“ und „Manager“ dieser Maschinen gehörten zu den Ersten, die Politik zu ihrem Hauptberuf machten. Wenn sie erst einmal die Stadtverwaltung oder die Staatsregierung unter ihre Kontrolle gebracht hatten, konnten sie politische und finanzielle Unterstützung mit der Vergabe von Pos‐ ten, öffentlichen Aufträgen und Geschäftslizenzen honorieren. Von ihrem Wohlwollen hing es dann auch ab, ob illegale Aktivitäten wie Wettbüros und Bordelle geduldet wurden oder nicht. Hieraus entstanden Netzwerke von gegenseitigen Abhängigkeiten und regelrechte Patronagesysteme, als deren typisches Beispiel stets Tammany Hall, die demokratische Parteiorganisation in New York City, genannt wird. Auch hier müssen die zweifellos berechtigten Vorwürfe von Korruption und Vetternwirtschaft abgewogen werden gegen nützliche Leistungen für die Allgemeinheit, die Bosse und Parteimaschinen in einer Zeit erbrachten, in der es keine professionelle Verwaltung mit Fachleuten für Probleme wie Wohnungsbau, Verkehr, Wasser- und Stromversorgung, Abfallbeseitigung etc. gab. Auf lokaler Ebene agierten die Bosse oft als Vermittler zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen, ethnischen und religiösen Interessen‐ gruppen, und in Washington sorgten die Repräsentanten der state party machines als Senatoren oder Abgeordnete dafür, dass die Anliegen ihrer Staaten berücksichtigt wurden. Trotz gelegentlicher Herausforderungen durch „dritte“ Parteien blieb das Zweipar‐ teien-System bis in die 1890er Jahre hinein stabil. Die Republikaner standen dem big business näher als die Demokraten, doch ihre Massenbasis fanden sie in den protestantischen städtischen Mittelschichten und bei den Farmern des Mittleren Westens. Sie galten weiterhin als die Partei der „moralischen Reform“, bei der alle Gruppen Anschluss suchten, die christlich-evangelikale Grundsätze vertraten und den strikten Verhaltenskodex der White Anglo-Saxon Protestants (WASPs) verbindlich machen wollten. Die Demokraten stützten sich dagegen auf den „soliden Süden“ und warben erfolgreich um die Gunst der überwiegend katholischen Neueinwanderer in den großen Städten des Nordostens. Der Arbeiterschaft gegenüber gaben sie sich toleranter als die Republikaner, indem sie moralisierende Belehrungen vermieden und die kulturelle Bevormundung durch das protestantische Establishment ablehnten. Das politische Kräfteverhältnis war von 1876 bis 1896 sehr ausgewogen: Während die Republikaner bis auf zwei Ausnahmen (Grover Cleveland 1884 und 1892) das Weiße Haus eroberten, beherrschten die Demokraten das Repräsentantenhaus in sieben von zehn Wahlperioden. Die Präsidenten, die meist auf Grund ihrer Verdienste im Bürgerkrieg nominiert worden waren und deren Namen - Rutherford Hayes, James Garfield, Chester Arthur, Benjamin Harrison - rasch in Vergessenheit gerieten, standen ganz im Schatten des selbstbewussten Kongresses. Als Konsequenz des „Beutesystems“ der Postenvergabe wurde ein großer Teil ihrer Arbeitskraft von der Ämterpatronage in Anspruch genommen, zumal die Zahl der Regierungsangestellten zwischen 1860 und 1900 von etwa 36.000 auf über 200.000 anstieg. Für James Garfield hatte diese Praxis 6 Parteipolitik und soziale Konflikte im Gilded Age 183 <?page no="184"?> fatale Folgen, als sich 1881, ein Jahr nach seiner Wahl, ein übergangener Bewerber mit tödlichen Schüssen an ihm rächte. Die Bereitschaft der Präsidenten, sich mit der Rolle eines Ausführungsorgans abzufinden, führte dazu, dass man vom congressional government sprach. Der spätere Präsident Woodrow Wilson wollte aus der Not sogar eine Tugend machen und empfahl eine Anpassung des amerikanischen Verfassungssystems an die parlamen‐ tarische Regierungsweise Großbritanniens. Da die Tätigkeit des Präsidenten selten über Routine hinausgehe, schrieb er in seiner 1885 veröffentlichten Dissertation Congressional Government, könne man das Präsidentenamt ohne weiteres zu einem reinen Verwaltungsposten und seine Inhaber zu Beamten auf Zeit reduzieren. Der gelehrte Schotte James Bryce, der die USA mehrfach besuchte und dessen Buch American Commonwealth (1888) umgehend mit Tocquevilles Klassiker Democracy in America verglichen wurde, gelangte zu einem ähnlichen Urteil. Potenziell besaß das Präsidentenamt seiner Meinung nach zwar eine große Autorität, doch tatsächlich waren die Männer im Weißen Haus - zumindest in Friedenszeiten - eher Geschöpfe ihrer Parteien und Gefangene der mechanischen Regierungsabläufe. Sie konnten keine langfristigen politischen Konzepte entwickeln und nahmen weniger Einfluss auf die Gesetzgebung als die Sprecher des Repräsentantenhauses. Tatsächlich blieb die Schwäche der Präsidentschaft aber eine vorübergehende Erscheinung, die auch damit zu tun hatte, dass sich die Aktivitäten der Bundesregierung insgesamt - trotz des bürokratischen Wachstumsschubes seit 1860 - noch in engen Grenzen hielten. Dazu trug das prekäre regionale Gleichgewicht zwischen Norden und Süden ebenso bei wie die Tendenz des Supreme Court, die Befugnisse des Kongresses eng auszulegen. Die Mehrheit der Richter sah es in dieser Periode als ihre Hauptaufgabe an, das Recht auf Eigentum, das im 5. und 14. Amendment garantiert war, gegen staatliche Eingriffe zu verteidigen. Indem sie auch Aktiengesellschaften den Status von „Personen“ zuerkannten, die Grundrechtsschutz beanspruchen konnten, förderten sie die Tendenz zum laissez faire-Kapitalismus. Wirtschaftsregulierungen ließen sie nur zu, wenn die Zuständigkeit des Kongresses eindeutig war (wie im Bereich des staatenübergreifenden Verkehrs) oder wenn die Parlamente der Einzelstaaten auf Grund ihrer Zuständigkeit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (state police power) aktiv wurden. So blieb etwa ein Gesetz des Staates Illinois unbeanstandet, das den Besitzern von Getreidespeichern vorschrieb, zu welchem Preis sie Getreide ankaufen durften (Munn v. Illinois, 1877). Generell verstand sich das Oberste Gericht, dessen Mitglieder ihre prägenden Erfahrungen zumeist in der Zeit vor dem Bürgerkrieg gesammelt hatten, weiterhin als Verteidiger der bürgerlichen Freiheiten gegen eine übermächtige Staatsgewalt. In der Wirklichkeit des Gilded Age ging die eigentliche Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität aber nicht vom Staat aus, sondern von der wachsenden Übermacht privater Wirtschaftsinteressen. Die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft, dem Faktum des raschen ökonomischen und sozialen Wandels im Zuge der Industrialisierung intellektuell Rechnung zu tragen, teilten die Richter allerdings mit weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung. Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 184 <?page no="185"?> Eine Reihe potenziell wichtiger staatlicher Aufgaben wie die Regelung der Ras‐ senbeziehungen oder die soziale Absicherung der Unterschichten (die Bismarck im Deutschen Reich um diese Zeit mit der Sozialversicherungsgesetzgebung einleitete) konnte die amerikanische Bundesregierung also entweder verfassungsrechtlich nicht erfüllen oder nahm sie aus politisch-ideologischen Gründen gar nicht erst in Angriff. Während der deutsche Ansatz eine Verhinderung der Armut durch bürokratischen Versicherungszwang und Sparkassenwesen beabsichtigte und damit auf die Prinzipien der modernen Sozialstaatlichkeit vorauswies, behielten die USA (abgesehen von den bundesstaatlichen Zuwendungen an Veteranen der Unionsarmee und ledige Mütter) einen dezentralen Kurs bei, der auf das Assoziations- und Vereinswesen sowie die einzelstaatliche und gemeindliche Fürsorge und Selbsthilfe vertraute. In anderen Berei‐ chen, etwa bei der Beamtenreform und beim Kampf gegen Wettbewerbseinschränkun‐ gen, begnügte sich der Kongress mit halbherzigen, wenig effektiven Maßnahmen. Die beherrschenden, am heftigsten umstrittenen nationalen Themen waren unter diesen Umständen die Zollgesetzgebung sowie die Währungs- und Finanzpolitik. In der Zoll‐ frage setzten sich im Wesentlichen die Republikaner durch, die für hohe Einfuhrzölle zum Schutz der heimischen Industrie plädierten. Vom Anstieg der Zolltarife profitierten die Unternehmer im Norden und Westen zweifellos mehr als die Farmer und Pflanzer des Südens, die zur Klientel der Demokratischen Partei zählten. Finanziell befanden sich die USA eigentlich in einer ausgezeichneten Situation, denn die Ausgaben des Bundes waren niedrig (am meisten wurde noch für Bürgerkriegspensionen aufgewendet), und die Zölle brachten so viel Geld in die Staatskasse, dass sich in den meisten Jahren ein Haushaltsüberschuss ergab, mit dem die Kriegsschulden abgezahlt werden konnten. Erhebliche Probleme bereitete aber der weltweite kontinuierliche Rückgang der Erzeugerpreise für Rohstoffe und Industrieprodukte, der eine Deflationsspirale in Gang setzte. Die wachsende Geldknappheit, die der ländlichen Bevölkerung besonders schwer zu schaffen machte, löste Forderungen aus, die USA sollten sich von dem 1873 eingeführten internationalen Goldstandard lösen und Silber wieder als Währungsre‐ serve anerkennen. Bei den Demokraten stieß dieses Verlangen nach einer Inflationsbzw. Anti-Deflationspolitik auf größeres Verständnis als bei den Republikanern, die den Preisrückgang durch Überproduktion verursacht sahen und den Goldstandard verteidigten. Der Kongress behalf sich zunächst mit Kompromissmaßnahmen, die den Geldumlauf erhöhen sollten, ohne den Goldstandard aufzuweichen. In der Krise der 1890er Jahre griff der Streit zwischen Gold- und Silberbefürwortern dann vom Kongress auf die breite Öffentlichkeit über und wurde zum alles beherrschenden Wahlkampfthema. Soziale Ausgrenzung und rechtliche Diskriminierung der Afroamerikaner in den Südstaaten Große Teile des öffentlichen Lebens spielten sich im Gilded Age außerhalb der Sphäre der Bundesregierung in den Einzelstaaten und Gemeinden oder gewissermaßen im 6 Parteipolitik und soziale Konflikte im Gilded Age 185 <?page no="186"?> „staatsfreien Raum“ des dual federalism ab. Der Rassenkonflikt im Süden, der Kampf ums Frauenwahlrecht und für Temperenz, der Zusammenprall der Interessen von Unternehmern und Arbeitern und der agrarische Protest der Populisten fanden in der Hauptstadt Washington verhältnismäßig wenig Widerhall. Diese sozialen Konflikte und Bewegungen berührten das Schicksal von Millionen Amerikanern aber oft weit unmittelbarer als so manche Entscheidung, die auf dem Capitol Hill oder im Weißen Haus getroffen wurde. Zwischen 1860 und 1890 verdoppelte sich die Zahl der Afroamerikaner von 4,4 auf 8,8 Millionen, wobei der Anteil an der Gesamtbevölkerung allerdings um 3 auf 13 Pro‐ zent abnahm. Die weit überwiegende Zahl der Schwarzen lebte nach wie vor im Süden, und hier verschlechterte sich ihre Situation nach den Anfangserfolgen von Emanzipa‐ tion und Rekonstruktion rapide. Die Gründe für das Ausbleiben einer wirklich tief greifenden Neuordnung der Rassenbeziehungen waren vielfältiger Art. Ökonomisch erlebte der Süden nach dem Krieg keinen Aufschwung, sondern verharrte - vor allem wegen der fallenden Weltmarktpreise für Baumwolle - in einer Dauerkrise. Die Sklavenarbeit auf den Plantagen wurde durch Pachtverhältnisse, hauptsächlich jedoch durch das System des sharecropping ersetzt. Im Unterschied zu den Pächtern (tenants), denen zumeist Farmgebäude, Vieh und die Werkzeuge selbst gehörten, verfügten die sharecroppers über keinerlei Besitz, sondern lebten auf dem Grund und Boden des Pflanzers und erhielten für ihre Arbeit einen Teil (share) der Ernte. Da das Geld aus dem Verkauf der Baumwolle jedoch selten ausreichte, den Lebensunterhalt der Familien zu bestreiten, waren die sharecroppers, aber auch die meisten Pächter bald hoffnungslos verschuldet. Auf diese Weise gerieten sie in eine Abhängigkeit von den Plantagenbesitzern, Kaufleuten und Kreditgebern, die dem Sklavenstatus schon wieder nahekam. Die Tatsache, dass auch viele Pflanzer in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckten, erhöhte nur noch den Druck auf viele Schwarze, für geringeres Entgelt mehr zu arbeiten. Die ökonomische Knebelung der ehemaligen Sklaven wurde nach dem Abzug der letzten Bundestruppen aus dem Süden durch eine politische und soziale Entrechtung verschärft, die weiße Rassisten als die „Erlösung des Südens“ (Redemption of the South) propagierten und feierten. Hauptziele waren dabei die Beseitigung des Wahlrechts für Schwarze und die möglichst vollständige Trennung der Rassen. Da Terror und Einschüchterung offensichtlich nicht ausreichten, um Afroamerikaner von den Wahl‐ urnen fern zu halten, führte man nun verstärkt gesetzliche und verfassungsmäßige Restriktionen ein. Georgia beschloss 1877 eine Kopfsteuer (poll tax) für Wähler, die sich hauptsächlich gegen Afroamerikaner richtete und bald von allen anderen Südstaaten kopiert wurde. Als die Not in der Landwirtschaft Ende der 1880er Jahre eine Solida‐ risierung von armen Weißen und Schwarzen möglich erscheinen ließ, änderten die Staaten - ausgehend von Mississippi - sogar ihre Verfassungen, um Afroamerikaner vollends vom politischen Leben auszuschließen. Die neuen Bestimmungen, wonach nur derjenige wählen durfte, der seine Lese- und Schreibfähigkeit in einem literacy test nachwies oder die Bestimmungen der Verfassung „richtig“ erklärte, machten die Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 186 <?page no="187"?> Stimmabgabe für Schwarze praktisch unmöglich. Parallel dazu wurden die inoffiziellen, „unsichtbaren“ Rassenschranken durch eine Flut von Staatengesetzen und lokalen Verwaltungsordnungen zum formalen System der „Segregation“ ausgebaut. Nach einer populären Unterhaltungsfigur der minstrel-Shows, in denen seit den 1830er Jahren weiße Schauspieler mit schwarz angemalten Gesichtern (blackface) afroamerikanische Charaktere in stereotyper Weise darstellten, nannte man diese Vorschriften Jim Crow laws. Sie verbannten Schwarze aus Parks, Theatern, Hotels, Gaststätten etc., benachteiligten sie in öffentlichen Verkehrsmitteln und wiesen ihnen separate Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse und Friedhöfe zu. Vor Gericht war es mancherorts sogar verboten, dass weiße und schwarze Zeugen bei der Eidesleistung dieselbe Bibel benutzten. Die systematische Diskriminierung der Schwarzen führte am Ende dazu, dass die Afroamerikaner neue, eigene Institutionen innerhalb der US-Gesellschaft schufen. Der Supreme Court trug durch eine einseitige Verfassungsauslegung dazu bei, dass die Emanzipation für die meisten Schwarzen ein leeres Versprechen blieb. Die Richter stellten sich auf den Standpunkt, dass der Kongress nur für die formalrechtliche Gleich‐ heit zuständig sei, die Frage der sozialen Gleichstellung dagegen den Einzelstaaten überlassen bleiben müsse. Im Fall Plessy v. Ferguson ging der Supreme Court 1896 noch einen Schritt weiter, indem er die Rassentrennung für rechtmäßig erklärte, wenn die Behörden Schwarzen und Weißen „gleichwertige“ Einrichtungen zur Verfügung stellten. Diese separate but equal-Doktrin bezog sich zunächst nur auf das öffentliche Verkehrswesen, diente bald aber generell zur Rechtfertigung der Segregation. Die tiefere Ursache für die Ausgrenzung des schwarzen Bevölkerungsteils lag in dem tief verwurzelten weißen Rassismus, der schon Jefferson und später auch Lincoln an der Möglichkeit eines dauerhaften friedlichen Nebeneinanders hatte zweifeln lassen. Die Überzeugung vieler Weißer, die schwarze Rasse sei „minderwertig“ und für eine „hö‐ here“ Zivilisation ungeeignet, wurde nun durch pseudowissenschaftliche Argumente noch bestärkt. So wendete beispielsweise der Harvard-Historiker Louis Agassiz die von Charles Darwin entwickelte Artenlehre auf die Menschheitsgeschichte an und behauptete, die „Negro race“ habe nie eine eigenständige Regierungsorganisation hervorgebracht. Das entsprach den Bemühungen von Joseph de Gobineau und Hous‐ ton Steward Chamberlain, den europäischen Rassismus und Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf eine „wissenschaftliche“ Grundlage zu stellen. In den USA blieb die Opposition gegen eine politische und soziale Gleichstellung der Afroamerikaner denn auch keineswegs auf den Süden beschränkt. Im Norden gestanden nur sieben Staaten ihren schwarzen Bürgern das volle Wahlrecht zu, und in der Mehrzahl der Staaten galt ein Verbot der Mischehe. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass die nationale Aussöhnung nach Bürgerkrieg und Rekonstruktion auf dem Rücken der Afroamerikaner erfolgte. Die gemeinsam gehegten Vorurteile und Antipathien gegen Afroamerikaner erleichterten es den Weißen in Nord und Süd, gegen Ende des Jahrhunderts die bitteren Erinnerungen hinter den Wunsch nach Versöhnung und nationaler Harmonie zurücktreten zu lassen. Im Laufe der 1880er 6 Parteipolitik und soziale Konflikte im Gilded Age 187 <?page no="188"?> Jahre verloren die Bürgerkriegskontroversen an Bedeutung, und gleichzeitig machte sich ein intensiveres amerikanisches Nationalgefühl bemerkbar. Parallel dazu breitete sich in intellektuellen Kreisen des Nordens ein Geist der Versöhnung aus, der in der Romantisierung des Südens und der Verharmlosung der Sklaverei durch Literaten und Historiker gipfelte. Von den Zeitgenossen kaum beachtet blieben dagegen die Anfänge der afroamerikanischen Geschichtsschreibung, darunter die erste umfassende und wegweisende Geschichte der Afroamerikaner The History of the Negro Race in America 1619-1880, die George Washington Williams im Jahr 1882 publizierte. Frauen im öffentlichen Leben Die „Maschinen“-Politik und das raue politische Klima des Gilded Age waren der Frauenemanzipation keineswegs förderlich. Allerdings schuf die Vernachlässigung des sozialen Sektors durch Parlamente und Regierungen ein großes Betätigungsfeld für aktive Frauen, die sich der evangelikalen Reformtradition verpflichtet fühlten. Die 1848 gegründete Frauenbewegung hatte sich nach dem Bürgerkrieg über der Wahlrechtsfrage gespalten: Ein aktivistischer Flügel unter Elizabeth Cady Stanton und Susan B. Anthony ging aus Enttäuschung über die Republikaner, die es versäumt hatten, das Frauenwahlrecht im 14. und 15. Amendment zu verankern, auf Distanz zu beiden großen Parteien und formulierte ein unabhängiges Programm. Als National Woman Suffrage Association trat diese Gruppe für einen weiteren Verfassungszusatz ein, der das Frauenwahlrecht garantieren sollte. Um stärkeren Druck auf Parlamente und Regierungen ausüben zu können, organisierten ihre Mitglieder überall in den USA lokale suffrage societies. Der andere Flügel, die American Woman Suffrage Association, die von dem Anwalt Henry Blackwell und der Publizistin Lucy Stone angeführt wurde, unterstützte die Wahlrechtsforderung im Prinzip, steuerte das Ziel aber in enger Zusammenarbeit mit der Republikanischen Partei und ehemaligen Abolitionisten über Referenda in den Einzelstaaten an. Diese Konkurrenz zweier Organisationen machte es nicht leichter, praktische Fortschritte zu erzielen, zumal das Verlangen nach politischer Mitsprache von Frauen noch auf verbreitetes Unverständnis stieß und gelegentlich sogar heftige männliche Gegenreaktionen provozierte. 1890 entstand zwar ein neuer Dachverband, die National American Woman Suffrage Association (NAWSA), aber bis 1896 hatten nur vier westliche Staaten - Wyoming, Utah, Colo‐ rado und Idaho - das Frauenwahlrecht eingeführt, während die Frauen anderswo allenfalls auf lokaler Ebene wählen durften. Die Fortschrittlichkeit des Westens ist zum einen darauf zurückzuführen, dass Frauen an der Frontier viele Tätigkeiten ausüben mussten, die normalerweise Männern vorbehalten blieben; zum anderen ließ es der Männerüberschuss im Westen geraten erscheinen, siedlungswilligen Frauen „Privilegien“ wie das Wahlrecht in Aussicht zu stellen. Dort, wie in anderen Teilen der USA, beteiligten sich auch Einwanderinnen aus dem deutschsprachigen Raum, Polen und Irland an den Frauenrechtsaktivitäten, die insgesamt stark von wohlhabenden weißen Frauen und Arbeiterinnen dominiert wurden. Diese bildeten teilweise eigene Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 188 <?page no="189"?> Organisationen, um in ihre ethnischen Gemeinden hinweinzuwirken. Letzeres gilt auch für afroamerikanische Frauen, die sich jenseits von NAWSA vor allem in der National Association for Colored Women engangierten. Zur größten und einflussreichsten Frauenorganisation in dieser Zeit stieg die Women’s Christian Temperance Union (WCTU) auf, die Mitte der 1870er Jahre aus spontanen Aktionen von Frauen gegen Bars und Saloons in Ohio hervorgegangen war und 1890 unionsweit schon 150.000 Mitglieder zählte. Unter der Führung von Frances Willard nahm die WCTU nicht nur den Anti-Alkohol-Feldzug der Temperance Societies aus den 1840er und 1850er Jahren wieder auf, sondern wandte sich auch den Problemen des Sozial- und Gesundheitswesens, der Bildung und Erziehung, der öffentlichen Moral und des internationalen Friedens zu. Einerseits akzeptierten ihre Mitglieder die Doktrin der „separaten Sphären“, derzufolge Männer und Frauen unterschiedlicher Natur waren und Frauen eine besondere Eignung für geistig-moralische Aufgaben hatten. Andererseits verstanden sie die „weibliche Sphäre“ so umfassend, dass kaum ein Bereich des öffentlichen Lebens ausgespart blieb. Willard forderte denn auch das Wahlrecht für Frauen, allerdings nicht, wie die Suffragetten, als „natürliches Recht“ im Sinne der Unabhängigkeitserklärung, sondern als Voraussetzung dafür, dass die Frauen ihrer spezifischen Verantwortung in der Industriegesellschaft gerecht werden konnten. Aus dem sozialen Engagement erwuchs also ein Anspruch der Frauen auf Mitsprache in gesellschaftlich relevanten Fragen. Das machte die Stärke der Frauenbewegung mit ihren vielfältigen Organisationen aus, die der amerikanischen politischen Kultur im 20. Jahrhundert eine ganz besondere Prägung verlieh. Gewerkschaften und Arbeiterbewegung Von den negativen Begleiterscheinungen der Industrialisierung, insbesondere von den Konjunktureinbrüchen, war die Masse der Arbeiter und Farmer am härtesten betroffen. In ihren Reihen formierte sich deshalb auch der stärkste Widerstand gegen eine Entwicklung, die bewirkte, dass politische Macht und gesellschaftlicher Wohlstand immer einseitiger verteilt wurden. Ohne hinreichenden sozialen und rechtlichen Schutz sahen sich die amerikanischen Arbeiter im Gilded Age nicht nur der Willkür der Unternehmer ausgeliefert, sondern gerieten auch unter psychologischen Druck und liefen Gefahr, ihr Selbstwertgefühl zu verlieren. Mentalitätsmäßig wurzelten viele noch im Handwerker-Republikanismus des frühen 19. Jahrhunderts: Sie verstanden sich als Produzenten, denen ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zukam, deren Tätigkeit „wertvoll“ war und die für ihre Arbeit einen „gerechten“ Preis fordern durften. All dies wurde in Frage gestellt durch den Einsatz von Maschinen und die Disziplinierung der Belegschaften in den Fabriken, durch Massenproduktion, Spezialisierung und Akkordarbeit. Menschen drohten in diesem Räderwerk zu Ersatzteilen zu werden, die man beliebig austauschen oder auch ganz beiseiteschieben konnte. In dem auf individuellen Wettbewerb ausgerichteten sozialen Klima des Gilded Age fiel es den Arbeiterinnen und Arbeitern sehr schwer, organisierte Interessenvertretun‐ 6 Parteipolitik und soziale Konflikte im Gilded Age 189 <?page no="190"?> gen aufzubauen. Ein erster überregionaler Zusammenschluss von craft unions, die 1866 gegründete National Labor Union, ging in der Wirtschaftskrise der 1870er Jahre unter. Erfolgreicher waren die Knights of Labor, die aus geheimbundartigen lokalen Zellen hervorgingen und 1878 einen Nationalkongress in Pennsylvania abhielten. Im Unterschied zu den craft unions nahmen die Knights Arbeiter verschiedener Berufe auf und ließen nach anfänglichem Zögern auch Frauen und Afroamerikaner zu. Nachdem sie ihren geheimbündlerischen Prinzipien und Ritualen entsagt hatten, stieg die Mitgliederzahl bis Mitte der 1880er Jahre auf 700.000 Männer und Frauen in ca. 15.000 Ortsvereinen, darunter auch Angehörige der Mittelschicht wie kleine Geschäftsleute und Zeitungsverleger. Die wichtigsten konkreten Forderungen laute‐ ten: Verbot der Kinderarbeit, gleicher Lohn bei gleicher Arbeit für Männer und Frauen, Verstaatlichung der Eisenbahn- und Telegraphengesellschaften, Einführung des Acht-Stunden-Tags und Drosselung der Einwanderung. Aufs Ganze gesehen schwebte den Knights eine „kooperative“, genossenschaftliche Gesellschaftsform vor, wie sie auch in der utopischen Literatur der Zeit, etwa von Edward Bellamy und Henry Demarest Lloyd, dargestellt wurde. Zu diesem Ziel wollte man auf dem Wege der Gesetzgebung durch Reformen gelangen, nicht mit einer Strategie der „revolutionären Umwälzung“, wie sie die Kommunistische Internationale propagierte (die in einigen amerikanischen Städten Sektionen unterhielt). Obwohl die Führung der Knights of Labor den Streik als gewerkschaftliches Kampf‐ mittel ablehnte, konnten sich die Mitglieder den häufig spontan aufflammenden Konflikten gar nicht entziehen und waren an allen großen Streikbewegungen der Zeit maßgeblich beteiligt. Einen ersten Höhepunkt bildete der Eisenbahnerstreik von 1877, der aus Protest gegen Lohnkürzungen in West Virginia begann, dann aber eine Solidarisierungswelle auslöste, die auch andere Industrien erfasste und bis in den Mittleren Westen und an die Westküste reichte. Die Eisenbahngesellschaften antworteten mit Massenentlassungen, dem Einsatz von Streikbrechern und der Un‐ terwanderung der Streikkomitees durch Privatdetektive der Agentur Pinkerton, die „schwarze Listen“ der Arbeiterführer aufstellte. Nach schweren Kämpfen zwischen streikenden Arbeitern und Staatenmilizen in Pittsburgh, Chicago und St. Louis befahl Präsident Hayes den Einsatz von Bundestruppen, um die Unruhen niederzuschlagen und die Ordnung wiederherzustellen. Im Umfeld des Streiks, der insgesamt über 100 Todesopfer forderte, entstanden die ersten unabhängigen Arbeiterparteien, die sich an lokalen und regionalen Wahlen beteiligten. Am äußersten Rand des politischen Spekt‐ rums bildeten sich anarchistische Zirkel, die weltweit geheime Kontakte unterhielten und „direkte Aktionen“ befürworteten. Eine wichtige Rolle spielte dabei der ehemalige Reichstagsabgeordnete Johann Most, der 1878 nach Erlass des Sozialistengesetzes ausgewiesen worden war und seit 1882 in den USA lebte. In den 1880er Jahren stellten sich Mitglieder der Arbeiterparteien und der Knights of Labor häufig an die Spitze von Streiks. 1885 feierten sie einen letzten großen Sieg, als sie die Eisenbahngesellschaften im Südwesten der USA durch Arbeitsniederlegungen und Boykottaktionen zur Rücknahme von Lohnkürzungen zwangen. Eine Wende Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 190 <?page no="191"?> markierte dann aber der schwere Bombenanschlag auf dem Haymarket in Chicago, dem am 4. Mai 1886 sieben Polizisten zum Opfer fielen. Als Rädelsführer wurde der deutschstämmige Anarchist August Spies verhaftet, der mit Most befreundet war und an der Spitze des „Revolutionären Clubs“ von Chicago stand. Damit war nicht nur der positive Eindruck zerstört, den die Demonstration von über 100.000 Menschen am 1. Mai für den Acht-Stunden-Tag gemacht hatte, sondern auch der Schwung der Knights of Labor gebrochen. Während sich die Führung noch entschiedener als zuvor von Gewaltaktionen und Streiks distanzierte, wendeten sich viele Arbeiter enttäuscht von der Organisation ab, deren Mitgliederschaft bis 1895 auf ca. 70.000 zusammenschmolz. Trotz einer weltweiten Kampagne zur Rettung der zum Tode verurteilten Anarchisten wurden Spies und drei weitere Männer am 11. November 1887 hingerichtet. Heute geht man davon aus, dass es sich bei der „Haymarket-Affäre“ um eine Provokation der Polizei von Chicago gehandelt hat, die anarchistische Gruppen infiltriert und mit Sprengstoff versorgt hatte. Das Erbe der Knights of Labor trat die American Federation of Labor (AFL) an, die allerdings einen ganz anderen Charakter trug und unterschiedliche Ziele verfolgte. Sie entstand 1881 in Pittsburgh auf Initiative von Samuel Gompers, dem Führer der Cigar Makers’ Union, als Zusammenschluss von Facharbeiterverbänden. Gompers’ Vorbild war der englische New Unionism, dem es darauf ankam, die Interessen der Arbeiter in den einzelnen Branchen durch finanzstarke und schlagkräftige Organisationen zu vertreten. Die AFL entschied sich von vornherein für einen pragmatischen Kurs, mit dem die Arbeitsbedingungen und die materielle Lage der Arbeiter innerhalb des bestehenden Systems schrittweise verbessert werden sollten. Wichtigste Waffe war der Streik, der aber ebenfalls nur in diesem begrenzten, „unpolitischen“ Rahmen eingesetzt wurde. Im Unterschied zu den Knights legten die AFL-Verbände wenig Wert auf die Mitgliedschaft von ungelernten Arbeitern sowie von Frauen und Afroamerikanern. Die Arbeiterinnen, die mit am schwersten unter den ausbeuterischen Bedingungen in den sweatshops der Textilindustrie zu leiden hatten, griffen daraufhin zur Selbsthilfe. Die verschiedenen Frauengewerkschaften vereinigten sich 1903 - ebenfalls nach englischem Vorbild - zur Women’s Trade Union League. Als Teil der reformerischen Frauenbewegung trat sie für den Schutz der Frauen am Arbeitsplatz ein, förderte die Frauenbildung und kämpfte mit für das Frauenwahlrecht. Durch den Übertritt vieler ehemaliger Knights of Labor wuchs die AFL bis zur Jahr‐ hundertwende auf über 40 Einzelgewerkschaften mit Tausenden von local unions und ca. 1 Million Mitglieder an. Einer Reihe von Erfolgen standen einige schwere Nieder‐ lagen gegenüber, wie 1892 beim Streik der Stahlarbeiter gegen den Carnegie-Konzern in Homestead, Pennsylvania, oder 1894, als der Lohnkampf gegen George Pullman, den Besitzer der größten Eisenbahnwagenfabrik, in Chicago scheiterte. Beide Ausei‐ nandersetzungen wurden von Arbeiterwie Unternehmerseite mit kaum geringerer Härte als der Streik von 1877 geführt. Sie zeigten die Grenzen der AFL auf, die nicht nur mit der wachsenden Macht der Konzerne rechnen musste, sondern im Ernstfall auch die Bundesregierung und die öffentliche Meinung der USA gegen sich hatte. Auf dem 6 Parteipolitik und soziale Konflikte im Gilded Age 191 <?page no="192"?> Tiefpunkt der Depression im Jahr 1894 waren 2,5 Millionen Menschen arbeitslos, und es wurden im ganzen Land 1.300 Streiks registriert. Eine neue Form des Massenprotests erfand zu diesem Zeitpunkt kein Gewerkschafter, sondern der Geschäftsmann Jacob E. Coxey aus Ohio, der Arbeitslose für einen „Marsch auf Washington“ sammelte. Statt der erhofften 400.000 nahmen allerdings nur einige hundert Menschen teil, und die Washingtoner Polizei konnte Coxey’s Army schnell zerstreuen. Der Propagandaeffekt dieser Aktion sollte aber noch viele Verfechter von Reformideen zur Nachahmung anspornen. Selbst unter den extremen Bedingungen des Gilded Age entwickelte sich in den USA keine starke sozialistische Bewegung. Die amerikanische Arbeiterschaft war ethnisch und interessenmäßig zu differenziert und geographisch zu mobil, um einen einheitlichen Willen entwickeln und kraftvoll durchsetzen zu können. Immigration, Westwanderung und individuelles Erfolgsstreben hielten die Gesellschaft in ständigem Fluss und ließen ein Bewusstsein fester und permanenter Klassengegensätze, wie es um diese Zeit in vielen europäischen Staaten herrschte, nicht aufkommen. Karl Marx, Friedrich Engels und andere Theoretiker und Praktiker der Revolution standen vor einem Rätsel: Trotz einer potenziell „revolutionären Situation“ schienen die USA das einzige Land zu sein, das den Übergang zum Sozialismus auf friedlichem Wege bewerkstelligen konnte. Im Vergleich zu anderen Industrieländern blieb der Organisationsgrad der amerikanischen Arbeiter gering: 1900 gehörten von knapp 30 Millionen Beschäftigten nur etwa eine Million einer Gewerkschaft an. Große Teile der Arbeiterschaft, wie die Ungelernten, ethnische Mindeheiten wie Afroamerikaner, Asiaten, Mexikaner und Frauen, wurden von den etablierten Gewerkschaften sogar bewusst vernachlässigt. Zudem standen die Arbeiterinnen und Arbeiter in ihrer Mehrzahl der Industrialisierung keineswegs ablehnend gegenüber, sondern wollten an den wirtschaftlich-technischen Fortschritten teilhaben und sie zur Besserung ihrer persönlichen Lage nutzen. Wenn sie Protest gegen Missstände erhoben, dann taten sie das in einer langen republikanisch-demokratischen Tradition, die ihnen das Vertrauen gab, den politischen Entscheidungsprozess beeinflussen und Abhilfe durch Reformen schaffen zu können. Auf diese Weise übten die Gewerkschaften eine wichtige Korrekturfunktion bei der Entstehung des Industriestaates aus: Sie lenkten die Aufmerksamkeit auf die Probleme und Bedürfnisse der Arbeiterschaft und erreichten, dass sich Intellektuelle und Politiker mit sozialen Fragen beschäftigten und dass in der Öffentlichkeit Reformbereitschaft entstand. Die von Gewerkschaften und Arbeiterparteien geschaffene „Arbeiterkultur“ in Form von Arbeitervereinen, Ar‐ beiterzeitungen, Bildungs- und Sozialeinrichtungen etc. wirkte der gesellschaftlichen Isolierung und der Zerstörung des Selbstwertgefühls entgegen. Hierzu leisteten gerade auch deutsche Einwanderer in Städten wie Milwaukee, Chicago, Cleveland, St. Louis und Cincinnati bedeutende Beiträge. Letztlich nahmen die Vertreter der Arbeiterschaft damit an einer sehr viel übergreifenderen Entwicklung teil, die zur Organisation von Interessen außerhalb der großen Parteien hinführte. Diese Ausformung vielfältiger Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 192 <?page no="193"?> Interessengruppen wurde zur Signatur der amerikanischen Gesellschaft im Zeitalter des Progressivismus. Die Rebellion der Populisten und die Wahlen von 1896 In den 1890er Jahren schien es kurzfristig so, als würden sich die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft und die Proteststimmung der Farmbevölkerung zu einer ernsthaften Herausforderung des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems verbinden. Auf dem Agrarsektor konnten sich genossenschaftliche Modelle, wie sie seit dem Bürgerkrieg von Selbsthilfeorganisationen der Farmer, den Granges, z. T. mit Unterstüt‐ zung der Bundesregierung erprobt wurden, ebenso wenig gegen die kapitalistischen Interessen durchsetzen wie in der Industrie. Nach einer kurzen Blütezeit in den 1870er Jahren entwickelten sich die Granges wieder zu Vereinen zurück, die durch Unterhaltung und Bildung die Einsamkeit des Landlebens bekämpften. Der politische Unmut der Farmer nahm aber zu, weil ab Anfang der 1880er Jahre die Preise für Agrarprodukte schneller absanken als der Index der Verbraucherpreise insgesamt, wodurch sich die Schere zwischen Zinsbelastung und Einkommen immer weiter öffnete. Die Initiative ging nun von den Granges auf die Farmers’ Alliances über, die - beginnend in Texas - systematischer und aggressiver um Mitglieder warben. Ihre Hauptthemen waren der Mangel an Zahlungsmitteln und billigen Krediten sowie die Tarifgestaltung der Eisenbahngesellschaften, die Familienfarmer gegenüber der vordringenden Agrarindustrie benachteiligten. Bis 1890 hatte sich die Bewegung zu zwei großen Organisationen verfestigt: Im Südwesten arbeiteten 2 Millionen weiße und 1 Million schwarze Farmer - wenngleich in getrennten Zweigen - in der Southern Alliance zusammen, und im Mittleren Westen, vor allem in Kansas, Nebraska und den Dakotas existierte eine eigene Alliance mit ca. 2 Millionen weißen Mitgliedern. Praktische Reformvorschläge wie den subtreasury plan, der auf eine Stabilisierung der Getreidepreise durch bundesstaatliche Ankäufe und Lagerhaltung zielte, begleite‐ ten die Alliances mit einer emotionalen politischen Kampagne, die sie im Namen der „wirklichen Produzenten“ gegen die korrumpierende Macht des Kapitals, verkörpert in „der Wall Street“, führten. Jefferson’sche Ideen einer „agrarischen Demokratie“ der unabhängigen Farmer verbanden sich in vielen Gegenden mit Formen evangeli‐ kaler Erweckungsbewegungen: Die Alliances hielten ihre Versammlungen häufig als camp meetings ab, auf denen die Sprecher - darunter Frauen wie Mary E. Lease aus Kansas - die alten Tugenden beschworen und vor einem apokalyptischen Ende der amerikanischen Republik warnten. Ab 1890 beteiligten sich die Alliances mit eigenen Kandidaten an den Wahlkämpfen und errangen spektakuläre Erfolge: Sie eroberten Mehrheiten in zehn Staatenparlamenten, stellten Gouverneure, z. B. in Texas, und schickten Abgeordnete und Senatoren nach Washington. Aus der besonders aktiven Kansas Alliance ging 1890 die People’s Party hervor, die sich rasch über den ganzen Westen und Südwesten ausbreitete und deren Anhänger populists genannt wurden. Im Wahljahr 1892 schlossen sich die beiden überregionalen Alliances zusammen und 6 Parteipolitik und soziale Konflikte im Gilded Age 193 <?page no="194"?> beriefen den Gründungskongress der nationalen People’s Party auf den 4. Juli nach Omaha in Nebraska ein. Die 800 Delegierten klagten die etablierten Parteien an, sie trieben die Nation in den moralischen, politischen und wirtschaftlichen Ruin und spalteten das amerikanische Volk in zwei Klassen - die Landstreicher (tramps) und die Millionäre. Das Parteiprogramm forderte die Verstaatlichung der Eisenbahnen, ein auf Gold und Silber basierendes Währungssystem, staatliche Hilfen für die Landwirtschaft gemäß dem subtreasury plan, eine progressive Einkommensteuer, die Direktwahl der Senato‐ ren sowie - mit Blick auf die Gewerkschaften - eine Beschränkung der Einwanderung und kürzere Arbeitszeiten in der Industrie. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 1896 gelang es den Populisten, den Kampf um die Silberwährung zum alles beherrschenden Thema zu machen. Der demokratische Präsident Grover Cleveland büßte seine Chancen zur Renominierung ein, als er sich auf den Goldstandard festlegte und einen Stabilisierungskredit mit einem Bankenkonsortium unter Führung von J. P. Morgan vereinbarte. An seiner Stelle schickten die Demokraten einen 36-jährigen Kongressabgeordneten aus Nebraska, William Jennings Bryan, ins Rennen, der den Parteikonvent mit religiösem Pathos und dem Ruf nach „moralischer Erneuerung Amerikas“ begeisterte. Die Kandidatur Bryans brachte die People’s Party in Bedrängnis, da die Demokraten nun die populistische Parole free silver übernahmen. Auf dem Konvent der People’s Party in St. Louis entschloss sich eine Mehrheit zur Unterstützung Bryans und setzte seinen Namen zusammen mit einem populistischen Vizepräsident‐ schaftskandidaten auf das so genannte Demopop Ticket. Die Republikaner nominierten William McKinley, einen Senator aus Ohio, der das Vertrauen der Wirtschaft genoss, sich als Vermittler im Pullman-Streik aber auch Sympathien in der Arbeiterschaft erworben hatte. Für die Wähler war die Alternative 1896 so klar wie lange nicht mehr: Bryan und die Populisten versprachen, die Geldknappheit mit Hilfe der Silberwährung zu beseitigen, die Wall Street-“Verschwörer“ zu entmachten und die Regierung der USA wieder in die Hände des Volkes zu legen. Die Republikaner priesen dagegen sound money als Grundlage der sozialen Ordnung und behaupteten, dass allein der Goldstandard die Erholung der amerikanischen Wirtschaft gewährleisten und die Kreditwürdigkeit der USA im Ausland erhalten könne. Angesichts dieser Polarisierung sahen ängstliche Gemüter politische Unruhen oder sogar eine Revolution voraus. Tatsächlich blieb aber alles ruhig, als sich McKinley im November mit 600.000 Stimmen Vorsprung und 271 zu 176 Wahlmännerstimmen klarer als erwartet gegen Bryan durchsetzte. Erstaunlicherweise fielen sogar agrarische Staaten des Mittleren Westens wie Iowa und Minnesota an die Republikaner, vermutlich, weil sich die Krise der Landwirtschaft dort nicht ganz so schwer auswirkte. Entscheidend war aber, dass es den Demokraten nicht gelang, den Interessengegensatz zwischen Farmbevölkerung und Industriear‐ beiterschaft zu überwinden. Die Arbeiter lehnten in ihrer Mehrheit inflationäre Maßnahmen ab und wünschten niedrige Lebensmittelpreise, und Gewerkschaftsführer wie Gompers betrachteten die Farmer nicht als Proletarier, sondern als kapitalistische Kapitel 4: Bürgerkrieg, Industrialisierung und soziale Konflikte im Gilded Age, 1855 - 1896 194 <?page no="195"?> Kleinunternehmer. Die Republikaner schnitten deshalb in Industriezentren besonders gut ab, was ihnen z. B. Erfolge in den Schlüsselstaaten Illinois und Ohio sicherte. Im Weißen Haus profitierte McKinley dann von einer Reihe günstiger Umstände: Der weltweite Preisrückgang wurde gestoppt, die Nachfrage nach Agrarprodukten und Industriegütern nahm wieder zu, und die Währungsproblematik erledigte sich fast von selbst durch große Goldfunde in Alaska. Die Wahlen von 1896 markieren in mehrfacher Hinsicht einen Einschnitt in der Geschichte der USA: Zu den wichtigsten unmittelbaren Folgen gehörte der Zusammenbruch der populistischen Bewegung, die mitsamt der People’s Party in der Demokratischen Partei aufging. Der Populismus scheiterte hauptsächlich an seiner ambivalenten Haltung zur Industriegesellschaft, die er teils mit religiöser Inbrunst und antimodernistischer Radikalität ablehnte, teils auf pragmatische Weise reformieren wollte. Politik wurde nun nicht nur insgesamt professioneller betrieben, sondern die beiden großen Parteien gingen auch stark verändert aus dem Wahlkampf hervor: Die Republikaner streiften ihr puritanisch-sozialreformerisches Erbe allmählich ab, öffne‐ ten sich der Politik der Interessengruppen und schmiedeten eine Koalition von business and labor. Dafür schlüpfte die Demokratische Partei - zumindest in den Nordstaaten - in eine Rolle, die seit Lincolns Zeiten von den Republikanern gespielt worden war: Sie wurde zum Sammelbecken von Reformgruppen, die eine bessere Gesellschaft und eine stärker an moralischen Werten ausgerichtete Politik befürworteten. Innerhalb des Zweiparteien-Systems fand also gewissermaßen ein Austausch der Parteiprofile statt. Das half zunächst hauptsächlich den Republikanern, doch später kam das Reformimage der Demokratischen Partei den Präsidenten Woodrow Wilson, Franklin D. Roosevelt, John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson zugute. Schließlich vollzog sich auch ein Wandel im öffentlichen Bewusstsein, der allerdings widersprüchlich ausfiel: Einerseits erwartete man von den Regierungen vermehrte Aktivitäten und Mitverantwortung für das wirtschaftliche Wohlergehen und den sozialen Fortschritt; andererseits nahm die Parteienbindung der Bürger ab und begann die Wahlbeteiligung zu sinken. Wettge‐ macht wurde dieses nachlassende parteipolitische Engagement durch die Organisation von Interessen außerhalb der Parteien und das Wiederaufleben von Reformbewegun‐ gen, die den religiös-moralischen Impuls mit bürokratisch-sozialwissenschaftlichen Methoden verbanden. Damit traten die USA als erster Industriestaat in das Zeitalter der pluralistischen Demokratie ein. 6 Parteipolitik und soziale Konflikte im Gilded Age 195 <?page no="197"?> Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 Der klare Wahlsieg, den die Republikaner 1896 errangen, überwand das fein austarierte Parteiengleichgewicht und damit auch die politische Passivität und den Immobilismus des Gilded Age. William McKinley beendete die Reihe der schwachen Präsidenten und fand - gestützt auf die seit dem Bürgerkrieg enorm gewachsene Wirtschaftskraft der USA - ein neues Betätigungsfeld in der Außenpolitik. Dieser expansive Kurs bescherte den USA nicht nur Erfolge, sondern trug ihnen auch Konflikte mit den Nachbarn in Zentralamerika und der Karibik ein und verwickelte sie in die Großmachtrivalitäten in Europa und Asien. Innenpolitisch wurde die Expansion durch ein Erstarken des amerikanischen Nationalismus abgesichert, der die Erinnerungen an den Bürgerkrieg endgültig verdrängte und zeitweise missionarische und aggressive Züge annahm. Andererseits blieben antiimperialistische Strömungen in der amerikanischen Bevölke‐ rung einflussreich genug, um die Errichtung eines formalen Kolonialreiches nach europäischem Vorbild zu verhindern. In den USA ging auch - anders als bei den meisten übrigen Großmächten - die imperiale Außenpolitik mit einem angestrengten Bemühen um innenpolitische Reformen Hand in Hand. Diese Eruption von reformerischen Energien sparte allerdings einige gesellschaftliche Bereiche, wie die Rassenbeziehun‐ gen, weitgehend aus und zeitigte in anderen, wie dem Kampf gegen den Alkohol, unerwartete und unerwünschte Resultate. Nach dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg 1917 erlahmte der reformerische Schwung, und unter der charismatischen Führung Präsident Woodrow Wilsons wurden alle Energien in den Dienst einer großen Aufgabe gestellt: das Deutsche Reich und seine Verbündeten zu besiegen und den Weltfrieden dauerhaft zu sichern. Noch im Verlauf des Krieges sahen sich die USA jedoch durch die russische Revolution mit einer neuen politisch-ideologischen Herausforderung konfrontiert, die ihren Führungsanspruch und ihre innere Stabilität in Frage stellte. 1 Der Eintritt der USA in die Weltpolitik Grundlagen und Motive einer amerikanischen Großmachtpolitik In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts schufen Bevölkerungswachstum und Industrialisierung die materiellen Voraussetzungen für ein machtpolitisches Ausgrei‐ fen der USA über die „natürlichen“ kontinentalen Grenzen hinaus. Gleichzeitig begann sich - nicht zuletzt unter dem Eindruck der periodisch auftretenden Wirt‐ schaftskrisen - die Auffassung durchzusetzen, dass ökonomische Prosperität und gesellschaftliche Ordnung von der Eroberung und Sicherung überseeischer Märkte <?page no="198"?> abhingen. Dies wiederum erforderte eine starke Handels- und Kriegsflotte und eine zusammenhängende, in sich schlüssige außen- und militärpolitische Strategie. Zwischen 1865 und der Jahrhundertwende hatte sich die amerikanische Bevölkerung von knapp 37 auf 76 Millionen mehr als verdoppelt, und kurz nach dem Kriegsausbruch in Europa überschritt die Einwohnerzahl der USA 1915 die 100 Millionen-Grenze. Hinter dieser Dynamik blieb selbst die neue europäische Großmacht Deutschland zurück, deren Bevölkerung zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg von 40 auf 70 Millionen stieg. Einen gewichtigen Beitrag zum amerikanischen Bevölkerungs‐ wachstum leistete wieder die Einwanderung, die ab der Jahrhundertwende auf absolute Rekordzahlen kletterte und von 1900 bis 1914 ca. 13 Millionen Menschen in die USA brachte. Im Zeitraum von 1870 bis 1914 nahmen die USA insgesamt 25 Millionen Menschen in einer der größten Wanderungsbewegungen der Weltgeschichte auf. Bei der Volkszählung von 1910 erreichte der Anteil der im Ausland geborenen Amerikaner mit 14,8 Prozent seinen historischen Höchststand. Die sinkenden Reisekosten auf der Atlantikroute eröffneten jetzt die Möglichkeit, nur noch vorübergehend zum Geldverdienen nach Amerika zu kommen und eventuell sogar mehrmals als eine Art „Gastarbeiter“ (bird of passage) zwischen Europa und den USA hin- und herzufahren. Während der Zustrom aus den traditionellen Herkunftsländern West- und Mitteleuro‐ pas und Skandinaviens allmählich versiegte - das Deutsche Reich wurde in dieser Zeit selbst zum Einwanderungsland -, stammten die „neuen Immigranten“ vorwiegend aus Süd- und Osteuropa. Die meisten von ihnen bevölkerten bald die Städte im „Dreieck der Hoffnung“, das von den Neuenglandstaaten im Nordosten, Missouri im Mittleren Westen und der Hauptstadt Washington, D. C., im Südosten begrenzt war. Das amerikanische Bruttosozialprodukt verdreifachte sich von 1870 bis 1900, und im selben Zeitraum verfünffachte sich die industrielle Produktion. Der Wert der Ausfuhren stieg in den 1870er Jahren von 500 Millionen auf knapp 1 Milliarde Dollar pro Jahr, verharrte bis 1896 in etwa auf dieser Höhe und explodierte dann geradezu auf ca. 1,5 Mrd. im Jahr 1900, ca. 2 Mrd. Dollar 1910 und ca. 3 Mrd. 1915. Einer ähnlichen Kurve folgten die Einfuhrwerte, wobei jedoch die Ausfuhrüberschüsse ab 1896 zunahmen. Im späten 19. Jahrhundert wurden zwar insgesamt weniger als 10 Prozent der amerikanischen Produktion exportiert, aber in der Landwirtschaft waren es 20 Prozent, und bei einzelnen agrarischen Produkten wie Baumwolle, Weizen und Tabak lag der Exportanteil noch viel höher. Kaum anders verhielt es sich mit der Industrieproduktion, die einen wachsenden Teil der Gesamtexporte ausmachte (1880 15 Prozent, 1900 dagegen schon über 30 Prozent): Insgesamt gingen im Jahr 1900 nur 9 Prozent der amerikanischen Rohstoffe und Industriegüter in den Export, aber für einzelne Branchen wie Eisen und Stahl (15 Prozent), Nähmaschinen (25 Prozent), Kupfer (50 Prozent) und Erdölprodukte (57 Prozent) waren die Ausfuhren von großer Bedeutung. Aus gesamtwirtschaftlichen Gründen blieb der Export auch deshalb so wichtig, weil die USA für ihre Entwicklung weiterhin ausländisches Investitionskapital benötigten und die anfallenden Zinsen nur aufbringen konnten, wenn sie eine aktive Handelsbilanz erzielten. Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 198 <?page no="199"?> Abb. 13: Der Anteil der USA an der weltweiten Industrieproduktion: 1870 und 1913 Die Krise der 1890er Jahre mit ihren gefährlichen Folgen für den inneren Frieden und die soziale Stabilität führten viele Amerikaner auf „Überproduktion“ und eine „Sättigung“ des Binnenmarktes zurück, die nur durch steigende Exporte ausgeglichen werden konnten. Da sich die europäischen Mächte (wie die USA selbst) mit hohen Zollmauern umgeben hatten und darüber hinaus seit den 1880er Jahren Afrika prak‐ tisch unter sich aufteilten, schienen den Vereinigten Staaten nur noch in Lateinamerika und Asien zukunftsträchtige Märkte offen zu stehen. Aber selbst hier drohten Konkur‐ renten wie Großbritannien, Deutschland, Russland und Japan, die den USA militärisch weit überlegen waren, die amerikanischen Interessen an den Rand zu drängen. All das ließ es geraten erscheinen, dass die Amerikaner den Blick stärker nach außen richteten und auf der weltpolitischen Bühne zielstrebiger und offensiver auftraten. Obwohl sich diese Probleme bereits im Gilded Age abzeichneten, betrieben die amerikanischen Regierungen Außenpolitik zunächst nur kurzatmig und ohne ein klares Konzept. In der Amtszeit von Präsident Chester A. Arthur (1881-1885) war zwar in sehr bescheidenem Umfang mit der Modernisierung der Kriegsflotte begonnen worden, die noch vorwiegend aus Holzschiffen bestand, und im Pazifik hatten sich die USA einige Inselstützpunkte, unter anderem auf Samoa (in Absprache mit Deutschland und England) und auf Midway verschafft. Weiter gehende Expansionsbestrebungen im Pazifik (Hawaii) und in der Karibik (Kuba, Virgin Islands, Dominikanische Republik) fanden aber kein öffentliches Interesse und stießen im Kongress auf Ablehnung. Es blieb einem unscheinbaren Offizier der US Navy, Captain Alfred T. Mahan, vorbehal‐ ten, die intellektuellen Konsequenzen aus dem Aufstieg der USA zur Industriemacht und der dadurch veränderten Weltlage zu ziehen. In seinem 1890 veröffentlichten Werk The Influence of Seapower Upon History, zu dem ihn die Beschäftigung mit der römischen Geschichte inspiriert hatte, forderte er dazu auf, die Weltmeere nicht länger als Barrieren, sondern als die großen Verkehrsadern der Zukunft zu betrachten. Ihre 1 Der Eintritt der USA in die Weltpolitik 199 <?page no="200"?> Kontrolle und Beherrschung würden das Schicksal der Völker und Staaten entscheiden, was aus amerikanischer Sicht eine leistungsfähige Handelsflotte und eine mächtige Kriegsflotte erfordere. Wie andere Politiker und Militärs vor ihm, forderte Mahan den Bau einer Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik durch Zentralamerika nach dem Vorbild des 1869 eröffneten Suezkanals. Für ihn war dieses Projekt aber nur Teil einer größeren geostrategischen Vision, in der er den Flottenbau, die Sicherung des freien Zugangs zu überseeischen Märkten, die Annexion Hawaiis und die Gewinnung von weiteren Stützpunkten in der Karibik und im Pazifik zu einem kohärenten, in sich schlüssigen Gesamtkonzept zusammenfügte. Dieser umfassende Ansatz übte eine starke Faszination auf die noch sehr schmale außenpolitische Elite der USA aus und beeinflusste insbesondere Männer wie Theodore Roosevelt, Henry Cabot Lodge und Elihu Root. Erste konkrete Auswirkungen zeitigten Mahans Theorien bereits zu Beginn der 1890er Jahre, als der Kongress den Bau von drei modernen Schlachtschiffen für die geplante two-ocean fleet genehmigte. Nach ihrer Indienststellung 1893 rückten die USA immerhin vom dreizehnten auf den siebten Platz in der Rangfolge der Seemächte vor. Mit dem Flottenbau, der vor allem der Eisen- und Stahlindustrie zugutekam, begann das Zweckbündnis zwischen Militärs, Politikern und Industriellen, das im Laufe der Zeit immer wichtiger werden sollte. Die Heeresstärke lag dagegen immer noch bei 25.000 Mann, und vereinzelte Plädoyers für eine Wehrpflichtarmee nach europäischem Muster fielen auf taube Ohren. In den 1890er Jahren begann allerdings auch schon der Übergang von der englischen auf die US-amerikanische Hegemonie in Lateinamerika. Sichtbaren Ausdruck fand diese veränderte Machtstruktur der westlichen Hemisphäre in der Krise von 1895, in der Präsident Grover Cleveland und Außenminister Richard Olney die Londoner Regierung zwangen, eine amerikanische Vermittlung im Grenzstreit zwischen Vene‐ zuela und Britisch-Guyana zu akzeptieren. Olney hatte bei dieser Gelegenheit der Monroe-Doktrin, die von den Europäern nie ganz ernst genommen worden war, zumindest rhetorisch „schärfere Zähne“ verliehen. Ein politisches Arrangement der beiden angelsächsischen Mächte lag aber vor allem im Interesse Großbritanniens, das durch den Rüstungswettlauf zur See mit dem Deutschen Reich, die Kolonialrivalitäten mit Frankreich und den Buren-Konflikt in Südafrika schwer belastet war. Die Briten verfolgten natürlich weiterhin ihre wirtschaftlichen Interessen in Lateinamerika, aber sie erkannten von nun an zumindest inoffiziell die politische Vorrangstellung der USA in der westlichen Hemisphäre an. Das rapprochement setzte sich nach dem spa‐ nisch-amerikanischen Krieg von 1898 fort, als die Londoner Regierung im Hay-Paun‐ cefote-Abkommen 1901 auf ihre Kanalbaurechte in Zentralamerika verzichtete. Auch bei der endgültigen Grenzregelung zwischen Kanada und den USA im Yukon-Gebiet, wo Ende des 19. Jahrhunderts reiche Goldlager entdeckt worden waren, kamen die Engländer 1903 den Wünschen der Roosevelt-Administration weit entgegen. Auf diese Weise wollten sie sich in Europa den „Rücken freihalten“ und gleichzeitig eventuellen Expansionsabsichten der USA in Richtung Kanada vorbeugen. Die Kanadier fühlten sich in der Grenzfrage allerdings von London im Stich gelassen und entwickelten ein Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 200 <?page no="201"?> immer ausgeprägteres Nationalbewusstsein, mit dem sie sich sowohl vom Mutterland als auch von den Vereinigten Staaten abgrenzten. In Lateinamerika und der Karibik be‐ scherte das britische Einlenken den USA jedoch einen größeren Handlungsspielraum, den sie unter der Führung von Theodore Roosevelt entschlossen ausnutzten. Abb. 14: Inbetriebnahme einer neuen Fertigungsstraße in Detroit, Michigan, 1913 Die Hinwendung zu einer kraftvollen, machtbetonten Außenpolitik wurde psycholo‐ gisch erleichtert durch den Stimmungswandel, der sich in der weißen amerikanischen Mittelschicht seit den 1880er Jahren vollzog und der auch Teile der Arbeiterschaft erfasste. Die tiefe Kluft, die der Bürgerkrieg zwischen Norden und Süden aufgerissen hatte, begann sich nun allmählich zu schließen und machte einem Gefühl der Zusam‐ mengehörigkeit und nationalen Einheit Platz. Eine neue Generation von Historikern, zu denen James Ford Rhodes, Edward Channing und John Bach McMaster gehörten, stellten das allen Regionen und Klassen Gemeinsame über das Trennende der Vergan‐ genheit. Sie deuteten die amerikanische Geschichte als einen Prozess fortschreitender Verwirklichung freiheitlicher Prinzipien in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, der durch den Bürgerkrieg kurzfristig behindert, aber nicht unterbrochen worden war. Im Süden formulierte der spätere Präsident Woodrow Wilson das Credo des new nationalism, als er die Niederlage der Konföderation zur schmerzlichen, aber im höheren Sinne notwendigen Voraussetzung für den Aufstieg der USA erklärte. In der Literatur begann eine Romantisierung des Südens als Hort traditioneller Tugenden, die bewusst oder unbewusst zur Kompensation der erlittenen Demütigungen und des fortbestehenden wirtschaftlichen Rückstands diente. Immer häufiger stellte man nun Präsident Lincoln und den Südstaaten-General Robert E. Lee als amerikanische Helden Seite an Seite. Gleichzeitig erlangten nationale Feiern und nationale Symbole wieder einen höheren Stellenwert im öffentlichen Leben. Der Memorial Day zur Erinnerung an die Kriegstoten und Lincolns Geburtstag wurden feste Bestandteile der amerikanischen civil religion. Mit der Forderung der Veteranenverbände der Union, 1 Der Eintritt der USA in die Weltpolitik 201 <?page no="202"?> allen Schulkindern einen täglichen Eid auf das Sternenbanner abzunehmen (pledge of allegiance), begann in den 1880er Jahren ein regelrechter Fahnenkult. Auch die neuen Schlachtschiffe sollten den Patriotismus fördern, indem sie die Namen amerikanischer Staaten wie „Maine“ und „Oregon“ trugen. Der Glaube an die Verfassung und die republikanischen Prinzipien, der seit der Gründung der Union als American Creed das wichtigste Bindemittel für die heterogene Bevölkerung bildete, fand nun seine Ergänzung in einem konkreteren, populären Nationalbewusstsein. Die wichtigsten Ikonen dieser neu geschaffenen nationalen Identität waren neben der Flagge und der Hymne die Figur des Uncle Sam, die nun unübersehbar Gestalt und Züge Lincolns annahm, und die weibliche Liberty, deren 46 Meter hohe Statue seit 1886 im Hafen von New York zu bewundern war. Während sich Karikaturisten mit Uncle Sam in immer neuen Variationen dem amerikanischen „Nationalcharakter“ anzunähern suchten, verkörperte die Liberty nicht nur die Verpflichtung der Amerikaner auf universale Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, sondern stand im Grunde für die multiethnische Einwanderergesellschaft der USA, für das amerikanische Volk insgesamt. Im Zeichen des „neuen Nationalismus“ eigneten sich diese Symbole dazu, die nationalen Interessen mit dem Wohl der Menschheit in eins zu setzen und eine politisch-militärische Führungsrolle der USA zu rechtfertigen. Nach außen demonst‐ rierten die Amerikaner ihr steigendes Selbstbewusstsein durch die Weltausstellungen in Chicago 1893 und St. Louis 1904, die zahlreiche europäische Besucher anzogen und in den meisten Fällen gehörig beeindruckten. Wenn der amerikanische Nationalismus auch nicht die extremen Formen annahm, die dieses Phänomen im Europa der Vorkriegszeit kennzeichneten, so hatte er doch durchaus problematische Seiten. Beispielsweise deutete der viel gelesene Historiker John Fiske die Idee der Manifest Destiny in den Auftrag um, die ganze Welt zu „anglisieren“ und die Segnungen der Zivilisation global zu verbreiten. In Verbindung mit sozialdarwinistischen Ideen ging dieser Anglo-Saxonism von der inhärenten Überlegenheit einer „angelsächsischen Rasse“ aus, die berufen war, andere Völker zu missionieren und politisch zu „erziehen“. Die populäre Tagespresse, die durch technische Verbesserungen und neue Verkaufsmethoden einen enormen Aufschwung erlebte, steigerte den Nationalismus gelegentlich zum Chauvinismus oder jingoism (die Wortschöpfung jingo wurde aus einem englischen Gedicht von 1877 übernommen, bisweilen aber sogar gegen Briten und Kanadier verwendet). Die Auflage von billigen Massenblättern wie Joseph Pulitzers New York World und William Randolph Hearsts New York Journal, für deren Sensationsjournalismus man den abschätzigen Begriff yellow press prägte, überschritt gegen Ende des Jahrhunderts die Millionengrenze. Sie heizten die expansionistische Stimmung mit Beschwörungen von nationaler Ehre und Prestige auf, die angeblich ein weltweites Engagement der USA erforderten. Spanien, Frankreich und selbst Großbritannien galten als „alte“, verbrauchte Mächte, die den Höhepunkt ihrer Machtentfaltung bereits überschritten hatten. Gefahr drohte den USA aus dieser Perspektive hauptsächlich von den „jungen“, aufstrebenden Staaten Deutschland und Japan. Das Schlagwort von der „gelben Gefahr“, das Kaiser Wilhelm Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 202 <?page no="203"?