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Herausforderungen der Wirtschaftspolitik

0510
2021
978-3-8385-5432-7
978-3-8252-5432-2
UTB 
Dirk Linowski

In unserer Zeit der Umbrüche ein nützliches Buch: Diese Umbrüche wurden ausgelöst, weil wieder einmal in unserer Geschichte wissenschaftliche und technologische Entwicklungen den natürlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen so stürmisch vorauseilen, dass nicht nur viele Menschen, sondern auch Staaten und die Natur außer Atem geraten. Das hier vorliegende Buch fordert uns dazu auf, die eingefahrenen Denkpfade der Einzelwissenschaften für wenige Stunden zu verlassen und uns wieder bewusst zu werden, dass Alles mit Allem zusammenhängt. Der Autor lädt uns ein zu einer Weltreise, die vor unserer Haustür beginnt und dort wieder endet. Wie sieht es bei uns und in der Welt aus? Bei Demografie, Bildung, Arbeit, und Migration, die die Wirtschaft beeinflussen? Wie sind die Staaten in der Welt verfasst, wie werden sie regiert, droht ein Rückfall in die Welt der Konfrontationen, gar ein Ende der Demokratien? Der Autor macht uns auf dieser Reise Mut, die fälligen Veränderungen mit zu gestalten und liefert uns beunruhigt, also klüger, vor unserer Haustür wieder ab.

<?page no="0"?> Dirk Linowski Herausforderungen der Wirtschaftspolitik <?page no="1"?> utb 5432 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Dr. h. c. Dirk Linowski studierte an der Universität Rostock und an der Université Paris I, Panthéon Sorbonne, Mathematik und Mathematische Statistik. Im Jahre 1999 promovierte er an der Universität Rostock in Betriebswirtschaftslehre. Nach einer Assistenzprofessur an der Universiteit Nijmegen in den Niederlanden und einem einjährigen Lehr- und Forschungsaufenthalt an der Tongji Universität Shanghai und der Shanghai Normal University (VR China) wurde er im Jahre 2004 auf den Lehrstuhl für Asset Management mit ab 2006 verbundenem Direktorat des Instituts for International Business Studies an der wissenschaftlichen Steinbeis-Hochschule Berlin berufen, das er seitdem innehat. Prof. Linowski war von 2005 bis 2009 MBA-Direktor eines gemeinsamen Programms der Universität Lettlands, deren Ehrendoktortitel er trägt, und der Steinbeis-Hochschule Berlin; er ist - neben zahlreichen Lehr- und Forschungsaufenthalten in den Niederlanden, Frankreich, Neuseeland, den USA, Namibia, Tunesien und Äthiopien - seit 2004 „Distinguished Guest Professor in Applied Mathematics“ an der Shanghai Normal University (VR China) und seit 2008 dauerhafter Gastprofessor an der Riga Graduate School of Law, Lettland. <?page no="3"?> Dirk Linowski Herausforderungen der Wirtschaftspolitik UVK Verlag · München <?page no="4"?> © UVK Verlag 2021 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5432 ISBN 978-3-8252-5432-2 (Print) ISBN 978-3-8385-5432-7 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5432-2 (ePub) Umschlagmotiv: © iStockphoto tobiasjo Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 11 13 29 1 31 1.1 31 1.2 43 1.3 50 51 2 57 2.1 61 2.2 66 2.3 69 2.4 70 2.4.1 73 2.4.2 76 79 3 89 3.1 90 3.2 92 95 4 101 4.1 103 Inhalt Einführung und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I: Demografie, Bildung und Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs . . . . . . . . Wendezeit? Versuch einer geopolitischen Einordnung . . . . . . . . . . . . Werte und Werteorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive vs. Normative Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Ökonomie als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demografie und Demografisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fertilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altersverteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bevölkerungsszenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu- und Abwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alterung und Binnenmigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Zum täglichen Umgang mit Zahlen und Statistik . . . . . . . . . . . . . . . Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kranken- und Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Das Bruttoinlandsprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung im Lauf der Jahrzehnte: Der Weg zu Massenabitur und Massenuniversitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4.2 105 4.3 106 4.4 107 4.5 109 113 5 117 5.1 118 5.2 122 124 127 129 135 137 6 139 6.1 139 6.2 141 6.2.1 141 6.2.2 145 6.2.3 153 6.2.4 160 162 7 165 171 Entwertung der Nichthochschulbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildungspolitik und Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmenbedingungen für Bildung, Bildungseinrichtungen und Bildungsteilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ( Jugend-)Arbeitslosigkeit und Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Zur gesellschaftlichen Diskursfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die deutsche Volkswirtschaft im Weltmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exportweltmeister? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die deutsche Volkswirtschaft in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Kunst, Wissenschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenresumé Teil 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Text direkt zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil II: Staat und technologischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alle Jahre wieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „Giftcocktail“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Währungsmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zinspolitik von EZB und Fed . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen der Niedrigzinspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taget2-Salden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Von der Macht der Ideen (und den Grenzen des Verständnisses) . . Zur Rolle des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Zu Kompromissen verdammt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 <?page no="7"?> 8 175 178 9 191 9.1 195 9.2 197 200 10 205 10.1 208 10.2 210 10.3 213 10.4 213 10.5 215 10.6 219 10.7 219 10.8 223 10.9 225 226 233 239 243 245 Wettbewerb und Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Modelle, Spieltheorie und Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende . . . . . . . . . . . . . . . Grundprinzipien der Umweltökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muscheln in Helmut Schmidts Garten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Nicholas Georgescu-Roegen und die vergessenen Denker . . . . . . . Digitalisierung und Industrie 4.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historischer Abriss zur Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertungen und (Markt-)Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche und erste politische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . Big Data . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krypto-Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die Wirtschaftsprüfung in der Wissensgesellschaft . . . . . . . . . . . . . Zwischenresumé und -plädoyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Text direkt zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil III: Deutschland in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 11 249 11.1 249 11.2 254 11.3 255 11.4 258 11.4.1 259 11.4.2 264 266 12 269 12.1 269 12.2 272 12.3 273 274 13 279 13.1 283 13.2 288 13.3 290 13.4 291 13.5 296 13.5.1 296 13.5.2 299 13.6 300 13.7 305 309 14 315 321 323 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifizierungsansätze von Ländern gemäß ihres wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unternehmen vs. Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion . . . Die BRIC(S)-Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Südamerika und Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Wallersteins Modern World System-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur geopolitischen Situation im Jahr 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Investitionen in Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Russland und die EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Renten, Rentiers und Rentenökonomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wiederaufstieg Chinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geistige Wurzeln und Verbindungen zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . Mao Zedong, Deng Xiaoping und Konfuzius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der wirtschaftliche Reformprozess in China seit 1978 . . . . . . . . . . . . Demografie Chinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Internationalisierung des chinesischen „Modells“ . . . . . . . . . . . . Handelsbeziehungen und -politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturexport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Reformpolitik in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chinas Status im Jahre 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die BRI in Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Always with and behind us? Die (noch) verbliebene Supermacht USA Exkurs: Schulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben zur Selbstüberprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="9"?> 15 325 15.1 327 15.1.1 328 15.1.2 329 15.1.3 330 330 335 341 345 A. 347 B. 371 C. 373 D. 379 E. 385 405 407 411 Die unterste Milliarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die wirtschaftliche Marginalisierung der ärmsten Länder . . . . . . . . . Warenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalströme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Rassismus vs. Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Direkt im Text zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> Einführung und Danksagung Inhalt dieses Buches sind Wissen und Fragen, die ich ursprünglich meinen beiden Kindern vermitteln wollte. Zu Papier gebracht habe ich einen Teil dieser Gedanken erstmalig im Jahre 2015 in Form von drei Studienheften, die ich für die Euro-FH in Hamburg verfasst habe und die Basis für die Vorlesungsreihe „Economic and Political Challenges for Europe“ an der Riga Graduate School of Law in Lettland waren. Das Buch besteht aus den drei miteinander verbundenen Teilen „Demografie, Bil‐ dung und Arbeit“ (Teil I), „Staat und technologischer Wandel“ (Teil II) und „Deutschland in der Welt“ (Teil III), wobei im abschließenden Teil der Versuch unternommen wird, Deutschland in Europa mit den USA, China, Russland, Brasilien und Indien und den Ländern der sogenannten Untersten Milliarde zu einem Gesamtbild zu vereinen, in dem alle Menschen, Unternehmen und Staaten auf vielfältige Art und Weise miteinander verbunden sind. Dass die Ausführungen zu China deutlich umfangreicher als zum Beispiel die zu Russland oder den USA ausfallen, liegt primär daran, dass China in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten zu dem systemischen Rivalen des westlichen Gesellschafts- und damit Wirtschaftsmodells erwachsen ist. Etwa 70% der Weltbevöl‐ kerung leben bereits im Einzugsgebiet der chinesischen Belt and Road Initiative, die in Kapitel 13 und dem nachfolgenden Exkurs ausführlich besprochen wird. Ich habe insgesamt ungefähr vier Jahre meines Berufslebens in China verbracht und denke, die Grundlinien chinesischen politischen Denkens - die die chinesische Führung übrigens offen kommuniziert - gut genug zu verstehen, um diese einem interessierten Laienpublikum hinreichend präzise und verständlich erläutern zu können. Der Ihnen vorliegende Text ist kein klassisches Fachbuch. Sie werden eine Vielzahl von Begriffsabgrenzungen, Verweisen und Referenzen vorfinden; es wird häufig aber auf die eine exakte Definition eines Terminus und eine entsprechende Zitation verzichtet, weil Begriffe bzw. Definitionen in den Sozialwissenschaften oft nicht nur subjektiv, sondern ebenso zeitwie ortsveränderlich sind. Wir werden also mit robusten Definitionen bzw. Begriffsabgrenzungen von vielfach „unscharfer Materie“ auf Ingenieursart arbeiten: Nicht so genau wie möglich, sondern so genau wie nötig. Um die Lesbarkeit des Textes nicht übermäßig zu behindern, wird deshalb nachran‐ gigen bzw. einordnenden Behauptungen nicht immer eine präzise Quelle zugeordnet sein. Im Grunde haben Sie den Versuch einer intelligenten Kompilation bekannten Wissens zur Beschreibung unseres Status quo und möglicher Ausblicke für Deutsch‐ land und Europa in der Hand. Es handelt sich dabei nicht um den Versuch, die Zukunft vorherzusagen, sondern um den hoffentlich Erfolg versprechenderen Versuch, mögli‐ che Zukunftspfade (bzw. deren Unmöglichkeit mangels erfüllter Voraussetzungen, die in der Gegenwart bzw. nahen Zukunft bestimmt werden) zu antizipieren. <?page no="12"?> Dies ist ebenso kein Text zur Erkenntnistheorie, die grundsätzlich auf das Verstehen der Gegenwart referiert: Machen Sie sich an dieser Stelle, falls Sie es noch nicht kennen, mit Platons Höhlengleichnis vertraut. Die Gegenwart lässt sich nicht aus der Gegenwart erklären. Wenn Sie auf dem Weg sind, die Welt etwas besser verstehen zu wollen, müssen Sie sich notwendigerweise mit Geschichte beschäftigen und ebenso mit Philosophie: Das heißt Dinge zu hinterfragen, die wir normalerweise als gegeben annehmen. Das Buch beinhaltet zahlreiche Übungen, die Sie zum Nachdenken und Nachfra‐ gen anregen sollen und für deren Beantwortung Sie zumeist auf weitere Quellen zurückgreifen müssen, sowie Fragen zur Selbstreflexion. Zu den Übungen finden Sie einige Anmerkungen, die aber keine Musterlösungen im klassischen Sinn darstellen, im Anhang. Alle Internetquellen, auf die in diesem Buch verwiesen wird, wurden letztmalig im Januar 2021 überprüft. Bis auf eine Ausnahme werden Sie in diesem Buch nicht die aus der Mikro- und Makroökonomieliteratur gewohnten Angebots- und Nachfragegrafiken finden. Dies ist aus meiner Überzeugung begründet, dass mit Hilfe solcher Grafiken bei komplexen Fragestellungen oft unzulässig vereinfacht wird und dass damit beim Leser vielfach eine Illusion befördert wird, dass Zusammenhänge verstanden wurden, obwohl dies nicht der Fall ist. Am Ende des Buches finden Sie neben einem Sachwortverzeichnis ein Namensver‐ zeichnis. Wenn es Ihnen gelingt, in diesem Buch aufgeführte Fragen, Probleme und Methoden mit einigen der dort aufgeführten Personen zu assoziieren, sollte Ihnen das die Lektüre dieses Buches nicht nur erleichtern, sondern auch Neugier auf mehr machen. Ich danke Marcus Bysikiewicz und Irene Rath von der Euro-FH für die Begleitung der ersten Schritte zu diesem Buch. Der Text in der vorliegenden Form hat sehr von Korrekturhinweisen, Ratschlägen und Fragen von Iris Bockholt, David Kantel, Jacob Kleinow, Verena Lindow und Silvana Stahl profitiert. Ihnen bin ich mit mit tiefem Dank verbunden. Die nicht von mir selbst erstellten Grafiken wurden mir freundlicherweise von den in der jeweiligen Legende genannten Unternehmen, Forschungsinstituten bzw. öffentlichen Einrichtungen kostenfrei zur Verfügung gestellt. Ihnen bin ich ebenso zu Dank verpflichtet. Herrn Jürgen Schechler und Frau Tina Kaiser vom Verlag danke ich für die geduldige wie sachkundige Begleitung des Manuskriptes hin zum Buch. Ich widme dieses Buch dem gebildetsten Menschen, den ich in meinem Leben kennengelernt habe, meinem Vater, und mit ihm den vielen klugen Menschen, die viel gedacht und geschrieben haben und von denen wir nichts wissen. Rostock, im Januar 2021 Dirk Linowski Einführung und Danksagung 12 <?page no="13"?> 1 Die in Europa im Februar 2020 erstmals nachgewiesene Lungenerkrankung, die durch ein Corona‐ virus verursacht wird, wird präzise mit Covid-19 (Corona Virus Disease 2019) bezeichnet. Im Folgenden werde ich den Begriff Corona-Virus verwenden. 2 Der Evolutionsbiologe Jared Diamond listet zum Beispiel in seinem Werk „Vermächtnis“ 16 Defini‐ tionen von Religion auf, um im Anschluss seine eigene Definition zu präsentieren. Ganz sicher wird Diamonds Versuch einer Definition von Religion nicht der letzte gewesen sein. Vorwort Mit dem Schlachtruf „It’s the economy, stupid! “ gewann Bill Clinton 1992 den Kampf um die US-amerikanischen Präsidentschaft. Diese Zuspitzung stellte natürlich eine bewusste Verkürzung dar: Konsens sollte allerdings darüber herrschen, dass eine funktionierende Volkswirtschaft notwendige Voraussetzung eines funktionierenden Gemeinwesens ist. Wiederum zugespitzt: Eine funktionierende Volkswirtschaft ist zwar nicht alles, aber ohne eine solche ist alles nichts. Das Ereignis des Jahres 2020 war nicht, wie noch zu Beginn des Jahres antizipiert, der Brexit, es waren nicht Folgen der von Greta Thunberg initiierten „Klimabewegung“, nicht die Entwicklung der Handelstreitigkeiten bzw. die geopolitische Rivalität zwi‐ schen den USA und China, und es wird ebenso nicht die im November 2020 von Joe Biden gewonnene Präsidentschaftswahl in den USA gewesen sein: Das Ereignis des Jahres 2020 war der Ausbruch und die anschließende weltweite Verbreitung des Coronabzw. Covid-19-Virus‘ 1 und die unterschiedlichen Auswirkungen und „Antworten“ auf und von Individuen, Unternehmen und Staaten bzw. Regierungen. Auch wenn bei Drucklegung dieses Textes bereits zweifelsfrei feststeht, dass die westlichen Gesellschaften in kurzer Zeit fundamentale Veränderungen hinsichtlich ihres Gesellschaftsverständnisses und damit auch hinsichtlich ihres Wertschöpfungs‐ modells durchlaufen, so werden die tatsächlichen Veränderungen unserer Gesellschaft naturgemäß erst nach größerer zeitlicher Entfernung klarer sichtbar sein. Wir sind noch mittendrin. Dieses Buch ist den Herausforderungen der Wirtschaftspolitik und damit dem Umfeld, in dem Wirtschaftpolitik stattfindet, gewidmet. Unabdingbare Voraussetzung für dessen adäquate Behandlung stellen ein Grundverständnis der Prinzipien der Volks‐ wirtschaftslehre und insbesondere klare bzw. geklärte Begriffe dar, um sicherzustellen, dass weitgehende Einigkeit besteht, worüber überhaupt geredet wird. Mit Definitionen ist es nicht nur in der Wirtschaft so eine Sache: Ist die Definition zu eng formuliert, grenzt sie zu sehr aus und ist damit für die Praxis untauglich, ist sie zu weit gefasst, erklärt sie nicht mehr hinreichend präzise. 2 Unter Wirtschaftspolitik werden in diesem Text zielgerichtete Eingriffe in den Bereich der Wirtschaft durch dazu legitimierte Instanzen verstanden: Wer das ist und wer nicht, wird in diesem Buch erörtert. Wir wollen also verstehen, was die Wirtschaftspolitik, die in Deutschland auf den unterschiedlichen Ebenen von den Kom‐ <?page no="14"?> 3 Der Philosoph Friedrich Nietzsche versuchte z.B. bereits in den 1870er Jahren, Kunst und Naturwis‐ senschaft über die Brücke der Philologie „zu versöhnen“. munen und Landkreisen über die Bundesländer und den Nationalstaat Bundesrepublik Deutschland bis hin zur Europäischen Union stattfindet, im Zusammenspiel mit der Geldpolitik und der Rechtsprechung leisten kann und was nicht. Dabei werden wir uns weniger mit den technischen Instrumenten der Fiskal- und der Geldpolitik beschäftigen - dafür gibt es einschlägige Fachliteratur - als vielmehr versuchen, ein Verständnis des Rahmens, in dem die Wirtschaft bzw. unser Leben stattfindet, zu entwickeln. Wie beim Erlernen einer (Fremd-)Sprache bedarf es in jeder Wissenschaft eines Vokabulars, um anschließend Sätze bilden zu können. Um den Ihnen vorliegenden Text gewinnbringend zu lesen, sind keine Spezialkenntnisse, wohl aber eine Vertrautheit mit den grundlegenden Begriffen und Konzepten der Mikro- und der Makroökonomie erforderlich. Die Verwendung wissenschaftlicher Methoden ist in unserer Zeit der präferierte Zugang zum Verständnis der Welt. Ein alternativer Zugang kann über die Kunst erfolgen. 3 Das nun ca. 400 Jahre alte Gedicht von John Donne in deutscher Übersetzung von Paul Baudisch, das Ernest Hemingways über seinen berühmt gewordenen Roman „Wem die Stunde schlägt“ stellte, zeigt uns, dass bestimmte Gedanken nicht neu sind, oder positiver ausgedrückt, dass sie nicht aus der Mode kommen. Kein Mensch ist eine Insel, ganz für sich allein; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Ganzen. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, oder das Haus deines Freundes oder dein eigenes. Jedermanns Tod macht mich geringer, denn ich bin verstrickt in das Schicksal aller; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt für dich. Die Folgen der weltweiten Verbreitung eines Corona-Virus’ werden im öffentlichen Raum direkt mit den Begriffen Krise (oft mit vorgeschalteten starken Attributen) und Schwarzer Schwan versehen. Während unter dem Begriff der Krise mehr oder weniger einheitlich eine schwierige bzw. gefährliche zeitlich beschränkte Situation, in der richtungsweisende Entscheidungen zu treffen sind, verstanden wird, wird der Begriff Schwarzer Schwan, ein in unserem Kontext wirtschaftliches bzw. die Wirtschaft beeinflussendes Ereignis, welches nicht vorhersehbar ist und welches alle Beteiligten völlig unvorbereitet trifft, zumeist weit weniger zutreffend verwendet. (Ausführlichere Vorwort 14 <?page no="15"?> Betrachtungen zu Schwarzen Schwänen finden Sie in Kapitel 6 zu den Aktien-, Rohstoff- und Währungsmärkten.) Tatsächlich haben wir Menschen die wohl unvermeidbare Tendenz, die Ereignisse, die in unserer eigenen Lebenszeit stattfinden, als besonders bedeutend wahrzunehmen, auch weil es uns nicht gegeben ist, mehr als ein oder zwei Generationen weiter zu denken. Krisen oder gesellschaftliche Umbrüche sind aber so alt wie die Zivilisationsge‐ schichte: Wenn Sie „lediglich“ etwas mehr als die vergangenen 100 Jahre in Deutschland Revue passieren lassen, gab es zwei furchtbare Weltkriege mit vielen Millionen Toten, womit das Leid der meisten Überlebenden nicht beendet war. Jedes Land der Erde hätte hier seine Geschichte(n) zu erzählen. Etwas näher an der Gegenwart: Die Ölkrisen der 1970er Jahre, der friedliche (! ) Zusammenbruch der Sowjetunion und damit des Ostblocks, die Angriffe islamistischer Terroristen auf die USA im Jahre 2001 und der darauf von US-Präsident George W. Bush ausgerufene Krieg gegen den Terror und selbst die Finanzkrise, die 2008 mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers in New York ihren Ursprung nahm, sind für viele, nicht nur junge, Menschen bereits sehr weit weg. Tatsächlich sah jede Krise an ihrem Ende nicht nur Verlierer, sondern ebenso Gewinner. Wirklich vorbereitet waren dabei stets die Wenigsten: Eine klassische Krisenbewältigung ist zuvorderst ein Blick in den Rückspiegel. Die westliche Antwort auf die letzte große Krise bestand somit aus Maßnahmen, die darauf zielten, das Finanzsystem robuster und die Banken sicherer zu machen: Die Beschäftigung mit Krankheitsverbreitung und Seuchenbeherrschung gehörten jedenfalls nicht dazu. Ebenso sicher wird irgendwann eine neue Krise kommen, bei der uns die ab dem Jahr 2020 gewonnenen Erkenntnisse vermutlich wenig nützen werden. Demografie und Technologie Wesentlicher Bestandteil oder - je nach Betrachtungswinkel - Basis jeder Volkswirt‐ schaft ist die in ihr lebendende Bevölkerung, die als Individuen und Unternehmen konsumieren und produzieren. Bevölkerungen sind aber nichts Statisches. Insgesamt sind die Menschen in Europa in den vergangenen Jahrzehnten älter geworden und sie bekamen weniger Kinder; tat‐ sächlich können wir diese vergangenen Entwicklungen aber nicht einmal mittelfristig „seriös“ extrapolieren. In Teil I dieses Buches werden Ihnen zunächst die Grundkon‐ zepte und -erkenntnisse der Demografie und die damit verbundenen Probleme der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung sowie von Bildung - Bildungspolitik ist im erweiterten Sinne Wirtschaftspolitik! - und Arbeit erläutert. Als den zweiten großen Treiber von gesellschaftlicher Entwicklung werden wir neben der demografischen die technologische Entwicklung herausstellen. Krisen sind fast nie Ursachen für gesellschaftliche Entwicklungen, sie sind Auslöser und Beschleuniger. Zu keinem Zeitpunkt der Menscheitsgeschichte gab es mehr tech‐ nologische Entwicklungen in der Fahrzeugindustrie als während der beiden Weltkriege und kurz danach - von Autos über Panzer zu Flugzeugen und Raketen - und es waren Vorwort 15 <?page no="16"?> 4 Hier hätte natürlich erst einmal geklärt werden müssen, was unter Globalisierung zu verstehen ist. Ich bitte um Nachsicht, dass dies erst später passieren wird. die historisch jungen Krankheiten Poliomyelitis (auf deutsch Kinderlähmung) und Aids, die die Virusforschung vorantrieben. Einige Gewinner der Zeit nach der Corona-Krise sind bereits sichtbar. Die über Jahre beschworene Digitalisierung bzw. die sie vorwärtstreibenden Unternehmen, die passende Produkte anzubieten haben, ist nun dabei, weltweit den entscheidenden Schub bzw. Durchbruch zu erfahren. Lern- und Meetingsoftware entwickeln sich rasant und ermöglichen nicht nur die Abhaltung von Online-Veranstaltungen, sondern insgesamt zunehmend effizientes Arbeiten im Home-Office und wirken damit auf unsere Studier- und Arbeitsweise zurück. Ebenso erfordert es im Jahre 2021 weder viel Phantasie noch Prophetie, um enorme Entwicklungen in der Medizintechnik und der Gentechnik vorherzusagen. Frei nach Karl Marx: Die Produktivkräfte treiben die Produktionsverhältnisse, die den Rahmen abgeben, in dem sich die Produktivkräfte bewegen und entwickeln, wobei die Produktionverhältnisse aber wieder auf die Pro‐ duktivkräfte zurückwirken. Diese Argumentation kann auch auf Staaten übertragen werden. Deutschland hatte Anfang 2020 im Gegensatz zu vielen EU-Partnern gut gefüllte Kassen und Deutschland konnte seine Unternehmen und Bürger somit deutlich besser unterstützen, als dies z.B. in den süd- und südostdeutschen EU-Staaten der Fall war. Deutschland und seine Unternehmen werden also a priori im Sinne eines „Macht-Nullsummenspiels“ durch die Corona-Krise in der EU stärker werden müssen; ganz sicher nicht zu jedermanns Begeisterung. Auf der Ebene der Volkswirtschaften wird seit Ende der 2010er Jahre ein Trend zur Deglobalisierung  4 nicht nur beobachtet, sondern ebenso im öffentlichen Raum kommentiert: Damit wird stark vereinfacht ein wirtschaftspolitischer Kurs von Staaten oder Staatenbündnissen verstanden, die sich einer weiteren Weltmarktintegration (teilweise) „verweigern“ bzw. sich und ihre Wirtschaftssektoren mit protektionisti‐ schen Maßnahmen zu schützen versuchen. Wichtige Gründe der Deglobalisierung bestehen darin, dass sich die Kostenvorteile bei den Aufwendungen für Löhne in den einstigen „Billiglohnländern“ wie insbesondere China relativiert haben, ebenso die Erkenntnis, dass es in den entwickelten Ländern viele Globalisierungsverlierer gibt und das Erscheinen sogenannter populistischer Parteien, die Auswirkungen der stra‐ tegischen Rivalität zwischen den USA und China u.v.m. Deutschland als Exportland von Investitionsgütern war bzw. ist dabei (noch) ein Profiteur von freiem oder gering regu‐ liertem Welthandel. Es war somit bereits vor Ausbruch der Corona-Krise zu erwarten, dass eine Abschwächung der Weltkonjunktur in Verbindung mit protektionistischen Maßnahmen nicht nur der USA große Auswirkungen auf die Beschäftigung und die Profitabilität zahlreicher deutscher Unternehmen haben wird. Diese Entwicklung wird nun mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit deutlich schneller werden. Wir werden also auch in der Wirtschaftspolitik lernen müssen, besser in Szenarien zu denken. Verweise auf Schwierigkeiten bei der Schätzung objektiver Wahrscheinlich‐ Vorwort 16 <?page no="17"?> 5 Ceteris paribus, abgekürzt c.p. - unter sonst gleichen Umständen - ist in der Wirtschaftswissenschaft eine gängige Bezeichnung für wichtige Einschränkungen. 6 Von 1890 bis 1911 regierten mit Benjamin Harrison, Grover Cleveland, William McKinley, Theodore Roosevelt und William Howard Taft 5 US-Präsidenten. Hier wurde also ein wirklich „dickes Brett“ gebohrt. 7 Amazon könnte ebenso ein neues Standard Oil werden, wenn sich andere Interessengruppen in den USA durchsetzen. keiten bringen uns hier nicht weiter; notwendig wie hinreichend ist, dass eine Situation für möglich erachtet wird, um sich darauf entsprechend vorzubereiten. Ein übergeordneter Trend zur Monopolisierung bzw. Steigerung des Konzentrati‐ onsgrades wird ceteris paribus 5 jedenfalls in Teilen der westlichen Volkswirtschaften beschleunigt. Dieser bleibt allerdings keinesfalls zwingend (vgl. Kapitel 7 zur Rolle des Staates und Kapitel 8 zu Wettbewerb und Regulierung). Wie oft lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Äußerst aufschlussreich ist hier die Beschäftigung mit der Entwicklung der Anti-Trust-Gesetzgebung und -rechtsprechung in den USA und den Auseinandersetzungen zwischen diversen US-Regierungen und Rockefellers Standard Oil Company von 1890 (Verabschiedung des Sherman-Acts) bis 1911 (endgültige Zerschlagung von Standard Oil). 6 Ähnliches wäre um die Jahrtausendwende übrigens fast der damals als übermächtig wahrgenommenen Firma Microsoft passiert und wird in der Gegenwart immer wieder bezüglich Facebook, Amazon und Google diskutiert. Wie vor mehr als 100 Jahren gilt heute ebenso, dass Macht (fast immer) Geld sticht. Inwieweit der unterstellte Trend zur Monopolisierung tatsächlich übergeordneter Natur war, kann historisch also bezweifelt werden. Der Anteil der KMU in Deutschland bzw. der EU an der Gesamtbeschäftigung (ca. ⅔) sowie der Bruttowertschöpfung (ca. die Hälfte) war über Jahrzehnte näherungsweise konstant (vgl. Teil II). Grundsätzlich gilt in den modernen westlichen Gesellschaften unverändert, dass ein Unternehmen mindestens mittelfristig innerhalb einer existierenden (und sich verändernden) Rechts‐ ordnung im schlechtesten Fall eine Schwarze Null erwirtschaften muss (zu Schulden von Staaten, Unternehmen und Haushalten siehe Kapitel 7, 8 und 14). Während zahlreiche kleine und mittelgroße Unternehmen im Servicebereich die Corona-Krise nicht überstehen konnten oder können werden, ist u.a. bereits absehbar, dass Amazon c.p. noch mächtiger wird. 7 Um die Logik dieser Entwicklung zu sehen, müssen Sie die Eigenschaften und den Zusammenhang zwischen Erlösen, Fixkosten, variablen Kosten und Gesamtkosten sowie die Rolle von Schulden in Verbindung mit Zinsen im betriebswirtschaftlichen wie im gesamtwirtschaftlichen Kontext verstanden haben. In Deutschland waren seit dem Jahr 2010 recht stabil ca. ¾ der Beschäftigten im Dienstleistungssektor tätig, wobei die Gesamtbeschäftigung in dieser Dekade mit der Bevölkerung von 41,1 Mio. auf ein Allzeithoch von 45,3 Mio. im Jahr 2019 wuchs (die geleisteten Erwebsstunden pro Beschäftigten und die Quote der Selbstständigen waren dabei seit 2012 leicht rückläufig). Der Dienstleistungssektor umfasst Tätigkeiten, die Leistungen im sogenannten tertiären Wirtschaftssektor erbringen. Dazu zählen u.a. Buchhalter und Leichenbestat‐ Vorwort 17 <?page no="18"?> 8 Um die Lesbarkeit deses Textes nicht unnötig zu erschweren, wird im Folgenden auschließlich die männliche Form von Personengruppen verwendet. ter, Kellner und Wirtschaftsprüfer, Polizisten und Krankenpfleger 8 und grundsätzlich alle Dienstleisungen, die im öffentlichen Sektor erbracht werden. Es ist weitgehend deterministisch absehbar, dass Berufe, die auf persönlichem Kontakt beruhen, sich zumindest verändern werden bzw. dass „nach der Krise“ insbesondere in niedrig bezahlten Tätigkeiten wie im Hotel-, Gaststätten- und Tourismusgewerbe - also dort, wo enger persönlicher Kontakt nicht zu vermeiden ist - weniger Menschen tätig sein werden als zuvor. Vor allzuviel Optimismus der Hochschulabsolventen muss hier allerdings deutlich gewarnt werden! Empfohlen sei an dieser Stelle die Lektüre des Vater-und-Sohn-Buches von Richard und David Susskind aus dem Jahre 2017 „The Future of the Professions: How Technology Will Transform the Work of Human Experts“, in dem mögliche zukünftige Auswirkungen der Digitalisierung auf Anwälte, Lehrer und Professoren, Architekten, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer und einige weitere freie Berufe besprochen werden. Die Verfasser stellen dabei fest, dass fast alle Interviewpartner und Leser den Grundthesen des Buches zustimmten, aber gleichzeitig verneinten, selbst substanziell von der Digitalisierung betroffen zu sein. Es lohnt sich somit sehr, darüber nachzudenken, warum z.B. Ärzte glauben, dass Steuerberater im Gegensatz zu sich selbst einem rabiaten technologischen Wandel unterworfen sein werden und umgekehrt. Kognitionspsychologen verwenden hier den Begriff confirmation bias: Menschen nehmen bevorzugt Informationen auf, die ihre vorgefasste Meinung bestätigen bzw. ihre Erwartungen erfüllen. Anders ausgedrückt: Intelligenz und Bildung begünstigen a priori weder Erkenntnisfähigkeit noch die Fähigkeit zur Selbstkritik, sondern sie verstärken (wenn auch nicht immer) oft eigene Vorurteile. Status quo Deutschland stand Mitte des Jahres 2020 im internationalen Vergleich wirtschaftlich sowohl absolut als auch relativ gut da. Die vielgeschmähte Schwarze Null sorgte dafür, dass die Kassen der öffentlichen Hand und der meisten Sozialversicherungsträger gut gefüllt waren. Die Arbeitslosigkeit war im internationalen Vergleich gering, Produktivität und Beschäftigungsquote befanden sich auf hohem Niveau. Tatsächlich war bereits Jahre vor der Corona-Krise in der Mitte der deutschen Gesell‐ schaft eine tiefe Verunsicherung zu konstatieren, gepaart mit sozialen Abstiegsängsten der Mittelschicht. Dabei stellte die seit Sommer 2015 virulente Flüchtlingskrise in vielerlei Hinsicht einen Kristallisationspunkt dar, dies verbunden mit Fragen, in welcher Art von Gesellschaft wir und unsere Kinder zukünftig leben wollen. Blicke zu unseren europäischen Nachbarn (Stichwort u.a. Gelbwesten in Frankreich) zeigen uns, dass wir mit dieser Unsicherheit nicht allein sind. Bereits seit Beginn der 2010er Jahre mehren sich die Stimmen aus Wissenschaft und Medien, die die deutsche Gesellschaft vor zu viel Selbstgefälligkeit warnen und die - in‐ nerhalb von weniger als zwei Generationen - eine mehr oder weniger düstere Zukunft Vorwort 18 <?page no="19"?> 9 Damit sind nicht widerlegte Vorwürfe gemeint, dass die Fußball-WM in Deutschland im Jahr 2006 „gekauft“ war. 10 Hier stehen wir vor dem Dilemma, dass eine wirtschaftliche Erholung steigende Konsumausgaben erfordert, aber ebenso bekannt ist, dass wir unser Wirtschaftsmodell grundlegend ändern müssen, wollen wir nicht sehenden Auges unsere Umwelt und damit unsere Lebensgrundlage (weiter) ruinieren. Während die privaten Ausgaben in Deutschland etwa die Hälfte der Wirtschaftsleistung betragen, sind dies in den USA ca. zwei Drittel. 11 Der vollständige deutsche Titel des sehr lesenswerten Buches, dessen Lektüre durch eine solide ökonomische Vorbildung erleichtert wird, lautet „Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern“. für unser Land zeichnen. Dabei hatten die „Entzauberung des Sommermärchens“ 9 und der seit Herbst 2015 andauernde und fünf Jahre später noch immer nicht vollständig bewältigte Abgasskandal, in den die deutschen „Vorzeigefirmen“ Volkswagen und Daimler verstrickt sind, sehr sicher die Qualitäten von Brandbeschleunigern. Nach etwa 25 Jahren relativer Ruhe in Europa befinden wir uns in zahlreichen Debatten bis hin zur Abschaffung des Bargelds, die vor allem eines zeigen: einen Mangel an Orientierung. Mehr geistige Vielfalt! Mehr Streit! Die Gesellschaft, also wir alle und am besten jeder selbst zuerst, wird kluge Gedanken brauchen, um zu erkennen, wie zukünftig die Wertschöpfung der Gesellschaft und die Verteilung des Wohlstandes beschaffen sein sollten. 10 Damit verbunden sein werden Forderungen von Zwangsenteignungen Superreicher (was auch immer superreich bedeutet), der Einführung eines Bedingungslosen Grund‐ einkommens (von dem Dutzende sich stark unterscheidende Versionen kursieren) und hoffentlich davor eine in Breite und Tiefe qualifizierte Diskussion, die sich zentralen Fragen unseres Gemeinwesens widmet. Dazu werden die Rolle des Staates und damit verbunden die von der am University College London tätigen Ökonomin Mariana Mazzucato wieder gestellte alte Frage „Wie kommt der Wert in die Welt? “ 11 gehören müssen. Hier ist zu hoffen, dass wir in Zukunft mehr geistige Vielfalt und echte konstruktive Diskussion erleben werden. Aus den Universitäten, nicht nur in Deutschland, kam hier in den vergangenen Jahrzehnten viel zu wenig Nützliches oder gar Innovatives. Dies ist leicht erklärbar, da junge Nachwuchswissenschaftler für „Außenseitertheorien“ keine Fachzeitschriften zur Publikation finden, i.a. keine externen Finanzmittel (Drittmittel) erschließen und damit auch keine Karriere machen (mehr dazu in Kapitel 4). Das für den Verfasser dieses Textes schlagendste Argument für die Behauptung, dass sich die Ökonomie, die bei aller Mathematisierung eine Sozialwissenschaft ist, aktuell in keinem guten Zustand befindet, ist empirisch begründet: Sowohl in Chicago als auch in Frankfurt, Riga, Ulaan Bator und Shanghai sind die verbindlichen Lehrwerke der Volkswirtschaftlehre zumeist die beiden (guten! ) Bücher „Macroeconomics“ und „Economics“ von Gregory Mankiw. Mit anderen Worten: Von Chigaco über Frankfurt Vorwort 19 <?page no="20"?> 12 Dies gilt für alle Zeiten und alle Kulturkreise. Während das „geistige“ Vergessen in Europa primär die Geistes- und Sozialwissenschaften betrifft, wurden in China vom 10. bis zum 17. Jahrhundert während der Song- und der Ming-Dynastie in der Technik und Naturwissenschaft durch „Einzel‐ kämpfer“ herausragende Erfindungen und Entdeckungen gemacht, die aber nicht weitergegeben wurden und somit eine Generation später zumeist wieder vergessen waren (vgl. Kapitel 13). In den westlichen Ländern gingen zudem innerhalb der vergangenen zwei Generationen vor allem bei Männern grundlegende handwerkliche Fähigkeiten, d.h. die Fähigkeit, den sprichwörtlichen Nagel in die Wand zu schlagen, weitgehend verloren. Ein selbst in die Wand geschlagener Nagel trägt allerdings auch nicht zum BIP bei (vgl. Exkurs zu Kapitel 3). nach Shanghai werden die Studenten der Volkswirtschaftslehre auf eine fast identische - und damit notwendigerweise beschränkte - Art und Weise ausgebildet bzw. geprägt. Tatsächlich traf der Ausbruch der Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 und ihr anfänglicher Verlauf die weltweite Community der Volkswirte völlig unvorbereitet: Weder wurde die Finanzkrise von namhaften Experten vorhergesagt noch waren Notfallpläne verfügbar; die Politik - in Deutschland die Bundesregierung mit Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück - musste sich allein „durchkämpfen“. Nicht überraschend hat dies die Wertschätzung der Volkswirtschaftlehre nicht nur bei Kanzlerin Angela Merkel nachhaltig geprägt. Einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung zur akademischen „Monokultur“ - zu Problemen mit Monokulturen informieren Sie sich dort, wo sie herkommen: aus der Landwirtschaft - haben die großen amerikanischen Lehrbuchverlage, die ihre Ableger in allen hinreichend großen Märkten von Deutschland bis China haben. Hochschullehrer erhalten Freiexemplare von Büchern (von denen natürlich erwartet wird, dass sie den Studenten empfohlen werden) und dazu werden - für den Hochschul‐ lehrer natürlich kostenfrei - zusätzliche Materialien wie Powerpointpräsentationen, Übungsaufgaben mit Lösungen und didaktische Hinweise gestellt. Dies ist übrigens keine Klage oder gar eine Anklage der Verlage. Deren Geschäftsmodell funktioniert nur, weil es an den Universitäten genug Leute gibt, die sich gern bei ihrer Arbeit „helfen“ lassen. Wie es zu dieser „Monokultur“ kommen konnte und warum u.a. die Encyclopaedia Britannica und der Brockhaus praktisch verschwunden sind, wird in den Kapiteln 4 und 11 mit Verweis auf die elementaren Prinzipien der Kostentheorie erörtert. In den vergangenen Jahrzehnten ist auf fast allen Ebenen der westlichen Gesellschaf‐ ten die Fähigkeit zum konstruktiven Streit weitgehend verloren gegangen. Zudem geriet die Methode der Dialektik (hier im Sinne des Lösens von Gegensätzen im Denken) fast völlig in Vergessenheit. Wir müssen somit auch noch verstehen lernen, dass Wissen nicht nur geschaffen wird, sondern dass es auch verloren geht. 12 Dass genau dies nicht flächendeckend geschieht, ist Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenwissenschaften, wollen sie eine Existenzberechtigung bewahren. Eine echte Diskussion muss schlussendlich nicht mit einer „Einheitsmeinung“ enden: Zwei der ganz Großen der ökonomischen Zunft, John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek, vertraten zeitlebens unterschiedliche ökonomische Theo‐ Vorwort 20 <?page no="21"?> 13 Diese These hat Farmer in dem für ein Laienpublikum verfassten Buch „How the Economy Works" und dem für Ökonomen verfassten „Expectation, Employment and Prices“ ausgearbeitet. Beide Bücher erschienen im Jahr 2010. rien und damit auch Gesellschaftskonzepte; beide wollten jedoch den Kapitalismus nach der schweren Depression ab 1929 „retten“ und beide begegneten sich zumeist mit Respekt. Sie unterschieden sich, wenn man dem britisch-amerikanischen Ökonomen Roger E. Farmer, folgt, weniger als gemeinhin behauptet: Farmers Antwort auf die Frage Keynes oder Hayek? lautet Keynes und Hayek! 13 Zudem hat die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen im Westen in den vergangenen Jahrzehnten auf allen Ebenen rapide abgenommen. Niall Ferguson, einer der renommiertesten lebenden westlichen Historiker, sieht darin einen wesentlichen Grund für die im Titel seines im Jahr 2012 veröffentlichten Buches „Der Niedergang des Westens“ ausgedrückte These. Dies betrifft Eltern, die die Schulen als verantwortlich an allem ihren Nachwuchs betreffenden Übel sehen, Manager, die hohe Gehälter und Abfindungen kassieren, aber für Fehlentwicklungen in ihren Unternehmen nicht zuständig sind, u.v.m. Auf die deutsche Bundespolitik übertragen bedeutet das, dass „unangenehme“ Entscheidungen über Jahrzehnte an das Bundesverfassungsgericht und die Europäische Zentralbank „abgeschoben“ wurden. Zentrale Thesen John Maynard Keynes, dem wir in diesem Buch noch des Öfteren begegnen werden, wird das Bonmot „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und was machen Sie? “ zugeschrieben. In dem Ihnen vorliegenden Buch wird die zentrale These verfochten, dass notwendige Voraussetzungen für eine insgesamt hohe gesellschaftli‐ che „Lebensqualität“ in einer komplexen Gesellschaft, die auf einem hohen Grad an Arbeitsteilung beruht, eine hohe allgemeine Bildung der Bevölkerung, nicht zu große Ungleichheit in Vermögen und Einkommen und die Fähigkeit, Fehler nicht nur zu erkennen, sondern zu korrigieren, sind. Hier können und müssen wir in Zukunft mehr von anderen Ländern lernen, und das betrifft nicht nur Dänemark oder die Schweiz, sondern ebenso China mit seinem konkurrierenden Gesellschaftsmodell. Verkomplizierend kommt heute hinzu, dass es auf Grund der fortgeschrittenen Spe‐ zialisierung in jedem Teilfachgebiet nur wenige echte Experten gibt, die dann auch noch zum Teil deutlich unterschiedliche Gedanken und Empfehlungen entwickeln. Denken Sie hier z.B. an die beiden Professoren der Virologie Christian Drosten und Alexander Kekulé, die ab Februar 2020 mehrere Monate lang quasi omnipräsent in deutschen Talkshows und Broadcasts waren und die zwar oft, aber nicht immer zu den gleichen Schlussfolgerungen bzw. Interpretationen kamen. Stellen Sie sich dann vor, in der Situation der Bundeskanzlerin oder des Gesundheitsministers zu sein, und rasch Entscheidungen treffen zu müssen. Folgen Sie Professor Kekulé oder Professor Drosten? Oder gar dem Chefepidemiologen der schwedischen Gesundheitsbehörde Anders Tegnell, der eine qualitativ andere, offenere Strategie zur Bewältigung der Corona-Krise empfahl? Ausführungen zu den beiden fundamentalen Fehlern, das Vorwort 21 <?page no="22"?> Falsche zu tun oder das Richtige nicht zu tun, finden Sie im Exkurs zu Kapitel 2 und in Kapitel 8. Stellen Sie sich nun unabhängig von der Corona-Krise vor, Sie wären Mitglied des Deutschen Bundestages und sollten sich (rasch! ) eine Meinung zum Atomausstieg, zur Gentechnologie, zur NSA-Problematik, zum Grexit und/ oder Brexit, zu den Waf‐ fenlieferungen nach Saudi-Arabien oder den zukünftigen Beziehungen zu Russland bilden und danach mit Ja oder Nein über von der Regierung vorgeschlagene Entwürfe abstimmen. Ihre Meinung wird dann anschließend in ein Votum übersetzt, welches wiederum Auswirkungen auf die Geschicke Deutschlands, der EU und (vermutlich auch mindestens kurzfristig) auf Ihr eigenes berufliches Fortkommen nehmen kann. Das Beste, was Ihnen (bzw. dem Staat) in dieser fiktiven Situation passieren kann, sind hoch qualifizierte loyale Berater oder Staatsangestellte (die natürlich auch Fehler machen können), auf die Sie sich verlassen können. Völlig unabhängige Berater gibt es natürlich nicht, aber das gut bezahlte und geachtete Berufsbeamtentum ist sicherlich eine „vernünftige“ Art und Weise, Berater und Administratoren, die „nicht zu abhängig sind“, an einen Staat und damit an ein Gemeinwesen zu binden. Diese Aussagen können Sie übrigens bereits aus der Gedankenwelt des zweifellos einflussreichsten Philosophen der Menschheitsgeschichte ableiten, dem vor ca. 2500 Jahren lebenden Konfuzius. Wir werden Konfuzius nicht nur in Kapitel 13, das China gewidmet ist, wiederbegegnen. Ein Plädoyer für das Studium der Wirtschaftsgeschichte Aus der Mikroperspektive stellt sich die Betrachtung von Wendepunkten in der (Wirtschafts-)Geschichte äußerst schwierig dar. Während die Just-in-Time Produktion bereits in den 1970er Jahren von Toyota (als Toyota nur in Japan produzierte) eingeführt wurde, scheint mit dem Auftauchen von Computern, die leistungsfähig genug waren, um größere praktische Probleme zu lösen, in den 1980er Jahren eine echte technologi‐ sche Wende eingeleitet worden zu sein. Hier begann also, lange vor dem inflationären Gebrauch des Wortes disruptiv, Quantität in Qualität umzuschlagen. Mathematische Laien können kaum eine Vorstellung von der „Mächtigkeit“ vieler realer Probleme haben, die erst durch leistungsstarke Computer (zumeist leicht und auch noch schnell) lösbar geworden sind. So wurde Harry Markowitz für seine Arbeiten zur Portfolio Selection (auf deutsch in etwa optimale Kombination von risikobehafteten Anlagen) aus dem Jahre 1952 im Jahre 1990 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswis‐ senschaft geehrt. Bis zum Auftauchen entsprechender Rechentechnik war seine Arbeit weitgehend „nette Spielerei“, erst in den 1980er Jahre konnte sie praktisch angewandt bzw. umgesetzt und damit überprüft werden. Anfang der 2000er Jahre führte eine Arbeit zur Optimierung der Raum- und Stundenplanung an großen Gymnasien noch zu einem Doktorgrad der Wirtschaftswissenschaft an der FU Berlin. Eine Lösung dieses Problems sollte heute gut in einer Bachelorarbeit hergeleitet werden. Nachdenken darüber, ob und inwieweit es Zusammenhänge zwischen dem Zusam‐ menbruch der Sowjetunion und damit des Ostblocks und der Technologierevolution, Vorwort 22 <?page no="23"?> 14 Moore’s Law besagt, dass sich die Komplexität integrierter Schaltkreise in kurzen zeitlichen Abstän‐ den regelmäßig verdoppelt (dabei werden - soviel zur Illusion der Präzision - aber unterschiedliche Zeiträume zwischen 12, 18 oder 24 Monate genannt). Detaillierte Ausführungen folgen in Kapitel 10. die bereits einige Jahre zuvor im Westen eingeleitet wurde und die Ende der 1980er Jahre rasant Fahrt aufnahm (Stichwort Moore’s Law 14 ), kann nicht Gegenstand der hiesigen Erörterungen sein. Tatsache war aber, dass der Zugang zu Millionen neuen potenziellen Kunden und neuen natürlichen Ressourcen bei dem gleichzeitigen Tech‐ nologiesprung der Rechenleistung für westliche Firmen zeitlich zusammenfielen. In diese Zeit fällt die sprunghafte Entwicklung weltweiter Lieferketten. (Vorhergehende erfolgreiche Versuche internationaler Arbeitsteilung im größeren Maßstab datieren wiederum auf die frühen 1970er Jahre, als Singapur, Hongkong und Taiwan billige Kleidung und Spielzeuge nach Nordamerika und Westeuropa zu exportieren begannen. Zu genau dieser Zeit kamen übrigens die ersten Containerschiffe in Gebrauch. Mehr dazu in Kapitel 6.) Jedes (wirtschaftswissenschaftliche) Modell ist eine vereinfachte Darstellung der Realität, das im Allgemeinen entweder darauf zielt, Vergangenes zu erklären und/ oder Zukünftiges (hinreichend gut) zu prognostieren. Wir werden die Entwicklung des Welthandels in Verbindung mit den Konzepten der Opportunitätskosten und der komparativen Vorteile in Kapitel 5 und im Exkurs zu Kapitel 8 mit Hilfe des Ricardo-Modells des internationalen Handels diskutieren, eines Modells, das uns, weil es so einfach ist, erlaubt, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Es wird uns bei der Gewinnung zahlreicher qualitativer Einsichten helfen; warum wir Schuhe tragen, die in Bangladesch gefertigt wurden, wie es zum Rust Belt in den USA gekommen ist und auch warum es in Osteuropa zur Zeit viel zu wenige Ärzte gibt. In diesem Zusammenhang werden wir uns auch mit den vier Grundfreiheiten der EU, dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen beschäftigen müssen. Über fünf Jahrzehnte war die Globalisierung, verstärkt durch den Eintritt Chinas in die Weltwirtschaft, der Treiber des Welthandels. „Billiglohnländer“ zogen Produk‐ tionsstätten an, und die Industrie verlagerte die Fertigung auf viele Standorte. Die arbeitsteilige Spezialisierung der Weltwirtschaft der vergangenen zwei Jahrzehnte basierte dabei wesentlich auf sogenannten komparativen Kostenvorteilen. Substanzi‐ elle Puffer waren in den Optimierungsmodellen nicht vorgesehen (wofür nicht die Mathematiker verantwortlich gemacht werden sollten). Tatsächlich haben wir nicht nur bezüglich der Arzneimittelherstellung - Ende Februar 2020 wurde z.B. bekannt, dass wesentliche Grundstoffe aus China und Indien nicht geliefert werden konnten - verstehen müssen, dass wir es mit der Just-in-Time-Methode und der Abschaffung kostenträchtiger Lager übertrieben haben. Das heißt ganz sicher nicht, dass wir zukünftig wieder Lager und Vorräte wie zu Großmutters Zeiten anlegen werden; ganz sicher aber werden die Produktionsmodelle in Zukunft mehr Wert auf Robustheit legen. Genau diese Schlussfolgerung - Stichwort Ausschaltung systemischer Risiken - wurde nach der vorherigen Krise auch auf das Weltfinanzsystem gezogen. Dass in der westlichen Welt einiges überreizt wurde und „dass es so nicht weiter gehen könne“, Vorwort 23 <?page no="24"?> 15 Chuck Prince, ehemaliger CEO der Citibank, soll kurz vor Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 gesagt haben „Solange die Musik spielt, muss man aufstehen und mittanzen. Wir tanzen immer noch.“ Ausgewiesene Kenner der Finanzmärkte wie George Soros und David Graeber sehen das Weltfinanzsystem seit Jahren in einer finalen Krise. Dimon ist somit in guter Gesellschaft. Mehr dazu in Kapitel 6 und im Exkurs zu Kapitel 14. erkannte der Frontmann der US-amerikanischen Manager, J. P. Morgans CEO Jamie Dimon, übrigens bereits einige Jahre früher. 15[1] Den Blick nach vorn Europas große Stärke und Schwäche zugleich im Vergleich zu den USA und China war und ist seine Heterogenität. Es wird vielerorts nicht nur eine unterschiedliche Rechts‐ tradition gepflegt, in den großen europäischen Staaten Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien enstanden historisch sehr unterschiedliche Vorstellungen zur Rolle des Staates in der Gesellschaft. Dezentralität oder Diversität kann im europäi‐ schen Kontext aber nur dann einen Vorzug darstellen, wenn es ein einigendes Band gibt. In weniger turbulenten Zeiten waren dies die europäischen Werte (mehr dazu gleich in Kapitel 1), die auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität beruhten. Auch wenn die öffentliche Debatte über die Zukunft der Europäischen Union und der Eurozone diese Konsequenz nur in wenigen Momenten anklingen lässt: Wir werden uns mittelfristig mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit entweder in einer (Teil-)Fis‐ kalunion wiederfinden oder die Eurozone und mit ihr die Europäische Union wird an den existierenden und sich verstärkenden Fliehkräften zerbrechen. Spätestens diese Erkenntnis sollte uns dazu bewegen, ein deutlich verstärktes Interesse am Wohlergehen unserer Nachbarn im erweiterten Sinne zu entwickeln. Schadenfreude jeder Art (oft die süd- und südosteuropäischen Länder betreffend) ist hier nicht nur unangebracht, sondern frei nach Frankreichs legendärem Polizeiminister Joseph Fouché schlimmer als ein Verbrechen, sondern ein Fehler. Denken Sie an John Donnes Gedicht. Tatsächlich lässt insbesondere der Mangel an Solidarität lange vor der Corona-Krise langfristig wenig Gutes für die EU ahnen. In den vergangenen Jahren haben hochran‐ gige EU-Beamte China - mit triftigen Gründen - als systemischen Rivalen bezeichnet, der oft unfair konkurriere und der versuche, den europäischen Integrationsprozess durch den Einsatz von „Trojanischen Pferden“ zu untergraben. Tatsache ist, dass China über die Belt and Road Initiative (BRI) und das 17 + 1 Format in Brüssel (im Unterschied zu Russland) indirekt mit am Tisch sitzt, Tatsache ist aber auch, dass sowohl Italien als auch der EU-Aspirant Serbien ihre erste substanzielle Hilfe bei Seuchenausbruch aus China und danach aus Russland und nicht von einem ihrer europäischen Partner erhielten. Als die europäischen Partner begannen, Hilfe zu organisieren, war die Frage der Macht der Bilder bereits beantwortet. Dies ist gerade deshalb erwähnenswert, weil die Beziehungen zwischen Italien und Deutschland bis zur Corona-Krise als langfristig positiv stabil galten. In diesem Text werden Sie Verweise auf eine Vielzahl von Denkern finden, in zeitlicher Reihenfolge bei den Philosophen Lao-Tse, Konfuzius und Platon beginnend Vorwort 24 <?page no="25"?> 16 Eine aus meiner Sicht ausgezeichnete und zudem gut lesbare Sekundarliteraturquelle zur Philo‐ sophie, die die Denker und ihre Gedanken in ihre Zeit einordnet, ist Hans Joachim Störigs „Weltgeschichte der Philosophie“. und über die Philosophen John Locke und Immanuel Kant hin zu Vertretern der Na‐ tionalökonomie (ein alter schöner Begriff für die Volkswirtschaftslehre) wie Karl Marx, John Maynard Keynes, Milton Friedman, Walter Eucken, Nicholas Georgescu-Roegen und weiter zu zeitgenössischen Denkern aus verschiedensten Wissensgebieten wie Robert Skidelsky und Daniel Kahneman (Ökonomie und Psychologie), Peter Watson (Wissenschaftsgeschichte), Christopher Clark, Ian Morris, David Landes und Noah Yuval Harari (Geschichte), Hans Christoph und Mathias Binswanger, Hans-Werner Sinn, Thomas Straubhaar und Peter Bofinger (Ökonomie und Politikberatung), Hal Varian (Ökonom und Google-Vorstand), Joseph Stiglitz (Ökonom und Regierungsbera‐ ter), Boris Palmer (Politiker), Dirk Müller (Unternehmer und Publizist), John Hattie (Bildungsforscher) und Paul Collier (Migrationsforscher) kommend. Verbindend bei allen zitierten Denkern ist der Wille, eine Gesamtschau von Mensch und Gesellschaft zu entwickeln. Wenn Ihnen ein oder mehrere Autoren dieser unvollständigen Referenz‐ liste unpassend bzw. „anstößig“ erscheinen, sollten Sie sich vor Augen halten, dass man nur seriös bewerten darf, was man selbst gelesen hat. Wie wir sofort sehen, befinden wir uns hier in einem kaum auflösbaren Dilemma. Wissenschaftliche Sitte ist der Verweis auf Originalquellen: Tatsächlich habe ich nur sehr wenige ernstzunehmende Wissenschaftler in meinem Berufsleben kennengelernt, die mit Aussicht auf Glaubwürdigkeit behauptet haben, alle zitierten Referenzen auch nur eines einzigen Artikels, den sie geschrieben hatten, vollständig im Original gelesen zu haben. Kaum überraschend haben also nur sehr wenige „normale“ Menschen sowohl Zeit als auch Nerven, sich durch alle oder auch nur wenige zitierte Originaltexte „zu kämpfen“. Der Gebrauch von Sekundärquellen basiert also in mehrerlei Hinsicht auf Vertrauen: Hat der Autor überhaupt verstanden, was er gelesen hat (vorausgesetzt, er bezieht sich nicht auf noch jemand anderes, der das Originalwerk angeblich gelesen hat), zitiert er richtig und nicht aus dem Zusammenhang gerissen, usw. 16 Fundamentale Ausführungen und Fragen, in welcher Art von Welt wir zukünftig leben wollen, sind sowohl technischer als auch ethischer Art (siehe Kapitel 10 zur Digitalisierung). Auf den ersten Blick jedenfalls scheinen autoritäre Staaten wie gerade China besser in der Lage zu sein, z.B. auf Seuchen zu reagieren. Wenn Freiheit im Sinne einer „goldenen Regel“ dadurch charakterisiert ist, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet, dann bedarf es bei uns im Westen zur Bekämpfung von Krisen aller Couleur grundsätzlich nicht mehr als die Durchsetzung entsprechender Gesetze und Anordnungen, die entweder bereits existieren oder die rasch verfasst werden können. Je „unvernünftiger“ die Menschen sind, umso mehr werden sie aber das Autoritäre in den westlichen Gesellschaften befördern. Prognosen in den Sozialwissenschaften haben im Gegensatz zu den Naturwissen‐ schaften die Eigenschaft, dass sie Einfluss auf das Verhalten der Menschen und Institutionen haben. Wenn eine Gefahr also erkannt bzw. eine Entwicklung prognos‐ Vorwort 25 <?page no="26"?> tiziert ist, kann etwas dagegen getan werden. Wünschen wir uns also viele schlechte Vorhersagen, die nicht eintreten werden, weil wir sie nicht eintreten lassen. Diskutiert wurde im Sommer 2020, dass der „Corona-Schock“ eine Entwicklung hin zu einem bipolaren Macht- und Weltwirtschaftssystem mit den USA und China als Blockanführer beschleunigt. Hier sollten bei uns alle Alarmglocken läuten. Die Europäische Union ist trotz des Austritts Großbritanniens Anfang 2021 mit ca. 450 Millionen Menschen einer der reichsten Teile der Welt und es ist nicht wirklich einsehbar, warum wir zukünftig Anhängsel der USA oder Chinas werden sollten. Wie schon der Brexit die verbleibenden Staaten der EU zusammenrücken ließ, ist zu hoffen, dass der USA-China-Konflikt den gleichen Effekt haben wird. Dies und der Bestand der EU sind fraglos keine Selbstläufer, sowohl die USA als auch China sammeln ihre Truppenteile. Wir werden uns also nach den besten Monaten für die Umwelt seit gefühlten Ewigkeiten wieder mit Fragen der Klimakrise (die besser als Umweltkrise bezeichnet werden sollte) und der Energiewende, der Bildungs-, Einkommens- und Verteilungsge‐ rechtigkeit und der individuellen Freiheitsrechte sowie der zukünftigen Beschaffenheit der Europäischen Union beschäftigen müssen. Fragen, inwieweit das Bruttoinlands‐ produkt und a priori mit ihm verbundene Wachstumsraten ein vernünftiges Maß für die wirtschaftliche Prosperität darstellen, werden nachdrücklicher gestellt werden müssen. Wir werden uns also fragen müssen, ob unser Lebens- und Arbeitsstil, auf allen Ebenen, angemessen ist. Der Staat bzw. seine Wirtschaftspolitik kann und muss hier meiner Überzeugung nach entscheidende Anreize zur Steuerung von individuellem „vernünftigen“ Verhalten liefern. Krisen bringen immer auch Krisenbewältiger hervor; sie sind das Elixier für außer‐ gewöhnliche Lokalpolitiker (denken Sie z.B. an Helmut Schmidts Reaktionen auf die Hamburger Sturmflut im Jahre 1962) und lokal verwurzelte Unternehmer. Wie wäre es hier zum Beispiel mit Oskar Schindler (dem aus „Schindlers Liste“)? Wir werden, überall auf der Welt, Menschen sehen, die Verantwortung übernehmen und von deren Existenz vorher zumeist nichts oder wenig bekannt war. In einer echten Krise kann man nicht bluffen. Nehmen Sie Ihr Leben also, soweit Ihnen dies gegeben ist, in die eigenen Hände und übernehmen Sie Verantwortung für sich und andere. Wo Menschen sind, kann es keine absolute Objektivität und Neutralität geben. Ich habe mich, soweit es mir möglich war, bemüht, neutral zu beschreiben und zu berichten und damit grob dem aus dem Rechtsstudium bekannten Gutachterstil zu genügen. Jedem der 15 Hauptkapitel habe ich aber einen Exkurs angefügt, in dem ich diese Strenge teilweise aufgegeben habe, da ich der Überzeugung bin, dass ein brauchbares Buch über Wirtschaftspolitik eine emotionale Komponente haben muss. Ich würde mich, obwohl ich seit mehr als zwei Jahrzehnten als Wirtschaftswis‐ senschaftler arbeite, immer noch als „ökonomisch bewanderten Mathematiker“ be‐ zeichnen. Eine formale Ausbildung ist in der modernen Volkswirtschaftslehre nicht unbedingt von Nachteil: Im Laufe meines Lebens bin ich aber, wie viele Menschen vor und sehr sicher auch nach mir, zu der Überzeugung gelangt, dass die aktuelle Vorwort 26 <?page no="27"?> Ökonomie „übermathematisiert“ ist; dass aber andererseits die Rolle von Mathematik und Statistik als Hilfsmittel zum Verständnis der Gesellschaft unzureichend entwickelt sind. Ein Vorteil eines Seiteneinsteigers ist, dass sein Blick kritischer und auch klarer sein mag. Ohne den Kapitalisten Friedrich Engels hätte es kein Kommunistisches Ma‐ nifest gegegeben und dem Anfang September 2020 jung verstorbenen Anthropologen David Graeber verdanken wir wesentliche Erkenntnisse zur Rolle des Geldes und der Schulden in der Geschichte der Zivilisationen. Ich bin weder studierter Philopsoph noch Historiker, sondern schreibe hier auch über Dinge, von denen ich „nicht zertifiziert“ etwas zu verstehen glaube. Da alles mit allem zusammenhängt, bräuchten wir vermutlich Dutzende Autoren für einen Text wie diesen, um formale Angriffe auszuschließen. Das Buch könnte dann immer noch lausig sein! Es fällt mir somit leicht, zuzugestehen, dass alle Fehler, die dieses Buch beinhaltet, mir allein zuzurechnen sind. Vorwort 27 <?page no="29"?> Teil I: Demografie, Bildung und Arbeit <?page no="31"?> 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 1.1 Wendezeit? Versuch einer geopolitischen Einordnung Die deutsche Gesellschaft steht in einer sich rapide verändernden Welt vor gewaltigen Herausforderungen, die, da alles mit allem verbunden ist, nicht monokausal beantwortet und ebenso nicht auf Deutschland isoliert bezogen, sondern zunächst im Kontext der Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union und nachfolgend im „Weltmaßstab“ analysiert werden müssen. Inzwischen ist schon wieder fast vergessen, dass vor Beginn der Corona-Krise aus Griechenland und aus Spanien bis zum Beginn des Jahres 2020 hoffnungsvolle Signale zur Wirtschaftsentwicklung kamen: Die Europäische Union befindet sich aber nicht wieder, sondern immer noch in einer langandauernden veritablen Krise. Man darf hier durchaus das Jahr des Ausbrechens der letzten großen Finanzkrise, 2008, als einen sinnvollen Bezugspunkt wählen. Die staatliche und private Verschuldung hatte bereits vor der Corona-Krise in vielen Ländern (nicht nur in der EU) ein Vielfaches der Jahreswirtschaftsleistung angenom‐ men. „Staatstragende“ Parteien waren vielerorts in der Defensive bzw. verschwunden. Dies betrifft nicht nur Griechenland, sondern ebenso Spanien, Großbritannien, Polen und Frankreich (dort wurde der Schritt der Pulverisierung der Altparteien bereits mit den Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 vollzogen), um nur einige „größere“ europäische Länder zu nennen. Trotz ihres Wiedererstarkens während der Hochphase der Corona-Seuche im Frühjahr 2020 ist überhaupt nicht klar, ob und wie CDU und CSU in den kommenden Jahren ihre Rollen als mit Abstand stärkste deutsche Volksparteien verteidigen können. Zu den zahlreichen Wirtschaftswissenschaftlern, die die Hauptverantwortlichkeit des Staates darin sehen, Beschäftigung für die arbeitsfähige und -willige Bevölkerung zu schaffen, zählen Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und ebenso die deutschen Ökono‐ men Peter Bofinger und der besonders prominente „Ordnungspolitiker“ Hans-Werner Sinn. Unterschiedlich sind allerdings zum Teil die Vorschläge, wie dies zu erreichen sei. Wenn Sie diese Maxime ebenso ernst nehmen wie die genannten Ökonomen, werden Sie schnell zu dem Schluss kommen müssen, dass zahlreiche Staaten in der EU ihren zentralen Aufgaben schon seit Langem nicht oder nur unzureichend nachkommen. Die europäische Dauerkrise, die durch hohe Arbeitslosigkeit, international vielfach nicht wettbewerbsfähige Produktivitäten und damit sinkenden Wohlstand charakte‐ risiert ist, stärkt einerseits „populistische“ Parteien. Diese werden hier so gefasst, dass von ihnen (zu) „einfache“ Lösungen für die äußerst komplexen miteinander verwobenen Problemkreise angeboten werden. Ebenso gestärkt werden andererseits separatistische Bewegungen wie z.B. in Schottland, in Norditalien, im Baskenland und <?page no="32"?> in Katalonien. Grundsätzlich ist mittelfristig weder die EU, wie wir sie kennen, noch der Bestand der Gemeinschaftswährung Euro garantiert. Wir befinden uns derzeit in einer dritten Phase der aktuellen europäischen Krise: Zuerst wurden Finanzinstitute gerettet, dann Staaten. Nun werden die politischen (Rück-)Wirkungen sichtbar, wobei bei Weitem nicht klar ist, ob sich alle unsere europäischen Partner in demokratischer Art und Weise reformieren werden können. Alle diese Probleme sind mit der Entwicklung der Bevölkerungen verbunden. Aus diesem Grunde werden wir unsere Betrachtungen mit einer Darstellung und Analyse der demografischen Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland eröffnen. Wir stehen in Deutschland und in der EU vor den folgenden zentralen Herausfor‐ derungen: 1. Eine schleichende Entsolidarisierung der Gesellschaften. Diese beginnt auf dem Niveau der Familien und steht damit im Zusammenhang zur „modernen Arbeitswelt“, berührt Fragen der Generationengerechtigkeit, geht weiter über „egoistische“ Spartengewerkschaften, die Mitglieder vertreten, deren Arbeit für unsere Gesellschaft schwer verzichtbar ist, und betrifft ebenso Staaten. Diese Entsolidarisierung ist direkt mit den Schwierigkeiten verbunden, die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats, wie wir ihn kennen und schätzen, aufrecht‐ zuerhalten. Hoffnung macht hier der Ende 2020 tatsächlich noch gelungene Vertrag über einen geordneten Austritts Großbritanniens aus der EU in Folge des Ergebnisses des Mitte 2016 abgehaltenen Referendums. Hier ist Zurückhaltung angebracht, Solidarität „nur“ von den anderen EU-Mit‐ gliedstaaten einzufordern. Die Entscheidungsfindung deutscher Bundesregie‐ rungen in den vergangenen ca. 20 Jahren wurde und wird in unseren Nach‐ barländern oft mit derjenigen von „Big Gorilla” USA verglichen; mit anderen Worten: Deutschland trifft unilaterale Entscheidungen und die kleinen Länder bzw. deren Regierungen müssen folgen, ob sie wollen oder nicht. Dies betrifft die nach dem Unfall von Fukushima im Frühjahr 2011 abrupt eingeleitete „Energiewende“ sowie die Entscheidung der deutschen Bundesregierung im Sommer 2015, die deutschen Grenzen mit der Begründung, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, zu öffnen. Unabhängig davon, ob diese Sichtweise zahlreicher Nachbarn stimmt oder nicht: Es gilt das aus dem Englischen kom‐ mende Sprichwort Perception is Reality (wobei diese „Erkenntnis“ u.a. bereits im alten China gewonnen und von Menzius formuliert wurde). 2. Entwicklung von Strategien, mit Migrationsströmen innerhalb der EU und insbesondere aus Nordafrika und dem Nahen Osten kommend umzugehen: Ende 2020 existierte weder ein Konsensus noch eine schlüssige Strategie, wie diese Flüchtlingsströme (und die Sicherung der EU-Außengrenzen) für die europäischen Empfängerstaaten beherrschbar gemacht werden können. Die südeuropäischen Staaten, die seit mehr als 10 Jahren am meisten unter der Wirtschaftskrise leiden, werden mit diesem Problem auch finanziell von den 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 32 <?page no="33"?> reichen und stabilen Nordländern, die keine relevanten Außengrenzen der EU haben, zu sehr allein gelassen. Hier existiert in mehrerlei Hinsicht ein Bezug zur globalen Umweltkrise. 3. Entwicklung von (gesamteuropäischen? ) Strategien zum Umgang mit Russland: Mehrere osteuropäische Staaten wie Polen, Estland, Lettland und Litauen fühlen sich von Russland permanent bedroht, auch wenn Russland behauptet, keinerlei Angriffsgelüste gegenüber der NATO zu verspüren. Russland bzw. seine politi‐ sche Elite fühlt sich wiederum von der NATO, die ihrerseits behauptet, nur Verteidigungsaktivitäten zu verfolgen, bedrängt und bedroht. Tatsächlich finden wir uns inzwischen in einer gefährlichen Gemengelage wieder, bei der ein Zufall durchaus zu einer Eskalation zwischen dem Westen und Russland führen kann: eine Situation, die noch vor wenigen Jahren kaum jemand für möglich gehalten hätte. Auch hier gilt für jede der unterschiedlichen Perspektiven: Perception is Reality. Filmtipp: Diese Sicht der Dinge ist im Film „Rashomon“ des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa aus dem Jahre 1950 meisterhaft dargestellt. Kurosawa geht noch einen Schritt weiter: Seine Akteure haben nicht nur unterschiedliche Sichtweisen der Realität, sondern sie erfuhren unterschiedliche Realitäten. Diese drei Eckpunkte wären Anfang 2014 vermutlich für die Mehrzahl der in diesem Text vorgestellten politischen Argumentationen hinreichend gewesen. Tatsächlich stellt sich das Gesamtbild sieben Jahre später deutlich komplizierter dar. Zusätzlich zu den drei erstgenannten prägen weitere sechs Entwicklungen seit Kurzem unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung einer instabiler gewordenen Welt: 4. Die Preise von Rohstoffen, insbesondere Erdöl (vgl. den Langfrist-Rohölchart in Abb. 1.1), Erdgas, Industrie- und Edelmetallen, aber auch von Agrarrohstoffen und Halbprodukten wie Stahl schwanken seit dem Ausbrechen der Finanzkrise teils dramatisch. So sind diese in den Jahren 2014 und 2015 sehr stark gefallen, bevor sie sich im Verlauf des Jahres 2016 wieder moderat erholten, um zu Beginn des Jahres 2020 wieder zu kollabieren, um sich kurz darauf wieder zu erholen… Niedrige Rohstoffpreise sollten uns als Importeure von Rohstoffen nicht zum Jubeln verleiten, sondern mögliche politische Krisen in rohstoffexportierenden und von den betreffenden Erlösen abhängigen Staaten antizipieren lassen. Kurz- und mittelfristig dürften am wenigsten Russland (vgl. Kapitel 12), dafür aber zahlreiche Golfstaaten, darunter Saudi-Arabien, ebenso Venezuela, Nigeria, Brasilien und diverse andere Schwellenländer stärker betroffen sein. 1.1 Wendezeit? Versuch einer geopolitischen Einordnung 33 <?page no="34"?> 1 1 Barrel entspricht in etwa 136 kg Rohöl. Abb. 1.1: Rohölpreisentwicklung der Sorte BRENT von 1983 bis 2020 in US-Dollar pro Barrel (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 0 20 40 60 80 100 120 140 160 01/ 1985 01/ 1990 01/ 1995 01/ 2000 01/ 2005 01/ 2010 01/ 2015 01/ 2020 Brent WTI in US-Dollar pro Barrel Abb. 1.1: Rohölpreisentwicklung der Sorte BRENT von 1985-2020 in US-Dollar pro Barrel 1 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 5. Terrorism is back. Die durch die terroristischen Attacken im November 2015 in Paris geprägte westliche Wahrnehmung, ist, weil stark zeitpunktbezogen und europazentriert, irreführend. Die Angriffe von Paris waren „nur“ ein schreck‐ liches Ereignis innerhalb von wenigen Monaten bzw. Jahren in einer Kette terroristischer Anschläge, die bereits Jahrzehnte andauern. Sie sind in eine Reihe von mörderischen Anschlägen weltweit (in der Türkei, Tunesien, auf russische Touristen in Ägypten, im Libanon, in der Yunnan-Provinz in China u.v.m.) einzuordnen. Den wirtschaftlichen Konsequenzen der Anschläge in Tunesien im Jahr 2015, die praktisch den Zusammenbruch der Haupteinnahmequelle des Landes, des Tourismus’, zur Folge hatte, steht in Europa bisher nichts annähernd Gleichartiges gegenüber. Als Folge werden politische Allianzen im Nahen Osten seit ca. drei Jahren neu gedacht (vgl. Punkt 3 und Punkt 6). 6. Der im Dezember 2010 beginnende sogenannte Arabische Frühling war offen‐ sichtlich deutlich mehr Hoffnung als Realität: Der gesamte Nahe Osten (eng‐ lisch: Middle East) und große Teile Nordafrikas werden entweder (wieder) von diktatorischen Regimes „regiert“ oder sie sind in Anarchie und Bürgerkrieg abgeglitten. Allianzen sind, sofern überhaupt vorhanden, oft kurzlebig und zweckgebunden. Zu den „Überraschungen“ der vergangenen Jahre zählten die wechselseitigen (temporären? ) Annäherungen zwischen Saudi-Arabien, Israel und Russland. Die geopolitische Situation im Nahen Osten und hier insbeson‐ dere der seit dem Jahr 2011 andauernde Syrienkonflikt ist wiederum direkt mit der Flüchtlingsbzw. Migrationsproblematik und der Russlandpolitik der EU bzw. ihrer Nationalstaaten verwoben. 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 34 <?page no="35"?> 7. Anfang des Jahres 2020 war der US-Dollar fraglos die Weltleitwährung Nummer eins. Die Schwankungen des Wechselkurses von US-Dollar und Euro, der zweitwichtigsten Weltwährung, waren in den vergangenen Jahrzehnten aber immens (s. Abb. 1.2). So verlor der US-Dollar gegenüber dem Euro z.B. von 2002 bis 2008 innerhalb von ca. 6 Jahren fast die Hälfte seines Wertes, um sich danach wieder auf relativ niedrigem Niveau zu erholen (vgl. Exkurs zu Kapitel 14). Abb. 1.2: Wechselkurs US-Dollar pro Euro 1981-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4 1,6 1,8 01/ 1985 01/ 1990 01/ 1995 01/ 2000 01/ 2005 01/ 2010 01/ 2015 01/ 2020 US-Dollar pro Euro Abb. 1.2: Wechselkurs US-Dollar pro Euro 1985-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) Tatsache ist, dass die Dominanz der US-Währung mittelfristig zur Disposition steht: So wurde die Währung der Volksrepublik China, der Renminbi (RMB), im Jahre 2016 fünfte Reservewährung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Dies hatte zunächst einen eher symbolischen Wert, da China bereits einen Großteil seiner Handelsgeschäfte, und das nicht nur mit Entwicklungsländern, in RMB abschließt. Zusammen mit der Ankündigung der chinesischen Zentralregierung, Chinas Währung schrittweise frei konvertierbar zu machen, wird dies Auswirkungen auf die internationale politische Machtbalance haben. Währung ist Macht: Im günstigen Fall dürfen wir langfristig die Herausbildung eines stabilen Oligopols zwischen US-Dollar, Euro und RMB erwarten. 8. Mit dem Brexit hat Anfang 2021 eine der wirtschaftlich und militärisch stärks‐ ten Nationen die EU verlassen. Es wird im optimistischen Fall nur einige wenige Jahre dauern, bis sich zwischen Großbritannien und der (Rest-)EU ein „normales“ und hoffentlich freundschaftliches Nachbarschafts- und Arbeits‐ verhältnis herausgebildet haben wird. Deutschland als bevölkerungsstärkstes Land und wirtschaftliches Zentrum der Europäischen Union wird teilweise für die EU-Nettozahlungen Großbritanniens einstehen und zudem zusätzliche Ausgaben in den Verteidigungshaushalt einstellen müssen, um der Selbstver‐ pflichtung, in Zukunft zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidi‐ gung zu investieren, wenigstens mittelfristig zu genügen. In diesem Kontext wird häufig der Ruf nach einem Kerneuropa und damit verbunden nach der Stärkung bzw. „(Re-)Vitalisierung“ der von de Gaulle und Adenauer initiierten deutsch-französischen Achse laut. [2] Diese Diskussion ist jedoch nicht neu, 1.1 Wendezeit? Versuch einer geopolitischen Einordnung 35 <?page no="36"?> sondern derzeit weit hinter dem zurück, was Charles de Gaulle angedacht hatte, als er als französischer Präsident Anfang der 1960er Jahre auf die Deutschen zuging. 9. Die EU wird grundsätzliche Fragen beantworten müssen, um ihren Zerfall zu verhindern: Dazu zählen jenseits von technisch relativ einfach lösbaren Wiederaufbauhilfen nach Corona primär die Gewährleistung der Sicherheit der Außengrenzen der EU, die Entwicklung von Konzepten, wie der Dauer von ( Jugend-)Arbeitslosigkeit in weiten Teilen Süd- und Osteuropas begegnet werden soll, und die Frage, wie sie sich gegenüber den großen Nachbarn Türkei und Russland positionieren will. Insbesondere kann die weitere Entwicklung der EU nicht sinnvoll losgelöst von der seit 2008 schwelenden Eurokrise betrachtet werden, die zwar derzeit nicht mehr im Fokus der Medienberichterstattung steht, die aber nichtsdestotrotz nicht vollständig überwunden ist. In diesem Zu‐ sammenhang lohnt es sich, die Entwicklung der Positionen der Bundesregierung und des französischen Präsidenten und ihrer jeweiligen „Follower“ bezüglich einer Aufwertung des European Stability Mechanism (ESM) zu einem European Monetary Fund zu verfolgen. Die deutsche Bundesregierung hat im Frühjahr 2020 aus guten Gründen (und nicht zu früh und nicht zu spät) offensichtlich einer Teilvergesellschaftung von Schulden unter dem Schlagwort Corona-Wiederauf‐ bau zugestimmt und damit den EU-Gipfel im Juli 2020 wesentlich mitbestimmt. Die nicht überwundene Krise der Europäischen Währungsunion und die Ab‐ senz einer stringenten Strategie der Bundesregierung zu ihrer Überwindung stellt eine, wenn nicht die zentrale Ursache für die Schwäche Europas dar, die sich durch hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Produktivitätszuwächse, wach‐ sende Schulden u.v.m. manifestiert. Deutschland ist als „Zahlmeister“ ohne nennenswerte Rechte in den meisten Nachbarstaaten weiterhin willkommen, sein moralischer Ruf aber nicht nur in Italien angekratzt und seine Durchset‐ zungskraft gering. Als das Land, „das (sich) mangels eigener konstruktiver Pläne an das Bestehende klammert, auf den Buchstaben der Verträge [die bereits über 160 Mal ohne Sanktionen gebrochen wurden] pocht und sich damit als Aufseher stilisiert, erzeugt es Widerstand, ohne etwas zu erreichen.“ [3] Spätestens seit der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im November 2016 ist in fundamentaler Art und Weise klar, dass das Verhältnis von Deutschland und Europa zu den Vereinigten Staaten neu austariert werden wird. Das zentrale Versprechen Donald Trumps war das Schaffen von (Industrie-)Jobs in den USA, wobei Trumps Politik mit der US-Unternehmenssteuerreform aus dem Jahre 2017 und der Androhung von Zöllen für Importe genau darauf abzielten. Vor allem Letzteres steht in bewusstem Gegensatz zum Paradigma des Freihandels, dem sich Deutschland verpflichtet fühlt und von dem es als Exportnation profitiert. Die zweite uns betreffende, zentrale Aussage von Donald Trump ist die Forderung an Europa bzw. an die NATO-Mitglieder, sich finanziell deutlich stärker an den Ausgaben 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 36 <?page no="37"?> des Bündnisses zu beteiligen. Sein Nachfolger Joe Biden dürfte hier kaum anders denken. Trump lehnte - vor allem aus ökonomischen Gründen - ab, dass die USA weiterhin die Rolle der (einzigen) Supermacht, die die Welt ordnet, ausfüllen. Dies korrespondiert mit einer prinzipiellen Ablehnung von „Demokratisierungsversuchen abroad“ und dem von den Demokraten verhin‐ derten Versuch einer Neuausrichtung der US-amerikanischen Politik gegenüber Russland, um sich auf den „strategischen Rivalen“ China konzentrieren zu können. Die erneute „Aufteilung“ in eine aus zwei Einflusszonen bestehende Welt ist wieder denkbar geworden. Erste einflussreiche Stimmen, wie z.B. der Springer-Aufsichtsratsvorsitzende Mathias Döpfner, fordern bereits, dass wir uns zwischen den USA und China (für die USA) entscheiden müssen. [4] Die Setzung von Technologiestandards (Stichwort Huawei) ist hier von zentraler Bedeutung (vgl. Kapitel 10 und 13). In Kulmination der genannten Punkte 1 bis 9 steht der Westen, wie er sich seit dem Ende des II. Weltkrieges darstellte und wie wir ihn kennen, zur Disposition. Das sehr lesenswerte und kontrovers diskutierte Buch des in Großbritannien lehrenden Historikers Christopher Clark „Die Schlafwandler“, das das „Hineinstolpern“ der europäischen Großmächte in den I. Weltkrieg äußerst detailliert beschreibt, wurde von seinem Autor 100 Jahre nach dessen Ausbruch sehr wohl mit Blick auf Analogien zu möglichen neuen globalen Krisen geschrieben (damit war nicht nur Europa, sondern ebenso Ost- und Südostasien gemeint). Die Beziehungen zwischen China und den meisten seiner Anrainerstaaten, ins‐ besondere mit Japan (zu dem es keine echte Aussöhnung nach dem II. Weltkrieg gegeben hat), sind mit „angespannt“ zumeist noch freundlich beschrieben. Per‐ ception remains Reality. Während viele Nachbarn Chinas einem wirtschaftlich und militärisch starken China skeptisch gegenüberstehen, gibt es in China wiederum historisch begründete „Einkreisungsängste“ (vgl. Kissinger, 2012, Kapitel 1). Tatsächlich befinden wir uns heute, im Gegensatz zur Ausnahmesituation einer Bipolarität im sogenannten Kalten Krieg, der von ca. 1947 bis 1990 währte, in einer „unübersichtlichen“ Globalsituation (die zudem durch neue Methoden der Kommuni‐ kation und Überwachung gekennzeichnet ist), deren Entwicklung zu einer neuen Bipolarität zwar nicht zwingend, aber möglich ist. Mit anderen Worten: Geschichte wiederholt sich, wenn, nicht als Tragödie, sondern als Farce (frei nach Karl Marx in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“). Kein europäischer Staat, von Russland einmal abgesehen, hat so viele Nationalstaa‐ ten als Nachbarn wie Deutschland, kein anderes europäisches Land erreicht auch nur annähernd die deutsche Wirtschaftskraft. Der historische „Fluch“ des jüngeren 1.1 Wendezeit? Versuch einer geopolitischen Einordnung 37 <?page no="38"?> Deutschlands von der 2. Reichseinigung im Jahre 1871 bis zum Ende des II. Weltkriegs in Europa im Jahre 1945 war es, groß und wirtschaftlich stark in der Mitte Europas zu stehen, und dabei einerseits zu klein zu sein, um Europa dominieren zu können (als man das noch wollte! ); dass andererseits aber ohne Deutschland „nichts in Europa ging“ und geht. Dieser „Fluch“ sollte mit der politischen und wirtschaftlichen Einbindung Deutschlands in die EU gelöst werden. Heute hat Deutschland mit ca. 83 Millionen von etwas über 500 Millionen Men‐ schen in der Europäischen Union (inklusive Großbritannien) einen Anteil von etwa einem Sechstel der Gesamtbevölkerung (bzw. ca. einem Neuntel der Bevölkerung von Gesamteuropa), steht aber für mehr als ein Fünftel der Wirtschaftsleistung der EU. Während der Anteil der Industrie am BIP in der EU im Jahre 2017 bei nur ca. 16% lag (Großbritannien und Frankreich noch deutlich darunter), waren es in Deutschland immer noch über 22%. Daran hat auch die seit 2018 andauernde Rezession der deutschen Automobilindustrie qualitativ (noch) nichts geändert. Abb. 1.3: Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in den jeweiligen EU- Mitgliedstaaten 2007 vs. 2017 (Bundesministerium der Wirtschaft, 2020) Abb. 1.3: Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in den jeweiligen EU-Mitgliedstaaten 2007 vs. 2017 (Quelle: Bundesministerium der Wirtschaft [5] ) 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 38 <?page no="39"?> 2 Tatsächlich ist der Terminus Exportweltmeister nicht eindeutig definiert. Auf US-Dollar-Basis rangierte Deutschland im Jahr 2019 mit 1.489,16 Mrd. US-Dollar auf Platz drei nach China mit 2.499,3 Mrd. US-Dollar und den USA mit 1.645,63 Mrd. US-Dollar (Quelle: Statista). 3 Dahinter steht die gängige Vorstellung, dass Geld arbeiten, sich also vermehren müsse. Mehr dazu in Kapitel 6. Damit lag der deutsche Anteil an der der EU-Industrieproduktion bei ca. 30% und bei ca. 6% der Weltindustrieproduktion. Keine andere große Volkswirtschaft - Stichwort Exportweltmeister 2 - ist so mit dem Rest der Welt verwoben. Nicht nur in diesem Zusammenhang sei Ihnen die Abschiedsvorlesung von Hans-Werner Sinn aus dem Jahre 2015 sehr empfohlen, die Sie sich z.B. auf YouTube ansehen können. [6] Damit verbunden ist ein sowohl ökonomisches und soziologisches „Megathema“: der Einfluss der Niedrigzinsen der Europäischen Zentralbank (EZB) und weiterer großer Nationalbanken wie der Fed, der Bank of Japan und der Bank of England, sowie der People’s Bank of China, auf unser individuelles Verhalten und auf die Investitionstätigkeit von Unternehmen und damit auch auf unser Gemeinwesen (s. auch Kapitel 6). Dies betrifft nicht nur die Entwicklung der Vermögensverteilung, sondern ebenso die der Kapitalanlagen, es betrifft die Altersvorsorge und auch die Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht. Die Nichtexistenz einer risikofreien Anlage in dem Sinne, dass die Nominalzinsen und die Realzinsen null oder sogar leicht negativ sind, treibt private wie geschäftliche Investoren nicht selten in Projekte, die bzw. deren assoziierte Risiken sie nicht verstehen. 3 Niedrige oder negative Zinsen begünstigen somit auch die Übernahme- und Fusi‐ onswelle bei Unternehmen; sie sind ebenso ein wesentlicher Grund für die schnelle Erholung der Aktienkurse nach dem „Corona-Einbruch“ im März 2020. Die Barreserven der größten (zumeist US-amerikanischen) Unternehmen betrugen Ende 2020 viele Hunderte Milliarden US-Dollar, wobei mangels Anlagealternativen der Druck zu Übernahmen - und damit zu Konzentration - massiv zunimmt. Gesellschaftlich relevante Beispiele waren die im Spätherbst 2015 (angekündigte aber schließlich gescheiterte) Übernahme von Allergan durch den US-amerikanischen Pharmariesen Pfizer, das Zusammengehen der Medienunternehmen Walt Disney mit der 21st Century Fox im Jahr 2017, die 2017 vollzogene Fusion von Dupont und Dow Chemical zum weltgrößten Chemieunternehmen sowie die Übernahme der Pharmafirma Celgene durch Bristol-Myers Squibb im Jahre 2019. Wenn in Relation zu Sachwerten und möglichen sinnvollen Investitionen zuviel Geld vorhanden ist, „sucht dieses verzweifelt profitable Anlagemöglichkeiten.“ Dazu korrespondiert auch der massive Abzug von Finanzmitteln der entwickelten Staaten 1.1 Wendezeit? Versuch einer geopolitischen Einordnung 39 <?page no="40"?> (bzw. deren Finanzinstitutionen) aus den sogenannten Emerging Markets zu Beginn der Finanzkrise, der Wiederanlage und dem erneuten Abzug im Zuge der Corona-Krise. Abbildung 1.4 verdeutlicht, dass unsere wichtigsten Handelspartner im Gegensatz zu den meisten europäischen Partnerstaaten nicht nur in Europa liegen. Wenn man von der EU als Ganzes abstrahiert, war China 2019 bereits das vierte Mal in Folge Deutschlands wichtigster Handelspartner. Während das lange heiß diskutierte Transatlantic Trade and Investment Partner‐ ship-Handelsabkommen (TTIP) auf absehbare Zeit erledigt zu sein scheint, bleibt es für Deutschland von besonderem Interesse, zu erahnen, welche Auswirkungen das Ende 2020 unterzeichnete Regional Comprehensive Economic Partnership-Abkom‐ men (RECP) und eine mögliche Wiederbelebung des ebenfalls totgesagten Trans-Paci‐ fic-Partnership-Abkommen (TPP) haben können. Exporte und Importe der wichtigsten Handelspartner Deutschlands 2019 in Mrd. Euro Abb. 1.4: Exporte und Importe der wichtigsten Handelspartner Deutschlands 2019 in Mrd. Euro (Quelle: Statistisches Bundesamt [7] ) Tatsächlich sind die USA relativ gesehen gering in den Welthandel integriert. Daran ändern auch die Militärexporte, die amerikanische Ölindustrie, weltbekannte und geschätzte Marken wie Microsoft, Apple, Google, Facebook, Coca Cola, Levi Strauss, Hollywood und Mickey Mouse und die Diskussion zum Außenhandelsüberschuss 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 40 <?page no="41"?> 4 Die theoretische Obergrenze sollte bei 200% (wenn alle Güter und Dienstleistungen, die in einem Land hergestellt werden, exportiert werden und alles, was verbraucht wird, importiert wird) liegen. Man findet in diesem Zusammenhang bei seriösen Quellen unterschiedliche Werte und beachte in diesem Zusammenhang die Rechengrundlagen. Macrotrends geben für Hongkong und Luxemburg Werte oberhalb von 200% an, die nur durch Reimporte und -exporte entstanden sein können. Andere Informationsquellen dividieren die Summe von Exporten und Importen durch zwei. 5 Eine Generation ist durch den durchschnittlichen zeitlichen Abstand zwischen biologischen Vorfah‐ ren und Nachkommen bestimmt. Sie ist somit nichts Statisches. Chinas nichts. Die Summe von Importen und Exporten dividiert durch das BIP betrug im Jahre 2017 lediglich 27,54% im Vergleich zu 86,53% für Deutschland bei einem Weltdurchschnitt von 58,02%. M.a.W.: Die USA können es sich bei ihrer geografischen Größe, vorhandenen Rohstoffen und ihren Streitkräften noch am ehesten leisten, aus der Weltwirtschaft weitgehend „auszusteigen“. 4[8] Bemerkung: Handelspolitik ist auch oder vor allem Machtpolitik. Das Paradigma des weltweiten Freihandels, repräsentiert durch die World Trade Organization (WTO), wurde in den letzten Jahren weitgehend aufgegeben. So waren die USA in die bis dato gescheiterten Abkommen TTIP und TPP involviert, während China (neben Russland und Indien) an keinem der beiden Verträge teilhaben sollte. Ende 2020 war es schließlich China,unter dessen unbestrittener Führung das RECP unterzeich‐ net wurde. Jenseits der bis dato gescheiterten beiden großen Verträge sind das Zustandekommen von Freihandelsverträgen der EU mit Vietnam, Schwellenland mit über 90 Mio. Einwohnern, im Jahre 2015, Kanada im Jahre 2017, der weltweit drittgrößten Volkswirtschaft Japan im Jahre 2019 und Mexiko im April 2020 für Deutschland als Teil der EU sehr erfreulich. Wir müssen uns, wenn wir mögliche zukünftige Pfade der gesellschaftlichen (und damit natürlich der wirtschaftlichen) Entwicklung Deutschlands erahnen wollen, auf histo‐ rische wie juristische, wirtschaftliche, soziale und machtpolitische Argumentationen einlassen. Eine bzw. die große Unbekannte stellt dabei die rasante Technologieentwicklung und die dazu korrespondierende Machtkonzentration von Individuen, Unternehmen und Staaten dar (Stichworte Big Data, soziale Netzwerke, Autonomie des Individuums, öffentliche Sicherheit). Noch vor weniger als einer Generation 5 gab es keine Smartphones, kaum Internet, damit auch keine internetbasierten sozialen Netzwerke, kein GPS u.v.m.: Wir können also nicht wissen, welche technischen Innovationen unser Leben zukünftig verändern werden. Fahrerlose Züge und selbstlenkende Lkws erscheinen in näherer Zukunft wahrscheinlich, anders sieht dies (noch? ) mit autonomem Fahren von Pkws aus. Abgesehen davon, was Nassib Taleb das unbekannte Unbekannte nannte, wovon wir noch überhaupt nichts ahnen! Letztlich kann sich moderne Technologie durchsetzen, 1.1 Wendezeit? Versuch einer geopolitischen Einordnung 41 <?page no="42"?> 6 Statistiker verwendenden üblicherweise nicht den Durchschnitt der Körperlängen, sondern den Median der Körperlängen eines Referenzjahrgangs, der sich nicht mehr im Wachstum befindet. wenn sie hinreichend skalierbar ist und die rechtlichen Rahmenbedingungen bzw. die Absenz von Verboten gegeben sind. Sie muss sich dann aber nicht durchsetzen. Schauen Sie sich zum Beispiel in Ostwie Westdeutschland verlegte Comics aus den 1950er Jahren an, in denen es jeweils von atomgetriebenen selbstlenkenden Autos u.v.m. wimmelt. Sehr zu empfehlen ist diesbezüglich auch die Filmtrilogie „Zurück in die Zukunft“, deren 1. Teil im Jahr 1985 präsentiert wurde. Wenn man sich grafische Darstellungen der Entwicklung des Welthandels vor Augen führt, die in den letzten 10 bis 20 Jahren erstellt wurden, so suggerieren diese ein ungebremstes zukünftiges Ansteigen des Welthandels (mit einer „kleine Delle“, die zum Ausbruch der Finanzkrise korrespondiert), das mit unserem heutigen Wissen in dieser Form nicht eintreten wird (vgl. z.B. [9] ). Unklar sind die mittel- und langfristigen Auswirkungen der Digitalisierung als wichtigster Treiber von Technologie auf den Arbeitsmarkt. Während die Digitalisie‐ rung von Dienstleistungen naturgemäß Grenzen hat, zeichnet sich bereits ab, dass der Welthandel insgesamt rückläufig werden muss, wenn zahlreiche Güter zukünftig vor Ort z.B. aus einem 3D-Drucker kommen. Ob und inwieweit die Anwendung der Blockchain-Technologie (derzeit sind etwa die Hälfte der Kosten im internationalen Handel mit Zolldokumenten und weiterer Bürokratie verbunden) diesen zur kosten‐ getriebenen Hyperglobalisierung gegenläufigen Trend verlangsamen oder aufhalten kann, bleibt abzuwarten (vgl. Kapitel 10). Übertriebenes Beispiel? ! Bekannt ist, dass die durchschnittliche Körperlänge der deutschen Bevölkerung im 20. Jahrhundert pro Generation (annahmegemäß 25 Jahre) um 3,8 cm zunahm. In diesem Zusammenhang lesen wir die fiktive Behauptung einer gedachten deutschen Boulevardzeitung „Deutsche im Jahr 3000 4 Meter lang! “ Lassen Sie uns zunächst über die zahlreichen Annahmen und die Art des Zustandekommens der Behauptung nachdenken. Nicht gegeben ist hier, ob es sich um Aussagen zur männlichen, zur weiblichen oder zur Gesamtpopulation handelt. Nehmen wir einmal an, dass es sich um die deutsche Gesamtbevölkerung handelt. (Auch hierzu sollten Ihnen bereits einige weitere Fragen einfallen. 6 ) In der fiktiven Schlagzeile sind weder die durchschnittlichen Körperlängen im Jahre 1900 noch im Jahre 2000 gegeben. Nehmen wir nun an, dass die das 20. Jahrhundert betreffende Aussage stimmt. Dann reicht es uns, einen dieser beiden Eckwerte zu kennen. Wenn die deutsche Gesamtbevölkerung im Jahre 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 42 <?page no="43"?> 2000 fiktiv durchschnittlich 175 cm lang war, dann war sie im Jahre 1900 175 cm - 3,8 ∙ 4 cm = 159,8 cm lang oder anders herum. Die 159,8 cm Durchschnittslänge im Jahre 1900 und die 175 cm im Jahre 2000 gehören also zusammen. Mehr wissen wir erst einmal nicht. Nur, dass die Durchschnittslänge der Deutschen von 1900 bis 2000 um 15,2 cm gestiegen ist. Oder glauben Sie, dass 1925, 1950 und 1975 so genau gemessen wurde? Die Teilung durch die Anzahl der Generationen (deren gewählte Länge, wenn man den Begriff wörtlich nimmt, mit fortschreitender Zeit nichtlinear länger geworden sind) ist ebenso willkürlich. Im 20. Jahrhundert gab es zwei Weltkriege mit insgesamt mehr als 70 Millionen Toten allein in Europa und darauf folgenden Hungersnöten und Grippen (das bekannteste Beispiel ist die Spanische Grippe nach dem I. Weltkrieg). Glauben Sie wirklich, dass die Deutschen im Durchschnitt kontinuierlich gewachsen sind? Ihnen fallen sicher noch viele weitere Fragen ein … Die „Analytik“ ist nun, wenn wir die bereits gestellten Fragen verdrängen, ziemlich simpel. Die geschätzte Körperlänge im Jahr 3000 ergibt sich hier als Körperlänge im Jahre 2000 in cm + Anzahl der Generationen von 2000-3000, also 40, mal 3,8 cm. Damit sind wir bei 175 cm + 40 ∙ 3,8 cm = 327 cm (das sind „großzügig“ nach oben aufgerundet 4 Meter). Die wirkliche „Frechheit“ ist, dass Sie aus einer kurzen Beobachtungsperiode (bzw. nur aus deren Eckpunkten), bei der mit Sicherheit kein lineares Wachstum der Körperlänge vorlag, auf eine viel längere Schätzzeit linear extrapolieren. Überprüfen Sie sich selbst, inwieweit Sie den „Betrug“ bereits am Anfang bemerkt haben und erinnern Sie sich ggf. an dieses „Beispiel“, wenn Sie in den Medien bzw. im Beruf mit Behauptungen konfrontiert werden, bei denen die Annahmen nicht korrekt erläutert wurden und die demzufolge statistisch „wackelig“ begründet werden. Ganz allgemein gilt jedenfalls, dass (lineare) Extrapolationen auf die Zukunft mit großer Vorsicht zu genießen sind. 1.2 Werte und Werteorientierung Wenn von Werteorientierung gesprochen wird, denken die meisten von uns vermutlich an christliche Familienwerte oder an die Außenpolitik. Im Unterschied zur Familie oder zum Unternehmen muss es auf staatlicher bzw. supranationaler Ebene ein unerreich‐ bares Ziel bleiben, nur mit solchen Staaten bzw. deren Vertretern zusammenzuarbeiten, die unsere „Werte“ teilen (die direkt auf die ca. 1700 - also in historischen Dimensionen gar nicht so lange zurückliegende - beginnende Aufklärung zurückgehen). Diese Aussage gilt natürlich spiegelbildlich für Vertreter von Staaten, die ein anderes Gesellschaftskonzept als der (noch teilweise) liberale Westen verfolgen und die sich auf internationaler Ebene mit eben dessen Vertretern auseinandersetzen müssen. 1.2 Werte und Werteorientierung 43 <?page no="44"?> Verhandlungspartner kann man sich im privaten oder beruflichen Bereich jedenfalls immer noch deutlich besser aussuchen als im interstaatlichen Bereich, ob es in (s)ein Wertekorsett passt oder nicht. Arbeitsdefinition: Unter Werten verstehen wir hier diejenigen Vorstellungen, die in einer Gesellschaft allgemein als wünschenswert anerkannt sind und die den Menschen Orientierung verleihen. Man unterscheidet soziale, religiöse, politische, ästhetische, materielle und moralische Werte. Der Begriff Wertewandel stellt im Wesentlichen darauf ab, dass Werte nicht statischer Natur sind, sondern dass sie sich mit der Zeit in der Gesellschaft ändern. In den vergangenen Jahrzehnten hat es in den entwickelten westlichen Gesellschaften einen Trend zur Individualisierung gegeben mit der Folge, dass Selbstverwirklichung und Kommunikation gegenüber materiellem Vermögen an Bedeutung gewonnen haben. Verantwortungsethik vs. Gesinnungsethik Ethik ist die Lehre von den Normen menschlichen Handelns. Die Ethik befasst sich somit mit der Begründung der moralischen Regeln. Keine Ethik kommt an der Tatsache vorbei, dass zur Erreichung „guter“ Zwecke mitunter sittlich bedenkliche bzw. gefährliche Mittel mit der Folge von „Nebenwirkungen“ eingesetzt werden müssen. Ethisch orientiertes Handeln kann grundsätzlich unter zwei prinzipiell gegensätz‐ lichen Maximen stehen. Es kann gesinnungsethisch oder verantwortungsethisch sein. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man unter einer gesinnungsethischen Maxime handelt, in der „die Welt“ für „das Übel“ verantwortlich ist, oder unter der verantwortungsethischen, dass man in persona bzw. als Institution für die Folgen seines Handeln verantwortlich ist (vgl. insbesondere Max Webers „Politik als Beruf “ sowie Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“). Gesinnungsethik geht oft - wenn auch nicht immer - mit tiefem religiösen Glauben oder pseudo-religiösen Weltbildern wie im Kommunismus einher. Tatsächlich werden diese „Reinformen“ von Ethik nie unverfälscht durch Personen in Politik und Wirtschaft gelebt (mal ganz abgesehen von den Entscheidern, denen ethische Maximen ebenso egal sind wie einem Teil der von ihnen „Regierten“). In der neueren Vergangenheit sind in der „großen Politik“ neben dem Inder Mahatma Gandhi und dem allseits bekannten Häftling, späteren Präsidenten und schließlich der Identifikationsfigur Südafrikas Nelson Mandela als Gesinnungse‐ thiker der ehemalige chilenische Präsident Salvador Allende zu nennen. Allende zog es 1973 während des Putsches von General Augusto Pinochet vor, zu sterben, als von seinen Überzeugungen und den von ihm (auch selbst) erwarteten Handlungen 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 44 <?page no="45"?> 7 Ursachen der Krankheitsverbreitung waren Kriege und Handel. Die antoninische Pest war vermut‐ lich die erste große Seuche, die aus Asien nach Europa kam (vgl. Karlen). abzurücken. Der Putsch in Chile im Jahre 1973 ist ein Lehrstück in internationaler (Wirtschafts-)Politik, über das es sich bezüglich des Verhaltens der damaligen Großmächte USA und Sowjetunion als auch der beiden Deutschlands zu bilden lohnt. Langfristig wenig erfolgreich als „Gesinnungsethiker“ war Zar Alexander II., der Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland die Leibeigenschaft abschaffte und damit das Ende des russischen Zarenreichs innerhalb von weniger als 60 Jahren einläutete. Hier passt das Bonmot „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“. Obwohl dies sehr vereinfacht, wurde und wird der 2015 verstorbene ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, oft mit Verweis auf Karl Popper und Max Weber, die er vor, während und nach seiner Bundeskanzlerschaft vielfach zitierte, als der klassische Verantwortungsethiker dargestellt. Legendär sind Helmut Schmidts publizierte Reflexionen zum Kampf Rote Armee Fraktion (RAF) gegen den (west-)deutschen Staat und die Reaktion des deutschen Staats, vertreten durch Helmut Schmidt. Eines der lesenswertesten Bücher zum Thema Ethik und Politik sind die „Selbst‐ betrachtungen“ von Marc Aurel, der vor mehr als 1800 Jahren nicht nur ein großer Philosoph war, sondern hautberuflich lange Zeit unter schwierigsten Bedingungen (Stichworte Antoninische Pest 7 und Einfälle von Germanenstämmen) fast zwanzig Jahre lang als römischer Kaiser recht erfolgreich ein Großreich regierte. Lassen Sie uns hier einen Schritt zurückgehen. Der durch seine dreibändige Keynes- Biografie bekannt gewordene englische Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky führt diesbezüglich aus: „Mit der Überzeugung, gut und schlecht würden intuitiv erkannt, waren Keynes und [sein Lehrer] Moore Erben einer philosophischen und religiösen Tradition, die immer mehr an Boden verlor. Heute haben Gesellschaften Gepflogen‐ heiten, aber keine Ethik. Die Gepflogenheiten sagen uns, wie wir uns zu verhalten haben, wenn wir etwas tun, aber nicht, ob das, was wir tun, auch wert ist getan zu werden. […] Die liberale Gesellschaft ist im Wesentlichen eine Prozess- und Transaktionsgesellschaft. Ihre Werte sind zweitrangige Werte, die der Regelung von politischen und sozialen Beziehungen dienen, damit Konflikte zwischen konkurrie‐ renden Wertvorstellungen, Religionen und ethnischen Zugehörigkeiten möglichst vermieden werden. Vieles davon fällt unter das Etikett Tugendethik [Hervorhebung von mir], aber ausgeklammert bleibt die Frage. Wozu dient das Leben? “ [10] Die simple Gegenüberstellung von Marktwirtschaft vs. Planwirtschaft (beide Ideal‐ formen gibt es praktisch nirgendwo auf der Welt) oder Demokratie vs. Diktatur (die es so beide ebenso nicht in Reinform gibt), weiter simplifiziert in „gut“ und „schlecht“, bringen uns hier nicht weiter. 1.2 Werte und Werteorientierung 45 <?page no="46"?> Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland erinnert definitorisch übrigens nicht mal entfernt, und dies ist keine Wertung, an eine idealtypische Lehr‐ buchmarktwirtschaft. Denken Sie hierbei z.B. an den Länderfinanzausgleich, den Mindestlohn, Krankenkassen- und Rentenzuschüsse aus Steuermitteln, Hartz IV-Ar‐ beitslosengeld u.v.m. (siehe auch Kapitel 8). Während China (richtigerweise) Staatskapitalismus bescheinigt wird, ist unser Reflexionsniveau bezüglich Deutschlands oder der USA sprachlich und gedanklich seltsam beschränkt. Wie wir in den folgenden Abschnitten, nicht nur denen zu den So‐ zialversicherungen und den Finanzmärkten, sehen werden, ist es schlicht eine Frage der Perspektive, ob wir die modernen westlichen Volkswirtschaften als Staatswirtschaften mit privatwirtschaftlichen Merkmalen bezeichnen oder umgekehrt. Die bereits erwähnte Ökonomin Mariana Mazzucato zeigt z.B. in ihrem Buch „Das Kapital des Staates“, dass Wertschöpfung auch und gerade in den USA vom Staat ausgeht. Das Raumfahrtprogramm, die Rüstung, Biotechnologie, Internet, GPS u.v.m. wurden durch die Bereitstellung von Infrastrukturen der Grundlagenforschung, öffentliche Subventionen und eine diskrete Steuerpolitik vom US-Staat initiiert. Echte unabdingbare konstituierende Merkmale einer Marktwirtschaft gibt es jeden‐ falls wenige. Weder sind private Finanzinstutionen zwingend noch das Privateigentum an Wohneigentum, das es z.B. im „Musterkapitalismusland“ Singapur praktisch nicht gibt. Argumentationen werden üblicherweise darauf aufgebaut, dass Demokratie und Marktwirtschaft einander bedingen und dass Staaten, die auf demokratischen Prinzipien beruhen, Distanz zu Märkten haben. Das ist pauschal weder in Deutschland noch in den USA noch sonst irgendwo der Fall (vgl. Kapitel 6 und den Exkurs zu Kapitel 14). Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass nicht nur die Außen- und Menschen‐ rechtspolitik wertegetrieben ist, sondern dass dies ebenso für die Wirtschaftspolitik gilt. Es lohnt in diesem Zusammenhang, sich genauestens zu überlegen bzw. klar‐ zumachen, worauf wir hinsichtlich unseres Gesellschaftsmodells stolz sind (es gibt zahlreiche positive Antworten) und was Demokratie ferner tatsächlich bedeutet. Aufgabe zur Selbstreflexion: Versuchen Sie, die für Sie fünf wichtigsten „Güter“ einer Gesellschaft im allgemei‐ neren volkswirtschaftlichen Sinne zu benennen (z.B. Eigenschaften, die mit Demo‐ kratie zusammenhängen, oder Demokratie ganz allgemein, öffentliche Sicherheit, Funktionsfähigkeit des Rechtssystems, Öffnungszeiten der Supermärkte, Qualität der Fußballnationalmannschaft usw.) und ihre subjektiven Wahrnehmungen auf einer diskreten Fünferskala von „trifft ganz zu“ bis „trifft überhaupt nicht“ auf Deutschland, Frankreich, Großbritannien, China und die USA (auch wenn Sie nicht alle diese Länder selbst besucht haben) anzuwenden und ermitteln Sie nach‐ folgend die Summen der absoluten Abstände. Das Ergebnis wird Sie vermutlich überraschen! 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 46 <?page no="47"?> In dem großartigen Buch des englischen Wissenschaftshistorikers Peter Watson „Ideen: Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne“ merkt Watson als Kommentar zur Entstehung der altgriechischen Demokratien an: „Aber wenigstens verdeutlicht es, dass das, was wir im 21. Jahrhundert als Demokratie ansehen, in Wahrheit eine Wahloligarchie ist.“ [11] Diese Aussage, über die es sich nachzudenken lohnt, bezieht sich nicht auf Russland oder China, sondern auf „unsere“ westlichen Demokratien. Noch besser sollte es der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter gewusst haben, als er 2015 - vor der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten! - festhielt: „Jetzt ist [das politische System der USA] nur noch eine Oligarchie, in der unbegrenzte politische Bestechung das Wesen der Nominierung zum Präsidenten oder der Wahl zum Präsidenten ausmacht. Und das Gleiche gilt für die Gouverneure, US-Senatoren und Kongressabgeordneten. Jetzt haben wir gerade eine Subversion unseres politischen Systems erlebt, als Lohn für Großspender, die Gefälligkeiten für sich selbst wollen, erwarten und manchmal auch bekommen, nachdem die Wahl vorbei ist.“ [12] Wir - jeder von uns - haben per se die Angewohnheit, Wertungen zu treffen, ohne die Voraussetzungen zu hinterfragen. Interessante Ausführungen dazu und vieles mehr finden Sie im gut lesbaren Buch des einzigen Nichtökonomen, der bisher den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft erhalten hat: in Daniel Kahnemans „Schnelles Denken, langsames Denken“. Sehr verkürzt und salopper, frei nach dem englischen Philosophen John Locke ausgedrückt: Die wahren Verrückten sind diejenigen, die auf den falschen Voraussetzungen basierend die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Im davor liegenden Bereich der Wirtschaftstheorie sind es die Konstrukte des homo oeconomicus, der Rationalität, des Wettbewerbs und der Regulierung, die in der vor‐ herrschenden volkswirtschaftlichen Lehrbuchliteratur zumeist quasi-axiomatischen Charakter besitzen (die Forschung ist hier zum Teil allerdings schon deutlich weiter). Die klassische Lehrbuchargumentation steht nicht nur im Widerspruch zu dem, was Sie täglich wirtschaftlich erleben. Ein intellektueller Vordenker der sogenannten Libertaristen, Peter Thiel, wird unter anderem derart zitiert: „Kreative Monopole ermöglichen neue Produkte, von denen alle profitieren. Wettbewerb bedeutet keinen Profit, für niemanden.“ Weiter: Monopole haben „einen schlechten Ruf “ jedoch nur, „weil Wettbewerb eine Ideologie ist.“ [13] Literaturtipp: Zur qualitativ gleichen Schlussfolgerung, wenngleich auf anderen Wegen, kommt der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger. Ausgangspunkt von Binswangers Überlegungen ist die Beobachtung, dass der Preismechanismus für (eine gewisse) Effizienz sorgt, wenn Markt und Wettbewerb zusammenfallen. Markt und Wett‐ bewerb sind aber verschiedene Dinge, die sich keinesfalls bedingen. So gibt es im Sport zumeist Wettbewerb, aber keinen Markt und Kartelle oder Monopole kontrollieren einen Markt, auf dem kein Wettbewerb herrscht. In seinem Buch „Sinnlose Wettbewerbe: Warum wir immer mehr Unsinn produzieren“ legt Bins‐ 1.2 Werte und Werteorientierung 47 <?page no="48"?> wanger dar, dass gerade Kennzahlensysteme, die im Hochschulbereich und im Gesundheitswesen angewendet werden, zumeist das Gegenteil dessen bewirken, was sie tatsächlich bewirken sollen. Indem hoch qualifizierte Ärzte und Univer‐ sitätsprofesoren permanent nachweisen müssen, dass sie erfolgreich tätig sind, werden sie nicht nur Teil einer Bürokratie, sondern sie haben vor allem weniger Zeit für ihre eigentliche Kerntätigkeit zur Verfügung. Aus der Tatsache, dass Teilaspekte von Qualität messbar sind, folgt nicht, dass Qualität als Ganzes messbar ist! Um zu entscheiden, ob etwas insgesamt gut ist oder nicht, gibt es zumeist nur ein „Gefühl“ (vgl. wiederum Erkenntnisse des altchinesischen Philosophen Menzius, auf die in Kapitel 13 kurz Bezug genommen wird). Binswanger verweist darauf, dass Albert Einstein heute nie mehr Professor hätte werden können (wie zahlreiche andere Geistesriesen in der Mathematik und Physik ebenso nicht): Er zeigt, dass der permanenten Kontrolltätigkeit bzw. der Kennziffernverwendung ein bedenkliches Menschenbild zugrunde liegt, das ver‐ einfacht besagt, dass Menschen nur auf Zuckerbrot und Peitsche reagieren. Aus der Tatsache, dass vielleicht 5% oder 10% der Richter, Ärzte oder Lehrer faul sind, werden die verbleibenden 90% oder 95% von ihrer Organisation mit einem „mechanisierten Misstrauen“ konfrontiert, das oft die Freude an der Arbeit verdirbt. Intrinsische Motivation oder Freude kommt in diesem System nicht vor. Ohne Freude an der Arbeit sinkt aber die Qualität geistiger Arbeit. Letztlich wird mit Verweis auf Kennzahlensysteme versucht, persönliche Verant‐ wortung zu reduzieren, da Entscheidungen, so falsch sie ex post gewesen waren, (pseudo-)objektiv begründet wurden. Gerade im Gesundheitssystem wurden Ziel (Menschen gesund machen) und Nebenbedingung (die Kosten dafür dürfen nicht aus dem Ruder laufen) bisweilen ins Groteske vertauscht. Karitative Dinge wie Blutspenden wurden durch bezahlte Blutspenden ersetzt, welche insgesamt durch eine schlechtere Blutqualität als zuvor charakterisiert waren usw., usw. Lesen Sie bei Interesse auch Kapitel 1 und 2 in Hal Varians und Carl Shapiros Buch „Information Rules“, in dem vor mehr als 20 Jahren dargestellt wurde, dass Industrien bzw. Produkte, die durch hohe Fixkosten (die zumeist und dann zum größten Teil Sunk Costs sind) und niedrige variable Kosten charakterisiert sind, zur Bildung von temporären Monopolen tendieren müssen. Eine Konsequenz dieser technologischen Entwicklung ist, dass einzelne Unterneh‐ men finanziell und intellektuell (! ) derart mächtig geworden sind, dass es selbst größeren Staaten schwerfällt, mit ihnen auf Augenhöhe zu verhandeln. Ende 2020 war jedes der Unternehmen Apple, Amazon, und Microsoft teurer (technisch durch die Marktkapitalisierung ausgedrückt) als der gesamte DAX30 (oder synonym DAX), zudem machten diese drei Unternehmen zusammen mit Google und Facebook im wichtigsten US-Börsenindex S&P 500 ca. ein Viertel der gesamten US-Marktkapitali‐ sierung aus. [14] 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 48 <?page no="49"?> 8 Diese Argumentation kann man problemlos auf das Raumfahrtprogramm der NASA in den 1950er Jahre anwenden. Diese Entwicklung kam natürlich nicht aus dem Nichts. In Tabelle 1.1 werden die Börsenkapitalisierungen der teuersten Firmen weltweit im Jahr 2004 und im Jahr 2014 gegenübergestellt. 2004 2014 Börsenwert in Mrd. US-Dollar Börsenwert in Mrd. US-Dollar 1 General Electric (USA) 331 1 Apple (USA) 612 2 Microsoft (USA) 308 2 Exxon Mobil (USA) 425 3 Exxon Mobil (USA) 290 3 Google (USA) 390 4 Pfizer (USA) 262 4 Microsoft (USA) 370 5 Citigroup (USA) 240 5 Berkshire Hathaway (USA) 336 6 Wal-Mart (USA) 225 6 Johnson & Johnson (USA) 291 7 BP (GB) 193 7 Wells Fargo (USA) 268 8 AIG (USA) 186 8 General Electric (USA) 262 9 Intel (USA) 179 9 Royal Dutch Shell (NL) 262 10 Bank of America (USA) 173 10 Roche (CH) 252 11 Johnson & Johnson (USA 165 11 China Mobile (CN) 252 12 HSBC (GB) 164 12 Nestlé (CH) 250 Tab. 1.1. Die teuersten Unternehmen der Welt 2004 vs. 2014 (Quelle: FAZ [15] ) Insgesamt konstatieren wir innerhalb dieser 10 Jahre eine Bewegung von Industrie, Banken und Versicherungen sowie Rohstoffexploration hin zu IT, Pharma, Gesundheit und Nahrungsmitel, was uns nach den Betrachtungen zur Demografie noch weniger überraschen wird. Die Weichenstellung für den weltweiten Erfolg der US-Technologiefirmen erfolgte im Mutterland des Kapitalismus bereits in den späten 1990er Jahren 8 . Lediglich den chinesischen Internetfirmen Tencent und Alibaba und dem südkoreanischen Unterneh‐ men Samsung gelang es - durch nationale Industriepolitik - in den vergangenen Jahren in die Phalanx der teuersten Unternehmen einzudringen. (mehr dazu in Kapitel 6). 1.2 Werte und Werteorientierung 49 <?page no="50"?> 1.3 Positive vs. Normative Theorie Wirtschaftspolitik basiert auf ökonomischen Kriterien und Normen, die auf Werturtei‐ len beruhen. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften, den Ingenieurswissenschaften, der Mathematik und mit Abstrichen der Medizin, können Sie in den Sozialwissenschaften nicht einfach die Versuchseinstellungen variieren und zum Beispiel schauen und messen, was passiert (Konkreter: Wie werden Zielgrößen wie z.B. die Beschäftigung, Inflation, Staatsverschuldung etc. beeinflusst? ), wenn Sie die Einkommensteuertarife absenken, die Körperschaftssteuer abschaffen und dafür die Mehrwertsteuer erhöhen. Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass die Simulationstechnik, die „digitale Experimente“ mit Hilfe von Computern vornimmt, in den vergangenen Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht hat. Was praktisch immer fehlt, ist eine reale Vergleichs‐ gruppe. Wir können damit nur ahnen bzw. prognostizieren, welche Auswirkungen eine politische Maßnahme im Zeitverlauf haben wird. Tatsächlich hat die Anwendung von Methoden der mathematischen Statistik und Ökonometrie vor allem aufgrund gestiegener Computerrechenleistung in den beiden vergangenen Jahrzehnten stark an Bedeutung zugenommen, insbesondere dann, wenn es darum geht, Annahmen oder Politikansätze „zu beweisen“. Normative Wirtschaftspolitik wie Finanzwissenschaft beschäftigt sich z.B. mit dem anzustrebenden Zustand einer Volkswirtschaft. Sie basiert somit auf Werturteilen und basiert (nicht nur in Demokratien) auf (vermuteten) Zielpräferenzen, die eine hinreichende Anzahl der Bürger bzw. Bewohner einer territorialen Einheit teilt. Die Aussage, dass ein Mindestlohn wichtig ist, um ein selbstbestimmtes Dasein führen zu können, ist normativ. Verinnerlichen Sie auch hier, dass dominierende bzw. weitgehend akzeptierte gesellschaftliche Werte sich im Zeitverlauf verändern. Die positive Wissenschaft beschreibt und untersucht Zusammenhänge, ohne Wert‐ urteile zu fällen. Eine Beispielfrage lautet im obigen Zusammenhang: Wie wirken finanzpolitische Maßnahmen wie der Mindestlohn auf die Einkommensverteilung, den Einkommensmedian, den Gini-Index, etc.? Bemerkung: Es gibt zum Thema Mindestlohn Abertausende von Studien und inzwischen auch mehr als eine Handvoll Metastudien. Der zu verallgemeinernde Erkenntnisgewinn ist beschränkt. Während etwa die Hälfte der Studien „nachweist“, dass ein Min‐ destlohn einen negativen Effekt auf die Beschäftigung hat, wird diese Aussage in der verbleibenden Hälfte der Studien negiert. Je eine Hauptquelle pro „Richtung“ sind David Neumark und William Wascher „Minimum Wages and Employment: A Review of Evidence from the New Minimum Wage Research” vs. Dale Belman und Paul J. Wolfson „What does the Minimum Wage do? “ 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 50 <?page no="51"?