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Friedens- und Konfliktforschung

1026
2020
978-3-8385-5443-3
978-3-8252-5443-8
UTB 
Ines-Jacqueline Werkner

Das Buch führt systematisch und kompakt in zentrale Themenfelder der Friedens- und Konfliktforschung ein. Es reflektiert den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung und zeigt die derzeitigen Herausforderungen auf. Im Fokus der Analyse steht zunächst der Friedensbegriff mit seinen Dimensionen und seinem Verhältnis zur Sicherheit. Im Weiteren nimmt die Autorin das Phänomen des Konfliktes sowie aktuelle weltpolitische Konfliktkonstellationen in den Blick und verhandelt Konfliktbearbeitungsmechanismen und Strategien der Friedensförderung. Abschließend gibt das Lehrbuch einen Überblick über den Stand der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland mit seinen Instituten und universitären Studiengängen.

<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-cfeedi! ISBN 978-3-8252-5443-8 Ines-Jacqueline Werkner Friedens- und Konfliktforschung Eine Einführung Das Buch führt systematisch und kompakt in zentrale Themenfelder der Friedens- und Konfliktforschung ein. Es reflektiert den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung und zeigt die derzeitigen Herausforderungen auf. Im Fokus der Analyse steht zunächst der Friedensbegriff mit seinen Dimensionen und seinem Verhältnis zur Sicherheit. Im Weiteren nimmt die Autorin das Phänomen des Konfliktes sowie aktuelle weltpolitische Konfliktkonstellationen in den Blick und verhandelt Konfliktbearbeitungsmechanismen und Strategien der Friedensförderung. Abschließend gibt das Lehrbuch einen Überblick über den Stand der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland mit seinen Instituten und universitären Studiengängen. Werkner Politikwissenschaft Friedens- und Konfliktforschung Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 54438 Werkner_S-5443.indd 1 54438 Werkner_S-5443.indd 1 29.09.20 16: 40 29.09.20 16: 40 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 5443 <?page no="2"?> PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner ist Leiterin des Arbeitsbereichs Frieden an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg und Privatdozentin am Institut für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. <?page no="3"?> Ines-Jacqueline Werkner Friedens- und Konfliktforschung Eine Einführung UVK Verlag · München <?page no="4"?> © UVK Verlag 2020 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5443 ISBN 978-3-8252-5443-8 (Print) ISBN 978-3-8385-5443-3 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5443-8 (ePub) Einbandmotiv: © iStockphoto, bestdesign Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 11 15 1 17 1.1 18 1.2 22 1.3 27 1.4 30 1.5 32 2 35 2.1 36 2.2 43 2.3 46 3 49 3.1 51 3.2 56 3.3 60 3.4 66 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Part I: Frieden - Begriffliche Vorüberlegungen . . . . . . . . . Zum Begriff des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt und Frieden bei Johan Galtung . . . . . . . . Frieden - mehr als die Abwesenheit von Krieg? Frieden - eine Utopie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friede als Weltfriede? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frieden und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was heißt Sicherheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedensversus Sicherheitslogik . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Normativität der Friedensforschung . . . . . . . Zur Praxisorientierung der Friedensforschung . . Zur disziplinären Verortung der Friedensforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 69 4 71 4.1 71 4.2 74 4.3 76 4.4 82 4.5 87 4.6 92 5 95 5.1 95 5.2 100 5.3 106 5.4 109 5.5 120 6 123 6.1 124 6.1.1 124 6.1.2 131 6.1.3 137 Part II: Weltpolitische Konflikte - Begriff, Formationen und Austragungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen . . . . . . . . . . Zum Konfliktbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konflikte - unerwünschte Erscheinungen? . . . . Konflikte - komplexe Phänomene . . . . . . . . . . . . Kriegsdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriegsursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symmetrie und Asymmetrie im Konfliktgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neuen Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik der neuen Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der transnationale Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfliktgegenstände - zentrale Formationen . . . . . . . . . Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ost-West-Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . Der Nord-Süd-Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . Der Nahostkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 <?page no="7"?> 6.2 143 6.2.1 144 6.2.2 153 6.2.3 160 6.3 171 6.4 177 7 181 7.1 181 7.2 189 7.3 195 7.4 204 207 8 209 8.1 210 8.2 213 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konflikte um die internationale Vormachtstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnonationale Konflikte . . . . . . . . . . . . . Innerstaatliche Macht- und Herrschaftskonflikte durch fragile Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt durch Klimawandel - ein Konfliktszenario der Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Austragungsformen von Konflikten - friedenspolitische Herausforderungen durch neue technologische Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unbemannte Waffen und der Trend zu ihrer Autonomisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Cyberraum und die Digitalisierung der Kriegsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Militarisierung des Weltraums . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Part III: Friedensstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frieden durch Abschreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der (neo)realistische Zugang zum Frieden . . . . . Begriff und Funktionsweise der Abschreckung . Inhalt 7 <?page no="8"?> 8.3 218 8.4 226 9 229 9.1 230 9.2 234 9.3 239 9.4 244 9.5 253 9.6 256 10 259 10.1 260 10.2 265 10.3 271 10.4 276 10.5 283 11 287 11.1 288 11.2 293 11.3 301 11.4 306 11.5 311 Nukleare Abschreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der institutionalistische Zugang zum Frieden . . Das völkerrechtliche Gewaltverbot und seine Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humanitäre militärische Interventionen . . . . . . . Die internationale Schutzverantwortung . . . . . . Systeme kollektiver Sicherheit - ein Mythos? . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frieden durch Demokratisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der liberale Zugang zum Frieden . . . . . . . . . . . . . Der demokratische Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antinomien des demokratischen Friedens . . . . . . Frieden als Zivilisierungsprozess - das zivilisatorische Hexagon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der konstruktivistische Zugang zum Frieden . . . Respekt und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="9"?> 313 12 315 12.1 315 12.2 317 12.3 319 12.4 321 12.5 324 12.6 327 13 329 14 337 14.1 337 14.2 338 14.3 341 347 395 Part IV: Zum Stand der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institute der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu den Anfängen der Institutionalisierung der Friedens- und Konfliktforschung - ein kursorischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außeruniversitäre Institute . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außeruniversitäre Institute mit Forschungsschwerpunkten im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung . . . . . . . . . . . . . Universitäre Institute und Zentren . . . . . . . . . . . . Verbände, Netzwerke und Stiftungen . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Masterstudiengänge der Friedens- und Konfliktforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Publikationslandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Friedensgutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachzeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehr- und Handbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> Vorwort „Es ist begreiflich, daß die Zeitgenossen die Sache so auffaßten. Es ist begreiflich, daß Napoleon meinte, die Ursache des Krieges liege in den Intrigen Englands […]. Es ist begreiflich, daß die Mitglieder des englischen Parlaments der Ansicht waren, die Ursache des Krieges sei Napoleons Herrschsucht; daß der Herzog von Oldenburg als die Ursache des Krieges die gegen ihn verübte Gewalttat betrachtete; daß die Kaufleute glaubten, die Ursache des Krieges sei das Kontinentalsystem, durch das Europa zugrunde gerichtet werde; daß die alten Soldaten und Generale die Hauptursache des Krieges in der Notwendigkeit suchten, sie wieder einmal zum Kampf zu verwenden, und die Legitimisten in der Notwendigkeit, les bons principes wiederherzustellen; daß die Diplomaten überzeugt waren, alles sei davon hergekommen, daß das Bündnis zwischen Rußland und Österreich im Jahre 1809 vor Napoleon nicht kunstvoll genug verheimlicht worden und das Memorandum Nr. 178 ungeschickt redigiert worden sei. Es ist begreiflich, daß diese und noch zahlreiche andere Dinge, deren Menge durch die unendliche Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte bedingt ist, den Zeitgenossen als Ursachen des Krieges erschienen; aber wir Nachkommen, die wir die gewaltige Größe des stattgefundenen Ereignisses in ihrem ganzen Umfang zu überblicken und die wahre, furchtbare Bedeutung dieses Ereignisses zu würdigen vermögen, wir müssen diese Ursachen für unzulänglich erachten.“ (Tolstoj 2015 [1867], S. 1056) Fragen nach Krieg und Frieden standen nicht nur bei Lew N. Tolstojs Werk im Mittelpunkt, sie prägten von jeher die Menschheitsgeschichte. Und auch die heutige Friedens- und Konfliktforschung bezieht ihre Bedeutung aus genau diesen essenziellen Fragen. Für sie ist es insbe‐ <?page no="12"?> sondere das Ende des Ost-West-Konfliktes, das strukturell zu einer Zäsur führte. Mit dem Wegfall des Systemantagonismus brachen die bisherige Ausrichtung und darauf basierende Grundlagen der Frie‐ dens- und Konfliktforschung weg. Ein neuer Bedarf an friedenswissen‐ schaftlichen und friedenspolitischen Kompetenzen tat sich auf. Dies ist insbesondere der größeren Komplexität der politischen Prozesse angesichts grenzüberschreitender und globaler Konfliktkonstellatio‐ nen geschuldet. Exemplarisch stehen hierfür die neuen Kriege und der transnationale Terrorismus. Sie erfordern in zunehmendem Maße die Bereitstellung analytischer und praktischer Qualifikationen zu essenziellen Fragen von Krieg und Frieden. Das vorliegende Lehrbuch reflektiert den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung und zeigt die derzeitigen friedenspo‐ litischen Herausforderungen auf. Es enthält drei inhaltliche Schwer‐ punkte: Im Fokus der Analyse steht zunächst - als theoretisches Fundament - der Friedensbegriff mit seinen Dimensionen, seinem Verhältnis zur Sicherheit und seinem Selbstverständnis (Part I). Der zweite Part wendet sich weltpolitischen Konflikten zu. Das umfasst Begriff, Formationen und Austragungsformen von Konflikten. Vor diesem Hintergrund analysiert der dritte Part zentrale Konfliktbear‐ beitungsmechanismen und zeigt aus der Perspektive der großen Theorieschulen der Internationalen Beziehungen zentrale Friedens‐ strategien auf. Abschließend gibt das Lehrbuch einen Überblick über den Stand der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland mit seinen Instituten, Netzwerken und universitären Studiengängen sowie einen Einblick in die friedenswissenschaftliche Publikationslandschaft. Die einzelnen Kapitel des Lehrbuches folgen im Wesentlichen der gleichen Grundstruktur: Für das jeweilige Themenfeld werden zentrale Fragestellungen, Grundbegriffe, theoretische Ansätze und empirische Befunde vorgestellt. Eine annotierte Auswahlbibliografie am Ende Vorwort 12 <?page no="13"?> jedes Kapitels soll helfen, den Einstieg in die entsprechende Thematik zu erleichtern. Abschließend möchte ich mich ganz herzlich bei meinen Kollegin‐ nen und Kollegen des Arbeitsbereichs Frieden der FEST bedanken, die durch ihre Anregungen und die vielen gemeinsamen Diskussionen zum Gelingen dieses Lehrbuchs beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt Henrike Ilka, die mir bei den Recherchen, der Literaturbe‐ schaffung sowie dem Korrekturlesen eine große Hilfe war und stets auch für Fragen und Diskussionen zur Verfügung stand. Heidelberg, im Juli 2020 Ines-Jacqueline Werkner Vorwort 13 <?page no="15"?> Part I: Frieden - Begriffliche Vorüberlegungen <?page no="17"?> 1 So seien die Aufgaben des Friedensforschers - vergleichbar mit denen des Arztes - die Diagnose, Prognose und Therapie. 