> II. häufig benutzte, um die USA auf seine Seite zu ziehen, fand in den Warnungen der amerikanischen Presse vor der yellow peril seine Entsprechung. Hier wurde es allerdings selten mit der Erwartung verbunden, die USA und das Deutsche Reich könnten auf außenpolitischem Gebiet erfolgreich zusammenarbeiten. Der Respekt vor den militärischen Leistungen Preußens und die Bewunderung der deutschen Kultur waren seit dem Rücktritt Bismarcks 1890 in weiten Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit einer Abneigung gegen das autokratische Regime des Kaisers gewichen. Daran änderten die weiterhin recht zahlreichen Aufenthalte amerikanischer Studenten in Deutschland ebenso wenig wie der regelmäßige Professorenaustausch zwischen deutschen und amerikanischen Spitzenuniversitäten, der nach der Jahrhundertwende von deutscher Seite mit großem Propagandaaufwand initiiert wurde. Der spanisch-amerikanische Krieg von 1898 Unter Präsident William McKinley, der im März 1897 sein Amt antrat, gewannen die Befürworter der Expansion spürbar an Einfluss. Die Administration konnte sich auf klare Mehrheiten im republikanisch beherrschten Kongress stützen und wusste die Industrie und die Großbanken hinter sich. Mit einem gestrafften und reorganisierten diplomatischen Dienst, vor allem aber mit der verstärkten Flotte gebot sie erstmals über wirksame Instrumente der Außenpolitik. Der tatsächliche, ungemein schnelle Durch‐ bruch zur Großmachtstellung erfolgte aber nicht „geplant“, sondern eher spontan und resultierte aus der krisenhaften Zuspitzung der Lage auf Kuba. Spanien hatte die Insel halten können, weil sich die Ambitionen Großbritanniens und der USA hier gegenseitig neutralisierten. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der kreolischen Oberschicht, die immer wieder zu Unruhen und Revolten führten, waren zwar von amerikanischer Seite auf verschiedene Weise gefördert worden, aber McKinley arbeitete ebenso wenig wie sein Vorgänger Cleveland bewusst auf einen Krieg gegen Spanien hin. Angesichts der harten spanischen Repressionsmaßnahmen, insbesondere der als reconcentration bezeichneten Zwangsumsiedlungen ganzer Bevölkerungsgruppen, breitete sich in der amerikanischen Öffentlichkeit jedoch eine anti-spanische Stimmung aus, die von den Massenblättern angeheizt wurde. Aus der Sicht Washingtons begann die politische Instabilität auf der Insel die wirtschaftlichen und strategischen Interessen der USA ernsthaft zu gefährden. Der mangelnde Wille oder die Unfähigkeit der Spanier, Reformen durchzuführen, spielten den Befürwortern einer Intervention in die Hände. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Washington und Madrid hatten sich bereits drastisch verschlechtert, als das amerikanische Schlachtschiff „Maine“, das zu einem Höflichkeitsbesuch in den Hafen von Havanna eingelaufen war, am 15. Februar 1898 nach einer schweren Explosion sank. In den USA versetzte diese Katastrophe, bei der 260 Seeleute ums Leben kamen, die Menschen in Kriegsstim‐ mung. Als eine Untersuchungskommission den Untergang der „Maine“ auf einen Bombenanschlag zurückführte (nach neueren Erkenntnissen handelte es sich um einen Unfall), entschlossen sich McKinley und seine Berater, Stärke zu demonstrieren und 1 Der Eintritt der USA in die Weltpolitik 203 <?page no="204"?> den Konflikt zu eskalieren. Die spanische Regierung war verhandlungsbereit, konnte aber aus ihrer Sicht die ultimative Forderung des amerikanischen Präsidenten nach Unabhängigkeit für Kuba nicht erfüllen. Daraufhin ließ sich McKinley am 11. April vom Kongress die Ermächtigung zur Anwendung militärischer Gewalt geben. Als Begründung nannte er die Verletzung der Menschenrechte auf Kuba, die Gefahr für die dort lebenden amerikanischen Staatsbürger, die Schädigung der amerikanischen Wirtschaftsinteressen und die allgemeine Bedrohung des Friedens und der Sicherheit. Eine förmliche Anerkennung der kubanischen Revolutionäre lehnte McKinley ab, weil er die volle Handlungsfreiheit behalten wollte. Auf Antrag von Senator Henry M. Teller fügte der Kongress aber einen Passus hinzu, mit dem die USA jegliche Absicht bestritten, Kuba annektieren zu wollen. Anschließend traf die amerikanische Regierung militärische Vorbereitungen, überließ es aber den Spaniern, am 24. April 1898 den Krieg zu erklären. Ein von Kaiser Wilhelm II. initiierter diplomatischer Vorstoß der europäischen Mächte zu Gunsten Spaniens blieb ergebnislos, da eine offene Parteinahme Deutschlands oder Englands gegen die USA nicht zu befürchten stand. McKinleys Entscheidungen waren vorwiegend machtpolitisch und militärstrategisch motiviert. Es flossen aber auch innenpolitische und ökonomische Überlegungen ein, denn 1898 war ein Wahljahr, und das Ende der spanischen Kolonialherrschaft versprach neue Märkte für die amerikanische Wirtschaft. In der Bevölkerung herrschte weitgehender Konsens darüber, dass die Kubaner vom (katholischen) „spanischen Joch“ befreit werden mussten, und es gab die Hoffnung, Amerika selbst könne sich durch solch eine Tat moralisch erneuern. Der Krieg, den der amerikanische Außenminister John Hay einen „splendid little war“ nannte, war sehr kurz - bis zum Waffenstillstand im August vergingen vier Monate, bis zum Friedensschluss im Dezember weitere vier -, aber er zeitigte außer‐ ordentlich weitreichende Folgen. Als eindeutig kriegsentscheidend erwies sich die Überlegenheit der US Navy, die den ersten Schlag überraschend gegen die spanischen Philippinen führte. Aus Hongkong kommend, drang eine von Commodore George De‐ wey befehligte Schwadron am 1. Mai 1898 in die Bucht von Manila ein und vernichtete die veraltete spanische Pazifikflotte. Danach begannen amerikanische Marinetruppen und philippinische Freiheitskämpfer die Belagerung Manilas. In der Karibik blockierten die Amerikaner die spanischen Häfen und landeten im Juni Truppen auf Kuba. Zwei Schlachten, in denen afroamerikanische Einheiten und der von Theodore Roosevelt geführte Freiwilligenverband der Rough Riders - eine Mischung aus College-Studen‐ ten und hartgesottenen Cowboys - die Hauptlast trugen, führten Anfang Juli zur Einschließung der spanischen Garnison in Santiago de Cuba. Als die spanische Flotte am 3. Juli die Blockade vor Santiago zu durchbrechen versuchte, wurden sämtliche Schiffe versenkt. Damit war das Schicksal der spanischen Kolonialmacht besiegelt, und die Regierung in Madrid musste um Waffenstillstand ersuchen und die amerikanischen Friedensbedingungen akzeptieren. Während sich Spanien vom Schock der Niederlage jahrzehntelang nicht erholte, hatten die USA mit relativ geringen Verlusten - von den ca. 5000 Toten waren 400 Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 204 <?page no="205"?> im Kampf gefallen, der Rest erlag Krankheiten - sämtliche Kriegsziele erreicht. Im Friedensvertrag, der im Dezember 1898 in Paris unterzeichnet wurde, bestätigten die Spanier die Unabhängigkeit Kubas (das vorerst unter amerikanischer Besatzung blieb) und traten Puerto Rico, die Philippinen und Guam an die USA ab. Die Amerikaner setzten die Tradition fort, unterlegenen Gegnern die Gebietsverluste durch Geldzah‐ lungen - in diesem Fall 20 Millionen Dollar - etwas zu versüßen. Unabhängig vom Krieg gegen Spanien, aber gewissermaßen in seinem Windschatten, sicherten sich die USA auch noch die Hawaii-Inseln, die mit ihrem exzellenten Hafen Pearl Harbor als ideales „Sprungbrett“ nach Asien galten. Eine Minderheit weißer Zuckerrohrpflanzer hatte zuvor die hawaiianische Königin abgesetzt und die Republik proklamiert. Im Juli 1898 billigte der Kongress, der bis dahin immer gebremst hatte, auf Vorschlag McKinleys einen Anschlussvertrag, der zwischen der amerikanischen Regierung und den Pflanzern ausgehandelt worden war. 1900 wurde Hawaii dann als Territorium organisiert und erhielt einen ähnlichen Status wie die Karibikinsel Puerto Rico. Als der Friedensvertrag mit Spanien 1898 zur Ratifizierung anstand, sammelten sich die Gegner der Expansion in der Anti-Imperialist League und lieferten der Regie‐ rung eine große öffentliche Debatte. Ihre Kritik richtete sich vor allem gegen die Inbesitznahme der Philippinen, mit der die Amerikaner ihrer eigenen antikolonialen Tradition untreu würden und das Selbstbestimmungsprinzip verletzten. Sprecher der Bewegung wie Carl Schurz und Andrew Carnegie behaupteten, die USA könnten ihren politischen Einfluss und ihren Handel auch ohne formelle Gebietserwerbungen weiter ausdehnen. Die Gewerkschaften fürchteten die „Einfuhr“ billiger Arbeitskräfte aus den Kolonien, und der Führer der Afroamerikaner, Booker T. Washington, sah eine Verschärfung des internen Rassenkonflikts voraus. In die Ablehnungsfront reihten sich allerdings auch Rassisten ein, aus deren Sicht Kolonialbesitz die „Reinheit der angelsächsischen Rasse“ gefährdete. Auf Grund dieser widersprüchlichen Positionen gelang es den Anti-Imperialisten nicht, sich auf eine gemeinsame taktische Linie zu einigen. Als der Führer der Demokraten, William J. Bryan, die Parole ausgab, man solle zunächst den Kriegszustand mit Spanien beenden, um dann für die Unabhängigkeit der Philippinen zu streiten, gelang es den Expansionisten im Frühjahr 1899, den Friedens‐ vertrag im Senat mit knapper Zweidrittelmehrheit zu ratifizieren. Fast zur selben Zeit begann ein Aufstand philippinischer Freiheitskämpfer unter Emilio Aguinaldo, der von den amerikanischen Besatzungstruppen hart unterdrückt wurde. Guerrillakrieg und „Pazifizierung“ kosteten bis 1901 über 4000 US-Soldaten und ca. 20.000 Filipinos das Leben. Im Wahlkampf von 1900 vermischte Bryan, der erneut für die Demokraten kan‐ didierte, die außenpolitischen Themen mit der inzwischen unpopulären Gold-Sil‐ ber-Frage. Das brachte ihn um alle Chancen, zumal McKinley den Gouverneur von New York, Theodore Roosevelt, der sich als Unterstaatssekretär im Marineministerium und Kommandeur der Rough Riders den Ruf eines Kriegshelden erworben hatte, als Vizepräsidentschaftskandidaten präsentierte. McKinley interpretierte den Wahlsieg wohl zu Recht als klare Bestätigung seiner expansionistischen Außenpolitik. Er selbst 1 Der Eintritt der USA in die Weltpolitik 205 <?page no="206"?> konnte den Erfolg jedoch nicht mehr nutzen, denn knapp ein Jahr nach seiner Wiederwahl wurde er beim Besuch der Panamerikanischen Ausstellung in Buffalo, New York, von einem Anarchisten ermordet. Durch den Tod McKinleys rückte der erst 42-jährige Roosevelt ins Präsidentenamt auf; ihm fiel es nun zu, die durch den Sieg über Spanien errungene Machtposition zu konsolidieren und weiter auszubauen. Schwerpunkte der amerikanischen Außenpolitik bis zum Ersten Weltkrieg Theodore Roosevelt entstammte einer angesehenen und wohlhabenden amerika‐ nisch-niederländischen Familie im New Yorker Hudson-Tal. Um seine eher schwächli‐ che körperliche Konstitution auszugleichen, hatte er sich durch ein Fitness-Programm und einen mehrjährigen Aufenthalt als Viehzüchter im Westen abgehärtet. Sein Selbstbewusstsein und sein Ehrgeiz rührten nicht zuletzt vom unbändigen Stolz auf die Vereinigten Staaten her, deren Regierungs- und Gesellschaftssystem seiner Über‐ zeugung nach die Zukunft gehörte. Er sah sich als Repräsentant einer aufstrebenden „neuen“ Mittelschicht, die das „amerikanische Experiment“ gegen die Gefahren von außen wie gegen die Monopolbestrebungen der Wirtschaftselite im Innern verteidigen musste. Besser als die meisten seiner Vorgänger im Weißen Haus erkannte er, welche Möglichkeiten gerade die Außenpolitik dem Chef der Exekutive bot, seine Macht und sein Ansehen zu steigern. Ganz bewusst gab er sich das Image eines „modernen“ Präsidenten und versuchte, durch Reden und Besuchsreisen direkten Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Bekannt wurde sein Ausspruch, die USA müssten „mit sanfter Stimme sprechen, aber einen dicken Knüppel (gemeint war die Flotte) in der Hand halten“; Roosevelts Handeln entsprach jedoch nur sehr bedingt dieser Maxime, denn hinter dem Schirm einer drohenden, gelegentlich bombastischen Rhetorik betrieb er eine klug kalkulierende, eher vorsichtige Diplomatie. Ganz im Einklang mit Captain Mahans geostrategischem Konzept machte Roosevelt die Kanalverbindung zwischen Atlantik und Pazifik zum Kernstück seiner Außenpoli‐ tik. Zunächst ließ er sich von den Briten für die Garantie der freien Durchfahrt aller Schiffe die alleinige Befugnis zum Bau und zur Kontrolle des Kanals geben. Dann traf er die Entscheidung für die Kanalroute am Isthmus von Panama, wo in den 1880er Jahren ein französischer Versuch unter Ferdinand de Lesseps gescheitert war. Als die kolumbianische Regierung ihre finanziellen Forderungen in die Höhe schraubte, setzte Roosevelt Ende 1903 ohne Rücksicht auf völkerrechtliche Gepflogenheiten und mit Hilfe eines zwielichtigen französischen Verbindungsmannes, Philippe Buneau-Varilla, die Unabhängigkeit Panamas ins Werk. (Knapp zwanzig Jahre später erleichterten die Amerikaner ihr Gewissen, indem sie Kolumbien mit 25 Millionen Dollar „abfanden“.) Die panamesischen Nationalisten traten eine 32 km breite Kanalzone an die USA ab, für die Washington eine einmalige Summe von 10 Millionen Dollar und ein jährliches Entgelt von 250.000 Dollar zahlte. 1906 begann der Bau des „Jahrhundertprojekts“, den amerikanische Ingenieure leiteten und der im Wesentlichen von amerikanischen Firmen vorangetrieben wurde. Roosevelt scheute keine Kosten und brachte den Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 206 <?page no="207"?> Kongress immer wieder dazu, die erforderlichen Gelder zu bewilligen. Er stationierte Militär in der Kanalzone und ließ sie mit schweren Geschützen befestigen. Im Jahr 1914, fast zeitgleich mit dem Kriegsausbruch in Europa, wurde der 82 km lange Panamakanal fertig gestellt und von Präsident Wilson feierlich eingeweiht. Er verkürzte den Seeweg von der Ostzur Westküste der USA um 8000 Seemeilen, was große wirtschaftliche Bedeutung hatte, vor allem aber enorme strategische Vorteile einbrachte, weil Kriegs‐ schiffe jetzt innerhalb weniger Tage vom Atlantik in den Pazifik und umgekehrt verlegt werden konnten. Inzwischen war der Flottenbau weiter intensiviert worden, und die USA standen seit 1907 an der zweiten Stelle der Seemächte, übertroffen nur noch von Großbritannien. Die Militärplaner in Washington rechneten zu diesem Zeitpunkt aber bereits nicht mehr mit der Möglichkeit eines amerikanisch-englischen Krieges, sondern richteten ihr Augenmerk ganz auf das Deutsche Reich und Japan als potenzielle zukünftige Gegner. Der Panamakanal in Verbindung mit der Monroe-Doktrin machte die Karibik im Verständnis vieler Amerikaner endgültig zum „Vorgarten“ oder „Hinterhof “ der USA. Ökonomische Durchdringung und politische Einflussnahme gingen hier Hand in Hand, und die Hemmschwelle für militärische Zwangsmaßnahmen begann zu sinken. Das bekamen als Erste die Kubaner zu spüren, deren Souveränität erheblich eingeschränkt wurde. Das von Kriegsminister Elihu Root verfasste Platt Amendment, das die Kubaner 1901 in ihre Verfassung aufnehmen mussten, legte fest, dass alle völkerrechtlichen Verträge, die Kuba abschloss, der Genehmigung durch den amerika‐ nischen Kongress bedurften. Darüber hinaus wurden die USA ermächtigt, militärisch einzugreifen, wenn sie die territoriale Integrität oder die innere Ordnung der Insel für gefährdet erachteten; und schließlich durfte die US Navy den Stützpunkt Guantánamo unterhalten (was sie heute noch tut). Obgleich die USA also offiziell die Unabhängigkeit Kubas anerkannten, errichteten sie faktisch ein Protektorat über die Insel, das durch die einflussreiche Rolle amerikanischer Landbesitzer, Geschäftsleute und Konzerne noch verstärkt wurde. Dieser halbkoloniale Status provozierte fast zwangsläufig Widerstand, den die USA mehrfach mit militärischen Interventionen beantworteten. Erst 1922 verließen die letzten amerikanischen Besatzungstruppen die Insel, und 1934 hob der Kongress das Platt Amendment im Zeichen von Franklin D. Roosevelts Good Neighbor Policy offiziell auf. Besonders empfindlich reagierten die USA auf Aktionen, die sie als Missachtung der Monroe-Doktrin verstanden. Das erfuhren Engländer, Deutsche und Italiener, als sie 1902 die Regierung von Venezuela, die den Staatsbankrott erklärt hatte, durch eine gemeinsame Flottenexpedition zur Anerkennung ihrer Schulden zwingen wollten. Vor Theodore Roosevelts Drohung, notfalls die Flotte einzusetzen, wichen sie zurück und fanden sich mit einem Schiedsgericht ab. Diese zweite Venezuelakrise sorgte wiederum für große Aufregung in der amerikanischen Öffentlichkeit und belastete vorübergehend die Beziehungen der USA zu den europäischen Mächten. Um ähnlichen Zwischenfällen vorzubeugen und den Europäern jeden Vorwand für Strafaktionen in der Karibik zu nehmen (die möglicherweise zur Besetzung von Inseln oder zur Errich‐ 1 Der Eintritt der USA in die Weltpolitik 207 <?page no="208"?> tung von Flottenstützpunkten führen konnten), verkündete Roosevelt im Dezember 1904 seine so genannte „Ergänzung“ (corollary) zur Monroe-Doktrin. Formell war sie an die Adresse der lateinamerikanischen Regierungen gerichtet, die gewarnt wurden, durch eigenes Fehlverhalten Situationen heraufzubeschwören, die europäische Mächte zum Eingreifen veranlassen könnten. In flagranten Fällen solchen Fehlverhaltens oder bei offenkundiger Unfähigkeit der Verantwortlichen würden sich die USA gezwungen sehen, die Aufgaben einer „internationalen Polizeimacht“ (international police power) auszuüben und für Ordnung, Stabilität und Sicherheit zu sorgen. Die praktische An‐ wendung folgte auf dem Fuße, als die USA 1905 die Finanzverwaltung der bankrotten Dominikanischen Republik übernahmen. Die eigentlichen Adressaten der Roosevelt Corollary waren jedoch die Europäer, denen die Bereitschaft der USA demonstriert werden sollte, die Monroe-Doktrin (in der erweiterten Interpretation des Präsidenten) notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Völkerrechtlich war diese Position mehr als zweifelhaft, und lateinamerikanische Politiker und Juristen hielten Roosevelt die Doktrin der Nichteinmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten und die Forderung nach einem allgemeinen In‐ terventionsverbot entgegen. Dennoch übten die USA bis zum Eintritt in den Weltkrieg wiederholt die von Roosevelt reklamierte „Polizistenrolle“ aus, in einigen Ländern wie Kuba, Nicaragua und Mexiko sogar mehrfach. Roosevelts Nachfolger William Howard Taft verlegte sich stärker auf die so genannte Dollar Diplomacy, die eine wech‐ selseitige Unterstützung von US-Regierung und im Ausland tätigen amerikanischen Konzernen, etwa der 1899 gegründeten United Fruit Co., beinhaltete. Demgegenüber setzte Präsident Wilsons Außenminister William J. Bryan seine Hoffnungen auf die panamerikanische Bewegung, die sich seit Ende der 1880er Jahre auf Kongressen um politische Einigkeit und wirtschaftliche Zusammenarbeit bemühte. Als Anhänger der Friedensbewegung unternahm Bryan auch einen ernsthaften Anlauf, die von den USA auf den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 maßgeblich unterstützten Ideen der friedlichen Konfliktregelung und der Schiedsgerichtsbarkeit in die Praxis umzu‐ setzen. Andererseits waren Bryan und Wilson nicht minder von der Überlegenheit des amerikanischen politischen Systems und vom zivilisatorischen Auftrag der USA überzeugt als Roosevelt und Taft. Bei dieser Einstellung fiel es ihnen nicht schwer, Rechtfertigungsgründe für die Einmischung in die Mexikanische Revolution und für die Fortsetzung der Interventionspolitik in der Karibik zu finden. Wilson sprach sogar von der Notwendigkeit, die Nachbarnationen zur Selbstregierung „anzuleiten“ und ihnen den Respekt vor dem Gesetz beizubringen. 1917 veranlasste er den Kongress zum Kauf der Virgin Islands von Dänemark, um einer befürchteten (aber tatsächlich gar nicht geplanten) Übernahme dieser Inselgruppe durch das Deutsche Reich zuvorzukommen. Es ist kaum möglich, die verschiedenen Motive der Lateinamerikapolitik in dieser Periode sauber auseinander zu halten. Im Grunde ging es den Verantwortlichen in Washington immer um eine umfassende Wahrung der nationalen Interessen, wobei militärische Sicherheitsüberlegungen, wirtschaftliche Profitgesichtspunkte und spezi‐ fische Vorstellungen von politischer Entwicklung und sozialem Fortschritt ineinander‐ Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 208 <?page no="209"?> griffen. Mit einer schlichten Verurteilung des US-Imperialismus ist es für den Historiker aber nicht getan. Zum einen erzielten die USA in einigen lateinamerikanischen Staaten - wie auch auf den Philippinen - durchaus gewisse Modernisierungserfolge. Analog zu den progressiven Reformen daheim verbesserten sie die Infrastruktur, bau‐ ten das Bildungs- und Gesundheitswesen aus, reorganisierten die Finanzverwaltungen und drängten auf demokratische Wahlen. Als zweischneidiges Schwert erwies sich die Ausbildung von Polizei- und Militärverbänden, die in der Folge oft zu Unterdrückung‐ sinstrumenten diktatorischer Regime degenerierten. Andererseits trugen die Latein‐ amerikaner, insbesondere die gesellschaftlichen Eliten, durch eigene Versäumnisse und Fehler sehr viel dazu bei, dass die USA eine derart ungehinderte Vorherrschaft ausüben konnten. An erster Stelle ist hier die unsolide Finanz- und Steuerpolitik zu nennen, die viele Länder immer wieder in Krisen und Staatsbankrotte hineintrieb. Hinzu kam der mangelnde nationale Zusammenhalt, der es einzelnen Fraktionen der Führungsschicht geraten erscheinen ließ, sich bei dem großen Nachbarn im Norden „rückzuversichern“ und ihn in die eigenen innenpolitischen Querelen hineinzuziehen. In dem Maße, wie das nationale Selbstbewusstsein in den lateinamerikanischen Ländern zunahm, wuchs auch die Proteststimmung gegen die erzwungene Modernisierung, die militärischen Eingriffe und den Dollar-Imperialismus der Yankees. Auf diese Weise entstand ein politischer und kultureller Antagonismus zwischen den USA und Lateinamerika, der auch nicht verschwand, als die Interventionstruppen überall abgezogen wurden und Präsident Franklin Roosevelt in den 1930er Jahren seine „Politik der guten Nachbarschaft“ verkündete. Den zweiten Schwerpunkt der außenpolitischen Aktivitäten vor dem Ersten Welt‐ krieg bildete Ostasien, wo die Großmächte seit dem japanisch-chinesischen Krieg von 1895 das zerfallende China in Interessensphären aufteilten und die amerikani‐ schen Kaufleute und Missionare Gefahr liefen, an den Rand gedrängt zu werden. Nachdem die USA auf den Philippinen und Hawaii Fuß gefasst hatten, konnte die amerikanische Regierung ihre Asien-Ambitionen mit größerem Nachdruck verfolgen. Außenminister Hay warnte die anderen Mächte in zwei Noten von 1899 und 1900 davor, die territoriale Integrität Chinas zu zerstören, und forderte sie auf, in ihren jeweiligen Einflusszonen allen Nationen gleichberechtigte Handelsmöglichkeiten zu gewähren. Europäer, Russen und Japaner betrachteten dieses Prinzip der Open Door, das ihren eigenen Vorstellungen von Kolonialpolitik zuwiderlief, als Verschleierung amerikanischer Monopolbestrebungen. Zunächst änderte sich nicht viel, zumal die Amerikaner 1900 unter deutschem Oberbefehl an der gemeinsamen Niederschlagung des nationalistischen Boxer-Aufstands in Peking teilnahmen. Allmählich traten die In‐ teressenkonflikte aber schärfer hervor, denn die USA bezogen trotz oder gerade wegen ihres wirtschaftlichen Profitstrebens in China den anderen Mächten gegenüber eine anti-kolonialistische Position. Die Chinesen versuchten, daraus Kapital zu schlagen, indem sie die Amerikaner gegen die übrigen Eindringlinge ausspielten. Nach der Jahrhundertwende stiegen die Japaner auf Grund ihrer wirtschaftlichen und militärischen Erfolge zum härtesten Konkurrenten der USA in Asien auf. 1905 ver‐ 1 Der Eintritt der USA in die Weltpolitik 209 <?page no="210"?> mittelte Präsident Roosevelt in Portsmouth, New Hampshire, einen Frieden zwischen Japan und Russland in der Absicht, das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Mächten möglichst zu erhalten. Sein Engagement trug ihm 1906 den Friedensnobelpreis ein, hinderte die Japaner aber nicht daran, ihre Machtposition auf dem chinesischen Festland immer weiter auszubauen. Wegen der exponierten Lage der Philippinen sah sich Roosevelt deshalb gezwungen, ein politisches Arrangement mit Tokio zu suchen: Im Gegenzug für die japanische Zusage, die amerikanischen Besitzungen in Asien zu respektieren, erkannten die USA die Hegemonie Japans über Korea und die Interessen der Japaner in der Mandschurei an. Ein dauerhafter Ausgleich gelang jedoch nicht, weil die Zielvorstellungen zu unterschiedlich waren und kulturelle Faktoren die Beziehungen zusätzlich belasteten. Die Japaner betrachteten die Amerikaner als Störenfriede in Asien und empörten sich über die rassische Diskriminierung ihrer Landsleute auf Hawaii und in Kalifornien. Als die Schulbehörden von San Francisco 1906 gesonderte Schulen für asiatische Kinder einführten, konnte ein Bruch zwischen Tokio und Washington nur mit Mühe verhindert werden. Um weiteren Demütigungen dieser Art vorzubeugen, sah sich die japanische Regierung genötigt, die Auswanderung in die USA praktisch zu unterbinden. Die Amerikaner wiederum misstrauten nach wie vor den japanischen Absichten in China und unterstützten ab 1911, als die Revolution ausbrach, die nationalchinesischen Kräfte gegen die Japaner. Ob es ihre Politiker wollten oder nicht, wurden die USA von nun an in die Intrigen und Händel der asiatischen Politik hineingezogen. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges hatte ein American Empire Konturen gewon‐ nen, nicht als Kolonialreich im herkömmlichen Sinne, sondern als weltweites System unterschiedlicher Rechtstitel und abgestufter Einflussmöglichkeiten: Neben der einzi‐ gen „echten“ Kolonie, den Philippinen - deren Einwohnern 1916 die Unabhängigkeit in Aussicht gestellt wurde -, gehörten hierzu Territorien mit US-Gouverneuren (Puerto Rico, Hawaii), Flottenstützpunkte auf dem Weg nach Asien (Samoa, Guam, Midway und weitere Pazifikinseln), Protektorate, in denen der amerikanische Botschafter wie ein Statthalter residierte (Kuba, Panama, Dominikanische Republik, Haiti, Nicaragua), und Staaten, deren Politik weitgehend von US-Konzernen kontrolliert wurde (etwa Costa Rica und Honduras von der United Fruit Co. und das afrikanische Liberia vom Kautschukproduzenten Firestone). Die meisten Staaten Mittel- und Südamerikas waren inzwischen schon so stark auf den nordamerikanischen Markt ausgerichtet, dass sich auch ihr politischer Handlungsspielraum verringerte. In der westlichen Hemisphäre übten die USA also bereits eine Hegemonie aus, und in Europa und Südostasien machte sich ihr Gewicht allmählich stärker bemerkbar. Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 210 <?page no="211"?> 2 Das Bemühen um eine innere Erneuerung der Vereinigten Staaten Triebkräfte und Charakter der „progressiven Bewegung“ Ausgehend von den Reformimpulsen des späten 19. Jahrhunderts, breitete sich nach 1900 eine Aufbruchstimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit aus und erfasste beide großen Parteien. Die Einsicht wuchs, dass die soziale Entwicklung hinter der wirtschaftlichen zurückgeblieben war und dass die Prozesse der Industrialisierung und Urbanisierung nicht länger ihrer Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit überlas‐ sen werden dürften. Der religiöse Drang, „to make America over again“, blieb ein wichtiger Impuls. In den protestantischen Kirchen fand die Doktrin des Social Gospel großen Anklang, die christliche Grundsätze in allen Bereichen des menschlichen Lebens verwirklichen wollte. Kennzeichnend wurde nun die Verbindung von mora‐ lisch-religiösem Erneuerungsstreben und dem Glauben an die Kraft der Rationalität und der wissenschaftlichen Methoden. Den philosophischen Nährboden lieferte der Pragmatismus, wie er von dem Harvard-Professor William James und - vor allem auf die Erziehung angewandt - von John Dewey vertreten wurde. James lehnte jede Vorherbestimmtheit ab, sei sie calvinistischer, hegelianischer oder marxistischer Art. Er forderte die Menschen auf, die Veränderungen, die sich in einer „offenen“ Welt ständig vollzogen, kreativ und mit Phantasie in eine fortschrittliche Richtung zu lenken. Das harmonierte gut mit dem voluntaristischen, individualistischen Ethos, für das die Vereinigten Staaten als das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ inzwischen schon sprichwörtlich bekannt geworden waren. (In Deutschland veröffentlichte Ludwig Max Goldberger 1903 im Anschluss an seine USA-Reise ein Buch unter diesem Titel.) Dewey forderte eine Umgestaltung des öffentlichen Schulwesens der USA im demokratischen Sinne, die es der Jugend ermöglichen sollte, Kritikfähigkeit und selbstständiges Han‐ deln zu erlernen. Auch die Auffassungen von der Bedeutung des Rechts und der Rolle der Richter begannen sich unter dem Einfluss von Juristen wie Roscoe Pound und Oliver Wendell Holmes allmählich zu wandeln. Die an der Harvard Law School gelehrte „soziologische Jurisprudenz“ verlangte von dem Richter, sich nicht allein von abstrakten Grundsätzen leiten zu lassen, sondern auch wissenschaftlich gesicherte Fakten (etwa zu den Auswirkungen der Arbeitszeit auf die Gesundheit) bei der Urteils‐ findung zu berücksichtigen. Gestützt wurde eine solche Haltung durch die Arbeiten jüngerer Historiker, allen voran Charles A. Beard, der in seinem Buch An Economic Interpretation of the Constitution of the United States 1913 nachweisen wollte, dass die amerikanische Verfassung das Werk einer kleinen besitzenden Elite von Pflanzern und Kapitalisten gewesen sei, die ihre Macht sichern wollten. Wenn das zutraf, dann durfte man sie nicht länger unkritisch verehren und statisch auslegen, sondern musste ihre Bestimmungen flexibel an die Erfordernisse der Zeit anpassen. Es dauerte allerdings bis in die 1930er Jahre, bevor solche Ideen in der eher konservativen akademischen Welt Allgemeingut wurden. Mit Vernon L. Parrington und Frederick J. Turner zählte Beard zu den führenden progressive historians, die den Verlauf der amerikanischen 2 Das Bemühen um eine innere Erneuerung der Vereinigten Staaten 211 <?page no="212"?> Geschichte als kontinuierlichen Kampf zwischen fortschrittlich-demokratischen und eigennützig-elitären Kräften beschrieben. Reformgeist und Reformeifer erreichten zwischen der Jahrhundertwende und dem Kriegseintritt 1917 ihren Höhepunkt. Das Progressive Movement dieser Epoche war keine einheitliche, sondern eine sehr heterogene, in manchem sogar widersprüchliche Bewegung. Hinter den vielen Einzelanstrengungen, mit denen die Defizite und Fehl‐ entwicklungen der industriellen Gesellschaft beseitigt werden sollten, standen aber drei gemeinsame Leitideen: Dem republikanischen Erbe entstammte der Gedanke, man müsse dem öffentlichen Interesse Vorrang geben und dem Jefferson’schen Prinzip der Chancengleichheit für alle, das dem Machtanspruch der Monopole und Konzerne geopfert worden war, endlich wieder Geltung verschaffen; zweitens herrschte bei den Reformern weitgehend Einvernehmen darüber, dass die laissez faire-Ideologie nicht ins Extrem getrieben werden durfte und die Regierungen und Parlamente die Pflicht hatten, Missstände zu bekämpfen und Verbesserungen durchzuführen; drittens schließlich teilten die meisten Progressiven die optimistische Überzeugung, Staat und Gesellschaft könnten mit Hilfe von Wissenschaft und Technik effizienter, rationaler und gerechter gestaltet werden. Dies war die Zeit, in der umwälzende Durchbrüche in den Naturwissenschaften und der Medizin erzielt wurden, als die ersten Automobile vom Fließband rollten und als die Brüder Orville und Wilbur Wright 1903 bei Kitty Hawk an der Küste von North Carolina die erste mit einem Motor versehene Flugmaschine aufsteigen ließen. 1908 stellte Wilbur Wright mit 110 Metern einen Weltrekord im Höhenflug auf, und ein Jahr später führte Orville Wright seine Künste über dem Tempelhofer Feld bei Berlin vor. Wenn der Menschheitstraum vom Fliegen in Erfüllung ging, wenn die Technik alle Grenzen des traditionellen Könnens und Machens überschritt, mussten dann nicht auch die Sozialwissenschaften zu einer neuen, besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaften beitragen? Von seiner sozialen Zusammensetzung her handelte es sich beim Progressivismus im Wesentlichen um eine Bewegung der alteingesessenen städtischen Mittel- und Ober‐ schichten. Wie die führende Rolle von Ingenieuren, Verwaltungsfachleuten, Ärzten, Anwälten, Richtern, Professoren und Lehrern dokumentiert, war der Reformschub eng verbunden mit der Professionalisierung und Akademisierung der Gesellschaft, die in dieser Zeit zur Entstehung einer auf Expertenwissen basierenden new middle class führten. Besonders stark vertreten waren Angehörige der neuen Frauengeneration, die über höhere Bildung und mehr Freizeit als ihre Vorgängerinnen verfügten und die sich vornehmlich dem sozialen Bereich, dem Erziehungs- und Gesundheitswesen zu‐ wandten. Die beliebteste Organisationsform blieb die schon von Tocqueville gerühmte Association, ein von Staat und Parteien unabhängiger Verein oder Verband. Seit der Depression der 1890er Jahre schossen Hunderte solcher Associations, Leagues, Federa‐ tions und Clubs wie Pilze aus dem Boden und führten Reformkampagnen für Ziele, die vom sauberen Trinkwasser bis zum Weltfrieden reichten. Daneben gab es in größerer Zahl intellektuelle „Einzelkämpfer“ - Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler -, die Theodore Roosevelt wegen ihrer scharfen, z. T. überspitzten Sozialkritik mit dem Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 212 <?page no="213"?> Sammelbegriff der „Schmutzwühler“ (muck-raker) bedachte. Ideologisch tendierten die progressiven Reformer jedoch eher zur Mitte, zum Ausgleich von Klassengegensätzen und zur Versöhnung von Traditionslinien, die sich seit der Revolutionszeit durch die amerikanische Geschichte zogen. Sie wünschten keinen allmächtigen, bürokrati‐ schen und paternalistischen Staat, aber sie verlangten, dass die Bundesregierung innenpolitisch aktiver würde und die Einzelstaaten als „Laboratorien der Demokratie“ Mitverantwortung für bessere Lebensbedingungen, mehr Gerechtigkeit und rascheren Fortschritt übernähmen. Reformanliegen und Reformerfolge Den wichtigsten Anstoß zu der Reformbewegung lieferten zweifellos die unhaltbaren Zustände in den rasant wachsenden Städten der USA. Zwischen 1870 und 1910 stieg die Bevölkerung in Städten über 2500 Einwohnern insgesamt von 25 auf 45 Prozent, aber im Nordosten lebten 1910 bereits zwei Drittel der Menschen in Städten. New York zählte um diese Zeit ca. 4,8 Millionen, Chicago 2,2 Millionen und Philadelphia 1,55 Millionen Einwohner. Hier wie in Detroit, Cleveland und Boston waren über 70 Prozent der Einwohner Immigranten oder deren direkte Nachkommen. Ab 1918 überstieg die Zahl der Stadtbewohner diejenige der Landbewohner. Auf der „Haben‐ seite“ dieses Urbanisierungsprozesses standen große, weltweit bewunderte Leistungen: Architekten und Ingenieure der Chicago School wetteiferten mit ihren Kollegen in New York darum, der modernen Stadt eine unverwechselbare Skyline-Silhouette zu geben (in Chicago, wo 1885 mit dem 10-stöckigen Home Insurance Building der erste skyscraper errichtet worden war, konzipierten und verwirklichten Louis Sullivan und Frank Lloyd Wright einen eigenen amerikanischen Baustil; New York setzte 1913 mit dem 55-stöckigen Woolworth Building neue Maßstäbe für den „Wolkenkratzer“-Bau); auf dem Gebiet des öffentlichen Massenverkehrs waren die amerikanischen Städte mit ihren elektrischen Straßenbahnen und U-Bahnen (die erste Linie in New York wurde 1904 eröffnet) weltweit führend; auch die elektrische Straßenbeleuchtung und das Telefon setzten sich hier schneller durch als überall sonst auf der Welt; und es entstanden riesige vorbildliche Grünanlagen wie der Central Park in Manhattan, Forest Park in St. Louis und der Golden Gate Park in San Francisco. Andererseits wurden weite Bereiche wie das Gesundheits- und Sozialwesen, um das sich in Europa der Staat oder die kommunale Bürokratie kümmerten, vernachlässigt. Hier fanden die Reformer, die ihre Augen nicht mehr vor den Problemen der städtischen Massen verschlossen, wie sie beispielweise der Journalist Jacob Riis in seinem Fotoessay How the Other Half Lives präsentierte, ein weites Betätigungsfeld. Frauen leisteten einen maßgeblichen Beitrag zum Ausbau der sozialen Dienste, wenn sie diese nicht vielerorts überhaupt erst einrichteten. Zentrale Bedeutung erlangte die Settlement-Bewegung, deren Initiatorin Jane Addams in den 1890er Jahren von Chicago aus die englische Idee der städtischen Sozialstationen propagierte. Dem Modell des Londoner Toynbee House folgend, wurde ihr Hull House in Chicago zum 2 Das Bemühen um eine innere Erneuerung der Vereinigten Staaten 213 <?page no="214"?> Vorbild für über 400 Settlement Houses in amerikanischen Städten. Gut 60 Prozent der dort freiwillig tätigen Sozialarbeiter waren Frauen, die häufig führende Positionen innehatten. Von diesen Settlements strahlten Reformimpulse in viele Richtungen aus, angefangen beim Bau von Kindergärten und Spielplätzen über Verbesserungen in den Wohnungen und am Arbeitsplatz bis hin zum Kampf gegen die Kinderarbeit in Fabriken. Im Zentrum standen Bemühungen um Gesundheitsfürsorge und Hygiene in den Armenvierteln sowie um Qualitäts- und Reinheitskontrollen von Wasser und Lebensmitteln, für die auch Lobbies wie die National Consumers’ League zu Felde zogen. Die Reformer sahen ein, dass die drängenden Probleme nur gelöst werden konnten, wenn es gelang, die Regierungen und Verwaltungen der Städte durchsichtiger und leistungsfähiger zu machen. Statt auf die Improvisation und das Patronagewesen der „Bosse“ und ihrer „politischen Maschinen“ zu vertrauen, setzten sie sich ein für direkt gewählte, allen Einwohnern verantwortliche Bürgermeister, fachlich qualifizierte City-Manager und unabhängige Expertenkommissionen. Lebenswichtige Dienste wie die Wasser- und Abwasserversorgung, Gas, Elektrizität und städtischer Nahverkehr sollten ihrer Ansicht nach in öffentlichen Besitz übergehen oder zumindest unter kommunale Kontrolle gestellt werden. Auf der Ebene der Einzelstaaten strebten die Reformer Verfassungsänderungen an, die den Bürgern mehr unmittelbare Mitsprache sichern sollten, insbesondere in der Form von Volksbegehren, Referendum und Abwahl (recall) von Parlamentariern oder Amtsinhabern während der Legislaturperiode. Die Parteien mussten ihrer Ansicht nach von privaten Klubs zu öffentlichen Einrichtungen umgeformt werden, die ihre Kandidaten nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in offenen Vorwahlen (direct primaries) aufstellten. Auf nationaler Ebene galt es, Verfassungszusätze zu erreichen, die eine progressive Einkommenssteuer zuließen sowie das Frauenwahlrecht und die Direktwahl der Senatoren festschrieben. Letzteres gelang 1913 mit dem 17. Amendment, während die Frauen wegen des Widerstands in den konservativen Südstaaten und im Kongress bis 1920 warten mussten, bevor das 19. Amendment Wahlrechtseinschränkungen auf Grund des Geschlechts vollends beseitigte. Unter dem Druck progressiver Organisationen rafften sich die Staatenparlamente in dieser Periode zu den ersten, noch recht bescheidenen Sozialgesetzen auf. Sie beschlos‐ sen Unfall- und Altersrenten, verfügten schärfere Sicherheitsvorschriften für Fabriken und Bergwerke, setzten Höchstarbeitszeiten und Mindestlöhne in der Industrie fest und gewährten Frauen und Jugendlichen besonderen Schutz. Führend auf vielen dieser Gebiete wurde der Staat Wisconsin unter seinem republikanischen Gouverneur Robert M. („Fighting Bob“) LaFollette, der später als Senator nach Washington ging. Ein weiterer Reformschwerpunkt war das Bildungs- und Erziehungswesen. Hier drängten die Progressiven vor allem auf die gesetzliche Verankerung der Schulpflicht, die Ausrichtung der Lehrpläne an den Erfordernissen der Berufspraxis und die Öffnung der Colleges und Universitäten für begabte Schülerinnen und Schüler aus allen Bevölke‐ rungsschichten. Insbesondere die Fortschritte in der Koedukation konnten sich sehen lassen, denn 1920 stellten Frauen bereits fast die Hälfte aller College-Absolventen, Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 214 <?page no="215"?> wobei allerdings vor allem die Eliteuniversitäten geschlechtergetrennt blieben. Neben den öffentlichen Schulen gab es eine Vielzahl privater Bildungseinrichtungen, die dazu beitrugen, dass sich der Prozess der Professionalisierung in den USA staatsferner und offener vollzog als in den meisten europäischen Ländern. Stärker als bis dahin üblich wurden nun die Regierungen für „moralische“ Reformen und ein besseres soziales Milieu verantwortlich gemacht. Die 1893 gegründete, von den protestantischen Kirchen unterstützte Anti-Saloon League erreichte mit ihren Kampagnen, dass bis 1915 fast alle Staaten die Prostitution gesetzlich untersagten. Hauptziel blieb das Verbot des Alkoholkonsums, der angeblich nicht nur die Moral, sondern auch die Volksgesundheit gefährdete. Dieser Kreuzzug schien 1919 gewonnen, als der 18. Verfassungszusatz die bundesweite Prohibition einführte. Nationale Politik in der Reformära Nach der Jahrhundertwende wurde die Reformbewegung zu einem politischen Faktor, dem die nationalen Parteien und der Kongress Rechnung tragen mussten. Zum Erstaunen vieler Reformer entwickelte gerade Präsident Theodore Roosevelt trotz seines martialischen Gehabes immer mehr Sympathien für ihre Ideen und Anliegen. Obwohl er im Rahmen seiner Politik des Square Deal, des „gerechten Ausgleichs“ zwischen Unternehmern, Gewerkschaften und Regierung, viele Kompromisse schloss, half er doch mit, einige wichtige progressive Forderungen zu verwirklichen. Gelegent‐ lich bedurfte es dazu eines emotionalen Anstoßes: So drängte er den Kongress zur Verabschiedung von Hygienestandards für Lebensmittel, nachdem er Upton Sinclairs schockierende Beschreibung der Zustände in den Schlachthöfen von Chicago (The Jungle, 1906) gelesen hatte. Weit stärker als alle seine Vorgänger suchte Roosevelt den direkten Kontakt zu den Mitbürgern. Die verschiedenen Reformprojekte boten ihm Gelegenheit, das Weiße Haus gezielt als „Predigtkanzel“ (bully pulpit) zu nutzen, von der aus er politische und moralische Lehren verkündete. Besonders am Herzen lag dem passionierten Jäger „Teddy“ Roosevelt der Natur- und Landschaftsschutz, zu dessen Förderung er mehr als 125 Millionen acres Bundesland als national forests deklarierte und 1908 einen ersten nationalen Kongress einberief. Damit gab er einer Bewegung Auftrieb, deren Anfänge in die 1860er und 1870er Jahre zurückreichten, als Lincoln ein Schutzabkommen für das kalifornische Yosemite-Tal unterzeichnet und Grant das Yellowstone-Gebiet zum ersten Nationalpark der USA erklärt hatte. Auf Initiative des Naturforschers John Muir war es 1890 gelungen, auch Yosemite und andere kalifornische Schutzgebiete in das System der Nationalparks aufzunehmen. Beginnend mit dem Forest Reserve Act von 1891 wurden dann immer mehr Waldgebiete der unregulierten kommerziellen Nutzung entzogen. Im Unterschied zu Muir verstand sich Roosevelt jedoch nicht als preservationist, dem in erster Linie an der Unberührtheit der Natur lag, sondern als conservationist, der die wirtschaftliche Nutzung der public domain befürwortete, solange dies behutsam und im öffentlichen Interesse geschah. Deshalb unterstützte er auch Gesetze wie den Newlands Reclamation Act von 1902, der 2 Das Bemühen um eine innere Erneuerung der Vereinigten Staaten 215 <?page no="216"?> Erträge aus dem Verkauf von Bundesland für Bewässerungsmaßnahmen in trockenen Regionen bereitstellte. Der von Roosevelt selbst vorgeschlagene Nachfolger William H. Taft versuchte ab 1909, den Reformkurs beizubehalten und sich als Monopolgegner (trust buster) zu profilieren. In seiner Amtszeit wurde ein von Frauen geleitetes Children’s Bureau eingerichtet, das den Kampf gegen die immer noch weit verbreitete Kinderarbeit koordinieren sollte. Taft besaß jedoch wenig persönliche Ausstrahlung und definierte die Befugnisse der Bundesregierung wieder sehr eng und zurückhaltend. Auf diese Weise verdarb er es sich mit den Reformern in der Republikanischen Partei, die unter Führung von Robert LaFollette eine eigene Organisation aufbauten. Als LaFollette im Wahlkampf von 1912 erkrankte, sprang Theodore Roosevelt zur allgemeinen Überra‐ schung in die Bresche und ließ sich zum Präsidentschaftskandidaten der Progressive Party küren. Diese Spaltung im Lager der Republikaner kam jedoch einem anderen Progressiven zugute, dem demokratischen Gouverneur von New Jersey, Thomas Woodrow Wilson. Der gebürtige Virginier setzte sich gegen Taft und Roosevelt durch und zog 1913 als erster Südstaatler seit dem Bürgerkrieg ins Weiße Haus ein. In seiner ersten Amtszeit löste Wilson eine Reihe von Reformversprechen ein, die er während des Wahlkampfes gemacht hatte. An eine Zerschlagung der großen Konzerne war im Ernst zwar nicht mehr zu denken, aber die wirksame Aufsicht der Bundesregierung musste nach Meinung des Präsidenten den Missbrauch wirt‐ schaftlicher Macht verhindern. Der Clayton Anti-Trust Act von 1914 richtete die Federal Trade Commission ein, die unfaire Handelspraktiken unterbinden und kleinere Konkurrenten vor ruinösem Wettbewerb schützen sollte. Außerdem bestimmte das Gesetz, dass Anti-Trust-Vorschriften nicht länger gegen Gewerkschaften angewendet werden durften. Drastische Zollsenkungen kamen den Verbrauchern zugute, weil billige Importwaren ins Land strömten und die amerikanischen Unternehmen mit ihren Preisen heruntergehen mussten. Der Rückgang der Zolleinnahmen wurde durch eine Einkommensteuer ausgeglichen, die der Kongress nach Verabschiedung des 16. Amendments 1913 erstmals erheben durfte (1895 hatte der Supreme Court eine Einkommensteuer als verfassungswidrig bezeichnet). Diese Steuer war zwar abgestuft, aber keineswegs dazu gedacht, Einkommen oder Besitz umzuverteilen. Dagegen ließ eine 1916 im Schatten des Weltkrieges durchgeführte Steuerreform erstmals die Tendenz erkennen, die großen Unternehmen und die Besitzenden zu Gunsten der weniger wohlhabenden Schichten zur Ader zu lassen. Die Farmer erhielten Krediterleichterungen durch den Federal Farm Loan Act, und den Eisenbahnern wurden im Adamson Act der Acht-Stunden-Tag und Lohnerhöhungen zugestanden, als sie 1916 mit Generalstreik drohten. Seit 1913 existierte auch endlich ein - immer noch recht lockeres - Zentralbanksystem auf der Grundlage des Federal Reserve Act, der vorsah, dass die zwölf Distriktbanken gemeinsam über den Federal Reserve Board in New York den Geldumlauf und die Zinshöhe beeinflussen konnten. Hierbei hatten europäische Vorbilder und speziell das deutsche Modell der Reichsbank Pate gestanden. Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 216 <?page no="217"?> Im Wahlkampf von 1916 sagte Wilson die Fortführung der Reformpolitik zu, doch als die USA 1917 unter seiner Führung in den Krieg eintraten, ging die progressive Ära im Wesentlichen zu Ende. Der Präsident setzte nun auf eine enge Zusammenarbeit von Regierung und Unternehmern, von der er sich eine maximale Produktionsleistung versprach, und auch die meisten Reformer stellten ihre Wünsche hinter das Ziel einer erfolgreichen Kriegführung zurück. Grenzen und Widersprüche der Reformbewegung Aufs Ganze gesehen blieben die Erfolge der Reformer begrenzt, weil sich die Gegen‐ kräfte des laissez faire-Liberalismus und der konservativen Beharrung keineswegs leicht geschlagen gaben. Vielerorts behielten die „Parteibosse“, die den Reformern als Feindbilder zur Sammlung ihrer Anhänger dienten, politisch das Heft in der Hand. Wenn die Progressiven auf der kommunalen und einzelstaatlichen Ebene an Einfluss gewannen, bedeutete das nicht automatisch mehr Demokratie, sondern häufig eine stärkere Kontrolle der Elite, aus der sich die „Fachleute“ vorwiegend rekrutierten, zu Lasten der unteren Schichten. Die Hoffnung, dass Formen direkter Demokratie wie Vorwahlen und Volksabstimmungen die politische Partizipation verbessern würden, erfüllte sich ebenfalls nicht, denn der Trend zur geringeren Wahlbeteiligung setzte sich weiter fort. Die Macht des big business wurde durch die Anti-Trust-Gesetze und die neuen Interventionsmöglichkeiten der Bundesregierung nur unwesentlich einge‐ schränkt, zumal in den „unabhängigen“ Kommissionen nicht selten Repräsentanten der Industrie den Ton angaben. Etliche Reformvorhaben scheiterten am Widerstand der Gerichte, die weiterhin dem Recht auf Eigentum und dem individuellen Vertragsrecht (right of contract) hohe Priorität einräumten. So hob beispielsweise ein New Yorker Gericht 1905 in dem Fall Lochner v. New York die vom Staatenparlament festgesetzte Höchstarbeitszeit für Bäcker mit der Begründung auf, sie enge die Freiheit von Unternehmer und Arbeiter, Abmachungen über die Arbeitszeit zu schließen, auf verfassungswidrige Weise ein. 1918 verwarf der Supreme Court das Verbot der Kinder‐ arbeit, das der Kongress zwei Jahre zuvor erlassen hatte, als eine verfassungswidrige Einmischung der Bundesregierung in die Angelegenheiten der Einzelstaaten. Selbst das Engagement in den Settlement Houses und der Kampf gegen den Alkohol hatten eine Kehrseite: Da die Reformer dazu neigten, die Wertvorstellungen der protestantischen Mittelschicht als vorbildlich und allgemein gültig anzusehen, ließen sie es häufig an der gebotenen Rücksicht auf die Traditionen und Mentalitäten der Neueinwanderer fehlen. Diese Anpassung an den angelsächsischen kulturellen mainstream, die unter dem Schlagwort der Americanization mit sanfter Gewalt betrieben wurde, beschwor Spannungen herauf, wo gerade der Abbau von Klassenkonflikten und eine Anhebung des Lebensstandards der unteren Schichten intendiert waren. In der Einwanderungs‐ debatte und in der Rassenfrage verhielt sich die Mehrzahl der Reformer überdies alles andere als liberal und fortschrittlich. Viele Progressive vertraten nicht nur vehement die Forderung nach möglichst rascher „Amerikanisierung“ der Einwanderer, was 2 Das Bemühen um eine innere Erneuerung der Vereinigten Staaten 217 <?page no="218"?> deren ethnisch-religiöse Identität zu zerstören drohte, sondern stellten sich auch in die vorderste Front der Verfechter von Einwanderungsbeschränkungen. Darin sahen sie die einzige Möglichkeit, schwere soziale Konflikte und untragbare finanzielle Belastungen zu vermeiden, die sich aus der Überfüllung der Städte mit „menschlichem Müll“ (human garbage) ergeben würden. Unterstützung erhielten sie sowohl von Seiten der Unternehmer, die eine Radikalisierung der Arbeiterschaft durch Sozialisten und Anarchisten aus Europa befürchteten, als auch von den Gewerkschaften, die immer wieder erfahren mussten, dass Einwanderer als Streikbrecher und Lohndrücker benutzt wurden. In dem Begriff der new immigration, der für die Masseneinwanderung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts geprägt wurde, schwangen Ablehnung und Vorurteile mit, weil die Neuankömmlinge aus Italien, der Habsburgermonarchie und dem Zarenreich - unter ihnen viele Juden - für weniger anpassungsfähig und assimilationsbereit gehalten wurden als die „alten“ Einwanderer aus Westeuropa und Skandinavien. In dieser Phase gewann der Nativismus wieder die Oberhand, und die Parole lautete Drosselung und staatliche Kontrolle der Einwanderung. Konservative Organisationen wie die American Protective Association und die Immigrant Restriction League forderten Lese- und Schreibprüfungen (literacy tests) für Einwanderungswillige oder agitierten sogar für eine völlige Schließung der Grenzen. Intellektuelle Fürspre‐ cher einer multiethnischen Gesellschaft wie der Journalist Randolph Bourne, der die USA gern als eine „cosmopolitan federation of foreign cultures“ gesehen hätte, waren unter diesen Umständen die große Ausnahme. Sprecher der Einwanderer selbst zeigten sich bereit, im amerikanischen „Schmelztiegel“ aufzugehen, und jagten damit einem Wunschbild nach, das Ralph Waldo Emerson erstmals als „smelting pot“ postuliert hatte und das der jüdische Schriftsteller Israel Zangwill mit seinem Theaterstück The Melting Pot ab 1908 popularisierte. Die öffentliche Meinung neigte aber ungeachtet dieser Anpassungsbereitschaft zum Ausschluss, zur exclusion, wie sie in Kalifornien auf Druck von Arbeiterorganisationen 1882 erstmals gegen Chinesen verhängt worden war. Das Gentlemen’s Agreement, das Roosevelt 1907 mit der Regierung in Tokio schloss, beinhaltete ebenfalls praktisch ein Verbot der Einwanderung japanischer Arbeiter. Gegenüber den Europäern verfolgten die meisten Reformer einen Mittelkurs, der auf eine Begrenzung und „Lenkung“ der Immigration hinauslief. Das fiel umso leichter, als die „Nachfrage“ nach Einwanderern allmählich abnahm, weil die Bevölkerung ohnehin wuchs und weil Maschinen zunehmend ungelernte Arbeiter ersetzten. Eine Expertenkommission unter dem Vorsitzenden Dillingham erarbeitete von 1907 bis 1911 Vorschläge zur Einwanderungsbeschränkung, die dann in eine ganze Reihe von Gesetzen mündeten, mit denen der Kongress das „goldene Tor“ immer mehr schloss. So wurden die Gesundheitsbestimmungen für Einwanderer restriktiver gestaltet, eine Verteilung der Neuankömmlinge auf die verschiedenen Staaten und Territorien in Angriff genommen und der bundesstaatliche Immigration and Naturalization Service (INS) ermächtigt, Bewerber zurückzuweisen und bereits zugelassene Personen zu deportieren, die „gefährliche politische und soziale Doktrinen“ verbreiteten. 1917 fasste der Kongress alle bis dahin getroffenen Einzelregelungen im Immigration Act Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 218 <?page no="219"?> zusammen, der 35 Ausschlusskategorien festlegte und erstmals einen literacy test vorsah. Als die Einwandererzahlen nach der kriegsbedingten Unterbrechung wieder zu steigen begannen, wurde ab 1921 ein Quotensystem eingeführt und schrittweise verschärft, das Süd- und Osteuropäer klar benachteiligte und das den Zustrom auf ein Rinnsal reduzierte. Für das Rassenproblem hatten die Reformer, sofern sie es überhaupt als dringlich wahrnahmen, in der Regel keine bessere Lösung anzubieten als die Segregation und die Anwendung des separate but equal-Prinzips. Wie die meisten ihrer Mitbürger konnten sie sich nicht von den biologisch-sozial-darwinistischen oder den älteren theologischen Erklärungen lösen, mit denen die „Minderwertigkeit“ der Schwarzen bewiesen wurde. Dabei gewann das Thema eigentlich an Brisanz durch das Klima der Gewalt, das im Süden immer wieder Rassenunruhen und Lynchmorde hervorrief, und durch die beginnende Binnenwanderung der Schwarzen aus den südlichen Agrargebieten in die Städte des Nordens. Während zwischen 1870 und 1890 nur 80.000 Afroamerikaner in den Norden gekommen waren, betrug die Zahl der Migranten im Zeitraum von 1890 bis 1910 schon 200.000. Mit dem Krieg in Europa, der die überseeische Einwanderung unterbrach, setzte dann die Great Migration aus dem Süden ein und verlieh der Rassenfrage eine neue Dimension. Zwischen 1910 und 1920 wuchs die schwarze Bevölkerung in New York von 90.000 auf über 150.000, in Chicago von 44.000 auf 110.000 und in Detroit von knapp 6000 auf 40.000. Die Ghettobildung in den großen Städten hatte zwar schon Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, aber erst jetzt wurden die meisten Weißen der Anwesenheit kompakter schwarzer Bevölkerungsgruppen in ihrer Umwelt gewahr. Der New Yorker Stadtteil Harlem spielte zunächst eine Sonderrolle, weil die Afroamerikaner hier auf Grund verschiedener Faktoren, zu denen vor allem der Zusammenbruch eines spekulativen Baubooms gehörte, in Häuser zogen, die eigentlich für wohlhabende weiße Familien gebaut worden waren. Statt von einem „Ghetto“ sprach man anfangs von einer black community, wo Ärzte, Pfarrer, Anwälte und Geschäftsleute eine eigenständige schwarze Führungsschicht bildeten. Harlem galt als die „Negro capital of the world“ oder das „black Jerusalem“, das den Zuwanderern aus dem Süden ein Gefühl von Befreiung und Hoffnung vermittelte. Bald herrschten aber auch hier wie in den anderen schwarzen Wohngebieten der nördlichen Metropolen drangvolle Enge, Armut und schlechte hygienische Verhältnisse. Eine hohe Kindersterblichkeit, steigender Drogenkonsum und Kriminalität wurden zu weiteren Negativmerkmalen des Ghettos. Die Politiker in Washington einschließlich der Präsidenten verschlossen vor dieser Entwicklung die Augen oder beriefen sich auf die Zuständigkeit der Staatenregierun‐ gen. Nur eine kleine Minderheit weißer Reformer unterstützte aktiv die Anliegen der Afroamerikaner, die sich nun vermehrt um Selbsthilfe bemühten. Den Schwarzen des Südens erwuchs eine Führerpersönlichkeit in Booker T. Washington, der 1856 als Sohn von Sklaven geboren worden war und der 1881 eine Berufsschule, das Tuskegee Institute, in Alabama gegründet hatte. Mit Blick auf die realen Machtverhältnisse im Süden stellte Washington politische Ziele vorerst zurück und proklamierte den Kampf 2 Das Bemühen um eine innere Erneuerung der Vereinigten Staaten 219 <?page no="220"?