> Klar ist jedoch geworden: Den eindeutigen Einfluss eines Mindestlohnes gibt es nicht. So wird ein Unternehmen, wie durch das klassische Angebots- und Nachfragediagramm für den Arbeitsmarkt suggeriert, nicht notwendigerweise weniger Arbeit nachfragen, wenn der Preis der Arbeit steigt. Relevant sind ebenfalls die Arbeitseffizienz der Mitarbeiter, die Möglichkeit, die eigenen Kosten für hergestellte Güter bzw. Dienstleistungen an Kunden weiterzugeben u.v.m. Ergebnis „normativer Forschung“ ist üblicherweise ein Vorschlag. Hier ist sehr allge‐ mein Vorsicht angebracht: Die vorschlagende Seite hat üblicherweise ein Interesse, ihre Pro-Argumente zu überzeichnen und Gegenargumente zu ignorieren bzw. zu diskreditieren. Das bedeutet nicht, dass es keinen intellektuellen Anstand wie in der guten alten Zeit (die übrigens nicht so gut war) mehr gibt, es genügt an dieser Stelle eine Erinnerung an die mehr als 2000 Jahre alte Frage „Cui bono? “, auf Deutsch „Wem nützt es? “, und der Hinweis, dass es in der Wirtschaft keine Monokausalität gibt. Zudem werden viele Gesetze, wie übrigens auch Autos (Stichwort Rückrufaktionen) oft schnell produziert und sie weisen somit leider ebenso oft handwerkliche Mängel auf. Das Gegenteil von gut ist oft gut gemeint. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die enge Beziehung der Wirtschaftspolitik zur Rechtswissenschaft, da diese den Rahmen vorgibt, „was erlaubt ist“. Denken Sie in diesem Zusammenhang zum Beispiel an das Netzdurchdringungsgesetz (NETZDG) und die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und machen Sie sich klar, dass rechtliche Aspekte bzw. Urteile die Finanzpolitik leiten können. Der auf den ersten Blick erfolgversprechendste Weg, um herauszufinden, inwieweit Regierungshandeln die Bürger betrifft, ist selbige zu befragen. Das geschieht auch fast ständig; es werden im Stakkato Studien veröffentlicht, die aber oft Diametrales zu sagen scheinen. Dabei werden nicht selten Suggestivfragen gestellt. Wenn Menschen ihr Verhalten beschreiben, sagen bzw. schreiben sie noch lange nicht die Wahrheit. Beachten Sie, dass Umfragen bzw. deren Ergebnisse das Verhal‐ ten vieler Menschen wiederum beeinflussen. Die Konzeption von Interviews und psychologischen Tests sowie deren Auswertung erfordern somit nicht nur viel Wis‐ sen, sondern auch Vorsicht. Um wirtschaftliches Verhalten zu studieren, werden seit den 1990er Jahren verstärkt soziale Experimente verwendet: Aber auch diese haben Grenzen; Menschen wissen fast immer, dass sie an einem Experiment teilnehmen. So ist es praktisch dauerhaft unmöglich, echte Zufallsstichproben (englisch: random sample) zu erhalten. Exkurs: Ökonomie als Wissenschaft Für die historisch junge Disziplin Volkswirtschaftslehre gibt es eine fast unüberschau‐ bare Anzahl von Definitionen oder Definitionsversuchen (genau wie für die „alte Exkurs: Ökonomie als Wissenschaft 51 <?page no="52"?> Religion“). Dies ist insoweit nicht überraschend, als die drei wichtigsten ökonomischen Denker Adam Smith und Karl Marx Philosophen waren und John Maynard Keynes aus der Mathematik kam. Eine Hauptrichtung der Volkswirtschaftslehre stellt auf sozialwissenschaftliche As‐ pekte ab, indem z.B. neben der Produktion ebenso auf die Verteilung Bezug genommen wird. Die in der Lehre an Hochschulen dominantere Strömung - jedenfalls für die Studenten, für die VWL nur ein Nebenfach ist - geht auf Lionel Robbins aus den frühen 1930er Jahren zurück: Ökonomie ist hier „die Wissenschaft, die das menschliche Handeln als Verhältnis zwischen Zwecken und knappen Mitteln, für die es alternative Verwendungen gibt, untersucht.“ [16] Anders ausgedrückt: Ökonomie wird verkürzt auf knappe Ressourcen, die eingesetzt werden in dem Bestreben, a priori grenzenlose Begierden zu befriedigen. Beachten Sie, dass Argumentationen, die auf Knappheit beruhen, keiner Werturteile bedürfen. Die Volkswirtschaftslehre wird klassischerweise in die Teilgebiete Mikro- und Makroökonomie unterteilt. Eine alternative „Aufteilung“ der Volkswirtschaftslehre ist die in Wirtschaftstheorie, Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft. An deutschen Hochschulen wird üblicherweise die Mikroökonomie zuerst gelehrt, bevor die Makro‐ ökonomie Gegenstand des Studiums wird. Der Begriff Makroökonomie ist historisch gesehen noch sehr jung; er wurde das erste Mal in den 1930er Jahren verwendet. Bemerkung: Es ist in der Tat immer eine Frage der Perspektive(n), wie sich einem Gegenstand wissenschaftlich genähert wird: Die Steuerwissenschaft als Querschnittsteilwissen‐ schaft von Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre wird üblicherweise in die drei Teildisziplinen Finanzwissenschaftliche Steuerlehre, Steuerrechtswis‐ senschaft und Betriebswirtschaftliche Steuerlehre unterteilt. Gelegentlich wird als vierter Bereich die Staatsbzw. Verfassungslehre genannt. Eine „trennscharfe“ Abgrenzung der einzelnen Fachwissenschaften ist dabei praktisch unmöglich. Ökonomie ist immer auch eine historische Wissenschaft. Das kann man gut nach‐ vollziehen, wenn man die erste und die letzte Auflage von Paul Samuelsons Buch „Economics“ nebeneinanderlegt. Samuelsons Buch, das 1948 in erster Auflage erschien, ist „die Mutter“ aller modernen VWL-Lehrbücher, d.h., dass fast alle zeitgenössischen einführenden Lehrbücher der VWL durch das Buch von Samuelson und seinen späteren Co-Autor William Nordhaus geprägt sind. Bis zu Samuelsons Tod im Jahr 2009 konnte das Werk, das immer noch überarbeitet und verlegt wird, somit auf 60 Jahre eigene Entwicklung zurückblicken. Paul Samuelson war einerseits einer der Väter der „mathematisierten“ modernen VWL, anderseits konnte er aber ein Lehrbuch schreiben, in dem nicht nur eine einfache Sprache verwendet und auf „zu komplizierte“ Mathe‐ matik verzichtet wurde und dafür die ökonomischen Fragestellungen im Vordergrund 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 52 <?page no="53"?> 9 Um ein mögliches Missverständnis nicht erst entstehen zu lassen: Viele zeitgenössische Verächter mathematischer Anwendungen in der Ökonomie haben nach meiner Überzeugung nur ein geringes Verständnis von Mathematik und mathematischer Modellierung. stehen. 9 Auch machte er Probleme einer verkürzten Lehrbuchökonomie klar, als er formulierte: „John D. Rockefeller’s dog may receive the milk that a poor child needs to avoid rickets. Why? Because supply and demand are working badly? No. Because they are doing what they are designed to do, putting goods in the hands of those who can pay the most.” [17] Hier ist zunächst nur von Effizienz die Rede, nicht von Fairness (die von Samuelson später behandelt wird). Unsere Art zu denken ist naturgemäß von unserer Ausbildung und den unser Studium prägenden Texten bestimmt. Sie können dies rasch verifizieren, wenn Sie über eine hinreichend große „Stichprobe“ von z.B. Juristen, Maschinenbauingenieuren, Musikern, Ökonomen und Ärzten in Ihrem Bekannten- und Freundeskreis verfügen, um festzustellen, dass jede dieser Berufsgruppen bzw. ihr Denken auf besondere Art durch das davor gelegene Fachstudium geprägt wurde. Paul Samuelson war sich der Bedeutung dessen, was er tat, sehr bewusst: So führte er bereits im Jahre 1948 aus „I don’t care who writes a nation’s laws - or crafts its advanced treatise […] if I can write its economics textkooks.” [18] Bezüglich der Ökonomie bzw. ihrer Teildisziplinen können wir kurz festhalten, dass sich diese natürlich wissenschaftlicher Methoden vor allem aus der (mathematischen) Statistik und der Optimierung bedient, dass ihr „Fundament“ aber sowohl ortsals auch zeitveränderlich ist und dass es sich um eine Sozialwissenschaft handelt. Experi‐ mente können nicht in unverändertem Versuchsaufbau wiederholt werden: Menschen können, frei nach Heraklit, immer noch nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Gregory Mankiw, Verfasser des in der Vorrede erwähnten Lehrbuchs der Makroöko‐ nomie, eröffnet sein Werk mit einem kommentierten Zitat von John Maynard Keynes: „‚An economist must be ‚mathematician, historian, statesman, philosopher, in some de‐ gree…as aloof as incorruptible as an artist, yet sometimes as near to the earth as a politician.‘[…] No single statement summarizes better what it means to be an economist.” Die angelsächsische Sicht- und Betrachtungsweise sozialer Phänomene unterscheidet sich oft fundamental von der kontinentaleuropäischen und im Speziellen der deutschen Sichtweise. Deutsche Standardlehrbücher versuchen im Allgemeinen mehr Inhalte zu transportieren bzw. Fragen anzureißen als ihre englischsprachigen Pendants: Ver‐ gleichen Sie diesbezüglich einmal die Inhaltsverzeichnisse eines beliebigen amerikani‐ schen Standardwerkes mit Peter Bofingers Buch zur Volkswirtschaftslehre. Rosen und Gayer beschreiben den Inhalt ihres 600 Seiten-Buches zu Public Finance (das oft, aber nichtsdestotrotz nicht korrekt, mit der deutschen Finanzwissenschaft gleichgesetzt wird) schlicht durch „This book is about taxing and spending activities of government.“ Sie werden kein deutsches Lehrbuch finden, dass sich derart „hart“ und präzise äußert. Das bedeutet übrigens nicht, dass ein Ansatz a priori besser oder schlechter ist, die Herangehensweise ist unterschiedlich. Exkurs: Ökonomie als Wissenschaft 53 <?page no="54"?> Es lohnt in diesem Zusammenhang sich allgemein klarzumachen, dass eine jede Wissenschaft bzw. eine Teildisziplin derselben nicht statischer Natur ist, sondern dass sich ihre Untersuchungsgegenstände und die verwendeten Methoden im Laufe der Zeit verändern. Dies gilt für die Sozial- und die Naturwissenschaften. Man denke hier zum Beispiel an die Chemie, die erst durch die Untersuchungen Lavoisiers (1743-1794) zu einer exakten Wissenschaft wurde und die sich, nachdem sie den Ruf, eine „Hilfswissenschaft der Medizin“ zu sein, im späten 18. Jahrhundert abgeschüttelt hatte, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein zweites Mal, diesmal von der Physik, „emanzipierte“. In jeder Wissenschaft gibt es, frei nach einer mehr als drei Jahrzehnte zurückliegenden Feststellung von Roger Penrose, Physiknobelpreisträger des Jahres 2020, großartige, nützliche, vorläufige und irreführende Theorien: Uns ist dabei fast nie bewußt, dass sich irreführende Theorien nicht nur über lange Zeiträume halten können (wie z.B. die „Feuerstoff “ Phlogiston-Theorie), sondern dass sie bzw.ihre Repräsentanten auch mitten unter uns sind bzw. sein müssen. Tatsächlich fällt auch in der Mathematik oder Physik kein Resultat vom Himmel; Grundlage jeder mathematischen Theorie sind Axiome, also Aussagen, die nicht begründet werden müssen oder können und auf deren Basis sich mathematische Sätze beweisen lassen. Wenn Sie für sich nur kurz die Namen einiger die Ökonomie prägender Geistesgrö‐ ßen wie Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman aufrufen, dann sollte Ihnen sofort klarwerden, dass hinter den Gedankenwelten dieser Denker unterschiedliche Axiome bzw. Werte stehen, die im Gegensatz zur Mathematik nicht immer widerspruchsfrei sind. Zu jeder Teildisziplin der Ökonomie existieren „schwere Wälzer“; die jeweils für die Komplexität ihrer Teilwissenschaft stehen und die für die „Tiefenausbildung“ verfasst wurden. Ein schönes Beispiel dafür, das man komplexe Zusammenhänge dennoch so darstellen kann, dass die Sicht auf den Wald vor lauter Bäumen nicht verloren geht, ist Walter Euckens aus weniger als 100 Textseiten bestehende Monographie aus dem Jahr 1938 „Nationalökonomie wozu“, in der Eucken seine grundlegenden Gedanken in einer einfachen und für gebildete Nichtexperten verständlichen Sprache darlegt. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, geht Wissen auch verloren: Eucken ist der Mehrheit jüngerer Ökonomen, wenn überhaupt, nur noch im Zusammenhang mit dem Begriff Ordnungspolitik (für den es übrigens keine sinnvolle englische Übersetzung gibt! ) bekannt. Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 1.1: Was versteht man unter dem Begriff „Arabischer Frühling“? Übung 1.2: Was versteht man unter „Entsolidarisierung“? 1 Zum ethisch-moralischen Rahmen in Zeiten des Umbruchs 54 <?page no="55"?> Übung 1.3: Recherchieren Sie die Entwicklung der Börsenwerte der Firmen ■ VW ■ Bayer ■ Exxon Mobil ■ Canon seit dem Jahre 2000 und versuchen Sie darauf basierend, die jeweilige Entwicklung bis zum Jahre 2030 zu prognostizieren. Übung 1.4: Definieren Sie die Begriffe a. Marktwirtschaft b. soziale Marktwirtschaft Übungen zur Selbstüberprüfung 55 <?page no="57"?> 2 Demografie und Demografisierung Tatsächlich hat in den vergangenen Jahren - nicht erst seit Ausbrechen der Flücht‐ lingskrise - eine Demografisierung der politischen Diskussion stattgefunden, allerdings bis jetzt mit kaum sichtbaren gesellschaftlichen Auswirkungen. Wenn Sie die aktuelle Presse bzw. andere Medien verfolgen, werden Sie zahlreiche dramatische Darstel‐ lungen des Bildungssektors, der Familienpolitik, der Langzeitarbeitslosigkeit, der Rentenproblematik, des Investitionsnotstands, der Finanzierung der Krankenkassen, der Migration aus Ländern außerhalb der EU u.v.m. vorfinden, wobei einerseits oft erschreckend simplifiziert wird und, wie bereits erwähnt, andererseits alles mit allem verbunden zu sein scheint. Bemerkung: In den modernen täglichen Sprachgebrauch wurde der Begriff Narrativ durch Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller eingeführt. Tatsächlich stellte aber bereits der große englische Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes fest, dass „einfache“ Menschen komplexe Themen gern durch Narrative, leicht verdauliche Miniaturtheorien, erklären. Diese nicht von die‐ sen einfachen Menschen erdachten Theorien sind in der Tat oft interessensgeleitet à la „die Wirtschaft“ ist an billigen Arbeitskräften interessiert bzw. (vermeintlich) moralisch überfrachtet. Oft ist das Narrativ allerdings einfach „nur“ dumm. Dass die Deutschen im Durchschnitt älter und auch größer, reicher und dicker gewor‐ den sind und über die vergangenen Generationen immer weniger Kinder bekommen haben, ist seit mindestens 40 Jahren bekannt. Ebenso ist die „Landflucht“ kein neues Phänomen. Gesellschaftliche Vorstellungen zu den daraus resultierenden Konsequen‐ zen bezüglich eines „zeitgemäßen Lebensstils“ gibt es bisher allerdings nur in Ansätzen, diese vor allem in einigen ländlichen Räumen, die stark unter der Abwanderung junger Menschen in die Ballungszentren leiden. Diese demografischen Veränderungen verbunden mit der rasanten technischen Entwicklung, wichtigste Stichworte sind wiederum Digitalisierung bzw. Digitale Transformation, sind direkt verbunden mit dem Entstehen neuer Risiken, auf die wir bisher kaum vorbereitet sind. (Konsultieren Sie hierzu z.B. die Studie der Münchener Rück „Megacities - Megarisks“ aus dem Jahre 2005). Eine Zwangsläufigkeit der Vergreisung und des Abstiegs Deutschlands in den kommenden zwei bis vier Jahrzehnten ist im Gegensatz zur dominierenden medialen Darstellung meiner Überzeugung nach keinesfalls determiniert: Fast alle Prognose‐ rechnungen basieren auf ceteris paribus-Bedingungen, die sich isoliert betrachtet kaum als realistisch erweisen dürften. Ferner wird, auch in den allgemein als seriös <?page no="58"?> wahrgenommenen Medien, Bekanntes und Vermutetes oft durcheinandergebracht. So gehörte es bis Mitte des Jahres 2015 zum „Allgemeinwissen“, dass wir Deutschen mit 1,41 Kindern pro gebärfähiger Frau (vs. 2,1 Kinder pro Frau in Frankreich; dies entspricht ziemlich genau der Reproduktionsquote zur Bestandserhaltung einer menschlichen Population, s. weiter unten) am Ende der entwickelten Länder stehen und dass unsere akademisch gebildeten Frauen Geburten „verweigern“. Der medial bejubelte „Geburtensprung“ der letzten Jahre ändert die qualitative demografische Situation indes kaum. Tatsächlich wissen wir nicht, wie hoch die Geburtenrate der heute lebenden jungen Frauen sein wird: Diese kann erst nach Ende ihrer gebärfähigen Jahre ermittelt werden. Ebenso sind wir, wie oft behauptet oder suggeriert, bezüglich der Geburtenrate nicht „Weltschlusslicht“ unter den entwickelten Staaten, wie ein kurzer Blick nach Singapur, Japan, Südkorea oder Taiwan zeigt. Diese hoch entwickelten asiatischen Volkswirtschaften, die bis auf Singapur keine Migrationstradition haben, sind bereits im Begriff, „zu schrumpfen“: Wir können also, wenn wir das wollen, von ihnen lernen, wie eine Gesellschaft friedlich „zurückgebaut“ werden kann. Die Demografie bzw. das Verstehen demografischer Zusammenhänge ist ein her‐ vorragender Ausgangspunkt, über Deutschlands Zukunft nachzudenken. Etwas im Medienstil ins Extreme versimplifiziert: Wollen wir in 30 Jahren ein Volk von 60 Millionen Menschen sein oder wollen wir durch Einwanderung das heutige Niveau von mehr als 80 Millionen Menschen halten? Nicht nur diese beiden Extremalternativen würden unsere Gesellschaft innerhalb von ein bis zwei Generationen substanziell verändern. Gesellschaften haben sich allerdings immer verändert: Wenn es Ihnen gelingt, sich mithilfe von Filmen oder Geschichten klarzumachen, wie die west- oder gern auch die ostdeutsche Gesellschaft Mitte der 1970er bzw. Mitte der 1990er Jahre beschaffen war, und Sie diese zwei oder vier Schnappschüsse neben das heutige Deutschland legen, wird Ihnen eine ungeheure Dynamik auffallen. Die German Angst - vergleichbare „Demografie-Diskussionen“ gibt es in unseren Nachbarländern (noch) nicht - kann durchaus zu produktivem Streit und Ergebnissen führen. Definition 2.1: Die Demografie oder Bevölkerungswissenschaft beschäftigt sich theoretisch und statistisch mit der Entwicklung von Bevölkerungen. Die Demografie wird in drei Hauptforschungsgebiete unterteilt: 2 Demografie und Demografisierung 58 <?page no="59"?> Definition 2.2: Die Fertilität ist die Geburtenhäufigkeit bzw. die Anzahl der Lebendgeborenen innerhalb einer (Teil-)Bevölkerung in einer bestimmten Periode innerhalb eines bestimmten geografischen Raums. Die Fertilität bezieht sich im demografischen Sinne nicht auf die grundsätzliche Fortpflanzungsfähigkeit, sondern auf die tat‐ sächlich erfolgten Geburten. Definition 2.3: Die Mortalität bezeichnet das Verhältnis der Anzahl der Todesfälle innerhalb einer Periode zur (Gesamt-) oder (Teil-)Bevölkerung. Fertilität und Mortalität werden über Geburtenzahlen bzw. Sterbefälle, die in sogenann‐ ten Sterbetafeln ihren Niederschlag finden, statistisch dokumentiert. Wichtig ist hier zu verstehen, dass wir aus vergangenen „Zu- und Abgangsdaten“ die Kinderzahl der heute lebenden Frauen im gebärfähigen Alter und unsere Lebenser‐ wartung nicht wissen, sondern nur schätzen können. Ersteres, weil viele dieser Frauen noch Kinder bekommen können. Letzteres, weil wir noch am Leben sind. Definition 2.4: Unter Migration versteht man eine spezifische Form räumlicher Mobilität von Menschen. Herkunft und Ziel der Migranten liegen in verschiedenen Regionen eines Lands (Binnenmigration) bzw. verschiedenen Ländern (internationale Migration). Die Definition und Messung letzterer ist somit an Nationalstaaten und nicht an Kulturkreise bzw. Staatenverbünde wie die EU gebunden. Als internationale Migranten gelten nur die Personen, die ihren Wohnsitz für eine bestimmte Mindestdauer oder für unbestimmte Zeit - eventuell für immer - ins Ausland verlegen. Damit ergeben sich unmittelbar Probleme bezüglich der internationalen Vergleichbarkeit: Die deutschen offiziellen Migrationsstatistiken erfassen z.B. bereits Ausländer mit lediglich dreimonatigem Aufenthalt, während in der Schweiz nur Perso‐ nen mit mindestens zwölfmonatigem Aufenthalt als Migranten definiert werden. Einen noch anderen Weg gehen die USA: Dort können sich im Unterschied zu Deutschland Studierende und temporäre Arbeitskräfte über mehrere Jahre aufhalten, ohne offiziell als Migranten gezählt zu werden, dafür erfassen die US-amerikanischen Behörden auch illegal anwesende Personen ohne Aufenthaltsrecht. Beim Vergleich von statistischen Daten unterschiedlicher Länder kommt es somit zu Abgrenzungsproblemen und damit notwendigerweise zu Problemen der internationalen Vergleichbarkeit. Abzugrenzen von der internationalen Migration ist die Binnenmigration, die ebenfalls kein neues Phänomen darstellt, aber seit einiger Zeit in den deutschen Medien 2 Demografie und Demografisierung 59 <?page no="60"?> 10 In Deutschland gibt es ein allgemein bekanntes „Nord-Süd-Gefälle“. Am ältesten werden die Menschen in Südbayern und in Baden-Württemberg. Die geringste Lebenserwartung bei Männern gab es in Bremerhaven und bei Frauen im Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt. Rau und Schmertmann führen die geringere Lebenswerwartung im Wesentlichen auf Armut zurück. vermehrt thematisiert wird: Hier handelt es sich in der Gegenwart überwiegend um Wanderungsbewegungen aus dem ländlichen bzw. kleinstädtischen Raum in die Groß‐ städte bzw. Ballungsräume und damit praktisch um die langsame „Entvölkerung“ der ländlichen Räume, in denen die Zuzüge insbesondere junger Menschen die Abgänge (vulgo: den Tod) unterschreiten. Diese teilweise Entvölkerung ländlicher Gebiete, die mit einem vermehrten Zuzug vor allem junger Menschen in Ballungsräume wie München, Hamburg und Berlin korrespondiert (die fast die gesamte ostdeutsche Provinz, aber beispielhaft auch Teile von Hessen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Nordbayern und Nordhessen trifft) ist bei Weitem kein deutsches Phänomen, wie Sie sich exemplarisch z.B. am Zentralmassiv in Frankreich oder an weiten Teilen der baltischen Staaten klarmachen können. Ob und inwiefern die Corona-Krise diesen langjährigen Trend verlangsamt oder gar umkehrt - Argumente dafür gibt es in der Tat: Weniger Menschen im Raum, geringere Mietkosten, die Möglichkeit, weitgehend online zu studieren und in einigen Berufen auch im Homeoffice zu arbeiten - wird die Zukunft zeigen. Diese Wanderungsbewegungen wirken nicht nur auf Individuen oder geografisch verstandene „Kollektive“, sie haben auch einen schleichenden Einfluss auf die Funk‐ tionsfähigkeit von Gebietskörperschaften: Dies bedeutet nichts anderes, als dass es mittelfristig in Frage stehen wird, inwieweit Kommunen (noch dazu technologisch „abgehängte“) oder auch kleine europäische Peripheriestaaten in der Lage sein können, ihren heutigen verfassungsgemäßen Pflichten zu genügen. Im Folgenden werden wir uns eingehender mit Fertilität und Migration beschäftigen: Die Lebenserwartung bzw. Mortalität scheint - ohne technische Innovationen - in den vergangenen Jahren im reichen Teil der Welt und damit auch Deutschland relativ konstant zu sein. Aber Vorsicht! Dieser Wert ermittelt sich als gewichtetes Mittel von etwa 84 Jahren bei Frauen und 77 Jahren bei Männern. Wenn als Durchschnittswert der Lebenserwartung in Deutschland 81 Jahre angegeben werden, ist das mathematisch sicher korrekt, inhaltlich aber sinnlos. Ebenso wichtig sind die Aussagen einer im Sommer 2020 von Rau und Schmertmann vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock publizierten Studie, die die Lebenserwartung in allen 402 Landkreisen Deutschlands untersucht. Dabei kamen in den Extrema Differenzen von 5 Jahren bei Männern und 4 Jahren bei Frauen zu Tage. 10[19] 2 Demografie und Demografisierung 60 <?page no="61"?> 11 2017 war das letzte Jahr, für das ich Daten für diese Vielzahl von Ländern recherchieren konnte. Für 2019 wurde für Deutschland vom Statistischen Bundesamt der Wert 1,54 angegeben. Bildung und Lebenserwartung Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 2015 ging u.a. an den US-Amerikaner Angus Deaton für seine Analyse des Konsums, der Armut und des Gemeinwohls. Nach Analyse von Kranken- und Sterbedaten wies Deaton nach, dass die Lebens‐ erwartung und die Gesundheit weißer US-Amerikaner mittleren Alters insgesamt rückläufig sind. Dies ist besonders ausgeprägt bei US-Amerikanern mit niedriger Bildung, d.h. mit Highschool-Abschluss oder weniger. Mit Anne Case veröffent‐ lichte Deaton im Jahr 2020 das Buch „Deaths of Despair and the Future of Capitalism“. Auch in Japan, dem Land mit der höchsten Lebenserwartung, scheint seit etwa 10 Jahren ein Sättigungspunkt (bzw. Sättigungspunkte für Männer und Frauen) erreicht worden zu sein; die Menschen werden im statistischen Durchschnitt derzeit nicht mehr messbar älter. Zu ethischen Problemen der technischen Lebensverlängerung sind z.B. Hararis Überlegungen in „Homo Deus“ lesenswert. Etwas „hemdsärmliger“ ist Boris Palmers Meinungsbeitrag in der Welt „Nüchterne Analyse, keine falsch verstan‐ dene Pietät“. [20] 2.1 Fertilität Wenn über den Alterungsprozess in unserer Bevölkerung berichtet wird, fallen zumeist zwei Begriffe. Die Fertilität oder Fruchtbarkeitsrate und die durchschnittliche Lebens‐ erwartung. Tabelle 2.1 gibt Ihnen einen Überblick über die Fertilität im Sinne von Definition 2.2 in Europa und einigen ausgewählten entwickelten Volkswirtschaften Asiens für das Jahr 2017. Land Fertilität Belgien 1,78 Dänemark 1,73 Deutschland 1,59 11 2.1 Fertilität 61 <?page no="62"?> Land Fertilität Frankreich 2,07 Italien 1,43 Lettland 1,51 Russland 1,61 Schweden 1,88 Spanien 1,49 China 1,70 Japan 1,41 Singapur 0,82 Süd-Korea 1,25 Taiwan 1,12 Tab. 2.1: Fertilitäten in ausgewählten Ländern (Quellen: CIA-Factbook 2017 und laenderdaten.de) Wenn wir 2,1 Kinder pro Frau als groben Richtwert für das Bestandserhaltungsniveau in Mitteleuropa akzeptieren, d.h. dass sich so langfristig die Geburten und die Todesfälle ausgleichen, sehen wir, dass Frankreich das einzige Land in dieser Liste ist, in dem dieser Wert näherungsweise erreicht wird. Tatsächlich ist aber Vorsicht geboten, eine Argumentation auf einer so verkürzten Datenbasis aufzubauen. Eine brauchbare statistische Analyse erfordert die Betrachtung der betreffenden Größe im Zeitverlauf. Dies werden Sie unmittelbar verstehen, wenn Sie versuchen, Daten zur Fertilität für einzelne Länder für z.B. 2016 oder 2018 mit den hier angegebenen Werten in Beziehung zu setzen (s. auch Selbsttestaufgaben am Ende dieses Kapitels). Weil die Daten Stichtermin- (bzw. Kalenderjahr-)Charakter haben, können sie auch per definitionem nicht die Anzahl der Kinder heute lebender junger Frauen angeben. Ein etwas besserer, aber trotzdem unvollständiger Eindruck entwickelt sich, wenn man diese Daten um einen deutlich umfangreicheren Überblick zur Entwicklung der Geburtenzahlen weltweit ergänzt, wie in Tabelle 2.2 von 2005 bis 2017. Dabei sind die Ländernamen entsprechend ihren englischen Namen alphabetisch geordnet. Land 2017 2013 2011 2009 2007 2005 Albanien ** 13,20 12,57 12,15 15,29 15,16 15,08 Algerien ** 22,00 24,25 16,69 16,90 17,11 17,13 Armenien ** 12,90 12,86 12,85 12,65 12,34 17,76 2 Demografie und Demografisierung 62 <?page no="63"?> Land 2017 2013 2011 2009 2007 2005 Österreich * 9,50 8,73 8,67 8,65 8,69 8,81 Aserbaidschan ** 15,80 17,17 17,85 17,62 17,47 20,40 Belgien * 11,30 10,00 10,06 10,15 10,29 10,48 Bulgarien * 8,70 9,07 9,32 9,51 9,62 9,66 China *** 12,30 12,25 12,29 14,00 13,45 13,14 Kroatien * 8,90 9,53 9,60 9,64 9,63 9,57 Zypern * 11,30 11,45 11,41 12,57 12,56 12,57 Tschechien * 9,30 8,55 8,70 8,83 8,96 9,07 Dänemark * 10,50 10,20 10,29 10,54 10,91 11,36 Estland * 10,10 10,38 10,45 10,37 10,17 9,91 Äthiopien ** 36,50 38,07 42,99 43,66 37,39 38,61 Europäische Union * 10,10 10,19 9,83 (2010) 9,9 10 10 Finnland * 10,70 10,36 10,37 10,38 10,42 10,50 Frankreich * 12,20 12,60 12,29 12,57 12,91 12,15 Deutschland * 8,60 8,37 8,30 8,18 8,20 8,33 Griechenland * 8,40 8,94 9,21 9,45 9,62 9,72 Hong Kong *** 8,90 7,58 7,49 7,42 7,34 7,23 Ungarn * 9,00 9,37 9,60 9,51 9,66 9,76 Italien * 8,60 8,94 9,18 8,18 8,54 8,89 Japan *** 7,70 8,23 7,31 7,64 8,10 9,47 Lettland * 9,70 9,91 9,96 9,78 9,43 9,04 Litauen * 9,90 9,36 9,29 9,11 8,87 8,62 Niederlande * 10,90 10,85 10,23 10,40 10,70 11,14 Norwegen * 12,20 10,80 10,84 10,99 11,27 11,67 Polen * 9,50 9,88 10,01 10,04 9,94 10,78 Portugal * 9,00 9,59 9,94 10,29 10,59 10,82 Rumänien * 8,90 9,40 9,55 10,53 10,67 10,70 Russland * 11,00 12,11 11,05 11,10 10,92 9,80 Saudi-Arabien ** 18,30 19,01 19,34 28,55 29,10 29,56 Serbien ** 9,00 9,15 9,19 9,19 n.a. 12,12 2.1 Fertilität 63 <?page no="64"?> Land 2017 2013 2011 2009 2007 2005 Singapur *** 8,60 7,91 8,50 8,82 9,17 9,49 Slowakei * 9,70 10,27 10,48 10,60 10,65 10,62 Slowenien * 8,20 8,66 8,85 8,97 9,00 8,95 Spanien * 9,20 10,14 10,66 9,72 9,98 10,10 Schweden * 12,10 10,33 10,18 10,13 10,20 10,36 Schweiz * 10,50 10,45 9,53 9,59 9,66 9,77 Süd-Korea *** 8,30 8,33 8,55 8,93 9,83 10,08 Taiwan *** 8,30 8,61 8,90 8,99 8,97 12,64 Türkei ** 15,70 17,22 17,93 18,66 16,40 16,83 Ukraine ** 10,30 9,52 9,62 9,60 9,45 10,49 Großbritannien * 12,10 12,26 12,29 10,65 10,67 10,78 Vereinigte Staaten * 12,50 13,66 13,83 13,82 14,16 14,14 Tab. 2.2: Geburten pro 1.000 Einwohner in ausgewählten Ländern (CIA Factbook und laenderda‐ ten.de) Legende: * EU, Norwegen, Schweiz, Russland, USA ** EU-Anrainer im erweiterten geografischen Sinne *** Ostasien In der Gesamtschau ist zu konstatieren: 1. Die Geburtenanzahlen in den alten bzw. entwickelteren Ländern der Europäi‐ schen Union befinden sich überall auf niedrigem Niveau. Tatsächlich kann es aber für die Entwicklung der Altersverteilung und damit für die Zukunft eines Landes von entscheidender Bedeutung sein, ob sich die langfristige Geburtenrate z.B. bei 1,8 oder 1,5 stabilisiert. 2. Die Geburtenzahlen der ost- und südosteuropäischen Mitglieder und Anrainer der EU (z.B. Ukraine, Weißrussland, Moldawien) befinden sich auf niedrigem Niveau. Vielfach sind die ohnehin seit Jahren niedrigen Werte weiterhin ge‐ sunken, was im Grunde eine hohe Migrationsbereitschaft jüngerer Menschen signalisiert. Die Anrainer im Mittleren und Nahen Osten sowie in (Nord-)Afrika haben sehr hohe Geburtenraten. Insbesondere aus Afrika besteht, wie nicht erst seit den Flüchtlingsbootsunglücken im Mittelmeer seit dem Frühjahr 2015 bekannt, Migrationsdruck nach Europa. Dies dürfte sich mittelfristig kaum än‐ dern. UN-Prognosen gehen aktuell von einer Vervierfachung der afrikanischen Bevölkerung bis zum Jahr 2100 aus, begleitet von einem Verlust von ca. einem 2 Demografie und Demografisierung 64 <?page no="65"?> Drittel der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche, wobei eher unwahrscheinlich ist, dass beide Prognosen zugleich eintreffen werden können. Interessant ist der Rückgang der Geburtenrate in Äthiopien, der zumindest teilweise mit dem in westlichen Medien vielfach geschmähten „chinesischen Neokolonialismus“ in Verbindung steht. Tatsache ist auch hier, dass Frauen, die ihr eigenes Geld verdienen (in Äthiopien zumeist in der Textilindustrie chinesischer Firmen) und damit materiell unabhängig werden, weniger Kinder bekommen. 3. Die Geburtenzahlen in den entwickelten asiatischen Gesellschaften ( Japan, Singapur, Taiwan, Südkorea) befinden sich qualitativ in etwa auf deutschem Niveau und damit unter EU-Durchschnitt. Dies wird insoweit zukünftig von Bedeutung sein, als die asiatischen Länder Südkorea, Japan und China (dessen Bevölkerungsstruktur sich durch die inzwischen aufgehobene Ein-Kind-Politik, die Ende der 1970er Jahre eingeführt wurde, dramatisch verändert hat; s. Kapitel 13) sowie Deutschland zu den wichtigsten Industriestaaten der Welt zählen. Auf der anderen Seite stehen die demografisch relativ jungen USA mit niedrigen Rohstoff- und Energiepreisen und eigenen Energievorkommen (Stichwort Fracking) vor einer möglichen Reindustrialierung. 4. Nicht wirklich verstanden ist die Entwicklung der Spermien und der Zeugungs‐ fähigkeit von Männern. In der Samenflüssigkeit der Männer der westlichen Welt befinden sich immer weniger Spermien, seit Ende der 1970er Jahre hat sich die Spermienanzahl pro Milliliter Samenflüssigkeit um etwa die Hälfte verringert. [21] Allerdings sind Faktoren wie die Beweglichkeit der Spermien und Fehlbildungen von Bedeutung; so sind Männer bei ihren Vaterschaften insgesamt deutlich älter geworden. Zu Südamerika, Asien und Afrika gibt es bisher keine statistisch eindeutigen Aussagen (vermutlich, weil die Untersuchungen zu teuer und/ oder deren erwartete Ergebnisse politisch unerwünscht sind). Beachten Sie wiederum unbedingt, dass die o.g. Daten mit Stichtagsterminen korre‐ spondieren, für die die Geburten pro 1.000 Einwohner angegeben wurden. Auch diese Jahresangaben sind zur Analyse der allgemeinen Geburtenentwicklung nur bedingt aussagekräftig. In Osteuropa brachen z.B. die Geburtenzahlen nach dem Zusammen‐ bruch der Sowjetunion dramatisch zusammen, um sich später - inklusive „Nachholef‐ fekte“ - wieder teilweise auf niedrigem Niveau zu erholen. Sie sind allerdings für die erwähnten ceteris paribus-Betrachtungen im Sinne von „Was wird passieren, wenn es so weiter geht? “ von herausragender Bedeutung. Selbsttestaufgabe: Vergleichen Sie die Fertilitätsraten für 2017 aus Tabelle 2.1 mit den Daten, die Statista für die EU-Staaten im Jahr 2018 zur Verfügung stellt und machen Sie Aussagen zu Kohärenz auf Plausibilität beider Datensätze. Quelle: https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 200065/ umfrage/ geburtenziff ern-in-ausgewaehlten-laendern-europas/ 2.1 Fertilität 65 <?page no="66"?> Selbsttestaufgabe: Wichtige Informationen bezüglich des Geburtenverhaltens können aus der Alters‐ verteilung bzw. vereinfacht dem Durchschnittsalter gewonnen werden, in dem Frauen ihr erstes Kind zur Welt bringen. Werten Sie die verfügbaren Informationen aus und versuchen Sie, diese einzuord‐ nen. Vgl. z.B. https: / / www.bib.bund.de/ DE/ Fakten/ Fakt/ F20-Alter-Muetter-bei-Erstgeb urt-Deutschland-West-Ost-ab-1960.html 2.2 Altersverteilungen Die folgende „echte“ Bevölkerungpyramide - die man heute in dieser Form nur noch in sehr niedrig entwickelten Ländern wie z.B. Äthiopien findet - illustriert die Bevölkerungsverteilung im Deutschen Reich im Jahre 1910. Man kann beim Lesen vieler Medienbeiträge zum Thema Bevölkerungsverteilung oft den Eindruck nicht vermeiden, dass eine solche Verteilung, die u.a. viele junge potenzielle Arbeitskräfte und Konsumenten darstellt, wünschenswert sei. Tatsächlich implizierte eine Pyramidenstruktur aber bei den aktuell niedrigen Geburtenzahlen direkt, dass in jeder Alterskohorte viele Vertreter durch Krankheit o.Ä. ausscheiden - etwas, das wir nicht einmal zu wünschen wagen sollten. Eine „wünschenswerte“ Verteilung bei hoher Lebenserwartung sähe somit eher einem sich leicht verjüngenden Hochhaus mit einer Spitze in den sehr hohen Jahrgängen ähnlich. Die Pyramidenstruktur der deutschen Bevölkerung im Jahre 1910 ist hauptsächlich durch die hohen Geburtenraten während der davorliegenden Jahrzehnte begründet. 2 Demografie und Demografisierung 66 <?page no="67"?> 12 Auf einer großartigen Webseite des Statistischen Bundesamtes https: / / service.destatis.de/ bevoelker ungspyramide/ # können Sie sich den Bevölkerungsbaum Deutschlands in der Vergangenheit und der Gegenwart sowie Prognosen für die Zukunft bis zum Jahr 2060 vergegenwärtigen. Abb. 2.1: Bevölkerungspyramide Deutschland 1910 (Quelle: Statistisches Bundesamt [22] ) Die folgende Darstellung illustriert den Vergleich der Bevölkerungsverteilung Deutschlands aus dem Jahre 1950 sowie 2018, wobei Letztere grafisch an den oft erwähnten zerzausten Weihnachtsbaum erinnert. In beiden Darstellungen ist klar ersichtlich, dass es während des II. Weltkrieges zu einem Geburtensprung kam. Rechts ist schließlich eine Prognose (unter ceteris paribus-Annahmen, die genauestens studiert werden sollten) für das Jahr 2060 angefügt. 12 2.2 Altersverteilungen 67 <?page no="68"?> Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland 2010, 2018 vs. 2060 (Prognose) Abb. 2.2: Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland 2010, 2018 vs. Prognose 2060 (Quelle: Demografie-Portal [23] ) Die Prognose für 2060 in Abb. 2.2 unterschied sich kaum von ähnlichen Vorhersagen im Sommer 2015: Tatsächlich hat der massenhafte Zustrom von zumeist jungen Flüchtlingen nach Deutschland seit dem Sommer 2015 diese zukünftige Bevölkerungs‐ struktur verändert und auf den ersten Blick „verbessert“ (wenn auch mit einem leichten Übergewicht auf der männlichen Seite). Beachten Sie hier, dass Bevölkerungspyramiden, die anhand vergangener Volkszäh‐ lungen erstellt werden, nur einen Eindruck über die Altersschichtung einer Bevölke‐ rung vermitteln können; Aussagen dazu, wer Kinder bekommt und welche Bildungs- und späteren Arbeitsmarktchancen diese Kinder haben werden, liefern sie nicht. Punktschätzungen bzw. -voraussagen für zukünftige Bevölkerungen sind, da sie fast immer auf ceteris paribus-Annahmen beruhen, somit mit äußerster Vorsicht zu genießen. Vernünftiger ist es in jedem Fall, in unterschiedlichen Szenarien zu denken und dabei zu versuchen, sich weitere Konsequenzen der im Szenario enthaltenen zukünftigen Einzelzustände vor Augen zu führen und zu bewerten. 2 Demografie und Demografisierung 68 <?page no="69"?> 2.3 Bevölkerungsszenarien Abb. 2.3: Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis 2060 (Quelle: Umweltbundesamt) Abb. 2.3 illustriert mögliche Szenarien der Bevölkerungsentwicklung Deutschlands, die mit dem vorhandenen Wissen im Jahr 2009, also 6 Jahre vor Beginn der Flüchlingskrise, erstellt wurden. Wie bei Sensitivitätsanalysen im Bereich Investition und Finanzie‐ rung wurde hier an diversen Eingangsgrößen, wie Auslandsmigration, Fertilität und Lebenserwartung, variiert bzw. „gespielt“. Die Forscher hielten eine Obergrenze der Bevölkerung (grafisch die gelbe Linie) und eine Untergrenze (die blaue Linie) für möglich: Sie schätzten also, dass sich die Bevölkerung Deutschlands im Jahr 2019 zwischen etwa 78 und 81 Millionen Menschen befinden würde. Tatsächlich hatte Deutschland im Jahr 2019 ca. 83 Millionen Einwohner! Abzüglich des Sondereffektes Migration aus dem Nahen Osten und Afrika seit 2015 lag die Bevölkerung Deutschlands im Jahr 2019 also immer noch etwa eine Million Menschen höher als im oberen Szenario aus dem Jahr 2009. Bewahren bzw. entwickeln Sie also eine gewisse Skepsis gegenüber Prognosen über lange Zeiträume. Fehlschätzungen können in der Tat - Stichwort „Mietwahnsinn“ - sehr prakti‐ sche Implikationen haben. Tatsache ist, dass in den sogenannten „Schwarmstädten“ zu wenig gebaut wurde und dass die Preise von Neuvermietungen dort inzwischen vielfach ein Niveau erreicht haben, das die Hälfte des Nettoeinkommens einer gutverdienenden Kleinfamilie beträgt. Da eine Schrumpfung von Wohnraum gleichbedeutend mit einer bewussten Schrumpfung der Wirtschaft ist, wird diese Alternative von keiner der nennenswerten politischen Parteien Deutschlands pro‐ pagiert. Ob das allgemein erkannte soziale und wirtschaftliche Problem bezahlbarer Wohnraum aber durch mehr oder durch weniger Staat gelindert werden soll, ist wiederum eine Wertefrage. Ich folge hier Boris Palmer, der Wohnbauland, das inzwischen gut bei 1.500 Euro und mehr pro Quadratmeter kostet, als Quelle 2.3 Bevölkerungsszenarien 69 <?page no="70"?> eines leistungsunabhängigen Einkommens für den (Vorbesitzer) bezeichnet, das besteuert werden sollte und der für den Wohnungsmarkt mehr Staat anstelle von Deregulierung fordert. [24] Um hier einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Diese Abweichungen haben nichts mit mangelnder Kompetenz der Demografen, die diese Szenarien gerechnet haben, zu tun. Geändert hatten sich die Fakten. Die o.g. Skepsis gilt notwendigerweise auch für alle Vorhersagen von Klimamodellen jedweder Qualität. Das Wissen darum sollte aber unabhängig davon sein, dass wir „vernünftig“ mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen umgehen. Der Mathematiker Keynes argumentierte übrigens vor einem Menschenalter im Unterschied zu allen mir bekannten Strömungen in der modernen Ökonomie, dass man „bei der Untersuchung eines Problems nicht von vornherein annehmen [solle], eine quantitative Analyse sei die angemessene Strategie, sondern genau andersrum verfahren: annehmen, dass man sie nicht nutzen kann, und sich rechtfertigen, wenn man es trotzdem tut.“ [25] Beachten Sie, dass wir praktisch überall seit mehr als zwei Jahrzehnten den Gegenweg beschreiten; indem wir versuchen, Qualität durch Kennzahlensysteme zu messen (s. auch die Ausführungen zu Mathias Binswangers Buch „Warum wir immer mehr Unsinn produzieren“ in Kapitel 1.2). 2.4 Migration Die Außenmigration und damit die seit Jahrzehnten andauernde „Debatte“, die inzwi‐ schen qualitativ beantwortet scheint, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht, sowie die Diskussion, welche Migration erwünscht sein soll (und welche nicht), sind politisch wie wirtschaftlich äußerst sensible Themen. Weitgehender Konsens besteht lediglich darüber, dass die Einwanderungspolitik eines Landes Auswirkungen auf die Migranten selbst sowie auf die Entsenderländer wie auf die Empfängerländer hat. Die Extrema unter den reichen Ländern bezüglich ihrer Ausländerquote sind die Vereinigten Arabischen Emirate (in Dubai leben derzeit ca. 95% Ausländer) und Japan, das kaum über Zuwanderung verfügt. Somit sollte auch Konsens darüber bestehen, dass der Ausländeranteil einer Gesellschaft allein keine ausreichende Argumentation liefert, um Schlussfolgerungen bezüglich der Auswirkungen von Migration auf die heimische Bevölkerung abzuleiten. In nachfolgender Box sind die zentralen Aussagen des Buches Exodus: Warum wir Einwanderung neu regeln müssen des Oxforder Professors und früheren Forschungsdi‐ rektors der Weltbank, Paul Collier, kurz zusammengefasst (s. auch Kapitel 15). 2 Demografie und Demografisierung 70 <?page no="71"?> Kernpunkte von „Exodus: Warum wir Einwanderung neu regeln müssen“ von Paul Collier (2014) Neben der fraglos ökonomischen Motivation von Migranten, ihre bzw. die Zukunft ihrer Kinder zu verbessern, ist Migration ein soziales Phänomen. Migration hat also ökonomische Ursachen und ökonomische und soziale Folgen. Unterschiedliche Analysen werden von der ethischen Frage überlagert, in welchem moralischen Maß die verschiedenen Auswirkungen gemessen werden sollen. „Der Umzug von Menschen aus armen in reiche Länder ist ein einfacher ökono‐ mischer Vorgang, allerdings mit komplexen sozialen Folgen.“ (Collier, 2014, S. 18). Weiter: „Unsere moralische Einstellung bestimmt, welche Argumente und Beweise wir zu akzeptieren bereit sind.“ Dabei werden die Pflicht der Reichen, den Armen zu helfen, und das Recht auf freie Bewegung zwischen den Ländern zumeist nicht voneinander getrennt. Die Ablehnung von Einwanderung wird vielfach mit Rassismus gleichgesetzt. Es ergeben sich drei große Fragekomplexe, für deren Beantwortung erstaunlicher‐ weise wenige empirisch fundierte Forschungsergebnisse vorliegen: a. Welche Auswirkungen hat Migration auf die Migranten selbst? b. Welche Auswirkungen hat Migration auf das Empfängerland? c. Welche Auswirkungen hat Migration auf das Entsenderland bzw. auf die Zu‐ rückgebliebenen? Viele vermeintliche Wahrheiten, dass die ärmeren Länder durch den Verlust ihrer besten Talente - Stichwort Braindrain - intellektuell ausbluten, lassen sich statistisch pauschal nicht belegen. „Umgekehrt könnten sie auch gestärkt werden, wenn Schlüsselpersonen mit den Erfahrungen zurückkehren, die sie im Ausland gesammelt haben.“ (S. 203). Migration hat ferner für die Entsenderländer zwei Effekte: den direkten, der die Zahl der verfügbaren Talente verringert, und den indirekten, Bildungsdruck im Inneren aufzubauen, damit Migranten migrationsfähig werden (S. 207 ff.). Die zentrale Frage lautet somit nicht, ob Migration per se gut oder schlecht ist, sondern, in welchem Maße sie sinnvoll ist. Globale Optimierung führt letztlich in die Irre, wenn die Aufnahmefähigkeit der Empfängerländer bzw. deren soziale Stabilität (die einen Grund für die Migration darstellt) in Frage gestellt wird, da die traditionell hohe Kooperationsbereitschaft (von Collier auch als Vertrauen referiert) der Heimatbevölkerungen in den reichen Ländern „bei zu viel Einwan‐ derung“ gefährdet ist. Wichtig ist hier der qualitative Unterschied zwischen der Migration aus den Peri‐ pherieländern der EU ins Zentrum der EU, die durch das Freizügigkeitsprinzip der Arbeitssuche in der EU - noch - geschützt ist, und der Migration aus den meisten EU-Anrainerstaaten in Nordafrika und im Nahen Osten. 2.4 Migration 71 <?page no="72"?> Aus dem Baltikum und weiten Teilen Südosteuropas gehen nicht nur viele junge und gut ausgebildete Menschen fort, eine positive Rückkopplung kann wegen der niedrigen Geburtenraten (s.o.) allerdings nur sehr eingeschränkt erfolgen, was mittelfristig wiederum Folgen für die staatliche Funktionsfähigkeit haben muss. Spätestens dann, wenn Sie sich in einem (ost-)deutschen Provinzkrankenhaus behandeln lassen, werden Sie feststellen, dass viele Ärzte aus Osteuropa, wo sie ausgebildet wurden, kommen und demzufolge dort fehlen müssen. Ebenso stellen sich Fragen, warum durch die empörungserfahrene deutsche Gesellschaft kein Aufschrei geht, wenn Vertreter deutscher Kommunen und Unternehmen seit über einem Jahr‐ zehnt in Osteuropa wie in Südwesteuropa insbesondere junge Frauen als Alten- und Krankenpfleger anzuwerben versuchen und warum in Deutschland angeblich oder tatsächlich die Ernte ohne „Erntehelfer“ aus Osteuropa verrottet und warum in den Schlachthöfen Deutschlands fast nur Ausländer arbeiten. Die Aufzählung ist nicht vollständig. Werfen wir nun einen Blick auf die absoluten und prozentualen Ausländerzahlen innerhalb der (erweiterten) Europäischen Union: Land Ausländerzahlen in Tausend Ausländeranteil in % Deutschland 9.219 11,2 Großbritannien 6.071 9,2 Italien 5.047 8,3 Frankreich 4.638 6,9 Spanien 4.419 9,5 Schweiz 2.099 24,9 Belgien 2.099 11,9 Österreich 1.333 15,1 Niederlande 914 5,3 Schweden 841 8,2 Griechenland 810 7,5 Tschechien 510 4,8 Portugal 397 3,9 Lettland 279 14,3 Luxemburg 281 47,6 Tab. 2.3: Ausländer in Europa (Stand Februar 2020; Quelle: Statistisches Bundesamt [26] ) 2 Demografie und Demografisierung 72 <?page no="73"?> Tabelle 2.3 zeigt sehr hohe Ausländeranteile in der Schweiz und Luxemburg (das aufgrund seiner geringen Bevölkerungszahl als Sitz diverser EU-Institutionen eine Sonderrolle einnimmt) an, während ihre Pendants in den Niederlanden und in Frank‐ reich deutlich niedriger sind. Deutschland liegt mit 11,2% (nach 8,7% 2016) Ausländern bei dieser Betrachtungsweise im oberen Mittelfeld. Lettland stellt mit einer starken russischen Minderheit einen Sonderfall dar, der hauptsächlich auf die euphemistisch so genannte Stalin’sche Nationalitätenpolitik zurückgeht. Eine monokausale Argumentation würde hier fast unweigerlich zu dem Schluss führen, dass viel Migration gut für die Harmonie einer Gesellschaft ist, eine Aussage, der vermutlich nur die wenigsten von Ihnen vorbehaltlos zustimmen würden. Tatsäch‐ lich sind die Migranten in den kleinen Ländern Schweiz und Luxemburg zumeist hoch qualifiziert und sie akzeptieren in ihrer überwiegenden Mehrzahl das Wertesystem ihres Empfängerlands. Neben statistischen Unterschieden bei der Registrierung oder Einstufung von Ein‐ wanderern (s.o.) bezüglich ihrer Verweildauer im Aufnahmeland spielt die Einbürge‐ rungspolitik der betreffenden Staaten eine zentrale Rolle, um direkte Schlussfolgerun‐ gen zu ziehen oder diese zu unterlassen. Ausländer sind juristisch per definitionem Personen, die über einen anderen Pass als den des Wohn- und zumeist Arbeitsorts verfügen. So werden z.B. in Großbritannien, Frankreich (hier auch fast jedes Kind, das in Frankreich geboren wurde, unabhängig vom Status der Eltern) und den Niederlanden zahlreiche Menschen, die aus ehemaligen Kolonien stammen, als Inländer klassifiziert, obwohl ein substanzieller Teil von ihnen die „Haupt“Kultur des Empfängerlandes nicht oder nur teilweise akzeptiert. Der statistische Anteil der Ausländer in der Schweiz war 2019 hingegen mit 24,9% formal fünfbzw. viermal so hoch wie in den Niederlanden oder Frankreich und mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland, das Durchschnittseinkommen jedoch deutlich höher als in den drei genannten größeren Ländern. Als Zwischenfazit können wir festhalten, dass uns prozentuale Angaben zu Auslän‐ dern innerhalb einer Bevölkerung isoliert betrachtet nicht weiterbringen. 2.4.1 Zu- und Abwanderung In der öffentlichen Debatte wird oft der Eindruck vermittelt, dass Deutschland „schlecht tauscht“; dass also vor allem Hochqualifizierte das Land verlassen, während Gering‐ qualifizierte zu uns kommen. In der Tat ist seit vielen Jahren ein stetiger Abfluss von Spitzenforschern in die USA sowie z.B. eine Abwanderung von Ärzten nach Skandi‐ navien, in die Schweiz (und vor dem Brexit-Referendum auch nach Großbritannien) zu beobachten. Deutschland zieht allerdings wiederum Ärzte, aber auch zahlreiche Ingenieure und weitere nicht nur Geringqualifizierte, nicht nur aus Osteuropa an. Abb. 2.4 vermittelt Ihnen eine Vorstellung über Zu- und Fortzüge und den korre‐ spondierenden Migrationsüberschuss, der die Bevölkerung in Deutschland seit vielen Jahren über der Grenze von 80 Millionen hält. (Nach dem Zusammenbruch der 2.4 Migration 73 <?page no="74"?> 13 Ebenso gab es bis - jedenfalls bis 2020 - starke Wanderungsbewegungen innerhalb Deutschlands vor allem nach Bayern und Baden-Württemberg, vgl. z.B. https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen/ Que rschnitt/ Demografischer-Wandel/ Aspekte/ demografie-wanderungen.html Sowjetunion kamen allein insgesamt etwa 2 Millionen sogenannte Russlanddeutsche in die Bundesrepublik Deutschland.) 13 Abb. 2.4: Wanderungssaldo von Ausländern für Deutschland (Quelle: Demografie Portal) Abb. 2.4: Wanderungssaldo von Ausländern für Deutschland (Quelle: Demografie-Portal [27]) Auch hier handelt es sich wiederum um Stichtagsbetrachtungen, die regionale Beson‐ derheiten außer Acht lassen. Die Betrachtung ändert sich indes, wenn nach dem Migrationshintergrund gefragt wird. Die nächste Frage lautet also, woher die Auslän‐ der in Deutschland kommen. 2 Demografie und Demografisierung 74 <?page no="75"?> Ausländer in Deutschland (Quelle: Statistisches Bundesamt) Abb. 2.5: Ausländer in Deutschland (Quelle: Statistisches Bundesamt [28] ) Bemerkung: Seit Beginn der Flüchtlingskrise Mitte 2015 wird die in Abb. 2.5 dargestellte Ver‐ teilung von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien, Somalia, Eritrea und Afghanistan mitgeprägt. Hier sei noch einmal auf die Abschiedsvorlesung von Hans-Werner Sinn verwiesen, in der er eingangs mit dem deutschen „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre den Zuzug von Gastarbeitern nach Deutschland erwähnt. Die tatsächliche Integration von Ausländern (abhängig von Zugehörigkeit nach Nationalität, Einwanderergeneration, Religion u.v.m.) wird indes sehr kontrovers und oft emotional vergiftet diskutiert. Beachten Sie in diesem Zusammenhang, dass es keine allgemein akzeptierte Definition von „Integration“ gibt. Ob die Integration der seit Sommer 2015 nach Deutschland gekommenen und noch kommenden Flüchtlinge wie die der Russlanddeutschen ca. 20 Jahre früher 2.4 Migration 75 <?page no="76"?> gelingen wird, hängt sowohl ab von der Empfängergesellschaft, also von uns, und der Bereitschaft der Neuankömmlinge, sich und ihre Kinder in die deutsche Gesellschaft einzufügen. Den entscheidenden Punkt dürfte dabei darstellen, inwieweit es der Politik und den Unternehmen gelingen wird, die zumeist gering qualifizierten Zuwanderer rasch in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dass ein Mindestlohn in heutiger Höhe und eine massive zusätzliche Ausweitung des Angebots an gering qualifizierter Arbeit kompatibel sind, kann aufgrund ökonomischer Grundprinzipien ausgeschlossen wer‐ den. Ein Jahr nachdem er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft verliehen bekom‐ men hatte, hielt Milton Friedman im Jahre 1977 einen Vortrag an der University of Chicago zum Thema „What is America? “ Stark gekürzt kommt Friedman nach einem historischen Abriss der Einwanderung in die USA zu den Schlussfolgerungen, dass freie Einwanderung in die USA bis 1914 gut gewesen sei, dass sich aber offene Grenzen und ein Wohlfahrtsstaat wechselseitig ausschließen. [29] Dies gilt meines Erachtens 40 Jahre später in Deutschland wie überall. Es ist somit wieder eine Frage der Werte (und der Gesetze), wie praktische Politik gemacht wird. 2.4.2 Alterung und Binnenmigration Wie bereits gesehen sind Prognosen in der Demografie mit Vorsicht zu betrachten. Diese werden zumeist unter ceteris paribus-Bedingungen unter Variation von diversen Eingangsparametern gerechnet. Abbildung 2.6 illustriert die antizipierte Veränderung des Medianalters - das Alter, bei dem die Hälfte der Bevölkerung jünger und die andere Hälfte älter ist - von realen Daten aus dem Jahr 2012 bis hin zur Schätzung dieses Wertes für 2030. 2 Demografie und Demografisierung 76 <?page no="77"?> - 2.6: Veränderung - des - Medianalters - in - Kreisen - und - kreisfreien - Städten, - 2012 -- vs. - Schätzung - - (Quelle: - Bertelsmann - Stiftung) Abb. 2.6: Veränderung des Medianalters in Kreisen und kreisfreien Städten, 2012 vs. Schätzung 2030 (Quelle: Bertelsmann Stiftung) Abb. 2.6 korrespondiert mit einem erwarteten deutlichen Bevölkerungsrückgang weiterer ländlicher Gebiete Deutschlands. Perspektivisch lebensfähige Städte mittlerer oder kleiner Größe finden sich fast ausschließlich im süddeutschen Raum. Diese Entwicklung kann, wie das folgende Paar von Abbildungen deutlich macht, parallel durch die Entwicklung der Immobilienpreise bzw. des Leerstands bei Wohnimmobilien innerhalb Deutschlands dargestellt werden, was die pauschale Behauptung, dass eine Immobilie eine passende Altersvorsorge sei, jedenfalls in geografischer Hinsicht relativiert. 2.4 Migration 77 <?page no="78"?> Abb. 2.7: Leerstand in Geschosswohnungen 2018 und Dynamik von 2013-2018 (Quelle: Empi‐ rica-Institut) Diese bisherige Entwicklung ist bzw. war nicht typisch deutsch; in Gesamteuropa, Nord- und Südamerika sowie weiten Teilen Asiens beobachteten wir (vor Ausbruch der Corona-Krise) eine Wanderungsbewegung in die Ballungsgebiete. Deutschland profitiert in Europa zudem davon, dass junge, zumeist gut qualifizierte Menschen aus den geografischen Peripherieländern wie Lettland oder Portugal nicht ausschließlich in ihre korrespondierenden Großräume, sondern gleich weiter ins Zentrum Europas ziehen. Bemerkung: Lettland verlor seit Beginn der 1990er Jahre mehr als 20 Prozent seiner Gesamtbe‐ völkerung. [30] Diese lag im Jahre 2020 bereits deutlich unter 2 Millionen Menschen. Dieser Trend wird sich fast sicher in den nächsten 10 bis 20 Jahren fortsetzen. Resumé Die deutsche Bevölkerung wird älter, die Anzahl der geborenen Kinder ist nicht bestandserhaltend. Tatsächlich ist aber eine einseitige Fixierung auf Geburtenraten in hohem Maße kontraproduktiv. Wichtiger als die Anzahl der noch nicht geborenen 2 Demografie und Demografisierung 78 <?page no="79"?> Kinder wird deren zukünftiger Wertbeitrag zur Gesellschaft bzw. ihre Produktivität sein, die einzig über den Weg von Bildung vorbereitet werden kann. Innerhalb Deutschlands findet einerseits eine Binnenmigrationsbewegung vom ländlichen in den halbstädtischen und städtischen Bereich statt, andererseits führt die Außenmigration fast ausschließlich in die Großbzw. Ballungsräume. So hat in Frankfurt am Main mehr als die Hälfte aller dort lebenden Menschen einen Migrati‐ onshintergrund; in Stuttgart, München, Düsseldorf und Köln sind es jeweils mehr als 40%. Neben der Entvölkerung weiter Landstriche Deutschlands trifft diese Bevölke‐ rungsbewegung somit vor allem die geografischen Peripherieländer der Europäischen Union. Diese Wanderungsbewegungen stellen fast alle Gebietskörperschaften vor neue Herausforderungen; die einen, weil zu wenige, die anderen, weil zu viele Menschen mit dazu sehr heterogenem sozialem Hintergrund und unterschiedlichen Lebensmodellen auf geringem Raum „zu versöhnen und zu versorgen sind“. Die demografischen Entwicklungen haben somit einen direkten Einfluss auf die sich ändernden Aufgaben des Staates, sie betreffen aber ebenso Investitions- und Konsumverhalten sowie die Innovationsfähigkeit der Gesellschaft als Ganzes. Ob und inwieweit wir am Anfang eines messbaren Trends zur (Rück-)Bewegung in den ländlichen Raum sind, wird sich noch zeigen. Notwendige Voraussetzung dafür wäre aber die Verbesserung der Infrastruktur und dies betrifft nicht nur Breitband-In‐ ternetzugänge, Kindergärten und Schulen sondern vor allem die ärzliche Versorgung. Exkurs: Zum täglichen Umgang mit Zahlen und Statistik Warum so viel Statistik? Statistische Erhebungen und Auswertungen werden im öffentlichen Raum von Akteu‐ ren aus Wirtschaft, Politik, Gesundheitswesen usw. primär aus dem Grund verwendet, um die Glaubwürdigkeit der eigenen Aussagen zu erhöhen bzw. die Sinnhaftigkeit oder Alternativlosigkeit der eigenen Handlungen zu begründen. Im günstigen Fall sollten Statistiken dabei dem Verständnis der wesentlichen inneren Strukturen und der natürlichen zeitlichen und räumlichen Veränderungen von wirtschaftlichen und/ oder politischen Einheiten vieler Menschen oder „Gemeinwesen“ dienen. Obwohl mindestens ein Viertel der erwachsenen Deutschen durch ihr Studium und ihre berufliche Praxis mit den Grundkonzepten der deskriptiven und der Inferenzsta‐ tistik vertraut sein sollte, gibt es wenig Widerrede oder Fragen zum fragwürdigen bis falschen Einsatz von Statistik im öffentlichen Diskurs. Mutmaßungen, warum dem so ist, können dem in den Redaktionen antizipierten Wunsch der Leser, dass Komplexität reduziert werden soll, Rechnung tragen. Ebenso plausibel ist, dass die meisten Redakteure auch renommierter Medien Absolventen von Studiengängen sind, die weitgehend statistikfrei sind. Diese Vermutung läßt sich relativ einfach verifizieren: Vgl. z.B. https: / / www.faz.net/ redaktion/ und https: / / www.spiegel.de/ impressum. Exkurs: Zum täglichen Umgang mit Zahlen und Statistik 79 <?page no="80"?> Wenn Sie über das Bonmot von Des MacHale „Der durchschnittliche Mensch hat einen Busen und einen Hoden“ lachen, sollten Sie sich an die bereits erfolgte Erörterung der Sinnhaftigkeit der Aussage „Die Lebenswartung in Deutschland beträgt 80,99 Jahre“ erinnern. Nachfolgend ein paar „Bullet Points“, die Sie ggf. im Hinterkopf behalten sollten, wenn Sie Texte, die statistische Informationen beinhalten, lesen. Am Ende dieses Exkurses finden Sie eine kurze Liste guter „Unterhaltungsbücher“ zu Statistik und Wahrscheinlichkeitslehre. Datenerhebung Intuitiv einleuchtend ist, dass Sie keine sinnvollen Aussagen zu den Lesegewohnheiten der deutschen Gesamtbevölkerung generieren können, wenn Sie Ihre Befragungen am Eingangstor einer Universität durchführen: Ebenso wird Ihnen sofort einleuchten, dass es keine gute Idee ist, die Körperlängen der Spieler der Basketballnationalmannschaft zu messen und von diesen Daten auf die deutsche (männliche) Gesamtbevölkerung zu schließen. Diese „Beispiele“ mögen Ihnen albern vorkommen, aber genau hier liegt oft das grundsätzliche Problem: Wann immer Statistiken sinnvoll verwendet werden, sollte klar sein, wer gemessen hat, wie gemessen wurde, welche Daten intrapoliert und welche Daten extrapoliert wurden. Damit kommt die Illusion der Präzision ins Spiel, die ein psychologisches Bedürfnis zu bedienen scheint. Für die meisten Menschen glaubwürdig sind exakte Zahlen (bei relativen Werten gern mit mehreren Nachkommastellen), obwohl selten hinreichend geklärt ist, wie das zugrunde liegende Datenmaterial erhoben wurde oder ob es „passt“. Denken Sie zum Beispiel einmal über die Sinnhaftigkeit der Aussage „In China lebten im Jahr 2019 1.401.764.328 Menschen.“ nach. Wenn im Frühjahr oder Sommer 2020 zum Beispiel von Corona-Infektionszahlen in unterschiedlichen Staaten oder auch Bundesländern die Rede war, so wurden diese auf der Basis unterschiedlichster Testhäufigkeiten und Verfahren ermittelt. Statistiker bemühen bei Zahlen, deren zugrundeliegenden Rohdaten unterschiedlich erhoben werden, das Bild der Unmöglichkeit, sinnvoll „Äpfel mit Birnen zu vergleichen“. Ein weiteres grundsätzliches Problem besteht darin, dass die Zahlen, die verwendet werden, oft nicht sinnvoll eingeordnet werden können. Dazu bieten sich, bei allen Schwächen, die überschlagsmäßige Ermittlung von Durchschnittswerten und bei zeitlichen Vergleichen von durchschnittlichen Wachstumsraten an. Wenn Sie wieder an die Frühphase der Coronakrise im März und April 2020 zurückdenken, wurden damals u.a. Begriffe wie exponentielles Wachstum, tägliche Neuinfektionen, die relativen Veränderungen der Neuinfektionen, Verdoppelungszei‐ träume von Infizierten und Reproduktionsfaktoren ins Feld der Diskussion geführt. Oft verwendet wurde auch der den meisten Deutschen bis dato nicht bekannte Begriff der Überschusssterblichkeit. Dieser ist allerdings durch ein Problem charakterisiert, das wir bereits bei der Fertilität kennengelernt haben. Weitgehend richtig ermitteln können wir die Überschusssterblichkeit nur für die bereits vergangene Zeit. Zudem ist hier mit kausalen Ausssagen jeder Art Vorsicht geboten. Wir sehen also nicht 2 Demografie und Demografisierung 80 <?page no="81"?> 14 Die heutige Bedeutung der Stiftung in der Medizinforschung und damit verbunden der WHO beruht direkt auf den vorhergegangenen Rückzügen der Staaten. Insofern ist es irrelevant, ob man in Bill Gates einen Philantropen sieht oder nicht. Unzweifelhaft hat er eine Mission und genug Geld und strategisches Vermögen, um diese zu befördern. (Vgl. Rainer Balcerowiak: Das Gates Projekt. Cicero Heft 7/ 2020; S. 14 ff.) einmal im Rückspiegel genau, ob die schwedische Regierung klüger handelte als die deutsche, die chinesische oder die US-amerikanische. Interessant zu beobachten wird sein, inwieweit der zumeist nicht hinreichend erläuterte Sprung von einer zu einer anderen Kennzahl das Vertrauen oder besser die Nachfrage nach statistischen Zahlen zukünftig verändern wird. Bereits erwähnt wurde, dass damit offensichtlich vor allem ein psychologisches Bedürfnis der Empfänger der statistischen Botschaft bedient wird. Zudem werden damit eine vermeintliche Sicherheit bzw. Objektivität transportiert. Der Gebrauch des arithmetischen Mittels Die eine alles erklärende Maßzahl gibt es nirgendwo. Sonst bräuchten wir auch keine Statistik (und ein Kochbuch mit den ultimativen Rezepten und eine Philosophie täten es vermutlich auch). Denken Sie hier zum Beispiel an die zahlreichen Kennzahlen, die in der Unter‐ nehmensbewertung Verwendung finden oder an das Kurs-Gewinn-Verhältnis, das Gewinnwachstum, die Dividendenrenditen, den freien Cash-Flow usw. bei der Akti‐ enanalyse. Selbst die Kombination mehrer „guter“ Kennzahlen schützt Sie nicht vor Fehleinschätzungen und damit Fehlentscheidungen. In jedem Grundkurs der Statistik, der diesen Namen verdient, werden Sie mit den Ma‐ ßen der sogenannten zentralen Tendenz Mittelwert, Median und Modalwert, diversen Streuungs- oder Dispersionsmaßen sowie Maßen für Symmetrie oder Spitzgipfligkeit einer Verteilung bekannt gemacht. In den Medien ist es aber das arithmetische Mittel, das trotz beschränkter Aussagekraft zumeist im Alleingang verwendet wird. Nehmen Sie zum Beispiel an, dass im Jahr 2018 das durchschnittliche Einkommen eines Bürgers einer deutschen Großstadt mit 250.000 Einwohnern 40.000 Euro betrug. Die Aussagen, dass das Gesamteinkommen dieser Stadt mit 250.000 Einwohnern 10.000.000.000 Euro (10 Milliarden Euro) beträgt und dass das durchschnittliche Einkommen 40.000 Euro beträgt, sind äquivalent. Sie stellen lediglich unterschiedliche Perspektiven dar. Zu dieser Bevölkerung gehören natürlich Kinder, Empfänger von Transferleistungen usw. Nehmen Sie nun an, dass Bill Gates, Microsoft-Gründer, Multimilliardär und Chef der Bill und Melinda Gates-Stiftung, 14 in diese Stadt zieht. Sie können leicht verifi‐ zieren (Google ist diesem Fall wirklich Ihr Freund), dass Bill Gates’ Einkommen (Dividenden, Wertzuwachs von Microsoft- Aktien und anderen Anlangen) im Jahr 2018 etwa 10 Milliarden Euro betrug. Wenn Sie also das neue Durchschnittseinkommen Ihrer Großstadt ermitteln, werden Sie 20 Mrd. Euro durch 250.001 dividieren und folglich auf Grund des einen Ausreißers einen Wert von näherungsweise 80.000 Euro Durchschnittseinkommen ermitteln. Nur hat sich das durchschnittliche Einkommen Exkurs: Zum täglichen Umgang mit Zahlen und Statistik 81 <?page no="82"?> (wie dieser Durchschnitt zustande gekommen ist, wissen wir hier übrigens auch nicht) der ursprünglichen 250.000 Menschen nicht geändert. Der Effekt wäre natürlich noch beeindruckender gewesen, wenn Bill Gates in ein Dorf gezogen wäre: Je kleiner die Populationsanzahl, umso größer ist der Bias (auf deutsch Verzerrung), auch wenn sich für fast alle Menschen nichts geändert hat. Auch ohne Bill Gates gilt jedenfalls, dass mehr als die Hälfte einer Bevölkerung weniger als das Durchschnittseinkommen verdienen. Wieviele das sind, hängt von der Einkommensverteilung ab. Bemerkung: Aus Gründen der besseren Interpretierbarkeit ziehen Statistiker im Normalfall den Einkommensmedian, das ist der Wert, für den die eine Hälfte der Bevölkerung ein niedrigeres und die andere Häfte ein höheres Einkommen erzielt, dem BIP per capita bzw. dem Pro-Kopf-Einkommen vor. Im Jahr 2019 betrug das Pro-Kopf-Ein‐ kommen in Deutschland 41.342 Euro, während der Einkommensmedian bei „nur“ 2.503 Euro pro Monat, also ca. 30.000 Euro pro Jahr lag. Diese Werte sind zwar nicht direkt vergleichbar: Jenseits von Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversiche‐ rung wird der Unterschied aber noch größer, wenn man berücksichtigt, dass bei der Berechnung des Pro-Kopf-Einkommens die Gesamtbevölkerung und beim Medianeinkommen nur die arbeitende Bevölkerung gezählt wird. (In Deutschland befanden sich 2018 mit 51,8 Mio. Menschen etwa 60% der Bevölkerung im erwerbs‐ fähigen Alter, von denen mit 44,6 Mio. Menschen auch nicht alle arbeiten.) [31] Seit Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre sind in allen wichtigen Industrie‐ ländern die Einkommen des oberen Fünftels der Einkommenspyramide bedeutend stärker gestiegen als die des „Restes“. Dass wir quantitativ zwar keine amerikani‐ schen Verhältnisse - bereits 2016 verdienten amerikanische Spitzenmanager mehr als das 300-fache eines durchschnittlichen (! ) Arbeiter- oder Angestelltengehaltes - haben, uns aber offensichtlich auch an obszöne Gehälter von Angestellen in der Spitzengruppe gewöhnt haben, können Sie leicht nachprüfen, indem Sie die öffentlich zugänglichen Vorstandgehälter von VW, Siemens, BASF usw. mit normalen guten Gehältern vergleichen. Sehr empfohlen sei Ihnen Nobelpreisträger Joseph Stiglitz’ Buch „Der Preis der Ungleichheit“. Arbeiten mit geschätzten Durchschnittswerten Natürlich bleibt die Ermittlung von Durchschnitten sinnvoll. Jedenfalls in einem ersten Schritt. Echte Statistiker mögen sich wegen der Hemdsärmlichkeit des Vorgehens bei den folgenden Beispielen die Haare raufen und zahlreiche methodische Einwände erheben: Hier geht es aber einzig und allein darum, „vernünftige“ und interpretierbare Schätzwerte bezüglich der Dimension der in Frage stehenen Größen zu ermitteln. Beachten Sie, dass die Input-Zahlen stets bewusst einfach gewählt wurden. 2 Demografie und Demografisierung 82 <?page no="83"?> Wenn Sie zum Beispiel einen schnellen Schätzwert für die durchschnittliche Anzahl der Todesfälle pro Tag in Deutschland ermitteln wollen, bietet sich an, die Gesamtbe‐ völkerung durch die approximative Lebenserwartung zu dividieren, um eine erwartete Anzahl von Todesfällen pro Jahr zu schätzen: Wir nehmen bei 80 Millionen Menschen in Deutschland eine durchschnittliche Lebenserwartung von 80 Jahren an; ermitteln 1.000.000 Todesfälle pro Jahr und dividieren großzügig aufgerundet durch 400 als Näherungswert für die Anzahl der Tage im Jahr, auch um die Abweichung von der Gleichverteilung der Jahrgänge etwas zu korrigieren. Unser Schätzwert beträgt 2.500 Tote pro Tag in Deutschland und ist damit nicht sehr weit vom „echten“ Wert entfernt. Statista gibt für das Schaltjahr 2018 954.874 Todesfälle in Deutschland und damit durchschnittlich 2.608,945 Tote pro Tag an. Unsere Schätzung ist mit etwas weniger als 5% Abweichung von diesem wahren Wert also ganz brauchbar. (Beachten Sie, dass es saisonale Unterschiede gibt: Der Monat mit den durchschnittlich höchsten Todeszahlen war in den letzten Jahrzehnten in Deutschland der März). Bei Geldbeträgen fehlt uns zumeist die Vorstellungskraft, was große absolute Summen für ein Gemeinwesen bedeuten. Wenn also berichtet wird, dass Deutschland bei der Finanzierung des WHO-Haushaltes „in dem Zweijahreshaushalt 2016/ 17 mit rund 158,5 Millionen US-Dollar pro Jahr einen Anteil von 6,4%“ trägt, bedeutet dies, dass der Beitrag Deutschlands zur WHO bei weniger als 1 US-Dollar pro Bundesbürger und Jahr lag. Da sich der Wechselkurs zwischen Euro und US-Dollar in dieser Zeit zwischen 1,08 US-Dollar und 1,24 US-Dollar pro Euro bewegte, erschwert eine exakte Angabe; unabhängig davon landen wir aber bei weniger als einem Euro pro Person und Jahr. Wenn Deutschland 525 Millionen Euro für die internationale Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten gegen das Coronavirus bereitstellen will (Nachricht vom 5. Mai 2020), sind dies etwas mehr als 6 Euro pro Person und Jahr usw. Als im Jahre 2018 von 12 bis 15 Milliarden Euro die Rede war, die Deutschland auf Grund des Brexits mehr pro Jahr an den EU-Haushalt überweisen sollte, entsprach dies immerhin schon 150 bis 180 Euro pro Person (Kinder und Rentner eingeschlossen) und Jahr. Überlegen Sie selbst, ob z.B. die Aussage, dass es sich um 321,48 Euro pro Erwerbstätigen in Deutschland und Jahr handelte, zielführender ist und welche Annahmen (Gleichsetzung von Teilzeitbeschäftigen und Vollzeitbeschäftigten u.v.m.) dahinständen. Unabhängig von der Sinnhaftigkeit dieser Zahlungen wird leicht ersichtlich, dass es sich hier um volkswirtschaftlich nicht wirklich dramatische Größen handelt. Diese qualitative Aussage kann so nicht gemacht werden, wenn die staatlichen Kredite und Garantien in Folge der Corona-Krise betrachtet werden, die sich fast ausnahmslos im fünfstelligen Eurobetrag pro Person bewegen. Arbeiten mit Wachstumsraten Wir sind es gewöhnt, Wachstum vorauszusetzen. Dies betrifft das BIP, die Bevölkerung, und die reale „Vermehrung“ von Geld, die auf ertragreichen Investitionen beruht. Exkurs: Zum täglichen Umgang mit Zahlen und Statistik 83 <?page no="84"?> 15 Das entspricht in etwa der Unschuldsvermutung im Recht. Auch wenn die meisten Menschen in der Euro-Zone seit ca. 10 Jahren kaum noch wissen, was nominale Zinsen sind bzw. waren, haben fast alle schon einmal die Zinseszinsformel gesehen. Wir ersetzen nun den Zins verallgemeinernd durch eine durchschnittliche Wachs‐ tumsrate g. Dann lautet die allgemeine Wachstumsformel 𝑉 𝑉 1 𝑔 (*), wobei V 0 den Startwert zum Zeitpunkt t = 0 und V T den Wert der Variable V nach T Perioden darstellen. Die durchschnittliche Wachstumsrate g ermittelt sich durch Umstellen von (*). 𝑔 / 1. (**) Laut Statista waren in den Studienjahren 2009/ 10 2.121.190 Studierende und 2019/ 2020 2.897.336 Studierende an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Wir erhalten somit für den Zeitraum von 2009/ 2010 bis 2019/ 2020 ein durchschnittliches jährliches Wachs‐ tum der Anzahl der Studierenden in Höhe von 3,16%. Um dieses sinnvoll einordnen zu können, benötigen wir allerdings weitere Informationen: Wie entwickelte sich insbesondere die Teilpopulation, zu der die Studienanfänger gehören, insgesamt? Wir abstrahieren nun vom Sondereffekt des Zuzuges von mehr als 1 Million überwiegend junger Flüchtlingen seit 2015 und vergleichen vereinfacht die Anzahl der Geburten im ersten gesamtdeutschen Jahre 1991 mit der Anzahl der Geburten im Jahre 2001 (die 2019 ein Studium hätten aufnehmen können): Hier fand ein Rückgang von 830.019 auf 734.475 statt. Die Anzahl der Studierenden stieg also von 2009 bis 2019 „auf Kosten des Restes“ um mehr als 4% pro Jahr. Fehler 1. und 2. Art und statistische Tests Nehmen Sie an, dass Sie Kreditsachbearbeiter bei einer Bank sind. Sie können nun zwei Arten von Fehlern machen. Sie genehmigen einen Kredit an einen Kunden, der sich später als schlechter Kunde erweist und Sie verweigern einem Kunden, der ein guter Kunde gewesen wäre, den Kredit. Zwischen Ihrer Entscheidung und der Erkenntnis, ob Ihre Nullhypothese „Der Kunde ist ein guter Kunde.“ 15 korrekt war oder nicht, liegt eine Zeitperiode. Sie können also, wie überall im Leben, das Falsche tun und das Richtige nicht tun. Beobachten können Sie allerdings nur den sogenannten Fehler 1. Art, wenn sie später feststellen, dass Ihr Kunde nicht vertragsgemäß zurückzahlt, dass Sie also das Falsche getan haben. Von einem Kunden, dem Sie den Kredit verweigert haben, können Sie nur 2 Demografie und Demografisierung 84 <?page no="85"?> 16 Das ist aus mehreren Gründen eine sehr starke Annahme; insbesondere wird hier - ziemlich weit von fast jeder Realität entfernt - unterstellt, dass die Infektionsrate zeitlich und räumlich konstant ist. ahnen, dass er vielleicht doch ein guter Kunde gewesen wäre und dass Sie somit das Richtige nicht getan haben. Tatsächlich sind aber beide Fehler interdependent: Um dies zu verstehen, genügt es zu fragen, wieviele Kunden Ihre Bank haben wird, wenn Sie absolut sicher sein wollen, keinen schlechten Kunden zu haben? Die Antwort ist, dass Sie keinen Kunden haben werden. Je kleiner der Fehler 1. Art, die Bereitschaft, etwas falsch zu machen, um so größer ist also der Fehler 2. Art, das Richtige nicht zu machen. Die Werte von α = 1% oder α = 5%, die im Allgemeinen bei wissenschaftlichen Studien und Meinungsumfragen verwendet werden, sind dabei lediglich Konventio‐ nen. Tatsächlich sollte der Fehler 1. Art Ihre Fehlertoleranz in einem speziellen Fall widerspiegeln. Diese wird bei Sicherheitssystemen von Kraftwerken und Schnellzügen sicherlich nicht 1% sein können und bei Investments in Startups gern oberhalb von 50% liegen können. Kommen wir zu einer Anwendung der Interpretation eines Tests. Im Zuge der Corona-Krise wurde regelmäßig über getestete und nichtgeteste Personen geschrieben: Dabei wurde mitunter auch erwähnt, dass Tests fehlerhafte Resultate lieferten. Tat‐ sächlich liegt der Teufel aber auch hier in den Grundproblemen eines jeden statistischen Tests. Stellen Sie sich vor, gerade aus dem Urlaub nach Hause zurückgekommen zu sein. Zufällig erfahren Sie, dass in der Gegend, in der Sie Ihren Urlaub verbracht haben, eine seltene, aber sehr gefährliche Krankheit grassierte. Sie entscheiden sich, einen Arzt aufzusuchen und sich einem medizinischen Test zu unterziehen. So ein Test hat nun zwei mögliche Ergebnisse: positiv (Der Test klassifiziert Sie als infiziert) und negativ (Sie sind laut Test nicht infiziert). Ihr Test ist nun so gut, dass er 99 Infizierte von 100 Infizierten identifiziert und lediglich zwei Nichtinfizierte von 100 Getesteten fehlerhaft als infiziert einstuft. Es handelt sich dabei um einen aus medizinischer Sicht wirklich guten Test. Ihr Arzt präsentiert Ihnen nun Ihr Testergebnis: Sie wurden positiv getestet. Unab‐ hängigig von Ihrer nervlichen Belastung: Was können Sie mit dieser Aussage anfan‐ gen? Zunächst einmal überhaupt nichts! Nicht bekannt ist nämlich bisher, wieviele Menschen in der betreffenden Gegend tatsächlich infiziert waren. Diese Prävalenz, also die Rate der Erkrankten, betrage nun annahmegemäß 1 :  1.000. 16 Nun können Sie sich die Lösung Ihres Problems, sich einer Antwort auf die Frage „Gibt es Grund zur Panik? “ über bedingte Wahrscheinlichkeiten nähern. Intuitiv einleuchtend funktioniert dies ebenso bei ausschließlicher Verwendung der Grundrechenartenarten unter der sich rasch erhellenden Annahme, dass wir es mit 100.100 Personen zu tun haben, wie folgt: Exkurs: Zum täglichen Umgang mit Zahlen und Statistik 85 <?page no="86"?> Alle Teilnehmer Positiv getestet Negativ getestet In % Absolut In % Absolut In % Absolut Infiziert Ca. 0,1 100 99 99 1 1 Nicht infi‐ ziert Ca. 99,9 100.000 2 2.000 98 98.000 Summe 100% 100.100 2.099 98.001 Die Schätzung der Wahrscheinlichkeit, dass Sie bei einem positiven Testergebnis tat‐ sächlich infiziert sind, ermittelt sich nun als Ergebnis von 99/ 2.099 und korrespondiert damit zu weniger als 5%. Jenseits des kleinen Rundungstricks bei der Aufteilung der fiktiven 100.100 Personen in 100 Infizierte und 100.000 Nichtinfizierte ist das Ergebnis für Sie erfreulich, gesamtwirtschaftlich aber schlicht sehr teuer. Ob wir einen solchen Tests schlussendlich einsetzen, hängt davon ab, welchen Wert wir einem einzelnen Leben, das wir retten können, und den Opportunitätskosten beimessen. Dies ist aber keine statistische, sondern eine Wertefrage. So ist die Aussage des Robert Koch-Instituts, dass Ende April 2020 in Deutschland 6.288 Menschen an Covid-19 gestorben sind, von denen 2.269 jünger waren als 80 Jahre, deskriptiver Natur. Welcher „Aufwand“ bezüglich der Eindämmung von Corona betrieben werden sollte, um einzelne Leben zu retten bzw. zu verlängern, ist hingegen eine Wertefrage. So wie Bill Gates am 3. April 2015 die Gefahr und die Konsequenzen einer kom‐ menden weltweiten Pandemie in einem öffentlichen Vortrag skizzierte [32] , erörterte Yaval Noah Harari, ebenfalls 2015, in seinem Buch “Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen“ prinzipielle Fragen von Leben und Tod, deren frühzeitige Beschäftigung uns bei Ausbruch der Corona-Krise hätte helfen können. „Für moderne Menschen ist der Tod ein technisches Problem, das wir lösen können und lösen sollten.“ (S. 26). Und weiter: „Selbst wenn Menschen bei einem Hurrikan, bei einem Autounfall oder im Krieg sterben, betrachten wir dies gern als technisches Versagen, das man hätte verhindern können und müssen. Hätte die Regierung nur eine bessere Politik verfolgt, hätte die Kommune ihre Aufgaben angemessen erfüllt, hätte der Militärbefehlshaber eine klügere Entscheidung getroffen - dann wäre der Tod zu verhindern gewesen. […] Weil aber Alter und Tod die Folge von nichts anderem als spezifischen Problemen sind, gibt es keinen Punkt, an dem Ärzte und Forscher aufhören. […] Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spricht nicht davon, die Menschen hätten ein ‚Recht auf Leben bis 90 Jahre‘. […] Dieses Recht kennt kein Verfallsdatum.“ (S. 36) Explizit weiter geht der australische Biologe David A. Sinclair, Professor an der Harvard University: Für ihn ist Altern eine Krankheit. [33] 2 Demografie und Demografisierung 86 <?page no="87"?> Literatur: Gero von Randow: Das Ziegenproblem: Denken in Wahrscheinlichkeiten, Rororo, 2004. Walter Krämer: So lügt man mit Statistik, Campus, 2015. Walter Krämer: Statistik verstehen, Piper, 2001. Hans-Peter Beck-Bornholdt und Hans-Hermann Dubben: Der Schein der Weisen. Irrtümer und Fehlurteile im täglichen Denken, Rororo, 2003. Hans-Peter Beck-Bornholdt und Hans-Hermann Dubben: Der Hund der Eier legt. Erkennen von Fehlinformationen durch Querdenken, Rororo, 2006. Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 2.1: Nehmen Sie an, dass Sie sich nach dem im Exkurs besprochenen Test einem unabhängigen zweiten Test gleicher Qualität unterziehen und dass das Testresultat wiederum positiv lautet. Wie hoch ist nun die Wahrscheinlichkeit, dass Sie infiziert sind? Übung 2.2: Machen Sie sich die Zu- und Abgänge im demografischen Sinne in Ihrer kreisfreien Stadt bzw. in dem Landkreis, in dem Sie leben, vom Jahre 1989 bis heute klar. Analysieren Sie den Einfluss von Binnenmigration, Außenmigration sowie den Saldo von Geburten und Todesfällen der einheimischen Bevölkerung auf die Gesamtentwicklung. Versuchen Sie, die Sozialstruktur Ihrer Stadt bzw. Ihres Landkreises in den Stichjahren 2000, 2010 und 2020 zu vergleichen. Machen Sie sich die methodischen Probleme klar, wenn Sie an die Erfüllung dieser Aufgaben gehen, und beschreiben Sie diese präzise. Beschreiben Sie, wie Sie mit diesen Abgrenzungsproblemen umgehen. Übung 2.3: Aggregiert nach Kontinenten vermeldet Statista für das Jahr 2019 Fertilitätsraten für Europa von 1,5 Kindern, für Nordamerika von 1,7 Kindern, für Asien 2,1 Kinder, für Australien und Ozeanien 2,3 Kinder und für Afrika von 4,5 Kinder pro Frau. (Quelle: https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 1724/ umfr age/ weltweite-fertilitaetsrate-nach-kontinenten/ ) Überlegen Sie sich, wie Statista diese Durchschnittswerte ermittelt haben könnte. Übung 2.4: Es gibt Schätzungen, dass um das Jahr 10000 v.u.Z. etwa 10 Millionen Menschen auf der Erde lebten. Wie hoch war die durchschnittliche Zuwachsrate pro Jahr, wenn Sie annehmen, dass im Jahr 2020 8 Mrd. Menschen auf der Erde lebten? Übungen zur Selbstüberprüfung 87 <?page no="89"?> 3 Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung Im Verlauf der Corona-Epidemie im Jahr 2020 hat sich das deutsche Gesundheitssystem im Vergleich zu fast allen seinen Pendants in Europa und Nordamerika als leistungs‐ fähig erwiesen. Ob und inwieweit diese Aussage verallgemeinert werden kann, d.h. wie der Vergleich zur Seuchenbekämpfung in den ostasiatischen Staaten Thailand, Vietnam, Japan, Taiwan und China aber auch zu Australien und Neuseeland langfristig ausgefallen sein wird, dürfte aber nicht vor 2022 beantwortet werden können. Die relative Stärke des deutschen Gesundheitssystems war vor allem der Tatsache zuzuschreiben, dass es über Reserven - und damit sind nicht nur Notfallbetten gemeint - verfügte. Selbst für eine vorsichtige und temporäre Gesamtbewertung ist dies allerdings deutlich zu wenig. Die Grundprinzipien unseres Sozialstaats wurden zwar mit Hinblick auf gesundheit‐ liche Krisen und Epidemien entwickelt, ihre Einführung und Durchsetzung liegt aber bei allen Anpassungen ca. 150 Jahre zurück. Die (historisch neue) Alterung der Bevöl‐ kerung Deutschlands wird quasi-deterministisch Auswirkungen auf unsere sozialen Sicherungssysteme haben müssen. Einer geringer werdenden Anzahl von Menschen im Arbeitsalter steht - zumindest für eine Transitionsperiode, die mindestens eine Generation andauern wird - eine größer werdende Anzahl von Menschen gegenüber, die nicht in Beschäftigungsverhältnissen stehen (wobei deren überwiegender Teil das Arbeitsleben bereits hinter sich gelassen hat). Dies betrifft ebenso die „Einwanderung“ in die deutschen Sozialversicherungssysteme, die kurz- und mittelfristig die Gesamt‐ budgetverteilung der deutschen Volkswirtschaft in Richtung Konsumption zulasten von Investitionen verschieben wird. In Deutschland wird eine rege Debatte darüber geführt, ob und wie die Lebensar‐ beitszeit gestreckt bzw. verlängert werden kann und wie zukünftige Arbeits- und Lebensmodelle aussehen können. Tatsächlich ist Europa aber weit entfernt von einer auch nur näherungsweisen Konvergenz der Lebensarbeitszeit, die in direkter Bezie‐ hung zum Rentenbezug steht. So betrug im Jahr 2018 die durchschnittliche Lebensarbeit in Deutschland 38,4 Jahre (Männer arbeiteten im Durchschnitt ca. 4 Jahre länger als Frauen); in Schweden lag der Durchschnittswert bei 41,7 und in Italien bei 31,6 Jahren. Hauptursachen für die unterschiedlichen Lebensarbeitszeiten sind das nicht einheitli‐ che Renteneintrittsalter und die Ausprägung der Jugendarbeitslosigkeit. Auch wenn die Definition eines gemeinsamen EU-Renteneintrittsalters aus zahlreichen Gründen problematisch ist, wäre diese ein sinnvoller erster Schritt zu einer weitergehenden Harmonisierung. Es wird sonst im besten Fall eine politische Herausforderung bleiben, die Bevölkerungen von Ländern mit hoher Lebensarbeitszeit im gegebenen Fall zu überzeugen, sich solidarisch mit Bevölkerungen mit geringerem Renteneintrittsalter bzw. kürzerer Lebensarbeitszeit zu zeigen. <?page no="90"?> 17 Die Gesundheitsausgaben pro Jahr und Person stiegen in Deutschland von 2.407 Euro im Jahr 1996 auf 4.712 Euro im Jahr 2018. (Quelle: https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 6588/ umfrage/ gesun dheitsausgaben-in-deutschland-je-einwohner-seit-1996/ ) Dies entspricht einer durchschnittlichen Steigerung von 3,1% pro Jahr in diesem Zeitraum. 18 Im selben Zeitraum wuchs die Anzahl der Ärzte, die nicht ärztlich tätig sind, von 41.400 auf 123.600 noch stärker. 3.1 Kranken- und Pflegeversicherung Bei der heutigen Organisation des Gesundheitswesens in Deutschland wird ein Anstieg der Gesundheitskosten mit zunehmender Alterung der Bevölkerung nicht aufzuhalten sein, es sei denn, es werden drastische Leistungseinschränkungen in der Grundsiche‐ rung in Betracht gezogen. 17 Die Gesundheitsausgaben ohne Arzneimittelausgaben für einen 60-jährigen waren im Jahre 2016 etwa 2,8-mal und die eines 80-jährigen etwa 5,7-mal so hoch wie für einen 30-jährigen; qualitativ ähnliche Relationen existieren bei Arzneimittelausgaben. Ihr längeres Leben, Schwangerschaften und Geburten erklären intuitiv, dass (wenn auch nicht in welchem Maße) bei Frauen höhere Kosten vorliegen als bei Männern. [34] Interessant ist jedenfalls immer zu wissen, wer untersucht hat sowie was und wie untersucht wurde. Die bereits gestellte Frage „Cui bono? “ führt dabei nicht immer zu einer Antwort, aber oft in die richtige Richtung. Das Gesundheitswesen absorbierte im Jahr 2018 ca. 11,2% des BIPs der Bundesrepublik Deutschland. [35] Es sind dabei nicht nur die Alterung, sondern ebenso die Lebensbedingungen und Eigenheiten unseres Gesundheitssystems, die die Kosten nach oben treiben. Um profitabel zu sein, brauchen Krankenhäuser wie Arztpraxen Kranke und keine Gesunden: Es ist somit nicht überraschend, dass die Behandlungshäufigkeit besonders dort hoch ist, wo sich viele Ärzte befinden. Mit monokausalen Aussagen kommen wir aber auch hier nicht weiter: Von 1990 bis 2019 hat sich die Anzahl der berufstätigen Ärzte in Deutschland von ca. 237.700 auf ca. 402.100 fast verdoppelt 18 [36] , wobei der Anstieg der Ärzteschaft einerseits auf einer altersbedingt erhöhten Nachfrage nach ärztlichen Leistungen beruhte, andererseits aber auch neue Nachfrage generierte. Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind die privaten Krankenversiche‐ rungen (deren Gründung auch als Ausdruck einer früheren Entsolidarisierung der Gesellschaft betrachtet werden kann), deren zukünftige Existenz mittelfristig durchaus in Frage steht. Die Kosten pro Bürger bzw. Versicherten betreffend ist statistischer Schrecken aller Kassen übrigens nicht der moderat rauchende und/ oder trinkende Arbeiter oder Angestellte, sondern der gesundheitsbewusste, gebildete Mensch. [37] Es gibt natürlich auch Studien, die genau das Gegenteil behaupten. 3 Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung 90 <?page no="91"?> Stolpersteine bei wissenschaftlichen Studien und ihrer Methodik Wie bereits gesehen werden Statistiken oft benutzt, um Zusammenhänge darzu‐ stellen. Das Vorliegen von Kausalität, d.h. das Nachweisen eines Ursache-Wir‐ kungszusammenhanges, zu zeigen, ist in den Sozialwissenschaften indes zumeist sehr schwierig (wenn nicht gar unmöglich). Als Beispiel diene die für die meisten von Ihnen vermutlich intuitiv nachvollzieh‐ bare Aussage, dass die Ausgaben eines Landes für sein Gesundheitssystem und die Lebenserwartung seiner Bewohner in einem direkten Zusammenhang stehen. Der vermutete Zusammenhang ist: Je mehr ein Land für sein Gesundheitssystem ausgibt, umso länger leben dort die Menschen. Nach kurzem Nachdenken ergeben sich allerdings bereits viele Fragen: ■ Könnte es nicht sein, dass die längere Lebenserwartung die höheren Gesund‐ heitsausgaben auslöst, weil alte Menschen kränker sind oder öfter krank werden als junge? ■ Könnten nicht andere Ursachen (Ernährung, Klima, Kriegsvermeidung) die längere Lebenserwartung besser erklären? ■ Woher kennt man überhaupt die Lebenserwartung von Menschen, die noch leben? (Diese Frage haben wir schon erörtert. Aus medizinischer Sicht: Eigent‐ lich kann man hierzu doch nur für tote Menschen Aussagen treffen.) ■ Woher weiß man, wie hoch die Gesundheitsausgaben sind? Was ist eine Gesundheitsausgabe? Wie geht man mit unterschiedlichen Preisen von z.B. Gesundheitsdienstleistungen um? ■ und, und, und … Nicht überraschend ist, dass (nicht nur) in Deutschland das Pflegefallrisiko mit dem Alter steigt. In den Altersgruppen bis 60 Jahre ist es, vor allem weil es kaum noch den Körper ruinierende Berufe gibt (dies war vor 50 Jahren übrigens noch anders) sehr gering; danach steigt es aber steil an. Die Anzahl der über 80-jährigen in Deutschland wird c.p. von heute knapp 6 Mio. (eigene Berechnung) auf 9 Mio. im Jahr 2050 ansteigen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht von einer notwendigen Verdreifachung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung bis 2030 aus. [38] Alles ceteris paribus natürlich! In den Pflegeheim Rating Reporten, die das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung, die Philips GmbH und das Institute for Healthcare Business erstellen, wurde u.a. im Jahre 2014 geschätzt, dass die Zahl der Pflegebedürftigen von 2,6 Millionen im Jahre 2015 bis zum Jahre 2030 auf 3,5 Millionen Menschen steigen wird. Im Bericht für 2019 wurden für 2030 bereits 4,4 Mio. Pflegebedürftigen geschätzt. [39] In den folgenden 15-20 Jahren müssten damit ca. 100 Mrd. Euro in den Ausbau der stationären Pflege investiert werden, damit genügend Heimplätze für die wachsende Zahl der Pflegebedürftigen vorhanden sein werden. In der stationären Pflege müssten 3.1 Kranken- und Pflegeversicherung 91 <?page no="92"?> schließlich bis zu 475.000 Pflegefachstellen hinzukommen. [40] Die „Pflegeindustrie“ wird also wachsen, mit Auswirkungen hin zu Essensversorgern, Wäschereien und - Stichwort Windeln - Müllentsorgern. 3.2 Rentenversicherung Die Altersvorsorge in Deutschland stützt sich auf drei Säulen. Säule 1 bildet die gesetzliche, für alle Beschäftigten verpflichtende Rentenversicherung, durch die die Versicherten Anspruch auf eine Altersrente erwerben. Säule 2 besteht aus der betrieb‐ lichen, d.h. vom Arbeitgeber mitfinanzierten bzw. -organisierten Altersversorgung. Säule 3 bildet die private Vorsorge in Form eines eigenverantwortlich angesparten Vermögens, das im Alter „entspart“ werden kann. Die gesetzliche Rentenversicherung gehört wie die Kranken-, Unfall-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung zu den seit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland schrittweise eingeführten Bismarck’schen Sozialgesetzen. Im Jahre 1954 wurde das sogenannte Umlageprinzip eingeführt: Die jüngeren Generationen kommen seitdem für die Renten der Alten auf und erwerben selbst einen Anspruch auf eine zukünftige Rente (Stichwort Generationenvertrag). Die eingezahlten Beiträge werden also nicht gespart, sondern sofort auf die laufenden Rentenzahlungen umgelegt, wobei sie durch Steuermittel „aufgestockt“ werden. Da das Umlagesystem wegen des demografischen Wandels nur noch bedingt leis‐ tungsfähig ist - d.h., immer weniger Junge müssen immer mehr Alte finanzieren - wurde und wird es immer wieder reformiert. Die derzeit prominentesten Beispiele sind die stufenweise Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre bis zum Jahr 2029 und die Ausweitung der Versteuerungspflicht auf die gesamte Rente ab 2040. Bereits 2002 hatte das Bundesverfassungsgericht die fehlende Rentenbesteuerung für verfassungs‐ widrig erklärt. Wer 2020 in Rente ging, muss 80% davon versteuern. Das Niveau der gesetzlichen Altersrente wird ferner von 51% im Jahr 2015 auf voraussichtlich 44,9% des durchschnittlichen Nettolohns bis zum Jahr 2030 gesenkt. [41] Damit verbunden ist die Aufforderung der Bundesregierung an die Bevölkerung, eigenverantwortlich für das Alter vorzusorgen. Langfristig soll die private Vorsorge als Ausgleich zur schrumpfenden Säule 1 an Bedeutung gewinnen; deshalb wird sie (Stichworte Riester- und Rüruprente) vom deutschen Staat gefördert. „Richtig“ privat vorsorgen ist indes leichter gesagt als getan. Sowohl Investitionen in Aktien als auch in Immobilien können ihre Tücken haben. Schwer verkäufliche Immobilien in strukturschwachen Gebieten können sich - leicht einsichtig - als Fluch erweisen, und die Aussage, dass Aktien langfristig die beste Geldanlage seien, wird durch Wiederholung in ihrer Pauschalität nicht richtiger. Als warnendes Beispiel sei hier eine Grafik des japanischen Leitindex Nikkei225 von 1981-2020 angegeben. 3 Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung 92 <?page no="93"?> 19 Keynes formulierte aber auch „auf kurze Frist sind wir noch am Leben.“ Aus einem Brief an den New Statesman vom 13. Juli 1937. Zitiert nach Skidelsky, S. 236. Abb. 3.1: Nikkei 225, 1980-2020 (Eigene Darstellen: Daten von Refinitiv) 0 5.000 10.000 15.000 20.000 25.000 30.000 35.000 40.000 45.000 01/ 1985 01/ 1990 01/ 1995 01/ 2000 01/ 2005 01/ 2010 01/ 2015 01/ 2020 Nikkei 1981 - 2020 Abb. 3.1: Nikkei225, 1985-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) Wenn Sie einen kurzen Blick auf Abb. 3.1 werfen, werden Sie ohne großes „Rumrech‐ nen“ schnell feststellen, dass Sie einen großen Teil Ihres Vermögens verloren hätten, wenn Sie um 1990 herum angefangen hätten, Ihr Geld in japanische Standardaktien, d.h. also in weltbekannte Firmen wie Mitsubishi, Sony, Canon, Toyota usw., zu investieren. Hier nützte es Ihnen auch nur wenig, zu wissen, dass der Nikkei225 Ende des Jahres 2020 wieder bei ca. 27.500 Punkten stand. Der Argumentation, dass Aktien langfristig die beste Geldanlage seien, sollten Sie nun - wenn dies nicht bereits der Fall war - etwas kritischer gegenüberstehen. Langfristig sind wir, um ein Bonmot von John Maynard Keynes zu zitieren, alle tot. 19 Damit hier kein Missverständnis entsteht: Dies ist kein Plädoyer gegen Aktien! Es bietet sich allerdings zumeist eine „vernünftige Diversifizierung“ in verschiedene risikobehaftete Assetklassen an. Da aber die aggregierte Wertentwicklung fast aller Assetklassen langfristig positiv korreliert ist, wird den meisten Menschen in Zukunft vermutlich nicht viel anderes übrig bleiben, als lange zu arbeiten, wenn ein gewisser Lebensstandard gewahrt werden soll. Bemerkung: Hier sei wiederum angemerkt, dass - und dies ist seit Langem bekannt - ein beträchtlicher Teil der deutschen Bevölkerung (Stichwort Niedriglohnsektor) die Möglichkeit, substanziell für das Alter zu sparen, nicht hat. Es wird also eine gesellschaftliche Aufgabe bleiben müssen, heutigen Geringverdienern ein materiell würdiges Leben im Alter zu ermöglichen. Dies ist kein „Jammern“ über den Niedriglohnsektor; schlecht bezahlte Arbeit ist in fast jeder Hinsicht für die Gesellschaft und auch die Betroffenen besser als keine Arbeit. Dennoch lohnt 3.2 Rentenversicherung 93 <?page no="94"?> sich ein Blick in die Schweiz, die auch ein anderes Demokratiemodell praktiziert als Deutschland, wie dort mit gering qualifizierter Arbeit und deren Vergütung umgegangen wird. Diversifikation Grundsätzlich ist es sinnvoll, Vermögen in unterschiedliche Assets, deren Rendi‐ teverteilungen bei positiven erwarteten Renditen möglichst gering korreliert sind, aufzuteilen. Hier bieten sich zur Bestimmung der Anteile des zu investierenden Vermögens u.a. die naive Diversifizierung (in jede Anlage wird der gleiche Prozent‐ satz des Vermögens investiert) oder auch die Anwendung der Markowitztheorie an, bei der üblicherweise eine minimale Zielrendite vorgegeben wird und im Anschluss die prozentualen Beiträge der einzelnen Assets zur Ermittlung des korrespon‐ dierenden varianzminimalen Portfolios berechnet werden. Beide Ansätze haben indes Grenzen, insbesondere wenn nicht teilbare „teure“ Assets wie Immobilien Bestandteile des Portfolios sind. Und wenn es weltweit crasht, dann crasht es weltweit, d.h., der Diversifizierungsnutzen, der aus der Korrelationsstruktur der unterschiedlichen Anlagen in „Normalzeiten“ gewonnen wurde, wird deutlich reduziert. Einordnung und Ausblick Deutschland (und Europa) wird älter, es werden nicht genug Kinder geboren, um den biologischen Bestand der europäischen Nationen „aus eigener Kraft“ dauerhaft auf dem aktuellen Niveau zu erhalten. Besonders hart betroffen sind ländliche Räume in fast allen europäischen Staaten und in ihrer Gesamtheit die ärmeren Staaten am geografischen Rande der EU. Mittelfristig werden die Staaten nicht alle ihnen heute obliegenden Aufgaben (Straßenbau bzw. -instandhaltung, wohnortsnahe Kindergärten und Schulen, Kran‐ kenversorgung, etc.) flächendeckend aufrechterhalten können. Spiegelbildlich stieg - jedenfalls vor Ausbruch der Corona-Pandemie - der Preisdruck auf den Wohnungs‐ märkten in den Ballungsgebieten und sank die Werthaltigkeit von Wohnimmobilien in vielen ländlichen und kleinstädtischen Regionen. Der mittel- und langfristige Erfolg von Zuwanderung hängt von deren Komposition sowie von staatlichen und privaten Anstrengungen ab, Zuwanderer in die Gesellschaft zu integrieren, d.h. insbesondere, sie in bezahlte (bzw. gut genug bezahlte, um davon anständig leben zu können) Beschäftigungsverhältnisse zu bringen. 3 Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung 94 <?page no="95"?> Exkurs: Das Bruttoinlandsprodukt Erste Versuche, das nationale Einkommen zu schätzen, gehen auf das 17. Jahrhundert in England zurück: William Petty und Gregory King legten die Grundsteine für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR). Das bei Weitem bedeutendste Maß für die Stärke einer Volkswirtschaft ist das Bruttoinlandsprodukt, dem wir bereits im Exkurs zur Statistik am Ende von Kapitel 2 begegnet sind. Grob gesagt handelt es sich beim BIP um den in Geld gemessenen Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb eines Staatsgebietes erwirtschaftet werden. Es wird also gemessen, was in Geld bezahlt wurde und was besteuert wurde. Lebensqualität, die durch Nachbarschaftshilfe, Haushalts- und Kin‐ dererziehungsarbeit gewonnen wird sowie Elemente der Schattenwirtschaft gehören nicht dazu. Das BIP kann über drei verschiedene Wege ermittelt werden: In der Entstehungs‐ rechnung wird die Wertschöpfung aller Produzenten als Differenz zwischen dem Wert der produzierten Waren und Dienstleistungen und dem Vorleistungsverbrauch berechnet, wobei die Gütersteuern hinzugefügt und die Gütersubventionen abgezogen werden. Die Verwendungsrechnung ermittelt das BIP als Summe aus privatem und staatlichem Konsum, Investitionen und Außenbeitrag. Bei der Verteilungsrechnung wird das BIP aus der Summe der Arbeitnehmerentgelte, der Unternehmensgewinne und der Vermögenserträge in der Volkswirtschaft berechnet. Rechnungswesen ist nicht neutral, es „lässt sich den Zwecken einer Organisation entsprechend formen, was wiederum Einfluss auf die weitere Entwicklung dieser Orga‐ nisation nehmen kann.“ (Mazzucato, S. 111) Dies können Sie sich verdeutlichen, indem Sie auf Betriebsebene die Grundprinzipien des HGB und diejenigen der amerikanischen Rechnungslegung IFRS gegenüberstellen. Ebenso ist es nicht zeitinvariant. Historisch interessant ist vor allem die Entwicklung der Produktionsgrenze. Der französische Nationalökonom (den Begriff Volkswirt gab es damals noch nicht) Quesnay betrachtete im 18. Jahrhundert zum Beispiel die Landwirtschaft, Fischerei, Jagd und den Bergbau als produktiv, die Haushalte, den Staat und sogar die Industrie hingegen nicht. So wird verständlich, dass der Begriff des Wachstums in der Ökonomie erst im frühen 19. Jahrhundert dauerhaft auftauchte, da Kapital theoretisch unbegrenzt wachsen kann, Boden, der bis dato wichtigste Produktionsfaktor, hingegen naturgemäß beschränkt ist. Die wichtigste Änderung in der VGR fand schließlich in den 1970er Jahren statt, in denen übrigens auch der Goldstandard beerdigt wurde. Erst vor weniger als 50 Jahren wurde begonnen, den Finanzsektor in die Berechnung des BIPs miteinzubeziehen. Davor wurde das Finanzwesen nur als Transformationssektor, der nicht produktiv war, betrachtet. Beim BIP handelt es sich kurz gesagt um eine „in Entwicklung begriffene gesell‐ schaftliche Konvention [..], die sich weder durch physikalische Gesetzmäßigkeiten noch durch absolute ‚Realitäten‘ definiert, sondern Ideen, Theorien und Ideologien der jeweiligen Ära reflektiert, in der sie entstanden ist.“ (Mazzucato, S. 111) Exkurs: Das Bruttoinlandsprodukt 95 <?page no="96"?> Nach dem bereits gesehenen (vgl. inbesondere den Exkurs zum täglichen Umgang mit Zahlen und Statistik am Ende von Kapitel 2) ist es schlicht aberwitzig, die Entwicklung bzw. den Zustand einer Volkswirtschaft aus einer einzigen Größe ableiten zu wollen. Maßzahlen, die die Dominanz des BIP bisher aber nicht beeinträchtigten, gibt es reichlich; z.B. den Gini-Index, den Engels-Koeffizienten, den Human Development Index, diverse Glücksindizes und den Better-Life-Index der OECD. Gegen das BIP werden allerdings noch weitere konzeptionelle Gründe ins Feld geführt: 1. Das BIP enthält Größen, die lediglich Wohlstandseinbußen ausgleichen, obwohl tatsächlich nur beschädigte oder verloren gegangene Bestandswerte wie Schä‐ den an Häusern nach einem Sturm wiederhergestellt wurden. 2. Das BIP erfasst zahlreiche Effekte nicht, die den Wohlstand mitbestimmen. Dies betrifft Umweltverschmutzung wie unbezahlte Arbeit. 3. Für die Berechnung des BIPs ist es egal, ob jemand seine Arbeit mit Freude oder aus Zwang erfüllt. Die „heilige Kuh“ zeitgenössischer Wirtschaftstheorie und -politik ist indes das Wachs‐ tum des Bruttinlandproduktes. Wenn von Wachstum des BIPs geredet bzw. darauf abgestellt wird, stellen sich unmittelbar Fragen, wozu das Wachstum da sein soll und was wachsen soll. Diese Fragen sind unabhängig von Umweltfragen gerade deshalb relevant, weil die materiellen Bedürfnisse der überwiegenden Mehrheit der Menschen in den Industrieländern längst gedeckt sind und die meisten Menschen „von dem Geld, das sie nicht haben, Dinge kaufen, die sie nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die sie nicht mögen.“ [42] Wachstum einer Wirtschaft heißt zuallererst, dass der „Gesamtkuchen“, der aufge‐ teilt werden kann, größer wird. Das bedeutet etwas vereinfacht, dass es „Akteure“ gibt, die ihr Einkommen erhöhen können, ohne das Einkommen anderer Akteure zu verringern. Es handelt sich somit nicht um ein Nullsummenspiel (s. Exkurs zu Kapitel 8), bei dem der Gewinn eines Akteurs den Verlust eines anderen Akteurs bedingt. In den entwickelten Ländern führte dies bis vor ca. 10-20 Jahren dazu, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen einen im historischem Maßstab gesehen beträchtlichen materiellen Wohlstand genoß, ohne dass die wirklich Reichen etwas hergeben mussten. Auf globaler Ebene führte die Arbeitsteilung dazu, dass ein Großteil der Menschen, die in sich entwickelnden Ländern leben, ihrer vormaligen absoluten Armut entkommen konnten. Die alten Industrieländer konnten somit verfolgen, wie der Rest der Welt wohlhabender wurde, ohne etwas abgeben zu müssen. Damit wurde, jedenfalls für eine gewisse Zeit, technischer Fortschritt mit weitgehender Vollbeschäf‐ tigung verbunden. Kurz gesagt hat das Wachstum der vergangenen Jahrzehnte die betroffenen Gesellschaften befriedet. Auch wenn die Wirtschaft in Deutschland nicht mehr wächst, könnte unser Ein‐ kommen längerfristig stabil bleiben oder gar steigen, wenn deutsche Unternehmen auch in Zukunft im Ausland entsprechende Gewinne erwirtschaften und diese wieder 3 Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung 96 <?page no="97"?> 20 Man könnte, wenn man wollte, daraus ableiten, dass das BIP reicher Länder zu hoch ist und die Frage ableiten, wie das BIP sinnvoll reduziert werden kann. nach Deutschland zurückfließen. Die Krux ist allerdings, dass globales Wachstum nötig ist, damit unsere heutige Wirtschaft wie gewohnt funktioniert. Dass wir uns offensichtlich an einem historischen Wendepunkt befinden, hat zahl‐ reiche bestimmende Faktoren, von denen die sich ändernde Demografie die wichtigste Ursachengruppe darstellt. Wenn in alternden Gesellschaften immer weniger Menschen immer mehr Menschen versorgen müssen, könnte dieses Problem theoretisch durch Wirtschaftswachstum, das dann primär auf Innovationen bzw. technischem Fortschritt basiert, eingehegt werden (s. Kapitel 10). Falls dies nicht gelingt, wird der Gesamtku‐ chen a priori kleiner und wir stehen, wenn wohl auch nicht zuerst in Deutschland, sehr bald nicht mehr nur vor theoretischen Diskussionen zur Einkommens- und Vermögensverteilung. Die Glücksforschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer inter‐ essanten neuen wissenschaftlichen Disziplin im Schnittpunkt von Psychologie, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften entwickelt. Bekanntester Vertreter ist der Schweizer Professor Bruno Frey. Außer Frage steht dabei, dass Glück schwer messbar und damit international auch schwer vergleichbar ist. Rankings, in denen die Schweiz, Bhutan oder verschiedene Südseeinseln auf den Spitzenplätzen rangieren, bedienen somit offensichtlich die Wünsche ihrer Empfänger. Glück oder das Streben nach Glück ist westliches Denken. Die berühmteste Festlegung finden wir in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: Dass „the pursuit of happiness“ zu den selbstverständlichen Wahrheiten gehöre. Etwas auch nur ansatzweise Vergleichbares findet sich im Konfuzianismus nicht. Bekannt ist, dass eine gute Bildung, lange Lebenserwartung, gute Gesundheits‐ versorgung und materieller Wohlstand noch lange nicht glücklich machen. Das „Paradebeispiel“ dafür ist Japan: Während sich das Bruttoinlandprodukt per capita von 1958 bis 1991 in etwa versiebenfacht hatte, ging die life satisfaction bei geringen Schwankungen sogar leicht zurück. 20[43] Dies geht sogar weiter als das sogenannte Easterlin-Paradox, das „nur“ besagt, dass die Erhöhung des BIP ab einer gewissen Schwelle nicht mehr mit einer Verbesse‐ rung des Glücksgefühls einhergeht. Dies ist auch nicht wirklich überraschend, da „glücklich sein“ schlecht gesteigert werden kann. Der große griechische Philosoph Aristoteles entwarf in seiner Tugendethik keine Regeln, sondern er stellte auf Haltungen ab. Sind diese Haltungen tugendhaft, stellt sich Glück von allein ein. Hier war ihm John Maynard Keynes ca. 2300 Jahre später mit seinem Wunsch nach einem guten Leben sehr nah. Das Problem liegt wie so oft in den Begriffen; was also Glück ist bzw. besser was darunter verstanden wird. Ist der Wunsch nach „größtmöglichem Glück“, wie Exkurs: Das Bruttoinlandsprodukt 97 <?page no="98"?> 21 Die durchschnittlichen Arbeitszeiten sind durchaus unterschiedlich. Keynes glaubte, ein vernünftiges politisches oder eher ein ethisches Prinzip, wie der Philosoph David Hume (1711-1776) es darlegte? Erinnern Sie sich hieran, wenn wir in Kapitel 13 das mehr als 2000 Jahre existierende Ideal der alten wie der heutigen Chinesen, Harmonie zwischen Himmel und Erde zu erreichen, besprechen werden. Sehr empfohlen sei Ihnen an dieser Stelle ein weiteres Vater-und-Sohn-Buch: Robert und Edward Skidelskys „Wie viel ist genug: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens“. Das Buch wurde in seinem Erscheinungsjahr 2012, zum Höhe‐ punkt der Finanzkrise, sehr wohlwollend aufgenommen, geriet aber mit zunehmender Erholung der Weltwirtschaft wieder schnell in Vergessenheit. Ebenso ist von den bereits erwähnten „Rufen“ nach einer besseren Volkswirtschaftsausbildung an den Hochschulen nur punktuell etwas geblieben. Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 3.1: Analysieren Sie den Verlauf der Mietsowie Kauf- und Verkaufspreise für Eigentumswohnungen in Ihrem Landkreis bzw. in der kreisfreien Stadt, in der Sie wohnen, von 2000 bis 2020. Machen Sie sich wie in Übung 2.2 die methodischen Probleme bei der Datenge‐ winnung klar, analysieren Sie, wie Sie damit umgehen, und erläutern Sie die Resultate Ihrer Analyse. Übung 3.2: Ermitteln Sie den aktuellen Krankenkassen-Beitragssatz der Techniker Krankenkasse. Wie wird die Aufteilung der Beiträge zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorgenommen? Übung 3.3: Studieren und interpretieren Sie die Entwicklung der Bundeszu‐ schüsse zur gesetzlichen Rente. Übung 3.4: Was versteht man unter einer „Rürup-Rente“? Aufgabe zur Selbstreflexion (ohne Lösungshinweise): Wählen Sie fünf europäischen Staaten (inklusive Schweiz, Norwegen, Island, Ukraine, Belarus usw.) und ordnen Sie diese Länder zu zwei Zeitpunkten, die mindestens drei Jahre auseinanderliegen, nach Ihrem BIP per capita. Versuchen Sie, die veränderten Rangfolgen zu begründen. Ermitteln Sie in einem zweiten Schritt, welche Arbeitszeit 21 in den einzelnen Ländern hinter den BIP per capita-Werten stehen. Versuchen Sie wiederum diese Durchschnittswerte zu verstehen: Zahlreiche Wohlhabende oder Reiche würden 3 Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung 98 <?page no="99"?> vielleicht gern weniger, während Geringverdiener gern mehr arbeiten würden; der Druck während der Arbeitszeit ist unterschiedlich usw. Wo würden Sie c.p. (z.B., Sie sprechen die Sprache oder Sie stellen sich vor diese zu beherrschen) gern leben? Begründen Sie Ihre Überlegungen. Übungen zur Selbstüberprüfung 99 <?page no="101"?> 4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit Es besteht weitgehend Konsens in unserer Gesellschaft, dass Deutschlands Zukunft wesentlich vom Bildungsstand seiner Bürger abhängen wird. Obwohl wir uns offen‐ sichtlich einig sind, dass Bildung eine notwendige Voraussetzung für qualifizierte Arbeit darstellt, lassen wir zu, dass die öffentliche Diskussion im wesentlichen um administrative und organisatorische Fragen von Kitas, Gymnasien und die Hochschul‐ bildung kreist. Der Verlauf der Corona-Krise hat uns auch hier verdeutlicht, dass es zahlreiche Baustellen - von einem überalterten Lehrkörper an den öffentlichen Schulen und damit verbunden mangelnden Digitalkenntnissen eines Teils der Lehrerschaft - bis hin zur Erstellung von Konzepten für die zukünftige Ausbildung der Kinder und Jugendlichen gibt. Die wichtigste Herausforderung, vor der unsere Gesellschaft nach oder mit Corona steht, ist die Wiederaufnahme eines Schulbetriebes, der diesen Namen verdient. Dies kann und wird nicht vom Staat allein gewährleistet werden können, sondern es erfordert den Einsatz der viel beschworenen Zivilgesellschaft und das sind in diesem Fall nicht nur die Eltern der betroffenen Kinder. Ich habe bereits an mehreren Stellen angedeutet, dass Finanzkennzahlen allein einen unzureichenden Eindruck von der Leistungsfähigkeit eines gesellschaftlichen Teilsystems vermitteln. Dann hätten die USA vermutlich auch das beste Gesundheits‐ system der Welt und die Bundeswehr wäre eine der stärksten Armeen der Welt. So wie der ausschließliche Fokus auf die Staatsschulden eines Landes ohne Kenntnis der Unternehmens- und privaten Haushaltssschulden zwangsläufig verengt, müssen wir hier die Gesamtanstrengungen der Gesellschaft für Bildung, von denen nur ein Teil in das BIP eingeht, berücksichtigen. Nichtsdestotrotz ist es sinnvoll, uns einen ersten Zugang bezüglich der gegenwärtigen Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems über eine Analyse der Ausgaben für Bildung zu verschaffen. Hier steht Deutschland im Vergleich der entwickelten Länder relativ schlecht da: Die Gesamtausgaben für Bildung (also inklusive privater Bildungsträger und betrieblicher Weiterbildung) beliefen sich in den vergangenen Jahren auf ca. 9% des BIPs [44] , wobei die Ausgaben der öffentlichen Haushalte davon in etwa die Hälfte betrugen. [45] Die Zahlen einschlägiger Quellen bedürfen allerdings zumeist einer Erläuterung bzw. Präzisierung. So gibt das Statistische Bundesamt im Bildungsfinanzbericht 2019 mit ausführlichen Erläuterungen der methodischen Unterschiede für das Jahr 2016 al‐ ternativ die Summen von 164,4 Mrd. Euro als öffentliche Ausgaben laut Bildungsbudget und 129,1 Mrd. Euro als öffentliche Ausgaben laut Finanzstatistik an. In Europa lag die Bandbreite der öffentlichen Ausgaben im Jahre 2015 zwischen 2,7% des BIPs Rumäniens und 7,1% für Schweden. Schweden, Sie erinnern sich, ging nicht nur einen Sonderweg in der Corona-Krise, es hat auch die höchste Lebensarbeitszeit in der EU (der deutsche Wert beträgt demzufolge 5,2 oder 4,1% des BIPs). <?page no="102"?> 22 Das bedeutet unter anderem, dass es 16 Kultusbürokratien gibt, die 16 Abiturregelungen treffen, usw. Dies ist kein Ablehnungsgrund eines förderalen Systems; Effizienz allein stellt ein fragwürdiges Erfolgsbzw. Entscheidungskriterium dar. Auch weil wir wissen, dass die staatlichen Ausgaben für Bildung, die in Deutschland Ländersache sind 22 , nicht effizient sein können, kann Geld bzw. die staatlichen Ausga‐ ben pro Bürger allein nicht der Maßstab für die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems sein. Wichtig zum Verständnis des Gesamtbildes sind somit weniger die Auswirkungen eines kompetitiven Förderalismus als die Beiträge der Familien, des privaten Bildungs‐ sektors sowie die Arbeitsmigration. Bezüglich letzterer geben fast alle entwickelten Länder kein gutes Bild ab, wenn man sich stellvertretend den Anteil ausländischer Ärzte in den OECD-Ländern anschaut. In Deutschland ist inzwischen jeder achte Arzt Ausländer (nach einem von dreißig im Jahre 1990); in der Schweiz sind es mehr als ein Drittel und Großbritannien war bereits vor der Ankündigung des Brexit auf ausländische Ärzte angewiesen. Woher diese kommen und welche Konsequenzen dies für die Entsenderländer hat, erschließt sich fast unmittelbar. [46] Grundsätzlich sind Schul- und Hochschulsysteme denkbar, die ausschließlich privat betrieben werden (und die dabei gewisse staatliche Vorgaben erfüllen müssen und auch finanzielle staatliche Zuschüsse erhalten) und ebenso vollstaatliche Systeme. Praktisch gibt es diese Extrema in der uns zugänglichen Welt nicht: In China gibt es zwar die landeseinheitliche Hochschulaufnahmeprüfung Gaokao, an der z.B. im Jahre 2018 an zwei oder drei Tagen (abhängig von der Provinz) im Juni 9,75 Mio. Schüler in ganz China teilnahmen, wohl aber Privatschulen. [47] Der Anteil der Schüler in Privatschulen ist in der entwickelten Welt sehr unterschiedlich: tatsächlich stellen diese aber überall einen wichtigen Treiber dar, der die staatlichen Schulen zwingt, sich hinreichend „anzustrengen“, damit Menschen, die es sich leisten können, davon abgehalten werden, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken. Das gesellschaftliche Hauptproblem ist, unabhängig von der Struktur des Bildungssektors, ein hinreichendes Maß an Gerechtigkeit (in Deutschland durch das Grundgesetz verbürgt) zu garantieren. In Deutschland gibt und gab es nie dominante Universitäten wie Cambridge und Oxford in Großbritannien oder die historisch jüngeren École Nationale d’Administra‐ tion (ENA) und die École Polytechnique als wichtigste Grandes Écoles in Frankreich. Auch wenn ein Doktortitel in Deutschland als „vergleichbare Währung“ oft noch Karriere und Einkommen befördert, war er, wie ein Abschluss einer „Eliteuniversität“, keineswegs notwendige Voraussetzung für Karrieren in der Privatwirtschaft und im öf‐ fentlichen Dienst. Dass der Absolvent ( Joe Kaeser) einer mittelgroßen Fachhochschule (Regensburg) Chef des größten nationalen Industrieunternehmens (Siemens) werden würde, ist kulturell in China, Russland, Großbritannien, Frankreich und auch den USA kaum vorstellbar. Eine, wenn nicht die Stärke des deutschen Bildungssystems war es, dass man auf unterschiedlichen Wegen zu materiellem Erfolg und gesellschaft‐ licher Anerkennung kommen konnte; sei es als Hauptschulabgänger, der sich über mehrere Etappen zum Handwerksmeister qualifizierte, sei es als Realschulabgänger, der Fachabteilungs- oder Behördenchef wurde oder als Abiturient, der 15 oder 20 4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit 102 <?page no="103"?