2 Dieses Kapitel stützt sich auf Werkner (2017). 1 Zum Begriff des Friedens „Der Friede ist als Sehnsucht, Hoffnung, Traum oder Verheißung eine der ältesten Ideen der Menschheit; Friedensforschung jedoch ist erst im Atomzeitalter entstanden“. In dieser Formulierung von Georg Picht (1971, S. 13) deutet sich bereits ein gewisses Spannungsverhältnis an: Einerseits war und ist der Begriff des Friedens - anders als andere sozialwissenschaftliche Grundbegriffe - allgegenwärtig: in der Politik, in den Medien und in öffentlichen Debatten. Frieden gilt als hohes, wenn nicht sogar höchstes Gut, nach dem norwegischen Friedensfor‐ scher Johan Galtung (2007, S. 15) vergleichbar mit der Gesundheit eines Menschen (wie Gewalt mit der Krankheit). 1 Vor diesem Hintergrund stelle der Frieden eine zentrale Kategorie der Politik dar: „Der Friede ist der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, dies alles zugleich“ (Sternberger 1986, S. 76; vgl. auch Meyers 1994, S. 17). 2 Andererseits ist die Frage, wie der Frieden inhaltlich zu fassen ist, nach wie vor umstritten. So konstatiert der Politikwissenschaftler Ernst-Otto Czempiel (2002, S. 83), die Friedensforschung habe bis heute keinen geklärten Friedensbegriff, ihr Erkenntnisinteresse sei distinkt, aber diffus. Dieser Zustand lasse sich auf verschiedene Ursachen zurückführen: Zum einen sei die Friedensforschung eine sehr junge Wissenschaftsdisziplin, galt sie bis vor wenigen Jahrzehnten noch als „ungesicherte Disziplin“ (Der Spiegel, 18.08.1969). Zum anderen verzichteten einige Friedensforscher und -forscherinnen sogar ganz darauf, den Begriff des Friedens näher zu bestimmen. Aber auch die <?page no="18"?> mittlerweile in der Friedensforschung gängige Formel „Frieden ist mehr als kein Krieg“ (Rittberger 1977) bleibt diffus, hinterlässt sie doch Fragen nach dem, was dieses „Mehr“ ausmacht. Für Thorsten Bona‐ cker und Peter Imbusch (2006, S. 130) wiederum stellt der ungeklärte Friedensbegriff gar kein Manko dar, sondern ist eher Ausdruck „einer lebendigen fachlichen und offenen Diskussion über das Profil der Frie‐ dens- und Konfliktforschung“. Dabei bewegt sich die Debatte letztlich vor allem um drei Fragen: (1) Ist Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg? (2) Ist Frieden eine Utopie? Herrscht erst dann Frieden, wenn die Ursachen für Kriege überwunden und diese nicht mehr möglich sind? (3) Ist Frieden teilbar oder nur als Weltfriede vorstellbar? (vgl. auch Brock 1990, S. 72). 1.1 Gewalt und Frieden bei Johan Galtung Als zentral kann die auf Johan Galtung zurückgehende Unterscheidung zwischen negativem und positivem Frieden gelten. Er leitet den Frie‐ densbegriff vom Gewaltbegriff ab (vgl. Schaubild 1). Ausgangspunkt ist der „Doppelaspekt“ der Gewalt (Galtung 1975, S. 32), bei dem Galtung zwischen personaler (direkter) und struktureller (indirekter) Gewalt differenziert. Die direkte Gewalt zielt unmittelbar auf die Schädigung, Verletzung und in extremster Form auf die Tötung von Personen. Sie ist personal und direkt, insofern es „einen Sender gibt, einen Akteur, der die Folgen der Gewalt beabsichtigt“ (Galtung 2007, S. 17; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S. 86). Strukturelle Gewalt umfasst dagegen all jene Arten von Gewalt, die aus systemischen Strukturen resultieren. Zu den Hauptformen zählen Repression und Ausbeutung. Beide sind nicht notwendigerweise beabsichtigt, auch nicht mehr individuell zurechenbar (sie basieren auf der jeweiligen politischen, 1 Zum Begriff des Friedens 18 <?page no="19"?> ökonomischen und sozialen Verfasstheit der Welt), können aber ebenso töten - durch Verelendung, Hunger und Krankheit (Galtung 2007, S. 17; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S. 86). 11 walt, die aus systemischen Strukturen resultieren. Zu den Hauptformen zählen Repression und Ausbeutung. Beide sind nicht notwendigerweise beabsichtigt, auch nicht mehr individuell zurechenbar (sie basieren auf der jeweiligen politischen, ökonomischen und sozialen Verfasstheit der Welt), können aber ebenso töten - durch Verelendung, Hunger und Krankheit (Galtung 2007, S. 17; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S. 86). Schaubild 1: Die erweiterten Begriffe von Gewalt und Frieden nach Johan Galtung (1975, S. 33) Nach Galtung greift der eng gefasste - personale beziehungsweise direkte - Gewaltbegriff deutlich zu kurz, denn auf diese Weise bleibe die Gewalt, die von „[v]öllig inakzeptable[n] Gesellschaftsordnungen“ (Galtung 1975, S. 9) ausgehe, weitgehend außen vor. Vor diesem normativen Hintergrund plädiert er für den erweiterten Gewaltbegriff. Danach liege Gewalt immer dann vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“; sie wird damit zur „Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist“ (Galtung 1975, S. 9). Frieden fasst Johan Galtung als Negation von Gewalt. Der Doppelaspekt der Gewalt findet sich somit auch in seinem Friedensbegriff wieder: „Ein erweiterter Begriff von Gewalt führt zu einem erweiterten Begriff von Frieden: Frieden definiert als Abwesenheit von personaler Gewalt und Abwesenheit GEWALT FRIEDEN strukturelle (indirekte) personale (direkte) Abwesenheit von personaler Gewalt oder negativer Frieden Abwesenheit von struktureller Gewalt oder positiver Frieden Schaubild 1: Die erweiterten Begriffe von Gewalt und Frieden nach Johan Galtung (1975, S. 33) Nach Galtung greift der eng gefasste - personale beziehungsweise direkte - Gewaltbegriff deutlich zu kurz, denn auf diese Weise bleibe die Gewalt, die von „[v]öllig inakzeptable[n] Gesellschaftsordnungen“ (Galtung 1975, S. 9) ausgehe, weitgehend außen vor. Vor diesem nor‐ mativen Hintergrund plädiert er für den erweiterten Gewaltbegriff. Danach liege Gewalt immer dann vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“; sie wird damit zur „Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem 1.1 Gewalt und Frieden bei Johan Galtung 19 <?page no="20"?> 3 Die Unterscheidung zwischen negativem und positivem Frieden findet sich begrifflich erstmalig bei Johann Baptist Sartorius in seinem Werk „Organon des vollkommenen Friedens“ (1837). Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist“ (Galtung 1975, S. 9). Frieden fasst Johan Galtung als Negation von Gewalt. Der Doppel‐ aspekt der Gewalt findet sich somit auch in seinem Friedensbegriff wieder: „Ein erweiterter Begriff von Gewalt führt zu einem erweiterten Begriff von Frieden: Frieden definiert als Abwesenheit von personaler Gewalt und Abwesenheit struktureller Gewalt. Wir bezeichnen diese beiden Formen als negativen Frieden bzw. positiven Frieden.