> um die wirtschaftliche Gleichberechtigung als Hauptaufgabe. Sie sollte schrittweise durch harte Arbeit, die Aneignung handwerklicher Fähigkeiten und den Erwerb von Ei‐ gentum erreicht werden. Auf diese Weise könnten die Schwarzen ihr Selbstwertgefühl stärken und beweisen, dass sie bildungs- und anpassungsfähig seien. Eine Alternative zu dieser „gradualistischen“ Strategie entwickelte William E. B. Du Bois, ein 1868 in Neuengland geborener Afroamerikaner, der an der schwarzen Fisk University und in Berlin studiert hatte und nach der Promotion in Harvard als Professor in Atlanta lehrte. Er setzte seine Hoffnung auf das „begabte Zehntel“ (talented tenth) der Schwarzen, das als intellektuelle Avantgarde den Rassengenossen ein Vorbild geben und sie zur „Kultivierung“ anspornen sollte. Die „Anti-Bookerites“, darunter auch einige weiße Reformer, trafen sich 1905 auf kanadischem Territorium an den Niagara Falls und legten das Versprechen ab, über die wirtschaftliche Chancengleichheit hinaus auch für das Wahlrecht und die Rechtsgleichheit der „Farbigen“ zu kämpfen. Aus diesem Niagara Movement ging 1909 die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) hervor, die alle politischen und rechtlichen Mittel ausschöpfen wollte, um die Rassendiskriminierung zu beenden. Du Bois fungierte als Herausgeber der Zeitschrift The Crisis, aber die Führung der NAACP, die 1914 50 Zweigstellen mit ca. 6000 Mitgliedern hatte, lag überwiegend in der Hand reformerisch gesinnter weißer Anwälte. Ein Problem bestand darin, dass sich Organisationen wie die NAACP oder die National Urban League (NUL) mehr um die aufstrebenden Afroamerikaner in den Städten kümmerten als um die sharecroppers und Pächter auf dem flachen Land, obwohl auch 1920 immer noch 80 Prozent aller Schwarzen im Süden lebten. Mit öffentlichen Kampagnen gegen die Lynchjustiz und mit der Verteidigung von Afroamerikanern vor Gericht wurden einige praktische Erfolge erzielt. An der Segregation, der Armut in den Ghettos und der Verschuldung und Abhängigkeit der sharecroppers änderte das aber kaum etwas. Von einer Assimilierung und Integration der schwarzen Bevölkerung, die Booker T. Washington und W. E. B. Du Bois mit unterschiedlichen Methoden anstreb‐ ten, war man bei Ausbruch des Krieges noch weit entfernt. Washington starb 1915, und Du Bois forderte wenig später die jungen Afroamerikaner auf, sich freiwillig zur Armee zu melden und in Europa für die Freiheit zu kämpfen, damit sie anschließend auch in den USA mit größerem Nachdruck ihre Rechte einfordern könnten. Der Frauenbewegung gelang es in dem allgemeinen Reformklima, viele ihrer alten Forderungen zu verwirklichen, und einige Gruppen wie die Intellektuellen im Umkreis der sozialistischen New Yorker Zeitschrift The Masses formulierten bereits neue, feministische Ziele. Sie wollten die Fesseln der Geschlechterrollen und der „separaten Sphären“ abstreifen und die Frau in beruflicher, sexueller und kultureller Hinsicht dem Mann völlig gleichstellen. Sie standen der jungen feministischen Bewegung nahe, die in Alice Paul eine Führungsfigur und in der National Woman’s Party ein Sammelbecken fand. Das waren die ersten Anzeichen einer umfassenderen Revolution in den Beziehungen der Geschlechter, als dem women’s movement des späten 19. Jahr‐ hunderts vorgeschwebt hatte. Im praktischen Alltagsleben hielten sich die Fortschritte noch in engen Grenzen, aber für die jüngeren, besser gebildeten Frauen ergaben sich Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 220 <?page no="221"?> doch schon bedeutsame neue Erwerbsmöglichkeiten: Während die Zahl der in der Landwirtschaft und in Haushalten tätigen Frauen drastisch abfiel, stieg die Kurve der in modernen städtischen Dienstleistungsberufen, d. h. vor allem in Büros Beschäftigten ab 1900 steil an. Das ging einher mit einer generellen Lockerung des Lebenstils, der sich äußerlich in neuen, bequemeren Kleidungsmoden bemerkbar machte. Anders als die Frauenbewegung blieb die Arbeiterbewegung insgesamt auf Distanz zum Progressive Movement und versuchte, weiterhin eigene Wege zu gehen. Die Reformer kümmerten sich zwar um die Belange der Arbeiter, aber sie dachten und handelten doch ganz überwiegend aus einer bürgerlichen Perspektive und verabscheu‐ ten Klassenkampfideen. Arbeiterführer wie Eugene V. Debs aus Indiana, der sich als Präsident der AFL-Railway Union beim Pullman-Streik von 1894 einen Namen gemacht hatte, und der deutschstämmige Victor Berger aus Milwaukee entwickelten demgegenüber sozialistische Positionen und verfochten sie offensiv in der politischen Arena. 1901 trennte sich Debs von der militanten, dogmatisch-marxistischen Socialist Labor Party und trat an die Spitze einer neuen, breiter fundierten Arbeiterpartei, der Socialist Party of America. Obwohl auch diese Sammlung von Intellektuellen, Berufs‐ politikern und Gewerkschaftern, Frauen wie Männern, nicht von inneren Spannungen und Flügelkämpfen verschont blieb, wurde sie vorübergehend zur bestimmenden politischen Kraft der amerikanischen Linken. In der Rhetorik des Klassenkampfes trug Debs im Grunde maßvoll-reformerische Forderungen vor und verschaffte der Sozialistischen Partei damit eine Massenbasis von über 100.000 Mitgliedern. Seine Popularität erreichte bei den Präsidentschaftswahlen von 1912 ihren Höhepunkt, als er mit 900.000 Stimmen 6 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte. Ab 1915 gerieten die Sozialisten mit ihrem pazifistischen Kurs allerdings immer mehr in Widerspruch zur öffentlichen Meinung, und im November 1916 lag ihr Wähleranteil nur noch bei 3,2 Prozent. Nach dem Kriegseintritt der USA beschleunigte sich der Niedergang der Partei dann durch Abspaltungen und den Druck staatlicher Behörden und Gerichte. Die Gewerkschaften konnten angesichts der günstigen Wirtschaftsentwicklung, die nur 1912 / 13 von einer Rezession unterbrochen wurde, Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1915 stieg der durchschnittliche Reallohn eines Industriearbeiters von 532 auf 687 Dollar im Jahr. Weil das aber immer noch kaum ausreichte, eine Familie zu ernähren, mussten in der Regel mehrere Familienmitglieder, gerade auch Kinder, mitarbeiten, um den Lebensunterhalt sicherzustellen. Der Kampf für den Acht-Stunden-Tag trug erste Früchte, doch in vielen Industriezweigen, besonders in den Textilfabriken des Südens, waren 10 bis 13 Stunden Arbeitszeit weiterhin an der Tagesordnung. 1900 gehörten von den 30 Millionen nicht in der Landwirtschaft Beschäftigten 1 Million einer Gewerkschaft an; 1920 lagen die Vergleichszahlen bei ca. 40 Millionen und 5 Millionen. Die bei weitem bedeutendste Gewerkschaft, die American Federation of Labor (AFL), allein zählte 1920 4 Millionen Mitglieder, was etwa ein Fünftel der Industriearbeiterschaft ausmachte. Die etablierten Einzelverbände der AFL betrachteten Einwanderer, Afroamerikaner und Frauen (1910 2 Das Bemühen um eine innere Erneuerung der Vereinigten Staaten 221 <?page no="222"?> waren von 7 Millionen beschäftigten Frauen nur 125.000 organisiert) nach wie vor eher als Konkurrenten denn als Mitstreiter für eine gemeinsame Sache. Die Enttäuschung vieler Arbeiter über die ganz auf die Interessen der weißen Facharbeiterschaft ausge‐ richtete Taktik der AFL hatte schon 1905 zur Gründung einer neuen Gewerkschaft mit Schwerpunkt in den Bergwerksgebieten der Rocky Mountains und von West Virginia und Pennsylvania geführt. Bei den Industrial Workers of the World (IWW) handelte es sich um eine radikale Organisation, die speziell ungelernte Arbeiter und Neueinwan‐ derer ansprach und die durch Streiks und Sabotage den Kampf für die Weltrevolution befördern wollte. Der Schrecken, den die „Wobblies“ zeitweise in der amerikanischen Mittelschicht verbreiteten, stand im krassen Missverhältnis zu ihrer Mitgliederzahl und ihren Erfolgen. Während des Krieges wurden über 100 IWW-Anführer wegen Behinderung der Rüstungsanstrengungen verhaftet, und Organisatoren von Streiks sahen sich wütenden patriotischen Mobs gegenüber. Vollends ging diese „alternative“ Gewerkschaft dann im antikommunistischen Red Scare unter, der in den USA auf den Krieg und die Revolutionen in Europa folgte. Viele der hoch gesteckten Erwartungen, mit denen die progressiven Reformer an die Demokratisierung der Gesellschaft, die Herstellung von Chancengleichheit, die Beseitigung der Armut, die „Säuberung“ der Städte von Korruption und Unmoral und den Aufbau leistungsfähiger Verwaltungen herangegangen waren, blieben unerfüllt. Manche Erfolge zeitigten auch ganz unerwartete und unerwünschte Resultate, wie das Paradebeispiel der Prohibition zeigt, die das organisierte Verbrechen förderte, anstatt die Moral und Volksgesundheit zu heben. Auf der anderen Seite war die progressive Reformära keineswegs folgenlos: Zu ihren wichtigsten Ergebnissen gehört sicherlich ein Bewusstseinswandel in weiten Teilen der Bevölkerung, der Interventionen von Parlamenten und Regierungen in wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten nun zumindest unter gewissen dringenden Umständen gerechtfertig erscheinen ließ. Hinzu kam die Stärkung einer unabhängigen öffentlichen Meinung gegenüber dem Parteien‐ geist, der das späte 19. Jahrhundert beherrscht hatte. Die großen Parteien konnten sich zwar behaupten, nicht zuletzt, weil nur mit ihrer Hilfe eine nationale politische Willensbildung möglich war. Während die Parteibindung der Bürger aber etwas nachließ, gewannen nun die „organisierten Interessen“, in die sich die Gesellschaft auffächerte, immer mehr an Gewicht. Die unterschiedlichen Vorschläge und Forderun‐ gen, mit denen diese Reform- und Interessengruppen an die Öffentlichkeit traten, machten den politischen Prozess noch vielfältiger, komplexer und unberechenbarer. Ihre Analysen und ihre Kritik bewirkten aber ein vertieftes Nachdenken über die Grundlagen, Prinzipien und Ziele der amerikanischen Gesellschaft. Diese ständige öffentliche Debatte und die vielen privaten Initiativen hielten den „Prozess der kleinen Schritte“ in Gang, der die Modernisierung in dem immer noch weitgehend dezentralen und relativ schwach bürokratisierten Staatswesen voranbrachte. Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 222 <?page no="223"?> 3 Die Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg Der Weg in den Krieg, 1914 - 1917 Als die Balkankrise im August 1914 zum europäischen Hegemonialkrieg eskalierte, der auch auf die Kolonialgebiete Afrikas, des Nahen Ostens und Asiens übergriff, erklärte Präsident Wilson die Neutralität der USA und bat die Bevölkerung, sich unparteiisch zu verhalten. Damit befand er sich ganz im Einklang mit der außenpolitischen Tradition seit George Washington und trug darüber hinaus der Sorge vor innerer Zwietracht Rechnung: Es galt zu verhindern, dass die Auseinandersetzung zwischen Sympathisan‐ ten der Mittelmächte, zu denen in erster Linie deutsch- und irischstämmige Amerikaner gehörten, und Anhängern der Westmächte die multiethnische amerikanische Gesell‐ schaft in eine Zerreißprobe stürzte. Thomas Woodrow Wilson war 1856 in eine presbyterianische Pfarrersfamilie in Vir‐ ginia hineingeboren worden und hatte seinen Weg in die Politik über eine akademische Laufbahn als Geschichtsprofessor und Präsident der Princeton University gemacht (die er wieder in die Spitzengruppe der amerikanischen Bildungseinrichtungen führte). Als progressiver Gouverneur von New Jersey trat er 1912 für die Demokratische Partei an, um mit Hilfe einer gestärkten Bundesregierung die nötigen wirtschaftlichen und sozialen Reformen durchzusetzen. Wilson verband die moralische Strenge seiner presbyterianischen Erziehung mit wissenschaftlicher Disziplin, und er war trotz des äußerlich steifen, unnahbaren Auftretens ein mitreißender Redner. Im Stil eines Predigers benutzte er häufig religiöse Bilder, aber auch den einprägsamen Slogan „New Freedom“, der eine Erfüllung der in Unabhängigkeitserklärung und Verfassung enthaltenen demokratischen Verheißungen suggerierte. Gefühlsmäßig und ideologisch stand Wilson als Progressiver den Westmächten näher als dem Deutschen Reich, das aus seiner Sicht Autokratie und Militarismus verkörperte und auf die Zerstörung des europäischen Mächtegleichgewichts hinar‐ beitete. Auch in der westlichen Hemisphäre schien von Deutschland politisch und wirtschaftlich größere Gefahr auszugehen als von Großbritannien, das sich hier seit langem mit den USA arrangiert hatte. Rein ökonomische Gründe sprachen ebenfalls für eine bevorzugte Behandlung der Entente: Großbritannien war für die Vereinigten Staaten schon im Frieden der bedeutendste Handelspartner und Investor gewesen, und die Engländer kauften nach Kriegsbeginn im großen Stil Lebensmittel, Waffen und Munition in den USA ein. Diese Geschäfte wurden größtenteils durch private amerikanische Bankkredite finanziert, die sich bis 1917 schon auf 2,3 Milliarden Dollar beliefen. Allein im Jahr 1916 exportierte die amerikanische Wirtschaft, die durch den Auftragsboom aus der Vorkriegsrezession gezogen wurde, Rohstoffe und Waren im Wert von 2,75 Milliarden Dollar nach England und Frankreich. Demgegenüber sanken die Ausfuhren nach Deutschland wegen der Autarkiepolitik der Reichsregierung und der englischen Blockade bis 1916 auf ganze 2 Millionen Dollar ab. 3 Die Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg 223 <?page no="224"?> Wenn sich unter diesen Umständen innerhalb der Wilson-Administration die Waage auch schon früh zu Gunsten der Westmächte neigte, so hielten doch einige andere Faktoren die USA vorerst auf Neutralitätskurs. Wilson wusste, dass eine Kriegsbetei‐ ligung sein Reformprogramm gefährden würde; er hatte sein Land tief in die 1911 ausgebrochene mexikanische Revolution verstrickt; und er kannte die Stimmung einer großen Mehrheit der Amerikaner, die fürchteten, dass sie - womöglich an der Seite des autokratischen Zarenreichs - in den Kampf der „imperialistischen“ Mächte hineinge‐ zogen werden könnten. Der Präsident verhielt sich deshalb keineswegs, wie später oft behauptet wurde, von vornherein „pro-Entente“ oder „anti-deutsch“, sondern er hatte in allererster Linie die amerikanischen Interessen und seine Wiederwahlaussichten im Auge. Die US-Regierung verurteilte nicht nur die völkerrechtswidrige deutsche U-Boot-Kriegführung, sondern sie legte - wenngleich in schwächerer Form - auch gegen eine Reihe von britischen Blockadepraktiken Protest ein. Am liebsten wäre Wilson in dieser Phase ein Kompromissfriede gewesen, dessen Chancen er durch seinen engen Vertrauten, Colonel Edward M. House, in Europa ausloten ließ. An dieser Grundeinstellung änderte selbst der schwere „Lusitania“-Zwischenfall nichts, bei dem ein deutsches U-Boot am 7. Mai 1915 einen britischen Luxusdampfer auf dem Rückweg von New York vor der irischen Küste versenkte und den Tod von fast 1200 Menschen, darunter 128 Amerikaner, verursachte. Allerdings lehnte Wilson den Vorschlag seines Außenministers William J. Bryan ab, die Nutzung von Passa‐ gierschiffen für den Transport von Rüstungsgütern zu verbieten (die „Lusitania“ hatte Gewehrmunition für England an Bord gehabt) und amerikanischen Bürgern zu untersagen, auf Schiffen Krieg führender Staaten zu reisen. Bryan trat daraufhin zurück und wurde durch Robert Lansing ersetzt, der den Alliierten günstiger gesonnen war. Als die Reichsregierung jedoch nach der „Lusitania“-Krise Zugeständnisse machte und im Mai 1916 den uneingeschränkten U-Boot-Krieg vollends einstellte, schienen sich die deutsch-amerikanischen Beziehungen wieder zu stabilisieren. Um dieselbe Zeit trübte sich das Verhältnis der USA zu Großbritannien und Frankreich, weil die beiden alliierten Regierungen auf der Pariser Wirtschaftskonferenz vom Sommer 1916 ökonomische Kriegsziele formulierten, die mit dem amerikanischen Verlangen nach offenen Märkten und freiem Welthandel unvereinbar waren. Alle diese Ereignisse wurden in den USA von einer heftigen Debatte zwischen Gegnern und Befürwortern eines amerikanischen Kriegsbeitritts begleitet. Auf der einen Seite entstand eine breite Friedensbewegung, in der sich Vertreter unterschied‐ lichster Interessengruppen und geistiger Strömungen sammelten. Neben Pazifisten und Quäkern traten auch progressive Reformer wie Robert LaFollette, Sozialisten wie Eu‐ gene V. Debs, Frauenrechtlerinnen wie Jane Addams und Großindustrielle wie Andrew Carnegie und Henry Ford öffentlich für die Ziele der unionsweiten Non-Partisan League ein. Ihre Anhänger waren überzeugt, dass Unternehmer und Bankiers, die von der Rüstung profitierten, die USA gegen den Willen des Volkes in den Krieg hineinziehen wollten. Dieser Friedensbewegung stellte sich, angeführt vom ehemaligen Präsidenten Theodore Roosevelt, eine aktive Minderheit von „Interventionisten“ entgegen, die Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 224 <?page no="225"?> das Deutsche Reich als Hauptstörenfried der internationalen Ordnung brandmarkten und für die das Eingreifen der USA an der Seite der Westmächte nur eine Frage der Zeit sein konnte. Die Geheimdienste der Krieg führenden Staaten versuchten, diesen Meinungsstreit zu beeinflussen: Von Mitarbeitern der deutschen Botschaft in Washington wurden deutschfreundliche Organisationen unterstützt und Sabotageakte gegen kriegswichtige Lieferungen an die Entente geplant (der spätere Reichskanzler Franz von Papen musste deshalb die USA als persona non grata verlassen); die Briten verbreiteten ihrerseits übertriebene Berichte von deutschen Gräueltaten in den besetz‐ ten Gebieten und schürten amerikanische Ängste vor deutschen Expansionsabsichten in Lateinamerika. Im Wahljahr 1916 überwog noch eindeutig die Friedenssehnsucht in der amerikani‐ schen Bevölkerung. Präsident Wilson versprach, die USA weiterhin aus dem Krieg herauszuhalten, verlangte aber unter dem Schlagwort der preparedness, dass sich die Nation auf alle Eventualitäten vorbereiten müsse. Schon vor der Wahl schuf der Kongress durch mehrere Gesetze die Grundlage für eine Aufrüstung, mit der die USA ihre Machtposition sichern konnten, ganz gleich, wie der Krieg ausging. Neu im Wahlprogramm der Demokraten war der Vorschlag eines „Völkerbundes“ (League of Nations), der in Zukunft Aggressionen und Kriege verhindern sollte. Nach seinem knappen Sieg über den republikanischen Kandidaten Charles Evans Hughes im November 1916 warb Wilson erneut für einen „Frieden ohne Sieg“ und forderte die Kriegführenden auf, ihre Bedingungen bekannt zu geben. Die hinhaltende Taktik, mit der die Reichsregierung auf diese Friedensvermittlung reagierte, leitete dann allerdings eine Entwicklung ein, die in den Kriegseintritt der USA mündete. In Berlin setzten sich um diese Zeit die Befürworter eines „Siegfriedens“ durch, die glaubten, Großbritannien durch den U-Boot-Krieg in die Knie zwingen zu können, bevor die USA überhaupt in der Lage wären, wirksam militärisch zu intervenieren. Diese Annahme sollte sich als letztlich kriegsentscheidender Irrtum erweisen. Nach der Erklärung der Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges, der sich ja nicht zuletzt gegen die Neutralen richtete, brach Präsident Wilson Anfang Februar 1917 die diplomatischen Beziehungen zu Berlin ab, scheute aber immer noch vor dem Krieg zurück. Wieder kam es zu großen Friedensdemonstrationen in amerikanischen Städten, an denen sich nun sogar der ehemalige Außenminister Bryan beteiligte. Der endgültige Stimmungsumschwung trat dann durch die Veröffentlichung des so genannten „Zimmermann-Telegramms“ ein, einer Depesche, die der deutsche Staats‐ sekretär des Äußeren, Arthur Zimmermann, am 19. Januar 1917 an die Botschaft in Mexiko geschickt hatte. Darin instruierte er den deutschen Botschafter, dem mexi‐ kanischen Präsidenten ein Bündnis gegen die USA vorzuschlagen, in das möglichst auch Japan einbezogen werden sollte. Im Falle eines deutschen Sieges würde das Reich dann Mexiko helfen, die 1848 verlorenen Gebiete in Texas, New Mexico und Arizona zurückzubekommen. Da dieses Telegramm aus technischen Gründen über die deutsche Botschaft in Washington lief, konnte es der englische Geheimdienst abfangen und entschlüsseln. Am 24. Februar wurde der Text an Wilson weitergeleitet, der ihn 3 Die Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg 225 <?page no="226"?> am 1. März veröffentlichen ließ. Die Bevölkerung reagierte erwartungsgemäß heftig, weil die deutsche Offerte an zwei neuralgische Punkte rührte: Sie bedeutete eine Einmischung in die amerikanisch-mexikanischen Beziehungen, die sich durch den Abzug der letzten amerikanischen Interventionstruppen gerade gebessert hatten; und sie beschwor das Gespenst eines Zweifrontenkrieges im Atlantik und Pazifik herauf, wo man den Japanern durchaus aggressive Absichten zutraute. Im Kongress stemmte sich dennoch eine Gruppe von Senatoren bis zuletzt dem Kriegseintritt entgegen. Ihrem Widerstand wurde aber der Boden entzogen, als deutsche U-Boote mehrere amerikanische Schiffe versenkten. Am 2. April forderte Wilson den Kongress auf, dem Deutschen Reich den Krieg zu erklären: Die USA würden nicht für Eroberungen kämpfen, sondern für Frieden und Gerechtigkeit. Wilsons berühmte Forderung: „The world must be made safe for democracy“ bezog sich auch auf die Lage in Russland, wo der Zar nach der Februar-Revolution abgedankt hatte. Die Kriegserklärung erfolgte am 6. April gegen 50 Stimmen im Repräsentantenhaus (darunter die erste weibliche Abgeordnete, Jeannette Rankin aus Montana) und sechs im Senat. Um ihren besonderen Status zu verdeutlichen, traten die USA als „assoziierte“ Macht an die Seite der „alliierten“ Westmächte. Wilson begründete seine Entscheidung mit deutschen Rechtsbrüchen sowie mit der Gefährdung des amerikanischen Handels und der amerikanischen Sicherheit. Gleichzeitig gab er eine moralische Rechtfertigung, indem er den Krieg zum „Kreuzzug für die Demokratie“ und zum „war to end all wars“ erklärte. Pragmatisches Gleichge‐ wichtsdenken mischte sich mit einem idealistischen, im letzten religiös inspirierten Bekenntnis zu höheren Werten und Prinzipien. Über die „eigentlichen“ Motive des Präsidenten wird bis heute gerätselt: Vieles deutet darauf hin, dass Wilson und seine engsten Berater seit Ende 1916 zunehmend zu der Überzeugung gelangt waren, dass die USA nur im Falle einer aktiven Beteiligung am Krieg ihren Interessen und Prinzipien auf der künftigen Friedenskonferenz würden Geltung verschaffen können. Sollte Deutschland siegen, dann drohte die Verwirklichung von „Mitteleuropa“-Plänen, die wenig Rücksicht auf amerikanische Belange nahmen. Aber selbst ein Sieg der Entente-Mächte, das hatten die Wirtschaftsverhandlungen in Paris 1916 gezeigt, konnte zu Lasten der Vereinigten Staaten gehen. Die Beweggründe zum Kriegseintritt waren also spätestens nach dem Scheitern der Vermittlungsaktion gegeben; ohne die strategischen Fehlkalkulationen und diplomatischen Missgriffe der deutschen Führung wäre es Wilson jedoch schwer gefallen, den „Rubikon zu überschreiten“ und Bevölkerung wie Kongress von der Notwendigkeit der Kriegserklärung zu überzeugen. Die Vereinigten Staaten als Krieg führende Macht, 1917 / 18 So schwer sich die Amerikaner mit der Entscheidung für den Krieg getan hatten, so intensiv und verbissen mobilisierten sie nun ihre großen menschlichen und materiellen Ressourcen. Obwohl sich Hunderttausende freiwillig zum Militär meldeten, wurde im Mai 1917 die Wehrpflicht durch den Selective Service Act eingeführt, der insgesamt Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 226 <?page no="227"?> 45 Millionen Amerikaner erfasste, von denen 3 Millionen dienten. In Frankreich kamen 2 Millionen Amerikaner zum Einsatz, davon ca. 400.000 Schwarze, die aber strikt seg‐ regiert blieben und hauptsächlich Arbeiten hinter der Front verrichteten. Frauen taten freiwillig Dienst als Krankenschwestern im US Nurse Corps und als Sekretärinnen oder Technikerinnen bei der US Navy und im US Army Signal Corps. Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen (conscientious objectors) fanden lediglich 4000 Amerikaner. Die ökonomische Mobilisierung fiel relativ leicht, weil die amerikanische Wirtschaft über genügend Produktionsreserven verfügte, um sowohl den militärischen Bedarf als auch den zivilen Konsum zu befriedigen. Unter Einschluss der Lieferungen an die Verbündeten entfiel selbst auf dem Höhepunkt der Anstrengungen nur ein Viertel der Gesamtproduktion auf die Kriegführung. Von einer Zwangs- und Mangelwirt‐ schaft, wie sie die meisten Europäer erfuhren, war man in den USA also weit entfernt. Kennzeichnend für den amerikanischen Ansatz wurden Kommissionen, in denen Regierungsbeamte mit Repräsentanten der einzelnen Wirtschaftszweige und mit Gewerkschaftsvertretern zusammenarbeiteten. Im Zentrum stand der vom Finanzexperten Bernard Baruch geleitete War Industries Board (WIB), der planend, lenkend und rationalisierend in die Produktion eingriff und Preise festsetzen konnte. Der War Trade Board organisierte und überwachte die wirtschaftliche Kriegführung gegen Deutschland, wobei schwierige Abstimmungsprobleme zwischen den USA und den für die Blockade verantwortlichen britischen Ministerien zu lösen waren. Die Food Administration unter dem späteren Präsidenten Herbert Hoover kooperierte mit den Farmerverbänden, um die Agrarerzeugung zu steigern, Lebensmittel in den USA und bei den Verbündeten zu verteilen und den Preisauftrieb zu dämpfen. Die zentralisierende Wirkung des Krieges spiegelte sich auch in Behörden wie dem War Shipping Board und der Railroad Administration wider, die für eine bessere Nutzung der Transportkapazitäten sorgten. Um Arbeitskämpfe zu vermeiden, richtete die Regierung den National War Labor Board als Vermittlungsinstanz ein und drängte die Unternehmen, die Löhne zu erhöhen und die AFL-Verbände als Tarifpartner anzuerkennen. Durch die Einbindung der gemäßigten Gewerkschaften blieb der soziale Friede weitgehend gewahrt, obgleich die Preise kräftig stiegen und die Lebenshaltungskosten 1918 fast doppelt so hoch lagen wie 1913. Der Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften wurde nach dem Versiegen der Einwanderung aus der „internen Reserve“ gedeckt: Frauen stellten binnen kurzem ein Fünftel der in den Kriegsindustrien Beschäftigten, und ca. 500.000 Afroamerikaner zogen aus dem Süden in die Industriezentren des Nordostens und Mittleren Westens. Während die meisten Frauen bei Kriegsende wieder Männern Platz machen mussten, reichten die sozialen Folgen der Great Migration weit über den Krieg hinaus: Einer‐ seits gelangten südliche Lebensart und afroamerikanische Kultur in die Ghettos der nördlichen Metropolen, von wo aus einzelne ihrer Erscheinungsformen wie der melan‐ cholische Blues und der Jazz den Weg in den kulturellen mainstream der USA fanden. Andererseits wuchsen die sozialen Spannungen zwischen Weiß und Schwarz und 3 Die Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg 227 <?page no="228"?> kam es nun auch im Norden häufiger zu Lynchmorden und Rassenunruhen. Die wirt‐ schaftliche Mobilisierung ging keineswegs reibungslos vonstatten, sondern es gab auch Fehlplanungen, Koordinierungsmängel und Kompetenzenwirrwarr. Noch bevor die Maschinerie auf volle Touren kam, ging der Krieg zu Ende. Der Verteidigungshaushalt, der 1916 ganze 305 Millionen Dollar betragen hatte, erreichte erst 1919 seinen Höchst‐ stand mit 13,5 Milliarden Dollar. Trotz allem erzielten die Amerikaner innerhalb kurzer Zeit eine beeindruckende volkswirtschaftliche Leistung. Sie finanzierten nicht nur ihre eigenen Kriegsanstrengungen, sondern zum beträchtlichen Teil auch diejenigen der europäischen Verbündeten, denn in den 33,5 Milliarden Dollar Gesamtausgaben waren 7 Milliarden Kriegskredite enthalten. Zwei Drittel der Kriegskosten wurden durch Steuern aufgebracht, der Rest durch die Ausgabe von Staatsanleihen, die als Liberty Bonds noch zusätzliche Propagandawirkung entfalteten. Gesamtwirtschaftlich gesehen bewirkte der Krieg einen Wachstumsschub, der das Bruttosozialprodukt von 40 Milliarden (1914) auf 90 Milliarden Dollar (1920) hinaufschnellen ließ. Bei Berücksichtigung der Inflation bleiben zwar nur 10 Milliarden realer Zuwachs, aber selbst das ist eine beachtliche Expansionsrate. Integraler Bestandteil des „Kreuzzugs für die Demokratie“ war die psychologische Aufrüstung der „Heimatfront“ einschließlich der Unterdrückung von politischem Dissens. Anpassungs- und Konformitätsdruck wurden teils durch Steuerung von oben, teils durch spontane Aktionen an der Basis erzeugt. Im Auftrag der Regierung entfachte das Committee on Public Information, das der progressive Journalist George Creel leitete und dem bekannte Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler angehörten, eine heftige anti-deutsche Kampagne. Sie traf nicht nur erklärte Sympathisanten des Kaisers, sondern zerstörte auch Institutionen wie deutsche Vereine, Zeitungen und Schulen, auf denen die ethnische Identität der Deutsch-Amerikaner beruhte. (Zur selben Zeit riefen Professoren im Kaiserreich zur Verteidigung der deutschen Kultur gegen „westlichen Materialismus“ und „falsche Freiheit“ auf.) Der Rückgang der deutschen Sprache in den USA, der auf Grund der nachlassenden Einwanderung von Deutschen seit den 1890er Jahren schon früher begonnen hatte, wurde durch diese Vorgänge weiter beschleunigt. Neben den Deutschstämmigen litten die Iren am meisten unter dem vom Creel Committee angestachelten patriotischen Eifer. Die Angst vor Spionen und Saboteuren war nicht völlig unbegründet, aber vom Standpunkt der „loyalen“ Amerikaner aus machte sich jedermann schuldig, der die Beteiligung am Krieg nicht begrüßte oder sie gar kritisierte. In den Gemeinden und Betrieben überwachten halbstaatliche und private „Selbstschutz“-Organisationen (Loyalty Leagues, American Protective League, American Defense Society etc.) alle potenziellen Kriegsgegner und registrierten „un‐ amerikanische“ Aktivitäten. Die Regierungen der Einzelstaaten, die Universitäten und das 1908 gegründete Bureau of Investigation im Bundesjustizministerium (aus dem 1935 das FBI hervorging) beteiligten sich an dieser Jagd auf den „inneren Feind“. Darüber hinaus schuf der Kongress gesetzliche Grundlagen, um einen möglichen Widerstand gegen die Kriegspolitik im Ansatz zu ersticken: Der Espionage Act von 1917 verbot die Behinderung der Rekrutierung und Aufrüstung und ermöglichte Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 228 <?page no="229"?> die Presse- und Postzensur; nach dem Sedition Act von 1918 konnte unter Anklage gestellt werden, wer die Regierung, die Uniform oder nationale Symbole wie Fahne und Verfassung verächtlich machte. Zwar hielt sich die Zahl der Verurteilungen in Grenzen, aber in dem hysterischen Klima, das auf diese Weise geschaffen wurde, gingen die abweichenden Stimmen aus der Friedensbewegung und aus dem Lager der amerikanischen Linken unter. Der Supreme Court bestätigte nach Kriegsende in Fällen wie Schenck v. US und Abrams v. US die repressiven Gesetze als verfassungskonform: in dem gegebenen Ausnahmezustand sei der Kongress befugt gewesen, die vom ersten Amendment garantierte Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit einzuschränken. Eugene Debs, der wegen einer Anti-Kriegsrede zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war, kandidierte 1920 von seiner Zelle aus für die Präsidentschaft und wurde erst 1921 von Präsident Harding begnadigt. Einzelne Richter erkannten dem Schutz der Grundrechte schon damals einen wesentlich höheren Rang zu, aber in vieler Hinsicht hatte diese restriktive Auslegung der Verfassung bis nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand. Aus heutiger Sicht gehört die strafrechtliche Verfolgung der Kriegsgegner - ebenso wie die Diffamierung ganzer Bevölkerungsgruppen - zu den Schattenseiten der nationalen Kraftanstrengung von 1917 / 18. Auf dem Kriegsschauplatz konnte zunächst mit Hilfe des Konvoi-Systems eine wirtschaftliche Abschnürung Großbritanniens verhindert werden. Überdies steigerte die amerikanische Teilnahme an der Blockade nun den ökonomischen Druck auf die Mittelmächte. Mit der Requirierung der niederländischen Handelsschiffe in ame‐ rikanischen Häfen im März 1918 gaben die USA sogar zu erkennen, dass sie bereit waren, die Rechte der neutralen Staaten, die sie bis 1917 hochgehalten hatten, dem Ziel der Niederringung des Deutschen Reiches unterzuordnen. Nahezu unbehindert von deutschen U-Booten trafen die ersten Truppen der American Expeditionary Force (AEF) unter General John J. Pershing im Herbst 1917 in Frankreich ein. Noch bevor sie wirklich in die Kämpfe eingreifen konnten, verkündete Präsident Wilson am 8. Januar 1918 vor dem Kongress die amerikanischen Kriegsziele, die er in den berühmten „14 Punkten“ zusammenfasste. Die wichtigsten Forderungen betrafen die Abkehr von den Methoden der Geheimdiplomatie und Geheimverträge zu Gunsten einer „offenen“ Diplomatie; die Freiheit der Meere und einen unbehinderten Welthandel; die Begrenzung der Rüstungen und die Regelung der kolonialen Ansprüche; die Rückgabe der von den Mittelmächten besetzten Gebiete und die Verwirklichung des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung einschließlich der Errichtung eines unabhängigen polnischen Staates; und schließlich als krönenden Abschluss die Gründung eines Völkerbundes (general association of nations), der dafür sorgen sollte, dass eventuelle Konflikte innerhalb der neuen Friedensordnung gewaltfrei gelöst würden. Diese Botschaft erwies sich als eine scharfe Propagandawaffe, aber sie legte Wilson auch auf einen Kurs fest, der mit den Realitäten der europäischen Machtpolitik nur schwer vereinbar war. Anfangs ließ sich der Präsident davon nicht beirren: Wie vor ihm Lincoln, so nutzte Wilson nun die große Machtfülle aus, die ihm die Verfassung 3 Die Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg 229 <?page no="230"?> gerade in Kriegszeiten als Staatsoberhaupt, Regierungschef und Oberbefehlshaber der Streitkräfte in die Hand gab, um den eingeschlagenen Weg konsequent fortzusetzen. Auf den Schlachtfeldern Frankreichs gewann der amerikanische Einsatz an Men‐ schen und Material ab Frühjahr 1918, als sich die Balance nach dem russischen Separatfrieden von Brest-Litowsk zu Gunsten der Mittelmächte zu neigen schien, ausschlaggebende Bedeutung. Mit Hilfe von US-Truppen konnte die deutsche „Schluss‐ offensive“ im Juni zum Stehen gebracht werden, und in den beiden folgenden Monaten gelang es, die gegnerischen Armeen weit zurückzudrängen. Amerikanische Flieger kamen ebenfalls zum Einsatz; der erfolgreichste Pilot, Edward („Eddy“) Rickenbacker, brachte es auf 26 Abschüsse und wurde nach seiner Rückkehr als nationaler Held gefeiert. Später stieg er zum Präsidenten von Eastern Airlines auf, einer der Pionier‐ gesellschaften der zivilen Luftfahrt. Bei den Kämpfen in Frankreich wurden ca. 50.000 Amerikaner getötet und 200.000 verwundet. Die tatsächlichen Verluste waren aber noch wesentlich höher, denn über 60.000 Soldaten fielen Krankheiten, vor allem einer Grippeepidemie, zum Opfer. Aus amerikanischer Perspektive waren das schwere Opfer in einem Feldzug, der praktisch nur wenige Monate dauerte; gemessen an den Millionen Toten, die Deutsche, Russen, Franzosen und Briten zu beklagen hatten, muteten diese Zahlen jedoch niedrig an. Im September gab die deutsche Oberste Heeresleitung ihre Siegeshoffnungen auf und drängte die politische Führung des Reiches zum Friedensschluss. Bei der Entscheidung der Reichsregierung, am 5. Oktober ein Waffenstillstandsgesuch an Präsident Wilson zu übermitteln, spielte die trügerische Hoffnung auf die „14 Punkte“ eine ebenso wichtige Rolle wie bei den rasch eingeleiteten innenpolitischen Reformen und beim Thronverzicht des Kaisers am 9. November. Der Waffenstillstand vom 11. November diktierte der deutschen Seite dann allerdings auf französischen Druck hin sehr harte Bedingungen, die den Friedensvertrag bereits bis zu einem gewissen Grade entgegen den Absichten Wilsons präjudizierten. Der Versailler Friede und seine Rückwirkungen in den USA Mit Hilfe eines Expertenkomitees, der von Colonel House geleiteten Inquiry, hatte sich Wilson gründlich auf das Abenteuer des Friedenschließens vorbereitet. Als erster amtierender amerikanischer Präsident fuhr er im Dezember 1918 nach Europa, um an der Spitze der US-Friedensdelegation die neue politische Ordnung mitzugestalten. Sein triumphaler Empfang durch die Bevölkerung der alliierten Staaten stand im Kontrast zu der Niederlage der Demokratischen Partei in den Novemberwahlen, bei denen wirtschaftliche Themen wie die Inflation die Außenpolitik bereits wieder in den Hintergrund gedrängt hatten. Ähnlich glücklos agierte Wilson trotz aller persönlichen Anstrengungen auf der Friedenskonferenz der 27 Siegerstaaten, die am 18. Januar 1919 in Paris begann und ihren Höhepunkt mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags am 28. Juni 1919 erreichte. Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 230 <?page no="231"?> Aus drei wesentlichen Gründen blieb das Endergebnis deutlich hinter Wilsons Ideen und Zielvorstellungen zurück: Zum einen hatte der Präsident die Absicht der Franzosen und Engländer unterschätzt, Deutschland durch Gebietsabtrennungen, Entwaffnung und hohe Reparationslasten militärisch und wirtschaftlich so sehr zu schwächen, dass es nie wieder zur Gefahr werden konnte. Wilson erkannte die psychologischen und ökonomischen Risiken eines solchen Kurses, doch er musste Kompromisse schließen, um einen Bruch mit den Verbündeten zu vermeiden. Zweitens litt das Friedenspro‐ gramm der Inquiry an nahezu unüberwindlichen inneren Widersprüchen, was vor allem bei der Grenzziehung im Osten und bei der Behandlung von Kolonialfragen offenbar wurde. In den ethnisch gemischten Siedlungsgebieten Ost- und Südosteuropas ließ sich das Selbstbestimmungsprinzip nicht mit der Forderung nach der Lebensfä‐ higkeit neuer Staaten wie Polen, der Tschechoslowakei und Jugoslawien vereinbaren; eine Ausdehnung des Selbstbestimmungsrechts auf die Kolonialgebiete wiederum kam für die europäischen Mächte noch nicht in Frage, so dass man sich auf die Zwi‐ schenlösung einigte, die ehemaligen deutschen Besitzungen als Völkerbundsmandate unter britische, französische und japanische Verwaltung zu stellen. Dass Japan auf diese Weise im pazifischen Raum noch stärker wurde, konnte eigentlich nicht im Interesse der USA liegen. Drittens schließlich trat das deutsche Problem im Verlauf der Konferenz aus der Sicht Wilsons mehr und mehr hinter die revolutionäre Gefahr zurück, die vom bolschewistischen Russland ausging. Schon die „14 Punkte“ waren in gewissem Sinne eine Antwort auf Lenins und Trotzkis Strategie gewesen, mit der Parole vom Selbstbestimmungsrecht aller Völker zum Kampf gegen den „westlichen Imperialismus“ und zur „Weltrevolution“ aufzurufen. Ohne den Kongress zu fragen, hatte Wilson im Sommer 1918 amerikanische Truppen nach Nordrussland und Sibirien entsandt, um eine Konsolidierung des bolschewistischen Regimes zu verhindern. Als sich eine Niederlage der gegenrevolutionären „weißen“ Kräfte abzeichnete, wurden sie 1920 wieder abgezogen; in der Zwischenzeit war Wilsons Aufmerksamkeit aber von dieser mit Engländern und Franzosen gemeinsam durchgeführten Intervention und vom kommunistischen Umsturz in Ungarn kaum weniger beansprucht worden als von den Bestimmungen des Versailler Vertrags. Hier brach zum ersten Mal der ideologische und machtpolitische Gegensatz zwischen den USA und Sowjetrussland auf, der die weitere Geschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich bestimmen sollte. Am Ende saß Wilson zwischen allen Stühlen und wurde von überallher angefeindet. Die Deutschen, die illusionäre Erwartungen an seine „14 Punkte“ geknüpft hatten, waren maßlos verbittert und bezichtigten ihn der Täuschung und Scheinheiligkeit. Franzosen, Briten und insbesondere die Italiener nahmen ihm übel, ihre Maximalposi‐ tionen nicht akzeptiert zu haben. Viele Amerikaner empfanden die Kluft zwischen dem Versprechen einer friedlichen, demokratischen Welt und dem tatsächlichen Ergebnis als so groß, dass sie ernsthaft am Sinn der Kriegsbeteiligung und der gebrachten Opfer zu zweifeln begannen. Wilson tröstete sich mit der Gründung des Völkerbundes, der auf dem Wege der friedlichen Revision die Fehler und Schwächen der Friedensverträge nach und nach beseitigen würde. Aber gerade an der Völkerbundssatzung, die der 3 Die Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg 231 <?page no="232"?> Präsident für den Kern des Versailler Vertrags hielt, entzündete sich in den USA ein Streit, der das Scheitern seiner Politik besiegelte. Die Ratifizierungsdebatte des Senats fand in einem Klima statt, das durch die politische Desillusionierung, die Schwierigkeiten der Umstellung von Kriegsauf Frie‐ denswirtschaft und durch die Furcht vor dem Bolschewismus irrationale und teilweise hysterische Züge annahm. Schreckensberichte über die Revolutionen in Europa, eine Streikwelle von 4 Millionen amerikanischen Arbeitern, blutige Rassenunruhen in mehreren großen Städten und Bombenattentate von Anarchisten lösten 1919 / 20 eine Art kollektive Paranoia, den Red Scare, aus. Obwohl keine echte Revolutionsgefahr gegeben war (die wenigen amerikanischen Kommunisten konnten sich nicht einmal auf eine gemeinsame Partei einigen), setzten die Behörden landesweit Tausende von Verdächtigen ohne Haftbefehl fest und deportierten mehrere hundert Personen nach Europa. Eine unvoreingenommene, objektive Prüfung des Versailler Vertrags und der in ihm enthaltenen Völkerbundssatzung war in dieser Atmosphäre kaum möglich. Taktische Fehler Wilsons, der es versäumt hatte, führende Republikaner rechtzeitig ins Vertrauen zu ziehen, und der zu keinen wirklichen Zugeständnissen bereit war, erschwerten die Aufgabe zusätzlich. Kritik kam sowohl von Demokraten und Pro‐ gressiven, die den Völkerbund für eine Interessengemeinschaft der imperialistischen Mächte hielten, als auch von Republikanern, die behaupteten, eine Mitgliedschaft im Völkerbund schränke die Handlungsfreiheit der USA zu sehr ein und erlaube es anderen Staaten, die Monroe-Doktrin zu umgehen und sich in amerikanische Angele‐ genheiten wie die Einwanderungspolitik einzumischen. Der Hauptvorwurf lautete, die Bestimmungen zur „kollektiven Sicherheit“ in Artikel 10 der Völkerbundssatzung wür‐ den die Vereinigten Staaten automatisch in jeden europäischen oder kolonialen Krieg hineinziehen. Im September erlitt Wilson auf einer Redetour durch den Westen, die er zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung unternahm, einen Schlaganfall und war fortan teilweise gelähmt. Bei der Schlussabstimmung im Senat im März 1920 verfehlte der Versailler Vertrag knapp die notwendige Zweidrittel-Ratifizierungsmehrheit. Die USA blieben deshalb dem Völkerbund fern und nahmen auch die Sicherheitsgarantie zurück, die Wilson Frankreich auf der Friedenskonferenz gegeben hatte. 1921 wurde ein separater Frieden mit dem Deutschen Reich geschlossen, und 1923 verließen die letzten amerikanischen Besatzungstruppen das Rheinland. Wilson erhielt den Friedensnobelpreis für 1919, doch er sah nach der Niederlage in der Ratifizierungsdebatte sein Lebenswerk als zerstört an. Er blieb bis zum Ende der Amtsperiode im März 1921 im Weißen Haus, war aber zu krank (und inzwischen auch zu unpopulär), um sich für die Wiederwahl zu bewerben. Bei seinem Tod 1924 hinterließ er als politisches Erbe einen Völkerbund, der durch die Abwesenheit der USA und anderer wichtiger Länder seinen Anspruch auf Universalität verloren hatte und der mit der Aufgabe, die europäischen und weltpolitischen Gegensätze in friedliche Bahnen zu lenken, völlig überfordert war. Dennoch sollte sich die Idee der kollektiven Sicherheit, die mit Wilsons Namen verbunden bleibt, als zählebig genug erweisen, um im Zweiten Weltkrieg unter gewandelten Umständen erneut aufgegriffen zu werden. Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 232 <?page no="233"?> Die Konsequenzen des Ersten Weltkrieges Präsident Wilsons Prestige und seine hervorgehobene Stellung unter den „Friedens‐ machern“ in Paris reflektierten die relative Schwächung Europas durch einen Krieg, der fast 8 Millionen Menschenleben gekostet hatte, und den parallelen Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Weltmacht. Wirtschaftlich waren die USA von einem Schuldnerland zum größten Gläubigerland der Erde geworden, und geostrategisch befanden sie sich mit ihrer starken Flotte und der Kontrolle über den Panamakanal in einer Schlüsselposition zwischen Europa und Asien. Die Gefahr, die von den Autarkieplänen der Mittelmächte, aber auch von einigen Projekten der europäischen Verbündeten für den freien Weltmarkt ausgegangen war, schien gebannt. Außerdem hatte der Krieg bewiesen, zu welch entschlossener Kraftentfaltung die amerikanische Nation im Krisenfall trotz aller ethnischen, regionalen und sozialen Unterschiede fähig war. Andererseits fanden sich die Amerikaner aber nicht bereit, im Rahmen des internationalen Systems, das aus dem Weltkrieg hervorgegangen war, eine ihrem Machtzugewinn adäquate weltpolitische Verantwortung zu übernehmen. Das trug in der Folgezeit nicht minder zur Instabilität der Versailler Ordnung bei als das ungeklärte Verhältnis der westlichen Demokratien zur Sowjetunion und die komplexe Verschränkung von Reparations- und Kriegsschuldenproblematik. In den USA selbst markierten die Wahlen vom November 1920, bei denen die Republikaner mit ihrem Kandidaten Warren G. Harding einen Erdrutschsieg errangen, das Ende einer Epoche. Der Reformgeist war im Krieg weitgehend für patriotische Zwecke absorbiert, der Rest im Red Scare erstickt worden, und die Bevölkerung sehnte sich „zurück zur Normalität“. Kriegspropaganda und Kriegsteilnahme hatten zur Festigung der nationalen Identität beigetragen; die nationalistischen Aufwallungen und die Unterdrückung von politischem Widerspruch hatten aber auch das Dilemma einer Demokratie sichtbar gemacht, die Gefahr lief, in Krisenzeiten im Innern die Prinzipien und Grundwerte preiszugeben, die sie nach außen verteidigen wollte. Das Todesurteil gegen die Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, das trotz internationaler Proteste nach sechsjähriger Haft im August 1927 in Massachusetts vollstreckt wurde, warf noch einmal ein dramatisches Licht auf dieses Dilemma. Die Auswirkungen des Krieges auf die Struktur des amerikanischen Staates waren eher indirekter Art bzw. machten sich erst mit Verzögerung deutlich bemerkbar. Zur notwendigen zentralen Lenkung von Produktion, Versorgung und Kriegführung war 1917 / 18 erstmals eine moderne Bürokratie aufgebaut worden. Nach Kriegsende gewann aber das Misstrauen gegen zentralisierte Regierungsmacht rasch wieder die Oberhand: Die meisten der neu eingerichteten Ämter und staatlichen Lenkungsmecha‐ nismen wurden umgehend beseitigt, die Heeresstärke und die Verteidigungsausgaben drastisch reduziert und die Geheimdienste so gut wie abgeschafft. Andererseits blieb jedoch in vielen Köpfen die Kriegsmobilisierung als Modell einer „korporativen“ Ordnung erhalten, bei der Staat, Unternehmer und Gewerkschaften an einem Strang ziehen und die Bundesregierung die Richtung angibt. In der Großen Depression der 3 Die Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg 233 <?page no="234"?> 1930er Jahre und mehr noch während des Zweiten Weltkrieges griff man wieder auf dieses Beispiel zurück. Der Trend zur Entstehung großer Konzerne setzte sich im Krieg fort und fand 1920 eine Bestätigung, als der Supreme Court in einem Aufsehen erregenden Anti-Trust-Ver‐ fahren die Entflechtung der US Steel Corporation ablehnte. Den größten Nutzen aus der Zusammenarbeit für den militärischen Sieg zogen offenbar die Unternehmen, die ihre Profite in die Erweiterung und Modernisierung der Produktion investiert hatten. Die Rückkehr zur Friedenswirtschaft verursachte zwar eine scharfe Rezession, aber der Einbruch war nur von kurzer Dauer, und danach setzte sich die generelle Aufwärtsentwicklung fort. In der politischen Arena besaßen die Unternehmer mit den Handelskammern und Trade Associations, die nun für jeden Wirtschaftszweig existierten, effektive Instrumente der Interessenvertretung und des „Lobbyismus“. Während der Krieg also einerseits die Weichen auf ökonomisches Wachstum und Konsum stellte, trug er andererseits auch zur Verschärfung sozialer Konflikte bei: Die Gewerkschaften mussten versuchen, mit der wachsenden Macht der Unternehmer Schritt zu halten; und die Afroamerikaner, die selbstbewusster aus dem Krieg in den rückständigen Süden oder die wachsenden Ghettos des Nordens zurückkehrten, wollten nicht länger geduldig auf die Gewährung ihrer politischen Rechte warten. Kapitel 5: Imperialismus, progressive Reformbewegung und Erster Weltkrieg, 1897 - 1920 234 <?page no="235"?> Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 Im Vergleich zu den meisten europäischen Staaten, die der Krieg um Jahre zurückge‐ worfen hatte und deren Menschen mit scharfen Brüchen und revolutionären Umwäl‐ zungen konfrontiert wurden, herrschte in den USA ein hohes Maß an politischer und wirtschaftlicher Kontinuität. Dennoch gewannen auch viele Amerikaner in den beiden Jahrzehnten, die auf den Krieg folgten, den Eindruck, Zeugen geradezu revolutionärer Veränderungen zu sein. Sie erlebten eine beispiellose Phase der Prosperität, dann ab 1929 unvermittelt den Absturz in die schwerste Depression ihrer Geschichte, von 1933 bis 1937 ein dramatisches Reformexperiment im Zeichen des New Deal und ab 1938 die Zuspitzung der internationalen Krise, die in den Zweiten Weltkrieg führte. In dieser Zeit sahen sie sich drei fundamentalen Fragenkomplexen gegenüber, deren Beantwor‐ tung bestimmend für das ganze 20. Jahrhundert werden sollte: 1. Wie lässt sich eine leistungsstarke Wirtschaft aufrechterhalten, die Wachstum, steigenden Wohlstand und soziale Sicherheit verbürgt? Was muss der Staat in dieser Hinsicht tun, und wie sollen die Kompetenzen zwischen Bundesregierung und Einzelstaaten, zwischen zentraler und lokaler Autorität am besten verteilt werden? 2. Sind die amerikanischen Traditio‐ nen - die politischen Prinzipien und die althergebrachten Lebensgewohnheiten - mit der vom technisch-wissenschaftlichen Fortschritt vorangetriebenen „Modernisierung“ vereinbar? An welche Werte können sich das Individuum oder die kleine Gemeinschaft in einer „modernen“ Gesellschaft halten, die immer unpersönlicher und anonymer zu werden droht? 3. Wie viel Verantwortung tragen die USA als stärkste Wirtschaftsmacht und potenziell stärkste Militärmacht für ihre Nachbarn und den Rest der Welt? Welche Politik ist am ehesten geeignet, dieser Verantwortung gerecht zu werden? Die Debatte über diese Leitfragen wurde in der kurzen Zwischenkriegszeit der 1920er und 1930er Jahre auf vielen Ebenen und mit einer Heftigkeit geführt, die kennzeichnend ist für kulturelle Konflikte, ja, die gelegentlich an den Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen erinnerte. 1 Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ Prosperität, Konsumkultur und gesellschaftliche Freiräume In dem Klima der Ernüchterung, das sich nach den ideologischen Anspannungen der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit in den USA ausbreitete, gewann das Wirtschaftsle‐ ben eine überragende Bedeutung. Die Dynamik der amerikanischen Wirtschaft und des riesigen, einheitlichen Binnenmarktes brachte nun die erste Konsumgesellschaft hervor, die auf Massenproduktion, Massenverbrauch und Massenkommunikation <?page no="236"?> gegründet war. In dieser Gesellschaft, die eine große Eigenständigkeit gegenüber dem Staat behauptete, entwickelte sich ein neues Wertebewusstsein, eine Kultur des consumerism, die im individuellen Konsum den Schlüssel zur Selbstverwirklichung und zur Öffnung neuer Freiräume und Erfahrungshorizonte sah. Ökonomischer Erfolg und Geld schienen zum Maßstab aller Dinge zu werden: Schon 1920 verzeichneten amerikanische Zeitungen stolz, dass es in den USA inzwischen 20.000 Millionäre gab, darunter 162 mit einem Jahreseinkommen von mehr als einer Million Dollar. Solche Anzeichen von Reichtum und Konsumfähigkeit machten die Vereinigten Staaten - im Bewusstsein ihrer Bürger wie aus der Sicht der Europäer - zum Modell und Symbol der Moderne schlechthin: für die meisten ein Vorbild, dem es nachzueifern galt, für manche aber auch ein warnendes Beispiel, an dem man die allgemeine „Vermassung“ und den „Niedergang der Kultur“ ablesen konnte. Im Deutschland der Weimarer Republik war diese ambivalente Reaktion besonders stark ausgeprägt: Während der American way of life auf der einen Seite als gleichbedeutend mit technischem Fortschritt und den Segnungen der Konsum- und Freizeitgesellschaft angesehen wurde, förderten die Erfolgsmeldungen aus den USA auf der anderen Seite tief sitzende antiamerikanische Ressentiments, wonach man es angeblich mit einer von hemmungslosem Materialis‐ mus beherrschten, kulturlosen und dekadenten Gesellschaft zu tun hatte. Nachdem die Rezession von 1920 / 21 überwunden war, vollzog sich in der amerika‐ nischen Wirtschaft ein rasanter Aufschwung mit Vollbeschäftigung und jährlichen Wachstumsraten von etwa 5 Prozent. Das Bruttosozialprodukt war zwar in der Rezession von 90 auf unter 70 Milliarden Dollar abgesunken, 1929 lag es aber bereits wieder über 100 Milliarden Dollar. Die industrielle Produktion, die Kapitalerträge und die Unternehmensgewinne stiegen in den 1920er Jahren um gut zwei Drittel an, und die Produktivität pro Arbeitsstunde nahm um 35 Prozent zu. Die Massenkaufkraft erhöhte sich ebenfalls, ohne allerdings mit diesem Tempo mithalten zu können: Das Realeinkommen der Arbeitnehmer nahm um ca. 30 Prozent zu, dasjenige der Farmer (die 1920 noch ca. 11 Millionen der 42 Millionen starken labor force ausmachten) stagnierte oder ging sogar leicht zurück. Im Außenhandel profitierten die USA von der Lebensmittelknappheit und dem generellen Nachholbedarf in Europa. Auf den lateinamerikanischen Märkten war es US-Unternehmen während des Krieges zudem gelungen, die deutsche Konkurrenz völlig auszuschalten und den britischen Einfluss weiter zurückzudrängen. An der New Yorker Börse (Stock Exchange), wo sich der Durchschnittspreis einer Aktie zwischen 1921 und 1929 fast vervierfachte, stießen Wertpapierhandel und Spekulation in neue Dimensionen vor. Der Dollar wurde neben dem Pfund Sterling zur Leitwährung des Welthandelssystems, und New York begann, London aus der Position der führenden Finanzmetropole zu verdrängen. Die Bundesregierung verbesserte durch Steuersenkungen, Zollerhöhungen und an‐ dere Fördermaßnahmen die Rahmenbedingungen für das big business. Gelegentlich führte dabei die Verflechtung von öffentlichen und privaten Interessen wieder zu spektakulären Affären wie dem Teapot Dome-Skandal, der erstmals ein Kabinettsmit‐ glied, Präsident Warren G. Hardings Innenminister Albert Fall, hinter Gefängnisgitter Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 236 <?page no="237"?> brachte. Die Rechtsprechung des Supreme Court, an dessen Spitze nun der ehemalige Präsident William H. Taft stand, begünstigte ebenfalls die Unternehmen gegenüber den Gewerkschaften, deren Mitgliederzahl von 5 Millionen 1920 auf 3,6 Millionen 1929 zurückging. Vizepräsident J. Calvin Coolidge, der nach Hardings Tod im August 1923 ins Weiße Haus einzog, und Herbert Hoover, der 1928 zum Präsidenten gewählt wurde, schwammen auf einer Welle des Optimismus und der Fortschrittsgläubigkeit. Bis in die Arbeiterschaft hinein galten sozialistische Ideen als überholt und reaktionär, und die meisten Amerikaner betrachteten ihre liberal-kapitalistische Wirtschaftsordnung als richtungweisend für die Zukunft der Menschheit. Sozialreformen blieben weitgehend den Einzelstaaten überlassen, aber selbst auf dieser Ebene wirkten die Gerichte häufig als Bremsklötze. Dass der Reformimpuls nicht völlig verloren gegangen war, bewies der Erfolg von Senator Robert LaFollette aus Wisconsin, der 1924 als Präsidentschafts‐ kandidat der Progressive Party immerhin fast 5 Millionen Stimmen (16,6 Prozent) auf sich vereinigen konnte. Zur Hauptstütze der Nachkriegskonjunktur entwickelte sich die Automobilindust‐ rie, die andere Wirtschaftszweige wie die Elektro-, Stahl-, Mineralöl-, Chemie-, Gummi- und Glasindustrie sowie den Straßen- und Brückenbau mitzog. Zwischen 1920 und 1930 stieg die Zahl der Autos in den USA von 8 auf 23 Millionen, wobei in einem einzigen Jahr, 1929, 5 Millionen Wagen verkauft wurden. Um diese Zeit kam ein Automobil auf fünf Personen, und 80 Prozent aller Autos fuhren auf amerikanischen Straßen. Zu diesem phänomenalen Erfolg trugen Fließbandproduktion und Akkordarbeit, die erstmals bei dem legendären Ford-Modell T angewendet wurden, ebenso bei wie die sinkenden Preise (das Modell T, das 1909 für 950 Dollar verkauft worden war, kostete 1926 noch 320 Dollar bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 1.300 Dollar für Industriearbeiter). Hinzu kamen nun die Möglichkeiten der Ratenzahlung und die Vermarktung des Autos als des „ultimate symbol of social equality“. Begleit- und Folgeerscheinungen des Autobooms, den die „drei großen“ Konkurrenten Ford, General Motors und Chrysler entfachten, waren unter anderem bundesstaatliche Infrastruktur‐ verbesserungen durch den Federal Highway Act und das Bureau of Public Roads sowie die Einführung der Verkehrsampel durch General Electric im Jahr 1924. Die Werbung bildete jetzt eine eigene, rasch expandierende Wirtschaftsbranche, die das Automobil nicht nur zum unerlässlichen Gebrauchsgegenstand, sondern auch zu einem Kultobjekt stilisierte. Einen maßgeblichen Beitrag dazu leistete der Siegeszug neuer Medien: 1920 nahm in Philadelphia die erste kommerzielle Radiostation ihre Sendungen auf, 1926 gab es ein landesweites Rundfunknetz der National Broadcasting Corporation (NBC), 1927 zeigten die Warner Brothers den ersten abendfüllenden Tonfilm, und Anfang der 1930er Jahre liefen bereits Farbfilme. Finanziert durch große New Yorker Banken bauten Stu‐ dios wie United Artists, Paramount und Metro-Goldwyn-Mayer in Hollywood bei Los Angeles eine Unterhaltungsindustrie auf, die bald weltweit tonangebend war. Diesen Firmen kam es weniger auf künstlerische Qualität und Kreativität an als auf maximalen Gewinn, aber gerade dadurch setzten sie Modetrends und beeinflussten Geschmack und Verhalten breiter Schichten. Bei einer Gesamtbevölkerung von 120 Millionen 1 Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ 237 <?page no="238"?> besuchten 1930 durchschnittlich 100 Millionen Amerikaner pro Woche die Kinos, die damit den Kirchen (ca. 60 Millionen) den Rang abgelaufen hatten. Das Bild einer Gesellschaft mit geradezu überbordender Energie und Vitalität wurde geprägt von den Metropolen über 100.000 Einwohner, die doppelt so schnell wuchsen wie die Gesamtbevölkerung, und die in den 1920er Jahren 6 Millionen Zuwanderer aus den ländlichen Regionen aufnahmen, darunter 1,5 Millionen Afroamerikaner aus dem Süden. Das löste einen gewaltigen Bauboom in den Städten aus, der - unmittelbar an der Schwelle zur Weltwirtschaftskrise - neue amerikanische Wahrzeichen wie das Chrysler Building und das Empire State Building in New York hervorbrachte. Mit ihrer Eleganz und der Höhe von fast 400 Metern sollten sie nicht nur notwendige Funktionen für die New Yorker Geschäftswelt erfüllen, sondern die amerikanische Modernität und Weltgeltung über den Atlantik nach Europa projizieren. Der Ausbau Manhattans zum Geschäfts- und Bankenplatz war auch ein Beleg für die zunehmende Arbeitsteilung und geographische Segregierung: Während sich die schwarze Bevölkerung zunehmend in Ghettos an den Rändern der Innenstädte sammelte, zogen immer mehr Weiße in die Vorstädte, deren Einwohnerzahl 5bis 10-mal so schnell zunahm wie die der Zentren. Damit begann die für das moderne Amerika charakteristische, bis heute anhaltende „Suburbanisierung“. Sie war nicht zuletzt eine Folge der Verschiebung innerhalb der Arbeiterschaft von den blue collar workers zu den besser verdienenden white collar workers, einer den Angestellten vergleichbaren Gruppe, die 1930 schon 14 Millionen zählte. Diese leistungsorientierte, aufstrebende Mittelschicht wollte sich von den städ‐ tischen Massen abheben und ihre Lebensqualität verbessern. Sie kannte den Wert der Bildung und sorgte dafür, dass sich die Zahl der High School-Absolventen gegenüber der Jahrhundertwende vervierfachte. Um 1930 besuchte bereits ein Drittel dieser Absolventen ein College, und der Anteil von Frauen auf Colleges und Universitäten nahm deutlich zu. Der Drang in die Vorstädte mit ihren weiträumigen Wohnvierteln und Grünanlagen entsprang auch dem Verlangen nach einer Privatsphäre, die den Einzelnen gegen staatliche Aufsicht wie gegen die Neugier der Nachbarn schützte. In der neuen urbanen Kultur, die jetzt ihre erste Blüte erlebte, spielten Freizeit und Unterhaltung eine viel wichtigere Rolle als vor dem Krieg. Erstmals verfügte eine größere Zahl von Amerikanern über genügend Muße und Geld, um sich regel‐ mäßig Vergnügungen wie den Besuch von Filmen, Theaterstücken, Musicals und Sportveranstaltungen oder sogar einen Urlaub leisten zu können. Gewiss entsprachen die Hollywood-Filme und der Spielbetrieb am New Yorker Broadway nicht den europäischen Ansprüchen an „hohe Kultur“, aber dafür konnten sie als authentischer Ausdruck der unbeschwerten Lebensfreude eines Volkes gelten, das sich stets als „jung“ und „dynamisch“ verstanden hatte. Viele gebildete Amerikaner mochten immer noch unter einem kulturellen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der „Alten Welt“ leiden, doch in der Breite überwog nun der Stolz darauf, dass sich die USA endlich mit einer eigenständigen, unverbrauchten und „demokratischen“ Kultur von den Europäern abheben konnten. Alle künstlerischen Aktivitäten kreisten um das Hauptthema der Zeit, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Die exponierte Stellung Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 238 <?page no="239"?