> 23 Die Verabschiedung der Fachhochschulgesetze und die Errichtung der Fachhochschulen durch die Bundesländer erfolgte in den Jahren von 1969 bis 1972. 24 Die überwiegende Mehrzahl beginnt ihr Studium im Wintersemester. In den letzten 10 Jahren lag das Verhältnis von Bewerbern pro Medizinstudienplatz recht stabil bei knapp 5 :  1. Jahre nach dem Abitur Chefarzt wurde. Bildung war in Deutschland der klassische Weg zum sozialen Aufstieg. Eine wichtige Rolle haben hier im Kaiserreich übrigens die Arbeiterbildungsvereine gespielt. Zudem schrieben die berühmtesten deutschen Professoren in der Kosmos-Reihe populär verständlich und auch mehr als hundert Jahre später zumeist gut lesbare und bildende Abhandlungen zu Archäologie, Astronomie, Botanik, Geschichte, Zoologie, also zu praktisch allen Wissensgebieten ihrer Zeit. Eine hohe Volksbildung galt als ein Wert an sich. 4.1 Bildung im Lauf der Jahrzehnte: Der Weg zu Massenabitur und Massenuniversitäten Während Mitte der 1960er Jahre nur etwa 300.000 Studenten und im Wintersemester 1970/ 71 bereits 422.000 Studierende an den westdeutschen Universitäten eingeschrie‐ ben waren, lag die Zahl der eingeschriebenen Studierenden an Fachhochschulen 23 und Universitäten in Gesamtdeutschland im Jahr 2019 bei knapp 3 Millionen. Adjustiert um den Bevölkerungszuwachs durch die deutsche Wiedervereinigung hat sich die Studierendenzahl in Westdeutschland also innerhalb von etwa 55 Jahren verachtfacht. Dies war natürlich nur möglich, weil die Zahl der Abiturienten stieg. Von ca 10% eines Jahrgangs im Jahre 1970 über knapp 25% im Jahre 1992 stieg der Anteil der Abiturienten auf ca. 40% eines Jahrgangs; mit Fachhochschulreife bundesweit auf mehr als die Häfte. Dabei gibt es durchaus Unterschiede in den Ländern: Die niedrigste Abiturientenquote gab es im Jahre 2018 mit 32,1% Bayern, die höchste mit 54,8% in Hamburg. Der beste Notendurchschnitt wurde mit 2,16 in Thüringen erreicht und der schlechteste Wert mit 2,57 in Niedersachsen. Auch wenn die Unterschiede auf den ersten Blick gering erscheinen: Die Auswirkungen sind nicht nur im Individualfall gravierend. Im Sommersemester 2019 bewarben sich zum Beispiel 18.928 Studenten auf einen der 1.687 Studienplätze in Humanmedizin. 24 Wichtigstes Auswahlkriterium für die Zulassung zum Studium war und ist die Abiturnote. Wenn Ihr ebenso intelligenter wie fleißiger Nachwuchs auf einem „strengen“ Gymnasium in Niedersachsen Abitur machen sollte, ist seine Chance, einen Studienplatz in Medizin zu „ergattern“, also eher gering. [48] Nicht nur ist das Kurssystem in den 16 Ländern unterschiedlich, auch ist eine 1,0 in Hamburg und Thüringen offensichtlich einfacher zu bekommen als etwa in Bayern oder Hessen. Es waren schließlich wesentliche Eigenheiten unseres föderalen Bildungsystems in Verbindung mit der Datenschutz-Grundverordnung DSGVO, die in unseren Schulen während der Hochphasen der Corona-Krise im Frühjahr 2020 und erneut ab Beginn des Jahres 2021 die effektive Durchführung von Online-Unterricht 4.1 Bildung im Lauf der Jahrzehnte: Der Weg zu Massenabitur und Massenuniversitäten 103 <?page no="104"?> spürbar behinderten. Ebenso wurde eine wirksame Unterstützung der Schulen durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen und den Rundfunk - aufgrund der Unmöglichkeit, bei den zersplitterten Lehrplänen wirksam zu unterstützen? - vermisst. In das Gesamt‐ bild passt, dass die Möglichkeit, die Schulen auch an den Wochenenden zu öffnen, während eines vollen Pandemiejahres nicht einmal in Ansätzen diskutiert wurde. Komplexe Lösungen werden oft mit dem Ziel, mehr Gerechtigkeit zu erreichen, begründet: Das deutsche Schulsystem ist aber weder gerecht noch kosteneffizient. Dass die Wenigen (wie z.B. die Schulbuchverlage und die Kultusbürokratie), die tatsächlich von der föderalen Struktur des deutschen Bildungssystems profitieren, eine wirklich starke Lobby darstellen, ist kaum vorstellbar: Es fehlt schlicht der Mut zu einfacheren Lösungen. Bildungspolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik. Tatsache ist, dass Mädchen statistisch mit der modernen Lern- und Studienwelt besser klarkommen als Jungen; das ist in Deutschland das gleiche wie in China oder auch im Iran. Bis zum Geburtsjahrgang 1972 erreichten mehr Männer als Frauen in Deutschland das Abitur, seitdem liegen die Frauen leicht vorn. Diese Entwicklung war politisch gewollt, korrespondierte also seit Mitte der 1960er Jahre zu den dominierenden sozialen Werten bzw. präziser dem angestrebten Wertewandel. Bedenklich oder verwerflich, je nach Perspektive, ist aber, dass im deutschen Schul‐ system weder das Gebot der Vergleichbarkeit der Abschlüsse noch der gerechte Zugang zu Ressourcen gewährleistet ist. Damit ist übrigens nicht der soziale Bias gemeint, dass Kinder studierter Eltern einen Vorteil gegenüber Kindern aus euphemistisch sogenannten bildungsfernernen Schichten haben und dass die Verkäuferin indirekt das Studium des Akademikernachwuchses mitfinanziert. So vernünftig die Öffnung des Abiturs ab den 1960er Jahren war, mit dem Ziel, mehr Kindern aus „Nichteliten“ Zugang zu einer Hochschulbildung zu verschaffen, so fatal wirkte sich dies langfristig auf die eigentliche Abiturqualität aus. Als logische Konsequenz wirkte der massenhafte Zustrom von neuen Studenten bei unzureichend angepasster materieller Ausstattung der Hochschulen auf die Qualität der Hochschul(aus)bildung. Praktisch beobachten wir im langfristigen Verlauf, dass das Abiturniveau seit Jahren sinkt und dass diese Aussage ebenso für zahlreiche Studien an den deutschen Universitäten gilt. Dies ist bis auf Ausnahmen kein Versagen der Lehrer- oder Professorenschaft, sondern ein strukturelles und ebenso inhaltliches Problem. Während es in den Ländern kaum ein echtes Abiturkerncurriculum gibt und insbesondere das Deutsch-Abitur bis zur Beliebigkeit verkommen ist, gilt „Statt einer Einigung auf bestimmte Werke oder Werkauszüge von Lessing, Goethe, Heine, Ringelnatz, Brecht, Hesse oder Zeh wird rein formal als Ziel ausgegeben, sich mit literarischen Texten auseinandersetzen zu können.“ (Brodkorb und Koch, S. 62), wurde an den Hochschulen im Zuge des Bologna-Prozesses seit 1999 europaweit vereinheitlicht, was z.T. nicht mehr zu vereinheitlichen war. Praktisch bedeutet dies in beiden Fällen vielfach ein Rennen zu den niedrigsten Standards. 4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit 104 <?page no="105"?> 25 Ich habe das Glück gehabt, davon in meinem Mathematikstudium nichts mitbekommen zu haben. Ein Mathematikstudium ist übrigens auch heute noch weitgehend das, was es vor 30 Jahren einmal war. Mit den steigenden Abiturientenzahlen musste notwendigerweise das Niveau des Abiturs sinken. Dass sich das Gesamtbild nicht noch schlechter darstellt, ist zahlreichen motivierten und oft unter schwierigen Bedingungen arbeitenden qualifizierten Lehrern und Professoren zu danken. Literaturtipp: Der langjährige Kultusminister Mecklenburg-Vorpommererns Mathias Brodkorb und die Rostocker Universitätsprofessorin Katja Koch haben zu diesem Thema im Frühjahr 2020 die Streitschrift „Der Abiturbetrug“ im zu Klampen Verlag veröffentlicht. Der interessierte Leser findet hier nicht nur viel Deskriptives zur Tätigkeit der Kultusministerkonferenz, sondern ebenso „harte“ Vorschläge, mit dem bekannten Bildungsdilemma umzugehen. Brodkorb und Koch plädieren für weniger Abiturienten und einen Bildungskanon bzw. ein weitgehend bundeseinheitliches Abitur. Unabhängig davon, ob man die Vorschläge der Autoren teilt, ist das Erscheinen des Buches sehr zu begrüßen, als hier eine Diskussionsgrundlage für die Entwicklung der Bildungspolitik dargestellt wird und beiden Autoren eine Grundvertrautheit mit der Materie nicht abzuspre‐ chen ist. Weil hohe Studierquoten politisch gewollt waren und zudem Studienabbüche nicht erwünscht sind, mussten nun notwendigerweise auch die Studienniveaus sinken. 25 Wer jemals eine „echte deutsche Massenuniversität“ von innen gesehen hat, weiß, dass es es dort selbst Vorlesungen mit mehr als 1.000 Studenten gab, wobei Studenten auf den Treppen saßen und der Professor per Video in die Nebenräume des Haupt‐ vorlesungssaals für die dort sitzenden Studenten an die Wand gestreamt wurde. Es ist sehr zu hoffen und, etwas Willen vorausgesetzt, möglich, dass die Corona-Krise dieser Perversion des Bildungsgedankens ein Ende bereitet. [49] Hier handelt es sich nach einem bösen Wort des 1989 verstorbenen Verhaltensforschers Konrad Lorenz um Nutzmenschhaltung. 4.2 Entwertung der Nichthochschulbildung Gesellschaftlich bedeutender als der Qualitätsrückgang im Abitur und an den Hoch‐ schulen ist, dass die Schulformen Realschule und Hauptschule mit dem Trend zum Abitur sozial entwertet wurden. Der ehemalige Kulturstaatsminister im Bundeskanz‐ leramt von Kanzler Gerhard Schröder, Julian Nida-Rümelin, verfasste dazu im Jahre 2014 ein Buch unter dem Titel „Der Akademisierungswahn - Zur Krise beruflicher und 4.2 Entwertung der Nichthochschulbildung 105 <?page no="106"?> akademischer Bildung“, das wohlwollend besprochen wurde, aber wirkungslos blieb. Karrieren wie die von Horst Seehofer vom Realabschluss zum Ministerpräsidenten Bayerns und Bundesminister werden wir vermutlich kaum mehr erleben. Dabei sind wir bereits seit mehr als einem Jahrzehnt an einem Punkt angelangt, dass ein Universitätsstudium nicht fast automatisch ein gutes Lebensgehalt garantiert, sondern dass z.B. ein erfolgreich ausgeübter Handwerksberuf oft zu einem deutlich besseren Lebenseinkommen führt. Lax gesagt gibt es heute also viel zu viele durchschnittliche Massenakademiker vor allem der besonders nachgefragten Geisteswissenschaften für die begrenzt verfügbaren gutdotierten Stellen im öffentlichen Dienst und in den Unternehmensadministrationen. Warum sich nicht mehr junge Frauen und Männer bei offensichtlich vorhandenen gu‐ ten Verdienstmöglichkeiten und dankbaren Kunden in einer alternden Gesellschaft für handwerkliche Berufe entscheiden, kann vermutlich nur mit einer „gesellschaftlichen Abneigung“ gegen körperliche Arbeit, bei der man sich auch noch die Finger schmutzig machen kann, erklärt werden. Die bereits erwähnten surrealen Diskussionen über ein paar Zehntausend „Erntehelfer“ aus Osteuropa, ohne die im Jahre 2020 eine vernünftige Spargel- und Erdbeerernte in Deutschland (bei explodierender Arbeitslosigkeit! ) nicht möglich gewesen sein soll, weisen in diese Richtung. Für Vermutungen, warum sich junge Menschen all dies antun, sei in Analogie auf Hararis Ausführungen zur Frage, warum die Menschen vor ca. 12 000 Jahren das gesündere und bessere Leben der Jäger und Sammler gegen das der Ackerbauern getauscht haben, verwiesen. [50] 4.3 Bildungspolitik und Ideologie Im Jahre 2008 veröffentlichte der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie das Buch „Visible Learning“ (auf Deutsch in etwa „Sichtbare Lernprozesse“), das sich der wohl wichtigsten Frage der Bildungsforschung widmet: „Was ist guter Unterricht? “ Hattie wertete zunächst sämtliche ihm zur Verfügung stehenden englischsprachigen Studien zum Lernerfolg aus und untersuchte z.B. die Bedeutung von Hausaufgaben, Vokabellernen, der Unterstützung der Eltern, zum Sitzenbleiben und zum Förderun‐ terricht. In seine Analyse gingen mehr als 50.000 Einzeluntersuchungen mit 250 Millionen beteiligten Schülern ein. Für die unterschiedlichen Unterrichtsmethoden und Lernbedingungen bestimmte er dann einen jeweiligen Erfolgsfaktor. Das Resultat ist nur auf den zweiten Blick verblüffend: Äußere Strukturen von Schule und Unter‐ richt, wie staatliche versus private Organisation, die materielle Ausstattung und die Klassengröße sind, nach Hattie, was das Lernen betrifft, weitgehend unwichtig: Es kommt hauptsächlich auf den guten Lehrer an. [51] 4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit 106 <?page no="107"?> Egal, ob Sie dies überzeugt oder nicht: Lesen Sie Tschingis Aitmatovs wunder‐ volles Frühwerk „Der erste Lehrer“! Das hat wiederum nichtfinanzielle Implikationen, die die Anerkennung des Lehrer‐ berufs (im weltweiten Vergleich zählen die deutschen Lehrer zu den bestbezahlten) betreffen: Können Lehrer ihre Tätigkeit in einer Art und Weise ausführen, dass sie ihnen Freude und Genugtuung bereitet? Inwieweit können sie in die Erziehung der Kinder eingreifen, ohne das Primat der Familie zu verletzen? Wie werden sie auf der Universität bzw. Pädagogischen Hochschule auf ihren Beruf vorbereitet? Welche Anerkennung erhalten sie von der Gesellschaft für ihre Tätigkeit, und, und, und …? Sie sehen wieder viele Fragen, die unterschiedlich beantwortet werden können, die aber in jedem Fall beantwortet werden müssen! Wir werden uns im Folgenden mit den Rahmenbedingungen von frühkindlicher Bildung, Schulbildung, Berufsausbildung und Hochschulbildung befassen. 4.4 Rahmenbedingungen für Bildung, Bildungseinrichtungen und Bildungsteilhabe Wenn man die Bildungsberichte von 2014 und 2018 nebeneinanderlegt, die von der Kultusministerkonferenz und dem Bundesministrium für Bildung und Forschung herausgegeben wurden, so hat sich das Gesamtbild nur in Nuancen verändert. [52] Das Problemverständnis der staatlich Verantwortlichen lässt sich wie folgt zusam‐ menfassen: 1. Der schrittweise Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge in die Rentenphase sowie geringe Geburtenzahlen begrenzen die zukünftige Erwerbstätigkeit der (bisherigen) einheimischen Bevölkerung. Der Anteil von Personen mit Migra‐ tionshintergrund an der Bevölkerung stieg bereits vor Ausbrechen der Flücht‐ lingskrise 2015 in den jüngeren Altersgruppen stark an. 2. Von den unter 6-jährigen hatte bereits im Jahr 2013 etwa ein Drittel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Der Anteil der Kinder, die in einem erwerbslosen, armutsgefährdeten oder bildungsfernen Elternhaus - in einer Risikolage - aufwuchsen, verringerte sich vor der sogenannten Migrationskrise leicht auf immer noch stolze 30%. Die Anzahl der Bildungseinrichtungen nimmt insgesamt mit dem demografischen Wandel ab; die Sicherung eines wohnortna‐ hen Bildungsangebots ist in Teilen Deutschlands bereits eine Herausforderung. 3. Die Zahl der unter 3-jährigen in der Kindertagesbetreuung und den höher qualifizierenden Bildungsgängen steigt. Problematisch in westdeutschen Groß‐ städten bleibt ein ausreichendes und qualifiziertes Angebot seitens staatlicher 4.4 Rahmenbedingungen für Bildung, Bildungseinrichtungen und Bildungsteilhabe 107 <?page no="108"?> und privater Anbieter. Alleinerziehende Haushalte (ca. 20% aller Haushalte laut 2018er Bericht) stehen hier vor besonderen Schwierigkeiten. 4. Die duale Ausbildung und der Hochschulbereich verzeichnen eine etwa gleich große Zahl an Anfängerinnen und Anfängern. Anders ausgedrückt: Immer mehr junge Leute studieren (dies geht Hand in Hand mit einer Akademisierung zahlreicher Berufe) zulasten einer Berufsausbildung. Von dieser Entwicklung sind nicht nur kleine Unternehmen im ländlichen Raum betroffen. Die Aussagen von Daimler-Chef Dieter Zetsche vom Sommer 2015, unter den Flüchtlingen ge‐ zielt Ausschau nach potenziellen Mitarbeitern zu halten [53] , besagen, dass selbst Unternehmen wie Mercedes-Benz offensichtlich Probleme haben, qualifizierten Blue-Collar-Nachwuchs zu finden. Ob die Entwicklung hin zur Akademisierung zielführend für die deutsche Wirtschaft und damit Gesellschaft sein wird, muss zumindest teilweise bezweifelt werden. Eine gute Nachricht ist indes, dass sich immer mehr junge Menschen berufsbegleitend qualifizieren. 5. Ein oder das zentrale Problem aller Schulformen stellt ein bereits existierender oder absehbarer Mangel an qualifizierten Lehrern dar. Die Länder unternah‐ men vor Corona bereits teils abenteuerliche Versuche, sich Lehrer gegenseitig abzuwerben und diese Lücken mit Seiteneinsteigern zu füllen. Hier ist zu beachten, dass pädagogische Fähigkeiten, die erworben werden müssen, eine umso größere Rolle spielen, je jünger die Schüler sind. Anders ausgedrückt: Die Chance, dass ein ehemaliger Meister oder ein Maschinenbauingenieur ein guter Lehrer an einer Technischen Berufsschule wird, ist deutlich höher, als dass ein ehemaliger Universitätsassistent ein guter Mathematiklehrer in der Mittelstufe wird oder dass Germanisten erfolgreich Schulanfängern das ABC beibringen. 6. Es bleibt insgesamt weiterhin eine starke soziale Ungleichheit bei der Bildungs‐ beteiligung zu konstatieren: Problematisch für Deutschland wie für fast alle EU-Staaten ist die relative Undurchlässigkeit des Bildungssystems. Vereinfacht: Es sind zumeist die Kinder von Akademikern, die an Universitäten studieren. Bemerkung: Mit dieser Argumentation machen wir es uns allerdings wieder zu einfach: So zählen die Kinder vietnamesischer Kontraktarbeiter in der DDR heute zu den statistisch besten Abiturienten in Deutschland. [54] Ebenso sind die Kinder der in den 1990er Jahren zugewanderten Russlanddeutschen sowie die Kinder von Migranten aus dem Iran überdurchschnittlich gute Abiturienten. 4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit 108 <?page no="109"?> 26 Jugendarbeitslosigkeit bezieht sich auf die 15bis 24-jährigen, die sich weder in einem Beschäfti‐ gungsverhältnis noch in einer Ausbildung befinden. 4.5 (Jugend-)Arbeitslosigkeit und Arbeit Intuitiv sollte man nach der Lektüre des Kapitels zur Demografie annehmen, dass der Arbeitsmarkt gerade für junge Menschen gute Aussichten bietet - ein für die Mehrzahl der entwickelten Länder folgenschwerer Trugschluss. Die Jugendarbeitslosigkeit 26 in der EU, aber z.B. auch in der stark alternden Gesellschaft Japans, die nicht durch Außenmigration charakterisiert ist, spricht dafür Bände. Sehr gut qualifizierte junge Menschen finden in der Tat relativ einfach (zumeist in Ballungsräumen) passende Arbeit, aber was es bedeutet, dass der soziale Fahrstuhl (der fraglos auch durch quali‐ fizierte Weiterbildung im Erwachsenenalter determiniert wird) nur noch eingeschränkt funktioniert, kann man z.B. durch einen Blick in einige Vorstädte in Ballungsräumen Frankreichs und inzwischen auch in Teilen deutscher Großstädte erahnen. Abb. 4.2. vermittelt auf Basis von Daten der Europäischen Kommission einen ersten Eindruck des „Dramas“ der Jugendarbeitslosigkeit in Europa, das sich seit ca. 2008 - man spricht seit geraumer Zeit nicht nur für Griechenland und Spanien von einer verlorenen Generation - nicht substanziell verändert hat. Abb. 4.1: Europäische Union: Jugendarbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten im April 2020 (Quelle: Statista) 0,0% 5,0% 10,0% 15,0% 20,0% 25,0% 30,0% 35,0% 40,0% Jugendarbeitslosenquote Abb. 4.1: Europäische Union: Jugendarbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten im April 2020 (Quelle: Statista [55] ) Das eigentliche „Drama“ wird ersichtlich, wenn man die Jugendarbeitslosigkeiten mit den Gesamtarbeitslosigkeiten vergleicht. In vielen EU-Ländern beträgt die Jugendar‐ beitslosigkeitsquote mehr als das Doppelte der Gesamtarbeitslosigkeitsquote. 4.5 (Jugend-)Arbeitslosigkeit und Arbeit 109 <?page no="110"?> Abb. 4.2: Europäische Union: Arbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten im April 2020 (Quelle: Statista) 0,0% 2,0% 4,0% 6,0% 8,0% 10,0% 12,0% 14,0% 16,0% 18,0% Arbeitslosenquote Abb. 4.2: Europäische Union: Arbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten im April 2020 (Quelle: Statista [56] ) Dass die Jugendarbeitslosigkeit z.B. in Spanien und Griechenland seit 2013 von jeweils fast 60% fast halbiert wurden, sollte das Entsetzen, wie wir mit unserer Zukunft umgehen, wenn überhaupt, nur geringfügig vermindern. Seit Ausbruch der Finanzkrise gilt: ■ Viele junge Menschen haben ihre Heimatländer verlassen, um in anderen Ländern Arbeit zu suchen. ■ Viele alte Menschen, die zu Beginn der Finanzkrise arbeitslos waren, sind inzwischen Rentner und werden nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik geführt. ■ Viele junge Menschen, die zu Beginn der Finanzkrise arbeitslos waren und in der Jugendarbeitslosigkeitsstatistik auftauchten, sind immer noch arbeitslos, aber nicht mehr (statistisch) jung. In summa betrug die Jugendarbeitslosigkeitsrate in Europa auf Basis der oben angege‐ benen Statistiken Anfang des Jahres 2020 etwas mehr als das Doppelte der „normalen“ Arbeitslosigkeitsrate. Die Gründe dafür sind vielfältig, zumeist aber struktureller Natur. Hoher Kündigungsschutz (der naturgemäß ältere Arbeitnehmer schützt und damit die Einstellung junger Leute verhindert) und falsche Schwerpunkte im Bildungssystem sind die wesentlichsten Ursachen. Eine weitere interessante Beobachtung ist, dass sich die Anzahl der Studienanfän‐ ger in Ländern mit im Verhältnis zum Einkommen relativ hohen Studiengebühren zumeist verringert, wenn es der Wirtschaft „besser geht“. Dies korrespondiert mit der bereits genannten verlorenen Generation in Spanien: Während der Boomjahre nach Einführung des Euro verdingten sich gerade junge Männer gern „für akzeptables Geld“ als ungelernte oder halbgelernte Kräfte in der Baubranche, anstatt ein Studium aufzunehmen. 4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit 110 <?page no="111"?> Literaturtipp: Mathias Binswanger verweist in seinem Buch „Sinnlose Wettbewerbe“, das in Kapitel 1.2 vorgestellt wurde, darauf, dass gerade die Länder mit einer hohen Abiturquote durch hohe Jugendarbeitslosigkeiten charakterisiert sind (S. 127). Junge Menschen, die nichts als ein Abitur haben, sind auf qualifizierte Tätigkeiten nicht vorbereitet. Dies gilt umso mehr in einer Rezession. Binswanger geht ebenso hart mit der Interpretation der Pisa-Tests, die aus quanti‐ tativen Faktoren auf die Qualität von Bildungssystemen und von dort weiter auf die des Gemeinwesens schließen, ins Gericht. Er listet für den ewigen Primus Finnland auf, dass dies ein Land mit einem sehr hohen Anteil an Alleinerziehenden bzw. Patchwork-Familien ist, in dem - dies alles wird gemessen - Kinder wenig Zeit mit ihren Eltern beim gemeinsamen Essen verbringen, die Kinder kaum Obst essen, was durch eine besondere hohe Unlust der Kinder und Jugendlichen, zur Schule zu gehen und einen hohen Konsum an Nikotin und Alkohol kompensiert wird (S. 129). Last but not least: Die Jugendarbeitslosigkeit in Finnland betrug bereits vor Ausbruch der Corona-Krise ca. 20%. Zusammenfassung und Ausblick Deutschlands Wohlstand war und ist wesentlich vom Ausbildungsstand seiner Bevöl‐ kerung abhängig. Dabei gehört es traditionell zu Deutschlands Stärken, über eine gut ausgebildete und allgemein gebildete Mittelschicht zu verfügen, die weite Teile der Gesellschaft, vulgo vom Facharbeiter bis zum Klinikdirektor, umfasst. Deutschlands Karrierewege waren in der Vergangenheit deutlich weniger durch Abschlüsse an Eliteuniversitäten und die Zugehörigkeit zu Netzwerken oder Seilschaften geprägt als z.B. in Großbritannien und Frankreich. Tatsächlich ist das deutsche Bildungssystem wie unser Gesundheitssystem weder besonders gerecht noch effizient. Zu den langlebigen Lebenslügen der deutschen Bildungspolitik zählt, dass regelmäßig vom Ziel der Herstellung von Chancengleichheit geprochen wird, obwohl praktisch jedermann weiß, dass die Chancen im Leben der Menschen nicht gleichverteilt sind und es auch nicht sein können: Es kann und sollte also politisches Ziel sein, eine Überschreitung eines Höchstmaßes an Chancen‐ ungleichheit zu verhindern. Dass es zahlreiche andere sogenannte entwickelte Länder gibt, in denen das Bildungsniveau wie das Gesundheitssystem schlechter als bei uns sind, kann und darf aus reinen Vernunftgründen für ein Land unserer Größe und wirtschaftlichen Heterogenität keine Ausrede sein. Die Corona-Krise hat Probleme im deutschen Bildungsbereich verstärkt sichtbar gemacht, die vorher bereits existierten. Dazu zählen zuvorderst ein durch nichts zu rechtfertigendes Maß an Chancenungleichheit, eine Überalterung des Lehrkörpers an den Schulen verbunden mit einem zu geringen Stand der Nutzung der Möglich‐ keiten der Digitalisierung für die Bildung (was nicht mit einem Plädoyer für eine 4.5 (Jugend-)Arbeitslosigkeit und Arbeit 111 <?page no="112"?> Digitalisierung von fast allem gleichzusetzen ist), eine mangelhafte Ausstattung vieler Hochschulen gerade in Massenstudienfächern und Antworten auf die Frage, wie Kinder aus den sogenannten bildungsfernen Schichten durch Bildung sinnvoll ins Zentrum oder auch an die Spitze der Gesellschaft geführt werden können. Die sich nicht erst seit der Migrationskrise verändernde Demografie und die Tendenz zu mehr Individualismus stellen, verbunden mit dem technologischen Wandel, das deutsche Bildungssystem vom Kindergarten bis hin zur Universität in ländlichen wie in Ballungsräumen vor große Herausforderungen. Die Integration der zumeist jungen Mi‐ granten, deren Qualifikationen nicht den Anforderungen des deutschen Arbeitsmarkts genügen, erfordern massive Anstrengungen aller staatlichen Ebenen in Verbindung mit privaten Initiativen, um im sozial unteren und damit zumeist unterdurchschnittlich gebildeten Teil der Gesellschaft keine Verdrängungswettbewerbe und das Verfestigen einer „abgehängten“ Unterschicht zu erlauben. In kaum einem anderen Land wird Bildung so stark diskutiert wie in Deutschland, wobei der die Schulbildung betreffende Fokus zumeist auf Lehrmethoden, Klassen‐ größen und Klassenzusammensetzungen ruht. Die in der deutschen akademischen Pädagogik vorherrschende „Ideologie“, dass die Schule in einer sich schnell verändern‐ den Welt Kompetenzen an Stelle von (schnell veralterndem) Wissen vermitteln soll, ignoriert die Tatsache, dass Sätze Vokabeln und Grammatik erfordern und Kompeten‐ zen Inhalte voraussetzen. Literaturtipp: Eine wohltuend pragmatische Sicht auf die Dinge entwickelt der Youtuber Daniel Jung in seinem Buch „Let’s Rock Education“. Jung hat seit 2011 mehr als 2.500 „Erklärvideos“ zu mathematischen Inhalten von Klasse 5 bis zum Ingenieurstudium erstellt; sein Kanal hat 677.000 Abonnenten (Stand August 2020), einzelne seiner Videos wurden mehr als 1 Million mal aufgerufen. Jung benennt als Internetpäda‐ goge und -unternehmer von der Dauer der Lerneinheiten bis hin zu ungeeigneten Schulgebäuden zwar diverse technische Unzulänglichkeiten der heutigen Schulbil‐ dung. Er verweist aber darauf, dass eine Schule nicht gleich besser wird, wenn jeder Schüler ein Tablett in der Hand bzw. auf dem Arbeitstisch liegen hat. Jung ruft keine systemische Konkurrenz zwischen alten und neuen Lernmedien aus, sondern er sucht Anknüpfungspunkte, um Schülern und Lehrern das Leben einfacher machen. Uns allen ist bei der Lösung von realen Problemen - und davon gibt es genug - weniger Ideologie und mehr Pragmatismus und Kooperation aller gesellschaftlichen Stakeholder zu wünschen, um die heutige Jugend angemessen auf ihr Erwachsensein vorzubereiten. 4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit 112 <?page no="113"?> Exkurs: Zur gesellschaftlichen Diskursfähigkeit Unbestreitbare gesellschaftliche Wahrheiten gibt es, wenn überhaupt, nur sehr wenige. Auch die jeweiligen Experten sind sich vielfach nicht einig, wenn es um die Be‐ schreibung eines fast jeden komplizierten sozialen Phänomens sowie, falls überhaupt zuordenbar, dessen Ursachen und Wirkungen geht. Dabei ist das nicht verwunderlich; zum Wesen der Wissenschaft gehört die Kontroverse und damit die Bereitschaft, Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Absolute Objektivität und Neutralität kann es somit nicht geben. Denken Sie hier ex‐ emplarisch an die Expertenäußerungen und öffentliche Diskussionen zu Mundschutz, Reproduktionsraten, Kontaktverboten, usw. ab dem Frühjahr 2020. Die Konsequenz kann allerdings nicht sein, dass alles nur noch Meinung ist. Tatsächlich gibt es Aussa‐ gen, die auf nachprüfbaren Fakten beruhen, die, wenn schon nicht von jedermann, so doch von fast allen Menschen anerkannt werden sollten und die über „Die Erde dreht sich um die Sonne.“ hinausgehen. Eine gängige Definition von Journalismus als „zusammenfassende Bezeichnung für Tätigkeiten, durch die aktuelle Informationen für die Öffentlichkeit inhaltlich gestaltet werden“ [57] macht dies deutlich. Mit dem diffusen Unbehagen des Nichtwissens oder nicht wirklich wissen und sinkenden Auflagen bzw. Reichweiten (vgl. die Ausführun‐ gen zur Rolle der Technologien in Teil II dieses Buches) sind ganz sicher nicht alle, aber viele Journalisten der Leitprintmedien sowie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens, dazu übergangen, Meinungs- oder „Betroffenheitsjournalismus“ zu verfassen. Sie unterscheiden sich damit in dieser Hinsicht qualitativ kaum von Schrei‐ bern sogenannter alternativer Medien. Dabei gibt es jeweils eine „Hauptströmung“ und ihre Opponenten, die beide nicht vorhaben, miteinander zu reden bzw. die andere Seite zu überzeugen. „Wer die deutsche Flüchtlingspolitik der Jahre 2015 ff. für grundlegend verfehlt hält, hat in vielen Verlagshäusern einen schweren oder gar keinen Stand. Ähnlich erginge es allen, die die deutsche Klimapolitik für überdimensioniert, die Energiewende für kopflos halten und Zweifel an der immer engeren Europäischen Union haben. Wie es auch Medien gibt, die kaum jemanden zu Wort kommen lassen, der in Angela Merkel nicht eine große Verderberin des deutschen Volkes sieht. In beiden Fällen hat die vorgefestigte Meinung Vorrang vor allem anderen.“ [58] schrieb Thomas Schmid dazu in der Welt. Mit anderen Worten: In solchen Fällen steht das Ende der Argumentation, das auf dem „Wertekanon“ des Journalisten beruht, bereits am Anfang fest. So wurden AfD-Wähler in Mecklenburg bereits vor Jahren bei ARD und ZDF jahrelang als Rum‐ lungerer in Jogginghosen porträtiert und Leser, die Beiträge über die Rassenunruhen in den USA und Großbritannien im Frühjahr 2020 verfolgten, wussten sehr schnell, wer die Guten und wer die weniger Guten waren. [59] Der Journalist Jan Fleischhauer höhnte dazu über „das Plündern von Gucci-Läden als antifaschistischen Widerstandsakt“. [60] Auf dem Parkett der internationalen Politik sind die Rollen der Schurken für Wla‐ dimir Putin, Viktor Orban und Donald Trump und gelegentlich den PiS-Vorsitzenden Exkurs: Zur gesellschaftlichen Diskursfähigkeit 113 <?page no="114"?> 27 Der Zweck scheint auch hier wieder die Mittel zu heiligen. Während der ehemalige Sicherheitsberater des US-Präsidenten John R. Bolton während seiner Amtszeit als „Gottseibeiuns“ in fast allen deutschen Medien beschrieben wurde, wurde er, als er in einem Buch im Frühsommer 2020 gegen seinen Ex-Chef austeilte, von denselben Medien ausgiebig zitiert. 28 Sehr empfohlen sei in diesem Zusammenhang das Buch des wohl bekanntesten Oberbürgermeisters Deutschlands, Boris Palmer aus Tübingen, „Erst die Fakten, dann die Moral! Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss“. 29 S. auch Kapitel 10.8. Jarosław Kaczyński reserviert. 27 Während über Jahrzehnte Hans-Joachim Friedrichs’ Maxime für guten Journalismus „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken…“ [61] wenigstens oberflächlich zu gelten schien 28 , vermeldete Philipp Oehmke am 11.06.2020 zu Gegenwart und Zukunft des Journalismus auf SPIEGEL Online „Die Zeit der Neutralität ist vorbei“. 29[62] Die Frage, ob und inwieweit in Deutschland Meinungsfrei‐ heit herrscht, war offensichtlich so relevant, dass sie am 23. Oktober 2019 Thema im Bundestag war. [63] Im August 2019 konterte Bundeskanzlerin Merkel auf einer öffentlichen Veranstaltung in Stralsund, auf der ihr von einem Teilnehmer vorgeworfen wurde, dass ihre Politik verantwortlich für den Verlust von Meinungsfreiheit sei, dass die Tatsache, dass diese Aussage so öffentlich getroffen werden könne, doch ein Beweis für Meinungsfreiheit und lebendige Demokratie sei. [64] So richtig diese Replik ist, so sehr bedarf sie einer Einordnung. In der Shell-Jugendstudie von Oktober 2019 [65] gaben mehr als zwei Drittel aller Jugendlichen im Alter von 12-15 Jahren an, dass man in Deutschland nichts Schlechtes über Ausländer sagen dürfe, weil man sonst als Rassist gelte. In das gleiche Horn stieß Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach, als es in etwa zeitgleich mitteilte, dass die Mehrheit der Bundesbürger glaube, sich zu bestimmten Fragen nicht mehr offen äußern zu können. [66] Besonders betroffen ist der Diskurs (bzw. dessen Abwesenheit) an den Universitäten in Verbindung mit dem individuell verständlichen vorauseilenden Gehorsam, den ge‐ rade Vertreter der Geisteswissenschaften entwickelten, um einigermaßen schmerzfrei ihren Dienst ausüben zu können. Fälle wie Münkler-Watch, die Verunglimpfung des Slawisten Jörg Baberowski, beide Professoren an der Humboldt-Universität Berlin, die erzwungenen Vorlesungsabbrüche von Bernd Lucke an der Uni Hamburg, Diskussio‐ nen zu einer „Kopftuchtagung“ (die verantwortliche Professorin der Uni Frankfurt Susanne Schröter wurde mit dem Totschlagargument des Rassismus angegriffen) sind nur die bekanntesten, die es in die überregionalen Medien geschafft haben. Letztlich aber erzeugt auch die Androhung von verbaler Gewalt und Stigmatisierung bei uns ebenso Verhaltensänderungen wie im Rest der Welt. In der angelsächsischen Welt ist die Situation keinesfalls besser: Sie kann es auch nicht sein, weil der Terminus der micro aggressions, mit dessen Begründung sich schließlich jedermann irgendwie angegriffen und diskriminiert fühlen kann, aus den USA stammt. Noch vor der „Ächtung“ der Harry Potter-Autorin Joanne K. Rowling, die sich auf Twitter mit „People who menstruate. I'm sure there used to be a word for those people. Someone help me out. Wumben? 4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit 114 <?page no="115"?> 30 Konkret soll Hunt über Frauen im Labor gesagt haben (es gibt keine Aufzeichnungen): „Drei Dinge geschehen, wenn sie im Labor sind: man verliebt sich in sie, sie verlieben sich in einen, und wenn Sie sie kritisieren, weinen sie. Vielleicht sollten wir getrennte Labore für Jungen und Mädchen haben.“ Vgl. https: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ medien/ tim-hunt-der-witzelnde-professor-verliert-seine n-posten-13706470.html 31 Im Exkurs zu Kapitel 15 werde ich darlegen, dass Rassismus ein Begriff des 20. Jahrhunderts ist. Somit wird bei solchen „Diskussionen“ neben der Unschuldsvermutung ein zweiter zentraler juristischer Grundsatz zivilisierter Gesellschaften verletzt. Dass man jemanden nur nach den zu seiner Zeit an seinem Ort gültigen Gesetzen anklagen kann. Wimpund? Woomud? " [67] geäußert hatte und darauf einen Shitstorm auf sich zog, war das für mich niederschmetterndste Individualereignis der öffentliche Umgang mit Medizinnobelpreisträger Tim Hunt, der im Jahr 2015 auf Grund einer im schlimmsten Fall geschmacklosen Bemerkung zur Arbeit von Männern und Frauen in Laboren seine Posten und Reputation im englischen Wissenschaftsbetrieb verlor. 30 In dieses Gesamtbild passt auch die im Sommer 2020 gestellte Frage, ob Immanuel Kant ein Rassist gewesen sei. 31 Die auf noch lebende öffentliche Personen zu beobachtenden Angriffe (unabhängig davon, ob und inwieweit sie - Perception remains Reality - inhaltlich vertretbar sind oder nicht) kommen zumeist als inhaltliche Kritik verbrämt daher; sie zielen aber auf die Menschen selbst, bis hin zur gesellschaftlichen Vernichtung. Rationale Menschen werden sich also vielfach dreimal überlegen, ob und wie sie sich öffentlich äußern werden mit dem Risiko, deshalb persönlich angegriffen zu werden. Aus diesem Grunde gibt es vermutlich auch bedeutend mehr zeitgenössische Bücher zur Mikroökonomie und zur Wirtschaftsmathematik als zur Wirtschaftspolitik. Vielleicht schätzen die Meinungsmacher die Menschen aber nur schlechter ein, als sie tatsächlich sind: Auf die Frage, welche Art von Nachrichten bevorzugt werde, solche, die den eigenen Standpunkt wiedergeben, den eigenen Standpunkt hinterfragen oder solche, die keinen Standpunkt erkennen lassen, antworteten Anfang 2020 80% der Befragten in Deutschland, dass sie Nachrichten ohne erkennbaren Standpunkt präferierten. [68] Die Blattmacher sowohl des SPIEGEL als auch der Zeit entschieden übrigens im Juli 2020, ihre jugend-bildenden Rubriken unter den Titeln Ze.tt und Bento mangels Interesse (d.h. Klicks) einzustellen. Mit Erziehung durch die Medien ist es also immer noch diesselbe Sache: Man erinnere sich an Bertolt Brechts Aufforderung an die Regierung, diese solle sich doch ein neues Volk wählen. (1953, Die Lösung in Buckower Elegien). Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 4.1: Inwieweit vermuten Sie einen statistischen Zusammenhang zwischen guter Wirtschaftslage und der Anzahl der Studienanfänger? Wie würden Sie Studienanfänger und wirtschaftliche Lage operationalisieren? Übungen zur Selbstüberprüfung 115 <?page no="116"?> Übung 4.2: Seit Beginn des Jahres 2015 gilt in Deutschland weitgehend ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von zunächst 8,50 Euro pro Stunde, der inzwi‐ schen mehrfach erhöht wurde. Erläutern Sie die Charakteristika des gesetzlichen Mindestlohns verbal. Was spricht grundsätzlich für und was gegen Mindestlöhne? Übung 4.3: Erläutern Sie Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig‐ keit in der EU. Übung 4.4: Recherchieren Sie die zukünftigen Berufsaussichten für Jugendliche in Deutschland. Welches sind die gefragtesten Berufe seitens der Arbeitnehmer und seitens der Arbeitgeber? 4 Bildung, Arbeit und Arbeitslosigkeit 116 <?page no="117"?> 5 Die deutsche Volkswirtschaft im Weltmaßstab Nachdem der geopolitische Hintergrund, in den die deutsche Gesellschaft und damit die Volkswirtschaft eingebettet sind, und der demografische Wandel sowie die Themen soziale Sicherungssysteme, Bildung und Arbeitslosigkeit betrachtet wurden, kommen wir wieder zum Status quo zurück, diesmal aus wirtschaftlicher Sicht. Bevor wir uns jedoch der aktuellen Lage der deutschen Volkswirtschaft zuwenden, versuchen wir einen ersten „Vogelflug“. Offene Volkswirtschaften müssen einerseits „spezialisiert“ sein, da ihre Unterneh‐ men international konkurrieren, andererseits aber auch hinreichend diversifiziert sein, um den Verlust der Vorzüge der Spezialisierung ausgleichen zu können, wenn sie ihre (Welt-)Marktkonkurrenzfähigkeit in einem Marktsegment verloren haben. Spezialisierung ist für eine Volkswirtschaft bzw. ein Land so lange vorteilhaft, wie absolute bzw. in der Ökonomie hinreichend komparative Kostenvorteile existie‐ ren; verschwinden diese, so kann dies mit einschneidenden Konsequenzen für die Einwohner des betreffenden Lands einhergehen. Überspezialisierung kann also bei Änderung der Umweltbedingungen - denken Sie an die Millionen Jahre andauernde Dominanz der Dinosaurier auf der Erde und ihr in größeren Zeitmaßstäben plötzliches Verschwinden - in den Untergang führen. In unseren Nachbarländern Dänemark, der Schweiz, Österreich und den Niederlanden werden schon lange keine Autos mehr hergestellt: Offensichtlich haben diese Länder aber etwas in der internationalen wie nationalen Arbeitsteilung zu bieten, das ihnen nicht nur das Fahren von Autos, sondern einen insgesamt hohen Wohlstand einbringt. Wir befinden uns hier also im Spannungsfeld der Theorie der komparativen Vorteile (Stichwort Ricardo-Modell) und der „vernünftigen“ Diversifizierung. Grundidee der Theorie der komparativen Kostenvorteile (Ricardo-Modell) Die Arbeitsteilung ist die Mutter unseres Wohlstands. Der Aussage, dass eine Ärztin, auch wenn sie schneller und besser reinigt (also produktiver ist) als jede ihr verfügbare Haushaltskraft, sich besser ihrer ärzlichen Tätigkeit widmen möge und die Reinigungstätigkeit delegieren und bezahlen sollte, werden Sie vermutlich vorbehaltlos zustimmen. Dieses Grundprinzip gilt ebenso für den Handel zwischen Ländern mit unterschiedlicher Produktivität. Auch wenn ein Land B bezüglich der Produktivität aller Güter weniger produktiv als ein Land A ist, so kann es sich dort spezialisieren, wo es komparative Kostenvor‐ teile besitzt, und erfolgreich Handel mit dem in jeder Hinsicht produktiveren Land A treiben. Der Ausgleich der Produktivitäten erfolgt über die Entlohnung und hebt im günstigen Fall das Lohnniveau in beiden Ländern. [69] Weitere Ausführungen finden Sie im Exkurs zu Kapitel 8. <?page no="118"?> Intuitiv einleuchtend ist die Anzahl der Industrien bzw. volkswirtschaftlichen Sektoren, in denen ein Land seine (begrenzten) Ressourcen einsetzen kann, beschränkt, und so ergeben sich für z.B. Lettland oder Estland mit jeweils weniger als zwei Millionen Einwohnern ganz andere Konsequenzen als für Deutschland mit über 80 Millionen Einwohnern. Mit anderen Worten: Ein großes Land muss in mehr gesellschaftliche Werttreiber diversifiziert sein als ein kleines Land. Hier ergeben sich übrigens interessante Analogien zur Markowitz-Theorie, auf die bereits in Kapitel 3 verwiesen wurde. Das erwünschte stetige Wirtschaftswachstum, das über die unterschiedlichen Sektoren der Volkswirtschaft erreicht werden soll, korrespondiert hier mit der Zielfunktion, die das Risiko des Portfolios zu minimieren trachtet, während humane und materielle Ressourcen der jeweiligen Gesellschaft Nebenbedingungen darstellen. Es stellt sich unmittelbar die Frage, inwieweit eine hinreichende Diversifizierung im europäischen Maßstab anzustreben ist (das wäre volkswirtschaftlich sicher sinnvoll, stände aber im Widerspruch zur No-Bailout-Klausel der EU sowie zu Risiken des (Teil-)Auseinanderbrechens von EU und/ oder Eurozone). Sollten wir eine eher national ausgerichtete Politik der Energieproduktion bzw. deren Absicherung verfolgen oder diese Fragen an die verantwortlichen Gremien der Europäischen Union delegieren? Eine vernünftige Antwort wird vermutlich zwischen den beiden genannten Extrema liegen. Und weiter: Wie sollten diese Lösungen juristisch und technisch gestaltet werden? Grundsätzlich ist der Autor dieses Buches großen Entwürfen gegenüber misstrau‐ isch, besonders wenn sie moralisch begründet bzw. gerechtfertigt werden. Sehr empfohlen zur Lektüre sei diesbezüglich Jean-Paul Sartres Theaterstück „Der Teufel und der liebe Gott“, in dem Sartre den Götz-von-Berlichingen-Stoff etwas anders als Goethe verwendet. Nachdem Goetz beschlossen hat, gut zu werden, richtet er viel mehr Unheil an als vormals als Bösewicht. 5.1 Exportweltmeister? Deutschland war im Jahre 2019 die größte Volkswirtschaft in Europa und nach den USA, China und Japan die viertgrößte Volkswirtschaft weltweit. Mit großem öffentlichen Bedauern wurde bei uns vernommen, dass die deutsche Wirtschaft im Jahre 2009 den „Titel des Exportweltmeistes“ - einen „Titel“, den vermutlich kaum jemand außerhalb Deutschlands kennen dürfte - an China abgeben „musste“, das eine ca. 17-fache Bevölkerung hat. Dieser „Titel“ wurde zwischenzeitlich rasch „zurücker‐ kämpft“ und im Anschluss wieder verloren. Im Jahre 2019 betrug der Handelsbilanz‐ überschuss Deutschlands mit ca. 223 Mrd. Euro (s. Abb. 5.2) zwei Drittel des Wertes von 5 Die deutsche Volkswirtschaft im Weltmaßstab 118 <?page no="119"?> China. Machen Sie sich an dieser Stelle die Relation des Handelsbilanzüberschusses Deutschlands im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt klar. Tatsächlich leben Menschen in kleinen Volkswirtschaften, die ihre (zeitweilige) Nische gefunden haben, durchschnittlich zumeist besser als Menschen in den großen Staaten: Die meisten Dänen und Niederländer würden sehr sicher nicht im Traum daran denken, mit den Deutschen tauschen zu wollen. Im Gegensatz zu praktisch allen europäischen Staaten (inklusive Russland) und den USA hat in Deutschland in den vergangenen drei Jahrzehnten keine dramatische Deindustrialisierung stattgefunden. Abbildung 5.1 illustriert die Entwicklung der relativen Anteile von Primär-, Sekundär- und Tertiärsektor am deutschen BIP von 1950 bis 2019. Abb. 5.1: Anteil der Wirtschaftsbereiche an der Gesamtbeschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland von 1950 bis 2019 (Quelle: Statista [70] ) Während z.B. Italien, Frankreich, Großbritannien und Schweden innerhalb von nur reichlich zehn Jahren einen Rückgang der in der Industrie Beschäftigten in der Größenordnung von etwa 15% verzeichneten, ist die Anzahl der in Deutschland in der Industrie Beschäftigten mit ca. 5,7 Millionen Menschen und ca. 8,37 Millionen Menschen im Produzierenden Gewerbe relativ stabil [71] (dies korrespondierte im Jahre 2019 mit einem Beitrag von 24,1% zum deutschen Bruttoinlandprodukt). Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten seine weltweite Spitzenstellung in weiten Teilen der Pharmaindustrie, in Teilen der Computertechnologie, bei Wind- und Solaranlagen verloren, ist aber immer noch in vielen Industrien Weltmarktführer. Das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft sind bekannterweise die Familienun‐ ternehmen (zu denen im erweiterten Sinne übrigens auch der Volkswagenkonzern 5.1 Exportweltmeister? 119 <?page no="120"?> zählt), von denen viele auf Gedeih und Verderb zur Entwicklung innovativer Produkte verdammt sind, da sie weltweit konkurrieren. Aggregiert waren die mittelgroßen deutschen Unternehmen in den vergangenen 10 oder 15 Jahren deutlich erfolgreicher als unsere Großunternehmen: Vergleichen Sie diesbezüglich einmal die Entwicklung des MDAX und des DAX von 2000 bis 2019. Der DAX30 (auch nur als DAX bezeichnet) ist ein Deutscher Aktienindex, der die Preisentwicklung der 30 „wichtigsten“ börsennotierten Unternehmen Deutschlands widerspiegelt, der MDAX umfasst die 60 Unternehmen, die nach den im DAX gelisteten Unternehmen folgen. Die Listing-Requirements und darauf basierend die Komposition der Indizes (deren „Sinnhaftigkeit“ im Zusam‐ menhang mit dem Kollaps der Skandalfirma Wirecard im Frühjahr 2020 wieder einmal diskutiert wurden) werden von der Deutschen Börse AG festgelegt. Diese entschied im Herbst 2020, dass der DAX ab September 2021 auf Kosten des MDAX von 30 auf 40 Unternehmen erweitert wird. Hier sind es gerade die berühmten mittelständischen Hidden Champions, die z.B. Tunnelbohrer, Medizintechnik, Haushaltstechnik oder Süßwaren herstellen und diese in die gesamte Welt exportieren, die Werte schaffen und Arbeitsplätze bereitstellen. Deutsche Maschinen und Anlagen, Autos, Elektro- und Kraftwerkstechnik, Medi‐ zintechnik, Süßigkeiten u.v.m. sind in der gesamten Welt (bzw. in dem Teil, der es sich leisten kann) gefragt. Es wird nach Corona interessant zu sehen sein, wer das noch in welchem Maße sein wird. Die Bauindustrie hat, im Gegensatz zu den südeuropäischen Ländern, trotz seit Jahren in Deutschland beobachtbarer Rekordaktivität, nie eine dominante Rolle ge‐ spielt; der Anteil der Bauinvestitionen betrug z.B. im Jahr 2019 nur ca. 10% der Jahreswirtschaftsleistung, die Landwirtschaft weniger als 1%. [72] Dominierend - wenn auch weniger als in den meisten anderen entwickelten Staaten - ist der Dienstleis‐ tungssektor. Die Kehrseite, eine sukzessive, lang andauernde Aufweichung von Umweltstan‐ dards, Ansiedelung von riesigen Schweinemastbetrieben, die wenig mit einem Hochtechnologieland Deutschland zu tun haben dürften, wurde, obwohl seit mehr als einem Jahrzehnt allgemein bekannt, erst seit den Infektionsskandalen in Schlachthöfen im Frühjahr 2020 öffentlich diskutiert. In der Tat steht gerade die deutsche Industrie mittelfristig vor enormen Risiken. Dies ist in mehrfacher Hinsicht mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas verbunden. Unternehmen wie VW (aber auch Apple aus den USA) sind bezüglich ihrer Gewinne 5 Die deutsche Volkswirtschaft im Weltmaßstab 120 <?page no="121"?> inzwischen stark vom chinesischen Markt abhängig und damit der chinesischen Politik teilweise „ausgeliefert“. Einerseits wird die politische Konfrontation zwischen China und den USA viele deutsche Unternehmen zwingen (bzw. sie hat dies bereits getan), „sich zu entscheiden“: Schwierig wird das z.B. für die BASF und Bayer, die große Investitionen sowohl in den USA als auch in China getätigt haben. Andererseits konkurrieren deutsche Unternehmen weltweit mit chinesischen (Staats-)Unternehmen um Aufträge. Eines der prominentesten Beispiele ist die Siemens (und dem französischen TGV-Hersteller Alstom) erwachsene Konkurrenz beim Bau von Hochgeschwindigkeitszügen. Ebenso wichtig dürfte mittelfristig die technische Potenz der großen US-Internet‐ konzerne sowie die allgemeine Entwicklung der USA sein, die bezüglich ihrer Ener‐ gieversorgung nach mehr als sechs Jahrzehnten inzwischen weitgehend autonom geworden sind (Stichwort Fracking) und für die eine Reindustralisierung sehr wahr‐ scheinlich geworden ist. Direkt damit verbunden sind Sicherheitsfragen, wenn die USA sich (teilweise) aus der Sicherung von internationalen Warenströmen und des Öltransports aus dem Nahen Osten auf dem Seeweg zurückziehen sollten. Beachten Sie an dieser Stelle den wiederholten Verweis auf die Dynamik von Volks‐ wirtschaften. Vergleichen Sie einmal die Zusammensetzung des Dow Jones Industrial Average bzw. des Deutschen Aktienindex DAX bei ihrer jeweiligen Einführung mit der heutigen Beschaffenheit. Es gibt jedenfalls zahlreiche gute Gründe, unsere Industrie sinnvoll zu (unter-)stüt‐ zen bzw. beizubehalten; es ist nicht davon auszugehen, dass wir eines Tages in Deutschland bzw. Europa gut davon leben werden können, uns „gegenseitig die Haare zu schneiden“. Wenn wir in Zukunft Industriegüter vermehrt (aus Asien) importieren, bedeutet das im Umkehrschluss, dass wir dafür etwas zu bieten haben müssen. Der Aufstieg der Internetkonzerne Alibaba, Baidu und Tencent aus China sollte uns sehr skeptisch machen, dass dies primär über exportierte Dienstleistungen der Fall sein kann. Dann blieben also (noch), wie die chinesische Staatspresse beim Besuch des britischen Premierministers David Cameron im Jahre 2014 mit Blick auf Großbritannien höhnte, ein paar anständige Universitäten, ein paar gute Fußballvereine und Tourismus, was langfristig ohne Industrie deutlich zu wenig sein dürfte, um unsere Gesellschaft auf akzeptablem Niveau im Gleichgewicht zu halten. Politisches Gewicht bzw. Unabhängigkeit ist notwendigerweise an wirtschaftliche Stärke gebunden. Für die USA stellen dies neben der Rüstungsindustrie heutzutage vor allem die Internetindustrie im erweiterten Sinne, die Energieversorgung sowie der Besitz der Weltwährung Nr. 1 dar. Europa verfügt aktuell nicht über einen dieser drei Top-Trümpfe. Wir müssen also erst einmal weiter produzieren und dabei im Blick behalten, dass Europa zurzeit vor allem nur Rohproduzent von Daten, nicht deren „Verarbeiter“, ist. 5.1 Exportweltmeister? 121 <?page no="122"?> 5.2 Die deutsche Volkswirtschaft in der EU Seit Jahren wird in Europa und in Deutschland darüber diskutiert, dass die deutsche Volkswirtschaft sich auf Kosten ihrer europäischen Nachbarn profiliert, dass Deutsch‐ lands Löhne zu niedrig und dass der Exportüberschuss Deutschlands zu hoch sei. Tatsächlich haben die unter der Regierung Gerhard Schröders eingeleiteten Arbeits‐ marktreformen das Wachstum der deutschen Reallöhne über viele Jahre vollständig gestoppt bzw. diese sogar schrumpfen lassen, während die Löhne in weiten Teilen der alten EU deutlich stiegen und dem Produktivitätswachstum vorauseilten. Bei aller Freude über die im internationalen Vergleich geringe Arbeitslosigkeit sind dabei mit dem Niedriglohnsektor, in dem seit Jahren ca. ein Viertel aller abhängig Beschäftigen tätig ist [73] , neue soziale und wirtschaftliche Probleme entstanden. Junge Geringverdiener sparen, wie bereits gesehen, nicht für die Rente, weil sie nicht sparen können, und sie haben keine Kinder, weil sie sich finanziell nicht leistungsfähig genug fühlen, um eine Familie zu ernähren. Werfen wir nun einen Blick auf die Entwicklung der deutschen Außenhandelsbilanz: Abb 5.2: Entwicklung des deutschen Außenhandels 1996-2019 (Bundeszentrale für politische Bildung, 2020) Abb 5.2: Entwicklung des deutschen Außenhandels 1996-2019 (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung [74] ) Sie sehen in Abb. 5.2 den in der Presse und von Vertretern politischer Parteien Europas oft referierten gigantischen Außenhandelsbilanzüberschuss, der, trotz andauernder Krise in den letzten Jahren, eher angestiegen ist und dies, obwohl deutsche Produkte im Ausland zumeist teuer sind. 5 Die deutsche Volkswirtschaft im Weltmaßstab 122 <?page no="123"?> Blättern Sie nun zu Abbildung 1.4 in Kapitel 1.1 zurück. Neben den Niederlanden, die gegenüber Deutschland im Jahre 2019 einen immer noch deutlichen Handelsüber‐ schuss in Höhe von ca. 7 Mrd. € (nach ca. 15 Mrd. Euro im Jahre 2014) erwirtschafteten, sowie Norwegen, Russland, Japan, Vietnam und Tschechien, gibt es kaum Transitions- oder entwickelte Länder, in deren bilateralen Handelsbilanzen Deutschland über keinen Handelsüberschuss verfügt. Die Ausnahme ist aber China: Deutschland hat das Handelsbilanzdefizit gegenüber China seit 2007 und 2008 zwar von jeweils etwas mehr als 26 Mrd. € über ca. 18 Mrd. € im Jahre 2016 auf 13,65 Mrd. Euro im Jahr 2019 reduziert, es ist aber immer noch beträchtlich. Für die EU bzw. die Euro-Zone sieht das globale Bild wie folgt aus: Abb. 5.3: Europäische Union & Euro-Zone: Handelsbilanzsaldo von 2009 bis 2019 in Milliarden Euro (Statista, 2020) -200 -150 -100 -500 50 100 150 200 250 300 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 Handelsbilanzsaldo in Milliarden Euro EU Euro-Zone Abb. 5.3: Europäische Union & Euro-Zone: Handelsbilanzsaldo von 2009 bis 2019 in Milliarden Euro (Quelle: Statista [75] ) Ohne den Export hochwertiger deutscher Güter nach China sähe die Handelsbilanz der EU mit China übrigens noch deutlich unsymmetrischer aus. So sind die Löhne nach Einführung des Euro in zahlreichen europäischen Ländern schneller und stärker gestiegen als die Produktivitäten, was wie oben bereits erwähnt zur Folge hat, dass zahlreiche Produkte innerhalb des eigenen Lands, der EU oder weltweit nicht wettbe‐ werbsfähig sind. Dies gilt heute nicht für Deutschland, das allerdings vor inzwischen mehr als 15 Jahren in einer tiefen strukturellen Krise feststeckte und vor also gar nicht so langer Zeit als „kranker Mann Europas“ bezeichnet wurde. Deutschland ist Anfang der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts bezüglich seiner In- und Exporte weltweit diversifiziert. Die arbeitsintensive Industrie trägt im internationalen Vergleich weit überdurchschnittlich zur Wertschöpfung der deutschen Volkswirtschaft bei und er‐ zeugt dabei eine zusätzliche Sogwirkung auf wanderwillige In- und Ausländer. Mit Blick auf die im zweiten Kapitel gewonnenen Erkenntnisse können wir - ceteris paribus - einen Rückgang der Bedeutung der Nationalstaaten konstatieren: auch wenn das bei dem nicht mehr ganz neuen Selbstbewusstsein der osteuropäischen 5.2 Die deutsche Volkswirtschaft in der EU 123 <?page no="124"?> 32 Als sehr alter Mann soll Schmidt gesagt haben, dass er das nicht noch einmal so formulieren würde. Mitgliedstaaten der EU bei Auseinandersetzungen mit der Brüsseler Zentrale auf den ersten und auch zweiten Blick vermutlich nicht sofort einleuchtet. Tatsächlich gilt aber das Prinzip „EU-Recht sticht nationales Recht“, auch wenn es diesbezüglich zahlreiche Ausnahmen gab und gibt. Die Existenz einer einzigen Währung und die Stabilitätskriterien der EU setzen die nationalen Regierungen und Parlamente der Eurozone indirekten Zwängen aus, dies gilt in abgeschwächter Form auch für die EU-Länder, die eigene Währungen verwenden. Dies ist übrigens in Übereinstimmung mit Artikel 3(3) des Europäischen Grundlagenvertrags TEU. [76] Exkurs: Kunst, Wissenschaft und Politik Wir sind uns sicher fast alle einig, dass es mehr als nur technische Ideen und deren Umsetzung erfordert, um die Zukunft zu gestalten. Auf die Visionen der Comic-Zeich‐ ner der 1950er Jahre zur Welt um die Jahrtausendwende wurde in Kapitel 1.1. Bezug genommen, diese gefolgt von kurzen Ausführungen in Kapitel 2.1 zu Problemen von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik. Unabhängig von der Existenz einer Vision - von Helmut Schmidt ist der Ausspruch „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ überliefert 32 - ist das Hauptgeschäft der Politik aber, die Tagesprobleme abzuhandeln und zu lösen und, soweit möglich, strategische Optionen für die Zukunft zu bewahren. Tatsächlich gab und gibt es aber Denker, die sehr weitreichende Vorstellungen zu den großen Linien der gesellschaftlichen Entwicklung hatten. Dirk Müller bezieht sich in seinem Buch „Machtbeben“ an zahlreichen Stellen auf Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, später gern als Vordenker der EU bezeichnet, der die Menschheit in einer Plutokratie in einer notwendigen Zwischenstufe auf dem Weg zur „Vollendung“ sah. Auch wenn diese Unterscheidung natürlich verkürzt, so planen, bewerten und entscheiden Wissenschaftler und Politiker (auch die „Schurken“ unter ihnen) primär rational, während ein echter Künstler nicht ohne Intuition vorstellbar ist. Während Poli‐ tiker also versuchen, wissenschaftlichen Sachverstand zu nutzen und damit gegenüber den Regierten auch ihre Autorität begründen, können Wissenschaftler und Politiker von Künstlern eine feinsinnigere Wahrnehmung lernen. Die Visionen von Künstlern können durchaus wissenschaftliche und technologische Entwicklungen anregen oder gar vorwegnehmen und damit Politik mitgestalten. Sie fühlen etwas im Voraus, sind Seismographen. Während es mit wissenschaftlichen Methoden seriös kaum möglich ist, die weitere Zukunft vorherzusagen, hat es immer wieder Philosophen, Literaten und später auch Filmemacher gegeben, die genau dies vermocht haben. Tatsächlich zeigten die meisten Zukunftsvisionen aus der Kunst nicht ein Schlaraf‐ fenland, sondern eine düstere Zukunft, die es, denken Sie an die Vorhersagen in 5 Die deutsche Volkswirtschaft im Weltmaßstab 124 <?page no="125"?> den Sozialwissenschaften, zu verhindern gilt. Einige drastische Beispiele, wie wir besser nicht leben wollten, finden sich in den Filmen „Metropolis“ von Fritz Lang, „Zurück in die Zukunft“ Teil 2 (der 1. Teil wurde bereits in Kapitel 1.1. erwähnt) von Robert Zemeckis und „Fahrenheit 451“ von François Truffaut. Berühmte Bücher sind „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley, „1984“ von George Orwell und „Die geschützen Männer“ von Robert Merle. Während nicht nur mir alle genannten Filme und Bücher unter durchaus denkbaren Umständen realistisch im Sinne von möglich erscheinen, unterscheiden sie sich an dem Rest an Hoffnung, den die Künstler uns zugestehen. Letztlich wissen natürlich alle Regierenden, dass ein kluges Volk schwierig zu regieren sein kann. Die bekannten Alternativen waren allerdings bisher auch wenig überzeugend. Ein Künstler, der nicht wenigstens „teilweise“ frei ist, kann aber kein Künstler sein: So steht der Widerstand von Individuen gegen den übergriffigen oder synonym „dummen“ Staat im Zentrum der o.g. Bücher und Filme. In früheren Zeiten war die Philosophie eine Brücke zwischen Naturwissenschaft und Kunst; die, mit der zunehmenden Anhäufung technischen Wissens und der einhergehenden Spezialisierung, immer schwerer zu begehen ist. Ein Weg, diese wieder begangbarer zu machen oder begangbar zu erhalten, wäre eine Aufwertung eines Studium Generale. Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 5.1: Nutzen Sie Internetressourcen, um mindestens ein volkswirtschaftli‐ ches Beispiel zu finden, in dem Lettland gegenüber Deutschland über komparative Kostenvorteile verfügt und aus dem lettische Exporte nach Deutschland abgeleitet werden können. Übung 5.2: Welche Auswirkungen hatte und hat der Babymilchskandal in China aus dem Jahre 2008 auf Deutschland? Übung 5.3: Erläutern Sie kurz, was unter den Kürzeln TTIP, TPP, CETA und RCEP zu verstehen ist. Übung 5.4: Inwieweit hat Deutschland „demografische Gründe“, um seinen Außenhandelsbilanzüberschuss zu verteidigen? Begründen Sie Ihre Aussage und ziehen Sie Querschlüsse zu anderen Ländern mit einer ähnlichen demografischen Struktur wie Deutschland. Welche Möglichkeiten bestehen seitens der deutschen Bundesregierung, den Außenhandelsbilanzüberschuss Deutschlands abzubauen? Differenzieren Sie zwischen Euro- und Nicht-Euroländern. Übungen zur Selbstüberprüfung 125 <?page no="127"?> Zwischenresumé Teil 1 Alle wirtschaftlich hoch entwickelten Länder sind heutzutage mehr oder weniger stark durch folgende Eigenschaften bzw. Faktoren gekennzeichnet: ■ eine hohe Lebenserwartung, die wesentlich durch eine bessere medizinische Versorgung und bessere Ernährung begründet wird ■ eine im Vergleich über lange Zeiträume geringe Fertilität (die, da politisch brisant, viel kontroverser diskutiert wird) ■ Binnenmigration von den ländlichen Räumen in die Ballungsräume und ■ internationale Migration aus ärmeren Staaten in reichere Länder (Ausnahme Japan) Diese vier Charakteristika gelten bei einer im internationalen Vergleich sehr niedrigen Geburtenrate ohne Einschränkungen auch für Deutschland. In den vergangenen 25 Jahren hat die deutsche Gesellschaft ihren natürlichen Rückgang vor allem durch Migration aus Osteuropa kompensieren können. Dass die seit 2015 andauernde Migrationskrise die Demografie Deutschlands verändern wird, ist unstrittig. Die Frage des „Wie“ wird davon abhängen, inwieweit es gelingen wird, diejenigen Zuwanderer, die nicht in ihre Heimatländer zurückkehren, in den Arbeitsmarkt, der wiederum Bildung voraussetzt, dauerhaft zu integrieren. Langfristig scheinen die Staaten erfolgreich zu sein, die charakterisiert sind durch einen hohen Bildungsstand ihrer Bevölkerung, eine relativ geringe Ungleichver‐ teilung des Einkommens und die Fähigkeit zur technischen und organisatorischen Innovation, verbunden mit der Fähigkeit zur „Fehlerkorrektur“. Zu den wesentli‐ chen Stärken Deutschlands zählen die im internationalen Vergleich hohe durch‐ schnittliche Bildung und die damit verbundene hohe berufliche Qualifikation der Arbeitnehmer und Selbstständigen, die wiederum notwendige Voraussetzung für den hohen Industrieanteil an der Wertschöpfung unserer Gesellschaft sind. Langfristig stehen die Sozialsysteme Deutschlands in ihrer heutigen Form unter Druck: Wenn das bisherige Renten- und Krankenversicherungsniveau beibehalten bzw. nur leicht abgesenkt werden sollte, korrespondierte dies innerhalb einer Generation c.p. mit einer erforderlichen Zuwanderung von außen im Bereich vieler Millionen Menschen. Fragen, wie die in einer alternden Gesellschaft neu auftretenden Probleme angegangen werden, sind weitgehend unbeantwortet, allerdings gibt es im Gegensatz zu vielen hinsichtlich ihrer demografischen Charakteristika qualitativ ähnlichen Nachbarstaaten in Deutschland eine rege und zum Teil qualifizierte Diskussion darüber, wie die Gesellschaft von morgen beschaffen sein soll. Inwieweit es eine Harmonisierung von Renteneintrittsaltern bzw. Lebensarbeitszeiten innerhalb verschiedener Staaten der EU geben sollte, <?page no="128"?> wird in Zukunft erörtert werden müssen, wenn gegenseitige Solidaritätsverpflich‐ tungen neu diskutiert und bewertet werden. Die „große“ kurzbis mittelfristige Frage der kommenden Jahre wird sein, ob und inwieweit die EU gestärkt aus der durch Corona verlängerten Schulden- und Staatenkrise herausgehen kann und wie sie sich zwischen den USA und China positioniert; ob also der Schengen-Raum und die Gemeinschaftswährung in ihrer gewohnten Form Bestand haben werden. Die politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der deutschen Bundesregierung sind dabei als „Zahlmeister“ Euro‐ pas viel begrenzter als zumeist gedacht. In fast allen europäischen Nachbarländern wird die mit moralischer Überheblichkeit assoziierte deutsche Art, Politik zu betreiben, mit Misstrauen und seit Ausbrechen der Flüchtlingskrise Mitte 2015 vermehrt mit Schadenfreude quittiert. Die nicht beendete Bewältigung der Co‐ rona-Krise stellt hier eine Chance dar, Deutschlands insgesamt guten Ruf in der gesamten Welt zu festigen und auszubauen. Uns sollte allen klar sein, dass alle europäischen Länder im Falle schwerwiegender politischer Turbulenzen der EU zumindest kurzfristig stark in Mitleidenschaft gezogen werden und dass man durchaus über ein „Danach“ - im günstigen Fall über eine funktionierende Freihandelszone - offen in und mit der Öffentlichkeit diskutieren muss. Die zweite, eher längerfristige Frage, betrifft den Einfluss des rapiden technolo‐ gischen Wandels auf unsere Gesellschaft und damit ebenso die Art, wie wir leben werden. Ihr werden wir uns in Teil II dieses Buches nähern. Zwischenresumé Teil 1 128 <?page no="129"?> Im Text direkt zitierte Literatur Vorwort [1] Vgl. z.B. www.focus.de/ finanzen/ boerse/ erfuellt-nicht-mehr-die-beduerfnisseunseredominanz-wird-enden-kapitalisten-wenden-sich-gegen-den-kapitalismus_id_1064709 5.html Kapitel 1 [2] Lieshout, B. (2001). Ein Deutschland, das sich seiner Position bewusst ist: Konrad Adenauer, der französische Plan einer europäischen politischen Union und die Aufgabe der heutigen deutschen Europapolitik. Nijmegen (Niederlande): Centrum voor Duitsland Studies, Universiteit Nijmegen. [3] Becker, J. und C. Fuest (2016, 13. Dezember). Deutschlands Rolle in der EU. Planloser Hegemon. http: / / www.faz.net/ aktuell/ wirtschaft/ eurokrise/ deutschlands-rolle-in-dereu-planloser-hegemon-14554184.html [4] Döpfner, M. (2020, 03. Mai). Wir müssen uns entscheiden. https: / / www.welt.de/ debatte/ kommentare/ plus207687477/ Mathias-Doepfner-Wir-muessen-uns-zwischen-Amerikaund-China-entscheiden.html [5] Bundesministerium der Wirtschaft (2017). Infografik: Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in den jeweiligen EU-Mitgliedstaaten, 2006 und 2016. https: / / www.bmwi.de/ Redaktion/ DE/ Infografiken/ Industrie/ anteil-verarbeitendes-ge werbe-an-bruttowertschoepfung-in-eu-mitgliedstaaten.html [6] Abschiedsvorlesung von Prof. Sinn. https: / / www.youtube.com/ watch? v=u2Vbcx0ctWA [7] Statistisches Bundesamt (2020). Exporte und Importe der wichtigsten Handelspartner Deutschlands 2019 in Mrd. Euro. https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen/ Wirtschaft/ Aussenhandel/ Tabellen/ rangfolge-handelspartner.pdf ? __blob=publicationFile [8] Macrotrends. https: / / www.macrotrends.net/ countries/ DEU/ germany/ trade-gdp-ratio #: ~: text=Trade%20is%20the%20sum%20of,a%202.57%25%20increase%20from%202016 ver‐ wendet hier Daten der Weltbank. [9] Oxford Economics (2020). www.euroexpress.org/ the-express-industry/ trade-com petitiveness [10] Skidelsky, R. (2010). Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert. München: Kunstmann. S. 209. [11] Watson, P. (2008). Ideen. Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne, S. 217. München: Goldmann. [12] Archive today (2015). http: / / archive.is/ aQIzs#selection-5871.0-6233.96. Die Quelle und die deutsche Übersetzung verdanke ich Dirk Müller: Machtbeben, S. 53 und 54. [13] Schulz, T. (2015). Die Weltregierung. Wie das Silicon Valley unsere Zukunft steuert. Der Spiegel, 10, S. 27. <?page no="130"?> [14] Focus (2020, 05. Mai). Das Schicksal der Börsen hängt an gerade mal fünf Aktien. https: / / www.focus.de/ finanzen/ boerse/ geldanlage/ faamg-dominieren-den-markt-dasschicksal-der-boersen-haengt-einmal-mehr-an-nur-fuenf-aktien_id_11956659.html [15] FAZ (2014, 28. August). Die teuersten Unternehmen der Welt 2004 und im Jahr 2014. http: / / media1.faz.net/ ppmedia/ aktuell/ wirtschaft/ 3512383880/ 1.3123157/ article_multi media_overview/ vergleich-2004-und-2014.jpg [16] Robbins, L. (1932). An Essay on the Nature and Significance of Economic Science. S. 16, London. [17] Samuelson, P. und W. Nordhaus. Economics. New York: McGraw Hill, S. 38. [18] Zitiert nach Kwak, J. (2018). Economism: Bad Economics and the Rise of Inequality. New York: Vintage. Kapitel 2 [19] Rau, R. und C.P. Schmertmann: Lebenserwartung auf Kreisebene in Deutschland. https: / / www.aerzteblatt.de/ archiv/ 214715 und https: / / www.demogr.mpg.de/ de/ news_ events_6123/ news_pressemitteilungen_4630/ presse/ lebenserwartung_in_land kreisen_richtig_lang_lebt_man_nur_in_sueddeutschland_8165 [20] Vgl. www.welt.de/ debatte/ kommentare/ plus208565657/ Corona-Krise-Boris-Palmer analysiert-die-Sterbestatistiken.html? wtrid=displayperformance.onsite.0-eur_trial. retargeting_teaser.retargeting2 [21] Vgl. z.B. https: / / academic.oup.com/ humupd/ article/ 23/ 6/ 646/ 4035689 [22] Die Grafik ist online unter www.deutschlandundeuropa.de/ 45_02/ mig2mat.htm [23] S. https: / / www.demografie-portal.de/ DE/ Fakten/ bevoelkerung-altersstruktur.html? n n=676784 [24] Palmer, B. (2019). Erst die Fakten, dann die Moral. Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss. (3. Aufl.) München: Siedler, S. 26. [25] Skidelsky, R. (2010). Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert. München: Kunstmann. S. 141. [26] Statistisches Bundesamt (o. J.). Migration und Integration. https: / / www.destatis.de/ DE / Themen/ Gesellschaft-Umwelt/ Bevoelkerung/ Migration-Integration/ _inhalt.html [27] Demografie-Portal (o. J.). Vgl. www.demografie-portal.de/ SharedDocs/ Aktuelles/ DE/ 2019/ 190716-Zuwanderung-2018-Deutschland-waechst-um-400000-Menschen.html [28] Statistisches Bundesamt (o. J.). www.destatis.de/ DE/ Themen/ Gesellschaft-Umwelt/ Bevoelkerung/ Migration-Integration/ _inhalt.html [29] Vgl. z.B. www.welt.de/ print/ die_welt/ debatte/ article165675355/ Sozialstaat-oder-Ein wanderung.html [30] Vgl. www.csb.lv [31] Statista an verschiedenen Orten. [32] Gates, B. The next outbreak? We are not ready. www.youtube.com/ watch? v=6Af6b_w yiwI [33] Sinclair, D.A. (219). Das Ende des Alterns. Die revolutionäre Medizin vom morgen. Dumont: Köln. S. insbesondere Kapitel 3. Im Text direkt zitierte Literatur 130 <?page no="131"?> [34] IWD (2020). Männer arbeiten meist länger als Frauen. https: / / www.iwd.de/ artikel/ maenner-arbeiten-meist-laenger-als-frauen-410517/ [35] Statistisches Bundesamt (2020). Gesundheitsausgaben. https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen/ Gesellschaft-Umwelt/ Gesundheit/ Gesundheitsausgaben/ _inhalt.html und Statista (2020). Jährliche Gesundheitsausgaben in Deutschland bis 2018. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 5463/ umfrage/ gesundheitssystem-indeutschland---ausgaben-seit-1992#: ~: text=Laut%20dem%20Statistischen%20Bundes amt%20beliefen,rund%20390%2C63%20Milliarden%20Euro [36] Statista. Gesamtanzahl der Ärzte in Deutschland. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 158869/ umfrage/ anzahl-der-aerzte-in-deutschland-seit-1990/ #: ~: text= Gesamtzahl%20der%20%C3%84rzte%20in%20Deutschland%20bis%202019&text=Ende% 20des%20Jahres%202019%20verzeichnete%20die%20Bundes%C3%A4rztekammer%20 deutschlandweit%20rund%20402.100%20berufst%C3%A4tige%20%C3%84rzte [37] Welt (2015, 1. September). Wieso Raucher die Gesellschaft finanziell entlasten. http: / / www.welt.de/ wirtschaft/ article145862941/ Wieso-Raucher-die-Gesellschaftfinanziell-entlasten.html [38] Cecu (o. J.). Die Folgen des demografischen Wandels. http: / / www.cecu.de/ demografi scher-wandel-folgen.html [39] Vgl. Pflegeheim Rating Reporte 2016 - 2020. www.rwi-essen.de und www.medhoch zwei-verlag.de/ Shop/ ProduktDetail/ 978-3-86216-576-6-pflegeheimrating-report-2020 [40] Ärzteblatt (2017, 23. November). Bis 2030 475 000 zusätzliche Pflegefachkräfte nötig. https: / / www.aerzteblatt.de/ nachrichten/ 83630/ Bis-2030-475-000-zusaetzliche-Pflege fachkraefte-noetig [41] Sozialpolitik aktuell (2020). Entwicklung des Netto-Rentenniveaus vor Steuern 1990 - 2032. http: / / www.sozialpolitik-aktuell.de/ tl_files/ sozialpolitik-aktuell/ _Politikfelder/ Al ter-Rente/ Datensammlung/ PDF-Dateien/ abbVIII37.pdf [42] Frei nach einem Zitat aus dem Film „Fight Club“ von David Fincher aus dem Jahr 1999. [43] Frey, B. und A. Stutzer (2007). The Thirst for Happiness. Journal of International Business Ethics Vol.1 No.1. 2008. Kapitel 4 [44] Bundeszentrale für Politische Bildung (2019). Öffentliche Bildungsausgaben. https: / / www.bpb.de/ nachschlagen/ zahlen-und-fakten/ europa/ 135809/ bildungsaus gaben [45] Statistisches Bundesamt (2020). Bildungsfinanzbericht. https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen/ Gesellschaft-Umwelt/ Bildung-Forschung-Kultur/ Bildungsfinanzen-Ausbil dungsfoerderung/ Publikationen/ Downloads-Bildungsfinanzen/ bildungsfinanzbericht- 1023206197004.pdf ? __blob=publicationFile, S. 29. Im Text direkt zitierte Literatur 131 <?page no="132"?> [46] Tagespiegel (2019, 29. März). Immer mehr zugewanderte Mediziner. https: / / www.tagesspiegel.de/ politik/ jeder-achte-arzt-kommt-aus-dem-ausland-immer -mehr-zugewanderte-mediziner/ 24160392.html#: ~: text=Insgesamt%20sind%20in%20 Deutschland%20mittlerweile,sind%20es%20sogar%20ann%C3%A4hernd%2055.000 [47] S. z.B. http: / / german.beijingreview.com.cn/ Kultur/ 201806/ t20180607_800131938.html [48] Statista sowie http: / / www.studieren-medizin.de an verschiedenen Orten. https: / / www.studieren-medizin.de/ 9,1,bewerbung_deutschland.html#: ~: text=Zum%20 Wintersemester%202017%2F18%20haben,4%2C7%20Bewerber%20pro%20Platz [49] Straubhaar, T. (2020, 20. Juli). Tausende Professoren, Stundenpläne und Hörsäle - das braucht keiner mehr. https: / / www.welt.de/ wirtschaft/ karriere/ bildung/ article21188603 5/ Digitales-Studium-Corona-erwirkt-das-Ende-der-Massenuniversitaet.html [50] Harari, N. Y. (2019). Eine kurze Geschichte der Menschheit. München: DVA. Kapitel 2. [51] Spiewak, M. (2013, 3. Januar). Hattie-Studie: Ich bin superwichtig! http: / / www.zeit.de/ 2013/ 02/ Paedagogik-John-Hattie-Visible-Learning [52] Nationaler Bildungsbericht (o.J). http: / / www.bildungsbericht.de/ de/ bildungsberichte -seit-2006/ bildungsbericht-2014/ pdf-bildungsbericht-2014 und https: / / www.bildungsbericht.de/ de/ bildungsberichte-seit-2006/ bildungsbericht-2018/ pdf-bildungsbericht-2018/ bildungsbericht-2018.pdf [53] Spiegel (2015, 6. September). Dieter Zetsche: Daimler-Boss lässt in Flüchtlingszentren nach Arbeitskräften suchen. http: / / www.spiegel.de/ wirtschaft/ unternehmen/ daimlerchef-will-in-fluechtlingszentren-neue-arbeitskraefte-finden-a-1051654.html [54] Peters, F. (2011, 6. Februar). Die besten deutschen Schüler stammen aus Vietnam. http: / / www.welt.de/ politik/ deutschland/ article12458240/ Die-besten-deutschen- Schueler-stammen-aus-Vietnam.html [55] Statista. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 74795/ umfrage/ jugendarbeitslo sigkeit-in-europa/ [56] Statista. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 160142/ umfrage/ arbeitslosen quote-in-den-eu-laendern/ [57] Vgl. Brockhaus Edition, 19. Auflage. [58] Schmid, T. (2020, 12. Juni). Kann Journalismus objektiv sein? https: / / schmid.welt.de/ 2020/ 06/ 12/ kann-journalismus-objektiv-sein/ [59] Vgl. z.B. www.spiegel.de/ panorama/ london-rechtsextreme-proteste-kampf-um-diestatuen-a-56585fd0-2a9a-44b2-9889-c1ced3f1c01e [60] https: / / twitter.com/ janfleischhauer/ status/ 1267861233279143937 [61] Vgl. u. a. Der SPIEGEL, Nr. 13/ 1995 vom 27. März 1995. [62] Vgl. www.spiegel.de/ kultur/ new-york-times-die-zeit-der-neutralitaet-ist-vorbei-a-5c caa4e4-eca2-4a2e-b2d7-22e6a484f8ce [63] Vgl. www.bundestag.de/ dokumente/ textarchiv/ 2019/ kw43-de-aktuelle-stundemeinungsfreiheit-664338 [64] Vgl. www.ndr.de/ fernsehen/ sendungen/ zapp/ Stralsund-Merkels-Antwort-auf-Rechts aussen,kommunikationsstrategien100.html [65] Vgl. www.shell.de/ ueber-uns/ shell-jugendstudie.html Im Text direkt zitierte Literatur 132 <?page no="133"?> [66] Vgl. www.ifd-allens-bach.de/ fileadmin/ user_upload/ FAZ_Mai2019_Meinungsfrei heit.pdf [67] Vgl. www.zeit.de/ kultur/ 2020-06/ joanne-k-rowling-vorwurf-transfeindlichkeitkonflikttwitter [68] Vgl. www.digitalnewsreport.org/ survey/ 2020/ overview-key-findings-2020/ Kapitel 5 [69] Krugman, P., Obstfeld, M. und M. Melitz (2019). Internationale Wirtschaft. Theorie und Politik der Außenwirtschaft, Kapitel 3 (11. Aufl.). München: Pearson-Studium. Kapitel 3. [70] Statista. Anteil der Wirtschaftsbereiche an der Gesamtbeschäftigung in der Bundesrepu‐ blik Deutschland von 1950 bis 2019. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 275637/ umfrage/ anteil-der-wirtschaftsbereiche-an-der-gesamtbeschaeftigung-in-deutschland/ [71] Deutschland in Zahlen. https: / / www.deutschlandinzahlen.de/ tab/ bundeslaender/ branchen-unternehmen/ industrie/ beschaeftigte-in-der-industrie [72] Statistisches Bundesamt. Branchen und Unternehmen. https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen/ Branchen-Unternehmen/ Bauen/ _inhalt.html [73] Rheinische Post (2017, 17. Juni). Berlin. Knapp jeder Vierte arbeitet für Niedriglohn http: / / www.rp-online.de/ wirtschaft/ knapp-jeder-vierte-arbeitet-fuer-niedriglohn-aid- 1.6888022 [74] Bundeszentrale für Politische Bildung (2020). Entwicklung des deutschen Außenhan‐ dels. https: / / www.bpb.de/ nachschlagen/ zahlen-und-fakten/ globalisierung/ 52842/ aussenhandel [75] Statista (2020). Europäische Union & Euro-Zone: Handelsbilanzsaldo von 2009 bis 2019. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 15640/ umfrage/ handelsbilanz-der-eu/ [76] EU-Info.Deutschland. Der EU-Reformvertrag. http: / / www.eu-info.de/ europa/ eu-ver traege/ Vertrag-Lissabon/ vertrag-von-lissabon/ Im Text direkt zitierte Literatur 133 <?page no="135"?> Teil II: Staat und technologischer Wandel <?page no="137"?> Einführung Nach ca. 30 Jahren relativer Ruhe in der Weltpolitik und einer sich global insgesamt aufwärts entwickelnden Weltwirtschaft stehen wir im Jahr 2021 mitten in zahlreichen Umbrüchen bzw. Neubewertungen. Die USA sind zwar noch die stärkste wirtschaftli‐ che, militärische und damit politische Macht auf Erden; ob sie dies in absehbarer Zeit auch bleiben werden, ist mehr als unklar. Der Versuch des ehemaligen US-Präsidenten Trump, Russland aus der „Verdammung“ zur Partnerschaft mit China herauszulösen, scheiterte bereits zu Beginn seiner Amtszeit an den Mehrheitsverhältnissen im Kon‐ gress und ob die politischen Beziehungen zur Europäischen Union seine Amtszeit weitgehend unbeschadet überstanden haben, ist eine noch offene Frage. Bereits vor Corona und den Rassenunruhen im Frühjahr 2020 waren die USA weniger gewillt und in der Lage, „überall“ als Ordnungsmacht aufzutreten. Die damit einhergehende zunehmende Anarchisierung der Weltpolitik hat naturgemäß Auswir‐ kungen auf Europa und damit auf die deutsche Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie wird befeuert durch z.T. gegenläufigige demografische Prozesse, die in Deutschland bzw. Europa als auch im Nahen Osten und in Afrika ablaufen. Im zweiten Teil dieses Buches werden wir uns der Rolle und den Erwartungen an den deutschen Staat bzw. an die EU in einer Welt widmen, die sowohl durch einen rapiden technologischen Wandel verändert wird als auch in politischer Hinsicht zunehmend unübersichtlich geworden ist und in der einige wenige Unternehmen, die zumeist aus den USA, inzwischen aber auch aus China kommen, über eine nie vorher gekannte Macht verfügen. Wir werden uns zunächst mit den komplexen Finanzmärkten der Gegenwart und der Energieversorgung beschäftigen, bevor wir uns den gesellschaftsverändernden Auswirkungen der digitalen Transformation zuwenden. China ist auch hier systemi‐ scher Konkurrent des Westens, wenn es Mitte 2020 ankündigt, seinen CO 2 -Ausstoß innerhalb der folgenden 10 Jahre in etwa zu halbieren. [1] In den USA, die mit China im Jahre 2019 zusammen für fast die Hälfte des weltweiten CO 2 -Ausstoßes verantwortlich waren, wurde der Klimawandel zwar für die verheerenden Waldbrände in Kalifornien verantwortlich gemacht, vergleichbare Aussagen zur Verantwortlichkeit der Menschen und daraus abgeleitet zur Ursachenbekämpfung waren aber Fehlanzeige. [2] Europa allein wird den Klimawandel zwar nicht aufhalten, es ist aber als wichtige, weitgehend selbstbestimmte Gestaltungsmacht neben den USA und China gefordert. <?page no="139"?> 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 6.1 Alle Jahre wieder Es gehört zu den Traditionen von z.B. Großbanken, Forschungsinstituten und in‐ dividuellen (vielfach selbsternannten) Experten fast aller Couleur, am Ende eines Kalenderjahres einen Blick in die Zukunft zu versuchen. Dies betrifft Aktienkurse, Währungswechselkurse, zukünftige Preise von Immobilien und Edelmetallen, Arbeits‐ losigkeitsquoten, Wachstum des Bruttoinlandproduktes, Ergebnisse von Fußballtur‐ nieren u.v.m. Dieses „Prognosespiel“ scheint eher psychologische Bedürfnisse der Konsumenten zu befriedigen; wenn diese ein Jahr später nachschauten, wer welche Prognosen gemacht hat und wie werthaltig die gemachten Prognosen waren, müssten sie sich dieses „Spiel“ für das anstehende Jahr zumeist sparen (vgl. Kapitel 2.3). Da sich aber kaum jemand die Mühe macht, solche Prognosen renommierter Adressen zu sammeln, um sie am Ende des Folgejahres mit der dann eingetroffenen Realität zu vergleichen, geht dieses Prognosespiel weiter. Interessant sind in diesem Falle die sogenannten Crash-Propheten, die „einmal Glück gehabt haben oder noch haben müssen“, weil sie halt jedes Jahr den oder einen Crash prognostizieren. Abzugrenzen sind in dieser Hinsicht seriöse Wissenschaftler wie z.B. Nobelpreisträger Robert Shiller, der frühzeitig auf Fehlbewertungen am ame‐ rikanischen Immobilienmarkt hinwies und vor den damit verbundenen Konsequenzen warnte. Sehr beliebt ist in diesem Zusammenhang auch die Nennung sogenannter Schwar‐ zer Schwäne geworden, wobei der Begriff Schwarzer Schwan zumeist nicht korrekt verwendet wird. Der Begriff ist in den öffentlichen Sprachschatz durch das Buch „The Black Swan“ von Nassim Taleb aus dem Jahre 2007 eingegangen. Unter einem Schwarzen Schwan versteht man ein Ereignis, das nicht vorhersehbar ist und das alle Beteiligten völlig unvorbereitet trifft (so wie die Europäer, die vor ein paar hundert Jahren in Australien das erste Mal Schwarze Schwäne - die es in Europa und Asien damals nirgendwo gab - sahen). Ex-ante-Wahrscheinlichkeiten existieren somit nicht. Das Ereignis kann allerdings im Nachhinein rational erklärt werden. Schwarze Schwäne haben den sehr praktischen Vorteil, dass niemand für ihre Folgen verantwortlich gemacht werden kann. <?page no="140"?> Werfen wir nun einen Blick auf den deutschen Hauptaktienindex DAX30 und dessen Entwicklung seit dem Jahr 1995. Abb. 6.1: DAX 30-Entwicklung 01/ 1995-08/ 2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 0 2.000 4.000 6.000 8.000 10.000 12.000 14.000 16.000 01/ 1995 01/ 2000 01/ 2005 01/ 2010 01/ 2015 01/ 2020 Dax30 Abb. 6.1: DAX30-Entwicklung 1995-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) Die Gesamtperformance des deutschen Leitindex DAX30 war in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren und auch in noch deutlich längeren Zeiträumen zwar positiv, allerdings gab es bei den Einzeltiteln riesige Unterschiede. Während sich z.B. der Kurs einer Adidas-Aktie inklusive Dividenden seit der Finanzkrise 2007/ 2008 bis Ende 2020 fast verzwanzigfachte, die BMW-Aktien sich im gleichen Zeitraum vom Wert etwa vervierfachten und der Kurs der BASF-Aktien sich immerhin verdreifachte, verloren die Deutsche-Bank-Aktie im Vergleich zum Hoch im Jahr 2007 mehr als 80%, die Com‐ merzbank-Aktie mehr als 90%, die der RWE etwa zwei Drittel und E.ON ca. drei Viertel ihres Börsenwertes. Die Kursentwicklung der im DAX enthaltenen VW-Vorzugsaktien war durch zwei „Sondereffekte“ geprägt: die missglückte Übernahme von VW durch Porsche und „Dieselgate“, wobei der Volkswagenkonzern selbst die Strafzahlungen von deutlich mehr als 30 Mrd. Euro, die bis Ende 2020 gezahlt wurden, wegstecken konnte. Im Nachhinein kann natürlich alles erklärt werden (wodurch Prognosen aber nicht besser werden): Produktiv ist es in diesem Kontext, sich mit den Verlierern der vergangenen 10-15 Jahre zu beschäftigen. Neben den Energieunternehmen RWE und E.ON waren es, wie soeben gesehen, die deutschen Großbanken, die immer wieder und weiter unter die Räder kamen. Während die Versicherungsunternehmen Allianz und Münchener Rück in den vergangenen zehn Jahren sich vom Aktienkurs mehr als verdoppelten - Vorsicht: Beide Aktiennotierungen sind immer noch von den Anfang 2000 erreichten Allzeithochs entfernt - mussten sowohl Commerzbank als auch Deutsche Bank bzw. deren Aktionäre hohe Verluste verkraften. Die Entwicklung der - man muss schon sagen ehemaligen - deutschen Großbanken ist insgesamt noch deutlich schlechter: Die Dresdner Bank und die HypoVereinsbank, beide Unternehmen waren DAX-gelistet, existieren als eigenständige Unternehmen bereits seit vielen Jahren nicht mehr. 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 140 <?page no="141"?> Literaturtipp: Ein hervorragendes Buch, um Grundwissen in Modern Finance zu erwerben bzw. zu wiederholen, ist Burton Malkiels in sehr schönem Englisch geschriebenes „A Random Walk Down Wall Street“. Hier werden u.a. Investitionsstrategien, aber auch Spekulationsblasen seit der Tulip Mania in den Niederlanden sehr ausführ‐ lich besprochen. Der Haupttext ist auch für Nichtexperten gut lesbar: Wichtige Theorien bzw. empirische Erkenntnisse werden eher „volkstümlich“ erläutert (wobei sich die „harten“ Fachreferenzen in den Anhängen bzw. Literaturverweisen befinden). In diesem Zusammenhang, d.h. nicht monokausal, werden wir die Niedrigzinspolitik von Federal Reserve und EZB erörtern. Diesen Ausführungen folgen Reflexionen zur Rolle des Staates und zu Wettbewerb und Regulierung. An ein Kapitel zu Energiever‐ sorgungssicherheit, Klimawandel und Energiewende schließen sich Ausführungen zu Innovationen und zur Digitalisierung an, bevor wir den Versuch einer Globalzusam‐ menfassung aus der Vogelflugperspektive unternehmen werden. 6.2 Der „Giftcocktail“ 6.2.1 Währungsmärkte Die riesigen Umsätze an den Währungsspot- und -terminmärkten sind nur zu einem sehr geringen Teil der physischen Nachfrage an Fremdwährungen bzw. dem damit korrespondierenden Angebot geschuldet. Der überwiegende Teil der Umsätze beruht auf der in diesem dynamischen System von Wechselkursen praktisch immer vorlie‐ genden Möglichkeit, risikofreie Gewinne, sogenannte Arbitrageprofite, abzuschöpfen. Dabei ist es z.B. völlig egal, ob ein US-Dollar von der Kaufkraft einem Euro oder auch zehn Euro entspricht. Wichtig ist nur, dass sich die Kurse in einem Gleichgewicht befinden. Nehmen wir zunächst an, dass es nur drei Währungen gibt: US-Dollar, Euro und Japanischer Yen. Gegeben seien die Wechselkurse von Euro und US-Dollar und von Euro und Japanischem Yen: 1 Euro entspricht 1,25 US-Dollar sowie 100 Yen. Spiegel‐ bildlich reziprok ergeben sich links unter der Hauptdiagonalen der Wechselkursmatrix die Austauschverhältnisse von Euro pro US-Dollar und von Euro pro Yen. 6.2 Der „Giftcocktail“ 141 <?page no="142"?> Euro US-Dollar Yen Euro 1 1,25 100 US-Dollar 0,8 1 ? Yen 0,01 ? 1 Bei den gegebenen beiden Wechselkursen muss der Wechselkurs zwischen US-Dollar und Japanischem Yen bei 100 Y/ € · 0,8 €/ US-Dollar = 80 Yen pro US-Dollar bzw. 0,0125 US-Dollar pro Yen liegen. Sind diese drei Kurse nicht im Gleichgewicht, kann durch sukzessives Umtauschen von Währungen ein Arbitragegewinn erzielt werden, jedenfalls solange, wie dieser Arbitragegewinn die Transaktionskosten übersteigt. Wenn in diesem „System“ die ersten beiden Wechselkurse festgehalten würden und der Wechselkurs zwischen US-Dollar und Japanischem Yen z.B. 1 :  81 betrüge, wäre der US-Dollar gegenüber dem Yen relativ überbewertet: Sie bekämen 1 Yen mehr pro Dollar als im Gleichgewicht. Ein Arbitrageur würde US-Dollar (leer-)verkaufen, dafür Yen erhalten, diese Yen in Euro tauschen und die erhaltenen Euro wiederum in US-Dollar tauschen. Praktisch sähe das unter Vernachlässigung von Transaktionskosten in etwa so aus: - 10.000 US-Dollar (Umtausch von US-Dollar in Yen) +810.000 Yen - 810.000 Yen (Umtausch von Yen in Euro) +8.100 Euro -8.100 Euro (Umtausch von Euro in US-Dollar +10.125 US-Dollar + 125 US-Dollar Der nach Abzug der Transaktionskosten zu verbuchende Gewinn - im Beispiel 125 US-Dollar - ist dabei risikolos. Einige Marktteilnehmer werden also solche Arbitra‐ gegewinne abschöpfen und dadurch die Angebots- und Nachfragestrukturen zwischen verschiedenen Währungspaaren derart beeinflussen, dass sie sich wieder in Richtung eines neuen Gleichgewichtes bewegen. Ebenso gilt, dass eine einzelne Änderung eines Wechselkurses (im Zahlenbeispiel z.B. von 1,25 US-Dollar pro Euro auf 1,24 US-Dollar pro Euro) nun von den beiden anderen Währungspaaren „mitgegangen“ werden muss, damit das Gleichgewicht wiederhergestellt wird. Da es aber beständig Kursänderungen gibt, besteht ebenso beständig der Zwang, sich wieder dem Gleichgewicht zu nähern, welches bei geöffneten Märkten nie in perfekter Weise erreicht werden kann. Nun gibt es weltweit aber nicht 3, sondern zwischen 40 und 50 frei konvertierbare Währungen, die mehr oder weniger häufig gegeneinander gehandelt werden. Bei nur 40 Währungen 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 142 <?page no="143"?> 1 Zur Funktionsweise der Märkte und der Bepreisung zahlreicher derivativer Finanzinstrumente vgl. z.B. Hull: Optionen, Futures und andere Derivate. 2 Die häufig verwendete indirekte Notation €/ $ gibt die Anzahl von US-Dollar an, die einem Euro entsprechen. Machen Sie sich bei Währungsrelationen stets klar, welche Notation verwendet wird. 3 Obwohl oft mit risikofreien Zinsen argumentiert wird, ist keinesfalls eindeutig, was darunter zu verstehen ist. Einen völlig risikfreien Zins - das heißt, dass es kein Ausfallrisiko gibt - gibt es in der Realität nicht. Als Näherung wird in Deutschland oft der Yield der 10-jährigen Bundesanleihe oder auch der Tagesgeldsatz verwendet. Beachten Sie, dass dies unterschiedliche Konventionen sind. resultieren aber mit (40 · 40 - 40) / 2 = 780 voneinander abhängige Wechselkurse. Tatsächlich ist die Anzahl der direkten Tauschrelationen deutlich geringer, da z.B. kaum Neuseeland-Dollar gegen Norwegische Kronen direkt, sondern über den US-Dollar oder den Euro, getauscht werden. Dennoch folgt aus der Verquickung von Spot- und Terminmärkten sowie weiterer derivativer Märkte, dass es Tausende sich wechselseitig bestimmender bzw. abhängiger Quotierungen gibt. 1 Dies sei hier am Beispiel eines Währungsfutures erläutert. Ein Future ist zunächst ein hinsichtlich Menge, Qualität und Liefertermin standardisierter Terminkontrakt. Dabei gehen Verkäufer und Käufer die Verpflichtung ein, eine definierte Menge z.B. eines Finanztitels zu einem festgesetzten Preis zu einem bestimmten Zeitpunkt in festgelegter Qualität an einen bestimmten Ort zu liefern bzw. abzunehmen. Ein typischer Anwender ist z.B. ein deutsches Unternehmen, das im Rahmen seiner Geschäftsaktivitäten US-Dollar einnimmt und diese gegen eine ungünstige Wechselkursentwicklung absichern will. Nehmen wir zunächst wieder an, dass der Wechselkurs zum Zeitpunkt t = 0 zwischen Euro und US-Dollar in direkter Notation 1,25 US-Dollar/ Euro beträgt, d.h. 1 Euro wird gegen 1,25 US-Dollar getauscht. 2 Wenn dieses Unternehmen in t = 0 zum Spot-Wechselkurs 10.000 US-Dollar ein‐ nimmt, kann es diese also unmittelbar gegen 8.000 Euro tauschen. Wenn der Euro nun schwächer und der US-Dollar spiegelbildlich stärker gegenüber dem Euro wird, würde das zum Beispiel mit einem Wechselkurs von 1 :  1 korrespondieren. Das heißt, man bekommt zum Beispiel in einem Jahr 10.000 Euro für 10.000 US-Dollar. In diesem Fall würde das Unternehmen ohne eigenes Zutun zusätzlich 2.000 Euro einnehmen. Anders sieht es aber aus, wenn der Euro gegenüber dem US-Dollar stärker wird, d.h., dass der Wechselkurs in einem Jahr z.B. 1,50 US-Dollar/ Euro beträgt. Dann sinkt der Wert der 10.000 US-Dollar in der Heimatwährung Euro auf 6.666,66 Euro. Der Wechselkurs zwischen Euro und US-Dollar hat also einen direkten Einfluss auf den Erfolg der Geschäftstätigkeit dieses Unternehmens. Im schlechten Fall kann eine ungünstige Wechselkursentwicklung einer Firma „das Genick brechen“. Ein Währungsfuture ist nun der zukünftige Austausch von Währungen zu einem standardisierten Basiswert wie 10.000 US-Dollar zu einen Kurs, der mit Hilfe der risikofreien Zinssätze in den USA und in der Euro-Zone ermittelt wird. 3 Wenn dieser risikofreie Zins in den USA z.B. 0,5% beträgt und in der Euro-Zone minus 0,5%, berechnet sich der „faire“ Futures-Kurs für ein Jahr wie folgt: 6.2 Der „Giftcocktail“ 143 <?page no="144"?> 𝑓 €/ $ 𝑠 €/ $ ∙ 1 𝑖 € 1 𝑖 $ 0,8 €$ 1 0,005 1 0,005 0,8 ∙ 0,99005 €$ 0,79204 €$. Das bedeutet, dass auf Basis des Spotwechselkurses von 1,25 $/ € bzw. 0,8 €/ $ und der beiden Zinssätze in t = 0 ein „fairer“ Kurs in Höhe von 0,79204€/ $ bzw. 1,262563$/ € ein Jahr später folgt. Da der US-Dollar wegen der unterschiedlichen risikofreien Zinssätze im Laufe des Jahres mehr Wert verliert als der Euro, bekommen Sie forward mehr US-Dollar für einen Euro als zum aktuellen Wechselkurs. Dies ist keine Vorhersage eines zukünftigen Wechselkurses, sondern eine Folge rechnerischer Beziehungen, die lediglich die Möglichkeit der risikofreien Anlage von US-Dollar und Euro und einen aktuellen Wechselkurs erfordern. Wenn Sie also einen zukünftigen Studienaufenthalt in den USA für sich oder ihre Kinder planen und Sie sich gegen einen zukünftigen schwachen Euro absichern wollen (d.h. Sie bekommen in Zukunft weniger Dollar für Ihre Euros), können Sie z.B. über die Terminbörse Eurex die Verpflichtung eingehen, zu diversen Stichtagen in ein, zwei oder auch mehr Jahren Dollars für Euro zu kaufen. Sie verpflichten sich dann in der Gegenwart, in der definierten Zukunft die entsprechende Anzahl von Euros bereitzustellen und dafür US-Dollar entgegen zu nehmen. Im obigen Beispiel würde das deutsche Unternehmen in der Gegenwart einen Vertrag abschließen, dass es in einem Jahr 10.000 US-Dollar verkaufen und dafür 7.920,40 Euro erhalten wird bzw. Sie würden in einem Jahr 7.920,40 Euro bezahlen und dafür 10.000 US-Dollar erhalten. Dieser Sicherungsvertrag (der Fachterminus lautet Hedging) wird heute in t = 0 abgeschlossen, der Austausch der Währungen erfolgt in einem Jahr, in t = 1. Darüber hinaus werden Futures für Spekulationszwecke (hier zum Beispiel auf steigende oder fallende Wechselkurse) verwendet. Sie werden bemerkt haben, dass der heutige Kurs von 0,8 €/ $ und der Futures-Kurs in einem Jahr von 0,79204 €/ $ „zusammengehören“. Bei Abweichungen erfolgen Marktbewegungen wie im oben dargestellten Beispiel der drei Währungen, bis das Gleichgewicht zwischen Spot- und Terminmarkt näherungsweise wiederhergestellt ist. Da es aber ständig Kursänderungen gibt, kommt dieses System bis auf die wenigen Stunden an den Wochenenden, wenn in den USA nicht mehr und in Neuseeland, dann Australien, Japan usw., noch nicht wieder gehandelt wird, nicht zur Ruhe. Die überwiegende Anzahl der Kontrakte wird somit ge- und verkauft, um Arbitrageprofite zu erzielen. Notwendige Voraussetzung für das Abschöpfen von Arbitragegewinnen ist dabei im Normalfall das Vorhandensein von Hochleistungsrechnern (Stichwort technologischer Fortschritt) und das dazu korrespondierende Personal. Aus nun leicht einsichtigen Gründen ist die für praktische Zwecke noch einigerma‐ ßen brauchbare Vorhersage von zukünftigen Wechselkursen über längere Zeiträume (d.h. jenseits von 2 oder 3 Tagen) allein aufgrund der Komplexität des Gesamtsystems ein Ding der Unmöglichkeit. Sie dürfen davon ausgehen, dass die meisten „Vorhersager“ das auch wissen. 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 144 <?page no="145"?> 4 Fed ist die gängige Abkürzung für Federal Reserve System, das US-amerikanische Zentralbanksystem. 5 Leitzinsen sind die von einer Zentralbank festgelegten Zinsen, zu denen sich Geschäftsbanken bei einer Zentral- oder Notenbank Geld beschaffen oder anlegen können. 6.2.2 Zinspolitik von EZB und Fed 4 Die Geldpolitik ist eine „Erfindung“ der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Salopp ausgedrückt: Wenn das volkswirtschaftliche Gleichgewicht vom Handeln der Zentral‐ banken oder der Regierungen abhängig ist, kann man das Argument der Selbstregulie‐ rung des Marktes nicht wirklich ernst nehmen. Abb. 6.2 illustriert die Entwicklung der sogenannten US- und Euro-Leitzinsen 5 der Jahre 2000 bis 2020. Das zwischenzeitliche Anheben des Leitzinses durch die US-Notenbank Fed von Ende des Jahres 2015 bis 2019 war dabei offensichtlich mitnichten das Ende einer Teilära fallender Zinsen in den entwickelten Ländern. Abb. 6.2: Zinsvergleich Eurozone vs. USA (Quelle: leitzinsen.info, 2020) Abb. 6.2: Zinsvergleich Eurozone vs. USA (Quelle: leitzinsen.info) Wenn wir über Zinsen, also die Überlassung von Geld auf Zeit, reden, sollten wir allerdings einen größeren historischen Rahmen betrachten. Die folgende Grafik, die mir freundlicherweise vom Finanz und Wirtschaft Verlag in Zürich überlassen wurde, illustriert die Entwicklung der langfristigen Zinsen seit der Französischen Revolution bis in die Gegenwart. 6.2 Der „Giftcocktail“ 145 <?page no="146"?> Abb. 6.3: Langfristige Zinsen und Inflation (Quelle: Finanz und Wirtschaft-Verlag [3] ) Wenn wir Abbildung 6.2 an Abbildung 6.3 legen, wird sofort offensichtlich, dass die Zinsen in Europa und in den USA als Vertreter der „entwickelten Welt“ seit Anfang der 1980er Jahre - dies war übrigens der Zeitpunkt des Beginns der massenhaften Verbreitung von Computern - im Sinkflug sind. Tatsächlich sind der demografische Alterungsprozess und die Bewegung zu einer Datenwirtschaft c.p. zinsdämpfend, da ältere Menschen c.p. mehr sparen und die Unternehmen weniger in die Errichtung von Fabriken, sondern mehr in Lizenzen usw. investieren. Ob, und falls ja, wann die Zeit des ganz billigen Geldes in der Eurozone vorbei sein wird, ist eine von noch zahlreichen offenen Fragen der Wirtschaftspolitik nicht nur in Deutschland. Qualitativ anders stellt sich die Situation in den meisten Developing Countries dar: Ende September 2020 lagen die Leitzinsen in den großen Schwellenländern Argentinien bei 60%, in der Türkei bei 24%, in der Ukraine bei 18%, in Ägypten bei 16,7%, in Vietnam bei 9%, in Pakistan bei 8% und in Südafrika und Indien bei jeweils 6,5%. Wesentlich für die hohen Zinssätze in diesen Ländern sind junge wachsende Bevölkerungen und Volkswirtschaften verbunden mit den Versuchen der Regierungen, den Abfluss von Kapital zu verhindern, zu bremsen oder gar umzukehren. Im Folgenden sollen einige wesentliche Begriffe noch einmal geklärt werden. 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 146 <?page no="147"?> 6 Negativzinsen sind historisch allerdings nicht neu. Im England des 17. Jahrhunderts war es üblich, dass Kaufleute ihr Gold bei Goldschmieden in Verwahrung gaben, um nicht Opfer von Raub zu Begriffliches: Geld oder Geldangebot ist grundsätzlich alles, was als Zahlungsmittel für Güter, Dienstleistungen oder die Rückzahlung von Schulden akzeptiert wird (Dies ist eine relativ breite und laxe, aber hier zielführende Definition, die dem Buch von Mishkin „The Economics of Money, Banking and Financial Markets“ entlehnt wurde [4] ). Geld ist zu unterscheiden von Vermögen, der Gesamtzahl von Werten und Wertgegenständen, die als Wertspeicher dienen, und Einkommen, das einem Flusskonzept zugrunde liegt. Wichtig ist ferner die Unterscheidung zwischen Renditen und Zinsen. Die Rendite ist nur dann dem Yield to Maturity (auf Deutsch in etwa Verfallsrendite) gleich, wenn die Haltedauer gleich der Zeit bis zur Fälligkeit ist. Ein Ansteigen der Zinsen geht einher mit einem Fallen von Anleihepreisen, wobei die prozentuale Reaktion des Bondpreises bei einer Zinsänderung c.p. mit steigender Laufzeit umso stärker ausfällt. Preise und Renditen sind bei langlaufenden Bonds also volatiler als bei sogenannten Kurzläufern. Inflation wird als der dauerhafte Anstieg des Preisniveaus betrachtet, der sich aus der Ausweitung der Geldmenge ergibt. Deflation beschreibt den aggregierten Rückgang des Preisniveaus. Die Folgen von Deflation und starker Inflation werden als negativ betrachtet (als wünschenswert wird eine „leichte“ Inflation angesehen). Deflation benachteiligt Schuldner, bevorteilt Gläubiger und sorgt für eine erhöhte Nachfrage nach Bargeld. Investitionen werden von Unternehmen und Konsumen‐ ten zurückgestellt, da auf sinkende Preise gesetzt wird. Inflation hingegen bevor‐ teilt Schuldner, benachteiligt Gläubiger und sorgt für eine erhöhte Nachfrage nach Sachgütern. Hohe Inflation führt zur Flucht in Sachwerte, Stichwort: Betongold. Deflationserwartungen können sich gegenwärtig z.B. aus den sinkenden bzw. stagnierenden Energie- und Agrargüterpreisen ergeben. Mittelfristige Inflations‐ erwartungen speisen sich hingegen aus der expansiven Fiskalpolitik und der in zahlreichen Staaten betriebenen expansiven Geldpolitik. Nominalzinsen haben nur einen indirekten Bezug zu Inflation oder Deflation, während Realzinsen die tatsächlichen Kapitalkosten besser wiedergeben. Bereits vor Ausbruch der Finanzkrise im Jahre 2008, nämlich seit dem Krieg gegen den Terror, der 2001 begann, haben die USA ihre Staatsausgaben wieder massiv ausgeweitet. Seit Mitte der 2010er Jahre sind die realen Verzinsungen auf das aggregiert eingesetzte Kapital negativ, was stark vereinfacht zu Wohlstandsverlusten eines großen Teils der Bevölkerung - jedenfalls derjenigen, die nicht Besitzer von Sachwerten wie „gute“ Immobilien und Aktien sind - geführt hat. 6 Der Preisboom der Sachwerte 6.2 Der „Giftcocktail“ 147 <?page no="148"?> werden. Für diese Verwahrung bezahlten sie eine Gebühr, die man Negativzinsen gleichsetzen kann. So enstanden mit den Goldsmiths Notes Vorläufer unseres heutigen Papiergeldes. ging einher mit der Ausweitung der Geldmenge. Obwohl sich das BIP der USA in den vergangenen zwanzig Jahren um real ca. drei Viertel erhöht hat, ist das nominale Durchschnittseinkommen der US-Amerikaner in dieser Zeit fast unverändert geblieben. Mit anderen Worten: Die Einkommen der Mittelklasse sind zulasten einiger Superreicher gefallen. In Europa beobachten wir Ähnliches seit ca. 2010. Bereits kurz nach Ausbruch der Finanzkrise waren wir mit negativen Realzinsen konfontiert. Beachten Sie in diesem Zusammenhang, dass die hohen Lohnabschlüsse im öffentlichen Dienst in Deutschland in den vergangenen Jahren zwar nicht inflationstreibend waren, dafür aber Neuein‐ stellungen im öffentlichen Dienst, vor allem bei finanzschwachen Kommunen und Unternehmen der öffentlichen Hand, reduziert haben dürften. Zur Rolle des Bargeldes und der Frage „Was ist Geld? “ „Es gibt Dinge, die sind so selbstverständlich, dass man nicht über sie nachdenkt. Zu ihnen gehört das Geld. Man holt die Scheine aus dem Automaten, trägt sie im Portemonnaie mit sich herum, zählt sie bisweilen und benutzt sie zum Zahlen. Aber wo kommt das Geld her? Es wird halt irgendwer drucken, denkt man.“ Mit diesen Sätzen eröffnete Christian Siedenbiedel in der FAZ im Jahr 2012 seine Betrachtungen zum Geld. [5] Volkswirtschaftliche oder bankbetriebliche Lehrtexte beginnen üblicherweise mit Definitionen der Geldmengen M1, M2 und M3. Die Geldmenge M1 beinhaltet das laufende Bargeld ohne Kassenbestände der monetären Finanzinstitute und die täglich fälligen Einlagen (Solange die Bank das Geld hat, wird es nicht zu M1 gezählt.). M2 beinhaltet neben M1 Einlagen mit einer vereinbarten Laufzeit von bis zu zwei Jahren und Einlagen mit einer vereinbarten Kündigungsfrist von bis zu drei Monaten. Die Geldmenge M3 beinhaltet zusätzlich zu M2 noch weitere kurzfristige Geldanlagen, die von Banken und Finanzinstituten ausgegeben werden, wie z.B. Bankschuldverschreibungen mit einer Ursprungslaufzeit von bis zu zwei Jahren, von Geldmarktfonds ausgegebene Anteile sowie Repo-Geschäfte. Über die Frage, wie Geld entsteht, besteht jenseits der Definitionen der Geldmen‐ gen M1, M2 und M3 aber keinesfalls Einigkeit. Der noch stets einflussreiche österreichische Nationalökonom Carl Menger (1840-1921) baute seine Geldtheorie z.B. auf der Prämisse auf, dass der Wert eines Gutes vom individuellen Nutzen abhängt und damit subjektiv ist. Die dynamische Preisbildung orientiert sich somit am Grenznutzen der Nachfrager. Geld als die tauschfähigste aller Waren entsteht somit „spontan“ und verschwindet ebenso. Diese Sicht der Dinge ist gut mit der Darstellung der Geldschöpfung durch private, genossenschaftliche oder öffentlich-rechtliche Geschäftsbanken, die vielen von Ihnen aus Ihrem Studium 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 148 <?page no="149"?> 7 Die 500-Euro Banknote bleibt gültiges Zahlungsmittel. Eingenommene Banknoten werden aber über die Banken eingezogen und schlussendlich von der Bundesbank im Auftrag der EZB geschreddert. vertraut ist, vereinbar. Buch- oder Giralgeld wird unter der Aufsicht des Staates bei der Kreditvergabe oder beim Ankauf von Vermögenswerten „geschöpft“ (vgl. jedes einschlägige Lehrbuch der Bankbetriebslehre). Im vergangenen Jahrzehnt haben wir kleine Schritte vom Bargeld als einem dominanten Teil von M1 hin zu elektronischen Zahlungsweisen beobachtet. Es ist insgesamt schwieriger geworden, auf größere Summen von Bargeld zurück‐ zugreifen. Wenn Sie von einem EU-Staat in einen anderen reisen, müssen Sie Bargeldbeträge oberhalb von 10.000 Euro angeben, größere Käufe wie Autos können praktisch nicht mehr bar erledigt werden und viele Banken erheben Gebühren für die Bargeldabhebung vom Automaten. Inwieweit die Corona-Krise dazu beigetragen haben wird, die Deutschen auch bei kleineren Beträgen vom Bargeld hin zum z.B. kontaktlosen Bezahlen mit Giro- oder Kreditkarten zu bewegen, wird sich noch erweisen müssen. Tatsächlich ist die Bewegung weg vom Bargeld politisch gewünscht, sie ist also werteorientiert. Die klassischen Begründungen lauten u.a. Verhinderung von Geldwäsche und Krimi‐ nalitätsprävention. Ein Schritt dazu war die „Abschaffung“ der 500 Euro-Banknote im Jahr 2019. 7 Bargeld hat aber jenseits von Argumenten, die die Wahrung der Privatsphäre betreffen, einige weitere unbestreitbare Vorteile: Es stellt zwar keinen Schutz gegen Inflation, dafür aber einen Schutz gegen Negativzinsen und ebenso einen Schutz gegen eine Bankpleite dar. So etwas ist auch in unserer Gegenwart nicht ganz so unmöglich, wie es auf den ersten Blick erscheint. Im Jahr 2007 ging z.B. die britische Bank Northern Rock pleite, ebenso gab es zu Beginn der Finanzkrise Bankinsolvenzen in Zypern und Island, bei denen auch die Sparer, die ihre Einlagen bei diesen Banken hatten, jenseits einer Einlagesicherung betroffen waren. Solange also die Menschen Bargeld horten können, wird es der Zentralbank schwer fallen, flächendeckend Negativzinsen einzuführen, die unter den Kosten der Bargeldver‐ wahrung (Stichwort Tresore) liegen. Prinzipiell können alle elektronischen Zahlungen vom Staat nachvollzogen werden und ob der Datenschutz in Zukunft so gehandhabt wird, wie wir das gewöhnt sind, ist eine offene Frage. Das zentrale Argument ist nicht die Frage, ob der heutige Staat Ihre Finanzdaten analysieren würde, zu verneinen, sondern zu bejahen, dass er es könnte, wenn er es wollte. Während der Amtsszeit von US-Präsident Trump wurde in den USA wenig gegen das Bargeld unternommen. Das war in der Amtszeit von Präsident Obama, zu dessen wichtigste Beratern Larry Summers und Kenneth Rogoff gehörten, beides Ökonomen, die dem Bargeld grundsätzlich negativ eingestellt sind, durchaus 6.2 Der „Giftcocktail“ 149 <?page no="150"?> anders. Auch hier hat die Präsidentschaftswahl im November 2020 fast sicher wichtige temporäre Weichen gestellt. Alle Überlegungen in Richtung Krypto(zentralbank-)geld zielen in Richtung Ef‐ fizienz. Das mag auf Fidschi mit 200 gering besiedelten Inseln oder auch in Nordschweden, wo die Versorgung der Bevölkerung mit Bargeld in der Tat eine technische Herausforderung darstellt, seine Berechtigung haben, nicht aber in Zentraleuropa. Machen wir uns also auch hier klar, dass Präferenzen für Bargeld oder Nichtbargeld oder gar einen Wettbewerb von Währungen primär ideologisch getrieben sind und in Verbindung damit stehen, was für ein Menschenbild in den regierenden Eliten dominiert. .4: Geldmengenentwicklung im Euro-Währungsgebiet: Mai 2020 (Quelle: Bundesbank) Abb. 6.4: Geldmengenentwicklung im Euro-Währungsgebiet: März 2020 (Quelle: Bundesbank [6] ) Die Interpretation von Abb. 6.4, die den Geldmengenzuwachs von M1 und M3 seit 2015 darstellt, haben Sie mit Sicherheit schon oft gelesen oder gehört: Geld wird über die Zentralbank in den Wirtschaftskreislauf „gepumpt“ in der Hoffnung, dass dieses Geld produktiv angelegt werde, d.h., dass das Geld in den Produktionsbzw. werteschaffenden Kreislauf eingespeist wird und von oben nach unten „durchsickert“. Bekannt ist ein zentrales Risiko einer Strategie der Geldmengenausweitung; dass das neu geschaffene Zentralbankgeld mangels Anlagemöglichkeiten im produktiven oder Dienstleistungssektor, die durch ein „vernünftiges“ erwartetes Rendite-Risiko-Profil gekennzeichnet sind, in Assetmärkte fließt. Stichworte hierzu sind Betongold, die Sub‐ prime-Krise in den USA und der zunehmende Hang, Wertgegenstände wie Aktien auf Kredit zu kaufen. Die oft zu lesende Darstellung, dass eine solche Zentralbankpolitik „die Reichen“ auf Kosten „der Armen“ begünstige und die Reichen so nur noch reicher 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 150 <?page no="151"?> werden, ist allerdings höchstens kurz- und mittelfristig korrekt. Langfristig dürften hier alle, die nicht zum rechten Zeitpunkt den Absprung aus den Assetmärkten geschafft haben, verlieren (siehe auch weiter unten die Box „Das Kapital ist ein scheues Reh“). Inflation und ihre Messung Inflation bzw. Deflation wird mithilfe von Preisindizes (die bekanntesten Vertre‐ ter sind Laspeyres- und Paasche-Indizes) ermittelt. Das Statistische Bundesamt ermittelt das durchschnittliche Preisniveau mithilfe des Verbraucherpreisindex, der ein Laspeyres-Preisindex ist. In diesen Index gehen die Verbraucherpreise bestimmter Güter und Dienstleistungen eines vom Statistischen Bundesamt fest‐ gelegten Warenkorbs ein. Jedes Gut und jede Dienstleistung hat in dem Index ein unterschiedlich starkes Gewicht. Die Gewichtung ergibt sich wiederum aus Verbräuchen dieser Waren in der Vergangenheit. Dass sich Kaufverhalten ändert, haben wir alle im Frühjahr 2020 nach Ausbruch der Corona-Krise erfahren. Die Menschen kauften vor allem Lebensmittel, Drogerieartikel und andere Produkte des täglichen Bedarfs, gaben aber kein oder später wenig Geld für Kultur- und Sportveranstaltungen, Restaurants und Hotels aus. Bei den meisten unter den zumeist „Besserverdienenden“, die im Homeoffice blieben, dürfte auch der Anteil der Kraftstoffkosten an den Gesamtausgaben gesunken sein. Wir werden nun die Funktionsweise des Laspeyres-Preisindex und des Paa‐ sche-Preisindex an einem Beispiel verdeutlichen. Nehmen Sie an, dass Ihr Wa‐ renkorb aus drei Gütern besteht: Essen, Wohnraum und Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs. Im Basisjahr 2018 bewohnten Sie eine Fläche von 25 m 2 , für die Sie 250 Euro Miete oder 10 Euro/ m 2 pro Monat bezahlten. Ferner nutzten Sie in einem Monat 20-mal den öffentlichen Nahverkehr, wobei Sie 1,50 Euro pro Fahrkarte bezahlten. Ihre täglichen Ausgaben für Essen betrugen 8 Euro. Ein Jahr später bewohnen Sie eine neue 40 m 2 große Wohnung, die 520 Euro bzw. 13 Euro/ m 2 kostet und Ihre Ausgaben für Essen sind von 8 auf 9 Euro pro Tag gestiegen. Erfreulicherweise können Sie im neuen Jahr den öffentlichen Nahverkehr kostenfrei benutzen. Wir berechnen nun die Preisindizes nach Laspeyres und Paasche, wobei wir annehmen, dass ein Monat 30 Tage hat. Der Preisindex nach Laspeyres berechnet sich durch 𝑃 ∑ ∑ , wobei N die Anzahl der Güter im Warenkorb ist, die obere Indexzahl 0 das Basisjahr (hier 2018) bezeichnet und der Index t zum Berichtsjahr (2019) korrespondiert. Im Nenner befinden sich somit die Summe der Ausgaben für die Güter im Basisjahr. Im Zähler werden, um Vergleichbarkeit zu gewährleisten, die Mengen des Basisjahres 6.2 Der „Giftcocktail“ 151 <?page no="152"?> 8 Das Statistische Bundesamt stellt auf seiner Website einen Rechner zur Verfügung, mit dem Sie Ihre individuelle Inflation ermitteln können: https: / / service.destatis.de/ inflationsrechner/ Inflations rechner.svg mit den Preisen des Berichtsjahres multipliziert und dann aufsummiert. Wir tun hier also so, als würden Sie noch in Ihrer 25m 2 -Wohnung leben, aber die erhöhte Miete pro Quadratmeter des Jahres 2019 bezahlen. Im Beispiel ist 𝑃 ∙ ∙ ∙ ∙ ∙ , ∙ = 1,144. Der Preisindex nach Paasche berechnet sich durch 𝑃 ∑ ∑ . Referenzzeitpunkt ist hier das Berichtsjahr im Zähler. Im Beispiel ist 𝑃 ∙ ∙ ∙ ∙ ∙ , ∙ = 1,179. Während der Preisanstieg nach Laspeyres nur 14,4% beträgt, sind es nach Paasche 17,9%. Diese Unterschiede beruhen primär auf der Wahl bzw. Definition des Bezugswertes. Vielleicht hilft Ihnen die folgende Eselsbrücke: Wenn Sie 190 cm und Ihr Bruder 171 cm groß sind, dann ist Ihr Bruder 10% kleiner als Sie, Sie sind aber 11,1% größer als er. Tatsächlich muss die vom Statistischen Bundesamt berechnete Inflation als aggregier‐ tes Maß eine beschränkte Aussagekraft haben. Die Kaufkraft von Geringverdienern (und damit reden wir über ca. ein Drittel der deutschen Bevölkerung) ist besonders von den Preisen notwendiger Güter wie Lebensmittel, Energie, Wohnraum und öffentlichem Nahverkehr abhängig. Inwieweit sich die Preise der meisten der derzeit ca. 650 Güter, die im Warenkorb des Statistischen Bundesamtes enthalten sind [7] , verändern, ist für sie weitgehend irrelevant. Dazu korrespondiert die Tatsache, dass Umfragen der EU-Kommission regelmäßig anzeigen, dass die Bevölkerung die Inflation höher fühlt, als sie von den Statistikern angeben wird. Ebenso gibt es natürlich große regionale Unterschiede. So wie Ihnen ein Brutto‐ verdienst wenig sagt, wenn Sie die Lebenshaltungskosten nicht kennen und wie es Unterschiede in der Lebenserwartung gibt, so gibt es auch unterschiedliche regionale und letzlich persönliche Inflationen. 8 Mitunter wird auch auf die Kerninflation abgestellt. Hier ist sprachlich Vorsicht angebracht: Die Kerninflationsrate schließt die Preise für Lebensmittel und En‐ 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 152 <?page no="153"?> ergie aus mit genau der Begründung, dass diese in stärkerem Maße Schwankungen unterworfen sind. Anders ausgedrückt: Die Angabe einer Kerninflationsrate ist für den überwiegenden Teil der Bevölkerung noch weniger relevant als die der „normalen“ Inflation. 6.2.3 Auswirkungen der Niedrigzinspolitik Die Niedrigzinsen, die wir seit Jahren konstatieren, haben Baugeld billiger, dafür Im‐ mobilien c.p. teurer gemacht, sie haben Aktienkurse befeuert und ein Standardprodukt der deutschen Anleger, die klassische Kapital-Lebensversicherung, weitgehend ins Abseits gedrängt. (Der Garantiezins für Neuverträge wurde seit 2000 kontinuierlich auf 0,9% im Jahr 2020 gesenkt). Wiederum etwas simplifiziert: Sie haben, da es keine quasi-risikolosen Anlagen mehr gibt, Anleger aller privaten, institutionellen und staatlichen Kategorien in risikobehaftete Anlagen gedrängt, wobei die Risiken von den jeweiligen Entscheidern zumeist nur teilweise oder überhaupt nicht verstanden werden. Exemplarisch können die börsennotierten europäischen Banken und ihre Performance während der vergangenen 10 Jahre für diese Argumentation herhalten: Neben dem technologischen Wandel, der klassische Ertragssäulen pulverisierte und kurz durch Bill Gates’ alte Aussage aus dem Jahre 1994 „Banking is necessary, banks are not.