“ (Galtung 1975, S. 32) 3 Damit scheint der Begriff des negativen Friedens dem alltäglichen Verständnis von Frieden als Abwesenheit von Krieg beziehungsweise friedenswissenschaftlich formuliert als Abwesenheit organisierter mi‐ litärischer Gewaltanwendung zu entsprechen. Primäre Friedensauf‐ gabe im Sinne dieses eng gefassten Friedensbegriffes stellt dann die Kontrolle und Verminderung offener Gewaltanwendung dar. Anders beim positiven Frieden: Definiert als Abwesenheit struktu‐ reller Gewalt hat er seine Entgegensetzung nicht im Krieg, eher im Unfrieden. Positiver Frieden gilt - in Anlehnung an die obige Gewalt‐ definition - als ein Zustand, in dem die Verwirklichung des Menschen möglich wird. Auch wenn sich der Begriff des positiven Friedens mit der Entwicklung ändere - so wie auch der der Gesundheit in der Medizin - werden mit ihm vor allem Aspekte wie Kooperation und In‐ tegration, das Fehlen von Repression und Ausbeutung, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie Gerechtigkeit und Freiheit verbunden. 1 Zum Begriff des Friedens 20 <?page no="21"?> 4 Diese von Galtung aus Gründen der Vereinfachung eingeführte Gleich‐ setzung von positivem Frieden und sozialer Gerechtigkeit erweist sich als nicht unproblematisch, führt diese Verkürzung unter anderem zu semantischen Irritationen. 5 Zuvor hatte bereits Hans Saner (1982) zwischen personaler, strukturaler und symbolischer Gewalt unterschieden. Insbesondere stehe der positive Frieden für soziale Gerechtigkeit 4 , bezeichne diese eine positiv definierte Bedingung, und zwar die nach gleicher Verteilung von Macht und Ressourcen (Galtung 1975, S. 32, insb. auch FN 30). Ende der 1990er Jahre ergänzte Johan Galtung seine Unterscheidung zwischen direkter und struktureller Gewalt um eine dritte Kompo‐ nente: die kulturelle Gewalt. 5 So wird auch vom Galtung’schen Gewalt‐ dreieck gesprochen. Unter kultureller Gewalt werden all jene Aspekte einer Kultur verstanden, die dazu dienen, direkte oder strukturelle Ge‐ walt zu rechtfertigen beziehungsweise zu legitimieren (Galtung 2007, S. 341). Galtung führt in seiner Definition sechs Kulturbereiche auf: Re‐ ligion (beispielsweise in Form eines rigiden Monotheismus), Ideologie (wie Nationalismus), Sprache (etwa Sprachsexismus), Kunst (beispiels‐ weise durch den Transport von stereotypen Vorurteilen), empirische Wissenschaft (zum Beispiel in Form des neoklassischen Wirtschaftsle‐ bens) sowie formale Wissenschaft (wie der Entweder-Oder-Charakter der Mathematik, wonach Aussagen nur wahr oder unwahr sein kön‐ nen) (Galtung 2007, S. 341ff.). Zudem verweist er auf Bereiche wie Recht, Medien und Erziehung (Galtung 2007, S. 18). Diese Ausweitung des Gewaltbegriffs führte vom Doppelaspekt der Gewalt zum Gewalt‐ dreieck (vgl. Schaubild 2). 1.1 Gewalt und Frieden bei Johan Galtung 21 <?page no="22"?> 13 Mit der Einführung der kulturellen Gewalt hat sich auch der Friedensbegriff noch einmal erweitert: „Friede = direkter Friede + struktureller Friede + kultureller Friede“ (Galtung 2007, S. 458), wobei unter kulturellem Frieden die Abwesenheit kultureller Gewalt verstanden wird. Das beinhaltet die Überwindung von Einstellungen und Verhaltensmustern, die die Anwendung von Gewalt rechtfertigen beziehungsweise legitimieren - von den Akteuren selbst häufig gar nicht mehr als solche wahrgenommen. Aufgabe sei es daher, „aus der harten Kruste des Kollektivs Sub-Kollektive und Individuen herauszubrechen und aus Unterbewußtem Bewußtes zu machen“ (Galtung 2007, S. 415). Die Bedeutung eines kulturellen Friedens zeigen gerade religiös konnotierte Konflikte auf, die nicht selten mit einer Nichtanerkennung religiöser Minderheiten einhergehen. 1.2 Frieden - mehr als die Abwesenheit von Krieg? Galtungs Unterscheidung zwischen direkter und struktureller Gewalt sowie negativem und positivem Frieden prägt bis heute maßgeblich den friedenswissenschaftlichen Diskurs. 6 Dabei bewegen sich die Debatten - nunmehr seit mehr als 40 Jahren - stets um die eine, aber für die Friedensforschung doch zentrale Frage, wie eng beziehungsweise weit der Friedensbegriff gefasst werden sollte. Einerseits lässt sich in der Friedensforschung „ein verbreitetes Unbehagen an einem ‚bloß‘ auf die Negation des Krieges bezogenen Friedensbegriff“ (Brock 2002, S. 96) feststellen. Dieses Unbehagen resultiert aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation, in der Krieg durch nukleare Abschreckung vermieden werden sollte - ein Zustand „organisierter Friedlosigkeit“ (Senghaas 1972), ohne Krieg, jedoch stets kurz vor der Katastrophe und der Zerstörung des gesamten europäischen Kontinents. Genau diese Situation hatte Johan Galtung 6 Die dritte Komponente, die kulturelle Gewalt beziehungsweise der kulturelle Frieden, die er im Rahmen seiner Zivilisationstheorie entwickelte, hat dagegen keine annähernde Resonanz erfahren. Das mag irritieren, gerade angesichts der zunehmenden Bedeutung kulturell beziehungsweise religiös konnotierter Konflikte. direkte Gewalt kulturelle Gewalt strukturelle Gewalt sichtbar unsichtbar Schaubild 2: Das Gewaltdreieck nach Johan Galtung (2007) Mit der Einführung der kulturellen Gewalt hat sich auch der Friedens‐ begriff noch einmal erweitert: „Friede = direkter Friede + struktureller Friede + kultureller Friede“ (Galtung 2007, S. 458), wobei unter kulturel‐ lem Frieden die Abwesenheit kultureller Gewalt verstanden wird. Das beinhaltet die Überwindung von Einstellungen und Verhaltensmus‐ tern, die die Anwendung von Gewalt rechtfertigen beziehungsweise legitimieren - von den Akteuren selbst häufig gar nicht mehr als solche wahrgenommen. Aufgabe sei es daher, „aus der harten Kruste des Kollektivs Sub-Kollektive und Individuen herauszubrechen und aus Unterbewußtem Bewußtes zu machen“ (Galtung 2007, S. 415). Die Be‐ deutung eines kulturellen Friedens zeigen gerade religiös konnotierte Konflikte auf, die nicht selten mit einer Nichtanerkennung religiöser Minderheiten einhergehen. 1.2 Frieden - mehr als die Abwesenheit von Krieg? Galtungs Unterscheidung zwischen direkter und struktureller Gewalt sowie negativem und positivem Frieden prägt bis heute maßgeblich 1 Zum Begriff des Friedens 22 <?page no="23"?