> und geradezu kultische Verehrung von Hollywood-Stars kann man als eine Antwort auf das Dilemma der „Vermassung“ und Anonymisierung in der Konsumgesellschaft deuten. Die gleichen psychologischen Bedürfnisse befriedigte die Filmindustrie mit dem Mythos des Cowboys, der als Einzelkämpfer für Recht und Ordnung streitet und dem Guten zum Sieg verhilft. Im alltäglichen Leben identifizierte man sich mit Sportidolen wie dem Boxer Jack Dempsey und dem Baseballspieler George Herman „Babe“ Ruth oder feierte Pioniere und Entdecker wie Charles A. Lindbergh, dem im Mai 1927 der ersten Non-Stop-Alleinflug über den Atlantik gelang. Lindbergh gehörte zu den Wegbereitern eines interkontinentalen Luftverkehrs, der in den 1930er Jahren mit Zeppelinen und Flugzeugen aufgenommen wurde. Der spektakuläre Absturz der „Hindenburg“ bei Lakehurst, New Jersey, setzte allerdings 1937 der regelmäßigen Luftschiffverbindung zwischen den USA und Deutschland ein Ende. Verstädterung, Freizeitgewinn und Konsumorientierung bewirkten eine Liberalisie‐ rung der Sitten, die immer noch weitgehend von engen puritanischen Moralvorstel‐ lungen geprägt waren. Nicht ganz ohne Grund verdammten konservative Amerikaner das Automobil als ein „Bordell auf Rädern“. Mehr Bedeutung kam aber wohl der Tatsache zu, dass jetzt offener über Sexualität und Geburtenkontrolle gesprochen werden konnte als jemals zuvor und dass es leichter fiel, die öffentlich praktizierte Doppelmoral anzuprangern. Die Folgen waren, wie so oft, ambivalenter Art, denn während die sinkende Geburtenrate den Familien und insbesondere den Müttern zugutekam, löste der starke Anstieg der Scheidungsrate besorgte Fragen nach der Zukunft der Familie und dem Schicksal allein erziehender Mütter aus. Dem Trend zur Liberalisierung und zum Individualismus fiel auch die Prohibition zum Opfer, die 1919 als „Ausläufer“ der progressiven Reformära mit dem gesetzlichen Verbot der Herstellung, des Transports und des Verkaufs von alkoholischen Getränken begonnen hatte. Nach anfänglichen Erfolgen zeigte sich, dass solch strenge Vorschriften in einem urbanen Umfeld, in dem Alkoholgenuss als Privatangelegenheit galt, nicht durchge‐ setzt werden konnten - zumindest nicht ohne eine massive Aufstockung der Polizei und der ca. 3000 Bundesbeamten im Prohibition Bureau. Die Verbote wurden nach allen Regeln der Kunst umgangen und verhalfen noch dazu, ganz gegen die Intentionen der Reformer, dem organisierten Verbrechen zum Aufschwung und zu großen Profiten. Die Mafia bemächtigte sich neben der Prostitution und dem Glücksspiel auch des Alkoholgeschäfts, das einem der berüchtigsten Gangster, Alphonse („Al“) Capone, bis zu seiner Verurteilung 1931 pro Jahr etwa 100 Millionen Dollar Gewinn eingebracht haben soll. In Chicago, wo Al Capone sein Hauptquartier aufschlug, wurden in dieser Zeit Jahr für Jahr mehr Morde verübt als in ganz England zusammen. Da die Prohibition offenkundig ein Klima der Gewalt und Gesetzlosigkeit erzeugte, setzten mehrere Einzelstaaten schon während der zwanziger Jahre ihre Durchführungsbestimmungen wieder außer Kraft. Im politischen Kampf der „Trockenen“ (Reformer) gegen die „Feuchten“ (Anhänger einer Liberalisierung) gewannen schließlich Letztere bundes‐ weit die Oberhand und erreichten 1933 mit dem 21. Amendment die Aufhebung der Prohibition, die vierzehn Jahre zuvor mit dem 18. Amendment eingeführt worden war. 1 Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ 239 <?page no="240"?> Damit fand das „noble Experiment“ ein unrühmliches Ende, das viele Amerikaner in der Überzeugung bestärkte, der Staat habe kein Recht dazu, die Moral seiner Bürger zwangsweise zu heben. Für entschiedene Reformer bedeutete das eine ähnliche Enttäuschung wie die kaum spürbare Auswirkung des Frauenwahlrechts, von dem sie sich eine ganz neue, bessere Politik versprochen hatten. Antimodernismus, kulturelle Konflikte und sozialer Protest Kommerzialisierung, Konsumkultur und Liberalisierung bestimmten in den 1920er Jahren - nach außen noch mehr als im Innern - das Erscheinungsbild der Verein‐ igten Staaten. Der besondere Reiz, den diese Epoche auf den Historiker ausübt, liegt aber gerade in den Widersprüchen, die der Zusammenprall von Tradition und Moderne erzeugte. Es gab nämlich auch ein ganz „anderes“ Amerika, das sich „anti‐ modernistisch“, konservativ oder sogar reaktionär gebärdete und dessen Anhänger mit unterschiedlichen Mitteln gegen den tief greifenden gesellschaftlichen Wandel protestierten, den sie als Dekadenz, Sünde und moralischen Niedergang begriffen. Nicht minder bemerkenswert als der schnelle Durchbruch zur städtisch geprägten Massenkonsumgesellschaft erscheint die Tatsache, dass viele althergebrachte Lebens‐ formen und kulturelle Elemente weiterlebten und z. T. sogar noch an Bedeutung gewannen. Erklärt werden müssen also nicht nur Modernisierungsprozesse, sondern auch die Defizite an nationaler Zentralisierung und kultureller Homogenität. Die Hauptbastionen derjenigen, die unbeirrt an den Werten des „weißen angelsächsischen Protestantismus“ festhielten, waren die Südstaaten und der agrarische Mittlere Westen. Aber auch in Teilen der städtischen Bevölkerung herrschte das Gefühl vor, das „wahre“, „eigentliche“ Amerika müsse gegen fremde Einflüsse geschützt werden, die gleichermaßen von Kapitalisten, Immigranten und Afroamerikanern ausgingen. Anhänger solcher Strömungen misstrauten den Versprechungen von kontinuierlichem Fortschritt, Befreiung aus alten Zwängen und Genuss ohne Reue und predigten stattdessen Frömmigkeit, Nüchternheit und Beherrschung. Im Selbstverständnis des Einzelnen bedeutete das die Entscheidung für harte Arbeit und Sparsamkeit gegen Korruption, Luxussucht und Verschwendung; für lokale politische Eigenständigkeit gegen einzelstaatliche oder gar bundesstaatliche Aufsicht und Kontrolle; für die enge Einbindung in kleine, zumeist kirchliche Gemeinschaften und buchstabengetreuen Glauben an die Bibel gegen Individualismus und säkulare, wissenschaftliche Strömun‐ gen im Christentum. Engstirnige, zuweilen verbohrte Beharrlichkeit mischte sich mit berechtigter Fortschrittskritik zu einem konservativen „Graswurzel-Protest“, der in der neueren Forschung starke Beachtung gefunden hat, weil er aller Modernisierung zum Trotz eine Konstante der amerikanischen Geschichte zu bilden scheint. Das Verhalten dieser „Dissidenten“ war aber keineswegs immer konsequent, denn es kam durchaus vor, dass sich Mittelschichtsbürger, die den Segnungen der Konsumkultur nicht abge‐ neigt waren, nativistischen und fundamentalistischen Organisationen anschlossen. Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 240 <?page no="241"?> Abb. 15: The Only Way to Handle It (Cartoon von 1921) Zum Massenphänomen wurde der Protest gegen die Moderne durch das Wiederaufle‐ ben von Nativismus und Rassismus in Form des „neuen“ Ku-Klux-Klan sowie durch den religiösen Fundamentalismus, der sich von der liberalen Reformbewegung des Social Gospel abgrenzte. Der Super-Patriotismus der Kriegsjahre und die Fremdenfeindlich‐ keit, die im Red Scare und in der Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen zum Ausdruck kam, bildeten den Nährboden für den 1915 in Atlanta, Georgia, wiedergegründeten Ku-Klux-Klan. Mit der Forderung nach „native, white, Protestant supremacy“ konnte der Geheimbund, dessen Mitglieder oft ganz offen auftraten, seinen Einfluss weit über den Süden hinaus in den Mittleren Westen und bis an den Pazifik ausdehnen. Auf dem Höhepunkt im Jahr 1925 gehörten ihm mehr als drei Millionen Amerikaner an, darunter auch ca. 500.000 Frauen. Die Hassparolen, die der Klan verbreitete, und die Einschüchterungs- und Terrorkampagnen, die er auf dem flachen Lande wie in kleinen und mittleren Städten betrieb, richteten sich nicht nur gegen Afroamerikaner, sondern auch gegen Einwanderer, vor allem Asiaten, sowie gegen Juden und Liberale. Der Versuch, Aggressionen und Konflikte zu schüren, um alles „Unamerikanische“ ausgrenzen zu können, war begleitet von Klagen über den Verlust der nationalen Identität und die moralische Laxheit des modernen Lebens, die Ehebruch und Scheidung angeblich zu Alltäglichkeiten werden ließ. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ebbte diese Welle jedoch schnell ab, weil einer der Führer des Klans schwerer Verbrechen überführt wurde und weil die neue Einwanderungsgesetzgebung den Nativisten viel Wind aus den Segeln nahm. 1 Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ 241 <?page no="242"?> Hier herrschte inzwischen ein breiter nationaler Konsens über die Notwendigkeit und die Vorteile eines Quotensystems. Der Kongress hatte 1924 den National Origins Act verabschiedet, der die Zahl der Einwanderer auf maximal 164.000 pro Jahr begrenzte und Quoten auf der Basis des Zensus von 1890 festsetzte: Das geschah in der Weise, dass man errechnete, wie viele im Ausland geborene US-Bürger die einzelnen Nationalitäten 1890 gestellt hatten; in Zukunft durften dann aus jedem europäischen Land pro Jahr 2 Prozent dieser foreign born von 1890 einwandern. Da vor 1890 fast 90 Prozent aller Immigranten aus Nord- und Westeuropa (einschließlich Deutschland) gekommen waren, bedeutete diese Regelung eine klare Benachteiligung der Ost- und Südosteuropäer. Die endgültige Ausformulierung des Quotensystems erfolgte dann 1927, als der Kongress eine jährliche Obergrenze von 150.000 Einwan‐ derern aus Europa festsetzte und den Anteil der jeweiligen Nationalitäten an der weißen Gesamtbevölkerung der USA von 1920 zur Bemessungsgrundlage machte. Auch in diesem Rahmen fiel der Löwenanteil der zur Verfügung stehenden Plätze Großbritannien, Irland und Deutschland zu - die Deutschen hatten mit ca. 5,5 Millio‐ nen Einwanderern zwischen 1820 und 1920 den größten Anteil an der Immigration gehabt -, während sich beispielsweise Italien ab 1928 mit einer Quote von 6000 pro Jahr begnügen musste. Die westeuropäischen und skandinavischen Länder nutzten ihre hohen Quoten erwartungsgemäß nicht annähernd aus, so dass das System auf eine starke Drosselung der Gesamteinwanderung hinauslief. Da es weiterhin keine Beschränkung für die Länder der „westlichen Hemisphäre“ gab, nahm der Anteil von Kanadiern, Mexikanern, Puertoricanern und anderen Lateinamerikanern nun relativ gesehen zu. Während der Depression Anfang der 1930er Jahre erlitten die Vereinigten Staaten aber sogar erstmals einen „Migrationsverlust“, weil mehr Menschen das Land verließen als einwanderten. In der Präsidentschaft von Franklin D. Roosevelt behielten die USA ihre restriktive Einwanderungspolitik bei, obwohl viele der in Europa aus rassischen und politischen Gründen Verfolgten das Land als ihre einzige und letzte Hoffnung ansahen. Die Tatsache, dass von 1933 bis 1938 nur 60.000 Juden Aufnahme fanden und dass auch während des Zweiten Weltkrieges kaum mehr als 200.000 vor dem sicheren Tod gerettet wurden, löste erst viel später heftige Diskussionen und Vorwürfe einer Mitverantwortung am Holocaust aus. Ungeachtet der zurückgehenden Einwandererzahlen hatte sich der Charakter der amerikanischen Bevölkerung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges gegenüber dem späten 19. Jahrhundert ganz wesentlich verändert. War das Land 1890 ethnisch und religiös noch ein Spiegelbild Nordwest- und Mitteleuropas gewesen, so ähnelten viele amerikanische Städte nun einem Mikrokosmos des ganzen europäischen Kontinents. Gleichzeitig nahm aber der Druck zu, alle Einwanderer möglichst schnell zu „ameri‐ kanisieren“. Das Hauptinstrument dieses Assimilationsbemühens blieb das öffentliche Schulwesen, das gerade auch den Neuankömmlingen die amerikanischen Werte und Ideale vermitteln und ein einheitliches, patriotisches Nationalbewusstsein wecken sollte. Viele Einwanderergruppen der new immigration widersetzten sich allerdings dem Konformitätsdruck des amerikanischen „Schmelztiegels“ recht beharrlich und Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 242 <?page no="243"?> blieben, besonders in den ethnischen Enklaven der großen Städte, ihren Traditionen und Lebensgewohnheiten treu. Der Begriff Fundamentalismus geht auf eine Pamphletserie zurück, die von 1909 bis 1914 unter dem Titel The Fundamentals erschienen war und gefordert hatte, die Bibel als Offenbarung Gottes wörtlich zu nehmen. Liberale Theologen versuchten, die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse mit den christlichen Grundsätzen zu vereinbaren, doch in vielen Religionsgemeinschaften gewannen die Fundamentalisten die Oberhand. Im Süden setzten evangelikale Pfarrer innerhalb und außerhalb der etab‐ lierten Kirchen die Tradition der revivals fort, und im Norden leisteten hauptsächlich Lutheraner, Reformierte und Katholiken Widerstand gegen den Säkularisierungstrend. Aus einer städtischen Erweckungsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich gegen den als „erstarrt“ kritisierten Methodismus richtete, ging das radikale Pentecostal movement hervor, das viele lokale Gemeinschaften in den Assemblies of God vereinigte. Hohen Symbolwert erlangte in diesem Streit zwischen Modernisten und Fundamentalisten die Frage, ob die Darwin’sche Abstammungslehre im Fach Biologie an den Schulen unterrichtet werden dürfe oder nicht. 1925 wurde der Prozess gegen den Lehrer John T. Scopes, der in Dayton, Tennessee, die Evolution anstatt der vom Staatsparlament vorgeschriebenen biblischen Schöpfungsgeschichte gelehrt hatte, zum nationalen Medienspektakel. Dazu trug ganz wesentlich bei, dass der ehemalige Außenminister und dreimalige Präsidentschaftskandidat William J. Bryan die Anklage vertrat und dass die neu gegründete liberale American Civil Liberties Union (ACLU) den Prozess zu einem Musterfall machen wollte. Mit seinen Behauptungen, der Mensch stamme nicht vom Affen ab und die Welt sei in sechs Tagen geschaffen worden, gab sich Bryan in den Augen vieler Landsleute der Lächerlichkeit preis. Dennoch wurde Scopes im „Dayton monkey trial“ verurteilt, und der Bann gegen die Evolutionslehre blieb an den öffentlichen Schulen Tennessees und anderer Südstaaten noch mehr als dreißig Jahre lang in Kraft. Vom Standpunkt der Intellektuellen und der urbanen Elite hatte Bryan nur ein hoffnungsloses Rückzugsgefecht geführt. Es stellte sich aber bald heraus, dass der Einfluss der traditionell verstandenen Religion noch lange nicht gebrochen war. Vielmehr wurden weite Teile des ländlichen Amerika während der zwanziger Jahre erneut von einer der seit der Kolonialzeit fast periodisch wiederkehrenden Erweckungsbewegungen erfasst. Die Fundamentalisten verklärten eine ältere, einfache Gesellschaft, die in Familie, Kirche und kleinen Gemeinschaften gründete. Auf diese Weise verliehen sie einem von vielen Menschen geteilten diffusen Unbehagen am Vordringen der technisch-rationalistischen Industriekultur Ausdruck und versprachen Gewissheiten, wo kritische Geister Zweifel säten. Sie bereicherten die mit Widersprüchen gespickte Dekade um eine weitere Überraschung, indem sie sich erfolgreich des modernen Massenkommunikationsmittels Radio bedienten, um ihre konservative Botschaft zu verbreiten. Der Zusammenprall unterschiedlicher Wertesysteme hinterließ auch in der Literatur der Zeit tiefe Spuren. Die Schriftsteller der Avantgarde, von denen viele noch unter dem Trauma des Weltkrieges litten, zog es nach Paris, wo sie den skeptischen und 1 Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ 243 <?page no="244"?> experimentellen Geist der europäischen Moderne in sich aufnahmen. Autoren wie John Dos Passos, F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, Sinclair Lewis, Theodore Dreiser und Gertrude Stein waren keine prinzipiellen Fortschrittsgegner, übten aber teils bittere, teils ironisch verfremdete Kritik am Materialismus, an der Konformität und dem engen Provinzialismus, die ihrer Meinung nach die Vereinigten Staaten beherrschten. Diese Haltung wurde von vielen Journalisten und Literaturkritikern in den USA selbst geteilt, unter denen der scharfzüngige (deutschstämmige) H. L. Mencken aus Baltimore hervorragte. Kreative Höhepunkte erreichte das literarische Schaffen dieser Zeit in den Dramen Eugene O’Neills, der Stilelemente der griechischen Tragödie auf ameri‐ kanische Themen wie den Bürgerkrieg übertrug, und in den Romanen von William Faulkner, der - beeinflusst durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds - die seelischen Spannungen sichtbar machte, denen die Südstaatler zwischen agrarischer Tradition und industriell-kapitalistischer Welt ausgesetzt waren. Große Resonanz fand auch eine andere intellektuelle Strömung, die sich der Moderne gegenüber grundsätzlich ablehnend verhielt und den amerikanischen Süden zum Idealbild gesellschaftlicher Harmonie verklärte. In ihrem Manifest I’ll Take My Stand von 1930 setzten sich diese Southern Agrarians um Allen Tate und Robert Penn Warren zum Ziel, die Südstaatenkultur gegen den vorherrschenden American way of life, die agrarische gegen die industrielle Lebensform zu verteidigen. Zwischen Anpassung, Protest und dem Versuch der wirtschaftlichen und kulturellen Selbstbestimmung bewegten sich die Afroamerikaner in den black communities oder städtischen Ghettos, von denen Harlem mit über 150.000 Einwohnern nach wie vor das größte und bedeutendste war. Hier trat mit Marcus Garvey, der 1916 aus Jamaica eingewandert war, eine neue, aggressive Führungspersönlichkeit auf. Seine United Negro Improvement Association, die eine Alternative zu bürgerlich-gemäßigten Organi‐ sationen wie NAACP und NUL darstellen sollte, propagierte kämpferische Selbsthilfe und die Auswanderung nach Afrika, vor allem nach Liberia. Damit knüpfte Garvey an die Kolonisierungskonzepte des 19. Jahrhunderts an, gab ihnen jedoch eine Wendung in Richtung eines schwarzen Nationalismus. 1920 berief er einen internationalen Konvent der Negro Peoples of the World nach Harlem ein und faszinierte die Massen mit Aufmärschen von bis zu 25.000 uniformierten Anhängern. Die Bewegung löste sich aber auf, als Garveys Schifffahrtslinie Bankrott ging und er selbst 1925 wegen Postbetrugs verurteilt und des Landes verwiesen wurde. Materiell hatte die schwarze städtische Mittelschicht einen bescheidenen Anteil am Aufschwung der Golden Twenties. Eine Negro Business League startete in New York buy black-Kampagnen, und schwarze Geschäftsleute betätigten sich erfolgreich als Makler oder in anderen Dienstleistungsbereichen. Die Masse der Afroamerikaner musste sich aber weiterhin mit den niedrigsten und schlecht bezahltesten Arbeiten begnügen, wenn überhaupt Jobs angeboten wurden. Arbeitslosigkeit, Kriminalität, mangelnde Gesundheitsfürsorge und Instabilität der Familien trugen dazu bei, dass die Sterblichkeit in Harlem schon Mitte der 1920er Jahre um fast die Hälfte über derjenigen der Gesamtbevölkerung lag. Abgesehen vom Sport, wo einige Schwarze wie der Boxer Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 244 <?page no="245"?> Joe Louis und der Leichtathlet Jesse Owens zu internationaler Berühmtheit aufstiegen, bot nur die Kunst eine Möglichkeit, schwarze Identität zu thematisieren und kreatives Potential gegen Rassismus einzusetzen. Aus New Orleans war inzwischen der Jazz in die Metropolen des Nordens gelangt, und schwarze Musiker aus dem Süden - unter ihnen Louis Armstrong in Chicago und Edward „Duke“ Ellington in New York - leisteten mit dieser Verbindung von Folklore und Improvisation den originellsten Beitrag zur entstehenden amerikanischen Volkskultur. Die weiße Prominenz und geistige Elite fand Interesse am kulturellen Leben in Harlem und frequentierte Orte wie den Cotton Club, zu dem Afroamerikaner nur als Künstler, nicht aber als Zuschauer Zugang hatten. Der Jazz inspirierte auch viele weiße Komponisten, etwa George Gershwin, er beeinflusste die Country Music in den Grenzregionen zwischen Norden und Süden, und er fand weltweit begeisterte Freunde vor allem in Berlin und Paris. Ökonomisch gesehen verhalfen die afroamerikanischen Musiker einem ganz neuen Wirtschaftszweig, der Schallplattenindustrie, zum Durchbruch. Die schwarze Kunstszene New Yorks stand in dieser Zeit im Zeichen der Harlem Renaissance mit ihrem Ideal des New Negro (der von Weißen verächtlich benutzte Begriff „Negro“ sollte ins Positive gewendet werden). Den Anstoß hatten W. E. B. Du Bois und seine Freunde gegeben, als sie künstlerisch begabte Schwarze aus allen Teilen der USA nach New York einluden und durch Stipendien förderten. Innerhalb der Bewegung herrschte eine produktive Spannung zwischen denen, die eine den Standards der weißen Mittelschicht angepasste „hohe Kunst“ zu schaffen versuchten, und denen, die mit ihren Werken ein neues Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit und einen schwarzen Rassenstolz demonstrieren wollten. Die 1925 von Alain Locke he‐ rausgegebene Anthologie The New Negro, eine Sammlung von Kurzgeschichten, Lyrik, Essays und Kunst, wurde zur programmatischen Veröffentlichung. In den Kreisen der gebildeten Afroamerikaner, etwa an der Howard University in Washington, D. C., blieb heftig umstritten, ob die Folklore - Spirituals, Folk Songs, Blues, Legenden - ein ernied‐ rigendes Erbe der Sklaverei oder unverzichtbarer Teil einer eigenen Rassenidentität sei. Faszination und Patronage der Weißen endeten allerdings mit dem Börsenkrach von 1929. Wie viele andere künstlerische Aktivitäten auch, brach die Harlem Renaissance in der Großen Depression jäh ab. Wer von den Künstlern Glück hatte, fand sich nach 1933 in einem der für Intellektuelle eingerichteten Arbeitsbeschaffungsprogramme des New Deal wieder. Eine Generation später wurden aber Repräsentanten der New Negro-Bewegung wie Langston Hughes, Alain Locke und Zora Neale Hurston zu Leitfiguren der schwarzen Bürgerrechtler und Feministinnen. Kulturell bedeuteten die 1920er Jahre die kreativste Periode, die Amerika bis dahin erlebt hatte. Schriftsteller, Musiker, bildende Künstler und Architekten reagierten besonders sensibel auf die Herausforderungen der Moderne und setzten sich in ihrer jeweils eigenen Weise mit den Widersprüchen, Spannungen, Brüchen und Verwer‐ fungen zwischen dem Alten und dem Neuen auseinander. Von nun an wurde die amerikanische Identität nicht mehr allein politisch-ideologisch, sondern auch kulturell definiert. Kultur spielte sich nicht (nur) in höheren Sphären ab und war nicht an 1 Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ 245 <?page no="246"?> eine bestimmte soziale Schicht gebunden; vielmehr wies die kulturelle Szene die gleiche Vielgestaltigkeit und die gleichen Kontraste auf - zwischen Nord und Süd; Ost und West; Schwarz und Weiß; Arm und Reich; Avantgarde und Traditionalisten - wie die amerikanische Gesellschaft selbst. Da künstlerische Aktivität aber auch als Teil des Marktgeschehens, der Beziehungen zwischen Produzenten und Verbraucher verstanden wurde, war diese Kultur von vornherein in die Massenkonsumgesellschaft integriert, selbst wenn einzelne Künstler entschiedene Vorbehalte gegen eine solche Form des menschlichen Zusammenlebens hatten. Der selektive Unilateralismus der amerikanischen Außenpolitik in den 1920er Jahren Die republikanischen Präsidenten Harding, Coolidge und Hoover formulierten ihre Außenpolitik in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Kräfte und Konzepte. Der Weltkrieg hatte den Glauben an eine Sonderstellung der USA und die Abscheu gegen jede Verwicklung in die Händel anderer Völker keineswegs beseitigt, sondern eher noch bestärkt. Der Wunsch der Amerikaner, die Erfahrungen von 1917 / 18 nicht noch einmal wiederholen zu müssen, war abzulesen an den Versuchen, Profitinteressen der Rüstungskonzerne für die Kriegsbeteiligung der USA verantwortlich zu machen, am vehementen Einsatz der Friedensgruppen für eine weltweite Abrüstung und an der häufig geäußerten Überzeugung, dem „moralisch verrotteten“ Europa sei ohnehin nicht zu helfen. Andererseits nahm aber die Erkenntnis zu, dass die Amerikaner in einer Welt der wechselseitigen Abhängigkeiten lebten, dass sie wirtschaftliche Ziele in Übersee nicht ohne politisches Engagement verfolgen konnten und dass sie Mitverantwortung für gedeihliche internationale Beziehungen trugen. Mochten in der Bevölkerung und im Kongress auch isolationistische Stimmungen vorherrschen, so steuerten die amerikanischen Politiker und Diplomaten doch bis weit in die 1930er Jahre hinein einen mittleren Kurs zwischen involvement und detachment, zwischen Teilnahme an der Weltpolitik und Distanz zum Geschehen in anderen Erdteilen. Die Außenminister Charles E. Hughes (1921-1925), Frank B. Kellogg (1925-1929) und Henry L. Stimson (1929-1933) führten keine „Kreuzzüge“ mehr, um amerikanische Ordnungsvorstellungen durchzusetzen, sondern waren darauf bedacht, innenpoliti‐ schen Streit über die Außenpolitik zu vermeiden. Die weltweiten amerikanischen Interessen sollten möglichst ohne den Einsatz militärischer Machtmittel gewahrt werden: durch vertragliche Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle; durch die Stabilisierung des Status quo in Europa; durch verbesserte Beziehungen zu den Staaten der westlichen Hemisphäre; und durch die Propagierung von Prinzipien und Doktrinen wie der Open Door, der friedlichen Schlichtung von Konflikten, der Nichtanerkennung gewaltsamer Veränderungen und der Ächtung des Krieges. Der Begriff „Isolationis‐ mus“, der in der Geschichtsschreibung lange geläufig war, trifft auf eine solche Politik nicht zu, die sich besser als independent internationalism oder selektiver Unilateralis‐ mus charakterisieren lässt. Im Vergleich zu der Zeit vor dem Weltkrieg oder gar vor Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 246 <?page no="247"?> 1898 waren die USA nun sogar in hohem Maße in die europäischen und asiatischen Angelegenheiten involviert. Die Schwächen dieser Außenpolitik bestanden darin, dass sie wenig Rückhalt in einer weitgehend desinteressierten Bevölkerung fand, dass sie die Grundsätze des Geschäftslebens ohne weiteres auf die internationalen Beziehungen übertragen wollte und dass sie allzu viel Vertrauen in die Wirksamkeit vertraglicher Übereinkünfte und rechtlicher Garantien setzte. Nach der Ablehnung des Versailler Vertrags und des Völkerbundsbeitritts lösten sich die USA, die ohnehin nur als „assoziierte Macht“ gekämpft hatten, vollends von ihren europäischen Verbündeten und schlugen einen unabhängigen Kurs ein. Amerikanische „Beobachter“ in der Pariser Botschafterkonferenz der alliierten Hauptmächte und in der Reparationskommission sorgten aber dafür, dass Washington über die Probleme der Durchführung des Versailler Vertrags gut unterrichtet blieb. Das Hauptaugenmerk der Harding-Administration galt zunächst der Lage im Pazifik, die durch das Wettrüsten der Großmächte instabil zu werden drohte. Eine Konferenz im Winter 1921 / 22, zu der Präsident Harding nach Washington eingeladen hatte, zeitigte aus amerikanischer Sicht positive Ergebnisse: Ein Nichtangriffspakt zwischen den USA, Großbritannien, Japan und Frankreich löste die bisherige britisch-japanische Defensivallianz ab; Ver‐ einbarungen über Obergrenzen und Paritäten beim Schlachtschiffbau dämpften die Sorge vor dem japanischen Expansionismus; und durch die offizielle Anerkennung des Prinzips der Open Door schienen die Souveränität und territoriale Integrität Chinas ebenso wie die amerikanischen Wirtschaftsinteressen in diesem Raum gesichert. Tatsächlich verloren die USA aber allmählich an Einfluss, weil sie - anders als England und Japan - die Rüstungsobergrenzen gar nicht erreichten und weil die chinesischen Nationalisten einer friedlichen ökonomischen Penetration immer größere Hindernisse in den Weg legten. In der westlichen Hemisphäre vollzogen die USA eine allmähliche Abkehr vom militärischen Interventionismus, den Theodore Roosevelt begonnen und Woodrow Wilson fortgesetzt hatte. Politische Kontrolle und ökonomische Vorteile suchte man nun durch eine engere Zusammenarbeit mit den lokalen Eliten zu erlangen. US-Trup‐ pen blieben zwar bis 1933 / 34 in Nicaragua und der Dominikanischen Republik, aber die Hauptinstrumente der Einflussnahme waren Kredite und Militärhilfen, die an be‐ freundete Regierungen vergeben wurden, sowie die Unterstützung der amerikanischen Konzerne, die in den Staaten der Region operierten. Parallel dazu liefen Versuche, die Panamerikanische Bewegung unter Führung der USA wiederzubeleben. Mit dem neuen Etikett der Good Neighbor Policy versehen, setzte Franklin D. Roosevelt diese Linie in den dreißiger Jahren dann im Wesentlichen fort. Hauptziel blieb allerdings stets, Lateinamerika und die Karibik im Sinne der Monroe-Doktrin als exklusive Interessensphäre der USA gegen Konkurrenz und Einmischungen anderer Großmächte abzuschirmen. Von einer echten Rücksichtnahme auf die sozialen Probleme und nationalen Empfindlichkeiten der betroffenen Länder war man noch weit entfernt. Obwohl die USA über reiche Ölreserven und eine leistungsfähige Erdölindustrie verfügten, spielte die wachsende Nachfrage nach Öl nun bereits eine Rolle in den 1 Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ 247 <?page no="248"?> Außenbeziehungen. Das galt für lateinamerikanische Staaten wie Mexiko, Venezuela, Kolumbien und Bolivien, wo US-Konzerne, allen voran Standard Oil, eine starke Position einnahmen, zunehmend aber auch für den Nahen und Mittleren Osten, der als das Fördergebiet der Zukunft galt. Hier besaßen allerdings europäische Unternehmen wie die Royal Dutch / Shell-Gruppe und die Anglo Iranian Oil Company praktisch das Monopol. Mit tatkräftiger Hilfe des State Department gelang es den großen amerikanischen Konzernen immerhin, die britische Konkurrenz in Lateinamerika zurückzudrängen und im Nahen und Mittleren Osten als Juniorpartner in das euro‐ päische Erdölkartell aufgenommen zu werden. Ansonsten stießen Amerikaner, die in europäischen Kolonialgebieten und Interessensphären nach Absatzmärkten und Rohstoffen Ausschau hielten, aber zumeist noch auf „Closed Doors“. Die meiste Aufmerksamkeit beanspruchte nach wie vor der europäische Kontinent, auf dem sich durch die Niederlage Deutschlands, den Zerfall der Habsburgermonarchie und die Revolutionierung Russlands gewaltige Änderungen vollzogen hatten. Die Amerikaner wollten hier weder das aus ihrer Sicht übertriebene Sicherheitsstreben Frankreichs noch den deutschen Revisionismus fördern, sondern auf begrenzte Prob‐ lemlösungen hinwirken, die zur wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung beitra‐ gen konnten. Trotz der Befürchtungen, die der Rapallo-Vertrag zwischen Deutschland und Sowjetrussland weckte, blieb das Interesse Washingtons an den Vorgängen in Osteuropa gering. Eine Mitarbeit an dem auf der Genua-Konferenz 1922 diskutierten Wiederaufbauprogramm für Russland lehnten die USA ab, solange die Moskauer Regierung nicht die Vorkriegsschulden und die Prinzipien der Marktwirtschaft aner‐ kannte. Für vordringlich erachteten Regierungs- und Unternehmerkreise die ökono‐ mische Gesundung Deutschlands, ohne die der stockende Wirtschaftskreislauf nicht in Gang kommen konnte. Nur die Rückkehr zur allgemeinen Stabilität schuf Vertrauen und bot Gewähr für lohnende Kapitalanlagen und den Absatz amerikanischer Exporte in Europa. Als schwerstes Hindernis erwies sich die finanzielle Hinterlassenschaft des Krieges, zum einen die Reparationen, die Deutschland an die Siegermächte zahlen musste, zum anderen die Kriegsschulden der Alliierten untereinander. Sie beliefen sich auf 26,5 Milliarden Dollar, von denen die Hälfte den USA geschuldet wurde. Während die Alliierten ihre Zahlungsverpflichtungen an die USA nur einhalten zu können glaubten, wenn sie von Deutschland Reparationen erhielten, bestand Washington auf einer Unterscheidung zwischen „politischen“ Reparationen und „kommerziellen“ Kriegsschulden. Bis 1923 hatten sich Franzosen, Deutsche und Briten derart heillos in die Reparationsproblematik und den Ruhrkampf verstrickt, dass ein Ausweg nur noch mit amerikanischer Hilfe möglich war. Der Plan, der auf der Londoner Konferenz von 1924 angenommen wurde und der die Festsetzung jährlicher Reparationsraten mit einem Stabilisierungskredit für die Weimarer Republik verband, trug den Namen des amerikanischen Bankiers Charles Dawes. Ein Kollege von Dawes, Parker Gilbert, übernahm das Amt des „Reparationsagenten“ in Berlin. Der Dawes-Plan, der eine fünfjährige Erholungs- und Prosperitätsphase einleitete, ließ die Bereitschaft der US-Regierung erkennen, die großen Finanzreserven der Nation Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 248 <?page no="249"?> einzusetzen, um Europa gemäß den Regeln einer liberal-kapitalistischen Ordnung wiederaufzubauen. In Washington war man sich darüber klar geworden, dass der amerikanische Wohlstand nicht nur auf der eigenen Leistung - der Produktivität, der positiven Handelsbilanz, den Haushaltsüberschüssen - beruhte, sondern auch von aufnahmefähigen europäischen Märkten und einem funktionierenden internationalen Wettbewerb abhing. Ab 1924 / 25 floss wieder privates amerikanisches Kapital nach Eu‐ ropa, hauptsächlich nach Deutschland, und US-Konzerne nahmen große Investitionen vor, wie etwa Ford in Köln und General Motors in Rüsselsheim. Andererseits beharrten die USA darauf, dass es sich bei der Rückzahlung der Kriegsschulden um reine business transactions handele. In Wirklichkeit war aber bereits ein „Schuldenkarussell“ in Gang gekommen, bei dem Deutschland mit amerikanischen Krediten seine Reparationen beglich und die europäischen Siegermächte mit Hilfe dieser Einnahmen Zinsen und Abtrag für die im Krieg aus den Vereinigten Staaten erhaltenen Kredite leisteten. Dieser letztlich unproduktive Kreislauf hätte nur durchbrochen werden können, wenn die USA für eine gleichzeitige Streichung von Reparationen und Kriegsschulden eingetreten wären und wenn der Kongress die seit 1922 geltenden protektionistischen Zölle abgebaut hätte, um den Europäern höhere Exporte und Deviseneinkünfte zu ermöglichen. Dazu konnten sich aber weder die Regierung in Washington noch die Bankiers und die amerikanischen Geldanleger durchringen. Ähnlich deutliche Widersprüche wies das sicherheitspolitische Engagement der USA in Europa auf. Einerseits gaben die Abgesandten Washingtons bei jeder Gelegen‐ heit ihre Aversion gegen die Übernahme politischer Verantwortung zu erkennen. So hielten sie sich von den Bemühungen des Völkerbunds um kollektive Sicherheit ebenso fern wie von der Locarno-Diplomatie Briands, Stresemanns und Austen Chamberlains. Der Kongress vereitelte sogar den bescheidenen Versuch, amerikanische Mitglieder in den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu entsenden. Andererseits drängten die Amerikaner ihre ehemaligen Verbündeten, insbesondere die Franzosen und Bri‐ ten, im Rahmen des Völkerbunds mutige Abrüstungsschritte zu unternehmen, um Deutschlands Forderung nach Gleichberechtigung entgegenzukommen. Den Wunsch der Franzosen nach einer Sicherheitsgarantie gegen Deutschland beantworteten Prä‐ sident Coolidge und Außenminister Kellogg schließlich 1928 mit dem Vorschlag eines multilateralen „Kriegsächtungspakts“, dem zunächst 15, später sogar über 60 Regierungen beitraten. Vom völkerrechtlichen Standpunkt aus gesehen brachte dieser Briand-Kellogg-Pakt zwar wichtige Fortschritte, doch in der gegebenen Situation wiegte er viele Menschen in falscher Sicherheit, die nicht erkannten, dass es sich bei der Ächtung des Angriffskrieges letztlich nur um einen moralischen Appell ohne bindende Wirkung handelte. Eine Festigung des Völkerbundes wäre zweifellos sinnvoller gewesen, aber sie kam für die auf Unabhängigkeit und „freie Hand“ bedachte amerikanische Außenpolitik nicht in Frage. Die Stabilisierungserfolge, die auf der Grundlage des Dawes-Plans erzielt worden waren, gingen ab 1929 in der Weltwirtschaftskrise unter. In dieses Jahr fiel der nach dem amerikanischen Bankier Owen D. Young benannte Young-Plan, der erstmals 1 Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ 249 <?page no="250"?> eine Gesamtsumme für die Reparationen bestimmte, die Jahresraten herabsetzte und eine neue US-Anleihe gewährte. Obwohl diese „endgültige“ Reparationsregelung der Weimarer Republik deutliche Erleichterungen verschaffte (die Laufzeit bis 1988 war von vornherein eher theoretischer Natur), löste sie in Deutschland einen Proteststurm aus, der den rechtsradikalen Parteien Auftrieb gab. Die privaten amerikanischen Kredite waren schon seit 1928 zurückgegangen, weil sich in den USA selbst angesichts des Booms an der Wall Street lukrativere Anlagemöglichkeiten zu bieten schienen. Nach dem Börsenkrach vom Oktober 1929 wurde der Kreditstrom noch dünner, und nach dem Wahlsieg der Nationalsozialisten im September 1930, der das Vertrauen der amerikanischen Gläubiger in die politische Stabilität der Weimarer Republik untergrub, versiegte er vollends. Nun wurden sogar viele amerikanische Kredite, die nur kurzfristig vergeben worden waren, überstürzt abgezogen. Damit begann nicht nur der Reparations-Kriegsschulden-Kreislauf, sondern die gesamte Wirtschaftstätigkeit zu stocken, und Deutschland und Europa gerieten in den Sog der amerikanischen Krise. Um den totalen Kollaps der Finanzmärkte abzuwenden, verkündete Präsident Hoover 1931 (auf Bitten aus Berlin hin) ein Moratorium, das alle internationalen Zahlungsver‐ pflichtungen für ein Jahr aussetzte. Faktisch bedeutete dies das Ende der Reparationen, das 1932 auf der Konferenz von Lausanne besiegelt wurde. Bis auf Finnland stellten nun auch die Schuldner der USA ihre Zins- und Abtragsleistungen ein, so dass die amerikanischen Gläubiger den größten Teil der über 13 Milliarden Dollar Kriegskredite abschreiben mussten. Vor dem Hintergrund der Großen Depression mutete dieses Debakel aber kaum noch besonders dramatisch an. Zur selben Zeit zeichnete sich auch in Asien das Scheitern des amerikanischen Konzepts ab, Frieden durch wirtschaftliche Prosperität und behutsame Diplomatie zu gewährleisten. Das Vordringen der Japaner auf dem chinesischen Festland, das 1931 mit der Invasion der Mandschurei begann, konnten die USA weder allein noch im Rahmen des Völkerbunds verhindern oder bremsen. Die Hoover-Administration pochte zwar auf die Regeln und Prinzipien, zu deren Einhaltung sich die Signatarstaaten der Washingtoner Konferenz verpflichtet hatten, aber die Verträge sahen keinerlei Sanktionsmöglichkeiten gegen ein Land vor, das die Bestimmungen missachtete. Für seinen Vorschlag, Japan mit einem Waffenembargo zu belegen, fand Außenminister Stimson keine Mehrheit im Kongress. Unter diesen Umständen war die Entscheidung, dem japanischen Marionettenstaat Mandschukuo die diplomatische Anerkennung zu verweigern (was später zur „Stimson-Doktrin“ stilisiert wurde), kaum mehr als eine symbolische Geste, die politische und militärische Hilflosigkeit verhüllen sollte. Die Hoffnung auf eine liberalkapitalistische Weltordnung, die ohne viel Zutun der Regierungen, gewissermaßen durch ihre innere Logik, Stabilität produzierte, hatte sich als trügerisch erwiesen. Vielmehr stellte die Weltwirtschaftskrise die Existenz der Demokratie in Amerika und Europa in Frage und bereitete einer Aufspaltung der Welt in Machtblöcke und ideologische Lager den Boden. Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 250 <?page no="251"?> 2 Die Vereinigten Staaten in der Krise des demokratisch-kapitalistischen Systems Ursachen und Verlauf der Großen Depression Der Absturz vom Boom in die Depression erfolgte 1929 für die meisten Amerika‐ ner völlig überraschend, und die Schockwellen der Krise breiteten sich rasch nach Lateinamerika, Europa und Asien aus. Obwohl der Außenhandel nur 5 Prozent des US-Nationaleinkommens ausmachte, nahmen die Vereinigten Staaten doch eine überragende Position in der Weltwirtschaft ein: 1929 erzeugten sie 43,3 Prozent der weltweiten industriellen Produktion (Deutschland und Großbritannien folgten mit 11,1 bzw. 9,4 Prozent) und führten als größte Exportnation Waren im Wert von 5,4 Milliarden Dollar aus; ferner hatten sich die US-Auslandsinvestitionen zwischen 1914 und 1929 auf 17 Milliarden Dollar verfünffacht. Schwere und Tragweite der Depression resultierten also nicht zuletzt aus dem seit Beginn des Jahrhunderts immer engeren Zusammenwachsen der Märkte in den verschiedenen Erdteilen, d. h. aus der Entstehung eines kapitalistischen Weltsystems, dessen Zentrum sich von England in die USA verlagert hatte. Die Mechanismen dieses Weltsystems blieben den Zeitgenossen aber noch mehr verborgen als diejenigen, die den nationalen Markt beeinflussten und steuerten. Die Kursstürze an der New Yorker Börse am 24. Oktober (Black Thursday) und am 29. Oktober 1929 (Black Tuesday) wurden zum Fanal einer Krise, die alle bisherigen Maßstäbe sprengte. Obwohl Hoover behauptete, die amerikanische Wirtschaft stehe auf einer „soliden Grundlage“, kam es zu Panikreaktionen der Anleger, die den Wert ihrer Aktien bis November 1929 um mehr als die Hälfte fallen sahen. Wie schon bei früheren Gelegenheiten begann die Finanzkrise rasch das gesamte Wirtschaftsleben zu lähmen, und ökonomische, politische und psychologische Faktoren bildeten eine Spirale, die sich immer weiter nach unten drehte. Eine zyklische Rezession ähnlich den Vorgängen 1913 / 14 und 1920 / 21 war wohl unvermeidlich gewesen, aber sie wurde durch Fehler und Unterlassungen von politischer Seite sowie durch die weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen zur Katastrophe gesteigert. Zu den wichtigsten lang‐ fristigen Ursachen, die Wissenschaftler erst sehr viel später analysierten, gehörte die Überproduktion im Agrarsektor, die infolge der landwirtschaftlichen Erholung in Europa ab Mitte der 1920er Jahre immer spürbarer wurde. Der Einkommensverlust der Farmer auf Grund sinkender Preise und ihre zunehmende Unfähigkeit, Hypotheken‐ zinsen zu zahlen, belasteten viele kleine und mittlere Banken, die später als Erste aus Mangel an Liquidität zusammenbrachen. Im industriellen Bereich und in der Bauwirt‐ schaft trat bis 1929 eine Sättigung des Marktes ein, wozu Wettbewerbsverzerrungen durch die Übermacht von Großkonzernen in vielen Branchen ebenso beitrugen wie die unzureichende Massenkaufkraft. Dieses Phänomen der „Unterkonsumption“ rührte in erster Linie daher, dass der Einkommenszuwachs in den 1920er Jahren extrem ungleich ausfiel: Während die reichsten 1 Prozent der Amerikaner ihr Einkommen um 2 Die Vereinigten Staaten in der Krise des demokratisch-kapitalistischen Systems 251 <?page no="252"?> 75 Prozent steigern konnten, ergab sich im Schnitt der Bevölkerung nur ein Anstieg von 9 Prozent. Einen strukturellen Schwachpunkt bildete seit langem das amerikanische Finanz- und Bankenwesen, das immer noch sehr dezentral organisiert und keinen wirksamen Kontrollen unterworfen war. Es wurde durch den Anstieg der Kredite stark belastet - allein die Verbraucherkredite wuchsen in den 1920er Jahren von ca. 2,7 auf über 8 Milliarden Dollar -, und es zeigte sich den Folgen der unregulierten Börsenspekulation nicht gewachsen. Nachdem der Federal Reserve Board 1927 mit Zinssenkungen das falsche Signal gegeben hatte, war diese Hausse seit dem Frühjahr 1928 zu einem regelrechten Spekulationsfieber ausgeartet. Als der Spekulationsboom im Herbst 1929 platzte, geriet das gesamte Finanzsystem ins Wanken, da viele Anleger ihre Aktien im Vertrauen auf ständig steigende Kurse mit geliehenem Geld gekauft hatten. Anstatt die Geldmenge zu erhöhen und für Liquidität zu sorgen, reagierte der Federal Reserve Board mit Kreditrestriktionen, was die Panik noch steigerte. Die inneren Schwierigkeiten der USA wirkten sich durch den Stopp des Kreditflusses ins Ausland und die Stockung im Kriegsschulden- und Reparationskreislauf umgehend auf Europa und andere Teile der Welt aus, und die Verschlechterung der weltweiten Wirtschaftslage schlug dann wiederum auf die USA zurück. Im Einklang mit der Wissenschaft seiner Zeit vertraute Präsident Hoover auf die „Selbstheilungskräfte des Marktes“. Wirtschaftskrisen galten als unvermeidliche Konsequenzen ökonomischen und moralischen Fehlverhaltens, die letztlich nur durch „Gesundschrumpfen“ zu überwinden waren. Ebenso einmütig gingen die Juristen davon aus, dass die Verfassung keine direkten Hilfen oder massiven Eingriffe der Bundesregierung in das Wirtschaftsgeschehen zuließ. Die klassischen Mittel einer Stabilisierungspolitik wie Zollerhöhungen zum Schutz der heimischen Industrie und Haushaltsausgleich blieben in dieser Krise aber nicht nur wirkungslos, sondern be‐ schleunigten die Talfahrt noch: Der Smoot-Hawley Tariff von 1930, der die Zölle um über 30 Prozent heraufsetzte, trug zur Strangulierung des Welthandels bei, und der Kampf um einen ausgeglichenen Haushalt trieb - wie unter Reichskanzler Brüning in Deutschland - die Deflationsspirale voran. Allerdings verhielt sich Hoover nicht ganz so orthodox, wie man es ihm nach dem Zweiten Weltkrieg lange vorwarf. So zeigte er sich aufgeschlossen für Arbeitsbeschaffungsprojekte wie den Hoover Dam in Colorado, richtete einen Federal Farm Board mit dem Ziel ein, die landwirtschaftliche Überproduktion zu drosseln, und unternahm 1932 den Versuch, das Bankwesen durch die Reconstruction Finance Corporation zu stützen. Außerdem setzte er sich für eine Beschränkung von „destruktiver“ Konkurrenz ein und ließ Eisenbahngesellschaften und anderen Unternehmen direkte Regierungskredite zukommen. Diese durchaus innovativen Maßnahmen gingen aber entweder nicht weit genug oder kamen zu spät, um wirklich Abhilfe zu schaffen. Der Eindruck staatlicher Passivität und Kon‐ zeptionslosigkeit, der sich in der Öffentlichkeit breit machte, wurde durch Hoovers berühmten Ausspruch „prosperity is just around the corner“ eher noch verstärkt. Da half es auch nichts, dass Hoover als erster Präsident einen eigenen Pressesekretär engagierte. Besonders fatal für das Ansehen des Präsidenten war, dass er keinerlei Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 252 <?page no="253"?> Mitgefühl mit den Leiden der betroffenen Menschen erkennen ließ und sie praktisch auf die private Wohltätigkeit verwies (die sich zwischen 1929 und 1933 auch tatsächlich verachtfachte). Das trug ihm bissige, zum Teil zynische Kritik ein, etwa wenn die Barackenlager von Obdachlosen an den Stadträndern Hoovervilles genannt wurden. Nach dem Krieg, insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren, warfen Historiker und Ökonomen Hoover vor, er habe versäumt, rechtzeitig zu einer „keynesianischen“ Politik des deficit spending überzugehen. In der Frage, ob die Große Depression in den USA und die Weltwirtschaftskrise hätten verhindert werden können, ist inzwischen allerdings eine vorsichtigere Beurteilung eingetreten. Heute geht man davon aus, dass es allenfalls möglich gewesen wäre, durch ein geschickteres Management speziell der Geldpolitik die Schwere der Krise zu mildern und ihre Dauer zu verkürzen. Andererseits formulierte der Engländer John Maynard Keynes seine Theorien erst 1936 auf Grund der Erfahrungen der Depression, und selbst dann setzten sie sich in der Fachwelt keineswegs sofort durch. Vor allem aber war der Handlungsspielraum der Hoover-Administration dadurch beschränkt, dass es der Bundesregierung schlicht an der Planungs- und Regulierungskapazität mangelte, die zur Bekämpfung einer solch schweren Notlage erforderlich gewesen wäre. Von Ende 1929 an bestätigten über mehrere Jahre hinweg sämtliche statistischen Indikatoren die einzigartige Härte des wirtschaftlichen Rückschlags. Das Bruttosozial‐ produkt, das private Einkommen und der Außenhandel schrumpften bis 1933 auf etwa die Hälfte zusammen. Die Investitionen sanken von 10 Milliarden Dollar im Jahr 1929 auf 1 Milliarde 1932 ab, und die Bautätigkeit kam 1932 / 33 fast vollständig zum Erliegen. Während die Agrarpreise im Schnitt um 60 Prozent fielen, ging die landwirtschaftliche Produktion nur um 6 Prozent zurück, so dass Hunger und Überfluss nebeneinander existierten. In einem einzigen Jahr, 1933, wurden 5 Prozent der amerikanischen Farmen wegen Hypotheken- und Steuerschulden konfisziert oder zwangsversteigert. Von Ar‐ beitslosigkeit betroffen waren auf dem Höhepunkt der Krise 1932 / 33 ca. 15 Millionen Amerikaner, was einem Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung entsprach (gegenüber weniger als 5 Prozent 1929). Die Zahl der Konkurse überstieg bis Ende 1932 100.000; um diese Zeit waren schon ca. 5000 Banken zusammengebrochen, und im Jahr darauf ereilte weitere 4000 das gleiche Schicksal. Die sozialen Folgen der Depression waren gravierend, weil es so gut wie keine staatliche Fürsorge gab. Anders als in den meisten europäischen Ländern hatten die amerikanischen Arbeitslosen keinerlei Rechtsanspruch auf Unterstützung, sondern waren auf die Armenhilfe der Gemeinden und auf private Wohltätigkeit angewiesen. In den Städten bildeten sich deshalb täglich lange Schlangen vor den Suppenküchen, die von Kirchen oder anderen karitativen Organisationen betrieben wurden. Am schlimmsten war die Lage für die Farmer und Pächter im Mittleren Westen und im Südwesten des Landes. In den semiariden Staaten Colorado, Neu-Mexiko, Kansas und Oklahoma kam es zwischen 1930 und 1941 zu anhaltender Dürre, Bodenerosion und Sandstürmen. Das Ausbleiben der üblichen Regenfälle war nicht der einzige Grund für die Entstehung der so genannten „Dust Bowl“-Katastrophe, die am 14. April 2 Die Vereinigten Staaten in der Krise des demokratisch-kapitalistischen Systems 253 <?page no="254"?> 1935 ihren Höhepunkt erreichte, als Sandstürme mit über 110 Stundenkilometern Geschwindigkeit durch das Land fegten und den Tag zur Nacht machten. Seit dem Ersten Weltkrieg hatten amerikanische Farmer mit dem Anbau von Weizen große Profite erzielt. Durch das Entfernen der nativen Vegetation und durch den Einsatz gigantischer landwirtschaftlicher Maschinen hatten sie nahezu unversehens das öko‐ logische Gleichgewicht zerstört. Ohne Regen verwandelte sich der Boden in Staub. Die Katastrophe löste in den 1930er Jahren einen Massenexodus aus. Mehr als 350.000 „Okies“ (so wurden sie von ihren Zeitgenossen genannt, ob sie aus Oklahoma stammten oder nicht) verließen ihre Farmen und ihr Vieh und zogen nach Kalifornien. Dort fanden die meisten in der Landwirtschaft Arbeit. Neben Trauben und Zitrusfrüchten wurden in den bewässerten Agrarlandschaften Kaliforniens vor allem Gemüse und Kartoffeln angebaut. Mehreren Städten an der Westküste drückten die „Okies“, zu denen auch der Musiker Woody Guthrie gehörte, einen ganz eigenen kulturellen Stempel auf, vor allem durch die Einführung neuer Gerichte, eine südstaatlich ge‐ prägte evangelikale Frömmigkeit und die Popularisierung der Country-Musik. Dass die meisten Flüchtlinge zunächst nur in Obdachlosenlagern Unterkunft fanden und Hungerlöhne erhielten, hat John Steinbecks Roman Grapes of Wrath (Früchte des Zorns) dargestellt. Das Buch, das den Pulitzer-Preis gewann, wurde 1939 umgehend zum Bestseller und als Film zu einem der größten Kassenerfolge der 1940er Jahre. Gemessen an diesen immensen Nöten und Leiden blieben kollektive Proteste von Betroffenen erstaunlich selten und gemäßigt. In Iowa fand die Farmers’ Holidays Association zahlreiche Anhänger, deren Führer Milo Reno ab 1931 dazu aufrief, Agrarerzeugnisse von den Märkten fern zu halten und Zwangsversteigerungen notfalls gewaltsam zu verhindern. Kommunisten engagierten sich in den Unemployment Councils, die in vielen Städten „Hungermärsche“ durchführten, doch der Mitglieder‐ stand der Kommunistischen Partei der USA war selbst 1932 nicht höher als 12.000. Die spektakulärste Form des Widerstands wählten ca. 10.000 Veteranen des Ersten Weltkriegs, die sich im Juni 1932 in Washington versammelten, um den Kongress zur Umwandlung ihrer befristeten Bonusscheine in sofortige Geldzahlungen zu bewegen. Als einige dieser bonus marchers ihre Proteste fortsetzten, obwohl der Kongress den Gesetzentwurf abgelehnt hatte, gingen reguläre Truppen unter dem Befehl von General Douglas MacArthur gegen sie vor und brannten ihr Lager am Rand der Hauptstadt nieder. In der Öffentlichkeit verstärkte dieser unverhältnismäßige Militäreinsatz, den Hoover selbst angeordnet hatte, das Gefühl, dem Präsidenten und der Regierung mangele es an jeglicher Sensibilität für die Empfindungen der Krisenopfer. Gefährlicher als das offene Aufbegehren war die tiefe psychologische Malaise, von der breite Bevölkerungsschichten durch den unerklärlichen raschen Sturz von der Pros‐ perität in die Krise befallen wurden. In der Regel suchten die Arbeitslosen die Schuld an ihrer Situation bei sich selbst und kämpften verzweifelt darum, die Selbstachtung zu wahren. Dennoch drohte den politischen und wirtschaftlichen Institutionen, die den American way of life repräsentierten - insbesondere der Bundesregierung und der business community -, bald ein tiefer, möglicherweise irreparabler Vertrauensverlust. Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 254 <?page no="255"?> Es kamen sogar Zweifel an den Grundfesten der amerikanischen Existenz auf: an der Fähigkeit des Einzelnen, sein Schicksal selbst zu gestalten; an der Überlegenheit der Demokratie gegenüber autoritären und diktatorischen Regierungsformen; an den Vorzügen einer kapitalistischen Wirtschaft und eines freien Unternehmertums; und an dem geradezu naturgesetzlichen Fortschritt, der jedermann die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg bescherte. Die Wahlen von 1932 erlangten deshalb so überragende Bedeutung, weil sich nun zeigen musste, ob der politische Prozess noch die Wünsche und Stimmungen der Bürger reflektierte und ob das amerikanische Regierungssystem fähig war, die Ratlosigkeit, lähmende Ungewissheit, Apathie und Verzweiflung zu überwinden. Wie in der Weimarer Republik und in vielen anderen europäischen Ländern stand das Schicksal der liberalen Demokratie selbst auf dem Spiel. Die Wahlen von 1932 Der ausbleibende Erfolg der Hoover’schen Reformen und das psychologische Unge‐ schick des Präsidenten bereiteten den Boden für die Übernahme der Regierungsmacht durch die Demokraten und für eine bis dahin unvorstellbare Aktivität der Bundes‐ regierung in Wirtschafts-, Finanz- und Sozialfragen. In Franklin Delano Roosevelt, einem entfernten Verwandten Theodore Roosevelts, erwuchs der Demokratischen Partei gerade rechtzeitig wieder eine charismatische Führerpersönlichkeit vom Schlage eines Woodrow Wilson. Roosevelts Wahlkampfstil hob sich schon deshalb positiv von demjenigen Hoovers ab, weil er Sympathie und Mitgefühl für den „vergessenen kleinen Mann“ bekundete und weil er den Menschen allein durch seine Ausstrahlung wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft vermittelte. Die Parole vom New Deal, einer gerechteren Neuverteilung der gesellschaftlichen Chancen, die der Kandidat auf dem Nominierungskonvent der Demokraten in Chicago Ende Juli 1932 ausgab, erwies sich als werbewirksam und mitreißend. Als gewiegter Taktiker verband Roosevelt aber seine öffentlichen Versprechungen eines grundlegenden Wandels mit beruhigenden Hinweisen an die Geschäftswelt, dass radikale Änderungen nicht zu befürchten seien. Er propagierte keinen fertigen Rettungsplan, widersprach sich auch gelegentlich im Detail, zeigte dafür aber die große Richtung an: Die Bundesregierung musste die Verantwortung für das wirtschaftliche Wohlergehen der Amerikaner übernehmen und das „größte Glück der größten Zahl“ ermöglichen. Die Wähler gaben ihm im November mit über 7 Millionen Stimmen Vorsprung vor Hoover (der als einzigen wichtigen Staat Pennsylvania gewann) ein klares Mandat und einen großen Vertrauensvorschuss. Während die Demokratische Partei Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses erobern konnte, entfielen auf sozialistische und kommunistische Kandidaten weniger als eine Million der fast 40 Millionen abgegebenen Stimmen. 2 Die Vereinigten Staaten in der Krise des demokratisch-kapitalistischen Systems 255 <?page no="256"?> Abb. 16: Franklin D. Roosevelt und sein Vorgänger Herbert Hoover auf dem Weg zu Roosevelts Amtseinführung, 4. März 1933 Franklin D. Roosevelt, der bei seinem Amtsantritt im März 1933 51 Jahre alt war, stammte aus einer angesehenen und wohlhabenden New Yorker Familie niederländ‐ ischen Ursprungs. Nach der Privatschule in Groton und dem Studium in Harvard hatte er, schon früh von Flottenfragen fasziniert, ab 1913 als Unterstaatssekretär im Marineministerium sein erstes Regierungsamt ausgeübt. Bei den Wahlen von 1920 kandidierte er als Repräsentant des linken Flügels der Demokratischen Partei für den Posten des Vizepräsidenten, unterlag aber zusammen mit James M. Cox dem republikanischen Gespann Harding-Coolidge. Infolge einer schweren Polioerkrankung war er seit 1921 von der Hüfte abwärts gelähmt, blieb aber dennoch - nicht zuletzt dank der Hilfe seiner Frau Eleanor - politisch aktiv. 1928 unterstützte er den erfolglosen Al Smith und trat dessen Nachfolge als Gouverneur des Staates New York an. Zu dieser Zeit galt er als opportunistisch und wenig energisch, so dass sein Ehrgeiz, Präsident zu werden, eher belächelt wurde. Die Wirtschaftskrise bot ihm die ersehnte Chance zum Aufstieg, die er ohne Zögern ergriff und nutzte. Schon die Inaugurationsrede am 4. März 1933 ließ ahnen, dass Roosevelt das Zeug zu einem „starken“ Präsidenten hatte, ja dass er das Präsidentenamt und das gesamte amerikanische Regierungssystem prägen würde wie nur ganz wenige seiner Vorgänger. Das einzige, was die Nation zu fürchten hätte, so erklärte er, sei die Furcht selbst, der unbestimmte, lähmende Schrecken, der die Amerikaner daran hindere, den Rückzug in einen Vormarsch zu verwandeln. Der Vergleich der Depression mit einem militärischen Notstand und die Metapher des Krieges durchzogen die gesamte Rede: Roosevelt forderte die innere Geschlossenheit des Volkes, da jeder vom anderen abhängig und die ganze Gesellschaft interdependent sei; er beanspruchte die Führung in dem bevorstehenden Feldzug gegen Not und Elend; und er kündigte an, dass er gegebenenfalls Notstandsbefugnisse vom Kongress fordern werde, die ähnlich umfassend sein müssten wie diejenigen, die in der Verfassung für den Fall einer fremden Invasion vorgesehen seien. Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 256 <?page no="257"?