“ zusammengefasst werden kann, führten in den vergangenen Jahren die Preisent‐ wicklung auf den Rohstoffmärkten zu z.B. kollabierenden finanziellen Engagements nicht nur in Frackingunternehmen. Die Zukunft vieler großer europäischer Institute, also nicht nur der Deutschen Bank, die eigentlich Meister des Umgangs mit Risiken sein müssten, war Ende 2020 mit „prekär“ noch freundlich beschrieben. Zur normativen Dimension des Risikos Von Risiken betroffene Personen haben grundsätzlich ein Recht darauf, zu entschei‐ den, welche Risiken sie tragen wollen. Notwendige Voraussetzung dafür ist es, diese Risiken qualitativ und quantitativ zu verstehen, sofern es sich überhaupt um Risiken und nicht um Unsicherheit handelt: Bei Unsicherheit im engeren Sinne sind keine Eintrittswahrscheinlichkeiten verfügbar, während in Risikosituationen Eintrittswahr‐ scheinlichkeiten für Ergebnisse bzw. Umweltzustände angegeben werden können. Wiederum grundsätzlich unterscheiden wir drei Phasen der Auseinandersetzung mit Risiken, die durch folgende Fragen charakterisiert sind: 1. Was ist ein Risiko (bzw. welche Situationen sind „riskant“)? 2. Wie hoch ist das Risiko im Sinne einer Eintrittswahrscheinlichkeit (sofern eine solche angegeben werden kann) und wie groß ist der mögliche erwartete Schaden? 3. Ist das Risiko „vertretbar“? 6.2 Der „Giftcocktail“ 153 <?page no="154"?> Beachten Sie, dass diese Fragen direkt mit den Freiheitsrechten bzw. der Beschnei‐ dung derselben in jeder uns bekannten modernen Gesellschaft verbunden sind. Sie betreffen also z.B. Ihre öffentliche Sicherheit und Überwachung genauso wie Ihre staatlich geförderte Altersvorsorge. Das zentrale Problem ist die Abgrenzung von Risiko und Unsicherheit. Wenn die Finanzmärkte nur risikobehaftet wären, bedürften wir nur besserer Risikomodelle und Techniken, die dem Finanzsektor im Zweifel über den Staat vorgeschrieben würden. Dies würde über mehr und „bessere“ Märkte erreicht. Man hat sich nach Ausbruch der Finanzkrise vernünftigerweise dafür entschieden, „bessere“ Instrumente und Techniken zur Risikobewertung und zur -kontrolle zu entwickeln. Wichtigste Stichworte waren „systemische Risiken“ und „too big to fail“. Tatsächlich wird der Kernkritikpunkt, dass nicht eleminierbare Unsicherheit zum Wesen von Finanzmärkten gehört und dass diese Unsicherheit nicht durch neue Märkte und noch kompliziertere Derivate behoben werden kann, nicht aus der Welt geschafft: D.h., dass in letzter Instanz natürlich der Staat gefordert ist. Ich habe mehrfach auf den Hang der modernen Menschen, alle Probleme technisch zu betrachten, hingewiesen. Dieser ist allerdings nicht neu. Ich möchte dazu das alte japanische Märchen „Wie Herr Hansaemon eine Fliege verschluckte“ kurz nacherzählen. [8] Der reiche Kaufmann Herr Hansaemon wollte nach dem Essen ein Glas Sake trinken. Er schloss die Augen und bemerkte nicht, dass eine Fliege in seinen Reiswein gefallen war. Er verschluckte also mit dem Sake auch die Fliege, die nun in seinem Bauch umherflog und ihm Unwohlsein bereitete. Herr Hansaemon besuchte daraufhin den berühmten Arzt Hori und schilderte ihm sein Missgeschick. Der Arzt dachte kurz nach und verschrieb Herrn Hansaemon, einen Frosch zu verschlucken. So getan fraß der Frosch die Fliege und Herr Hansaemon litt nun unter dem Frosch, der in seinem Bauch herumhüpfte. Der Arzt verschrieb ihm dann eine Natter, die den Frosch fressen würde, darauf ein Wildschwein, dass die Natter verzehren würde und schließlich einen Jäger, der das Wildschwein töten würde. Zum Ende des Märchens fand der Jäger nicht mehr aus Herrn Hansaemons Bauch heraus. Erinnern Sie sich hier an die Kernthesen von Mathias Binswangers Buch „Sinnlose Wettbewerbe: Warum wir immer mehr Unsinn produzieren“, das in Kapitel 1.2 präsentiert wurde. Herrn Hansaemons gibt es zuhauf: Weder haben wir eine schlüssige Strategie, wie mit Atommüll umzugehen ist noch eine Idee, was wir mit verbrauchten Ölplattformen oder „abgenutzen“ Windparks in der Nordsee machen. Ebenso ging Mitte 2020 fast jeder Politiker in der Öffentlichkeit davon aus, dass wir nur bis zur Einführung eines Impfstoffes gegen das Coronavirus warten müssten, dann würde schon wieder alles (mehr oder weniger) gut. Erst viel später wurde darüber angefangen nachzudenken, was wäre, wenn dieser Impfstoff nicht oder erst sehr spät entwickelt würde (von Produktionsoroblemen und -engpässen ganz 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 154 <?page no="155"?> 9 Wir haben die sehr menschliche Angewohnheit, Vergangenes aus der Gegenwart zu erklären. Dabei war aber in der Vergangenheit überhaupt nicht klar, wie die Zukunft aussehen würde und dass wir uns keinesfalls deterministisch auf unsere Gegenwart hinbewegten! Wenn es, während Sie dieses Buch in der Hand halten, einen oder mehrere dauerhaft erfolgreiche Impfstoffe gegen Covid-19 und seine Mutationen gibt, tut das der obigen Argumentation keinen Abbruch. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden, dass es keinen solchen Impfstoff gegeben hätte. 10 Der US-amerikanische Investor Warren Buffet bezeichnete im Jahr 2003 Finanzderivate als finanzielle Massenvernichtungswaffen. Letztlich geht es um die Frage, wie Kosten und Nutzen einer Erfindung oder eines Gutes für die Gesellschaft im Verhältnis stehen. Praktisch sagt es sich vor echter Erfahrung natürlich leicht, dass die therapeutischen und präventiven Maßnahmen (z.B. Lockdown) niemals schädlicher sein dürfen als die (Kosten der) Erkrankung (durch das Corona-Virus) selbst. Sie können dies gut an der Geschichte des Gebrauchs von Opium, das bis Anfang des 20. Jahrhunderts ein vielverschriebenes Schlaf- und Schmerzmittel war, nachvollziehen. zu schweigen) oder das Corona-Virus bzw. seine Mutationen über Eigenschaften verfügten, gegen die eine Impfung langfristig nicht hilft? 9 Ich persönlich bin als „Derivatenmathematiker“ davon überzeugt (das ist übrigens keine technische), dass Fragen der Finanzmarktstabilität nicht über mehr und bessere Instrumente, sondern über weniger Instrumente erreicht werden müssen. Den Staat haben wir als last resort so oder so im Boot. Wenn aber Finanzinstitute „too big to fail sind“, erleben wir eine Verquickung von Finanzindustrie und Staat, die die Grundfesten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aushebelt. Ich halte gerade die auf der Effizienzmarkthypothese beruhende Vorstellung, dass eine erhöhte Liquidität immer hilfreich ist, für einen fundamentalen Irrtum. Wenn wie bereits gesehen in Singapur eine kapitalistische Gesellschaft ohne Privateigentum an Wohneigentum funktionieren kann, bedarf es zu ihrem Funktionieren auch nicht der Möglichkeit von Leerverkäufen (s. die Box am Ende dieses Unterkapitels) und der Existenz von finanziellen Massenvernichtungswaffen im Buffet’schen Sinne. 10 Damit einher gehen gigantische Investitions- oder Spekulationssummen, die täglich bzw. minütlich oder sekündlich über den Erdball fließen (siehe oben.) Fließen bedeutet hier, dass diese Gelder ebenso schnell angelegt und wieder abgezogen werden können. „Das Kapital ist ein scheues Reh“ Dieser Karl Marx zugeschriebene Ausspruch bezog sich auf die Tatsache, dass Unternehmen und Investoren im 19. Jahrhundert innerhalb sehr kurzer Zeit ihr Geld aus Staaten abzogen, in denen sie Steuererhöhungen erwarteten bzw. „erlitten“. Diese Steuerangst ist heute durch Angst vor Anlageklassen, oft gepaart mit der diese verstärkenden Angst vor Fremdwährungsrisiken, ersetzt. Wenn also türkische oder russische Aktien massenhaft abgestoßen werden, geht dies fast sicher mit einem Verfall von Rubel oder Lira gegenüber den „Hartwährungen“ US-Dollar und Euro 6.2 Der „Giftcocktail“ 155 <?page no="156"?> einher. Ihr Geld als Euro- oder Dollar-Anleger wird also noch schneller entwertet, als das in der Landeswährung der Fall wäre, was den Handlungsdruck ausländi‐ scher Anleger verstärkt und damit gar nicht so selten zu einer Kapitalmassenflucht führt. Hinzu kommt, dass Finanzkapital auch sehr schnell vor jedem Ort ist, wenn sein Einsatz hohe Rendite verspricht. Damit korrespondiert wieder der die positive Performance verstärkende Effekt, der aus dem parallelen Erstarken der Währungen in den Investitionsländern resultiert. Die logische Konsequenz ist denkbar einfach: Das derzeitige Finanzsystem impli‐ ziert in seiner jetzigen Verfassung eine lange Reihe von sich abwechselnden Crashs und Booms. Die US-Notenbank Fed befindet sich damit in einer schwierigen Situation: Die Fed ist zwar primär, aber eben nicht nur die Notenbank der USA: Sie managt mit dem US-Dol‐ lar die wichtigste Währung der Welt. Ihre Bedeutung ist im Zuge der Corona-Krise kurzfristig noch gewachsen. Im März 2020 gewährte die Fed anderen Zentralbanken, zahlreichen darunter der EZB, kurzfristige US-Dollar-Kredite. So wie Hunderttausende Häuslebauer in Polen und Ungarn Fremdwährungskredite in Schweizer Franken aufnahmen und von der Freigabe des Wechselkurses durch die Schweizer Nationalbank Anfang des Jahres 2015 böse erwischt wurden (und dann nach ihren Regierungen riefen), ist heute vermutlich die halbe Staaten- und Unternehmenswelt in US-Dollar verschuldet und ihre Rückzahlungsfähigkeit hängt wenigstens teilweise an niedrigen US-amerikanischen Zinsen. In China, Malaysia, den Philippinen, der Türkei, Indonesien, Mexiko, Südafrika und Chile sind die staatlichen und privaten Schulden in US-Dollar bereits nach dem „Schock“ von 2013 stark gestiegen. [9] Wenn die US-Zinsen also wieder steigen, müsste der US-Dollar c.p. gegenüber anderen Nebenwährungen aufwerten. Dem entgegen laufen Effekte, die auf der Steuerreform des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und der schuldenfinanzierten Coronapolitik seines Nachfolgers Joe Biden und dem damit verbundenen erwarteten Anstieg der US-Staatsverschuldung sowie Befürchtungen bezüglich eines zunehmenden Handelsprotektionismus beruhen. Langfristig ist allerdings davon auszugehen, dass die Rolle des chinesischen Renminbi oder synonym Yuan an den Währungsmärkten zunehmen wird (und dies kann im Sinne eines Nullsummenspiels nur zulasten des US-Dollars geschehen). Mit anderen Worten: Die Bedienung der Schulden durch die Schuldner wird wie für die polnischen oder ungarischen Häuslebauer schwierig bis unmöglich, da sich viele Schwellenländer in dem weiteren Dilemma befinden, dass sie ihre Einkünfte zu einem beträchtlichen Teil aus dem Verkauf von Rohstoffen generieren. (Eine gewisse Sonderrolle nimmt Russland ein, das seine Währung bei fallenden Erdölpreisen abwertet bzw. abwerten lassen kann.) 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 156 <?page no="157"?> Bemerkung: Im Gegensatz zu Deutschland werden Kreditverträge bzw. Darlehen in der das Weltfinanzsystem dominierenden angelsächsischen Welt nicht auf der Basis von festen Zinsen, sondern fast ausschließlich mit variablen Zinsen geschlossen. Nachdem durch die Fed im Jahre 2013 in Aussicht gestellt wurde, dass die Anleihekäufe der US-Notenbank allmählich zurückgefahren würden, schossen in vielen Schwellen‐ ländern die Zinsen in die Höhe und die Aktien- und Wechselkurse stürzten ab. Genau dies wird sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wiederholen, wenn in den USA bzw. der Euro-Zone die Zinsen substanziell erhöht werden. Abb. 6.5 illustriert, wie sich der Wechselkurs zwischen US-Dollar und Türkischer Lira innerhalb der vergangenen zehn Jahre mehr als vervierfachte. Abb. 6.5: Wechselkurs Neue Türkische Lira pro US-Dollar 2010 bis 2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 012345678 01/ 2010 01/ 2012 01/ 2014 01/ 2016 01/ 2018 01/ 2020 Neue Türkische Lira pro US-Dollar Abb. 6.5: Wechselkurs Neue Türkische Lira pro US-Dollar 2010 bis 2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) Abb. 6.6: Kupferpreis in US-Dollar pro Tonne 1996 - 2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 0 2000 4000 6000 8000 10000 12000 01/ 1996 01/ 1999 01/ 2002 01/ 2005 01/ 2008 01/ 2011 01/ 2014 01/ 2017 01/ 2020 Kupfer in US-Dollar pro Tonne Abb. 6.6: Kupferpreis in US-Dollar pro Tonne 1996-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 6.2 Der „Giftcocktail“ 157 <?page no="158"?> 11 Ein US-Scheffel bzw. bushel ist ein Raummaß, das 35,2391 Litern entspricht. Abb. 6.7: Weizen in US-Dollar pro Scheffel 1996 - 2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 0 2 4 6 8 10 12 01/ 1996 01/ 1999 01/ 2002 01/ 2005 01/ 2008 01/ 2011 01/ 2014 01/ 2017 01/ 2020 Weizen in US-Dollar pro Scheffel Abb. 6.7: Weizen in US-Dollar pro Scheffel 11 1996-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) Die Abbildungen 6.6 und 6.7 illustrieren die Preisentwicklung von Kupfer und Weizen und damit von zwei typische Ressourcen, die von Entwicklungsländern exportiert bzw. importiert werden. Wie auch bei anderen landwirtschaftlichen und mineralischen Ressourcen sind die Preisschwankungen beträchtlich. In Abgrenzung zu einer kurzfris‐ tigeren Betrachtung von 2010-2015, in der sich Agrarrohstoffe aggregiert verteuerten und Metalle sich verbilligten, ist weder bei den Kupfernoch bei den Weizenpreisen eine echte langfristige Tendenz zu erkennen. Die heftigen Kursausschläge (grafisch Sägezahnbewegungen) machen in vielen Entwicklungsländern aber eine sinnvolle staatliche Budgetplanung schwierig bis unmöglich. Auch wenn sich zahlreiche Rohstoffpreise bzw. -notierungen nach dem Frühjahrs‐ schock 2020 wieder erholt haben, ist sicher, dass die nächste Krise bestimmt kommt: Insbesondere rohstoffexportierende Länder, die ihre Währung an den US-Dollar gekoppelt hatten, wurden bei Kurseinbrüchen doppelt hart getroffen. Dies betrifft zahlreiche Staaten der strategisch wichtigen Golfregion, u.a. das „politisch wichtige“ Saudi-Arabien. Von wirtschaftlichem wie politischem Interesse ist hier, dass die Ölpreise im Früh‐ jahr 2020 während des Corona-Mini-Crashs kurzfristig negativ waren, d.h. dass der Empfänger von Öl vom Lieferanten noch Geld dafür bekam, dass er das Öl abnahm. [10] Leerverkäufe Wenn Sie den Kauf von Aktien in Betracht ziehen, werden Sie unter „normalen“ Umständen mit zwei möglichen Situationen konfrontiert sein. a) Sie glauben, der Aktienkurs wird (kurzfristig) weiter steigen. In diesem Fall werden Sie die Aktie in Erwartung zukünftig steigender Kurse kaufen. b) Sie erwarten, dass der Aktienkurs fällt. In diesem Fall werden Sie die Aktie nicht kaufen, sondern auf einen Zeitpunkt 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 158 <?page no="159"?> 12 Ganz so einfach ist das doch nicht: Bei Leerverkäufen brauchen Sie tatsächlich extra Rechte für Ihr Wertpapierkonto und finanzielle Sicherheiten, damit die Bank am Schluss nicht mit Ihren Verlusten aus Fehlspekulationen (in diesem Fall zu billig leerverkauften Aktien) dasteht. warten, zu dem Sie die Aktie dann hoffentlich zu einem niedrigeren Preis erwerben können. Tatsächlich gibt es aber das Instrument der Leerverkäufe, das Spekulanten erlaubt, auf fallende Kurse zu wetten bzw. von diesen zu partizipieren und das auch bei der Absicherung von Derivaten und der Portfoliooptimierung Anwendung findet. Denken Sie im Folgenden im Zweifel an einen Mietwagen, den Sie für eine Gebühr eine fest vereinbarte Zeit nutzen können. Dabei kann eine Aktie, solange die Firma nicht bankrott ist, nicht beschädigt werden. Nehmen Sie an, eine Siemens-Aktie kostet (wie Mitte 2020) 100 Euro. Sie erwarten fallende Kurse und leihen sich nun 100 Siemens-Aktien von jemandem, der diese Aktien besitzt aus mit der Verpflichtung, diese 100 Aktien drei Tage später an den Verleiher zurückzugeben. Welchen Preis die Aktie dann hat, ist prinzipiell irrelevant, da eine Aktie einen Bruchteil des Eigenkapitals eines Unternehmens darstellt, der sich nicht ändert, wenn der Preis steigt oder fällt. Sie müssen also die Aktien unabhängig von ihrem Preis zurückgeben. Sie verkaufen nun die 100 Siemensaktien zum Marktpreis von 100 Euro und erhalten 10.000 Euro minus die Transaktionskosten. Nun warten Sie bis spätestens zum Ende der Leihdauer. Nehmen Sie nun an, dass die Siemens-Aktien auf 90 Euro pro Stück fallen. Sie kaufen von dem Geld, das Sie aus dem Leerverkauf erhalten haben die 100 Aktien für nun 9.000 Euro zurück und haben einen Gewinn von 1.000 Euro minus Transaktionskosten (sagen wir 100 Euro für Verkauf und Rückkauf) eingenommen. Wenn Sie an den Mietwagen denken, merken Sie, dass etwas fehlt: Nämlich die Leihgebühren an den Verleiher. Diese sind im Allgemeinen sehr hoch; sagen wir 100 Euro für 3 Tage. Ihr Gewinn beträgt nun ohne Eigenkapital 12 aber immer noch 800 Euro. So weit so gut: Wenn die Siemensaktie aber auf 110 Euro pro Stück steigt, ist Ihre Verpflichtung, die Aktien zurückzukaufen, davon unberührt. Sie kaufen die Aktien für 11.000 Euro zurück und haben zweitens die Verkaufs- und Kaufgebühren sowie die Leihgebühren zu tragen, ergibt in Summe einen Verlust von 1.200 Euro aus nichts. Profitieren werden in jedem Fall der Verleiher und die Börse, die jeweils Gebühren nehmen. Leerverkäufe sind auch bei Rohstoffen möglich; im oben erwähnten Fall des negativen Ölpreises hatten sich aber vor allem Spekulanten verwettet, die auf steigende Preise gesetzt hatten, das Öl aber überhaupt nicht haben wollten bzw. technisch nicht in der Lage waren, es zu lagern. In diesem Fall bezahlten Menschen am Schluss dafür, dass Ihnen das Öl nicht auf den Hof geliefert wurde und ihnen 6.2 Der „Giftcocktail“ 159 <?page no="160"?> jemand das Öl „abnahm“. Ein großer Tag für die Leerverkäufer, die noch Geld dafür bekamen, hier Öl „zurückzukaufen", und für Leute mit Lagermöglichkeiten. So etwas kannten wir in der mittleren Vergangenheit nur von elektrischem Strom. [11] All dies geht einher mit riesigen Umsätzen, die Liquidität erfordern. Solche Phänomene sind bei Aktien in der derzeitigen Rechtslage nicht möglich, hier ist der Preis mit 0 nach unten begrenzt. Lassen Sie uns kurz zusammenfassen: Die seit länger als einer Dekade andauernde Niedrigzinsphase in den USA, der Eurozone, Japan und Großbritannien mit (einer zeit‐ weiligen? ) Tendenz zu Negativzinsen in Europa hat bei institutionellen wie bei privaten Anlegern den „Rettungsanker“ der risikofreien Anlage weitgehend verschwinden lassen. Sie bewirkt Verhaltensänderungen derart, dass noch mehr Investoren Risiken annehmen, die sie nicht verstehen. Die schweren ökonomischen Ungleichgewichte in der Eurozone bestehen, obwohl durch diverse „Rettungspakete“ abgemildert, fort. Deutschlands niedriger Arbeitslosigkeit und seinen hohen Exportüberschüssen stehen weitgehend unverändert Produktivitäten in Südeuropa und den Peripherieländern der EU gegenüber, die international nicht wettbewerbsfähig sind. All dies wird sich, trotz erstmaliger direkter Transfers in die von Corona am stärksten betroffen Länder wie Italien und Spanien, in den Folgejahren fast sicher durch eine weitere Abwanderung vor allem junger Menschen von der Peripherie, zu der inzwischen auch Teile Italiens zählen, ins Zentrum verstärken. 6.2.4 Taget2-Salden Der Begriff Target2-Salden wurde einer breiteren Öffentlichkeit durch den ehemaligen Präsidenten des Ifo-Institutes in München Hans-Werner Sinn bekannt. „Die Target-Forderungen der Deutschen Bundesbank gegenüber der EZB steigen seit 10 Jahren und liegen heute bei über einer Billion Euro. Demgegenüber verbucht die spanische Notenbank etwa 460 Milliarden Euro, und die italienische ca. knapp 520 Milliarden Euro an Target-Verbindlichkeiten (Stand: Juli 2020).“ [12] Auch wenn zweifelsfrei feststeht, dass ein Gläubiger ein Problem bekommt, wenn seine Schuldner nicht zahlen können, ist die Rolle der Target2-Salden unter Ökonomen nicht unumstritten. Außer Frage steht aber, dass die Corona-Pandemie gerade die großen EU-Volkswirtschaften Italiens und Spaniens kurzbis mittelfristig schwerer getroffen hat als Deutschland. Target2 ist ein Zahlungsverkehrssystem, über das nationale und grenzüberschrei‐ tende Euro-Zahlungen in Zentralbankgeld abgewickelt werden. Mitglieder des Tar‐ get2-Systems sind 19 Eurosystem- und 5 weitere europäische Notenbanken sowie die Europäischen Zentralbank (EZB). Dabei nehmen die Geschäftsbanken in den an Target2 angeschlossenen Ländern über ihre jeweilige nationale Zentralbank an Target2 teil. Banken außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) können 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 160 <?page no="161"?> über ihre Töchter in Ländern des Eurosystems oder im EWR Konten bei nationalen Zentralbanken eröffnen. Institute ohne Sitz oder eine Zweigstelle innerhalb des EWR können über andere direkte Teilnehmer an Target2 teilnehmen. Ein Target2-Saldo ist entweder eine Forderung oder eine Verbindlichkeit einer nationalen Zentralbank gegenüber der EZB, die im Zuge der Abwicklung grenzüberschreitender Zahlungen über das Zahlungsverkehrssystem Target2 entstanden sind. Die über Target2 abgewi‐ ckelten grenzüberschreitenden Zahlungen spiegeln sich in den Bilanzen der nationalen Zentralbanken wider. Fließen z.B. einer über die Bundesbank an Target2 teilnehmenden Geschäftsbank Gelder aus dem Ausland zu, führt dies bei der Bundesbank zu Verbind‐ lichkeiten gegenüber dieser Geschäftsbank. Im Gegenzug entstehen innertägliche For‐ derungen der Bundesbank in gleicher Höhe gegenüber der nationalen Zentralbank der sendenden Geschäftsbank. Diese hat entsprechende Verbindlichkeiten gegenüber der Bundesbank und reduziert durch die Kontobelastung ihre Verbindlichkeiten gegenüber der sendenden Geschäftsbank. Die durch eine Vielzahl von Transaktionen bei den nationalen Zentralbanken entste‐ henden innertäglichen Forderungen und Verbindlichkeiten gleichen sich normalerweise über den Tag nicht vollständig aus. Am Ende des Geschäftstages fungiert die EZB daher als zentraler Kontrahent: Alle bilateralen innertäglichen Forderungen oder Verbindlichkeiten unter den nationalen Notenbanken werden zu einer einzigen Forderung bzw. Verbindlich‐ keit der jeweiligen Zentralbank gegenüber der EZB zusammengefasst. Die so entstehenden Target2-(Netto)-Salden sind das Ergebnis der grenzüberschreitenden Übertragung von Zentralbankgeld innerhalb des Eurosystems sowie der anderen angeschlossenen Noten‐ banken, die nicht Mitglieder des Eurosystems sind. Den Transaktionen, die zum Entstehen von Target2-Salden führen, können unter‐ schiedliche Geschäfte zu Grunde liegen. Diese sind u.a. die Zahlung einer Warenliefe‐ rung, der Kauf oder Verkauf eines Wertpapiers, die Gewährung oder Rückzahlung eines fälligen Darlehens, die Geldanlage bei einer Bank, usw. Über Target2 wird den Banken von ihrer Zentralbank hauptsächlich über Refinanzierungsgeschäfte und zudem über den Aufbau von Wertpapierbeständen sowie über Geschäfte in eigener Verantwortung der nationalen Zentralbanken Zentralbankgeld zur Verfügung gestellt. Die Target2-Sal‐ den sind damit ein Teil der Intra-Eurosystem-Forderungen bzw. -Verbindlichkeiten. Die Target2-Salden gehen auf Zahlungsbilanzungleichgewichte in mehreren EWU-Staaten zurück; dabei können sowohl Leistungsbilanzdefizite als auch Kapital‐ exporte des Privatsektors eine Rolle spielen. Bis zum Ausbruch der Finanzkrise bis zum Jahre 2007 glichen sich die grenzüberschreitenden Transaktionen in Target2 weitgehend aus, so dass es nicht zum Aufbau von Target2-Salden in größerem Umfang kam. Seit der Finanzkrise sind jedoch bedeutende positive und negative Target2-Salden bei einzelnen nationalen Zentralbanken entstanden. Während der Finanzkrise waren zahlreiche Institute weitgehend vom Markt abge‐ schnitten und nahmen Liquiditätshilfen durch die Notenbanken in Anspruch. Kurz‐ fristig auftretende Target2-Salden bauten sich so nicht mehr vollständig durch private Kapitalflüsse ab. Mit den Wertpapierkaufprogrammen des Eurosystems kam es zu 6.2 Der „Giftcocktail“ 161 <?page no="162"?> einem (Wieder)Anstieg der Target2-Salden. Kaufen die nationalen Zentralbanken Wertpapiere von Geschäftspartnern an, die über eine andere nationale Zentralbank an Target2 teilnehmen, kommt es zu einer grenzüberschreitenden Transaktion über Target2. Entscheidend für die Auswirkungen auf den Target2-Saldo sind also neben der Wahl der kontoführenden nationalen Zentralbank, über die sich Geschäftspartner an Target2 anschließen, auch die bestehende Target2-Position der an der Transaktion beteiligten nationalen Zentralbank. Die klassischen Risiken für Notenbanken resultie‐ ren aus Operationen, durch welche Zentralbankliquidität geschaffen wird. Zusätzliche Risiken aus den Target2-Salden können jedoch entstehen, wenn ein Land mit Tar‐ get2-Verbindlichkeiten gegenüber der EZB die Währungsunion verlässt. In diesem Fall könnten abhängig vom Willen und der Fähigkeit des entsprechenden Landes, diese Verbindlichkeiten zu begleichen, bei der EZB bilanzwirksame Verluste entstehen, die nach Kapitalanteilen auf alle verbliebenen Mitglieder der Währungsunion aufgeteilt würden. Die potentielle Risikoposition der Bundesbank ist demnach unabhängig von der Höhe des eigenen Target2-Saldos. Entscheidend für eine mögliche Risikoposition sind somit die Höhe der Target2-Verbindlichkeit eines potentiell austretenden Landes und seine Fähigkeit, diese zurück zu zahlen. Letztlich ist die Frage, wie mit diesen Target2-Salden umgegangen wird, eine politische. In China besteht z.B. seit Anfang dieses Jahrhunderts (! ) die Überzeugung, dass die USA niemals real an China zurückzahlen werden, was sie aus China mehr importierten als exportierten. Das war es der chinesischen Staatsführung aber wert, Werte „zu verschenken“, da die in der Exportindustrie geschaffenen Arbeitsplätze zur sozialen Stabilität beitrugen (vgl. Kapitel 13). Exkurs: Von der Macht der Ideen (und den Grenzen des Verständnisses) Die großen Ökonomen der vergangenen 200 Jahre Karl Marx, John Maynard Keynes, Friedrich Hayek und Milton Friedman glaubten wie der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud und viele andere Geistesmenschen an die Kraft der Ideen. Tatsächlich ist es aber notwendige Voraussetzung für die Relevanz oder gar Machtergreifung von Ideen (heute würde man sagen, dass sie sich zu verbreiteten Narrativen entwickeln), dass wichtige Teile der Gesellschaft einen Nutzen in ihnen sehen. In den Jahren der Großen Depression war es in den USA primär die Angst der Mächtigen und Reichen, dass die Arbeiter sich dem Kommunismus zuwenden würden, die sie bewog, den Arbeitern und Angestellten vom Gesamtkuchen ein gutes Stück abzugeben. Weitgehend vergessen ist, dass es bis zum Ausbruch des II. Weltkrieges nicht nur in Italien und Deutschland, sondern auch in Großbritannien und den USA starke faschistische Parteien bzw. profaschistische Strömungen gab. 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 162 <?page no="163"?> Dies und jenseits des Atlantiks lagen die Arbeitslosenquoten über viele Jahre bei ca. 20 - 25%, Lohn- und Preiskontrollen, Financial Regulation, die Einführung eines sozialen Sicherungsnetzes sowie gewerkschaftsfreundliche Gesetze waren an der Tagesordnung. Nach dem II. Weltkrieg war der politische Faschismus bis auf Relikte in Südamerika besiegt und der Kommunismus zumindest gestoppt. Damit war der Moment für die alten Eliten gekommen, um zurückzuschlagen, die bis zur Ära Eisenhower (1953-1961) mit Grenzsteuersätzen um die 90% konfrontiert waren. Die Reichen konnten nun schlecht sagen, dass sie keine Lust hatten, Steuern zu bezahlen. Es war also eine Idee gefordert, die mit dem Geld und der Expertise von großen Unternehmen wie General Motors, Ford, Chryler, U.S. Steel, General Electric, Procter & Gamble, und Verbänden wie der Chamber of Commerce verbreitet wurde. Hayeks „Road to Serfdom” wurde mit einer Professur an der University of Chicago belohnt, wo auch Milton Friedmann seit 1946 tätig war. Der Schwenk von der im Westen durch John Maynard Keynes’ Ideen geprägten Nachkriegzeit zum sogenannten Neoliberalismus, dessen wichtigster Vertreter Milton Friedman von der University of Chicago ist, startete somit mit großzügiger Unterstützung der Industrie (namentlich David und Charles Koch). [13] Die intellektuelle Bewegung vom Keynesianismus zum Neoliberalismus begann somit in der Nachkriegszeit an den amerikanischen Universitäten und gipfelte im Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für Milton Friedman im Jahr 1976. Die Politik folgte dabei mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan (und mit Abstrichen bereits Richard Nixon) später. Seit ca. 15 Jahren beobachten wir eine langsame Gegenbewegung des Pendels: Erinnern Sie sich an Chuck Prince’s und Jamie Dimons Erkenntnisse, auf die in der Einleitung Bezug genommen wurde hin zu mehr Umverteilung und Sozialstaat. Mit dabei sind arrivierte Forscher von Nobelpreisträger Joseph Stigliz über Mariana Mazzucato bis hin zu „Revolutionären“ wie Noam Chomsky und David Graeber. Auf deutscher Seite möchte ich hier auf Dirk Müller verweisen: Die Lektüre von Dirk Müllers Büchern gilt in akademischen Kreisen aus mir inhaltlich nicht zugänglichen Gründen weitgehend als verpönt; tatsächlich hatte aber keiner der Kollegen, mit denen ich sprach, Müller gelesen. Ich habe aus Müllers „Machtbeben“ nicht nur zahlreiche gut recherchierte und dokumentierte Informationen, sondern auch viele Hausaufgaben zum Nachdenken und Weiterlesen bezogen. Müller ist wie David Graeber, dem wir im Exkurs zu Kapitel 14 wiederbegegnen werden, kein studierter Ökonom, sondern, hier dem großen Keynes nahe, Investor, der aus Marktbeobachtungen abgeleitet versucht, die Welt besser zu verstehen und dies zu beschreiben. Exkurs: Von der Macht der Ideen (und den Grenzen des Verständnisses) 163 <?page no="164"?> Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 6.1: a. Handelt es sich Ihres Erachtens bezüglich des Volkswagenskandals „Dieselgate“ um einen Schwarzen Schwan? Argumentieren Sie ggf. pro und kontra. b. Trifft der Begriff Schwarzer Schwan Ihres Erachtens auf den Ausbruch der Corona-Krise zu? Begründen Sie Ihre Antwort. Übung 6.2: Statista gibt die durchschnittlichen täglichen Umsätze im Jahr 2019 an den Währungsmärkten mit 6.590 Mrd. US-Dollar an. (Quelle: https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 239512/ umfrage/ umsaetzepro-handelstag-am-weltweiten-devisenmarkt/ ) Gehen Sie davon aus, dass US-Dollar und Euro an Spot- und Futuresmärkten bis auf die 6. Nachkommastelle gehandelt werden. Schätzen Sie die jährlichen Arbit‐ ragewinne in diesem System freier Wechselkurse unter der Annahme, dass keine Transaktionskosten entstehen und dass der Arbitrageprofit durchschnittlich die Hälfte der 5. Nachkommastelle darstellt. Übung 6.3: Einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) von Ende 2018 zufolge bleiben die sogenannten Niedrigzinsen bis zum Jahr 2050 ein Dauerthema. „Die Zinswende ist abgesagt“ kommentierte Harald Freiberger am 19.04.2019 in der Süddeutschen Zeitung. Diskutieren Sie wahrscheinliche bzw. mögliche Implikationen von lang andau‐ ernden niedrigen Zinsen für die deutsche Volkswirtschaft. Übung 6.4: Erörtern Sie mögliche Implikationen der Lira-Abwertung im Jahre 2018 (s. Abb. 6.5) für deutsche und türkische Unternehmen mit Handelsbezie‐ hungen zwischen der Türkei und Deutschland bzw. der Eurozone. Nehmen Sie dabei Bezug auf die diesbezüglich wichtigsten betroffenen Industrie- und Dienstleistungssektoren. 6 Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkte 164 <?page no="165"?> 7 Zur Rolle des Staates Seit es Staaten bzw. staatenähnliche Gebilde gibt, wird die Rolle des Staates diskutiert: das heißt, was der Staat tun soll und was nicht bzw. wofür er verantwortlich ist und wofür nicht. Dass der Staat notwendig ist, wird, bis von den wenigen echten Anarchisten abgesehen im breiten Zentrum unserer Gesellschaft als Quasi-Axiom akzeptiert, sicher auch, weil alle bekannten Versuche menschlicher Selbstverwaltung seit den utopischen Sozialisten um Robert Owen vor ca. 200 Jahren entweder komisch oder tragisch gescheitert sind. Wir brauchen also den Staat. Aber was für einen? Die Staatslehren können dabei etwas vereinfacht als Wollens-, Sollens- und Wünschenstheorien betrachtet werden. Auch wenn das bekannteste Werk zu diesem Thema immer noch das fast zweiein‐ halbtausend Jahre alte Werk Platons „Der Staat“ sein dürfte, geht unser heutiges Staatsverständnis im Wesentlichen auf die Renaissance und den Früh-Barock zurück. Nach Machiavellis „Der Fürst“ war es Thomas Hobbes (1588-1679), dessen Gedanken vor allen anderen langandauernden Einfluss bewahrten. Literaturtipp: So wie Karl Marx oft auf „Das Kommunistische Manifest“ reduziert wird (das er nicht einmal allein geschrieben hat, sondern mit Friedrich Engels als Co-Autor), ist dies bei Niccolò Machiavelli (1469-1527) seine kurze Schrift „Der Fürst“. Die Mühe, selbst den ersten Band von „Das Kapital“ oder die „Discorsi“ gelesen zu haben, machten sich die wenigsten. Was Machiavellis Hauptwerk betrifft, ist dies in soweit erstaunlich, als es sich recht flüssig liest. Machiavelli weist bereits zu Beginn der Discorsi darauf hin, dass es die ideale Regierungsform nicht geben kann: Er verweist darauf, dass die Monarchie in die Tyrannei abgleiten kann, die Aristokratie in die Oligarchie und die Demokratie in die Anarchie. Er lehnt deshalb „reine“ Regierungsformen ab und plädiert für stabilere Mischformen. Er gab seinem Werk über den Staat aus guten Gründen den Namen des biblischen Un‐ geheuers Leviathan. In Hobbes’ Gedankenwelt hat der Mensch nur die Wahl zwischen zwei Übeln: Weitgehender Anarchie oder Unterwerfung unter eine staatliche Ordnung (vgl. auch Kapitel 13). [14] Das beschreibt übrigens recht genau das Entscheidungsprob‐ lem der Russen vor und seit der ersten Wahl von Wladimir Putin zum Staatspräsidenten im Jahr 1999 und damit seine lang andauernden hohen Zustimmungsraten. Weitere historische Beispiele gibt es zuhauf. Der Staat wird bei Hobbes zum sterblichen Gott. Er bestimmt, was Recht ist und er verbietet, was Unrecht ist. Das amerikanische <?page no="166"?> 13 Auch wenn dies jenseits der Vorstellungskraft der meisten heute Lebenden ist: Noch bis Mitte des letzten Jahrhunders gab es zahlreiche liberale (! ) Intellektuelle wie den Philosophen Isaiah Berlin und John Maynard Keynes, die die Förderung der Künste als eine zentrale Funktion des Staates ansahen. Sprichwort bzw. die pragmatische Denkweise von „If it is not legal, make it legal.” beschreibt offen, dass sich Gesetze und Normen in der Zeit ändern. Staatliches Tun betrifft in unserem Verständnis auf der „Positivseite“ die öffentliche Sicherheit, die staatliche Bildung, das Gesundheitssystem, die materielle Absicherung im Alter, den Umweltschutz, das Setzen von technologischen Standards, aber auch vieles mehr. 13 In Deutschland hätten die Lokführerstreiks in den Jahren 2014 und 2015 bereits zu einer konstruktiven Debatte zur Rolle des Staates in unserer Gesellschaft beitragen können, einer Debatte, die seit dem Ausbrechen der Flüchtlingskrise Mitte 2015 zwar oft unsachlich und emotional vergiftet stattfindet, die aber immerhin begonnen hat, geführt zu werden. Dabei sind es - nicht nur in Deutschland - neben den obligatorischen sicherheitspolitischen und technologischen Argumentationen wiederum demografische Effekte, die diese Diskussion antreiben müssten. Während in der westlichen Welt, und hier vor allem im angelsächsischen Raum, die Rolle des Staates in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts zunehmend negativ gesehen wurde (vgl. den Exkurs zum vorherigen Kapitel), der Staat also auf das „Wesentliche“ reduziert werden sollte, hat sich die öffentliche Wahrnehmung staat‐ lichen Handelns und der korrespondierenden Verantwortlichkeiten seit Beginn der Finanzkrise 2007/ 2008, als Staaten Banken und andere Privatunternehmen „retteten“, wieder deutlich aufgehellt. Tatsächlich wird staatliches Wirken seit Ausbrechen der Flüchtlingskrise und ebenso mit andauernder Corona-Krise wieder vermehrt kritisiert: diesmal allerdings ohne Alternativen anbieten zu können. Um es deutlich zu sagen: Den idealen Staat gibt es nicht; es muss also eine gesellschaftliche Diskussion darüber stattfinden, die in Schweden wiederum anders verlaufen wird als z.B. in Frankreich, den USA, China oder Deutschland, was für eine Art Staat die Mehrheit der Bevölkerung will und wofür sie Steuern zu zahlen bereit ist. Diese Diskussion ist übrigens nicht nur orts-, sondern auch zeitabhängig. Wie bereits erwähnt, sehen zahlreiche führende lebende Ökonomen in West und Ost eine bzw. die Hauptverantwortlichkeit von Staaten darin, die arbeitsfähige und -willige Bevölkerung in (vernünftig) bezahlte Arbeit zu bringen. Während in der westlichen Welt ein Primat der Politik auf den Menschenrechten erster Ordnung liegt, konzentrierte sich China bei klarer Priorisierung von kollektiven gegenüber individuellen Interessen auf die sogenannten Menschenrechte zweiter Ordnung, und dabei primär auf die Abschaffung von Armut (mehr dazu in Kapitel 13). 7 Zur Rolle des Staates 166 <?page no="167"?> Bemerkung: Der 2015 verstorbene ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat als vermutlich prominentester Vertreter dieser These die „Menschenrechte“ (erster Ordnung) wiederholt als eine westliche Errungenschaft bezeichnet, die von Vertretern des Westens außerhalb des Westens nur bedingt als Kriterium verwendet werden sollte. Die in Deutschland lebende chinesische Journalistin Danhong Zhang erklärte so im Jahre 2008 im Deutschlandfunk: „Es ist China gelungen, in den letzten dreißig Jahren 400 Millionen Menschen aus absoluter Armut zu befreien. Damit hat die KP-China mehr als jede andere politische Kraft auf der Welt zu Artikel 3 der Menschenrechte beigetragen.“ [15] - eine Aussage, für die sie nicht nur heftig kritisiert wurde, sondern die sie auch ihre leitende Position in der Chinaredaktion bei der Deutschen Welle kostete. Wir wissen, dass die Summe individuell rationalen Handelns zu desaströsen gesell‐ schaftlichen Folgen führen kann, dass es also einen „vernünftigen“ Rahmen geben muss. Andersherum ist ebenso bekannt, dass ein kluger Diktator eine Gesellschaft sehr positiv prägen kann, dass aber ein „schlechter“ Diktator in kurzer Zeit die Errungen‐ schaften von Generationen ruinieren kann (vgl. die Ausführungen zu Spieltheorie im Exkurs zu Kapitel 8). Wenn jeder an sich selbst denkt, ist nicht an alle gedacht: Es geht also bei der Ab‐ wägung von Individualrechten gegenüber Kollektivrechten immer wieder um Fragen des Maßes, die nicht in allen Gesellschaften gleich beantwortet werden, und die im Zeitverlauf immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Literaturtipps: Im Jahre 2005 erstmalig erschienenen Buch des Evolutionsbiologen und Biogeogra‐ fen Jared Diamond „Kollaps: Warum Gesellschaften untergehen oder überleben“ geht der Autor Fragen und Ursachen nach, warum manche Zivilisationen in Turbu‐ lenzen untergingen und andere diese (gestärkt) überstanden. So zeigt Diamond z.B., dass pseudomoralisierende Fragen wie die, was die Ureinwohner der Osterinsel sich gedacht haben mögen, als sie den letzten Baum fällten, nicht zielführend sind. Bereits im Jahr 2002 veröffentlichte der US-amerikanische Politologe Robert D. Kaplan (nicht zu verwechseln mit dem Balanced-Scorecard-Miterfinder Robert S. Kaplan) das weit vorausschauende Buch „The Coming Anarchy: Shattering the Dreams of the Post Cold War“, von dem es leider keine deutsche Übersetzung gibt. Demokratie in unserem Sinne scheint nach Kaplan a priori nur dort gut zu funktionieren, wo es eine entwickelte, d.h. gebildete, Mittelschicht gibt und ferner keine religiösen und ethnischen Bruchlinien existieren. Aus ebendiesen Gründen lehnt Kaplan Demokratieexport als kontraproduktiv strikt ab. Ich stimme ihm diesbezüglich vollständig zu. 7 Zur Rolle des Staates 167 <?page no="168"?> Werfen wir zunächst einen Blick auf Staatsquoten, d.h. das Verhältnis der Summe der Ausgaben und Transfers von Staat und Sozialversicherungen zum Bruttoinlands‐ produkt, die einen ersten Indikator zum Einfluss des Staates auf die wirtschaftlichen Aktivitäten des jeweiligen Landes darstellen. Deutschland lag vor der Corona-Krise im Jahre 2019 mit 43,9% im unteren Mittelfeld der EU (45,2%) bzw. der Eurozone (46,5%). Die höchsten Staatsquoten hatten Frank‐ reich (55,7%), Dänemark (51,4%), Belgien (51,4%), Finnland (51,0%), Österreich (48,7%), Schweden (47,9%), Ungarn (46,6%) und Griechenland (46,4%). Der geringste Einfluss des Staates auf die Wirtschaft wurde aus Irland (25,9%) berichtet, gefolgt von Lettland, Bulgarien, Litauen, Rumänien und Malta (jeweils unter 38%). Interessant ist, dass die Schweiz, eines der reichsten Länder der Welt, nur über eine Staatsquote von 32,5% verfügte. Hier ist anzumerken, dass fast alle Staatsquoten von EU-Ländern in den vergangenen Jahren bis zum Ausbruch der Corona-Krise leicht rückläufig waren. [16] Im Jahr 2020 werden diese aber zwangsläufig wieder gestiegen sein müssen, da die Verringerung des BIPs (in Deutschland ca. 5%) überall fast ausschließlich auf den Privatsektor zurückgeht. In der EU-Spitzengruppe dominieren neben einigen relativ armen südosteuropäi‐ schen Staaten vor allem die wohlhabenden Skandinavier, lediglich die Länder mit geringen Staatsquoten sind durch relative Armut innerhalb der EU bzw. Europas charakterisiert. Bei Rumänien, Lettland und Litauen handelt es sich allerdings um recht „junge“ Nationalstaaten. Geringe Staatsausgaben gemessen am BIP werden nicht überraschend für die DR Kongo (11,16% im Jahr 2018) als auch das konfuzianisch geprägte Singapur (18,74% im Jahr 2018) berichtet. Auch wenn die reichen europäischen Länder fast alle durch hohe Staatsquoten charakterisiert sind, sehen wir, dass wir auf diese Art und Weise nicht weiterkommen werden. Die Staatsquote gibt insbesondere nicht an, wie der Staat in dem betreffenden Umfang Teile des gesamtwirtschaftlichen Gütervolumens absorbiert. Der deutlich niedrigere Anteil der Staatsausgaben für Güter und Dienste, der auch als Realausgaben‐ quote bezeichnet wird, illustriert die tatsächliche Inanspruchnahme des BIP durch den Staat besser als die Staatsquote, indem er die Umverteilungsaktivitäten des Staates, wie Transferzahlungen, nicht berücksichtigt (Der Anteil der Staatsausgaben für Güter und Dienste suggeriert immer noch einen höheren als den tatsächlichen Staatseinfluss in der Wirtschaft, da die sozialen Sachleistungen in der VGR dem Individualkonsum zugeschlagen werden, womit sich automatisch der Kollektivkonsum reduziert.) [17] Sehr häufig wird der Gini-Koeffizient bzw. -Index, ein statistisches Maß, das zur Darstellung von Ungleichverteilungen von Vermögen oder Einkommen verwendet wird, in der öffentlichen Diskussion herangezogen, wobei zumeist die Einkommens‐ indizes in der Argumentation verwendet werden. Es sollte zunächst außer Frage stehen, dass Ungleichheit des realen wie potenziellen Einkommens eine notwendige Voraussetzung für Unternehmertum, Innovationen und eine dynamische Gesellschaft darstellt. Auch hier handelt es sich bezüglich der Gesamtprosperität einer Gesellschaft 7 Zur Rolle des Staates 168 <?page no="169"?> 14 Recherchen erweisen, dass die zugrunde liegenden Daten offensichtlich unregelmäßig erhoben werden. Ich habe demzufolge das Jahr 2016 gewählt, um eine Vergleichbarkeit sicherzustellen. offensichtlich wiederum um eine Frage des Maßes der Ungleichheit bzw. Ungleichver‐ teilung von Einkommen bzw. Vermögen. Begriffliches: Zu unterscheiden sind der Gini-Index der Einkommensverteilung und der Vermö‐ gensverteilung, wobei Letzterer im Allgemeinen deutlich höher ist. Gini-Koeffizi‐ enten können beliebige Werte zwischen 0 (das Einkommen/ Vermögen innerhalb einer Population ist auf alle Bewohner gleichmäßig verteilt) und 1 (das gesamte Einkommen/ Vermögen gehört einer einzigen Person) annehmen. Je größer der Gini-Koeffizient oder auch Gini-Index, desto ungleicher ist also das Vermögen bzw. das Einkommen verteilt. Öffentlich zugängliche Schätzungen für Länderkoef‐ fizienten werden z.B. von der Weltbank, der UNO und dem Weltwährungsfonds angegeben. Der einfache Gini-Koeffizient lässt sich über die wenig intuitive Formel Der einfache Gini-Koeffizient lässt sich über die wenig intuitive Formel () 1 1 2 1 - N i i N (i) i ix N N N x      berechnen, wobe berechnen, wobei x (i) das i-te Element der nach Größe aufsteigend sortierten Daten und N die Anzahl der „Elemente“ in der Stichprobe bezeichnen. Der Gini-Koeffi‐ zient lässt sich grafisch mithilfe der Lorenzkurve veranschaulichen (vgl. jedes einschlägige Lehrbuch der Wirtschaftsstatistik). Global niedrige Werte haben Deutschland und die skandinavischen Länder. China und die USA lagen im Jahre 2016 bei 0,46 bzw. 0,48; Südafrika und Namibia waren im Jahr 2015 (danach lagen keine Daten der Weltbank vor) kurz vor zahlreichen weiteren afrikanischen Ländern mit Werten oberhalb von 0,60 Weltspitzenreiter. [18] Dabei sind natürlich alle statistischen Kennziffern, die zu den ärmsten bzw. am niedrigsten entwickelten Ländern angegeben werden, mit Vorsicht zu genießen, und man sollte sich hüten, der Illusion der Präzision zu erliegen. Hier gilt die alte (statistische) Aussage „Garbage in, garbage out“. Für Namibia z.B. kommt man noch auf eine mehr oder weniger nachvollziehbare Art und Weise zu Daten und kann diese anschließend auswerten, anders sieht dies aber schon in vom Bürgerkrieg betroffenen Ländern wie Somalia, Libyen, der Demokratischen Republik Kongo, Syrien oder Afghanistan aus. 14 Problematisch sind große Länder wie die USA und China. Wenn die Lebenshaltungskosten und die Einkommen in New York bzw. Shanghai ein hohes einstelliges Vielfaches von z.B. Montana oder der Inneren Mongolei darstellen, ist die Sinnhaftigkeit der Berechnung einer solchen Maßzahl äußerst fragwürdig (anders 7 Zur Rolle des Staates 169 <?page no="170"?> verhält es sich mit Gini-Indizes in New York, in Shanghai, in der Inneren Mongolei und in Montana). Bemerkung: Bezüglich einer Interpretation bleibt auch dann Vorsicht angebracht, was Sie sich leicht numerisch klarmachen können, wenn Sie zum Beispiel eine fiktive Population aus 11 Personen betrachten, in der 10 Personen jeweils über 1.000 Geldeinheiten und die 11. Person alternativ über 10.000 oder 100.000 Geldeinheiten verfügt. Man ermittelt dann hohe Gini-Koeffizienten in Höhe von 0,409 bzw. 0,818; wenn die zehn „Geringverdiener“ aber von Ihrem Einkommen gut leben können, kann und ist es ihnen vermutlich weitgehend egal, dass noch ein „Superreicher“ existiert. Deutschland befindet sich bei leicht steigender Tendenz (d.h. einer leichten Zunahme der Ungleichverteilung des Einkommens bzw. Vermögens) mit einem Wert von ca. 0,30 bezüglich des Nettoäquivalenzeinkommens in der Gruppe der Länder mit einer moderaten Ungleichheit. Neben dem Gini-Index existieren ferner zahlreiche mehr oder weniger sinnvolle Maßzahlen zur Beschreibung der Einkommensungleichverteilung in einer Bevölke‐ rung: Zu nennen ist hier z.B. das Verhältnis des Einkommens der reichsten 20 Prozent geteilt durch das Einkommen der ärmsten 20 Prozent. Um den „gesamten“ Entwicklungsstand von Volkswirtschaften zu beschreiben, wird oft der seit 1990 veröffentlichte Human Development Index (HDI) des Entwick‐ lungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) im jährlich erscheinenden Bericht über die menschliche Entwicklung verwendet. Der HDI erfasst die durchschnittlichen Werte eines Landes in wesentlichen Bereichen der menschlichen Entwicklung, wie die Lebenserwartung bei der Geburt, das Bildungsniveau sowie das Pro-Kopf-Einkommen. Hier stand Deutschland auf der weltweiten Rangliste von 2019 nach Norwegen, der Schweiz und Irland auf Platz 4 aller Länder, dicht gefolgt von Hongkong (das man ganz sicher nicht so auf der 2020er Liste wiederfinden wird), Schweden, Singapur mit seiner niedrigen Staatsquote und den Niederlanden. Bemerkung: Es sei ausdrücklich angemerkt, dass das Zusammenspiel von Wohlstand, Staats‐ quoten, Gini-Indizes etc. weitgehend statischer Natur ist, dass damit keinesfalls etwas über die Zukunftsfähigkeit der jeweiligen Gesellschaften gesagt wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass weder Staatsquoten noch HDIs oder Gini-Indizes in einer isolierten Betrachtung eine Aussage zur „Harmonie“ innerhalb einer staatlichen Einheit bzw. zu ihrer Zukunftsfähigkeit liefern. Länder, die durch 7 Zur Rolle des Staates 170 <?page no="171"?> 15 Wenn wir Gesamteuropa betrachten, zählen wir etwa 150 Sprachen. ■ einen hohen Bildungsstand ihrer Bevölkerung ■ eine relativ geringe Ungleichverteilung des Einkommens ■ die Fähigkeit zu technischen und organisatorischen Innovationen sowie ■ die Fähigkeit zur „Fehlerkorrektur“ charakterisiert sind, weisen einen hohen Lebensstandard in einem allgemeinen Sinne, d.h. also nicht nur materiell, auf. All dies sind Faktoren, die wesentlich durch den Staat beeinflusst werden (können). Wir werden in den folgenden Kapiteln indes sehen, dass die Möglichkeiten des Staates, die Gesellschaft zu gestalten, viel beschränkter sind als allgemein angenommen. Exkurs: Zu Kompromissen verdammt Stärke und Schwäche Europas im Vergleich zu den beiden ökonomischen und militä‐ rischen Schwergewichten USA und China ist seine Heterogenität. Die EU hat allein 24 Amtsprachen. 15 Beide großen Länder sind im Gegensatz zu Europa bezüglich ihrer Bevölkerung relativ homogen; die Fähigkeit zum Kompromiss und zur Bereitschaft, von anderen zu lernen, war in Europa in den gebildeteren Schichten dafür immer stärker entwickelt bzw. sie musste es sein: Wenn ein Kaufmann im Mittelalter durch die Lande zog oder einen Fluss überquerte, wurde er fast immer mit anderen Sprachen und Sitten konfrontiert, auf die er, wollte er erfolgreich sein, sich einlassen musste. Zum „Zwang“ der Kooperationsbzw. Kompromissfähigkeit kommt hier die Bildung (in diesem historischen Kontext vor allem die Beherrschung von Fremdsprachen betreffend) hinzu. In der Neuzeit ist es diese Kompromissfähigkeit, die weltweit als ein Schlüssel für den wirtschaftlichen Erfolg und die soziale Stabilität Deutschlands angesehen wird. Dabei stellt die Mitbestimmung, die wir den Briten nach dem II. Weltkrieg verdanken, einen entscheidenden Gegensatz zur „The winner takes it all“-Mentalität dar. Wenn Sie sich exemplarisch die Sitzeverteilung im Deutschen Bundestag und im Bundesrat nach der Bundestagswahl Ende 2017 vor Augen führen, so werden Sie rasch feststellen, dass, um „wichtige“ Gesetze im Sinne der Zustimmungspflicht des Bundesrates beschließen zu können, die weitgehende Zusammenarbeit bzw. Koopera‐ tionsfähigkeit von mehr als nur den Regierungsparteien notwendige Voraussetzung für ein Regierungsfunktionieren ist. Bei Drucklegung dieses Buches waren die koope‐ rierenden Parteien die CDU/ CSU, die SPD, die FDP und die Grünen. Exkurs: Zu Kompromissen verdammt 171 <?page no="172"?> Abb. 7.1: Sitzeverteilung im - Deutschen - Bundestag - und - im - Bundesrat - im - Dezember 2017 Abb. 7.1: Sitzeverteilung im Deutschen Bundestag und im Bundesrat im Dezember 2017 (Quelle: Bundestag [19] ) Um die AfD in „Schach zu halten“ wurde von den 5 „kooperierenden Parteien“ selbst das Kooperationsverbot mit der Partei „Die Linke“ weitgehend außer Kraft gesetzt, wie die 2020er-Wahl der Landesregierung in Thüringen [20] als auch der Landesverfassungsrich‐ terin Barbara Borchardt in Mecklenburg-Vorpommern im Frühjahr 2020 bewiesen. [21] Das Stabilitätsgesetz Ein kluges Gesetz, das eine Balance zwischen mehreren Steuerungsgrößen an‐ mahnt, ist das unverändert gültige Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967. In diesem werden als Ziele der Wirtschaftspolitik in Deutschland verbindlich vorgegeben: ■ Stetiges und angemessenes Wachstum ■ Stabilität des Preisniveaus ■ Hoher Beschäftigungsstand ■ Außenwirtschaftliches Gleichgewicht Dabei ist bekannt, dass nicht alle Ziele gleichzeitig erreicht werden können, sondern dass eine Fokussierung auf eine Steuergröße für die Entwicklung ande‐ rer Teilziele nachteilig sein kann. Die (normativen) Ziele des Stabilitätsgesetzes werden auch als „magisches Viereck“ bezeichnet, weil die darin genannten Ziele schwer vereinbar sind. Empirisch untermauert wurden zum Beispiel ein Zielkon‐ flikt zwischen Wirtschaftswachstum und der Stabilität des Preisniveaus sowie zwischen Beschäftigungsziel und der Inflationsbekämpfung. Vor Ausbruch der Corona-Krise lag das BIP-Wachstum in Deutschland nur noch leicht über Null, immer wieder aufkommende Inflationsängste hatten sich nicht bewahrheitet, auch wenn diverse Güter wie Immobilien und damit Wohnen (in Ballungsräumen) durch die „Geldflut“ bereits stark gestiegen waren. Problematisch ist der Außenhandelsbilanzüberschuss Deutschlands, der trotz leichter Rückgänge 2019 bei 223,2 Mrd. Euro und damit ca 8% des deutschen BIPs lag. Damit einher gingen politische „Unruhen“ nicht nur in Bezug auf die USA. 7 Zur Rolle des Staates 172 <?page no="173"?> Im Vergleich zu den meisten anderen Staaten der Erde ist Deutschland im Laufe der Finanzwie der Corona-Krise stabil geblieben. Unsere Stabilität und damit unsere Zukunft wird aber wesentlich davon abhängen, wie sich die Weltwirtschaft entwickelt und ob es uns mittelfristig gelingt, die Exportorientierung zu reduzieren. Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 7.1: Recherchieren Sie die Entwicklung der Gini-Indizes für Deutschland bis in die Gegenwart. Übung 7.2: Machen Sie sich mit dem Konzept der Laffer-Kurve vertraut. Inwie‐ weit gibt es Zusammenhänge zwischen dem Verlauf einer nationalen Laffer-Kurve und den Erwartungen der Bürger an ihren Staat? Übung 7.3: Machen Sie sich mit historischen Betrachtungen zur Entwicklung von Staatsquoten vertraut. Übung 7.4: Zu den wichtigsten Verfechtern eines bedingungslosen Grundein‐ kommens (BGE) in Deutschland zählen Topmanager von u.a. Siemens, der Deut‐ schen Post und der Deutschen Telekom. Nehmen Sie Stellung zu der Behauptung, dass es sich bei deren Engagement für das BGE um unternehmensinteressensge‐ richteten Lobbyismus handelt. Erläutern Sie in einem ersten Schritt, was unter einem BGE verstanden wird und warum es überhaupt eine Diskussion über dessen Einführung gibt. Übungen zur Selbstüberprüfung 173 <?page no="175"?> 8 Wettbewerb und Regulierung Wenn wir unsere Wirtschaftsordnung als soziale Marktwirtschaft bezeichnen, bedeutet das sofort, dass wir in einer „besonderen“ Form der Marktwirtschaft leben. So wenig wie es rein marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaften gibt, so wenig gibt es „echte“ Planwirtschaften, d.h. nicht einmal in Nordkorea. Wir befinden uns alle - mit durchaus unterschiedlichen Ausprägungen - in „mixed economies“, das heißt in unserem deutschen Fall, dass unsere tatsächliche Wirtschaftsordnung ein Mischsystem aus den „Koordinationsmechanismen“ Markt-Preis-Mechanismus, de‐ mokratische Willensbildung, administrative Lenkungsverfahren und Verhandlungen zwischen Interessengruppen bzw. Verbänden ist. Wenn wir über Regulierung sprechen, wenden wir uns inhaltlich einem Grenz‐ bereich zwischen marktwirtschaftlichem Organisationsmechanismus und planwirt‐ schaftlichen Steuerungskonzepten zu. Im Unterschied zur rahmensetzenden Wettbe‐ werbspolitik wird der Wirtschaftsprozess in regulierten Branchen durch staatliche Maßnahmen explizit beeinflusst. Wenn wir nun eine Zeitreise zurück in das Jahr 1990 unternehmen, so spielten damals Themen wie Bankenregulierung, systemische Gefahren (ein Begriff, der noch vor wenigen Jahren kaum verwendet wurde), Telekommunikationsregulierungen, Post- und Bahndienstleistungen von unterschiedlichen Anbietern sowie die Energiemarkt‐ regulierung (im Sinne von leitungsgebundener Energieversorgung) keine Rolle in der öffentlichen Diskussion. Bevor wir uns den Grundlagen der ökonomischen Modellierung von Regulierung im nachfolgenden Exkurs zuwenden, betrachten wir zunächst Formen und Anwendungen der Regulierung. Erstes großangelegtes Versuchsfeld von „moderner“ Regulierung war in Deutsch‐ land der Telekommunikationsmarkt, der mit dem Börsengang der Deutschen Telekom im Jahre 1996 und der erstmaligen Zulassung von nichtstaatlicher Konkurrenz geöffnet wurde. Den damaligen wie oft auch heutigen Überlegungen lag bzw. liegt die Überzeu‐ gung zugrunde, dass Monopole schlecht seien und Konkurrenz ergo mindestens besser. Wettbewerb, erinnern Sie sich, ist auch eine Ideologie. Es ist somit in jedem Einzelfall zu hinterfragen, wozu Wettbewerb, da er eben kein Selbstzweck sein kann, dienen soll. Zur Regulierung von Telekommunikationsdienstleistungen In Deutschland hat bei Drucklegung dieses Buches jeder Endnutzer einen An‐ spruch auf einen Anschluss an ein öffentliches Telekommunikationsnetz. Diese Grundversorgungsleistungen - ein Breitbandbzw. Internetanschluss unterliegt gemäß dem Telekommunikationsgesetz [bisher] nicht den Vorgaben der Grundver‐ <?page no="176"?> sorgung) - erbringt zurzeit die Deutsche Telekom, d.h., es besteht kein Anspruch auf Grundversorgung gegenüber anderen Anbietern. [22] Es lohnt sich, den „Fall“ der Deutschen Telekom im Sinne der Geschichte der Festnetzregulierung hier kurz zu kommentieren. Am 1. Januar 1998 startete der vollständig liberalisierte Telekommunikationsmarkt in Deutschland, der die Vorherrschaft des bisherigen Monopolisten Deutsche Telekom beenden sollte. Mit ihm nahm die Vorläuferbehörde der Bundesnetzagentur ihre Arbeit auf. Die Trittbrettfahrer (also Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen, die nicht über eigene Netze verfügten) verhielten sich ökonomisch vernünftig, nicht in eigene Netze zu investieren, da die Telekom ihnen Zugang zu ihren Netzen gewähren musste. Für die Telekom bestand wiederum kein oder nur ein geringer Anreiz, in neue Technik zu investieren, da sie auch in diesem Fall verpflichtet gewesen wäre, anderen Unternehmen, die preislich die Telekom unterbieten würden, Netzzugang zu gewähren. Kurz: Nicht zu Ende gedachte Regulierung hat in diesem Fall Investitionen und technischen Fortschritt behindert und teilweise verhindert. Dieselben Erkenntnisse hätten bereits früher durch eine Analyse der sichtbaren Ergebnisse der Deregulie‐ rungspolitik in den 1980er Jahren in Großbritannien gewonnen werden können. Eine interessante Tatsache, die David Graeber in seinem Buch „Bürokratie. Die Utopie der Regeln“ erörtert, ist, dass die Bürokratie seit den Regierungszeiten der „Marktpolitiker“ Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die darauf pochten, dass Staaten letztlich wie Unternehmen geführt werden sollten, massiv zugenommen hat. Öffentliche und private Macht seien Komplizen, die versuchen, statt eines demokratiekonformen Marktes eine marktkonforme Demokratie zu etablieren: Wenn die Politik Dienstleister der Wirtschaft ist, dient Bürokratie der Interessens‐ vertretung der Wirtschaft. Die moderne wirtschaftswissenschaftliche Forschung wendet sich seit einiger Zeit verstärkt der Frage zu, wie Monopole „gut“ reguliert werden können. Tatsächlich folgt sie hier der technischen Entwicklung, die seit Jahrzehnten im Pharmabereich und im IT-Bereich zu (temporären) Monopolen bzw. Oligopolen führt (vgl. Kapitel 10.4 zur Datenökonomie). Von Regulierung wird gesprochen, wenn sich der Staat nicht auf eine Rahmenset‐ zung beschränkt, sondern direkt in das Marktgeschehen eingreift, also die Gewerbe- und Vertragsfreiheit einschränkt. Dies bedeutet, dass die Preise zwischen Käufer und Verkäufer nicht frei ausgehandelt werden können, sondern durch den Staat geneh‐ migt werden müssen. Regulierung zielt also auf eine Verhaltensbeeinflussung von Unternehmen (und Konsumenten im weiteren Sinne), um erwünschte Marktergebnisse herbeizuführen. Diese kann ganz allgemein über Bestrafungen oder Belohnungen, zu denen Preisanreize oder -verhinderungen zählen, erfolgen. 8 Wettbewerb und Regulierung 176 <?page no="177"?> Bemerkung: Regulierung betrifft keinesfalls nur „echte“ Märkte: Im Wintersemester 2020/ 21 waren z.B. 40,6% (gegenüber 42,4% drei Jahre davor) aller Studiengänge an Universitäten und Fachhochschulen in Deutschland zulassungsbeschränkt (vgl. Abschnitt 4.1). [23] Keine Regulierung sind alle indirekten staatlichen Maßnahmen, die für alle Bür‐ ger/ Wirtschaftssubjekte gleichermaßen geltende Rahmenbedingungen darstellen (z.B. Geld- und Fiskalpolitik, Infrastrukturpolitik und das allgemeine Kartellverbot im Wettbewerbsrecht). Andererseits wird bei gezielter, unternehmensspezifischer Steue‐ rung von Preisen, Mengen, Investitionen und Marktzugang wieder von Regulierung gesprochen. Das Gegenteil von Regulierung, Deregulierung, war insbesondere in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren in aller Munde: Es bezeichnet den Abbau von staatli‐ chen Regelungen mit dem Ziel, Unternehmen und Konsumenten mehr Entscheidungs- und Wahlfreiheiten zu eröffnen. Während „der Staat“ in der westlichen Welt vor einer Generation als ineffizient und „der Markt“ als Allheilmittel gepriesen wurde, wendete sich die öffentliche Wahrnehmung nach dem Zusammenbruch der amerika‐ nischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008, als Staaten bzw. deren Regierungen - in Deutschland die Große Koalition mit Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück - erfolgreich Krisenmanagement betrieben und als Retter in letzter Not auftraten. Um den Zeitenwandel zu illustrieren, sei hier aus der Brockhaus Enzyklopädie (1992, Band 18, S. 209) zitiert: „Im marktwirtschaftlichen Modell verzerrt R[egulierung] den Wettbewerb, be‐ hindert Investitionen und beeinträchtigt das wirtschaftl. Wachstum. R. gilt (abgesehen von Schutz- und Sicherheitsvorschriften) in der Marktwirtschaft als nicht systemkonform.“ Der Hang zu viel Regulierung bzw. Deregulierung ist also durchaus mit dem Zeitgeist verbunden. So wie das Pendel vor einer Generation mit wirtschaftlich und politisch schwerwiegenden Konsequenzen (nicht nur in Großbritannien) in Richtung Deregu‐ lierung ausschlug, kann und sollte der heute erreichte Grad an Regulierung unseres Gemeinwesens im Sinne von Eingriffen in individuelle Freiheitsrechte und Rechte wie die Koalitionsfreiheit durchaus kritisch gesehen werden. Diesbezüglich sei Ihnen die Lektüre der aus dem Jahre 2013 stammenden Polemik von Henry M. Broder „Brüssel, das neue Moskau mit menschlichem Antlitz“ sehr empfohlen. [24] Denken Sie auch an die Ausführungen zum Bargeld in Kapitel 6 zurück. 8 Wettbewerb und Regulierung 177 <?page no="178"?> Bemerkung: Die vermutlich extremsten oder am bekanntesten gewordenen Fälle von Deregulie‐ rung in der näheren Vergangenheit waren die „Teilprivatisierung“ des Irak-Krieges unter US-Präsident George W. Bush mit Blackwater als berühmtester Firma und der „Verrat“ des Whistleblowers Edward Snowden, der als Nicht- Regierungsange‐ stellter Zugriff auf streng geheime Regierungsunterlagen der Vereinigten Staaten hatte. Wir werden in Kapitel 10 zur Digitalisierung auf das Thema Regulierung zurückkom‐ men: Technologie kann grundsätzlich nicht verhindert werden, wie es die Maschinen‐ stürmer im 18. Jahrhundert versuchten; sie kann aber sehr wohl eingehegt werden (wenn auch vermutlich wenig effizient durch „kleinere“ demokratische Nationalstaa‐ ten). Im folgenden Exkurs werden wir uns formalen Techniken, die seit mehr als zwei Jahrzehnten die Wirtschaftswissenschaft prägen, zuwenden. Die Mathematisierung der Sozialwissenschaften ist ein zweischneidiges Schwert. So nützlich die Verwendung von quantitativen Methoden bei kluger Verwendung sein kann, so gefährlich kann deren unreflektierte und mechanische Anwendung sein, wenn sie - freiwillig oder unfreiwillig - den Menschen das Denken abnimmt. Exkurs: Modelle, Spieltheorie und Regulierung In der modernen Ökonomie werden Modelle im Allgemeinen verwendet, um entwe‐ der Phänomene oder Zusammenhänge zu erklären und/ oder um Entwicklungen zu prognostizieren. Wir werden hier zunächst klären, was genau unter einem wirtschaftswissenschaft‐ lichen Modell zu verstehen ist, bevor wir uns Nachfrage- und Angebotskonstellationen zuwenden. Im Folgenden werden wir uns speziell dem Ricardo-Modell des internatio‐ nalen Handels und der Methode der Spieltheorie zuwenden. Wir werden schlussendlich fragen, was wir gewonnen haben, wenn all diese Methoden und Modelle geistiges Allgemeingut darstellen. Modelle in der Wirtschaftswissenschaft Ein Modell ist zunächst ein beschränktes Abbild der Wirklichkeit, das durch mindestens drei Eigenschaften charakterisiert ist: i. Ein Modell ist stets ein Modell von etwas und damit eine Abbildung. ii. Ein Modell erfasst im Allgemeinen nicht alle Eigenschaften des Originals, sondern nur diejenigen, die dem Modellkonstrukteur relevant und modellierbar erscheinen. 8 Wettbewerb und Regulierung 178 <?page no="179"?> 16 Vgl. Glossar. iii. Jedes Modell ist somit eine vereinfachte und verkürzte Darstellung der Realität. Peter Bofinger vergleicht dies bildhaft mit einer Landkarte. Auch in der BWL und der VWL gilt der alte Ingenieursgrundsatz „Nicht so genau wie möglich, sondern so genau wie nötig“. Modelle werden von Menschen gemacht: Sie wollen bzw. sollen interpretiert werden und unterliegen damit Restriktionen, im Sinne von „Für wen wurde das Modell konstruiert? “, „Innerhalb welcher Zeitintervalle soll das Modell gelten? “ und „Warum wurde das Modell konstruiert? “ Während die in der BWL verwendeten Modelle technisch zumeist überschaubar sind, ist es in der VWL kaum möglich, einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu modellieren, weil es üblicherweise keine Monokausalitäten im Sinne von y = f(x) gibt. Bemerkung: In den meisten VWL-Lehrbüchern wird in einem „klassischen“ Angebots- und Nachfragediagramm der Preis p auf der vertikalen und die Menge X auf der horizontalen Achse abgetragen. Implizit wird damit suggeriert, dass der Preis eine Funktion der Menge ist. Wenn Sie sich selbst befragen, werden Sie hingegen feststellen, dass Ihre bestimmende Variable zumeist der Preis (im Sinne von Reservierungs- oder Höchstpreisen, die Sie für ein Produkt oder eine Dienstleistung zu zahlen bereit sind) ist. Tatsächlich sind Preis und Menge interdependent und es ist eine Frage der Perspektive, ob Sie p oder X auf der vertikalen Achse einer Grafik platzieren. Angebots- und Nachfragekonstellationen Wenn Sie als Unternehmer oder Wirtschaftspolitiker über Strategien nachdenken, ist es fast immer zielführend zu wissen bzw. zu antizipieren, i) wie die Angebots- und die Nachfrageseite beschaffen sind und ii) wie die Kostenstrukturen des betreffenden Unternehmens und seiner Wettbewerber beschaffen sind. Beide Fragen behandeln klassische VWL-Themen. Wenig Beachtung findet (leider) die Beschäftigung mit dem „Paar“ Effektivität („to do the right things“) und Effizienz („to do the things right“). 16 Die moderne Literatur ist hier durch die Mathematisierung von VWL und BWL deutlich auf Effizienz im Sinne von optimalem Einsatz von Ressourcen fokussiert; dies aber häufig ohne klarzumachen, dass, wer effizient ist, noch lange nicht erfolgreich ist (Sie können z.B. über ein brilliantes Kostenmanagement verfügen. Das nützt Ihnen nur nichts, wenn Sie nicht hinreichend Einnahmen aus Ihrer Tätigkeit generieren.). Exkurs: Modelle, Spieltheorie und Regulierung 179 <?page no="180"?> 17 In China ist ein iPhone (das übrigens in China produziert wurde) im Durchschnitt etwa 50% teurer als in den USA. In Tab. 8.1 sind die qualitativen Kombinationen des Aufeinandertreffens von Ange‐ bots- und Nachfrageseite auf Märkten zusammengestellt. Dabei stellen die Kategorien „einige“ und „viele“ natürlich bereits Vereinfachungen dar. Nachfrage/ Angebot Einer Einige Viele Einer (Nachfrage-)Monopol Einige (Nachfrage-)Oligopol Viele (Angebots-)Monopol (Angebots-)Oligopol Polypol (vollständige Konkurrenz) Tab. 8.1: Mögliche Kombinationen von Nachfrage- und Angebotsseite Die „Lösungen“ für die vier Felder oben links, wenn es also wenige „Marktteilnehmer“ gibt, kommen zumeist auf Grund von Konventionen oder Verhandlungen zustande. Das können Sie sich gut an dem Fall, das genau ein Mensch etwas verkaufen möchte, was genau ein anderer Mensch kaufen möchte, verdeutlichen. Ob ein Handel zustande kommt oder nicht und welcher Preis dann z.B. für das alte Auto erzielt wird, hängt also primär vom Verhandlungsgeschick beider Seiten und der Fähigkeit, Wünsche (zu kaufen bzw. zu verkaufen) zu kontrollieren ab. Strategien für das Vorgehen in Situationen, die in den oberen 4 Feldern beschrieben sind, werden zum Beispiel in der Spieltheorie diskutiert. In einem klassischen Kurs der Mikroökonomie werden Sie sehr früh mit dem Modell der vollständigen Konkurrenz (auch als Polypol bezeichnet), (Angebots-)Oligopolen und hier speziell Duopole wie das Cournot-Duopol und das Stackelberg-Duopol, und dem (Angebots-)Monopol vertraut gemacht. Hier werden Ihnen „analytische“ Lösungen hergeleitet (vergleiche jedes einschlägige Lehrbuch der Mikroökonomie). Bei Monopolen werden unterschiedliche Hintergründe unterschieden: von lebens‐ notwendigem Wasser, das sich in einer Großstadt technisch schlecht im Wettbewerb distribuieren lässt, über Firmen, die über Patentrechte verfügen bis hin zu Unterneh‐ men, die zwar keine Monopolisten im Sinne einer wirtschaftswissenschaftlichen Definition sind, sich aber weitgehend so verhalten. Wenn Sie hier intuitiv an die Firma Apple denken, liegen Sie richtig. Die „Beschäftigung“ mit Apple lohnt sich in vielerlei Hinsicht: Stichworte sind z.B. Preisdiskriminierung 17 auf verschiedenen Märkten (ein klassisches VWL-Thema), Lebenszyklusanalyse und Portfoliotechniken (BWL-Themen) sowie „Steueroptimierung“ (mixed topic). 8 Wettbewerb und Regulierung 180 <?page no="181"?> 18 Die hier kurz beschriebenen Zusammenhänge können gut durch eine Lektüre der ersten drei Kapitel des Buches „Internationale Wirtschaft“ von Paul Krugman rekapituliert und in einen praktischen Zusammenhang gestellt werden. Das Ricardo-Modell Auf das Ricardo-Modell des internationalen Handels und den „Spagat“ von Volkswirt‐ schaften zwischen notwendiger Spezialisierung und ebenso notwendiger Diversifizie‐ rung wurde bereits in Kapitel 5 kurz Bezug genommen. Im Folgenden werden wir an Hand eines Beispiels dessen wichtigste Erkenntnisse bzw. Schlussfolgerungen ableiten. In diesem Beispiel (das ich einem alten englischspra‐ chigen Lehrbuch der VWL entnommen habe, an dessen Titel ich mich nicht erinnern kann), sind die beiden Güter Fahrräder und Mäntel, in anderen Lehrbüchern sind dies Computer und Rosen, Wein und Käse, usw. 18 Gegeben seien zwei wirtschaftliche Einheiten A und B. A verfügt über 100 Arbeiter und kann bei vollständiger Kapazitätsauslastung in einer Periode entweder 200 Mäntel oder 100 Fahrräder herstellen. B hat 200 Arbeiter: Bei vollständiger Kapazitätsauslas‐ tung kann B in derselben Periode entweder 100 Mäntel oder 100 Fahrräder herstellen. Die Produktionsfunktionen seien durch die in der Mikroökonomie üblichen Standard‐ annahmen, wie z.B. die Teilbarkeit der Güter, charakterisiert. Beginnen wir mit den Budgetrestriktionen für A und B. Es werden die folgenden Bezeichnungen verwendet: X AF = Anzahl der Fahrräder, die in A hergestellt werden X BF = Anzahl der Fahrräder, die in B hergestellt werden X AM = Anzahl der Mäntel, die in A hergestellt werden X BM = Anzahl der Mäntel, die in B hergestellt werden Es gelten die Budgetrestriktionen für die Produktionsmöglichkeiten von A und B (die a-Koeffizienten korrespondieren hier invers zur Arbeitsproduktivität bzw. zur Anzahl der Arbeiter, die pro Periode für die Produktion eines Fahrrads oder eines Mantels erforderlich sind): 100   A M A M A F A F x a x a und 200   B M B M B F B F x a x a . Dabei erhält man für die Arbeitsproduktivitätskoeffizienten numerisch (Ermittlung durch Nullsetzen der 2. Variablen): A F a = 1; 2 / 1  A M a sowie 2 ; 2   B M B F a a . Dies bedeutet, dass ein Arbeiter in A eine Zeiteinheit benötigt, um ein Fahrrad herzustellen, und eine halbe Zeiteinheit, um einen Mantel herzustellen (bzw. dass ein Arbeiter zwei Mäntel pro Zeiteinheit herstellt). Beachten Sie, dass die Zeiteinheit nicht Exkurs: Modelle, Spieltheorie und Regulierung 181 <?page no="182"?> spezifiziert ist (es könnte sich z.B. um einen Tag oder eine Woche handeln). Für B bedeutet dies, dass je zwei Arbeiter erforderlich sind, um ein Fahrrad oder einen Mantel herzustellen. Je höher die Arbeitskoeffizienten, umso geringer ist die Arbeitsproduktivität. Im Vergleich zu B ist A also doppelt so produktiv bei der Herstellung von Fahrrädern sowie viermal so produktiv bei der Herstellung von Mänteln. Die Opportunitätskosten in A lauten, dass 1 Fahrrad zu 2 Mänteln korrespondiert, d.h. dass A zwei Mäntel weniger herstellen kann, wenn es ein Fahrrad mehr produzieren will. In B korrespondiert 1 Fahrrad zu 1 Mantel. Die durchgehenden Linien in den bei‐ den Teilen von Abb. 8.1. stellen in Analogie zu Budgetgeraden in der Haushaltstheorie die Produktionsmöglichkeiten, englisch die Production Possibility Frontiers (PPF), dar. A hat in unserem Beispiel einen absoluten Vorteil hinsichtlich der Produktion von Mänteln und Fahrrädern. B hat einen komparativen Vorteil hinsichtlich der Produktion von Fahrrädern: B muss nur einen Mantel für die zusätzliche Produktion von einem Fahrrad (oder umgekehrt) aufgeben, während A auf die Produktion von zwei Mänteln verzichten muss, um ein weiteres Fahrrad herzustellen (oder umgekehrt). A wird sich in einer Handelswirtschaft zwischen A und B somit auf die Produktion von Mänteln und B auf die Produktion von Fahrrädern spezialisieren. Nehmen wir nun an, dass es zum Handel zwischen A und B kommt und dass das Tauschverhältnis in der numerischen Mitte der Opportunitätskosten liegt, dass es also 1,5 Mäntel : 1 Fahrrad beträgt. In Abb. 8.1 werden den alten Production Possibility Frontiers für A und B die neuen, das heißt nach Spezialisierung bei gegebenem Tausch‐ verhältnis, gepunktet hinzugefügt. Das gestrichelte Ende der nach rechts verschobenen Linie in der linken Abbildung bedeutet, dass dieser Teil der Linie physisch nicht existent ist, da B höchstens 100 Fahrräder in Mäntel tauschen kann. Abb. 8.1: Production Possibility Frontiers mit und ohne Handel (eigene Darstellung) Land A (mit Handel) Land B (mit Handel) Mäntel Mäntel 200 100 alt 133,5 neu Fahrräder Fahrräder 100 100 150 alt neu Abb. 8.1: Production Possibility Frontiers mit und ohne Handel (eigene Darstellung) 8 Wettbewerb und Regulierung 182 <?page no="183"?> Sowohl A als auch B verschieben ihre PPFs nach außen und profitieren somit vom Handel. Für A sind Fahrräder billiger geworden (hier als Opportunitätskosten von Mänteln beschrieben) und für B sind Mäntel (als Opportunitätskosten von Fahrrädern beschrieben) günstiger geworden. Nehmen wir nun an, dass ein Mantel auf dem gemeinsamen Markt 500 Geldeinheiten (GE) kostet und dass der Preis des Mantels gleich dem Einkommen eines Arbeiters, der Mäntel herstellt, ist. Wenn ein Mantel 500 GE kostet, beträgt der Lohn eines Arbeiters in A 1.000 GE (Ein Arbeiter in A stellt zwei Mäntel pro Periode her). Aus der Annahme, dass das Tauschverhältnis 1,5 Mäntel zu einem Fahrrad beträgt, folgt, dass ein Fahrrad 750 GE kostet. Der Lohn eines Arbeiters in B beträgt unter den oben gemachten Voraussetzungen 375 GE. Beachten Sie, dass der Lohn eines Arbeiters in A weniger als das Vierfache aber mehr als das Doppelte eines Arbeiters in B beträgt. (Dies waren die Vielfachen der Mantelbzw. Fahrradproduktivität.) Der Gesamtgewinn der Spezialisierung wird geteilt und die Löhne in A und B können gut als „fair“ bezeichnet werden. Nehmen wir nun aber an, dass A deutlich stärkere Verhandlungsmacht als B hat. Welche Auswirkungen hat dies auf die Tauschrelation zwischen Mänteln und Fahrrädern? Wir haben gesehen, dass beide Länder vom Handel in dem Sinne profitieren, dass sie ihre Produktionsmöglichkeitsgrenze nach außen verschieben, wenn das Tausch‐ verhältnis von Mänteln zu Fahrrädern echt größer als eins zu eins aber gleichzeitig echt kleiner als zwei zu eins ist. Wenn A über stärkere Verhandlungsmacht verfügt, bewegt sich das Tauschergebnis ceteris paribus an ein Fahrrad pro Mantel heran. Anders ausgedrückt: A sichert sich den größeren Teil des gemeinsamen Kuchens und gibt nur wenig mehr als nötig, damit B noch einen kleinen Vorteil vom Handel hat. Wenn das Tauschverhältnis z.B. 1,1 Mäntel zu einem Fahrrad betrifft, hat dies natürlich auch Auswirkungen auf die Löhne in B. Dann verdient ein Arbeiter in B c.p. nur noch 1,1∙500 GE/ 2 = 275 GE. Machen Sie sich noch einmal die stark vereinfachten Modellannahmen (hier: zwei Länder, zwei Güter, ein Produktionsfaktor) klar und welche Einsichten das Modell erlaubt und welchen Restriktionen es unterworfen ist. Wichtig ist hier vor allem zu verstehen, dass internationaler Handel nicht nur Gewinner sieht, wie Sie sich schnell am Beispiel der Fahrradhersteller und -arbeiter in Land A klarmachen können, die durch die internationale Arbeitsteilung „überflüssig“ werden. Denken Sie jetzt z.B. an den Abbau der Arbeitsplätze in der ehemaligen Weltautohauptstadt Detroit und die sinkende Lebenserwartung der unteren Mittelklasse als Folge der Massenarbeitslosig‐ keit im Rust Belt. Spieltheorie als Methode Von Spieltheorie hat fast jedermann etwas gehört. Der amerikanische Film „A beautiful mind“ über den im Jahre 2015 verstorbenen Mathematiker John Nash war dieser Entwicklung sicher nicht abträglich; ebenso der häufige Verweis während der Ver‐ Exkurs: Modelle, Spieltheorie und Regulierung 183 <?page no="184"?> 19 Der Begriff Spieltheorie rührt daher, dass zu Beginn Betrachtungen zu Brettspielen wie Schach, Go, Dame, Mühle usw. im Zentrum der Überlegungen standen. Eine gute Sammlung von Aufsätzen und Vorlesungsmanuskripten (zumeist in englischer Sprache) unterschiedlichster Niveaus findet man auf www.gametheory.net 20 Eine ausführlichere Beschreibung finden Sie auf https: / / policonomics.com/ battleof-the-bismarck-sea/ #: ~: text=The%20Battle%20of%20the%20Bismarck,mode‐ ling%20was%20done%20by%20O.%20G.&text=It's%20a%20game%20used%20in,sum%20ga‐ mes%20with%20two%20players handlungen im Jahre 2014 und 2015 zwischen der Troika (bzw. den Institutionen) und der griechischen Regierung, dass Griechenlands damaliger Finanzminister Giannis Varoufakis Spezialist dieser ökonomisch-mathematischen Disziplin sei. 19 Die Spieltheorie ist zunächst eine mathematische Methode, die rationales Entschei‐ dungsverhalten in sozialen Konfliktsituationen ableitet, in denen der Erfolg des Einzelnen nicht nur vom eigenen Handeln, sondern auch von den Aktionen anderer Handelnder abhängt. (In der Entscheidungstheorie „spielen“ Sie gegen sich selbst.) Sie wird auch als Mathematik zur Modellierung von Interessenkonflikten bezeichnet. Spieltheoretische Modelle finden u.a. Anwendungen in der Politik (z.B. beim Abstim‐ mungsverhalten in Parlamenten), im Militärwesen, in der Theorie (und Praxis) der öffentlichen Güter und im Kartellrecht. Im Folgenden werden Ihnen zwei klassische 1-Perioden-Spiele am Beispiel der Schlacht in der Bismarck-See und des Gefangenen‐ dilemmas mit und ohne Mafia vorgestellt. Schwache Dominanz Aus der Entscheidungstheorie sollte Ihnen bekannt vorkommen (wenn nicht, macht das auch nichts, lesen Sie einfach weiter), dass eine Alternative x von einer Alternative y dominiert wird, wenn y in jedem Umweltzustand mindestens genauso gut, in mindestens einem Umweltzustand aber besser als x ist. Das bekannteste Spiel, das auf Dominanzüberlegungen basiert, ist die „Schlacht in der Bismarck-See“ (englisch: Battle of the Bismarck Sea.) Dieses „Spiel“ geht zurück auf eine tatsächliche „Begegnung“ japanischer und US-ame‐ rikanischer Truppen im II. Weltkrieg im März 1943. Dabei hatte der japanische Flottenkommandeur Kimura zu entscheiden, ob er in der Bismarck-See mit seinem Konvoi eine Nordroute mit schlechter Sicht oder eine Südroute mit guter Sicht zum Zielort fahren sollte. Der Gegner, die US-amerikanische Air Force unter Admiral Kenney, hatte Ressourcen, um die Japaner auf einer Route abzufangen, die Bomber waren ausreichend, um eine Route zu bestreichen, aber nicht beide. Es bestand somit die Chance für die Japaner „durchzuschlüpfen“ bzw. das Risiko für die Amerikaner, die Japaner zu verpassen. Die Werte in nachfolgender Tabelle geben die Tage, an denen die Amerikaner die Japaner annahmegemäß bombardieren konnten, an. Jeder (Posi‐ tiv-)Tag, den die Amerikaner bomben können, ist spiegelsymmetrisch ein Minustag für die Japaner. 20 Die Payoff-Matrix besitzt annahmegemäß folgende Gestalt: 8 Wettbewerb und Regulierung 184 <?page no="185"?> Japanische Flotte Nord Süd US Air Forces Nord 2/ -2 2/ -2 Süd 1/ -1 3/ -3 Tab. 8.2: Auszahlungsmatrix der Schlacht in der Bismarck-See Für die US-Amerikaner existiert keine dominante Strategie: Fahren die Japaner nach Norden, sollten die Amerikaner nach Norden fliegen (2 > 1), fahren die Japaner nach Süden, sollten die Amerikaner nach Süden fliegen (3 > 2). Die Japaner haben allerdings nach Dominanzüberlegungen eine Präferenz für die Nordroute: Wenn die Amerikaner nach Norden fliegen, sind ihre Verluste gleich (jeweils -2); wenn die Amerikaner nach Süden fliegen, sollten die Japaner nach Norden fahren (-1 > -3). Damit ist die Südroute aus japanischer Perspektive schwach dominiert und die Japaner fahren nach Norden. Weil die Amerikaner dies wissen, fliegen sie nun nach Norden und (Nord/ Nord) bzw. (2,-2) wird zum Gleichgewicht. Klassisches Gefangendilemma Das bekannteste Spiel ist das Gefangenendilemma (wobei die „Auszahlungen“ von Darstellung zu Darstellung variieren). Zwei (mutmaßliche) Verbrecher werden von der Polizei festgesetzt. Die Polizei verhört nun beide unabhängig voneinander. Dabei können die Festgehaltenen nicht miteinander kommunizieren. Die Gefangenen haben jeweils zwei mögliche Strategien: „Gestehen“ und „Leugnen“. Bekannt ist aber beiden das „Auszahlungsprofil“: Wenn ein Gefangener gesteht und seinen Komplizen belastet, wird der Kronzeuge unmittelbar freigelassen, sein Komplize wandert hingegen für zehn Jahre ins Gefängnis. Gestehen beide, erhalten sie jeweils drei Jahre Gefängnis. Leugnen beide, kann die Polizei nichts beweisen und sie werden nach je einem Monat aus der Untersuchungshaft freigelassen. Die Auszahlungen/ Payoffs in Monaten (mit negativem Vorzeichen) lauten nun: Person B Gestehen Leugnen Person A Gestehen -36/ -36 0/ -120 Leugnen -120/ 0 -1/ -1 Tab. 8.3: Payoffs im Gefangenendilemma Die Lösung (bzw. das Dilemma) ist nun, dass es für beide Personen dominant ist, zu gestehen: Wenn A annimmt, dass B gesteht, ist er besser dran, zu gestehen (-36 vs. Exkurs: Modelle, Spieltheorie und Regulierung 185 <?page no="186"?> -120), wenn A annimmt, dass B leugnet, ist er ebenfalls besser dran, zu gestehen (0 vs. -1). A wird also gestehen. Diese Argumentation ist symmetrisch, gilt also auch für B, der sich spiegelbildlich in derselben Situation wie A befindet. Das Spiel hat somit (Gestehen, Gestehen) als Gleichgewicht. Global (formalisiert durch die Gesamtanzahl der im Gefängnis zu verbringenden Monate) und auch lokal im Sinne der beiden Angeklagten wäre es zweifellos günstiger, wenn beide Delinquenten leugnen würden. Dann würden sie jeweils nur einen Monat und damit gemeinsam zwei Monate im Gefängnis verbringen und nicht 72 Monate. Tatsächlich stehen wir hier vor einer Grundkonstellation, in der das Interesse des Einzelnen im Konflikt zum Interesse eines diesen Einzelnen beinhaltenden Kol‐ lektives modelliert wird und das in dieser qualitativen Form vielfach in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auftritt. Die Struktur des Gefangenendilemmas finden Sie u.a. auch im berühmten Beispiel der Tragödie der Allmende, das im folgenden Kapitel präsentiert wird, wieder. Verbindend sind die nicht neuen Erkenntnisse, dass „vernünftige“ gesellschaftliche Lösungen ohne Kooperation nicht möglich sind; dass es also verbindlicher „vernünftiger“ Regeln für das kollektive Verhalten bedarf und dass eine Ökonomisierung des Soziallebens auf Kosten der Lebensqualität fast aller geht. Gefangenendilemma mit Mafia Eine Abwandlung dieses Problems, damit „fertig zu werden“, dass Individuen, die sich individuell rational verhalten, die Gesellschaft schädigen, ist das Gefangenendilemma mit Mafia: Ein Gefangener, der unmittelbar freikommt, wird am Gefängnistor von der Mafia erwartet, die ihn - als Verräter identifiziert - tötet. Der Tod wird im nachfolgenden Tableau in minus unendlich „übersetzt“. Das Auszahlungstableau sieht nun wie folgt aus: Person B Gestehen Leugnen Person A Gestehen -36/ -36 -∞/ -120 Leugnen -120/ -∞ -1/ -1 Tab. 8.4: Payoffs im Gefangenendilemma mit Mafia Beachten Sie, dass es hier keine dominanten Strategien für A und B gibt. Leugnen/ Leug‐ nen ist in einer ersten Runde auch keine dominante Strategie: Weil die Strafkosten für Gestehen aber deutlich höher sind als im klassischen Beispiel, muss ein Gefangener schon sehr risikofreudig sein, um sich auf Gestehen einzulassen. Nach einer „Nach‐ denkschleife“ werden beide Gefangenen sehr sicher bei Leugnen/ Leugnen ankommen. Die Mafia verändert durch eine Änderung der Regeln c.p. das Verhalten der betreffenden Personen A und B. Die Mafia reguliert also das Verhalten ihrer Mitglieder A und B. 8 Wettbewerb und Regulierung 186 <?page no="187"?> Auf die Gesellschaft übertragen gilt, dass kluge Regulierung - die zumeist zurück‐ haltend ist, gerade wenn sie die Freiheitsrechte der Bürger betrifft - fraglos notwendig ist, um ein komplexes Gemeinwesen am Funktionieren zu halten. Bemerkung: Die beiden wichtigsten altchinesischen Philosophen, Lao-Tse und Konfuzius, waren sich, obgleich sie sehr unterschiedliche Menschen- und Gesellschaftsvor‐ stellungen verfochten, in der Ablehnung von (zu) vielen Gesetzen völlig einig: Lao-Tse meinte bereits vor 2500 Jahren lakonisch, dass viele Gesetze nur zu vielen Verbrechen führen. Tatsächlich hat die Welle von Verordnungen und Kodizes wie der Deutsche Corporate Governance Kodex, die in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts als „Antwort“ von Gesetzgebern und Wirtschaft auf Wirtschaftsbetrugsskandale (z.B. Enron in den USA, Flowtex in Deutschland) erlassen bzw. verkündet wurden, weder Menschen noch Unternehmen „ehrlicher“ gemacht, wie der Dieselskandal im Jahre 2015 oder der 2020 aufgedeckte Bilanzbetrug der Firma Wirecard eindrucksvoll beweisen sollten. Wir werden auf diese Fragen in Kapitel 9 zur Umweltökonomie sowie im Kapitel 10 zur Digitalisierung zurückkommen, halten aber hier bereits fest, dass „falsche“ Regulierung zu einer „falschen“ globalen Optimierung führt, sie also nicht nur ein paar einzelne Unternehmen, sondern einen oder mehrere Wirtschaftszweige schädigen kann. Die Spieltheorie bzw. ihre Vertreter leisten Beträchtliches zur Verfassung kluger Gesetze bzw. kluger Regulierung. Im Jahre 2014 wurde z.B. der Nobelpreis für Wirt‐ schaftswissenschaften an Jean Tirole aus Frankreich verliehen: Tirole entwickelte Vorschläge, wie Branchen mit einigen wenigen mächtigen Unternehmen reguliert werden können. Er entwickelte eine Theorie, wie Behörden Fusionen und Kartelle behandeln können. Tirole kommt dabei zu dem Schluss, das es keine allgemein gültigen Regeln gibt, d.h., eine Regulierung muss speziell an die unterschiedlichen gegebenen Voraussetzungen angepasst werden. Nach all diesen Erkenntnissen drängt sich eine sehr praktische Frage auf: Was pas‐ siert, wenn alle wichtigen Wirtschaftsakteure die gleichen Modelle nicht nur kennen, sondern auch verwenden? Was wäre gewesen, wenn der japanische Admiral genauso gedacht hätte wie der amerikanische Commander? Wenn Kimura gewusst hätte, dass Kenney weiß…Was, wenn beide Spieler im Gefangenendilemma den Mechanismus verstehen, der sie schlussendlich für mehrere Jahre ins Gefängnis bringt? Goethe lässt Faust dazu sagen: Da steh ich nun ich armer Tor Und bin so klug als wie zuvor Heiße Magister, Doktor gar Und ziehe schon an die zehen Jahr Exkurs: Modelle, Spieltheorie und Regulierung 187 <?page no="188"?> Herauf, herab und quer und krumm Meine Schüler an der Nase herum - Und sehe dass wir nichts wissen können! Goethe und Wirtschaft „Geld und Magie“ ist ein sehr lesenswertes Buch aus dem Jahre 1985 von Hans Christoph Binswanger, u.a. Vater von Mathias Binswanger, dem wir in Kapitel 1.2 und 4.5 begegnet sind, und Doktorvater des ehemaligen Deutsche Bank-Chefs Josef Ackermann. Binswanger interpretiert den 2. Teil von Goethes Faust als „ein alchemistisches Drama von Anfang bis Ende“, in dem es darum geht, „zu wertvollem Gelde zu kommen, ohne es vorher durch eine echte Anstrengung verdient zu haben“, „wenn also eine echte Wertschöpfung möglich ist, die das Gesetz der Erhaltung von Energie und Masse außer Kraft setzt, die ein ständiges Wachstum der Wirtschaft möglich macht, das an keine Begrenzung gebunden ist, das schnell und immer schneller vor sich geht und in diesem Sinne Zauberei oder Magie ist.“ (S. 23) „Die Natur - worunter wir im weitesten Sinne alles verstehen können, was nicht der menschlichen Leistung zugesprochen werden kann - kommt in der grundlegenden Produktionsfunktion der Nationalökonomie nicht zum Vorschein. Diese ist daher eine ‚Philosophie des Als-ob.‘ […] Sie tun so […] als ob das Sozial‐ produkt tatsächlich nur das Ergebnis von Arbeit (Fleiß), Kapital (Konsumverzicht) und technischem Fortschritt (Lernen und Forschen), also in seiner Totalität ein Ergebnis menschlicher Leistung sei.“ (S. 46) Nicholas Georgescu-Roegen, dem Sie im Exkurs des folgenden Kapitels begegnen werden, hätte sich gut auf Goethe berufen können. Goethes Faust gehörte in der Generation meiner Eltern noch zum Bildungskanon (sicher unterschiedlich vermittelt auf Volkssschulen und Gymnasien): Ich selbst habe ihn wie meine Kinder nicht mehr lesen müssen. Ausblick Nach Jahrzehnten, die in den westlichen Industriestaaten durch Vertrauen in die Macht des Marktes, Deregulierung und Rückbau des Staates charakterisiert waren, hat der Staat seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 wieder einen besseren Ruf. Ob und inwieweit dies in näherer Zukunft verteidigt werden kann, wird fraglos von der Fähigkeit der Regierungen und Verwaltungen, die Corona-Krise in den Griff zu bekommen, abhängen. Zahlreiche Deregulierungen um die Jahrtausendwende erwiesen sich als ineffektiv, osteuropäische Volkswirtschaften wie die Weißrusslands, Moldawiens, der Ukraine, aber auch der baltischen Staaten und Russlands sind heute wesentlich durch die 8 Wettbewerb und Regulierung 188 <?page no="189"?> Privatisierungen Anfang der 1990er Jahre geprägt, die das jeweilige Volksvermögen innerhalb kürzester Zeit in das Eigentum einiger weniger Oligarchen überführte. Regulierung ist in einer komplexen Gesellschaft das zumeist vernünftigste Mittel des Staates, das Verhalten der Bürger in „seinem Sinne“ zu beeinflussen und damit Verboten, die, wenn sie ernst genommen werden sollen, staatlich durchgesetzt werden müssen, im Zweifelsfall vorzuziehen. Das bekannteste Verbot, das sein Ziel nicht nur nicht erreichte und dazu noch eine Kriminalitätsbeschaffungsmaßnahme nie gesehener Ordnung war, war die sogenannte Prohibition in den frühen 1930er Jahren in den USA. Zu keiner Zeit wurde in den USA so viel Alkohol getrunken wie während dieser Verbotsjahre. Der Alkoholkonsum und die damit verbundene Kriminalität dieser Periode wurde in den Filmen der Schwarzen Serie sowie in Komödien wie Billy Wilders „Manche mögen’s heiß“ für die Nachwelt verewigt. Besser ist in jedem Fall die kontrollierte Abgabe von teurem Alkohol in Spezialge‐ schäften, wie dies z.B. in Schweden der Fall ist (auch wenn dieses System durch die Freizügigkeit in der EU löchrig ist, wie Ihnen Rostocker Supermarktverkäuferinnen bestätigen können, die Schwedisch oder auch Dänisch für ihre neue Kundschaft lernen müssen). Gleiches gilt für das Verbot von Prostitution, die die „Nachfrager“ geografisch z.B. nach Osteuropa oder aus Frankreich und Schweden nach Deutsch‐ land ausweichen lässt. Kurz: Etwas, von dem der Gesetzgeber ausgeht, dass es für das Land schädlich sei, das aber nicht sinnvoll (d.h. mit vertretbarem Aufwand) unterbunden werden kann, sollte vernünftig reguliert werden. Das bedeutet übrigens nicht, dass der Gesetzgeber immer recht hat und dass langfristig erfolgreiche Gesellschaften, wie bereits ausgeführt, durch die Fähigkeit zur Fehlerkorrektur charakterisiert sind. Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 8.1: Welche Branchen sind in Deutschland staatlich reguliert? Übung 8.2: Grenzen Sie die Konzepte Regulierung und Verbot voneinander ab. Übung 8.3: Recherchieren Sie, welche Nobelpreise in den Wirtschaftswissen‐ schaften für spieltheoretische Arbeiten vergeben wurden. Übung 8.4: Im Herbst 2016 forderte das US-Finanzministerium von der Deut‐ schen Bank eine Strafzahlung für „windige Hypothekengeschäfte“ (die mit zur Subprime-Krise geführt haben sollen) in Höhe von ca. 14 Mrd. US-Dollar, wohl wissend, dass die Bank diese finanzielle Strafzahlung nicht leisten konnte, sondern Übungen zur Selbstüberprüfung 189 <?page no="190"?> dass das Institut (vermutlich) vom deutschen Staat gerettet werden müsste, wenn das US-Finanzministerium die Strafzahlung nicht substanziell reduzieren würde. Die deutsche Bundesregierung erklärte rasch, dass sie die Deutsche Bank auch im „Ernstfall“ nicht stützen werde. Die Handlungsoptionen des US-Finanzministeri‐ ums sind „auf maximaler Strafe bestehen“ und „Strafe substanziell senken“, die der deutschen Bundesregierung, die Deutsche Bank im Notfall zu stützen bzw. dies nicht zu tun. Beide Regierungen betrachten die Deutsche Bank als systemrelevant. a. Bestimmen Sie die die möglichen Handlungskombinationen beider Akteure mithilfe einer Matrix im spieltheoretischen Sinne. b. Vereinfachen Sie die Payoffs beider Spieler und tragen Sie diese in die Matrix aus a) ein, indem Sie für die 4 Kombinationen jeweils die Nutzenswerte 4, 3, 2 und 1 für die deutsche Bundesregierung und die US-Regierung zuweisen. Begründen Sie, warum Sie diese ordinalen Nutzenswerte den jeweiligen Zuständen zuordnen. c. Diskutieren Sie, ob dieses Spiel ein Gleichgewicht hat. 8 Wettbewerb und Regulierung 190 <?page no="191"?> 9 Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende Wenige Themenkomplexe sind so vielschichtig und werden in der Öffentlichkeit so kontrovers diskutiert wie die zukünftige Energieversorgung bzw. Versorgungssicher‐ heit Deutschlands. Um nur einige Stichpunkte zu nennen: Autonomie der Energiever‐ sorgung und zukünftige Rolle Russlands, Netzsicherheit, Klimaschutz, Atomausstieg, regenerative Energien, CO 2 -Neutralität u.v.m. Nirgendwo sonst sind die Grenzen nationalstaatlicher Politik so sichtbar wie in der Energiepolitik. Dies betrifft die deutsche Energiewende, die im Jahr 2011 ohne Absprache mit unseren europäischen Nachbarn eingeleitet wurde, ebenso wie den Neubau von Atomkraftwerken u.a. in den Niederlanden, Polen oder Tschechien. Es ist unmittelbar einsichtig, dass die Maßnahmen, die erforderlich sind, um nur die deutschen Klimaschutzziele zu erreichen, sich unter den heutigen ökonomischen und rechlichen Rahmenbedingungen kurz- und mittelfristig kaum in Übereinstimmung bringen lassen mit Problemen des Arbeitsmarktes und dass Deutschlands Energiestra‐ tegie in einen europäischen Kontext eingebettet gesehen werden muss. Status quo Energiewende Die deutsche Energiewende wurde im Jahre 2011 weitgehend im nationalen Alleingang nach der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima eingeleitet. Ihre drei Ziele lauten, dass Energie in Zukunft sicher, sauber und bezahlbar sein müsse. Der jeweils aktuelle Stand wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie auf seiner Webseite dokumentiert. [25] „Stand“ 2018 (den Sie mit den Aussagen der jeweiligen Publikationen vergleichen können), war: i. Acht Atomkraftwerke wurden sofort stillgelegt, neun weitere sollen bis zum Jahr 2022 folgen. Das Problem der Endlagerung von radioaktiv verseuchtem Müll ist nicht gelöst. ii. Der Anteil des Ökostroms soll im Jahre 2025 bis zu 45% und im Jahre 2035 bis zu 60% des Gesamtstrommixes betragen. Der weitere Ausbau soll allerdings günstiger erfolgen, da die Strompreisbelastung durch die öffentliche Förderung (aus Steuermitteln) weit höher als geplant ist. iii. Der Ausstoß von Treibhausgasen sollte bis zum Jahre 2020 um 40% im Vergleich zum Referenzjahr 1990 sinken. Da es eine temporäre Zunahme der Kohleverstromung gab (siehe weiter unten), war dieser Wert im Jahre 2015 erst bei reichlich der Hälfte angelangt. iv. Es sollten 2.800 km Hochspannungsleitungen neu gebaut und 2.900 km optimiert werden. Dabei gibt es nach wie vor Unstimmigkeiten zwischen <?page no="192"?> verschiedenen Landesregierungen, wie und wo bis 2022 Trassen von Nord nach Süd (wo der Strom gebraucht werden wird) gelegt werden sollen. Ende 2020 war Ziel der Bundesregierung, dass Deutschland spätestens 2038 aus der Kohleverstromung aussteigen wird, und dass die Betreiber von Steinkohlekraftwerken dabei keine festen Entschädigungen erhalten und sich dafür um Stilllegungsprämien bewerben sollen. Geplant sind bei sinkenden Höchstpreisen insgesamt acht Ausschrei‐ bungsrunden bis 2027. Es wird interessant zu beobachten sein, ob die Industrie hier „mitmacht“ oder ob auch dieser Fall von den Gerichten geklärt werden muss. Die nachfolgende Grafik illustriert den Primärenergieverbrauch nach Energieträ‐ gern im Jahr 1990 und im Jahr 2019. Abb. 9.1: Primärenergieverbrauch nach Energieträgern: 1990 vs. 2019 (Quelle: Umweltbundesamt Abb. 9.1: Primärenergieverbrauch nach Energieträgern: 1990 vs. 2019 (Quelle: Umweltbundes‐ amt [26] ) Es wird ersichtlich, dass der Primärenergieverbrauch in Deutschland innerhalb dieser fast 30 Jahre insgesamt um ca. 14% gesunken ist. Das bedeutet, dass der Pro-Kopf-En‐ ergieverbrauch (bei um etwa drei Millionen Menschen bzw. ca. 4% gestiegener Bevöl‐ kerung) in Deutschland seit 1990 um ca. ein Fünftel gesunken ist. Eine Antwort auf die Frage, ob man dies als viel oder wenig erachtet, sollten wir hier noch nicht wagen. Als Einzelkomponente war der zu einem beträchtlichen Teil auf PKWs und LKWs zurückgehende relative Ölverbrauch konstant, der vergleichsweise umweltfreundliche Gasverbrauch stieg relativ wie absolut, und der Beitrag von Braunkohle, Steinkohle und Kernenergie wurde im Wesentlichen durch alternative Energieträger ausgeglichen. Wenn wir beim Stromverbrauch als Referenzjahr 2010, das Jahr vor der Energie‐ wende, wählen, stellt sich heraus, dass die Stromerzeugung in Deutschland fast zehn Jahre später praktisch gleich war (605 Mrd. kWh im Jahr 2010 vs. 611 Mrd. kWh im Jahr 2019). Die Tatsache, dass der Stromverbrauch in Deutschland in diesen 9 Jahren 9 Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende 192 <?page no="193"?> 21 Die Daten stammen aus verschiedenen Publikationen des Umweltbundesamtes. Eine sehr empfeh‐ lenswerte Informationsquelle, um sich mit Problemen und Resultaten angewandter Forschung zur Energiewende vertraut zu machen, ist die des Karlsruhe Institute of Technology, www.kit.edu/ index.php. um gerade mal ein Prozent gestiegen ist, ist u.a. darauf zurückzuführen, dass wir von Mitte 2018 bis Mitte 2020 mit einem Rückgang um ca. 8 Prozentpunkte praktisch eine Rezession in der deutschen Industrie erleben, die im wesentlichen auf Problemen der Automobilindustrie beruht. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromproduktion stieg durch massive staatliche Intervention von 2010 bis 2019 von 17% auf ca. 40%; dies auf Kosten der Braunkohle (23% vs. 19%, der Steinkohle 19% vs. 9%, Kernenergie von 22% auf 12%, Erdgas stieg leicht von 13% auf 15%). Bis 2016 bestand die einzige qualitative Verschiebung allerdings von Kernenergie weg hin zu alternativen Energien. Der Abbau des Anteils der Braunkohle, deren Verbrennung bzw. Verstromung als besonders klimagefährdend gilt, wurde erst danach substanziell reduziert. 21 Bei den erneuerbaren Energien kam 2019 etwas mehr als die Hälfte aus Windenergie und hier wiederum ca. 80% aus Onshore- und 20% aus Offshore-Anlagen, die sich zumeist in der Nordsee befinden. Nicht überraschend änderten sich die Beiträge von Wasserkraft und Biomasse auf Grund wenig veränderter Ressourcen kaum; auch der Gesamtbeitrag der Photovoltaik veränderte sich nur unwesentlich (2% vs. 3%). Tatsächlich erfordert die Energiewende eine Trendumkehr im Strombereich, d.h. hin zu Schrumpfung statt Wachstum. Die EU-Energieeffizienzrichtlinie, Art. 6 Abs. 1, besagt „[…] dass die verpflichteten Energieverteiler und/ oder Energieeinzelhandelsun‐ ternehmen […] ein kumuliertes Endenergieeinsparungsziel erreichen. Dieses Ziel muss für den Zeitraum vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2020 mindestens der Erzielung neuer jährlicher Energieeinsparungen in einer Höhe von 1,5% des jährlichen Energieabsatzes […] an Endverbraucher nach ihrem über den letzten Dreijahreszeitraum vor dem 1. Januar 2013 gemittelten Absatzvolumen entsprechen.“ [27] Deutschlands Energiewirtschaft befindet sich derzeit also im Wandel hin zu mehr Dezentralität. Dabei stabilisierte sich der Anteil des Eigenverbrauches von selbst er‐ zeugtem Strom in Deutschland bei 25-30 Prozent. Das Geschäftsmodell der klassischen Energieversorger hat sich damit innerhalb weniger Jahre vollständig überholt. All dies klingt der Beschreibung der deutschen bzw. europäischen Banken in Kapitel 6 sehr ähnlich. Inwieweit und ob sich die Muster des Niedergangs der großen Energie‐ versorger und der Großbanken ähneln oder ob 2016 ein Tiefpunkt erreicht war, wird vermutlich bereits die nähere Zukunft zeigen. 9 Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende 193 <?page no="194"?> Ein Indiz auf Seiten der Energieversorger dafür ist die Entwicklung der Marktbe‐ wertung der großen Energiekonzerne E.ON und RWE, die eben nicht nur unter dem Atomausstieg leiden. Abb. 9.2: Börsennotierungen E.ON und RWE von 1995 bis Juni 2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 05 10 15 20 25 30 35 40 45 50 01/ 1995 01/ 2000 01/ 2005 01/ 2010 01/ 2015 01/ 2020 E.ON Aktie in Euro 9.2 ctd. 0 20 40 60 80 100 120 01/ 1995 01/ 2000 01/ 2005 01/ 2010 01/ 2015 01/ 2020 RWE Aktie in Euro Abb. 9.2: Börsennotierungen E.ON und RWE von 1995-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) Außer Frage steht, dass kleine geografische Einheiten gut und auch vollständig auf regenerative Einheiten umgestellt werden können. Für Großstädte und die Großindus‐ trie waren wir im Jahr 2020 von einer solchen Aussage weit entfernt. So ist gerade die in Deutschland viel genutzte Windenergie wegen der mangelnden Präzision von Wettervorhersagen nicht unproblematisch, weil hier zu technischen Problemen wie dem Aufreten von Turbinenschäden ökonomische Nebenwirkungen in Form von nega‐ 9 Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende 194 <?page no="195"?> 22 Eine sehr empfehlenswerte Webseite, um sich mit Problemen und Resultaten angewandter Forschung zur Energiewende vertraut zu machen, ist die des Karlsruhe Institute of Technology, www.kit.edu/ index.php tiven Energiepreisen kommen, wenn erneuerbare durch konventionelle Einspeisungen schnell ersetzt werden müssen oder umgekehrt. 22 9.1 Grundprinzipien der Umweltökonomie Unternehmen produzieren und verkaufen ihre Produkte und Dienstleistungen inner‐ halb einer existierenden, sich verändernden Wirtschafts-, Rechts- und Gesellschafts‐ ordnung. Die existierende Wirtschaftsordnung kann bezüglich internationaler Wettbe‐ werbsfähigkeit, Zerstörung von Produktionsfaktoren etc. suboptimal sein. Ein Betrieb muss ferner unabhängig von der Qualität der Rahmenbedingungen zumindest lang‐ fristig mehr Einnahmen als Ausgaben haben. Dass die Interessen von Individuen oft nicht unmittelbar mit den Interessen der Gesellschaft vereinbar sind, haben wir bereits gesehen. Lesen Sie nun die nachfolgende Beschreibung der „Tragödie der Allmende“. Tragödie der Allmende (Tragedy of the commons) von G. Hardin (1968) Gegeben ist eine Weide, die für alle Dorfbewohner zugänglich ist. Jeder Hirte wird annahmegemäß versuchen, so viel Vieh wie möglich auf der Allmende weiden zu lassen. Der rational handelnde Hirte wird bei jedem zusätzlichen Tier eine Kosten-Nutzen-Rechnung anstellen. Dabei kann er den Gewinn aus dem zusätzlichen Tier für sich allein verbuchen, die Kosten, die durch Überweidung entstehen, werden jedoch von allen Nutzern geteilt bzw. auf die Allgemeinheit abgewälzt. Jeder sich rational verhaltende Hirte wird daher mehr Tiere auf die Weide bringen, als wenn er die dadurch verursachten Kosten in voller Höhe selbst tragen würde. Die Tragik liegt darin, dass jeder Hirte in einem System gefangen ist, das ihn dazu bringt, in einer begrenzten Welt seine Herde unbegrenzt vergrößern zu wollen. Letztlich werden alle dadurch ruiniert, weil jeder einen möglichst hohen eigenen Vorteil erreichen will. Solch ein „Arrangement“ kann bzw. konnte in diesem Kontext nur problemlos funktionieren, solange die Zahl von Mensch und Vieh durch Kriege, Abwanderung und Krankheiten unterhalb der maximalen Aufnahmefähigkeit des Landes bleibt. Die Schlussfolgerung lautet, dass ein freier Zugang zur Allmende nur unter Be‐ dingungen niedriger Besiedlungsdichte zu rechtfertigen ist: Gemeinsame Weiden, Jagd- und Fischgründe wurden als Folge der Bevölkerungszunahme weitgehend abgeschafft und durch exklusive Nutzungsrechte ersetzt. 9.1 Grundprinzipien der Umweltökonomie 195 <?page no="196"?> Sie werden bemerkt haben, dass die Tragödie der Allmende dieselbe Grundstruktur wie das Gefangenendilemma aufweist. Kommen wir nun zu einigen zentralen Begriffen der Umweltökonomie: Ein exter‐ ner Effekt liegt im (umwelt-)ökonomischen Kontext vor, wenn sich die Konsum- oder Produktionsentscheidung eines Wirtschaftssubjektes auf den Nutzen anderer Wirtschaftssubjekte auswirkt. Dies kann positiv - ein schönes Beispiel für einen positiven externen Effekt ist Bildung - oder negativ sein. Externe Effekte sind also ein Typus von Marktversagen. Technologische Externali‐ täten liegen vor, wenn anderen Wirtschaftssubjekten ein Vor- oder Nachteil entsteht, ohne dass dieser dem Verursacher über das Preissystem zugutekommt oder angelastet wird: Sie führen zu allokativen Verzerrungen und können staatliche Korrekturmaß‐ nahmen rechtfertigen. Wenn ein Wirtschaftssubjekt die Folgen seiner Handlung für andere nicht berück‐ sichtigt und diese auch nicht in den Marktpreisen reflektiert werden, führt das (privat optimale) Handeln zu einer kollektiv suboptimalen Allokation. Bei negativen Externalitäten stimmen die Kosten, bei positiven Externalitäten stim‐ men die Erträge, die bei einem Produzenten anfallen, nicht mit den gesamtgesellschaft‐ lichen oder sozialen Kosten/ Erträgen überein. (Allgemein gilt private (Grenz-)Kosten + marginale Zusatzkosten = soziale (Grenz-)Kosten.) Ziel einer „vernünftigen“ Umweltpolitik ist es nun nicht, die Umweltverschmutzung auf null zu reduzieren, sondern dafür zu sorgen, dass die externen Kosten von den Verursachern übernommen werden müssen und damit in ihre Entscheidungsprozesse miteinfließen bzw. bei diesen berücksichtigt werden. Dies wird auch als Internalisierung externer Effekte bezeichnet. [28] Es wird also unterstellt, dass ein Unternehmen grund‐ sätzlich bereit ist, für Umweltverschmutzung zu zahlen bzw. sich davon freizukaufen. Internalisierung externer Effekte: Pigou-Steuer und Coase-Theorem Praktisch sind es zumeist zwei Ansätze, die verwendet werden, um externe Effekte zu internalisieren: Die staatliche Pigou-Steuer-Lösung ist eine Steuer, die dazu führt, dass ein Produzent die sozialen Kosten der Produktion eines Gutes berücksichtigt. Die in Deutschland im Jahre 1999 eingeführte Ökosteuer ist vom Grundsatz her eine Pigou-Steuer. Das Coase-Theorem besagt, dass es durch private Verhandlungslösungen auch ohne staatliche Eingriffe zu einer Internalisierung externer Effekte kommen kann. Das klassische Lehrbuchbeispiel spielt an einem Fluss, an dem sich oben ein Verschmutzer (z.B. ein Chemieunternehmen) und unten eine Fischfarm befindet, wobei die Produktion des Chemieunternehmens den Geschäftserfolg des Fischers beeinträchtigt. Laut Coase könnte der Fischer dem Chemieunternehmen Geld anbieten, um seine Produktion zu drosseln. Der Betrag hängt neben den indivi‐ duellen Gewinnfunktionen von der gemeinsamen Gewinnfunktion von Fischer 9 Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende 196 <?page no="197"?> und Chemieunternehmen (wobei eine simultane Bestimmung des gewinnoptima‐ len Outputs beider Unternehmen derart erfolgt, dass die Summe der Gewinne von Fischer und Chemieunternehmen maximiert wird) und der jeweiligen Ver‐ handlungsmacht von Fischer und Chemiebetrieb ab. [29] Denken Sie hier an die Ausführungen zu Verhandlungsmacht am Ende des Exkurses zum Ricardo-Modell in Kapitel 8 zurück. Eine von der Politik zwischenzeitlich propagierte Lösung, um den CO 2 -Ausstoß zu senken, um die es inzwischen ziemlich still geworden ist, besteht in der Versteigerung und dem anschließenden Börsenhandel von Umweltverschmutzungszertifikaten oder -rechten. Diese Lösung garantiert einerseits, dass eine staatlich vorgegebene Emissi‐ onsobergrenze nicht überschritten wird, führt aber anderseits dazu, dass „Dreckschleu‐ dern“ mithilfe von Zertifikaten produzieren, während moderne Technik nur teilgenutzt wird und Geld über den Zertifikateverkauf verdient. Schwerer wiegt das Argument, dass der Handel nur in wenigen entwickelten Ländern stattfindet und dort auch nicht alle Branchen, z.B. europäische Luftfahrtunter‐ nehmen, die sonst den Golf- und chinesischen Staatsairlines hoffnungslos unterlegen wären, abdeckt. 9.2 Muscheln in Helmut Schmidts Garten Grundsätzlich gilt, dass sich das Klima auf der Erde seit ihrer Entstehung immer geän‐ dert hat. Das können Sie leicht in jedem besseren Naturkundemuseum nachvollziehen. Der bereits mehrfach erwähnte ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt räsonierte als bereits sehr alter Mann vor mehr als einem Jahrzehnt, nachdem er in seinem Garten in Hamburg Muscheln gefunden hatte, dass dort offensichtlich (mindestens) einmal Meer gewesen sein muss. Neben vom Menschen unabhängigen Veränderungen des lokalen, regionalen und auch globalen Klimas haben die von Menschen zu verantwortende Abholzung von Waldflächen, die Ausbreitung von Siedlungsgebieten und die (industrielle) Landwirt‐ schaft zu einer wesentlichen Veränderung von Landschaften weltweit beigetragen. In Europa fanden sogenannte Entwaldungsprozesse bereits vor zweitausend Jahren statt; in Subsahara-Afrika, Südamerika und Teilen Süd- und Südostasiens bedroht die Abholzung von Regenwäldern seit einigen Jahrzehnten nachhaltige Landnutzungsformen. Die bedeutendsten Einflüsse des Menschen auf das Klima sind die Änderung der Landnutzung durch Verstädterung, insbesondere mit Einfluss auf das zur Verfügung ste‐ hende Trinkwasser (dies ist kein exklusives südspanisches Problem, sondern gilt ebenso mittelfristig für viele süddeutsche und nordostdeutsche Städte und Gemeinden) und die Emission von Treibhausgasen in die Atmosphäre. (Meines Wissens bisher weitgehend unverstanden ist die Rolle der Ozeane wie der Sonnenstürme beim Klimawandel.) 9.2 Muscheln in Helmut Schmidts Garten 197 <?page no="198"?> Ersteres wird im Gegensatz zur Emission von Kohlendioxid und Methan wenig diskutiert, obwohl die Wirkung von Landnutzungsänderungen auf regionale Tempe‐ raturänderungen, Niederschlag und Vegetation mehrere Jahrhunderte andauern kann. (Bereits im Jahre 2010 wurde von NASA-Forschern nach Auswertung von Weltraum‐ bildern geschätzt, dass ca. die Hälfte der Landoberfläche der Erde durch menschliche Nutzung verändert wurde.) Während es zu Treibhausgasen und deren realen und vermeintlichen Wirkungen auf das Klima eine praktisch unüberschaubare Flut von Studien (deren Resultate bzw. Schlussfolgerungen sich vielfach widersprechen) gibt, existiert wenig Substanzielles zum Einfluss der Verstädterung auf das lokale bzw. globale Klima. Weltweit lebten im Jahre 2007 erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land; eine Entwicklung, die in China beschleunigt abläuft (Ende des Jahres 2013 lebten dort mit ca. 700 Millionen Menschen erstmals mehr Menschen in den Städten als auf dem Land). Der Trend zur Verstädterung wird sich mittelfristig fast sicher weder in Deutschland noch in China noch in den meisten verbleibenden fast 200 Staaten weltweit verlang‐ samen. Bezüglich des Klimaprotokolls von Paris vom Ende des Jahres 2015 bleibt abzuwarten, inwieweit die unterzeichnenden Länder ihre freiwilligen Selbstverpflich‐ tungen tatsächlich erfüllen werden (denken Sie an Geberkonferenzen aller Art und vergleichen Sie die Versprechen und das später tatsächlich überwiesene Geld). Das sogenannte Zwei-Grad-Ziel ist dadurch begründet, dass zahlreiche Klima‐ forscher davon ausgehen, dass bei einer Begrenzung der globalen Erwärmung auf 2 °C über dem vorindustriellen Wert eine gefährliche Störung des Klimasystems durch den Menschen gerade noch vermieden werden kann, während die Folgen des Klimawandels (Wetterextreme, Anstieg der Ozeane u.v.m.) bei einer Überschreitung der Zwei-Grad-Marke nicht mehr kontrolliert werden können. Dabei suggeriert die Zwei-Grad-Marke, dass wir „nur“ das Richtige (schnell) tun müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Tatsächlich wissen wir nicht, wie sich das Klima entwickeln wird; die Szenarien renommierter Klimaforscher für die folgenden zwei Generationen gehen c.p. von sprunghafter Erwärmung bis hin zu kleinen Eiszeiten, wie es sie in Nordeuropa vom 15. Jahrhundert bis ins frühe 19. Jahrhundert gab, aus. Beachten Sie, dass ein Szenario eben keine Punktschätzung darstellt, sondern - unter der Voraussetzung, dass Wahrscheinlichkeiten angegeben werden können - diese mit möglichen Umweltzuständen verknüpft. Insoweit sollte das auf der UN-Klimakonferenz in Paris Ende des Jahres 2015 ausge‐ gebene 1,5-°C- oder 2-°C-Ziel qualitativ begrüßt, aber nicht zu wörtlich genommen werden. Auch Deutschland steht nicht so gut da, wie von uns gern geglaubt wird, und hat international einiges von seiner Glaubwürdigkeit als Klimavorreiter verloren. Jenseits der „unerwarteten“ Folge der Energiewende, dass die Braunkohleverstromung in Deutschland wieder kräftig zunahm, sind viele bisherige wirtschaftspolitische Stimuli hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit - dieses Wort taucht inzwischen in fast jeder Unternehmensbroschüre und Regierungsverlautbarung zum Klimaschutz mehrfach 9 Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende 198 <?page no="199"?