> 6 Die dritte Komponente, die kulturelle Gewalt beziehungsweise der kul‐ turelle Frieden, die er im Rahmen seiner Zivilisationstheorie entwickelte, hat dagegen keine annähernde Resonanz erfahren. Das mag irritieren, gerade angesichts der zunehmenden Bedeutung kulturell beziehungs‐ weise religiös konnotierter Konflikte. den friedenswissenschaftlichen Diskurs. 6 Dabei bewegen sich die De‐ batten - nunmehr seit mehr als 40 Jahren - stets um die eine, aber für die Friedensforschung doch zentrale Frage, wie eng beziehungs‐ weise weit der Friedensbegriff gefasst werden sollte. Einerseits lässt sich in der Friedensforschung „ein verbreitetes Unbehagen an einem ‚bloß‘ auf die Negation des Krieges bezogenen Friedensbegriff “ (Brock 2002, S. 96) feststellen. Dieses Unbehagen resultiert aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation, in der Krieg durch nukleare Abschreckung vermieden werden sollte - ein Zustand „organisierter Friedlosigkeit“ (Senghaas 1972), ohne Krieg, jedoch stets kurz vor der Katastrophe und der Zerstörung des gesamten europäischen Kontinents. Genau diese Situation hatte Johan Galtung bei seiner Konzeption des erwei‐ terten Gewalt- und Friedensbegriffs im Blick. So blende der negative Friedensbegriff die herrschaftlichen, sozialen und kulturellen Dimen‐ sionen des Friedens aus; mehr noch, er trage mit dazu bei, ungerechte Verhältnisse auf der Suche nach Frieden zu zementieren. Andererseits mehren sich aber auch die kritischen Stimmen gegen‐ über dem positiven Friedensbegriff. Dazu gehören vor allem Frankfur‐ ter Friedensforscher wie Lothar Brock (1990, 2002), Ernst-Otto Czem‐ piel (1998, 2002), Christopher Daase (1996) oder Harald Müller (2003). Ihre Kritik gliedert sich in verschiedene Argumentationsstränge: for‐ schungspraktische, ethische sowie empirische. Forschungspraktisch wird gegen den positiven Friedensbegriff seine Weite und Unbestimmt‐ heit in Anschlag gebracht. Unklar bleibe, was konkret der Gegenstand des Friedens sei und wo die Abgrenzungen der Friedensproblematik 1.2 Frieden - mehr als die Abwesenheit von Krieg? 23 <?page no="24"?> 7 Dieser Gefahr ist sich auch Johan Galtung (1975, S. 34) bewusst: „An‐ strengungen, sowohl personale als auch strukturelle Gewalt zu vermei‐ den, können leicht dazu führen, eine von beiden oder gar beide zu akzeptieren. Wenn man also die Wahl zwischen der Korrektur eines sozialen Übels mit Hilfe personaler Gewalt und dem Nichtstun hat, kann letzteres in der Tat bedeuten, daß man die Kräfte unterstützt, die für die Ungerechtigkeit verantwortlich sind. Und umgekehrt: der Gebrauch personaler Gewalt kann leicht dazu führen, daß man weder langfristige Abwesenheit von Gewalt noch Gerechtigkeit erreicht.“ Dieses Dilemma führt bei Galtung aber nicht zur Verwerfung des positiven Friedensbe‐ griffs, sein Plädoyer lautet vielmehr, beide Ziele in gleicher Weise zu verfolgen. Alles andere sei „eine Art intellektueller und moralischer Kapitulation“ (Galtung 1975, S. 36). gegenüber anderen gesellschaftlichen Großthemen liegen. Ein Frie‐ densbegriff, der von der Verhinderung und Eindämmung des Krieges über die Schaffung sozialer Gerechtigkeit bis hin zum Umweltschutz alles umfasse, verliere die Fähigkeit „zur unterscheidenden Beschrei‐ bung“ (Müller 2003, S. 211). „Friedensforschung bzw. die Theoriebil‐ dung über Frieden wäre für alles und das heißt im Umkehrschluss für nichts zuständig“ (Brock 1990, S. 78). In diesem Kontext fordern die Frankfurter eine Trennung von Friedensbegriff und Friedensursachen. Aus ethischer Sicht wird befürchtet, dass der positive Frieden zur Legitimation von Gewalt missbraucht werden könne. Werde Gerech‐ tigkeit als wesentliches Moment des positiven Friedens in den Frie‐ densbegriff hineingenommen, stoße man - so Harald Müller (2003, S. 212) - auf zwei Probleme: Erstens könnten Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit in Widerspruch zueinander treten. Gewalt könne zur (Wieder-)Herstellung von Gerechtigkeit in Anspruch genommen wer‐ den. 7 Zweitens gebe es verschiedene Gerechtigkeitsvorstellungen, die den positiven Friedensbegriff unbrauchbar machen, abgesehen davon, 1 Zum Begriff des Friedens 24 <?page no="25"?> 8 Hinzu kommt bei Müller (2003, S. 213) das semantische Argument: Unterschiedliche Begriffe - Frieden und Gerechtigkeit - sollten auch unterschiedliche Sachverhalte benennen. dass diese auch zu einer neuen Quelle von Gewalt führen können. 8 In diesem Sinne argumentiert auch Ernst-Otto Czempiel (1995, S. 167): „Da die Gerechtigkeit partikular und fraktioniert ist, ist es auch der Friedensbegriff.“ Frieden sei dann nicht das Werk der Gerechtigkeit, sondern des Gewaltverzichts. Ferner ergebe sich ein ethisches Problem aus der unzulänglichen Differenzierung direkter und struktureller Gewalt, denn während Tod und Verstümmlung irreversible Zustände sind, haben Ausbeutung und Repression zumindest hypothetisch die Chance ihrer Reversibilität (Müller 2003, S. 212f.). Schließlich sei der positive Friedensbegriff mit seiner Intention aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation empirisch überholt. Angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Lage sei der negative Frieden - die Eindämmung, Beendigung und Verhinderung von Kriegen - wich‐ tiger denn je, während der positive Frieden in dieser Situation fast schon anachronistisch erscheine (Bonacker und Imbusch 2006, S. 132). Auch werde mit dem Begriff des negativen Friedens eine qualitative Abwertung insinuiert, die sich empirisch in keiner Weise rechtfertigen lasse. So sei bereits die Abwesenheit kollektiver Gewaltanwendung ein hohes Gut und in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzen (Huber und Reuter 1990, S. 22). Diese Kritik bedeutet für die hier angeführten Vertreter aber nicht, sich im Umkehrschluss für den negativen Frieden auszusprechen; die Forderung besteht vielmehr nach einem engen Friedensbegriff. Was dieses „Mehr“ gegenüber dem negativen Friedensbegriffs ausmachen soll, lässt sich bis heute schwer exakt fassen; und auch die Übergänge - sowohl in die eine als auch in die andere Richtung - erweisen sich als fließend. Übereinstimmung unter den Befürwortern des engen 1.2 Frieden - mehr als die Abwesenheit von Krieg? 25 <?page no="26"?> 9 Dagegen lässt sich natürlich einwenden, dass auch der negative Friedens‐ begriff nicht nur den Zustand zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation ausdrücke. Nehme man ihn ernst, so Czempiel selbst, sei dieser durchaus anspruchsvoll und nicht nur als prekärer oder temporärer Frieden denkbar. 