> Der „erste“ New Deal Auf diese Ankündigung eines diktatorischen Regimes auf Zeit brauchte Roosevelt nicht mehr zurückzukommen, weil die Gesetzesvorschläge der Administration im Kongress keinen nennenswerten Widerstand fanden. Angesteckt vom schwungvoll-optimisti‐ schen „spirit of the New Deal“, zeigten sich die Abgeordneten und Senatoren kompro‐ missbereit und handlungsfähig, so dass der New Deal mit vereinten Kräften auf den Weg gebracht und in den legendären „ersten hundert Tagen“ ein wahres Feuerwerk an Reformen abgebrannt werden konnte. Die Hauptstadt selbst, die bis dahin immer noch etwas verschlafen und provinziell gewirkt hatte, veränderte ihren Charakter und wurde lebendiger, dynamischer und interessanter. In den Radioansprachen am Kamin seines Arbeitszimmers (fireside chats), mit denen Roosevelt die New Deal-Maßnahmen regelmäßig begleitete, präsentierte er den Bürgern seinen experimentellen, zuweilen hektischen Regierungsstil als Ausdruck des pragmatischen Geistes der amerikanischen Politik: Wichtig sei, dass überhaupt etwas geschehe; sollten sich Einzelmaßnahmen als falsch erweisen, könnte man sie ja korrigieren und etwas anderes versuchen. Die Neuerungen, die er einführte, entsprangen also weniger ideologischen Motiven als handfesten politischen Kalkulationen und instinktiven Sympathien für den forgotten man. Abb. 17: Radiohörer in Michigan, 1930 Erstmals seit Woodrow Wilson verlagerte sich das politische Entscheidungszentrum wieder vom Kongress in das Weiße Haus und zum Präsidenten selbst, der Entschlos‐ senheit, Phantasie, Führungskraft und auch Humor ausstrahlte. Zu seinen engsten Beratern gehörte eine Gruppe von Professoren, vor allem der New Yorker Columbia University, unter ihnen Adolf A. Berle Jr., Raymond Moley und Rexford Tugwell. Die Mitglieder dieses so genannten Brains Trust fühlten sich dem neuen wissenschaftli‐ chen Ideal des social engineering verpflichtet und glaubten an die Möglichkeit einer „Verbesserung“ der Gesellschaft durch gezielte Regierungseingriffe. Sie waren oft reformerischer eingestellt als der Präsident selbst, und einige versuchten sogar, positive 2 Die Vereinigten Staaten in der Krise des demokratisch-kapitalistischen Systems 257 <?page no="258"?> Lehren aus dem planwirtschaftlichen Ansatz der Stalin’schen Sowjetunion zu ziehen. Im Regierungsapparat baute „FDR“, wie er bald mit einer Mischung aus Respekt und Herzlichkeit genannt wurde, auf den Rat seines engen Freundes, Finanzminister Henry Morgenthau Jr., sowie auf die tatkräftige Unterstützung durch Landwirtschafts‐ minister Henry A. Wallace und Innenminister Harold Ickes. Mit Frances Perkins als Arbeitsministerin berief er erstmals eine Frau in das Kabinett, was dem fortschrittlichen Image der Administration ebenso dienlich war wie das soziale Engagement und die Aufgeschlossenheit in Rassenfragen, die First Lady Eleanor Roosevelt an den Tag legte. Eine wichtige Rolle im Hintergrund spielte Roosevelts Vertrauter Harry Hopkins, ein New Yorker Sozialarbeiter, der sich zunächst um die Arbeitslosenhilfe kümmerte und später wichtige Aufgaben als Handelsminister und Sonderbotschafter erfüllte. Von Beginn an verstand es Roosevelt, seine eigene Autorität durch das Nebeneinander konkurrierender Ämter und Personen auf den verschiedenen Ebenen der Administration zu stärken, und im Laufe der Zeit verfeinerte er diese Methode des divide et impera immer weiter. Dazu verfügte er über ein feines Sensorium für die Tendenzen und Schwankungen der öffentlichen Meinung, die er durch Reden sowie über die Presse und den Rundfunk (der 1938 schon 26 Millionen amerikanische Haushalte erreichte) kontinuierlich zu beeinflussen suchte. Diese Gabe ließ ihn nur einmal wirklich im Stich, als er 1937 / 38 glaubte, sich den Supreme Court gefügig machen und die Demokratische Partei von Kritikern „säubern“ zu können. Ansonsten gelang es ihm, engen Kontakt mit der Bevölkerung zu wahren, aus der ihn wöchentlich 5000 bis 8000 Zuschriften erreichten. Es bedurfte der Hilfe von 50 Angestellten, um diesen Ansturm zu bewältigen. Die Hilfsmaßnahmen und Reformen des New Deal erfassten jeden Wirtschaftsbe‐ reich: das Geld- und Kreditsystem, die Landwirtschaft, den industriellen Sektor, den Arbeitsmarkt und das Sozialwesen. Zur Signatur der Epoche wurden die vielen unabhängigen Exekutivbehörden, die der Kongress für die verschiedensten Aufgaben schuf und deren Akronyme wie AAA, FDIC, SEC, NRA und FERA bald nur noch Zeitgenossen mit einem besonders guten Gedächtnis beherrschten. Damit trat das Wachstum der bundesstaatlichen Bürokratie in ein neues Stadium, das durch die rasche Zunahme des zentralen, dem Präsidenten direkt unterstellten Lenkungs- und Kontrollinstrumentariums gekennzeichnet war. Höchste Priorität beanspruchte die Bankenkrise, die sich in der langen Übergangsphase zwischen Novemberwahl und Amtsantritt des Präsidenten im März noch dramatisch verschlimmert hatte. (Der Anfang 1933 ratifizierte 20. Verfassungszusatz, der den Regierungswechsel auf den 20. Januar vorverlegte, schuf hier für die Zukunft Abhilfe.) Am Vorabend der Inaugu‐ ration hatten 38 Staaten ihre Banken geschlossen, und auch in den restlichen Staaten operierten die Institute nur noch auf einer begrenzten Basis. Seit dem Börsenkrach im Oktober 1929 hatten etwa 9 Millionen Amerikaner, meist Angehörige der Mittel‐ schicht, ihre Ersparnisse in einer Gesamthöhe von ca. 2,5 Milliarden Dollar verloren. Roosevelt erklärte umgehend am 5. März 1933 „Bankfeiertage“ und berief den Kongress zu einer Sondersitzung ein. Schon am 9. März wurde der Emergency Banking Act Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 258 <?page no="259"?> verabschiedet, der stärkere Aufsichtsbefugnisse des Finanzministeriums vorsah. Am 13. März konnten die „sicheren“ Banken wieder geöffnet werden, und der Anstieg der Depositen zeigte, dass das Vertrauen der Sparer erstaunlich rasch zurückkehrte. Zur weiteren Beruhigung trug der Glass-Steagall Act bei, der Geldanlagegeschäfte von „normalen“ Bankgeschäften trennte und eine Versicherung der Bankeinlagen durch die Federal Deposit Insurance Corporation vorsah. Als Kontrollorgan für die Börse fungierte ab 1934 die Securities and Exchange Commission, die eine übersteigerte Spekulation und Insider-Geschäfte verhindern sollte. Außerdem wurde die Möglichkeit geschaffen, über die Home Owners Loan Corporation von der Kündigung bedrohte Hypotheken zu refinanzieren, wovon 20 Prozent der Hausbesitzer Gebrauch machten. Die Finanz- und Währungspolitik zielte darauf ab, durch Aufgabe des Goldstandards und Abwertung des Dollars die Deflation zu überwinden und das inländische Preis‐ niveau zu heben. Dieser Alleingang verurteilte das Projekt einer internationalen Währungsstabilisierung zum Scheitern, das die Londoner Weltwirtschaftskonferenz 1933 erörterte. Wie es die Roosevelt-Administration für die USA unternahm, so musste nun auch jedes andere Land versuchen, sich selbst durch hohe Zölle, Abwertungen und andere protektionistische Maßnahmen aus dem Sumpf der Krise zu ziehen. Auf diese Weise verstärkten die USA den Trend zum ökonomischen Nationalismus, der dem Ideal des freien Welthandels eigentlich zuwiderlief. Der Reciprocal Trade Agreements Act von 1934, der den Präsidenten ermächtigte, die amerikanischen Zölle auf Grund von bilateralen Übereinkommen zu senken, lockerte diese Strategie etwas auf, behielt sie aber im Kern bei. Ökonomisch sinnvoller als die Manipulation von Gold- und Dollarpreisen wäre eine entschlossene Defizit-Politik gewesen, doch in dieser Hinsicht verhielt sich Roosevelt konventionell. Wie die meisten Geschäftsleute und Bankiers fürchtete er hohe Haushaltsdefizite und mahnte zur Sparsamkeit, als die Fehlbeträge anstiegen. Die Kürzungen, die der Kongress daraufhin vornahm, um das Budget auszugleichen, wirkten der wirtschaftlichen Erholung aber entgegen. Dieser restriktive Kurs wurde erst 1938 aufgegeben, als ein neuer Konjunktureinbruch erfolgte und sich bereits die Notwendigkeit der militärischen Aufrüstung ankündigte. Ein zweiter Schwerpunkt des New Deal war die Stützung der Landwirtschaft, die im Mai 1933 mit dem Agricultural Adjustment Act in Angriff genommen wurde. Er sah eine Kombination von - anfangs noch freiwilligen, später dann auch verordne‐ ten - Anbaubeschränkungen und Subventionen für bestimmte Produkte wie Weizen, Baumwolle und Tabak vor, um die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise dem indust‐ riellen Preisniveau anzugleichen. Da diese Maßnahmen erst 1934 greifen konnten, mussten im Sommer 1933 unpopuläre Vernichtungsaktionen wie das Unterpflügen von Baumwolle und das Abschlachten von Millionen Ferkeln vorgenommen werden. Flankiert wurde dieses System der Produktions- und Preisregulierung durch die Vergabe zinsgünstiger Kredite an Farmer, um massenhafte Zwangsversteigerungen abzuwenden. Vom Anstieg der Preise profitierten allerdings in erster Linie die grö‐ ßeren Farmer, während Kleinbauern und Pächter im Süden zumeist leer ausgingen. Das lag hauptsächlich daran, dass die Zuschüsse und Subventionen mangels einer 2 Die Vereinigten Staaten in der Krise des demokratisch-kapitalistischen Systems 259 <?page no="260"?> ausreichenden bundesstaatlichen Verwaltung durch die Regierungen der Einzelstaaten und die lokalen Farmorganisationen verteilt wurden. Im Süden dominierten aber nach wie vor die konservativen Demokraten und ihre weiße Farmer-Klientel, auf deren politische Unterstützung Roosevelt angewiesen war. Das hielt den Präsidenten und die Bundesregierung auch weiterhin davon ab, sich in die Rassenbeziehungen einzumischen. Das Kernstück dieser ersten Phase des New Deal bildete der National Industrial Recovery Act (NIRA), der den industriellen Sektor beleben und den Unter‐ nehmen helfen sollte, wieder Profite zu erwirtschaften. Unter der Aufsicht der National Recovery Administration (NRA) konnte jede Branche Codes of Fair Business Practices aufstellen, deren Ziel es war, „ruinösen Wettbewerb“ zu verhindern und - entgegen den Anti-Trust-Bestimmungen - Absprachen über Produktion und Preise zu ermöglichen. Als Zugeständnis an die Gewerkschaften sah die Sektion 7a des NIRA vor, dass Vereinbarungen über Mindestlöhne, Höchstarbeitszeiten, das Verbot der Kinderarbeit und vor allem das Recht auf freie Tarifverhandlungen in die Codes aufgenommen werden sollten. Es handelte sich also um eine Art korporative Selbstregulierung von Kapital und Arbeit unter der Schirmherrschaft der Bundesregierung, die man der Bevölkerung mit großem Propagandaaufwand schmackhaft zu machen suchte. Anstatt einer wirklichen Erholung trat aber zunächst nur eine stärkere Monopolbildung ein, und der Widerstand der Unternehmer gegen die Sektion 7a formierte sich gerade erst, als der Supreme Court das Gesetz im Mai 1935 als verfassungswidrig aufhob. Der experimentelle und improvisatorische Charakter des New Deal war am ausge‐ prägtesten auf dem Gebiet der Arbeitslosenhilfe und Arbeitsbeschaffung, wo eine ganze Reihe von Organisationen aufeinander folgten bzw. mit mehr oder weniger Erfolg nebeneinander her existierten. Während die Federal Emergency Relief Admi‐ nistration (FERA) unter Hopkins nur Hilfsprogramme der Einzelstaaten finanziell unterstützte, konnte die im NIRA vorgesehene und von Ickes geleitete Public Works Administration (PWA) öffentliche Aufträge für Schul- und Straßenbau und andere Infrastrukturmaßnahmen vergeben. Da Ickes zu zögerlich agierte, betraute Roosevelt Ende 1933 Hopkins mit der Leitung einer neuen Agentur, der Civil Works Administ‐ ration (CWA), die im Winter 1933 / 34 Millionen Menschen vorübergehend Arbeit beschaffte, dann aber wegen Geldmangels aufgelöst wurde. Als dauerhafter erwies sich das Civilian Conservation Corps (CCC), ein freiwilliger Arbeitsdienst für Männer zwischen 18 und 25 Jahren, die in - zumeist dem Militär unterstellten - Lagern mit Landschafts- und Naturschutzaufgaben wie Wiederaufforstung und Erosionsschutz beschäftigt wurden. In ganz andere Dimensionen reichte die Tennessee Valley Authority (TVA) hinein, ein regionales Großprojekt, das sich über sieben Staaten erstreckte und Arbeitsbeschaffung mit regionaler Wirtschaftsentwicklung verband. Koordiniert von einem Dreimänner-Gremium als bundesstaatlicher Aufsichtsbehörde, begann entlang des Tennessee River und seiner Nebenflüsse der Bau von Dämmen, Schleusen, Elektrizitätswerken, Stromleitungen und Chemiefabriken. Die Maßnahmen waren aufeinander abgestimmt, um das stets gefährdete und zurückgebliebene Gebiet durch Hochwasserkontrolle, Schiffbarmachung, Energiegewinnung und Erosionsschutz zu Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 260 <?page no="261"?> industrialisieren und modernisieren. Obwohl es zu Reibungen mit den lokalen Elekt‐ rizitätsgesellschaften und anderen Privatunternehmen kam, die sich gegen die billige staatliche Konkurrenz wehrten, trug die TVA dazu bei, die Verdienstmöglichkeiten und die Lebensqualität vieler Menschen zu verbessern. Allerdings lehnte der Kongress Roosevelts Vorschlag ab, ähnliche Programme für sechs weitere Regionen, die fast die gesamten USA umfasst hätten, in Auftrag zu geben. Opposition gegen den New Deal Das Ergebnis der Zwischenwahlen vom November 1934 bewies, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter Roosevelt stand. Andererseits machten aber auch schon Befürchtungen, Warnungen und Kritik die Runde: Den einen erschien der New Deal als „Strohfeuer“, das bald wirkungslos verpuffen würde, den anderen dagegen ging er bereits zu weit und beschwor die Gefahr einer politischen und konstitutionellen Revolution herauf. Millionen von Amerikaner erwärmten sich zumindest vorüberge‐ hend für die einfachen, z. T. autoritären Lösungen, die populistische Führer und selbst ernannte Volkstribunen offerierten. Eine besonders schillernde Persönlichkeit war Huey Long, der von 1928 bis 1932 als Gouverneur von Louisiana amtiert hatte und dann von seinen Wählern in den Senat nach Washington geschickt wurde. Sein Share our Wealth-Programm sah vor, den Reichen hohe Steuern und Abgaben aufzuerlegen, mit denen dann jeder amerikanischen Familie ein Haus und ein Jahreseinkommen von 2-3.000 Dollar garantiert werden sollten. Bevor dieser dynamische Agitator zu einer echten Gefahr für Roosevelt werden konnte, wurde er jedoch im September 1935 in Louisiana ermordet. 40 Millionen Hörer erreichte angeblich der katholische „Radiopriester“ Father Charles E. Coughlin, der in Detroit die National Union for Social Justice gründete. Er sah das Heil in einer drastischen Dollarabwertung und in der Ver‐ staatlichung des gesamten Bankensystems. An die Unzufriedenheit und Zukunftsangst der wachsenden Zahl allein stehender alter Menschen appellierte der kalifornische Arzt Dr. Francis E. Townsend mit seiner Kampagne für Old-Age Revolving Pensions: Danach sollte jede Person im Alter von über 60 Jahren 200 Dollar monatlich erhalten, aber auch verpflichtet werden, dieses Geld innerhalb von 30 Tagen auszugeben, um die Wirtschaft „anzukurbeln“. Unter wachsenden Druck geriet die Regierung sowohl von Seiten der Gewerkschaften, die eine schnellere Beseitigung der Arbeitslosigkeit und „wirtschaftliche Demokratie“ forderten, als auch von Seiten konservativer Unterneh‐ mer, die sich in der American Liberty League zusammenschlossen. Diese einflussreiche Organisation attackierte die staatliche Regulierung des Wirtschaftslebens öffentlich als Vorstufe eines kommunistischen oder faschistischen Regimes à la Stalin, Mussolini und Hitler. Rückhalt fand diese Opposition bei den Gerichten, die stets zu den Verteidigern einer „freien“ Wirtschaft gehört hatten und die nun zu erkennen glaubten, dass der New Deal das amerikanische Verfassungssystem aus den Angeln hob. Auf diese Gefahr wies der Supreme Court unter seinem republikanischen Vorsitzenden Charles E. Hughes unmissverständlich hin, als er im Mai 1935 den National Industrial Recovery Act im Fall 2 Die Vereinigten Staaten in der Krise des demokratisch-kapitalistischen Systems 261 <?page no="262"?> Schechter v. US einstimmig für verfassungswidrig erklärte. Konkret bemängelten die Richter, dass der Kongress zu viele Vollmachten an die Exekutive delegiert habe (so konnte der Präsident die NIRA-Codes ohne parlamentarische Billigung in Kraft setzen) und dass die Bundesregierung auf unzulässige Weise in die wirtschaftlichen Belange der Einzelstaaten eingreife (die Hähnchenfirma Schechter operierte vorwiegend im Staat New York, nicht im interstate commerce). Bedroht waren nach Meinung der Richter demzufolge sowohl die Gewaltenteilung auf der bundesstaatlichen Ebene als auch das föderale Gleichgewicht zwischen Zentralregierung und Einzelstaaten. Als der Supreme Court mit ähnlichen Begründungen, z. T. allerdings nur mit knappen 5: 4-Ent‐ scheidungen, weitere wichtige Gesetze aus den „ersten hundert Tagen“ verwarf, schien der gesamte New Deal hinfällig zu werden. In der breiten Öffentlichkeit stießen die Entscheidungen des Gerichts, das außerdem noch einzelstaatliche Mindestlohngesetze außer Kraft setzte und zu einer reinen laissez faire-Rechtsprechung zurückzukehren schien, allerdings zunehmend auf Unverständnis. Der „zweite“ New Deal Präsident Roosevelt beantwortete die Kritik und die negativen Gerichtsurteile nicht mit einer Mäßigung, sondern mit der Verschärfung seines Reformkurses. Hatte sich die Re‐ gierung bislang um eine Harmonisierung der Interessen von Unternehmern, Bankiers, Farmern und Arbeiterschaft bemüht, so waren die Gesetze des so genannten „zweiten“ New Deal ab 1935 weiter „links“ auf der politisch-ideologischen Skala angesiedelt. Sie begünstigten bewusst die Gewerkschaften und die breiten Bevölkerungsschichten, während die Unternehmen wieder einem stärkeren Wettbewerb ausgesetzt und höher besteuert wurden. Als Ersatz für NIRA unterzeichnete der Präsident im Juli 1935 den National Labor Relations Act (oder Wagner Act), der in erster Linie die Rechte der Gewerkschaften absicherte, die Sektion 7a von NIRA versprochen hatte. Die praktische Umsetzung dieser Organisations- und Tarifrechte provozierte eine Serie schwerer Arbeitskämpfe, besonders in der Automobilindustrie, bei denen die Gewerkschaften aber, anders als früher, auf die Sympathie der Bundesregierung zählen konnten. Ab 1935 bildeten sich neue Industriegewerkschaften, die auch ungelernte Arbeiter aufnahmen und deshalb von der AFL ausgeschlossen wurden. Unter der Leitung von John L. Lewis formten sie 1938 einen eigenen Dachverband, den Congress of Industrial Organizations (CIO). Trotz dieser Spaltung hatten die New Deal-Gesetze insgesamt einen positiven Effekt auf die Arbeiterbewegung, denn die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg zwischen 1933 und 1941 von weniger als 3 Millionen auf über 8 Millionen an. Vertreter des radikalen Flügels kritisierten jedoch, dass dieser Erfolg mit dem Verzicht auf eine wirkliche „Demokratisierung“ der Wirtschaft und zu enger politischer Anlehnung an die Demokratische Partei erkauft worden war. Einen ersten Schritt in Richtung moderner Sozialstaat unternahm die „Roosevelt-Ko‐ alition“ aus Demokraten und gemäßigten Republikanern mit dem Social Security Act vom August 1935. Die Finanzierung der Programme zur Altersrente und Arbeitslo‐ Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 262 <?page no="263"?> senunterstützung erfolgte nicht durch Steuern, sondern durch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile an Löhnen und Gehältern, und die Fonds wurden gemeinsam von den Einzelstaaten und der Bundesregierung verwaltet. Es handelte sich aber noch um bescheidene Anfänge, die erst Ende der 1930er Jahre praktische Wirkung entfalteten. Gesetzlich vorgeschrieben war nun auch die Unterstützung einzelner Kategorien von bedürftigen Personen wie Blinde, Gehörlose, Behinderte und abhängige Kinder, die zu den deserving poor zählten. Diese categorical assistance programs bildeten Keimzellen, aus denen sich das amerikanische Sozialhilfesystem dann erstaunlich schnell entwickelte. Auf eine nationale Krankenversicherung verzichtete die Roose‐ velt-Administration dagegen, obgleich ein solcher Schutz in den meisten europäischen Staaten um diese Zeit schon zum sozialen Standard gehörte. Ab 1935 wurde endlich Arbeitsbeschaffung im großen Stil durch die neue Works Progress Administration (WPA) betrieben. Geleitet wiederum von Harry Hopkins, einem Meister der Improvisation, förderte die WPA nicht nur massiv Industrie- und Infrastrukturprojekte, sondern beschäftigte auch eine große Zahl von Künstlern und Intellektuellen mit Hilfe des Federal Theater Project, des Federal Writers’ Project und des Federal Art Project. Auf diese Weise leistete die WPA auch einen Beitrag zur kulturellen Sinnstiftung, denn im Zentrum aller künstlerischen Produktionen dieser Zeit standen ein „neu entdecktes“ Amerika und die amerikanische Nation. Obwohl die Bundesregierung für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen insgesamt 11 Milliarden Dollar ausgab und durchschnittlich 2 Millionen Menschen im Jahr unterstützte, ging die Zahl der Arbeitslosen langsamer als beispielsweise im nationalsozialistischen Deutschland zurück und stieg 1938 vorübergehend sogar wieder auf über 10 Millionen (= 19 Prozent) an. Abgerundet wurde der „zweite“ New Deal durch den Banking Act, der das Federal Reserve System reorganisierte und die Verantwortung für die Geldpolitik endgültig von der regionalen auf die nationale Ebene hob, sowie durch eine höhere Besteuerung der Unternehmensgewinne und der Einkommen von besser Verdienenden. Mit ihrer Bereitschaft, Verantwortung für die soziale Lage der Mittel- und Unterschicht zu übernehmen, und mit ihrem gesetzgeberischen Aktivismus verscheuchten Roosevelt und die Demokratische Partei das Gespenst der Resignation und sicherten sich die Zustimmung der Massen. Das bestätigten die Wahlen von 1936 eindrucksvoll, als Roosevelt seinen republikanischen Herausforderer Alfred Landon, den Gouverneur von Kansas, mit 60,8 zu 36,5 Prozent der abgegebenen Stimmen haushoch besiegte. Der Streit um den Supreme Court und die Bewertung des New Deal Trotz oder gerade wegen dieses überwältigenden Wahlerfolgs stand Roosevelts zweite Amtszeit innenpolitisch unter keinem guten Stern. Im Kongress löste sich die partei‐ enübergreifende New Deal-Koalition auf, weil die Republikaner die unternehmerfeind‐ liche Politik der Regierung nicht mehr mittragen wollten. Roosevelt war deshalb mehr denn je auf die konservativen Demokraten aus den elf Staaten des „soliden Südens“ an‐ 2 Die Vereinigten Staaten in der Krise des demokratisch-kapitalistischen Systems 263 <?page no="264"?> gewiesen. Die gewalttätige Streikwelle, die 1936 / 37 die Industrie erfasste, beunruhigte viele Amerikaner, und auch die 1937 einsetzende Rezession weckte Zweifel an der Rich‐ tigkeit des neuen, radikaleren Kurses. Den größten politischen Fehler beging Roosevelt jedoch mit seinem Frontalangriff auf eine ehrwürdige Institution des amerikanischen politischen Systems, den Supreme Court, dessen Urteile ihn zunehmend verärgert hatten und dem er eine altmodische horse and buggy-Rechtsprechung vorwarf. Der Gesetzentwurf zur Reorganisation der Judikative ermächtigte den Präsidenten, für jedes Mitglied des Supreme Court, das mit 70 Jahren nicht von seinem Amt zurücktrat, einen zusätzlichen Richter - maximal sechs, bis zur Gesamtzahl von 15 - zu ernennen. Mit diesem Vorschlag, der leicht als court packing zu durchschauen war, verscherzte sich Roosevelt viele Sympathien. Nun warnten sogar liberale Demokraten vor seinen „diktatorischen Anwandlungen“, und der Kongress lehnte das Gesetz im Juli 1937 ab. Im Grunde war der ganze Streit unnötig gewesen, weil der Supreme Court in der Zwischenzeit bereits eine Wende im Sinne Roosevelts vollzogen hatte, die einer „kon‐ stitutionellen Revolution“ gleichkam. Die herbe öffentliche Schelte, die das Oberste Gericht für seine New Deal-kritischen Urteile geerntet hatte, war zumindest an einem der gemäßigten Richter nicht spurlos vorübergegangen. Als er sich von seinen vier konservativen Kollegen abwandte, schlug das Pendel in Richtung einer großzügigen Interpretation der relevanten Verfassungsbestimmungen um. Insbesondere die weite Auslegung der commerce clause, zu der sich die Mehrheit nun durchrang, gab der Bun‐ desregierung weitgehend freie Hand bei der Regulierung der Wirtschaft. Damit trug der Supreme Court der Tatsache Rechnung, dass die amerikanische Wirtschaft endgültig zu einem nationalen Markt zusammengewachsen war und dass sich die föderale Balance zu Gunsten der Zentralgewalt verschoben hatte. Von nun an zeigte sich das Gericht auch eher geneigt, im Konfliktfall private Besitzansprüche dem öffentlichen Interesse unterzuordnen. Parallel zu diesem Rückzug aus dem Wirtschaftsleben baute die liberale Mehrheit unter Führung von Louis D. Brandeis und Felix Frankfurter den Schutz der im ersten Amendment garantierten Grundrechte aus und wandte sich verstärkt Rassen- und Minderheitenfragen zu. Die letzten bedeutenden New Deal-Gesetze passierten den Kongress im Jahr 1938: Ein neuer Agricultural Adjustment Act trat an die Stelle des 1936 vom Supreme Court aufgehobenen ersten AAA, und der Fair Labor Standards Act verbot endlich die Kinderarbeit und führte bundesstaatliche Mindestlöhne und Höchstarbeitszeiten ein. Mit den Zwischenwahlen von 1938, die den Republikanern ebenso Gewinne brachten wie der konservativen Opposition innerhalb der Demokratischen Partei - Roosevelt war es nicht gelungen, sie im Vorfeld auszumanövrieren -, ging das epochale Reformwerk zu Ende. Die Depression war zwar noch keineswegs überwunden, aber die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wurde jetzt immer stärker vom außenpolitischen Geschehen absorbiert. Die anfangs fast euphorische Bewertung des New Deal durch die Historiker ist seit dem Erscheinen von William Leuchtenburgs FDR and the New Deal im Jahr 1963 immer nüchterner geworden. Der statistisch messbare Erfolg der Reformen war in der Tat Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 264 <?page no="265"?> begrenzt: Ohne den Rüstungsboom des Zweiten Weltkrieges hätte es wohl noch eine ganze Weile gedauert, bevor die angestrebte durchschlagende Produktionssteigerung erreicht worden wäre, von der Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit und eine gerech‐ tere Einkommensverteilung abhingen. Signifikante strukturelle Veränderungen der amerikanischen Wirtschaft blieben ebenso aus wie die von Teilen der Arbeiterbewe‐ gung geforderte „Wirtschaftsdemokratie“. Es trifft auch zu, dass die Bilanz des New Deal für Frauen und Minderheiten eher mager ausfiel. Der Aufstieg von immer mehr Frauen in höhere Regierungs- und Verwaltungspositionen spiegelte sich noch nicht in einer gezielten Verbesserung der Lage weiblicher Arbeitskräfte wider. Ein Viertel der NIRA-Codes sah z. B. bei gleicher Arbeit niedrigere Mindestlöhne für Frauen als für Männer vor, und selbst die fortschrittlichste Arbeitsbeschaffungsorganisation, WPA, beschäftigte nur 14 Prozent Frauen, obwohl deren Anteil an den Erwerbstä‐ tigen schon 23 Prozent ausmachte. Fortschritte in der Rassenintegration und der politischen Gleichberechtigung der Afroamerikaner ließen sich gegen den Widerstand der Südstaaten-Abgeordneten nicht durchsetzen: Roosevelt wagte es nicht einmal, ein Anti-Lynch-Gesetz in den Kongress einzubringen. Dafür profitierten die Schwarzen - insbesondere in den Städten - überproportional von den Hilfsprogrammen für arme Amerikaner, was dazu führte, dass sie ihre parteipolitische Loyalität mehrheitlich von der Partei Lincolns auf die Demokraten übertrugen. Je schwächer eine Gruppe organisiert war, desto geringere Aussicht hatte sie, von den New Deal-Programmen zu profitieren. Die Native Americans, die der Kongress mit dem Snyder Act 1924 zu amerikanischen Staatsbürgern gemacht hatte, fanden immerhin energische Fürspre‐ cher im Leiter des Bureau of Indian Affairs, John Collier, und in Innenminister Ickes. Der Indian Reorganization Act von 1934 beendete die Politik der Landaufteilung und der zwangsweisen Assimilierung und förderte stattdessen die Selbstverwaltung in den Reservaten durch Stammesräte und Stammesverfassungen. Den Indianern sollte geholfen werden, ihre Sprachen, Religionen und kulturellen Traditionen zu erhalten und zu pflegen. Das war zweifellos ein sinnvoller Kurswechsel, doch die wirtschaftliche Notlage in den Reservaten konnte durch solche Änderungen nur marginal gelindert werden. Überhaupt keine „Lobby“ besaßen die Hispanic Americans im Westen, die von den New Deal-Maßnahmen oft explizit ausgeschlossen wurden und sogar die Deportation riskierten, wenn sie um Unterstützung nachsuchten. Aus historischer Perspektive und vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Ereignisse im Rest der Welt gesehen, fällt die Gesamtbewertung des New Deal aber dennoch positiv aus. Die Roosevelt-Administration beabsichtigte keine grundlegende, revolu‐ tionäre Umwälzung der amerikanischen Gesellschaft, und sie befand sich damit offenbar im Einklang mit der großen Mehrheit der Amerikaner. Zeitgenössische soziologische Untersuchungen lassen erkennen, dass das liberale Koordinatensystem von Individualismus, Eigeninitiative, Konkurrenz und Mobilität trotz der Depression weitgehend erhalten blieb. Es wurde auch ganz bewusst von der Unterhaltungsindust‐ rie Hollywoods bestärkt, die sich 1934 eine Selbstzensur gegen die offene Darstellung von Sex, Gewalt und Unmoral verordnete und deren Produzenten bemüht waren, 2 Die Vereinigten Staaten in der Krise des demokratisch-kapitalistischen Systems 265 <?page no="266"?> selbst realistische Gegenwartsschilderungen mit einem optimistischen happy end zu versehen. Die Mehrzahl der Bürger hielt offensichtlich am American Dream fest und gab die Hoffnung nicht auf, dass sich wirtschaftliche Leistungskraft und Fortschritt mit einem hohen Maß an individueller Freiheit, demokratischer Mitbestimmung und föderaler Selbstverwaltung vereinbaren ließen. Die Verfassung bildete immer noch eine Schranke gegen den allmächtigen Zentralstaat, und die Aversion gegenüber einem bürokratischen Wohlfahrtssystem mit hohen Steuerlasten reichte bis weit in die Mittelschicht hinein. Der New Deal verband die unterschiedlichen Traditionslinien des Hamilton’schen und des Jefferson’schen Staatsdenkens, was notgedrungen zu Ambivalenzen und Widersprüchen führte. So wurde keine umfassende zentrale Lenkung versucht, sondern die Planungen blieben bruchstückhaft und auf einzelne Sektoren bezogen. Die Entwicklung einer leistungsfähigen Bürokratie musste unter einem antibürokra‐ tisch-republikanischen Banner vorangetrieben werden. Entscheidend war aber, dass der New Deal den Amerikanern das Gefühl nahm, einem schicksalhaften Verhängnis hilflos ausgeliefert zu sein, und dass er ihnen eine überzeugende demokratische Alternative zu allen autoritären und totalitären Versuchungen bot. Im praktischen Handeln und im Denken der Menschen setzte sich die neuartige Vorstellung durch, dass die Bundesregierung im Interesse der Wohlfahrt aller Bürger das Recht haben musste, helfend, regulierend und kontrollierend in die Wirtschaftsabläufe einzugreifen. Damit einher ging die Anerkennung einer hervorgehobenen Stellung des Präsidenten und der bundesstaatlichen Exekutive insgesamt nicht nur in der Außenpolitik, sondern jetzt auch in Fragen der Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dennoch entstand kein nationalstaatlicher Leviathan, der die Handlungsspielräume der Individuen und der föderalen Einheiten übermäßig einengte. Vielmehr übte die Bundesregierung in der Praxis die Funktion eines Maklers aus, der zwischen einer immer größeren Zahl von konkurrierenden Interessengruppen vermitteln musste. Ihre Hauptaufgabe fand sie darin, die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum zu schaffen, einen geregel‐ ten pluralistischen Wettbewerb zu gewährleisten und gewisse Mindeststandards der sozialen Sicherheit zu garantieren. Der maßvolle, improvisierte und experimentelle Interventionismus des New Deal gefährdete zu keiner Zeit das demokratische politische System, sondern sicherte vielmehr sein Überleben. 3 Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten Isolationismus und Neutralität, 1933 - 1938 In den Jahren 1933 bis 1938, in denen sich die Roosevelt-Administration voll und ganz auf die Überwindung der Depression konzentrierte, erreichte die isolationistische Strömung in den USA ihren Höhepunkt. Die Masse der Bevölkerung einschließlich Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 266 <?page no="267"?> der Politiker gab sich so sehr der Friedenssehnsucht und Kriegsfurcht hin, dass sie die Warn- und Alarmsignale aus Europa und Asien nicht wahrnahm oder bewusst die Augen vor ihnen verschloss. Je aggressiver die Diktatoren und Expansionisten in aller Welt auftrumpften und je stärker der Status quo von 1919 unter Druck geriet, desto entschlossener zeigte sich der Kongress, eine Verwicklung der USA in Konflikte und Kriege zu vermeiden. Während Hitler den Versailler Vertrag durch Rheinlandeinmarsch und Wiederaufrüstung praktisch beseitigte, während Mussolini Abessinien eroberte und während beide Diktatoren zusammen auf der Seite Francos in den Spanischen Bürgerkrieg eingriffen, beschäftigte sich von 1934 bis 1936 ein Untersuchungsausschuss des Kongresses unter dem Vorsitz des Senators von North Dakota, Gerald P. Nye, mit der Rolle der amerikanischen Rüstungskonzerne im Ersten Weltkrieg. Der Abschlussbericht kam zu dem Ergebnis, die Munitionsfabrikanten hätten die Beteiligung der USA am Krieg befürwortet, um große Profite machen zu können. Er implizierte sogar, dass die Rüstungsindustrie aktiv auf einen Kriegseintritt an der Seite der Westmächte hingearbeitet hätte. Diese Anklagen lösten eine heftige öffentliche Kampagne gegen die merchants of death und den mistake of 1917 aus, an der sich kirchliche Organisationen, viele Intellektuelle und große Teile der akademi‐ schen Jugend beteiligten. Eine Gegentendenz machte sich erstmals 1936 bemerkbar, als Amerikaner in den Lincoln-Brigaden freiwillig am Kampf gegen die Faschisten in Spanien teilnahmen und als Schriftsteller wie Ernest Hemingway (For Whom the Bell Tolls; Wem die Stunde schlägt) unter dem Eindruck des Bürgerkriegs vom bedingungslosen Pazifismus abrückten. Bei einer Umfrage des Gallup-Instituts, ob die amerikanische Politik darauf abzielen solle, Kriege zu verhindern oder die USA aus jedem Krieg herauszuhalten, entschieden sich im März 1937 aber noch 94 Prozent der Angesprochenen für die zweite Alternative. Das entsprach der Haltung vieler Franzosen und Engländer, die um diese Zeit auf ein appeasement Hitlers setzten und ihren Willen bekundeten, unter keinen Umständen „für Danzig sterben“ oder „für König und Vaterland kämpfen“ zu wollen. Die Bundesregierung und der Präsident taten zunächst wenig, um dieser Massen‐ stimmung entgegenzuwirken. Die Proteste gegen deutsche Vertragsverletzungen und gegen die Judenboykotte und Rassengesetze der Nationalsozialisten fielen schwach aus, und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA und dem Deutschen Reich liefen relativ ungestört, wenn auch auf niedrigem Niveau weiter. Aus dem Spanischen Bürgerkrieg hielten sich die USA - ebenso wie Frankreich und Großbritannien - offiziell heraus, und im Abessinien-Konflikt wirkten sie darauf hin, dass die gegen Italien verhängten Völkerbundssanktionen keinen Stopp der Erdöllieferungen beinhal‐ teten. Der 1933 umgesetzte Entschluss, die Sowjetunion diplomatisch anzuerkennen, entsprang noch nicht strategischen Überlegungen, sondern dem Wunsch, korrekte Beziehungen zu allen Staaten zu unterhalten und durch Agrarexporte die Wirtschafts‐ krise zu mildern. Die Administration richtete sich offenbar, wenn sie überhaupt eine klare außenpolitische Linie verfolgte, darauf ein, die heraufziehenden Stürme in Europa und Asien aus der sicheren Distanz der westlichen Hemisphäre zu beobachten 3 Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten 267 <?page no="268"?> und durchzustehen. Dafür sprach das geringe Interesse an einer Stabilisierung des Weltwährungssystems ebenso wie die Politik der „guten Nachbarschaft“ gegenüber den lateinamerikanischen Staaten, die als Rohstofflieferanten ganz besonders hart von der Wirtschaftskrise getroffen worden waren. Symbolische Akte waren 1933 die Absage Außenminister Cordell Hulls an jegliche Form von Intervention und 1934 die Aufhebung des Platt Amendment, das seit Beginn des Jahrhunderts die Souveränität Kubas eingeschränkt hatte. 1934 versprach der Kongress außerdem mit Billigung der Regierung den Philippinen die Unabhängigkeit innerhalb des nächsten Jahrzehnts. Hier deutete sich also vor dem Hintergrund der japanischen Expansion auf dem chinesischen Festland ein baldiger politischer und militärischer Rückzug der USA aus Asien an. Immerhin wurde die Flottenrüstung verstärkt und ein Bauprogramm für Flugzeugträger aufgelegt, um die eigenen Küsten und die strategischen Seeverbindun‐ gen besser schützen zu können. Alle diese Initiativen müssen vor dem Hintergrund der Depression gesehen werden, die zu einer immer engeren Verzahnung von Innen- und Außenpolitik beitrug. Ab 1935 schien die außenpolitische Initiative vollends auf den Kongress überzuge‐ hen, der die Stimmung der Bevölkerung reflektierte und in dem die Isolationisten, die hauptsächlich aus dem Mittleren Westen kamen, den Ton angaben. Bis 1937 wurden vier Neutralitätsgesetze verabschiedet, die das Risiko einer kriegerischen Verwicklung verringern sollten, indem sie die Handlungsfähigkeit der Exekutive zunehmend ein‐ schränkten. Das erste Gesetz untersagte Waffen- und Munitionslieferungen an alle Kriegführenden - ganz gleich ob Aggressor oder Opfer -, sobald der Präsident die Fest‐ stellung traf, dass ein Kriegszustand herrsche. 1936 verbot der Kongress auch Kredite an Krieg führende Länder und dehnte das Waffenembargo auf Fälle von Bürgerkrieg aus. Der Neutrality Act von 1937 schließlich bestimmte, dass Amerikaner die Schiffe kriegführender Staaten meiden mussten und dass der Präsident nicht-militärische Güter an Kriegführende nur auf einer Cash and Carry-Basis verkaufen durfte (d. h. sie mussten bar bezahlt und mit eigenen Schiffen in den USA abgeholt werden). Roosevelt versuchte nicht, diese Maßnahmen durch sein Veto zu stoppen, und stimmte einigen sogar ausdrücklich zu. Als japanische Truppen im Sommer 1937 nach Peking und Schanghai vorstießen, wendete er die Neutralitätsgesetze allerdings nicht an, so dass die Waffenlieferungen an China (und zum kleineren Teil auch an Japan) weitergehen konnten. Im Oktober 1937 forderte er vor Zuhörern in Chicago sogar, alle Staaten unter „Quarantäne“ zu stellen, die für das Klima der internationalen Anarchie und Instabilität verantwortlich seien. Da die öffentliche Reaktion auf diese „Quarantäne-Rede“ jedoch überwiegend negativ ausfiel, hielt sich der Präsident in der Folgezeit wieder zurück. Der Weg in den Krieg, 1938 - 1941 Für Roosevelt wie für die meisten demokratischen Politiker in Europa markierten die Sudetenkrise vom Herbst 1938, die Judenpogrome im November 1938 und der deutsche Einmarsch in Prag im März 1939 den psychologischen Wendepunkt. Während Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 268 <?page no="269"?> der Präsident Ende 1938 dem englischen Premierminister Neville Chamberlain noch zum Erfolg seiner appeasement-Bemühungen gratuliert hatte, erklärte er nach der Besetzung der Tschechoslowakei vor dem Kongress, „gottesfürchtige Demokratien“ könnten der „internationalen Gesetzlosigkeit“ gegenüber nicht indifferent bleiben. Der Stimmungswandel in der amerikanischen Bevölkerung vollzog sich aber wesentlich langsamer und mit ähnlich aufwühlenden Begleitumständen wie derjenige von 1914 bis 1917. Die politischen Parteien und die Öffentlichkeit spalteten sich zunächst in Isolationisten, die entweder für einen Rückzug in die unangreifbare „Festung Amerika“ plädierten oder am Pazifismus festhielten, und in Internationalisten, die das Sicher‐ heitsinteresse der USA global verstanden und eine Unterstützung der Demokratien gegen die totalitäre Bedrohung forderten. Die isolationistische America First-Bewegung konnte prominente Senatoren und Abgeordnete, einflussreiche Geschäftsleute wie den Direktor von Sears Roebuck, Robert E. Wood, Gewerkschaftsführer wie CIO-Chef Lewis und den populären Ozeanflieger Charles Lindbergh ins Feld führen. Selbst im September 1939, nach dem deutschen Überfall auf Polen, lehnten es laut einer Gallup-Umfrage noch 84 Prozent der Amerikaner ab, die amerikanische Flotte oder die Armee (die ohnehin kaum größer war als die bulgarische) gegen das Deutsche Reich einzusetzen. Die Fixierung auf eine falsch verstandene Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges hatte eine zumindest partielle Realitätsblindheit der amerikanischen Bevölkerung gezeitigt. Anders als Wilson, der sich lange um eine echte Neutralität bemüht hatte, steuerte Roosevelt die USA ab Ende 1939 entschlossen und stetig in Richtung Krieg. Mit Rücksicht auf die isolationistische Grundstimmung und die Mehrheitsverhältnisse im Kongress musste er dabei allerdings äußerst vorsichtig und gelegentlich auch verdeckt und geheim vorgehen. Sein Hauptziel bestand darin, einen Sieg Hitlers in Europa zu verhindern, weil er erkannte, dass es nach einer Unterwerfung Englands und Frankreichs für die auf sich gestellten Vereinigten Staaten keine dauerhafte Sicherheit geben konnte. Sollte die britische Flotte Hitler in die Hände fallen, dann waren die vitalen Interessen der USA gefährdet. Hinzu kam, dass die Autarkiepolitik des Nationalsozialismus dem traditionellen Verlangen der USA nach einem offenen, ungeteilten Weltmarkt diametral entgegenlief und dass die NS-Ideologie mit den amerikanischen Vorstellungen von Selbstbestimmung und Völkerrecht unvereinbar war. In einer Welt autarker Machtblöcke musste die amerikanische Demokratie im Verständnis Roosevelts und der Internationalisten zwangsläufig zugrunde gehen. Das war eine sehr weite, geographisch fast unbegrenzte Auslegung des Begriffs „nationale Sicherheit“, doch sie entsprach den Realitäten einer durch die moderne Technik „schrumpfenden“, wirtschaftlich und politisch zunehmend interdependenten Welt. Zunächst festigte die Roosevelt-Administration den Zusammenhalt der westlichen Hemisphäre durch ein Arrangement mit Mexiko, dessen Präsident 1938 zur Erbitterung vieler Amerikaner die ausländischen Erdölgesellschaften verstaatlicht hatte. Die „Er‐ klärung von Panama“ sah dann 1939 die Einrichtung einer „Sicherheitszone“ um Nord- und Südamerika vor, die gemeinsam gegen jeden Angriff von außen verteidigt werden 3 Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten 269 <?page no="270"?> sollte. In Washington nahm man die deutschen Lateinamerika-Ambitionen, wie schon im Ersten Weltkrieg, sehr ernst, und auch diesmal half der englische Geheimdienst kräftig nach, um solche Befürchtungen zu schüren. Noch vor Ablauf des Jahres 1939 wurde die Neutralitätsgesetzgebung erstmals gelockert: Von nun an durften zumindest kurzfristige Kredite an Kriegführende vergeben sowie Waffen und Kriegsmaterial auf Cash and Carry-Basis geliefert werden. 1940 stellte der Kongress 4 Milliarden Dollar für die Aufrüstung bereit, und nach der Niederlage Frankreichs vollzog Roosevelt den Übergang von der Neutralität zur „Nichtkriegführung“ (nonbelligerency) unter dem Schlagwort „all aid short of war“. Nun bemühte sich der Präsident auch um eine überparteiliche Basis für seine Außenpolitik, indem er die Republikaner Stimson und Knox als Kriegs- und Marineminister in das Kabinett nahm. Auf einen dringenden Hilferuf des englischen Premierministers Winston Churchill hin, dessen Land unter dem deutschen U-Boot-Krieg und Luftangriffen zusammenzubrechen drohte, schlossen die USA und Großbritannien im September 1940 das destroyer-for-bases-Geschäft ab: Im Gegenzug für die Lieferung von 50 amerikanischen Zerstörern aus dem Ersten Weltkrieg traten die Briten sechs Flottenstützpunkte in der Karibik und in Kanada - das dem Deutschen Reich am 9. September 1939 den Krieg erklärt hatte - an die USA ab. Mit diesem aus amerikanischer Perspektive vorteilhaften Tausch konnte der Widerstand der Isolationisten gegen eine Unterstützung Großbritanniens geschickt umgangen werden. Kurz zuvor hatten sich die Regierungen in Washington und Ottawa im Ogdensburg-Abkommen auf die Errichtung einer Kette von amerikanisch-kanadi‐ schen Luftstützpunkten und Funkstationen bis in den hohen Norden des Kontinents geeinigt. Noch 1940 wurde auch der Bau des Alaska-Highway entlang der Pazifikküste durch British Columbia und das Yukon Territory in Angriff genommen, der eine Abwehr möglicher japanischer Angriffe erleichtern sollte. Das Hyde-Park-Abkommen, das Roosevelt im April 1941 mit dem kanadischen Ministerpräsidenten William L. Mackenzie King schloss, weitete die militärische Zusammenarbeit zwischen den USA und Kanada auf die Wirtschaft aus und linderte die Devisennöte des Dominion durch amerikanische Waffenkäufe in Kanada und gemeinsame Produktionsprogramme. Da‐ mit waren innerhalb kurzer Zeit wichtige Schritte zum Abbau des Misstrauens erfolgt, das die Kanadier, die sich unter Kings Führung auf dem Weg zur Eigenstaatlichkeit befanden, dem mächtigen Nachbarn im Süden stets entgegengebracht hatten. Angesichts der militärischen Erfolge der Achsenmächte in Europa und der Japaner im Fernen Osten führte der Kongress im September 1940 erstmals in Friedenszeiten die Wehrpflicht ein. Die Aktivitäten und Bündnisse dieser Staaten wurden nun auch in der Öffentlichkeit zunehmend als Bedrohung der USA empfunden. Im Wahlkampf, den Roosevelt gegen den internationalistisch eingestellten Republikaner Wendell Willkie bestritt (FDRs dritte Kandidatur war ebenfalls ein Novum in der US-Geschichte), versprach er den Wählern aber noch, er werde ihre Söhne „nicht in irgendeinen fremden Krieg“ schicken. Nach der unangefochtenen Wiederwahl forderte Roosevelt dann eine industrielle Mobilisierung, um die USA zum „Arsenal der Demokratie“ zu machen. In der Jahresbotschaft an den Kongress vom 6. Januar 1941 verkündete er als Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 270 <?page no="271"?> ideologische Fixpunkte die „Vier Freiheiten“: Meinungs- und Redefreiheit, Religions‐ freiheit, Freiheit von Not und Freiheit von Angst. Die endgültige Abkehr von der Cash and Carry-Regelung und eine Art „wirtschaftliche Kriegserklärung“ an das NS-Regime bedeutete der Lend-Lease Act vom März 1941. Er autorisierte den Präsidenten, Kriegs‐ material an andere Staaten zu verkaufen, zu verleihen oder zu verpachten. Das betraf zunächst vor allem Großbritannien, wurde nach dem deutschen Angriff im Osten aber auch auf die Sowjetunion ausgeweitet. Ebenfalls im März verkündete Roosevelt den „unbegrenzten nationalen Notstand“, und einige Monate später gab er grünes Licht für ein streng geheimes amerikanisch-britisches Atomwaffenprogramm, das Manhattan Project. Im Atlantik dehnten die USA ihre „Sicherheitszone“, die nun auch Grönland und Island einschloss, immer weiter aus und leisteten der britischen Flotte Hilfe gegen deutsche U-Boote. Mit dem Treffen von Roosevelt und Churchill vor Neufundland im August 1941 begann eine enge Kooperation und persönliche Freundschaft, die allen Belastungen der Kriegsjahre standhielt. Die beiden Staatsmänner verpflichteten sich in der Atlantik-Charta, dass ihre Länder gemeinsam für kollektive Sicherheit, Abrüstung, Selbstbestimmung, internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Freiheit der Meere eintreten würden. Im Unterschied zu Roosevelt wollte Churchill das Selbstbestimmungsrecht allerdings nur den von den Achsenmächten besiegten Europäern, nicht den kolonisierten Völkern Asiens und Afrikas zugestehen. Mit dem Schießbefehl auf deutsche U-Boote und dem Konvoischutz für bewaffnete Frachtschiffe bis in englische Häfen nahm Roosevelt im Herbst 1941 die Gefahr kriegerischer Verwicklungen bewusst in Kauf. Inzwischen billigten zwei Drittel der Amerikaner die Unterstützung Großbritanniens, aber eine Kriegserklärung an Deutschland lehnten immer noch 75 Prozent ab. Hitler selbst betrachtete die USA zu dieser Zeit schon als den gefährlichsten „Endgegner“ im Kampf um die Weltherrschaft, aber er wollte sich durch Roosevelt nicht zum Krieg provozieren lassen. Die Entscheidung über den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg fiel deshalb nicht, wie von Roosevelt erwartet, im Atlantik, sondern im Pazifik. Als die Japaner im Sommer 1940 nach der Niederlage Frankreichs Indochina eroberten und auf die Philippinen und Niederländisch-Ostindien (Indonesien) Druck auszuüben begannen, zeichnete sich ihre Greater East-Asia Co-Prosperity Sphere bereits in Umrissen ab. Durch den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion im April 1941 hielt sich die Regierung in Tokio zudem den Rücken für weitere Eroberungszüge frei. Die USA und Großbritannien beantworteten das japanische Vordringen in China und den Gebieten des „pazifischen Randes“ (Pacific rim) mit Wirtschaftssanktionen, die allmählich verschärft wurden und nach der Einbeziehung von Erdöl einem völligen Boykott gleichkamen. In den Verhandlungen mit dem japanischen Botschafter, die im Frühjahr 1941 in Washington begannen, beharrte Außenminister Cordell Hull auf einem vollständigen Rückzug der Japaner aus China. Die Regierung Tojo, die im Oktober 1941 an die Macht kam, war aber allenfalls bereit, auf weitere Eroberungen zu verzichten, und auch das nur, wenn die USA und Großbritannien ihre Hilfe an China einstellten und das Ölembargo aufhoben. Als Hull dieses „letzte“ Angebot am 3 Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten 271 <?page no="272"?> 26. September 1941 ablehnte, entschieden sich die Japaner zum Präventivschlag gegen die USA. Auf diese Weise hofften sie, ein bis zwei Jahre Zeit zu gewinnen, um ihr Expansionsprogramm verwirklichen und einen unüberwindlichen Verteidigungsring um ihre Machtsphäre legen zu können. Bei dem Überraschungsangriff eines japani‐ schen Flugzeugträgerverbandes auf die Basis der US-Pazifikflotte in Pearl Harbor, Hawaii, am 7. Dezember 1941 wurden acht Schlachtschiffe, drei Kreuzer und drei Zerstörer versenkt oder schwer beschädigt sowie fast 200 Flugzeuge außer Gefecht gesetzt. Verschont blieben jedoch die drei Flugzeugträger, die sich auf See bzw. an der amerikanischen Westküste befanden. Die US-Verluste betrugen über 2400 Tote und ca. 1100 Verwundete, während die Japaner 29 Flugzeuge und drei Klein-U-Boote verloren. Gleichzeitig setzte die japanische Offensive gegen die Philippinen, Malaya, Thailand und Niederländisch-Ostindien ein. Diese schmachvolle Niederlage löste in den USA einen Schock aus, der die Stimmung über Nacht verwandelte und bis weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus weiterwirkte. Am 8. Dezember erklärte der Kongress auf Vorschlag Roosevelts Japan den Krieg. Die einzige Gegenstimme kam von der Abgeordneten Jeannette Rankin aus Montana, die bereits 1917 den Kriegseintritt der USA abgelehnt hatte (und die später zu den entschiedensten Gegnern des Vietnam-En‐ gagements gehören sollte). Im Einklang mit den Bestimmungen des Dreimächtepakts von 1940 erklärten Deutschland und Italien den USA am 11. Dezember den Krieg und enthoben Roosevelt damit der Notwendigkeit, seine Landsleute von der Notwendigkeit eines Zwei-Fronten-Krieges überzeugen zu müssen. Hitler zeigte sich erfreut, dass Japan in den Krieg eingetreten war, und sicherte Tokio zu, dass er keinen separaten Frieden mit den USA schließen werde. Aus amerikanischer Perspektive verbanden sich damit die militärischen Konflikte, die 1937 in Asien und 1938 / 39 in Europa begonnen hatten, zu einem einzigen Krieg mit wahrhaft globalen Dimensionen. Die Hauptstadt Washington rückte auch unmittelbar ins Zentrum des politischen Geschehens: Hier trafen sich ab dem 22. Dezember 1941 Roosevelt und Churchill zu ihrer ersten Kriegskonferenz („Arcadia“); und hier wurde Anfang Januar 1942 das Bündnis der 26 Staaten besiegelt, die gegen die Achsenmächte Krieg führten und die sich fortan „United Nations“ nannten. Das Pearl Harbor-Desaster erschütterte nicht nur die Zeitgenossen, sondern löste eine lang anhaltende wissenschaftliche Kontroverse aus. Der Vorwurf, Roosevelt und / oder Churchill seien über den japanischen Angriff informiert gewesen und hätten aus politischen Gründen keine rechtzeitigen Gegenmaßnahmen ergriffen, ist inzwischen mit aller nötigen Klarheit widerlegt worden. Zwar hatten amerikanische Kryptologen den diplomatischen Code der Japaner gebrochen und entzifferten spätestens ab Herbst 1940 unter dem Decknamen MAGIC alle wichtigen Telegramme, die zwischen der japanischen Botschaft in Washington und Tokio bzw. zwischen Berlin und Tokio hin- und hergingen. Um den Angriff auf Pearl Harbor vorhersehen zu können, hätten sie aber in der Lage sein müssen, die höheren japanischen Flottencodes zu lesen, was zu diesem Zeitpunkt noch nicht der Fall war. Ein zentraler Nachrichtendienst, der die vielen Einzelinformationen aus diplomatischen und militärischen Kreisen sammelte Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 272 <?page no="273"?> und systematisch auswertete, befand sich erst im Aufbau (Roosevelt hatte im Juli 1941 General William J. Donovan zum Coordinator of Information ernannt, aus dessen Büro im Sommer 1942 das Office of Strategic Services (OSS) hervorging, aber auch danach blieb die Geheimdienststruktur noch unübersichtlich). Zweifel sind jedoch angebracht, ob selbst ein viel besser organisierter Nachrichtendienst die Katastrophe hätte abwenden können. Der japanische Überfall war sorgfältig vorbereitet und wurde von raffinierten Täuschungsmanövern begleitet. Die verschiedenen Hinweise und „Signale“, die die Amerikaner empfingen, deuteten auf eine ganze Reihe von möglichen Angriffszielen hin, unter denen Pearl Harbor nur eines war. Alle Verantwortlichen gingen aber wie selbstverständlich davon aus, dass die Japaner gar nicht in der Lage seien, die Flottenbasis auf Hawaii über eine Distanz von fast 5000 Kilometer erfolgreich zu attackieren. Zu dieser Fehlperzeption trugen auch rassistische Vorurteile und nationale Überheblichkeit bei. Insofern resultierte Pearl Harbor aus einer generellen Unterschätzung der japanischen Fähigkeiten, die Roosevelt und die amerikanische Diplomatie dazu veranlasst hatte, ohne hinreichende militärische Vorbereitung auf einen Konfrontationskurs gegen Tokio zu gehen, der fast zwangsläufig zum Krieg führte. Diesen Fehler mussten Amerikaner und Briten in der Anfangsphase der Auseinandersetzung mit schweren Rückschlägen büßen. Der Krieg an der „Heimatfront“ Nach der heftigen innenpolitischen Debatte der späten 1930er Jahre wirkte der Krieg wieder solidarisierend, vermittelte ein „Wir-Gefühl“ und schweißte die Nation zusammen. Die Ersten, die den Zorn und die Erbitterung über Pearl Harbor zu spüren bekamen, waren die Amerikaner japanischer Abstammung an der Westküste der USA, wo sich hysterische Invasionsfurcht ausbreitete. Obwohl es keine Beweise für ein Zusammenspiel zwischen Tokio und dieser etwa 110.000 Personen umfassen‐ den ethnischen Gruppe gab, wurden alle ihre Führer umgehend verhaftet und die Bevölkerung auf der Grundlage einer Verordnung Roosevelts vom Februar 1942 in Lagern (relocation centers) im Landesinnern interniert. Da die Japaner jetzt offiziell als enemy race galten, unterschied man nicht zwischen Einwanderern der ersten Generation, die keine US-Staatsbürger werden konnten (Issei), und ihren in den USA geborenen Kindern, die automatisch die Staatsbürgerschaft erhalten hatten (Nisei). Die meisten mussten die gesamte Kriegszeit in Lagern verbringen und büßten ihren Besitz fast vollständig ein. Der Supreme Court bestätigte diese Massendeportation in mehreren Urteilen als verfassungskonform, obwohl eine Minderheit von Richtern sie kritisierte und sogar mit Hitlers Rassenpolitik verglich. (Erst in den 1980er Jahren korrigierte das Oberste Gericht diese Rechtsprechung, und der Kongress gestand ein, dass den Internierten durch „Rassenvorurteile, Kriegshysterie und Versagen der politischen Führung schweres Unrecht angetan“ worden sei.) Das Vorgehen gegen die Deutsch-Amerikaner und Italo-Amerikaner fiel weit weniger drastisch aus, aber auch diese Gruppen galten als Reservoir für potenzielle „Fünfte Kolonnen“ und 3 Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten 273 <?page no="274"?> wurden (der faschistische German-American Bund ebenso wie die Emigranten, die vor den Faschisten und Nationalsozialisten in die USA geflohen waren) durch J. Edgar Hoovers Federal Bureau of Investigation und die Foreign Nationalities Branch des OSS überwacht. Im Grunde bedurfte es jedoch - anders als im Ersten Weltkrieg - gar keiner starken Repression, da die überwältigende Mehrheit der Amerikaner nach Pearl Harbor den Krieg gegen die Achsenmächte und Japan befürwortete. Das Bündnis mit der Sowjetunion drängte für die Dauer des Krieges auch die Kommunismusfurcht in den Hintergrund, die den Kongress nach dem Hitler-Stalin-Pakt noch zu einem Gesetz veranlasst hatte (Smith Act), das die Deportation subversiver Ausländer und Haftstrafen für Befürworter eines gewaltsamen Umsturzes vorsah. Unter den gut 200.000 Deutschen, die sich in den USA vor dem Nationalsozialismus in Sicherheit bringen konnten, befanden sich viele prominente Intellektuelle, Wissen‐ schaftler und Künstler, deren Namen in aller Welt mit dem Begriff der „deutschen Kultur“ identifiziert wurden. Zu dieser geistigen Elite gehörten die Schriftsteller Tho‐ mas Mann und Carl Zuckmayer, der Dramatiker Bertolt Brecht, der Physik-Nobelpreis‐ träger Albert Einstein, die Sozialwissenschaftler Franz Neumann, Max Horkheimer, Theodor Adorno und Herbert Marcuse (die an der New Yorker New School for Social Research zusammenarbeiteten), der Psychologe Max Wertheimer, die Psychoanalytiker Erich Fromm und Erik H. Erikson sowie die Philosophen Hannah Arendt und Leo Strauss. Der Architekturstil des Bauhauses wurde durch Walter Gropius und Mies van der Rohe in die USA transplantiert, Theater und Film erhielten von Erwin Piscator, Ernst Lubitsch und Billy Wilder neue Impulse, und die amerikanische Musikszene wurde durch Komponisten und Dirigenten wie Arnold Schönberg, Kurt Weill, Bruno Walter und Otto Klemperer bereichert. Der ehemalige Reichskanzler Heinrich Brüning, der seit 1939 Verwaltungswissenschaften an der Harvard University lehrte, war der bekannteste unter den emigrierten Politikern, die allen ideologischen Richtungen von der konservativen Rechten bis zu den Kommunisten angehörten. Die genannten Namen bildeten nur die Spitze eines großen Exodus, der Deutschland intellektuell verarmen ließ, während er dem amerikanischen Geistesleben bis weit über den Krieg hinaus zugutekam. Die meisten Flüchtlinge empfanden die USA als die Antithese zum europäischen Totalitarismus, und viele von ihnen waren bei Kriegsende bereits so gut in die Gesellschaft des Gastlandes integriert, dass eine Rückkehr in die alte Heimat für sie nicht mehr in Frage kam. In dem linksliberalen Klima des New Deal überwanden sogar viele Kommunisten und Sozialisten ihre Vorbehalte gegen die amerikanische Form der Demokratie oder stellten sie doch zumindest zurück. Zahlreiche deutsche Emigranten leisteten freiwillig Kriegsdienst, und einige, wie Franz Neumann, Herbert Marcuse und der Historiker Felix Gilbert, ließen sich für die Analyseabteilung des Geheimdienstes OSS rekrutieren. Der Zweite Weltkrieg bestätigte Tocquevilles Beobachtung aus dem frühen 19. Jahr‐ hundert, dass die Amerikaner als eine republikanische Nation lange zögern, bevor sie Krieg führen, dass sie dann aber umso entschlossener und leidenschaftlicher kämpfen. Die Vereinigten Staaten verfügten 1941 nicht nur über gewaltige menschliche und Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 274 <?page no="275"?> materielle Ressourcen, sondern sie konnten sie auch in relativ kurzer Zeit mobilisieren. In den 45 Monaten, die der Krieg für die USA dauerte, dienten über 16 Millionen Amerikaner in den Streitkräften, darunter eine Million Afroamerikaner (was in etwa ihrem Bevölkerungsanteil entsprach) und ca. 100.000 Frauen im Women’s Army Corps. Kriegsdienstverweigerung aus religiösen Gründen war möglich, doch wer - wie die Zeugen Jehovas - auch den zivilen Ersatzdienst ablehnte, konnte bestraft und inhaftiert werden. Die finanzielle Lend-Lease-Hilfe für die Alliierten betrug 50 Milliarden Dollar, davon 31 Milliarden allein an Großbritannien. 