> 23 Eine sehr gute Informationsquelle stellt die Webseite des Potsdamer Instituts für Klimafolgenfor‐ schung, https: / / www.pik-potsdam.de/ pik-startseite, dar. Ebenso lohnt es sich, in regelmäßigen zeitlichen Abständen die Seiten des Umweltbundesamtes zu konsultieren. auf - zweifelhaft. Dies betrifft Bierpfandflaschen, die von Bayern nach Friesland und aus Düsseldorf nach Dresden transportiert werden, Vorschriften zur Wärmedämmung, Förderung alternativer Energien u.v.m. Der Fleischkonsum in Deutschland ist seit ca. 15 Jahren konstant auf hohem Niveau; er lag im Jahr 2019 bei geschätzten 87,8 kg pro Person und Jahr. Die Fleischproduktion überstieg dabei den Binnenkonsum um ca. 9 Mio. Tonnen, was bedeutet, dass Deutsch‐ land im Jahr 2015 ca. 14% seiner Gesamtproduktion, die zu einem beträchtlichen Teil aus riesigen Schweinemastanlagen in Niedersachsen stammt, exportierte. [30] Bekannt ist jedenfalls seit vielen Jahren, dass ein niedriger zweistelliger Prozentbetrag der weltweit freigesetzten Treibhausgase aus der Massentierhaltung stammen. Wenn von Zeit zu Zeit berichtet wird, dass der Fleischverzehr in Deutschland sinkt, so ist dies erstens erst seit ca. 3-4 Jahren der Fall und zweitens handelt es sich diesbezüglich um qualitativ sehr geringe Mengen. In Deutschland wurden im Jahr 2019 ca. 13 Mio. Tonnen Lebensmittel und 1 Mio. Tonnen Textilien weggeworfen. Jetzt überlegen Sie bitte selbst, inwieweit Sie hier „mit dabei“ sind. Wenn wir uns nicht selbst dazu durchringen, verantwortlich und d.h. sparsam mit Ressourcen aller Art umzugehen, ist alles andere Heuchelei. Wasser predigen und Wein trinken bzw. dem Rest der Welt zu sagen, wie er leben solle, ist nicht besonders glaubwürdig (und auch nicht Erfolg versprechend), wenn das eigene Haus nicht ordentlich bestellt ist. Einige eher technische Bemerkungen: Die Sonnenstrahlung gelangt auf die Erde, die daraufhin Wärme abgibt. Diese Wärme wird von Treibhausgasen in der Luft absorbiert. Wasserdampf, Kohlendi‐ oxid und Methan nehmen die Strahlung auf und geben sie in alle Richtungen ab, einen Teil Richtung Erdoberfläche, die sich deshalb umso mehr erwärmt, je mehr Treibhausgase freigesetzt werden. Seit der Industrialisierung hat sich der Gehalt von Kohlendioxid in der Luft um geschätzte 43% erhöht, weil der Mensch u.a. zunehmend Treibhausgase aus Kraftwerken, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft freisetzt. Messungen haben bestätigt, dass sich der Treibhauseffekt der Erde in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich verstärkt hat. Umstritten ist allerdings das Ausmaß der mittels Klimaprognosen vorhergesagten Erwärmung. Diese sollen das durchschnittliche Wetter über mehrere Jahrzehnte vorhersagen. Entscheidend für ihre Qualität sind dabei die kontinuierlichen Klimaeinflüsse wie Sonnenstrahlung, Meeresströmungen, Treibhausgase oder Vegetation. Tatsächlich kranken aber alle derzeit verwendeten Prognosemodelle an erheblichen Verständ‐ nislücken bezüglich des Klimas. 23 9.2 Muscheln in Helmut Schmidts Garten 199 <?page no="200"?> 24 Auf dem Kreislaufmodell fußt zum Beispiel die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. 25 Ein fast vierzig Jahre nach seinem Erscheinen immer noch sehr lesbares Buch zu diesem Thema ist „Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild“ von Fritjof Capra. 26 Dies betrifft vor allem die Makroökonomie, die sich im Wesentlichen der Methoden der Mikroöko‐ nomie bedient. Exkurs: Nicholas Georgescu-Roegen und die vergessenen Denker Einer der fast vergessenen Denker ist Nicholas Georgescu-Roegen, der vor ca. 50 Jahren den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und der Entropie auf die Wirtschaft anwandte. Georgescu-Roegen war Schüler Schumpeters und in den 1970er Jahren in Fachkreisen sowohl bekannt als auch anerkannt. Sein Hauptwerk „The Entropy Law and the Economic Process”, das übrigens nie ins Deutsche übersetzt wurde, erschien erstmalig 1971, ein Jahr vor „Die Grenzen des Wachstums“ von Dennis Meadows vom Club of Rome. Das Werk „Energy and Economic Myths“ folgte im Jahre 1976. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik hält fest, dass Energie weder geschaffen noch zerstört werden kann. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass der Nutzen einer bestimmten Energiemenge ständig abnimmt. Ein Perpetuum mobile, eine Maschine oder Anordnung, die sich ständig ohne Energiezufuhr bewegt oder die mehr Energie abgibt, als ihr von außen zugeführt wird, ist somit unmöglich. Als Maß für den Anteil nicht mehr nutzbarer oder zerstreuter Energie hat sich in der Physik der Begriff "Entropie" eingebürgert. Als Konsequenz des Entropiegesetzes sind die Zeit und alle Prozesse in der Wirk‐ lichkeit unumkehrbar. So wird Georgescu-Roegen damit zitiert, dass zwar noch kein Ökonom behauptet habe, das man aus Möbeln wieder Bäume machen könne; die gängigen wirtschaftswissenschaftlichen Modelle aber genau diesen Schluß nahe legten. Georgescu-Roegen attackiert die gängige Vorstellung, dass Wirtschaft in Kreisläufen stattfinde. 24 Aus Sicht der Natur existieren aber keine Kreisläufe: Rohstoffe verschwin‐ den und der Müll nimmt zu. Das Kreislaufmodell verführt laut Georgescu-Roegen somit zu dem Trugschluß, die Wirtschaft könne sich selbst erhalten, weil die Existenz von Wirtschaftskreisläufen und Gleichgewichtsmärkten mit Gleichgewichtspreisen bedeutet, dass die Wirtschaft ein Perpetuum mobile ist (was sie nach den Gesetzen der Thermodynamik nicht sein kann). Tatsächlich war es aber nur die Entdeckung riesiger Energiequellen in den vergan‐ genen weniger als zweihundert Jahren, die die im historischen Maßstab kurze Illusion erzeugten, dass Rohstoffe und Energie unbegrenzt verfügbar seien. Für Georgescu-Roe‐ gen dagegen ist die Ökonomie eine „Verlängerung“ der Biologie. Georgescu-Roegen diskutiert somit physikalische und biologische Grenzen des wirtschaftlichen Wachs‐ tums. Er vertrat die Ansicht, dass Ökonomen an der Mechanik als Vorbild für die Betrachtungsweise und Werkzeug festhielten; eine fundamentale Kritik, die zu dieser Zeit von mehreren ökonomisch bewanderten Physikern geteilt wurde. 25 Während es für Diplomaten und Militärstrategen offensichtlich selbstverständlich ist, in langen Zeiträumen zu denken, gibt es genau das in der Ökonomie nur in Randerscheinungen. 26 9 Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende 200 <?page no="201"?> 27 Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik von Nernst besagt, daß der absolute Nullpunkt (0 Grad Kelvin) nicht erreichbar ist. 28 Georgescu-Roegens Lehrer Schumpeter (vgl. auch das folgende Kapitel 10.1) wies bereits darauf hin, dass Wachstum nicht gleich Entwicklung (die Innovation voraussetzt) sei. Wachstum bedeutet lediglich eine Zunahme der produzierten Gütermenge bei gegebener Technologie. 29 Wolf Schneider zitiert in seinem Buch „Denkt endlich an die Enkel“ (S. 71) die WHO, die vor 50 Jahren feststellte „in 250 Jahren wird die Menschheit alles verpulvert haben, was die Natur in 250 Millionen Jahren angesammelt hat“. Wie das Leben kann die Wirtschaft nicht ohne niedrige Entropie, also konzentrierte Energie, existieren. Georgescu-Roegen formulierte den von ihm so genannten vierten Hauptsatz der Thermodynamik. 27 Bei jeder Arbeit entsteht Reibung, Materie wird abgetragen und verstreut. Diese Abwärme trägt zur Erwärmung der Erdatmosphäre bei, worauf Georgescu-Roegen bereits in den späten 1970er Jahren hinwies. Im selben Zusammenhang erwähnt er auch schon das CO 2 -Problem und vermutet, dass „thermal pollution“ ein wichtigeres Problem werden dürfte als die Knappheit der Ressourcen. Die etwa durch den Abrieb von Autoreifen verstreuten Moleküle sind zwar noch vorhanden, aber sie könnten nur mit unverhältnismäßig viel Zeit und Energie wieder eingesammelt werden. Georgescu-Roegen benennt als klassischen Fall von dissipier‐ ter Energie die gigantische Energie, die in Form von Wärme in den Weltmeeren gespeichert ist. Durch die „niedrige Konzentration“, in der diese Energie vorliegt, kann aber kein Schiff sie nutzen. Ebenso weist Georgescu-Roegen darauf hin, dass sowohl das Recycling als auch die Entsorgung von Müll neben einem notwendigen Materialverbrauch mit Energieverbrauch, d.h. Dissipation von Energie, verbunden sind, etwas, was in der heutigen Diskussion kaum auftaucht. Die wirtschaftliche Maxime ,There is no free lunch‘ (es gibt nichts umsonst) sollte somit ersetzt werden durch ‚Es gibt nichts, außer zu einem weit höheren Preis an niedriger Entropie.‘ Nicht überraschend ist Georgescu-Roegen der Ansicht, dass die Verwendung des Begriffs Wachstum von einer nachhaltigen Verwirrung zeugt, da Wachstum mit verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. 28 Wachstum im obigen Sinne ist auf jeden Fall mit einer Zunahme des Ressourcenverbrauchs und der Umweltverschmutzung verbunden. Als „moderater“ Nachfolger von Georgescu-Roegen ist in Deutschland der Verfahrenstechniker Michael Baumgart zu nennen, der mit seinem „cradle to cradle“-Konzept (deutsch: von der Wiege bis zur Wiege) nach Produktionsprozessen und Produkten sucht, die abfallfrei sind. [31] In seinen Schlussfolgerungen war Georgescu-Roegen radikal: Die finale Konsequenz seines Denken ist einerseits, dass sich die Weltbevölkerung auf einem Niveau ein‐ pendeln müsse, das sich mit ökologischem Landbau (und der produziert weniger Nahrungsmittel pro Flächeneinheit als industrielle Landwirtschaft) ernähren lässt und anderseits, dass die Demokratie ungeeignet ist, das Überleben der Menscheit zu sichern. Das war selbst den „moderaten Ökos“ seiner Zeit, die ihn gelesen und verstanden hatten, zu radikal. 29 Diejenigen, die sich heute mit Recht auf Georgescu-Roegen beziehen könnten, haben ihn aber nicht gelesen und damit auch nicht verstehen können. Exkurs: Nicholas Georgescu-Roegen und die vergessenen Denker 201 <?page no="202"?> Stefan Zweig: Castellio gegen Calvin Der meistgelesene Schriftsteller deutscher Sprache in den 1920er und frühen 1930er Jahren war Stefan Zweig. Seine von Sigmund Freud inspirierten psychologischen Novellen, kurze historische Schnipsel wie in „Sternstunden der Menschheit“ sowie die zahlreichen Biografien gehören ob ihrer historischen Kenntnisse und sprachlichen Meisterschaft für mich zum Besten, was je in deutscher Sprache geschrieben wurde. In dem 1936 veröffentlichen Werk „Castellio gegen Calvin: Ein Gewissen gegen die Gewalt“ beschreibt Zweig den aussichtslosen Kampf des „kleinen Mönchs“ Castellio, der es gewagt hatte, gegen den „großen Reformator“ Calvin aufzustehen und der wusste, dass der diese Auseinandersetzung mit seinem Leben bezahlen würde. Es war Stefan Zweig, der den über Jahrhunderte vergesse‐ nen Castellio „wiederentdeckte“. Zweig selbst nannte Castellio den Menschen, wie der er gern gewesen wäre, hätte er die Kraft dazu besessen. Stefan Zweigs letzte Lebensjahre vor dem gemeinsamen Selbstmord mit seiner zweiten Frau Charlotte zeigt wunderschön Maria Schraders Film „Vor der Morgen‐ röte“ aus dem Jahr 2016. Versuch eines Ausblicks Die zukünftige Energieversorgung bzw. der geplante Energiemix Deutschlands hinkt zwar den sehr ambitionierten Zeitplänen hinterher, fraglos gehört Deutschland aber zu den Vorreitern weltweit im Einsatz bzw. der Nutzbarmachung nichtfossiler En‐ ergieträger. Die strategischen Überlegungen in Teilen der EU in Verbindung mit Druck aus den USA, Deutschland von Russland als Energielieferant unabhängig zu machen, lassen insbesondere die Frage aufkommen, wohin sich ein Russland ohne Ressourcenexporteinnahmen aus der EU politisch entwickeln könne. Die weltweite Klimaänderung und die Tatsache, dass es einen Einfluss der Menschen auf das sich verändernde Klima gibt, gelten unter Fachleuten als unstrittig. Wie sich das Klima tatsächlich ändert und welchen Anteil der Mensch an den Änderungen hat, ist allerdings weitgehend unverstanden. Dies betrifft nicht nur das Phänomen der globalen Erwärmung, sondern u.a. auch die Funktionsweise des Golfstroms, der für das West- und Mittel- und Nordeuropa, das wir kennen, von entscheidender Bedeutung ist. Dass Klimaziele, z.B. die Begrenzung eines Temperaturanstieges innerhalb defi‐ nierter Zeiträume, realistisch sind, darf bezweifelt werden. Dass sie die Menschen, Unternehmen (die Allianz verkündete z.B. Ende 2015, dass ihre Fonds nicht mehr in Unternehmen, die Steinkohle abbauen bzw. verarbeiten, investieren werden) und Staaten bezüglich eines schonenden Umgangs mit den natürlichen Ressourcen sensi‐ bilisieren, bleibt zu hoffen. 9 Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende 202 <?page no="203"?> 30 Derzeit werden in Deutschland mehr als 5 Milliarden Kleidungsstücke (ohne Socken und Unterwä‐ sche) pro Jahr verkauft; das sind ca. 60 Stück pro Einwohner. www.ndr.de/ ratgeber/ verbraucher/ W egwerfmode-Was-passiert-mit-Altkleidern,kleidung170.html Wenn man u.a. sich den Kleidungsverbrauch 30 , die Massen weggeworfener Lebens‐ mittel und die die Fleischproduktion betreffenden Daten der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) und des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) anschaut, hat sich offensichtlich weder in Deutschland noch anderswo auf individuellem Niveau die Erkenntnis bzw. die Notwendigkeit, durch persönliches Verhalten den Klimawandel zu bremsen, durchgesetzt. Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 9.1: Eine Fabrik emittiert bei der Produktion eines Gutes Schadstoffe, die in einen Fluss abgeleitet werden. Flussabwärts befindet sich eine Fischfarm, deren Ertrag durch die Schadstoffe der Fabrik vermindert wird. a. Erläutern Sie, welche Arten von Marktversagen existieren, und geben Sie jeweils ein Beispiel an. b. Welche Art von Marktversagen liegt in dem beschriebenen Fischer-Fa‐ brik-Fall vor? Begründen Sie Ihre Antwort. c. Ist es volkswirtschaftlich sinnvoll, dass die Fabrik den Ausstoß von Schad‐ stoffen ganz unterbindet? Begründen Sie Ihre Antwort. d. Erklären Sie anhand einer Grafik, wie sich mittels rein privater Verhandlun‐ gen bei Haftung des Schädigers sowohl für die Fabrik als auch für den Fischer eine zufriedenstellende Lösung finden lässt. Übung 9.2: Auf einer gemeinsam genutzten Weide sei L die maximale Zahl an Tieren, die diese Weide verkraften kann, ohne aus dem ökologischen Gleichge‐ wicht zu geraten. Es wird von zwei rationalen Nutzern A und B ausgegangen. Kooperation bedeutet für A und B, nicht mehr als jeweils L/ 2 Tiere weiden zu lassen. Nicht zu kooperieren bedeutet, die jeweils größtmögliche Anzahl von Tieren auf die Weide zu schicken. Dabei werden folgende Auszahlungen angenommen: Wenn A und B kooperieren, beträgt ihr jeweiliger Nutzen 10. Wenn A kooperiert und B nicht, hat A den Nutzen 2 und B den Nutzen 12, wenn B kooperiert und A nicht, hat B den Nutzen 2 und A den Nutzen 12; wenn beide nicht kooperieren, haben sie jeweils den Nutzen 3. a. Stellen Sie in Analogie zum Gefangenendilemma eine Payoff-Matrix auf und erläutern Sie die Schlussfolgerungen für A und B. b. Wie könnte hier eine Mafia-Lösung aussehen? Übungen zur Selbstüberprüfung 203 <?page no="204"?> Übung 9.3: Recherchieren Sie die Ergebnisse des Klimagipfels in Paris im Jahre 2015. Übung 9.4: Übertragen Sie auf verbale Art und Weise die Spieltheorie auf das „Weltklimaproblem“, indem Sie die Perspektive eines einzelnen Landes einneh‐ men. 9 Energieversorgung, Klimaschutz und Energiewende 204 <?page no="205"?> 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 Vom ehemaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer wird gern dessen Wort gewordene Beobachtung zitiert, dass ein Amt einen Menschen schneller ändere als ein Mensch ein Amt. Dies gilt ebenso für Technologien und Menschen, oder in Marx’scher Diktion, für die Produktivkräfte, die der Produktionsweise üblicherweise vorauseilen. Mitte der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts befinden wir uns weltweit in einem Gesellschaftsumbruch, der durch neue Technologien angetrieben ist und der in dieser Grundsätzlichkeit und Geschwindigkeit des Wandels in der Neuzeit nur mit zwei historischen Perioden vergleichbar ist: dem ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahr‐ hundert, als innerhalb weniger Jahrzehnte „ewige Gewissheiten“ hinweggefegt wurden und der ebenfalls ca. 50 Jahre dauernden industriellen Revolution ab dem späten 19. Jahrhundert. Die Erde war nach der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus im Jahre 1492 und der Weltumsegelung durch Fernando Magellan keine Scheibe mehr, sie stand nach Kopernikus und Keplers Erkenntnissen nicht einmal mehr im Zentrum des Universums. Literaturtipp: Innerhalb Europas gab es um das Jahr 1500 herum eine dünne Schicht hochgebilde‐ ter Gelehrter, die im Geiste der Aufklärung auf Latein kommunizierten. Diese kurze geistige Blütezeit wurde durch den Beginn der durch Martin Luther angeführten Reformation im Jahre 1529 abrupt beendet. Diese Periode wird sehr eindrucksvoll in Stefan Zweigs „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“ aus dem Jahre 1938 geschildert. Zweigs Reflexionen über die guten Intentionen der geistigen Eliten um 1500 herum verbunden mit ihrer geistigen Abgehobenheit waren zweifellos auch auf die Hilf‐ losigkeit der europäischen Intelligenzija gegenüber dem europäischen Faschismus und dem Kommunismus sowjetischer Prägung gemünzt, sie erinnern dabei aber in frappierender Art und Weise an das Akzeptanzproblem der Europäischen Union bei großen Teilen der Bevölkerungen der EU-Mitgliedstaaten in unserer Zeit. Ebenso grundlegend veränderte sich das Leben der Menschen in den entwickelten Staaten während der zwei bis drei Jahrzehnte vor 1900 bis zum Ausbruch des I. Weltkrieges durch die Einführung von elektrischer Energie in Fabriken, im öffentlichen Leben und in Haushalten. Abb. 10.1 zeigt die vier qualitativen Schritte der industriellen Entwicklung auf. Wenn wir heute von Industrie 4.0 sprechen, geht es dabei um die Verschmelzung von IT und Produktion. <?page no="206"?> Überschrift Länderporträt Frankreich IP • November 2014 - Februar 2015 3 2 IP • November 2014 - Februar 2015 Lorem ipsum dolor sit amet, consectetuer adipiscing elit, sed diam nonummy nibh euismod tincidunt ut laoreet dolore magna aliquam erat volutpat. Ut wisi enim ad minim veniam, quis nostrud exerci tation ullamcorper suscipit lobortis nisl ut aliquip ex ea commodo consequat. Duis autem vel eum iriure dolor in hendrerit in vulputate velit esse molestie consequat, vel illum dolore eu feugiat nulla facilisis at vero et accumsan et iusto odio dignissim qui blandit praesent luptatum zzril delenit augue duis dolore te feugait nulla facilisi. Lorem ipsum dolor sit amet, consectetuer adipiscing elit, sed diam nonummy nibh euismod tincidunt ut laoreet dolore magna aliquam erat volutpat. Ut wisi enim ad minim veniam. 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Jahrhundert heute Grad der Komplexität Zeit Quelle: DFKI, 2011 1. Industrielle Revolution durch Einführung mechanischer Produktionsanlagen mithilfe von Wasser- und Dampfkraft Erster mechanischer Webstuhl, 1784 Erstes Fließband, Schlachthöfe von Cincinnati, 1870 Erste Speicherprogrammierbare Steuerung (SPS), Modicon 084, 1969 2. Industrielle Revolution durch Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion mithilfe von elektrischer Energie 3. Industrielle Revolution durch Einsatz von Elektronik und IT zur weiteren Automatisierung der Produktion 4. Industrielle Revolution auf Basis der Cyber-Physical Systems Stufen der industriellen Entwicklung vom Ende des 18. Jahrhundert bis heute Abb. 10.1: Stufen der industriellen Entwicklung vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute (Quelle: Rinke [32] ) Bemerkung: Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es in Europa und Nordamerika, zwei der vier Reiter der Apokalyse, nämlich Hunger und Seuchen, weitgehend zu kontrollieren. Von besonderer Bedeutung waren die Erfindung von Düngemitteln, Pestiziden und Herbiziden als Grundlage der industriellen Landwirtschaft und die Entwicklung ei‐ nes Verständnisses der Rolle der Mikroorganismen bei der Krankheitsübertragung. Mit einer verbesserten Hygiene sowie der mit den Arbeiten von Louis Pasteur und Robert Koch begonnenen Entwicklung und Produktion von Impfstoffen gegen die großen Infektionskrankheiten Milzbrand und Tuberkulose war damit die Basis für die Explosion der Weltbevölkerung, die 1900 „nur“ ca. 1,6 Mrd. Menschen betrug, gelegt. Ende des 20. Jahrhunderts, also nicht einmal 100 Jahre später, wurde der Grundstein dafür gelegt, was heute als Industrie 4.0 bezeichnet wird. Wichtig ist hier zunächst zu verstehen, dass die Visualisierung von Inhalten - denken Sie an die Mathematiktutorials von Daniel Jung, der am Ende von Kapitel 4 erwähnt wurde - Verhaltensänderungen bei der Aufnahme und Selektion von Information bewirkt. In dieser Qualität war das vermutlich das letzte Mal nach der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg um 1450 mit der darauf folgenden massenhaf‐ ten Verbreitung von Druckerzeugnissen der Fall. Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass der aktuelle Fokus der öffentlichen Wahrnehmung des technologischen Wandels fast ausschließlich auf der Digitalisierung liegt, die bahnbre‐ chenden und ebenso gesellschaftsverändernden Erfolge der Biotechnologie spielen im öffentlichen Diskurs selbst nach Ausbruch der Corona-Krise nur nachgeordnet eine Rolle. 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 206 <?page no="207"?> Literaturtipps: Die biologischen Waffen wurden im Gegensatz zu chemischen und Nuklearwaffen selbst im Kalten Krieg wenig thematisiert. Wenn Sie eine Vorstellung entwickeln wollen, woran bereits vor mehr als 50 Jahren gearbeitet wurde und was biolo‐ gisch-technisch damals bereits möglich war, sei Ihnen die Lektüre des Buches „Die biologische Zeitbombe“ von Gordon Rattray Taylor aus dem Jahre 1969 wärmstens empfohlen. Eines der leider auch fast vergessenen Bücher ist Arno Karlens für einen allge‐ mein gebildeten Leser gut verständliches „Die fliegenden Leichen von Kaffa. Eine Kulturgeschichte der Plagen und Seuchen“ aus dem Jahre 1995. Der Titel des amerikanischen Originals „Man and microbes“ ist dabei deutlich weniger reißerisch als dessen deutsche Übertragung. Krankheiten sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Karlens zentrale These ist, dass einer epidemiehaften Ausbreitung von Infektionskrankheiten stets Eingriffe des Menschen in die natürlichen Lebensräume vorausgingen. Immer wenn der Mensch seinen Lebensstil und damit auch seine Umgebung veränderte, geriet die „natürliche“ Balance im Zusammenleben von Menschen und Mikroben ins Wan‐ ken, bis ein neues „Gleichgewicht“ entstand, das durch eine erneute Veränderung des Lebensstils wieder obsolet gemacht wurde, usw. „Im vergangenen Jahrhundert hat die Menschheit die Biosphäre tiefgreifender verändert, als es eine Eiszeit oder ein Meteoreinschlag vermochte. Folglich hat sich auch das Wechselspiel zwischen Menschen und Mikroben, bei dem es ums Überleben geht, beschleunigt.“ (S. 23) Das Buch beginnt mit dem Abstieg unserer menschlichen Vorfahren von den Bäumen in die Savanne, der den Menschen Würmer einbrachte und geht weiter mit dem Übergang zur sesshaften Lebensweise, bei dem die domestizierten Wildtiere neue Krankheiten wie Tollwut und Salmonellose auf den Menschen übertrugen. Seit etwa 2000 Jahren sind wir mit dem Zusammenspiel der auch noch heute wichtigsten Faktoren für die Verbreitung der meisten Infektionskrankheiten konfrontiert: Viele Menschen und Tiere auf engem Raum, große Mobilität der Bevölkerung, internationaler Handel und Verkehr. Der Leser erfährt u.a., welche Rolle von Europäern eingeschleppte Krankheiten bei der Eroberung Amerikas spielten, dass das Römische Reich auch durch neue Krankheiten aus Asien zum Einsturz gebracht wurde, welche Beziehungen zwischen der Pest im Mittelalter und der Renaissance existieren und dass sowohl das Christentum als auch der Islam eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Seuchen und Krankheiten spielten. Karlens Schlussfolgerungen zur Krankheitsverbreitung sind von bestechender Ak‐ tualität: „[Kampagnen] haben ihre größten Erfolge bei der „Gruppe der Besorgten“, bei denjenigen, die das geringste Risiko tragen, weil sie ohnehin sehr sorgsam mit ihrer Gesundheit umgehen. Wer nicht ereicht wird, das sind die Jugendlichen der sozialen Randgruppen, die ihr riskantes Verhalten fortsetzen … Dieser harte Kern der für soziale Angebote Unerreichbaren, rücksichtslosen, ungebildeten oder nicht 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 207 <?page no="208"?> bildungsfähigen Jugendlichen trägt einiges dazu bei, dass neue Krankheiten sich ausbreiten und alte Krankheiten in neuer, tödlicher Form wiederkehren.“ (S. 319) Die zentrale politische Schlussfolgerung dieses Gedankengangs kann nur sein, junge Menschen an Bildung und Arbeit teilhaben zu lassen. Der Gedankengang dieses Kapitels wird nun mit einigen kurzen Reflexionen zu Innovationen in einem allgemeinen Sinne eröffnet. 10.1 Innovationen Ob Sie sich damit bisher auseinandergesetzt haben oder nicht, spielt keine Rolle: Auch intuitiv wird Ihnen die Sinnhaftigkeit von Schlüsselfragen des Technologiemanage‐ ments, welche z.B. lauten „Welche Technologien wollen wir anwenden? “, „Woher sollen diese Technologien kommen? “ und „Wie sollen wir für die Technologieentwicklung organisiert sein? “ einleuchten. In diesem Zusammenhang ist es durchaus hilfreich, sich mit Vor- und Nachteilen von Kostenführer- und Nachahmerstrategien nach Porter auseinandergesetzt zu haben. Nach Michael E. Porter gibt es drei fundamentale Strategien zur Erreichung von Wettbewerbsvorteilen: ■ die Strategie der Kostenführerschaft ■ die Strategie der Differenzierung ■ die Strategie der Konzentration auf einen Schwerpunkt bzw. eine Nische Diese Klassifizierung folgt dem Gedanken, dass eine „gute“ Gewinnmarge nur dann erzielt werden kann, wenn man entweder um oder unter dem Durchschnitts‐ preis der Branche verkauft oder man ein differenziertes Produkt über dem Durch‐ schnittspreis verkauft. Diese Strategien sind natürlich nicht frei von Risiken: Bei der Kostenführerschaft sind dies technologische Umbrüche, Nachahmung durch Konkurrenz, Verpassen von Veränderungen, Kostensteigerungen; Risiken der Differenzierung sind sinkende Markenloyalität aufgrund zu großer Kostenun‐ terschiede, sinkender Bedarf am differenzierenden Faktor und Nachahmungen; und Risiken der Konzentration sind zu groß werdende Kostenunterschiede zwi‐ schen breiten Anbietern und Nischenanbietern bei sich verringernden Differenz‐ ierungsunterschieden und einer sich weiter spezialisierenden Konkurrenz. Mit dem Stichwort Digitalisierung verbinden wir die gesellschafts- und bewusstseins‐ ändernde Wirkung moderner digitaler Technologien, die auf extremen Relationen zwischen Festkosten und variablen Kosten im Sinne von Economies of Scale beruhen. 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 208 <?page no="209"?> In jedem Fall lohnt sich ein Rückgriff auf Georgescu-Roegens Lehrer Joseph A. Schumpeter [33] , der die folgenden fünf Fälle von Innovationen unterscheidet: 1. Herstellung eines neuen Produktes oder Erreichen einer neuen Produktqualität 2. Einführung einer neuen, noch unbekannten Produktionsmethode, die nicht (! ) auf einer Erfindung basieren muss 3. Erschließung eines neuen Absatzmarktes, auf dem ein Industriezweig noch nicht eingeführt war, wobei ohne Bedeutung ist, ob dieser Markt schon vorher existierte oder nicht 4. Erschließung einer neuen Bezugsquelle von Rohstoffen oder Halbfabrikaten 5. Durchführung einer Neuorganisation wie z.B. die Schaffung oder Abschaffung einer Monopolstellung Innovationen gibt es also nicht nur bezüglich Technologien auf Märkten, sondern ebenso hinsichtlich der Durchsetzung einer organisatorischen Lösung. Bitte erinnern Sie sich gelegentlich daran, wenn Sie versuchen, die Ihnen bekannte Welt zu verschie‐ denen Zeitpunkten zu vergleichen. Bemerkung: Die strengen regulatorischen Regelungen der EU sind bei 450 Millionen Menschen, die potenzielle Kunden für Unternehmen aus Nicht-EU-Staaten sind, grundsätzlich kein Nachteil. Aus der jüngeren Entwicklung der Pharmaindustrie wissen wir zu‐ dem, dass strenge Regulierung das Vertrauen der Menschen in die Wirksamkeit von Wirkstoffen erhöht hat: Dies bedeutet, dass kluge Regulierung Innovationsschübe beschleunigen kann. In der aktuellen Forschung spielt Open Innovation eine herausragende Rolle. Dies ist grundsätzlich eine Strategie im Innovationsmanagement zur Integration externen Wissens in den Innovationsprozess. Entgegen der klassischen Vorstellung der Forschung und Entwicklung wird nicht nur auf Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der internen Forschungs- und Entwicklungsabteilung zurückgegrif‐ fen, sondern postuliert, dass Unternehmen in ihrem Innovationsprozess mit ihrer Umwelt eng und stetig interagieren. Das Bild des innovativen Unternehmers („Entrepreneur“) weicht demnach einer komplexeren Sichtweise des Innovations‐ prozesses als Netzwerk verschiedener Akteure. [34] Sie kennen die Aussage, dass strategische Wendepunkte überall sind bzw. sein können: in der Veränderung des Wettbewerbs, in der Veränderung der Kundenstruktur, in der Veränderung der Lieferantenstruktur, von Anbietern von Komplementärprodukten kommend, aus der Regulierung bzw. Deregulierung und aus Technologieänderungen resultierend. Das alles ist richtig, doch hilft es Ihnen auch, den Einfluss des Technologie‐ 10.1 Innovationen 209 <?page no="210"?> 31 Dies ist kein Buch zu Strategie- oder Innovationsmanagement; Sie werden an dieser Stelle also auch keine Ausführungen zu disruptiven Innovationen, Innovation Patterns etc. finden. wandels auf Ihr privates und berufliches Leben zu bewerten? 31 Große Veränderungen kommen oft schleichend daher: Während wir immerhin optisch wahrnehmen, dass es zugleich mehr alte Deutsche und mehr junge Einwanderer in Deutschland gibt und daraus ableiten können, dass sich unsere Bevölkerungsstruktur mit verschiedenfarbig interpretierten Konsequenzen verändert, schafft es die sich und unser Leben rasant schnell verändernde Technologie weit weniger stark, uns zum Reflektieren über uns selbst und eine Gesellschaft, in der wir leben wollen, zu bewegen. Technologien veränderten und verändern indes unser Alltags- und berufliches Leben mehr als jedwede andere sichtbare Veränderung der Gesellschaft. Wir verändern Gewohnheiten, soziale Interaktionen und unser Verhalten in einem sehr allgemeinen Sinne. 10.2 Historischer Abriss zur Digitalisierung Die Technik, die Sie zur Meisterung Ihres Lebens oder auch nur zur Ablenkung von demselben verwenden, erscheint Ihnen vertraut und unspektakulär. Tatsächlich hat es in den vergangenen 20 bis 30 Jahren einen technologischen Fortschritt gegeben, den es in dieser Geschwindigkeit vermutlich nicht einmal während der frühen Industrialisierung im Zuge der Nutzbarmachung fossiler Energien (Stichworte Dampfmaschine und Ver‐ brennungskraftmotoren) im 18. und 19. Jahrhundert gegeben hat und der nur mit der ex post rasanten Elektrifizierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vergleichbar ist. Vor 30 Jahren gab es weder öffentlich zugängliches Internet noch Mobiltelefone, GPS, elektronische Bücher, 3D-Drucker und vieles mehr. Ebenso beeindruckend sind die spektakulären sichtbaren Erfolge, die im Hochgeschwindigkeitseisenbahnwesen und in der Luftfahrt gemacht wurden. Damit einhergehend sind natürlich auch zahlreiche neue Risiken wie Einbrüche in Computernetzwerke entstanden, vor denen neben der EU und der Bundesregierung und dem Bundestag, wenn auch aus anderen Gründen, offensichtlich nicht einmal die amerikanische Regierung gefeit ist. Dies betrifft in diesem Zusammenhang übrigens nicht nur Edward Snowden (vgl. auch die Anmerkung in Kapitel 8 zur Regulierung), den Transport von Krankheitserregern um die Welt in wenigen Stunden, Tagen oder Wochen sowie systemische Risiken und damit Fragen, wann ein System instabil wird bzw. wann und unter welchen Umständen es kollabieren kann. Bemerkung: Diese Gefahren inspirieren auch Literaten und Filmemacher. Jenseits der Dauerver‐ marktung von Weltuntergangsfantasien erschienen z.B. mit dem James Bond-Film des Jahres 2015 Spectre und dem Roman von Marc Elsberg aus dem Jahre 2012 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 210 <?page no="211"?> Blackout. Morgen ist es zu spät Werke, deren Szenarien von Fachleuten nicht von der Hand gewiesen werden. Weil schwer zu antizipieren und nicht direkt sichtbar, sind wir viel weniger in der Lage, belastbare Szenarien für die Technik der Zukunft aufzustellen als z.B. hinsichtlich der Außenmigration, die notwendigerweise aus Afrika und dem Nahen Osten zunehmen wird, sofern sich unsere derzeit verwendeten Klimamodelle als nur halbwegs realistisch erweisen sollten. Sich verändernde Technologie hat den Effekt, mögliche kurz- und mittelfristige Änderungen im Leben und in der Gesellschaft grob zu unterschätzen. Sehr schön illustriert dies das Gedicht „Der Schneider von Ulm“ von Bertolt Brecht [35] , wobei man sich „das Fliegen“ immerhin vorstellen konnte: „Bischof, ich kann fliegen“, Sagte der Schneider zum Bischof. „Pass auf, wie ich’s mach’! “ Und er stieg mit so ’nen Dingen, die aussahn wie Schwingen auf das große, große Kirchendach. Der Bischof ging weiter. „Das sind so lauter Lügen, Der Mensch ist kein Vogel, Es wird nie ein Mensch fliegen“, Sagte der Bischof vom Schneider. „Der Schneider ist verschieden“, Sagten die Leute dem Bischof. „Es war eine Hatz. Seine Flügel sind zerspellet Und er lag zerschellet Auf dem harten, harten Kirchenplatz.“ „Die Glocken sollen läuten, Es waren nichts als Lügen, Der Mensch ist kein Vogel, Es wird nie ein Mensch fliegen“, Sagte der Bischof den Leuten. Wichtige Themenkomplexe bzw. mit der Digitalisierung assoziierte Schlagwörter sind unter anderem die Marktmacht im Internet (nicht nur Google, Facebook und Amazon betreffend), Sharing Economy, alternative Zahlungsmethoden, gläserner Konsument sowie Überwachung. 10.2 Historischer Abriss zur Digitalisierung 211 <?page no="212"?> Kurzer Abriss der IT (in Anlehnung an Pilzweger & Kuch) [36] 1. Im August 1981 brachte IBM den ersten PC, den IBM PC 5150, auf den Markt. Dieser verwendete Standardchips und konnte durch Steckkarten erweitert werden. Da IBM die Architektur nicht schützen konnte, traten rasch weitere Firmen in den Markt ein. 2. 1982 wurde der Homecomputer Commodore 64 auf den Markt gebracht. Dieser Rechner wurde bis 1993 produziert; es wurden zwischen 17 und 22 Millionen Exemplare verkauft. Damit bleibt der Commodore 1964 der bis heute meist verkaufte Rechner der Welt. Als Betriebssystem diente der Commodore BA‐ SIC-V2 Interpreter. 3. 1983 führt IBM den IMM PC-XT ein, der über eine 10-MB-Festplatte verfügte. 4. 1983 stellt Apple den Apple Lisa Computer vor. Dieser Rechner verfügte über ein grafisches Betriebssystem und eine Maus. Nach einem Jahr nahm Apple diesen Rechner allerdings wieder vom Markt, da sich für 10.000 US-Dollar pro Exemplar zu wenige Käufer fanden. 5. 1984 führte Apple den Macintosh für ca. 2.500 US-Dollar pro Gerät ein. Das Betriebssystem „System Software“ wurde mit der Zeit zu Mac OS weiterent‐ wickelt. 6. 1984 brachte IBM den IBM PC AT auf den Markt. Die verwendete Tastatur entspricht noch der heute verwendeten Form. 7. 1985 stellte die japanische Firma Atari den Atari ST, der über eine grafische Benutzeroberfläche, eine MIDI-Schnittstelle und eine damals sehr gute Bild‐ auflösung von 320 x 200 Pixeln bei 16 Farben oder 640 x 400 Pixeln monochrom verfügte, vor. Dieser Computer war über Jahre der Standard in Grafikstudios. 8. 1985 stellte Microsoft das grafische Betriebssystem Windows 1.0 vor. Windows war allerdings nur eine grafische Oberfläche für das eigentliche Betriebssys‐ tem DOS und Apple und Atari deutlich unterlegen. Windows 1.0 wurde durch zehn 5,25-Zoll-Disketten ausgeliefert. 9. 1985 führt Commodore den Amiga Homecomputer ein. 10. 1987 kooperierten Microsoft und IBM bei der Entwicklung und Markteinfüh‐ rung des grafischen Betriebssystems OS/ 2. Microsoft konzentrierte sich später ausschließlich auf die Weiterentwicklung von Windows. 11. 1989 setzte sich Microsoft mit dem grafischen Betriebssystem Windows 3.0 auf dem Massenmarkt durch. Die heutigen Windows-Versionen basieren alle auf dieser Version. Dies betrifft z.B. die baumartigen Verzeichnisstrukturen und das Grafikprogramm Paintbrush (heute Paint). 12. 1993 führte Intel den geschützten Pentium-Prozessor als Nachfolger des 80486-Prozessors ein. 13. 1993 wurde das Internet, das www, wie wir es kennen, geschaffen. 14. Netscape bietet mit dem Netscape-Navigator seinen Internetbrowser an, der schließlich im Browserkrieg gegen den Microsoft-Explorer unterliegt. 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 212 <?page no="213"?> 15. 1994 wird Amazon gegründet. 16. 1995 führt Microsoft mit Windows 95 das erste grafische Betriebssystem ein, das zwar noch auf DOS basierte, aber fast ohne Kommandozeilen bedient werden konnte. Windows 95 verfügte über Start-Menü, Task-Leiste und Windows-Explorer. 17. 1995 wurde Ebay und … 18. … 1998 wurde Google gegründet. 19. 2001 stellte Apple den iPod, einen MP3-Player, vor und stieg mit iTunes in das Musikgeschäft ein. 20. Im Jahre 2004 wurde Facebook gegründet. 21. 2007 wurde das erste iPhone von Apple präsentiert. 10.3 Bewertungen und (Markt-)Macht Bereits Anfang 2018 zählten vier US-amerikanische Internetkonzerne nicht nur zu den Top 10 weltweit, sie waren die vier teuersten Unternehmen der Welt. Nach Apple, dem nach Marktkapitalisierung teuersten Unternehmen der Welt (Ende 2020 betrug die Marktkapitalisierung ca. 2,3 Billionen US-Dollar und damit in etwa das Dreifache des Wertes vom Beginn 2018), sowie Amazon und Microsoft, deren Bör‐ senwerte sich innerhalb dieser drei Jahre auf jeweils mehr als 1 Billion US-Dollar mehr als verdoppelt hatten, folgten Google und Facebook nicht weit unterhalb der Billionen-US-Dollar-Grenze. Zum Vergleich: Deutschlands „teuerstes“ Unternehmen SAP wurde Ende 2020 mit etwa einem Fünfzehntel von Apple bewertet, Siemens pendelte um die 110 Mrd. US-Dollar Börsenwert und die BASF um die 60 Mrd. US-Dollar. Deutschlands Groß‐ konzerne rangierten hinsichtlich ihrer Marktkapitalisierung weltweit auf den Rängen jenseits der 50. Noch beeindruckender wird diese finanzielle Diskrepanz zwischen Old und New Economy, wenn man sich die Anzahl der Mitarbeiter pro Firma vor Augen führt: Ende 2019 beschäftigte Apple ca. 137.000 Mitarbeiter, Google ca. 119.000, Microsoft ca. 144.000 Mitarbeiter und Facebook etwa 45.000 Mitarbeiter. Zum Vergleich: Bei Volkswagen waren zum gleichen Zeitpunkt mehr als 671.000, bei Siemens ca. 385.000, bei der BASF ca. 118.000 Mitarbeiter und bei Bayer ca. 104.000 Mitarbeiter angestellt. [37] 10.4 Datenökonomie Mit hohen Börsenbewertungen fallen jenseits der Internetgiganten noch einige Ölun‐ ternehmen (Tendenz fallend) und Pharmaunternehmen wie z.B. Novartis, Pfizer und 10.3 Bewertungen und (Markt-)Macht 213 <?page no="214"?> 32 Zur Einordnung: Die Produktionskosten der letzten James Bond-Filme „Spectre“ aus dem Jahr 2015 und „Skyfall“ aus dem Jahr 2012 wurden mit 245 Mio. US-Dollar bzw. 200 Millionen US-Dollar angegeben; die Einspielergebnisse betrugen mit 1.108 Mio bzw. 880 Mio. US-Dollar jeweils mehr als das Vierfache. Vgl. z.B. Statista. Roche auf. Dies ist insoweit von Bedeutung, als die qualitative Kostenstruktur dieser Unternehmen der der Internetunternehmen entspricht. Es gibt hohe Fixed Costs, die zugleich Sunk Costs sind (entweder eine Probebohrung ist erfolgreich oder nicht; ein Medikament wird ein Blockbuster oder nicht), und niedrige variable Kosten. Im Jahre 1998 erschien das Buch „Information Rules“ von Carl Shapiro und Hal Varian. Letzterer ist der Verfasser mehrerer Standardbücher zur Mikroökonomie und seit 2007 Chief Economist der Firma Google. Der englische Titel ist mit Bedacht zweideutig formuliert worden; „Rules“ kann einerseits mit dem Plural des Substantivs „Regeln“ übersetzt werden, hat aber in der 3. Person Singular auch die verbale Bedeutung „herrscht“. Den Ausführungen von Varian und Shapiro zu Kosten und Distribution von Daten ist 20 Jahre nach Erscheinen des Buches inhaltlich nichts Substanzielles hinzuzufügen. Die erste fundamentale Tatsache ist, dass die Generierung (oder Produktion) von Information durch „First-Copy“-Kosten dominiert wird. Da die Distributionskosten von Information in den letzten Jahren gleichfalls im freien Fall waren - der Download eines Filmes kostet sowohl den Anbieter als auch den Käufer „fast nichts“ bzw. sehr wenig -, hat der Anteil dieser „First-Copy“-Kosten im Zeitverlauf noch zugenommen. Dies korrespondiert mit der Aussage, dass Information teuer zu produzieren ist, aber billig reproduziert werden kann. Fiktives Beispiel Die Produktion eines Filmes möge z.B. 100 Mio. US-Dollar 32 gekostet haben, das Pressen einer einzelnen DVD kostet heute weniger als 1 US-Dollar (ein Download noch viel weniger). Die Herstellung einer DVD kostet also, wenn wir 1 US-Dollar pro Kopie als konstante variable Kosten annehmen, relativ gesehen nur unwesentlich weniger als die Produktion von 1 Million DVDs (in diesem Beispiel 1 Mio. US-Dollar, also 1 Prozent der Produktionskosten des Films). Die variablen Kosten der Produktion haben eine weitere interessante Eigenschaft: Da es keine Kapazitätsbeschränkungen wie in der klassischen Produktion von Gütern gibt, sind die variablen Kosten der Herstellung einer weiteren Informationseinheit nicht nur sehr niedrig, sondern auch quasi (unbeschränkt) konstant. Je größer die Anzahl der verkauften digitalisierten Kopien ist, umso geringer sind ergo die Durchschnittskosten. Wenn Sie z.B. 100.000 Kopien herstellen und verkaufen, so liegen Ihre Durchschnittskosten bei 1.001 US-Dollar pro Kopie; produzieren Sie 1 Mio. Kopien, liegen Ihre Durchschnittskosten bei 101 US-Dollar, und produzieren Sie z.B. 100 Mio. Kopien, liegen Ihre Durchschnittskosten bei nunmehr 2 US-Dollar etc. 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 214 <?page no="215"?> Literaturhinweis: Sie können sich die wesentlichen ökonomischen Zusammenhänge anhand der Geschichte des Ablebens der renommiertesten gedruckten Enzyklopädie der Welt, der Encyclopaedia Britannica (der wenig später der deutsche Brockhaus folgte), vor Augen führen (vgl. u.a. Shapiro & Varian, 1998, S. 19-21, 26, 30, 40, 50, 288, 319). Dieses Beispiel lässt sich derart verallgemeinern, dass Informationsgenerierung im Allgemeinen mit hohen Fixkosten und niedrigen variablen Kosten verbunden ist. Die dominierenden Fixkosten sind zudem zumeist Sunk Costs, d.h., ihr Restwert ist null oder bestenfalls sehr niedrig. Die Investitionssumme, die fast identisch mit den Sunk Costs ist, ist ferner übli‐ cherweise vor der eigentlichen Produktion aufzubringen. Wenn ein Film oder ein Computerprogramm floppt, bekommen Sie, vorausgesetzt, Sie finden überhaupt einen Käufer für die „Reste“ Ihres Projektes, im Gegensatz zu z.B. einem gebrauchten Auto nichts oder fast nichts für Ihr gescheitertes Projekt. Ihr Geld ist also weg oder wenigstens zum allergrößten Teil. Wir haben es hinsichtlich der Kostenstruktur von Digital Content wie gesehen mit einem extremen Fall von Economies of Scale zu tun. Diese Kostenstruktur hat nun bedeutende Implikationen auf die Anzahl der Anbieter in praktisch jedem Informati‐ onsmarkt (analog gilt diese Aussage u.a. auch für Pharmaunternehmen, s.o.). Aufgrund der hohen Investitionssummen können in den meisten Fällen notwendigerweise nur wenige Anbieter am Markt auftreten; wir haben es also nicht mehr mit dem stets referierten Modell der vollständigen Konkurrenz oder Polypol, sondern im günstigen Fall mit einem Oligopol zu tun. Dies wird gestützt durch die Notwendigkeit von technologischen Standards, um viele Menschen bzw. Konsumenten zu verbinden: Denken Sie hier z.B. an kompatible Stecker und Steckdosen oder die Vorteile von Microsoft Windows oder Office, wenn Sie vor einem chinesischen Computer sitzen, ohne des Chinesischen mächtig zu sein. Überlegen Sie sich vor der Lektüre der folgenden Unterkapitel bereits selbst, welche Implikationen das bisher Gesagte auf Marktmacht und Demokratie hat. 10.5 Wirtschaftliche und erste politische Konsequenzen Wie bereits ausgeführt, wird die gesellschaftsverändernde Kraft neuer Technologien generell grob unterschätzt. Bundeskanzlerin Angela Merkel merkte beim politischen Aschermittwoch im Jahre 2015 an: „Die nächsten zehn Jahre werden darüber entschei‐ den, ob wir weiter ein führendes Industrieland sind oder ob wir den Wandel vielleicht nicht schaffen.“ [38] Diese Bemerkung wird erweitert durch eine Aussage, die die Bun‐ deskanzlerin ebenfalls bereits im Jahre 2015 formulierte: Deutsche Industriekonzerne könnten künftig zu bloßen Zulieferern amerikanischer IT-Konzerne degradiert werden, 10.5 Wirtschaftliche und erste politische Konsequenzen 215 <?page no="216"?> 33 Die an der Börse gehandelte erwartete Zukunft sah Ende 2020 bereits anders aus. Die Marktka‐ pitalisierung von Tesla überstieg deutlich die Summe von Volkswagen, BMW, Daimler, Porsche und Continental. Dies ist umso beeindruckender, wenn Sie sich die (vergangenen) Absätze der betreffenden Unternehmen vergegenwärtigen und diese in Bezug zu den korrespondierenden Erwartungen setzen. 34 Das ist historisch nichts Neues. Die ca. 400 Jahre währende Vorherrschaft Europas auf der Welt, die die USA nach dem II. Weltkrieg übernahmen, war wesentlich den überlegenen europäischen Waffen geschuldet. wenn die Bedeutung der Nutzung von Big Data (siehe Unterkapitel 10.6) in Deutschland und Europa nicht verstanden werde. Anders ausgedrückt: Deutschland baut noch die besten Autos der Welt 33 , aber ohne amerikanische und chinesische Soft- und Hardware ist heute keine Kommunikation mehr möglich. Dass große angestammte Konzerne in kurzer Zeit am Abgrund taumeln können, haben wir bereits in Kapitel 9 zur Energieversorgung gesehen, wo E.ON und RWE unter Mithilfe ebendieser deutschen Autokonzerne, die z.B. alte Batterien als Stromspeicher einsetzen wollen, bedrängt werden. [39] Tatsächlich sind wir nicht nur zwischen den USA und China Zeugen eines politischen Machtkampfes, der über Technologiemacht ausgetragen wird. 34 Die Erkenntnisse der Bundeskanzlerin wurden fraglos dadurch befördert, als im Zusammenhang mit den Snowden-Enthüllungen klar wurde, dass die europäischen Staaten ihre Daten kaum noch schützen können. Die Folgerung, die z.B. der ehe‐ malige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zog, ist, dass Europa ohne die Schaffung eines echten digitalen EU-Binnenmarkts im weltweiten Rennen um Technologieführerschaft keine Chance mehr habe. Dies wird auch von der deutschen Industrie bzw. deren Spitzenvertretern in Unternehmen und Verbänden so gesehen. Für die deutschen (wie japanischen, französischen, US-amerikanischen etc.) Auto‐ hersteller lautet die Grundfrage schlicht, ob in Zukunft IT-Konzerne wie Apple oder Google - bei beiden Unternehmen gibt es klare Hinweise, dass sie an Mobilitätskon‐ zepten arbeiten; Google präsentierte bereits 2014 einen fahrerlosen Auto-Prototypen - künftig die Autos bauen oder ob es ihnen gelingen wird, deren Technik in ihre Autos zu integrieren. Das Worst-Case-Szenario der Autohersteller in zehn Jahren ist, dass die Karosserie nicht mehr aus Stahl, Aluminium und Blech, sondern aus Karbon besteht, dass die Batterie aus Asien kommt und Verbrennungskraftmotoren durch Elektromotoren ersetzt werden. Die digitalen Komponenten stammen wiederum von Google, Apple etc. Bereits seit mehreren Jahren weiten Facebook und Google ihre Produktpalette vom sozialen Netzwerk bzw. der Suchmaschine zu Handel auf Bankgeschäfte und Versicherungen aus. Die digitalen Technologien werden bestehende Geschäftsmodelle somit erheblich verändern bzw. sie sind bereits dabei. US-Amerikaner und Chinesen sind heute bei der Produktion der Kernstücke aller Computer führend: In den USA sitzen die für die westliche Welt dominierenden Soft‐ wareentwickler und die dominierenden IT-Plattformen wie Apple, Facebook, Amazon, 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 216 <?page no="217"?> Twitter und Google (denen China mit Baidu, Tencent und Alibaba eigene Pendants entgegengesetzt hat). China ist dazu noch wichtigster Hersteller von Hardware, d.h. Computer, Smartphones und Kommunikationssysteme. Während wir in Deutschland eine zu große Nähe zwischen Staat und Wirtschaft sehr kritisch sehen, haben unsere englischen und französischen Nachbarn dazu eine deutlich entspanntere Einstellung. So waren und sind es insbesondere Absolventen der ENA und der École Polytechnique, die Spitzenpositionen im französischen Staat und in den französischen Großunternehmen einnehmen (und die in den vergangenen Jahren auch massiv für den „Niedergang“ Frankreichs verantwortlich gemacht wurden). Enge Verflechtungen von Staat und IT-Wirtschaft gibt es nicht überraschend auch in der chinesischen Staatswirtschaft, aber auch in den USA. So ist die IT-Entwicklung in den Vereinigten Staaten wie in China maßgeblich vom Militär mit betrieben worden: Sieben amerikanische Ministerien haben bei Amazon rechnen lassen, um dem Unternehmen eine Basis für den Aufbau seiner riesigen Rechenzentren zu ermöglichen. [40] Was die Machtkonzentration bei ausländischen Unternehmen und deren Verqui‐ ckung mit ihren Heimatstaaten für unsere Demokratie bedeuten wird, lässt sich bereits erahnen. Mit dem bisherigen Fragmentieren und nicht zeitgemäßen Wettbewerbsrecht in (jetzt) 27 EU-Staaten wird kaum verhindert werden, dass IT-Firmen, die über eine ganz andere Kapitaldecke und Barreserven verfügen, andere Old-Economy-Unterneh‐ men übernehmen können. Wichtig ist hier noch die Anmerkung, dass als strategisch wichtig eingestufte Unter‐ nehmen sowohl in China als auch in den USA vor dem Zugriff ausländischer Investoren weitgehend „geschützt“ sind und dass dort ausländische Firmen bei der Errichtung sicherheitssensitiver Infrastrukturen ausgeschlossen werden können; eine Diskussion, die wir im Zusammenhang mit der technologischen Macht der chinesischen Firma Huawei seit 2018 in Europa erst zu führen begonnen haben. Kleines Glossar Internet 4.0 (in Anlehnung an Rinke) [41] Cyber-physische Systeme senden und erhalten Daten über ein Netzwerk, wo‐ durch sie in Echtzeit physikalische Vorgänge auslösen (beispielsweise Fenster und Türen öffnen oder schließen oder Produktionsvorgänge beginnen, ändern oder anhalten). Das Internet der Menschen referiert auf persönliche Elektronikgeräte wie Smartphones, Tablets oder „Smart-Wearables“ (Kleidung, Uhren, Schuhe etc.), die Daten über das Internet senden und empfangen. Das Internet der Dienste ist der Teil des Internets, in dem webfähige Dienste als kombinierbare Softwarekomponenten zu erwerben sind. Die Kunden können so je nach Bedarf ihre Webdienste zusammenstellen und an ihre Branche (z.B. die Automobilindustrie) oder Anwendungsfälle (z.B. einen Autokauf) anpassen. 10.5 Wirtschaftliche und erste politische Konsequenzen 217 <?page no="218"?> Das Internet der Dinge bezieht sich auf reale Dinge und Gegenstände, die mit dem Internet oder einer internetähnlichen Struktur verknüpft werden und die hierüber selbstständig kommunizieren und Aufgaben für ihren Besitzer ausführen können. Smart Grids sind Energienetzwerke, in denen Einspeisung und Verbrauch von Energie optimal miteinander verknüpft sind. In der Smart Factory sind alle Produktionsteile und -prozesse miteinander verknüpft. Durch diese Integration, in der Mensch, Maschine und Ressourcen wie in einem sozialen Netzwerk kommunizieren, entstehen hocheffiziente Strukturen, die eine Produktion auf Nachfrage erlauben. Unter Smart Home versteht man den bedarfsgerechten Einsatz von Haushalts‐ technik und -geräten. Er ist auf das Nutzungsverhalten des Bewohners abgestimmt. Hierdurch wird der Energieverbrauch des Hauses optimiert. Bei Industrie 4.0 geht es kurz gesagt um die ganzheitliche Optimierung der Prozesse von der Entwicklung über die Produktion, Wartung und bis hin zum Recycling von Produkten durch die Digitalisierung. Wenn wir die Vorzüge ganzheitlicher bzw. globaler Optimierung preisen, dürfen wir allerdings nicht unterschlagen, dass die ganze Optimierung schiefläuft, wenn das Optimierungsproblem „falsch“ formuliert wurde. Denken Sie an das in Abschnitt 2.1 erwähnte Bonmot von John Lockes zu den wahren Verrückten, die auf den falschen Voraussetzungen basierend die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Demografische Probleme und Auswirkungen der Digitalisierung dürften sich wie‐ derum verstärken. Ohne eine „vernünftige“ digitale Infrastruktur - vulgo Breitband - werden zahlreiche moderne Technologien zukünftig nicht funktionieren können. Die Frage, ob der letzte Winkel Deutschlands ans Breitband angeschlossen werden kann und soll, korrespondiert mit der Erkenntnis, dass ein Dorf ohne Breitband ein sterbendes Dorf sein wird mit dem Wissen, dass alle Budgets naturgemäß beschränkt sind. Der Wegzug junger Leute vom ländlichen Raum in die Ballungsgebiete dürfte auch nach Corona mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitergehen. Unsere German Angst sollte auch hier positiv gesehen werden. Ist das Problem erst verstanden, kann es leichter „angegangen“ werden. Nicht nur der damalige Siemens-CEO Joe Kaeser, dem man noch Zweckoptimismus unterstellen könnte, sagte bereits Mitte 2015: „Deutschland hat alle - ich sage alle - Voraussetzungen, um für ein digitales Wirtschaftswunder zu sorgen.“ In das gleiche Rohr stieß der Chef des welt‐ größten Netzausrüsters CISCO, John Chambers, bereits im Herbst 2014: „Deutschland hat das Zeug, das erste große digitale Land zu werden. Das Land hat die industrielle Kreativität dazu. … Das heißt aber auch: Die Traditionsunternehmen müssen sich alle neu erfinden, es wird sich alles ändern mit den neuen Technologien und der völligen Vernetzung. Am Ende werden alle Firmen zu Technologieunternehmen.“ [42] 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 218 <?page no="219"?> 10.6 Big Data Es ist nun angebracht, den inzwischen inflationär verwendeten Begriff Big Data zu klären. Obwohl es keine einheitliche Definition gibt, kann Big Data grundsätzlich als Hochgeschwindigkeitsanalyse großer Datenmengen aus vielfältigen Quellen, mit dem Ziel wirtschaftlichen Nutzen zu erzeugen, beschrieben werden. In der Studie der KPMG aus dem Jahre 2014 „Datenanalyse als neuer Produktions‐ faktor“ wurde bereits geschätzt, dass sich die Menge der verfügbaren Daten alle 5 Jahre in etwa verzehnfacht, dass 90 Prozent der weltweit vorhandenen Daten innerhalb der vergangenen zwei Jahre entstanden und dass auf Facebook in etwa 30 Milliarden Einträge pro Monat vorgenommen werden. Dabei steigt einerseits die Komplexität zahlreicher Datentypen, andererseits werden die Informationsquellen vielfältiger. So ist eine Argumentation, die für Kryptogeld gern vorgebracht wird, dass dann Geld direkt von Maschine an Maschine überwiesen werden kann. Abb. 10.2 liefert einen Überblick über Typen von Daten, die entweder von Menschen oder von Maschinen „geschaffen“ werden. .2: Datentypen (in Anlehnung an KPMG, 2014) Abb. 10.2: Datentypen (in Anlehnung an KPMG [43] ) Zu den bekanntesten aktuellen Anwendungen zählen individualisierte Werbung im Social Web im erweiterten Sinne (also bei Amazon, Facebook und Nachahmern) sowie die Steuerung des Energieverbrauches über Speicherung und Auswertung von Mess‐ werten. Tatsächlich finden sich Anwendungen im Geschäftsleben in der Produktion, in Distribution und Logistik, im Marketing und Finanzwesen, der Monetarisierung von Daten sowie in Forschung und Entwicklung, also (fast) überall. 10.7 Medien Abgeschrieben wurde schon immer, jedenfalls seit Menschen die Schrift verwenden, um Gedanken auszudrücken bzw. dieses versuchen. 10.6 Big Data 219 <?page no="220"?> 35 Das korrespondiert übrigens mit der im vorhergehenden Abschnitt angesprochenen Ausschlussdis‐ kussion von Huawei bei der Errichtung von 5G-Netzen in Deutschland und anderswo. Die zentrale Frage ist nicht, ob Huawei unsere Daten „absaugen“ wolle, sondern ob sie es könnten. Denken Sie sich mal in das Jahr 2000 zurück und recherchieren Sie spaßeshalber mit etwas Ausdauer, wer vor etwa 20 Jahren was in welchem Zusammenhang vom „Mann von der Leine“ und vom „magentaroten Riesen“ schrieb. Die Medienwelt hat sich indes nicht nur in Europa in den letzten ca. 15-20 Jahren dramatisch verändert. (In den USA gab es eine derartige Entwicklung wiederum bereits einige Jahre früher.) Nachdem die Frankfurter Rundschau im Jahre 2012 Insolvenz anmeldete, gab es mehrere Eigentümerwechsel; Ende desselben Jahres wurde die deutsche Ausgabe der Financial Times eingestellt, die Frankfurter Allgemeine Zeitung zehrt seit vielen Jahren von ihrer finanziellen Substanz. Das amerikanische Magazin Newsweek erscheint seit 2013 nur noch online, die Washington Post wurde von Amazon Gründer Jeff Bezos (der Mitte 2020 auch reichster Mensch der Erde und Trump-Hasser war) gekauft; englische, spanische und französische Traditionszeitungen sind ohne einen reichen Teilhaber und Sponsor nicht überlebensfähig. Ob Le Monde und die Times ihre redaktionelle Unabhängigkeit vom jeweiligen Sponsor schon verloren haben oder nicht, wägen Sie bitte nach seriöser Eigenrecherche selbst ab. Es genügt vermutlich auch hier bereits die Erkenntnis, dass die Journalisten dieser berühmten Blätter nicht mehr unabhängig sein könnten. 35 Nicht nur die vielfach zitierten chinesischen, türkischen oder russischen Medien „tanzen“ (übrigens nicht alle) nach den Pfeifen ihrer jeweiligen Regierung, auch im Westen gibt es Versuche der staatlichen Einflussnahme bzw. des vorauseilenden Gehorsams gegenüber den entsprechenden Regierungen. Dies gilt selbst für die vermutlich berühmteste westliche Medienanstalt, die BBC. [44] Die Kostenmodelle aller Medienunternehmen wurden seit dem Beginn der Digitalisierung grundlegend durch‐ einandergeschüttelt. Vor dem Kostenproblem, aufgrund dessen die Encyclopaedia Britannica aufgab bzw. aufgeben musste, stehen grundsätzlich alle nichtstaatlich finanzierten Informationsbzw. Medienanbieter. Vor allem weil sich die Leser daran gewöhnt hatten, Inhalte im Internet frei zu konsumieren, gingen die Auflagen fast aller großen Tages- und Wochenmagazine z.T. dramatisch zurück. Nachdem der SPIEGEL in den Nachwendejahren noch deutlich über eine Million Exemplare pro Woche verkaufte, waren dies Mitte 2020 nur noch ca. 641.000 [45] Exemplare. Zudem ist den Printmedien in den letzten Jahren ein Großteil der Erlöse aus dem Anzeigengeschäft weggebrochen. Dies gilt für Zeitungen und Zeitschriften und abgeschwächt für Fernsehmedien. So sanken z.B. die Werbeerlöse des SPIEGEL von etwa 220 Mio. Euro im Jahre 2006 innerhalb von nur 6 Jahren um 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 220 <?page no="221"?> 36 Danach konnte ich keine weiteren absoluten Zahlen recherchieren. mehr als ein Drittel auf ca. 130 Mio. Euro im Jahr 2012 36 und damit ging es dem SPIEGEL im Branchenvergleich wie beim Rückgang der Auflage nicht einmal schlecht. [46] Das Geld aus den Anzeigen bzw. Werbeblöcken fehlt den Zeitungen und Zeit‐ schriften für Qualitätsjournalismus, der lang andauernde Recherchen mit unsicherem Ausgang und Korrespondentenbüros in den wichtigen Städten dieser Welt mit kompe‐ tenten Journalisten erfordert. Auch hier gelten die bereits besprochenen ökonomischen Grundprinzipien: Guter Journalismus erfordert hohe Fixkosten, die zugleich wiederum zumeist Sunk Costs sind, dazu kommen niedrige variable Einnahmen aus dem Verkauf eines Printmediums bzw. dem Einschalten eines Fernsehsenders oder einer Webseite. Neben dem Kostendruck steht ferner der Druck auf die Journalisten, möglichst in Echtzeit zu berichten: Es erfordert keine tiefgehenden wirtschaftlichen Kenntnisse, um zu verstehen, dass das so nicht gut gehen kann. Bemerkung: Positive Folgen (eher aus der Not geboren) sind Allianzen großer Zeitungen: Sieben Zeitungen aus sechs europäischen Ländern haben z.B. den gemeinsamen Verbund Leading European Newspaper Alliance (LENA) ins Leben gerufen. Neben der Welt aus Deutschland sind El País aus Spanien, La Repubblica aus Italien, Le Figaro aus Frankreich, Le Soir aus Belgien sowie der Tages-Anzeiger und die Tribune de Genève aus der Schweiz Mitglieder dieses Zeitungsverbundes. Die meisten deutschen Zeitungen und Zeitschriften wie Die Süddeutsche Zeitung, Die Welt und das Handelsblatt aber auch der SPIEGEL und Die Zeit sind nach 2017 dazu übergegangen, weite Teile ihres Onlineangebotes nur noch bezahlt zugänglich zu machen. Es wird sich zeigen, ob es genug Leser geben wird, die für Qualitätsjournalismus zu zahlen bereit sind. Dass dem so sein wird, ist jedenfalls mittelfristig fraglich: So schickten nicht nur „Zeit“ und „Süddeutsche“ während der Corona-Krise Teile ihrer Redaktionen in Kurzarbeit, wobei ein kausaler Zusammenhang schwer zu konstruieren ist. [47] Wenn sich einmal eine Gratis- oder „Ramschmentalität“ verbreitet hat, dauert es im besten Fall sehr lange, bis diese korrigiert wird. Das können Sie exemplarisch an Markenprodukten, die zu oft oder zu lange im Supermarktsonderangebot auftauchen, überprüfen: Viele Käufer werden nach Ende einer Aktion nicht wieder zum Normalpreis kaufen, sondern auf die folgende Aktion warten. Ein Auswuchs dieses Wandels ist die pauschale Beschimpfung der deutschen Medien seit dem Jahre 2015 von Teilen der Bevölkerung als „Lügenpresse“, was bei ebendiesem Teil der Bevölkerung offensichtlich zu gefühlten Fehlinformationen bzw. Monoin‐ 10.7 Medien 221 <?page no="222"?> formation vor allem durch die deutschen „regierungsnahen“ öffentlich-rechtlichen Medien korrespondiert. Gerade die öffentlich-rechtlichen Medien fielen 2014 und 2015 durch eine Bericht‐ erstattung im Ukraine-Russland-Konflikt auf, die nicht nur oft zulasten Russlands nicht korrekt war, sondern schlicht Propaganda (ausgedrückt z.B. durch eine Rüge des Programmbeirates der ARD im Herbst 2014) und damit offensichtlich nicht ausgewogen war. [48] Grundlegende Kritik an ARD und ZDF äußerte bereits 2009 der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert bei der Konstituierenden Sitzung des 17. Deutschen Bundestages. [49] Eine ähnliche oft tendenziöse Berichterstattung gab es im Jahre 2008 vor und während der Olympischen Spiele in Peking zu China. Wenn vorauseilender Gehorsam der Redaktionen mit dem Wunsch, das „Gute“ zu befördern, und das „Gute“ auch noch durch die Regierungspolitik einer Großen Koalition vertreten ist, in Übereinstimmung kommt, heißt dies im Umkehrschluss, dass es kaum noch hör- oder lesbare Opposition gibt. Dies ist eine Entwicklung, die a priori mit großer Sorge zu verfolgen ist. Das Geschäftsmodell von Google und Facebook, die zusammen die überwiegende Mehrzahl aller Suchanfragen der Deutschen im Internet beantworten, basiert auf Emotionen und Interaktionen der Nutzer. Wenn, wie aus den oben geschilderten ökonomischen Gründen ersichtlich, private Anbieter von Information ihre Rolle als Wächter der Demokratie nicht mehr oder nur noch teilweise ausüben können, ist es umso wichtiger, dass öffentlich-rechtliche Medien diese Rolle wahrnehmen. Kurz: Das kostenbedingte Verschwinden von Teilen des Qualitätsjournalismus‘ kann nicht durch offene Foren und von selbsternannten Experten (die mitunter sogar Experten sind) übernommen werden, da dann zumeist jede Qualitätsüberprüfung verloren geht und wir uns schlussendlich - weitgehend orientierungslos - wieder beim englischen Philosophen George Berkeley (1685-1753) „Few men think, yet all have opinions“, allerdings auf niedrigerem Niveau und mit bisher unbekannten selbst‐ verstärkenden Effekten in „Meinungsräumen“ wiederfinden. Einen Vorgeschmack diesbezüglich lieferten die amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Jahre 2016 und die Brexit-Kampagne im selben Jahr. Die zahlreichen Unterstützer radikaler Kandidaten bzw. Thesen sind nicht uninformiert, sie sind anders informiert, nämlich zumeist über soziale Medien, von denen Boris Palmer treffend sagt, dass sie weder sozial sind noch die Funktionen von Medien erfüllen. [50] Erinnern Sie sich in diesem Zusammenhang an frühere Ausführungen zu einer hochqualifizierten weitgehend unabhängigen Beraterschaft, die Entscheider brauchen, um qualifiziert abwägen zu können. 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 222 <?page no="223"?> 37 Über die Vereinbarkeit dieser Energieverwendung mit dem 2-Grad-Ziel, das die Begrenzung der Erderwärmung bezeichnet, denken Sie bitte selbst nach. 10.8 Krypto-Geld Im Jahre 2009 wurden die ersten 50 Bitcoins „geschöpft“. Ende 2020, also etwas über 10 Jahre später gab www.coinmarketcap.com die Existenz von ca. 8.000 Kryptowährungen an. Dabei existierten bis zur Einführung des staatlichen venezolanischen Petro im Jahre 2018 nur private Kryptowährungen. Kryptowährungen sind bisher fast ausschließlich private digitale Zahlungsmittel, die auf kryptographischen Werkzeugen wie Blockchains und digitalen Signaturen basieren. In der Regel wird eine vorher festgelegte Anzahl an Währungseinheiten durch das gesamte System gemeinschaftlich erzeugt bzw. begrenzt, wobei die Rate vorher festgelegt und veröffentlicht bzw. durch den kryptographischen Modus der Erzeugung limitiert ist. Als Zahlungssystem sollen Kryptowährungen unabhängig, verteilt und fälschungssicher sein. Durch kryptographisch abgesicherte Protokolle und dezentrale Datenhaltung ermöglichen Kryptowährungen technisch einen digitalen Zahlungsverkehr ohne Zentralinstanzen oder Verteilungsknoten wie Banken. Dabei stellt der Besitz eines kryptologischen Schlüssels das Eigentum von kryptologisch signiertem Guthaben in einer gemeinschaftlichen Blockchain dar. Ein zentraler Unterschied von Kryptowährungen und alltäglichem „normalen“ Geld, der regelmäßig ins Feld geführt wird, ist, dass eine einzelne Partei (praktisch ein Staat oder seine Notenbank) nicht alleine in der Lage ist, die Produktion von Währungsein‐ heiten zu beschleunigen, zu beeinträchtigen oder in irgendeiner Weise zu missbrau‐ chen. Kryptowährungen benötigen keine Notenbanken und unterstehen insofern a priori keiner Behörde oder sonstiger Organisation. Durch ihren dezentralen Aufbau können die meisten Kryptowährungen damit im Gegensatz zum Zentralbankgeld nicht einseitig manipuliert werden. Die Idee, mit Bitcoin (oder Libra) einen neuen Goldstandard zu schaffen, wobei die Inflationsrate zu den neu geschöpften Kryptowährungseinheiten korrespondiert, klingt allerdings nur auf den ersten Blick charmant. Verbindend bei Gold und Bitcoin als populärste Kryptowährung ist, dass das Angebot beider Anlagen nur sehr gering im Zeitverlauf wächst. Es gibt in beiden Anlagen weder Zinsen noch Dividenden: Während die Goldvorkommen zwar endlich, aber theoretisch nach oben weitgehend offen sind, gibt es bei derzeit ca. 18,5 Millionen sich im Umlauf befindlichen (Stand Ende 2020 [51] ) mit 21 Millionen eine maximale Stückzahl von Bitcoins, die nicht überschritten werden kann. Da das „Schürfen“ von Bitcoin jedoch sehr große Rechnerkapazitäten benötigt und extrem viel Energie verbraucht 37 , entstehen kaum noch neue Bitcoins. Derzeit werden pro Jahr etwa 3.000 Tonnen Gold gefördert, wobei der Gesamtbestand weltweit knapp 200.000 Tonnen beträgt. Auch hier ist der relative Zuwachs sehr gering. Sowohl bei Bitcoin als auch bei Gold handelt es sich also um Güter, die kaum vermehrt werden, was c.p. für steigende Preise spricht. 10.8 Krypto-Geld 223 <?page no="224"?> In beiden Fällen hängt der Preis zudem nur wenig mit den Produktionskosten zusammen. Wie sich der Preis für Bitcoin bildet, ist zudem weitgehend intransparent. Auch beim Goldpreis spielen die Produktionskosten eine untergeordnete Rolle. Hier findet die Preisfindung überwiegend an den Terminmärkten statt. Die Volumina, die dort gehandelt werden, sind ein Vielfaches größer als bei physischem Gold. Am ehesten können die Produktionskosten von Gold eine Preisuntergrenze darstellen. Im Unterschied zu Gold werden Bitcoin in der Realwirtschaft nicht wirklich ge‐ braucht. Die Blockchain-Technologie, auf der die Kryptowährung beruht, ist innovativ und kann in zahlreichen technischen Bereichen angewandt werden. Bitcoin selbst bringen dagegen keinen wirklichen Mehr- oder Nutzwert mit sich. Beim Gold hingegen wird ein großer Teil zu Schmuck verarbeitet oder er dient als nichtvirtueller Wertspei‐ cher: Dies stellt den fundamentalen Unterschied zwischen Gold und Bitcoin (sowie anderen Kryptowährungen) dar. Die zentrale praktische Frage, die durch die Diskussion um die Facebook-Währung Libra und staatliche Kryptogelder befeuert wurde, ist, inwieweit es sich bei z.B. Bitcoins um Geld handelt. Wir müssen uns somit wieder den konstituierenden Eigenschaften des Geldes, Transaktionsmittel, Rechnungseinheit und Wertaufbewahrungsmittel zu sein, zuwenden. Dazu führte Bundesbankpräsident Jens Weidmann am 29.05.2019 beim Bundesbank-Symposium „Zahlungsverkehr und Wertpapierabwicklung in Deutsch‐ land im Jahr 2019“ aus: „Die zentralen Funktionen des Geldes in einer Volkswirtschaft erfüllen sie [die Kryptowährungen] jedenfalls nicht. Denn angesichts der Kursausschläge eignen sich Krypto-Token wohl weder zur verlässlichen Wertaufbewahrung noch als Recheneinheit. Und auch als Tauschmittel kommen sie nur selten zum Einsatz, weil die Kosten der Transaktionen häufig hoch sind und die Abwicklung vergleichsweise viel Zeit in Anspruch nimmt. Ein Faktor ist der große Energiebedarf: Unserer Schätzung nach verbrauchte eine Bitcoin-Transaktion Anfang vergangenen Jahres mehr als 400.000-mal so viel Strom wie eine normale Überweisung. Laut einer im Januar 2019 veröffentlichten Studie der BIZ sieht von 63 befragten Zentralbanken keine einzige in ihrem Land eine signifikante Nutzung von Krypto-Token. Nach wie vor interessant ist aber die den Token zugrunde liegende Distributed Ledger-Technologie.“ [52] Praktische Überlegungen der EZB im Sommer 2020 gingen in die Richtung, privates Digitalgeld wirksam zu regulieren und parallel die Bereitstellung von digitalem Geld durch die Notenbank zu gewährleisten. Dies ist insoweit bemerkenswert, als Krypto‐ währungen wie Bitcoin entwickelt wurden, um das Bankensystem mit der Notenbank in seinem Zentrum zu umgehen. Im Vergleich zur Medienresonanz ist die ökonomische Bedeutung der Kryptowäh‐ rungen bisher verschwindend gering: Die Marktkapitalisierung aller Bitcoins betrug Ende 2020 - nach einer „Preisexplosion“ im 2. Halbjahr des Jahres 2000 - ca. 1 Billion US-Dollar und damit weniger als die Hälfte des Börsenwertes von Apple; die nächstfolgende Kryptowährung war Ethereum mit ca. 100 Mrd. US-Dollar. 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 224 <?page no="225"?> 38 Nach Buffet stellen Bitcoins nicht nur unproduktives Vermögen dar, der Bitcoin-Kauf folge insbe‐ sondere der „Theorie des größeren Dummkopfs“, d.h. es gehe allein darum, jemanden zu finden, der noch mehr dafür zahle. Mittelfristig lag Buffet jedenfalls sowohl bezüglich der Performance als auch der Liquidität nicht falsch, als er 2016 im großen Stil begann, Apple-Aktien zu kaufen, anstelle in Bitcoin zu investieren. Das primäre Ziel von Bitcoins wie aller privaten Kryptowährungen ist es, Individuen ohne das „dazwischengeschaltet sein“ von Banken zu verbinden, d.h. Zahlungsabwick‐ lungen ohne Banken zu gewährleisten. Damit stellen sie einen fundamentalen Angriff auf ein Monopol des Staates bzw. einer supranationalen Einheit wie der EU vermöge Ihrer Zentralbanken „Geld zu drucken“ und zu überwachen, dar. Die bereits erfolgten Handlungen der ostasiatischen Regulierer und die tatsächlichen Schwankungen der Notierungen belegen dies eindrucksvoll. Es ist also quasi sicher, dass es Gold in den kommenden Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten als Anlageklasse noch geben wird; für Bitcoins gilt diese Aussage nicht. So wie es mit Jens Weidmann Skeptiker und mit Warren Buffet 38 Verächter der Kryptowährungen gibt, haben diese natürlich auch zahlreiche Verfechter. Die Literatur dazu ist inzwischen fast unerschöpflich. Tatsache ist, dass nicht nur alle Zentralbanken und die Zentralbank der Zentralbanken, die Bank für Internationalen Zahlungsaus‐ gleich (BIZ), sondern ebenso Privatbanken, Verbände, Regulatoren usw. sich ausgiebig mit Kryptowährungen beschäftigen. Im Zentrum der meisten Betrachtungen steht dabei eine verbesserte Effizienz des Zahlungsabwicklungsystems. Inwieweit wir den „Vormarsch“ einer oder mehrerer (privater oder staatlicher) Kryptowährungen sehen werden oder nicht, ist primär eine politische und nicht eine technische Frage. 10.9 Politische Dimensionen Die amerikanischen Internetkonzerne dominieren fast die ganze Welt, in Europa gibt es nicht ein vergleichbares Pendant hinsichtlich ihrer Macht, die soweit geht, dass Twitter und Facebook Anfang 2021 sogar Donald Trump „abschalteten“. Die Ausnahme ist China und mit deutlichen Abstrichen auch Russland: Weder können Sie in China legal auf einen Facebook-Account zugreifen, Sie können auch nicht Twittern oder Google als Suchmaschine verwenden. Die chinesische Zentralregierung hat früh erkannt, dass Internet mit gesellschaftlicher Macht zu tun hat und die Entwicklung eigener Unternehmen forciert. Die im Westen bekanntesten sind die Suchmaschine Baidu und der stark verbesserte Ebay-Klon Taobao, der zum an der New Yorker und Hongkonger Börse gelisteten Mutterkonzern Alibaba gehört. Tatsächlich gibt es aber ebenso Facebook-Klone (der wichtigste ist WeChat der ebenfalls in New York und Hongkong börsennotierten Firma Tencent, die wie Alibaba inzwischen bezüglich ihrer Marktkapitalisierung zu den Top10 weltweit zählt), die von der Regierung natürlich kontrolliert werden und diverse weitere Chat- und Kurznachrichtenprogramme, die technisch zumeist besser sind als ihre westlichen Pendants oder „Ideengeber“. 10.9 Politische Dimensionen 225 <?page no="226"?> 39 Mitte 2019 empfohlen die nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und die Bertels‐ mann Stiftung, mittelfristig jedes zweite Krankenhaus in Deutschland zu schließen. https: / / www.be rtelsmann-stiftung.de/ de/ themen/ aktuelle-meldungen/ 2019/ juli/ eine-bessere-versorgung-ist-nur-m it-halb-so-vielen-kliniken-moeglich Microsoft-Betriebssysteme und -programme sind in der Bevölkerung und an Hoch‐ schulen populär; regierungsnahe oder sicherheitssensible Bereiche verwenden, weil sie dies müssen, allerdings ausschließlich chinesische Software. Was im europäischen Westen, aus welchen Gründen auch immer, kaum diskutiert und wenig wahrgenommen wird, ist, dass jedermann, der auf den „I agree“-Button nach Download oder Upgrade beliebiger amerikanischer Software drückt, sich ameri‐ kanischem Recht unterwirft. Genau dies weiß die chinesische Regierung zu verhindern, wo sie es für politisch geboten hält. Exkurs: Die Wirtschaftsprüfung in der Wissensgesellschaft Wir haben bereits gesehen, dass das Verständnis der Rolle des Staates sowohl ortsals auch zeitabhängig ist. Nichtsdestotrotz sind an jedem Ort und zu jeder Zeit alle wesentlichen Probleme unserer Gesellschaft mit der Grundfrage, wofür der Staat verantwortlich ist und wofür nicht, verbunden. Die Welle der Privatisierungen welt‐ weit nahm mit Margaret Thatchers Amtsantritt 1975 in Großbritannien und einige Jahre später unter Ronald Reagan in den USA ihren Beginn. Deutschland folgte in den 1980er Jahren mit einer Aufgabe eines großen Teils der Bundesbeteiligungen an Industrieunternehmen wie VW und Lufthansa und der Teilprivatisierung von Deutscher Telekom und Deutscher Post in den 1990er Jahren. Es wurden Wasser- und Elektrizitätswerke verkauft, Hochschulen externen Akkreditierern unterworfen, Kreditratings für Unternehmen und Staaten von den privaten Unternehmen S&P, Moody’s und Fitch erstellt, Kliniken privatisiert 39 und zahlreiche weitere staatliche Aufgaben outgesourct mit der Begründung, die Privatwirtschaft sei besser (d.h. kos‐ tengünstiger) in der Lage, diese Aufgaben wahrzunehmen, als staatliche Behörden oder Unternehmen im Staatsbesitz. Die betrauten Privatfirmen erhielten üblicherweise langandauernde Konzessionen vor einer Neuausschreibung oder finanzielle Garantien durch Gebührenordnungen für die Durchführung ihrer Tätigkeiten. (vgl. Exkurs zu Kapitel 12). Auch wenn für den im Frühjahr 2020 endgültig ans Licht gekommenen Bilanzskandal der im Deutschen Aktienindex DAX gelisteten Firma Wirecard als Folge unmittelbar ein irreparabler Schaden für den Finanzplatz Deutschland postuliert wurde, war der Dieselskandal um und mit Volkswagen und Daimler industriepolitisch und damit gesamtvolkswirtschaftlich fraglos bedeutender, da hier das Label Made in Germany offen zur Disposition gestellt wurde. In diesen großen wie auch vielen weiteren kleineren Fällen von Betrug funktionierten offensichtlich weder die internen noch die externen Kontrollmechanismen. 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 226 <?page no="227"?> Ich habe bereits erwähnt, dass wir Heutigen die auf die Aufklärung zurückgehende menschlich verständliche Tendenz haben, für jedes „Versagen“, vom Bilanzbetrug bis zum Tode eines Menschen, technische Gründe zu unterstellen, ohne dabei aber die Sinnhaftigkeit unseres Vorgehens grundsätzlich in Frage zu stellen. Gern wird dann als Treiber auf die menschliche Gier abgestellt. Bevor wir aber von Gier sprechen, müssten wir erst einmal definieren, was genug ist und was nicht. Das Versagen bei Wirecard ist dabei Teil eines umfassenderen geistigen und regulatorischen Versagens und insbesondere „Ausdruck eines moralischen Klimas, in dem Geldverdienen vor allen anderen Tätigkeiten bejubelt [wird]“. (vgl. Skidelsky, S. 50) Der Fall Wirecard ist gerade deshalb von Interesse, weil er uns mit Sinn und Unsinn der derzeit praktizierten Untenehmensprüfung konfrontiert. Während es ganz sicher nicht primäre Aufgabe des Staates ist, in Unternehmen Kulturen von „Ja-Sagern“ zu verhindern, bedarf die „Außenprüfung“ aber sehr wohl einiger Überlegungen zur Verantwortlichkeit des Staates. Bei Wirecard handelt es sich um eines von geschätzt 48.000 prüfungspflichtigen Unternehmen. [53] Wirtschaftsprüfer prüfen bei diesen Unternehmen den Jahresabschluss (nicht das Unternehmen), der die Bilanz, die Gewinn-und-Verlust-Rechnung, den Anhang, die komplette Buchführung, die Unternehmensplanung und bei mittelgroßen und großen Kapitalgesellschaften auch den Lagebericht beinhaltet. Die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen sind § 316 HGB sowie § 323 HGB, der die Verantwortlichkeit des Abschlußprüfers regelt. Hier existiert eine Diskrepanz zwischen der Erwartung der Öffentlichkeit und dem tatsächlichen gesetzlichen Auftrag, der im Falle der Wirtschaftsprüfung als Erwartungslücke bezeichnet wird. Eine Antwort auf die Frage, ob Wirtschaftsprüfer mit einer quasi-öffentlichen Aufgabe betraut sind, ist nämlich weniger trivial, als es auf den ersten Blick erscheint: Schlüssig begründen kann man eine staatlich organisierte Prüfung zur Sicherung des Eigentums mit Verweis auf das Grundgesetz. Ohne Zweifel ist aber die Wahrnehmung der Aufgabe, die Prüfung von Bilanzen, privatrechtlich organisiert. Genau hier tritt bereits das Dilemma bzw. der wesentliche (mögliche) Interessenskonflikt zutage. Die Auftraggeber bezahlen die Untersucher dafür, dass sie untersucht werden. Damit Prüfer und Geprüfter nicht zu sehr „mauscheln“, hat der Gesetzgeber im Jahr 2016 - fast 10 Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise als späte Antwort auf mangelnde Kontrollmechanismen, die zur Pleite von u.a. Hypo Real Estate und ING führten - die verpflichtende Abschlussprüferrotation eingeführt. Banken und Versicherungen müssen ihren Abschlussprüfer spätestens nach zehn Jahren austauschen und kapitalmarktorientierte Unternehmen das Mandat nach zehn Jahren zumindest neu ausschreiben, dann aber nach 20 Jahren endgültig die Prüfgesellschaft wechseln. Die Bilanzen der Fa. Wirecard und der Wirecard Bank wurden seit 2009 von der Wirtschaftsprüfgesellschaft Ernst & Young testiert. Erst für das Jahr 2019 wurde nach einigem hin und her das Testat verweigert, weil die Existenz von 1,9 Exkurs: Die Wirtschaftsprüfung in der Wissensgesellschaft 227 <?page no="228"?> 40 Das hat nichts mit Mitleid der geschädigten Aktionäre von Wirecard zu tun (entsprechende Zweifel, nicht nur der Financial Times, zur Seriösität des Unternehmens, gibt es seit Januar 2019, vgl. https: / / boerse.ard.de/ boersenwissen/ boersengeschichte-n/ wirecard-vs-ft-chronologie-der-ereig nisse100.html. Dass Wirecard 2018 in den DAX aufgenommen wurde, spricht aber nicht für die Kontrollmechanismen der Deutschen Börse AG, die sich offensichtlich auf den verantwortlichen Prüfer Ernst & Young verließ (Stichwort institutionalisierte Verantwortungslosigkeit). 41 Diese Aussage gilt auch für politische Risiken. 42 Fraglos würden damit aber die Kosten der Prüfung signifikant steigen müssen, weil Erstprüfungen (die zur Regel würden) sehr aufwendig sind. Mrd. Euro auf sogenannten Treuhandkonten nicht nachgewiesen werden konnte. 40 Im Unterschied zu Steuerberatern, Ärzten und Anwälten existiert für Wirtschaftsprüfer keine Gebührenordnung; d.h. die Honorare der Wirtschaftsprüfer, die Kosten seitens des beauftragenden Unternehmens sind, können frei verhandelt werden. Für 2017 fielen bei Wirecard für den Konzernabschluss die für ein Unternehmen dieser Größe und Bedeutung relativ geringen Prüferkosten in Höhe von 2,2 Mio. Euro an (davon 1,7 Mio. Euro für die eigentliche Abschlussprüfung und ca. eine halbe Million Euro für sonstige Leistungen). Unabhängig von Fragen, wie zwei offensichtlich plump gefälschte Dokumente intern (Wirecard Management) und extern (Ernst & Young und Bafin) als ausreichend angesehen wurden, die Existenz von den o.g. Treuhänderkonten auf den Philippinen nicht in Frage zu stellen, liegt das Grundproblem des Wirtschaftsprüfers tiefer: Es bezieht sich auf den fundamentalen Unterschied zwischen Risiko und Unsicherheit, auf den bereits in Abschnitt 6.2.3 verwiesen wurde. Wir nehmen - dies betrifft nicht exklusiv die Wirtschaftsprüfung - oft an, dass wir Wahrscheinlichkeiten vernünftig schätzen können, können dies aber nicht. 41 Hier folgt, dass es mit dem wahrschein‐ lichkeitstheoretischen Ansatz nicht gelingt, urteilsrelevante Unterschiede zwischen Informationen, die für die Ordnungmäßigkeit sprechen von solchen, für die dies nicht gilt, zu trennen. Der Abschlussprüfer erlangt im Rahmen seiner Püfung somit lediglich Indizien. Das Grundproblem der Honorarabhängigkeit - natürlich wird ein Wirtschaftsprüfer im Zweifel Bewertungsspielräume nutzen, wenn er für das Folgejahr ein Mandat erwartet - ist seit Jahrzehnten bekannt: Auch liegen Vorschläge auf dem Tisch, diese Abhängigkeit zu verringern. Ein Vorschlag ist, dass alle prüfungspflichtigen Gesellschaften in einen z.B. von der Börsenaufsicht geführten Fonds einen jährlichen Prüfungsbeitrag, der abhängig von der jeweiligen Bilanzsumme ist, einzahlen. Die Wirtschaftsprüfer würden dann über einen Zufallsauswahlprozess den Firmen für eine bestimmte Anzahl von Jahren zugeordnet und dabei aus dem von den prüfungspflich‐ tigen Gesellschaften gespeisten Fonds zentral honoriert. [54]42 Die Frage nach der Haftung einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Fall eines falschen Testats ist aus mehreren Gründen schwierig zu beantworten. Wegen ihrer berufsrechtlichen Verschwiegenheitspflicht dürfen Wirtschaftsprüfer sich zu den von ihnen untersuchten Unternehmen nicht öffentlich äußern: Sie können sich somit nicht gegen Vorwürfe verteidigen. Zudem bleibt die fundamentale Frage im Raum, 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 228 <?page no="229"?> 43 Auch hier gilt das Prinzip der Unschuldsvermutung. Abschlussprüfer haben nicht die Aufgabe, fraudulente Abschlüsse zu verhindern. Die Grundannahme einer Abschlussprüfung ist, dass der Abschluss ohne kriminelle Energie entstanden ist. inwiefern ein Prüfer fragwürdige bzw. fraudulente Vorgänge in Unternehmen wirklich vollständig aufdecken kann: Wenn ihm das Management z.B. bewusst wesentliche Informationen vorenthält oder Sachverhalte falsch dargestellt, ist es möglich, dass Fehler oder im Extremfall Betrug nicht entdeckt werden. 43 Die Alternativfrage lautet dann aber, warum es überhaupt Wirtschaftsprüfer gibt, wenn man zunächst davon abstrahiert, dass ihre pure Existenz noch (viel? ) mehr Betrug verhindert. Die FAZ zitiert am 22.06.2020 dazu Maximilian Weiss, Rechtsanwalt der TILP-Gruppe: „EY hat sich nach unserem Verständnis hier zwar nicht mit Ruhm bekleckert. Zentral verantwortlich ist aus kapitalmarktrechtlicher Sicht aber weiterhin Wirecard. Und das ist von entscheidender Bedeutung. Gegen Wirecard bestehen die besten Aussichten, Schadensersatz zu erlangen, schon weil diese rechtlich viel leichter durchzusetzen sind.“ [55] Spätestens hier sollten wir uns fragen, ob und inwieweit die herkömmliche Wirt‐ schaftsprüfung überhaupt noch zeitgemäß ist. Es sollte uns nicht schwer fallen zu verstehen, dass unsere Ethik und die herkömmlichen Kontrollmechanismen mit der sich rasant entwickelnden Technologie nicht Schritt halten. Technologiesprünge schaffen neuen Bedarf und machen Althergebrachtes überflüssig. Wenn Banken Kredite nicht verbriefen, sondern in den eigenen Büchern behalten, brauchen Sie keine Ratings. Die Kreditratingagenturen verdanken ihre Existenz also im Wesentlichen den Derivatenmärkten, weil in diesen die Verbindung zwischen Verkäufer und Käufer praktisch aufgehoben wurde. Neue Technologie hat hier einen Bedarf geschaffen. Die Wirtschaftsprüfung, wie wir sie kennen, ist historisch in den 1930er Jahren als Antwort auf die Weltwirtschafts- und Finanzkrise entstanden. Im Zentrum stand und steht dabei das Sach- und Finanzkapital und nicht, wie in einer modernen Wissensgesellschaft, die Bewertung von immateriellem Vermögen. Dafür, Stichwort Humankapital, gibt es aber keine Marktpreise, sondern nur Erwartungen und Hoff‐ nungen. [56] Literaturtipp: Was mit Menschen passiert, wenn Berufe auf Grund von neuer Technologie überflüs‐ sig werden, erzählt Hans Fallada in dem Roman „Der eiserne Gustav“. Der Drosch‐ kenkutscher Gustav verliert im Berlin der 1920er Jahre gegen die aufkommenden Autos und macht sich schließlich mit seiner Kutsche nach Paris auf. Ich habe bereits betont, dass ich die Fähigkeit, Fehler zu korrigieren, für ein wesentli‐ ches Merkmal von Zukunftsfähigkeit erachte. Dies betrifft Individuen, Unternehmen Exkurs: Die Wirtschaftsprüfung in der Wissensgesellschaft 229 <?page no="230"?> und Gesellschaften als Ganzes. Dabei ist offensichtlich, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zur Korrektur nachlässt, je länger eine Fehlentwicklung bereits andauert. Hier gibt es aber durchaus Positives zu berichten: Den Universitäten und Fachhoch‐ schulen wird nach zwei Jahrzehnten privatwirtschaftlich organisierter Studiengangs‐ akkreditierungen inzwischen wieder weitgehend freigestellt, Studienangebote, die zu Bachelor- und Masterabschlüssen führen, anzubieten, sofern sie hinreichende interne Qualitätsmanagement- und -überprüfungssysteme nachweisen können. Man sollte diese Neubewertung als späte gesichtswahrende Korrektur eines Fehlers betrachten. Es ist nicht zu erwarten, dass Unternehmen sich bzw. ihren Jahresabschlüssen in Zukunft selbst Absolution erteilen können. Dass die „big four“ PricewaterhouseCoo‐ pers, Ernst & Young, KPMG und Deloitte, deren Umsatz im Geschäftsjahr 2018/ 2019 in Deutschland ca. 8 Mrd. Euro betrug (zum Vergleich: die nächsten 6 WP-Gesellschaften kamen auf etwa 1 Mrd. Euro Umsatz), ihre eigene Abschaffung vorschlagen werden, ist auch nicht zu erwarten. Dass ihnen überzeugende Argumente zur Begründung der Sinnhaftigkeit ihrer Prüfungstätigkeit, die eben keine Beratung darstellt und von dieser unabhängig sein soll, einfallen, ebenso nicht. Die harte Alternative einer Änderung von innen ist eine echte Deprivatisierung der Prüfung, über die in Zukunft z.B. eine Bundesbehörde nicht mehr nur wacht. Dass ein solcher Weg möglich ist, wenn er politisch gewollt wird, sollte nach schärferen Kurswechseln wie der Energiewende außer Zweifel stehen. Heinrich Heine dichtete nach dem Brand von 1842, der Hamburg in großen Teilen zerstörte: Baut Eure Häuser wieder auf Und trocknet Eure Pfützen, Und schafft Euch bess’re Gesetze an, Und beß’re Feuerspritzen. [57] Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 10.1: Was wird unter einer Wissensgesellschaft verstanden? Übung 10.2: Versuchen Sie sich selbst - im Sinne von Case Studies - die Geschichten der Aufstiege der Internetgroßkonzerne Yahoo, Microsoft, Apple, Google, Facebook, Amazon, Ebay und Twitter möglichst detailliert klarzumachen. Widmen Sie sich in einem Folgeschritt den im Text genannten chinesischen Internetkonzernen. Übung 10.3: Machen Sie sich mithilfe von Internetressourcen klar, inwieweit die Firma Apple während ihres Aufstieges zur „teuersten Firma der Welt“ jede der Schumpeter’schen Innovationskategorien beherrschte. 10 Digitalisierung und Industrie 4.0 230 <?page no="231"?> Übung 10.4: „Die Süddeutsche Zeitung stellt auf ihrer Internetseite zum Thema „Zukunft des Arbeitsplatzes“ mit der Frage „Wie wahrscheinlich ist es, dass ich durch einen Computer ersetzt werde? “ ein Portal zur Verfügung, in dem man bei Eingabe seines Berufs eine Aussage zu dessen Zukunftsaussichten bekommt. Für Steuerberater sieht es da ganz finster aus: Hier ergibt die Eingabe des Berufs „Steuerberater“ eine Wahrscheinlichkeit von 99%, dass der Beruf verschwindet.“ Die Zeitung beruft sich auf eine Oxford-Studie, die für den US-Arbeitsmarkt die Zukunftsaussichten von 700 Berufsgruppen angesichts der Konkurrenz durch Ro‐ boter und Computer berechnet hat. Eine Studie der London School of Economics komme für Deutschland zu ähnlichen Ergebnissen. Bedeutet die Digitalisierung wirklich das Ende für Steuerberater? “ (Quelle: NWB) [58] a. Welche Chancen ergeben sich durch die Digitalisierung bzw. die Digitale Transformation in der Steuerberatung? b. Begründen Sie, inwiefern die aktive Wirtschaftsprüfung von der Digitalisie‐ rung betroffen sein sollte. Übungen zur Selbstüberprüfung 231 <?page no="233"?> Zwischenresumé und -plädoyer Wir befinden uns derzeit in einer durch technologischen Wandel angetriebenen Phase des gesellschaftlichen Umbruches, der qualitativ vermutlich nur mit der Zeit um 1500 und der industriellen Revolution um 1900 verglichen werden kann. In‐ nerhalb weniger Jahrzehnte wurde die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen und hier insbesondere der jüngeren Generationen in der entwickelten und der sich entwickelnden Welt durch Technologien, die auf Digitalisierung beruhen, verändert. Dazu zählen fraglos auch die privaten Kryptowährungen, an deren „Erfolg“ der Verfasser dieses Textes allerdings fundamentale Zweifel hat, da sie in ihrer existierenden Konzeption einen Frontalangriff auf ein zentrales staatliches Monopol darstellen müssen. Mit anderen Worten: Kein Staat der auf Dauer ernst genommen werden will, kann es sich gefallen lassen, dass Geldschöpfung und -flüsse und damit die Besteuerung an ihm vorbeigehen. Diese Aussage gilt nicht für die Blockchain-Technologie, die z.B. bei Bitcoins zur Datenverschlüsselung eingesetzt wird und für die es offensichtlich zahlreiche Anwendungsmöglichkei‐ ten gibt. Sie gilt ebenso nicht für die Bereitstellung von Kryptogeld durch die Zentralbanken. Während die öffentliche Wahrnehmung des technologischen Wandels weitge‐ hend mit dem Begriff Digitalisierung verbunden ist, spielt der „Fortschritt“ der biologischen Wissenschaften öffentlich nur eine nachgeordnete Rolle, wenn man von negativ belegten Schlagworten wie Genmais einmal absieht. Zu den Eigenarten des Kapitalismus zählt, dass Konkurrenz im Sinne des survival of the fittest ohne Eingreifen des Staates vielfach zu Monopolen bzw. Oligopolen führt. Internetunternehmen haben ebenso wie erfolgreich forschende Pharmaun‐ ternehmen aufgrund der Relationen von Festkosten und variablen Kosten die natürliche Tendenz, groß zu werden. Wenn die Notwendigkeit einer kritischen Masse mit technologischen Standards einhergeht, ist die Monopolisierung bzw. Oligopolisierung von Märkten wie bei Facebook (soziale Netzwerke) und bei Ama‐ zon (Onlinekaufhaus) oder Google (Suchmaschinen) notwendige Konsequenz. Derzeit gibt es in Europa weder einen bedeutenden Hardwarenoch einen in seinem Geschäftsgebiet dominanten Softwarehersteller (mit großen Abstrichen kann SAP hier ausgeklammert werden). Die Frage, wer die inzwischen in riesigen Mengen entstehenden Daten auswertet bzw. nutzt, wird mittelfristig von essen‐ zieller Bedeutung für die deutsche bzw. europäische Wirtschaft und für unsere Gesellschaft sein. Die kausale Argumentation, dass die USA durch ihren technologischen Vorsprung bedingt ihre Vormachtstellung weltweit zementieren bzw. ausbauen, ist c.p. zumindest zweifelhaft, da der überwiegende Teil der amerikanischen Gesellschaft in den vergangenen 40 Jahren Wohlstandseinbußen hinnehmen musste und damit <?page no="234"?> offensichtlich nicht an diesem Reichtum partizipierte. Neben Straßenschlachten im Zuge der Rassenunruhen im Sommer 2020 ist dies gut am Niedergang zahlrei‐ cher Qualitätsmedien zu verfolgen, die zwischen „Missionen“ ihrer Geldgeber und den Gesetzen der Ökonomie zerrieben werden. Der insgesamt in der westlichen Welt zu konstatierende Mangel an Orientierung stellt unter den beschriebenen demografischen Rahmenbedingungen bei langandauernden Nullbzw. Niedrig‐ zinsperioden in Verbindung mit der Oligopolisierung bzw. Monopolisierung zahlreicher Wirtschaftsbereiche eine ernsthafte Gefahr für die westlichen Demo‐ kratien dar. Ich halte nach allem bisher Ausgeführten die Frage nicht nur für zulässig, sondern für notwendig, ob wir mit der von uns praktizierten Form von Demokratie überhaupt in der Lage sein können, friedlich eine Zukunft, die durch eine wirtschaftliche Schrumpfung charakterisiert sein muss, zu gestalten. Die technische Entwicklung, die wir in den vergangenen 30 Jahren erfahren haben sowie der Mix aus demografischen, ökonomischen und politischen Problemen, die jeweils miteinander zusammenhängen, haben unsere Gesellschaft bereits substanziell verändert. Wenn Sie eine Zeitreise in das Jahr 1990 machen, gab es anstelle von Mobiltelefonen Telefonzellen, es gab noch kein Internet, in der Form wie wir es heute kennen, keine Onlinebuchungen und Vergleichsportale, keine Rauchverbote in öffentlichen Gaststätten, keine Diskussion über die Pflicht (die es in zahlreichen Ländern gibt), Fahrradhelme zu tragen. Es gab ebenso nicht die dauerhafte öffentliche Beobachtung von politischen Verantwortungsträgern, keine permanente Bewertung von Hochschullehrern durch ihre Studenten oder Ärzten durch ihre Patienten. Die bereits sichtbaren gesellschaftlichen Konsequenzen sind bemerkenswert: Ein Hochschullehrer, der von Studenten anonym beleidigt werden kann und diese Art der Auseinandersetzung dann auch noch in den Medien „breitgetreten“ sieht, wird in Zukunft tendenziell eine andere Form der Lehre erwägen. Ein Politiker wird sich sehr genau überlegen, was er wann wo sagt, damit er nicht angreifbar wird. Dies betrifft weniger Inhalte als Formen der Political Correctness, Bezug zu religiösen bzw. ethnischen Minderheiten, Genderfragen, die Einstellung zur gleichgeschlechtlichen Ehe u.v.m. Bücher werden vorverurteilt bzw. bewertet, ohne gelesen worden zu sein, Zitate aus dem Zusammenhang gerissen, Urteile sofort gefällt. Das alles ist nicht alternativlos. Mehr intellektuelle Redlichkeit stände uns allen gut zu Gesicht. Dies betrifft ferner ebenso Initiativen zur Deregulierung bzw. zur Abschaffung von Gesetzen: Während ein neues Gesetz relativ einfach auf den Weg gebracht werden kann, ist die Abschaffung eines Gesetzes für Politiker wesentlich riskanter. Zwischenresumé und -plädoyer 234 <?page no="235"?> Literaturtipp: Sehr lesenswert und mit vielen praktisch absurden oder absurd praktischen Beispielen versehen ist Alexander Neubachers Buch „Total beschränkt. Warum der Staat uns mit immer neuen Vorschriften das Denken abgewöhnt“. Stellen Sie sich einfach vor, dass in Deutschland die Pflicht zum Tragen eines Fahrradhelmes bestände, dass aber andererseits durch valide wissenschaftliche Studien erwiesen wäre, dass das Tragen von Fahrradhelmen insgesamt zu mehr Unfällen führt als das Fahrradfahren ohne Helm („selbstbewussteres“ Fahren der Fahrradfahrer, riskantere Fahrweise der Autofahrer als Folgen gefühlter geringerer Verletzbarkeit, …). [59] Stellen Sie sich schlussendlich vor, Sie haben ein Gesetz auf den Weg gebracht, das das Tragen von Fahrradhelmen auf eine freiwillige Basis stellt und gleich nach Verabschieden des Gesetzes verunfallt ein Kind tödlich, dem das Tragen eines Fahrradhelmes das Leben gerettet hätte. Sie dürfen ziemlich sicher sein, dass die Karriere dieses fiktiven Politikers - Ihre Karriere - unmittelbar beendet wäre und über Ihr „Versagen“ mehr „diskutiert“ würde als über das Verhalten der Eltern (Warum war das Kind an diesem Ort ohne Helm unterwegs? ) und weiterer Unfallbeteiligter. Die Folge sind in der Regel immer mehr Gesetze. Im Jahre 2013 wurde die Anzahl der für Sie gültigen Bundesgesetze, Einzelvorschriften, Verordnungen mit Einzelvorschriften, Landesgesetze und Regelungen der Europäischen Union von Neubacher auf ca. 150.000 geschätzt und Sie dürfen versichert sein, dass sich diese Zahl in den seitdem vergangenen Jahren nicht verringert hat. Die deutsche Verwaltung hinterlies im zweiten Teil der Corona-Krise ab Herbst 2020 insgesamt keinen guten Eindruck. Hauptursächlich dafür dürfte die Strangulierung der Beamten durch zu viele Beschränkungen sein. Exemplarisch dafür war die absurde Diskussion (mit Verweis auf den Datenschutz), ob Zoom im Distanzunterricht an Schulen verwendet werden dürfe oder nicht. Wenn Sie sich ferner die meisten Gesetzesinitiativen auf lokaler, Landes- oder Bundesebene anschauen, wird Ihnen ein immer weitergehender Hang zum Lö‐ sen „kleiner“ Probleme durch Regulierung bzw. (vermeintlich) beherrschbaren Initiativen in einer komplexen Welt auffallen: Dies kann man zum Teil damit begründen, dass für die „großen Probleme“ keine (schnellen) Lösungen parat sind und dass die Illusion von Aktivität bewahrt werden soll. Dies ist übrigens das Gegenteil von „Politikerschelte“ bzw. Medienschelte. Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind dramatisch: Während es vor 25 Jahren vor allem darum ging, Bürger vor dem Fehlverhalten oder negativen Auswirkun‐ gen individuellen Verhaltens auf Dritte zu schützen (Stichwort Passivrauchen), ist die deutsche Gesellschaft des Jahres 2020 - nicht nur im Verbraucherschutz - mehr und mehr durch die Tendenz gekennzeichnet, den Bürger vor sich selbst Zwischenresumé und -plädoyer 235 <?page no="236"?> zu schützen bzw. schützen zu wollen (wobei unklar bleibt, warum man sich in Deutschland konkurrenzlos billig Alkohol verschaffen und sich so alternativlos preiswert „um den Verstand trinken“ kann). Dabei reagieren im Sinne von Verhaltensänderung im Normalfall die „gesetzestreuen“ Bürger, die etwas zu verlieren haben, und nicht die gesellschaftlichen „Problemfälle“ (beobachten Sie einmal, wer sich vom Alkoholverbot in den S-Bahnen beeindrucken lässt und wer nicht und erinnern Sie sich an Arno Karlens Überlegungen, die zu Beginn von Kapitel 10 dargestellt wurden). Dies korrespondiert bei einem als „alternativlos“ apostrophierten Politikstil nicht nur mit einem äußerst fragwürdigen Menschenbild jenseits der „Errungenschaft“ der Aufklärung, das Immanuel Kant so kurz und schön mit „Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! “ formulierte. Es korrespondiert ebenso zu einem Mentalitätswandel in der Gesellschaft und, c.p., Nichthonorieren und damit Abnehmen von Kreativität in der Gesellschaft. Was das mittel- und langfristig für Deutschland, einem Land ohne Rohstoffe und damit abhängig von Ideen, bedeuten wird, sollte uns allen sehr schnell aufgehen. Eine ähnliche Entwicklung findet in der westlichen Unternehmenswelt statt: Die großen Skandale des neuen Jahrtausends mit der „Mutter“ aller jüngeren Skandale Enron (im Jahr 2001), aber auch die Korruptionsaffären bei Volkswagen und Siemens (in den Jahren 2005 bzw. 2006) haben zu einer schlagartigen Entdeckung von Corporate Governance, Compliance and Ethics geführt, wobei Sie wiederholt versichert sein dürfen, dass das deutsche oder amerikanische Management über Nacht nicht „ethischer“ wurde. Oft wissen international agierende Firmen nicht, was sie tun dürfen und wo sie ggf. belangt werden können. Wie in Kapitel 10 zur Digitalisierung ausgeführt, sind quasi alle deutschen Privatpersonen bereits amerikanischem Recht unterworfen; mit größeren Konsequenzen gilt dies - ohne politische Probleme wie bei der Fertigstellung von North Stream II - also erst recht für Unternehmen. Die Folge ist ein dramatischer Anstieg des „Rechtsgeschäftes“, verbunden mit einer gigantischen Fehlallokation von Humanressourcen: Die Deutsche Bank wird z.B. seit mehr als einem Jahrzehnt als Rechtsabteilung mit angeschlossenem Bankgeschäft verspottet. Deutsche Unternehmen trauen sich oft nicht mehr, Geschäfte abzuschließen. Eine Lücke, in die in Subsahara-Afrika und im Iran gern chinesische Unternehmen stoßen. Neue technologische Entwicklungen erfordern staatlich gesetzte Rahmenbedin‐ gungen. Hoffnung machen die aktuelle ökonomische Forschung, u.a. in der Spieltheorie, die sich „guter“ Regulierung widmet, und der damit verbundene Wunsch, in Zukunft einen regeren Austausch zwischen Politik und Wissenschaft (wie in den angelsächsischen Ländern) zu erleben. Es gilt stets der Grundsatz, dass nicht alles, was technisch möglich ist, auch realisiert werden sollte. Wenn wir über die Duplikation von Embryonen sprechen, ist das Problem praktisch jedermann klar, bei möglichen Auswirkungen der Zwischenresumé und -plädoyer 236 <?page no="237"?> Digitalisierung hingegen nicht. Wir sollten also auch diesbezüglich immer wieder aufs Neue darüber nachdenken und diskutieren, in welcher Art von Gesellschaft wir zukünftig leben wollen. Zur weltweiten Dominanz der USA und teilweise Chinas im Hightechsektor wurde das Nötige gesagt. In beiden Ländern geht die wirtschaftliche und politische Konzentration von materiellem und intellektuellem Reichtum viel weiter als in Europa und speziell in Deutschland. Die gesellschaftliche Mitte schrumpft in unserem Referenzland Nr. 1, den USA, dass die chinesische Gesellschaft von heute ein Modell für die Zukunft Deutsch‐ land sein solle, behaupten nicht einmal „eingefleischte Chinafreunde“ wie der Autor dieses Buches. Genau diese stabile gebildete Mitte, die bei uns traditionell vom Facharbeiter bis zum Klinikdirektor spannt, sollten wir als die Basis unseres Wohlstandes und der inneren Sicherheit Deutschlands verstehen, wofür ebendiese gebildete Mitte wieder verstärkt für das Gemeinwohl einzutreten lernen muss. Das bedeutet Teilhabe am politischen Prozess, der nicht nur die „großen Probleme“ für eine Betrachtung als würdig erachtet, sondern Engagement in der Kommune, im Land, im Sportverein etc. Wir werden also kluges staatliches Handeln und bürgerliches Engagement brau‐ chen, um Deutschland wetterfest zu machen. Dass sich viele Menschen in Deutschland engagieren wollen - weitgehend unabhängig davon, wie sie zur Flüchtlingspolitik der amtierenden Bundesregierung stehen - und dies auch tun, wissen wir spätestens seit dem Ausbrechen der Flüchtlingskrise im Spätsommer 2015. Zwischenresumé und -plädoyer 237 <?page no="239"?> Im Text direkt zitierte Literatur Kapitel 6 [1] Deutsche Welle (Gero Rueter am 13.08.2020). Klimaschutz: Kohle wird unrentabel, Solar und Wind gewinnen. https: / / www.dw.com/ de/ klimaschutz-kohle-wird-unrentabelsolar-windenergie-gewinnen-deutschland-eu-usa-china-erdgas/ a-53905661 [2] Epp, A., Kasang, M. und D. Ohdaa (2020). Wo Kalifornien brennt. https: / / www.spiegel. de/ wissenschaft/ wo-kalifornien-brennt-a-9543dc97-3b46-4292-8979-01a2e322e166 [3] Aus der „Finanz und Wirtschaft“ Nr. 100 vom 23. Dezember 2015. https: / / www.fuw.ch / article/ langfristige-zinsen-und-inflation/ [4] Vgl. Mishkin (2015). The economics of money, banking and financial markets. Boston (MA): Pearson. [5] Siedenbiedel, C. (2012, 5. Februar). Wie kommt das Geld in die Welt? https: / / www.faz.net/ aktuell/ wirtschaft/ wirtschaftswissen/ geldschoepfung-wiekommt -geld-in-die-welt-11637825.html [6] Europäische Zentralbank. Pressemitteilung vom 29. April 2020. https: / / www.bundes bank.de/ resource/ blob/ 831934/ 7d7fce5e42de70411ec4a2b26ca06ef0/ mL/ 2020-04-29geldmengenentwicklung-download.pdf [7] Statistisches Bundesamt. Verbraucherpreisindizes. Welchen Anteil haben bestimmte Güter des Warenkorbs am Verbraucherpreisindex? https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen/ Wirt schaft/ Preise/ Verbraucherpreisindex/ FAQ/ anteil-gueter-warenkorb.html [8] Japanische Märchen (1970). Prag: Artia. [9] BIZ (2013). Die Struktur der globalen Devisenmärkte aus Sicht der Zentralbankerhebung 2013. http: / / www.bis.org/ publ/ qtrpdf/ r_qt1312e_de.pdf [10] Gojdka, V. (2020, 21. April). Welche Folgen ein negativer Ölpreis hat. https: / / www.sueddeutsche.de/ wirtschaft/ oel-erdoel-wti-preis-1.4883764 [11] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2018). Was sind eigentlich „negative Strompreise“? https: / / www.bmwi-energiewende.de/ EWD/ Redaktion/ Newsletter/ 2018/ 02/ Meldung/ direkt-erklaert.html [12] S. www.hanswernersinn.de/ de/ themen/ TargetSalden [13] Time Magazin (2015, 15. Dezember). https: / / time.com/ 4148838/ koch-brotherscolleges-universities/ Kapitel 7 [14] Vgl. z.B. Hobbes, T. (1986) Leviathan. Ditzingen: Reclam, und als gute Sekundarlitera‐ tur Störig, H. J. (1999). Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Gütersloh: Fischer. [15] Zhang, D. (2008, 17. Mai). Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit. http: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ deutsche-welle-china-berichterstattung-zwieback -fuer-den-tiger-1.392102-2 <?page no="240"?> [16] Bundesministerium der Finanzen (2020). Staatsquoten im internationalen Vergleich. https: / / www.bundesfinanzministerium.de/ Monatsberichte/ 2018/ 02/ Inhalte/ Kapitel-6- Statistiken/ 6-1-19-staatsquoten-im-internationalen-vergleich.html [17] Scherf, W. (2011). Öffentliche Finanzen. Tübingen: UTB. [18] Statista an verschiedenen Orten. [19] Bundestag, (2017). https: / / www.bundestag.de/ parlament/ plenum/ sitzverteilung_19wp [20] Tageschau: https: / / www.tagesschau.de/ inland/ thueringen-ramelow-wahl-101.html [21] Nordeutscher Rundfunk; https: / / www.ndr.de/ nachrichten/ mecklenburg-vorpommern/ Borchardt-bleibt-Richterin-am-Landesverfassungsgericht,borchardt162.html Kapitel 8 [22] Bundesnetzagentur (o. J.). Versorgung mit Telekommunikation. https: / / www.bundes netzagentur.de/ DE/ Sachgebiete/ Telekommunikation/ Verbraucher/ WeitereThemen/ VersorgungMitTelekommunikation/ VersorgungMitTelekommunikation-node.html [23] Centrum für Hochschulentwicklung (2020). CHECK - Numerus Clausus an deutschen Hochschulen 2020/ 21. https: / / www.che.de/ download/ check-numerus-clausus-2020/ . [24] Broder, H. M. (2013, 22. November). Brüssel, das neue Moskau mit menschlichem Antlitz. Die Welt. http: / / www.welt.de/ debatte/ henryk-m-broder/ article122157023/ Bruessel-das -neue-Moskau-mit-menschlichem-Antlitz.html Kapitel 9 [25] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (o. J.). Unsere Energiewende: sicher, sauber,bezahlbar. https: / / www.bmwi.de/ Redaktion/ DE/ Dossier/ energiewende.html [26] Umweltbundesamt (2020, 28. Februar). Primärenergieverbrauch. https: / / www.umwelt bundesamt.de/ daten/ energie/ primaerenergieverbrauch [27] Bundesministerium der Wirtschaft (2012). EU-Energieeffizienzrichtlinie. http: / / www.bmwi.de/ DE/ Themen/ Energie/ Energieeffizienz/ eu-energieeffizienz-richt linie.html [28] Bofinger, P. (2019). Grundzüge der Volkswirtschaftslehre: Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, Kapitel 14. (5. Aufl.) München: Pearson Studium. [29] ebda. [30] Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (o. J.). https: / / www.bmelstatistik.de/ ernaehrung-fischerei/ versorgungsbilanzen/ fleisch/ [31] Baumgart, M und W. Mc McDonough (2014). Cradle to Cradle. Einfach intelligent produzieren. München: Piper. Kapitel 10 [32] Rinke, A. (2015, 1. Juli). Ein Kampf ums Überleben: Europa ist im digitalen Zeitalter nicht mehr wettbewerbsfähig. https: / / zeitschrift-ip.dgap.org/ de/ ip-die-zeitschrift/ archiv / jahrgang-2015/ juli-august/ ein-kampf-ums-ueberleben [33] Schumpeter, J. A. (2006). Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Berlin: Duncker und Humblot. Im Text direkt zitierte Literatur 240 <?page no="241"?> [34] Piller, F. T. , Lüttgens, D. und P. Pollok (2013). Open Innovation: Methoden und Erfolgsbeurteilung, 2013. Wirtschaftswissenschaftliches Studium, 11, 607-614. unter www.researchgate.net/ publication/ 259871254_Open_Innovation_Methoden_und_ Erfolgsbeurteilung [35] Brecht, B. (2005). Kalendergeschichten. Reinbek: Rororo. [36] Pilzweger, M. und A. Kuch (2008, 9. Oktober). Wie die Zeit vergeht: 25 Jahre IT-Ge‐ schichte. http: / / www.pcwelt.d&e/ news/ Wie-die-Zeit-vergeht-25-Jahre-IT- Geschichte-228379.html [37] Statista (o. J. ). Apple’s number of employees in the fiscal years 2005 to 2019. https: / / www.statista.com/ statistics/ 273439/ number-of-employees-of-apple-since-2005/ Statista (o. J.). Number of full-time Alphabet employees from 2007 to 2019. https: / / www.statista.com/ statistics/ 273744/ number-of-full-time-google-employees/ Statista (o. J.). Number of employees at the Microsoft Corporation from 2005 to 2020. https: / / www.statista.com/ statistics/ 273475/ number-of-employees-at-the-microsoftcorporation-since-2005/ Statista (o. J.). Number of Facebook employees from 2004 to 2019 (full-time). https: / / www.statista.com/ statistics/ 273563/ number-of-facebook-employees/ Statista (o. J.). 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Ein Kampf ums Überleben: Europa ist im digitalen Zeitalter nicht mehr wettbewerbsfähig. https: / / zeitschrift-ip.dgap.org/ de/ ip-die-zeitschrift/ archiv / jahrgang-2015/ juli-august/ ein-kampf-ums-ueberleben [39] Schultz, S. (2015, 23. Dezember). Konkurrenz für E.on und Co.: Auto- und Internetfirmen erobern den Energiesektor. http: / / www.spiegel.de/ wirtschaft/ unternehmen/ energiewen de-branchenfremde-konzerne-erobern-den-stromsektor-a-1061546.html [40] Rinke, A. (2015, 1. Juli). Ein Kampf ums Überleben: Europa ist im digitalen Zeitalter nicht mehr wettbewerbsfähig. https: / / zeitschrift-ip.dgap.org/ de/ ip-die-zeitschrift/ archiv/ jahr‐ gang-2015/ juli-august/ ein-kampf-ums-ueberleben [41] ebda. [42] Hoettges, T. (2015). Europäische Standards setzen: Denn mehr Datensicherheit ist auch ein klarer Wettbewerbsvorteil. Internationale Politik, 2015. (4), 26-29, Kaeser, J. (2015). Wir brauchen mehr „Think Big“: Und dabei kann man allemal von den USA Im Text direkt zitierte Literatur 241 <?page no="242"?> lernen. Internationale Politik, 2015. (4), 30-35 und Busse (2014, 1. Oktober). Cisco-Chef Chambers: „Deutschland kann weltweit führend sein“. https: / / www.sueddeutsche.de/ wirtschaft/ cisco-chef-chambers-deutschland-kann-weltweitfuehrend-sein-1.2154750 [43] KMPG (2014). Einführungsvortrag „Big Data“: Datenanalyse als neuer Produktionsfak‐ tor. http: / / www.hgnc.de/ wp-content/ uploads/ 2014/ 05/ KPMG_Einf%C3%BChrungsvor trag_Big_Data_neu.pdf [44] Thomas, G. (2015, 22. Oktober). Agenda 2017. http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ unabhaengigkeit-der-bbc-agenda-2017-13868956.html [45] Statista (o.J.). https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 164386/ umfrage/ verkaufteauflagen-von-spiegel-stern-und-focus/ #: ~: text=Von%20den%20drei%20gro%C3%9Fen%2 0Nachrichtenmagazinen,von%20knapp%20303.000%20Exemplaren%20verzeichnen [46] Statista an verschiedenen Orten. [47] Vgl. z.B. https: / / www.spiegel.de/ kultur/ corona-krise-kurzarbeit-fuer-sueddeutscheund-zeit-a-86b23524-9818-4939-8e06-2694c34c84dc [48] Neuerer, D. (2014, 18. September). Berichtet die ARD zu russlandkritisch? http: / / www.handelsblatt.com/ politik/ deutschland/ ruege-des-programmbeirats-berich tet-die-ard-zu-russlandkritisch/ 10722250.html [49] [Norbert] Lammert kritisiert ARD und ZDF (2009). https: / / www.youtube.com/ watch? v=FMBNHoC7TTQ [50] Palmer, B. (2019). Erst die Fakten, dann die Moral. Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss. (3. Aufl.) München: Siedler. [51] Vgl. z.B. Statista und https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 283301/ umfrage/ gesamtzahl-der-bit coins-in-umlauf/ und www.coinmarketcap.com [52] Bundesbank-Präsident Jens Weidmann am 29.05.2019: https: / / www.bundesbank.de/ de/ presse/ reden/ prometheus-und-epimetheus-im-digitalen-zeitalter-797914 [53] Wirtschaftsprüferkammer (WPK). www.wpk.de [54] Vgl. z.B. Kleiner, F. (2020). https: / / apps.derstandard.at/ privacywall/ story/ 862093/ wirt schaftspruefer-im-dilemma [55] Giersberg, G. (2020, 22. Juni). Welche Rolle spielen die Wirtschaftsprüfer? , https: / / www.faz.net/ aktuell/ wirtschaft/ unternehmen/ wirecard-chaos-welche-rollespielen-die-wirtschaftspruefer-16821141.html [56] Straubhaar, T. (2020, 2. Juli). Das Wirecard-Versagen offenbart die Rückständigkeit der Kontrolleure. Die Welt. https: / / www.welt.de/ wirtschaft/ article210873329/ Zeitalter-der -herkoemmlichen-Wirtschaftspruefung-ist-abgelaufen.html [57] (2017). Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen, Caput XXI. [58] NWB (2017, 07. März). Bedeutet die Digitalisierung wirklich das Ende für Steuerberater? https: / / www.nwb.de/ de-de/ articles/ fachbeitraege/ sterben%20stb%20durch%20digi talisierung%20aus [59] Przybilla, S. (2015, 11. Dezember). In New Hampshire haben sie es nicht geschnallt. http: / / www.sueddeutsche.de/ auto/ verkehrssicherheit-sie-haben-es-nicht-geschnallt-1. 2776471 Im Text direkt zitierte Literatur 242 <?page no="243"?> Teil III: Deutschland in der Welt <?page no="245"?> 1 Siehe Glossar. Einführung Im dritten Teil dieses Buches werden wir versuchen, eine „Vogelflugperspektive“ zu gewinnen. Wir werden Deutschland in Europa im Konzert der „Großen“, also der USA und China sowie in eingeschränktem Maße Russland, analysieren und dazu einen längeren Blick auf die Emerging Markets, in denen die überwältigende Mehrzahl der Menschen weltweit lebt, und einen folgenden Blick auf die sogenannte „unterste Milliarde“ werfen. Diese Betrachtungen müssen naturgemäß sowohl wirtschaftlicher und politischer als auch soziologischer und demografischer Natur sein. Der Begriff „unterste Milliarde“ (englisch: bottom billion) geht auf den ehemaligen Direktor der Forschungsabteilung der Weltbank und heutigen Oxford-Professor Paul Collier zurück, der im Jahre 2007 ein gleichnamiges Buch veröffentlichte. [1] Collier unterteilte die Welt in 1 Milliarde Menschen, die in reichen Ländern leben, reichlich 4 Milliarden Menschen in Entwicklungsländern und 1 Milliarde, die die Bottom Billion bilden. Dies sind Menschen aus Staaten, die ökonomisch weitgehend abgehängt und die durch Bürgerkriege, Staatsstreiche, Hungersnöte etc. gekennzeichnet sind. Inzwischen leben fast 8 Milliarden Menschen auf der Erde, folglich gibt es auch mehr als eine „unterste Milliarde“ Menschen. Wir werden diese unterste Milliarde und präventive Gründe, warum wir uns jenseits von Entwicklungshilfe und moralischen Erwägungen aus Eigeninteresse rational mit ihnen beschäftigen sollten, ausführlich besprechen. Wir müssen im Verlauf dieses das Buch abschließenden Teils also einerseits wieder über die beschränkten Möglichkeiten, nationalstaatlich Politik zu gestalten, sprechen, und andererseits die Notwendigkeit, uns in den ärmsten Ländern dieser Welt zu engagieren, diskutieren. Die „Big Five“ Amazon, Apple, Google, Microsoft und Facebook als auch China mit seiner Neuen Seidenstraße 1 tun das bereits auf ihre Weise und sind damit dabei, die Welt zu verändern. Zu den interessanten Beobachtungen unserer Tage zählt, dass zahlreiche Länder, die seit dem Ende des Kalten Krieges wirtschaftlich massiv aufgeholt haben, heute in der sogenannten Middle Income Trap (auf Deutsch in etwa „mittlere Einkommensfalle“) stecken; dass es ihnen also nicht gelingt, in die erste bzw. entwickelte Welt aufzuschlie‐ ßen. Sowohl die sogenannte erste Welt als auch der am wenigsten entwickelte Teil sind merkwürdig stabil. So gelang es in den letzten ca. 60 Jahren dauerhaft nur den konfuzianisch geprägten Staaten Singapur, Hongkong, Taiwan und Südkorea und in beschränkterem Maße Thailand und Malaysia sowie später den Ölemiraten, in die Liga der reichen Staaten, die sogenannte erste Welt, aufzusteigen. Die meisten Staaten, die von der Weltbank oder dem Weltwährungsfond IWF vor 25 oder 30 Jahren als „Least Developed“ eingestuft wurden, sind dies immer noch. Die Gruppe der am wenigsten <?page no="246"?