10 Diese Strategien bleiben nicht ausschließlich auf die personale Ebene beschränkt, sie reichen auch in die anderen Bereiche hinein. Friedensbegriffs scheint in der Trennung von Friedensbegriff und Friedensursachen zu liegen. Der Friedensbegriff setze dann auf die „Eliminierung des Krieges“ (Czempiel 2002, S. 84), und zwar im sub‐ stanziellen Sinne: Er fokussiere auf die Verhinderung des Krieges, einschließlich der Bereitschaft zum Krieg, und auf einen Konfliktaus‐ trag, der durch Gewaltverzicht gekennzeichnet sei. Beispielhaft hierfür sei die Definition von Ernst-Otto Czempiel: „Friede besteht in einem internationalen System dann, wenn die in ihm ablaufenden Konflikte kontinuierlich ohne die Anwendung organisier‐ ter militärischer Gewalt bearbeitet werden.“ (Czempiel 1998, S. 45) Das mache die Begriffsdefinition, so ähnlich sie zunächst der des ne‐ gativen Friedens erscheint, voraussetzungsreich. Sie unterscheide sich deutlich von einem „Friedens“-Zustand zu Zeiten der Ost-West-Konfron‐ tation; hinzu trete ihre zeitliche Dimension: Friede als dauerhafter Friede. 9 Ausgehend von einem eng, aber substanziell gefassten Friedensbe‐ griff werde dann nach den konkreten Bedingungen des Friedens ge‐ fragt. Dabei lassen sich verschiedene Zugänge ausmachen: Ansätze auf der Mikroebene zielen auf die individuellen Bedingungen gewaltfreier Konfliktaustragung und umfassen verschiedene Streitbeilegungsme‐ chanismen, Formen friedlicher Konfliktbeilegung, Konflikttransfor‐ mation oder auch konsensorientierte Konfliktlösungsstrategien. 10 Die Mesoebene fokussiert auf gesellschaftliche Friedensbedingungen. Hier spielen Theorien der Demokratisierung und Zivilisierung (Demokra‐ 1 Zum Begriff des Friedens 26 <?page no="27"?> tischer Frieden, Zivilisatorisches Hexagon etc.) eine zentrale Rolle. Auf der Makroebene werden vor allem systemische Bedingungen unter‐ sucht. Dazu zählen Ansätze, die auf eine Transformation der Struktur des internationalen Systems zielen wie beispielsweise Verrechtlichung, internationale Organisationen und Regime sowie wirtschaftliche Ko‐ operation und Freihandel. Zudem finden sich konstruktivistische Ansätze, die auf eine Veränderung von Wahrnehmungen und der Etablierung einer Friedenskultur setzen. Der Philosoph Georg Picht (1975, S. 46) vertritt dagegen die These, es gehöre zum Wesen des Friedens, dass er nicht definiert werden könne. Stattdessen fokussiert er auf die Dimensionen politischen Handelns, anhand derer der Friedenszustand realisiert werden müsse, denn - so Picht (1971, S. 33) - „[w]enn wir Frieden herstellen, definiert er sich selbst“. In diesem Kontext deckt er drei Parameter des Friedens auf, die unauflöslich miteinander zusammenhängen: Schutz gegen Gewalt, Schutz vor Not und Schutz der Freiheit. Der Politikwissenschaftler Dieter Senghaas fügt später eine vierte Dimension hinzu: Schutz vor Chauvinismus beziehungsweise positiv formuliert die Anerkennung kultureller Vielfalt (vgl. Senghaas und Senghaas-Knobloch 2017). Nach Picht (1971, S. 33) müsse jede Ordnung - innergesellschaftlich wie in‐ ternational - friedlos sein, die eine dieser Dimensionen vernachlässige. Auch wenn Picht explizit auf eine Definition des Friedens verzichtet, lässt sich unschwer erkennen, dass Frieden hier inhaltlich weiter als der negative Frieden gefasst wird. 1.3 Frieden - eine Utopie? Zeichnet der Frieden - und das ist die zweite Frage, die sich an den Friedensbegriff stellt - politische und soziale Vorstellungen einer 1.3 Frieden - eine Utopie? 27 <?page no="28"?> 11 Der eschatologische Friedensbegriff versteht sich im prophetischen Sinne. Er orientiert sich in Erwartung eines messianischen völkerum‐ spannenden Friedensreiches an dem „vorbehaltlos positiven“ Schöp‐ fungszustand (Schmid 1983, S. 605). 12 Diese Nähe zwischen christlichen und politologischem Friedensbegrif‐ fen erscheine zwar - so Czempiel (1971, S. 125) - auf den ersten Blick irritierend, zwischen ihnen bestehen aber häufig Beziehungen, teilweise sogar Isomorphien. idealen Ordnung, die auf die Zukunft gerichtet sind, in der Realität aber nicht ihren Ort haben? Die chronischen, aber auch aktuellen Kriege und gewaltsam ausgetragenen Konflikte, nicht zuletzt das Ausbleiben des prognostizierten „Endes der Geschichte“ (Fukuyama 1992) scheinen diese Annahme zu stützen. Aber auch die These vom Krieg als eine Konstante der conditio humana lässt sich, und dafür spricht die europäische Geschichte, empirisch widerlegen. Wie verhält es sich nun mit dem „unausweichlich Utopische[n] im Reden über den Frieden“ (Brock 2002, S. 110)? Betrachten wir den positiven Frieden, lässt dieser eine gewisse Nähe zum eschatologischen Friedensbegriff 11 erkennen: Frieden als das Werk der Gerechtigkeit (opus iustitiae pax). 12 Das eschatologische Moment ist der Galtung’‐ schen Definition eingeschrieben: Wenn strukturelle Gewalt zur „Stan‐ dardbeschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (Müller 2003, S. 212) wird, fällt ihr Abbau - und als Pendant dazu die Verwirklichung sozia‐ ler Gerechtigkeit - in den Bereich dessen, was als „handlungsleitende Utopie“ beschrieben werden kann (Czempiel 1971, S. 126; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S. 128). Aber auch der enge Friedensbegriff kann diese Spannung nicht völlig auflösen. Selbst Frieden im Sinne einer (dauerhaften) Abwesen‐ heit von Krieg scheint unmöglich, solange Gewaltakteure vom Krieg profitieren. Das sind heute nicht in erster Linie Staaten, sondern Akteure unterhalb dieser Ebene (die sogenannten „neuen Kriege“). Das 1 Zum Begriff des Friedens 28 <?page no="29"?> Problem dahinter scheint von grundsätzlicher Natur: Wenn Krieg - so Herfried Münkler (2009, S. 367f.) - zu einer Lebensform werde, weil diejenigen, die Gewalt anwenden, davon leben, gerate die historisch gewachsene Trennung von Krieg und Frieden in Gefahr. Einen Ausweg aus dem „unausweichlich Utopischen“ bietet Czem‐ piels Formel vom Frieden als dynamischer Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit (vgl. Schaubild 3). Czempiel nimmt die zeitliche Dimension des Friedens in den Begriff mit hinein. Frieden gilt nicht als (Ideal-)Ziel oder Zustand gesellschaftlichen und politischen Handelns, sondern wird als ein historischer Prozess der Zivilisierung von Konflikten, d. h. der Institutionalisierung dauerhafter und gewaltfreier Formen der Konfliktbearbeitung begriffen. Damit lässt sich die Realität im historischen Prozess verorten und in Relation zu diesem messen (u. a. Meyers 2011, S. 41; Müller 2003, S. 217). 