60 Prozent der Gesamtkriegskosten von ca. 370 Milliarden Dollar wurden durch den Verkauf von War Bonds und anderen Anleihen aufgebracht. Die Schulden des Bundes stiegen von 49 Milliarden Dollar 1941 auf 259 Milliarden 1945, wobei die Quote der Staatsverschuldung jedoch durch das starke Wachstum des Bruttosozialprodukts gering blieb. Ökonomisch brauchten die USA gar nicht an die Grenze der Belastbarkeit heranzugehen, da auf Grund der Depression noch viele ungenutzte Kapazitäten zur Verfügung standen. Die Kriegspro‐ duktion konnte deshalb gesteigert werden, ohne dass die Regierung den privaten Konsum nennenswert drosseln musste. Zu den Ausnahmen gehörte die Produktion von Automobilen, die für die Dauer des Krieges zu Gunsten von Lastwagen- und Panzerbau gestoppt wurde. Nach Aufhebung der Anbaubeschränkungen des New Deal gelang es auch der Landwirtschaft, die Erträge um ein Viertel zu steigern, obwohl die Farmbevölkerung im Laufe des Krieges um 6 Millionen auf 24,5 Millionen sank. Ab 1942 vollzog die Volkswirtschaft den Übergang von der leichten Erholung zum sich selbst tragenden Aufschwung mit Vollbeschäftigung und steigenden Löhnen und Preisen. AFL- und CIO-Gewerkschaften verzeichneten von 1941 bis 1946 zusammen noch einmal einen Mitgliederzuwachs von mehr als 4 Millionen auf etwa 13 Millionen. Insgesamt waren am Ende des Krieges ca. 15 Millionen Erwerbstätige gewerkschaft‐ lich organisiert, und kurz danach erreichte der Organisationsgrad mit 37 Prozent seinen historischen Höchststand. Die Inflation, die das Office of Price Administration durch Preiskontrollen und Rationierungen nur unvollkommen bekämpfen konnte, löste 1943 eine Streikwelle, vor allem im Kohlebergbau aus. Durch die Vermittlung des National War Labor Board und die Befugnis des Präsidenten, ein bestreiktes Unternehmen im Interesse der nationalen Sicherheit unter Regierungsaufsicht zu stellen, lagen die Streikverluste jedoch insgesamt um die Hälfte niedriger als in den 1930er Jahren. Während sich die Unternehmensgewinne verdoppelten, erhöhte sich das Realeinkommen der Arbeitnehmer um ca. 50 Prozent. Da nun häufig mehrere Familienmitglieder verdienten, stiegen die Einkommen der Privathaushalte zwischen 1940 und 1945 im Schnitt sogar um 135 Prozent an. Bis zu einem gewissen Grade sorgte der Krieg also für die gerechtere Einkommensverteilung, die Roosevelt mit dem New Deal angestrebt hatte: 1944 verfügten die ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung über 15,8 Prozent des gesamten Familieneinkommens (gegenüber 13,3 Prozent 1935 / 36), die wohlhabendsten 20 Prozent der Amerikaner dagegen „nur“ noch über 45,8 Prozent (gegenüber 51,7 Prozent 1935 / 36). 3 Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten 275 <?page no="276"?> Die interventionistische, unternehmerkritische Politik des „zweiten“ New Deal machte im Krieg einem „korporativen Liberalismus“ Platz, bei dem sich die Bundesre‐ gierung auf eine indirekte Kontrolle und Lenkung der Wirtschaft mit keynesianischen Methoden beschränkte. Wie im Ersten Weltkrieg versuchte die Administration, Un‐ ternehmer und Gewerkschaften möglichst gleichberechtigt in die Mobilisierungsanst‐ rengungen einzuspannen. Die zentrale Koordinierung übernahm der War Production Board (WPB), in dem Repräsentanten der wichtigsten Ministerien mit Militärs, Un‐ ternehmern und Gewerkschaftsführern zusammenarbeiteten. In Schlüsselpositionen rückten Manager aus der Privatwirtschaft ein, die der Regierung für ein symbolisches Gehalt als Dollar-a-year-men dienten. Als besonders folgenreich erwies es sich, dass die Streitkräfte ermächtigt wurden, Rüstungsaufträge direkt an Unternehmen zu vergeben. Bis September 1944 gingen auf diese Weise government contracts in Höhe von insgesamt 175 Milliarden Dollar an die Wirtschaft, wobei große Konzerne wie General Motors und General Electric, die als leistungsfähig und zuverlässig galten, besonders günstig abschnitten. Hier begann eine Symbiose, die Präsident Eisenhower 1960, am Ende seiner Amtszeit, als „militärisch-industriellen Komplex“ charakterisierte. Einen regelrechten „Kriegs-Boom“ erlebte auch die Hauptstadt Washington, die erst seit Mitte der 1920er Jahre nach den ursprünglichen Plänen von Pierre L’Enfant zu einem wirklichen nationalen Zentrum ausgebaut wurde. Sie profitierte nicht nur vom Wachstum der Verwaltung und der Präsenz der Militärbürokratie, sondern zog auch Produktionsbetriebe, Firmenhauptquartiere und Lobbyisten jeder Couleur an. Die Mobilisierung der Arbeitskräfte verlief reibungsloser und effizienter als etwa in Deutschland, wo sich ideologische Vorbehalte, speziell Hitlers Aversion gegen die Frauenarbeit, störend auswirkten. Im Unterschied zum Deutschen Reich, das 1939 bereits Vollbeschäftigung verzeichnete, konnten noch mehrere Millionen arbeitsloser Amerikaner durch die War Manpower Commission in die Kriegsproduktion eingeglie‐ dert werden. Die großen Städte des Nordens und des Westens - Kalifornien begann jetzt seinen rasanten Aufstieg als bevorzugter Industrie- und Technologiestandort - erlebten von neuem einen starken Bevölkerungszustrom aus dem Süden und aus den ländlichen Gebieten. Afroamerikaner waren mit ca. zwei Millionen an dieser phänomenalen Binnenwanderung von 7 Millionen Menschen beteiligt. Zusätzlich verstärkten 6 Milli‐ onen weibliche Arbeitskräfte die industrielle work force, darunter erstmals im höheren Maße auch verheiratete Frauen, die sich durch gezielte Propagandakampagnen und gute Verdienstmöglichkeiten zu dieser Entscheidung bewegen ließen. Die Zahl der berufstätigen Frauen nahm um 60 Prozent zu, und in einzelnen Rüstungsindustrien, etwa dem Flugzeugbau, waren überwiegend Frauen beschäftigt. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass nach einigen Anlaufschwierigkei‐ ten die Industrieproduktion verdreifacht und Roosevelts optimistische Prognosen noch übertroffen werden konnten. Besonders spektakuläre Steigerungsraten gab es natür‐ lich in der Rüstungsindustrie, die beispielsweise zwei Drittel des alliierten Schiffsraums zur Verfügung stellte und die Versenkungen durch deutsche U-Boote damit mehr als wettmachte. 1943 bauten die USA bereits ca. 30.000 Panzer, und die Flugzeugfertigung Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 276 <?page no="277"?> schnellte von knapp 13.000 im Jahr 1940 über 48.000 1942 und 86.000 1943 auf fast 100.000 1944 empor. Man erhöhte aber nicht nur die Produktion, sondern stampfte auch ganz neue Industriezweige aus dem Boden, so etwa die Gummierzeugung durch Erdöl, nachdem Japan 90 Prozent der Anbaugebiete von Naturkautschuk unter seine Kontrolle gebracht hatte. Mit einem Anteil von etwa 45 Prozent an der Erzeugung aller Kriegsgüter wurden die USA tatsächlich zum größten „Waffenarsenal“ der Welt, das nicht nur die Demokratien mitversorgte, sondern auch der Sowjetunion und China aushalf. Am besten kommt die amerikanische Überlegenheit und Siegesgewissheit wohl darin zum Ausdruck, dass die Washingtoner Lenkungsgremien 1944, als sich die anderen Mächte verzweifelt um Produktionssteigerungen bemühten, bereits den „sanften“ Übergang auf die Friedenswirtschaft vorbereiteten. Außer den industriellen wurden auch die wissenschaftlichen Ressourcen der Nation voll ausgeschöpft. Große Forschungsaufträge gingen unter anderem an das Massa‐ chusetts Institute of Technology (MIT) in Boston und das California Institute of Technology (Caltech) in Los Angeles. Wie in England erzeugte das Bemühen um die Entschlüsselung der gegnerischen Geheimcodes - an der Harvard University arbeiteten zu diesem Zweck Wissenschaftler mit Ingenieuren der International Business Machines Corporation (IBM) zusammen - eine Initialzündung für die Computertechnologie. Die bedeutendste, wenngleich fragwürdigste wissenschaftliche Errungenschaft war zweifellos die Atombombe, in deren Entwicklung die USA 2 Milliarden Dollar inves‐ tierten. Den Anstoß gaben politische Flüchtlinge aus Europa wie Albert Einstein und Enrico Fermi, die schon Ende der 1930er Jahre vor einer deutschen Atombombe warnten. 1939 berief Roosevelt daraufhin ein Advisory Committee on Uranium, und 1941 setzte er ein hochrangiges National Defense Research Committee ein, dem unter anderem Vizepräsident Wallace, Kriegsminister Stimson, der Vorsitzende der Verein‐ igten Stabschefs, General George C. Marshall, und der Präsident von Harvard, James B. Conant, angehörten. Nachdem Fermi Ende 1942 an der University of Chicago die Gewinnung von Plutonium durch eine kontrollierte Kettenreaktion gelungen war, wurde 1943 ein eigener, streng geheimer Militärbezirk, der Manhattan District, eingerichtet. Nun entschied Roosevelt, auch die Briten und Kanadier, nicht jedoch die Russen am Manhattan Project zu beteiligen (zur britischen Delegation gehörte jedoch der deutschstämmige Sowjetspion Klaus Fuchs, der auf diese Weise in das Geheimnis eingeweiht wurde). Unter der wissenschaftlichen Gesamtleitung J. Robert Oppenheimers von der University of California at Berkeley, der 1927 in Göttingen von Max Born promoviert worden war, trieb man in mehreren Zentren gleichzeitig die Forschung voran, hauptsächlich in Oak Ridge, Tennessee (Plutonium), Hanford, Washington (Atomenergie) und in Los Alamos bei Santa Fe, New Mexico, wo die Bombe zusammengebaut wurde. Am 16. Juli 1945 begann dann mit der ersten Detonation einer Atombombe in Alamogordo bei Albuquerque das „Atomzeitalter“. 3 Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten 277 <?page no="278"?> Politik und Kriegführung, 1942 - 1945 Die unerschöpflich scheinenden Kraftquellen der Nation im Rücken, konnte sich Roosevelt als Regierungschef und Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Aufgabe widmen, die „Große Koalition“ mit Großbritannien, der Sowjetunion und China zu‐ sammenzuhalten und den Zweifrontenkrieg gegen Japan und Deutschland zu führen. Im Unterschied etwa zur straffen Organisation des britischen War Cabinet unter Churchill blieb der amerikanische Präsident seinem informellen und pragmatischen Regierungsstil treu. Dazu gehörte auch, dass er keine detaillierten politischen Zielvor‐ gaben entwickelte, sondern zunächst alles den militärischen Notwendigkeiten und dem Ziel eines raschen Sieges unterordnete. Rat holte er sich hauptsächlich von Harry Hopkins, der - ähnlich wie Colonel House im Ersten Weltkrieg - wichtige diplomatische Missionen in Europa erfüllte, sowie von Generalstabschef Marshall, Außenminister Hull, Kriegsminister Stimson, Finanzminister Morgenthau und dem Supreme Court-Richter Felix Frankfurter. Gelegentlich konnten aber auch andere Mit‐ glieder der rapide anschwellenden Administration wie Geheimdienstchef William J. Donovan oder der Leiter der Propagandaorganisation Office of War Information, Robert E. Sherwood, Roosevelts Urteil beeinflussen. Von allergrößter Bedeutung war das enge Vertrauensverhältnis zu Winston Churchill, da die wichtigsten Entscheidungen oft in interalliierten Gremien oder auf den verschiedenen Kriegskonferenzen getroffen wurden. Über geheime, abhörsichere Kanäle unterhielten Roosevelt und Churchill bis Kriegsende eine permanente Korrespondenz. Als zentrale militärische Schaltzentrale der USA fungierten ab Dezember 1941 die Joint Chiefs of Staff (JCS) unter Vorsitz von General Marshall. Etwas später richteten Amerikaner und Briten gemeinsam die Institution der Combined Chiefs of Staff (CCS) ein, die sowohl die militärischen als auch die nachrichtendienstlichen Aktivitäten der Westmächte koordinierte. JCS und CCS bildeten den Kern einer alliierten Militärbürokratie, die im Laufe der Zeit immer differenzierter und leistungsfähiger wurde. Das neben der Atombombe am besten gehütete Kriegsgeheimnis, die Fähigkeit amerikanischer und britischer Kryptologen zur Entschlüsselung vieler wichtiger japanischer und deutscher Funkcodes (MAGIC und ULTRA), blieb innerhalb der zivilen und militärischen Führung beider Länder einem ganz kleinen Personenkreis vorbehalten (und wurde der Öffentlichkeit in seiner vollen Tragweite erst Mitte der 1970er Jahre bekannt). Roosevelt ließ sich durch Pearl Harbor nicht von der Germany first-Strategie abbringen, die er mit Churchill vereinbart hatte. Während die Briten aber daran dachten, die „Festung Europa“ durch den Bombenkrieg und die Unterstützung der Widerstandsbewegungen in den besetzten Ländern langsam zu zermürben, sah General Marshalls Konzept schon für 1943 eine massive Landeoperation an der französischen Atlantikküste vor, um die Rote Armee zu unterstützen, die in Russland die Hauptlast des Kampfes gegen das Dritte Reich trug. Da Roosevelt jedoch aus politischen Gründen - 1942 war ein Wahljahr - eine frühe Aktion wünschte, entschied er sich im Juli 1942 für Churchills Vorschlag, den deutschen Machtbereich zunächst an der Peripherie, vom Mittelmeer her anzugreifen. Nach der erfolgreichen Landung in Nordafrika (Operation Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 278 <?page no="279"?> TORCH) im November 1942, bei der General Dwight D. Eisenhower den Oberbefehl führte, trafen sich Churchill und Roosevelt im Januar 1943 in Casablanca. Sie verstän‐ digten sich darauf, den Krieg bis zur „bedingungslosen Kapitulation“ (unconditional surrender) Deutschlands fortzuführen, und terminierten die Invasion in Frankreich auf das Jahr 1944. Angehörige von Feldmarschall Rommels „Afrikakorps“, die sich in Algerien, Libyen und Tunesien ergeben mussten, wurden als Erste von insgesamt fast 400.000 deutschen Kriegsgefangenen nach Amerika gebracht. In den 500 über die USA verstreuten Prisoner of War Camps ging es den meisten von ihnen recht gut; wer als zuverlässig und lernbereit galt, erhielt sogar Gelegenheit, sich - als Vorbereitung für die Zukunft daheim - in Schulungskursen mit demokratischen Ideen und Praktiken vertraut zu machen. Nach der Eroberung Siziliens im Sommer 1943 landeten britische und amerikanische Truppen auf dem italienischen Festland. Über Italien setzten die USA erstmals ein Jagdflieger-Geschwader ein, das ganz aus afroamerikanischen Piloten gebildet worden war. Obwohl Mussolini im September 1943 gestürzt wurde und Italien aus dem Krieg ausschied, verlor die alliierte Offensive bald an Schwung und brachte keine entscheidenden strategischen Vorteile. Von Italien und Nordafrika aus konnten die alliierten Geheimdienste aber die Tito-Partisanen in Jugoslawien unterstützen, die mehrere deutsche Divisionen banden. Geld und Waffen gelangten ebenso an die antideutschen Kräfte in Norditalien und Südfrankreich. Gegen Ende 1943 nahm das OSS in den neutralen Ländern Türkei und Schweiz auch Verbindung mit deutschen Widerstandskreisen um General Beck, Admiral Canaris und Carl Goerdeler auf. Eine praktische Zusammenarbeit scheiterte jedoch an der Weigerung der politischen Führung in Washington und London, von der Forderung nach unconditional surrender abzurücken. Dabei spielte die Sorge eine wichtige Rolle, westliche Kontakte mit der deutschen Opposition könnten das Bündnis mit der Sowjetunion gefährden. Das OSS, das in der Schweiz durch Allen W. Dulles vertreten war, beschränkte sich deshalb darauf, das anti-nationalsozialistische Potenzial im deutschen Bürgertum wie in der Arbeiterschaft zur Destabilisierung des Hitler-Regimes zu nutzen, ohne die amerikanische Regierung politisch zu binden. Trotz der Germany first-Strategie, die 60 Prozent des amerikanischen Militärpoten‐ zials für den Krieg gegen Hitler reservierte, vollzog sich der Umschwung im Pazifik schneller als auf dem europäischen Kriegsschauplatz. Zum Wendepunkt wurde die Seeschlacht bei den Midway-Inseln im Juni 1942, in der es den Amerikanern - nicht zuletzt auf Grund erfolgreicher Funkaufklärung - gelang, ohne nennenswerte eigene Verluste vier schwere japanische Flugzeugträger zu vernichten. Damit war die Offensivkraft der Japaner gebrochen, und die amerikanischen Streitkräfte konnten in einer Zangenbewegung - von Australien aus unter dem Oberbefehl von General Douglas MacArthur und durch den Nordpazifik unter dem Kommando von Admiral Chester W. Nimitz - zum Gegenangriff übergehen. Gleichzeitig leisteten die USA der Regierung Chiang Kai-schek in China, die sich ins südliche Chungking zurückgezogen hatte, personelle und materielle Hilfe im Kampf gegen die Japaner. Amerikanische 3 Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten 279 <?page no="280"?> Versuche, einen Ausgleich zwischen Chiang und den chinesischen Kommunisten her‐ beizuführen, die im Norden unter der Führung von Mao Tse-tung einen Guerrillakrieg gegen die japanischen Besatzer führten, blieben jedoch erfolglos. Die Konflikte über die Länder des „pazifischen Randes“ kündigten sich auf der Teheran-Konferenz im November 1943 an, bei der die „Großen Drei“ Stalin, Churchill und Roosevelt erstmals zusammentrafen. Für Indochina, wo Ho Chi Minh den Unabhängigkeitskampf gegen die Japaner organisierte, schlugen die USA eine UNO-Treuhandschaft vor, während die Briten die Rückgabe an Frankreich wünschten. In Bezug auf Korea einigte man sich erst später auf eine vorläufige Teilung entlang des 38. Breitengrades, wobei russische Truppen den Norden, amerikanische den Süden okkupieren sollten. Unterdessen setzten die Amerikaner ihr „Inselhüpfen“ im Pazifik fort und öffneten im Sommer 1944 mit erfolgreichen Seeschlachten den Weg für die Rückkehr MacArthurs auf die Philippinen. In Europa hatte Churchill nach der italienischen Kapitulation eine Offensive im Mit‐ telmeer und auf dem Balkan befürwortet, weil er in Erinnerung an den Ersten Weltkrieg schwere Verluste beim direkten Angriff über den Kanal befürchtete. In Teheran fand jedoch Marshalls Invasionsplan Billigung, und die Alliierten sicherten sich gegenseitig zu, keinen Separatfrieden mit Deutschland zu schließen. Roosevelt nahm die Gefahr eines russischen Alleingangs sehr ernst, da die Sowjets die Westmächte durch die Gründung und Protektion des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ und des Bundes Deutscher Offiziere über ihre letzten Absichten im Unklaren ließen. Im OSS war man sich nicht einig, ob Moskau diese nach dem Sieg bei Stalingrad 1943 aus emigrierten deutschen Kommunisten und Kriegsgefangenen gebildeten Organisationen lediglich als Propagandawaffen zur psychologischen Kriegsführung benutzen wollte oder sie für politische Zwecke in Reserve hielt. Für eine baldige Errichtung der „zweiten Front“ in Frankreich versprach Stalin Roosevelt sowjetische Hilfe gegen Japan. Churchill konnte sich aber nicht ganz von seiner Idee eines Vormarsches durch den Balkan trennen: Ende 1944 landeten die Briten allein in Griechenland, wo sie rasch in einen Bürgerkrieg zwischen konservativen und linksgerichteten Kräften verwickelt wurden. Hier liegt der Ursprung der amerikanischen Intervention von 1947, die Roosevelts Nachfolger Truman rechtfertigen und verantworten musste. Die „Schlacht im Atlantik“, die sich alliierte Geleitzüge und deutsche U-Boote lieferten, erreichte 1943 ihren Höhepunkt. Bei dieser Auseinandersetzung profitierten Briten und Amerikaner von Fortschritten in der Radartechnik und von der Fähigkeit ihrer Kryptologen, den Funkverkehr zwischen der deutschen Marineführung und den U-Booten in den Operationsgebieten „mitzulesen“. Die Voraussetzungen für die Invasion in Frankreich - die volle Mobilisierung der USA und der Sieg über die U-Boote im Atlantik - waren um die Jahreswende 1943 / 44 erfüllt. Geleitet wurde das Mammutunternehmen (Operation OVERLORD) von General Dwight D. Eisenhower, den Roosevelt zum Oberbefehlshaber der Allied Expeditionary Forces (AEF) ernannt hatte. Die Landung in der Normandie am „D-Day“ (6. Juni 1944), an der 200.000 Soldaten mit einer Armada von 2700 Schiffen beteiligt waren, gelang auf Grund der See- und Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 280 <?page no="281"?> Luftüberlegenheit der Alliierten, vor allem aber mit Hilfe des Überraschungseffekts, der durch die Entzifferung des deutschen Funkverkehrs im Abhörzentrum Bletchley Park bei London sowie durch Täuschungsmanöver der alliierten Geheimdienste erreicht wurde. Mehr als eine Million Amerikaner kämpften danach zusammen mit Briten, Kanadiern und Franzosen an der Westfront. Zwar stellte Churchill dem Oberkomman‐ dierenden Eisenhower General Bernard Montgomery als gleichrangigen Heerführer zur Seite, aber in allen wichtigen strategischen Fragen, wie etwa einer weiteren Landung in Südfrankreich im August 1944 (Operation DRAGOON), setzten sich die Amerikaner auf Grund des ständig zunehmenden Gewichts ihrer materiellen Leistungen durch. Die alliierten Erfolge in Frankreich und Italien sowie der sowjetische Vormarsch im Osten zogen bis Ende 1944 den Ring um Deutschland immer enger zusammen. Mit massiven und z. T. verlustreichen Tagesangriffen trug die US Air Force zu der strategischen Bomberoffensive bei, die das deutsche Wirtschaftspotenzial schwächen und die Moral der Bevölkerung untergraben sollte. Die völlig unerwartete deutsche Ardennen-Offensive im Dezember 1944 (von den Amerikanern „Battle of the Bulge“ genannt) brachte dann aber noch einmal einen Rückschlag, der die USA zur Mobilisierung zusätzlicher Truppen zwang. Roosevelts dritte Bestätigung im Präsidentenamt im November 1944, diesmal gegen den republikanischen Gouverneur von New York, Thomas F. Dewey, war ein beispiel‐ loser Vorgang, der die ungebrochene Popularität „FDRs“ bewies. Im Kongress erzielten die Republikaner aber bereits seit den Zwischenwahlen von 1942 Fortschritte. Für sie standen der Führungsstil des Präsidenten und der „Kult“ um seine Person im Widerspruch zum traditionellen Verfassungssystem der USA. (Es dauerte allerdings bis 1951, bevor das 22. Amendment bestimmte, dass niemand öfter als zweimal zum Präsidenten gewählt werden durfte.) Aus innenpolitischen Gründen verlangte Roose‐ velt, dass der militärische Sieg über Deutschland und Japan mit den geringstmöglichen Verlusten an amerikanischen Menschenleben errungen werden musste. Andererseits widersetzte er sich entschieden allen Vorschlägen, die Forderung nach bedingungs‐ loser Kapitulation zu lockern. In der Endphase des Krieges wollte er unter allen Umständen verhindern, dass die Zusammenarbeit mit der künftigen zweitstärksten Macht der Erde, der Sowjetunion, in Gefahr geriet. Diesem Ziel ordnete er auch seine Deutschlandpolitik unter, die stets recht unbestimmt und sprunghaft blieb. So erwog er zunächst verschiedene Teilungsmodelle und stimmte im Oktober 1944 auf der 2. Konferenz von Quebec zusammen mit Churchill dem Plan seines Finanzministers Morgenthau zu, der zukünftige deutsche Aggressionen durch eine Internationalisie‐ rung des Ruhrgebiets, die Schließung der Kohlegruben und weitere Maßnahmen zur „Entindustrialisierung“ oder „Agrarisierung“ des Reiches verhindern wollte. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung und dem Rat von Harry Hopkins folgend, schwenkte er wenig später aber wieder auf die gemäßigteren Vorstellungen des Außen- und Kriegsministeriums um. Höchste Priorität maß Roosevelt dagegen der Gründung einer neuen Weltorganisation zu, in deren Rahmen die Siegerkoalition der United Nations fortgesetzt werden und die Großmächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und China 3 Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten 281 <?page no="282"?> als regionale Ordnungshüter oder „Weltpolizisten“ agieren sollten. Für die Kooperation mit der Sowjetunion war der Präsident bereit, die Sicherheitsinteressen Moskaus zu respektieren und politische Zugeständnisse zu machen - in Europa zu Lasten Deutschlands und der osteuropäischen Länder, in Asien auf Kosten von Japan und China. Als Stalin im Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta den Beitritt zur UNO, eine Kriegserklärung an Japan und freie Wahlen für Polen zusagte, glaubte der bereits schwer kranke Roosevelt, das erhoffte Arrangement mit der Sowjetunion gefunden zu haben. Deshalb setzte er sich über Warnungen von Diplomaten und Militärs hinweg, die eine wirkliche demokratische Neuordnung Polens - dessen „Westverschiebung“ die USA in Jalta billigten - zum Testfall für die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen machen wollten. Aus demselben Grund lehnte er im März 1945, als die angelsächsischen Truppen den Rhein überquerten, einen „Wettlauf“ mit der Roten Armee nach Berlin ab, wie er den Briten vorschwebte. Die USA hielten sich strikt an die Vereinbarungen über eine Zoneneinteilung Deutschlands, die 1944 gemeinsam mit den Sowjets und Briten im Rahmen der European Advisory Commission in London getroffen worden waren. Amerikanische Verbände, die über die festgelegten Demarkationslinien bis nach Mitteldeutschland und Böhmen vorstießen, wurden bei Kriegsende wieder zurückbe‐ ordert. Aus der Rückschau erkennt man, dass sich Roosevelt einer Täuschung hingab, als er glaubte, die Sowjetunion würde in der ihr zugestandenen osteuropäischen Einflusssphäre politische und wirtschaftliche Verhältnisse zulassen, die wenigstens vordergründig westlichen Demokratievorstellungen entsprachen. Er unterschätzte die ideologische Fundierung der sowjetischen Politik, die Sicherheit offenkundig nur durch tiefgreifende soziale Umwälzungen unter kommunistischer Führung und durch eine möglichst gleichförmige Ausrichtung der Regime in den befreiten bzw. eroberten Ländern verbürgt sah. Er wollte wohl auch nicht wahrhaben, dass Stalin für den Mord an ca. 4000 polnischen Offizieren Ende 1939 verantwortlich war, den die Deutschen 1943 aufgedeckt und propagandistisch auszunutzen versucht hatten. Angesichts des Kriegsverlaufs in Europa und des Macht- und Prestigegewinns der Sowjetunion fällt es aber schwer, realistische Handlungsalternativen aufzuzeigen, deren Verfolgung Roosevelt erlaubt hätte, Wunsch und Wirklichkeit der amerikanischen Politik besser in Übereinstimmung zu bringen. Vorrangiges Ziel blieb bis zuletzt die Niederringung des nationalsozialistischen Deutschland, dessen brutale Eroberungs- und Ausrottungs‐ politik, die im Holocaust, der Ermordung von etwa 6 Millionen europäischer Juden gipfelte, einen beispiellosen Zivilisationsbruch darstellte. Als der Präsident am 12. April 1945 in seinem Ferienort Warm Springs an einem Gehirnschlag starb, waren die Siege über Deutschland und Japan so gut wie sichergestellt. Die „Große Allianz“ hielt den Belastungen noch stand, das System der Vereinten Nationen nahm Gestalt an, und die USA hatten sich gegenüber der Sowjetunion nicht endgültig festgelegt. Vizepräsident Harry S Truman, der die Nachfolge antrat, verfügte über wenig außenpolitische Erfahrung. Er war mit Hilfe der demokratischen „Parteimaschine“ von Missouri aus kleinen Verhältnissen zum Senator aufgestiegen und hatte sich im Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 282 <?page no="283"?> Kongress durch die Aufdeckung von Misswirtschaft und Korruption in der Rüstungs‐ industrie einen Namen gemacht. Roosevelt erkor ihn für die Wahlen von 1944 aus taktischen Gründen zum running mate, weil der bisherige Vizepräsident Wallace als zu radikal galt. Von vielen wichtigen Entscheidungen, etwa dem Atomwaffenprogramm, blieb Truman ausgeschlossen. Da er den Warnungen vor einer expansiven, totalitären Sowjetunion von Beginn an mehr Glauben schenkte als Roosevelt, trat er schon bei seinem ersten Treffen mit Außenminister Molotow am 23. April 1945 in Washington undiplomatisch hart auf. Nach der deutschen Kapitulation sah er sich zusammen mit Churchills Nachfolger Clement Attlee einem Sowjetführer Stalin gegenüber, der auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. Die Potsdamer Konferenz im Juli und August 1945 zeigte bereits deutlich die Grenzen der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion auf, denn außer der Einsetzung eines Außenministerrates und dem Beschluss, das in vier Besatzungszonen aufgeteilte Deutschland vorläufig als wirtschaftliche Einheit zu behandeln, kam wenig Substanzielles zustande. Truman glaubte offenbar, Stalin mit dem Hinweis auf eine „Waffe von unvorstellbarer Vernichtungskraft“ beeindrucken zu können, die den USA zur Verfügung stehe. Er ahnte nicht, dass sein Gesprächspartner durch Agentenberichte recht gut über das Manhattan Project im Bilde war. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten sowjetische Wissenschaftler auf Befehl Stalins bereits intensiv daran, den Rückstand in der Nukleartechnologie aufzuholen und das amerikanische Atomwaffenmonopol zu brechen. Im Pazifik hatten die erbitterten Schlachten von Iwo Jima und Okinawa den Amerikanern Anfang 1945 einen Vorgeschmack auf die eventuelle Invasion der japa‐ nischen Hauptinseln gegeben. Unter dem wachsenden Druck der amerikanischen Luft- und Seeoffensive signalisierte die Tokioter Regierung generelle Friedensbereit‐ schaft. Sie wollte den Kampf jedoch „ehrenvoll“ beenden und lehnte die geforderte bedingungslose Kapitulation weiterhin ab. Nach dem Amtswechsel im Weißen Haus empfahl ein Interim Committee aus hohen Militärs und Politikern den frühestmöglichen Einsatz der Atombombe gegen Japan. Die Idee einiger Wissenschaftler, den Japanern eine Vorwarnung in Form einer „Demonstrationsexplosion“ zu geben, fand keine Zustimmung. Für den Fall einer Landung in Japan sagte Kriegsminister Stimson einen „Rassenkrieg“ mit gewaltigen Verlusten auf beiden Seiten voraus. Als Truman in Potsdam die Nachricht von dem gelungenen „Trinity“-Test aus Alamogordo er‐ hielt, fällte er, beraten von Stimson und Außenminister James Byrnes, die letzte Entscheidung. Neben dem Wunsch, amerikanische Menschenleben zu schonen, spielte dabei eine Reihe anderer Faktoren eine Rolle: Rücksichtnahme auf die antijapanische Stimmung in den USA; Vorstellungen, ein teures Projekt erfolgreich beenden und ein Vermächtnis Roosevelts erfüllen zu müssen; das Gefühl, durch die abschreckende Bestrafung von Kriegsverbrechen, wie sie die Japaner begangen hatten, im Interesse des Weltfriedens zu handeln; und nicht zuletzt das Motiv, die Sowjetunion zu warnen und amerikanischen Forderungen und Sichtweisen geneigter zu machen. Unter den gegebenen Umständen hätte es wohl mehr an Mut und einer größeren moralischen Autorität bedurft, die Bombe nicht einzusetzen, als ihren Abwurf freizugeben. Bei den 3 Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten 283 <?page no="284"?> Angriffen auf Hiroshima und Nagasaki kamen am 6. und 9. August 1945 zwischen 110.000 und 150.000 Menschen um. Dieser schockierende Schlag bedeutete - zusammen mit dem Einmarsch der Roten Armee in die Mandschurei - das Ende des Krieges in Asien. Nach der japanischen Kapitulation am 14. August, die am 2. September an Bord des Schlachtschiffes „Missouri“ in der Bucht von Tokio formell vollzogen wurde, besetzten amerikanische Truppen Japan. Das Schicksal der Bevölkerung und das Überleben des jahrhundertealten japanischen Kaisertums hing von der Gnade und der Einsicht General MacArthurs ab, der als Supreme Commander for Allied Powers einem römischen Prokonsul gleich in Tokio residierte. Die Ergebnisse des Krieges aus amerikanischer Sicht Die USA hatten im Zweiten Weltkrieg mit den geringsten Opfern die größten Gewinne erzielt. Ihre Gesamtverluste waren beträchtlich, lagen aber mit ca. 300.000 Gefallenen und 670.000 Verwundeten (weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung) weit unter denen der übrigen Großmächte. Dazu trugen auch Fortschritte der Medizin bei, die höhere Überlebenschancen bei Verwundungen sicherten und Epidemien verhinderten. Als einziges Land gingen die USA wirtschaftlich gestärkt aus dem Krieg hervor, und sie allein verfügten über die neue nukleare Massenvernichtungswaffe. Mit der Charta der Vereinten Nationen, die - ganz anders als die Völkerbundsakte 1919 / 20 - von der amerikanischen Bevölkerung euphorisch begrüßt und vom Senat mit überwältigender Mehrheit ratifiziert wurde, schien der Grund für eine dauerhafte Weltfriedensordnung gelegt. Das System von Bretton Woods, das schon 1944 aus der Taufe gehoben worden war, etablierte den Dollar als internationale Leit- und Reservewährung mit Goldeinlösungsgarantie und entsprach den amerikanischen Vorstellungen von freiem Welthandel und offenen Märkten. Andererseits kündigten sich bereits Auseinander‐ setzungen mit der Sowjetunion über die Zukunft Deutschlands, die Reparationsfrage, den Status der osteuropäischen Länder und die Interessenabgrenzung auf dem Balkan an. Der Nahe Osten barg mit seinem Erdölreichtum, der alle Industrieländer begehrlich machte, und mit der Palästinafrage, die sich durch die Einwanderung von jüdischen Überlebenden des Holocaust zugespitzt hatte, enormen Konfliktstoff. In China verlor Chiang Kai-schek trotz amerikanischer Unterstützung immer mehr Boden an seinen kommunistischen Rivalen Mao. Von Indien über Indonesien bis Korea hatte der japanische Schlachtruf des „Asien den Asiaten“ die antikoloniale Stimmung geschürt. Das Zugeständnis Roosevelts an die Franzosen, nach dem japanischen Rückzug ihre Herrschaft in Indochina wieder aufzurichten, passte nicht in das Bild, das sich viele Menschen in den abhängigen Gebieten - und viele Amerikaner selbst - von den Vereinigten Staaten als einem fortschrittlichen Land machten, das für das Selbstbestim‐ mungsrecht der Völker eintrat. Außenpolitisch hatte der Krieg also keineswegs alle Probleme gelöst, sondern sogar eine ganze Reihe von Konfliktfeldern neu geschaffen. Die USA waren zwar zur „Supermacht“ mit weltweiter Präsenz aufgestiegen, aber die Kapitel 6: Prosperität, Große Depression und Zweiter Weltkrieg, 1921 - 1945 284 <?page no="285"?> Amerikaner mussten bald erkennen, dass sich ihre wirtschaftliche und militärische Stärke nicht ohne weiteres und überall in politischen Einfluss umsetzen ließ. Im Innern hatte der Krieg eine Welle des Patriotismus ausgelöst, die dem Prozess der Nationalstaats- und Nationsbildung einen neuen kräftigen Schub verlieh. Nach Pearl Harbor herrschte weitestgehender Konsens darüber, dass der Isolationismus gescheitert war und dass die USA niemals mehr militärische Schwäche und man‐ gelnde Vorbereitung zeigen durften. Der glänzende Sieg bestätigte offensichtlich die Vorbildlichkeit der amerikanischen Institutionen und die Überlegenheit des American way of life, und aus der Perspektive der civil religion erschien die Überwindung des Faschismus als ein neues Kapitel in der Erfüllung des transzendenten Geschichtsauf‐ trags der Vereinigten Staaten. Roosevelts Kriegführung bescherte dem Präsidentenamt überragendes Ansehen und eine hervorgehobene Stellung im Verfassungssystem - eine neuartige Konstellation, die später als imperial presidency charakterisiert werden sollte. Die Kriegsmobilisierung setzte den Wachstumstrend der zentralstaatlichen Bürokratie fort, der schon in der Progressive Era und im Ersten Weltkrieg begonnen hatte und der nach einer Unterbrechung während der 1920er Jahre im New Deal wieder aufgenommen worden war. Auch wenn einige Behörden 1945 aufgelöst wurden, so hinterließ der Krieg doch bleibende Spuren: Die Zahl der Bundesbeamten hatte sich von 1,1 auf 3,4 Millionen verdreifacht, und die Bundesregierung war nun im Stande, in nahezu jeden Wirtschafts- und Lebensbereich der Bürger einzugreifen. Gleichzeitig wurde die Gesellschaft offener, was sich besonders an der Rolle der Frauen und der Afroamerikaner zeigte. Zahlreiche weibliche Arbeitskräfte mussten zwar ihren Platz für die zurückkehrenden GI’s räumen, aber die bessere Integration von Frauen in den Wirtschaftsprozess und der damit verbundene Status- und Unabhängigkeitsgewinn konnten auf längere Sicht nicht mehr rückgängig gemacht werden. Ähnlich verhielt es sich mit den Afroamerikanern, deren Selbstbewusstsein und Optimismus während des Krieges zunahm, obgleich die Rassentrennung in den Streitkräften noch bis 1948 in Kraft blieb. Die Mitgliederzahl der NAACP hatte sich während des Krieges nahezu verzehnfacht, und neue, aggressivere Bürgerrechtsorganisationen wie der 1942 gegründete Congress of Racial Equality (CORE) riefen dazu auf, den weltweiten Kampf für die Befreiung von Faschismus und Kolonialismus mit dem Kampf gegen die Rassendiskriminierung im eigenen Land zu verbinden. In vielen Großstädten kam es ab 1943 zu schweren Rassenunruhen, weil Weiße die Zuwanderung der Afroamerikaner verhindern wollten und weil sie Roosevelts Anweisung, bei Einstellungen in die Kriegsindustrien die Hautfarbe nicht zu einem Kriterium zu machen, als Zumutung empfanden. Zwischen 1940 und 1950 wuchs die schwarze Bevölkerung in New York von ca. 460.000 auf knapp 750.000, in Chicago von weniger als 300.000 auf etwa 500.000 und in Detroit von ca. 150.000 auf über 350.000. Der schwedische Volkswirtschaftler Gunnar Myrdal analysierte die soziale Lage der Afroamerikaner in seiner 1944 veröf‐ fentlichten Studie An American Dilemma und gelangte zu dem Schluss, den Vereinigten Staaten stünden die einschneidendsten Veränderungen in den Rassenbeziehungen seit Bürgerkrieg und Rekonstruktion bevor. 3 Die USA in der weltpolitischen Auseinandersetzung mit den expansiven Mächten 285 <?page no="287"?> Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchdringen sich die amerikanische Geschichte und die Weltgeschichte so sehr, dass es in der historischen Darstellung oft schwerfällt, Trennungslinien zu ziehen. Die amerikanische Elite und die große Mehr‐ heit der Bevölkerung teilten nach 1945 gewisse Grundannahmen über das Verhältnis ihres Landes zum Rest der Welt, die sich mit den Begriffen „American leadership“, „de‐ mocracy“, „market economy“ und „peaceful change“ beschreiben lassen. Der Anspruch auf eine weltpolitische Führungsrolle ergab sich aus der aktuellen wirtschaftlichen und militärischen Vormachtstellung der USA bei Kriegsende, wurde aber auch weiterhin durch den quasireligiösen Glauben an eine besondere amerikanische Mission und Auserwähltheit gespeist. Ferner hegten die meisten Amerikaner kaum Zweifel daran, dass sich das demokratische Regierungssystem mit seinen Hauptelementen begrenzte Regierungsmacht, Gewaltenteilung, Partizipation, Parteienwettbewerb und Schutz der Grundrechte überall durchsetzen würde, wo Menschen frei über ihr Schicksal entschei‐ den könnten. Die UNO-Charta erschien als eine Fortschreibung der eigenen Constitu‐ tion, und die Ziele der Weltorganisation ließen sich nach amerikanischer Auffassung am besten verwirklichen, wenn in möglichst vielen Staaten demokratische Verhältnisse herrschten. Marktwirtschaft und freier Welthandel waren aus dieser Perspektive Teil der „Geschäftsgrundlage“ von 1944 / 45, nicht nur, weil sie den amerikanischen Interes‐ sen am ehesten entsprachen, sondern auch, weil weltweites Wirtschaftswachstum als zentrale Voraussetzung für politische Stabilität und Frieden galt. Dieses liberale Credo wurzelte in der Erfahrung des eigenen - individuellen wie nationalen - ökonomischen Aufstiegs und im sprichwörtlichen Fortschrittsoptimismus, den Außenstehende häufig als naiv empfanden. Schließlich gingen die Amerikaner davon aus, dass die Eckpfeiler der neuen Weltordnung in Bretton Woods und San Francisco gesetzt worden waren und dass sich der politische und soziale Wandel von nun an im Rahmen dieses Status quo auf friedlichem Wege vollziehen sollte. Die Politik der Sowjetunion, des kommunistischen China und der „radikalen“ Staaten der Dritten Welt wurde als durch die UNO-Charta nicht gedeckter Versuch verstanden, die etablierte Ordnung umzustürzen. Es schien deshalb legitim, die weitere Ausbreitung des Kommunismus - notfalls sogar gewaltsam - zu verhindern und im Gegenzug freiheitliche Werte und Prinzipien in alle Teile der Welt zu tragen. Die republikanisch-demokratische American Creed des 19. Jahrhunderts erhielt damit vollends universalistische Züge. Das Gefühl der Bedrohung von außen, das sich gegen Ende der 1940er Jahre in den USA breit machte, förderte ebenso den Zusammenhalt und die Konformität der ame‐ rikanischen Gesellschaft wie der stürmische, lang anhaltende Wirtschaftsaufschwung, der auf die - unerwartet milde - Nachkriegsrezession folgte. Die 1929 jäh abgebrochene Entwicklung zur Konsum- und Wohlstandsgesellschaft konnte nun fortgesetzt werden, <?page no="288"?> und amerikanische Geschäftsleute, Soldaten und Touristen sowie die Medien, insbe‐ sondere die Hollywood-Filme, trugen die Botschaft von den Vorzügen des American way of life in andere Erdteile. Gegen die Zentralisierung der Macht in Washington und die „imperiale Präsidentschaft“, Erbschaften des New Deal und des Zweiten Weltkriegs, regte sich nur noch vereinzelt Widerspruch. Unter der Oberfläche der „Wohlstands‐ gesellschaft“ (affluent society) begann es aber in den 1950er Jahren zu gären, weil ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung von den Segnungen der Konsumkultur ausge‐ schlossen blieb, und mehr noch, weil die fortdauernde Rassendiskriminierung einen allmählich unerträglichen Kontrast zu den amerikanischen Idealen zu bilden begann. Nach dem Schock über den Tod des jungen Präsidenten John F. Kennedy, der die Nation zu „neuen Grenzen“ hatte führen wollen, wühlten die Bürgerrechtsbewegung und der Vietnamkrieg die amerikanische Gesellschaft tief auf. Die Unruhe kulminierte im Jahr 1968, das in den USA und weltweit eine - auch generationsbedingte - historische Zäsur setzte. Vom Optimismus der frühen Nachkriegszeit, vom idealistischen Schwung der „Ära Kennedy“ und vom Ehrgeiz Präsident Johnsons, eine Great Society ohne Not und Armut zu bauen, war an der Wende zu den 1970er Jahren nicht mehr viel zu spüren: Der politische Konsens zerbröckelte, das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen ließ nach, und die erstarkende überseeische Konkurrenz sowie die materiellen Belastungen des Vietnamkrieges verringerten den Vorsprung der amerikanischen Wirtschaft. Die Hegemonie der USA, ihr moralischer und politischer Führungsanspruch, stieß nicht nur im Forum der Vereinten Nationen und in der nun weitgehend „entkolonisierten“ Dritten Welt auf Kritik, sondern wurde zunehmend auch von den Verbündeten in Europa und Asien in Frage gestellt. 1 Die Anfänge des Kalten Krieges und die Grundlegung der nationalen Sicherheit, 1946 - 1953 Erklärungsmodelle für die Entstehung des Ost-West-Konflikts Über die Verantwortung für den Zerfall der Siegerkoalition und die Ursachen des Kalten Krieges wurde in den USA seit den 1960er Jahren lange eine intensive, emotional aufgeladene öffentliche Debatte geführt. Den Ausgangspunkt bildeten Memoiren und Werke von beteiligten Politikern, Diplomaten und Russlandexperten wie Truman, Dean Acheson, W. Averell Harriman und George F. Kennan. Ihrer Meinung nach resultierte der Kalte Krieg aus dem Expansionsstreben der Sowjetunion und dem übertriebenen Misstrauen Stalins. Sie malten das Bild einer offensiven Moskauer Regierung, die jede Gelegenheit ausnutzte, um ihre Ideologie zu verbreiten und ihr Imperium auszuweiten, und sie charakterisierten Stalin als einen verschlagenen, paranoiden Herrscher, der nach der Unterwerfung Osteuropas darauf hinarbeitete, ganz Deutschland und Europa in den sowjetischen Einflussbereich zu bringen. Eine Umkehrung dieser These erfolgte im Zuge des Aufkommens der „Neuen Linken“ in den 1960er Jahren durch die so genannten Revisionisten, die, wie Joyce und Gabriel Kolko, Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 288 <?page no="289"?> in der Tradition der Imperialismus-Kritiker standen. Aus ihrer Sicht strebten die USA selbst nach Expansion und Vorherrschaft, angetrieben durch die dynamischen Kräfte des eigenen kapitalistischen Wirtschaftssystems. Im Gefühl der nahezu unbegrenzten Macht durch die Atombombe setzten sich die Verantwortlichen im amerikanischen establishment über die ökonomischen Bedürfnisse und die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion hinweg und versuchten, den kommunistischen Einfluss in Westeuropa auszumerzen und weltweit die revolutionäre Linke zu besiegen. Die Einseitigkeit beider Standpunkte wollten Vertreter einer „realistischen Schule“ vermeiden, zu denen neben Historikern wie Norman A. Graebner auch der amerikanische Außenminister Henry A. Kissinger gehörte. Sie warnten vor einer Überbetonung ideologischer und wirtschaft‐ licher Motive: Vielmehr müsse man den Ost-West-Konflikt als eine zwangsläufige Folge der bipolaren Machtverteilung nach 1945 sehen, die dazu geführt habe, dass Russen und Amerikaner jeden Schritt der jeweils anderen Seite als Bedrohung ihrer eigenen Interessen interpretierten und entsprechend handelten. Kissinger verstand die USA in diesem Kontext als eine Ordnungsmacht, die nach 1945 auf ähnliche Weise die internationale Balance hielt, wie Großbritannien im 19. Jahrhundert für das europäische Mächtegleichgewicht gesorgt hatte. Grundsätzlich gilt, dass eine Analyse des Kalten Krieges drei eng miteinander verknüpfte, aber unterscheidbare Komplexe zu erfassen hat: die politische Ebene des Staatensystems, die mit Begriffen wie Gleichge‐ wicht, Hegemonie und Bipolarität beschrieben werden kann; die ökonomische Ebene des kapitalistischen Weltsystems, das sich in Kern, Peripherie und Semi-Peripherie gliedert; und schließlich die ideologische Ebene, auf der es um Welt- und Feindbilder, Wahrnehmungen und kulturelle Prägungen geht. Vor diesem Hintergrund lassen sich eine Reihe von Thesen formulieren: 1. Da Stalin nach 1945 nicht die Weltherrschaft, sondern eher begrenzte Ziele anstrebte, erscheint die „Eindämmungsstrategie“ der USA (containment) aus der kurzfristigen Perspektive als Überreaktion. Längerfristig war diese Haltung den Erfordernissen jedoch recht gut angepasst, da die Sowjetunion mit der Zeit durchaus globale expansive Bestrebungen entwickelte und auf den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems infolge innerer Widersprüche hoffte. 2. Innenpolitisch konnte die Politik des containment nur durchgesetzt werden, indem man sie in übersteigerter Form als Abwehrkampf gegen eine neue totalitäre Bedrohung darstellte. Die schon früh entwickelte Domino-Theorie weckte die Furcht, lokale Erfolge des Kommunismus würden Kettenreaktionen auslösen, die zum Verlust ganzer Weltregionen und schließlich zum Zusammenbruch der amerikanischen Autorität und Machtposition insgesamt führen könnten. Tatsächlich war die containment-Strategie weniger defensiv als offensiv und konstruktiv angelegt, weil sie auf die Integration Westeuropas und des „pazifischen Randes“ (Pacific Rim) in eine neue ökonomische und politische Ordnung abzielte. 3. Wirtschaftliche Motive waren auf amerikanischer Seite in der Anfangsphase nur sekundär; bei allen wesentlichen Entscheidungen gaben machtpolitische und militärstrategische Überlegungen den Ausschlag. Diese „realistische“ Außenpolitik hatte stets aber auch eine „idealistische“ Komponente, d. h. sie bezog - bewusst oder unbewusst und mehr oder minder stark - als universal 1 Die Anfänge des Kalten Krieges und die Grundlegung der nationalen Sicherheit, 1946 - 1953 289 <?page no="290"?> gültig verstandene amerikanische bzw. „westliche“ Werte von Demokratie und Men‐ schenrechten ins Kalkül ein. 4. Das Konzept der „nationalen Sicherheit“ (national security) wurde schon von Truman und dann von allen seinen Nachfolgern sehr weit ausgelegt: „Vitale“ Interessen der USA waren fast überall berührt, und wirksame Sicherheit schien nur gewährleistet, wenn es gelang, die gesamte Welt in Einklang mit den amerikanischen Vorstellungen und Werten zu bringen. Die USA strebten also durchaus bewusst nach Führung und Hegemonie, wobei sie ihre wirtschaftliche Stärke nutzten, um ihre politischen Visionen zu verwirklichen. Das letzte Ziel war eine Weltordnung, die dem „amerikanischen Modell“ einer Verbindung von pluralistischer Demokratie und freier Marktwirtschaft entsprach. Truman und seine Berater aus der „Ostküstenelite“, W. Averell Harriman, Dean Acheson, John J. McCloy und Charles Bohlen (die bis weit in die 1960er Jahre hinein überaus einflussreich blieben), sahen die USA praktisch dazu verpflichtet, einen solchen Zustand herbeizuführen und ihn dann als Ordnungsmacht dauerhaft zu garantieren. Besatzung und Rekonstruktion in Deutschland und Japan Die bedeutendste außenpolitische Leistung der USA nach 1945 war zweifellos die aktive Mitwirkung beim Wiederaufbau Westeuropas und die Reintegration der beiden ehemaligen Hauptkriegsgegner Deutschland und Japan in die Völkergemeinschaft. Die Direktive JCS 1067, die General Eisenhowers Verhalten als Militärgouverneur zwischen Kriegsende und endgültigem Friedensschluss leiten sollte, enthielt noch etliche Elemente des Morgenthau-Konzepts, das auf Bestrafung der Deutschen und Zerstörung des deutschen Machtpotenzials ausgerichtet gewesen war. Als im Frühjahr 1945 die volle Tragweite der deutschen Kriegsverbrechen und des Massenmords an den Juden bekannt wurde, verhärtete sich die öffentliche Meinung in den USA zunächst sogar noch. Es gab deshalb kaum Widerspruch gegen die Vorschriften, die eine „Frater‐ nisierung“ mit Deutschen unter Strafe stellten und Maßnahmen zum Wiederaufbau der Wirtschaft verboten. Deutschland wurde laut JCS 1067 nicht als „befreiter“, sondern als „besiegter“ Staat behandelt, um der Bevölkerung ihre Mitverantwortung für die Unta‐ ten des NS-Regimes vor Augen zu führen. Die Amerikaner scheuten sich auch nicht, systematisch Kriegsbeute in Form deutscher Patente und deutscher Wissenschaftler - speziell der Peenemünder Raketentechniker um Wernher von Braun - zu machen. Noch fragwürdiger war zweifellos die Rekrutierung von General Reinhard Gehlen, dem Chef der Wehrmachtsorganisation „Fremde Heere Ost“, der - nach einem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten - unter amerikanischer Obhut den Bundesnachrichtendienst in Pullach bei München aufbaute. Vollends unverständlich erscheint aus heutiger Sicht die Zusammenarbeit mit Klaus Barbie, dem Gestapochef von Lyon, den ein Geheimdienst der US Army - offenbar ohne Kenntnis höherer Stellen - anwarb und später nach Lateinamerika expedierte. Angesichts der gewaltigen Zerstörungen durch den Bombenkrieg kam es auf lokaler Ebene schon recht früh zu einer partiellen Zusammenarbeit zwischen Besatzungstrup‐ Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 290 <?page no="291"?> pen und deutschen Behörden, die dann in der Regel immer vertrauensvoller und konstruktiver wurde. Wichtige Beiträge zur Linderung der Not und zur Überwindung der Isolierung leisteten die amerikanischen Kirchen - vermittelt durch den ökumeni‐ schen Weltrat in Genf und den Vatikan -, die es als Christenpflicht ansahen, den Deutschen aus dem moralischen Abgrund des Nationalsozialismus herauszuhelfen. Besonders taten sich die Quäker hervor, die für ihr humanitäres Engagement 1947 den Friedensnobelpreis erhielten. Auch die Gewerkschaften verhielten sich solidarisch und nahmen rasch Kontakt zur deutschen Arbeiterschaft auf. Millionen von Spen‐ denpaketen gelangten ab 1946 über die private Organisation CARE (Cooperative for American Remittances to Europe) an bedürftige Familien. Die Deutschen lehnten sich instinktiv an den mächtigen Sieger an, von dem sie mehr Verständnis und Hilfe als von den europäischen Nachbarn erwarteten, und in der Tat erlebten sie die Amerikaner vorwiegend als „freundliche Feinde“. Unter dem Einfluss der veränderten internationalen Lage setzte sich dieser kooperative, versöhnliche Geist dann 1946 / 47 immer mehr durch. Die faktische Kontrolle in der amerikanischen Besatzungszone übte General Lucius D. Clay als Deputy Military Governor unter Eisenhower und dann ab 1947 als Militär‐ gouverneur aus. Geboren 1897 in Georgia als Sohn eines US-Senators, hatte Clay als Ingenieur in der Armee Karriere gemacht und während des New Deal den Bau von Staudämmen überwacht. Er galt als hart und autoritär, sprach nicht Deutsch und suchte auch bewusst keine Kontakte zu Deutschen. Dafür handelte er pragmatisch und unvoreingenommen, wobei sicher eine Rolle spielte, dass er aus dem Süden der USA stammte, die Geschichte der Rekonstruktion kannte und wusste, dass die Vereinigten Staaten nicht in jeder Hinsicht ein Musterland der Demokratie waren. Er setzte sich entschieden für die großen Ziele der Militärregierung - Entnazifizierung, Demilitarisierung, Demokratisierung und Entflechtung der Wirtschaft - ein, lehnte aber die These von einem negativen deutschen Nationalcharakter, den es zu ändern gelte, ebenso deutlich ab. Als sich abzeichnete, dass die US-Besatzungszone wegen der Konzeptionslosigkeit und mangelnden Einheit des Alliierten Kontrollrats in Berlin zu einer dauerhaften Belastung des amerikanischen Steuerzahlers werden würde, drängte Clay ab Anfang 1946 auf eine Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft. Zu dieser Zeit befürwortete er noch eine Zusammenarbeit mit den Sowjets bei der Umsetzung der Potsdamer Beschlüsse. Die Einstellung der Reparationsleistungen, die aus der US-Zone an die Sowjetunion gingen, richtete sich im Mai 1946 hauptsächlich gegen Frankreichs Obstruktionspolitik im Kontrollrat. Zu den ökonomischen Problemen kamen im Laufe des Jahres 1946 verstärkt auch politische Spannungen mit der Sowjetunion, weniger in Deutschland selbst als vielmehr in Osteuropa, in der Türkei, im Iran, im Nahen Osten und in Asien. Insofern wurde der Kalte Krieg nach Deutschland „importiert“, obgleich der ideologische Gegensatz durchaus auch wichtige innerdeutsche Quellen hatte, wie etwa den Streit um die von den Kommunisten betriebene Vereinigung von SPD und KPD. 1 Die Anfänge des Kalten Krieges und die Grundlegung der nationalen Sicherheit, 1946 - 1953 291 <?page no="292"?> In den USA selbst fand während dieser Zeit eine grundsätzliche Überprüfung der bisherigen Deutschland- und Europapolitik statt. Zum Umdenken im Kongress und in der Öffentlichkeit trug ein Besuch bei, den Winston Churchill den Vereinigten Staaten als Privatmann abstattete. Vom Wortlaut der Rede, die er am 5. März 1946 in Fulton, Missouri, hielt, blieb den meisten Amerikanern nur der Begriff „iron curtain“ im Gedächtnis, der Ängste vor einer hermetischen Abriegelung des sowjetischen Einflussbereichs in Europa heraufbeschwor. Churchills eigentliche Botschaft lautete, dass man mit Moskau nur von einer Position der Stärke aus verhandeln sollte. In der Folgezeit fand Clay mit seinen Mahnungen und Ratschlägen in Washington mehr Gehör, und nach monatelangen internen Beratungen schlug die Regierung einen neuen Kurs ein. Am 6. September 1946 unterstrich Außenminister James F. Byrnes in einer Aufsehen erregenden Rede in Stuttgart die Forderung nach wirtschaftlicher Einheit Deutschlands und bot dem deutschen Volk Unterstützung bei dem Versuch an, „seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt“. Damit war die Voraussetzung für die Vereinigung der britischen und der amerikanischen Zone zur „Bizone“ am 1. Januar 1947 geschaffen, die zum Ausgangspunkt der „Weststaatslösung“ wurde. Die Besatzungsregierung Office of Military Government (OMGUS) beschränkte sich nach und nach auf eine indirekte Kontrolle des politischen Lebens und förderte den Prozess der Verfassunggebung in den Ländern der US-Zone. Die Beratung der Länderverfassungen sollte laut einer Weisung Clays an seine Untergebenen „in einer Atmosphäre der Freiheit“ stattfinden, um den Deutschen die Identifizierung mit ihren neuen demokratischen Grundordnungen zu erleichtern. Inzwischen hatte in der Truman-Administration vollends diejenige Richtung die Oberhand gewonnen, die davor warnte, die Fehler des Versailler Vertrags zu wieder‐ holen und durch eine politische Isolierung und wirtschaftliche Bedrückung Deutsch‐ lands die Chancen für Demokratie und Wohlstand in ganz Europa zu verspielen. Der inneramerikanische Stimmungswandel fand im Ergebnis der Zwischenwahlen vom November 1946 seine Bestätigung, als die Republikaner in beiden Häusern des Kongresses Mehrheiten errangen. Nach ihrer Abkehr vom Isolationismus der 1930er Jahre waren sie nun bereit, mit dem Präsidenten bei der Durchsetzung zahlreicher wegweisender Entscheidungen zusammenzuarbeiten. Dazu gehörten in erster Linie das Engagement der USA auf dem Balkan, wo die Briten der Lage nicht mehr Herr wurden, und ein umfassendes wirtschaftliches Aufbauprogramm für Europa, das Unterstaatssekretär Dean Acheson angeregt hatte und das unter dem Namen seines neuen Vorgesetzten im State Department, George C. Marshall, als „Marshall-Plan“ in die Geschichte einging. Das Verlangen nach 400 Millionen Dollar Hilfsgeldern für die antikommunistischen Kräfte in Griechenland und in der Türkei begründete der Präsident am 12. März 1947 in einer Rede vor dem Kongress mit der „Truman-Doktrin“: Sie besagte, „dass es die Politik der Vereinigten Staaten sein muss, die freien Völker zu unterstützen, die sich der Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von außen widersetzen“. Hier lag schon der Keim der Domino-Theorie, Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 292 <?page no="293"?> die später auch auf andere Weltgegenden angewendet wurde. Der republikanische Senator Arthur H. Vandenberg warnte davor, die UNO zu übergehen und einen direk‐ ten Zusammenstoß mit der Sowjetunion zu riskieren. Die klaren Mehrheiten für Trumans Initiative im Repräsentantenhaus und im Senat bedeuteten aber den ersten Sieg der bipartisanship, einer auf breiten Konsens gegründeten, parteiübergreifenden Außenpolitik. Um diese Zeit begann auch die amerikanische Involvierung in den Nahostkonflikt, weil Truman - entgegen dem Rat des State Department, das gute Beziehungen zu den ölreichen arabischen Staaten suchte - die Teilung Palästinas und die Anerkennung des Staates Israel befürwortete. Neben dem ehrlichen Mitgefühl für die Opfer und Überlebenden des Holocaust spielten dabei auch taktische Überlegungen im Hinblick auf die jüdischen Stimmen im Wahlkampf von 1948 sowie Befürchtungen einer jüdischen Einwanderungswelle in die USA eine Rolle. Allerdings lehnte Truman ein militärisches Eingreifen der USA ab und überließ es privaten amerikanischen Organisationen, die Israelis im Kampf gegen die Araber zu unterstützen. Von 1945 bis Anfang 1947 hatten die USA über 11 Milliarden Dollar Hilfsgelder nach Europa gepumpt, ohne den allgemeinen Niedergang aufhalten zu können. Im März 1947 erstattete der ehemalige Präsident Herbert Hoover einen alarmierenden Bericht über die Zustände in Europa, der die Truman-Administration zum Umdenken und raschen Handeln zwang. Nach intensiven Vorarbeiten, an denen Dean Acheson, George F. Kennan und W. Averell Harriman maßgeblich beteiligt waren, warb Außenminister Marshall am 5. Juni 1947 in einer Rede an der Harvard University für ein European Recovery Program, das den wirtschaftlichen circulus vitiosus durchbrechen und den Europäern wieder Vertrauen in die Zukunft ihrer Länder und des gesamten Kontinents geben sollte. Innenpolitisch fand das Wiederaufbauprogramm in den USA breite Un‐ terstützung, denn seine interventionistischen und planerischen Elemente erinnerten die Demokraten an den New Deal, während das Streben nach internationaler Arbeits‐ teilung, stabilen Währungen und soliden Finanzen den Vorstellungen der Republikaner entsprach. Auf der Grundlage des Economic Cooperation Act, den der Kongress im April 1948 verabschiedete, flossen bis 1952 ca. 14 Milliarden Dollar als Zuschüsse und Kredite an insgesamt 16 Länder einschließlich Westdeutschlands. Die Sowjetunion lehnte eine Beteiligung ab und zwang Polen und die Tschechoslowakei , die bereits erteilte Zusage zurückzunehmen. Der Marshall-Plan trug dazu bei, die „Dollarlücke“ zu schließen, die auf Grund der Importbedürfnisse und der Ausfuhrschwäche der europäischen Länder entstanden war. Mit einem Anteil von 1,6 Milliarden Dollar standen die Westzonen bzw. die Bundesrepublik Deutschland nach Großbritannien, Frankreich und Italien an vierter Stelle der Empfängerstaaten. Aus dem amerikanischen GARIOA-Programm (Government and Relief in Occupied Areas) erhielten die Deutschen aber noch einmal die gleiche Summe. Diese Finanzhilfe glich in den Nachkriegsjahren das Defizit der westdeutschen Handelsbilanz aus, wirkte psychologisch als Initialzündung für die Wiederbelebung der Wirtschaft und bereitete die Integration in den Weltmarkt vor. Darüber hinaus gab der Marshall-Plan durch die Einrichtung des Europäischen Wirtschaftsrats (Organization of European Economic Cooperation, OEEC) im April 1948 1 Die Anfänge des Kalten Krieges und die Grundlegung der nationalen Sicherheit, 1946 - 1953 293 <?page no="294"?