> entwickelten Länder wurde zudem u.a. um Libyen und Syrien erweitert, um Länder also, aus denen sich - ermöglicht durch den Zusammenbruch staatlicher Strukturen - seit dem Jahr 2015 ein Strom von Menschen auf der Flucht bzw. auf der Suche nach einem besseren Leben nach Europa und dort zuvorderst nach Deutschland bewegt. Es gilt für Menschen im Gegensatz zu allen bekannten höheren Säugetieren das sogenannte biologisch-demografische Paradoxon [2] : Dies besagt, etwas vereinfacht, dass Menschen, wenn es ihnen bereits sehr schlecht geht, c.p. umso mehr Kinder bekommen, je schlechter ihre materielle Lage ist. Dieses Paradoxon gilt nur für den ärmsten Teil der Welt (und oft unter Kriegsbedingungen). Blättern Sie hier einmal zu Kapitel 2.2 zurück: Dann wird Ihnen im linken Teil von Abbildung 2.2 auffallen, dass in Deutschland gerade im II. Weltkrieg sehr viele Kinder geboren wurden. Das biologisch-demografische Paradoxon ist insoweit zu relativieren, als dass z.B. die Geburtenraten in allen osteuropäischen Ländern nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kollabierten. Diese Länder bzw. die meisten in ihnen lebenden Menschen waren zu keinem Zeitpunkt arm oder verzweifelt genug, um das biologisch-demogra‐ fische Paradoxon zu begründen. Aktuelle UN-Prognosen gehen davon aus, dass sich die afrikanische Bevölkerung bis zum Jahr 2100 c.p. in etwa vervierfachen wird (die durchschnittliche Wachstumsrate für diese Prognose beträgt dabei nicht einmal 2% pro Jahr): Es sollte damit einleuchten, dass Einsatz vonnöten ist, um Menschen dort, wo sie leben, eine menschenwürdige Existenz zu ermöglichen. An dieser Stelle sei Ihnen die Lektüre der Rede „Afrika hat eine Vision“ empfohlen, die der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler beim Symposium „Zukunftswerte - Verantwortung für die Welt von morgen“ am 9. April 2018 in Hamburg gehalten hat. [3] Wenn es uns also nicht gelingt, diese Länder der untersten Milliarde, von denen sich die überwiegende Mehrzahl in Afrika, im Nahen Osten und in Zentralasien befindet, zu stabilisieren, werden wir dafür in mehreren Hinsichten (Stichworte unerwünschte Migration, Krankheitsverbreitung und Terrorismus) spätestens mittelfristig einen hohen Preis für unser Wegschauen bezahlen. Tatsache ist, dass es den meisten der inzwischen etwa 5 Milliarden Menschen „in der Mitte“ Anfang der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts materiell bedeutend besser geht als gegen Ende des Kalten Krieges vor etwa 30 Jahren. Das quantitativ und qualitativ mit Abstand beeindruckendste Land für das „Herausholen“ von Menschen aus tiefster materieller Armut stellt fraglos China dar. Sie dürfen allerdings bezweifeln, dass die Menschen - nicht nur in China - in den vergangenen 20 oder 30 Jahren zufriedener oder glücklicher geworden sind. Während vor mehr als 40 Jahren fast alle Chinesen fast gleich arm waren, haben heute viele etwas zu verlieren und in etwa ebenso viele etwas für sich oder ihre Kinder nachzuholen. Machen Sie sich in diesem Zusammenhang die in Deutschland offiziell verwendete relative Armutsdefinition und die Wertaussage, die dahinter steckt, klar: Als „arm“ gilt bei uns jemand, dessen Einkommen weniger als die Hälfte des Durchschnitts‐ einkommens beträgt, als „armutsgefährdet“, wer auf weniger als 60 Prozent davon Einführung 246 <?page no="247"?> kommt. [4] Hier wird primär auf psychologische und Aspekte des Sozialstatus abgestellt: Standardargument gegen diese „Definition“ ist, dass die Armen immer noch arm blieben, wenn jedes Mitglied unserer Gesellschaft z.B. 1.000 Euro pro Monat vom Staat oder wem auch immer „geschenkt“ bekäme. In den folgenden Ausführungen werden wir uns mehr auf von der Weltbank und vom IWF verwendete absolute Kriterien zur Kategorisierung eines Landes beziehen. Der Begriff „absolute Armut“ wird hier gemäß einer „Definition“ der Weltbank verwendet. In solch absoluter Armut lebt demnach, wer weniger als 1,90 US-Dollar Kaufkraft am Tag zum Leben hat. Dabei ist die überwiegende Anzahl von absolut oder relativ Armen nicht in den Ländern der untersten Milliarde zu Hause, sondern in den Ländern, die zumeist als sich entwickelnde Volkswirtschaften kategorisiert werden. Andererseits ist die Weltarmut in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zurückgegangen: Im Jahr 1981 lebten 44 Prozent der Weltbevölkerung in absoluter Armut, im Jahre 2012 waren es nur noch 12,7 Prozent. [5] In Teilen der Welt ist bzw. war sie inzwischen (fast) vollständig verschwunden. [6] Ob die Corona-Krise diesen Trend mittelfristig unterbricht oder ob es sich nur um eine kurze „Delle“ handelt, in der die Armen in den (entwickelten) OECD-Ländern wie in den weniger entwickelten Ländern wieder zurückgeworfen werden, muss mit unserem heutigen Wissen Spekulation bleiben. Wie die relative Armut ist auch das Konzept der absoluten Armut angreifbar. So sagen Ihnen die in US-Dollar konvertierten Werte wenig über die tatsächliche Kaufkraft (vgl. hierzu den Exkurs zum BIP in Teil I) und die für die Menschen unvermeidlichen Kosten aus. Eine der großen Fragen der folgenden ein oder zwei Dekaden wird sein, ob es China gelingen wird, aus der aktuellen Transitionsperiode von einer investitions- und exportgetriebenen Volkswirtschaft in ein neues Wachstumsmodell, das in die erste Welt führt, zu gelangen. Ein gesondertes Kapitel ist in diesem Text Russland gewidmet, ohne das es mittelfristig weder eine europäische Sicherheitspolitik noch eine sichere Energieversorgung geben wird. Hier sei ein wiederholtes Mal betont, dass es langfristig im Interesse Deutschlands bzw. Europas sein muss, zu Russland stabile wirtschaftliche Beziehungen zu pflegen, und dass dies aus heutiger Sicht, zumindest mittelfristig, primär nur auf Basis eines Tausches „Technologie bzw. hochwertige Waren gegen Rohstoffe“ geschehen kann. Insoweit sind Überlegungen, die Quellen der Energieversorgung Europas zu diversifizieren, sinnvoll, weitergehende Vorstellungen, sich von Russland vollständig unabhängig zu machen, aber in mehrfacher Hinsicht nicht nur nicht zu Ende gedacht, sondern schlicht „kreuzgefährlich“. Als Alternativen stelle man sich ein Russland, das in politischer Anarchie versinkt bzw. Russland als einen Satellitenstaat Chinas und die daraus ableitbaren Konsequenzen für Europa vor. Last but not least werden wir uns dem „großen Spieler“ der Weltwirtschaft und -politik, den USA, und ihren Gestaltungsmöglichkeiten und ihrem Gestaltungswillen widmen. Das betrifft sowohl die US-Regierung, deren Politik sich in den vergangenen 120 Jahren zwischen den Extrema von starkem internationalem Engagement (Stich‐ Einführung 247 <?page no="248"?> wort Weltpolizist) und selbstverordneter Isolation bewegte, als auch den weltweit dominierenden Einfluss der US-amerikanischen Software- und Internetfirmen. Auf politischer und ökonomischer Seite betrifft dies primär die Frage, ob und inwieweit US-Präsident Joe Biden die Handelspolitik seines Vorgängers Donald Trump (die nicht nur die beiden großen Handelsabkommen TPP und TTIP fürs Erste ins Abseits befördert hat) weiterführt oder (teilweise) korrigiert. Parallel dazu werden wir die bereits erwähnten Big Five, die weitgehend unabhängig voneinander eigene Agenden verfolgen und damit unser Leben, unsere Gewohnheiten und unsere Werte in einer neuartigen Geschwindigkeit verändern, als Exponenten der amerikanischen Hightechbzw. Internetindustrie im Auge behalten. Japan, die drittgrößte nationale Volkswirtschaft weltweit, wird in diesem Buch nicht ausführlich besprochen. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Japan derzeit mit ca. 44,1 Mrd. Euro nicht zu den wichtigsten (Handels-)Partnern Deutschlands zählt („nur“ Platz 15 der aggregierten Im- und Exporte im Jahr 2018). Tatsächlich „lebt“ Japan aber in vielerlei Hinsicht ein Gesellschaftsmodell, von dem wir viel lernen können. Dies betrifft die Antworten der japanischen Gesellschaft, eine schrumpfende Gesellschaft zu gestalten, Strategien zur Integration von Auslän‐ dern, die Ausweitung der Lebensarbeitszeit und Schulden des öffentlichen Sektors. Die Behandlung all dieser Probleme ist mit der konfuzianisch geprägten „Disziplin“ der japanischen Bevölkerung verbunden: Obwohl es z.B. kaum Mülleimer gibt, sind japanische Straßen so sauber, dass man sprichwörtlich von ihnen essen kann. Als „Einstiegslektüre“ seien Ihnen das Heft zu Japan aus der Reihe „SPIEGEL Geschichte“ (2011) sowie das Buch von Wieland Wagner „Abstieg in Würde“ (2018) empfohlen. Zum Ende dieses dritten Teils und damit des Buches werden wir uns dem Zustand der Europäischen Union Ende des Jahres 2020 widmen und versuchen, die Möglich‐ keiten und Grenzen von nationalstaatlicher deutscher Wirtschaftspolitik sowie die Möglichkeiten seitens einer sich nicht nur mit sich selbst beschäftigenden EU zu beschreiben und daraus einige Konsequenzen ableiten. Wir werden dabei diverse vermutlich relativ unspektakuläre Schlussfolgerungen für die Gesellschaft und für uns Individuen formulieren, die aber offensichtlich nicht jedermann sofort ins Auge springen. Einführung 248 <?page no="249"?> 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde Im Folgenden werden wir uns mit den wichtigsten unterschiedlichen Klassifizierungen der Länder der Erde gemäß ihrer sozialen, politischen und ökonomischen Beschaffen‐ heit bzw. ihres Reifegrades und dem Hintergrund sowohl des Aufstieges zahlreicher Emerging Markets nach dem Ende des Kalten Krieges als auch ihres derzeitigen „Hängenbleibens“ in der mittleren Einkommensfalle vertraut machen. Wir werden dabei Pfade der realwirtschaftlichen Entwicklungen von Indien über Brasilien nach China erläutern und am Beispiel einer „Investment Story“ sehen, dass unser Denken und unsere Wahrnehmung mehr als notwendig verzerrt sind und dass wir uns selbst und anderen gegenüber, die sich zu fernen Ländern äußern, eine kritische Distanz einnehmen sollten. 11.1 Klassifizierungsansätze von Ländern gemäß ihres wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstandes Bis zum Ende des Kalten Krieges war es weitgehend Konsens in der westlichen Welt, zwischen der ersten Welt, also den entwickelten Staaten Nordamerikas, West- und Nordeuropas, Japan, Australien und Neuseeland, der zweiten Welt, d.h. den Staaten des von der Sowjetunion angeführten Ostblocks, und der dritten Welt, vulgo, dem Rest, zu unterscheiden. Diese Kategorisierung entstand in den 1950er Jahren in den USA. Abb. 11.1 zeigt diese drei früheren „Teilwelten“. In der dritten Welt, die sich zu einem großen Teil in der Vereinigung der Blockfreien Staaten organisierte, fand bis Ende der 1980er Jahre zudem ein Wettlauf zwischen West und Ost statt, das eigene Modell zu exportieren und damit machtpolitische Sphären abzustecken bzw. zu erweitern. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem vorläufigen Ende der Geschichte, um den Titel des berühmt gewordenen Buches von Francis Fukuyama zu zitieren [7] , vergingen ca. zwanzig Jahre bis die verbliebene erste Welt in der ehemaligen dritten Welt wieder vor einer neuen kulturell und wirtschaftlich geführten Auseinandersetzung steht. <?page no="250"?> Abb. 11.1: Erste, zweite und dritte Welt bis zum Ende des Kalten Krieges ca. 1990 Legende: blau: 1. Welt, rot: 2. Welt, grün: 3. Welt (Quelle: Wikipedia [8] ) Die Herausforderung für die westliche Welt kommt diesmal aus China, das nicht nur über große langfristige Wirtschaftsverträge mit zahlreichen afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern verfügt, sondern auch kulturell „angreift“. Von den weltweit mehr als 500 Konfuzius-Instituten [9] befinden sich bereits ca. 50 in Afrika, zukünftige afrikanische Eliten werden zum Studium nach China eingeladen. Ein prominentes Beispiel ist der von 2013-2018 amtierende äthiopische Bundespräsident Mulatu Teshome, der bereits in den 1980er Jahren in Peking studierte. Die heutzutage vorherrschende klassische Klassifizierung bezüglich des ökonomi‐ schen und sozialen Entwicklungsstandes eines Landes besteht in der Unterteilung in ■ entwickelte Länder ■ Entwicklungsländer und ■ niedrig(st) entwickelte Länder Zumeist wird diesbezüglich auch in der deutschen Literatur die englische Terminologie verwendet, die zwischen Developed Countries, Developing (oder Emerging) Countries und Less und Least Developed Countries unterscheidet, eine Klassifizierungsbzw. Bezeichnungsweise, die auch in diesem Text verwendet wird. Angemerkt wurde bereits, dass sich die Anzahl und damit die Vertreter der als entwickelt betrachteten Länder seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kaum verändert haben: Von den etwa 190 Ländern, deren Entwicklung vom IWF analysiert wird, wurden im Jahre 2019 lediglich 39 Länder (darunter San Marino) als „entwickelt“ eingestuft. [10] Dies korrespondiert mit der sogenannten Middle Income Trap, deren Konzeption auf relativ neuen empirischen Beobachtungen basiert. Fast alle Entwicklungsländer 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde 250 <?page no="251"?> hängen nach einer stürmischen investitionsgetriebenen Entwicklungsphase, in der der Aufbau von wettbewerbsfähigen Industriezweigen und die Einbettung in den Welthandel die Massenarmut stark reduzierte und es zum Entstehen einer Mittelschicht kam, fest. Die Gesellschaften sind nach dieser Aufschwungphase im Allgemeinen durch unzureichende Investitionen, eine geringe industrielle Diversifizierung, ein insgesamt unzureichendes Bildungssystem und relativ schlechte Arbeitsbedingungen charakterisiert. In diesem Zusammenhang empfiehlt sich ein Vergleich von Individuen und Gesell‐ schaften: Ihr - hier unterstellter - Wille, beruflich Karriere zu machen, verehrte Leserin oder verehrter Leser, und Ihre Bereitschaft, dafür hart zu arbeiten, genügen dafür allein nicht: Dafür sind Fähigkeiten und Fleiß als notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen, und zumeist auch eine gehörige Portion Glück erforderlich. Dieses Glück hatten zahlreiche afrikanische Staaten in den 1990er und 2000er Jahren nicht (mehr): Sie kamen zu spät, die Weltmärkte für ihre (möglichen) Produkte waren schon von asiatischen Nationen besetzt bzw. vom Westen versperrt. Anders sieht es bei vielen Entwicklungsländern in der Middle Income Trap aus: Hier geht es vor allem um das organisatorische und technische Vermögen verbunden mit institutionellen Voraussetzungen (bzw. deren Abwesenheit) für eine weitere positive wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Literaturtipp: Das Peter-Prinzip besagt, dass jedes Mitglied einer ausreichend komplexen Hierar‐ che so lange befördert wird, bis es das Maß seiner Unfähigkeit erreicht hat, welches im Normalfall mit dem Maximum der Karriere zusammenfällt. Die sehr zahlreiche Leserschaft des 1969 erstmals verlegten Buches teilt sich bis heute in diejenigen, die das Buch [11] primär für eine gelungene Satire halten, und den größeren Rest, der es mehr oder weniger wörtlich nimmt. Unabhängig davon, welche Partei Sie im Zweifel ergreifen, sollten Ihnen einige interessante Analogien zwischen Individuen und Gesellschaften auffallen. Weitgehender Konsens besteht hinsichtlich der Bedeutung inklusiver Institutionen, die in den Developing Countries zumeist nicht oder nur rudimentär entwickelt sind. Die Rolle bzw. Bedeutung von Demokratie als notwendige Voraussetzung für eine dauerhafte Mitgliedschaft im Klub der ersten Welt wird indes deutlich kritischer dis‐ kutiert (z.B. Acemoglu & Robinson [12] vs. Landes [13] bzw. Morris [14] ). Hier lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Staatsverständnis des in Großbritannien ausgebildeten legendären Singapurer Staatsvaters Lee Kuan Yew, der stets Disziplin über Demokratie stellte. Die vom Internationalen Währungsfonds IWF (englisch: International Monetary Fund) gewählte Unterteilung unterscheidet zwischen fortgeschrittenen Volkswirt‐ schaften (Advanced Economies), Volkswirtschaften im Übergang (Economies in Tran‐ 11.1 Klassifizierungsansätze von Ländern gemäß ihres wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstandes 251 <?page no="252"?> sition), geringer entwickelten Volkswirtschaften (Less Developed Countries) und niedrigst entwickelten Volkswirtschaften (Least Developed Countries). Die Weltbank sieht - etwas unschärfer - ein mittleres Einkommen pro Kopf und Land bei mit als konstant angenommen Preisen aus dem Jahre 2011 im Intervall zwischen ca. 10.000 US-Dollar bis 2.000 US-Dollar. Als Less Developed Countries werden in dieser Einteilung Länder mit einem durchschnittlichen BIP pro Kopf (englisch: GDP per capita) und Jahr zwischen 1.500 US-Dollar und 5.000 US-Dollar betrachtet. Die Least Developed Countries sind folglich durch ein durchschnittliches jährliches BIP pro Kopf von weniger als 1.500 US-Dollar charakterisiert. Das eigentliche Pro‐ blem besteht hier indes darin, dass wir über keinerlei brauchbare Informationen zu Einkommensverteilungen in Ländern wie Afghanistan, Syrien, Libyen, Somalia und den zahlreichen weiteren Ländern dieser ärmsten Kategorie verfügen. Die Weltbank ist diesbezüglich ehrlich geworden, indem sie zahlreiche statistische Kennziffern wie den Gini-Index für diese Länder gar nicht mehr angibt oder zu raten versucht. Tatsächlich gibt es eine große Anzahl von Ländern, die als Least Developed eingestuft werden: Dass Definitionen bzw. Ermessensspielräume bei der Klassifizierung eine, wenn auch relativ geringe, Rolle spielen, sehen Sie, wenn Sie die Darstellungen der UNO mit der Darstellung der Weltbank vergleichen. [15] Abb. 11.2 neu: Die Länder der untersten Milliarde im Jahr 2020 (Quelle: Canuckguy auf Wikipedia) https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Am_wenigsten_entwickelte_L%C3%A4nder#/ media/ Datei: Least_Developed_Countries_map.svg Abb. 11.2: Die Länder der untersten Milliarde im Jahr 2019 (Quelle: UNCTAD [16] ) Als gute wie schlechte Nachricht zur untersten Milliarde, die in diesen zuletzt 47 be‐ treffenden Staaten lebt, kann vermutlich gelten, dass die meisten dieser Länder relativ klein sind. Leider gilt das auch für die wenigen Länder, die den Fallen entkommen konnten (in Abb. 11.2 die grün gekennzeichneten Länder Botswana, Äquatorialguinea und ein paar vom Tourismus profitierende Inselstaaten). 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde 252 <?page no="253"?> Zur Beschaffenheit von Landkarten Die meisten Länder der untersten Milliarde befinden sich offensichtlich in Afrika. Tatsächlich haben aber die meisten von uns eine Vorstellung von der Größe Afrikas, die weit an der Realität vorbeigeht. Die Ursache dafür ist, dass wir in Europa zumeist Weltkarten mit einer normalen Mercator-Projektion verwenden. Diese bildet die Oberfläche der Erdkugel auf einer zweidimensionalen Fläche ab und verzerrt damit die Form. So erscheint z.B. Grönland auf einer Mercator-Karte deutlich größer als es ist und Afrika, das mit mehr als 30 Mio. km 2 über ca. 22% der Landfläche der Erde verfügt, viel kleiner. Perception remains reality: Schauen Sie sich einmal Weltkarten aus den USA, China oder Australien an, dann wird Ihnen auffallen, dass die Größenverhältnisse der Weltteile dort jeweils andere sind als auf unseren „gewohnten“ Weltkarten. Eine von den bisher gesehenen politisch-volkswirtschaftlichen Kategorisierungen abweichende betriebswirtschaftlich motivierte Unterscheidung von Ländern, die für nichtstaatliche Unternehmen im Verbund mit einer PESTEL-Analyse durchaus brauch‐ bar ist, nehmen Wild und Wild (2014) [17] vor. Sie unterschieden für die ca. 7 Milliarden Menschen auf der Erde (Stand 2014) drei Marktformen: i. Entwickelte Märkte mit ca. 1 Milliarde Menschen sind dadurch gekennzeich‐ net, dass es in ihnen eine stabile Mittelklasse gibt und Menschen bzw. Konsu‐ menten prinzipiell jedes Produkt, das sie erwerben wollen, auch erwerben können. ii. Emerging Markets oder aufstrebende Märkte mit etwa 2 Milliarden Menschen, die versuchen, zu den entwickelten Nationen aufzuschließen. iii. Traditionelle Märkte mit etwa 4 Milliarden zumeist auf dem Lande lebenden Menschen, die durch Armut und Korruption charakterisiert sind. Beachten Sie, dass all diese Klassifizierungen statischer Natur sind. Im Exkurs zu diesem Kapitel werden Sie mit den Grundideen von Immanuel Wallersteins „Modern World Theory“, die den Auf- und Abstieg von Nationen im Zentrum ihrer Betrachtungen hat, bekannt gemacht. PESTEL-Analysen Der Begriff PESTEL ist ein Akronym: Die PESTEL-Analyse ist eine Erweiterung der PEST-Analyse und damit ein Standardverfahren im Internationalen Management: Die Organisation von Wert(schöpfungs)ketten (englisch: value chains) erfordert insbesondere bei Multinational Corporations, die in einer Vielzahl von Ländern als Hersteller und Anbieter aktiv sind, eine präzise Analyse der Political-, Economic-, Sociological-, Technological-, Ethical- und Legal-Bedingungen: 11.1 Klassifizierungsansätze von Ländern gemäß ihres wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstandes 253 <?page no="254"?> P: E: S: T: E: L: Wenn ein Land also keine „günstigen“ PESTEL-Einschätzungen erhält, wird es von Investoren gemieden und fällt somit noch weiter im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern oder Least Developed Countries zurück. Es kommt also aus der „Falle“ nicht heraus. Typische Inhalte einer PESTEL-Analyse sind: erwartete wie aktuelle branchenrelevante Gesetzgebung, Steuergesetzgebung, Regulierung des Kapitaltransfers, politische Stabilität Entwicklung relevanter volkswirtschaftlicher Indikatoren, Wirtschaftszyk‐ len, Arbeitslosigkeit, Ressourcenverfügbarkeit, Schlüsselindustrien, Bran‐ chenstrukturen Einkommensverteilung, Mobilität, Bildungsniveau, Konsumentenverhalten, Sparverhalten vorhandenes technologisches Niveau der Wirtschaft im Allgemeinen, staatli‐ che und privatwirtschaftliche Ausgaben und Einrichtungen für Forschung und Entwicklung, Lebenszyklusphase von Produkten Ethik- und Corporate Governance-Kodizes axiomatisches vs. case-based Rechtssystem, Hierarchie von rechtlichen Ebe‐ nen (Überschneidungen mit P/ political) 11.2 Unternehmen vs. Staaten Nie in der Geschichte zuvor sind Unternehmen so mächtig gewesen wie in der Gegen‐ wart. Dies betrifft nicht nur die US-amerikanischen Internetgiganten Amazon, Apple, Facebook, Google und Microsoft, sondern ebenso chinesische „Tech-Schwergewichte“ wie Huawei, Alibaba, Tencent, aber auch einige Vertreter der „Old Industries“. Auch Unternehmen wie Royal Dutch Shell, ExxonMobil und Walmart haben eine größere finanzielle Schlagkraft als viele Nationalstaaten. Ganz neu ist hoch konzentrierter Reichtum (in Verbindung mit Macht) aber nicht: So gab es bereits in der Renaissance Familien wie die Fugger und ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert die Rothschilds, die über Jahrzehnte bis Jahrhunderte wesentlichen Einfluss auf Volkswirtschaften hatten. Jakob Fuggers (1452-1525) Vermögen wird kaufkraftangepasst auf ca. 400 Mrd. US-Dollar hochgerechnet: Er wäre somit der reichste Mensch der uns bekannten Geschichte gewesen. [18] 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde 254 <?page no="255"?> 2 Vgl. auch den Exkurs zu Kapitel 6. Steueroptimierung in einer globalisierten Welt Old-Industry-Vertreter IKEA und New-Industry-Flaggschiff Apple Inc. haben nicht nur ähnliche Wertschöpfungsprozesse in Ländern unterschiedlichster Entwick‐ lungsstadien: Beide Unternehmen waren und sind auch sehr „kreativ“, was die legale Reduktion ihrer Steuerlast betrifft. Apple verwendet eine Finanzholding mit Steuerprivilegien in Irland, während IKEA als öffentliche Stiftung in den Niederlanden firmiert. Die IKEA-Möbel werden weitgehend von Subkontraktoren hergestellt, wobei die Geldflüsse von der Finanzholding INGKA in den Niederlanden kontrolliert werden. Diese Finanzholding ist wiederum zu 100 Prozent im Besitz der INGKA public utility foundation, die mit Steuerprivilegien ausgestattet ist. Mit einem Wert von ca. 36 Mrd. US-Dollar (Stand 2018) dürfte die INGKA-Stiftung die größte öffentliche Stiftung weltweit sein. Der Hauptzweck der Stiftung ist es indes, Investitionska‐ pital für die IKEA Group, die tatsächlich Möbel verkauft und das internationale Netzwerk aus Herstellern und Service-Partnern betreibt, zur Verfügung zu stellen. Die Inter IKEA Holding, die die Brands, Lizenzen und Patente der IKEA Group kontrolliert, ist nun in den Niederlanden registriert, befindet sich aber im Besitz einer Stiftung der IKEA-Gründerfamilie, die in Vaduz, Liechtenstein, registriert ist. Seit Mitte der 2010er Jahre sehen wir sowohl seitens der US-Regierung wie auch der EU verstärkte Anstrengungen, die Großkonzerne mit zum Teil abenteuerlichen Steuerkonstruktionen zum Zahlen von Steuern zu zwingen. Nicht überraschend sind nicht alle diese Versuche erfolgreich, wie die gerichtliche Annulierung der Rekordsteuernachzahlung von Apple in Irland im Juli 2020 zeigte. [19] Insgesamt scheint seit einigen Jahren dies- und jenseits des Atlantiks aber die Überzeugung gereift zu sein, dass das Primat der Politik zurückerobert werden muss. Es sind somit wiederum die Produktivkräfte und die Kostenstrukturen (d.h. hohe Fixkosten, die zumeist Sunk Costs sind, und niedrige variable Kosten), die gerade Unternehmen der Datenindustrie, der Pharmakologie und der Ressourcenextraktion so groß und mächtig haben werden lassen. [20] Unterschiedlich ist im Gegensatz zu Vertretern der existierenden Old Economy allerdings der Hang einiger Internetunternehmer bzw. Unternehmen, die Welt bzw. die Menschen in ihrem Sinne positiv gestalten oder missionieren zu wollen. 2[21] 11.3 Zum Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion Die 1990er Jahre waren aus westlicher Perspektive die goldenen Jahre zwischen dem Ende des Kalten Krieges und einer „neuen Zeitrechnung“, die am 11. September 2001 11.3 Zum Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 255 <?page no="256"?> 3 Einen „Eindruck“, wie sich u.a. Anfang der 1990er Jahre in Moskau die Leichen stapelten, weil die Menschen die Beerdigungen ihrer verstorbenen Familienmitglieder nicht bezahlen konnten, können Sie im GEO-Epoche Heft „1989. Europas Schicksalsjahr und seine Folgen“ gewinnen. mit dem Angriff von Al Qaida-Terroristen auf Washington und New York begann. Die Wahrnehmung dieser 10 Jahre war und ist zweifellos eine ganz andere in Russland und in China. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwand der Staat in Russland für viele Jahre als Ordnungsmacht. Wenn seit Anfang 2016 in Deutschland über rechtsfreie Räume und No-go-Areas diskutiert wird, gibt Ihnen das nicht einmal den Ansatz eines Verständnisses der Situa‐ tion in den 1990er Jahren in Russland und den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken. Innerhalb weniger Jahre fand in Russland die vermutlich größte Umverteilung von Vermögen in der Weltgeschichte statt. Sogenanntes Volks- oder besser Staatsvermögen wanderte in die Hände der Oligarchen, von denen Fußballklub Chelsey London-„Be‐ sitzer“ Roman Abramowitch und „Putin-Kritiker“ Michail Chodorowski, ehemaliger Yukos-Chef, Gefängnisinsasse und derzeit in der Schweiz lebend, die bekanntesten sind. Im Jahre 2000, zu Beginn der ersten Präsidentschaft Wladimir Putins und damit bereits 10 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, betrug das in US-Dollar konvertierte Bruttoinlandsprodukt der 146 Millionen Russen weniger als das der 8 Millionen Österreicher. [22] Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion befand sich Russland mehr als 10 Jahre im Zustand politischer und wirtschaftlicher Anarchie. Mit der Auflösung der Sowjetunion Ende Dezember 1991 wurden am 2. Januar 1992 die Preise freigegeben mit der Folge, dass Ende 1992 Milch 49-mal so viel und Brot 44-mal soviel kostete wie am Anfang des Jahres. 1993 wurden in Russland doppelt so viele Morde berichtet, wie in den USA und die Lebenserwartung der russischen Männer sank bis Mitte der 1990er Jahre auf 58 Jahre. 3 Denken Sie in diesem Zusammenhang an die bereits angesprochenen Forschungs‐ ergebnisse von Angus Deaton zur Entwicklung der Lebenserwartung der unteren weißen Mittelklasse in den USA seit Ende der 1990er Jahre: Mit dem Verlust der Arbeit und des Selbstrespektes sterben Männer überproportional häufig an Ursachen wie Selbstmord, Drogentod nach Überdosis oder an Krankheiten, die in Verbindung mit Alkoholmissbrauch stehen. Dies war übrigens auch - in viel kleinerem Maßstab und sozial abgefedert - in den Neuen Bundesländern in den beiden Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung der Fall. Während in Russland quasi über Nacht Milliardenvermögen entstanden, wurden Gehälter und Renten nicht mehr gezahlt und Korruption, Gewalt und bitterste Armut nahmen bisher unbekannte Ausmaße an: Diese Entwicklung fand praktisch in allen ehemaligen Sowjetrepubliken statt: In Mittel- und Zentralasien wendeten sich die ehemaligen regionalen kommunistischen Machthaber zu Nationalisten ihrer jewei‐ ligen neu gegründeten Republik. Besondere Berühmtheit erreichten hier der 2006 verstorbene Turkmenbaschi Saparmyrat Nyyazow aus Turkmenistan und Nursultan Nasarbajew aus Kasachstan. 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde 256 <?page no="257"?> Die Vorstellung, dass die europäischen Sowjetrepubliken diese Transitionsphase „zivilisierter“ absolvierten, ist weitgehend irrig. Moldawien und die Ukraine werden immer noch von teilweise kriminellen wirtschaftlich-politischen Strukturen dominiert, Weißrusslands Alexander Lukaschenko gilt als letzter Diktator Europas. Noch zu Beginn der 2000er Jahre - als ich bereits mehrere Jahre im Baltikum tätig war - waren in Lettland bittere Armut wie Prostitution überall sichtbar und es verhielten sich zahlreiche Polizisten wie Wegelagerer. Im fast ganzen zusammengebrochenen Sowjetreich wurden Institutionen wie Oberste Gerichtshöfe in die Unabhängigkeit entlassen, bevor sie reformiert wurden. Darunter leidet bis heute nicht nur die Ukraine. Die „Privatisierung“ des sowjetischen bzw. russischen Staatsvermögens wurde im Wesentlichen aufgrund von Empfehlungen von Goldman-Sachs und des IWF durch US-amerikanische Investmentbanken organi‐ siert und gemanagt; der russische Rubel wurde fest an den US-Dollar gekoppelt und Russland fiel innerhalb weniger Jahre von einer Supermacht zu einem ökonomischen Satelliten der USA herab. Das vermutlich berühmteste Zitat von Russlands Präsident Wladimir Putin im Westen ist seine Beschreibung des Zerfalls der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Bevor Sie also über Zustimmungswerte der russi‐ schen Bevölkerung für ihren Präsidenten in Höhe von 75% beim Referendum im Juni 2020 den Kopf schütteln, vergegenwärtigen Sie sich bitte, dass die meisten heute lebenden Russen diese „Chaosjahre“ noch in Erinnerung haben. Es war schlussendlich Wladimir Putin, der den russischen Staat nach Jahren der Anarchie wieder errichtete und der, in dieser Hinsicht wie Mao Zedong in China, die „nationale Würde“ Russlands wiederherstellte. Sehr empfohlen sei Ihnen die Lektüre von Wladimir Putins Autobiografie „First Person“ [23] , für die es im Jahre 2020 (immer noch) keine deutsche Übersetzung gab. Selbige sollte Gründe und Motivationen russischen Staatshandelns (wie auch der berühmt gewordene Vortrag auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahre 2007 [24] ) klarstellen. Während in der Sowjetunion bzw. in Russland erste Auflösungserscheinungen zu erleben waren, zog die chinesische Parteiführung unter dem großen Reformer Deng Xiaoping die entsprechenden Schlussfolgerungen: Sie schlug den Aufstand im Sommer 1989 blutig nieder und bewahrte das Gewaltmonopol der Kommunistischen Partei. Literaturtipp: In der Wendezeit um 1990 gab es in der Tat Diskussionen in den politischen Führungsetagen der „Sieger“, ob und inwieweit die „Weltordnung“ neu gedacht werden sollte. Der Phalanx der westlichen Außenminister James Baker (USA), Sir Douglas Hurd (Großbritannien) und Hans-Dietrich Genscher standen die Staatschefs George Bush sen. (USA), Margaret Thatcher (Großbritannien) und Helmut Kohl gegenüber. 11.3 Zum Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 257 <?page no="258"?> Das Resultat dieser Diskussionen kennen Sie: Die westlichen Institutionen EU und NATO wurden nach Osten verschoben. Sehr empfohlen sei Ihnen hier die Lektüre des Buches „1989“ der amerikanischen Historikerin und Harvard-Professorin Mary Elisa Sarotte. [25] 11.4 Die BRIC(S)-Märkte Investmentfonds brauchen „Stories“: Eine der schöneren neueren Erfindungen der Finanzindustrie jenseits der Derivate, die untrennbar mit dem Ausbruch der sogenann‐ ten Finanzkrise im Jahre 2007 und 2008 verbunden sind und von Warren Buffet als „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ bezeichnet wurden [26] , war um das Jahr 2000 das Konstrukt der sogenannten BRIC(S)-Staaten, wobei es sich hier um ein Akronym für Brasilien, Russland, Indien, China, das später um Südafrika erweitert wurde, handelt. Der Inhalt der „Story“ war, kurz gesagt, dass es sich um eine Gruppe großer Entwicklungsländer handelte, in denen Investitionen aufgrund substanziell höherer Wachstumsraten Erfolg versprechender schienen als in den klassischen entwickelten Ländern. Zwei Jahrzehnte später ist von dieser Story wenig geblieben. Bemerkung: Völlig unabhängig davon, wie sich die Volkswirtschaften von Brasilien, Russland, Indien, Südafrika und China kurzbis mittelfristig entwickeln, werden sie selbst‐ verständlich allein auf Grund der Größe ihrer Bevölkerungen für die Weltwirt‐ schaft bedeutend bleiben müssen. Die BRICS-Staaten sind wirtschaftlich keinesfalls homogen: Während Brasilien, Russ‐ land und zum Teil auch Südafrika bereits von 2014 bis 2017 heftig vom zeitweiligen Niedergang fast aller Rohstoffpreise betroffen waren, um nach einer kurzen Erholung von den Auswirkungen der Corona-Krise (wiederum mit kurzfristigem Zusammen‐ bruch der meisten Rohstoffpreise verbunden, s. Teil II) getroffen zu werden, wächst Indien offensichtlich relativ beständig, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau als China in den vergangenen drei Jahrzehnten. China ist schließlich nach mehr als 30 Jahren stürmischen Wachstums in eine turbulente Phase des Übergangs vom alten extensiven Wachstumsmodell in Richtung moderne Dienstleistungsökonomie eingetreten. Das Akronym BRICS steht also für fünf große Entwicklungsmärkte, für die unter‐ stellt wurde, dass sie die klassischen entwickelten Länder über Jahrzehnte outperfor‐ 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde 258 <?page no="259"?> 4 Praktisch kann man sagen, es stand: Goldman Sachs schloss seinen letzten BRICS-Fond im Jahre 2015. 5 S. auch Statista: Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den BRIC-Staaten in jeweiligen Preisen von 1980 bis 2018 und Prognosen bis 2024 (vgl. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 248577/ umfrage/ bruttoinlandsprodukt-bip-in-den-bric-staaten/ ). men würden. 4 Dabei gab es bezüglich Investments in Russland zu keinem Zeitpunkt ähnliche Argumente wie für solche in den verbleibenden vier Ländern. Außer der Tatsache, dass es sich um die jeweils größte sich entwickelnde Volkswirtschaft in der jeweiligen Region handelte, hatten und haben Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika bezüglich ihrer wirtschaftlichen Struktur wenig gemeinsam. 5 Gemeinsam haben sie in der Gegenwart allerdings, dass es ihren Volkswirtschaften mit Ausnahme Indiens seit Anfang 2014 insgesamt nicht besser geht als vor 10 Jahren. Die Gründe dafür sind vielfältig: Neben hausgemachten Bürokratie- und Ineffizienzproblemen, steigenden Inlandslöhnen und weltweiten Überkapazitäten sind Russland, Brasilien und auch Südafrika als Exporteure stark von der Entwicklung der Rohstoffpreise betroffen (wenn auch offensichtlich weniger drastisch als z.B. Venezuela, Nigeria und mit Abstrichen selbst Saudi-Arabien) und durch Kapitalflucht gebeutelt. Nachlassendes Wachstum in China und niedriges Wachstum in den entwickelten Ländern, von denen sich Japan und Europa außerdem in einer „Demografiefalle“ befinden, bedeutet, dass der reiche Teil der Welt zukünftig weniger vom ärmeren Teil kaufen wird. Die exportgetriebenen Volkswirtschaften der zweiten Reihe stehen nun vor dem Problem, neue Wachstumsquellen zu erschließen und dabei ihre politische Stabilität zu bewahren. Wir werden uns im Folgenden kurz mit Indien und Brasilien beschäftigen, bevor wir uns ausführlicher Russland und China zuwenden. Die relativ kurzen Ausführungen zu den beiden erstgenannten Staaten sind dadurch begründet, dass weder Indien noch Brasilien von außergewöhnlicher wirtschaftlicher Bedeutung für Deutschland bzw. Kontinentaleuropa sind. Dies ist natürlich eine Perspektive, die bezüglich der ehema‐ ligen Kronkolonie Indien in Großbritannien bzw. mit Blick auf Brasilien aus Portugal zweifellos anders ist. Während China auch 2019 wieder Deutschlands wichtigster Handelspartner war, stellte Brasilien im Jahre 2019 bei insgesamt zeitlich fallender Tendenz für Deutschland lediglich den 27st-größten Exportmarkt und den 32st-größten Importmarkt dar. Indien lag niedrig stabil auf Platz 23 der Exporte und Platz 27 der Importe. [27] 11.4.1 Indien Indien wird in der alten entwickelten Welt oft mit China verglichen: Dies liegt vor allem an den Bevölkerungen, die in beiden Fällen das Volumen aller Erste-Welt-Länder übersteigt. Wie die chinesische Zivilisation ist die indische zudem mehr als 4000 Jahre alt. 11.4 Die BRIC(S)-Märkte 259 <?page no="260"?> Tatsächlich hören die Gemeinsamkeiten hier auch schon fast auf. Obwohl z.B. die Stadt Bangalore oft als Synonym für Informationstechnologie verwendet wird, ist Indien viel weniger in die Weltwirtschaft integriert als China. Das ist bei einer insgesamt schwächelnden Weltwirtschaft und sinkenden Rohstoffpreisen - Indien ist Rohstoffimporteur - mittelfristig für das Land zweifellos nicht nachteilig. Mit geschätzten 1,38 Milliarden Menschen war Indien Ende des Jahres 2019 das Land der Erde mit der zweitgrößten Bevölkerung. Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur noch eine Frage von wenigen Jahren, dass Indien China, das sich durch die Ende der 1970er Jahre eingeführte Ein-Kind-Politik in einer demografi‐ schen Umbruchphase befindet, als bevölkerungsreichstes Land der Erde abgelöst haben wird. Das BIP in Indien wurde im Jahre 2018 auf 2.038 US-Dollar pro Kopf geschätzt: Damit betrug es weniger als ein Viertel des chinesischen Wertes. Der Gini-Koeffizient lag bei der letzten Schätzung der Weltbank von 2018 mit 0,479 zwar niedriger als in China, er deutet aber eine riesige Ungleichheit zwischen den Regionen und innerhalb der Regionen Indiens an. Abb. 11.3 illustriert die Alphabetisierungsrate der indischen Bundesstaaten, die in zeitlich und räumlich hoher positiver Korrelation mit dem Einkommen und in hoher negativer Korrelation mit der Arbeitslosigkeit stehen. Zum Vergleich: Die Alphabeti‐ sierungsrate in China liegt seit etwa zwei Jahrzehnten bei praktisch 100 Prozent. b. 11.3: Alphabetisierung in Indien (Census of India, 2013, Wikipedia) Abb. 11.3: Alphabetisierung in Indien (Quelle: Census of India, Wikipedia [28] ) In Anlehnung an das bereits erwähnte biologisch-demografische Paradoxon gilt, dass die Bundesstaaten mit einem relativ hohen Einkommen durch eine geringere Geburtenquote gekennzeichnet sind. 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde 260 <?page no="261"?> 6 Die korrespondierenden Werte für Deutschland wurden in dieser aggregierten Form bisher nicht angegeben. Deutschland nahm im HDI-Ranking 2019 Platz 4 ein und im Korruptionsindex des Jahres 2018 Platz 9, die Inflation betrug 2019 im Jahresdurchschnitt 1,4%. Das Verhältnis der städtischen zu ländlichen Bevölkerung betrug 2019 77,4 :  22,6. Zur Lebenserwartung und zum BIP vergleiche Kapitel 2. Die folgenden statistischen Daten vermitteln einen kurzen Grundeindruck zur wirt‐ schaftlichen Lage Indiens und den Rahmenbedingungen für westliche Investitionen (Quellen: IMF, Weltbank und Statista). 6 1. Lebenserwartung: 69,4 Jahre (2018) 2. HDI-Rang: 129 von 189 Ländern (2019) 3. Korruptionsindex: Rang 80 von 180 Ländern (2018) 4. Inflationsrate: 3,6 Prozent (2019) 5. Städtische vs. ländliche Bevölkerung: 34 :  66 (2018) 6. Bruttowertschöpfung: Landwirtschaft 14,6 Prozent, Industrie 26,7 Prozent, Dienstleistungen 49,1 Prozent des BIP (2018) Ein direkter Vergleich (im Sinne von Gleichsetzen) der Gesellschaften und Volkswirt‐ schaften Chinas und Indiens ist jenseits der Größe ihrer Ausnahmebevölkerungen, die zusammen mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung darstellen, zumeist nicht zielführend: i. Indiens Bevölkerung ist deutlich heterogener als die Bevölkerung Chinas, die zu mehr als 90 Prozent aus Han-Chinesen besteht. In Indien werden 23 (offizielle) Sprachen gesprochen, ferner sind ca. 13 Prozent der Bevölkerung Moslems, die einer überwältigenden Hindumehrheit gegenüberstehen. Während China seine Minderheiten traditionell positiv diskriminiert (d.h. z.B., dass Vertreter von anerkannten Minderheiten bei Bewerbungen an Universitäten bzw. im öffentli‐ chen Dienst c.p. gegenüber Han-Chinesen bevorzugt werden; dies gilt übrigens auch für die „kooperierenden“ Uiguren), wird die muslimische Minderheit in Indien durch unterproportionale 4 Prozent Abgeordnete in den beiden Kammern vertreten. Die regelmäßig wieder aufbrechenden Spannungen zwischen Hindus und Moslems gehen immer noch auf die überstürzte Auf- und Übergabe der Kronkolonie Indien und deren Teilung in die heutigen Staaten Indien, Pakistan und Bangladesch durch Großbritannien nach dem II. Weltkrieg zurück. Literatur- und Filmtipps: In diesem Zusammenhang seien Ihnen die Lektüre von „India after Gandhi: The history of the world’s largest democracy“ von Ramachandra Guha (2008), das gut lesbare Heft „Geo Epoche“ (2010) zu Indien sowie der Film „Gandhi“ des Regisseurs Richard Attenborough (1982) empfohlen. 11.4 Die BRIC(S)-Märkte 261 <?page no="262"?> ii. Die durchschnittliche Wachstumsrate von 1991 bis 2014 betrug in Indien 6,8% im Vergleich zu 10,5% in China. Dies bedeutet, dass sich die chinesische Wirtschaft innerhalb dieses Zeitraums mehr als doppelt so stark entwickelte wie die indische Wirtschaft. Im Jahr 2018 scheint die indische Wachstumsrate auf einem Niveau von ca 6,8% die chinesische geringfügig überholt zu haben. Die aktuellen Unterschiede im Wachstum sind indes gering und auf absehbare Zeit weitgehend vernachlässigbar, da die wirtschaftliche Basis Chinas fast das Fünffache der indischen Wirtschaft beträgt. iii. Indien ist (noch) deutlich ländlicher geprägt als China. Während im traditionel‐ len Bauernland China inzwischen deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Städten lebt, sind es in Indien nur ca. ein Drittel. iv. Aufgrund der Ein-Kind-Politik und verbesserter Gesundheitsversorgung und Krankenhäuser vor allem in den Städten ist die durchschnittliche Lebenserwar‐ tung in China bei rapide alternder Bevölkerung um fast 10 Jahre höher als in Indien. Es gab seit der Staatsgründung am 17. August 1947 zahlreiche mehr oder weniger verzweifelte und durchweg gescheiterte Versuche, Indien zu modernisieren. Der bekannteste ist dabei fraglos der Versuch von Premierministerin Indira Gandhi, in den 1970er Jahren Massensterilisationen von Männern auf dem Lande durchzusetzen. [29] Der ehemalige deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker erhielt im Jahre 1991 vom indischen Premierminister Shri P. V. Narasimha Rao auf seine Frage, warum so viele Dinge in China funktionierten und in Indien nicht, die bündige Antwort, weil Indien eine Demokratie sei. [30] Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Indiens ist in der Landwirtschaft tätig, die allerdings nur etwa ein Siebentel (s.o.) zum indischen BIP beiträgt, die Industrie ist - abgesehen von Ausnahmen wie dem Autohersteller Tata - zumeist Schwerindustrie (bekannt im Westen ist hier z.B. der international diversifizierte Stahlhersteller Arce‐ lorMittal). Die Platzierung Indiens auf den letzten Rankings des Doing Business Index der Weltbank haben sich, obwohl sie auf den ersten Blick immer noch ernüchternd aussehen, in den vergangenen Jahren stark verbessert: Nachdem Indien 2017 aggregiert auf Rang 100 von 190 beobachteten Ländern lag, nahm es 2020 bereits den 63sten Platz ein. [31] Plastischer wird dies mit Bezug auf die Subrankings im Jahr 2017: Die Gründung einer Firma (Rang 156) und der Erhalt von Baugenehmigungen (Rang 181) waren - euphemistisch ausgedrückt - Herausforderungen, die Durchsetzung von Verträgen (Rang 164) mit westlichen Ethik- und Corporate-Governance-Prinzipien offensichtlich nicht möglich. Die Infrastruktur, d.h. Verkehrswege wie öffentliche Dienstleistungen, befanden sich auf international niedrigstem Niveau, Korruption war weitverbreitet, Wasser- und Elektrizitätsengpässe bzw. -ausfälle gehörten auch in den großen Städten zur Normalität. 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde 262 <?page no="263"?> Insgesamt hat sich die Wahrnehmung Indiens durch westliche Investoren trotz zum Teil grauenhafter Vorkommnisse wie Gruppenvergewaltigungen, über die ab dem Jahr 2012 in den westlichen Medien ausführlich berichtet wurde, deutlich aufgehellt, seit Narendra Modi im Jahr 2014 zum Premierminister Indiens gewählt wurde. Man mache sich in diesem Zusammenhang - gern mit Verweis auf Deutschland oder Frankreich - die Beharrungskräfte innerhalb einer Gesellschaft und die begrenzten Möglichkeiten von Regierungen, Verhalten zu verändern, klar. Beim Human Development Index lag Indien 2018 auf Platz 129 von 185 Ländern (gegenüber Platz 135 vier Jahre zuvor). Es wird im Gegensatz zu Russland (Platz 49), Brasilien (Platz 79) und China (Platz 85) nur in der Kategorie „Medium Human Deve‐ lopment“ geführt, während China und Brasilien unter „High Human Development“ und Russland unter „Very High Human Development“ gelistet werden. [32] Während zahlreiche kleine Länder der untersten Milliarde allein wegen mangelnder Größe von potenziellen westlichen Investoren wenig oder keine Beobachtung erfahren, ist Indien allein aufgrund der Größe seiner Bevölkerung eine kontinuierliche Beobach‐ tung garantiert. Investitionen am indischen Aktienmarkt (abgebildet durch den SENSEX-Index am Mumbai Stock Exchange) waren in den letzten zehn Jahren im Durchschnitt für In- und Ausländer unter Berücksichtigung der Inflation (sowie für Ausländer der Wechselkursentwicklung) insgesamt gesehen zwar relativ wenig ertragreich. Tatsächlich scheint die positive Performance des SENSEX seit Beginn des Jahres 2017 aber kein „Windfall-Profit“ mehr gewesen zu sein, sondern sie stand offensichtlich in kausaler Verbindung mit den ersten sichtbaren Erfolgen der Reformbemühungen der Modi-Regierung. Diese unternimmt in der Tat zahlreiche Anstrengungen zur Liberalisierung von Teilen der indischen Wirtschaft als notwendige Voraussetzung, um ausländische Direktinvestitionen (englisch: Foreign Direct Investment, abgekürzt FDI) anzuziehen, indem sie sich eine Dezentralisierung von Entscheidungen, einen „Competitive Federalism“ (auf Deutsch in etwa Wettbewerb der Regionen) verordnet. So wurden der Eisenbahnsektor wie die Versicherungsindustrie und selbst Unterneh‐ men, die dem Verteidigungssektor zuzuordnen sind, für ausländische Beteiligungen geöffnet. Kampagnen wie „Saubere Flüsse“ oder „98 Smart Cities“ versuchen ferner, die Bevölkerung zusätzlich zu mobilisieren. Die große Frage der folgenden Dekade wird sein, ob es Zentral- und Regionalregierungen gelingen wird, ein Gleichgewicht zwischen ökonomischer Entwicklung und den Bedürfnissen der Landbevölkerung zu bewahren. Während Indien bei einem Altersmedian von ca. 27,8 Jahren (Stand 2019) unter einer „zu jungen Bevölkerung“ - jeden Monat strömen ca. 1 Million Inder auf den Arbeitsmarkt - leidet, ist China mit einer schnell alternden Bevölkerung konfrontiert. Sehr offensichtlich spielt auch die alte politische und militärische Rivalität zwischen Indien und China in der Berichterstattung in der westlichen Welt eine wichtige Rolle: Das Anfang 2020 verabschiedete Gesetz zur Ergänzung des Staatsbürgerrechts, das nicht nur aber vor allem die ca. 200 Millionen Muslime Indiens betrifft, fand in den westlichen 11.4 Die BRIC(S)-Märkte 263 <?page no="264"?> Medien nicht ansatzweise so viel Beachtung wie die politischen Entwicklungen in Hongkong und in der Uiguren-Provinz Xinjiang. Man hört und liest seit Anfang 2015 oft, dass Indien nun durchstarten und „ein zweites China“ werden möge. Die Zukunft wird zeigen, inwieweit diese Hoffnung realistisch ist oder ob sie schlicht aus dem Mangel an Alternativen für profitable Investments weltweit herrührt. 11.4.2 Südamerika und Brasilien Südamerika besteht aus 13 Staaten mit einer Gesamtbevölkerung von ca. 440 Millionen Menschen (Stand Ende 2020). Wenn von Lateinamerika gesprochen wird, handelt es sich um Südamerika, die Karibik und Mittelamerika mit dem bevölkerungsreichsten Staat Mexiko. Statista gab für Lateinamerika im Jahre 2019 eine Bevölkerung von 645 Millionen Menschen an. Die Relationen sind also ähnlich wie zwischen der EU und dem europäischen Kontinent. Die sprachliche Teilung des Subkontinents geht auf den Vertrag von Tordesillas aus dem Jahre 1494 zurück, in dem Papst Alexander VI. die „Neue Welt“ zwischen Spanien und Portugal aufteilte: Die erste Hälfte der Bevölkerung Südamerikas lebt in Brasilien und spricht brasilianisches Portugiesisch, die zweite Hälfte spricht Spanisch (Minderheiten sprechen neben diversen Indiosprachen auch Englisch, Französisch oder Niederländisch). Südamerika ist mit 17.843.000 km 2 in etwa so groß wie Russland. Das nach Brasi‐ lien größte und volkreichste Land ist Argentinien, das wirtschaftlich am stärksten entwickelte des Kontinents ist Chile mit einem BIP pro Kopf leicht unterhalb von 15.000 US-Dollar pro Jahr (Stand 2018). Tatsächlich ist das BIP per capita auch hier nur sehr eingeschränkt aussagekräftig. So wurden die blutigen Unruhen in Chile in den Jahren 2019 und 2020 im Wesentlichen auf die starke wirtschaftliche Ungleichheit im Lande zurückgeführt. Trotz Ressourcenreichtums war Südamerika bis in die späten 1980er Jahre Synonym für schlechte Regierungsführung, Militärputsche etc. Argentinien war vor dem I. Weltkrieg das zweitreichste Land der Welt und nach dem II. Weltkrieg immerhin noch stolze Nr. 4. Danach ging es über Jahrzehnte schlicht nur bergab, bis sich schließlich fast alle südamerikanischen Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges mehr oder minder schnell und intensiv positiv zu entwickeln begannen, allerdings mit einem nun großen Abstand bzw. Aufholbedarf gegenüber den entwickelten Staaten. Die Werte des HDI-Rankings für das Jahre 2018 sprechen eine deutliche Sprache: Chile war nur noch Nr. 42 (nach Nr. 28 im Jahr 2017) weltweit, Argentinien Nr. 48, Uruguay Nr. 54 und Brasilien Nr. 79. [33] Es gilt unverändert die Erkenntnis des ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon: Die Richtung, in die Brasilien geht, bestimmt die Richtung für den gesamten Subkon‐ tinent. Wir werden uns also nun dem größten Land Südamerikas zuwenden. 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde 264 <?page no="265"?> Brasilien ist mit geschätzten 210 Millionen Einwohnern (Stand Ende 2019) nicht nur die größte Volkswirtschaft Südamerikas, es hat auch knapp die Hälfte der Ge‐ samtbevölkerung des Subkontinents. Verglichen mit der Tiefe der Verflechtung der Volkswirtschaften weiter Teile Asiens, Nordamerikas und Europas ist Südamerika zu einem geringen Maße in die Weltwirtschaft integriert. Nordamerika ist für die meisten Südamerikaner schon sehr weit weg und Europa noch deutlich weniger relevant. Nach Jahrzehnten, die durch Militärdiktaturen, Putsche und Hyperinflationen ge‐ kennzeichnet waren, stabilisierte sich Brasilien Anfang der 1990er Jahre. Mit einem BIP pro Kopf von ca. 8.800 US-Dollar im Jahre 2019 verlor Brasilien aufgrund der Wirtschaftskrise und der Abwertung des Real gegenüber 13.237 US-Dollar im Jahre 2011 innerhalb von 7 Jahren ca. ein Drittel des in US-Dollar konvertierten BIP per capita. Somit befindet es sich in einer qualitativ vergleichbaren Situation wie Russland. Tatsächlich ist das in US-Dollar konvertierte BIP per capita aber sowohl Brasilien als auch Russland betreffend noch weit weniger aussagekräftig als die korrespondierenden Werte in Real oder Rubel, da der Großteil der in beiden Ländern produzierten und konsumierten Güter weitgehend unabhängig von jedwedem Wechselkurs ist. Dabei ist von Bedeutung, dass beide Länder stark vom Rohstoffboom in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts profitierten und seit 2015 spiegelsymmetrisch besonders von dessen Niedergang betroffen waren. Jeder zweite Brasilianer gehört heute zur Mittelklasse, das Mindesteinkommen hat sich seit dem Jahre 2003, als der ehemalige Gewerkschaftsführer Luiz Inácio Lula da Silva zum Präsidenten gewählt wurde, verdreifacht. Einige weitere statistische Fakten: (Quellen: World Bank, UN, Statista) 1. Lebenserwartung: 74,67 Jahre (2018) 2. HDI-Rang: 79 von 189 Ländern (2019) 3. Korruptionsindex: Rang 105 von 180 Ländern (2018) vs. 69 von 176 im Jahre 2013 4. Inflationsrate: 3,7 Prozent (2019) 5. Städtische vs. Landbevölkerung: 86,8 :  13,2 (2019) Die über ein Jahrzehnt andauernde Aufbruchstimmung ist spätestens seit Mitte der 2010er Jahre weitgehend verflogen. Dilma Rousseff, die Nachfolgerin von „Arbeiter‐ präsident“ Lula, musste ihr Amt nach 5½ Jahren im August 2016 abgeben. Was das Niveau von Rechtssicherheit, Korruptionsindex und innerer Spaltung Brasiliens betrifft, so ist weitgehend erklärend, dass der vormalige Präsident Lula im April 2018 zu einer 12-jährigen Haftstrafe verurteilt wurde und somit - obwohl c.p. Favorit - nicht an den letzten Präsidentschaftswahlen, die von Jair Bolsenaro gewonnen wurden, teilnehmen konnte. Die aktuelle wirtschaftliche Lage Brasiliens ist wesentlich durch Abstiegsängste der noch jungen Mittelklasse charakterisiert. Brasilien kann somit als ein typisches Beispiel eines Landes, das in der „Middle Income Trap“ gefangen ist, betrachtet werden. Es gelingt dem Land derzeit nicht, aufzuzeigen, wie das Bildungsniveau 11.4 Die BRIC(S)-Märkte 265 <?page no="266"?> 7 Das wichtigste „Produkt“ der geografischen Peripherieländer der EU sind ihre gut ausgebildeten jungen Menschen. Mir hat im Zusammenhang mit den vier Grundfreiheiten der EU noch kein Jurist befriedigend erklären können, warum z.B. Lettland oder Portugal nicht eine Ausbildungspauschale von Deutschland überwiesen bekommt, wenn ein junger Lette oder Portugiese eine gewisse Anzahl der Bevölkerung verbessert werden kann, die hohe Ungleichheit der Einkommen abgebaut und Protektionismus und Bürokratie zurückgedrängt werden können. Dazu kommt noch eine starke Deindustrialisierung, die sich in den Rohstoffboomjahren beschleunigte. Die brasilianische Wirtschaft ist insgesamt als eine halbstaatliche Wirtschaft ein‐ zuschätzen. Der Staat besitzt sowohl große Anteile und auch Einfluss beim Rohstoff‐ konzern Petrobas, der für weite Teile der Bevölkerung Synonym für Korruption und Ineffizienz ist, als auch bei Embraer, dem inzwischen weltweit führenden Hersteller von Mittelstreckenjets. Dies ist nicht der einzige Technologiekonzern Brasiliens: Volkswagen do Brasil gehört bereits seit 1953 zu Brasilien. Exkurs: Wallersteins Modern World System-Theorie Der im Jahr 2019 im Alter von 88 Jahren verstorbene Soziologe Immanuel Wallerstein war einer der wichtigsten Analytiker der Globalisierung. Wallerstein lehnte es ab, Gesellschaften auf der Basis der gegenwärtigen Niveaus von Urbanisierung und Industrialisierung zu beurteilen. Anstelle einer Unterscheidung zwischen z.B. einer ersten, zweiten und dritten Welt schlägt er vor, Staaten bzw. Volkswirtschaften des Kerns, der Semi-Peripherie und der Peripherie zu unterscheiden. Im Kern befinden sich die am meisten entwickelten und industrialisierten und damit wohlhabenden Staaten, in der Semi-Peripherie Länder mit mittlerem Wohlstandsni‐ veau und einem gewissen Grad von Autonomie und wirtschaftlicher Diversifizierung und in den Peripherie-Ländern schwache Staaten mit einer Basis an natürlichen Ressourcen und Landwirtschaft, die weitestgehend von multinationalen Unternehmen des Zentrums und zunehmend der Semi-Peripherie ausgebeutet werden. Zentraler Punkt seiner Analyse ist die Entstehung und Verfestigung globaler Asym‐ metrien. Wallerstein argumentiert, dass durch die Arbeitsteilung zwischen hoch- und weniger produktiven Wirtschaften ein kontinuierlicher Abfluss von Mehrwert aus der Peripherie in das Zentrum entsteht, weil die weniger produktiven Zonen viel mehr Arbeit aufwenden müssen, um für ihre Produkte Güter der hochproduktiven Zonen einzutauschen zu können. Diese Beobachtung gilt übrigens auch für die EU. Seit Beginn der Finanzkrise gibt es wesentliche Wanderungsbewegungen junger Süd- und Südosteuropäer vor allem nach Deutschland und Österreich, in die Schweiz und nach Skandinavien. Demografisch bluten also nicht nur die osteuropäischen Länder, sondern ebenso Teile Portugals, Griechenlands, Spaniens und Italiens aus. 7 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde 266 <?page no="267"?> von Jahren in Deutschland gearbeitet, Steuern bezahlt und einen Wertbeitrag für Deutschland geleistet hat. Nach Wallerstein können Staaten in einer globalisierten Welt wie folgt beschrieben werden: Typ Developed Countries (CORE) Developing Countries/ Emer‐ ging Market Countries/ Newly Industrialized Countries NIC’s (SEMI-PERIPHERY) Least Developed Countries (PERIPHERY) Exis‐ tenz‐ dauer Seit dem 18ten Jahr‐ hundert bis in die Gegenwart, einige Nachzügler wie Ja‐ pan. Ehemalige Entwicklungslän‐ der, ehemalige sozialistische Länder nach dem Zusammen‐ bruch der Sowjetunion und spätindustrialisierte (ab 1970) Länder. Seit dem 18ten Jahrhun‐ dert bis in die Gegenwart (zumeist ehemalige Kolo‐ nien). Charak‐ teristika Frühe industrielle Ba‐ sis für Massenpro‐ duktion in alte Kolo‐ nialmächte und ihren Abkömmlingen wie Australien, Kanada und Neuseeland inkl. USA. Mehrheit der Men‐ schen lebt in Städten, beschränkte Klassen‐ ungleichheit. Inklusive politische Institutionen. Freie Märkte und pri‐ vate Unternehmen. Die Mehrheit bzw. mindes‐ tens ein wesentlicher Teil der Menschen lebt in Städten und hat Zugang zu moderner In‐ frastruktur wie Wasser, Elek‐ trizität, Internet und Bildung. Die Klassenunterschiede sind stärker ausgeprägt als im Kern. Freie Unternehmen oder Staatskapitalismus. Die Mehrheit der Bevölke‐ rung lebt im ländlichen Be‐ reich oder in (Teilen von) Städten ohne moderne In‐ frastruktur. Große Klassenungleich‐ heiten und weitverbreitete absolute Armut. Abwesenheit echter natio‐ naler Identität, zumeist Di‐ katuren. Staats- oder Quasi-Staats‐ unternehmen. Tab. 11.1: Kategorisierung von Staaten in einer globalisierten Welt (Quelle: Wallerstein) Wallersteins Theorie ist dynamisch angelegt; sie erklärt somit auch, warum es Ländern prinzipiell möglich ist, in den Kern aufzusteigen, und warum einige vom Kern in die Semi-Peripherie oder von der Semi-Peripherie in die Peripherie absteigen können. Tatsächlich ist dies aber wie gesehen sehr selten der Fall: Für Wallerstein basiert unser ökonomisches Weltsystem - hier gibt es wichtige Parallelen zu David Graeber, dessen Überlegungen zu Schulden im Exkurs zu Kapitel 14 besprochen werden - auf durch Zwang und Gewalt stabilisierter Ungleichheit. Wallerstein war einer der „wortmächtigsten“ Kritiker des globalen Kapitalismus. Ob dieser wie jedes historische Phänomen untergehen werde, wovon Wallerstein überzeugt war, müßte im Zweifel noch um die Frage, wann und unter welchen Umständen dies möglich sei, regelmäßig ergänzt werden. Exkurs: Wallersteins Modern World System-Theorie 267 <?page no="268"?> Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 11.1: Grenzen Sie konzeptionell die absolute von der relativen Armuts‐ definition ab. Erläutern Sie Vor- und Nachteile beider Konzepte und recherchieren Sie, wie Armut in China und den USA durch deren Regierungen definiert wird. Übung 11.2: Grenzen Sie unter Zuhilfenahme externer Recherchequellen inklu‐ sive und extraktive Institutionen voneinander ab. Übung 11.3: Wie würden Sie konzeptionell vorgehen, wenn Sie mit der Erstellung einer PESTEL-Analyse betraut würden? Informieren Sie sich diesbezüglich in der betriebswirtschaftlichen Literatur. Übung 11.4: Erstellen Sie mithilfe öffentlich verfügbarer Informationen eine PESTEL-Analyse für einen fiktiven deutschen Automobilzulieferer, der in Indien den Bau eines Werkes erwägt. 11 Entwickelte Länder, sich entwickelnde Länder und die Länder der untersten Milliarde 268 <?page no="269"?> 12 Russland Man mag Russland oder man mag es nicht. Dagewesen sind die Wenigsten und wenn überhaupt, dann zumeist auch nur in Sankt Petersburg oder in Moskau: Damit kann ein Großteil der (Be-)Wertungen Russlands in den deutschen Medien zu den Themen Sy‐ rien, Ukraine und Energiesicherheit beschrieben werden. Für eine nüchterne Analyse ist das leider keine gute Voraussetzung. 12.1 Zur geopolitischen Situation im Jahr 2020 : Russland mit Straßennetz (Quelle: Dedering) Abb. 12.1: Russland mit Straßennetz (Quelle: Dedering [34] ) Obwohl Russland das noch immer mit Abstand größte Flächenland der Erde ist, steht es im Schatten seiner untergegangenen Vorgänger, dem russischen Zarenreich und der Sowjetunion. Russland erstreckt sich auf 17.075.400 km 2 , wobei der sibirische oder asiatische Teil 13.100.000 km 2 und damit ca. drei Viertel der Gesamtfläche des Landes einnimmt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fluteten Millionen Menschen aus Sibirien zurück in den europäischen Teil Russlands; Moskau ist derzeit die bevölkerungsreichste Stadt Europas. Die Bevölkerung Russlands betrug Ende 2018 ca. 146,8 Millionen <?page no="270"?> 8 Hier gibt es in der Tat unterschiedliche Dastellungen. In der Angabe von Statista scheinen die 2,35 Millionen Bewohner der Krim enthalten zu sein und damit die „tatsächliche“ Entwicklung anerkannt zu sein, ohne dies auch völkerrechtlich zu tun. Menschen 8 , wobei nur noch etwa 25 Millionen Menschen in Sibirien und von diesen die meisten in den Großstädten Omsk, Tomsk, Novosibirsk, Krasnojarsk, Irkutsk and Wladiwostok lebten. Mit anderen Worten: Sibirien, mehr als dreißigmal so groß wie Deutschland, ist außerhalb seiner wenigen Städte fast menschenleer. Einige statistische Daten zu Russland (Statista, IP Länderporträt): 1. BIP pro Kopf: 11.163 US-Dollar (2019) vs. 8.722 US-Dollar (2016) vs. 15.276 US-Dollar (2013) 2. Lebenserwartung: 72,51 Jahre (2018) 3. HDI-Rang: 49 von 189 Ländern (2019) 4. Korruptionsindex: Rang 135 von 180 Ländern (2018) 5. Inflationsrate: ca. 4,5 Prozent, Tendenz stabil (2019) 6. Städtische vs. ländliche Bevölkerung: 74,6 :  25,4 (2019) Bemerkungen: i) Die in US-Dollar konvertierten Werte zum BIP pro Kopf sind praktisch wertlos, da sie stark positiv zum in US-Dollar notierten Ölpreis und damit zum Wechselkurs zwischen US-Dollar und Rubel korrelieren und wenig mit den Inlandspreisen der meisten Güter zu tun haben. ii) In wenigen Ländern ist die Angabe einer durchschnittlichen Lebenserwartung so sinnlos wie in Russland: Frauen werden hier im Durchschnitt mehr als 10 Jahre älter als Männer (77,81 vs. 67,75 Jahre). Russland muss, unabhängig von seiner relativ beschränkten Wirtschaftskraft - das russische BIP betrug im Jahre 2019 nur 1.638 Mrd. US-Dollar und damit weniger als die Hälfte des Wertes von Deutschland, das über nur ca. 60 Prozent der russischen Bevölkerung verfügt - mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet werden. Russland ist bestimmender geografischer Teil zweier Kontinente und damit politischer Nachbar Europas, Rohstoffgroßmacht und wiedererstarkte konventionelle sowie als Erbe der Sowjetunion nukleare Militärmacht mit immer noch mehr als 10.000 einsatzbereiten Atomsprengköpfen. Die Wahrnehmung Russlands, personifiziert durch seinen Präsidenten Wladimir Putin, spaltet Europa zwischen Staaten und innerhalb von Staaten. Extrema sind hierbei das „russlandfreundliche“ Ungarn und das „russophobe“ Polen, wo der jeweils überwiegende Teil der Bevölkerung den Kurs ihrer jeweiligen Regierung stützt. In Deutschland wie in Frankreich (positiver gegenüber Russland ist die Gesamtstimmung in Südeuropa) stehen sich seit Anfang 2014 die „Putin-Versteher“ weitgehend unver‐ söhnlich den „Atlantikern“ gegenüber. Während also ein Teil Europas keine Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussage von Russlands Präsident Wladimir Putin gegenüber 12 Russland 270 <?page no="271"?> der italienischen Zeitung Corriere della Sera vom 6. Juni 2015 hat: „Ich denke, dass sich nur eine verrückte Person - und die auch nur im Traum - vorstellen kann, dass Russland einen Blitzschlag gegen die NATO führt.“, [35] hält die andere Hälfte dies für eine abgefeimte Lüge. Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und Deutschland Auf den ersten Blick gehört Russland mit Gesamtplatz 13 für Deutschland lediglich zu den Handelspartnern zweiter Ordnung. Deutschland exportierte im Jahre 2019 nur Waren und Dienstleistungen im Wert von weniger als 27 Mrd. Euro nach Russland, während es für knapp 32 Mrd. Euro (zumeist Erdöl und -gas) importierte. [36] Diese absoluten Werte haben sich seit 2016 wenig verändert. Während der Geldwert der deutschen Importe stark vom Rohölpreis abhängt, ist die Entwicklung des Exportgeschäftes nach Russland nach dem großen Einbruch aufgrund der Krim- und der Ukraine-Krise im Jahre 2014 zwar auf niedrigem Niveau stabil, die zukünftige Entwicklung aber mit grundsätzlichen Fragen verse‐ hen. Die Entwicklung der Exporte wird insbesondere von der amerikanischen Umsetzung der erweiterten US-Sanktionen (Stichwort North Stream II) gegenüber russischen und europäischen Unternehmen und den Reaktionen von Bundesregie‐ rung und EU abhängen. Wichtig ist hier der Verweis, dass der Eindruck, der zumeist in den deutschen Medien vermittelt wird, Russland sei nach dem Ausbruch der Krimkrise international isoliert, wenig mit der Realität zu tun hat. Der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping und auch Indiens Premierminister Modi sowie Brasiliens ehemalige Präsidentin Dilma Rousseff nannten Russland - nach Ausbruch der Ukraine-Krise! - wiederholt einen wichtigen Freund und Verbündeten ihrer Länder. Einen guten Eindruck zur Belastbar‐ keit dieser Aussage gewinnen Sie, indem Sie sich die Geburtstagsgrüße des Anführers der größten Demokratie weltweit Ende 2015 an Wladimir Putin anschauen. [37] Wahr ist zweifellos, dass die Sanktionen Russland ökonomisch wehtun (wenn vermutlich auch weniger als das zwischenzeitliche Absacken des Ölpreises im Jahr 2014 und erneut im Frühjahr 2020) und dass der verwehrte Zugang zu westlichen Kapitalmärkten die notwendige technische Modernisierung der russischen Rohstoff‐ industrie behindert. Andererseits ist es wenig wahrscheinlich, den Kurs der russischen Regierung mittels Sanktionen zu beeinflussen. Tatsächlich verfügt Russland nicht nur über eine legendär leidensfähige Bevölkerung, sondern über erhebliche Devisen- und Goldreserven, die in „guten Zeiten“ angespart wurden. Eine einheitliche Strategie der Länder der Europäischen Union gegenüber Russland ist nicht in Sicht, was die polnische und die ungarische Regierung indes nicht hindert, mitunter gemeinsam gegen die EU-Zentrale vorzugehen. Ökonomischer Hauptverlie‐ rer der Sanktionen ist Deutschland (bzw. die deutsche Industrie), das sich in der 12.1 Zur geopolitischen Situation im Jahr 2020 271 <?page no="272"?> 9 Wladimir Putins Verfassungsänderung wurde im Juni 2020 von 78% der teilnehmenden Wähler bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% bestätigt. EU nicht beliebter macht, wenn es, Stichwort wiederum North Stream II, auch hier Alleingänge versucht. Unabhängig von all diesen geopolitischen Turbulenzen stehen wir - dies sind jetzt persönliche Eindrücke und Überzeugungen des Autors dieses Textes - vor einem möglichen Scheidepunkt der russisch-deutschen bzw. -europäischen Beziehungen. Nicht nur bleiben trotz anhaltender Wirtschaftskrise die Zustimmungsraten der rus‐ sischen Bevölkerung für Präsident Putin auf dem in Westeuropa unvorstellbaren Niveau von deutlich über der Hälfte der Bevölkerung. Es sind vor allem die russischen Akademiker, die sich von Europa ungerechtfertigt schlecht behandelt fühlen. Einige russische Universitäten prüfen, Deutsch als zweite Fremdsprache durch Chinesisch zu ersetzen. Um die Tragweite dieser Überlegungen zu verstehen, muss man wissen, dass es derartige Diskussionen nicht einmal nach dem Ende des II. Weltkriegs, der für die Sowjetunion mit mehr als 20 Millionen Opfern verbunden war, gab. 9 12.2 Investitionen in Russland Etwa die Hälfte der russischen Staatseinnahmen hängt derzeit vom Verkauf von Roh‐ stoffen ab: Russlands Aktienmarkt hängt somit - nicht überraschend nach dem bisher Gesagten - an den internationalen Rohstoffpreisen (sowie möglichen verschärften US-Sanktionen). Der Wert von Euro-Investitionen in Russland wird damit sowohl von der Entwicklung der Investments in Russischen Rubel als auch vom Wechselkurs zwischen Russischem Rubel und Euro bestimmt. Ende 2014, ganz unter dem Eindruck der durch die USA und die EU verhängten Sanktionen, stand das russische Finanzsystem offensichtlich kurz vor dem Zusammen‐ bruch. Der Kapitalabfluss erreichte die Summe von 156 Mrd. US-Dollar bzw. acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Inflation zog primär wegen des von Russland als Antwort auf die westlichen Sanktionen verhängten Importembargos auf westliche Agrarprodukte an: Russlands Notenbankchefin Elvira Nabiullina hob schließlich den Leitzinssatz von zuvor 10,5 Prozent auf 17 Prozent an. Frau Nabiullina musste einer‐ seits Liquidität bereitstellen, damit russische Firmen ihre Auslandsschulden bedienen konnten, ferner entschied sie Ende 2014 ebenfalls, Russlands Währungsreserven nicht länger zur Stützung des fallenden Rubels zu verschwenden und den Übergang zu einem freien Wechselkurs rasch zu vollziehen. Da die russische Zentralbank seit Ende 2014 parallel zum Rückgang des Ölprei‐ ses eine starke Abwertung des frei konvertierbaren Rubel in Kauf genommen hat, sind Investitionen in Russland bzw. an den russischen Märkten c.p. eine Wette auf die Entwicklung der Rohstoffnotierungen. Mit fallenden Rohstoffpreisen wird das 12 Russland 272 <?page no="273"?> Investment zusätzlich durch einen schwächeren Rubel entwertet, während anziehende Rohstoffnotierungen den Rubel stützen dürften. Diese Währungspolitik passt auf den ersten Blick vielleicht nicht zu einer Groß‐ macht, zeigt aber den Pragmatismus der russischen Führung. Die Kostensteigerungen im Inland blieben bei heimischen Produkten und Dienstleistungen weitestgehend unter Kontrolle, während alle ausländischen Güter preislich explodierten. Es ist der russischen Führung sicher doppelt recht, dass die Russen jetzt Urlaub am Schwarzen Meer und nicht mehr in der EU oder der Türkei machen. Abb. 12.2: Wechselkurs Rubel pro Euro 2010-2020 Dollar 2010 bis 2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 01/ 2010 01/ 2012 01/ 2014 01/ 2016 01/ 2018 01/ 2020 Russischer Rubel pro US-Dollar Abb. 12.2: Wechselkurs Rubel pro US-Dollar 2010-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 12.3 Russland und die EU Russland wird Kraft seiner geografischen Nähe, seines Rohstoffreichtums und seiner militärischen Stärke ein notwendiger und dabei besonderer Nachbar und Partner Europas bleiben müssen. Russlands Wirtschaft ist stark von Erlösen, die aus dem Verkauf von Rohstoffen flie‐ ßen, abhängig. Die Freigabe des Rubel-Wechselkurses verbunden mit einer Ausweitung der Förderung seit Ende 2014 hat innerhalb Russlands zu einer Kompensation der ge‐ fallenen Rohstoffpreise geführt. Die Quotierungen der russischen Aktien in Rubel und der Tauschwert des Rubels zum Euro sind stark positiv korreliert. Neuinvestitionen in Russland bzw. Engagements in russische Aktien hängen somit jenseits der Möglichkeit einer weitgehenden Isolierung Russlands vom Westen durch die USA hauptsächlich vom „Glauben“ an die zukünftige Entwicklung der Rohstoffpreise ab. Am Sinn einer Isolierung Russlands hatte Präsident Trump, jedenfalls in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit, offensichtlich gut begründete Zweifel, als er, die kommende Konfrontation mit China antizipierend, versuchte, Russland aus der strategischen Verdammnis einer Partnerschaft mit China zu lösen. Er scheiterte mit diesem Versuch aus mehrfachen Gründen (u.a. Stichwort Wahleinmischung) aber am 12.3 Russland und die EU 273 <?page no="274"?> demokratisch dominierten Kongress. Jenseits der Denkmöglichkeiten eines Russlands, das nach Wladimir Putin in politischer Anarchie versinkt oder sich zu einem Satel‐ litenstaaten Chinas entwickelt, wird sich hoffentlich noch erweisen, inwieweit die Europäische Union und Russland engere Partner sein können (woran weder die USA noch China Interesse haben). Literaturtipps: Gute politische Literatur zu Russland stellt u.a. Peter Scholl-Latours „Russland im Zangengriff “ aus dem Jahre 2006 und das erste Kapitel von Tim Marshalls „Die Macht der Geografie“ aus dem Jahr 2017 dar. Marshall beschreibt angenehm sachlich die politischen Hintergründe der Krimkrise aus dem Jahr 2014, die bis heute das Verhältnis der EU zu Russland prägen. Wenn Sie an russischer Kultur und der „russischen Seele“ interessiert sind, emp‐ fehle ich Orlando Figes’ „Nataschas Tanz“. Den langen Abgesang der Sowjetunion begleitete Ryszard Kapuściński in „Imperium. Sowjetische Streifzüge“. Exkurs: Renten, Rentiers und Rentenökonomien Die Volkswirtschaftslehre, wie Sie sie kennen, setzt quasi-axiomatisch Arbeit, Kapital und technologischen Fortschritt als bestimmende Größen von wirtschaftlicher Ent‐ wicklung voraus. Boden ist im Verlauf der vergangenen ca. 200 Jahren weitgehend „redundant“ geworden. Dabei wird die Arbeit als Leistung des Fleißes, das Kapital als Leistung des Konsumverzichts und der technische Fortschritt als Leistung des Lernens und Verstehens gedeutet. Ein Blick in das „wahre Leben“ sagt aber jedem von uns, dass dem nicht immer so ist. Wir alle wissen, dass es leistungslose Einkommen gibt. Die Frage ist, inwieweit dies innerhalb unseres Wertesystems begründbar ist oder nicht. Während es in unserer Gesellschaft weitgehend Konsens ist, dass Menschen, die ein Arbeitsleben lang in eine Rentenversicherung eingezahlt haben, im Alter eine „angemessene“ Rente beziehen und Menschen, die so krank sind, dass sie wenig oder nicht zur materiellen Wertschöpfung der Gesellschaft beitragen können, ein materiell würdiges Leben garantiert sein muss, sieht die Wahrnehmung bei unverdientem Wohlstand, gerade dann, wenn es der eigene ist, schon anders aus. Unter einer Rente versteht man in der Ökonomie etwas verkürzt ein Einkommen, das nicht auf Arbeitsleistung, sondern auf Vermögen beruht. Dies war historisch lange Eigentum an Grund und Boden inklusive ggf. ausbeutbarer Rohstoffe und Eigentum, das aus Geldvermögen gespeist wird. Bei letzterem handelt es sich zumeist um Zinszahlungen auf Anleihen und Dividenden von Aktien. Ein Rentier ist im klassischen Verständnis somit jemand, der überwiegend von Boden-, Kapital- und Zinserträgen lebt und eine Rentenökonomie eine Volkswirtschaft, die weniger von Arbeit als von Erträgen, die nicht direkt an Arbeit gebunden sind, abhängt. 12 Russland 274 <?page no="275"?> Wenn wir von Rentenökonomien sprechen, sind die ersten Länder, die sich gedank‐ lich aufdrängen, Saudi Arabien und die Golfemirate, aber natürlich auch Russland, dessen Staatshaushalt, wie gesehen, zur Hälfte aus Einnahmen aus dem Rohstoffver‐ kauf gespeist wird. Etwas Nachdenken führt aber nicht nur direkt zu der Erkenntnis, dass es keine rentenfreie Gesellschaft geben kann, sondern auch zu der Ahnung, dass Renten bei uns sehr viel öfter auftreten, als vermutet. Gebührenordnungen, wie wir sie für Ärzte, Anwälte und Steuerberater anwenden, haben mindestens Teileigenschaften einer Rente; Garantiebonuszahlungen (machen Sie sich das Wort einmal in seiner Bedeutung klar! ) sind Renten. Tatsächlich ist die Abgrenzung von Renten zu produktivem Einkommen alles andere als trivial. Mariana Mazzucato hält dazu fest: „So lange Produkte und Dienstleistungen auf dem Markt einen Preis erzielen, verdienen Sie die Aufnahme ins BIP. Ob sie zum Wert beitragen oder lediglich Wert abschöpfen, wird dabei ignoriert. Eine Folge davon ist, dass die Unterscheidung zwischen Renten und Profiten durcheinandergerät und die Extraktion von Wert (die Rente) sich als Wertschöpfung verkleiden kann.“ (Mazzucato, S. 110) Wenn wir etwas präziser unter einer Rentenökonomie eine Wirtschaftsform verste‐ hen, in der der Wohlstand zu wesentlichen Teilen nicht aus Eigenleistung (vulgo: Arbeit) und produktivem Faktoreinsatz (vulgo: kluge Technologie) basiert, sondern in der Ausnutzung von strukturell bedingten Knappheitslagen, die zum Schaden der Allgemeinheit stabilisiert und nicht durch höhere Produktion überwunden werden, sind wir auf dem Weg zu verstehen, dass unsere Gesellschaft durch viel mehr „Renten‐ eigenschaften“ charakterisiert ist, als dies wünschenswert sein sollte. Hier kommt das Gerechtigkeits- oder Fairnessargument zum Tragen. Dies betrifft den Kauf bzw. die Vermietung von Wohneigentum, Einnahmen aus Patenten, der Besitz von Konzessionen, Quasi-Monopolen u.v.m. Praktisch haben es also junge Leute in Deutschland wie in den meisten Teilen Europas schwer, auf einen grünen Zweig zu kommen, sofern sie keine wohlhabenden Eltern haben: Das können Sie sich unter Verwendung der Grundrechenarten leicht am Beispiel des Kaufes einer Eigentumswohnung oder eines Reihenhauses unter der Voraussetzung, dass es sich um ein Paar mit guten Einkommen (sagen wir mal am unteren Ende des oberen Fünftels der Einkommensverteilung gelegen), klar machen. Es war in der Geschichte übrigens keinesfalls Konsens, dass Vermögen vererbt werden. Sowohl die Legalisten als auch die Konfuzianer im alten China waren Verfechter einer Meritokratie (vgl. Kapitel 13), in der, 2000 Jahre später frei nach Voltaire, der Blutadel durch Tugend ersetzt wurde. Ein Blick nach Japan, das demografisch einigen Vorsprung vor uns hat, und ein weiterer nach China sollten uns hier sehr nervös machen. Obwohl es relativ gesehen wenige junge Menschen gibt, ist es ohne Beziehungen gerade für die Jungen schwierig, gute Jobs und günstigen Wohnraum zu erlangen. Die Alten haben weitgehend dicht gemacht. Exkurs: Renten, Rentiers und Rentenökonomien 275 <?page no="276"?> Historisch außer Frage steht, dass Gesellschaften, die sich auf Geld ohne Arbeit ver‐ lassen haben, schnell ins Hintertreffen gerieten. Das bekannteste historische Beispiel ist das Spanien der Conquistadores, das trotz enormer Silber-und Goldzuflüsse aus Süd- und Mittelamerika ab Mitte des 16. Jahrhunderts innerhalb von weniger als 200 Jahren von der Weltmacht Nr. 1 in die wirtschaftliche und politische Bedeutungslosigkeit abstürzte. Man kann es auch anders sagen: Zuviel (was immer das ist) Wohlstand degeneriert. Eine sehr praktische Frage ist somit, zu welchem Grade unsere alternden und damit wenig risikofreudigen Gesellschaften mit hohen Preisen für Vermögenswerte durch Renten charakterisiert sind, was die Jugend nicht nur vom Wohlwollen des Staates abhängig macht, sondern sie auch von der Gründung von Familien, die notwendig sind, um für den biologischen Erhalt der Gesellschaft zu sorgen, abhält. Last but not least muss angemerkt werden, dass Renten auch ihr Gutes haben kön‐ nen. Während die Geschichten von edler Armut wohl eher aus dem Reich der Wünsche als aus der Wirklichkeit kommen, kann Reichtum oder Wohlstand zivilisieren. Literaturtipps: Eines der großartigsten Bücher, die ich in meinem Leben gelesen habe, ist David Landes’ „Wohlstand und Armut der Nationen“. Landes war kein „Vielschreiber“: Das Buch, dessen Titel bereits eine historische Referenz ist, stellt die kulturelle Komponente wirtschaftlicher Entwicklung in den Vordergrund und war das Ergebnis von mehr als 30 Jahren Forschungs- und Vorlesungstätigkeit an einigen der renommiertesten Universitäten der Vereinigten Staaten. Mir machte es schlicht Freude, an der Bildung des Autors teilhaben zu dürfen und diese in Teilen selbst aufzunehmen. In dem ebenfalls großartigen Buch von Bill Bryson „Eine kurze Geschichte von fast allem“ wird u.a. von „Reichen“ berichtet, die (in Abgrenzung zur offensicht‐ lichen Mehrheit, die ihr Leben u.a. mit Treibjagden verplempert) Jahre ihres Erwachsenenleben im Natural History Museum in London verbringen, um z.B. eine Schmetterlingsart zu erforschen. Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 12.1: Diskutieren Sie die Wirksamkeit von Sanktionen im internationalen wirtschaftspolitischen Kontext. Denken Sie hierbei z.B. an Kuba, die Sanktionen gegen Nord-Korea, den Iran oder Russland nach Ausbruch der Krimkrise. Übung 12.2: Recherchieren und kommentieren Sie die Kooperationsverhandlun‐ gen und -vereinbarungen zwischen der BASF (Wintershall) und Gazprom seit 2010. 12 Russland 276 <?page no="277"?> Übung 12.3: Analysieren Sie mithilfe von öffentlich verfügbaren Informationen die Entwicklung der Planstellen und der korrespondierenden Gehälter im russi‐ schen Staatssektor seit dem Jahre 2000. Übung 12.4: Recherchieren Sie zur Zerschlagung des Ölkonzerns Yukos. Bemerkung: Die „wahre Geschichte“ gibt es vermutlich, allerdings dürfte sie für uns nicht herauszufinden sein, da alle Berichte mehr oder weniger ideologisch gefärbt sind. Zum Vergleich sei die Bewertung des Syrieneinsatzes der russischen Armee angeführt. Während die Mehrzahl der deutschen Kolumnisten der russi‐ schen Regierung Zynismus vorwirft, hat z.B. der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat die russische Strategie als die einzig Sinnvolle bewertet. Es hängt also vor allem von unserem „Glauben“ ab, wem wir argumentativ eher zu folgen bereit sind. Übungen zur Selbstüberprüfung 277 <?page no="279"?> 13 Der Wiederaufstieg Chinas Man erkennt nur, was man kennt, lehrte der große Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Nun wird vermutlich niemand für sich glaubhaft in Anspruch nehmen können, China vollständig zu verstehen. Meine Überlegungen zu China, die ich hier entwickele, werden aus 18 Jahren Arbeiten und Leben mit chinesischen Kollegen, ehemaligen Doktoranden, die zu Freunden wurden, und für deren Kinder ich der Patenonkel bin, gestützt. Ich habe in zumeist kleineren Teilen insgesamt etwa 4 Jahre meines Lebens in China und dort zumeist in Shanghai verbracht. Shanghai ist natürlich nicht China und meine Freunde und Kollegen sind auschließlich gebildete und relativ wohlhabende Menschen und damit sicher nicht repräsentativ für Chinas Bevölkerung. Nichtsdestotrotz haben private und politische Fragen in unserem Zusammenleben eine bedeutende Rolle gespielt und ich bin der tiefen Überzeugung, dass uns ein „gutes Leben“ in Deutschland leichter fallen müsste als meinen chinesischen Freunden, die wie wir versuchen, „einigermaßen anständig durchs Leben zu kommen“. Insoweit ist dieses Kapitel fraglos persönlicher als die Abschnitte zu Russland und den USA, in denen ich ebenfalls sehr geschätzte Kollegen habe, aber kein derart persönliches Verhältnis entstand. Dass ich in China erfolgreich arbeite, hat aber unmittelbar mit dieser persönlichen Nähe, auf die ich noch zurückkommen werde, zu tun. Die bedeutendste „Erschütterung“ der Weltwirtschaft der vergangenen 70 Jahre, also in global relativ friedlichen Zeiten, stellt der wirtschaftliche und politische Wie‐ deraufstieg Chinas dar: Diese einleitende Aussage ist vermutlich eine noch maßvolle Untertreibung. Innerhalb von weniger als 40 Jahren ist es der chinesischen Ein-Par‐ tei-Regierung gelungen, etwa 700 Millionen Menschen aus bitterster absoluter Armut zu holen und die Weltwirtschaft durcheinanderzuschütteln. China wurde innerhalb weniger Jahrzehnte Werkbank der Welt und Bankier der Vereinigten Staaten. Sie kön‐ nen sich inzwischen nicht nur täglich über den Aktienmarkt in Shanghai informieren, sondern auch lesen, wie China seine Rolle in internationalen Organisationen ausbaut bzw. solche gleich selbst gründet, z.B. die im Oktober 2014 formell etablierte Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank AIIB als Gegengewicht zu den amerikanisch dominierten Weltwährungsfonds IMF, der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank ADB, wie es bilaterale Verträge mit rohstoffreichen Entwicklungsländern nicht nur in Afrika schließt, sondern z.B. den Bau eines Kanals in Nicaragua, der Pazifik und Atlantik verbindet, verfolgt und - allein durch seine Größe begründet - Ängste unter seinen Nachbarn schafft, die sich schwer damit tun, in China einen wohlmeinenden Hegemon zu erkennen. Die chinesische Regierung steht in der Gegenwart und näheren Zukunft vor der ungeheuren Herausforderung, das exportgetriebene Wachstumsmodell der ver‐ gangenen Jahrzehnte umzustellen und diesen Wandel bei stagnierender und rasant alternder Bevölkerung sowie Wanderungsbewegungen vom Land in die großen Städte <?page no="280"?> 10 Erinnern Sie sich im Folgenden gelegentlich an Lucian Pyes Aussage „China ist eine Zivilisation, die vorgibt, eine Nation zu sein.“ (Lucian W. Pye, China: Erratic State, Frustrated Society. Foreign Affairs, Herbst 1990, S. 58.) zu gestalten. Die chinesische Staatsführung kommuniziert ihre Prioritäten und ihr „Politikverständnis“ recht offen: Als Lektüre sei Ihnen diesbezüglich der erste Teil der Sammlungen von Aufsätzen von Chinas Präsident Xi Jinping, die in deutscher Übersetzung unter dem Titel „China regieren“ erschienen ist, empfohlen. Tatsächlich befindet sich die soziale Ungleichheit in China seit vielen Jahren auf hohem Niveau. Korruption bleibt trotz diverser Kampagnen der Zentralregierung auf lokaler Ebene ein ernstes Problem, ebenso zersetzend wirkt der Mangel an Vertrauen in der Gesellschaft. Schadenfreude sollten wir uns nicht einmal zu denken leisten wollen. Wenn in China Babymilch gepanscht wird, hat das auch Auswirkungen auf deutsche Mütter. [38] Das Börsensprichwort „Wenn Amerika eine Grippe bekommt, führt das in Deutschland zu einer Lungenentzündung“ gilt nunmehr ebenso für China. Die chinesische Bevölkerung zählte im Jahre 2019 ca. 1,44 Milliarden Menschen: Sie stellt somit mit den Auslandschinesen, die man praktisch überall auf der Welt findet, etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung dar. Damit ist China in der „Welt“, was Deutschland in Europa ist. Zu groß, um ein „normales“ Mitglied im Orchester der Nationen 10 zu sein, und zu klein, um allein dominieren zu können, wobei dieser Wille zur Dominanz derzeit sowohl für China (auch wenn in zahlreichen Medien Gegenteiliges suggeriert oder explizit behauptet wird) als auch für Deutschland nur fiktiv sein dürfte. Von den Menschen, die in der Volksrepublik China leben, sind mehr als 90 Prozent „echte“ Han-Chinesen, der „Rest“, also immer noch deutlich über 100 Millionen Menschen, verteilt sich auf 55 staatlich anerkannte Minderheiten wie Uiguren, Tibeter, Koreaner… Bereits im Jahre 2014 lebte mehr als die Hälfte der Menschen in Städten, eine Tatsa‐ che, die Ihnen klarmachen sollte, welch ungeheurer sozialer Dynamik das traditionelle Bauernland China in den vergangenen nun 40 Jahren unterworfen war. China ist nach Russland, Kanada und den USA mit ca. 9,6 Mio. km 2 das viertgrößte Flächenland der Erde; ein Großteil des Landes ist aber aus leicht nachvollziehbaren geografischen Gründen kaum bewohnt. So leben in Tibet bei einer Fläche, die in etwa der Deutschlands, Frankreichs und der Benelux-Länder entspricht, derzeit ungefähr so viele Menschen wie im Großraum Hamburg. Dies gilt qualitativ ebenso für alle nordwestlichen Provinzen, die sehr dünn besiedelt sind. Der überwiegende Teil der Menschen lebt in Ost- und Nordostchina. Allein in Shanghai und seinen beiden Nachbarprovinzen Zhejiang und Jiangsu wohnen und arbeiten offiziell mehr als 150 Millionen Menschen auf knapp 60 Prozent der Fläche Deutschlands. 13 Der Wiederaufstieg Chinas 280 <?page no="281"?> Abb. 13.1: Topografie Chinas (Quelle: Wikipedia [39] ) Einige statistische Daten zu China (China Statistics Press, Statista, 2020): 1. Lebenserwartung: 76,6 Jahre (2018) 2. HDI-Rang: 85 von 189 (2019) 3. Korruptionsindex: Rang 97 von 180 (2018) 4. Inflationsrate: 2,9 Prozent (2019) 5. Städtische vs. ländliche Bevölkerung: 60,3 :  39,7 (2019) Studierhinweis: Vergleichen Sie die hier angegebenen Daten mit denen Indiens. Die Unterschiede der Lebenserwartung von Männern und Frauen in China sind ähnlich wie in Europa: 2018 betrug diese für Männer 74,55 Jahre und für Frauen 79,05 Jahre. Das BIP pro Person wurde für 2018 von den statistischen Behörden der VR Chinas mit 9.580 US-Dollar (Quelle: Statista) und damit auf dem qualitativen Niveau Russlands oder Brasiliens angegeben. Tatsächlich ist diese Kennziffer auch für China von sehr begrenzter Aussagekraft. Einerseits gibt es zwischen den reichen Küstenprovinzen Ostchinas und den im Vergleich noch wenig entwickelten Provinzen West- und Zentralchinas riesige Einkommens- und ebenso Lebenshaltungskostenunterschiede, andererseits ist die Einkommensungleichheit in den jeweiligen Provinzen bzw. Städten sehr groß. 13 Der Wiederaufstieg Chinas 281 <?page no="282"?> Während Shanghai und einige weitere Großstädte es bezüglich Infrastruktur und Business jederzeit mit New York, Tokio, London, Paris und Berlin mindestens auf‐ nehmen können und kaum als Teil eines Entwicklungslandes interpretiert werden dürften, sieht es in den meisten westlicheren Provinzen deutlich ärmer aus. Zum Teil extreme soziale Ungleichheiten gibt es auch in den großen Städten an der Ostküste: Dies betrifft auf der „Unterseite“ nicht nur aber insbesondere die ca. 270 Millionen Wanderarbeiter, die aufgrund des Hukou-Systems weniger Rechte haben als die alteingesessene Bevölkerung. Das Hukou-System ist ein System der Haushaltsregistrierung, das die Trennung in städtische und ländliche Haushalte festschreibt. Die kontrollierte legale Zuwan‐ derung vom Land in die Städte hat einerseits dazu geführt, dass es in China keine Slums gibt, da Teile der Landbevölkerung nicht legal in die Städte umziehen dürfen, andererseits aber wird die Landbevölkerung von zahlreichen „Privilegien“ wie guten Schulen für die Kinder oder Zugang zu guten Krankenhäusern, die es auf dem Land kaum gibt, ausgeschlossen. Der Gini-Index der Einkommensverteilung wurde von der Weltbank (die amtlichen chinesischen Statistikbehörden veröffentlichen keine Gini-Indizes) für das Jahr 2018 mit 0,51 angegeben: In den USA betrug er im selben Jahr 0,49 und in Deutschland ca. 0,31. (Quelle: Statista) Es gilt Deng Xiaopings Erkenntnis, dass einige eher reich werden müssen als die anderen und dass die Unterschiede hinsichtlich Einkommen nicht zu groß werden dürfen, da diese sonst die Gesellschaft zu zerreißen drohen. Bevor wir uns der neueren Geschichte und den aktuellen wirtschaftlichen und politischen Tatsachen, Zusammenhängen und Problemen Chinas zuwenden, werden wir aus drei zentralen Gründen kurz die geistigen Wurzeln Chinas, seine Geschichte und Kultur betrachten: 1. Fünf „modernere“ Dynastien, die Han-, die Tang-, die Song-, die Ming- und die Qing-Dynastie, existierten länger, als es die USA gibt. Das Bewusstsein der Zu‐ gehörigkeit zu etwas Besonderem ist völlig unabhängig von formaler Bildung tief in der chinesischen Bevölkerung verankert. Chinas Bevölkerung und politische Klasse orientiert sich materiell und machtpolitisch teilweise an den USA (nicht an Europa), dies ist aber nicht mit Verwestlichung gleichzusetzen. 2. Die Führung der ca. 90 Millionen Mitglieder starken Kommunistischen Partei Chinas bzw. die chinesische Zentralregierung genießt als Quasidynastie in der Bevölkerung derzeit hohes Ansehen. Diese Aussage gilt so nicht pauschal für niedrigere Hierarchien wie Provinzregierungen und Magistrate. 3. China ist kein Nationalstaat im europäischen Sinne und wird es - da sind sich alle wirklichen Chinaexperten einig - auch nicht werden. China ist ein „Civili‐ zation State“. Diese Aussage ist insoweit fundamental, als wir konditioniert sind, 13 Der Wiederaufstieg Chinas 282 <?page no="283"?> 11 Es gibt mit lateinischen Buchstaben verschiedenene Lautumschriften des chinesischen Zeichensys‐ tems, das, je nach Quelle bzw. Systematik, 50.000-100.000 Zeichen beinhalt. Die wichtigsten sind das heute sowohl in der VR China als auch in Taiwan angewendete Pinyin-System sowie die älteren Wade-Giles und Bopomofo-Transkriptionssysteme. Pinyin wurde in den späten 1950er Jahren von Zhou Youguang auf Anweisung von Mao Zedong entwickelt und ist seit 1978 der entsprechende Standard in der VR China. Zhou verstarb im Jahr 2017 im Alter von 111 Jahren. 12 In China steht der Nachname üblicherweise vor dem Vornamen. Der westlichen Sitte folgend vertauschen Chinesen aber, jedenfalls im Umgang mit den Westlern, Vor- und Zunamen mit der Folge, dass man im Westen zumeist überhaupt nicht mehr weiß, was was ist. Etwas Entspannung folgt daraus, dass ein Namensbestandteil aus zwei Silben immer ein Vorname sein muss, da ein Familienname stets einsilbig ist. Da es aber auch Vornamen gibt, die aus nur einer Silbe bestehen, kann das Rätselraten zu Vor- und Nachnamen ohne weitere (im Allgemeinen nicht vorhandene) Kenntnisse nicht immer zufriedenstellend gelöst werden. 13 Auf Deutsch erschienen 2020 bei Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. politisch und auch ökonomisch nationalstaatlich zu denken. Laxer ausgedrückt: Auch wenn Sie blonde Haare haben, können Sie, wenn Sie tief genug in die chinesische Kultur und Sprache eintauchen und diese verinnerlichen, Chinese werden. Auch wenn die China gewidmeten Ausführungen um einiges umfangreicher ausfallen als alle weiteren Kapitel dieses dritten Teils, können hier nur einige wenige historische, politische und ökonomische Eckpfeiler, die hinsichtlich eines besseren Verständnisses Chinas von Bedeutung sind, erwähnt und besprochen werden. Aus der schier unüber‐ schaubaren Menge an Material vorwiegend westlicher Denker wurde für Sie eine kleine Auswahl kommentierter Bücher zusammengestellt, die in den Text eingestreut sind und deren Lektüre durch die sprachlich gut lesbaren und quantitativ überschaubaren Werke von Konfuzius und Lao-Tse (auch Laodse in lateinischer Pinyin-Umschrift) 11 sinnvoll ergänzt wird. Konfuzius, der vor ca. 2500 Jahren lebte, ist, wie bereits im Vorwort dieses Buches erwähnt, der Philosoph, der die Weltläufe am stärksten beeinflusste und heute wieder beeinflusst. Der wichtigste zeitgenössische chinesische Philopsoph, der für China einen modernen Konfuzianismus fordert, ist Kang Xiaoguang 12 , dessen Hauptwerke bezeichnenderweise nur auf Chinesisch vorliegen. Im Westen bekannter ist Zhao Tingyang, in dessen Werk „Alles unter dem Himmel: Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“ 13 zwar nicht der Demokratie das Wort geredet wird, dafür aber eine „Mischform“ zwischen Demokratie und Aristokratie angedacht wird, um - hier diversen Denkern aus dem Silicon Valley nicht unähnlich - eine harmonische Welt ohne Nationalstaaten entstehen zu lassen. 13.1 Geistige Wurzeln und Verbindungen zur Gegenwart Die geistigen Wurzeln des heutigen Chinas wurden vor ca. 2600-2300 Jahren und damit vor der Gründung des ersten Zentralstaates durch den Gelben Kaiser Qin Shi Huangdi (bekannt durch seine Terrakotta-Armee in der Nähe des heutigen Xi’an) gelegt. Anders als in der europäischen Natur- und Moralphilosophie wurde und 13.1 Geistige Wurzeln und Verbindungen zur Gegenwart 283 <?page no="284"?> 14 Legalismus bedeutet strikte Befolgung des Gesetzes verbunden mit starrem Festhalten an Vorschrif‐ ten. 15 S. Glossar. wird die chinesische Philosophie nach Jahrzehnten bis Jahrhunderten staatlicher Zerrüttung und Bürgerkrieg seit dem Wirken von Konfuzius durch Fragen, wie Frieden und Harmonie wiederhergestellt werden können, dominiert: Das historisch mehr als zweieinhalbtausend Jahre alte und heute wieder verfolgte Konzept der „harmonischen Gesellschaft“ wurde im Jahre 2004 auf der 4. Plenartagung des 16. Parteitages der KP Chinas zur Staatsdoktrin erklärt. Auf diese Fragen zur Harmonie gab es historisch drei grundlegende Antworten: die der Legalisten, die des Lao-Tse und seiner Schüler und die Antwort der Konfuzianer. Die Legalisten 14 gingen davon aus, dass die alten Werte und Regierungsmethoden der Zhou-Dynastie (ca. 1040 v.u.Z. bis 256 v.u.Z.) ihre Gültigkeit verloren hatten. Ihre Antwort war die Schaffung eines allmächtigen Staatsapparates unter einem absoluten Herrscher, der die Menschen durch Furcht und Terror zur Ordnung zwingt. Tatsächlich hat der Legalismus nach dem Gelben Kaiser mit Mao Zedong nur einen wahren Nachahmer gefunden. Obwohl sich beide Staatsgründer grundsätzlich im heutigen China hoher Wertschätzung erfreuen, wurde und wird dieser Ansatz nur für Übergangsphasen aus der vollständigen staatlichen Zerrüttung heraus für tauglich befunden. Revolutionen jedweder Couleur werden heute allgemein abgelehnt: Der Große Sprung nach vorn und die Kulturrevolution  15 unter Mao Zedong wie die Folgen von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion sind warnende historische Beispiele. Über die Geschwindigkeit und den (geplanten) Ablauf evolutionärer Prozesse kann man indes reden. Der sich auf den fast zeitgleich mit Konfuzius lebenden Lao-Tse berufende Daoismus ist hingegen eine zutiefst individuelle Philosophie. (Es gibt eine Vielzahl zeitgenös‐ sischer und verstorbener chinesischer wie westlicher Denker, die Lao-Tses Werk Daodedsching, in alter Transkription Taoteking, als das erhabenste bzw. eines der erhabensten Schriftstücke der Menschheitsgeschichte betrachten.) Zahlreiche der in der chinesischen Geschichte immer wiederkehrenden Bauernaufstände waren von daoistischen Geheimbünden geführt; es ist somit intuitiv rasch einsichtig, dass er als „Staatsreligion“ kaum tauglich war. Der Konfuzianismus hingegen bildet(e) den Gegenpol, in dem der Mensch sein Menschsein nur als Teil einer wohlorganisierten Gesellschaft entfalten kann. Gesell‐ schaft und Staat befinden sich in Harmonie, wenn jedes Individuum die ihm zugewie‐ sene Rolle annimmt und seine wechselseitigen Verpflichtungen erfüllt. Mit anderen Worten: Ordnung ist notwendige Voraussetzung von Freiheit. Das vermutlich berühmteste Zitat aus den „Analekten des Konfuzius“, auch mit Lun Yu oder Lün Yü bezeichnet, lautet: 13 Der Wiederaufstieg Chinas 284 <?page no="285"?> 16 Die ENA soll tatsächlich nach dem Willen von Frankreichs Präsident Macron in der im Jahr 2020 existierenden Form abgeschafft werden. S. z.B. www.zeit.de/ 2019/ 29/ elitehochschule-ena-frankreic h-emmanuel-macron-abschaffung-kritik „Der Fürst sei Fürst, der Untertan sei Untertan, der Vater sei Vater, der Sohn sei Sohn.“ Wenn Sie mit Chinesen zusammenarbeiten, werden Sie rasch feststellen, dass ein chinesischer Chef im Allgemeinen über deutlich mehr Rechte, aber ebenso über mehr und tiefergehende Pflichten verfügt als sein deutsches Pendant. Rechte basieren dabei auf wahrgenommenen Pflichten. Wie die Legalisten lehnt Konfuzius jedweden Erbadel ab. Die konfuzianische Gesell‐ schaft ist gespalten in Gebildete und Ungebildete. Der Zutritt zur Oberschicht steht dem offen, der die entsprechende Bildung erworben hat. Im Jahre 136 v.u.Z. erklärte Kaiser Wu Di die konfuzianische Lehre zur Staatsideologie, 12 Jahre später wurde die erste Reichsuniversität zur Ausbildung von höheren Beamten gegründet. Der Sohn eines einfachen Bauern konnte also nicht ohne Umsturz Kaiser werden, wohl aber Premierminister (was auch in einigen wenigen Fällen dokumentiert ist), wenn er im letzten und entscheidenden siebten Staatsexamen die Nase vorn hatte. Natürlich hatten und haben die Kinder gebildeter Leute - Bildung und Wohlstand bilden traditionell ein Paar in China - bessere Chancen, Staatsexamina erfolgreich zu bestehen als die Kinder einfacher Leute; allerdings gibt es in China die bis heute wirkende Tradition, dass die Bauern eines Dorfes das Geld zusammenlegten, damit ein besonders begabtes Kind studieren und sich auf die Prüfungen vorbereiten konnte. Reziproke Verpflichtung des jungen Menschen war und ist es dann natürlich, sich im erfolgreichen Falle bei der Gemeinschaft, die ihm das Studium ermöglicht hat, zu revanchieren. Während das deutsche Hochschulsystem trotz sogenannter Eliteuniversitäten deut‐ lich egalitärer ist als z.B. in den USA, Großbritannien und Frankreich, existieren interessante Parallelen zwischen dem chinesischen und dem französischen Bildungs‐ system im Allgemeinen und speziell zwischen den Grandes Écoles mit den immer noch wichtigsten Spitzenhochschulen École Polytechnique und ENA (École Nationale d’Administration) 16 und den chinesischen Projekt 985-Universitäten (die chinesischen Top 10), die ihre heutigen chinesischen Spitzenpendants in den Pekinger Universitäten Qinhua und Beida haben. Diese traditionelle Wertschätzung von formaler Bildung wurde nur ein einziges Mal in den vergangenen mehr als 2000 Jahren, während der von Mao Zedong angeführten Kulturrevolution 1966-1976, die zur Schließung der chinesischen Universitäten von 1969 bis zur vollständigen Wiedereröffnung 1977 führte, durchbrochen. 13.1 Geistige Wurzeln und Verbindungen zur Gegenwart 285 <?page no="286"?> Bemerkung: Der Weg zur Verinnerlichung von Moral führt in der klassischen chinesischen Philosophie über die Erziehung. Der Himmel stellte für die alten Zhou-Chinesen bereits eine ethische Gottheit dar, die die Tugendhaften belohnt und die Lasterhaf‐ ten bestraft. Tugend ist dabei eine moralische Haltung des Menschen, die ihn in Übereinstimmung mit der Ordnung des Himmels bringt. Der Kaiser (bzw. heute die Führung der Kommunistischen Partei) herrscht durch seine moralische Autorität und sein Verhalten, das auf seine Beamten und sein Volk ausstrahlt. Von Konfuzius’ wichtigstem philosophischen Nachfolger Menzius ist das folgende, bis in die heutige Politik Wirkende, überliefert: Hier ist der Weg, die Oberherrschaft zu gewinnen: Gewinne das Volk, und du gewinnst die Oberherrschaft. Hier ist der Weg, die Menschen zu gewinnen: Gewinne ihre Herzen, und du gewinnst das Volk. Hier ist der Weg, ihre Herzen zu gewinnen: Gib ihnen, was sie wünschen, und erlege ihnen nicht auf, was sie nicht mögen. (Quelle: Lin) Weder Konfuzius noch Menzius hatten die Herrschaft des Volkes im Sinn: Im Zentrum aller Herrschaftsüberlegungen in China steht bis heute nicht die Herrschaft durch das Volk, sondern die Herrschaft für das Volk. Demokratie im westlichen Sinne ist in China nicht nur den herrschenden Parteika‐ dern suspekt, sondern auch aus gut einsichtigen Gründen für die allermeisten Vertreter der gebildeten Mittel- und Oberschicht der Ostküste nicht anstrebbar. Demokratie würde nämlich bedeuten, dass jeder ungebildete Bauer oder Wanderarbeiter - von denen es jeweils viele gibt und die andere Interessen haben als die wohlhabende Ost‐ küstenintelligenzija - genau das gleiche Stimmrecht haben würde. Somit ist das Thema „Demokratie“ auf gesamtstaatlicher Ebene derzeit nicht einmal relevant. Die Proteste, die im Sommer 2019 in Hongkong begannen, wurden, soweit ich das über Gespräche in meinem Shanghaier Umfeld beurteilen kann, in China ohne Sympathie verfolgt. Zu‐ nächst gilt, dass es in Hongkong auch während der britischen Besatzungszeit mehrere gewalttätige Aufstände gab (die bekanntesten im Jahr 1967, die in Originalausschnitten Eingang in den Film „2046“ von Wong Kar-Wai fanden). Rudimentär vorhandenes Verständnis für die Rebellierenden verschwand in dem Moment, als im chinesischen Fernsehen zwei Fälle gezeigt wurden, in denen jeweils ein unbeteiligter Mensch von Steinen, die aus dem Lager der Demonstrierenden geworfen wurden, ums Leben kam. Ganz anders verhält es sich bei kommunalen Belangen, hier nimmt man Einfluss, wenn man kann. So wurde z.B. die lang geplante Verlängerung des berühmten Trans‐ 13 Der Wiederaufstieg Chinas 286 <?page no="287"?> 17 Überall auf der Welt, wo ich gearbeitet habe, wussten die Menschen sehr genau, was das deutsche Sprichwort „Der Fisch stinkt vom Kopfe her.“ bedeutet. 18 Auch wenn Russland und China sich regelmäßig ihrer Freundschaft versichern, hat China auch noch mit Russland „historische Rechnungen“ offen und Russland bzw. seine Führung weiß das. Mitte des 19. Jahrhunderts nutzte Russland die Schwäche der Qing-Dynastie, um sich große Teile des Fernen Ostens mit der Hafenstadt Wladiwostok (wörtlich: Beherrsche den Osten) einzuverleiben. Die folgenden Bemerkungen werden Sie so kaum anderswo gedruckt sehen: Unpolitische chinesische Freunde von mir meinten bereits Anfang dieses Jahrhunderts, dass Sibirien in 100 Jahren wieder chinesisch sein würde. Dieselben Freunde meinten auch, dass die Chinesen, wenn es der Klimawandel erzwinge, eben nach Norden ziehen würden. Vielleicht ist dieser chinesische „Pragmatismus“ tatsächlich der Hauptgrund, warum der Klimawandel in China jenseits von offensichtlich ernst gemeinten Selbstverpflichtungen der Regierung insgesamt wenig Beachtung findet. rapids (in China als Maglev bezeichnet) in Shanghai auf Grund von Bürgerprotesten (s. das Zitat von Menzius weiter oben) nicht gebaut. Die für mich wichtigste Passage im Lün Yü, auf die ich noch zurückkommen werde, lautet: „Führe das Volk durch Gesetze, und ordne es durch Strafen, und das Volk wird versuchen, den Strafen zu entgehen, aber es wird keine Scham haben. Führe das Volk durch Tugend und ordne es durch die Rituale des Anstandes, und das Volk wird Scham haben und gut werden.“  17 Sowohl Konfuzius als auch Lao-Tse schätzten (viele) Gesetze gering, von Letzterem ist sinngemäß der Ausspruch „viele Gesetze, viele Verbrecher“ überliefert. Wohl gab und gibt es aber traditionell ein System von „roten Linien“, die nicht überschreitet, wer nicht riskieren will, die Rechte der Gemeinschaft zu verlieren. Bekanntestes Beispiel ist die Antwort des chinesischen Staates auf den Handel mit Drogen: Wer Drogen verkauft, nimmt billigend in Kauf, dass seine Abnehmer sterben bzw. körperlich und geistig ruiniert werden, und hat somit mit der entsprechenden Reaktion der Gesellschaft oder des Staates, dem Ausstoß aus der Gemeinschaft, zu rechnen. Diese harte Vorgehensweise hat fraglos auch mit den Demütigungen Chinas nach den Opiumkriegen im 19. Jahrhundert und den daraus resultierenden sogenannten Ungleichen Verträgen zu tun. 18 Spezifische Literaturhinweise: Verständliche einführende Erläuterungen zur klassischen chinesischen Philoso‐ phie finden Sie in Hans Joachim Störigs „Weltgeschichte der Philosophie“. Sehr empfohlen sei Ihnen ferner das Buch von Ian Morris „Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen und beherrscht werden“, das sich nach einem furiosen Auftakt dem „Wettrennen“ östlicher und westlicher Gesellschaften widmet. 13.1 Geistige Wurzeln und Verbindungen zur Gegenwart 287 <?page no="288"?> Der Klassiker zur chinesischen Geschichte von der Ming-Dynastie bis zur Revo‐ lution im Jahre 1911 ist Jonathan Spences‘ Buch „Chinas Weg in die Moderne“. Einen sehr detaillierten aber nichtsdestotrotz gut lesbaren Überblick zu Chinas neuerer Geschichte hat Deutschlands langjähriger Spitzendiplomat und späterer Botschafter in China Konrad Seitz bereits im Jahre 2000 mit seinem Buch „China: Eine Weltmacht kehrt zurück“ verfasst. In diesem Buch findet sich u.a. eine hervorragende Darstellung der neueren Geschichte Chinas bis zum Jahre 2000 und ebenso beachtbare Vorhersagen bis in unsere Gegenwart. Zur Kulturrevolution ist mir keine nichttendenziöse historische Literatur bekannt. Das ist auch nicht verwunderlich, sind doch viele aktiv und/ oder passiv Betroffene noch am Leben. Es gibt dafür sehr interessante und aufschlussreiche Memoiren. Empfohlen seien hier besonders das sehr berührende und rührende Buch der Germanistin Zhao Jie „Kleiner Phoenix: Eine Kindheit unter Mao“ sowie die Bild‐ geschichte „An Großvaters Hand: Meine Kindheit in China“ von Chen Jianghong. 13.2 Mao Zedong, Deng Xiaoping und Konfuzius Die unbestrittenen politischen Führer Chinas im 20. Jahrhundert waren Mao Zedong und Deng Xiaoping. Die im heutigen Westen weitgehend verbreitete Vorstellung von Mao als Tyrannen und von Deng als mutigem Reformer greift indes viel zu kurz. Mao Zedong und seine Revolutionen sind ohne rudimentäre Grundkenntnisse der jüngeren Vergangenheit Chinas, insbesondere der „verlorenen 100 Jahre“ nach dem Ende des 1. Opiumkrieges im Jahre 1842, als China sich darauffolgend den ersten Ungleichen Verträgen gegenübersah, nicht zu verstehen. Mao sah in der starren Anwendung der Lehren von Konfuzius das Hauptübel der Rückständigkeit Chinas, das bis in das späte 18. Jahrhundert mit Abstand das wirt‐ schaftlich stärkste Gebilde der Welt darstellte, dann aber durch Geringschätzung alles Militärischen (weil Technologischen, Nichtgeistigem) gegenüber dem Westen immer mehr ins Hintertreffen geriet: Und das, obwohl Buchdruck, Kompass, Schießpulver, Porzellan, Papiergeld, die Schubkarre, die Kanone und vieles mehr in China erfunden wurden. Mao brach schließlich sämtliche gesellschaftlichen Konventionen auf: Die sozial bedeutendste ist fraglos die veränderte Rolle der Frauen in der chinesischen Gesell‐ schaft. Die konfuzianische Sittenlehre verlangte über viele Jahrhunderte, dass Frauen ihr Leben lang gehorchen (inklusive Bruch der Mädchenfüße, um dem zukünftigen Ehemann zu gefallen bzw. damit sie nicht weglaufen konnten): zuerst dem Vater, dann dem Ehemann und schlussendlich dem eigenen Sohn. Unter Mao wurden Frauen Soldatinnen der Nationalen Volksbefreiungsarmee, es wurde Chinas erstes Ehegesetz erlassen, Scheidungen wurden legalisiert, Brauthandel und Konkubinat verboten. Frauen stützen (seit Mao) den halben Himmel. Die Folgen 13 Der Wiederaufstieg Chinas 288 <?page no="289"?> 19 Der aktuelle Fokus auf Technologieführerschaft (s. auch Kapitel 13.7) zeigt, dass China diesen Fehler nicht noch einmal machen wird. können Sie gut bei einem Spaziergang in jeder chinesischen Großstadt oder noch besser bei einem gemeinsamen Treffen mit chinesischen Ehepaaren studieren und erleben. Während Frauen im Jahre 1950, ein Jahr nach Gründung der Volksrepublik China, im Durchschnitt zwanzig Prozent zum Familieneinkommen beitrugen, so liegt dieser Wert inzwischen bei mehr als dem Doppelten. Die arbeitende Bevölkerung besteht derzeit zu ca. 45 Prozent aus Frauen und 55 Prozent Männern: Frauen treten dabei (noch) ab einem Alter zwischen 50 und 55 Jahren durchschnittlich fünf Jahre früher in die Rente ein als Männer. Aufgrund der Auswirkungen der Ein-Kind-Politik und der durch ein in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessertes Gesundheitssystem stark gestiegenen Lebenserwartung ist kurzbis mittelfristig mit einer Anhebung des Renteneintrittsalters zu rechnen. Lediglich auf dem Lande und in der obersten Führungsebene der KP schreitet die Gleichberechtigung etwas langsamer voran. Zwar waren 2019 24% der Mitglieder des Zentralkomitee Frauen, im 25 Mitglieder starken erweiterten Politbüro der Kommu‐ nistischen Partei Chinas befand sich mit Sun Chunlan aber nur eine Frau. Literaturtipp: Charlotte Kerners Buch „Rote Sonne, roter Tiger“ ist einer der wenigen gelungenen Versuche, Leben und Wirken Mao Zedongs differenziert und dabei gut lesbar darzustellen. China sah sich selbst über Jahrtausende als das zivilisatorische Zentrum der Welt. Zhong guo, der chinesische Name Chinas, übersetzt sich wörtlich als „Reich der Mitte“, eine Bezeichnung, die Ihnen sicher bekannt vorkommt. Der schleichende relative Niedergang Chinas gegenüber dem Westen setzte in der Ming-Dynastie nach 1400 ein; Chinas Führer verstanden über Jahrhunderte schlicht nicht die gesellschafts‐ verändernde Bedeutung moderner (Rüstungs-)Technologie. 19 Nach den sogenannten verlorenen 100 Jahren nach Ausbruch des ersten Opiumkrieges und den Ungleichen Verträgen bis hin zur Besetzung großer Teile Chinas durch Japan in den 1930er Jahren und dem Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten waren es schließlich die Kommunisten unter Mao Zedong, die China wieder einigten und befriedeten. Diese Errungenschaft wird in China bis heute auch dadurch nicht wesentlich beschädigt bzw. ihr übergeordneter Wert in Frage gestellt, dass unter Mao Abermillionen Menschen aufgrund unsinnigster und unmenschlicher Kampagnen den Tod fanden: China war wieder zurück auf der Weltbühne. Mao gab den Chinesen nicht nur ihren Nationalstolz zurück, nachdem er erst Japaner, Engländer, Franzosen, Amerikaner und Guomingdang und schließlich die Sowjets aus dem Land geworfen hatte, er schuf - sicher ungewollt - die soziale Basis für 13.2 Mao Zedong, Deng Xiaoping und Konfuzius 289 <?page no="290"?> 20 Kanzler Adenauer verfuhr hier nicht anders. Nach der moralischen Schande, die Deutschland ab 1933 und besonders während des II. Weltkrieg über sich gebracht hatte, dauerte es mehr als 20 Jahre, bis während der 1968er-Bewegung Fragen zur damals jüngeren deutschen Vergangenheit hörbar gestellt und öffentlich ausgefochten wurden. Dengs Reformen. Deng Xiaoping, der mindestens zweimal nur durch eine Laune Maos überlebte, diktierte als Pragmatiker, der eine Ahnung davon hatte, welche Fliehkräfte in einem wirtschaftlich entfesselten China entstehen würden, bereits im Jahre 1978, dass Mao zu 70 Prozent gut und zu 30 Prozent schlecht war. Damit war die Diskussion bis heute beendet: 20 Deng sah richtig voraus, dass China über Jahrzehnte alle Kräfte benötigen würde, um nach vorn zu schauen. So war es schließlich Deng Xiaoping, der mit dem Beginn der ökonomischen Reformpolitik Ende der 1970er Jahre die zweite Stufe zur Wiedererstarkung Chinas zündete. Ebenfalls Ende der 1970er Jahre wurde die Ein-Kind-Politik eingeführt, die in Verbindung mit besserer Krankenversorgung nicht nur zu einer dramatischen Alterung der Gesellschaft, sondern auch zu einem veränderten Sozialverhalten führt. 