1.4 Friede als Weltfriede? organisierte militärische Gewaltanwendung Gewaltandrohung, Aufrüstung, Boykotte, Sanktionen, (Kalter Krieg) machtpolitische Konkurrenz mit latenter Gewaltandrohung (Koexistenz, Rüstungskontrolle, Abschreckung) Machtpolitik mit Berücksichtigung von Interessen (Verhandlung, Entspannung, Abrüstung) Machtpolitik als wechselseitige Anpassung; Funktionslosigkeit des Militärs (Kooperation, Integration) Nicht- Frieden Frieden Phase 1 Frieden Phase 2 Frieden Phase 3 Frieden Phase 4 Krieg Frieden abnehmende Gewalt, zunehmende Gerechtigkeit Schaubild 3: Phasenmodell des Friedens nach Ernst-Otto Czempiel (1998, S. 65) 1.3 Frieden - eine Utopie? 29 <?page no="30"?> 1.4 Friede als Weltfriede? Zunehmende Interdependenz und Globalisierung, unter anderem be‐ dingt durch technische Innovationen, politische Entscheidungspro‐ zesse und Maßnahmen zur Liberalisierung des Welthandels, prägen das internationale System. Auch die äußeren Beziehungen von Staa‐ ten werden immer enger miteinander verknüpft; ebenso steigt die Zahl der weltpolitischen Akteure dramatisch an. Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich eine dritte Frage an den Friedensbegriff, die der räumlichen Dimension und geografischen Reichweite, oder anders formuliert: Ist Frieden teilbar oder nur als Weltfriede vorstellbar? Prominent für die Sichtweisen zu Zeiten des Ost-West-Konflikts ist die Rede von Carl Friedrich von Weizsäcker anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 1963. Seine dort formulierte erste These lautet: „Der Weltfriede ist notwendig. Man darf fast sagen: der Weltfriede ist unvermeidlich. Er ist Lebensbedingung des technischen Zeitalters. Soweit unsere menschliche Voraussicht reicht, werden wir sagen müs‐ sen: Wir werden in einem Zustand leben, der den Namen Weltfriede verdient, oder wir werden nicht leben.“ Zentraler Bezugspunkt dieser These ist der wissenschaftlich-techni‐ sche Fortschritt und die stetige Entwicklung der Waffentechnik, insbe‐ sondere die Existenz von Atomwaffen einschließlich ihres möglichen Gebrauchs. Angesichts dieser Gefahr werde der Frieden zwingend und der Weltfriede zur „Lebensbedingung des technischen Zeitalters“; denn die Alternative zum Frieden sei im Atomzeitalter nicht mehr der Krieg, sondern der „biologische Untergang der Menschheit“ (Picht 1971, S. 24). Trifft diese Situationsbeschreibung aber auch auf die heutige weltpolitische Lage zu? Zwei Grundkonstanten haben sich 1 Zum Begriff des Friedens 30 <?page no="31"?> 13 Letztlich muss aber auch hier kritisch hinterfragt werden, inwieweit die Gefahr eines Atomkrieges - gerade angesichts der zunehmenden Proliferation atomarer Waffen, speziell wenn diese in Besitz von failing states oder nichtstaatlichen Akteuren geraten - wirklich gebannt ist. Zudem können bis heute Militärstrategien, die die Option eines nuklea‐ ren Erstschlages beinhalten, nicht völlig ausgeschlossen werden. radikal verändert: Zum einen gehört die „organisierte Friedlosigkeit“ des Ost-West-Konflikts mit der nuklearen Abschreckungspolitik der Vergangenheit an. 13 Zum anderen sind mit dem Ende des Kalten Krieges aber auch neue Konflikte aufgebrochen, insbesondere sind Kriege - auch in Europa - wieder führbar geworden. Ist damit der Weltfriede noch zwingend? Die Friedensforschung ist in dieser Frage gespalten. Für viele Vertreterinnen und Vertreter des weiten beziehungsweise positiven Friedensbegriffs ist Frieden unteilbar. Interdependenz und Globalisie‐ rung machen es unmöglich, Frieden räumlich zu begrenzen. So sei ein regionaler Friede ein Widerspruch in sich und nur der Weltfriede ein stabiler Frieden (Schwerdtfeger 2001, S. 204; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S. 131). Dieser Aspekt schwingt auch bei Weizsä‐ ckers Rede mit, wenn er von einer „allmählichen Verwandlung der bisherigen Außenpolitik in Welt-Innenpolitik“ spricht und damit den Übergang zu einer Weltgesellschaft im Blick hat. Dagegen halten Friedensforscher wie Harald Müller (2003, S. 216) einen regionalen Frieden für durchaus möglich. Müller bedient sich zum einen des semantischen Arguments: Wenn Frieden nur als Welt‐ frieden denkbar sei, warum unterscheide man dann beide Begriffe? Zum anderen sei es trotz globaler Interdependenzen nicht zwingend, dass beispielsweise Gewaltkonflikte in Sierra Leone Einfluss auf den Frieden in Skandinavien haben. Ebenso könne man einen Frieden zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union konstatieren, 1.4 Friede als Weltfriede? 31 <?page no="32"?> auch wenn bestimmte Regionen wie Nordirland oder das Baskenland davon ausgenommen seien oder in vielen EU-Ländern auch innerge‐ sellschaftliche Gewalt (zum Beispiel gegenüber Immigrantinnen und Immigranten) existiere. Notwendig sei es aber, die Akteure präzise zu benennen, denn Friede herrsche immer „zwischen bestimmten sozialen und politischen Kollektiven“ (Müller 2003, S. 216). Mit Rückgriff auf Lothar Brock (2002, S. 106) schlägt Müller vor, als Weltfriede „die Gesamtzahl der Räume, in denen Menschen friedlich zusammenleben“ zu bezeichnen. Damit verbleibe der Weltfriede nicht nur auf der inter‐ nationalen Ebene, sondern schließe auch die innergesellschaftliche Dimension mit ein. 1.5 Fazit Was kann nun als angemessener Friedensbegriff in der Friedensfor‐ schung gelten? Einfache Antworten auf diese Frage wird es ange‐ sichts der bestehenden Kontroversen nicht geben können. Der enge Friedensbegriff scheint durch seine inhaltliche Fokussierung auf die Eliminierung des Krieges und seine klare Abgrenzung zu Bereichen wie Entwicklung und Gerechtigkeit, die als Friedensbedingungen fun‐ gieren, methodisch-theoretisch wie handlungspolitisch praktikabel. Diese Stärke ist zugleich aber auch seine Schwäche, steht der enge Friedensbegriff doch in der Gefahr, das Wesen des Friedens zu verkür‐ zen. Dagegen ermöglicht der positive Friedensbegriff ein umfassendes Verständnis von Frieden einschließlich einer Friedenspolitik, die auf die Überwindung struktureller Gewalt abzielt, steht aber in der Kritik, so umfassend zu sein, dass er sich einer Operationalisierung entziehe. Statt einer Dichotomisierung sollten die verschiedenen Begriffe und Friedensansätze stärker zueinander in Beziehung gesetzt werden. Hier‐ 1 Zum Begriff des Friedens 32 <?page no="33"?