> den ersten Anstoß zu einer westeuropäischen Integration, von der sich die USA die Lösung der Ruhrfrage und des alten „Sicherheitsdilemmas“ zwischen Deutschland und Frankreich versprachen. Vor diesem Hintergrund entstand 1950 - auf Initiative Jean Monnets, der gute Kontakte in die USA unterhielt - der Schuman-Plan, der zur Montanunion und später zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) führte. Im Rahmen des 1947 getroffenen General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) vollzogen die USA nun auch allmählich die Abkehr von der Hochschutzzoll-Politik der Zwischenkriegszeit. Die Amerikaner förderten also bewusst die wirtschaftliche Kon‐ kurrenz Westeuropas, in der Erwartung, dass ein dichter Handels- und Kapitalverkehr allen Seiten zugutekommen würde. Punkt IV des Marshall-Plans bildete schließlich die Keimzelle der Entwicklungshilfe für die „Dritte Welt“, die in den 1950er und 1960er Jahren immer wichtiger werden sollte. Auf der Negativseite dieser Stabilisierungs- und Rekonstruktionspolitik standen offene und verdeckte politische Einmischungen, speziell in Italien, wo Vertreter Washingtons offenbar nicht nur mit den konservativen Parteien, sondern sogar mit Mafiakreisen zusammenarbeiteten, um die Kommunisten von der Regierungsverantwortung fern zu halten. Nach dem Scheitern der Moskauer Außenministerkonferenz im März 1947 trieben die Amerikaner ihre europäischen Partner zur „Weststaatsgründung“ in Deutschland voran, die nun immer deutlicher antikommunistische und antisowjetische Züge erhielt. Eine vorübergehende Teilung Deutschlands wurde in Kauf genommen, um die drei Besatzungszonen fest an den Westen zu binden und die gemeinsame Front gegen die Sowjetunion sicherzustellen. Die Währungsreform im Juni 1948 schuf die Vorausset‐ zung für die Einbeziehung Westdeutschlands und West-Berlins in den Marshall-Plan, provozierte allerdings die sowjetische Berlin-Blockade, die kurzfristig die Furcht vor einem dritten Weltkrieg aufkommen ließ. Truman lehnte die Vorschläge der Militärs ab, mit Bodentruppen den Zugang nach Berlin zu erzwingen, beauftragte dafür aber Clay mit der Organisation einer britisch-amerikanischen Luftbrücke. Auf ca. 270.000 Flügen brachten die „Rosinenbomber“ bis Mai 1949 2,5 Millionen Tonnen Versorgungsgüter in die alte Reichshauptstadt und stellten damit Überleben und Freiheit der Menschen in den drei Westsektoren sicher. Die Sowjetunion lenkte schließlich in Verhandlungen am Sitz der UNO in New York ein, strebte nun aber ihrerseits eine Staatsbildung in der östlichen Besatzungszone an. Für Westdeutsche und Amerikaner wurde das Erlebnis der Luftbrücke endgültig zum psychologischen Wendepunkt von der Kriegszur Nachkriegszeit. Besonders in der jüngeren Generation setzte sich ein positives Amerikabild durch, das auf lange Zeit hinaus das öffentliche Bewusstsein und das geistig-kulturelle Klima bestimmte. Amerikanische Verfassungsexperten und aus den USA zurückgekehrte Emigranten begleiteten den Weg, der von der Londoner Konferenz im Frühjahr 1948 über die „Frankfurter Dokumente“ und den Parlamentarischen Rat in Bonn am 23. Mai 1949 zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland führte. Sie vermittelten zwischen den zentralistisch eingestellten Briten und den Franzosen, die ein möglichst dezentrales, konföderatives Deutschland wünschten. Die westdeutschen Verfassunggeber übernah‐ Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 294 <?page no="295"?> men nicht das präsidentielle Regierungssystem der USA, sondern folgten der eigenen und der europäischen Tradition des Parlamentarismus. Aus amerikanischer Sicht entsprach das Grundgesetz mit seiner föderativen Struktur und festen Verankerung der Grundrechte jedoch im Wesentlichen den an eine demokratische Neuordnung geknüpften Erwartungen. Zuvor hatte Clay schon durch seine Weigerung, die So‐ zialisierungsklausel in der hessischen Verfassung zu akzeptieren, einen Beitrag zur Wiederherstellung des marktwirtschaftlichen Systems geleistet. Die alliierte Kontrolle blieb auch nach Gründung der Bundesrepublik durch Ruhrbehörde und Besatzungss‐ tatut sowie durch die Viermächte-Verantwortung für Berlin erhalten. In der Hohen Kommission auf dem Petersberg bei Bonn waren die USA nun durch den ehemaligen stellvertretenden Kriegsminister und ersten Präsidenten der Weltbank, John J. McCloy, vertreten. Wenn Amerikaner in den 1950er Jahren auf die Besatzungszeit zurückschauten, fiel die Bilanz keineswegs einhellig positiv aus. Es überwogen sogar besorgte, pes‐ simistische Stimmen, die darauf verwiesen, dass die NS-Vergangenheit trotz der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und der „Entnazifizierung“, die OMGUS in der amerikanischen Zone auf bürokratische Weise mittels Millionen von Fragebö‐ gen betrieben hatte, nicht wirklich bewältigt, sondern lediglich verdrängt worden sei. Viele Initiativen zur Beeinflussung der deutschen Mentalität durch Reeducation bzw. Reorientation und zur Umgestaltung der Gesellschaft im demokratischen Sinne waren - etwa im Schulwesen und im Beamtenrecht - am Traditionsbewusstsein und konservativen Beharrungswillen der Deutschen abgeprallt. Die Dekartellisierung hatte den Einfluss der Wirtschaftseliten nicht gebrochen, und ihre ökonomischen Effekte fielen bereits einem neuen Konzentrationsprozess zum Opfer. Im Zeichen des militanten Antikommunismus schien sich in der Bundesrepublik eine „Restauration“ zu vollziehen, die erneut gefährliche illiberale, antidemokratische Tendenzen zum Vorschein brachte. Solche Behauptungen waren nicht aus der Luft gegriffen, und sie wurden auch von etlichen Westdeutschen geteilt. Die Kritiker unterschätzten aber, in welch hohem Maße westliches Gedankengut und Wertebewusstsein insbesondere durch persönliche Kontakte, die Literatur, die Medien und durch Amerikaaufenthalte bereits nach Deutschland eingeflossen waren. Diese vielfältigen Bemühungen trugen schon Früchte, bevor die Bundesrepublik ab 1953 offiziell an dem von Senator J. William Fulbright initiierten akademischen Austauschprogramm teilnahm. Trotzdem dauerte es noch einige Zeit, bis auch die skeptischeren Amerikaner erkannten, dass in Westdeutschland mit ihrer Unterstützung eine lebensfähige, friedfertige und wirt‐ schaftlich prosperierende Demokratie entstand, die wesentlich zur Stabilisierung und Erholung des Alten Kontinents beitrug. Während Clay und OMGUS in Deutschland nur eine von mehreren Besatzungs‐ mächten repräsentierten, behielten die USA in Japan - zur Verärgerung der Moskauer Führung - das Heft allein in der Hand. Deshalb drohte auch keine Teilung des Landes, wenngleich die Japaner alle Pazifik- und Festlandsbesitzungen verloren. Die USA selbst übernahmen als UNO-Treuhänder die strategisch wichtigen Inselgruppen der 1 Die Anfänge des Kalten Krieges und die Grundlegung der nationalen Sicherheit, 1946 - 1953 295 <?page no="296"?> Marianen, Karolinen und Marshall Islands. Anders als Deutschland wurde Japan durch den Supreme Commander for Allied Powers, General Douglas MacArthur, nur indirekt regiert, weil trotz der bedingungslosen Kapitulation eine japanische Regierung im Amt blieb. Das oberste Gebot der Japan-Planungen, die seit 1942 im State Department liefen, lautete, den japanischen Militarismus zu beseitigen und eine gewaltsame Expansion auf Dauer unmöglich zu machen. In diesem Sinne oktroyierte MacArthur im November 1946 eine radikal-demokratische Verfassung, die eine Ächtung des Krieges und die völlige Entmilitarisierung Japans vorsah. Der Tenno verlor zwar seine quasi-göttliche Stellung und wurde auf repräsentative Funktionen beschränkt; er blieb jedoch als geistig-kulturelles Oberhaupt und als Symbol der nationalen Einheit erhalten. Ansonsten waren die Eingriffe der Besatzungsmacht in den ersten drei Jahren nach dem Krieg noch radikaler als in Deutschland. Die Amerikaner ermutigten linksgerichtete Bewegungen und Gewerkschaften, die sich Anfang 1947 bei den ersten nationalen Wahlen durchsetzten. Die politische Säuberung und Demokratisierung wurde von tief greifenden Wirtschaftsreformen flankiert. Eine Bodenreform beseitigte den Großgrundbesitz und sorgte dafür, dass bis 1950 80 Prozent des Ackerlandes in die Hände von Kleinbauern überging. Im industriellen Sektor und im Bankenwesen begann die „Entflechtung“ der großen Unternehmensgruppen (zaibatsu), die das japanische Wirtschaftsleben beherrscht hatten. Die Wende zu einer konservativeren Politik erfolgte 1948, als das State Department auf Grund eines Berichts von George F. Kennan die Beendigung der Reparationen und Sozialisierungsexperimente forderte, damit Japan durch vermehrte Exporte zur wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit zurückkehren könne. Der Bankier Joseph Dodge entwarf ein hartes Spar- und Exportförderungsprogramm, das die neue konservative Regierung ab Ende 1948 zur Grundlage ihrer Wirtschaftspolitik machte. Seine Verwirk‐ lichung setzte aber die Versorgung der Japaner mit Rohstoffen aus den Gebieten des „pazifischen Randes“ voraus, für die sich die USA von nun an verantwortlich fühlten. Im Friedensvertrag vom 8. September 1951 verzichtete Japan endgültig auf alle seit 1854 gemachten territorialen Erwerbungen. Die USA behielten die Insel Okinawa als Stützpunkt und schlossen einen Militärvertrag ab, der die Stationierung amerika‐ nischer Truppen in Japan vorsah. Daraufhin erhielt Japan 1952 seine volle staatliche Souveränität zurück. Flottenbasen und Luftstützpunkte hatten sich die Amerikaner auch auf den Philippinen gesichert, als sie 1946 ihr zwölf Jahre zuvor gegebenes Un‐ abhängigkeitsversprechen wahrmachten. Die USA waren keine Kolonialmacht mehr, aber ihre politisch-militärische Präsenz trug nun einen wahrhaft globalen Charakter. Die japanische Bevölkerung fand - wie die deutsche - rasch ein positives Verhältnis zu den Amerikanern, und die Führungseliten akzeptierten ohne Widerstand die insti‐ tutionellen Reformen der Besatzungsmacht. Dagegen erwiesen sich die traditionelle politische Kultur und das soziale Wertesystem Japans als außerordentlich resistent gegen äußere Einflüsse. Mentalitätsmäßig blieben die Japaner, die sich kaum mit ihrer jüngeren Geschichte auseinandersetzten, den Amerikanern fremder als die Deutschen. Wichtiger war aber aus amerikanischer Perspektive die Einbeziehung Japans in das Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 296 <?page no="297"?> liberal-kapitalistische Wirtschaftssystem und in die politische Gemeinschaft der „freien Welt“. Auch nach der Zulassung von „Selbstverteidigungsstreitkräften“ lebten der japanische Militarismus und Expansionismus nicht wieder auf. Vielmehr gewann Japan in den 1950er Jahren als regionale Gegenmacht gegen das kommunistische China immer mehr an Bedeutung für die Vereinigten Staaten. Die Neuordnung der Exekutive und der Aufbau des amerikanischen Bündnissystems Das containment-Konzept geht auf den Diplomaten George F. Kennan zurück, der Ende der 1930er Jahre in Berlin stationiert war und während des Krieges als Berater von US-Botschafter Harriman in Moskau fungierte. Im Februar 1946 sorgte sein 8000 Worte umfassendes „langes Telegramm“, in dem er die Motive der sowjetischen Außenpolitik analysierte, für Aufsehen im State Department. Eineinhalb Jahre später, als er bereits im Policy Planning Staff des State Department tätig war, fasste er seine Gedanken in einem mit „X“ gezeichneten Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs zusammen. Sie diente als Sprachrohr des Council on Foreign Relations in New York, der unter dem Vorsitz von John McCloy zum informellen Forum des außenpolitischen Establishments der USA wurde. Der „X“-Artikel charakterisierte die Sowjetunion als einen von totalitärer Ideologie und paranoiden Unsicherheitsgefühlen zu grenzenloser Expansion vorangetriebenen Staat. Westliches Entgegenkommen würde diesen Drang - ebenso wie es das Appeasement im Falle Hitlers getan hatte - nur noch verstärken. Um die Russen zu stoppen, sei es vielmehr nötig, eine Politik der entschlossenen Eindämmung (firm containment) zu betreiben, die sie an jedem Punkt, wo sie die Interessen einer friedlichen und stabilen Welt zu verletzen suchten, mit unüberwindlicher Gegenmacht konfrontiere. Kennan wollte „Eindämmung“ in erster Linie als eine diplomatische, nicht eine mi‐ litärische Strategie verstanden wissen. Der Truman-Administration und dem Kongress lieferte das containment-Konzept die geeignete geistige Grundlage für ein System von Institutionen und Bündnissen, mit deren Hilfe die USA den Kalten Krieg führten. Durch den Aufbau dieses Systems erwarb sich Präsident Truman, der im Vergleich zu seinem kultivierten, weltläufigen Amtsvorgänger wie ein schlichtes Gemüt wirkte und deshalb von vielen Amerikanern zunächst nicht recht ernst genommen wurde, den Ruf eines großen Gestalters der Nachkriegswelt. Die rasche Demobilisierung der amerikanischen Streitkräfte von über 8 Millionen 1945 auf ca. 2 Millionen 1946 erkannte er bald als Fehler, der durch Maßnahmen zur Verbesserung der Verteidigungsbereitschaft behoben werden musste. Psychologisch und rechtlich blieb der „nationale Notstand“ des Zweiten Weltkrieges bestehen, und der exekutive Machtapparat wurde nicht weiter reduziert, sondern noch ausgebaut. Die wichtigsten Neuerungen brachte der National Security Act von 1947, der die politisch-militärische Führungsstruktur reorganisierte und straffte. Das Verteidigungsministerium (Department of Defense) mit Sitz im 1941 / 42 errichteten Pentagon vereinigte die bisherigen Ministerien für Krieg und Marine, 1 Die Anfänge des Kalten Krieges und die Grundlegung der nationalen Sicherheit, 1946 - 1953 297 <?page no="298"?> und die Joint Chiefs of Staff übernahmen auch in Friedenszeiten die Koordinierung der Teilstreitkräfte. Das Ende 1945 aufgelöste Office of Strategic Services wurde durch eine Central Intelligence Agency (CIA) ersetzt, die dem Präsidenten direkt unterstand und die für die Sammlung und Auswertung geheimer Informationen, Gegenspionage und Special Operations wie Sabotage, Subversion und paramilitärische verdeckte Aktionen (covert action) zuständig war. Die CIA bildete seither den Mittelpunkt einer rasch expandierenden intelligence community, zu der auch die militärischen Geheimdienste und die für die Entschlüsselung des Funkverkehrs zuständigen Stellen gehörten. Als politisches Spitzengremium etablierte das Gesetz den Nationalen Sicherheitsrat (National Security Council, NSC), dem Präsident, Vizepräsident, Außenminister und Verteidigungsminister als feste Mitglieder angehören und zu dessen Sitzungen andere Minister, hohe Beamte und Militärs zugezogen werden können. Seine Aufgabe besteht darin, den Präsidenten in allen die Innen-, Außen- und Militärpolitik betreffenden Fragen zu beraten, die für die nationale Sicherheit relevant sind. Der Nationale Sicher‐ heitsrat wurde Teil des 1939 eingerichteten Executive Office of the President, dem andere wichtige Beratergremien wie das Bureau of the Budget und der Council of Economic Advisers angehören und das wiederum vom engsten Führungsstab des Präsidenten im White House Office koordiniert wird. Damit setzte sich die unter Roosevelt begonnene Zweiteilung der Exekutive in Ministerialbürokratie und persönlichen Beraterkreis des Präsidenten fort. Wie man es bislang nur in Kriegszeiten gewohnt gewesen war, lag der Schwerpunkt der Macht nun permanent im Weißen Haus, dessen Mitarbeiter sich der parlamentarischen und öffentlichen Kontrolle eher entziehen konnten als die Repräsentanten der Ministerialbürokratie. Mit dem Executive Office und dem White House Office verfügte der Präsident über eine „Hausmacht“, die dem Ehrgeiz und den steigenden Ansprüchen der imperial presidency genügte. Die wichtigsten Entscheidungen wurden häufig nicht mehr im Kabinett, sondern in anderen exekutiven Gremien oder ad hoc-Komitees unter dem Vorsitz des Präsidenten getroffen. Trotz vieler Umgliederungen hielt die Wachstumstendenz dieser präsidentiellen Exekutive, die Kritiker als „Prätorianergarde“ oder „republikanischen Hof “ bezeichneten, bis in die 1980er Jahre an. Trumans Geradlinigkeit und Durchsetzungsvermögen zahlten sich bei der Wahl von 1948 aus, als der Präsident allen Meinungsumfragen zum Trotz klar im Amt bestätigt wurde. In der Außenpolitik vollzog die Truman-Administration eine geradezu revolu‐ tionäre Wende, indem sie mit dem seit Washingtons und Jeffersons Zeiten geltenden Grundsatz brach, keine langfristigen, bindenden Verpflichtungen einzugehen. Haupt‐ motive waren dabei zum einen die Erkenntnis, dass ein kollektives Sicherheitssystem im Rahmen der UNO wegen der Veto-Politik der Sowjetunion nicht zustande kommen würde, zum anderen die Schwäche Großbritanniens, die in Europa und im Nahen Osten aus amerikanischer Sicht ein Machtvakuum entstehen ließ. Diese Schwäche war schon Ende 1945 offensichtlich geworden, als die USA das englische Währungssystem mit einem 3,75 Milliarden-Dollar-Kredit stützen mussten (wofür Washington im Gegenzug den Abbau der Empire-Schutzzölle verlangte). Sie äußerte sich später noch Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 298 <?page no="299"?> krasser in der überhasteten Rückgabe des Palästina-Mandats an die UNO und in der Ablehnung weiterer Verantwortung für die Türkei und Griechenland. Vor diesem Hintergrund entschieden sich die USA und Kanada im April 1949 für die Mitgliedschaft im Brüsseler Pakt, den Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Länder ein Jahr zuvor zum Schutz gegen ein wiedererstarkendes Deutschland geschlossen hatten. Dem Vertrag über die North Atlantic Treaty Organization (NATO), der zunächst für zwanzig Jahre gelten sollte, traten noch fünf weitere europäische Staaten bei. Er bestimmte, dass ein bewaffneter Angriff auf eines oder mehrere Paktmitglieder in Europa oder Nordamerika als ein Angriff auf alle Verbündeten betrachtet werden würde. Der potenzielle Angreifer, den man im Auge hatte, war nun aber nicht mehr Deutschland, sondern die Sowjetunion. Durch die NATO, für die der Kongress gleich im ersten Jahr 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe bewilligte, verbanden die USA ihr eigenes Schicksal nahezu untrennbar mit dem Westeuropas. Den gleichen Schritt taten die Kanadier, die den Isolationismus der Zwischenkriegszeit ebenfalls überwunden hatten und - trotz fortbestehender kultureller Vorbehalte gegen den American way of life - ihre im Krieg begonnene militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den USA intensivierten. Die Regierung in Ottawa, die sich als Sprecher einer „Mittelmacht“ zwischen den Supermächten und den schwachen Staaten verstand, legte allerdings mindestens ebenso großen, wenn nicht größeren Wert auf eine konstruktive Mitarbeit in den Vereinten Nationen. Der Nordatlantik-Pakt wurde zum Kern eines weltumspannenden amerikanischen Bündnissystems, das im ersten Nachkriegsjahrzehnt Gestalt annahm und das aus einer Reihe von recht unterschiedlich strukturierten bilateralen und multilateralen Verträgen bestand. Vorangegangen waren bereits der Inter-American Treaty of Reciprocal Assis‐ tance von Rio de Janeiro (Rio-Pakt, 1947), der die kollektive Sicherheit in der westlichen Hemisphäre verbürgen sollte; und die Gründung der Organization of American States (OAS) im Jahr 1948, die den politischen Rahmen für die interamerikanische Koopera‐ tion und Konfliktlösung bildete. In den 1950er Jahren folgten dann ein dreiseitiger Defensivpakt mit Australien und Neuseeland (ANZUS, 1951), der sich ursprünglich gegen Japan richtete; ein Mutual Defense Pact mit den Philippinen (1951); Militär- und Sicherheitsverträge mit Japan (1951 / 1960), Südkorea (1953) und Formosa / Taiwan (1954); die South East Asian Treaty Organization (SEATO, 1954), zu der sich die USA mit Großbritannien, Frankreich, Australien, Neuseeland, Pakistan, Thailand und den Philippinen zusammenschlossen, um den Schutz der Länder des „pazifischen Randes“ zu gewährleisten; sowie schließlich die Central Treaty Organization (CENTO), der umgetaufte Bagdad-Pakt von 1955, der als Bindeglied zwischen NATO und SEATO gedacht war und von dem die USA erwarteten, dass er den Nahen und Mittleren Osten gegen ein sowjetisches Vordringen absichern werde. Washington trat dem Pakt 1956 formell nur als Beobachter bei, übernahm aber nach dem Ausscheiden des Irak 1958 / 59 durch den Abschluss zweiseitiger Beistandsabkommen mit der Türkei, Iran und Pakistan eine führende Rolle. In einer separaten Übereinkunft mit 1 Die Anfänge des Kalten Krieges und die Grundlegung der nationalen Sicherheit, 1946 - 1953 299 <?page no="300"?> Saudi-Arabien sicherten sich die USA strategisch wichtige Luftwaffenstützpunkte gegen Militärhilfeleistungen an Riad. NSC 68 und der Korea-Krieg Im Jahr der NATO-Gründung und der Entstehung zweier deutscher Staaten, 1949, herrschte in der Truman-Administration Krisenstimmung. Im September lagen sichere Hinweise auf einen russischen Atombombenversuch vor, der die Sowjetunion in den Rang einer Supermacht hob. Mit Hilfe ihrer Atomspione in den USA, die erst später enttarnt werden konnten (die Entzifferung der abgefangenen Funksprüche dauerte teilweise bis in die 1960er Jahre), war es den Sowjets gelungen, die Bauzeit ihrer eigenen Atombombe um ca. zwei Jahre zu verkürzen. Der nächste Schlag erfolgte in Asien: Wenige Wochen nach dem sowjetischen A-Bomben-Test mussten die Anhänger Chiang Kai-scheks, den Washington bis zuletzt, wenn auch zunehmend halbherzig, unterstützt hatte, vor den kommunistischen Truppen nach Formosa fliehen. Dieser „Verlust Chinas“ schockierte die amerikanische Öffentlichkeit und brachte die Truman-Admi‐ nistration in Bedrängnis. Anfang 1950 folgte der Abschluss eines sowjetisch-chine‐ sischen Militär- und Wirtschaftshilfevertrags, der die USA mit einem mächtigen kommunistischen „Block“ konfrontierte. Gesteigert wurde die Besorgnis noch durch eine Rezession im eigenen Land und Schwierigkeiten im Handelsverkehr mit Europa und Japan, die den Erfolg von Marshall-Plan und Dodge-Plan in Frage stellten. In dieser Situation beauftragte Truman den Nationalen Sicherheitsrat mit einer generellen Überprüfung der amerikanischen Außenpolitik und der Festlegung neuer diplomati‐ scher und militärischer Prioritäten. Nach ausführlichen, streng geheimen Beratungen auf höchster Ebene lag der Bericht, verfasst hauptsächlich vom neuen Außenminister Dean Acheson und dem Chef des Policy Planning Staff, Paul Nitze, am 7. April 1950 als National Security Memorandum No. 68 dem Präsidenten vor. NSC 68 markierte die ideologischen und praktischen Leitlinien, denen die Politik der USA im Kalten Krieg folgte, und es gilt deshalb seit seiner Veröffentlichung 1977 (und mehr noch seit dem Ende des Kalten Krieges) als eines der wichtigsten Dokumente in der amerikanischen Geschichte. Die Autoren beriefen sich auf die grundlegenden Prinzipien und Werte von Unabhängigkeitserklärung, Verfassung und Bill of Rights und warnten, dass in der Auseinandersetzung mit der expansiven Sowjetunion „die Erfüllung oder Zerstörung nicht nur dieser Republik, sondern der Zivilisation selbst“ auf dem Spiel stehe. Die Idee der Freiheit in einem Rechtsstaat und die Idee der Sklaverei unter der Herrschaft des Kreml seien diametrale, unversöhnliche Gegensätze. Deshalb bedeute in der gegenwärtigen Situation polarisierter Macht „eine Niederlage freier Institutionen an irgendeinem Ort eine Niederlage überall auf der Welt“. Ein Präventivkrieg gegen die neuen totalitären Mächte komme für die USA aus moralischen Gründen nicht in Frage. Vielmehr gehe es darum, durch eine umfassende geistig-materielle Stärkung des eigenen Landes und der Bündnispartner den kommunistischen Expansionsdrang zu brechen und auf diese Weise „eine fundamentale Änderung des sowjetischen Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 300 <?page no="301"?> Systems“ zu bewirken, die möglichst von innen heraus erfolgen sollte. Ein passives containment reiche nicht aus, sondern gefordert sei „in unserem eigenen Interesse die Verantwortung der Weltführerschaft“. Aktive Eindämmungspolitik könne nur auf der Basis militärischer Überlegenheit betrieben werden, aber sie müsse jederzeit eine Tür für Verhandlungen offen lassen, um der Sowjetführung „Rückzüge und Anpassungen in Richtung eines gemäßigten Verhaltens“ zu ermöglichen. Gleichzeitig gelte es, ein Abdriften der Alliierten und potenziellen Verbündeten in die Neutralität zu verhindern: „Wenn dies in Deutschland geschehen würde, wäre die Wirkung auf Westeuropa und am Ende auch auf die USA vermutlich katastrophal.“ Als konkrete Maßnahmen wurden vorgeschlagen eine massive Aufrüstung im konventionellen Bereich und der Bau der Wasserstoffbombe; die Erhöhung der Militär- und Wirtschaftshilfe an verbündete und befreundete Staaten; offene psychologische Kriegführung und verdeckte subversive Interventionen zur Unterminierung des kommunistischen Herrschaftsbereichs; und in den USA selbst die Reduzierung der normalen Staatsausgaben zu Gunsten von Rüstungs- und Zivilschutzprogrammen. Hinter diesem Dokument stand die Vision der „einen Welt“, die das amerikanische Regierungs- und Wirtschaftssystem angeblich zur optimalen Entfaltung benötigte. Sie sollte nun, nachdem sich die Vereinten Nationen in dieser Hinsicht als ungeeignet erwiesen hatten, durch eine Hegemonie der USA verwirklicht werden. Auf der einen Seite war NSC 68 Ausdruck eines manichäischen Weltbildes, das nach klaren Unterscheidungen zwischen „Gut“ und „Böse“ verlangte und das - entgegen den ursprünglichen Absichten Kennans - die Militarisierung des Kalten Krieges förderte. Andererseits deuteten die Verfasser mit ihrer Empfehlung, Verhandlungsspielräume auszuloten und die inneren Schwächen der Sowjetunion zu nutzen, auch schon die Pendelschwünge zwischen Konfrontation und Entspannung an, mit denen die ameri‐ kanische Außenpolitik in den folgenden Jahrzehnten gelegentlich Freund und Feind verwirrte. Im Prinzip hielten sich aber alle amerikanischen Regierungen von Truman bis Bush Senior an die Vorgaben von NSC 68, und die Mehrheit der Bevölkerung blieb bis zum Ende des Kalten Krieges im Banne der Ideologie und Mentalität, die aus dem Memorandum sprechen. Der Ausbruch des Koreakriegs im Juni 1950 trug entscheidend dazu bei, dass das in NSC 68 vorgezeichnete Programm schnell akzeptiert und in die Tat umgesetzt wurde. Nach dem nordkoreanischen Angriff auf den Süden des Landes, den die Amerikaner bereits geräumt hatten, fanden alternative Vorstellungen, wie sie etwa Kennan vertrat, kaum noch Gehör. Am 30. September 1950, als amerikanische Truppen unter dem Kommando General MacArthurs bei Seoul im Rücken der Nordkoreaner gelandet waren, unterzeichnete Präsident Truman das Memorandum und legte die amerika‐ nische Politik damit langfristig fest. Der Koreakrieg muss als Teil eines größeren Ringens um die Länder des „pazifischen Randes“ gesehen werden. Die Amerikaner vermuteten zu Recht, dass Moskau dem nordkoreanischen Präsidenten Kim Il Sung grünes Licht für den Vorstoß über die Demarkationslinie am 38. Breitengrad gegeben hatte. Aus der Sicht Washingtons ging es darum, die Glaubwürdigkeit gegenüber den 1 Die Anfänge des Kalten Krieges und die Grundlegung der nationalen Sicherheit, 1946 - 1953 301 <?page no="302"?> Verbündeten zu wahren, mehr aber noch, die „asiatische Peripherie“ offen zu halten, ohne die Japans Wirtschaft isoliert und stranguliert zu werden drohte. Truman ließ die militärische Gegenaktion, an der sich insgesamt 15 Staaten beteiligten, durch die Vereinten Nationen sanktionieren, wobei ihm zugutekam, dass die Sowjetunion wegen der China-Formosa-Frage gerade den Sicherheitsrat boykottierte. Als der sowjetische Delegierte in den Rat zurückkehrte, verlagerten die USA das Entscheidungszentrum der Weltorganisation durch die uniting for peace-Resolution kurzerhand in die Gene‐ ralversammlung, in der die westlichen Länder noch über eine sichere Mehrheit geboten. Nach der Rückeroberung Südkoreas ignorierte Truman chinesische Warnungen und gab als neues Kriegsziel ein „vereintes, unabhängiges und demokratisches Korea“ aus. Der Vormarsch der UNO-Truppen verwandelte sich jedoch in einen fluchtartigen Rückzug, als im Oktober 1950 die chinesische Armee in den Krieg eingriff. Stalin hatte die zögerliche Führung in Peking zu dieser Intervention gedrängt und sie sogar ermutigt, das Risiko eines Weltkriegs in Kauf zu nehmen, da die Westmächte militärisch noch unterlegen seien. Es bedurfte einer erneuten alliierten Gegenoffensive, um Seoul zurückzuerobern und die Front in der Nähe der alten Demarkationslinie zu stabilisieren. Während ursprünglich laut Umfragen 77 Prozent der Amerikaner Trumans Kurs gutgeheißen hatten, befürworteten nun 66 Prozent einen Truppenabzug, und fast die Hälfte der Befragten hielt die ganze Aktion für einen Fehler. MacArthur wollte dagegen bis zum Sieg weiterkämpfen und notfalls sogar Atombomben gegen China einsetzen. Im April 1951 enthob ihn Truman seines Kommandos, um eine weitere Eskalation zu vermeiden und den Vorrang der zivilen vor der militärischen Führung zu demonstrieren. Politisch schadete dieser spektakuläre Konflikt beiden: Trumans Popularitätskurve fiel derart steil ab, dass der Präsident seine Hoffnungen auf eine Wiederwahl begraben musste, und MacArthur scheiterte 1952 mit seiner Bewerbung für die Präsidentschaftskandidatur der Republikanischen Partei. In Trumans Amtszeit begannen noch Waffenstillstandsverhandlungen, die dann unter Eisenhower im Juli 1953 zu einem Abkommen und zur bis heute fortdauernden Teilung Koreas führten. Für die Amerikaner ging ein verlustreicher Krieg zu Ende, der sie über 54.000 Tote und ca. 100.000 Verwundete kostete und der 54 Milliarden Dollar an Militärausgaben verschlungen hatte. Obgleich in Korea praktisch der Status quo wiederhergestellt worden war, zeitigte der Krieg weltweit bedeutsame wirtschaftliche und politische Konsequenzen. Unter seinem Eindruck verwirklichten die USA das in NSC 68 vorgesehene Rüstungsprogramm, durch das die Eindämmungsstrategie ein materielles Fundament erhielt. Zwischen 1950 und 1953 stiegen die jährlichen Militärausgaben von 13 auf knapp 50 Milliarden Dollar und von 5 auf 13 Prozent des Bruttosozialprodukts; nach einem leichten Rückgang Mitte der 1950er Jahre näherten sie sich bis 1960 diesem Niveau wieder an. Viel Geld wurde dafür verwendet, das weltweite Netzwerk der amerikanischen Stützpunkte auszubauen und zu festigen. Der Mutual Security Act von 1951 fasste die Wirtschafts- und Militärhilfe an die Verbündeten und an Entwicklungsländer zusammen und sah eine generelle Erhöhung der Leistungen vor. In dem Bemühen, den atomaren Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 302 <?page no="303"?> Vorsprung zu festigen, schreckten amerikanische Regierungs- und Militärbehörden - wie einer schockierten Öffentlichkeit erst in den 1990er Jahren offenbart wurde - nicht einmal davor zurück, Strahlenexperimente an nichts ahnenden Soldaten und Zivilisten vorzunehmen. Die erhoffte militärische Überlegenheit wurde allerdings nicht erreicht, da die Sowjetunion ab 1951 / 52 ebenfalls massiv aufrüstete und schon 1953 mit dem Besitz der Wasserstoffbombe gleichzog. Von nun an drehte sich die Spirale des Wettrüstens, die erst Ende der 1980er Jahre zum Stillstand kam. Ökonomisch wirkte die sprunghafte Steigerung der Rüstungsausgaben wie ein gewaltiges Konjunk‐ turprogramm, das die Wirtschaft in den USA und - über amerikanische Aufträge - auch in Kanada, Westeuropa und Japan ankurbelte. Insofern leistete der Koreakrieg einen Beitrag zum deutschen „Wirtschaftswunder“ und zur Überwindung der schweren Nachkriegsprobleme in Japan. Der Koreakrieg bereitete außerdem den Boden für die heftig umstrittene Wiederbe‐ waffnung Westdeutschlands, die in Washington bereits Anfang 1950 im Zusammen‐ hang mit der NSC 68-Studie erwogen worden war. Die Widerstände in der amerikani‐ schen Öffentlichkeit, bei den europäischen Verbündeten und in der Bundesrepublik selbst erlahmten, und auch sowjetische „Friedensoffensiven“ - die Stalin-Noten von 1952 und einige Initiativen während der „Tauwetter“-Periode zwischen Stalins Tod und dem Aufstand in der DDR im Juni 1953 - konnten die Entwicklung nicht mehr aufhalten. Als die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954 am Widerstand des französischen Parlaments scheiterte, setzten sich die USA umgehend dafür ein, die Bundesrepublik in die NATO zu integrieren. Aus der Sicht Washingtons war sie ein unerlässlicher Partner bei der Umsetzung der antisowjetischen Eindämmungsstrategie in Europa. Zugleich wurde die Bundesrepublik selbst aber durch die Mitgliedschaft in der NATO fest an den Westen gebunden und damit „gezähmt“ - ein amerika‐ nischer Kunstgriff, den man rückblickend häufig als dual containment bezeichnet. Die amerikanischen Truppen blieben auf deutschem Boden und wurden sogar noch verstärkt, galten aber nicht länger als „Besatzer“, sondern als NATO-Verbündete, die für die Sicherheit der Bundesrepublik und West-Berlins Mitverantwortung trugen. Washington unterstützte auch weiterhin nachdrücklich den Prozess der europäischen Einigung, der 1957 mit den Verträgen von Rom zur Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) eine wichtige Etappe erreichte. Um der teilweise heftigen innerdeutschen Kritik an einer „einseitigen“ Westbindung entgegenzuwirken und die von der Sowjetunion geförderten Neutralitätssehnsüchte in der Bundesrepub‐ lik zu dämpfen, begleitete die US-Regierung ihre Deutschland- und Europapolitik mit einer planmäßigen Propagandakampagne. Sie zielte darauf ab, das Bewusstsein einer westlichen Werte- und Schicksalsgemeinschaft zu fördern, das Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der Führungsmacht USA zu steigern und die Einsicht in die Notwendigkeit des westdeutschen Verteidigungsbeitrags zu stärken. Diese Meinungsbeeinflussung, die zuweilen an Manipulation grenzte, stand natürlich in einer gewissen Spannung zu den Bemühungen der Nachkriegszeit, die Deutschen zu mündigen Bürgern zu erziehen. Insgesamt gelang es den Amerikanern in den 1950er 1 Die Anfänge des Kalten Krieges und die Grundlegung der nationalen Sicherheit, 1946 - 1953 303 <?page no="304"?> Jahren aber recht gut, die widersprüchlichen Bedürfnisse einer gleichzeitig Demokra‐ tisierung und hegemoniale Kontrolle anstrebenden Deutschlandpolitik miteinander in Einklang zu bringen. 2 Politik und Gesellschaft in der Eisenhower-Ära, 1953 - 1960 Der McCarthyismus und das Problem der Bürgerrechte Der Koreakrieg wirkte in bedrückender Weise auch nach innen, auf die amerikanische Gesellschaft: Er steigerte die antikommunistischen Emotionen, die durch die Misser‐ folge in Osteuropa und China geweckt worden waren, zu einer hysterischen Verleum‐ dungs- und Verfolgungswelle. Die Dramatik dieses „Feindbildwechsels“ von Japanern und Deutschen zu Russen und Chinesen sowie vom Faschismus zum Kommunismus hing sicher damit zusammen, dass die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges von der amerikanischen Propaganda bewusst in hellen Tönen gemalt worden war. Umso heftiger war nun die Empörung über einen Gegner, der die amerikanische Hilfe offenbar ausgenutzt hatte, um sich selbst Vorteile zu verschaffen und das demokratische System der USA zu unterminieren. Die Furcht vor Verschwörungen, für die sich die Amerikaner in ihrer Geschichte immer wieder anfällig zeigten, fand in spektakulären Spionagefällen wie den Prozessen gegen einen hohen Mitarbeiter des State Department, Alger Hiss, und gegen das Ehepaar Julius und Ethel Rosenberg, die Atomgeheimnisse verraten hatten und 1953 auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurden, reichlich Nahrung. Die Jagd galt aber nicht nur sowjetischen Spionen, die es unzweifelhaft in beträchtlicher Zahl gab, sondern sie wuchs sich zu einem System der Gesinnungskontrolle aus, von dem hauptsächlich Staatsangestellte, Künstler und Intellektuelle betroffen waren. So gerieten etwa Filmemacher und Schauspieler aus Hollywood in das Fadenkreuz des (noch aus der Vorkriegszeit stammenden) Kongress‐ komitees für Un-American Activities, das ab 1947 öffentliche Anhörungen durchführte. Bereits 1947 hatte die Truman-Administration eine Loyalitätsüberprüfung für Bundes‐ angestellte eingeführt, die gut 3 Millionen Menschen erfasste und über 3000 von ihnen den Job kostete. Staatenregierungen, Gemeindeverwaltungen und Universitäten standen dem in ihrem patriotischen Eifer nicht nach, und die Presse schürte das latente Misstrauen gegen Radikale und Fremde. Selbst die Gewerkschaften verfolgten einen stramm antikommunistischen Kurs und boten sich für die Bekämpfung von Subversion und Sabotage an. Das Justizministerium erreichte 1948 unter Berufung auf den Smith Act aus dem Jahr 1940 die Verurteilung von elf führenden Funktionären der Kommu‐ nistischen Partei der USA, denen allenfalls die rhetorische Befürwortung von Gewalt nachgewiesen werden konnte. Dennoch bestätigte der Supreme Court 1951 die Urteile im Fall Dennis v. US mit der Begründung, der Kongress könne die verfassungsmäßig garantierte Meinungsfreiheit im Interesse der „nationalen Sicherheit“ einschränken. Der McCarran Internal Security Act, den der Kongress im Jahr zuvor über Trumans Veto hinweg verabschiedet hatte, verschärfte die Bestimmungen des Smith Act sogar Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 304 <?page no="305"?> noch. Alle vom Justizministerium als kommunistisch eingeschätzten Organisationen mussten sich registrieren lassen sowie ihre Mitgliederlisten und Finanzen offenlegen. Ausländer, die sich der Subversion verdächtig machten, konnten deportiert werden, und für den Fall eines nationalen Notstandes war eine Art „Schutzhaft“ für potenzielle Saboteure und Spione vorgesehen. Ganz oben auf dieser Welle schwamm der ehrgeizige Joseph R. McCarthy, ein Republikaner aus dem Staat Wisconsin, der 1946 im Alter von 37 Jahren in den Senat gewählt worden war. Dort führte er einen öffentlichen Feldzug zur Aufdeckung kommunistischer Umtriebe, mit dem er ab 1950 ganz Amerika in Atem hielt. Nach den Wahlen von 1952 avancierte er zum Vorsitzenden eines Untersuchungsausschusses, der Angehörige von Ministerien und Behörden inquisitorischen Verhören unterzog. Den meisten Anklang fanden McCarthys Kampagnen bei den Republikanern des Mittleren Westens, die den New Deal verabscheuten und Trumans internationalistische Außenpolitik ablehnten. Anfällig zeigten sich aber auch viele einfache Leute, die McCarthys Aversionen gegen die Gebildeten und „Privilegierten“ teilten. Präsident Eisenhower wagte nicht einzuschreiten, obwohl ihm das Treiben des Senators keines‐ wegs geheuer war. Erst als McCarthy 1954 die Armee zum Angriffsobjekt wählte und sich bei den im Fernsehen übertragenen Hearings selbst bloßstellte, erteilten ihm seine Senatorenkollegen eine Rüge und begann sein Stern in der Öffentlichkeit rasch zu sinken. Völlig isoliert starb er 1957 an den Folgen von chronischem Alkoholmissbrauch. Im McCarthyismus manifestierte sich der Drang der „Mittelklassegesellschaft“, ihre eigenen Normen allgemein verbindlich zu machen und politisch-kulturelle Ab‐ weichungen vom akzeptierten Meinungsspektrum in möglichst engen Grenzen zu halten. Das war im Grunde die Kehrseite des „liberalen Konsens“, einer breiten, har‐ monieorientierten Übereinstimmung in den zentralen Fragen des politischen Lebens, die der Historiker Louis Hartz 1955 in seinem klassischen Werk The Liberal Tradition in America auf die einzigartige geschichtliche Erfahrung der Amerikaner zurückführte. Glücklicherweise erwies sich das Phänomen des McCarthyismus - ähnlich wie der Red Scare der frühen 1920er Jahre - eher als ein Ausläufer des Weltkrieges denn als dauerhafte Begleiterscheinung des Kalten Krieges. Die gesellschaftliche Moderni‐ sierung, die der New Deal und der Krieg beschleunigt hatten und die sich in der Prosperität der 1950er Jahre fortsetzte, bewirkte nämlich einen tiefgreifenden Normen- und Wertewandel, der die geruhsame Konformität allmählich aufweichte und zu neuer, kritischer Selbstbesinnung zwang. Das erste Anzeichen dieses Umdenkens war der juristische Paradigmenwechsel, den der Supreme Court 1954 mit dem Urteil im Fall Brown v. Board of Education of Topeka auf dem Gebiet der Rassentrennung und der Bürgerrechte vollzog. Unter dem Vorsitz des neuen Chief Justice Earl Warren, dem ehemaligen Gouverneur von Kalifornien, schlossen sich alle Richter der Argu‐ mentation des schwarzen NAACP-Anwalts (und späteren Bundesrichters) Thurgood Marshall an, wonach die Segregation im Bildungswesen das Selbstwertgefühl der afroamerikanischen Kinder minderte und dauerhafte seelische und soziale Schäden bewirkte. Nach einstimmiger Ansicht des Gerichts verstieß die Rassentrennung in 2 Politik und Gesellschaft in der Eisenhower-Ära, 1953 - 1960 305 <?page no="306"?> öffentlichen Schulen gegen das 14. Amendment von 1868, das die Einzelstaaten verpflichtete, ihren Bürgern die equal protection of the law zu gewährleisten. Mit der Begründung, dass „getrennte Bildungseinrichtungen notwendigerweise ungleich“ seien, hob der Supreme Court die seit 1896 geltende separate but equal-Doktrin offiziell auf. Im Anschluss an einen Busboykott in Montgomery, Alabama, den der schwarze Baptistenpfarrer Dr. Martin Luther King Jr. organisiert hatte - Auslöser war die Verhaftung der schwarzen Bürgerrechtlerin Rosa Parks (1913-2005) gewesen, die sich im Dezember 1955 geweigert hatte, ihren Sitzplatz im Bus für einen männlichen weißen Fahrgast zu räumen -, erklärten die Richter 1956 auch die Segregation in öffentlichen Verkehrsmitteln für verfassungswidrig. Damit begann eine Periode „aktivistischer“ Rechtsprechung, in der die Gerichte, allen voran der Supreme Court, zum Motor gesellschaftlicher Reformen wurden. In die Urteile flossen nun modernes Rechtsdenken und neue soziologische Erkenntnisse ein, die das bisherige Rassenverständnis radikal in Frage stellten. Abb. 18: Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. Im Hintergrund ist Präsident Lyndon B. Johnson zu sehen Die empörten Reaktionen weißer Südstaatler, die das Brown-Urteil als klaren Miss‐ brauch der judicial power brandmarkten, eine Amtsanklage gegen Warren forderten und eine Kampagne des massiven Widerstands (massive resistance) starteten, brachten das Gericht nicht von seinem Kurs ab. Sie veranlassten es allein dazu, den Staaten mehr Zeit zum Abbau der Rassenschranken zu geben. Wenig Rückendeckung erhielt der Supreme Court von der Eisenhower-Administration und vom Kongress, die sich scheuten, das heiße Eisen der Rassenbeziehungen anzufassen. Als der Gouverneur Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 306 <?page no="307"?> von Arkansas 1957 schwarzen Schülern den Zugang zu einer High School in Little Rock verweigerte, schickte Eisenhower aber Truppen zu ihrem Schutz in den Süden und stellte die Nationalgarde des Staates Arkansas unter Bundesaufsicht. Auch nach diesem Zwischenfall, der weltweites Aufsehen erregte, blieb der weiße Widerstand ungebrochen und machte die Rassenintegration an den Schulen des „tiefen Südens“ nur minimale Fortschritte. Andererseits besaß die entstehende afroamerikanische Protestbewegung im Süden nun eine Handhabe, die es ihr erlaubte, die Forderungen nach rechtlicher und sozialer Gleichheit mit größerem Nachdruck vorzubringen. Außerdem weckte gerade die hartnäckige Resistenz der konservativen Südstaatler den Reformwillen im Rest der Nation und sensibilisierte die Öffentlichkeit für Rassen- und Grundrechtsfragen. Obwohl also praktische Erfolge zunächst noch weitgehend ausblieben, trat ein Bewusstseinswandel ein, der dem System der Rassentrennung allmählich die Legitimität entzog. In einer erstaunlichen Wende schlug das Meinungs‐ klima innerhalb des nächsten Jahrzehnts von einer relativen Geringschätzung zur energischen Verteidigung der Grundrechte um. Der Begriff „liberal“ verband sich nicht nur mit dem Kampf gegen die Rassentrennung, sondern erhielt darüber hinaus eine zunehmend individualistische Färbung: Der einzelne Bürger pochte auf die verfas‐ sungsmäßigen civil rights and liberties und erwartete von den Gerichten, dass sie seine Privatsphäre besser als bisher gegen Zumutungen des Staates und der Gemeinschaft schützten. Damit wuchs aber das Potenzial für politische und soziale Konflikte, deren Abwesenheit die Theoretiker des „liberalen Konsens“ gerade als das hervorstechende Merkmal der amerikanischen Lebensart rühmten. Leistungen und Widersprüche der Wohlstandsgesellschaft Die beiden Nachkriegsjahrzehnte haben sich als die Periode des „langen Booms“, als „Glanzzeit des modernen amerikanischen Kapitalismus“, ins kollektive Gedächtnis der Nation eingeprägt. Gestützt auf ihre weltweite Dominanz und technologische Überlegenheit entfaltete die amerikanische Wirtschaft eine Dynamik, die nicht nur den Reichen und Mächtigen zugutekam, sondern - mehr noch als in den 1920er Jahren und während des Zweiten Weltkrieges - auch der breiten Masse der Bevölkerung. Der Konjunkturzyklus konnte zwar nicht völlig ausgeschaltet werden, aber insgesamt befand sich die Wirtschaft ab 1947, als die Umstellung auf die Friedenswirtschaft voll‐ zogen war, besser im Gleichgewicht als jemals zuvor seit Beginn der Industrialisierung. Das reale Bruttosozialprodukt, gemessen am Wert des Dollars von 1958, wuchs von 213 Milliarden 1945 auf über 500 Milliarden 1960 und erreichte 1970 eine Billion Dollar. Im Jahresschnitt lag das Wirtschaftswachstum bei 4 Prozent - ein Wert, der nach 1970 nur noch selten erreicht wurde. Die Inflationsrate bewegte sich zwischen zwei und drei Prozent und stieg erst ab Mitte der 1960er Jahre infolge des Vietnamkrieges wieder stärker an. Von 1945 bis 1970 wurden über 25 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, und mit Ausnahme der Rezessionsjahre 1957 / 58, als die Arbeitslosenquote fast 8 Prozent betrug, herrschte praktisch Vollbeschäftigung. Im selben Zeitraum 2 Politik und Gesellschaft in der Eisenhower-Ära, 1953 - 1960 307 <?page no="308"?> erhöhte sich das durchschnittliche Realeinkommen um ca. 80 Prozent, allerdings ohne dass sich die ungleiche Einkommensverteilung geändert hätte. 1940 hatten 42 Prozent der Familien ein Eigenheim besessen, 1960 traf das schon auf 62 Prozent zu. Um diese Zeit gehörten Auto, Waschmaschine, Fernseher, Telefon, Staubsauger, Geschirrspüler und andere elektrische Haushaltsgeräte zum Standard, lange bevor sie in Europa für den Durchschnittsbürger erschwinglich wurden. Der freie Samstag, acht Feiertage (statt bisher vier) und zwei Wochen bezahlten Urlaubs sorgten für mehr Freizeit, die hauptsächlich für Unterhaltung und Reisen genutzt wurde. Die Entstehung von Hotel- und Restaurantketten wie Holiday Inn (1952) und McDonalds (1954) sowie die Eröffnung des ersten nationalen Vergnügungsparks „Disneyland“ in Kalifornien 1955 signalisierten das Aufkommen einer „Freizeitindustrie“, die bald zu einer der größten Wachstumsbranchen werden sollte. Ausgestattet mit einem starken Dollar, konnten es sich von Jahr zu Jahr mehr Amerikaner erlauben, ihren Urlaub im Ausland zu verbringen. Fluggesellschaften wie Pan American Airways (Pan Am), die Teil einer boomenden zivilen Luftfahrtindustrie waren, brachten sie dorthin. Häufig erregten sie entweder als zahlungskräftige, aber wenig einfühlsame bis instinktlose ugly Americans Anstoß, oder sie wurden als Sendboten eines durch Coca-Cola, Rockmusik und Hollywoodstars wie Marilyn Monroe symbolisierten, optimistischen American way of life willkommen geheißen. Die Konsumfähigkeit der amerikanischen Familien erhöhte sich nicht zuletzt des‐ halb, weil immer mehr Frauen aktiv am Wirtschaftsleben teilnahmen. Während 1950 weniger als 30 Prozent der Frauen erwerbstätig waren, hatten 1970 schon über 43 Prozent einen Job, und im gleichen Zeitraum stieg der weibliche Anteil an der Arbeiterschaft von knapp 28 auf 38 Prozent. Für die Mittelschicht wurde auch die College-Bildung, die der Kongress schon 1944 durch den Servicemen’s Readjustment Act (im Volksmund GI Bill of Rights genannt) den heimkehrenden Soldaten ermöglicht hatte, immer selbstverständlicher. Der Prozentsatz der 19-jährigen Amerikanerinnen und Amerikaner, die ein College besuchten, verdreifachte sich zwischen 1940 und 1960 von 15 auf 45 Prozent. Werbung und Industrie nahmen sich der jungen Generation als einer wichtigen „Zielgruppe“ an, die möglichst früh am Konsum teilhaben sollte. Im Rahmen der allgemeinen Konsumkultur bildete sich eine eigene Jugendkultur heraus, deren Idole Filmschauspieler wie James Dean und Marlon Brando oder Rocksänger wie Elvis Presley waren und deren Ausläufer bald auch Europa erreichten. Diese Kultur barg bereits Elemente der Kritik und des Protests, die ältere Zeitgenossen befremdeten oder sogar ängstigten, aber bis in die Mitte der 1960er Jahre überwogen Anpassung und Konformität. Wie schon während der Golden Twenties warnten einzelne Schriftstel‐ ler, Wissenschaftler und Intellektuelle vor sinnentleertem Materialismus, kultureller Nivellierung und Entfremdung in einer anonymen Massengesellschaft. Wiederum wog aber für die meisten Amerikaner der Zugewinn an persönlicher Autonomie und Entscheidungsfreiheit, den der steigende Wohlstand erbrachte, die Nachteile des consumerism mehr als auf. Da die „Massen“ mehr und mehr die ökonomischen und bildungsmäßigen Voraussetzungen erfüllten, um am Kulturprozess teilzunehmen, Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 308 <?page no="309"?> verlor der Begriff „Massenkultur“ (popular culture) aus amerikanischer Perspektive allmählich seinen abschätzigen Beiklang. Amerikanische Künstler wie Andy Warhol, Roy Lichtenstein und Claes Oldenburg reflektierten diesen Wandel, indem sie Motive und Gegenstände aus dem Alltagsleben - häufig in ironisierender Verfremdung - aufgriffen und zur Schau stellten. Zugleich überwanden die Vertreter dieser Pop(ular) Art auch ihre Scheu vor dem kapitalistischen Kunstmarkt und der Massenproduktion von Kunst. Die Entstehung der Wohlstandsgesellschaft (affluent society), wie der Ökonom John Kenneth Galbraith das neue Phänomen 1958 bezeichnete, verdankten die Amerikaner der günstigen weltpolitischen Konstellation, einem weiteren Rationalisierungs- und Technisierungsschub in Industrie und Landwirtschaft und den Erkenntnissen des Keynesianismus, die das staatliche Handeln mehr und mehr beeinflussten. Die Rah‐ menbedingungen der Weltwirtschaft waren ganz auf die Interessen der amerikanischen Wirtschaft zugeschnitten, die bei Kriegsende 50 Prozent des Welt-Bruttosozialpro‐ dukts erwirtschaftete, 60 Prozent aller Industrieprodukte herstellte und knapp die Hälfte des Welthandels bestritt. Sie allein verfügte über die nötigen Reserven, um die Kriegszerstörungen wettzumachen und den Bedarf zu befriedigen, der sich in Europa, Lateinamerika und Asien seit der Krise der 1930er Jahre angestaut hatte. Die technologischen Durchbrüche, die während des Krieges auf vielen Gebieten erzielt worden waren, stimulierten die Produktivität. Erfindungen und Innovationen konnten von den großen amerikanischen Konzernen am besten und schnellsten umgesetzt werden. Sie verstanden es, Bundesmittel für Forschung und Entwicklung zu beschaffen, sie strafften Planung und Management, setzten Computer ein, diversifizierten die Produkte und steigerten ihre multinationalen Aktivitäten. Neben der Automobil- und Luftfahrtindustrie wurden Chemie und Elektronik zu den Schlüsselsektoren einer permanenten technologisch-industriellen Revolution. Ein mindestens ebenso dramatischer Umbruch fand in der Landwirtschaft statt, wo sich die Agro-Industrie endgültig gegen die Familienfarm durchsetzte. Zwischen 1945 und 1970 ging der Anteil der Amerikaner, die auf dem Land lebten, von 17,5 auf 4,7 Prozent zurück, was einer Abwanderung von 25 Millionen Menschen in die Städte entsprach. Der Widerstand gegen die Konzentration wirtschaftlicher Macht schwand allmählich dahin, da die für Anti-Trust-Maßnahmen zuständigen Politiker zu der Einsicht gelangten, dass nur leistungsfähige Großunternehmen im internationalen Wettbewerb bestehen konnten. Gleichzeitig verloren die Gewerkschaften weiter an Einfluss: Ihr Aufstieg war schon 1947 vom republikanischen Kongress durch den Taft-Hartley Act gebremst worden, der die Zwangsmitgliedschaft in Form des closed shop für illegal erklärte und die Verwendung von Beiträgen für politische Zwecke untersagte. AFL und CIO schlossen sich zwar 1955 zusammen, konnten aber nicht verhindern, dass der Grad der gewerk‐ schaftlichen Organisation vom Höchststand des Jahres 1946 (37 Prozent) immer weiter absank. Übermäßige Bürokratisierung und Korruptionsaffären höhlten das Ansehen der Gewerkschaften aus, aber die Hauptursache dieser Entwicklung ist im Übergang von der Industriezur Dienstleistungsgesellschaft zu suchen, bei dem die USA - wie 2 Politik und Gesellschaft in der Eisenhower-Ära, 1953 - 1960 309 <?page no="310"?> in vielem anderen auch - weit voraus waren: Während der Anteil der in der Industrie Beschäftigten stagnierte, nahm der Dienstleistungssektor ab 1950 kontinuierlich zu und umfasste 1970 schon ca. 65 Prozent der Erwerbstätigen. In weit höherem Maße als jemals zuvor trug nun der Staat durch direkte und indi‐ rekte Ausgaben zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Mehrung des Wohlstands bei. Ein Beispiel ist der Bundesfernstraßenbau, der 1947 eingeleitet und 1956 im großen Stil fortgesetzt wurde und der nicht zuletzt an den postulierten Erfordernissen der „nationalen Sicherheit“ ausgerichtet war. Über die Förderung des Wohnungsbaus, des Bildungswesens und der wissenschaftlichen Forschung sowie über verbesserte Sozial‐ leistungen flossen ebenfalls staatliche Gelder in den Wirtschaftskreislauf. Am stärksten fielen aber die Rüstungsausgaben ins Gewicht, mit denen der Bund ganze Wirtschafts‐ zweige und Regionen subventionierte und den aus dem Weltkrieg hervorgegangenen „militärisch-industriellen Komplex“ vergrößerte. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die Bundesregierung auch ein bedeutender Arbeitgeber, denn die Zahl ihrer zivilen und militärischen Bediensteten stieg von ca. 2,5 Millionen 1950 auf über 6 Millionen 1970. Parallel dazu erhöhte sich die Zahl der Posten, die Einzelstaaten, Kreise, Städte und Gemeinden vergaben, um weitere ca. 6 Millionen. Zusammengenommen waren 1970 etwa 17 Millionen Amerikaner im Staatsdienst oder beim Militär beschäftigt, gegenüber ca. 7,5 Millionen zwanzig Jahre zuvor. Die Aufrüstung stimulierte einerseits die Forschung und das Wirtschaftswachstum, bewirkte andererseits aber auch problematische Verzerrungen. Ganz abgesehen davon, dass militärische Erwägungen starken Einfluss auf die Politik gewannen, lagen die Gefahren des military Keynesianism darin, dass er eine Subventionsmentalität bei den Rüstungsunternehmen förderte und zur Vernachlässigung der zivilen Wirtschaft beitrug. Schon Ende der 1950er Jahre machte sich zudem das Phänomen des dollar drain unangenehm bemerkbar, weil die Militärausgaben in Übersee, insbesondere für die Stationierung von Hunderttausenden amerikanischer Soldaten in Europa, die Exportüberschüsse aufzehrten. Eine weitere Quelle des Dollarabflusses waren die riesigen Investitionen, die US-Konzerne im Ausland tätigten. Diese „Multis“ (multinational corporations) nutzten zum einen das niedrigere Lohnniveau in Europa, Lateinamerika und Asien aus und übersprangen zum anderen die immer noch relativ hohen Zollschranken der EWG und asiatischer Länder. Konservativen Politikern und Ökonomen bereitete außerdem die wachsende Staatsverschuldung Sorgen, doch die „Keynesianer“ versicherten, dass sie gemessen am Bruttosozialprodukt und am Reich‐ tum des Landes unbedenklich sei. Mit dem Aufschwung in Westeuropa und Japan, zu dem die USA maßgeblich beitrugen, ging ihr eigener Anteil am Welthandel zurück und nahm die relative Bedeutung der amerikanischen Volkswirtschaft im kapitalistischen System ab. Manche Beobachter, die den Zustand der 1950er Jahre zur Richtschnur erhoben, sahen darin schon die beginnende Erosion der amerikanischen Weltmacht. Im Grunde handelte es sich aber um einen normalen Vorgang, da die ökonomische Pax Americana der frühen Nachkriegszeit ganz wesentlich auf der (Selbst-)Ausschaltung der Konkurrenten in Europa und Asien beruht hatte. Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 310 <?page no="311"?> Wie schon der Hinweis auf die Landflucht zeigt, hielt auch der rasche demogra‐ phische Wandel an, der zu den hervorstechendsten Merkmalen der amerikanischen Geschichte gehört. Nach der Aufnahme von Hawaii und Alaska in die Union, die 1959 erfolgte, zählten die nunmehr 50 Staaten fast 180 Millionen Einwohner, ein enormer Zuwachs von 40 Millionen oder knapp 30 Prozent gegenüber 1945. Die Ursachen waren - in dieser Reihenfolge - der Baby Boom der frühen Nachkriegszeit, die anstei‐ gende Lebenserwartung und sinkende Kindersterblichkeit sowie die Einwanderung. Unter Baby Boom versteht man die signifikante Abweichung vom langfristigen Trend der fallenden Geburtenrate, die nach Überwindung der Depression Ende der 1930er Jahre begann und - mit einer kurzen Unterbrechung im Krieg - bis zum Beginn der 1960er Jahre anhielt. Den Höhepunkt bildete der Zeitraum von 1948 bis 1953, in dem mehr Kinder geboren wurden als in den vorangegangenen dreißig Jahren. Es handelte sich dabei also nicht nur um eine Reaktion auf die Kriegsverluste, sondern um das Zusammenwirken mehrerer Faktoren wie die Rückkehr zu traditionellen Geschlech‐ terrollen (Frauen als Ehefrauen und Mütter, Männer als Broterwerber), Rückgang des Heiratsalters, niedrige Scheidungsrate und Wunsch der jungen Familien, viele Kinder zu haben, der durch die Prosperität und den Optimismus der Nachkriegszeit gefördert wurde. Gleichzeitig bewirkten die Fortschritte der Medizin, dass mehr Kinder am Leben blieben und dass die durchschnittliche Lebenserwartung insgesamt deutlich anstieg: zwischen 1940 und 1960 für weiße Amerikaner von 64,2 auf 70,6 Jahre, für Afroamerikaner von 53,1 auf 63,6 Jahre. In der Einwanderungspolitik hielt der Kongress bis 1965 im Prinzip an der Quoten‐ politik der 1920er Jahre fest, die in erster Linie eine Drosselung und Kontrolle der Immigration bezweckte. Ganz auf dieser Linie lag der Immigration and Nationality Act (McCarran-Walter Act) von 1952, der zusätzlich dem McCarthyismus Tribut zollte. Das Gesetz listete nicht weniger als 32 Ausschlussgründe auf, darunter die Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei, und verschärfte die Deportationsvorschriften für unerwünschte Ausländer. Andererseits erhielten nun auch asiatische Länder kleine Einwanderungsquoten, nachdem 1943 mit der Aufhebung des Chinese Exclusion Act (als Entgegenkommen an Chiang Kai-schek) und 1946 mit einem Sonderstatus für die unabhängigen Philippinen erste Lockerungen in dieser Richtung erfolgt waren. Eine weitere Neuerung, die sich als ausbaufähig erwies, betraf das Präferenzsystem für beruflich und bildungsmäßig besonders gut qualifizierte Antragsteller. Die meisten Einwanderer kamen in diesem Zeitraum aber nicht über die Quoten in die USA, sondern durch Ausnahmeregelungen, mit denen der Kongress auf besondere Umstände und Notlagen reagierte. So gestattete er 1946 durch den War Brides Act 120.000 Ehefrauen und Kindern von amerikanischen Soldaten aus Europa und Asien die Einreise. Mehrere Sondergesetze, die zwischen 1948 und 1953 verabschiedet wurden, ebneten insgesamt ca. 600.000 Displaced Persons - Vertriebene und Flüchtlinge aus Deutschland, Osteuropa und Korea - den Weg in die USA. Ähnliche Maßnahmen ergriff der Kongress nach dem Aufstand in Ungarn 1956 und nach dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968. Aus dem zerstörten Deutschland gelangte 2 Politik und Gesellschaft in der Eisenhower-Ära, 1953 - 1960 311 <?page no="312"?