13.3 Der wirtschaftliche Reformprozess in China seit 1978 Das wohl wichtigste persönliche Vorbild für die nach Mao kommenden chinesischen Reformer der späten 1970er Jahre mit Deng Xiaoping an der Spitze ist der Staatsgründer des modernen Singapur, Lee Kuan Yew. [40] Während seiner berühmten Reise nach Südchina im Jahr 1992 wiederholte und entwickelte Deng Xiaoping seine ersten Vorstellungen, wie China zu alter Größe zurückgelangen könne. Die vermutlich bekanntesten Zitate dieser Zeit sind: „Egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse“ und „Es ist glorreich, reich zu werden, aber einige werden eher reich als die anderen.“ Nicht nur aufgrund der Größe des chinesischen Volkes, sondern wegen der Fähigkeit der Chinesen, zugleich gut organisiert und hart zu arbeiten, des starken Fokus‘ auf kollektive Werte (Stichwort Guanxi) anstelle von individualistischen Lebensentwür‐ fen und die hohe Wertschätzung von Bildung in der chinesischen Gesellschaft hat China sich innerhalb von weniger als zwei Generationen wieder zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht der Welt vorgearbeitet. Bemerkung: Der Verweis auf die chinesische Arbeits- und Leidensfähigkeit klingt vermutlich seltsam oder gar plump, ist aber wörtlich gemeint: Fast alle großen Infrastruktur‐ 13 Der Wiederaufstieg Chinas 290 <?page no="291"?> projekte wie Eisenbahnlinien mit den dazugehörigen Tunneln in den USA, Austra‐ lien und Neuseeland wurden im späten 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von zumeist südchinesischen Kontraktarbeitern ausgeführt: Nicht weil diese billiger waren als mittellose Einwanderer aus Europa, sondern weil sie leidensfähiger und in Gruppen effizienter waren. Diese Eigenschaften sind nicht verlorengegangen. Unberührt von der Wahrnehmung zahlreicher westlicher Experten bis Ende des 20. Jahrhunderts, dass der Bau einer Eisenbahn nach Tibet technisch unmöglich sei, wurde diese vom damaligen Staats- und Parteiführer Hu Jintao 2006 offiziell eingeweiht. Seitdem fahren in Lhasa Züge ein und aus. Diese „besondere chinesische Leidensfähigkeit“ war und ist eine historische Tat‐ sache, solange die Menschen die Möglichkeit sehen, dass es ihnen selbst oder ihren Kindern besser gehen wird. In mehreren historischen Perioden der vergangenen zweieinhalbtausend Jahre, in denen dies nicht mehr der Fall war, kam es zu brutalen Aufständen, Bürgerkriegen und mitunter zur Ablösung der alten Dynastie, die das Mandat des Himmels verloren hatte. Die chinesische Übersetzung für Revolution lautet übrigens „Wechsel des Auftra‐ ges“. Wenn der Kaiser und seine Beamtenschaft nicht mehr Vorbild sind, folgt logischerweise, dass er bzw. seine Dynastie das Mandat des Himmels verlieren. Innerhalb von ca. 35 Jahren hat sich Chinas Bruttoinlandsprodukt in der chinesischen Währung Renminbi (RMB) mehr als verhundertfacht (vgl. Abb. 13.6), etwa 700 Millio‐ nen Menschen wurden, der Weltbankdefinition folgend, aus bitterster Armut befreit. China wurde Fabrik der Welt, die Bank von Amerika und Weltwirtschaftsmacht Num‐ mer 2. Diese Entwicklung, die auf einer durchschnittlichen Wachstumsrate des BIP oberhalb von 10 Prozent pro Jahr von 1991 bis 2015 beruht, war wesentlich investitions- und exportgetrieben und wurde mit starker sozialer Ungleichheit, Umweltverschmut‐ zung und „übertriebener“ Korruption (d.h., dass der westliche Korruptionsbegriff in China in die Irre führt) erkauft. 13.4 Demografie Chinas Chinas Bevölkerung hat sich derzeit bei reichlich 1,4 Milliarden Menschen stabilisiert. Um dem 1949 beginnenden explosionsartigen Bevölkerungswachstum zu begegnen, führte die chinesische Zentralregierung im Jahre 1979 die Ein-Kind-Politik ein, auf Grund derer ca. 500 Millionen Menschen nicht mehr geboren wurden. 13.4 Demografie Chinas 291 <?page no="292"?> - 13.2: Chinas - Bevölkerung - 2018 - vs. - Prognose - 2050 - (Quelle: - Populationpyramid.net) Abb. 13.2: Chinas Bevölkerung 2018 vs. Prognose 2050 (Quelle: Populationpyramid.net) Die Ein-Kind-Politik besagte kurz, dass ein chinesisches Ehepaar von den späten 1970er Jahren bis 2015 nur das Recht auf ein Kind hatte. Zu Beginn der Einfüh‐ rung der Ein-Kind-Politik wurde diese von der damals überwiegend ländlichen Bevölkerung oft nicht ernst genommen, bis sie mit zum Teil brutaler Gewalt wie öffentlich vorgenommenen Abtreibungen durchgesetzt wurde. Da sich die Mehrzahl der Bauernfamilien unter diesen Umständen entschied, nur noch einen männlichen Nachfolger „zu wollen“, waren schließlich massenweise Abtreibungen weiblicher Föten wiederum vor allem auf dem Lande die Folge. Dies führte zu einem krassen Missverhältnis zwischen weiblichen und männlichen Le‐ bendgeburten und damit seit ca. dem Jahre 2000 zu einem eklatanten Missverhältnis von Männern und Frauen im heiratsfähigen Alter. Abb. 13.2 zur Bevölkerungsverteilung Chinas im Jahre 2018 erlaubt unter Verwen‐ dung der Grundrechenarten einige interessante Schlüsse. Wir konzentieren uns hier auf das Alterscluster 25-29 Jahre und sehen, dass 4,5% aller Chinesen in diesem Alterscluster männlich und 4,1% weiblich sind. Somit sind zusammen 8,6% der Gesamtbevölkerung, zwischen 25-29 Jahre alt. 13 Der Wiederaufstieg Chinas 292 <?page no="293"?> ■ 8,6% der Gesamtbevölkerung entspricht ca. 120 Millionen Menschen (von insgesamt ca. 1,4 Mrd. Menschen) ■ 4,5/ 8,6 korrespondiert zu 52,3% Männern und demzufolge 47,7% Frauen ■ in absoluten Zahlen sind dies also 62,79 Mio. Männer und 57,21 Millionen Frauen In dieser Altersgruppe existiert folglich ein Überschuss von 5,58 Millionen Män‐ nern. Wenn nun auf die gesamte Population extrapoliert wird, errechnet man ca. 20 Millionen Männer im heiratsfähigen Alter, denen physisch keine Frau gegenübersteht. Da Chinesinnen kaum unter Status heiraten und es inzwischen mehr Hochschulab‐ solventinnen als Hochschulabsolventen gibt, die (offiziell verbotene) Prostitution zahlreiche weitere Frauen aus dem „Heiratsmarkt“ ausschließt, zudem die Tradi‐ tion der Zweitfrau in Ansätzen wiederaufkommt (wenn auch offiziell verboten), bleiben noch deutlich mehr Männer ohne Frau. Je nachdem, wie man rechnet, findet jeder 4. bis 5. heiratswillige Mann keine Frau zur Gründung einer Familie. Besonders betroffen sind nicht überraschend Männer mit geringem Einkommen und geringer Bildung. Dieses Dilemma ist, wenn auch real schwer zu quantifizie‐ ren, eine permanente latente Bedrohung für den Staat. Diese ungebildeten Männer „haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.“ Obwohl es in China bis heute gesetzlich verboten ist, sich vor der Geburt über das Geschlecht des ungeborenen Kindes zu informieren, setzten und setzen sich die meisten werdenden Eltern darüber hinweg. Die aktuellen Relationen erholen sich bisher nur leicht nach dem Tiefpunkt von ca. 120 männlichen zu 100 weiblichen Lebendgeburten in den Jahren 2006-2010 (Quelle: Statista). In den vergangenen Jahren wurden durch die chinesische Zentralregierung mehr und mehr Ausnahmen formuliert bis hin zur völligen Aufgabe der Ein-Kind-Politik im Jahre 2015. Tatsächlich fruchten aber die bisherigen Versuche der Regierung, die Geburten wieder moderat „anzukurbeln“, aktuell nicht. Die Geburtenrate Chinas konvergiert offensichtlich gegen die sehr niedrigen Werte Japans, Südkoreas und Taiwans, die alle unterhalb der deutschen Geburtenrate von derzeit ca. 1,54 Kinder (Stand 2019) pro Frau charakterisiert sind. Weitgehender Konsens besteht in der chinesischen Gesellschaft, dass die Ein-Kind-Politik notwendig und damit richtig war. Tatsächlich läge die Bevölke‐ rung Chinas heute ohne den Eingriff seitens der Zentralregierung vermutlich um die Zwei-Milliarden-Menschen-Grenze und der wirtschaftliche Aufschwung, den China in den vergangenen Jahrzehnten erfuhr, hätte in dieser Form nicht stattfinden können. 13.4 Demografie Chinas 293 <?page no="294"?> Abb. 13.3 illustriert den Verlauf der Bevölkerungsentwicklung Chinas seit Ausrufung der Volksrepublik China im Jahre 1949: Abb. 13.3: Bevölkerungsentwicklung und -wachstum in China 1950-2010 (Quelle: Chinanetz) Gut sichtbar sind die desaströsen Folgen der mit dem Großen Sprung nach vorn ver‐ bundenen Hungersnot Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre mit geschätzten 40-50 Millionen Toten sowie der Einfluss der Ein-Kind-Politik, die ab etwa 1985 zu wirken begann. Der Große Sprung nach vorn (englisch: Great Leap Forward) war eine Industria‐ lisierungskampagne, die China aus seiner ländlichen Rückständigkeit herausreißen und als wirtschaftliche Großmacht etablieren sollte. Zur Überwindung der indus‐ triellen Unterentwicklung rief Mao Zedong die Bauern auf, unter Heranziehung selbst primitivster Arbeitsmittel Hochöfen zu errichten und Stahl zu produzieren. Statt ihre Felder zu bewirtschaften, produzierten die Bauern nun minderwertigen und damit zumeist nutzlosen Stahl. Die Folge der vernachlässigten und zerstörten Landwirtschaft waren brachliegende Felder und von 1960 bis 1962 die größte Hungersnot der Neuzeit weltweit. Die wesentlichen Charakteristika der chinesischen Bevölkerungsentwicklung sind: 1. Eine verbunden mit einer verbesserten medizinischen Versorgung rapide Alte‐ rung der Bevölkerung, die mittelfristig fraglos Auswirkungen auf die Lebens‐ 13 Der Wiederaufstieg Chinas 294 <?page no="295"?> arbeitszeit der Menschen und die wenig entwickelten staatlichen sozialen Sicherungssysteme haben muss. 2. Ein Überschuss von ca. 30-40 Millionen Männern. Vor allem auf dem Land wurden massiv weibliche Föten abgetrieben, da viele Bauern einen männlichen Erben wollten. Viele arme chinesische Männer versuchen, eine Frau aus dem benachbarten Ausland (Vietnam, Thailand, Myanmar, Nepal etc.) „zu bekom‐ men“. Sozialer Druck wird ebenfalls abgebaut, indem zahlreiche junge relativ ungebildete Männer als Kontraktarbeiter für Infrastrukturprojekte in Afrika und Lateinamerika eingesetzt werden (s. Exkurs zur Neuen Seidenstraße). 3. Soziale Veränderungen in den Familien und das „Kleine-Kaiser-Phänomen“: Während die Kinder in der klassischen chinesischen Großfamilie zu Eltern und Großeltern aufschauten, sehen sich heute viele junge Paare mit der zukünftigen Versorgungspflicht von vier Eltern konfrontiert. Hinzu kommt der partielle Verlust der Unterordnung der Kinder, da sich von früher Jugend (fast) alles um die Kinder dreht. 4. Akademiker bekommen noch weniger Kinder als der Durchschnitt der Gesell‐ schaft. Insbesondere jungen gebildeten Frauen fällt es wie in den konfuzianisch geprägten Ländern Japan, Südkorea, Singapur und Taiwan schwer, einen Partner zu finden, der ihren Ansprüchen genügt. 5. Geschätzte 270 Millionen (das entspricht ca. einem Fünftel der Gesamtbevölke‐ rung) Menschen sind sogenannte Wanderarbeiter (auf Chinesisch Nongmin Gong, Bauernarbeiter), die in den Städten ihren Unterhalt verdienen, aber nur unzureichend Zugang zu guter medizinischer Betreuung und Schulen für ihre Kinder haben. Nur ein geschätztes Fünftel dieser Wanderarbeiter ist rentenver‐ sichert. Das Problem der Integration der Wanderarbeiter ist seit Jahrzehnten bekannt, Verbesserungen erfolgen indes, trotz des intuitiv ersichtlichen sozialen Sprengstoffs einer Zweiklassengesellschaft, nur sehr schleppend. Interessant ist in diesem Zusammenhang die bereits erwähnte historisch tradierte Positivdiskriminierung von ethnischen Minderheiten, die „weicher“ angefasst werden als die „richtigen“ Chinesen. Während die Ein-Kind-Politik bei den Han-Chinesen im Zweifel brutal durchgesetzt wurde, blieben die meisten staatlich anerkannten Minderheiten davon weitgehend verschont. Dies geht wie bereits angedeutet einher mit deutlich niedrigeren Eingangsvoraussetzungen für Universitätszulassungen und korrespondiert mit dem in der Videoempfehlung „Understanding the Rise of China“ des britischen Intellektuellen Martin Jacques angesprochenen Superioritätsgefühl vieler Han-Chinesen. Zum besseren Verständnis aktueller Probleme und der „Mentalität“ im heutigen China siehe auch „The Generation that’s Remaking China“ der chinesischen „Business Woman“ Yang Lan. Wenn Sie die aktuellen Bevölkerungspyramiden Deutschlands und Chinas und ihre statistischen Fortschreibungen vergleichen, werden Sie feststellen, dass diese durch geringe Geburtenraten und eine relativ hohe Lebenserwartung dominiert sind. Im Unterschied zu Deutschland haben aber weder Japan, Taiwan, Südkorea noch China 13.4 Demografie Chinas 295 <?page no="296"?> eine Immigrationskultur bzw. die Chance, ihre demografischen Probleme auf Kosten oder mit Hilfe Dritter zu glätten. Was den Alterungsprozess und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft betrifft, haben die „kleinen“ ostasiatischen Staaten Japan, Südkorea und Taiwan einigen Vorsprung vor China und Deutschland. Positiver ausgedrückt: Wir können von diesen Gesellschaften heute und zukünftig im demografisch-gesellschaft‐ lichen Kontext viel lernen. Literaturtipp: Reiner Klingholz, ehemaliger Direktor des renommierten Berlin-Institutes für Demografie, zitiert in seinem Buch „Sklaven des Wachstums“ UNO-Studien und präsentierte bereits 2015 eigene Modellrechnungen, die ab ca. 2060/ 80 eine Trend‐ umkehr der Weltbevölkerung hin zu einer globalen Schrumpfung voraussagen. Das Buch handelt vom Weg dahin und den Folgen. 13.5 Die Internationalisierung des chinesischen „Modells“ China bzw. seine Führer haben sich über Jahrtausende als kulturelle Führer der Welt verstanden. Den Ming- und frühen Qing-Kaisern genügte bis ins frühe 19. Jahrhundert die formale Anerkennung ihrer Oberhoheit durch die „Barbaren“, dann hatten diese im Allgemeinen keine direkte Agitation oder gar physischen Druck, der darauf abzielte, die chinesische Kultur anzunehmen, zu befürchten. Dies korrespondiert mit der bereits erwähnten heute noch üblichen Positivdiskriminierung von Vertretern anerkannter Minderheiten. Dieses Überlegenheitsgefühl der Han-Chinesen, das direkte Aktionen oder harte Überzeugungstätigkeit gegenüber „niedriger entwickelten Völkern“ nicht vorsieht, führt zunächst zu zahlreichen Chancen, in niedrig entwickelten Ländern Einfluss zu gewinnen, weil die Chinesen sich im Normalfall nicht in die lokale Politik einmischen, sondern „nur“ ihren Geschäften nachgehen. Etwas dem westlichen „Demokratieex‐ port“ Äquivalentes gibt es in der chinesischen Gesellschaft und Kultur nicht. Die Reichweite dieses chinesischen Ansatzes ist allerdings beschränkt, da die Bewohner von Less and Least Developed Countries oft nicht als gleichberechtigt oder gleichwertig betrachtet werden (nicht weil viele insbesondere relativ ungebildete Chinesen dies nicht wollen, sondern weil sie es schlicht nicht können) und ebendiese Bewohner das merken. 13.5.1 Handelsbeziehungen und -politik Chinas Wirtschaftsaußenpolitik hat durch die Größe des Landes und seine Wirt‐ schaftsmacht begründet naturgemäß zahlreiche Facetten: Neben den großen Export- und auch Importmärkten Europäische Union und USA bestehen enge Beziehungen 13 Der Wiederaufstieg Chinas 296 <?page no="297"?> zu zahlreichen Entwicklungsländern, die zumeist auf langfristigen Vereinbarungen über den Austausch von Infrastrukturhilfe durch China gegen Zugriff auf natürliche Bodenschätze beruhen. Chinas Währung, der RMB, wurde im Jahre 2015 zur 5. Reservewährung des Welt‐ währungsfonds erhoben. Von vermutlich noch größerer Bedeutung ist die Gründung der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) im Jahre 2014 als Gegengewicht zu den US-amerikanisch dominierten IWF und Weltbank, nachdem Chinas jahrelange Versuche, in diesen bestehenden Institutionen mehr Gewicht zu erhalten, durch die USA abgeblockt wurden. Um bei zukünftigen Projekten nicht abseits zu stehen, traten Deutschland, Großbritannien und Italien der AIIB im Jahre 2015, trotz Protesten aus den USA, bei. Wie bereits angedeutet, hat China im Unterschied zu westlichen Staaten bisher direkte Anstrengungen weitgehend unterlassen, sein Gesellschaftsmodell zu exportie‐ ren: eine Beobachtung bzw. Tatsache, die in Übereinstimmung mit dem Jahrtausende andauernden Austausch Chinas mit seiner Peripherie steht. Eine Devise wie „Wandel durch Handel“, die selbstzuerkannte Überlegenheit mit einer Mission verbindet, ist dem traditionellen chinesischen Denken fremd. Nichtsdestotrotz bewirbt China seine kulturellen Werte, um die Internationalisie‐ rung und das wachsende wirtschaftliche, politische und militärische Gewicht des Landes zu stützen: dies aber wiederum in chinesischer Tradition, dass der Beitritt zur „höheren chinesischen Kultur“ freiwillig vollzogen wird (weitere Ausführungen finden Sie im nachfolgenden Unterkapitel). Bereits im Jahre 2013 wurde durch Chinas Nummer 1, Staats- und Kommunistische Parteichef Xi Jinping, die Initiative „Ein Gürtel, eine Straße“ (englisch: One Belt, One Road; OBOR) angekündigt: Die Gürtelkomponente besteht dabei aus Eisenbahnver‐ bindungen von Westchina durch Zentralasien nach Europa sowie in den Nahen und Mittleren Osten und nach Südasien und der (sprachlich uns nicht sofort einleuchtende) „Straßen-Teil“ besteht aus Häfen und Einrichtungen zur Förderung des Schiffsverkehrs aus Ostasien nach China. OBOR wurde inzwischen zur Belt und Road Initiative (BRI) „weiterentwickelt“. 13.5 Die Internationalisierung des chinesischen „Modells“ 297 <?page no="298"?> Abb. 13.4: Die neuen Seidenstraßen (Quelle: von Lommes [41] ) Mit dieser Initiative versucht China in der Tat, sein Entwicklungsmodell weiterzutra‐ gen. Die BRI zielt darauf, in den im weiteren Sinne benachbarten Ländern industrielle Kapazitäten aufzubauen und die Verbrauchernachfrage zu erhöhen. China würde seine umweltschädigende Schwerindustrie in weniger entwickelte Länder (mit geringeren Bevölkerungsdichten) verlagern, diese wohlhabender machen und somit die Nachfrage nach chinesischen Produkten steigern. Die AIIB ist zum Teil dafür konstruiert, diese Initiative zu finanzieren. Eine weitere wichtige Initiative der chinesischen Regierung stellt der 16/ 17 + 1-Rah‐ men dar, in dem Wirtschaftsbeziehungen zwischen 16 (Griechenland trat im Jahr 2019 als 17. Land der Initiative bei) kleinen ost- und mitteleuropäischen Ländern im Zentrum stehen. Lax ausgedrückt „lockt“ China mit gut finanzierten Projekten und nimmt damit Einfluss auf kleine und finanzschwache Staaten in Ost- und Mitteleuropa, die zudem zumeist über schwache zivilgesellschaftliche Strukturen verfügen. Etwas zugespitzt formuliert: China sitzt bei der EU und übrigens auch bei der NATO mit am Tisch. Im Gegensatz zu den Soft Items wie Frauenförderung, Korruptionsbekämpfung, Gesundheit etc., die der Westen in Entwicklungsländern fördert, fangen die Chinesen wie bereits zu Hause erprobt mit den notwendigen Voraussetzungen von zeitgemäßer Zivilisation, d.h. mit Wasser, Strom, Straßen und Flugplätzen, an. Unstrittig ist, dass so ein Modell ein massives Engagement des chinesischen Staates voraussetzt. Hier gibt es in der Tat relativ neue Realitäten: So wurde die 3.000 km lange Pipeline „Kraft Sibiriens,“ die Gas der russischen Firma Gazprom nach China transportiert, im Dezember 2019 termingerecht in Betrieb genommen. [42] Eine andere zentrale Frage wird sein, inwieweit das für das „Globalprojekt“ Neue Seidenstraße wichtige politische Umfeld in den oligarchisch organisierten Staaten 13 Der Wiederaufstieg Chinas 298 <?page no="299"?> Mittelasiens kontrolliert werden kann. Dies erscheint auf den ersten Blick bereits schwieriger realisierbar zu sein. Vergangene Tatsache ist indes, dass niemand im Westen China den Aufschwung der vergangenen Jahre in der bisher stattgefundenen Form zugetraut bzw. prognostiziert hat: Wenn es der chinesischen Regierung tatsächlich gelingen sollte, das BRI-Projekt umzusetzen, wird dies, und das wissen natürlich die US-Amerikaner in beiden poli‐ tischen Lagern, die wirtschaftliche und politische Machtbalance weltweit deutlich verschieben. 13.5.2 Kulturexport Spätestens im Jahre 2004 begann die chinesische Zentralregierung, bilaterale Handels‐ beziehungen kulturell zu flankieren, mit anderen Worten: China exportiert nun wie das Goethe-Institut, die Alliance Française und das British Council für Deutschland, Frankreich und Großbritannien über seine weltweit über 500 Konfuzius-Institute chinesische Sprache, Kultur und Gesellschaftsverständnis. Parallel lädt China seit Jahrzehnten junge Hoffnungsträger aus Afrika, aus asiati‐ schen Ländern und Lateinamerika zum Studium nach China ein. Dadurch werden die historisch gewachsenen kulturellen und sozialen Werte Chinas, die sich von den auf die Aufklärung zurückgehenden im Westen proklamierten Menschenrechten (1. Ordnung) zum Teil deutlich unterscheiden, sichtbar gemacht und „beworben“. Die chinesische Führung hat sehr wohl verstanden, dass wirtschaftlicher und politischer Einfluss kulturell flankiert werden muss. Die zukünftigen Eliten zahlreicher Entwicklungsländer studieren heute an Universitäten in Peking, Shanghai, Xi’an etc. und sie werden die Beziehung zu ihrem zeitweiligen Gastland mit nach Hause tragen. Ausländer an den Universitäten der DDR In der DDR schlossen ca. 50.000 ausländische Studierende, viele aus Entwicklungs‐ ländern, deren Regierungen dem Ostblock gegenüber positiv eingestellt waren (z.B. Äthiopien, Mosambik und Angola), ihr Hochschulstudium in zumeist technischen Fächern wie Landwirtschaft, Wasser- und Energietechnik sowie in Medizin ab. Finanziert wurde das fast ausschließlich aus staatlichen Mitteln der DDR. Dies war der Beitrag der DDR zur Arbeitsteilung innerhalb des Ostblocks; andere Kombinationen von Ländern und Fachrichtungen wurden durch die ČSSR, Ungarn etc. bedient. Es handelt sich hierbei weniger um Revolutionsexport als um den insgesamt recht erfolgreichen Versuch, Eliten der „kooperierenden“ Entwicklungs‐ länder an die DDR zu binden. Diese Partnerschaft endete Anfang der 1990er Jahre abrupt, die letzten Absolventen aus der DDR gehen heute dem Rentenalter entgegen. Seitdem haben wir das Feld der Ausbildung z.B. der äthiopischen Eliten weitgehend China überlassen und der Westen ist nur noch als Geldgeber ohne nennenswerte Rechte interessant. 13.5 Die Internationalisierung des chinesischen „Modells“ 299 <?page no="300"?> 13.6 Von der Reformpolitik in die Gegenwart Kurz nach Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 wurde fast die gesamte Volkswirtschaft verstaatlicht und eine Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild geschaffen. Nach Ende der Kulturrevolution (1966-1976) begann China ab 1978 vor‐ sichtig, lokal erste wirtschaftliche Reformen auszuprobieren und, sofern erfolgreich, in größerem Maßstab in weiteren Teilen des Landes in die Praxis umzusetzen. Die bereits erwähnte berühmte Reise des wirtschaftlichen (nicht politischen! ) Reformers Deng Xiaopings (1904-1997) nach Südchina im Jahr 1992 war dann der eigentliche Startschuss der ökonomischen Öffnungspolitik. Erste Reformen zielten Ende der 1970er Jahre darauf ab, marktwirtschaftliche Elemente in der dominierenden Planwirtschaft zuzulassen. So konnten Bauern Teile ihrer Ernten, die ihnen selbst und nicht ihren Kooperativen zugeordnet waren, auf dem Markt verkaufen. Die zu dieser Zeit bedeutendste Reform, an deren Ende weitgehend freie Marktpreise für fast alle Konsumgüter standen, war das Dual-Track-Preissystem, das Mitte der 1980er Jahre eingeführt wurde. Hier existierten zeitweise pro Gut zwei parallele Preise: ein vom Staat definierter und ein aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage resultierender Marktpreis. Im Jahre 1992, fast alle Preise waren inzwischen Marktpreise, rief die Zentralregierung eine sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten aus, wobei das Adjektiv sozialistisch grundsätzlich nur eine Bezeichnung für das politische System darstellt. Wie bereits erwähnt, wuchs die chinesische Wirtschaft ca. zwei Jahrzehnte bis Mitte der 2010er Jahre offiziell um durchschnittlich ca. 10 Prozent pro Jahr. In den letzten Jahren ist das Wachstum zurückgegangen. Für 2019 wird von einem nun viel höheren Niveau ein BIP-Wachstum von knapp über 6% ausgegangen und für das Corona-Jahr 2020 scheint China die einzige bedeutende Volkswirtschaft (neben Vietnam) zu sein, die ein positives Wirtschaftswachstum erzielte. Das bedeutet, dass der gegenwärtige absolute jährliche Zuwachs bedeutend größer ist, als dies z.B. noch vor 10 oder gar 20 Jahren war. Welchen Wert die statistischen Ämter hier schlussendlich melden, ist jenseits der Befriedigung psychologischer Bedürfnisse aber wenig relevant. Erstens, weil selbst die oberste Staatsführung offensichtlich geringes Vertrauen in diese statistischen Aussagen hat, zweitens, weil viel wichtiger ist, wie die chinesische Wirtschaft den coronabedingten Einbruch der Weltwirtschaft im Jahr 2020 verkraften wird. Um die Exportabhängigkeit der chinesischen Wirtschaft zu verdeutlichen: Der Wert der chinesischen Exporte in die Europäische Union lag im Jahr 2019 bei ca. 362 Mrd. Euro, während die Exporte aus der EU nach China mit 198 Mrd. Euro nur etwas mehr als die Hälfte dieses Wertes betrugen. [43] 13 Der Wiederaufstieg Chinas 300 <?page no="301"?> Der Li Keqiang-Index Bekannt geworden ist der nach Premierminister Li Keqiang benannte Index, der lediglich die Kreditvergabe der Banken, das Frachtvolumen der Bahn und die Stromproduktion berücksichtigt und laut Li dem (offiziellen) BIP bezüglich des Informationsgehaltes überlegen ist. Die chinesische Zentralregierung bzw. die quasi dazugehörige Zentralbank koppelte den RMB über Jahrzehnte fest an den US-Dollar. Dauerhafte Klagen und Druck der USA und anderer westlicher Handelspartner mit der Begründung, China erschleiche sich über seine künstlich unterbewertete Währung Handelsvorteile, führten nach Chinas Beitritt zur WTO nach einer langen Periode mit einem festen Wechselkurs oberhalb von 8 RMB pro US-Dollar ab 2005 zu einer schrittweisen kontrollierten Aufwertung des RMB gegenüber dem US-Dollar bis 2013 um insgesamt ca. 25 Prozent. Die wachsende chinesische Wirtschaft korrespondierte nun mit einem Erstarken der chinesischen Währung. Ab 2014 war eine leichte gegenläufige Bewegung zu beobachten. Mit abnehmenden Wachstumsraten des BIP korrespondierte nun eine von der chinesischen Zentralbank gesteuerte Abwertung des RMB gegenüber dem US-Dollar (bzw. ein (temporäres? ) Wiedererstarken des US-Dollars gegenüber dem RMB). Abb. 13.5: Wechselkurs RMB pro US-Dollar 2005-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) 6,00 6,50 7,00 7,50 8,00 8,50 01/ 2005 01/ 2007 01/ 2009 01/ 2011 01/ 2013 01/ 2015 01/ 2017 01/ 2019 RMB pro US-Dollar Abb. 13.5: Wechselkurs RMB pro US-Dollar 2005-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) Während Chinas Währung quasi fest an den US-Dollar gekoppelt war, wurde der europäische Absatzmarkt bereits Anfang der 2010er Jahre für chinesische Exporteure deutlich schwieriger, da die EZB bereits durch ihre Geldmengenausweitungspolitik erfolgreich den Euro im Vergleich zum US-Dollar geschwächt hatte und damit auch die Absatzchancen und die Profitabilität chinesischer Unternehmen, die in die Eurozone und ihre Anrainer exportierten, signifikant verschlechtert hatte. Darauf reagierte die chinesische Zentralbank als Teil der Regierung, deren oberstes Ziel, wie bereits ausgeführt, Stabilität, hier also primär im Sinne der Sicherung von 13.6 Von der Reformpolitik in die Gegenwart 301 <?page no="302"?> Arbeitsplätzen, lautet, indem sie in den vergangenen 6 Jahren eine kontrollierte Abwertung des RMB gegenüber dem US-Dollar managte. Ob wir Mitte 2020 Zeugen einer erneuten Trendumkehr waren, wird bereits die nähere Zukunft erweisen. Es gibt jedenfalls zahlreiche gute Gründe anzunehmen, dass zur Weltmachtrolle, die China be‐ reits wahrnimmt bzw. deren Ausbau es anstrebt,eine starke Währung korrespondiert. Währungskriege bzw. Abwertungen der eigenen Währung sind seit mehr als 10 Jahren wieder en vogue, um sich kurzfristig Handelsvorteile zu verschaffen. Weder die US-Amerikaner noch die Briten, Japaner oder Europäer haben einen nachvollziehbaren Grund, sich über die Vorgehensweise der chinesischen Zentral‐ bank zu mokieren. Letztlich verliert bei solchen „Abwertungsspielen“ zunächst der eine, was der andere gewinnt: Es handelt sich ergo um ein kurzfristiges Nullsummenspiel, bei dem langfristig allerdings alle Teilnehmer verlieren. Chinas Transition der vergangenen Jahrzehnte war ein gradueller Prozess. Fast alle Reformen wurden auf lokaler Ebene „ausprobiert“, bevor sie im größeren geografischen Rahmen implementiert wurden. Der Bedarf an Revolutionen war mit dem „Großen Sprung nach vorn“ und der Kulturrevolution gedeckt, die Experimente der sowjeti‐ schen Genossen ab Mitte der 1980er Jahre ließen nichts Gutes ahnen. So behielt der Staat trotz (Teil-)Privatisierung stets das letzte Wort. Deng höchst‐ selbst unterstützte dabei die Eröffnung von Wertpapierbörsen, ohne das Primat des Staates in Frage zu stellen: „Are securities and the stock market good or bad? Do they entail any dangers? Are they peculiar to capitalism? Can socialism make use of them? We allow people to reserve their judgement, but we must try these things out. If, after one or two years of experimentation, they prove feasible, we can expand them. Otherwise, we can put a stop to them and be done with it. We can stop them all at once or gradually, totally or partially. What is there to be afraid of ? So long as we keep this attitude, everything will be all right, and we shall not make any major mistakes.“ [44] Abb. 13.6 vermittelt einen Eindruck der Entwicklung von Marktkapitalisierung und GDP von 1992, dem Jahr der Eröffnung der Wertpapierbörsen in Shanghai und Shenzhen, bis zum Jahr 2019. 13 Der Wiederaufstieg Chinas 302 <?page no="303"?> 0 20.000 40.000 60.000 80.000 100.000 120.000 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 Market Capitalization and Nominal GDP Market Capitalization (bn RMB) Nominal GDP (bn RMB) Abb. 13.6: GDP und Marktkapitalisierung der an den Börsen in Shenzhen und Shanghai gelisteten Unternehmen von 1992-2019 (eigene Darstellung mit Tang: Daten von Wind und Choice) 1. Der Einbruch der chinesischen Börsen in den Jahren 2007 und 2008 war bei Weitem stärker als der Mitte 2015 beginnende Ausverkauf. Tatsache ist aber, dass die gehandelten Volumina von inzwischen mehr als 100 Millionen Privatanlegern viel größer sind als beim ersten großen Einbruch. Politisch ist dies im Sinne von Stabilität deshalb sensibel, weil an Chinas Börsen relativ wenige institutionelle Anleger anzutreffen sind, sondern überwiegend Privatanleger, die dabei oft die Vermögen ihrer Familien oder Unternehmen aufs Spiel setzen, am Markt „zocken“. Bemerkung: Wenn Sie sich die Entwicklung des DAX in den Jahren 2000 bis 2003 vergegen‐ wärtigen bzw. die des japanischen Nikkei225, werden Sie feststellen, dass solche qualitativen Einbrüche auch in entwickelten Volkswirtschaften mit funktionie‐ render Marktwirtschaft und Gewaltenteilung passieren können: Der Deutsche Aktienindex DAX verlor Anfang des neuen Jahrtausends in der Spitze z.B. ca. 70 Prozent. 2. Von 2009 bis 2014 unterscheiden sich die Wertentwicklungsmuster der beiden chinesischen Aktienindizes. Dies war darauf zurückzuführen, dass ab 2009 in Shanghai vor allem Großunternehmen und in Shenzhen kleinere und mitt‐ lere Unternehmen gelistet werden. In dieser Periode gab es eine interessante Analogie zum deutschen Aktienmarkt. Der MDAX, der die 60 Unternehmen abbildet, die nach den 30 im DAX notierten Unternehmen folgen, hatte sich in den vergangenen 10 Jahren deutlich besser entwickelt als der DAX. Ab 2014 13.6 Von der Reformpolitik in die Gegenwart 303 <?page no="304"?> 21 Wenn man die Zentralbankpolitik als den wesentlichen Kurstreiber betrachtet, gilt diese Aussage seit ca. 10 Jahren qualitativ ebenso für die USA, die Euro-Börsen, Großbritannien, Japan, usw. führte aber eine weitere „Regeländerung“ der chinesischen Finanzaufsicht dazu, dass sich die Investoren verstärkt Shanghai zuwandten. Chinas Börsen sind in diesem Sinne politische Börsen. 21 Wer dort investiert, sollte also versuchen, die Entscheidungen der chinesischen Regierung zu antizipieren. Abb. 13.7: Wertentwicklung der Börsenindizes in Shenzhen und Shanghai 1991-2018 (eigene Darstellung: Daten von Wind und Choice) Abb. 13.7: Wertentwicklung der Börsenindizes in Shenzhen und Shanghai 1992-2018 (eigene Darstellung mit Tang: Daten von Wind und Choice) Tatsächlich hat aber nicht nur der absolute, sondern auch der relative Abstand zwischen den US- und den chinesischen Aktienmärkten seit 2012 noch zugenommen. Die Markt‐ kapitalisierung von NYSE und Nasdaq betrug Ende 2018 mit ca. 30.000 Mrd. US-Dollar ungefähr das Dreifache der Marktkapitalisierung der Börsen in Shenzhen, Shanghai und Hongkong (danach habe ich keine hinreichend genauen Zahlen recherchieren können) und diese Relation hat sich in den Börsenjahren 2019 und 2020 durch die Hausse der US-Technologiewerte bedingt qualitativ nicht verändert. Das ist bei der Dominanz der Privatanleger an den chinesischen Aktienbörsen und der Tatsache, dass der alles dominierende Markt in China der Immobilienmarkt ist (Ende 2020 waren vergleichbare Wohnimmobilien in Shanghai mehr als doppelt so teuer wie in Tokio oder New York) aber auch nicht weiter verwunderlich. 13 Der Wiederaufstieg Chinas 304 <?page no="305"?> 22 John Maynard Keynes stellte einmal fest, dass bei der Bank of England bei Ausbruch des I. Weltkrieges nur 3% der umlaufenden Banknoten durch Gold gedeckt waren. Das wusste nur niemand. 13.7 Chinas Status im Jahre 2020 Die chinesische Gesellschaft verändert sich demografisch mit atemberaubender Ge‐ schwindigkeit. Neben den Folgen der Ein-Kind-Politik wirkt sich dabei gerade die deutlich erhöhte Lebenserwartung durch verbesserte Gesundheitsvorsorge und Kran‐ kenhäuser (in den großen Städten) aus. Das Wirtschaftswachstum hat sich in den vergangenen Jahren merklich abgekühlt, befindet sich aber im Vergleich zu den westlichen Ländern immer noch auf hohem Niveau. Ebenso bleibt der Trend zur Verstädterung erhalten. Inwieweit die Zahlen der chinesischen Statistiker Vertrauen erwecken sollten, ist mit Verweis auf den Li Keqiang-Index in der Tat eine nur scheinbar offene Frage. Das ist mit Blick auf das Primat der chinesischen Regierung für soziale Stabilität letzlich auch irrelevant, soweit die Menschen den Angaben der Statistiker glauben schenken oder sie nicht in Zweifel ziehen. 22 Fraglos treibt die chinesische Zentralregierung einen Wandel vom bisherigen in‐ vestitions- und wachstumsgetriebenen Modell zu einer mehr service- und konsumba‐ sierten Gesellschaft voran. Das bisherige Wachstumsmodell hat Hunderte Millionen Menschen aus bitterer materieller Armut befreit, dies allerdings um den Preis starker sozialer Ungleichheit, starker Umweltverschmutzung, Mangel an Vertrauen in der Gesellschaft u.v.m. Es war also von vornherein absehbar, dass dieses extensive Wachs‐ tumsmodell ein Ende finden musste: Erstaunlich und Respekt erheischend in höchstem Maße ist, dass diese Periode so lange ohne größere Turbulenzen andauerte. Zwischen den Volkswirtschaften Deutschlands und Chinas herrscht eine starke wechselseitige Abhängigkeit: China importiert neben den klassischen Maschinen- und Werkzeugtechnikausrüstungen Energie- und Umwelttechnologie aus Deutsch‐ land; große deutsche Unternehmen wie Adidas, BASF, Siemens, Daimler, BMW und insbesondere Volkswagen haben viele Milliarden Euro in China investiert und sie erzielen inzwischen einen Großteil ihrer Gewinne auf dem chinesischen Markt. Sie sind damit in Anlehnung an Hillary Clintons Bemerkung nach ihrer Antrittsreise als US-Außenministerin im Jahre 2009 „Es ist schwierig mit seinem Banker zu verhandeln.“ bei Bedarf in China fraglos unter Druck zu setzen. Die heutige westliche Wahrnehmung Chinas konzentriert sich neben wirtschaftli‐ chen Problemen vor allem auf Fragen der Menschenrechte in Xinjiang und auf den Status von Hongkong, wobei ein Großteil der zugrundeliegenden Berichte leider mit viel Selbstbewusstsein, dafür aber mit mangelnden Kenntnissen über die chinesische Volkswirtschaft, Gesellschaft und Politik geschrieben wird. 1. Vielfach publizierte und kommentierte Zahlen, dass China im Jahre 2015 mit 500 Mrd. US-Dollar ein Viertel seiner Währungsreserven verloren hatte, waren schlicht Unsinn. Dieser Betrag ermittelte sich aus mehreren Komponenten, darin enthal‐ ten sind auch Investitionen von chinesischen Firmen im Ausland. Bekanntestes 13.7 Chinas Status im Jahre 2020 305 <?page no="306"?> 23 Außer Frage steht, dass Sicherheitsinteressen von Nationalstaaten eine wesentliche Rolle spielen müssen, wenn es um die Übernahme bzw. den Verkauf von sensibler Technik geht. Interessant zu beobachten wird sein, wie Deutschland damit umgehen wird, die Weiterführung Tausender in Familienbesitz befindlicher Mittelständler zu gestalten, wenn es, wie bereits vielfach absehbar, keine Nachfolgeregelung in den Familien geben wird. 24 Das vollständige Zitat lautet in deutscher Übersetzung: "Die EZB ist bereit, im Rahmen ihres Mandats alles zu tun, was nötig ist, um den Euro zu retten. Und glauben Sie mir: Es wird genug sein." (vgl. z.B. https: / / www.welt.de/ newsticker/ dpa_nt/ infoline_nt/ thema_nt/ article128745530/ Der-EZB- Krisenkurs-unter-Mario-Draghi-in-Zitaten.html) Unternehmen war die Schweizer Syngenta, die von ChemChina im Jahre 2015 für ca. 38 Mrd. Euro übernommen wurde. Der Fall des Augsburger Robotikherstellers Kuka mit ca. 14.000 Mitarbeitern wurde dabei dramatisch überhöht. 23 2. Die Rolle der Börse in China wird volkswirtschaftlich überschätzt, da die Kurse aufgrund zahlreicher staatlicher Investitionen kaum durch Angebot und Nachfrage zusammenkommen. Richtig ist indes, dass die Börse bei dort spekulierenden mehr als 100 Millionen Kleinanlegern psychologisch von außer‐ gewöhnlicher Bedeutung für die Verfassung Chinas ist. 3. Immer wieder auftauchende Gerüchte bzw. Mitteilungen, dass Hedgefonds gegen den RMB spekulieren, zeugen entweder vom Größenwahn der entspre‐ chenden Fondsmanager oder von (primitiver) politischer Stimmungsmache gegen China. (Erinnern Sie sich daran, dass es vor gar nicht so langer Zeit eine ähnliche Stimmungsmache gegen den Euro gab, bevor EZB-Chef Mario Draghi sein „Whatever it takes“ formulierte? 24 ) Tatsächlich waren die westlichen Denker und heutzutage die Medienmacher in den vergangenen Jahrhunderten selten in der Lage, eine „vernünftige“ kritische Distanz zu China zu entwickeln. Die Darstellungen variieren seit Voltaire meist nahe der Extreme schrankenloser Bewunderung und bösartiger Verachtung, Letztere versetzt mit Schadenfreude. Beispielhaft seien hier drei Titelblätter des „SPIEGEL“ abgebildet: Abb. 13.8: SPIEGEL-Titelblätter 40/ 2005, 35/ 2007 und 15/ 2008 (SPIEGEL, 2005, 1. Oktober; SPIEGEL, 2007, 27. August; SPIEGEL, 2008, 7. April) 13 Der Wiederaufstieg Chinas 306 <?page no="307"?> Während China sowohl bei der Asienkrise Ende der 1990er Jahre als auch bei der mit dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers ausbrechenden Finanzkrise seit 2008 der Stabilitätsanker weltweit war, dürfte es diese Rolle bei der aktuellen „Weltkrise“ nur noch eingeschränkt ausfüllen. Dies sollte uns allerdings weniger zum China-Bashing ermuntern, sondern darüber nachdenken lassen, warum der reichste Teil der Welt, die westlichen Staaten inklusive Japan, mit ca. einer Milliarde Menschen, in der vergangenen Dekade (und in absehbarer Zukunft ebenso nicht) keinen solchen Stabilitätsanker für die Weltwirtschaft darstellen konnte und dies in absehbarer Zeit auch nicht tun wird. Diese Feststellung ist umso bedeutender, als gerade die armen Länder der Welt von der Co‐ rona-Krise hart betroffen sein werden. Während in der EU und den USA milliardenschwere Rettungspakete für Unternehmen, Kurzarbeiter und Arbeitslose auf den Weg gebracht wurden, fehlen in vielen Ländern Südostasiens, Lateinamerikas und Afrikas nicht nur Krankenhäuser und Ärzte (von Corona-Impstoffen nicht zu reden), sondern ebenso Geld für den sozialen Ausgleich und Konjunkturprogramme. Neben den Gesundheitsrisiken drohen damit Massenarbeitslosigkeit und Hunger. Kampf um die Welherrschaft? Richtig ist, dass die chinesische Staatsführung mit der von Premierminister Li Keqiang im Jahre 2015 verkündeten Strategie „Made in China 2025“ die USA bezüglich Technologieführerschaft und damit Weltmachtstatus offen herausgefor‐ dert hat. Die chinesische Staatsführung hat aus dem alten Fehler, Technologie gering zu schätzen, gelernt; ob sie dabei einen neuen Fehler gemacht hat oder nicht, werden die kommenden Jahre erweisen: Diese Strategie führt offen aus, dass China in der Entwicklung von Hochtechnologien inklusive Pharmakologie, der Automobilindustrie, Raumfahrt, Halbleitertechnologie, Robotik und Künstliche Intelligenz die Weltspitze (und davon gibt es nur eine) beansprucht. Ob der chinesischen Staatsführung bei der Präsentation dieser Strategie wirklich klar war, wie eine „geballte“ Reaktion der USA darauf fast zwangsläufig erfolgen musste, darf zumindest bezweifelt werden. Es muss ebenso Spekulation bleiben, ob die amtierende chinesische Staatsführung mittelfristig nur dieses eine Zeitfenster, „bevor China alt wird“, gesehen hat, um die USA zu überholen. Richtig ist aber ebenso, dass die westliche Vorstellung von einem Wandel Chinas durch Handel auf Unwissen, Ignoranz und Arroganz beruhte. Das im Zusammen‐ hang mit der Entwicklung Hongkongs immer wieder erwähnte Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ wurde bis 2019 - mehr noch als von der Zentralregierung in Peking - von den radikalen Protestieren, zu denen der in Deutschland bekannte Joshua Wong gehört, ad absurdum geführt, da diese Gruppen mit Wong als Frontmann spätestens seit Sommer 2019 offen zum Sturz der chinesischen Regierung aufrufen. Wenn „Die Welt am Sonntag“ im Juli 2020 auf einer Titelseite „China soll für hartes Vorgehen in Hongkong bestraft werden“ meldet, ist das nicht nur größenwahn‐ sinnig, sondern verantwortungslos. Das bedeutet nicht, dass aus vorauseilendem 13.7 Chinas Status im Jahre 2020 307 <?page no="308"?> Gehorsam keine selbst harte Kritik an der chinesischen Politik erlaubt sein darf (ein gutes Beispiel hierfür ist der bereits im Vorwort erwähnte britische Historiker Niall Ferguson). Es verweist aber neben den klassischen Arbeitsplätzeargumenten darauf, dass die USA mit Sanktionen in 60 Jahren nicht einmal Kuba in die Knie haben zwingen können und dass wir China spätestens, wenn es u.a. um interna‐ tionale Strategien zur „Rettung des Weltklimas“ geht, noch brauchen werden. In meinen fast zwanzig Jahren Tätigkeit in China habe ich immer wieder positiv erlebt, dass Kritik möglich und oft auch erwünscht ist, diese sollte allerdings nicht auf dem Marktplatz erfolgen und sie muss gesichtswahrend für alle Beteiligten sein. Dies betrifft übrigens beide Seiten! Die Regierung von Chinas Staats- und Kommunistische Partei-Chef Xi Jinping ist dazu verdammt, den zweiten Teil von Deng Xiaopings Versprechen wahr zu machen, China zu der dem alten Ideal entsprechenden harmonischen Gesellschaft zu machen. Dabei geht es vor allem darum, eine Gesellschaft, die durch kapitalintensive Produktion, die zwar zahlreiche Jobs schuf, aber dafür massive Umweltschäden nach sich zog, derart umzubauen, dass zugleich die sozialen Ungleichheiten und Spannungen reduziert werden. Der Versuch der chinesischen Zentralregierung, das bisherige Wachstumsmodell in Richtung Konsum und Dienstleistungen umzustellen, hat seine Schwierigkeiten. Diese Umstellung wird nicht nur Millionen unproduktive und umweltschädigende Arbeitsplätze „vernichten“, ihre Umsetzung steht dabei vor der „Herausforderung“, Menschen, die keine hinreichende private oder staatliche Altersvorsorge und in Teilen keine Krankenversicherung haben, in der Gegenwart zum Geldausgeben zu überzeugen. Dieser Umbruch findet in einer Zeit statt, in der der demografische Wandel aufgrund gestiegener Lebenserwartung und sinkender Geburtenraten bereits voll durchschlägt. Der Strukturwandel in China ist neben zahlreichen ökonomische und politischen Risiken (Stichwort Ausschließung vom US-Markt) auch mit Chancen für deutsche Unternehmen verbunden. Dies betrifft Biotechnologie, Ökostrom, Pharmakologie, Nahrungsmittel, Kosmetika, Mobilitätskonzepte u.v.m. So wie in den USA die fast singulär zu nennende Einigkeit zwischen den Demokraten und den Republikanern besteht, „China in die Schranken zu weisen“ bzw. einzuhegen, sind sich in China Regierung und Regierte fast ausnahmslos einig, dass eine Biden-Ad‐ ministration im Ton moderater sein wird als ihre Vorgängerin, in der Sache aber ebenso „nichts noch so Schmutziges“ unterlassen wird, um Chinas Wiederaufstieg zur Weltmacht zu behindern. 13 Der Wiederaufstieg Chinas 308 <?page no="309"?> 25 Dieser Exkurs ist eine gekürzte Version eines Artikels, der im Herbst 2020 in den Vierteljahresheften zur Wirtschaftsforschung des DIW von mir unter dem Titel „Zur Rolle der chinesischen Entwicklungsbanken beim Bau der Neuen Seidenstraße“ mit Haifeng Zendeh und Andrew Johansson als Co-Autoren publiziert wurde. Alle verwendeten Quellen und Referenzen werden dort aufgeführt. 26 Bis Anfang 2019 wurde zumeist der Begriff OBOR (One Belt, One Road) verwendet. 27 Partner im engeren Sinne bedeutet, dass das RMB cross-border payment system (CIPS) angewendet wird. Vgl. www.cn.undp.org/ content/ dam/ china/ docs/ Publications/ P020191106652075822071.pdf 28 Äthiopien verfügte, obwohl hinsichtlich nationalstaatlicher Grenzen Binnenland, immer über den Zugang zum Meer über Djibouti. Exkurs: Die BRI in Afrika 25 Ohne jeden Zweifel stellt die Belt and Road Initiative 26 (BRI) bezüglich Größe, Kosten und Vielfältigkeit der Transportmittel und damit der politisch-ökonomisch-sozialen Dimensionen das bei Weitem bedeutendste Infrastrukturprojekt des frühen 21. Jahr‐ hunderts dar. Unter den teilnehmenden 138 von 193 UN-Mitgliedsstaaten und 30 internationalen Organisationen, die bilaterale Abkommen mit China unterzeichnet haben, gehören etwa 60 Länder zur BRI im engeren Sinne. 27 Von besonderer Bedeutung ist, dass die BRI in China Verfassungsrang besitzt. Das bedeutet, dass die chinesische Zentralregierung und Chinas Präsident Xi Jinping persönlich ihr Renommée bei der eigenen Bevölkerung direkt mit der BRI verbunden haben. Beim ersten Belt and Road Forum in Peking im Jahre 2017 stellte Chinas Präsident Xi die Dimension des Globalvorhabens BRI heraus, als er die Höhe der special lending schemes verkündete. Das Volumen beläuft sich für die beiden wichtigsten Entwicklungsbanken, die China Development Bank (CDB) auf 250 Mrd. RMB und für die Exim Bank auf 130 Mrd. RMB, d.h. auf insgesamt ca. 55 Mrd. US-Dollar. Zwei Jahre später wurden auf dem Second Belt and Road Forum u.a. die outstanding loans der Exim-Bank bei geschätzten 1.800 BRI-Projekten auf mehr als 1.000 Mrd. RMB (ca. 149 Mrd. US-Dollar) taxiert. Die größte chinesische Geschäftsbank Industrial and Commercial Bank of China (ICBC) finanzierte für die BRI bis Anfang 2019 mehr als 400 BRI-Projekte mit einer Gesamtkreditsumme, die das Äquivalent von 100 Mrd. US-Dollar überstieg. Es ist dabei von einem holistischen impliziten Konsensus der großen chinesischen Unternehmen und der Regierung, als, in Anlehnung an Martin Jacques, head of the family, auszugehen, der besagt, dass der aktuelle Fokus der BRI auf einer Verbesserung der Effizienz der eingesetzten Mittel liegt. Bereits im Jahre 2009 überholte China die USA als stärkster Handelspartner Afrikas. Die wichtigsten chinesischen Exportgüter sind Maschinen, Haushaltselektronik sowie Textilien; importiert nach China werden Rohöl, Eisenerz, Baumwolle und andere natürliche Ressourcen. Große offizielle Transfers gingen nach Nigeria, Kenia, Tansania und Äthiopien. Die wichtigsten Handelspartner, die nicht zugleich die wichtigsten Investitionsdestinationen sind, sind Südafrika, Angola und Nigeria. Alle relevanten Partnerländer Chinas in Afrika sind Küstenländer. 28 Bezeichnend ist, dass die westliche Debatte zum Oberthema Chinese economic acti‐ vities and investments in Africa von nur zwei Forscherinnen dominiert wird: Deborah Exkurs: Die BRI in Afrika 309 <?page no="310"?> 29 Das ist tatsächlich dieselbe Universität in Baltimore, die durch die Veröffentlichung der Corona-Fall‐ zahlen im Frühjahr 2020 weltweite Aufmerksamkeit erfuhr. 30 Das Großprojekt Chinas in Ostafrika ist ein Eisenbahnnetz, das Äthiopien, Kenia, Tansania und Uganda verbinden soll. Brautigam and Huang Zhengli. Über die diesbezüglich besten westlichen Daten verfügt die China Africa Research Initiative (CARI) an der Johns Hopkins University’s 29 School of Advanced International Studies (SAIS), dessen Direktorin Deborah Brautigam seit der Gründung im Jahre 2014 ist. Die Daten des CARI sind dabei Basis für zahlreiche empirische Untersuchungen westlicher und chinesischer Forscher. Huang und Chen (2016) zeigen, dass China bereits im Jahr 2010 Europa als wich‐ tigsten externen Kontraktpartner in Afrika bei der Übernahme und Ausführung von Infrastrukturprojekten abgelöst hat. Seitdem dominieren chinesische Firmen dortige Großbauprojekte. Der Anteil Chinas in der afrikanischen Bauindustrie (ca. 40 Mrd. US-Dollar im Jahre 2015 und damit etwa 50% des Gesamtvolumens) liegt weit über den Finanzzusagen aus China, die nur etwa 5% der Gesamtkontraktsummen betragen. Huang schätzt in einem späteren Beitrag, dass weniger als ein Viertel der Infrastruk‐ turprojekte, die durch chinesische State Owned Enterprises (SOEs) ausgeführt wurden, mit chinesischem Geld finanziert wird. Chinesische Baufirmen dominieren die großen Infrastrukturprojekte in weiten Teilen Afrikas: Beispiele sind das Konferenzzentrum des Headquarters of the African Union und das neue Stadion in Addis Ababa in Äthiopien, die von der CDB finanzierte 3,6 Mrd. US-Dollar teure Eisenbahn, die Mombasa und Nairobi in Kenia verbindet 30 und die Küsteneisenbahn in Nigeria. In Afrika folgten dem Geld Menschen. Nach unseren Schätzungen leben derzeit zwischen 1,5-2 Millionen Chinesen in Afrika. Dies sind überwiegend Männer mit geringer Ausbildung. Die Aktivitäten chinesischer Unternehmen sind abhängig von den natürlichen Gegebenheiten und den Vorstellungen der regierenden Eliten im jeweiligen afrikani‐ schen Partnerland. Angola war zu Beginn des Jahrtausends das Symbol für Chinas Afrikapolitik. Hinter der Verbindung von Angola mit China stand das oil loan frame‐ work agreement, das die chinesische und die angolanische Regierung im Jahre 2004 unterzeichneten. Vereinfacht handelt es sich hier um die Zusage eines Kredites im Tausch gegen zukünftige Öllieferungen. Äthiopien versucht seit mehr als 10 Jahren, das „Chinesische Modell“ zu kopieren. Im Juli 2016 waren seitens der Ethiopian Investment Commission (EIC) mehr als 1.000 Projekte mit chinesischen Partnern registriert: Dutzende Firmen sind derzeit im Straßenbau tätig, wobei laut Shinn (2014) ca. 70% dieser Projekte durch chinesische Banken finanziert wurden. Großprojekte wie die beiden bereits 2011 begonnenen und 2015 bzw. 2016 in Betrieb genommenen Addis Ababa Light Rail System und die 728 km Djibouti - Addis Ababa Eisenbahn wurden von der Exim Bank finanziert und durch die China Railway Engineering Corporation (CREC) ausgeführt. Die staatliche Exim-Bank 13 Der Wiederaufstieg Chinas 310 <?page no="311"?> 31 Da die überwiegende Mehrzahl der in chinesischen Firmen beschäftigten Kontraktarbeiter Frauen sind, sind diese Engagements, auch wenn die tatsächlichen Effekte schwierig zu quantifizieren sind, wenigstens zum Teil für den Rückgang der Geburtenrate verantwortlich. 32 Unter anderem sind die Großunternehmen China State Construction Engineering Corporation (CSCEC), die China Communications Construction Company (CCCC), die wiederum eine Tochter‐ gesellschaft der China Road and Bridge (CRB) ist und die China Civil Engineering Construction Corporation (CCECC) in Kenia tätig. 33 Diese Beobachtung ist im Widerspruch zu der oft wiederholten Aussage, dass die BRI eine Profitma‐ schine für chinesische Staatsunternehmen darstellt, s. z.B. https: / / www.faz.net/ aktuell/ wirtschaft/ a n-der-neuen-seidenstrasse-verdient-allein-china-16584098.html war hier sowohl Garant des chinesischen Staates als auch Türöffner für nachfolgende chinesische Unternehmen vor allem der Textil- und Schuhindustrie. 31 Kenia ist eines der wenigen Länder, in denen sich westliche und chinesische Aktivitäten in etwa die Waage halten. Huang Zhengli schätzt, dass mehr als 200 Chinesische SOEs der Baubranche in Afrika und davon 50-80 aktiv in Kenia tätig sind. Da die Abgrenzung zwischen Mutter- und Tochterunternehmen teilweise un‐ durchsichtig ist, sind die Zahlen vage. 32 Huang sieht die Konkurrenz chinesischer Unternehmen untereinander als Zeichen an, dass die chinesische Regierung in Afrika keine Langfriststrategie hat. Chinesische Unternehmen unterboten sich gegenseitig und „ruinierten“ so in ausschließlich chinesischer Konkurrenz vielfach die Preise. Ein Beispiel laut Huang ist die C13 Schnellstraße in Kenia, bei der 5 der 10 an der Ausschreibung teilnehmenden Unternehmen aus China kamen und schließlich das chinesische Unternehmen Jiangxi International Ltd. den Zuschlag für eine Kontrakt‐ summe erhielt, die weit unter den geschätzten Kosten lag. Shen (2015) stellt heraus, dass private chinesische Unternehmen seit Mitte der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts zunehmend nach Afrika expandieren, wobei die akkumulierte Anzahl der von Privatunternehmen übernommenen Projekte von 52 im Jahre 2005 auf 1.217 und damit 53% aller chinesischen Outward Foreign Direct Investments anstieg. Tatsächlich dürften diese Angaben die Rolle des privaten Sektors noch unterschätzen. Insbesondere ist gewiss, dass nicht alle Finanzierungen von Privatfirmen korrekt über chinesische Banken erfolgen. Der Bericht des International Trade Centre für das Jahr 2018 schätzt, dass 90% aller in Afrika tätigen chinesischen Unternehmen privat sind. Alle offiziellen statistischen Werte unterschätzen unserer Wahrnehmung nach die tatsächlichen Cash-Flows aus China nach Afrika deutlich. Die Beratungsgesellschaft McKinsey schätzt, dass chinesische Unternehmen in Afrika hauptsächlich eigenes Geld investierten, wobei nur etwa 15% direkt mit der chinesischen Regierung auf allen Ebenen verbunden sind. In dem Report von McKinsey wird, in Übereinstimmung mit Huang und Chen, darauf hingewiesen, dass nur sehr wenige chinesische SOEs im Jahre 2017 über Bruttoprofitmargen oberhalb von 20% berichteten und dass ferner ein Viertel der Unternehmen Verluste meldete. 33 Schätzungen von Deloitte aus dem Jahre 2019 besagen, dass etwa jedes dritte Infrastrukturprojekt in Afrika von chinesischen Firmen ausgeführt wird, aber nur jedes Exkurs: Die BRI in Afrika 311 <?page no="312"?> 34 Diese Aussage betrifft beide Teile Deutschlands vor der Wiedervereinigung: Als erster Staatsgast nach dem II. Weltkrieg reiste Kaiser Haile Selassie I. aus Äthiopien 1954 nach (West-)Deutschland. Die DDR war ein wichtiger Entwicklungshilfepartner der Mengistu-Regierung; so studierten zahl‐ reiche junge Äthiopier bis in die frühen 1990er Jahre an ostdeutschen Universitäten. Vgl. z.B. Das entwicklungspolitische Engagement der DDR in Äthiopien von Haile Gabriel Dagne, www.jstor.org/ s table/ 40175064? seq=1 fünfte Projekt von chinesischen Banken (teil-)finanziert wird. Im Zusammenspiel mit kulturellen Offensiven gelingt es China somit, wenn auch in Geld gemessen verlust‐ bringend, seinen Einfluss in Afrika bei insgesamt begrenztem Einsatz auszuweiten. Françoise Nicolas (2017) untersucht chinesische wirtschaftliche Aktivitäten in Äthiopien, dem mit mehr als 100 Million Einwohnern bevölkerungsreichsten Land Ostafrikas, das über keine bekannten wirtschaftlich ausbeutbaren natürlichen Ressour‐ cen verfügt. Äthiopien ist insoweit von besonderem Interesse, als es sich um ein historisch germanophiles Land 34 handelt und hier der „Wettstreit Ost gegen West“ besonders gut beobachtet und analysiert werden kann. China stieg in Äthiopien während der vergangenen Dekade zum wichtigsten Auslandsinvestor auf, wobei chinesische Aktivitäten primär im Infrastrukturbereich als auch in arbeitsintensiven herstellenden Gewerben zu beobachten sind. Die von Nicolas gezeichnete Perspektive der Chinesisch-Äthiopischen Beziehungen ist beiderseitig positiv. Vor diesem Hintergrund ist zu hinterfragen, warum Deutsch‐ land bzw. Europa innerhalb kurzer Zeit einen wesentlichen Teil seines Einflusses in Äthiopien verloren hat und wie man diese Entwicklung (teilweise) umkehren kann. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass Ende 2019 kein deutsches DAX-Unternehmen in Äthiopien ansässig war und deutsche wirtschaftliche Präsenz in fast allen Sub-Sahara Staaten mit Ausnahme Südafrikas mit dem Wort „bescheiden“ noch euphemistisch beschrieben ist. Während Chinesen im dünn besiedelten Zentralasien von den einheimischen Be‐ völkerungen oft als Bedrohungen wahrgenommen werden, ist ihre Wertschätzung in weiten Teilen Afrikas deutlich höher, als im Westen dargestellt. Eine Pew Global Attitudes Studie aus dem Jahre 2015 ergab, dass Afrikaner insgesamt eine positivere Wahrnehmung gegenüber China haben als Europäer (70% bzw. 41%). Äthiopien befindet sich mit einer China wohlwollend gegenüberstehenden Bevölkerung von 75% an der Spitze aller afrikanischen Staaten. Die nachweisbaren Anstrengungen der chinesischen Autoritäten, ihre Landsleute dazu zu bringen, sich im Ausland „anständig zu verhalten“, haben offensichtlich Früchte getragen. Die Entwicklungsbanken Exim und die CDB haben ihren implizit definierten Beitrag für die Umsetzung der BRI innerhalb einer Gesamtstrategie zu leisten, die sich mit den Schlagworten Verwirklichung des chinesischen Traums, internationaler Aufbruch und China 2025 beschreiben lässt. Effizienzbetrachtungen haben mit zunehmendem Fortgang des Megaprojektes BRI an Bedeutung gewonnen, ohne jedoch dominant zu werden. Die Verringerung der Auslandsinvestitionen Chinas im ersten Halbjahr 2019 sollte aber lediglich als „Luftholen“ der chinesischen Entscheidungsträger interpetiert 13 Der Wiederaufstieg Chinas 312 <?page no="313"?> werden, um darüber nachzudenken, wie chinesische Liquidität in Zukunft im Ausland effizienter und passgenauer eingesetzt werden kann. Ausblick Die BRI und die 16/ 17 + 1 Initiative haben zahlreiche zum Teil harsche Reaktionen der politischen und wirtschaftlichen Eliten Europas erzeugt. China wird inzwischen von hohen Repräsentanten der EU als systemischer Rivale bezeichnet, der den Euro‐ päischen Integrationsprozess durch „Trojanische Pferde“ zu hintertreiben versucht. Diese nicht nur rhetorische Wendung von der Betrachtung Chinas als potenziellem Partner bei Entwicklungsinitiativen hin zu (An-)Klagen bezüglich politischer und ökonomischer Manipulationen ist von herausragender Bedeutung, um mögliche Entwicklungspfade der internationalen Politik und Wirtschaft zu antizipieren. Die Covid-19-Krise hat dabei die globale Rivalität der USA und der VR China offensichtlich befördert bzw. sichtbarer gemacht. Seit Beginn des Jahres 2019 gibt es sowohl im Westen als auch in China einflussreiche Stimmen, die eine umfassende Entkopplung der Einflussbereiche des Westens und Chinas fordern. Nicht nur die zentralasiatischen Staaten stellen dabei Puffer und Abgrenzungen von Einflusszonen für China dar, die im Extremfall in eine geteilte Welt führen. Insbesondere das Hand-in-Hand-Gehen der CDB mit den großen chinesischen Technologiekonzernen stellt hierbei die Errich‐ tung der entsprechenden Technologiestandards in Chinas angestrebten Einflusszonen sicher. Falls Deutschland als Teil Europas seinen Einfluss in dem Teil der Welt, der gerade von China umworben wird, nicht weiter zurückgedrängt sehen will, muss verstanden werden, warum und wie China seinen aktuellen internationalen Einfluss erworben hat und Deutschland bzw. Europa reziprok an Einfluss verlor. Damit verbunden muss eine Rekalibrierung der Europäischen Entwicklungspolitik erfolgen. Dies betrifft u.a. Garantien von europäischen Nationalstaaten und der EU sowie die Mandate der ausführenden Banken. In Deutschland ist dies zuvorderst die Kreditanstalt für Wiederaufbau, Kf W. Nicht nur in der Entwicklungspolitik sollte China in Zukunft mehr als potenzieller Partner denn als Rivale betrachtet werden. Mögliche Kooperationsfelder und das Wissen um jeweilige Insuffizienzen gibt es zuhauf. Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 13.1: Recherchieren Sie die Entwicklung des Gini-Index in China seit 2000 und kommentieren Sie diese Entwicklung. Übung 13.2: Welche chinesischen Universitäten befinden sich in Projekt 985? Recherchieren Sie, von welchen Universitäten die Mitglieder des heutigen Zen‐ tralkomitees der KP Chinas kommen und welche Fachrichtungen sie studiert haben. Übungen zur Selbstüberprüfung 313 <?page no="314"?> Übung 13.3: Was versteht man unter „Guanxi“? Übung 13.4: Wie hat Taobao Ebay vom chinesischen Markt verdrängt? Lesen Sie hierzu den Stanford-Business-Case „Taobao vs. Ebay China“: www.gsb .stanford.edu/ faculty-research/ case-studies/ taobao-vs-ebay-china 13 Der Wiederaufstieg Chinas 314 <?page no="315"?> 14 Always with and behind us? Die (noch) verbliebene Supermacht USA Wann immer wir über die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu China, zu Russland oder auch innerhalb der EU nachdenken, sitzen die USA bzw. einige ihrer Unternehmen mit am Tisch. Amerika wurde schon mehrfach abgeschrieben. Japan sollte die USA in den 1980er Jahren wirtschaftlich überholen, 40 Jahre später China. Von Japan als ökonomischer Supermacht redet inzwischen niemand mehr, die Rivalität zu China ist dafür an einem kritischen Punkt angelangt. Die USA waren im Jahre 2020 fraglos nicht mehr so mächtig wie nach dem Ende des Kalten Krieges, aber immer noch die mit Abstand stärkste militärische Macht der Welt, die zudem über die (noch) unangefochtene Weltleitwährung, den US-Dollar, verfügt. Die absolute Stärke Amerikas korrespondiert aber mit einer geringeren relativen Stärke: Der Rest der Welt hat aufgeholt. Die Topkonzerne der nichtchinesischen Welt kommen mit wenigen Ausnahmen aus den USA, das Internet wird weltweit - bis auf China und mit Abstrichen Russland - von US-Unternehmen mit den Flaggschiffen Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft regiert, Europa schon mal als digitale amerikanische Kolonie bezeichnet. Dank der Fracking-Technologie sind die USA inzwischen weitgehend Energieselbst‐ versorger, eine Reindustrialisierung scheint möglich. Die Entscheidung der USA, sich wieder weitgehend selbst mit Energie zu versorgen, hat geopolitische Konsequenzen: Das betrifft nicht nur den „Ölkrieg“ zwischen Saudi-Arabien, Russland, Brasilien, Venezuela, Nigeria, Iran etc., der bereits Anfang 2016 zu immer niedrigeren Ölpreisen und damit zu zahlreichen politischen Instabilitäten in Ländern, die von Erlösen, die aus dem Ressourcenverkauf kommen, abhängig sind, geführt hat. Es betrifft ebenso die zukünftigen Sicherheits- und wirtschaftlichen Interessen der USA, die sich bereits seit dem Amtsantritt von US-Präsident Barack Obama im Jahre 2009 von Europa und dem Arabischen Golf nach (Ost-)Asien verschoben haben. Bei aller relativer und absoluter Macht der US-Konzerne und der US-Regierung fällt indes auf, dass sich die amerikanische Gesellschaft, die im Gegensatz zu ihren europäi‐ schen Pendants eine demografisch junge Gesellschaft ist, in einer tiefen dauerhaften Krise befindet, die bereits lange vor der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016 ihren Ursprung hatte. Während das BIP sich in den vergangenen 40 Jahren inflationsbereinigt in etwa verdoppelt hat, haben z.B. Studiengebühren absurde Höhen erklommen und die Lebenserwartung von Männern der unteren Mittelklasse sinkt. <?page no="316"?> 35 Der Einkommensmedian eines US-Haushaltes liegt bei weniger als der Hälfte dieses Wertes. Abb. 14.1: Durchschnittliche Studiengebühren pro Jahr in US-Dollar von 2000/ 01 - 2017/ 18 (Quelle: Statista) 6.010 8.565 9.753 11.204 12.706 14.042 5.000 6.000 7.000 8.000 9.000 10.000 11.000 12.000 13.000 14.000 15.000 2000/ 01 2003/ 04 2004/ 05 2005/ 06 2006/ 07 2007/ 08 2008/ 09 2009/ 10 2010/ 11 2011/ 12 2012/ 13 2013/ 14 2014/ 15 2015/ 16 2016/ 17 2017/ 18 Average cost for tuition and fees Abb. 14.1: Durchschnittliche Studiengebühren pro Jahr in US-Dollar von 2000/ 01-2017/ 18 (Quelle: Statista [45] ) Da Abb. 14.1 nur die Entwicklung der Studiengebühren und nicht die Gesamtausgaben eines Studierenden darstellt, ist die tatsächliche Situation für normalverdienende ame‐ rikanische Familien noch deutlich dramatischer. Statista schätzt z.B. die durchschnitt‐ lichen Lebenshaltungskosten eines amerikanischen Studenten inkl. Studiengebühren im Studienjahr 2017/ 2018 auf knapp 33.000 US-Dollar. Wenn man vereinfacht annimmt, dass ein Ehepaar der sogenannten upper middle class ca. 150.000 USD pro Jahr brutto verdient 35 und davon ca. 30% Steuern und Krankenversicherung abgezogen werden, ist die gleichzeitige Finanzierung des Studiums zweier Kinder ohne Verschuldung oder Rückgriff auf Reserven praktisch unmöglich. Dass die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems in den USA im Wesentlichen den Wohlhabenderen zugutekommt, wurde während der Corona-Krise ab März 2020 für alle Welt und vor allem für die US-Amerikaner deutlich. Obwohl die USA bei Ausbruch der Krise mit geschätzt 17% ihres BIPs das teuerste Gesundheitsssystem der Welt hatten (der Vergleichswert für Deutschland liegt bei ca. 11%), hatten sie absolut und unter den entwickelten Ländern im Schulterschluss mit Großbritannien auch relativ die meisten Corona-Toten zu beeerdigen. Einige statistische Fakten (Statistisches Bundesamt, USA.gov, World Bank, IP Wirt‐ schaft, 2017, Statista): 1. Bevölkerung: 329,3 Mio. (2019) 2. BIP pro Kopf: 65 111 US-Dollar (2019) 3. Lebenserwartung: 78,54 Jahre (2018) 4. HDI-Rang: 13 von 189 Ländern (2019) 5. Korruptionsindex: Rang 22 von 80 Ländern (2018) 14 Always with and behind us? Die (noch) verbliebene Supermacht USA 316 <?page no="317"?> 36 Bei stagnierenden Reallöhnen stieg das BIP pro Kopf von 56.785 US-Dollar im Jahr 2015 weiter auf 65.111 US-Dollar im Jahr 2019 und damit nominal um knapp 15% (Statista). 37 Die letzten „Auseinandersetzungen“ betrafen die Berufung von Brett Kavenaugh und die Nachfolge von Ruth Bader Ginsburg. Wenn also die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes an ein oder zwei Stimmen, die einem politischen Lager zugeordnet werden, hängt, ist die Frage, was die Entscheidung eines solchen hohen Gerichtes überhaupt legitimiert, m. E. zulässig. 38 Die Arbeitsproduktivität liegt in den USA um ca. ein Drittel höher als in der Eurozone, ist aber niedriger als in Deutschland. 6. Inflationsrate: 1,8 Prozent (2019) 7. Städtische vs. Landbevölkerung: 82,26 :  17,74 (2018) Das BIP pro Kopf hat kaum noch Aussagekraft, wenn, wie bereits Ende 2015 in fast allen westlichen Medien berichtet, die oberen 0,1 Prozent so viel besitzen wie die unteren 90 Prozent der Gesellschaft. 36 Das Jahreseinkommen einer typischen Familie aus der Mittelschicht ist seit 1999 real um ca. 5.000 US-Dollar gesunken. Berücksichtigt man die Inflation, verdiente ein männlicher Arbeiter im Jahr 2015 im Schnitt fast 800 US-Dollar weniger als 42 Jahre davor. Alarmierend waren die bereits erwähnten Forschungsergebnisse von Nobelpreisträger Angus Deaton, der eine sinkende Lebenserwartung bei Vertretern der unteren weißen Mittelschicht nachwies. Tatsächlich ist das politische System der USA spätestens seit der sogenannten Lewinsky-Affäre in den mehr als zwei vergangenen Jahrzehnten immer weniger leistungsfähig geworden und die Stimmung zwischen und auch innerhalb der großen Parteien ist mit vergiftet noch freundlich beschrieben: Die meisten führenden Repu‐ blikaner und Demokraten kennen die Kunst des Kompromisses nicht oder schätzen sie gering und zielen auf die Beseitigung oder Vernichtung des politischen Gegners. Wie überall in der westlichen Welt haben die Obersten Gerichtshöfe (in den USA ist dies insbesondere der Supreme Court) eine zentrale Rolle in der politischen Entscheidungsfindung eingenommen. Dies wird genau dann deutlich, wenn es um die Besetzung oder Nachfolge eines obersten Richters geht und darum, ob dieser eher dem konservativen oder dem liberalen Lager zuzurechnen ist. 37 Die Infrastruktur des Landes, also Straßen, Brücken, Eisenbahnen, Flughäfen, sind in einem zum Teil erbärmlichen Zustand. Der Investitionsstau in der US-Infrastruktur wurde bereits 2014 auf ca. 2 Billionen US-Dollar geschätzt. Die US-Staatsanleihen, die von China und Japan gehalten wurden, beliefen sich Mitte 2019 zu fast gleichen Teilen auf insgesamt ca. 2,2 Billionen US-Dollar nach ca. 2,5 Billionen US-Dollar im Jahre 2017. Die USA verfügen seit fast zehn Jahren nicht einmal mehr über das Spitzenrating der Ratingagentur Standard & Poor’s: Am 5. August 2011 setzte Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit Amerikas von AAA auf AA+ herab. [46] Die Wirtschaft scheint - jedenfalls war das vor Ausbrechen der Coronakrise der Fall - davon weitgehend unberührt zu sein: Sie blieb und bleibt ungeheuer vital. Die Geschwindigkeit, in der während der Corona-Krise erst entlassen und dann teilweise wiedereingestellt wurde, liegt jenseits unserer (mitteuropäischen) Vorstellungskraft. 38 14 Always with and behind us? Die (noch) verbliebene Supermacht USA 317 <?page no="318"?> Das im südlichen Teil der San Francisco Bay Area gelegene Silicon Valley ist der bedeutendste Standort der Software- und Internetindustrie weltweit. Die wirtschaftliche Entwicklung der Region begann bereits 1951 mit der Einrichtung des Stanford Industrial Park durch die Stanford University. Seit den 1960er und 1970er Jahren siedelten sich im Silicon Valley zunehmend Unternehmen der Computertechnologie an. Zu den bekanntesten im Silicon Valley ansässigen Firmen gehören Google, Apple, Facebook, Amazon, Intel, Adobe, AMD, Cisco, Dell, Netflix, Oracle, Tesla, Yahoo und Zoom oder, anders ausgedrückt, bis auf die in Seattle beheimatete Firma Microsoft fast alle bedeutenden US-amerikanischen IT-Unternehmen. Das Silicon-Valley ist das Paradebeispiel für Economies of Agglomeration. Der Begriff geht auf Krugman und Venables zurück. [47] Ein Agglomerationseffekt liegt vor, wenn durch die räumliche Konzentration mehrerer Unternehmen dersel‐ ben Branche eine Steigerung der Attraktivitätswirkung aller Unternehmen dieser Branche resultiert. Neben dem Silicon Valley in Kalifornien ist die ostchinesische Stadt Wenzhou ein geografisch sehr bekanntes Beispiel, in der es nicht nur mehr als 4.000 Schuhhersteller gibt, sondern auch ca. 70% aller Feuerzeuge weltweit hergestellt werden. Zwar hat das relative Gewicht der amerikanischen Industrie in der Welt insgesamt, ab‐ genommen: Dies gilt aber für die deutsche und japanische Industrie ebenso. Tatsächlich sind die USA mit einem Anteil von ca. 20 Prozent an der Weltindustrieproduktion (und mehr als 15 Prozent des kaufkraftbereinigten globalen Bruttoinlandproduktes) vor China, Japan und Deutschland immer noch der größte Industrieproduzent der Welt, Firmen wie Caterpillar oder Pfizer sind führend auf ihren Märkten. Selbst die amerikanische Automobilindustrie hat sich nach der spektakulären Pleite von General Motors im Jahre 2009 und der Wiederauferstehung des Unternehmens (mit politischer Hilfe aus dem Weißen Haus) wieder erholt. Ein zentrales Indiz für die Wirtschaftskraft Amerikas sind auch ausländische Investitionen. BMW eilte bis zum Ausbruch der Corona-Krise über Jahren von Verkaufsrekord zu Verkaufsrekord in den USA, viele deutsche Unternehmen wie Siemens und BASF stellten in den USA über Jahre zusätzliches Personal ein. Die USA sind eine wachsende Nation, die Demografie sorgt (noch) für Dynamik. Die Geburtenraten sinken zwar seit 2007, sie liegen aber über ihren europäischen Pendants: Im Jahr 2017 bekam eine Frau in den USA im Durchschnitt 1,8 Kinder. [48] Die Faktoren, die sich am negativsten auf das Geschäftsklima (und auf die Zukunft? ) in den USA auswirken, sind eine allgemeine Vernachlässigung der Infrastruktur und speziell grobe Mängel im Breitenbildungssystem. Die amerikanischen Spitzen‐ universitäten sind nach wie vor weltweit führend; sie zogen in der Vergangenheit kontinuierlich viele der klügsten Köpfe aus aller Welt an. Das Problem liegt somit nicht in mangelnder Qualität der Topuniversitäten, sondern vielmehr in der Breite 14 Always with and behind us? Die (noch) verbliebene Supermacht USA 318 <?page no="319"?> allgemeiner und beruflicher Bildung, die eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Reindustrialisierung darstellen dürfte. Viele der etwa 100.000 öffentlichen Schulen in Amerika sind in einem schlechten Zustand. Das öffentliche Schulsystem wird in den USA zum Großteil von den Städten und Gemeinden aus Grundstückssteuern finanziert: je geringer das Steueraufkommen der Gemeinde, umso weniger Geld steht also für die Schulen zur Verfügung. Bei Wahlen setzen sich zudem oft die Kandidaten durch, die Steuersenkungen versprechen, womit die Ausgaben für Schulen und deren Qualität sinken (müssen). Stärker noch als in Europa öffnet sich die Schere zwischen reicheren und ärmeren Gemeinden: mit gesamtgesellschaftlich schlimmen Folgen für die Bildung der Kinder aus ärmeren Familien. Präsident Obama und seine Regierung hatten versucht, gegenzusteuern: Bei seinem Regierungsantritt im Jahre 2009 hatten etwa 48 Millionen Menschen in den USA keine Krankenversicherung, obwohl das Gesundheitssystem in den USA das mit großem Abstand teuerste der Welt ist (pro Kopf sind die Kosten wie bereits gesehen fast doppelt so hoch wie in Deutschland). Zum Ende von Barack Obamas Amtszeit hatte sich die Anzahl der Menschen ohne Krankenversicherung in etwa halbiert. Mit der Amtsüber‐ nahme von Donald Trump als US-Präsident im Januar 2017 hatten sich - Stichworte u.a. Außenhandel, Steuersystem, Verteidigungspolitik, Währungsrelationen und Rivalität mit China - zahlreiche Prioritäten der US-Regierung deutlich verschoben. Fraglos wird der im November 2020 gewählte Präsident Biden nicht alles korrigieren, was er von seinem Vorgänger übernommen hat; eine Rückbesinnung auf Präsident Obamas Krankenversicherungsreform dürfte aber hohe Priorität für die neue US-Regierung haben. Die Berichterstattung in den meisten westeuropäischen Medien über Donald Trump und seine Politik ist mit einer Mischung aus moralisch verbrämter Arro‐ ganz und Ignoranz noch zurückhaltend beschrieben. Wie bei Russland und China überwiegen oft „ideologische“ Komponenten. Zu Trump wurde gern kolportiert, dass die einen (Europäer wie Vertreter der Ost- und Westküstenintelligenzija der USA) ihn nicht ernst und die anderen ihn nicht wörtlich nähmen. Tatsache ist, dass 15 Monate nach Donald Trumps Einführung als 45. US-Präsident die größte Steuerreform in den USA seit über 30 Jahren verabschiedet wurde. Das vielfach bemühte Argument, dass es sich hier primär um eine Umverteilung von unten nach oben handele, ist sehr offensichtlich nicht korrekt. So hat z.B. Walmart, der weltgrößte Einzelhändler und größte Arbeitgeber in den USA, kurz nach der Steuerreform den Mindestlohn um 2 US-Dollar pro Stunde angehoben. Dies korre‐ spondiert zu fast 400 US-Dollar mehr Einkommen im Monat für Geringverdienende und Niedrigqualifizierte. Richtig ist ebenfalls, dass die USA seit dem Kalten Krieg einen Großteil der Verteidigung Europas finanziert haben, obwohl Europa den reichsten Teil der Welt 14 Always with and behind us? Die (noch) verbliebene Supermacht USA 319 <?page no="320"?> 39 http: / / edition.cnn.com/ 2010/ US/ 08/ 27/ debt.security.mullen/ index.html darstellt. Aus Sicht der USA ist es mehr als nachvollziehbar, dass es hier zu einer Neuregelung der Lastenaufteilung kommen muss. Auch wenn große Vorsicht angebracht ist, hier monokausal zu argumentieren: Während der Amtszeit von Donald Trump als US-Präsident war die Aufwertung des US-Dollars gegenüber allen wichtigen weiteren Währungen zum Erliegen ge‐ kommen. Dies korrespondiert c.p. mit einer Verbesserung der Wettbewerbsfähig‐ keit der exportierenden US-Industrie, einem zentralen Wahlversprechen Trumps. China wie die EU und damit Deutschland haben sich auf Druck der US-Admi‐ nistration zu weitgehenden Handelszugeständnissen (nicht nur mit Bezug auf „Billigstahl“) bereit erklärt, um die Handelsbilanzdefizite mit den USA abzubauen. Das deutsche Standardargument „Wir können ja nichts dafür, wenn die Amerika‐ ner lieber BMW oder Mercedes fahren als wir Chevrolet oder Ford“ ist ebenso überheblich wie ökonomisch kurzsichtig. Erstmals seit Jahrzehnten scheint - durch US-Druck - substanziell Bewegung in den Korea-Konflikt als auch in den Palästina-Konflikt gekommen zu sein. Last but not least: Donald Trump hat früh auf den Kauf von Impfstoffen im Kampf gegen Corona gesetzt und seinem Nachfolger und den Amerikanern damit gegenüber den Europäern einen massiven Vorteil verschafft, wenn es um die Rückkehr zu einer neuen Normalität geht. Verstärkt hat sich unter allen vergangenen Regiererungen das Problem der zeitgleich im Staats-, im Unternehmens- und im Privatsektor ansteigenden Schulden, deren Summe Ende 2020 mehr als das 2 ½-fache des US-BIPs betrugen. Admiral Michael G. Mullen, Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff (auf Deutsch Chef des Generalstabes) von 2007 bis 2011 und damit ranghöchster Soldat der US-Streit‐ kräfte, machte im Jahre 2010 die folgende Aussage: "The most significant threat to our national security is our debt. … And the reason I say that is because the ability for our country to resource our military … is going to be directly proportional - over time, not next year or the year after, but over time - to help our economy. That's why it's so important that the economy move in the right direction, because the strength and the support and the resources that our military uses are directly related to the health of our economy over time." 39 Etwas verkürzt sagt Mullen hiermit, dass es die Schulden der USA sind, die deren zukünftige Weltmachtrolle in Frage stellen. Diese Aussage findet sich übrigens auch bei David Graeber, dem der folgende Exkurs gewidmet ist. 14 Always with and behind us? Die (noch) verbliebene Supermacht USA 320 <?page no="321"?> Exkurs: Schulden Im Jahre 2012 und damit mehrere Jahre vor dem Eskalieren der Griechenland- und der Eurokrise veröffentlichte der gern als Occupy-Vordenker apostrophierte Anthropologe David Graeber das Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“. Allein die Tatsache, dass Graebers Buch durch alle Lager von Linksintellektuellen zu konservativen Denkern sowohl heftig angegriffen als auch gefeiert wurde und ebenso Verständnislosigkeit er‐ zeugte, sollte neugierig auf mehr machen (die prominenteste Stimme der Begeisterung in Deutschland war der inzwischen verstorbene Herausgeber der Frankfurter Allge‐ meinen Zeitung, Frank Schirrmacher, der das Buch als „Offenbarung“ bezeichnete). „Schulden: Die ersten 5000 Jahre“ von David Graeber (2012) Schulden sind in Graebers Darstellung zunächst seit Tausenden Jahren ein Instrument von Herrschaft. Graeber beschreibt die gegenwärtige Krise des Kapitalismus auch als eine besondere Schuldenkrise, natürlich mit Verweisen auf die Bankenrettung. Staatliche Schulden stellen (neben den Schulden von Privatpersonen und Unterneh‐ men) dabei einen institutionellen Hebel dar, um demokratische Entscheidungsprozesse praktisch auszusetzen und nebenbei die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zu zerstören. Sympathisch an Graebers Buch ist, dass er sich - obwohl er Verfechter eines Bedingungslosen Grundeinkommens und eines großen Schuldenerlasses ist - mit operationalisierbaren Ratschlägen sehr zurückhält. Zu Beginn seines Buches untersucht Graeber den Zusammenhang zwischen ökono‐ mischen Beziehungen und moralischen Systemen, d.h., wie moralische Versprechen und Verpflichtungen zwischen Menschen zu Schulden werden. Er beginnt mit der moralischen Verwirrung, dass einerseits Schulden (für Zinsen) machen als verwerflich gilt, anderseits aber die Rückzahlung von Schulden eine Pflicht sei. Im Folgenden greift Graeber den Gründungsmythos der Wirtschaftswissenschaften, die Geschichte der Transformation des Tauschhandels zur Geldwirtschaft, an. Im Gegensatz zur klassischen Lehrbuchdarstellung verweist Graeber darauf, dass Kredit‐ systeme bereits lange vor der Verbreitung von physischem Geld existierten. Graeber unterscheidet drei Arten von menschlichen Beziehungen, die er Kommunis‐ mus im Sinne von unentgeltlicher Hilfe, Tausch und Hierarchie nennt. Wie jede Markt‐ transaktion wird ein Kreditvertrag unter formal Gleichgestellten geschlossen, d.h. weder muss der Kreditnehmer einen Kredit beantragen noch ist die Bank verpflichtet, ihm einen solchen zu gewähren. Schulden sind damit ein Tausch, der noch nicht zum Abschluss gebracht wurde. Solange der Kredit aber nicht vollständig zurückgezahlt wurde, gilt die Logik der Hierarchie. Gleichheit gilt erst wieder, wenn der Kredit vollständig getilgt wurde. Nach Graeber war Tausch in traditionellen Gesellschaften intern praktisch unbekannt. Tausch gab es nur am Rande: Bei Kontakt mit Fremden und damit potenziellen Feinden. Damit liegt der Ursprung des Geldes in seiner Eigenschaft als Rechnungswesenein‐ heit und nicht als Tauschmittel. Diese Aussage wird gestützt durch die Tatsache, Exkurs: Schulden 321 <?page no="322"?> 40 S. z.B. www.bpb.de/ politik/ wirtschaft/ finanzmaerkte/ 54851/ bretton-woods-system dass die ältesten bekannten Münzen (in diesem Falle aus griechischen Siedlungen des Reiches der Lyder in der heutigen Westtürkei) weniger als 2700 Jahre alt, die Hochkulturen in Mesopotamien und Ägypten, China, Indien aber deutlich älter sind. Zu Beginn der erweiterten Achsenzeit tauchten ab ca. 650 v.u.Z. faktisch gleichzeitig Münzgeld, Armeen und Philosophie in Griechenland und später Rom, Nordindien und Persien sowie in China auf. „Historisch gesehen ernähren sich Krieg, Staaten und Märkte gegenseitig. Eroberung führt zu Steuern. Steuern sind in der Regel Möglichkeiten, Märkte zu schaffen, die für Soldaten und Administratoren günstig sind.“ (S. 179) Mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches verschwand das Münzgeld in Westeuropa, um dann ab dem Spätmittelalter/ der Frührenaissance wieder aufzutau‐ chen. Nun waren es europäische Seefahrer und Armeen, die sich an die Eroberung der Welt (und deren teilweise Versklavung) machten. Im Kapitalismus nahm Münzgeld wieder seinen Platz ein und die Sklaverei, die es im europäischen Mittelalter in institutioneller Form nicht gab, wurde wieder eingeführt. Breiten Raum in Graebers Darstellung nehmen Anekdoten ein: Graeber erklärt Geschichte, indem er Geschichten erzählt. Obwohl zu keinem Zeitpunkt der Weltgeschichte soviel Gold und Silber wie durch die Spanier aus Mittel- und Südamerika eingeführt wurde, waren am Ende alle pleite: Vom einfachen Soldaten über Cortez, den Eroberer den Aztekenreiches, bis zum spanischen König. Graeber schließt “What is a debt, anyway? A debt is just the perversion of a promise. It is a promise corrupted by both math and violence. If freedom (real freedom) is the ability to make friends, then it is also, necessarily, the ability to make real promises. What sorts of promises might genuinely free men and women make to one another? At this point we can't even say. It's more a question of how we can get to a place that will allow us to find out. And the first step in that journey, in turn, is to accept that in the largest scheme of things, just as no one has the right to tell us our true value, no one has the right to tell us what we truly owe.” Nach dem II. Weltkrieg bis in die frühen 1970er Jahre mit der Abschaffung des Bretton Woods Systems der festen Wechselkurse hielten sich Handelsungleichgewichte in Grenzen. 40 Die schuldenbegrenzenden Charakteristika von Bretton Woods funktio‐ nierten ab den späten 1960er Jahren nicht mehr, als die USA anfingen, über ihre Verhältnisse zu leben. Dies betraf vor allem die Finanzierung von US-Präsident Johnsons ‚Great Society‘ und des Vietnamkrieges. 1970 war das erste Jahr nach dem II. Weltkrieg, in dem die USA ein Handelsbilanzdefizit aufwiesen: Dies hat sich qualitativ seitdem auch nicht mehr geändert. Im August 1971 beendete US-Präsident Richard Nixon die Konvertibilität von US-Dollar in Gold. Seitdem leben wir in einer Welt von „paper promises“. David Graeber nennt die Zeit seitdem “1971 - The Beginning of Something Yet to Be Determined”. 14 Always with and behind us? Die (noch) verbliebene Supermacht USA 322 <?page no="323"?> Heute sind wir mit Verweis auf die Demografie weltweit in einer Situation, in der es weder gelingt, die Schulden “wegzuinflationieren” noch durch erhöhte Produktivität zu reduzieren. Graeber verweist an diversen Stellen seines 2012 veröffentlichten Buches darauf, dass es auch in der heutigen Welt und auch im reichen Europa viele Zustände und Abhängigkeiten gibt, die sich am Rande der Sklaverei befinden: Es sollte Ihnen nach all den im ersten Halbjahr 2020 veröffentlichten Berichten über osteuropäische Leiharbeiter in deutschen Schlachthöfen, bulgarische „Erntehelfer“ in Italien und Elendsprostitution nicht schwer fallen, dieser Aussage zuzustimmen. Hier passt, wenn auch von einer anderen Perspektive als in der Moritat von Mackie Messer in Bertolt Brechts Dreigroschenoper: „Denn man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Krisen haben auch ihr Gutes! Es war die Corona-Krise, die diese schändlichen Fälle von Ausbeutung und Missbrauch vor unserer Haustür für die breite Öffentlichkeit ans Licht brachte. Aufgaben zur Selbstüberprüfung Übung 14.1: Erläutern Sie die Hauptgründe für Nationen, multinationale Han‐ delsabkommen zu schließen. Übung 14.2: Benennen und erläutern Sie weitere „Economies of Agglomeration“. Übung 14.3: Wie haben sich die deutschen Direktinvestitionen in die USA in den vergangenen 10 Jahren entwickelt? Erläutern Sie Ihre Findings. Übung 14.4: Recherchieren Sie zur Entwicklung der Studiengebühren in den USA seit dem Jahre 2000. Unterscheiden Sie zwischen normalen und Elite-Universitä‐ ten. Aufgaben zur Selbstüberprüfung 323 <?page no="325"?> 15 Die unterste Milliarde In Kapitel 11 haben wir uns bereits kurz mit den Least Developed Countries oder, um die Collier’sche Diktion zu verwenden, mit deren Bevölkerung, der untersten Milliarde, die inzwischen auf mehr als 1,5 Milliarden Menschen angewachsen ist, beschäftigt. Wir haben gesehen, dass es eine relativ stabile große Anzahl von Ländern gibt, die bzw. deren Bevölkerungen seit Jahrzehnten auf niedrigstem Niveau „feststecken“. Dabei geben die anschwellenden Migrationsströme bereits einen handfesten öko‐ nomischen wie politischen Grund, sich mit diesen Ländern zu beschäftigen: Ganz ungeachtet der moralischen Komponente, dass wir mehr oder weniger bewusst zuse‐ hen, wie Menschen unter erbärmlichsten Bedingungen dahinvegetieren oder zugrunde gehen, werden - nicht zielführend! - unterschiedliche Analysen allerdings zumeist von der ethischen Frage überlagert, in welchem moralischen Maß die verschiedenen Auswirkungen dieses Dauerelends gemessen werden sollen. Wir sind sehr wohl direkt betroffen, wenn sich Menschen aufgrund von Hoffnungs‐ losigkeit zu Hause auf den Weg zu uns machen. Dass Deutschland oder Europa nicht alle Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten, die - verständlicherweise! - auf der Suche nach einem besseren Leben sind, aufnehmen kann, scheint nach nur wenigen Millionen Migranten im Jahre 2015 klar zu sein. Nichtsdestotrotz sind die reichen Länder gefordert. Die Pflicht der Reichen, den Armen zu helfen, und das Recht auf freie Bewegung zwischen den Ländern werden allerdings zumeist nicht in anständiger intellektueller Art und Weise voneinander getrennt, weder von Befürwortern offener Grenzen noch von deren Opponenten. A priori sinnvolle und nicht neue Vorschläge besagen, dass der Westen viel Geld in die Hand nehmen muss, um das Leben in armen bzw. vom Bürgerkrieg geschüttelten Ländern erträglicher zu machen, um damit den Migrationsdruck aus diesen Ländern (hoffentlich) abzuschwächen. Ob die westlichen europäischen Demokratien, die sich seit 2008 in einer Dauerkrise befinden, in der Lage sein werden, von ihrem Wohlstand (der in Lettland oder Portugal nicht als solcher wahrgenommen werden dürfte) substanziell abzugeben, ist zweifelhaft. Die Alternative scheint die löchrige „Festung Europa“ zu sein, die sich an ihren Außengrenzen mit organisierter Schlepperkrimina‐ lität auseinanderzusetzen hat und mit Bildern wie dem des toten Jungen am Strand im Spätsommer 2015. Die Länder in der Middle Income Trap sind von den Migrationsströmen bisher wenig betroffen, sie sind mangels funktionierender Sozialsysteme und ohne existierende Diasporas für die wenigsten Emigranten aus den Länder der Bottom Billion attraktiv. Die Ausnahme stellt hier Russland dar, in das innerhalb der vergangenen beiden Jahrzehnte mehrere Millionen Russisch sprechende Menschen aus den asiatischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, mithin aus einem bekannten Kultur‐ kreis, zugewandert sind. <?page no="326"?> 41 Das bekannteste und berüchtigste Abkommen ist das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916, in dem die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens ihre kolonialen Interessengebiete im Nahen Osten nach der erwarteten Niederlage des Osmanischen Reiches im I. Weltkrieg am Reißbrett klärten. Die Middle-Income-Trap -Länder werden wenig oder nichts abgeben (können), viele von ihnen sind selbst am Taumeln. Hinzu kommt, dass demokratisch gewählte Re‐ gierungen von Entwicklungsländern unter sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen wiedergewählt werden wollen und sich damit mit den Abstiegsängsten von Teilen ihrer Bevölkerung, die Migranten als Konkurrenz betrachten, auseinander‐ setzen müssen. Tatsächlich sind viele Länder der untersten Milliarde kleine Länder, wobei die Grenzen von den jeweiligen Siegermächten des I. Weltkrieges 41 oder in Afrika von den ehemaligen Kolonialmächten nach dem II. Weltkrieg gezogen worden sind und einige dieser Staaten kaum lebensfähig zu sein scheinen. Collier erkennt vier wesentliche „Fallen“, die ein Land auf diesem niedrigsten Entwicklungsniveau verharren lassen: 1. Die Konfliktfalle: dazu zählen Bürgerkriege, die oft ineinander übergehen. Insbesondere machen niedrige Einkommen und niedriges Wachstum ein Land für Bürgerkriege anfällig. Die Länder der untersten Milliarde sind nicht durch das „falsche“ Wachstum, sondern durch die Abwesenheit von Wachstum cha‐ rakterisiert. Daraus folgt: „Junge Männer, die in hoffnungsloser Armut leben, sind für eine Rebellenarmee billig zu haben.“ [49] 2. Die Ressourcenfalle: Länder mit Überschüssen aus dem Verkauf von Erdöl oder anderen natürlichen Bodenschätzen sind auf besondere Art und Weise gegenüber politisch-demokratischem Druck, der durch Parteienwettstreit er‐ zeugt wird, resistent. Darüber hinaus zeigten empirische Forschungen, dass demokratische Strukturen bei hohen Ressourcenrenten kontraproduktiv sind. Colliers Erklärung, warum demokratische Strukturen die Fähigkeit eines Landes beeinträchtigen, Ressourcenüberschüsse produktiv zu nutzen, ist relativ einfach: Sie blähen den öffentlichen Sektor auf, es wird zu wenig investiert und dann auch zumeist in die falschen Projekte. [50] 3. Die Falle, ohne Zugang zum Meer und von schlechten Nachbarn umgeben zu sein: Arme Länder ohne Zugang zum Meer hängen von der Infrastruktur ihrer Nachbarländer, die Zugang zum Meer und damit Häfen haben, ab. Collier vergleicht hier die Schweiz, deren „gute“ Nachbarn Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien auch ihre Hauptmärkte bzw. -handelspartner sind, mit dem Stand 2019 ca. 40 Millionen-Menschen-Land Uganda, dessen Nachbarn das seit mehr als 30 Jahren stagnierende Kenia, der vom Bürgerkrieg gezeichnete Südsudan, das vom Völkermord gezeichnete Ruanda, Tansania, das Uganda überfallen hatte, die Demokratische Republik Kongo, die weder demokratisch noch Republik, sondern Synonym für Elend und Bürgerkrieg ist, sowie mittelbar Afrikas Failed State Nr. 1, Somalia, sind. 15 Die unterste Milliarde 326 <?page no="327"?> Abb. 15.1: Uganda und seine Nachbarn (Quelle: Operation World) 4. Die Falle schlechter Regierungsführung in einem kleinen Land: Während eine gute Regierung kaum ein armes Land schnell vorwärts bringen kann, gilt die Umkehrrichtung umso mehr: Standardbeispiel in Afrika ist Simbabwe, vor 50 Jahren eines der reichsten Länder Afrikas und nach 37 Jahren unter Robert Mugabe (1980-2017) Synonym für staatliche Willkür und menschliches Elend. Verkomplizierend kommt hinzu, dass zahlreiche Märkte, die für niedrig entwickelte Länder aufgrund komparativer Kostenvorteile hätten zugänglich sein können, inzwi‐ schen besetzt sind und von den entsprechenden Ländern bzw. Unternehmen verbissen verteidigt werden dürften. In diesem Kontext verweist Collier auf Madagaskar, das, den Fallen zu spät entkommen, in den 1990er Jahren den Sprung zu den Less Developed Countries nicht mehr schaffte. Die Globalisierung hat damit die Situation der ärmsten Länder noch schwieriger gemacht. Die Entwicklung von Exportindustrien ist schwieriger, die Kapitalflucht aufgrund der weltweiten finanziellen Integration hingegen einfacher geworden. Emi‐ gration ist attraktiver geworden, weil sich der Unterschied zwischen den Armen und den Reichen vergrößert hat und weil Diasporagemeinden existieren, die Nachzüglern die Emigration erleichtern. Damit emigrieren zuerst die „Hoffnungsträger“ dieser ärmsten Länder. Flüchtlinge in Deutschland Flüchtlinge aus Eritrea und Äthiopien leben oft in Frankfurt, Syrer zieht es zumeist nach Berlin, Iraner gehen gern nach Bremen, Köln oder Bielefeld etc. [51] Die bereits vorhandenen Diasporagemeinden sind Neuankömmlingen bekannt und machen die jeweiligen Städte zum jeweils präferierten Zielort in Deutschland. 15.1 Die wirtschaftliche Marginalisierung der ärmsten Länder Alle Länder der untersten Milliarde sitzen in einer oder in mehreren der o.g. Fallen fest. Allerdings schafft es von Zeit zu Zeit ein Land, der Hoffnungslosigkeit zu 15.1 Die wirtschaftliche Marginalisierung der ärmsten Länder 327 <?page no="328"?> entkommen. Beispiele sind das gering bevölkerte Botswana und hoffentlich auch bald Äthiopien, mit mehr als 100 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land in Subsahara-Ostafrika. Notwendige Voraussetzungen dafür sind, dass ein Frieden hält, Bodenschätze nicht zur Neige gehen, Reformkräfte an die Regierung kommen und dass Nachbarländer stabil bleiben oder sich gar stabilisieren. Die Frage ist nun, ob und wie Länder, die den vier Fallen entronnen sind, wirtschaft‐ lich aufholen können. Bereits in den Jahren vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion (danach beschleu‐ nigte sich diese Entwicklung) begann die Entstehung des heutigen weltweiten Wirt‐ schaftssystems, das wir zumeist mit dem Terminus Globalisierung in Verbindung bringen oder gar gleichsetzen und deren wirtschaftliche Folgen durch den Güter- und Dienstleistungsverkehr, den Kapitalverkehr und die Migration charakterisiert sind. Der Abbau von Zollschranken ließ Entwicklungsländer auf die globalen Märkte drängen, die Theorie der komparativen Kostenvorteile, auch als Ricardo-Modell be‐ zeichnet (vg. Kapitel 5 und Exkurs zu Kapitel 8), wurde in die Praxis umgesetzt. Der Welthandel stieg vor dem „Aufeinanderprallen“ von USA und China ab 2019 Jahr um Jahr, wenn auch zuletzt langsamer und unter Andeutung eines Wendepunktes bereits im Jahre 2015. 15.1.1 Warenverkehr Während die Developing Countries bis etwa 1980 vor allem Rohstoffe und Agrarpro‐ dukte exportierten [52] , sind derzeit etwa 80 Prozent ihrer Güter Industrieprodukte. Handel, der auf dem Export sogenannter Primärgüter - das sind Güter, die den Produktionsfaktor Boden nutzen - beruht, führt zumeist zu einer großen Einkommens‐ ungleichheit, da davon im Normalfall nur wenige Besitzer von Bergbauunternehmen, Ölexplorateure oder Großgrundbesitzer profitieren. Die Herstellung von Waren und Dienstleistungen hingegen beruht auf der Verwendung der Arbeitskraft. Sie bieten damit bessere Chancen für eine wirtschaftliche Entwicklung, bei der größere Teile der Gesellschaft profitieren. Wegen der großen Anzahl un- oder wenig produktiver Arbeitskräfte profitieren mit zunehmendem Export c.p. breitere Bevölkerungsschich‐ ten. Handelsschranken existieren allerdings nicht nur auf Seiten der entwickelten Län‐ der, die vor allem ihre Landwirtschaft schützen wollen. Die Märkte der meisten Länder der untersten Milliarde sind durch hohe Importzölle für Industriewaren abgeschottet, obwohl fast alle Industriegüter (z.B. Geländewagen oder Mobiltelefone) gar nicht bei ihnen hergestellt werden können. Diese hohen Zölle führen aber im Falle von heimischer Industrie, die durch diesen Protektionismus vorgeblich geschützt werden soll, zu einer ineffizienten Kapitalverwendung und damit quasi deterministisch zu Korruption. Tatsächlich beherrschten die Länder der ersten Welt noch in den 1970er Jahren den Weltmarkt für Industriegüter, obwohl ihre Lohnkosten in etwa das Vierzigfache 15 Die unterste Milliarde 328 <?page no="329"?> des Niveaus der Entwicklungsländer betrugen. [53] Mit der Einführung von Container‐ schiffen, der Aufhebung von Handelsbeschränkungen und ersten Verlagerungen von Produktion nach Südostasien, z.B. zur Herstellung von Spielzeug in Hongkong, Singa‐ pur und Taiwan, entstanden dort Economies of Agglomeration und die Globalisierung, wie wir sie kennen, nahm ihren Lauf. 15.1.2 Kapitalströme Längerfristige Investitionen in Entwicklungsländern fördern die Arbeitsteilung zwi‐ schen den Ländern. Dies führt insgesamt zu relativ gut bezahlten Arbeitsplätzen in den niedriger entwickelten Ländern, erhöht die Profitabilität der Unternehmen und verbessert die Konsummöglichkeiten der Bevölkerungen in den importierenden entwickelten Ländern (und führt, wenn die Investitionen nicht langfristig sind, durch kurzfristige Anlage und Abzug von Kapital allerdings auch zu Instabilitäten des lokalen Finanzsektors bis hin zum Weltfinanzsystem). Die Länder der untersten Milliarde sind in zweierlei Hinsicht Opfer von Kapital‐ knappheit: Die größten Kapitalströme fließen in die ostasiatischen Länder und damit nicht in Länder, die sie am meisten benötigen. Privates Kapital, ob aus Europa, Nordamerika oder Australien, das in diese niedrigst entwickelten Länder investiert wird, dient fast ausschließlich dem Abbau von natürlichen Ressourcen. Als Beispiel dient hier Angola, dass von 1990 bis 2015 (danach gingen die FDIs substanziell zurück) im Durchschnitt mehr als 6,5 Mrd. US-Dollar pro Jahr an Direktinvestitionen zumeist in die Ölindustrie und den Diamantenbergbau verzeichnete. [54] Schlechte Regierungsführung behindert offensichtlich den Zustrom von westlichem Kapital in den Dienstleistungs-, Agrar- und Industriesektor, nicht aber in den Res‐ sourcenabbau. Die Wirtschaft dieser Länder der untersten Milliarde ist meist zu klein, als dass hinreichende Informationen für potenzielle Investoren jenseits des Ressourcenabbaus vorliegen. Erinnern Sie sich, dass Indien allein aufgrund seiner Größe Interesse auf sich zog, auch wenn die Doing-Business-Indikatoren noch so schlecht waren (vgl. Kapitel 11.4.1). Die Folge ist, dass man in Afrika etwa doppelt so viel öffentliches Kapital, also zu‐ meist Entwicklungshilfe, als privates Kapital antrifft, während diese Relation in Asien fast genau umgehrt ist. [55] Erinnern Sie sich auch, dass China hier bereits eigene Wege geht, indem es z.B. in Äthiopien mit Staats- und Privatkapital Sonderwirtschaftszonen betreibt, in denen sehr arbeitsintensive Güter wie Schuhe hergestellt werden. Mangels Rechtssicherheit und Anlagemöglichkeiten wird von den wenigen Besit‐ zern von Hartwährungen Geld ins sichere Ausland transferiert. [56] Neben dem Mangel an Zuflüssen privaten Kapitals fließt also das zumeist illegal erworbene Kapital aus den ärmsten Ländern wiederum illegal in die reicheren Teile der Welt ab. Mit anderen Worten: Nicht nur ausländische Investoren, sondern auch die meisten inländischen Kapitalbesitzer glauben nicht an die Ertragsträchtigkeit von Investitionen in diesen ärmsten Ländern. 15.1 Die wirtschaftliche Marginalisierung der ärmsten Länder 329 <?page no="330"?> 15.1.3 Migration Seit 2017 leben geschätzt ca. 250 - 260 Millionen Menschen, dies entspricht einem Anteil von etwa 3 Prozent an der Weltbevölkerung, weltweit befristet oder dauerhaft in anderen Ländern. Davon sind etwa ein Zehntel Flüchtlinge. [57] In den deutschen Medien wird der dem Grundsatz des Grundgesetzes Artikel 16a „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ folgenden Rechtsprechung zumeist zwischen politisch verfolgten und damit asylberechtigten Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen unterschieden. Abgrenzungen sind praktisch wie theoretisch allerdings oft schwierig: Machen Sie sich diesbezüglich nur einmal kurz klar, wie die Bundesregierung den Begriff bzw. die Liste der sicheren Herkunftsländer seit Mitte des Jahres 2015 mehrfach veränderte. Der vorläufige Höhepunkt der Fluchtbewegungen fand im Jahre 2015 statt, als etwa zweieinhalb Millionen Menschen aus Syrien in die Türkei geflüchtet waren und über eine Million Menschen das Mittelmeer überquerten. Das UNHCR schätzte für 2015, dass ca. 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht waren, die höchste absolute Zahl, die bis dato registriert war. Das UNHCR unterscheidet dabei zwischen Binnenvertriebenen, Menschen, die innerhalb des eigenen Landes bzw. Staatsgebietes flüchten, und denjenigen, die ins Ausland flüchten. Wichtigste Fluchtländer waren Syrien, Afghanistan, Somalia, der Sudan und Südsudan, die Demokratische Republik Kongo und Ostasiens Armenhaus Myanmar. [58] Bevölkerungsprognosen und Klimavorhersagen für Afrika und den Nahen Osten indizieren bereits ausnahmslos, dass wir derzeit am Beginn einer Migrationswelle in Richtung Europa stehen. Während sich Hunger und Seuchen (trotz Corona) auf Grund von Entwicklungshilfemaßnahmen aus dem Westen und aus China im historischen Maßstab aggregiert auf niedrigem Niveau befinden, führt das weit überproportionale Bevölkerungswachstum in den Least Developed Countries zu einer Übernutzung von natürlichen Ressourcen und damit zum mittelfristigen Entzug der Lebensgrundlagen. Ihre mittelfristige Integration in die Weltwirtschaft erscheint derzeit weitgehend unrealistisch, da sowohl die Regierungen der Länder der entwickelten Welt als auch der Länder in der Middle Income Trap zumeist keine Möglichkeiten sehen, von ihrem Wohlstand substanziell abzugeben, um Perspektiven zu schaffen, die die Menschen in den ärmsten Ländern zum Bleiben bewegen könnten. Lesen Sie nun, wenn Sie es noch nicht getan haben, die in der Einführung dieses dritten Teils bereits erwähnte Rede von Horst Köhler, Bundespräsident a.D. Exkurs: Rassismus vs. Sklaverei Der Tod des Afroamerikaners George Floyd nach einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis in den USA im Mai 2020 hatte auch in Europa Folgen. Mitten in der Corona-Krise wurde bei uns diskutiert, nicht ob, sondern inwieweit Deutschland ein rassistisches Land sei. Die Anschuldigungen betrafen vor allem die Polizei, der u.a. struktureller Rassismus unterstellt wurde. Ein Großteil der Diskussion entbehrte indes 15 Die unterste Milliarde 330 <?page no="331"?> einer soliden Grundlage, da überhaupt nicht geklärt war und ist, was überhaupt unter Rassismus zu verstehen sei. Was Rassismus ist - denken Sie an die 17 Definitionen von Religion, auf die in der Einleitung Bezug genommen wurde - ist nämlich keinesfalls eindeutig. Grob unterschieden wird ein klassisches Konzept von Rassismus, indem die Mensch‐ heit in eine Anzahl von biologischen Rassen mit genetisch vererbbaren Eigenschaften eingeteilt wird und die so verstandenen Rassen hierarchisch eingestuft werden. Es scheint mir offensichtlich, dass es in der Gegenwart in Deutschland für die überwie‐ gende Anzahl der Menschen nicht um ein solches Verständnis von Rassismus gehen kann. Dieses klassische Konzept war vorherrschend in der Epoche des europäischen Kolonialismus und Imperialismus bis nach dem II. Weltkrieg mit dem erschütternden singulären Geschichtereignis während der Nazizeit, als Juden, Sinti und Roma und Slawen offiziell als Untermenschen bezeichnet wurden und Millionen Menschen physisch vernichtet wurden. Die Rassenideologie diente dabei dazu, Sklaverei zu rechtfertigen. In einem weiteren Verständnis umfasst nach Zerger „Rassismus […] Ideologien und Praxisformen auf der Basis der Konstruktion von Menschengruppen als Abstammungs- und Herkunftsgemeinschaften, denen kollektive Merkmale zuge‐ schrieben werden, die implizit oder explizit bewertet und als nicht oder nur schwer veränderbar interpretiert werden.“ [59] Wir wissen aber, dass soziale Verhaltensweisen in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich sind: Insofern sind Schwierigkeiten bei der Operationalisierung dieser sehr weit gefassten Definition offensichtlich. Wichtiger ist, dass es im juristischen Sinne keine einheitliche, formelle Definition von Rassismus gibt. Nahe an der Rechtspraxis ist das (nicht zeitinvariante! ) Verständnis von rassistischer Diskriminierung als dem Inbegriff von Ungleichbehandlungen, Äu‐ ßerungen oder Gewalttaten, die bewirken oder beabsichtigen, dass Menschen wegen ihrer äußeren Erscheinung oder ihrer Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nationalität oder Religion herabgesetzt werden. Hier kommen natürlich sofort praktische Fragen auf. Ist es a priori bereits „racial profiling“, wenn die Polizei in den USA verstärkt junge schwarze Männer kontrolliert, da sie weiß, dass überproportional viele Gewalttaten von Vertretern genau dieser Teilpopulation verübt werden? Wie verhält es sich in Israel, dessen Regierung Paläs‐ tinensern in den meisten Fällen untersagt, überhaupt vom Flughafen Ben Gurion abzufliegen? Was hätten Sie als Bürgermeister (wie in Washington D.C.) praktisch gemacht, wenn Sie wissen, dass 80% der Corona-Toten in ihrer Stadt Afroamerikaner sind, diese aber nur die Hälfte der Bevölkerung Ihrer Stadt repräsentieren? Was hätten Sie als Bürgermeister von Chicago im Jahr 2016 gemacht, als im Herbst des Jahres (vor der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten) der 1.000ste Mord in ihrer Stadt berichtet wurde und Sie damit in ihrer Stadt mehr Morde zu verzeichnen hatten als die beiden größten Städte der USA New York und Los Angeles zusammen und dabei wirklich jedermann in Chicago wusste, dass diese Morde zu einem großen Teil auf Bandenkriege zurückzuführen sind und Täter und Opfer vorwiegend junge Exkurs: Rassismus vs. Sklaverei 331 <?page no="332"?> Afroamerikaner waren? Aus guten Gründen haben sich in den USA auch zahlreiche schwarze Bürgermeister nach dem Tod von George Floyd öffentlich gegen eine pauschale Verunglimpfung der Polizei verwahrt, wohl wissend, welche Zustände ohne Polizei in ihren Städten zu erwarten wären. Jedem von uns sollte klar sein, dass wir es mit dem Bohren einiger dicker Bretter zu tun haben und dass die öffentliche Darbietung von compassion nicht einen Corona-Toten, keinen einzigen Mord und auch keine gescheiterte Schullaufbahn verhindert. Insofern ist es in den USA wie bei uns in Deutschland natürlich relevant zu wissen, aus welchen „Milieus“ Straftäter kommen. Donald Trump wandte sich vor den Wahlen 2016 an die schwarzen Frauen in Chicago mit der Frage, wo ihre Männer und Söhne denn seien und er lieferte die Antwort gleich mit: Im Gefängnis oder auf dem Friedhof. Von diesen Frauen wurde er zwar nicht gewählt, seine Kontrahentin Hillary Clinton aber ebenso nicht. Viele schwarze Frauen gingen 2016 überhaupt nicht wählen. Auf meine wiederholte Frage, ob Michelle Obama, die aus einfachen Verhältnissen kam und Spitzenabsolventin der Princeton und der Harvard University, Topanwältin und wichtigste Beraterin ihres Mannes, des US-Präsidenten von 2008-2016, wurde, nicht das ideale Vorbild für junge Schwarze sei, wurde mir von zahlreichen liberalen weißen und farbigen Amerikanern in Chicago gesagt, dass sie für die meisten Afroamerikaner „nur eine schwarz angepinselte Weiße“ sei. Ich bitte nicht missverstanden zu werden. Offensichtliche wie versteckte Diskrimi‐ nierung ist schäbig; es gibt aber gerade in Deutschland genug soziale und im Zweifel auch juristische Mittel, um dagegen vorzugehen. Alle Entscheidungsträger, die nicht völlig vom Verstand verlassen sind, wissen um die Gefahr, als rassistisch gebrandmarkt zu werden. Dies zu vermeiden ist aber umso schwieriger, als überhaupt nicht klar ist, was damit gemeint ist und der Vorwurf des Rassismus eine wirksame Waffe zur „Bekämpfung“ Andersdenkender geworden ist. Thomas Sowell, Doktor der University of Chicago und einer der ersten afroamerikanischen Wirtschaftsprofessoren in den USA, formulierte dazu: „Das Wort Rassismus ist wie Ketchup, man kann es praktisch auf alles draufschmieren - und wenn man nach Belegen fragt, macht einen das zum Rassisten.“ [60] Ob die Tatsache, dass in unserer Gesellschaft kaum ein Bewerber eine ehrliche Begründung für eine Absage auf eine Bewerbung - fragen Sie mal einen Personaler, warum das so ist - erhält, hier hilfreich ist, darf bezweifelt werden. Damit wird Raum geschaffen für diffuse Verdächtigen, z.B. dass Rassismus der Grund für geringere Erfolge von Bevölkerungsgruppen ist (vgl. Collier). Denken Sie auch hier an den Fehler 1. und den Fehler 2. Art: Aus der Angst, etwas falsch zu machen, folgt, dass nur noch wenig richtig gemacht wird. Die unscharfe Keule des Rassismus scheint mir eher geeignet, Menschen aufeinanderzuhetzen und von wesentlichen Problemen, die man nicht lösen kann oder will, abzulenken. Dabei hätten wir genug zu tun. Anfang 2021, fast ein Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie, gab es weder hinreichende Vorstellungen noch eine so zu bezeich‐ nende qualifizierte öffentliche Diskussion, wie wir in Zukunft den regelmäßigen Schul‐ betrieb nach oder mit Corona gestalten und wie wir den Menschen, die weitgehend 15 Die unterste Milliarde 332 <?page no="333"?> abgeschnitten von der Gesellschaft ihre letzten Lebensjahre in Altersheimen verbrin‐ gen, einen würdigen letzten Lebensabschnitt ermöglich können. Dabei handelt es sich inklusive berufsbildender Schulen um mehr als 10 Millionen Kinder und Jugendliche und immerhin fast 1 Million Menschen, die sich in vollstationären Pflegeeinrichtungen befinden. [61] Etwas Reflexion in Verbindung mit etwas Eigennutz ist oft ernüchternd: Ich war während der Corona-Krise ein Jahr lang als Vertretungslehrer an einem Rostocker Gymnasium tätig und habe dort fast ausschließlich fleißige und anständige Pädagogen kennengelernt. Wenn pauschal auf den Lehrern „rumgetrampelt“ wird, stellen sich für mich zahlreiche Fragen, u.a. auch, ob das von Leuten kommt, die keine Kinder haben bzw. was sie selbst - in Deutschland gilt das Primat der Familie - für die Bildung ihrer Kinder tun? Wichtiger als eine zumindest in Deutschland meines Erachtens nicht in einem angemessenen Verhältnis zur Realität stehende Rassismusdebatte erscheint mir eine Diskussion über moderne Sklaverei. Unter Sklaverei versteht man allgemein den Zu‐ stand der dauerhaften, im Recht der jeweiligen Gesellschaft verankerten Abhängigkeit eines Menschen gegenüber einem anderen. Die Sklaverei impliziert somit erstens die vollständige wirtschaftliche Abhängigkeit vom Sklavenhalter und zweitens das Ausschalten jeder sozialen Beziehung innerhalb der Sklavenpopulation, so dass der Sklave sozial tot ist. Hier sei wiederum sowohl an rumänische Kontraktarbeiter in deutschen Schlachthöfen als auch an David Graeber erinnert, der an diversen Stellen seiner Werke feststellt, dass sich große Teile der heutigen Menschheit am Rande der Sklaverei befinden. In den USA bedurfte es des Bürgerkrieges von 1861-1865, um die Sklaverei formell abzuschaffen. Aus guten Gründen halten alle meine amerikanischen Kollegen, unab‐ hängig davon, ob sie die Demokraten, die Republikaner oder gar nicht wählen, die Sklaverei für die Ursünde der USA. Wenn Sie die Geschichte von Rosa Parks, die sich im Jahr 1955 weigerte, ihren Platz im Bus für einen Weißen freizumachen, vergegenwärtigen, sollte Ihnen klar sein, dass noch vor 65 Jahren die Rassentrennung in den USA gängige Praxis war. Es war also normal, dass Schwarze hinten im Bus Platz zu nehmen hatten, während die vorderen Sitze für Weiße reserviert waren. Einen guten Einblick in diese Zeit der Rassentrennung gibt Ihnen der Film „Flucht in Ketten“ von Stanley Kramer aus dem Jahre 1958. Geschichte wird aber immer wieder neu bewertet; selbst mit dem I. Weltkrieg sind wir noch lange nicht am Ende, nachdem Ferguson und Clark im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert, also mehr als 75 Jahre nach Kriegsende, die Alleinschuldthese des deutschen Kaiserreiches verworfen haben. Dass von König Leopold II von Belgien in Belgien im Jahre 2020 öffentliche Statuen existierten, hat vermutlich auch viele Belgier überrascht. Ob man die Denkmäler von Otto von Bismarck, Winston Churchill und Woodrow Wilson nun demontiert (im deutschen Osten gibt es da Erfahrungen) oder kommentiert, ist mir persönlich nicht wichtig, solange sie nicht zerstört oder beschmiert werden. Man kann, wenn das politisch gewollt ist, Exkurs: Rassismus vs. Sklaverei 333 <?page no="334"?> zukünftigen Konflikten durchaus aus dem Weg gehen, indem man ganz auf Denkmäler verzichtet und Straßen und Plätze nicht mehr nach Personen benennt. Übungen zur Selbstüberprüfung Übung 15.1: Welche Handelsbeschränkungen bestehen seitens der EU für land‐ wirtschaftliche Produkte? Übung 15.2: Analysieren Sie die Entwicklung der Direktinvestitionen in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Angola. Übung 15.3: Recherchieren Sie die chinesischen Sonderwirtschaftszonen in Äthiopien und deren Beitrag zum äthiopischen BIP. Übung 15.4: Beschreiben Sie qualitativ die Migrationströme aus und nach Äthiopien. 15 Die unterste Milliarde 334 <?page no="335"?