> also nach 1945 ein letzter „Schub“ von Auswanderern in die USA, der die Zahl der deutschen Immigranten seit der Kolonialzeit auf über 7 Millionen ansteigen ließ, was gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch einem Anteil von über 10 Prozent an der gesamten Einwanderung entspricht. Die Neuankömmlinge aus Deutschland und Europa wurden in den 1950er und 1960er Jahren jedoch zahlenmäßig bereits deutlich von lateinamerikanischen Immigranten übertroffen. Dazu gehörten in erster Linie Mexikaner, die z. T. im Rahmen des Bra‐ cero-Programms als Saisonarbeiter angeworben wurden und die sich hauptsächlich im Südwesten, aber auch in Großstädten wie Chicago, Detroit, Kansas City und Denver niederließen. Puertoricaner, die seit 1917 US-Staatsbürger waren und deren Insel 1952 den Status eines Commonwealth erhielt, zog es vor allem in den Großraum New York, wo sie bald eine beachtliche Minderheit bildeten. Nach dem Sieg Fidel Castros 1959 flohen über 500.000 Kubaner in die USA und verwandelten Miami und andere Städte Floridas innerhalb kurzer Zeit in zweisprachige Metropolen. Das Bevölkerungswachstum durch Baby Boom, steigende Lebenserwartung und Immigration ging einher mit einer starken Binnenwanderung, die ganze Regionen, insbesondere den ländlichen Süden und Mittleren Westen, „ausdünnte“ und die Städte weiter anschwellen ließ. Der fortdauernde Exodus schwarzer Farmer und sharecroppers, die sich vom Baumwollanbau nicht mehr ernähren konnten, führte dazu, dass 1960 die Hälfte aller Afroamerikaner außerhalb des Südens lebte. Zugewinne erzielten vor allem Kalifornien und der Südwesten mit Texas, die überproportional vom Aufschwung der Rüstungsindustrien profitierten. Hier kündigte sich die Entstehung des „Sonnengürtels“ (sun belt) an, der die traditionellen Industriegebiete des Nordostens als bevorzugte Wachstumszone ablösen sollte. Eine der Voraussetzungen für diese Entwicklung bildete die Verfügbarkeit von Klimaanlagen, die das Leben in den heißen Regionen des Südens und Südwestens erträglich und sogar angenehm machten. In den Städten setzte sich der Prozess der „Suburbanisierung“ fort, der schon in den 1920er Jahren begonnen hatte: Um 1960 wohnte schon ein Drittel der Amerikaner, hauptsächlich weiße Mittelschichtsfamilien, in den suburbs und nahm für diesen Komfort weite Wege zur Arbeit in Kauf. Die alten Formen der Rassentrennung und Diskriminierung wurden auf diese Weise durch eine geographische Segregation ergänzt, die selbst Angehörige der wachsenden afroamerikanischen Mittelschicht nur schwer durchbrechen konnten. Den eklatantesten Widerspruch zur amerikanischen Wohlstandsgesellschaft bilde‐ ten die Zustände im ländlichen Süden und mehr noch in den Slums und Ghettos der großen Städte, in denen sich Armut, Drogenkonsum und Gewalt dauerhaft einnisteten. Projekte zur Stadterneuerung und „Revitalisierung“ der Innenstädte bewirkten häufig nur eine Verlagerung der Problemzonen von einem Stadtteil zum anderen. 1960 lebten ca. 45 Millionen Menschen unterhalb der amtlich definierten Armutsgrenze von 3000 Dollar Jahreseinkommen pro Familie, die meisten von ihnen Afroamerikaner und Neueinwanderer aus Lateinamerika und der Karibik. Die Bundesregierung ignorierte diese Probleme weitgehend oder hielt sich weiterhin bewusst aus den Rassen- und Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 312 <?page no="313"?> Minderheitenfragen heraus, um politisches Ungemach zu vermeiden. Besuchern aus Europa stach der scharfe Kontrast zwischen Reichtum und Armut, Überfluss und Verwahrlosung oft stärker ins Auge als den Amerikanern selbst, die an solche Formen der sozialen Ungleichheit gewohnt waren. Allmählich wuchs aber in der Bevölkerung die Bereitschaft, endlich auch die benachteiligten Minderheiten am American Dream von Freiheit, sozialem Aufstieg und Wohlstand für alle teilhaben zu lassen. Politische Kontinuität und Immobilismus in den 1950er Jahren Trotz des raschen Wandels in vielen Bereichen der Gesellschaft zeichnete sich die Politik bis zu Beginn der 1960er Jahre durch ein hohes Maß an Kontinuität und durch eine altmodisch anmutende Geruhsamkeit aus. Soziologen sprachen von einer „selbstgefälligen Gesellschaft“ (complacent society), und der Politikwissenschaftler Daniel Bell sah 1960 das „Ende der Ideologie“ gekommen, da die Amerikaner nunmehr davon ausgingen, dass alle Konflikte über Wirtschaftswachstum zu lösen seien. Diese vertrauensvolle Zuversicht hatte sicher auch mit der Person des Präsidenten Dwight D. Eisenhower zu tun, den die Wähler 1952 und noch einmal 1956 mit großer Mehrheit seinem Konkurrenten, dem intellektuellen Demokraten Adlai E. Stevenson, vorzogen. Liebevoll „Ike“ genannt, gab der eher unpolitische Weltkriegsgeneral eine populäre Vaterfigur ab, wie sie den Konsens- und Harmoniebedürfnissen breiter Schichten entgegenkam. Das öffentliche Leben wurde beherrscht von einem unreflektierten Patriotismus, der gelegentlich die Grenze zur Selbstbeweihräucherung überschritt. Nach dem Erlebnis der Großen Depression, des New Deal und des Zweiten Weltkrieges verstanden sich die Amerikaner nun ganz fraglos als eine Nation und betrachteten ihr Gemeinwesen als einen Nationalstaat. Dieser Bewusstseinswandel kam schon darin zum Ausdruck, dass Institutionen, die man früher als „Federal“ bezeichnet hätte, nun durchweg das Attribut „National“ im Namen führten, wie etwa der National Security Council oder die 1958 gegründete National Aeronautics and Space Administration (NASA). Das Sternenbanner schmückte nicht nur öffentliche Gebäude und Einkaufs‐ zentren (shopping malls), sondern tauchte zunehmend in den Fenstern und Vorgärten von Privathäusern auf, und die Nationalhymne wurde bei jedem einigermaßen wich‐ tigen Anlass und bei Sportereignissen gespielt. Durch Autobahnen und Flugverkehr rückten die Amerikaner einander näher, und selbst die Konsumgewohnheiten schienen dazu beizutragen, Klassengegensätze und regionale wie ethnische Unterschiede in einer homogenen amerikanischen Nationalkultur aufzuheben. Halt und Orientierung bot auch die Religion, die nach wie vor eng mit den traditio‐ nellen Werten, insbesondere mit der Hochschätzung der Familie, verknüpft war. Die Amerikaner widerlegten eindrucksvoll die Vorhersage, die Religionen würden im Zuge der gesellschaftlichen Rationalisierung und Säkularisierung an Bedeutung verlieren oder sogar verschwinden. Ganz im Gegenteil steigerte die wachsende Komplexität der Lebenswelten offenbar in den Vereinigten Staaten das Verlangen nach religiösen Bindungen. Kirchenmitgliedschaft und Kirchenbesuch nahmen in den 1950er Jahren 2 Politik und Gesellschaft in der Eisenhower-Ära, 1953 - 1960 313 <?page no="314"?> nicht ab, sondern noch zu. Charismatische Prediger wie der Baptist Billy Graham lösten neue Erweckungsbewegungen aus, und sie lernten auch rasch, sich des modernen Massenmediums Fernsehen zu bedienen. Obgleich die Gerichte immer strenger auf die Beachtung des Jefferson’schen Grundsatzes der Trennung von Kirche und Staat achteten, wurden die Verfassungsverehrung selbst und die Symbole und Rituale der civil religion nicht in Frage gestellt. Vielmehr ließ der Kongress die Geldscheine und Münzen mit der Aufschrift „In God We Trust“ versehen, und Eisenhower eröffnete die Kabinettssitzungen mit einem Gebet. Millionen von Amerikanern pilgerten von nun an jedes Jahr in die Hauptstadt Washington, um an den großen Denkmälern - dem 1885 vollendeten Washington-Monument, dem von 1915 bis 1922 erbauten Lincoln Memorial und dem Jefferson Memorial von 1939 - sowie auf dem Heldenfriedhof in Arlington und in den Museen entlang der Mall nationale Geschichte und Kultur in sich aufzunehmen. Während in Europa nach dem Krieg eine skeptische Grundstimmung herrschte, verstärkten in den USA der „Sieg über das Böse“ in Gestalt des Nationalso‐ zialismus und die Herausforderung durch den atheistischen Kommunismus offenbar das Bewusstsein, dass ein höheres Wesen die Weltgeschichte lenkte und mit Hilfe der Vereinigten Staaten ihren Sinn offenbarte. Weitgehend einig war man sich auch darin, dass das amerikanische Wirtschafts‐ system keiner strukturellen Änderungen bedurfte, da es für genügend Wachstum sorgte, um den Wohlstand der Nation zu mehren und dem Einzelnen gute Aufstiegs‐ möglichkeiten zu bieten. Eisenhower kritisierte zwar den „militärisch-industriellen Komplex“, entwickelte aber während seiner Amtszeit eine beachtliche Fertigkeit in der „korporativen“ Partnerschaft mit dem Unternehmertum. Er verstand es, sich als „Präsident über den Parteien“ darzustellen, deren Ansehen und Mobilisierungskraft nachgelassen hatten. Nach außen wirkte sein Regierungsstil zurückhaltend und betu‐ lich, in Wirklichkeit hielt er die Zügel jedoch im Rahmen der später so genannten hidden hand presidency straff in der Hand. Die Außenpolitik der Eisenhower-Administration In der Außenpolitik wahrten Eisenhower und sein Außenminister John Foster Dulles Kontinuität und bauten das von Truman begonnene Bündnissystem weiter aus. Wie alle ihre Nachfolger mussten sie die Erfahrung machen, dass langfristige Pläne nicht selten durch plötzliche Krisen durchkreuzt wurden und dass außenpolitische Entschei‐ dungen ebenso oft mit Erfordernissen der Innenpolitik kollidierten. Höchste Priorität hatte die Festigung der NATO unter Einschluss der Bundesrepublik Deutschland, um mit der Sowjetunion von einer Position der Stärke aus verhandeln zu können. Eisenhower setzte auf die atomare Überlegenheit der USA und die Wirksamkeit der Drohung mit „massiver Vergeltung“ (massive retaliation), die Einsparungen bei der konventionellen Rüstung zu ermöglichen schien. Sowjetische Fortschritte bei der Beherrschung der Wasserstoffbombe und in der Raketentechnik verwandelten diesen Vorsprung jedoch recht bald in ein „nukleares Patt“. Das entwertete die Strategie der Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 314 <?page no="315"?> Abschreckung, auch wenn es - anders als Experten der Ford Foundation Ende 1957 unter dem Eindruck des „Sputnik-Schocks“ im Gaither Report behaupteten - niemals eine „Raketenlücke“ zum Nachteil der USA gegeben hat. Entgegen den Empfehlungen des Berichts hielt die Eisenhower-Administration die jährlichen Rüstungsausgaben unter 50 Milliarden Dollar, begegnete der technologischen Herausforderung durch die Sowjetunion aber durch die Gründung der NASA und ein nationales Erziehungspro‐ gramm, das besonderen Nachdruck auf Naturwissenschaften und Sprachen legte. Selbst zu Zeiten amerikanischer Überlegenheit blieb das von Dulles versprochene „Zurückdrängen“ (roll back) des sowjetischen Einflusses allerdings frommer Wunsch. Die westlichen Geheimdienste unternahmen zwar Operationen zur Destabilisierung der Regimes hinter dem „Eisernen Vorhang“, doch sie waren entweder zu dilettan‐ tisch angelegt oder wurden schon in einem frühen Stadium von der sowjetischen Gegenspionage aufgedeckt und vereitelt. Als sich 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn Gelegenheiten zum militärischen Eingreifen boten, übte die amerikanische Regierung Zurückhaltung und tat alles, um eine Eskalation zu verhindern. Im ersten Fall warnte sie Bonn davor, Öl ins Feuer zu gießen, und beschränkte sich auf eine propagandistische Ausschlachtung des Volksaufstandes vom 17. Juni; im zweiten Fall war ihr Handlungsspielraum durch die gleichzeitige Suezkrise und die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA zusätzlich eingeengt. Anders als Truman, der eine de facto-Allianz mit Israel eingegangen war, hatte sich Eisenhower aus strategischen Gründen um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arabern und Israelis bemüht. Das geheime Zusammenspiel zwischen Großbritannien, Frankreich und Israel, das der Intervention am Suezkanal zugrunde lag, betrachtete er als einen persönlichen Affront und einen schweren politischen Fehler. Die Militäraktion lenkte die Aufmerksamkeit vom sowjetischen Vorgehen in Ungarn ab, sie stärkte den gemeinsamen Gegner Nasser, anstatt ihn zu schwächen, und sie schädigte das Ansehen des Westens in den Vereinten Nationen. Die Enttäuschung in Washington ging umso tiefer, als die USA, die in der frühen Nachkriegszeit als Fürsprecher der nach Unabhängigkeit strebenden Völker aufgetreten waren, während der 1950er Jahre viel Rücksicht auf die kolonialen Interessen der europäischen NATO-Partner genommen hatten. Der unverhohlene diplomatische und wirtschaftliche Druck, mit dem die US-Regierung nun die Verbün‐ deten zum Rückzug vom Suezkanal zwang, signalisierte das Ende des „klassischen“ europäischen Kolonialismus und der unabhängigen britischen Großmachtrolle. Indem die Amerikaner die Krise gemeinsam mit den Sowjets in der UNO entschärften, konnte Eisenhower sein Image als Friedenspräsident bewahren und seine Wiederwahl im November 1956 endgültig sicherstellen. In der Folge sahen sich die USA gezwungen, die stabilisierende Funktion, die Großbritannien im Nahen Osten ausgeübt hatte, mehr und mehr selbst zu übernehmen. Dabei ging es in erster Linie um den ungehinderten Fluss des nahöstlichen Erdöls, das für Westeuropa und Japan noch wichtiger war als für die USA selbst, die in Texas und Alaska über eigene beträchtliche Ölvorkommen verfügten und sich zusätzlich aus Kanada und Lateinamerika versorgen konnten. Das Erdölmotiv hatte schon die entscheidende Rolle beim Eingreifen im Iran 1953 gespielt, 2 Politik und Gesellschaft in der Eisenhower-Ära, 1953 - 1960 315 <?page no="316"?> als die CIA dazu beitrug, Schah Reza Pahlavi wieder auf den Pfauenthron zu heben, um die vom nationalistischen Premierminister Mossadegh vorgenommene Verstaatli‐ chung der Anglo-Iranian Oil Company rückgängig zu machen. Ein Vierteljahrhundert lang blieb der Schah, von dem Washington die Modernisierung des Iran und eine angemessene Beteiligung der amerikanischen Erdölkonzerne an dem bisherigen bri‐ tischen Monopol erwartete, der engste Verbündete der USA in dieser Region. Zum Hauptgegner avancierte nach 1956 der radikale arabische Nationalismus, personifiziert im ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abdel Nasser, der es Moskau ermöglichte, die amerikanische Eindämmungsstrategie im so genannten southern tier von Nordafrika bis zum Persischen Golf zu unterlaufen. Am 5. Januar 1957 dehnte Eisenhower die Truman-Doktrin faktisch auf den Nahen Osten aus, indem er die Unabhängigkeit und territoriale Integrität aller Staaten der Region als lebenswichtig für die nationalen Interessen der USA und den Weltfrieden bezeichnete. Der Kongress billigte diese „Eisenhower-Doktrin“ am 9. März 1957 in einer Joint Resolution und ermöglichte dem Präsidenten, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um bewaffnete Aggressionen eines vom Kommunismus kontrollierten Landes abzuwehren. Dieser Beschluss bot wenig später die Handhabe, Jordanien und Libanon, deren konservative Regierungen durch den Umsturz im Irak besonders gefährdet schienen, diplomatisch und militärisch zu stützen. Die vorübergehende Landung von 14.000 amerikanischen Marinesoldaten im Libanon 1958 stellte die größte Militäraktion dar, die Eisenhower während seiner Amtszeit anordnete. Waren bislang 75 Prozent der amerikanischen Auslandshilfe nach Westeuropa geflossen, so erhielten jetzt die „gemäßigten“ Regimes im Nahen Osten und in der Golfregion den Löwenanteil der Militär- und Wirtschaftshilfe. Erste Antworten auf die Revolutionierung der „Dritten Welt“ Im Allgemeinen bevorzugte Eisenhower die indirekte Form der Einflussnahme und verdeckte Operationen (covert action) der Geheimdienste, um den amerikanischen Interessen an der Peripherie Geltung zu verschaffen. Erfolg hatte er dabei außer im Iran auch in Guatemala, wo die CIA 1954 sogar paramilitärische Mittel anwendete, um die linksgerichtete Regierung Arbenz Guzmán zu Fall zu bringen, die Landbesitz der United Fruit Company entschädigungslos enteignet und Ostblock-Waffen gekauft hatte. Geleitet von Allen W. Dulles, dem Bruder des Außenministers, der sich auf seine OSS-Erfahrungen im Untergrundkampf gegen Hitler stützen konnte und intelligence zu einer Wissenschaft erheben wollte, weitete die CIA ihre Aktivitäten weltweit aus. Dulles legte einen starken Akzent auf subversive Operationen, von denen er sich offensichtlich mehr versprach als von der nüchternen Nachrichtensammlung und Analyse. Das erwies sich als zweischneidiges Schwert, denn die Erfolge mussten nicht selten mit internationalen Prestigeverlusten bezahlt werden. Außerdem wurde es immer schwieriger, den expandierenden Geheimdienstapparat zu kontrollieren und Verstöße gegen Gesetze und Verfassung zu unterbinden. Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 316 <?page no="317"?> Eine indirekte Strategie verfolgte die Eisenhower-Administration auch in Indochina, wo Ho Chi Minh 1945 eine unabhängige Republik Vietnam ausgerufen und den Kampf gegen die französische Kolonialmacht aufgenommen hatte. Die USA unterstützten Frankreich finanziell und durch Waffenlieferungen in einem Gesamtvolumen von 3 Milliarden Dollar und nahmen Paris auf diese Weise bis 1954 fast 80 Prozent der Kriegskosten ab. Als die französischen Truppen aber im Frühjahr 1954 bei Dien Bien Phu zur Entscheidungsschlacht antraten, lehnte Eisenhower eine militärische Inter‐ vention strikt ab. Nach der Niederlage Frankreichs nahmen die USA nur inoffiziell als Beobachter an der Genfer Indochina-Konferenz teil, die eine temporäre Teilung Viet‐ nams entlang dem 17. Breitengrad vorsah. Anstatt auf die ebenfalls vereinbarten freien Wahlen für ganz Vietnam hinzuarbeiten, begannen die USA nun jedoch ein Experiment des nation building, das Südvietnam gegen den Kommunismus immunisieren sollte. Im katholischen Staatschef Ngo Dinh Diem glaubten die Amerikaner, den geeigneten Repräsentanten einer „dritten Kraft“ zwischen konservativer Reaktion und radikalem Nationalismus gefunden zu haben, der das Land wirtschaftlich modernisieren und auf einen pro-westlichen Kurs bringen würde. Dieser Einmischung lagen hauptsächlich vier Motive zugrunde: 1. Südvietnam war wichtig für die regionale ökonomische Integration, die Washington mit Blick auf die Bedürfnisse der japanischen Wirtschaft im „pazifischen Rand“ betrieb. 2. Ein stabiles Südvietnam konnte als regionales Gegen‐ gewicht gegen China und die Sowjetunion verwendet werden. 3. Der Kontrolle über die Küsten und Häfen des Landes kam eine strategische Bedeutung für die Schifffahrts- und Handelsrouten in der Region zu. 4. Nachdem die USA einmal engagiert waren, stellte sich aus der Sicht Washingtons das Problem der „Glaubwürdigkeit“ und des möglichen Domino-Effekts, den ein „Verlust“ Südvietnams hervorrufen würde. Anfänglich schien die amerikanische Unterstützung, die ab 1955 jährlich ca. 200 Millionen Dollar betrug, positive Wirkungen zu entfalten. Im Laufe der Zeit wuchs aber im Süden der von Nordvietnam aus geförderte Widerstand der Nationalen Befreiungsfront (NLF) und ihres militärischen Arms, den die Amerikaner Vietcong nannten. Als Hanoi 1960 die NLF anerkannte und zum Sturz Diems aufrief, befanden sich etwa 700 US-Militärbe‐ rater in Südvietnam. Die Frage, ob man sich weiterhin an einen katholischen Diktator in einem Land mit überwiegend buddhistischer Bevölkerung binden sollte, dessen Regierungsapparat korrupt war und der sich hauptsächlich auf die Armee stützte, musste Eisenhower an seinen Nachfolger Kennedy weitergeben. Ein ähnlich schwerwiegendes Problem stellte sich um diese Zeit auch in Bezug auf Kuba, wo Fidel Castros revolutionäre „Bewegung des 26. Juli“ Anfang 1959 die Batista-Diktatur hinweggefegt hatte. Castros erklärtes Ziel war die Beseitigung der ökonomischen Abhängigkeit der Insel von den USA durch landwirtschaftliche Diversifizierung und forcierte Industrialisierung. Dieser Kurs brachte ihn zwangsläufig in Konflikt mit amerikanischen Wirtschaftsinteressen und mit der übergreifenden Entwicklungsstrategie der Eisenhower-Administration für Lateinamerika, die nach der Rezession von 1957 / 58 darauf ausgerichtet war, eine nationalistische Abkapselung vom Weltmarkt zu verhindern. Die 1959 gegründete Inter-American Development Bank 2 Politik und Gesellschaft in der Eisenhower-Ära, 1953 - 1960 317 <?page no="318"?> sollte private Investitionen in der Region erleichtern und eine Politik der Importsubs‐ tituierung verhindern. Da Castro diese Vorgaben und die Regeln der kapitalistischen Marktwirtschaft nicht akzeptierte, fand er weder in den USA selbst noch bei der von den USA dominierten Weltbank Unterstützung. Als er daraufhin die Sowjetunion um Hilfe ersuchte, antwortete Washington mit Wirtschaftssanktionen und im Januar 1961 mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Zu dem Zeitpunkt schmiedete die CIA bereits Pläne zur „Destabilisierung“ der kubanischen Revolution und bereitete in Nicaragua Exilkubaner auf eine Invasion und den Sturz Castros vor. Für Eisenhower und John Foster Dulles waren Vietnam und Kuba nur zwei Symp‐ tome einer generellen Tendenz in den Ländern der so genannten „Dritten Welt“, sich dem Führungsanspruch der USA zu verweigern und zum kommunistischen Gegner umzuschwenken. In diesem Licht sahen sie die „blockfreie Bewegung“, die sich Mitte der 1950er Jahre unter Führung Indiens (Nehru), Indonesiens (Sukarno) und Jugoslawiens (Tito) formiert hatte. Ihren politischen „Neutralismus“ empfanden sie als einseitig gegen die USA gerichtet, und ihren ökonomischen Konzepten, die Privatini‐ tiative und weltwirtschaftliche Arbeitsteilung mehr oder weniger umfassend durch staatliche Planung und Regulierung ersetzen wollten, begegneten sie mit äußerster Skepsis. Eisenhowers Deutschland - und Europapolitik Trotz aller Zuspitzungen an der Peripherie blieben jedoch Europa und insbesondere Deutschland der Kernbereich des Ost-West-Konflikts. Nach dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik und der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags 1955 deutete sich allerdings erstmals die Möglichkeit eines Abbaus der Konfrontation und einer begrenzten Zusammenarbeit der „Supermächte“ an. Die atmosphärische Verbesserung und die kleinen praktischen Fortschritte, die das Genfer Gipfeltreffen von 1955 erbrachte, änderten aber nichts an der grundsätzlichen Unvereinbarkeit des amerikanischen und des sowjetischen Standpunkts in der Deutschlandfrage. Während Moskau eine Neutralisierung Deutschlands anstrebte, beharrte Dulles da‐ rauf, dass über das Schicksal Deutschlands nur im Rahmen einer Gesamtlösung der europäischen Sicherheitsproblematik entschieden werden dürfe. Daraufhin ging die Sowjetunion unter der Führung des energischen Nikita Chruschtschow 1958 mit ihrem Berlin-Ultimatum wieder in die Offensive. Überzeugt vom historisch zwangsläufigen Sieg des Sozialismus und ermutigt durch die sowjetischen Weltraumerfolge, begann Chruschtschow, die Geduld und die Nerven seiner Gegenspieler zu testen. Mit der Drohung, die Viermächtevereinbarungen über Berlin zu kündigen und einen separaten Frieden mit der DDR zu schließen, stellte er nicht nur die Anwesenheit westlicher Truppen in Berlin, sondern ganz generell die amerikanische Bindung an Westeuropa und die Existenz der NATO in Frage. Als die Westmächte festblieben, lenkte der sowjetische Staats- und Parteichef vorerst ein. Chruschtschows Gespräche mit Eisenhower im September 1959 in Camp David Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 318 <?page no="319"?> (der Präsident hatte das Landhaus bei Washington nach seinem Sohn David benannt) und die Vereinbarung eines Gipfeltreffens in Paris weckten neue Hoffnungen auf eine Annäherung der Großmächte. Im Mai 1960 nahm Chruschtschow jedoch den Abschuss eines der U-2-Aufklärungsflugzeuge, mit denen die USA die sowjetischen Rüstungsanstrengungen überwachten, zum Vorwand, die Konferenz platzen zu lassen. (Später behauptete er, es sei ihm hauptsächlich darum gegangen, die Wahl von Eisenhowers konservativem Vizepräsidenten Richard Nixon zu verhindern.) Im Sep‐ tember 1960 schockierte Chruschtschow die amerikanische Öffentlichkeit mit seinen Temperamentsausbrüchen während der New Yorker UNO-Generalversammlung. Er warf den Amerikanern vor, ihre Ureinwohner ausgerottet zu haben, bezichtigte Generalsekretär Dag Hammarskjöld, im Kongo als ein „Instrument der Imperialisten“ zu agieren, und klopfte zum Zeichen des Protests mit seinem Schuh auf den Tisch. Im laufenden Präsidentschaftswahlkampf zogen sich also bereits dunkle Wolken über den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen zusammen. 3 Höhepunkt und Zerfall des liberalen Konsens, 1961 - 1968 John F. Kennedys Aufbruch zur New Frontier Aus den Novemberwahlen 1960 ging der 43-jährige demokratische Senator von Mas‐ sachusetts, John F. Kennedy, als Sieger hervor. Er entstammte einer irisch-katholischen Familie, die durch geschäftliche Erfolge und Reichtum Zugang zur Ostküsten-Elite gefunden hatte. Zum prägenden Erlebnis seiner Jugend war der Aufstieg des National‐ sozialismus geworden, den er von London aus beobachtete, wo sein Vater die USA als Botschafter vertrat. Er lehnte die (vom Vater gutgeheißene) appeasement-Politik der Regierung Chamberlain ab, rief in einem 1940 veröffentlichten Buch zum gemeinsamen Kampf der Demokratien gegen die totalitäre Bedrohung auf und nahm trotz seiner schwachen Konstitution als Kommandant eines Torpedo-Schnellboots am Krieg im Pazifik teil. Nur knapp überlebte er die Versenkung des Bootes durch die Japaner, bewies aber bei der Rettung der Besatzungsmitglieder Nervenstärke und galt fortan als Kriegsheld. Nachdem der ältere Bruder Joseph, auf dem die Hoffnungen des Vaters geruht hatten, 1944 in Europa gefallen war, baute John F. („Jack“) Kennedy mit Hilfe der Familie planmäßig seine politische Karriere auf. Sie brachte ihn zunächst in das Repräsentantenhaus, 1953 in den Senat und 1961 schließlich als jüngsten gewählten Präsidenten und ersten Katholiken ins Weiße Haus. Sympathiepunkte brachte ihm auch seine schöne und gut ausgebildete Frau Jacqueline ( Jackie) Kennedy ein. In der Auseinandersetzung mit seinem republikanischen Gegner Richard M. Nixon plädierte Kennedy für soziale Reformen, Fortschritt und Bewegung auf allen Gebieten. Um den Niedergang der amerikanischen Macht aufzuhalten, für den er die Republika‐ ner verantwortlich machte, appellierte er an den Idealismus und die Opferbereitschaft insbesondere der jungen Generation. Im Umgang mit dem Medium Fernsehen, das erstmals eine wichtige Rolle im Wahlkampf spielte, erwies er sich Nixon deutlich 3 Höhepunkt und Zerfall des liberalen Konsens, 1961 - 1968 319 <?page no="320"?> überlegen. Etwa 100 Millionen Amerikaner verfolgten die vier Fernsehdebatten, die sich die Kandidaten lieferten, und die Mehrheit bescheinigte Kennedy ein besseres Abschneiden. Dennoch fiel sein Vorsprung am Wahltag mit 120.000 Stimmen bei 68,8 Millionen abgegebenen Stimmen denkbar gering aus. Die meiste Unterstützung hatte er in den Großstädten, vor allem bei Katholiken und Afroamerikanern gefunden. In vieler Hinsicht kann man Kennedys kurze Amtszeit von 1961 bis 1963 als den Höhepunkt der Periode des „liberalen Konsens“ und der „imperialen Präsident‐ schaft“ bezeichnen. Im Gefühl der Bedrohung von außen rückten die Amerikaner - ungeachtet aller politischen Differenzen - enger als bisher zusammen. Selten war das Bewusstsein der nationalen Identität, der moralischen Überlegenheit und der Verantwortung für das Wohl der ganzen Menschheit so stark ausgeprägt wie in diesen Jahren. Nicht einmal Franklin D. Roosevelt hat die Zeitgenossen so fasziniert und die Phantasie der Nachwelt so sehr angeregt wie John F. Kennedy und First Lady Jackie. Sein medienwirksamer Charme und die Mischung aus jugendlichem Idealismus und kühler Rationalität signalisierten den Abschied von der Geruhsamkeit der letzten Eisenhower-Jahre und den Aufbruch zu „neuen Grenzen“ - eine Metapher, die den Frontier-Mythos für das politische Tagesgeschäft reklamierte. Das Weiße Haus, in das die Kennedys mit ihren beiden kleinen Kindern frischen Wind brachten, umgaben die Medien mit der romantischen Aura eines Schloss Camelot aus der Artus-Sage. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, betrieben Presse-, Rundfunk- und Fernsehjour‐ nalisten unkritische „Hofberichterstattung“, die Kennedys außereheliche Affären und seinen schlechten Gesundheitszustand (er litt an Rückenproblemen und der Addison Krankheit) ausblendete. Nur allzu bereitwillig stellten sie sich in Krisenzeiten - und die Kennedy-Präsidentschaft glich einer permanenten Krise - in den Dienst der Administration und der „nationalen Sicherheit“. Als der Präsident im November 1963 einem Attentat zum Opfer fiel, erfüllten die Medien das Bedürfnis nach Heroisierung und Verklärung. In der Öffentlichkeit ist dieser „Kennedy-Mythos“ bis heute wirksam, auch wenn sich Historiker seit geraumer Zeit um ein nüchtern-kritisches Urteil bemühen. Kennedys Inaugurationsrede am 20. Januar 1961 war ganz auf die Außenpolitik zugeschnitten. Der Präsident warnte vor der drohenden Gefahr einer Vernichtung der Menschheit durch Atomwaffen, beschwor aber gleichzeitig die Vitalität der Nation, die zur Verteidigung der Freiheit berufen sei. Die Welt solle wissen, dass die Amerikaner „jeden Preis zahlen, jede Last tragen, jede Entbehrung erdulden, jeden Freund unter‐ stützen und jedem Gegner widerstehen“ würden, um diese Mission zu erfüllen. Mit dem immer wieder zitierten Satz: „Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann - frage, was Du für Dein Land tun kannst“ nahm Kennedy jeden Einzelnen seiner Mitbürger in die nationale Pflicht. Der Appell an die Opferbereitschaft fand Gehör, wenngleich der utopisch-apokalyptische Unterton der Rede auch einige Besorgnis auslöste. Um Kontinuität zu demonstrieren und die Wirtschaft zu beruhigen, nahm Ken‐ nedy einige Republikaner in seine Administration auf. Ansonsten umgab er sich mit jüngeren Akademikern und dynamischen Managern (brain trust) wie McGeorge Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 320 <?page no="321"?> Bundy, Robert McNamara, Walt W. Rostow und Arthur M. Schlesinger. Zu den engsten Vertrauten zählte sein Bruder Robert, der als Justizminister u. a. für Bürgerrechtsfragen zuständig war. Im Selbstverständnis dieses Führungszirkels sollte das Weiße Haus zur Quelle der Inspiration und zur Schaltzentrale für die gesamte „freie Welt“ werden. Eisenhowers hierarchisch strukturierten Regierungsapparat ersetzte Kennedy durch einen flexiblen, sehr persönlichen Regierungsstil. Der Zugewinn an Beweglichkeit und Kreativität musste allerdings mit Koordinierungsproblemen und einem schwer durchschaubaren, zuweilen sprunghaften Entscheidungsprozess erkauft werden. Innenpolitisch versprach die Agenda der New Frontier eine Ankurbelung der Wirt‐ schaft, soziale Verbesserungen und Fortschritte in der Rassenfrage. Viele Initiativen blieben aber im Kongress oder im Kompetenzengerangel zwischen Bundesregierung und Einzelstaaten stecken. Nicht strukturelle Reformen, sondern eine keynesianische „Feinsteuerung“ des Wirtschaftskreislaufs sollte die ökonomischen und sozialen Pro‐ bleme lösen. Die günstige Konjunktur, die den USA durchschnittliche Wachstumsraten von 5 Prozent bei stabilen Preisen bescherte, machte Steuersenkungen weitgehend überflüssig. Während die Gewerkschaften der Kennedy-Administration wohlwollend begegneten, überwog im Unternehmerlager das Misstrauen gegen die interventionis‐ tische Wirtschafts- und Finanzpolitik. Im Oktober 1962 ermächtigte der Kongress den Präsidenten zu Zollsenkungen, die dann im Rahmen der „Kennedy-Runde“ des GATT ausgehandelt wurden. Dieser Prozess zog sich jedoch zu lange hin, um die Handelsbilanz der USA wirksam zu entlasten. Als die neuen Tarife 1967 endlich in Kraft traten, nützten sie der amerikanischen Wirtschaft weniger als der inzwischen wettbewerbsfähigeren europäischen und asiatischen Konkurrenz. In der Rassenfrage taktierte Kennedy sehr vorsichtig, um die konservativen Demo‐ kraten in den Südstaaten nicht unnötig herauszufordern, auf deren Unterstützung er angewiesen war. Prinzipiell erkannte er die Notwendigkeit, die Diskriminierung der Afroamerikaner zu beenden, da sie das Eintreten der USA für Freiheit und Gleichheit unglaubwürdig machte und der kommunistischen Propaganda in den neuen unabhän‐ gigen Staaten der „Dritten Welt“ willkommene Munition lieferte. Lange Zeit begnügte sich die Administration aber damit, auf die Bürgerrechtsbewegung zu reagieren, von deren Dynamik sie offensichtlich überrascht wurde. Robert Kennedy versuchte zwar, die Demonstranten im Süden vor gewalttätigen weißen Rassisten zu schützen wie während der Freedom Rides im Jahr 1961, einer Kampagne zur Rassenintegration von Fernreisebussen. Gleichzeitig ließ er jedoch die schwarzen Führungspersönlichkeiten vom FBI überwachen, das sie der Zusammenarbeit mit Kommunisten verdächtigte. Erst im Sommer 1963 rang sich der Präsident angesichts der wachsenden Unruhe in der Bevölkerung dazu durch, die Initiative zu ergreifen. Im Juni leitete er dem Kongress den Entwurf eines Civil Rights Act zu, der ein Verbot der Rassendiskriminierung in allen öffentlichen Einrichtungen vorsah und das Justizministerium ermächtigte, von sich aus gegen die Segregation einzuschreiten. Nach einigem Zögern unterstützte er auch öffentlich den „Marsch auf Washington“, mit dem mehr als 200.000 weiße und schwarze Bürgerrechtler im August den Kongress zum Handeln bewegen wollten. 3 Höhepunkt und Zerfall des liberalen Konsens, 1961 - 1968 321 <?page no="322"?> Unter ihnen war Martin Luther King Jr., der mit seiner Rede „I Have a Dream“ die Vision eines rassenintegrierten Amerika entwarf. Im Fernsehen erklärte Kennedy, die Nation werde „nicht wirklich frei sein, bis alle ihre Bürger frei sind“. Obwohl einflussreiche gesellschaftliche Kräfte wie die Gewerkschaften, die Kirchen und der American Jewish Congress dem Präsidenten den Rücken stärkten, ließ sich der Kongress noch Zeit, so dass Kennedy selbst die Annahme des Gesetzes nicht mehr erlebte. Krisen um Kuba und Berlin Das Hauptinteresse Kennedys galt der Außenpolitik, bei der ihm weder der Kongress noch die Verfassung enge Fesseln anlegten. Er sah sich von der Sowjetunion in die Defensive gedrängt und glaubte deshalb, Stärke und Glaubwürdigkeit demonstrieren zu müssen. Weil er aber auch die Gefahren kannte, die der Menschheit von den Massenvernichtungswaffen drohten, agierte er in der Praxis recht vorsichtig, um eine unkontrollierbare Eskalation zu vermeiden. Durch ein umfangreiches Rüstungs‐ programm, das die Militärausgaben gemäß den Empfehlungen des Gaither Report auf über 50 Milliarden Dollar pro Jahr steigerte, hoffte er, dem Dilemma der „mass‐ iven Vergeltung“ entgehen und seinen Handlungsspielraum erweitern zu können. In diese Strategie der „flexiblen Antwort“ (flexible response) fügten sich psychologische Kriegführung und verdeckte Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency) ein, mit denen Kennedy das Vordringen des Kommunismus in der Dritten Welt aufhalten wollte. In den Brennpunkt des Kalten Krieges rückten Berlin und Kuba, die nach dem Prinzip von Druck und Gegendruck als Krisenherde untrennbar miteinander verbun‐ den waren. Die Sorge um West-Berlin spielte bereits mit, als sich Kennedy in der Schweinebucht-Krise vom April 1961 gegen eine offene militärische Unterstützung der Exilkubaner aussprach, die mit Hilfe der CIA auf der Insel gelandet waren, aber nichts gegen die Übermacht der Castro-Truppen ausrichten konnten. Die Aktion war noch unter Eisenhower geplant worden, und Kennedy hatte nach seinem Amtsantritt nur recht widerstrebend grünes Licht gegeben. Außenpolitisch trug das Unternehmen den USA einen schweren Prestigeverlust und das Propagandaschimpfwort des „Pa‐ piertigers“ ein. Daheim sah sich Kennedy aus Kreisen der Exilkubaner und deren Sympathisanten den Vorwürfen der „Feigheit“ und des „Verrats“ ausgesetzt. Größeren innenpolitischen Schaden wendete der Präsident ab, indem er die volle Verantwortung für das Scheitern der Operation auf sich nahm. Das Verhältnis zu CIA-Direktor Allen Dulles und zu den Joint Chiefs of Staff, die ihm zur Genehmigung der Invasion geraten hatten, blieb aber dauerhaft getrübt. Auf dem Wiener Gipfeltreffen Anfang Juni 1961 konfrontierte Chruschtschow den unsicheren Kennedy mit der Absicht, das Berlin- und Deutschlandproblem notfalls im Alleingang zu lösen. Die US-Regierung rechnete daraufhin mit einer Aktion gegen West-Berlin, wo immer mehr DDR-Bürger Zuflucht und eine Ausreisemöglichkeit in den Westen suchten. Dennoch wurde Washington am 13. August vom Mauerbau überrascht und benötigte länger als einen Tag, um eine Stellungnahme abzugeben. Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 322 <?page no="323"?> Im Grunde war man erleichtert, dass sich die Sowjetunion auf eine Absperrung Ost-Berlins beschränkte und die drei westlichen essentials - Präsenz der alliierten Truppen in West-Berlin; freien Zugang nach Berlin; Selbstbestimmungsrecht der Bürger West-Berlins - unangetastet ließ. Deshalb sah Kennedy keinen Grund, die Krise von sich aus zu verschärfen, und riet auch der Bonner Regierung zur Zurückhaltung. Die offenkundige Bereitschaft der Amerikaner, das sowjetische Vorgehen in Berlin und damit die de facto-Teilung der Nation hinzunehmen, raubte allerdings vielen Deutschen die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung. Bundeskanzler Adenauer argwöhnte, Washington könne in der Deutschland- und Berlinfrage noch weiter nach‐ geben. Entsprechende Ost-West-Verhandlungen kamen aber ebenso wenig zustande wie der angedrohte separate Friedensvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR. Der West-Berliner Bürgermeister Willy Brandt zog aus dem stillschweigenden Arrangement der Supermächte die Konsequenz, dass die Deutschen selbst durch eine „Politik der kleinen Schritte“ langfristig auf die Überwindung der Teilung hinarbeiten müssten. Kennedy blieb auch in der Kubakrise vom Oktober 1962 besonnen, obgleich die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf der Insel eine viel unmittelbarere Herausforderung und Bedrohung der USA darstellte als der Bau der Berliner Mauer. Tatsächlich war die Lage noch ernster, als sie dem Krisenstab im Weißen Haus damals erschien, denn die sowjetischen Truppen auf Kuba verfügten bereits über 36 einsatz‐ bereite Atomsprengköpfe für die Raketen, die fast jeden Punkt in den USA hätten erreichen können. Der amerikanischen Aufklärung war ebenfalls entgangen, dass die Sowjets taktische Atombomben auf die Insel gebracht hatten, die gegen angreifende US-Truppen eingesetzt werden sollten. Erst dieses 1992 von den Russen gelüftete Geheimnis lässt das wahre Ausmaß der Gefahr erkennen, in der die Welt 30 Jahre zuvor geschwebt hatte. Wenn sich Kennedy, wie von mehreren militärischen und zivilen Beratern empfohlen, für die Bombardierung der Raketenstellungen oder für eine Invasion der Insel entschieden hätte, wäre ein atomarer Schlagabtausch mit der Sow‐ jetunion wohl unvermeidlich gewesen. Stattdessen optierte Kennedy für die mildeste der vorgeschlagenen Maßnahmen, eine als „Quarantäne“ bezeichnete Seeblockade Kubas. Auch der Abschuss eines amerikanischen Düsenjägers durch die kubanische Luftabwehr verleitete ihn nicht zu weitergehenden Schritten. In der aufs Äußerste gespannten Lage ließ der Präsident die Kontakte nach Moskau (die hauptsächlich über seinen Bruder und einen KGB-Agenten in Washington liefen) nicht abreißen und blieb kompromissbereit. Er erleichterte Chruschtschow das Einlenken, indem er für den Fall des Abzugs der Raketen zusagte, die USA würden Kuba niemals militärisch angreifen. Vertraulich ließ er die sowjetische Führung darüber hinaus wissen, dass die von Moskau beanstandeten amerikanischen Mittelstreckenraketen aus der Türkei entfernt würden. Notfalls wäre er sogar bereit gewesen, eine Vermittlung durch UNO-Generalsekretär U Thant zu akzeptieren. Das erübrigte sich, als Chruschtschow unerwartet rasch den Befehl zum Abzug der Raketen von Kuba gab. 3 Höhepunkt und Zerfall des liberalen Konsens, 1961 - 1968 323 <?page no="324"?> Die westliche Öffentlichkeit, die den Hintergrund des Krisenmanagements nicht kannte, feierte den Ausgang der Krise als persönlichen Triumph des Präsidenten. Kennedy selbst beurteilte die Dinge nüchterner, nachdem er in den Abgrund eines Atomkrieges geblickt hatte. Er war zu der Auffassung gelangt, dass die Sowjetregierung sein Interesse an einer Begrenzung des Wettrüstens teilte und dass er mit Chruscht‐ schow gemeinsam auf dieses Ziel hinwirken konnte. Den neuen Anlauf zu einer „Entspannungspolitik“ begründete er am 10. Juni 1963 in einer programmatischen Rede an der American University in Washington. Hier würdigte er die schweren Verluste der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs, forderte eine „Strategie des Friedens“ und regte eine verbesserte Kommunikation zwischen Ost und West an, um den Teufels‐ kreis des gegenseitigen Misstrauens zu durchbrechen. Den ersten praktischen Erfolg erzielte er mit einem Teststopp-Abkommen, in dem sich Briten, Amerikaner und Rus‐ sen verpflichteten, keine weiteren überirdischen Atomwaffenversuche durchzuführen. Vitale Interessen der USA gefährdete er dabei nicht, denn technologische Fortschritte hatten Explosionen in der Atmosphäre inzwischen überflüssig gemacht. Ein besonders positives Echo fanden Kennedys Ideen bei den deutschen Sozialdemokraten, für die Egon Bahr, der Berater Willy Brandts, im Juli 1963 „Wandel durch Annäherung“ als Alternative zur sterilen Konfrontation der Blöcke forderte. Die Widersprüche der Dekolonisierung und der Vietnamkonflikt Im gleichen Zeitraum, in dem sich die Lage in Europa stabilisierte, wurden die „entkolonisierten“ Weltregionen zum eigentlichen Schlachtfeld des Kalten Krieges. Aus amerikanischer Sicht sollte eine Kombination von Wirtschaftshilfe und militärischer Unterstützung verhindern, dass die Kommunisten die sozialen Konflikte, die im Mo‐ dernisierungsprozess zwangsläufig auftraten, für ihre politischen Zwecke ausnutzten. Durch die Wirren im Kongo, der 1960 von Belgien schlecht vorbereitet in die Unab‐ hängigkeit entlassen wurde, rückte eine Zeit lang der afrikanische Kontinent in den Brennpunkt des Interesses. Die USA beteiligten sich maßgeblich an einer bewaffneten UNO-Operation zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung, in deren Verlauf Generalsekretär Dag Hammarskjöld im September 1961 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Amerikanische Politiker und Diplomaten wirkten darauf hin, dass der als Verbündeter Moskaus geltende Patrice Lumumba von der Macht ferngehalten wurde, und die CIA war möglicherweise in seine Ermordung verwickelt. Kennedy hatte schon früh auf die Bedeutung Afrikas für die Weltwirtschaft und den Ost-West-Konflikt hingewiesen, aber erst die Kongokrise veranlasste die Administration in Washington, gründlich über eine längerfristige Afrika-Politik nachzudenken. Der Absicherung der westlichen Hemisphäre gegen den kubanischen Revolutionsvirus diente die „Allianz für den Fortschritt“, ein Kooperationsabkommen mit 19 lateinamerikanischen Staaten, für das der Kongress 20 Milliarden Dollar auf zehn Jahre bereitstellte. Überaus positive Resonanz bei der Jugend fand Kennedys Idee eines Peace Corps, das Entwicklungshelfer nach Afrika, Asien und Lateinamerika schicken sollte, um technisches Know-how und Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 324 <?page no="325"?> westliche Werte zu vermitteln. Auch wenn viele der hoch gesteckten Erwartungen enttäuscht wurden, so gelang es Kennedy doch immerhin, in den USA ein Problem‐ bewusstsein für Entwicklungsfragen zu wecken, das den Europäern noch weithin fehlte. (Während seines Deutschlandbesuchs nahm der Präsident an der Gründungs‐ zeremonie des Deutschen Entwicklungsdienstes teil, zu dem er die Bundesregierung mit dem Peace Corps inspiriert hatte.) Anders als Eisenhower war Kennedy bereit, progressiv-nationalistische Bewegungen und Regierungen zu tolerieren, selbst wenn sie sich nicht eindeutig auf die Seite des Westens schlugen. Damit gerieten die USA aber in ein mehrfaches Dilemma: In vielen Fällen war diese „dritte Kraft“ so schwach, dass sie sich nicht einmal mit amerikanischer Hilfe gegen radikalere Konkurrenten durchsetzen konnte; andernorts, speziell in Lateinamerika, hätte ihre Unterstützung bedeutet, traditionell pro-westliche konservative Regimes fallen zu lassen und zumin‐ dest vorübergehend instabile Verhältnisse in Kauf zu nehmen; in der nahöstlichen Krisenregion schließlich brachte Kennedys Sicherheitsgarantie für Israel gemäßigte und radikale Araber gleichermaßen gegen die USA auf. Den Beweis für die Entschlossenheit der USA, ihrer weltpolitischen Verantwortung gerecht zu werden und den Vormarsch des Kommunismus an der Peripherie zu stoppen, wollte Kennedy in Südvietnam antreten. Aus der Sicht der Administration bildete dieses Land, in dem 1961 etwa 15.000 von Nordvietnam und China unterstützte Guerrillas operierten, den strategischen Schlüssel zu ganz Südostasien. Kennedy ging davon aus, dass der Kampf gemäß der counterinsurgency-Doktrin unterhalb der Schwelle des Krieges mit einer Mischung aus wirtschaftlichen, psychologischen und militärischen Maßnahmen gewonnen werden könne. Als Ziel gab er an, die „Herzen und Sinne“ der südvietnamesischen Bevölkerung zu gewinnen und dadurch die Guerrillabewegung zu isolieren. Entgegen dem Geist und Buchstaben des (von den USA allerdings nicht unterzeichneten) Genfer Indochina-Abkommens verstärkte er das amerikanische Militärpersonal in Südvietnam, das die Armee bei der Bekämpfung des Vietcong unterstützen sollte. Nach Anfangserfolgen wurde im Juli 1962 in Washington beschlossen, die mittlerweile 6000 amerikanischen Militärberater ab 1965 schrittweise abzuziehen. 1963 verschlechterte sich die Lage jedoch, und die Zahl der US-Soldaten in Südvietnam stieg weiter an. Außerdem begannen die Amerikaner nun, die südviet‐ namesische Armee systematisch aufzurüsten. Als die Buddhisten-Unruhen im Herbst 1963 offenbarten, dass der Diktator Diem keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung besaß, gab Washington über die Botschaft in Saigon und CIA-Kanäle grünes Licht für einen Militärputsch. Am 1. November 1963 wurde Diem gestürzt und kurz danach ermordet. Bevor Kennedy auf die neue Situation reagieren konnte, fiel er selbst dem Attentat in Dallas zum Opfer. Die viel diskutierte Frage, ob er die Verwicklung der USA in einen konventionellen Krieg vermieden hätte, lässt sich deshalb allenfalls spekulativ beantworten. Dafür sprechen seine generelle Vorsicht und seine Fixierung auf counterinsurgency; dagegen seine Furcht vor dem Domino-Effekt in Südostasien und dem Verlust der Glaubwürdigkeit der USA in der Welt. 3 Höhepunkt und Zerfall des liberalen Konsens, 1961 - 1968 325 <?page no="326"?> Realität und Mythos der „Ära Kennedy“ Das Geschehen zwischen der Ermordung Kennedys in Dallas am 22. November 1963 und seiner feierlichen Beisetzung auf dem Nationalfriedhof in Arlington verdichtete sich für viele Amerikaner zu einem Epocheneinschnitt, zum „Verlust der Unschuld“, die später im Vietnamkrieg und in Watergate ihre Bestätigung fand. Hinter der kollektiven Trauer trat das Bemühen zurück, die Motive und Umstände des Attentats detailliert aufzuklären. Die von Präsident Johnson eingesetzte Warren-Kommission kam 1964 zu dem Ergebnis, Lee Harvey Oswald habe als Einzeltäter gehandelt. Auch ein 1977 vom Kongress gebildeter Untersuchungsausschuss konnte keine gegenteiligen Beweise präsentieren, obwohl in der Zwischenzeit mehrere Verschwörungstheorien - genannt wurden u. a. die Mafia, das KGB, Exilkubaner und die CIA - aufgekommen waren. Aus dem vor kurzem freigegebenen geheimen Aktenmaterial haben sich bislang ebenfalls keine sicheren Anhaltspunkte für ein Mordkomplott ergeben. Das tragische Ende John F. Kennedys hat sicherlich wesentlich zur Legendenbildung und zur Entstehung des „Kennedy-Mythos“ beigetragen. Es gibt aber auch tiefere Gründe für die Faszination, die immer noch von dem 35. Präsidenten der USA ausgeht. Viele seiner Initiativen enthielten gute Ansätze, die er selbst nicht mehr mit letzter Konsequenz verfolgen konnte. Der bemerkenswerte Versuch, gleichzeitig Kalten Krieg zu führen und Gemeinsamkeiten mit dem ideologischen und machtpoli‐ tischen Gegner auszuloten, barg bereits alle Vorzüge und Widersprüche der späteren Entspannungspolitik in sich. Zumindest in einer Hinsicht nahm die Vision der New Frontier konkrete Gestalt an: Im Mai 1961 hatte Kennedy den Kongress aufgefordert, ein Weltraumprogramm zu finanzieren, das bis zum Ende des Jahrzehnts einem Ame‐ rikaner die Landung auf dem Mond ermöglichen sollte. Damit gab er das Startzeichen für einen prestigeträchtigen „Wettlauf zum Mond“, den die USA im Juli 1969 gegen die Sowjetunion gewannen. Das milliardenschwere Apollo-Unternehmen brachte aber nicht nur Amerikaner auf den Mond, sondern trug dazu bei, die Vereinigten Staaten ins Zeitalter der Informations- und Kommunikationsrevolution zu katapultieren. Das harmonische Familienleben im Weißen Haus war, wie man inzwischen weiß, schöner Schein, den die Medien einem leichtgläubigen Publikum vorgaukelten. In der Verbindung von Intelligenz, Reichtum, Schönheit, Erfolg, Macht und Glück verkörper‐ ten John und „Jacky“ Kennedy den „amerikanischen Traum“ par excellence, wie ihn Millionen ihrer Landsleute träumten. Jacqueline Kennedy hatte keinen politischen Einfluss, aber sie verstand es als First Lady, sich ein eigenes Betätigungsfeld zu verschaffen. Ihrem Interesse an moderner Kunst ist es mitzuverdanken, dass die Hauptstadt Washington endlich ein weltoffenes Flair erhielt und dass die Avantgarde in den USA salonfähig wurde. In diesen Jahren begann die amerikanische Kultur, die bis dahin im Schatten der europäischen gestanden hatte, die Alte Welt zu erobern. Seit 1971 erinnert das Kennedy Center for the Performing Arts am Potomac an diesen häufig übersehenen Aspekt der Kennedy-Ära. Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 326 <?page no="327"?> Lyndon B. Johnsons Projekt der „Great Society“ Als Vizepräsident Lyndon B. Johnson unmittelbar nach dem Attentat in Dallas an Bord der Airforce One zum Präsidenten vereidigt wurde, waren der innere Konsens sowie die außenpolitische und wirtschaftliche Hegemonie der USA noch weitgehend intakt. Der ehrgeizige, mit allen Wassern gewaschene Texaner Johnson hatte seinen Heimatstaat von 1949 bis 1961 im Senat vertreten und kannte wie kaum ein anderer die politischen Spielregeln, nach denen der Kongress funktionierte und die das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative bestimmten. Um die vom Vorgänger eingeleiteten Initiativen fortzuführen und seine eigenen Ziele zu verwirklichen, machte er sich die tiefe Betroffenheit und die Stimmung der nationalen Solidarität zu Nutze, die der Tod Kennedys hervorgerufenen hatte. Die innenpolitische Agenda, mit der er das Gesetz des Handelns an sich riss, hatte zwei Schwerpunkte: die endgültige rechtliche und politische Gleichstellung der schwarzen Amerikaner, die Johnson der Öffentlichkeit als Vermächtnis des toten John F. Kennedy präsentierte, und die Gewährleistung der sozialen Sicherheit für alle Amerikaner, die ihm seit seinen Tagen als Lehrer und Direktor einer texanischen New Deal-Behörde für arbeitslose Jugendliche vorschwebte. Der Kampf um die ungeschmälerten Bürgerrechte der Afroamerikaner war inzwi‐ schen zu einer sozialen Bewegung geworden, die von schwarzen und weißen Aktivi‐ sten gemeinsam vorangetrieben wurde und die Sympathien der Bevölkerungsmehrheit eroberte. Dazu trug nicht zuletzt der oft rabiate Widerstand weißer Südstaatler gegen die Rassenintegration bei, den die Medien anprangerten und der dem Ansehen der USA im Ausland schadete. Überdies war der Bewegung in Martin Luther King Jr. ein unangefochtener Führer erwachsen, der den vielen Einzelbestrebungen und lokalen Protesten durch sein Charisma und die Verkündung des Prinzips des gewaltlosen Widerstands - nach dem Vorbild von Mahatma Gandhi - Richtung und Ziel zu geben vermochte. Der Supreme Court und ältere Organisationen wie NAACP und NUL spielten zwar weiterhin eine wichtige Rolle, aber das Geschehen verlagerte sich mehr und mehr in die Städte und Gemeinden des Südens, wo die schwarze Bevölkerung selbst mit Demonstrationen und Boykotten immer mutiger für ihre Grundrechte kämpfte. Die Initiative ging häufig von der Southern Christian Leadership Conference (SCLC) aus, die King und Ralph Abernathy 1957 in Atlanta ins Leben gerufen hatten und in der die Tradition der schwarzen Kirchen aus der Zeit der Sklaverei fortlebte. Neben den Geistlichen trugen schwarze Frauen, die schon lange in der sozialen und karitativen Arbeit engagiert waren, ganz erheblich zur moralischen und organisatorischen Stärke der SCLC bei. Die studentische Jugend, die zunehmend an der Rassenfrage und anderen gesellschaftlichen Problemen Anteil nahm, wurde seit 1960 vom Student Non-Violent Coordinating Committee (SNCC, im Jargon „snick“ genannt) mobilisiert. Es war aus den spektakulären sit-ins hervorgegangen, mit denen afroamerikanische Studenten in den Cafeterias (lunch counters) und Restaurants von Greensboro, North Carolina, die Aufhebung der Segregation erzwungen hatten. Das Credo der SNCC-Mitglieder formulierte am besten die schwarze Aktivistin Ella Baker mit den Worten „strong people don’t need strong leaders“ und hob damit die Bedeutung des grassroots-Akti‐ 3 Höhepunkt und Zerfall des liberalen Konsens, 1961 - 1968 327 <?page no="328"?> vismus hervor. Eine ähnliche Philosophie vertraten die Anhänger des Congress of Racial Equality (CORE), der noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammte. Seine weißen und schwarzen Mitglieder taten sich insbesondere bei den freedom rides im „tiefen Süden“ der USA hervor, mit denen ab 1961 die Überwindung der Rassentrennung in Bussen und anderen Verkehrsmitteln erreicht werden sollte und die häufig von weißen Gewaltaktionen begleitet wurden. Darüber hinaus setzten sich SNCC und CORE jetzt entschieden für die Gewährung des uneingeschränkten Wahlrechts an die Afroamerikaner im Süden ein. Bei ihren voter registration drives, die ebenfalls auf erbitterte Gegenwehr der lokalen weißen Bevölkerung stießen, kamen mehr als zehn Bürgerrechtler ums Leben. Unter den Opfern des Rassenhasses waren viele Juden, die einen hohen Mitgliederanteil an den liberalen Bürgerrechtsorganisationen verzeichneten und die sich als Angehörige einer Minderheit aus historischen Gründen den diskriminierten Afroamerikanern besonders eng verbunden fühlten. Neben der aufopferungsvollen Arbeit an der Basis kann die Bedeutung der Per‐ sönlichkeit Martin Luther Kings - insbesondere seine Wirkung auf liberale weiße Amerikaner - kaum hoch genug eingeschätzt werden. Seine Rede „I Have a Dream“, mit der er am 28. August 1963 - hundert Jahre nach der Emanzipationsproklamation - vor dem Lincoln Memorial in Washington seinen Traum von einer harmonischen, rassenintegrierten amerikanischen Gesellschaft verkündete, wurde weithin als emoti‐ onaler Höhepunkt des bisherigen Kampfes und als Auftakt zur entscheidenden Phase der Bürgerrechtsbewegung verstanden. King gewann noch an Popularität und inter‐ nationalem Ansehen, als das Osloer Nobel-Komitee ihm 1964 den Friedensnobelpreis verlieh. Vor diesem Hintergrund konnte Präsident Johnson den Kongress im Juni 1964 endlich dazu bewegen, den noch unter Kennedy vorbereiteten Civil Rights Act zu verabschieden. Dieses Gesetz brachte den größten Fortschritt in den Rassen- und Geschlechterbeziehungen seit der Sklavenbefreiung 1865 und der Gewährung des Wahlrechts an Frauen 1920: Es untersagte jegliche Diskriminierung auf Grund von Hautfarbe, Religion, nationaler Herkunft oder Geschlecht; es hob die Rassentrennung in der Öffentlichkeit explizit auf; und es schloss die Zuweisung von Bundesmitteln an einzelstaatliche Programme aus, die Minderheiten benachteiligten. Ebenfalls noch 1964 verbot das 24. Amendment die Erhebung der Wahlsteuer (poll tax) oder anderer Steuern, mit denen die Südstaaten seit Ende des 19. Jahrhunderts die Afroamerikaner (und arme Weiße) von der Stimmabgabe abgehalten hatten. Weil der Kongress auf diese Weise Versprechen wahrmachte, die radikale Republikaner schon zur Zeit der Rekon‐ struktion nach dem Bürgerkrieg gegeben hatten, sprach man bald von einer Second Reconstruction, die den Schwarzen und anderen Minderheiten ebenso wie den Frauen endlich die in Verfassung und Bill of Rights niedergelegten Grund- und Menschenrechte bescherte. Als Präsident Johnson in den Wahlen vom November 1964 mit 61,1 Prozent der abgegebenen Stimmen einen Erdrutschsieg über seinen republikanischen Heraus‐ forderer, den erzkonservativen und militant antikommunistischen Senator Barry M. Goldwater aus Arizona errang, zeichnete sich ab, dass die Bürgerrechtsbewegung einen tief greifenden Bewusstseinswandel in der amerikanischen Bevölkerung bewirkt Kapitel 7: Liberaler Konsens und weltpolitische Hegemonie, 1946 - 1968 328 <?page no="329"?> hatte, der die Fortschritte in der Rassenfrage irreversibel machte. Regierung, Kongress, Gerichte und öffentliche Meinung arbeiteten gemeinsam daran, dieses dunkle Kapitel der amerikanischen Geschichte zu überwinden. Der Voting Rights Act von 1965 (und spätere Supreme Court-Urteile wie Katzenbach v. Morgan von 1968) beseitigte die letzten Hindernisse, die dem Wahlrecht der Afroamerikaner in einigen Staaten - z. B. in Form von Schreibprüfungen - noch entgegenstanden. Das Gesetz, das später mehrfach ergänzt wurde, um den Schwarzen wirkliche politische Chancengleichheit zu sichern, ermächtigte außerdem Bundesbeamte zur Überwachung der Wählerregistrierung in den Einzelstaaten. Waren 1960 nur 20 Prozent der Schwarzen in die Wählerlisten eingetragen, so ließen sich zu Beginn der 1970er Jahre über 60 Prozent der wahlbe‐ rechtigten Afroamerikaner registrieren; die Zahl der schwarzen Wähler verdoppelte sich im Jahrzehnt nach 1964 von zwei auf vier Millionen. Einerseits verstärkten weiße Kandidaten nun ihr Bemühen um schwarze Wählerstimmen, andererseits trugen per Gesetz oder Gerichtsbeschluss verfügte Änderungen der Wahlkreisseinteilung dazu bei, dass schwarze Bewerber selbst bessere Chancen erhielten, gewählt zu werden. Ab Ende der 1960er Jahre kam es immer häufiger vor, dass afroamerikanische Politiker Bürgermeisterposten, Parlamentssitze und andere Wahlämter errangen. Zwar gehen diese Erfolge nicht allein oder in erster Linie auf das Konto Präsident Johnsons, aber der moderate Südstaaten-Demokrat hatte es doch immerhin vermocht, die Entwicklung, die einer gesellschaftspolitischen Revolution gleichkam, aus dem Weißen Haus und über den Kongress zu beeinflussen und mitzusteuern. Als der Supreme Court 1967 im Fall Loving v. Virginia das Verbot von Mischehen für verfassungswidrig erklärte, wollten viele Amerikaner gar nicht glauben, dass solche Gesetze in einzelnen Staaten der USA noch existierten. Kaum minder gravierende Auswirkungen hatte die Neuregelung der Einwanderung, die ebenfalls schon unter Kennedy ins Auge gefasst worden war. Das aus den 1920er Jahren stammende Quotensystem, das die Länder des Globalen Südens benachteiligte und den Unternehmern die Anwerbung billiger Arbeitskräfte in Lateinamerika und Asien erschwerte, wurde mit dem Immigra