> Schlussbetrachtung Dieser Text stellte erstens den Versuch dar, Ihre Allgemeinbildung zu erweitern und zweitens, Ihnen auch im Fall erfolgreicher vergangener Studien der Wirt‐ schaftswissenschaft neue Perspektiven zu erschließen. Das bedeutet in beiden Fällen, Sie zum Nachdenken und -fragen anzuregen. Es ging ferner darum, Ihr Verständnis für das Funktionieren von Gemeinwesen zu verbessern. Spätestens (oder wieder einmal) mit Ausbruch der Corona-Krise im Jahr 2020 sind wir überall auf der Welt damit konfrontiert, dass die Illusion, die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung könne vernünftig über statistische Verteilungen und den Einsatz passender Risikomaße modelliert werden, nicht haltbar ist. Wir wissen nicht, wie sich die geostrategischen Beziehungen mit und zwischen den USA, China, Russland und auch Indien entwickeln werden, wir wissen nicht, wie die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien beschaf‐ fen sein werden, wir wissen nicht, ob wir uns am Beginn einer ökologischen Verkehrswende befinden oder vor einem Comeback der fossilen Energieträger, wir wissen nicht, wie sich Bevölkerung und Migration in Afrika und im Nahen Osten entwickeln wird und wir wissen auch nicht, ob und falls wann tatsächlich dauerhaft wirksame Impfstoffe ohne substanzielle Nebenwirkungen gegen das offensichtlich mutierende Covid19-Virus zur Verfügung stehen werden und wie diese im positiven Fall von den Bevölkerungen angenommen werden. Kein vernünftiger Mensch käme auf den Gedanken, sich vom Weltgeschehen zu verabschieden, weil irgendwann mal der nächste große Meteor auf der Erde einschlagen wird, das Erdmagnetsystem dann fast sicher zusammenbrechen wird und vermutlich fast alle höheren Lebewesen ausgelöscht werden. Restrisiken oder -unsicherheiten im Sinne von Keynes können nicht ausgeschlossen werden, sie müssen uns nur bewusst sein und wir müssen - soweit möglich - ihre Folgen antizipieren und Nofallpläne bereit halten. Die weltwirtschaftliche Gegenwart ist durch die drei großen wirtschaftlichen Blöcke USA, die Europäische Union und China charakterisiert, wobei sich jeder dieser Blöcke innerhalb eines mehrdimensionalen Transitionsprozesses befindet. Was wir wissen ist, dass Deutschland in näherer Zukunft von zwei fundamentalen Entwicklungen betroffen sein wird. Dies sind einerseits die Digitalisierung, in der wir weltweit keinen Spitzenplatz einnehmen und die an Geschwindigkeit zuneh‐ mende Deglobalisierung, als deren extreme mögliche Ausprägung ein Decoupling der Weltwirtschaft steht. Damit steht bei einer rapide alternden Bevölkerung für die bisherige Hardware-Exportnation Deutschland nichts weniger als unser Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zur Disposition. China versucht mit einer ebenfalls massiv alternden Bevölkerung einen Transfor‐ mationsprozess von einer investitionsgetriebenen und exportorientierten Volks‐ <?page no="336"?> wirtschaft hin zu mehr Service und Konsum zu managen, das politische System der USA ist bei aller wirtschaftlichen und militärischen Kraft nur bedingt leistungsfähig und Europa ist bei stark alternder Bevölkerung und wirtschaftlichen Ungleichge‐ wichten seit zehn Jahren mit einer Finanz- und Wirtschaftskrise konfrontiert, die seit 2014 durch einen neuen Konflikt mit Russland und seit 2015 durch die Flüchtlingskrise verschärft wird. Dabei hat China aber genug Kraft, um die Neue Seidenstraße zu bauen und die USA binden Großbritannien an sich. Die EU ist in der Krise hingegen nicht der starke, aktiv handelnde Super-Staat: Sie hat keine Armee und keine Polizei, sie betreibt keine eigene Gesundheitspolitik, sie hat kaum eigene Mittel in der Wirtschaftspolitik. Im Corona-Jahr 2020 sah Europa wirtschaftlich im weltweiten Vergleich schlecht aus. Während die Wirtschaft in China um etwa 2% wuchs und die USA einen Rückgang von ca. 4% ihrer Wirtschaftsleistung zu verzeichnen hatten, betrug der Rückgang der Jahreswirtschaftsleistung in der EU ca. 8%. Noch fataler in der internationalen Wahrnehmung ist der „Impfegoismus“ der EU: Die „Retter“ der weniger entwickelten Welt von Afrika über Südostasien nach Lateinamerika kommen aus Russland und aus China und die Geretteten werden sich das merken. Die Fliehkräfte innerhalb der EU sind seit der Finanzkrise nicht geringer ge‐ worden, die kleineren Peripherieländer der EU bluten demografisch und damit wirtschaftlich langsam aus. Dieser Prozess wird durch die seit Ausbruch der Co‐ rona-Krise wieder ansteigende Jugendarbeitslosigkeit in Süd- und Südosteuropa beschleunigt. Die „großen“ relativ kurzfristig zu beantwortenden Fragen der kommenden Jahre werden sein, ob und inwieweit die EU gestärkt aus der durch Corona verlängerten Schulden- und Staatenkrise herausgehen kann und ob der Schengen-Raum und die Gemeinschaftswährung grundsätzlich Bestand haben werden. Gesichtswah‐ rende Kompromisse sind in vielen Fragen nur noch schwer möglich, obwohl überall bekannt ist, dass die Sonne nach einem (teilweisen) Auseinanderbrechen der Eurozone und der EU zwar weiterhin scheinen wird, die Folgen eines EU/ Euro-Kollapses für alle Involvierten aber zumindest kurzfristig fatal wären. Wenn die noch 450 Millionen EU-Bürger nicht zusammenstehen bzw. ihre Regierungen sich zu mehr politischer Einheit durchringen, dann wird Europa sich aus dem Konzert der Großen verabschieden. Die meisten Mitglieder sehen die EU nur unter potenziellen eigenen Vorteilsaspekten, politische Macht abgeben will kei‐ ner, auch nicht in Deutschland. Das Gesagte bedeutet übrigens nicht, dass wir „mehr Europa“ brauchen. Soweit möglich sollte das Subsidaritätsprinzip gelten, was bedeutet, dass alles, was in den Kommunen und Regionen geklärt werden kann, genau dort angesiedelt und behandelt werden sollte. Die Sicherung der EU-Außengrenzung und die Seuchenbekämpfung gehören allerdings nicht dazu. Wenn wir also einerseits der Überzeugung sind, dass wir eine gemeinsame Armee und Außengrenzsicherung brauchen und dabei wissen, dass die einzige Armee nennenswerter Größe und Kraft in der EU die französische ist, sollte es uns nicht Schlussbetrachtung 336 <?page no="337"?> mehr so schwer fallen, Frankreich in militärischen EU-Belangen die Führung anzuvertrauen. Wie in einer guten „Großfamilie“ bleibt für Deutschland und die weiteren 25 EU-Staaten in einer Arbeitsteilung dann noch genug zu tun, um einen Wertbeitrag für die Gesamtheit zu erbringen. Wenn also Polen, Tschechien und Ungarn nicht bereit sind, substanziell Flüchtliche aus Afrika und dem Nahen Osten aufzunehmen und die meisten dieser Flüchtlinge auch nicht dorthin, sondern nach Deutschland, Frankreich oder Skandinavien ziehen wollen, gibt es keine nicht-ideologiegetriebenen Gründe, sie zu einer Aufnahme von Flüchtlingen zwingen zu wollen, sofern sie andere Aufgaben für die Gemeinschaft erfüllen. Wenn man über die Zukunft Europas nachdenkt, lohnt es sich sehr, sich mit der leider weitgehend vergessenen Gedankenwelt des großen französischen Patrioten und Vernunfteuropäers Charles de Gaulle zu beschäftigen! Es ist in der Tat eine offene Frage, wie „Versöhnung“ innerhalb der Nationalstaa‐ ten, in denen sich jeweils politische Lager gegenüberstehen, bei denen eines bei „ja oder nein-Fragen“ nur eine knappe Mehrheit erlangt, erfolgen soll. Wenn es uns in Europa nicht gelingt, die schleichende Entsolidarisierung der Gesellschaft(en), von der Familie bis hin zu Beziehungen zwischen den EU-Staaten, nicht nur zu stoppen, sondern diese wenigstens in Teilen reversibel zu machen, werden unsere Gesellschaften weiter atomisieren und wir werden den in näherer Zukunft anstehenden demografischen Umbzw. Rückbau weltweit kaum friedlich in den Griff bekommen. Nationale Einzelwege oder -entscheidungen sind für solche Problemlösungen ungeeignet. Mit anderen Worten: Auch die Möglichkeiten nationaler Wirtschaftspolitik im klassischen instrumentellen Verständnis werden hoffnungslos überschätzt. Die Voraussetzungen, dass Europa gestärkt aus der aktuellen Krise hervorgehen kann, sind bei weitem nicht so schlecht, wie sie oft dargestellt oder wahrgenom‐ men werden. Nach einem „holprigen Start“ klappte die Kooperation zwischen den EU-Staaten und damit die Unterstützung der hilfebedürftigen Staaten bzw. Regionen in der Corona-Hochphase im Frühsommer 2020 insgesamt gut. Fragen, wie die in einer alternden Gesellschaft neu auftretenden Probleme ange‐ gangen werden, sind zwar noch weitgehend unbeantwortet, aber immerhin schon hörbar gestellt worden. Nicht unterschätzt werden sollte auch die Tatsache, dass Deutschland im Jahr 2020 im Gegensatz zu z.B. Großbritannien über deutlich mehr strategische Optionen verfügt. Wir sind (noch) mit China, Russland, den USA und innerhalb der EU im Gespräch. Zu den wesentlichen Stärken Deutschlands zählt die im internationalen Vergleich hohe durchschnittliche Bildung und die damit verbundene hohe berufliche Qua‐ lifikation der Arbeitnehmer und Selbstständigen. Wir müssen uns, in Anlehnung an Milton Friedmans Überlegungen zu Immigration und Sozialstaat, immer darüber im Klaren sein, dass sich für eine positive Zukunft Deutschlands offene Märkte und eine nur durchschnittliche Bildung gegenseitig ausschließen. Unser Wohlstand wird weiter auf Gedeih und Verderb von unserer Bildung, und damit Schlussbetrachtung 337 <?page no="338"?> meine ich explizit nicht nur fachliche Aspekte, abhängen. Bundeswirtschaftsmi‐ nister Peter Altmaier hatte natürlich Recht, als er eine Industriestrategie für Deutschland und die EU forderte, ebenso wie Siemens’ Joe Kaeser, der Anfang 2021 eine europäische Mikroelektronikstrategie anmahnte. Unsere derzeitigen Bindekräfte und unser Ansatz „individueller Optimierung“ erlauben uns nicht, in den kapitalintensiven Zukunftindustrien, in denen fast immer „The winner takes it all“ gilt, mit China und den USA oder deren Großunternehmen auf Dauer erfolgreich zu konkurrieren. Wenn es uns einerseits gelingt, die Menschen Deutschlands wieder mehr zur Teil‐ habe am gesellschaftlichen Prozess zurückzugewinnen und sich die EU tatsächlich in Richtung einer echten Wertegemeinschaft bewegt, die notwendigerweise auf wenigen, aber dafür zentralen Werten beruht, sollten wir der Zukunft optimistisch entgegensehen können. Kein anderer Kontinent geht der Zukunft derzeit so pessi‐ mistisch entgegen wie Europa, obwohl kein Teil der Welt bessere Voraussetzungen als Europa hat, die Zukunft zu meistern. Notwendige Voraussetzung dafür ist aber nichts weniger als ein zukunftweisender Gesellschaftsvertrag. Hier sind wir wieder bei Ihnen, verehrte Leserin oder verehrter Leser. Alles Gesagte hat eine persönliche und eine gesellschaftliche Komponente. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile, ohne die Teile kann das Ganze aber nicht funktionieren. Sie müssen selbstverständlich „irgendein“ Spezialist sein oder werden, von Allgemeinbildung kann man sich im seltensten Fall ernähren. Wenn dann aber eine hohe fachliche Bildung durch Allgemeinbildung und Sprachen ergänzt wird, können in der Tat neue Höhen erklommen werden. In der Wirtschaftspolitik kann man schlecht reale Experimente machen (auch wenn es in den letzten Jahren und Jahrzehnten beträchtliche Fortschritte in der experimentellen Sozialforschung gab). Somit gilt immer noch das bekannte Bonmot: Volkswirtschaftslehre ist das einzige Fach, in dem zwei Forscher den Nobelpreis bekommen können, weil sie sich komplett widersprechen. Das bedeutet auch, dass Sie zwar nicht alles planen können, dass Absenz von kluger Planung aber gesellschaftlich noch gefährlicher ist. Dabei gilt immer, dass Sie auch für Fehler bzw. Entscheidungen Dritter mithaften: Die historischen Beispiele auf supranationaler, nationaler, kommunaler und selbst persönlicher Ebene sind Legion. Tatsächlich sind die Schlussfolgerungen, die Ökonomen für die Politik ziehen, wer‐ tegeleitet, d.h. sie beruhen auf Wertekorsetten, die sehr unterschiedlich sein können. So wird die Rolle des Staates immer wieder kontrovers diskutiert werden müssen. Dies betrifft auch Fragen, wie wir hoffentlich noch rechtzeitig vermeiden können, die Erde ökologisch zu verwüsten. Wir müssen uns also der Herausforderung stellen, mehr kollektiv zu handeln, ohne die Freiheitsrechte grundlegend auszuhöhlen. Inwieweit effektiver Klimaschutz mit den Prinzipien der Demokratie vereinbar ist, wird sich erweisen. Ich bin diesbezüglich sehr skeptisch. Antworten darauf sind jedenfalls untrennbar mit einer hoffentlich friedlichen Rückführung der Weltbevölkerung und damit mit der Tauglichkeit des BIPs und Schlussbetrachtung 338 <?page no="339"?> 42 Zitiert nach Skidelsky (2010). unserer gesamten Art, Ökonomie zu betreiben und zu leben, verbunden. Vielleicht hilft Ihnen und uns allen auch hier John Maynard Keynes weiter, den Robert Skidelsky sehr passend einen kämpfenden Liberalen nannte, dessen wichtigste Frage, die nach dem guten Leben war: “Erst wenn die Anhäufung von Reichtum nicht mehr von hoher gesellschaftlicher Wichtigkeit ist, werden große Veränderungen der Sittengesetze eintreten. Wir werden imstande sein, uns von vielen der schein-sittlichen Grundsätze loszusa‐ gen, die uns seit zweihundert Jahren wie ein Albdruck verfolgt haben. Wir werden dann endlich die Freiheit haben, alle Arten von gesellschaftlichen Gewohnheiten und wirtschaftlichen Kniffen von uns zu werfen, die die Verteilung des Reichtums, wirtschaftliche Belohnungen und Strafen betreffen und die wir jetzt, so widerlich und ungerecht sie in sich sein mögen, mit allen Mitteln aufrechterhalten, weil sie ungeheuer nützlich sind, die Anhäufung von Kapital zu fördern. Erst wenn wir die Abgründe dieser entfremdeten Sitten durchschaut haben, werden wir wieder lernen, das Gute dem Nützlichen vorzuziehen.“ 42 Bei David Graeber können wir nachlesen, dass es - wenn auch wenige und zudem kurze - Perioden in der Menscheitsgeschichte gegeben hat, die dieser Maxime, die eben nicht zu eindimensionaler Umverteilung von oben nach unten korrespondiert, entsprachen. Damit sollte das auch uns gelingen können, sofern der „gesellschaftliche Wille“ vorhanden ist. Keynes‘ Gedanken sollten also nicht in das Reich der Utopie abgeschoben werden. Wir werden verstehen müssen, dass die Ökonomisierung praktisch aller Teilbereiche des Lebens, wie wir es täglich erfahren, eine im Wesentlichen auf Konsum bzw. den Erwerb von „Statussymbolen“ basierende Pseudo-Individualiät auf Kosten des Gemeinschaftsinnes als notwendige Folge hat. Dies können Sie bereits bei Karl Marx nachlesen, der die Abschaffung des Individuums vorhersah und auch den Reichen nicht mehr zugestand, als „mit Bewusstsein begabte Portemonnaies“ zu sein, die eine Rolle zu spielen hatten. In Umkehrung der ersten Sätze dieses Buches: Auch wenn ohne eine funktio‐ nierende Volkswirtschaft alles andere nichts ist, so ist eine funktionierende Volkswirtschaft nicht alles, was der Mensch zum Leben braucht. Vermutlich sind Sie weder Libertarist noch Konfuzianer, und wenn doch, macht das an dieser Stelle auch nichts: Demokratie lohnt sich immer, setzt aber nicht nur den mündigen, sondern ebenso den gebildeten Bürger voraus. Bringen Sie sich also in die Gesellschaft ein. Wir schließen mit dem Spruch, der die Besucher beim Betreten der Inselkirche Hiddensee empfängt: Gottes sind Woge und Wind Aber Segel und Steuer sind Euer Dass Ihr den Hafen gewinnt. Schlussbetrachtung 339 <?page no="341"?> Direkt im Text zitierte Literatur Einführung [1] Collier, P. (2007). 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Der SPIEGEL. www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-41119094.html [30] Zitiert nach Seitz, K. (2000). China: Eine Weltmacht kehrt zurück. München: Siedler. [31] World Bank (o. J.). Doing Business Index. http: / / www.doingbusiness.org/ [32] United Nations Development Center (o. J.). Human Development Reports. http: / / hdr. undp.org/ en/ data. [33] Ebda. Kapitel 12 [34] Wikipedia (o. J.). Fernstraßennetz der Russischen Förderation. https: / / de.wikipedia. org/ wiki/ Russland#/ media/ Datei: Russian_federal_highways.svg [35] BBC (2015, 6. Juni). President Vladimir Putin tells West not to fear Russia. http: / / www.bbc.com/ news/ world-europe-33034844 Direkt im Text zitierte Literatur 342 <?page no="343"?> [36] Statistisches Bundesamt (2020). Außenhandel. https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen / Wirtschaft/ Aussenhandel/ Tabellen/ rangfolge-handelspartner.pdf ? __blob=publication File [37] Indo-Asian News Service (2015). Narenda Modi greets Vladimir Putin on his birthday. http: / / www.india.com/ news/ india/ narendra-modi-greets-vladimir-putin-on-hisbirthday-609100/ Kapitel 13 [38] Giesen, C. und B. Warmbrunn (2013, 31. Juli). Das Geschäft mit dem weißen Pulver. http: / / www.sueddeutsche.de/ panorama/ babynahrung-in-china-das-geschaeft-mitdem-weissen-pulver-1.1734790 [39] Wikipedia (o. J.). Topografie Chinas. https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ 2/ 22/ China_topo.png [40] Naß, M. (2012, 6. September). Wie chinesisch wird die Welt? http: / / www.zeit.de/ 2012/ 37/ Schmidt-Lee [41] Lommes, v. (o. J.) One belt one road. https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? cu rid=58884083 [42] Vgl. z.B. https: / / www.zeit.de/ wirtschaft/ 2019-12/ gaspipeline-russland-china-fertig stellungkraft-sibiriens [43] Vgl. z.B. Eurostat: https: / / ec.europa.eu/ eurostat/ statistics-explained/ index.php/ China -EU_-_international_trade_in_goods_statistics [44] Deng, X. (1994). 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J.). https: / / www.arbeitsagentur.de Direkt im Text zitierte Literatur 343 <?page no="344"?> [52] Vgl. Mishkin (2015). The economics of money, banking and financial markets. Boston (MA): Pearson. [53] Ebda. [54] Trading Economics (o. J.). Angola: Direktinvestition im Ausland. http: / / de.trading economics.com/ angola/ foreign-direct-investment [55] Collier, P. (2014), Exodus: Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. München: Siedler, S. 116 ff. [56] Bundeszentrale für politische Bildung (o. J.). Afrika: Wirtschaft. http: / / www.bpb.de/ internationales/ afrika/ afrika/ 58959/ wirtschaft [57] Vgl. www.uno-fluechtlingshilfe.de/ informieren/ fluechtlingszahlen/ [58] United Nations (2020). List of Least Developed Countries (as of December 2020). https: / / www.un.org/ development/ desa/ dpad/ wp-content/ uploads/ sites/ 45/ publication / ldc_list.pdf [59] Zerger, J. (1997). Was ist Rassismus? Göttingen, S. 81. [60] Zitiert nach Plickert, P.: Schwarz und Weiss. Das ist zu einfach. FAS vom 16.08.2020. [61] Statista und Statistisches Bundesamt an verschiedenen Stellen. Direkt im Text zitierte Literatur 344 <?page no="345"?> Anhang <?page no="347"?> A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung Kapitel 1 Übung 1.1: Unter Arabischem Frühling versteht man eine im Dezember 2010 in Tunesien beginnende Serie von Protesten, Aufständen und Revolutionen, die sich in mehreren Staaten in Nordafrika und im Nahen Osten gegen die dort herrschenden Regimes richtete. Übung 1.2: Unter Entsolidarisierung versteht man grundsätzlich eine „Bewegung“ vom Ganzen auf das Individuelle und daraus abgeleitet eine Abnahme von Verbundenheit und Rücksichtnahme in der Gesellschaft. Übung 1.3: Dies ist natürlich eine Suggestivfrage. Sie können nicht wissen, wie sich die Firmen entwickeln werden. Historische Daten bzw. Charts finden Sie auf den einschlägigen Finanzportalen von Boerse.de, Yahoo, finanzen100, Comdirect, Deutsche Bank usw. bzw. auf den Internetseiten der genannten Unternehmen. Bayer war z.B. nach dem sogenannten Lipobay-Skandal im Jahre 2002 fast pleite, Ende 2015 die teuerste Firma im DAX und in Verbindung mit der Monsanto-Übernahme wieder durch eine insgesamt rückläufige Börsenbewertung charakterisiert. Inwieweit die exzellente Performance bis 2015 dem damaligen CEO Marijn Dekkers (teilweise) geschuldet war, wird man erst in der Zukunft diskutieren können. Exxon wurde seit 2017 massiv vom Einbruch der Ölpreise getroffen, war als Unternehmen aber zu keinem Zeitpunkt (bisher) existenziell gefährdet. Canon hat massiv darunter zu leiden, dass heute zu einem Großteil mit Smartphones fotografiert wird. Bei VW konnte Ende 2015 kaum jemand die Auswirkungen von „Dieselgate“ und die zukünftigen Resultate der damals laufenden Verhandlungen mit der US-Regierung einschätzen. Diese damals durchaus existenziellen Gefahren scheinen trotz massiver Strafzahlungen in Höhe von insgesamt mehr als 30 Milliarden Euro, davon mehr als 20 Milliarden Euro in den USA (Stand Ende 2020), inzwischen gebannt. Aufgabe 1.4: Eine Marktwirtschaft bezeichnet grundsätzlich eine Wirtschaftsord‐ nung, in der Produktion und Verteilung aller Güter und Dienstleistungen über den Mechanismus von Angebot und Nachfrage, d.h. über Marktprozesse, frei gehandelt und getauscht werden. Eine soziale Marktwirtschaft ist eine Marktwirtschaft, bei der der Staat zur Minderung sozialer Härten und zur Sicherung des freien Wettbewerbs eingreift. Nicht spezifiziert ist bei dieser „Definition“ das „Wie“ (hierzu vgl. z.B. Bofinger, 2019, Kapitel 12 und 13). <?page no="348"?> Kapitel 2 Übung 2.1: Wie in der Ausgangssituation führen wir einen Test durch. Die Anzahl der Teilnehmer beträgt nun aber 2.099 (diejenigen, die in der ersten Runde positiv getestet wurden). Alle Teilnehmer Positiv getestet Negativ getestet In % Absolut In % Absolut In % Absolut Infiziert Ca. 4,7 99 99 98 1 1 Nicht infiziert Ca. 95,3 2.000 2 40 98 1.960 Summe 2.099 138 1.961 Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie tatsächlich infiziert sind beträgt nun 98/ 138, das sind etwa 71%. Dies ist allerdings eine Rechnung, die auf dem Konzept der Unabhängigkeit beruht (vgl. jedes einschlägige Lehrbuch der Wahrscheinlichkeitsrechnung). Übung 2.2: Naturgemäß können hier nur einige Hinweise zur Herangehensweise gegeben werden: Recherchieren Sie im Internet, in Ihrer Stadtverwaltung bzw. Ihrem Landkreisamt, wie viele Geburten, Todesfälle, Zuwanderungen, Abwanderungen es ab 1999 bis heute gab. Im Folgenden müssen Sie sich klarmachen, was unter Sozialstruktur zu verstehen ist. Die Bundeszentrale für Politische Bildung bietet zum Beispiel die folgende Definition an: „S. ist ein politisch-soziologischer Begriff, der auf die dauerhaften, grundlegenden Wirkungszusammenhänge einer Gesellschaft verweist, in die die Individuen eingebun‐ den sind (Familien-, Bildungs-, Wirtschafts-, Vermögens-, Bevölkerungsstruktur etc.) und die auf die individuellen (persönlichen) und kollektiven Verhaltensmöglichkeiten (Verein, Partei etc.) fördernd oder begrenzend einwirken. Die moderne S.-Analyse geht von einer relativen Unabhängigkeit der einzelnen gesellschaftlichen Teilbereiche aus und unterscheidet daher eine Vielzahl sozialstruktureller Merkmale (Schichtung, Mobilität, Technologisierung, Wertewandel etc.). Während in der Bundesrepublik D der 1980er Jahre von einer mittelschichtdominierten Gesellschaft ausgegangen wurde, vertieft sich heute, insbesondere aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit, ein gesellschaftlicher Riss zwischen Arm und Reich.“ Bezüglich des Aufspürens methodologischer Probleme sind sowohl Ihr gesunder Menschenverstand, Ihre Beobachtungsgabe und Ihre analytischen Fähigkeiten beim Umgang mit den von Ihnen gewonnenen Daten gefragt. Was machen Sie zum Beispiel, wenn Daten fehlen bzw. unvollständig sind? Interpolieren Sie? Wenn ja, wie? Übung 2.3: Die Länder können gleichgewichtet gewesen sein (dann würde in Europa Deutschland genauso gewichtet gewesen sein wie z.B. Luxemburg) oder besser nach Bevölkerung gewichtet. A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 348 <?page no="349"?> Übung 2.4: Zunächst muss klargerstellt werden, dass die Schätzungen umso unsicherer werden, je mehr wir in die Vergangenheit gehen. In der Literatur werden z.T. deutlich divergierende Schätzungen angegeben. Weitgehender Konsens besteht nur darüber, dass um das Jahr 200 etwa 200 Millionen Menschen auf der Erde lebten (davon je 50 Millionen im Römischen Reich und im späten Han-China). Aufgrund zahlreicher Seuchen kollabierte die europäische Bevölkerung bis ca. 600-800, um sich im Anschluss wieder zu erholen. Insoweit gelten die zentralen Kritikpunkte am arithmetischen Mittel auch für die durchschnittliche Wachstumsrate. Unter den im Aufgabentext gemachten Annahmen folgt 𝑔𝑔 = � 8000000000 10000000 � 1/ 12000 − 1 = 0,000557, d.h. das durchschnittliche Bevölkerungswachstum betrug innerhalb dieser 12 000 Jahre mit ca. 0,0557% etwas mehr als ein Zwanzigstel eines Prozentes pro Jahr. Der derzeitige Zuwachs der Weltbevökerung beträgt ca. 1% pro Jahr und liegt damit, obwohl fallend, immer noch deutlich über diesem Langzeitdurchschnittswert. Zur Aussagekraft solcher Durchschnittswerte in der Demografie vgl. auch Kapitel 13.4. Kapitel 3 Übung 3.1: Informieren Sie sich diesbezüglich im Internet (z.B. bei Immobilienscout24 und Statista) oder z.B. direkt bei der Stadtverwaltung, dem Landratsamt oder Makler‐ büros. Natürlich kann es auch hier keine expliziten Lösungshinweise geben. Es geht primär darum, die Entwicklung des Status quo zu beschreiben. Eine Entscheidung, ob ein Immobilienkauf sinnvoll ist, hängt dann immer noch von vielen anderen Umstän‐ den ab und sollte für einen Landarzt anders ausfallen als für einen Kapitalanleger, der weder viel Zeit noch Spezialwissen hat. Wenn man aber Letzteres hat, kann der Kauf von vermietbaren Immobilien auch in „schlechten“ Gegenden durchaus sinnvoll sein. Übung 3.2: Der Beitragssatz betrug Ende 2020 15,3% (allgemeiner Beitragssatz 14,6% + TK-Zusatzbeitrag 0,7%). Für 2021 wurde der Zusatzbeitrag um 0,6% auf 1,3% erhöht, d.h. der Beitragsatz der TK beträgt 15,9%. Die Aufteilung des allgemeinen Beitragssatzes erfolgt paritätisch zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Den Zusatzbeitrag bezahlt der Arbeitnehmer jedoch allein. Übung 3.3: Im Jahre 1955 betrugen die Bundeszuschüsse zur gesetzlichen Rentenversi‐ cherung 1,267 Mrd. €, im Jahre 2018 waren es 69,505 Mrd. €. Die Bundeszuschüsse haben sich also innerhalb von 63 Jahren mehr als vervierundfünfizgfacht bzw. sie sind seit 1955 pro Jahr um durchschnittlich ca. 6,6% gewachsen. Extrapolationen mit diesem nur als konstant angenommenen Wert führen innerhalb von weniger als einer Generation zu Beträgen, die von den in Deutschland Arbeitenden bzw. Steuern Zahlenden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht aufgebracht werden können. A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 349 <?page no="350"?> Übung 3.4: Dies ist die im Jahre 2005 eingeführte Basisrente, die nach dem Ökonomen Bert Rürup benannt wurde und die als steuerlich begünstigte Form der privaten Altersvorsorge eingeführt wurde (s. u.a. Rürup Rente Fachportal). Kapitel 4 Übung 4.1: Tatsächlich können Sie beobachten, dass die Anzahl der Studienanfänger in wirtschaftlich guten Zeiten c.p. zurückgeht. Insbesondere tendieren mehr junge Männer als Frauen dazu, den Weg des geringeren Widerstands zu gehen und eine gering oder mäßig bezahlte ungelernte oder geringe Qualifikation erfordernde Tätigkeit anzunehmen, anstatt ein Studium mit unsicherem Ausgang und damit unsicherem zu‐ künftigem Erfolg aufzunehmen, wenn die allgemeine Wirtschaftslage gut ist und solche einfachen Jobs verfügbar sind. Diese Tendenz ist c.p. wiederum umso ausgeprägter, je höher die Studiengebühren eines Lands sind. Interessante Beobachtungen und Schlüsse können Sie aus der jüngeren Vergangenheit Spaniens (Stichworte Immobilienboom, Finanzkrise und verlorene Generation) und Lettlands ableiten. Die Wirtschaftslage könnte in einem ersten Versuch über die Änderung des BIPs zwischen zwei Zeitpunkten erfasst werden, die veränderte Anzahl der Studienanfänger über die relative Änderung der prozentualen Anteile der Studienanfänger unterschied‐ licher Jahrgänge, wobei es hier sehr sicher eine Zeitverzögerung geben wird, bis die wirtschaftliche Lage „als gut genug“ eingeschätzt wird. Übung 4.2.: Mindestlöhne sind zunächst festgeschriebene Arbeitsentgelte, die allen abhängig Beschäftigten als festgelegte und gesetzlich garantierte Untergrenze zuste‐ hen. Sie sind somit der kleinste zulässige Betrag, welcher für eine Arbeitsleistung gezahlt werden darf. Ein gesetzlicher Mindestlohn kann als minimaler Stundenlohn oder monatliches Mindesteinkommen festgelegt sein. In einem klassischen Arbeitsangebotsdiagramm der neoklassischen Theorie wird der Gleichgewichtslohn und die dafür angebotene Arbeitsmenge im Arbeitszeit-Real‐ lohn-Diagramm grafisch als Schnittpunkt der steigenden Arbeitsangebotsfunktion und fallenden Arbeitsnachfragefunktion ermittelt (vgl. jedes einschlägige Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre). Bezüglich des kurzfristigen Angebots wird oft auch mit‐ hilfe einer fast senkrechten (unelastischen) Angebotsfunktion argumentiert. Wenn der korrespondierende Wert im Schnittpunkt der beiden Funktionen unterhalb des Mindestlohns liegt, wird die Arbeit erst ab einem Preis angeboten, für den es keine vollständige Nachfrage gibt. Die Folge ist Arbeitslosigkeit (bzw. Abwanderung in die Schattenwirtschaft). Wenn nun kurzfristig das Arbeitsangebot durch Zuwanderung ausgeweitet wird, verschiebt sich die Angebotskurve nach rechts. Dies bedeutet, dass die (Mindestlohn-)Arbeitslosigkeit zunimmt und eine weitere Abwanderung in die Schattenwirtschaft zu erwarten ist. Dabei wird zumeist mit Wohlfahrtsverlusten (englisch: deadweight loss) argumentiert. Dass die Sache aber nicht ganz so einfach ist, wurde in Kapitel 4 dargelegt. Einige wesentliche Pro- und Kontraargumente eines Mindestlohns in einer reifen Gesellschaft wie der deutschen sind: A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 350 <?page no="351"?> Pro: ■ Ein gesetzlicher Mindestlohn ist ein Schutz der Arbeitnehmer vor Armut trotz Vollzeitbeschäftigung. Der Mindestlohn sichert der arbeitenden Bevölkerung das Existenzminimum, ohne dass eine Aufstockung durch Hartz IV nötig ist. ■ Er könnte die Produktivität der Arbeitnehmer fördern, da diese bei ausreichen‐ der Bezahlung ihrer Arbeit tendenziell motivierter nachgehen. ■ Der gesetzliche Mindestlohn schützt die Arbeitnehmer in legalen Beschäfti‐ gungsverhältnissen vor Lohndumping durch Arbeitskräfte aus Niedriglohnlän‐ dern (Stichwort EU-Arbeitsmigration). ■ Der Mindestlohn kann die Binnennachfrage ankurbeln. Das erhöhte Monats‐ einkommen (ca. 1.100 Euro bis 1.300 Euro; abhängig u.a. vom Bundesland, dem Kinderfreitag, dem Steuerfreibetrag und der Steuerklasse) wird fast vollständig in den Wirtschaftskreislauf zurück eingespeist. ■ … Kontra: ■ Es ist zu befürchten, dass legale Niedriglohnjobs wegfallen oder ins Ausland ausgelagert werden. ■ Es handelt sich um einen Eingriff in die Tarifautonomie mit ungewissen Folgen. ■ Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohns erfordert mehr Bürokratie. ■ Einige Dienstleistungen (z.B. Frisör) werden für die Verbraucher teurer bzw. werden weniger nachgefragt (Taxis). ■ … Aufgabe 4.3: Unter anderem Definition eines Qualitätsrahmens für Praktika, Über‐ tragung von Teilen des deutschen Ausbildungssystems auf andere Länder in der Europäischen Ausbildungsallianz, Einführung einer Jugendgarantie (Gelder werden seitens der EU bereitgestellt) u.v.m. Wenn man sich die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in der EU in den vergangenen 10 Jahren und die jeweilige Einführung der genannten Maßnahmen anschaut, ist der bisherige Gesamteffekt gering. Aufgabe 4.4: Grundsätzlich sind Vorhersagen zu Arbeitsmärkten in 3 bis 5 Jahren (also nach Ende einer in der Gegenwart begonnenen Ausbildung an einer oder mehreren Hochschulen) schlicht unseriös. Die Tatsache, dass seit einigen Jahren die MINT-Fächer „wiederentdeckt“ werden, hat durchaus auch mit der in den letzten Jahren guten Weltkonjunktur und verbesserten Einstiegsgehältern für junge Ingenieure und Natur‐ wissenschaftler zu tun. Der Verweis auf offene Stellen ist bereits in der Gegenwart problematisch. (Recherchieren Sie diesbezüglich im Internet bzw. in einschlägigen VWL-Lehrbüchern, was genau unter einer offenen Stelle verstanden wird.) Wenn man im Alter des Verfassers jungen Menschen einen „Rat“ bezüglich eines Studiums A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 351 <?page no="352"?> bzw. einer Ausbildung geben kann, dann den, dass sie etwas lernen mögen, was sie interessiert und wo sie - fast immer mit viel Arbeit verbunden! - gut sind bzw. gut werden können. Arbeit bzw. ein Studium muss nicht den ganzen oder den halben Tag Spaß machen, aber man sollte eine grundsätzlich positive Beziehung zu dem, was man macht, haben. Wenn das alles erfüllt ist (das ist zugegebenermaßen ziemlich viel), kommt der Erfolg in den meisten Fällen von selbst. Irrtümer bei der Wahl des rechten Studiums sind dabei nicht ausgeschlossen, sollten aber nach spätestens ein oder zwei Jahren nicht mehr als solche wahrgenommen oder korrigiert werden. Wichtig ist insbesondere, „am Ball zu bleiben“ und sich weiterzubilden, ob das über Zertifikatskurse, ein Degree-Programm oder über eine Weiterbildung für Chefärzte läuft, ist letztlich fast egal. Kapitel 5 Übung 5.1: Lettland ist sehr dünn besiedelt und fast zur Hälfte mit Wald bewachsen. Im Unterschied zu potenziellen konkurrierenden Niedriglohnländern Osteuropas mit viel Wald wie Estland oder Litauen (ganz abgesehen von Ländern ohne eigenen Ostseezugang wie Weißrussland oder die Ukraine) oder auch Russland verfügt Lettland mit Riga, Liepaja und Ventspils über drei gut ausgebaute und verkehrstechnisch gut angebundene eisfreie Ostseehäfen. Bereits im Jahre 2013 war Lettland mit einer Produktion ca. 1 Mio. Tonnen nach Deutschland und Schweden Pellets-Hersteller Nr. 3 in der EU. Weitere, allerdings viel kleinere Beispiele, sind Mechanical Engineering und organische Chemieanwendungen sowie IT-Anwendungen. Übung 5.2: Wie in allen anderen konfuzianischen Gesellschaften steht das Wohl der Kinder in China im Zentrum des Handelns der Familien. Der Babymilch- oder Melaninskandal in China im Jahre 2008 führte durch gepanschte Babymilch zu ca. 300.000 kranken und 6 toten Kindern. Damit einher ging ein die Qualität einheimischer Nahrungsmittel betreffender (weiterer) massiver Vertrauensverlust der chinesischen Bevölkerung. Wer es sich leisten kann, kauft seitdem Babymilch im unverdächtigen Ausland. Deutschland besitzt wie insbesondere Japan einen ausgezeichneten Ruf in China als Hersteller bzw. Sitz von Firmen, die teuer sind, aber eben Qualität produzieren. In direkter Folge wurden und werden deutsche Drogeriemärkte und Onlineanbieter von chinesischen Studenten, Touristen oder sonstigen Gewährsleuten leergekauft und die Babymilch per DHL oder im Reisegepäck nach China verbracht. Die Profite auf diesem „Markt“ sind seit Jahren stabil: So wird über die Ebay grund‐ sätzlich vergleichbare chinesische Onlinehandelsplattform Taobao in China ein um den Wechselkurs angepasster Preis bezahlt, der in etwa dem 3bis 4-fachen deutschen Preis entspricht. Übung 5.3: TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership): ehemals geplantes Freihandelsabkommen der EU mit den USA. TPP (Trans-Pacific Partnership): ehemals geplantes Freihandelsabkommen zwi‐ schen diversen Pazifikanrainern und ursprünglich den USA; ohne Beteiligung der USA A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 352 <?page no="353"?> wurde Ende 2017 die Fortführung des Abkommens als CPTPP (Comprehensive and Progressive Trans Pacific Partnership) beschlossen. CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement): Freihandelsabkommen der EU mit Kanada. RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership): Ende 2020 unterzeichnetes Freihandelsabkommen der Asia-Pazifik-Staaten Australien, Brunei, China, Indonesien, Japan, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, Philipinen, Neuseeland, Singapur, Südkorea, Thailand und Vietnam. Das RCEP umfasst somit 15 Mitgliedstaaten, auf die je ca. 30 % der Weltbevölkerung, der Weltwirtschaftsleistung und des Welthandels entfallen. Übung 5.4: Deutschland hat eine der Bevölkerungen die i) durch sehr geringe Fertilität (derzeit ca. 1,5 Kinder pro Frau) gekennzeichnet ist und ii) z.T. wegen des guten Gesund‐ heitssystems und relativ gesunder Lebensweise massiv altert. Deutschland ist dabei durch ein (gutes) Qualifikationsniveau und eine „kritische Masse“ an Bevölkerung charakterisiert, um economies of scope und economies of scale zu ermöglichen. Diesbe‐ züglich ähnliche Länder sind z.B. Taiwan, Japan, Südkorea und China. Unterschiedlich sind die Migrationsproblematiken ( Japan, Korea und China quasi Null-Einwanderung). Insgesamt kann argumentiert werden, dass Deutschland heute ansparen muss, um später bei alternder und schrumpfender Bevölkerung zu entsparen. Kapitel 6 Übung 6.1: a. Grundsätzlich ist ein Schwarzer Schwan nicht vorhersehbar und es existieren damit keine ex-ante-Wahrscheinlichkeiten. Das Ereignis kann allerdings im Nachhinein rational erklärt werden. Letzteres ist zweifellos grundsätzlich der Fall (mangelnde Kontrollen, falsche Anreize, „Klima der Angst“ etc.). Ersteres sollte bei Dieselgate bezweifelt werden. Dass die offiziell angegebenen Abgas‐ werte vieler großer Automobilhersteller „ambitioniert“ waren oder sind, pfeifen die Spatzen seit mehr als einem Jahrzehnt von den Dächern, ebenso wie die Tatsache, dass es nicht allein sportliche und organisatorische Gründe sein können, eine Fußball-WM in Katar auszurichten. Insoweit ist die Abwesenheit von ex-ante-Wahrscheinlichkeiten für das Nichtauffliegen des Betruges von der Hand zu weisen (auch wenn es praktisch schwierig gewesen sein dürfte, solche Wahrscheinlichkeiten vor der Aufdeckung des Betruges fixiert zu haben). Die Tatsache, dass VW „erwischt“ wurde, und die Auswirkungen an der Börse sind grundsätzlich eher im Rahmen des Standard-CAPMs unter Verwendung des nichtsystematischen Risikos erklärbar. b. Auch wenn Wahrscheinlichkeiten für die Verbreitung von Epidemien schwierig oder kaum seriös zu schätzen sind, dürfte der Ausbruch der Corona-Krise bei Experten kaum Überaschung ausgelöst haben. Bereits 2003, also nach Ausbruch der SARS-Krise in China, teilten Virologen des Robert Koch-Institutes mit, dass A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 353 <?page no="354"?> nicht die Frage sei ob, sondern wann, wo und wie die nächste Virusepidemie ausbrechen würde. Als ursächlich wird primär die Nähe vieler Menschen und Nutztiere betrachtet. Tatsächlich versuchten Gesundheitsbehörden der meisten entwickelten Länder sich in den vergangenen Jahren durch Planspiele auf globale Seuchen vorzubereiten. Offensichtlich wurden diese Szenarien mit einer zunehmenden Anzahl von Jahren, in denen im reichen Teil der Welt nichts passierte, immer weniger ernst genommen. Schauen Sie sich ggf. (noch einmal) Bill Gates‘ Ausführungen zu dieser Frage „The next outbreak. We are not ready“ auf Youtube an. Übung 6.2: Die Sinnhaftigkeit der Frage leitet sich daraus ab, dass wir hier über Kosten reden, die uns ein System flexibler Wechselkurse im Vergleich zu einem System fester Wechselkurse (in dem es per definitionem keine Arbitragegewinne geben kann) wert ist. Die folgende Überschlagsrechnung ist tatsächlich grober Natur, aber genau deshalb nützlich, weil es zu der Frage keine mir bekannten Daten oder Informationen gibt. Wenn wir bei wichtigen Währungen wie US-Dollar, Euro, Britischem Pfund und Schweizer Franken davon ausgehen, dass die Austauschverhältnisse in der Nähe der 1 liegen, betragen unter der gemachten Voraussetzung die täglichen Arbitragegewinne 7.000 Mrd.US-Dollar ∙ 0,00005. Wenn sich der tägliche Umsatz auf ca. 7.000 Mrd. US-Dollar beläuft, beträgt der tägliche Arbitragewinn ca. 350.000.000 US-Dollar. Bei 250 Börsentagen im Jahr ergibt sich eine Jahresarbitrage von knapp 100 Mrd. US-Dollar. Beachten Sie, dass der erhaltene Wert insbesondere auf der Annahme beruht, dass der Arbitrageprofit das 0,00005-fache der gesamten Transaktionssumme beträgt. Wäre dieser zum Beispiel „nur“ das 0,00001-fache, so würden die Arbitragegewinne nur noch ca. 20 Mrd. US-Dollar pro Jahr betragen. Übung 6.3: Die Diskussion von möglichen Auswirkungen lang andauernder Niedrig‐ zinsen ist äußerst komplex und sie erfordert somit verschiedene Argumentationslinen. Es bietet sich an, einleitend Überlegungen anzustellen, die grundsätzlicher Natur für die Höhe des Zinses sind. Volkswirtschaftlich ist ein Zins der Preis für die Überlassung von Kapital auf Zeit. Die Geldnachfrage hängt ab vom i) Nominaleinkommen (Trans‐ aktionsvolumen) und vom ii) Zins (Opportunitätskosten der Geldhaltung). Hier gilt seit spätestens Anfang der 1990er Jahre, dass die inflationsbereinigten Zin‐ sen in allen Industrieländern sinken (vgl. Abb. 6.3). Die Zinsen der Eurozone befinden sich in der Nachfolge der Finanzkrise seit einigen Jahren auf Tiefstniveau. Sie können durch die EZB praktisch nicht weiter gesenkt werden, da die Lagerungsgebühren für Bargeld zu in etwa dem negativen Zinssatz, der aktuell von der Zentralbank fixiert wird, korrespondieren. (Das klassische Zentralbankrepertoire ist ergo erschöpft; jetzt folgen Diskussion über Heliokoptergeld etc. ) Die Argumentation sollte eindeutige Bezüge zum demografischen und technologi‐ schen Wandel in Deutschland bzw. Europa beinhalten. Neben geringen Fertilitätsraten bereiten sich immer mehr Menschen auf ein langes Leben vor und sparen deshalb mehr A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 354 <?page no="355"?> als die Generationen vor ihnen. Es gilt nun, dass hohe Sparquoten langfristig auf die Zinsen „drücken“. Ad technologischer Wandel: Viele Unternehmen investieren nicht mehr klassisch in Maschinen und Gebäude, sondern immer öfter in Daten und Lizenzen, geben dafür aber relativ wenig Geld aus und investieren weniger, was c.p. ebenfalls die Zinsen drückt. „Niedrigzinsen“ erleichtern c.p. die Finanzierung von Krediten und helfen den Haus‐ halten insbesondere dabei, Vermögen in Form von Immobilien aufzubauen. Allerdings können sich selbst viele normalverdienende Bürger (trotzdem) kein Wohneigentum (mehr) leisten, weil die Immobilienpreise in den vergangenen zehn Jahren gerade in den Ballungsräumen viel stärker als die Reallöhne gestiegen sind. Die bisher ausgefallene Zinswende bedeutet c.p., dass der Druck auf den Immobilienmarkt anhalten wird. Dazu kommt eine Zunahme der Ungleichverteilung von Vermögen, die, insbesondere mit Verweis auf den Wohnungs- und Mietmarkt in Ballungsgebieten, in Deutschland bereits zu sozialen Spannungen führt. Zu beobachten sind (vermutliche) Blasen auf Immobilien- und Aktienmärkten (c.p. steigt die Bewertung von Aktien bei fallenden Zinsen, allerdings müssen Unternehmen immer noch Gewinne machen). Warren Buffet investiert z.B. kaum noch, da er nur noch wenige nach seiner Anlagephilosophie entsprechende lohnende Investments identifiziert. Zinsen haben schließlich eine Risikosteuerungsfunktion. Diese Funktion geht für Staaten, Unternehmen und Privathaushalte weitgehend verloren. Weitere sinnvolle Bezüge sind: Die Gesetzliche Rentenversicherung wie die Privaten Krankenversicherungen leiden darunter, dass sie inzwischen für angelegtes Geld mitunter sogar Zinsen zahlen müssen, anstatt wie früher Erträge zu erwirtschaften, Sparer sehen ihre Erträge schmelzen, die klassische Lebenversicherung ist „tot“, Banken machen im klassischen Geschäft kaum noch Gewinne… Übung 6.4: Vor Beginn der Lira-Krise 2018 beliefen sich die Exporte deutscher Unterneh‐ men in die Türkei auf etwas über 20 Mrd. Euro pro Jahr. Türkische Firmen können seit ca. Mitte 2018 grundsätzlich mit Türkischen Lira weniger Waren in Euro oder Dollar kaufen und somit c.p. weniger importieren als bisher. Wegen des Wertverfalls der Lira können bereits einige türkische Abnehmer von in US-Dollar oder Euro fakturierten Waren teilweise nicht mehr zahlen bzw. sie sind in Rückstand geraten. Betroffen sind hier insbesondere die Exporte deutscher Maschinenbauer in die Türkei. Neben den Maschi‐ nenbauern ist der Textilhandel betroffen (Die Türkei ist nach China und Bangladesch der drittgrößte Textillieferant für Deutschland.). Die Lira-Abwertung erschwert türkischen Firmen den Einkauf von Rohstoffen, die sie für die Herstellung der Produkte benötigen, die sie schlussendlich nach Deutschland exportieren. Die Textilindustrie braucht so z.B. chemische Farbstoffe, die sie für Hartwährung importiert. Insgesamt günstig wäre die Währungsschwäche der Türkischen Lira für die türkische Tourismusindustrie, da die Löhne, Gehälter und Serviceleistungen weitgehend in Lira erfolgen, die Einnahmen jedoch in Hartwährung erfolgen bzw. an diese gekoppelt sind. Der Konjunktiv ist insofern A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 355 <?page no="356"?> von Bedeutung, als der Tourismus in die Türkei als Folge der Corona-Pandemie im Jahr 2020 und voraussichtlich länger massiv zurückgegangen ist. Kapitel 7: Übung 7.1: Der Gini-Index der Einkommensverteilung wurde für Deutschland im Jahre 2000 mit 0,26 ermittelt. Im Jahre 2005 war er auf 0,29 gestiegen, um dann wieder leicht zu fallen. In Deutschland hat sich der Gini-Koeffizient in den Krisen‐ jahren von 2008 bis 2015 praktisch nicht verändert. Für 2018 gibt das Statistische Bundesamt für Deutschland einen Wert von 0,311 an; damit ist seit Mitte der 1990er Jahre eine leicht ansteigende Tendenz des Gini-Index‘ der Einkommensverteilung zu erkennen. Deutschland befindet sich im Drittel der OECD-Länder mit der geringsten Einkommensungleichheit. Anders sieht die Vermögensverteilung aus. Seit 2002 ist der korrespondierende Index gestiegen, das Vermögen von Hartz-IV-Beziehern hat sich in dieser Zeit in etwa halbiert. Übung 7.2: Die Laffer-Kurve stellt einen theoretischen Zusammenhang von Steuersatz und Steuereinnahmen dar: Bei einem Steuersatz von null fallen keine Steuereinnah‐ men an; wird der Steuersatz allmählich erhöht, steigen die Steuereinnahmen zuerst überproportional an, dann langsamer bis zu einem Maximalpunkt, danach sinken sie. Bei einem Satz von 100 Prozent fallen keine Einnahmen mehr an, da jegliches Interesse an einer der Besteuerung unterliegenden Einkommenserzielung erlischt. Eine rationale Steuerpolitik sollte demnach immer Steuersätze vor Erreichen des Aufkommensmaximums aufweisen. Rationale Steuerpolitik ist in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich. Die Bereitschaft der Deutschen oder Skandinavier, Steuern zu zahlen, ist grundsätzlich höher als die der US-Amerikaner, dafür erwarten sie auch mehr vom Staat. Empirische Ergebnisse findet man z.B. bei Trabandt und Uhlig. Übung 7.3: Staatsquoten sind definiert als das Verhältnis der Summe der Ausgaben und Transfers von Staat und Sozialversicherungen zum Bruttoinlandsprodukt. Sie gelten als Indikator für den Staatseinfluss auf wirtschaftliche Aktivitäten. Die Staatsquote stieg in den Ländern Belgien, Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Niederlande, Norwegen, Schweden, Schweiz, USA und Öster‐ reich von Werten um ca. 30 Prozent in den 1960er Jahren auf Werte um die 50 Prozent in der Gegenwart. Die deutschen Werte haben sich allerdings seit ca. 1975 qualitativ kaum verändert. Übung 7.4: Die Diskussion, ob und inwieweit der technologische Fortschritt substanziell insbesondere geringqualifizierte Arbeit überflüssig macht, gibt es grundsätzlich seit mehreren Jahrzehnten. In den letzten Jahren sind - trotz Allzeithochs der abhängigen Beschäftigung - die aktuellen Schwächen der Gesetzlichen Sozialversicherung und hier insbesondere des ALG 2 (Stichworte u.a. Zunahme der sozialen Ungleichheit, Altersarmut etc.) in Deutschland in der öffentlichen Diskussion immer mehr in den Vordergrund gerückt worden. Vom BGE kursieren mehrere Varianten (von ca. 500 Euro pro Monat bis zu 2.000 Euro pro Monat). Das bzw. ein BGE ist immer charakterisiert durch A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 356 <?page no="357"?> ■ jedem zustehend ■ individuell garantiert ■ ohne Bedürfnisprüfung ■ ohne Arbeitsverpflichtung ■ existenzsichernd Tatsächlich schließen sich ein BGE und ein Sozialstaat, wie wir ihn derzeit kennen, aus. In der aktuellen Diskussion sagt „die Industrie“ mehrheitlich ja zum BGE, die Verbände und die Gewerkschaften sind eher skeptisch. Für DGB-Chef Hoffmann ist das Grundeinkommen nichts weiter als eine Abwrackprämie für Menschen. Die zentrale Frage (die unterschiedlich beantwortet wird) ist, inwieweit es einen Einfluss auf die Löhne gäbe und welchen dieser auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft hätte. Die Gegenfinanzierung würde über eine massive Erhöhung der Umsatzsteuer erreicht werden müssen; funktionieren könnte ein BGE somit vermutlich nur in Kooperation mit anderen europäischen Ländern i.V.m. einer Steuervereinfachung und -harmonisierung. Nervös sollte die Befürworter machen, dass Lebenserwartung offensichtlich etwas mit Arbeit zu tun hat (vgl. u.a. Deatons Forschungsergebnisse der Lebenserwartung in den USA sowie die ebenfalls in Teil I erwähnte Studie des Max-Planck-Instituts für Demografische Forschung zur Lebens‐ erwartung der Bevölkerung Deutschlands). Kapitel 8 Übung 8.1: Grundsätzlich sind alle Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber in Deutschland reguliert. Dies betrifft z.B. die gesetzlich erlaubte Arbeitszeit. Staatlich regulierte Branchen im engeren Sinne waren bzw. sind z.B. die Telekommunikationsbranche, die Wasserwirtschaft und die Energie- und Verkehrswirtschaft. Übung 8.2: Sowohl Regulierung als auch Verbote sind unterschiedlich starke Eingriffe in Freiheitsrechte. Setzen Sie sich in diesem Zusammenhang mit der Diskussion der teilweisen Freigabe von Cannabis auseinander. Übung 8.3: Gute Überblicke über John Nash, Reinhard Selten und Co. finden Sie, wenn Sie im Internet unter dem Eintrag „Liste der Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften“ suchen und dann weiterlesen. Übung 8.4: a. Es gibt bei je zwei Handlungsalternativen vier Kombinationen: Die Matrix sieht wie folgt aus: USA BRD Beharren auf hoher Zah‐ lung Akzeptieren einer Reduktion Keine Staatsintervention Staatsintervention A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 357 <?page no="358"?> In einer zweiten Teilfrage werden nun die (ordinalen) Nutzenwerte (im Unterschied zu den „konkreteren“ kardinalen Monatsangaben im Gefangenendilemma) für jede der 4 Alternativen angegeben. b. Die für die Bundesregierung „beste“ Situation (Nutzenswert 4) ist gegeben, wenn das US-Finanzministerium nicht „Ernst“ macht und somit kein Eingriff seitens der Bundesregierung erforderlich ist. Die schlechteste Situation liegt vor, wenn es zum Crash des Finanzsystems kommen könnte (Bankrott der Deutschen Bank). Dies korre‐ spondiert mit Nutzenswert 1. Die drittbeste Situation aus deutscher Sicht (Nutzenswert 2) liegt vor, wenn der Staat stützen muss, das Institut aber trotz Höchstforderung aus den USA nicht bankrottgeht. Die zweitbeste Situation für die deutsche Regierung liegt vor, wenn der Staat interveniert, es aber nicht zur Durchsetzung der Höchstforderung kommt. Nutzenswerte werden analog für die USA vergeben (beste Situation: Deutsch‐ land zahlt und die Bank geht nicht bankrott usw.). USA BRD Beharren auf hoher Zah‐ lung Akzeptieren einer Reduk‐ tion Keine Staatsintervention 1, 1 4, 2 Staatsintervention 2, 4 3, 3 Nun kommt die Frage nach der Lösung bzw. den Lösungen des Spiels. c. Nein, es gibt unter Verwendung der klassischen Argumentation, sich jeweils in den Spielgegner hineinzuversetzen, die beiden Gleichgewichte (Keine Intervention, Akzeptieren) und (Intervention, Beharren). Dieser reale Streitfall wurde tatsächlich so gelöst, dass die verantwortlichen US-Be‐ hörden deutlich von ihrer Maximalforderung abrückten. Die deutsche Bundesregie‐ rung musste nicht eingreifen und die Deutsche Bank existierte weiterhin. Kapitel 9 Übung 9.1: a. ■ Marktversagen bei öffentlichen Gütern (Nichtrivalität und Nichtausschluss als Voraussetzung der Nutzung) ■ Marktversagen bei Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellabsprachen) ■ Marktversagen bei externen Effekten (Umweltverschmutzung) ■ Marktversagen bei asymmetrischer Information (Gebrauchtwagenkauf) b. Hier liegt aufgrund von technologischen Effekten ein negativer externer Effekt vor, d.h., es existiert ein direkter physischer Zusammenhang zwischen der individuellen Produktionsfunktion eines Unternehmens (hier der Fabrik) und der Produktionsfunk‐ tion anderer Marktakteure (hier des Fischers), ohne dass dieser über den Preismecha‐ A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 358 <?page no="359"?> nismus erfasst wird. Private Grenzkosten und soziale (gesellschaftliche) Grenzkosten fallen somit auseinander. Die Fabrik produziert „gesamtgesellschaftlich“ zu viel und zu günstig, während der Fischer zu wenig und zu teuer produziert, da er die Folgen der Schadstoffemission schultern muss. c. Es ist in der von uns gelernten und praktizierten Art, volkswirtschaftlich zu denken (z.B. in Abgrenzung zu Georgescu-Roegen, der ein anderes Optinmierungsproblem unterstellt) grundsätzlich nicht sinnvoll, den gesamten negativen externen Effekt zu internalisieren, da die Kosten und Nutzen aus einer Internalisierung miteinander verglichen werden sollten. Eine optimale Schadenshöhe liegt genau dort, wo sich Grenzkosten der Schadensvermeidung und Grenzschaden entsprechen. Jede über das Optimum hinaus zusätzlich vermiedene Schadenseinheit würde dann mehr Vermei‐ dungskosten verursachen (höhere Grenzkosten der Schadensvermeidung), als daraus aus geringem Schaden (Grenzschaden) Nutzen gezogen werden kann. d. Durch rein private Verhandlungen können sich die Fabrik als Schädiger und der Fischer als Geschädigter bei vollständiger Haftung des Schädigers besser stellen. Die Fabrik hat hier also durchaus einen Anreiz, dem Fischer das Recht auf Verschmutzung des Flusses abzukaufen. Die Fabrik hat so lange einen Anreiz, Rechte vom Fischer auf Schädigung zu erwerben, bis sich die Grenzkosten der Schadensvermeidung und der Grenzschaden entsprechen. Danach würden die Einsparungen aus den Vermeidungs‐ kosten nicht mehr ausreichen, um den Fischer für den Schaden zu kompensieren. Die Fabrik wird dem Fischer einen Transferbetrag in Höhe von ABC0 bezahlen, Vermeidungskosten von DBC0 (Fläche unter Grenzvermeidungskosten von 0 bis C) und somit einen Nettogewinn von ADB erzielen. Der Fischer wird dagegen Einnahmen aus den Transferzahlungen in Höhe von ABC0 erhalten, durch die Schädigungsmenge aber einen Schaden von 0BC (Fläche unter Grenzschadenskurve von 0 bis C) hinnehmen müssen und daher Nettoeinnahmen in Höhe von AB0 erzielen. Abb. 10.3: Grenzkosten/ Grenzschaden-Diagramm (im Anhang) Abb. 9.3: Grenzkosten-/ Grenzschaden-Diagramm (eigene Darstellung) A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 359 <?page no="360"?> Übung 9.2: a. Die Tragödie der Allmende beschreibt das Problem begrenzter Ressourcen, die frei verfügbar sind. Die Allmende war im Mittelalter Gemeineigentum eines Dorfes und durfte von allen frei benutzt werden. Dies führte praktisch oft zu einer Übernutzung. Die Tragik besteht im Umgang des Menschen mit öffentlichen Gütern. Ohne Abspra‐ chen oder „höhere Instanz“ wird ein rationaler Entscheider sich so viel wie möglich von diesem Gut beschaffen, da entweder die Möglichkeit zum Weiterverkauf oder eine direkte eigene Nutzenerhöhung mit der Verwendung des Gutes einhergeht. Da sich erwartungsgemäß alle Individuen so verhalten, kann dies zu nachhaltigen Schäden an der Ressource führen. Die Payoffs für die Tragödie der Allmende lauten nun: Person B Kooperieren Nichtkooperieren Person A Kooperieren 10/ 10 2/ 12 Nichtkooperieren 12/ 2 3/ 3 A und B werden sich beide für Nichtkooperieren entscheiden. Wenn A z.B. annimmt, dass B kooperiere, ist der Nutzenwert von A höher, wenn A nicht kooperiert (12 vs. 2); wenn A annimmt, dass B nicht kooperiert, ist der Nutzenwert von A ebenfalls höher, wenn A nicht kooperiert (3 vs. 2). Die gleiche Argumentation gilt spiegelbildlich für B. Es entsteht somit das stabile Gleichgewicht „Nichtkooperieren, Nichtkooperieren“. Individuell rationales Verhalten führt somit zu einer global suboptimalen Entscheidung (Gesamtsumme der Nutzenwerte = 6). b. Die Gemeinden könnten nichtkooperierende Mitglieder von der Nutzung der Allmende ausschließen. Nichtkooperieren entspräche dann z.B. dem Nutzenwert null. Übung 9.3: Die Gemeinschaft aller 195 unabhängigen Staaten hat in Paris Ende 2015 den Weltklimavertrag geschlossen, der dafür sorgen soll, dass die Menschheit die von Wissenschaftlern diagnostizierte Erderwärmung begrenzt. Die einzelnen Punkte betreffen insbesondere die (geplante) Begrenzung der Erderwärmung auf 2 Grad, (fast) „Schluss“ mit Treibhausgasen, Verschärfung der Abgasziele, Abfederung der allgemeinen Risiken bei der Erderwärmung, Abfederung von Schäden und Verlusten ärmerer Länder, Verteilung der Verantwortung und die Auskunftspflicht der Länder. Detaillierte Informationen zu „Paris 2015“ findet man in den Publikationen des Bun‐ desministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Übung 9.4: Der Klimavertrag von Paris beruht auf Selbstverpflichtungen der Länder; es sind keine Sanktionen vorgesehen. Dies führt zu einer Situation, die sich mit dem Gefangenendilemma vergleichen lässt: Wenn kein anderes Land einen Beitrag zu einem stabilen Klima leistet, ist es individuell/ für ein Land nicht sinnvoll, etwas beizutragen; denn die Kosten sind auf der individuellen Ebene zu tragen, während der zukünftige erwartete Nutzen des individuellen Beitrags gleichzeitig für alle Spieler A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 360 <?page no="361"?> verfügbar wäre. Wenn aber alle (anderen) Länder einen Beitrag zum Klimaschutz leisten, ist es individuell ebenfalls nicht rational, selbst einen Beitrag zu leisten. Ein einzelner Spieler/ ein einzelnes Land kann, auch ohne einen Beitrag zu leisten, das „Weltklima“ konsumieren (Stichwort Trittbrettfahrer- oder Free-Rider-Verhalten). Da diese Überlegungen von allen Spielern/ Ländern simultan angestellt werden (können), liegt hier eine Situation vor, in der kein Spieler/ Land einen Anreiz hat, sein Verhalten zu verändern, solange die anderen Spieler/ Länder ihr Verhalten nicht ändern. Die Folge davon ist ein klassisches Marktversagen: Alle Spieler/ Länder wissen, dass es individuell immer sinnvoll ist, keinen Beitrag für die Nutzung des Guts zu zahlen, und deshalb wird niemand bereit sein, das Gut anzubieten. Praktisch kann dieses Dilemma dadurch aufgebrochen werden, dass große Staaten wie die USA und/ oder China und/ oder der Staatenbund EU voranschreiten und damit Druck auf die verbleibenden Staaten ausüben. Kapitel 10 Übung 10.1: Eine Wissensgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der durch kognitive und emotionale Verarbeitung von Informationen erworbenes Wissen als grundlegendes Kapital gilt, das gesellschaftliche Entwicklungsprozesse wesentlich prägt. Politisch und gesellschaftlich sensibel ist die Art des Zugangs zu Wissen. Unsere deutsche Gesellschaft hängt von einer breit ausgebildeten und gebildeten Bevölkerung oder Mittelschicht ab. Sie baut somit auf Bildung auf, zu der alle Schichten gleichermaßen Zugang haben sollten. Übung 10.2: Zum Beispiel „Von der Kiste zum Kult - 30 Jahre Macintosh“. Stöbern Sie mal bei Youtube und auf den Webseiten der betreffenden Firmen. „Objektivere“ Informationen finden Sie, wenn Sie die akademische Suchmaschine von Google scholar.google.com verwenden. Übung 10.3: Der Fokus liegt hier eindeutig auf Organizational Innovation. Stichwort Foxconn. Übung 10.4: a. Es gibt zunächst keine einheitliche Definition der Begriffe Digitalisierung bzw. der Digitalen Transformation. Der Begriff der Digitalisierung hat zudem mehrere Bedeutungen. Zumeist meint Digitalisierung das Umwandeln von analogen Informa‐ tionen in digitale Formate. Eine weitere Bedeutung von Digitalisierung ist die digitale Revolution, die auch als digitaler Wandel oder digitale Transformation bezeichnet wird. Der digitale Wandel beschreibt die durch die Digitalisierung ausgelösten Verän‐ derungsprozesse in der Gesellschaft inklusive Wirtschaft, Kultur, Bildung und Politik. Digitale Transformation beschreibt im grundlegenden Sinne einen Übergang weg vom hergebrachten physischen Umgang mit den Dingen hin zur immer umfassender werdenden virtuellen Steuerung von Prozessen in einer IT, die alles mit allem vernetzt. Während der letzten ca. 20 Jahre ist ein Großteil des gesamten Wissens der Menschheit digitalisiert worden und kann dank der weltweiten Vernetzung praktisch ortsunabhän‐ A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 361 <?page no="362"?> gig abgerufen werden. Zudem ist heute nicht nur in Deutschland im Geschäftsleben nahezu jeder Schritt digital dokumentiert. Aus diesen elektronisch vorliegenden Daten lassen sich - Stichwort Big Data Analysis - ausgewählte Informationen nun (intelligent) verknüpfen. Aus diesen Analysen können Erkenntnisse abgeleitet werden, die einen zielgerichteten Ressourceneinsatz ermöglichen oder Potenziale für neue Geschäftsmodelle aufzeigen. Diese Vorteile sind naturgemäß auch für die Optimierung der Zusammenarbeit zwischen Kanzlei und Mandant und damit in der Steuerberatung nutzbar. Steuerberatungskanzleien können sich somit perspektivisch weitgehend von rein verwaltenden Tätigkeiten entlasten und auf eine breitere mandantenbezogene Datenbasis zugreifen. Diese Informationen versetzen die (Steuer-)Berater dann in die Lage, die Unternehmen viel aktiver bei der Steuerung des Betriebs zu unterstützen. (M.a.W.: Hin zur Beratungstätigkeit). Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden Tätigkeiten rund um die Buchführung stark an Bedeutung verlieren; der Tätigkeitsschwerpunkt der Kanzleien wird sich somit mehr in Richtung Auswertung und Interpretation buchhalterischer Informationen verlagern. Damit verbunden sind Herausforderungen/ neue Anforderungen bei der Einstellung von Neupersonal und der Qualifizierung des vorhandenen Mitarbeiterbestandes. b. Wirtschaftsprüfer führen betriebswirtschaftliche Prüfungen von Unternehmen durch und beraten ihre Mandanten in betriebswirtschaftlichen und steuerlichen Fra‐ gen. Zudem üben sie Sachverständigensowie Treuhandtätigkeiten aus. Obwohl Wirt‐ schaftsprüfer keine juristische Beratung durchführen dürfen, gehört die qualifizierte Analyse von Gesetztestexten/ Verordnungen/ Grundsatzurteilen zu den notwendigen Voraussetzungen erfolgreicher Berufsausübung. Künstliche Intelligenz/ Digitalisierung erlaubt neue Ansätze bei der Fraud-Detection und damit der (Verweigerung der) Testierung von Jahresabschlüssen, Bilanzen, GuVs; die elektronische Analyse von Verträgen (gute Software erkennt und interpretiert derzeit ca. 80% von komplizierten juristischen Texten selbst) u.v.m. verändern somit die Berufstätigkeit des Wirtschaftsprüfers. Mögliche Einzelargumentationen wären z.B. ■ Wirtschaftsprüfungsgesellschaften erweitern ihr Dienstleistungsportfolio, um einen ganzheitlichen Beratungsansatz bieten zu können. Dazu gehören notwen‐ digerweise IT-Kompetenzen der Prüfer. ■ Der Einsatz spezieller Prüfsoftware ist nur ein Schritt der Digitalisierung der Abschlussprüfungen; die gesamte Prüfungsmethodik wird sich mittelfristig vermutlich ändern; Stichworte Continuous Auditing und Remote Audit. ■ Der Einsatz von Big Data-Analysen und Künstlicher Intelligenz wird die Steuer- und Rechtsberatung verändern. ■ Remote Audit: Prüfungen können von jedem Ort der Welt gemacht werden; vorausgesetzt, es gibt eine stabile und sichere Internetverbindung. ■ Routinetätigkeiten wie Massendatenanalyse werden von Computern übernom‐ men und nicht mehr von Prüfungsassistenten. A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 362 <?page no="363"?> ■ Prüfungsgebiete mit hohem Ermessensspielraum wie zum Beispiel Risikobeur‐ teilung oder Bewertungsfragen werden (zunächst) Kernkompetenz des Wirt‐ schaftsprüfers bleiben; die menschliche Komponente bleibt (zunächst) vor allem bei Regulierungs- und Compliance-Themen wichtig; was standardisierbar ist, wird standardisiert (zumeist ohne Menschen). ■ … Kapitel 11 Übung 11.1: Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Arten, Armut zu definieren. Die erste ist die „absolute Armut“, die durch das Unterschreiten eines bestimmten täglichen Einkommens (üblicherweise in US-Dollar bzw. US-Dollar kaufkraftangepasst konvertiert) definiert wird. Der zweite Ansatz ist der der „relativen Armut“, die dadurch bestimmt wird, ob man einen bestimmten Prozentsatz des Durchschnittseinkommens in einer bestimmten Region bzw. einem bestimmten Land unterschreitet. In China wird zumeist auf die absolute Armutsdefinition abgestellt, in den USA auf die relative. China hatte in den beiden Jahrzehnten vor der Corona-Krise ein Interesse daran, auch teilweise als Entwicklungsland anerkannt zu werden. Ob dies weiter so gesehen wird, ist zum Zeitpunkt des Druckes dieses Buches eine offene Frage. Übung 11.2: Gewaltenteilende Institutionen, die eine lebhafte Beteiligung der Bevölke‐ rung erlauben, nennen Acemoglu und Robinson inklusiv, solche, die Ordnungsverfah‐ ren durch kleine Minderheiten oder durch das Militär bevorzugen, heißen extraktiv. Inklusive Institutionen ermöglichen Fortschritt und Demokratie, schützen die Fähigkeiten und Ideen der Menschen, sichern Bürgerrechte und wirtschaftlichen Wettbewerb. Extraktive Institutionen schützen lediglich die Macht und die Interessen einer autoritären Elite, schließen aber jeglichen Besitz, Mitbestimmung und Freiheits‐ bestrebung der breiten Bevölkerung aus. Übung 11.3: Eine PESTEL-Analyse beginnt üblicherweise mit der Identifikation der Analyse-Grundlagen, d.h. der Grund der Analyse, das Einsatzgebiet sowie die Ziele der Analyse werden festgelegt. Es folgt zumeist ein „Brainstorming“ über die wichtigsten Einflussfaktoren des Unternehmens, anschließend werden vergangene, aktuelle und zukünftige Einflussfaktoren identifiziert. Daran schließt sich die Übertragung in das Analyse-Tool und die Identifizierung der wichtigsten Einflussfaktoren an: Die identi‐ fizierten Einflussfaktoren müssen den sechs Umweltfaktoren zugeordnet werden. Zum Schluss erfolgen eine Auflistung der wichtigsten Einflussfaktoren und die Ableitung von Konsequenzen für das Unternehmen. Übung 11.4: Eine PESTEL-Analyse ist natürlich nur ein erster Schritt für eine Investi‐ tionsentscheidung. Ihr grundlegend positives Ergebnis stellt allerdings zumeist eine notwendige Voraussetzung für weitere Betrachtungen innerhalb der Unternehmens‐ strategie dar. Öffentlich zugänglich sind z.B. die Daten von WTO, OECD, UN, der Weltbank oder des IMF, von nationalen Statistikämtern bzw. -behörden sowie von Statista. Ein guter A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 363 <?page no="364"?> kommerzieller Informationsanbieter ist BERI.com (für Business Environmental Risk Intelligence Service S.A.). Gute Quellen sind oft zudem die Außenhandelskammern, die Research-Abteilungen internationaler Großbanken oder von Multinational Corporations. PESTEL-Indikatoren für Indien Political Stability Indien ist bereits seit Jahrzehnten (nach den Turbulenzen der Unabhängigkeit) ein grundsätzlich politisch stabiles Land. Regierungen kommen nach freien Wahlen an die Macht bzw. werden durch diese wieder abgewählt. Economic Conditions Die indische Volkswirtschaft wächst ebenfalls seit Jahrzehnten relativ stetig. Die Bevölke‐ rung Indiens wächst, allerdings mit abnehmenden Wachstumsraten. Der Gini-Index ist im Vergleich zu den europäischen Ländern relativ hoch, im weltweiten Vergleich allerdings noch moderat. Die Größe der Mittelklasse ist schwer zu quantifizieren, Mc Kinsey schätzte im Jahre 2007 ca. 5 Prozent der indischen Bevölkerung als dazu gehörig, was absolut mit etwa 62 Millionen Menschen bzw. potenziellen Kunden (neben der Regierung und Unternehmen) korrespondierte. Das National Council for Applied Economic Research schätzte für 2017, allerdings auf Basis eines geringeren Einkommens als Vorraussetzung zur Zugehörigkeit zur Mittelschicht als McKinsey, dass diese im Jahr 2017 ca. 270 Millionen Menschen und damit ca. ein Fünftel der Bevölkerung Indiens betragen würde. In Indien werden (nicht nur bei Tata) bereits Autos produziert. Es existieren entsprechende Wertschöpfungsketten. Theoretisch ist es für ausländische Investoren möglich, die Mehrheit der Stimmrechte an einem passenden Unternehmen zu halten, allerdings ist es für Joint Ventures mit lokalen Partnern einfacher, akzeptiert zu werden und am Markt zu operieren. Social Environment Das soziale Umfeld ist in Indien für Westeuropäer zumeist schwierig zu ertragen (vgl. den niedrigen HDI), allerdings sind die derzeitigen regionalen Cluster der Au‐ tomobiltechnik in Indien durch Bedingungen charakterisiert, die deutlich über dem Landesdurchschnitt liegen. Technology Technologie ist verfügbar, in Indien gibt es in einer großen Bandbreite ferner eine vorzeigbare Anzahl von hervorragenden Universitäten, die qualifizierte Absolventen graduieren. Ethics Ethische Beschränkungen von Investitionen in die Automobilindustrie in Indien sind grundsätzlich nicht existent. A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 364 <?page no="365"?> Legal Indien ist bekannt für eine geringe Rechtssicherheit und eine schwerfällige und korrupte Bürokratie. In Tabelle 15.1 sind die PESTEL-Indikatoren für Indien zusammenfassend dargestellt. PES‐ TEL-Krite‐ rium Politische Stabilität Marktgröße und erwartetes Wachstum Infrastruktur, Partner, Liefe‐ ranten, Zugang zu Technologie Bürokratie, ethi‐ sche Aspekte Regulierung P E S T E L Hauptin‐ dikator Demokratie seit 1947, friedliche demokrati‐ sche Macht‐ wechsel 1,38 Mrd. Ein‐ wohner, stabi‐ les GDP-Wachs‐ tum, attraktive wachsende po‐ tenzielle Kund‐ schaft Mittel‐ klasse und Staat entwickelte Au‐ toindustrie mit ausländi‐ schen Herstel‐ lern, z.B. Ma‐ ruti/ Suzuki Korruptionsin‐ dex sehr hoch, Verbesserungen für FDIs seit Pre‐ mierminister Modi insgesamt kri‐ tisch, aber Ver‐ besserungen seit Premier‐ minister Modi Bewer‐ tung sehr positiv sehr positiv sehr positiv neutral neutral Tab. 15.1: PESTEL-Analyse für Indien Das Gesamtresultat lautet „positiv“. Kapitel 12 Übung 12.1: Sanktionen im internationalen Sinne sind Zwangsmaßnahmen mehrerer Staaten gegen einen anderen Staat, wenn dieser völkerrechtliche Pflichten verletzt hat oder übernommene Verpflichtungen nicht erfüllt. Historisch waren eine nur begrenzte Wirkung offizieller Sanktionen bei der Durchsetzung politischer Ziele und eine weit stärkere Wirksamkeit privatwirtschaftlicher Entscheidungen zu beobachten. Letztere existiert zum Teil (bei vom Tourismus abhängigen Ländern), ist bei Technologie aufgrund der möglichen Profite für „Unterwanderer“ allerdings nie vollständig durch‐ setzbar. Grundsätzlich sind Sanktionen ceteris paribus umso wirkungsvoller, je kleiner und wirtschaftlich schwächer die zu sanktionierende staatliche Einheit ist. Wenn es tatsächlich zu einem Richtungswechsel bzw. Zusammenbruch von sanktio‐ nierten Regimen kam, war die Rolle der Sanktionen dabei zumindest fragwürdig bzw. nicht seriös quantifizierbar. Dies ist historisch sowohl am Beispiel der Sowjetunion und seit Jahren bzw. Jahrzehnten am Beispiel von Kuba, Iran, Russland und auch Nordkorea zu konstatieren. Sanktionen sind somit zu einem bedeutenden Teil ein Signal an die Heimatpopulation, Entwicklungen im Ausland nicht tatenlos zuzusehen. A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 365 <?page no="366"?> Übung 12.2: Die deutsche BASF bzw. ihre Tochtergesellschaft Wintershall (seit 2019 Wintershall-DEA mit der BASF als Eigentümer von 67% der Stimmrechte) und die rus‐ sische Gazprom arbeiten seit 1990 eng zusammen. Die BASF hat wiederholt betont, dass diese Zusammenarbeit einen wichtigen Baustein zur Sicherung der Energieversorgung Deutschlands darstellt. Durch den Ausbau der North-Stream-Pipeline soll vermehrt russisches Gas nach Deutschland transportiert werden. Der BASF-Tochter Wintershall hatten sich trotz Ukraine-Krise und Ablehnung durch die US-Regierung auch E.ON, Shell und die österreichische OMV angeschlossen. Im Jahr 2020 verschärfte die US-Regierung unter Präsident Trump die Sanktionenen gegen an North-Stream II beteiligte Unternehmen, was zu beträchtlichen Verzögerungen beim Bau der Pipeline führte. Ob die Regierung von Joe Biden wie ihre Vorgängerin versuchen wird, mit praktisch allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen North Stream II vorzugehen und falls ja, ob Deutschland (wie Ende 2020 durch die Gründung einer Stiftung in Mecklenburg-Vor‐ pommern signalisiert), dann weiter an der Fertigstellung der Pipeline festhält, muss bei Drucklegung dieses Buches unbeantwortet bleiben. Übung 12.3: Präsident Putin hat den Staatsapparat Russlands personell massiv ausge‐ baut. Damit verfügt die russische Regierung fraglos über zahlreiche ihr gegenüber loyale Personen. Übung 12.4: Die Zerschlagung des Yukos-Konzerns in den Jahren 2003 bis 2006 stellte mit rechtlich fragwürdigen Mitteln (vgl. die von Russland nicht anerkannte Schiedsgerichtsentscheidung zu Schadenersatzforderungen) in Russland grundsätzlich das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft/ den Oligarchen wieder her (vgl. FAZ, 2004, 17. Dezember; Steiner, 2013, 21. Dezember). Kapitel 13 Übung 13.1: China selbst veröffentlicht keine Daten zum Gini-Index. Große Differenzen zwischen den Provinzen treiben den Gini-Index nach oben, sagen aber nichts über die sehr unterschiedlichen Lebenshaltungskosten aus. Insgesamt suggeriert der hohe statistische Gini-Index bei den regionalen Ungleichheiten damit eine noch höhere Ungleichheit als tatsächlich vorhanden (zu methodischen Problemen s. Infinitesimalia, 2011). Übung 13.2: Es gibt zwei wichtige Programme, um Chinas Universitäten an die Weltspitze zu führen: Projekt 211 und Projekt 985 (vgl. China Education Center). In den letzten ca. 20 Jahren fand eine vorsichtige Verschiebung von Naturwissen‐ schaften und Technik hin zu den Geistes- und Sozialwissenschaften statt. Premiermi‐ nister Li Keqiang studierte Jura und promovierte in Wirtschaft, Staats- und KP-Chef Xi Jinping ist Chemieingenieur und promovierter Jurist. A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 366 <?page no="367"?> Übung 13.3: Guanxi: ein Begriff, der „Beziehungen“ bzw. Beziehungsaustausch von bilateral bis Networking und damit verbundene Rechte und Pflichten beschreibt (World Learner Chinese, o.J.; Koll, 2003, 16. Dezember; Guldner, 2015, 5. Februar). Übung 13.4: Ebay offerierte quasi unverändert sein amerikanisches Erfolgsmodell, ohne auf kulturelle Eigenheiten Chinas zu reagieren. Fokus auf die Implementierung von Kommunikations-Tools durch Taobao, um Vertrauen vonseiten des Käufers zu schaffen. Vgl. Ausführungen im Originalartikel aus Stanford. Kapitel 14 Übung 14.1: Hauptgründe, Handelsabkommen zu schließen, sind neben politischen (Macht-) Komponenten die Generierung von Wachstum, die Schaffung von Arbeits‐ plätzen, die Steigerung des Wohlstands, Gewinnung von Marktzugängen, Steigerung der Attraktivität für Investitionen, erhöhte Mobilität von Arbeitnehmern sowie die Teilhabe an Vorreiterrollen für die Setzung globaler (Industrie-) Standards. Übung 14.2: Autohersteller und Zulieferer im Großraum Stuttgart oder Detroit, Fi‐ nanzholdings Luxemburg, Wirtschaftskanzleien London, New York und Frankfurt, Headquarter-Services Amsterdam u.v.m. Übung 14.3: Die Direktinvestitionen Deutschlands in die USA sind von 12,207 Mrd. US-Dollar im Jahr 2015 auf nur noch 3,711 Mrd. US-Dollar im Jahr 2018 (danach konnte ich keine belastbaren Zahlen recherchieren) gefallen; ein vergleichbarer Rückgang fand - auf niedrigerem Niveau allerdings von 7,152 Mrd. US-Dollar im Jahr 2015 auf 1,060 Mrd. US-Dollar im Jahr 2018 auch in China statt (Quelle Statista). Eine in Tiefe und Breite gute Darstellung finden Sie im Dokument der Deutschen Bundesbank, das die Situation Ende 2018 beschreibt und analysiert: https: / / www.bundesbank.de/ resource/ blob/ 615622/ 56401d93ff427621d02b8dfeed08 5700/ mL/ direktinvestition-zahlungsbilanzstatistik-data.pdf Übung 14.4: Junge Leute, die ein Studium aufnehmen wollen und nicht über finanzielle Ressourcen ihrer Familie bzw. über Stipendien verfügen, müssen sich in steigendem Maße verschulden, wobei die Rückzahlung der Studiengebühren aufgrund von Unsi‐ cherheiten bezüglich zukünftiger Arbeitseinkünfte mit hohen Risiken behaftet ist. Vgl. https: / / www.statista.com/ statistics/ 238109/ tuition-and-fees-in-the-us/ Die gesellschaftlich dramatischste Konsequenz ist das „Stottern“ bzw. Nichtmehr‐ funktionieren des sozialen Fahrstuhls. Kapitel 15 Übung 15.1: Unter Handelsbeschränkungen werden hier protektionistische Maßnah‐ men der EU zum Schutz der heimischen Wirtschaften gegenüber ausländischer Konkurrenz verstanden. Freihandel und Wohlfahrt im Agrarbereich werden sehr kontrovers diskutiert. Verteidiger des Status quo verweisen zumeist darauf, dass nur wenige Konzerne bzw. Großgrundbesitzer von landwirtschaftlichen Exporten aus A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 367 <?page no="368"?> Entwicklungsländern profitieren würden. Tatsächlich ist in Subsahara-Afrika wie anderswo schlecht oder gering bezahlte Arbeit fast immer noch besser als keine Arbeit: Es handelt sich bei landwirtschaftlichen Produkten zumeist um diejenigen wenigen Güter, wo niedrigst entwickelte Länder über komparative Kostenvorteile gegenüber den EU-Ländern verfügen. Die Handelsbeschränkungen der EU entsprechen somit einem Teilausschluss der ärmsten Länder vom Welthandel und korrespondieren damit mit der weitgehenden Verhinderung von Entwicklungsmöglichkeiten dieser ärmsten Länder mit der Folge, dass Kapital und Menschen diese Länder verlassen. „Korrespondieren“ bedeutet hier nicht „kausal“. Eine verlässliche Informationsquelle stellt der Internetauftritt des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, www.bmel.de, dar. Übung 15.2: Angola ist seit Jahrzehnten stark vom Ölexport abhängig. Mit einer Förderung von ca. 1,6 Millionen Barrel pro Tag war Angola im Jahr 2018 der zweit‐ größte Ölförderer Afrikas. Spiegelbildlich fließen die meisten Direktinvestitionen in den angolanischen Ölsektor. Der Höhepunkt ausländischer Direktinvestitionen fand im Jahr 1999 statt, als die Direktinvestitionen etwa 40% des angolanischen BIPs betrugen. Seit 2005 befinden sich die ausländischen Direktinvestitionen im einstelligen Prozentbereich des BIPs Angolas, in den Jahren 2017-2019 war sogar ein Kapitalabfluss zu verzeichnen. In Angola gab es durch die sinkenden Ölpreise seit 2014 naturgemäß einen starken Einbruch der staatlichen Einnahmen. Im Jahr 2018 machte der Ölsektor dieser 90 Pro‐ zent der Exporte, 50 Prozent der Steuereinnahmen und 45 Prozent des BIP aus (Tendenz jeweils sinkend). Angola bleibt für Deutschland nichtsdestotrotz ein wichtiger Handelspartner in Subsahara-Afrika. Durch die Nachbarschaft zur ehemaligen deutschen Kolonie Nami‐ bia genießen Qualitätsprodukte und Dienstleistungen aus Deutschland eine hohe Popularität (vgl. u.a. Germany Trade & Invest; TheGlobalEconomy.com, Trading Economics). Übung 15.3: Sonderwirtschaftszonen in Afrika Äthiopien wird in der deutschen Presse gern als der neue Wachstumsstar Afrikas bezeichnet. Tatsächlich ist hier bei einem aktuellen BIP pro Kopf in Höhe von ca. 50 US-Dollar pro Monat noch viel Luft nach oben (vgl. https: / / tradingeconomics.co m/ ethiopia/ gdp-per-capita). Äthiopien ist ressourcenarm, der Zugang zu Rohstoffen spielt für chinesische Unternehmen bzw. den chinesischen Staat aktuell keine bekannte Rolle. Äthiopien und sein kleiner Nachbar Djibouti zählen auch aus geopolitischen und militärstrategischen Erwägungen zu den wichtigsten Staaten der BRI (vgl. Kapitel 13 und den nachfolgenden Exkurs). Die niedrigen Löhne und die relative politische Stabilität haben viele chinesische Unternehmen bewogen, arbeitsintensive Produk‐ tion nach Äthiopien auszulagern. Diese Economies of Agglomeration befinden sich wiederum zumeist in Sonderwirtschaftszonen im Großraum Addis Abeba, zu denen Äthiopier (auch Regierungsvertreter) nur sehr eingeschränkten Zugang haben. Zu A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 368 <?page no="369"?> Fallbeispielen vgl. z.B. Henn: Die Illusion der Souveränität. Sonderwirtschaftszonen und Sondersteuern in Afrika. Übung 15.4: Äthiopien zählt mit 600 US-Dollar pro Kopf und Jahr zu den ärmsten Ländern der Welt. Allgemeine Informationen finden Sie z.B. auf der Webseite des Auswärtigen Amtes und bei Tradingeconomics.com. Ein Großteil der Äthiopier lebt nach unserer Definition unterhalb der absoluten Armutsgrenze, allerdings besser als noch vor 5, 10 oder 20 Jahren. So hat es in den vergangenen zwei Jahrzehnten keine Hungersnot, die den vorhergegangenen Katastrophen der 1970er und 1980er Jahre vergleichbar ist, gegeben. Strukturelle Probleme wie Umgang mit Dürreperioden, rasches Bevölkerungswachstum und die sich daraus ergebenen Folgen für die Umwelt und für die Ressourcen sind nach wie vor ungelöst. Auswanderung erfolgt primär in die USA, die Golfstaaten und Deutschland. Äthio‐ pien empfängt allerdings viele Flüchtlinge aus den zerrütteten Nachbarstaaten Somalia, Südsudan und Eritrea. A. Lösungshinweise zu den Aufgaben zur Selbstüberprüfung 369 <?page no="371"?> B. Abkürzungsverzeichnis ADB Asian Development Bank AIIB Asian Infrastructure Investment Bank BBC British Broadcasting Corporation BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. BIP Bruttoinlandsprodukt BIZ Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BMEL Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft BMWI Bundesministerium für Wirtschaft und Energie BMZ Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick‐ lung BWL Betriebswirtschaftslehre CDU Christlich-Demokratische Union c.p. ceteris paribus CSU Christlich-Soziale Union DAAD Deutscher Akademischer Austauschdienst DGB Deutscher Gewerkschaftsbund DSGVO Datenschutz-Grundverordnung EU Europäische Union EWR Europäischer Währungsraum EWU Europäische Währungsunion EZB Europäische Zentralbank FAO Food and Agriculture Organization of the United Nations FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung Fed Federal Reserve FIFA Fédération Internationale de Football Association GDP Gross Domestic Product GNP Gross National Product GPS Global Positioning System GuV Gewinn- und Verlustrechnung <?page no="372"?> HDI Human Development Index HGB Handelsgesetzbuch IFRS International Financial Reporting Standards IMF International Monetary Fond IT Informationstechnologie KP Kommunistische Partei NASA National Aeronautics and Space Administration NATO North Atlantic Treaty Organization NETZDG Netzdurchdringungsgesetz NSA National Security Agency RAF Rote-Armee-Fraktion RCEP Regional Comprehensive Economic Partnership RMB Renminbi TEU Treaty on European Union TPP Trans-Pacific Partnership TTIP Transatlantic Trade and Investment Partnership UNDP United Nations Development Programme VW Volkswagen VWL Volkswirtschaftslehre WB World Bank B. Abkürzungsverzeichnis 372 <?page no="373"?> C. Glossar Akronym Kunstwort, das aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter bzw. Begriffe gebildet wird. Arbitrage Erzielung risikofreier Profite durch das Ausnutzen von Preisunter‐ schieden gleichartiger Assets. Assets (Spezifisches) Anlagevermögen. Assetklassen Bezeichnung für verschiedene Gruppen von Anlageoptionen, die Investoren zur Verfügung stehen. Big Five Bezeichnung für Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft. Blockchain Kontinuierlich erweiterbare Liste von Datensätzen, die mittels kryp‐ tografischer Verfahren miteinander verkettet sind. Blue Collar Von „blauer Anzug“: englische Bezeichnung für Industriearbeiter und Handwerker, die von „White Collar“, d.h. Büro-, Handels- und Dienstleistungsberufen unterschieden werden. Bond Englisch für Anleihe. Bretton Woods-Sys‐ tem System fester Wechselkurse, das 1944 im Ort Bretton Woods aus der Taufe gehoben wurde und das bis Anfang der 1970er Jahre das Währungssystem des erweiterten Westens war. Daoismus Der Daoismus, die „Lehre vom Weg“, ist eine altchinesische Philoso‐ phie und Religion, in deren Zentrum die Lehre vom Dao steht. Der Daoismus ist nicht gleichzusetzen mit der Philosophie des Lao-Tse, die nur einen Bestandteil des Daoismus darstellt. Demografie Die Wissenschaft, die sich theoretisch und statistisch mit der Entwick‐ lung von Bevölkerungen beschäftigt. Deutscher Corporate Governance Kodex Der Deutsche Corporate Governance Kodex stellt wesentliche gesetz‐ liche Vorschriften zur Leitung und Überwachung deutscher börsen‐ notierter Gesellschaften dar und enthält in Form von Empfehlungen und Anregungen international und national anerkannte Standards „guter“ und verantwortungsvoller Unternehmensführung. Diaspora Auslandsbzw. Exilgemeinde, d.h. ethnisch und/ oder religiös homo‐ gene Gruppe, die zusammen im Ausland lebt. Economies of Scale Abhängigkeit der Produktionsmenge von der Menge der eingesetzten Produktionsfaktoren. Effektivität Ist ein Beurteilungskriterium, das eine Aussage darüber trifft, ob eine Maßnahme geeignet ist, um ein vorgegebenes Ziel zu erreichen. Da‐ bei wird grundsätzlich ausgeblendet, inwieweit die Maßnahmen zur Zielerreichung sinnvoll oder „angemessen“ sind. Effektivität referiert auf das Ergebnis im Verhältnis zum Ziel. Effizienz Ist ein Beurteilungskriterium, das eine Aussage darüber trifft, ob eine Maßnahme geeignet ist, ein vorgegebenes Ziel in einer bestimmten Art <?page no="374"?> und Weise zu erreichen. Effizienz referiert somit auf das Ergebnis im Verhältnis zum Aufwand. Emerging Markets Aufstrebende Märkte; oft synonym für „Developing Countries“ oder Entwicklungsländer verwendet. Ethik Lehre von den Normen menschlichen Handelns. Ethik befasst sich mit der Begründung der moralischen Regeln. Generationenvertrag Ist kein expliziter von mehreren „Parteien“ unterzeichneter Vertrag, sondern bezeichnet das implizite Einvernehmen, dass die Jüngeren heute Beiträge in die Rentenversicherung einzahlen, wovon die Ren‐ ten der Älteren ausbezahlt werden, verbunden mit der Erwartung der heute Jungen, dass diese, wenn sie alt sind, ebenfalls eine Rente von den zukünftig Jungen erwirtschaftet bekommen. Glasnost Politik einer größeren Transparenz und Offenheit der Staatsführung gegenüber der Bevölkerung, die Mitte der 1980er Jahre in der Sowjet‐ union eingeleitet wurde. Globalisierung Bezeichnung für den fortschreitenden Prozess weltweiter Arbeitstei‐ lung. Großer Sprung nach vorn Gescheiterte Industrialisierungsinitiative unter Mao Zedong von 1958 bis 1961, in deren Verlauf Millionen Menschen verhungerten. Guanxi Chinesisches Netzwerk persönlicher Beziehungen, das überlebens‐ notwendig ist (es gibt kein westliches Pendant). Guomindang Partei der Nationalisten, die den Bürgerkrieg gegen Mao Zedongs Kommunistische Partei verlor und nach Taiwan flüchtete, wo sie derzeit eine von zwei großen Parteien darstellt. Inklusive Institutio‐ nen Institutionen, die für Demokratie, Bürgerrechte und wirtschaftlichen Wettbewerb sorgen (abzugrenzen von „extraktiven“ Institutionen, die primär die Macht und die Interessen einer autoritären Elite auf Kosten der übrigen Gesellschaft sichern). Kausalität Die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung; betrifft die Abfolge aufeinander bezogener Ereignisse und Zustände. Konfuzianismus Untergegangene chinesische Religion; heute zumeist beschreibend für eine chinesische hierarchische Gesellschaft verwendet, die durch reziproke Verantwortlichkeiten charakterisiert ist. Kulturrevolution Eine 1966 bis 1969 und in Teilen bis 1976 von Vertretern der Führung der Kommunistischen Partei Chinas mit Mao Zedong an der Spitze eingeleitete Bewegung mit dem Ziel, überlieferte Denk- und Verhal‐ tensweisen und „das geistige Antlitz der gesamten Gesellschaft zu ändern“. Die Kulturrevolution richtete sich besonders gegen Partei‐ funktionäre, Wissenschaftler, Künstler und Lehrer, die zu Millionen amtsenthoben und gedemütigt wurden. (Einen Eindruck erhalten Sie in Teilen des Films „Der letzte Kaiser“ von Bernardo Bertolucci.) Kryptowährung Digitales Zahlungsmittel, das auf kryptografischen Verschlüsselungs‐ technologien beruht und ein dezentrales und sicheres Zahlungssys‐ tem ermöglichen soll. C. Glossar 374 <?page no="375"?> Leerverkäufe Verkauf von Waren oder Finanzinstrumenten, über die der Verkäufer zum Verkaufszeitpunkt nicht verfügt. Legalismus/ Legalis‐ ten Hauptströmung der klassischen chinesischen Philosophie bzw. deren Vertreter, die in Belohnung und Bestrafung die Schlüssel zur Wahrung der Macht sehen. Libertarismus Ist eine politische Philosophie, die an einer Idee der negativen Hand‐ lungsfreiheit (d.h. Freisein von äußeren und inneren Zwängen) als Leitnorm festhält und die für eine Beschränkung des Staates steht. Marktwirtschaft In einer Marktwirtschaft wird durch den Wettbewerb geregelt, „was“, „wie“, „für wen“ hergestellt wird. Die Marktwirtschaft reguliert sich idealiter selbst. Median Wert in der Mitte einer geordneten Stichprobe, wobei die Hälfte der Beobachtungen kleiner oder gleich und die andere Hälfte größer oder gleich dem Median ist. Narrativ Wörtlich „erzählend“; hier im Sinne von Miniaturtheorie, die, weil relativ einfach und verständlich, eingängig ist und den Leser oder Zuhörer eher erreicht. Nominalzinsen Zins zum Nennwert in Prozent der überlassenen bzw. aufgenomme‐ nen Summe. Occupy Wallstreet 2011 gegründete weltweite Protestbewegung insbesondere gegen die Macht der Finanzindustrie. Oligarch In der Neuzeit aus dem Russischen kommender Begriff für Wirt‐ schaftsbosse, die durch ihren Reichtum für die Volkswirtschaft eines Landes von großer Bedeutung sind und die auf politische Entschei‐ dungsprozesse Einfluss nehmen. Opiumkriege Die Opiumkriege waren zwei Kriege zwischen Großbritannien und dem Kaiserreich China (1839-1842 und 1856-1860). Darauf folgten die Ungleichen Verträge und eine Teilunterwerfung Chinas durch die Westmächte und Japan. Sie stellen den Beginn der „verlorenen 100 Jahre“ bis zur Ausrufung der VR China durch Mao Zedong im Jahre 1949 dar. Opportunitätskosten Entgangene(r) Erträge/ Nutzen im Vergleich zur besten, nicht reali‐ sierten Handlungsalternative. Oval Office Bezeichnung für das Büro des Präsidenten der USA. per capita Pro Kopf. Perestroika Prozess zum Umbau und zur Modernisierung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems der Sowjetunion, der ab 1986 eingeleitet wurde. Populismus Eine Politik, die (scheinbar) einfache Lösungen anbietet. Protektionismus Schutz inländischer Produzenten vor ausländischer Konkurrenz mit‐ hilfe von Verboten, mengenmäßigen Beschränkungen, Zöllen und nichttarifären Handelshemmnissen wie Standards, Schutzvorschrif‐ ten oder Genehmigungsverfahren. C. Glossar 375 <?page no="376"?> Prozentpunkt Bezeichnung des absoluten Unterschiedes von einem Prozent zwi‐ schen zwei relativen Angaben, die in Prozent vorliegen. Realzinsen Um die (erwartete) Inflationsrate bereinigter Nominalzins. Repogeschäft Ein Repogeschäft (von Repurchase Agreement) ist ein Wertpapierpen‐ sionsgeschäft, bei dem ein Kreditinstitut als Pensionsgeber auftritt. Die Bilanzierung der Vermögensgegenstände erfolgt weiterhin beim Pensionsgeber. Die Laufzeit von Repogeschäften kann sich über eine Nacht, 24 Stunden, wenige Tage bis hin zu mehreren Monaten erstre‐ cken. Bei Repogeschäften dient der Kaufpreis als Sicherheit für die übergebenen Wertpapiere. Schwarze Serie Kriminalfilme aus den USA der 1940er Jahre, die zumeist von Verbre‐ chen handeln und niederträchtige Charaktere porträtierten. Seidenstraße Netz von historischen Handelswegen, welches das heutige Xi‘an in China über ca. 6.400 km mit dem Mittelmeerraum verband und das von ca. 115 v.u.Z. bis ins 13. Jahrhunder u. Z. seine Hochphase besaß. Auf dieser „Straße“ wurde u.a. das Luxusgut Seide von Ost nach West transportiert. Skalierbarkeit Es geht dabei um die Frage, inwieweit man den Umsatz bzw. die Produktion steigern kann, ohne die Fixkosten erhöhen zu müssen. Soziale Marktwirt‐ schaft Marktwirtschaft, die den Katalog wirtschaftspolitischer Staatsaufga‐ ben unter Betonung sozialpolitischer Ziele formuliert und damit Ziele und Lösungsvorschläge des Liberalismus, der christlichen Soziallehre und des freiheitlichen Sozialismus miteinander zu verbinden versucht; m.a.W.: Die freie Preisfindung durch Angebot und Nachfrage ist weitgehend reguliert bzw. außer Kraft gesetzt. Spotmarkt (bzw. Kassamarkt) Handel von Assets, der in der Gegenwart stattfindet. Der Austausch der Güter (bzw. die Bezahlung) erfolgt unmittelbar nach Vertragsab‐ schluss. Sterbetafel Ein demografisches Modell, das die zusammenfassende Beurteilung der Sterblichkeitsverhältnisse einer Bevölkerung unabhängig von ihrer Größe und Altersstruktur ermöglicht. Die Sterbetafel zeigt nach Geschlecht getrennt, wie viele Personen eines Ausgangsbestands auf‐ grund von Sterbewahrscheinlichkeiten in den einzelnen Altersjahren überleben und sterben werden. Sunk Costs Sunk Costs sind Fixkosten, die in der Vergangenheit entstanden und die auch nicht teilweise wieder rückgängig gemacht werden können. Subprime-Krise Ab 2007 gab es auf dem US-Markt für Hypothekenkredite mit geringer Bonität (engl. subprime) einen drastischen Anstieg von Zahlungsaus‐ fällen. Da die Refinanzierung der US-Hypothekenkredite auf den internationalen Finanzmärkten in Form von Kreditverbriefungen stattfand, löste die US-Subprime-Krise ab Mitte 2007 eine weltweite Finanzkrise und Konjunkturkrise aus. Termingeschäft Kauf bzw. Verkauf eines Gutes auf Termin, wobei der Preis zu Beginn der Vereinbarung fixiert wird, der Austausch der Güter aber später, zum Termin, stattfindet. Terminmarkt „Ort“, an dem Termingeschäfte getätigt werden. C. Glossar 376 <?page no="377"?> Trittbrettfahrer Nutznießer einer Leistung, ohne an deren Erstellung beteiligt zu sein. Unsicherheit In Abgrenzung zu Risikosituationen können keine Eintrittswahr‐ scheinlichkeiten angegeben werden. Zwei-Grad-Ziel Von der Mehrzahl der Klimaforscher wird angenommen, dass bei einer Begrenzung der globalen Erwärmung auf 2 °C über dem vorin‐ dustriellen Wert eine gefährliche Störung des Klimasystems durch den Menschen gerade noch vermieden werden kann, während die Folgen des Klimawandels bei einer Überschreitung der Zwei-Grad-Marke nicht mehr kontrolliert werden können. Das Ziel besteht also darin, die Erwärmung der Atmosphäre durch einen verringerten Ausstoß von Treibhausgasen auf 2 °C zu begrenzen. C. Glossar 377 <?page no="379"?> D. Personenregister Abramowitsch, Roman A. russischer Oligarch Ackermann, Josef Vorstandssprecher der Deutschen Bank Adenauer, Konrad deutscher Bundeskanzler Aitmatov, Dzhingis kirgisisch-sowjetischer Schriftsteller Alexander II russischer Zar Alexander VI Papst im späten 15. Jahrhundert Allende, Salvador chilenischer Politiker Aurel, Marc römischer Kaiser und Philosoph Baker, James US-amerikanischer Außenminister Berkeley, George englischer Philosoph Bezos, Jeff Amazon-Gründer und Großaktionär Biden, Joe US-amerikanischer Präsident Bofinger, Peter deutscher Ökonom Brecht, Bertolt deutscher Schriftsteller Broder, Henryk M. deutscher Publizist Buffet, Warren US-amerikanischer „Starinvestor“ Bush, George H. W. US-amerikanischer Präsident; Vater von George W. Bush Bush, George W. US-amerikanischer Präsident Chambers, John CISCO-Vorstandsvorsitzender Chodorkowski, Michail russischer Oligarch, Gefängnisinsasse und Putinkriti‐ ker Chomsky, Noam US-amerikanischer Informatiker und Publizist Clark, Christopher australisch-britischer Historiker Clinton, Bill US-Präsident Clinton, Hillary US-amerikanische Politikerin; Ehefrau von Bill Collier, Paul englischer Migrationsforscher Coudenhove-Kalergi, Nikolaus EU-„Vordenker“ Deaton, Angus US-amerikanischer Ökonom <?page no="380"?> Dekkers, Marijn CEO der Bayer AG Deng, Xiaoping chinesischer Politiker und Reformer Dimon, Jamie US-amerikanischer Banker Diamond, Jared US-amerikanischer Biologe und Autor Drosten, Christian deutscher Virologe Elsberg, Marc deutscher Schriftsteller Eisenhower, Dwight US-amerikanischer Präsident Engels, Friedrich deutscher Ökonom und Philosoph Fischer, Joschka deutscher Außenminister Fleischhauer, Jan deutscher Publizist Fouché, Joseph französischer Polizeiminister Freud, Sigmund österreichischer Begründer der Psychoanalyse Friedman, Milton US-amerikanischer Ökonom Fukuyama, Francis US-amerikanischer Politologe Gandhi, Indira indische Premierministerin (nicht verwandt mit Ma‐ hatma) Gandhi, Mahatma indischer Politiker Gates, Bill Microsoft-Gründer de Gaulle, Charles französischer Präsident Einstein, Albert deutsch-US-amerikanischer Physiker Genscher, Hans-Dietrich deutscher Außenminister Graeber, David US-amerikanischer Anthropologe und Ökonom Hardin, Garret US-amerikanischer Ökonom Häring, Norbert deutscher Publizist Hattie, John neuseeländischer Bildungsforscher Hayek, Friedrich August von österreichisch-britisch-US-amerikanischer Ökonom Hegel, Georg Wilhelm Friedrich deutscher Philosoph Hemingway, Ernest US-amerikanischer Schriftsteller Hobbes, Thomas englischer Mathematiker und Philosoph Hurd, Sir Douglas Außenminister von Großbritannien Juncker, Jean-Claude EU-Kommissionspräsident Jung, Daniel Youtuber, Online-Pädagoge (ohne Hochschulabschluss) D. Personenregister 380 <?page no="381"?> Kaeser, Joe Siemens-Vorstandsvorsitzender Kahneman, Daniel US-amerikanischer Ökonom und Psychologe Kant, Immanuel deutscher Philosoph Kaplan, Robert D. US-amerikanischer Politologe Kekulé, Alexander deutscher Arzt und Biochemiker Keynes, John Meynard englischer Ökonom Kissinger, Henry US-amerikanischer Außenminister Koch, Charles und David US-amerikanische Industrielle Koch, Robert deutscher Arzt und Bakteriologe Kohl, Helmut deutscher Bundeskanzler Kolumbus, Christoph Entdecker für die spanische Krone Konfuzius altchinesischer Philosoph Krugman, Paul US-amerikanischer Ökonom Kujat, Harald Generalinspekteur der Bundeswehr Kurosawa, Akira japanischer Regisseur Lao-Tse altchinesischer Philosoph Lee, Kuan Yew Präsident und „Vater“ von Singapur Li, Keqiang chinesischer Ministerpräsident Liu, Yang chinesisch-deutsche Grafikerin Locke, John englischer Philosoph Lukaschenko, Alexander Präsident Weißrusslands Luther, Martin deutscher Reformator Machiavelli, Niccolò italienischer Staatsphilosoph Macron, Emmanuel französischer Präsident Magellan, Fernando Weltumsegler Mao, Zedong chinesischer Revolutionär und Politiker Malkiel, Burton US-amerikanischer Finanzprofessor und -autor Mandela, Nelson südafrikanischer Politiker und Präsident Markowitz, Harry US-amerikanischer Ökonom Marx, Karl deutscher Ökonom und Philosoph Mazzucato, Mariana italienisch-britische Ökonomin D. Personenregister 381 <?page no="382"?> Mead, Margaret US-amerikanische Anthropologin Menger, Carl österreichischer Volkswirt Menzius altchinesischer Philosoph Merkel, Angela deutsche Bundeskanzlerin Morris, Ian angloamerikanischer Historiker Modi, Narendra indischer Premierminister Müller, Dirk deutscher Publizist und Börsenkommentator Mulatu, Teshome äthiopischer Präsident Münchau, Wolfgang deutscher Wirtschaftsjournalist Nabiullina, Elvira russische Zentralbankdirektorin Nasarbajew, Nursultan postsowjetischer Präsident Kasachstans Nash, John US-amerikanischer Ökonom Nixon, Richard US-amerikanischer Präsident Nyyazow, Saparmyrat postsowjetischer Präsident Turkmenistans Owen, Robert britischer utopischer Sozialist Palmer, Boris deutscher Politiker Pasteur, Louis französischer Bakteriologe Pinochet, Augusto chilenischer General und Politiker Platon altgriechischer Philosoph Popper, Karl deutsch-neuseeländischer Politologe und Philosoph Porter, Michael E. US-amerikanischer Managementwissenschaftler Prince, Chuck US-amerikanischer Banker Putin, Wladimir russischer Präsident Qin Shi Huangdi Gründungs- oder Gelber Kaiser Chinas Rao, Shri P. V. Narasimha indischer Premierminister Ricardo, David englischer Ökonom Rousseff, Dilma brasilianische Ministerpräsidentin Sanders, Bernie demokratischer Präsidentschaftsbewerber für die US-Wahlen des Jahres 2016 Sarotte, Mary Elisa US-amerikanische Historikerin Sarrazin, Thilo deutscher Politiker und Publizist Sartre, Jean-Paul französischer Schriftsteller D. Personenregister 382 <?page no="383"?> Schindler, Oskar Unternehmer, NSDAP-Mitglied und Retter von mehr als Tausen Juden. Schirrmacher, Frank FAZ-Herausgeber Schmidt, Helmut deutscher Bundeskanzler und Publizist Schröder, Gerhard deutscher Bundeskanzler Schumpeter, Joseph A. österreichisch-US-amerikanischer Ökonom Selten, Reinhard deutscher Spieltheoretiker Shapiro, Carl US-amerikanischer Ökonom Shiller, Robert US-amerikanischer Ökonom da Silva, Luiz Inácio Lula brasilianischer Ministerpräsident Sinn, Hans-Werner deutscher Ökonom Snowden, Edward US-amerikanischer Internetspion oder -patriot (abhängig von der Perspektive) Soros, George ungarisch-US-amerikanischer Investor und Politakti‐ vist Steinbrück, Peer deutscher Finanzminister Steinmeier, Frank-Walter deutscher Außenminister und Bundespräsident Stiglitz, Joseph US-amerikanischer Ökonom Taleb, Nassim US-amerikanischer Publizist de Talleyrand, Charles-Maurice französischer Außenminister Taylor, Gordon R. britischer Wissenschaftsjournalist Tegnell, Anders schwedischer Epidemiologe Thatcher, Margaret Premierministerin Großbritanniens Thiel, Peter Internetunternehmer und Publizist Tirole, Jean französischer Wirtschaftswissenschaftler Truffaut, François französischer Regisseur Trump, Donald US-Präsident Varian, Hal US-amerikanischer Ökonom Varoufakis, Giannis griechischer Ökonom und Kurzzeitpolitiker Venables, Tony US-amerikanischer Ökonom Voltaire französischer Philosoph der Aufklärung Wallerstein, Immanuel US-amerikanischer Soziologe Watson, Peter englischer Wissenschaftsjournalist und -autor D. Personenregister 383 <?page no="384"?> Weber, Max deutscher Philosoph und Soziologe von Weizsäcker, Richard deutscher Bundespräsident Wu, Di chinesischer Kaiser Xi, Jinping chinesischer Staats- und kommunistischer Parteiführer Zhang, Danhong chinesisch-deutsche Journalistin Zweig, Stefan österreichischer Schriftsteller D. Personenregister 384 <?page no="385"?> E. Literaturverzeichnis Acemoglu, D. und J. Robinson (2014). Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut. Frankfurt a.M.: Fischer. Amelung, T. R. (2020, 16. Juni). Wann ist eine Frau eine Frau? https: / / www.zeit.de/ kultur/ 2020- 06/ joanne-k-rowling-vorwurf-transfeindlichkeit-konflikt-twitter Ankenbrand, H. (2015). China denkt über ein höheres Rentenalter nach. http: / / www.faz.net/ aktu ell/ wirtschaft/ agenda/ china-denkt-ueber-hoeheres-rentenalter-nach-13947802.html Ankenbrand, H. (2015, 16. März). 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Sachwortverzeichnis Altersvorsorge 39, 77, 92 Arbeitslosigkeit 18, 31 Arbitrage 142 Armut 246, 247 Armutsdefinition 246 Außenmigration 70, 79 Beschäftigung 31 Bevölkerungspyramide 68 Big Data 216, 219 Bildung 107, 166, 196, 285, 290 Bildungsniveau 254, 265 Biotechnologie 206 Bottom Billion 245 Brasilien 265 Bürokratie 259 China 47, 118, 121, 246, 247, 250 Demokratie 46, 167, 251, 262, 286 Deregulierung 176, 177 Digitalisierung 42, 57, 171 Diversifizierung 117, 118 Dual-Track-Preissystem 300 Economies of Scale 215 Effekt externer 196 Ein-Kind-Politik 262, 290 Energieversorgung 191 Energiewende 191 Entsolidarisierung 32 EU 248, 272 Europäische Union 31, 79 Europäische Zentralbank 39 Fed 157 Finanzkrise 147 Finanzpolitik 51 Finanzwissenschaft 50, 51, 52, 53, 54 Fracking-Technologie 315 Frankreich 119 Geld 147, 150 Gesellschaft harmonische 284, 308 Gesundheitsausgaben 90 Gini-Index 50, 282 Gini-Koeffizient bzw. -Index 168 Globalisierung 328 Großbritannien 119 Großer Sprung nach vorn 284 Guanxi 290 Handelsbeschränkung 329 HDI-Ranking 264 Hukou-Systems 282 Human Development Index 170, 263 Indien 259 Industrie 4.0 205 Innovation 209 Internalisierung externer Effekte 196 IWF 247, 250 Jugendarbeitslosigkeit 109, 116, 125 Klima 197 Konfuzianismus 284 Konfuzius-Institute 250 Korruption 253, 262, 280 Kulturrevolution 284, 302 Lewinsky-Affäre 317 Marktversagen 196 Marktwirtschaft 45 soziale 175 Middle Income Trap 245 Migration 32, 73 Migrationsstrom 325 Milliarde unterste 326 Mindestlohn 50, 76 Monopol 176 Netzdurchdringungsgesetz 51 Oligopol 176, 215 <?page no="406"?> Paradoxon biologisch-demografisches 246 Pflegeversicherung 91 Porter 208 Produktivität 18, 31 Regulierung 175, 177 Ressource 264 Russland 33, 34, 37, 47, 119, 123, 247 Schwan Schwarzer 139 Silicon Valley 318 Sowjetunion 249 Spezialisierung 117 Spieltheorie 167, 183 Staat 166, 168, 257 Staatsausgaben 168 Staatsquote 168 Steuerwissenschaft 52 Sunk Costs 215, 221, 255 Technologie 289 Technologieentwicklung 41 TPP 248 Tragödie der Allmende 186 Transitionsperiode 247 Transitionsprozess 335 TTIP 248 Überkapazität 259 Umweltverschmutzung 196 USA 247 Verschuldung 31 Vertrag ungleicher 289 Wachstum 259 Wechselkurs 141 Weltbank 245 Welthandel 42 Weltwirtschaft 137 Wettbewerb 47 Wirtschaftspolitik 248, 337 Wirtschaftstheorie 52 Zentralbank 150 F. Sachwortverzeichnis 406 <?page no="407"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1.1: Rohölpreisentwicklung der Sorte BRENT von 1985-2020 in US-Dollar pro Barrel (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) . 34 Abb. 1.2: Wechselkurs US-Dollar pro Euro 1985-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Abb. 1.3: Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in den jeweiligen EU-Mitgliedstaaten 2007 vs. 2017 (Quelle: Bundesministerium der Wirtschaft [5] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Abb. 1.4: Exporte und Importe der wichtigsten Handelspartner Deutschlands 2019 in Mrd. Euro (Quelle: Statistisches Bundesamt [7] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Abb. 2.1: Bevölkerungspyramide Deutschland 1910 (Quelle: Statistisches Bundesamt [22] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Abb. 2.2: Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland 2010, 2018 vs. Prognose 2060 (Quelle: Demografie-Portal [23] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Abb. 2.3: Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis 2060 (Quelle: Umweltbundesamt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Abb. 2.4: Wanderungssaldo von Ausländern für Deutschland (Quelle: Demografie-Portal [27]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Abb. 2.5: Ausländer in Deutschland (Quelle: Statistisches Bundesamt [28] ) . . 75 Abb. 2.6: Veränderung des Medianalters in Kreisen und kreisfreien Städten, 2012 vs. Schätzung 2030 (Quelle: Bertelsmann Stiftung) . . . . . . . . 77 Abb. 2.7: Leerstand in Geschosswohnungen 2018 und Dynamik von 2013- 2018 (Quelle: Empirica-Institut) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Abb. 3.1: Nikkei225, 1985-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) . 93 Abb. 4.1: Europäische Union: Jugendarbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten im April 2020 (Quelle: Statista [55] ) . . . . . . . . . . . . 109 Abb. 4.2: Europäische Union: Arbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten im April 2020 (Quelle: Statista [56] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Abb. 5.1: Anteil der Wirtschaftsbereiche an der Gesamtbeschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland von 1950 bis 2019 (Quelle: Statista [70] ) 119 Abb 5.2: Entwicklung des deutschen Außenhandels 1996-2019 (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung [74] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Abb. 5.3: Europäische Union & Euro-Zone: Handelsbilanzsaldo von 2009 bis 2019 in Milliarden Euro (Quelle: Statista [75] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Abb. 6.1: DAX30-Entwicklung 1995-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Abb. 6.2: Zinsvergleich Eurozone vs. USA (Quelle: leitzinsen.info) . . . . . . . 145 <?page no="408"?> Abb. 6.3: Langfristige Zinsen und Inflation (Quelle: Finanz und Wirtschaft-Verlag [3] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Abb. 6.4: Geldmengenentwicklung im Euro-Währungsgebiet: März 2020 (Quelle: Bundesbank [6] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Abb. 6.5: Wechselkurs Neue Türkische Lira pro US-Dollar 2010 bis 2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Abb. 6.6: Kupferpreis in US-Dollar pro Tonne 1996-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Abb. 6.7: Weizen in US-Dollar pro Scheffel 1996-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Abb. 7.1: Sitzeverteilung im Deutschen Bundestag und im Bundesrat im Dezember 2017 (Quelle: Bundestag [19] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Abb. 8.1: Production Possibility Frontiers mit und ohne Handel (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Abb. 9.1: Primärenergieverbrauch nach Energieträgern: 1990 vs. 2019 (Quelle: Umweltbundesamt [26] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Abb. 9.2: Börsennotierungen E.ON und RWE von 1995-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Abb. 10.1: Stufen der industriellen Entwicklung vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute (Quelle: Rinke [32] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Abb. 10.2: Datentypen (in Anlehnung an KPMG [43] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Abb. 11.1: Erste, zweite und dritte Welt bis zum Ende des Kalten Krieges ca. 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Abb. 11.2: Die Länder der untersten Milliarde im Jahr 2019 (Quelle: UNCTAD [16] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Abb. 11.3: Alphabetisierung in Indien (Quelle: Census of India, Wikipedia [28] ) 260 Abb. 12.1: Russland mit Straßennetz (Quelle: Dedering [34] ) . . . . . . . . . . . . . . . 269 Abb. 12.2: Wechselkurs Rubel pro US-Dollar 2010-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Abb. 13.1: Topografie Chinas (Quelle: Wikipedia [39] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Abb. 13.2: Chinas Bevölkerung 2018 vs. Prognose 2050 (Quelle: Populationpyramid.net) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Abb. 13.3: Bevölkerungsentwicklung und -wachstum in China 1950-2010 (Quelle: Chinanetz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Abb. 13.4: Die neuen Seidenstraßen (Quelle: von Lommes [41] ) . . . . . . . . . . . . . 298 Abb. 13.5: Wechselkurs RMB pro US-Dollar 2005-2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Abb. 13.6: GDP und Marktkapitalisierung der an den Börsen in Shenzhen und Shanghai gelisteten Unternehmen von 1992-2019 (eigene Darstellung mit Tang: Daten von Wind und Choice) . . . . . . . . . . . 303 Abbildungsverzeichnis 408 <?page no="409"?> Abb. 13.7: Wertentwicklung der Börsenindizes in Shenzhen und Shanghai 1992-2018 (eigene Darstellung mit Tang: Daten von Wind und Choice) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Abb. 13.8: SPIEGEL-Titelblätter 40/ 2005, 35/ 2007 und 15/ 2008 (SPIEGEL, 2005, 1. Oktober; SPIEGEL, 2007, 27. August; SPIEGEL, 2008, 7. April) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Abb. 14.1: Durchschnittliche Studiengebühren pro Jahr in US-Dollar von 2000/ 01-2017/ 18 (Quelle: Statista [45] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Abb. 15.1: Uganda und seine Nachbarn (Quelle: Operation World) . . . . . . . . 327 Abb. 9.3: Grenzkosten-/ Grenzschaden-Diagramm (eigene Darstellung) . . . 359 Abbildungsverzeichnis 409 <?page no="411"?> Tabellenverzeichnis Tab. 1.1. Die teuersten Unternehmen der Welt 2004 vs. 2014 (Quelle: FAZ [15] ) 49 Tab. 2.1: Fertilitäten in ausgewählten Ländern (Quellen: CIA-Factbook 2017 und laenderdaten.de) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Tab. 2.2: Geburten pro 1.000 Einwohner in ausgewählten Ländern (CIA Factbook und laenderdaten.de) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Tab. 2.3: Ausländer in Europa (Stand Februar 2020; Quelle: Statistisches Bundesamt [26] ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Tab. 8.1: Mögliche Kombinationen von Nachfrage- und Angebotsseite . . . . . . 180 Tab. 8.2: Auszahlungsmatrix der Schlacht in der Bismarck-See . . . . . . . . . . . . . 185 Tab. 8.3: Payoffs im Gefangenendilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Tab. 8.4: Payoffs im Gefangenendilemma mit Mafia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Tab. 11.1: Kategorisierung von Staaten in einer globalisierten Welt (Quelle: Wallerstein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Tab. 15.1: PESTEL-Analyse für Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 <?page no="412"?> Thieß Petersen Diginomics verstehen Ökonomie im Licht der Digitalisierung utb M 2020, 275 Seiten €[D] 24,90 ISBN 978-3-8252-5339-4 eISBN 978-3-8385-5339-9 BUCHTIPP Computer und Roboter sind auch aus der Ökonomie nicht mehr wegzudenken. Ihre Bedeutung wächst durch künstliche Intelligenz und Big Data rasant. Das wirkt sich auf ökonomische Entwicklungen aus, etwa auf die Preisbildung und die Produktivität. Mehr noch: Die Digitalisierung geht zudem mit Monopolisierungstendenzen, Arbeitsmarkt- und Verteilungseffekten einher. Darüber hinaus beeinflusst sie das Wirtschaftswachstum, die Inflation und die Finanzlage des Staates. Sie treibt die internationale Arbeitsteilung grundsätzlich voran, hat aber auch Effekte, die den Welthandel verringern. Der Autor geht auf diese mikro- und makroökonomischen Effekte ein und erläutert sie mit Hilfe ökonomischer Begrifflichkeiten auf verständliche Art und Weise. Chancen und Risiken werden ebenso behandelt wie die Notwendigkeit einer gesellschaftspolitischen Gestaltung der Digitalisierung. uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwis ft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ ologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ M munikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswis tionswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Re ft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathem orische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ atistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherw Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ S ilosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Liter e \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanisti enschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissensch t \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwis ourism \ To trotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissensc ik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterw \ Kultu gie \ uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwis Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sp echtswissenscha t \ Hist nscha wisse ft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ wistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Manag k \ Math matik & Statis ktrotec ft \ El ologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ M te \ Spr herw \ Philo \ Geschic schaft munikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswis tionswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Re rm ktik \ D ft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathem orische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ atistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherw Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ S ilosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Liter e \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanisti enschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissensch t \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwis trotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissensc \ \ g \ p g \ p \ \ \ g \ \ g \ ik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterw UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 9797-0 Fax +49 (0)7071 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="413"?> Wirtschftswissenschaften ,! 7ID8C5-cfedcc! ISBN 978-3-8252-5432-2 Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Dieses Buch ist ein Kompendium der großen Themen moderner Industriegesellschaften von demografischem Wandel und Grundsicherung über die Auswirkungen der Digitalisierung bis zu Klimaschutz und geopolitischen Verschiebungen. Vor dem Hintergrund aktueller Krisen wie dem Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 hinterfragt der Autor den Nutzen gängiger Wirtschaftsmodelle und führt hin zu einer ganzheitlichen Betrachtung von Ökonomie als Produkt gesellschaftlichen Handelns. Zahlreiche Exkurse zu Statistik, Modellierung, aber auch zu Grenzen der Ökonomie als Wissenschaft vermitteln Denkanstöße zum wirtschaftspolitischen Studium und ermutigen dazu, gesellschaftspolitische Entwicklungen selbständig zu interpretieren.