> bei kann sich das Verständnis von Frieden als Prozess, insbesondere das Phasenmodell des Friedens von Ernst-Otto Czempiel mit seinen Ab‐ stufungen als hilfreich erweisen. Aber auch das Bild eines Friedens in konzentrischen Kreisen kann die verschiedenen Erwartungen an den Friedensbegriff miteinander verbinden: mit der Abwesenheit direkter Gewalt beziehungsweise der Eliminierung des Krieges als innersten Kreis und Kern des Friedensbegriffs und der Abwesenheit struktureller sowie kultureller Gewalt als weitere, nicht zu vernachlässigende, wenn auch fernerstehende Friedensinhalte. Weiterführende Literatur: Czempiel, Ernst-Otto. 1998. Friedensstrategien. Eine systematische Dar‐ stellung außenpolitischer Theorien von Machiavelli bis Madariaga. 2. akt. u. überarb. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag. Der Autor diskutiert sehr facettenreich den Friedensbegriff und Friedensstra‐ tegien. Zentral ist seine Darstellung des Friedens als Prozess. Galtung, Johan. 1975. Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Dieses Buch gilt als ein Klassiker der Friedensforschung, in dem Johan Galtung seinen zentralen Ansatz der strukturellen Gewalt darstellt. Sahm, Astrid, Manfred Sapper und Volker Weichsel (Hrsg.). 2002. Die Zukunft des Friedens. Eine Bilanz der Friedens- und Konfliktfor‐ schung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Ein Sammelband, der prominente Autorinnen und Autoren versammelt und die neueren Debatten in der Friedensforschung (zum Begriff, aber auch zu seinen Akteuren und Strategien) aufgreift und bilanziert. 1.5 Fazit 33 <?page no="35"?> 2 Frieden und Sicherheit „Frieden ist gut - Sicherheit ist besser? “ - Mit dieser rhetorischen Frage macht der Friedensforscher Johannes Schwerdtfeger (1991, S. 21) auf die Verdrängung des Friedensbegriffs durch den Sicherheitsbegriff aufmerksam und unterstreicht mit Dietrich Bonhoeffer: „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit! “. Diese Entwicklung beklagt auch der Politikwissenschaftler Christopher Daase (2010b, S. 9): „Sicherheit ist der zentrale Wertbegriff unserer Gesellschaft. Das war nicht immer so. Noch vor wenigen Jahren konkurrierten die Begriffe ‚Sicherheit‘ und ‚Frieden‘ um den Vorrang in Strategiedebatten und Parteiprogrammen. Heute ist ‚Sicherheit‘ der Goldstandard nationaler und internationaler Politik, und vom Frieden wird fast nur noch in politischen Sonntagsreden gesprochen.“ Was steht hinter diesem Wechsel der Termini? Lassen sich Frieden und Sicherheit synonym verwenden? Sind sie wechselseitig aufeinander bezogen im Sinne von „ohne Frieden keine Sicherheit und ohne Sicher‐ heit kein Frieden“? Oder macht es einen erkennbaren Unterschied, von Frieden beziehungsweise von Sicherheit zu sprechen und können Frieden und Sicherheit vielleicht sogar in Widerspruch zueinander geraten? <?page no="36"?> 2.1 Was heißt Sicherheit? Die etymologische Wurzel des Wortes Sicherheit (se cura, lateinisch) steht für „ohne Sorge sein“. In diesem Sinne lässt sich Sicherheit als die Abwesenheit von Bedrohungen definieren. Diese Bestimmung verweist auf die subjektive Dimension des Begriffs, abhängig von persönlichem Empfinden, historischen Erfahrungen oder Einflüssen der Umwelt (vgl. auch im Folgenden Gießmann 2011; Nielebock 2016; Jaberg 2017a). Später kommt mit dem lateinischen tutus im Sinne von Sicherheit als Schutz eine objektive Dimension hinzu. Diese inhaltliche Erweiterung ist untrennbar mit der Entstehung der Nationalstaaten (mit dem Westfälischen Frieden von 1648) verbunden. Wirkmächtig wurden in diesem Kontext insbesondere die Ausführungen von Thomas Hobbes im Leviathan (1651). In seinem dort entwickelten Gesellschaftsvertrag wurde Sicherheit zum „Zentralbegriff des Staatszwecks“ (Conze 1984, S. 845). Danach unterwerfen sich die Bürger und Bürgerinnen freiwillig dem Staat; im Gegenzug dafür garantiert er ihnen Sicherheit. Mit der Westfälischen Ordnung und der Konstituierung der moder‐ nen Nationalstaaten kommt es zugleich zu einer Ausdifferenzierung der Staatsaufgabe Sicherheit, die auch schon in Hobbes’ Leviathan angelegt ist: Zum einen hat der Staat seine Bürgerinnen und Bürger vor Angriffen Dritter zu schützen (äußere Sicherheit, vorrangig ver‐ standen als militärische Sicherheit); zum anderen hat er Gefahren für die öffentliche Sicherheit und innerstaatliche Ordnung abzuwehren (innere Sicherheit). 2 Frieden und Sicherheit 36 <?page no="37"?> Sicherheit als Staatszweck in Thomas Hobbes’ Leviathan (1651): „Der alleinige Weg zur Errichtung einer […] allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, daß sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können“ (Hobbes 1984 [1651], S. 134). „Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes. […] Mit ‚Sicherheit’ ist hier aber nicht die bloße Erhaltung des Lebens gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt“ (Hobbes 1984 [1651], S. 255). Mit den Globalisierungsdebatten der 1970er Jahre und verstärkt mit dem Ende des Kalten Krieges sowie den jüngsten Entwicklungen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sind Diskurse um Erweiterungen eines Sicherheitsbegriffs erkennbar, der sich nicht mehr nur auf die staatliche Sphäre und „die äußere und innere Funktionsfähigkeit von Staaten“ (Gießmann 2011, S. 548) beschränkt, sondern zunehmend auch die gesellschaftliche und individuelle Ebene einbezieht. Als ein Meilenstein dieser Entwicklung kann dabei - 2.1 Was heißt Sicherheit? 37 <?page no="38"?> ausgehend von dem Reaktorunglück in Tschernobyl - der Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, der sogenannte Brundtland-Bericht, gelten. Aus dem Bericht der Brundtland-Kommission (1987): „Konflikte können nicht nur aus politischen und militärischen Bedrohungen der nationalen Souveränität entstehen, sie können ebenso gut ausbrechen infolge von Umweltzerstörungen und des Verspielens von Entwicklungsmöglichkeiten.“ (Kap. 11.37) „Eine solche Neubestimmung könnte erreicht werden, wenn man sich generell auf eine umfassendere Definition von Sicher‐ heit verständigen könnte und wenn militärische, politische, um‐ weltbedingte und andere Konfliktquellen einbezogen würden.“ (Kap. 11.44) Daase (2010a, b) unterscheidet vier Dimensionen der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs (vgl. Schaubild 4): ▸ inhaltlich: von der militärischen zur wirtschaftlichen und ökolo‐ gischen, mittlerweile auch zur humanitären Sicherheit; ▸ von seinem Referenzrahmen her: von der nationalen zur menschlichen Sicherheit; ▸ geografisch: von der territorialen zur globalen Sicherheit sowie ▸ bezüglich der Gefahrendimension: von der Bedrohungsabwehr zur Risikovorsorge. 2 Frieden und Sicherheit 38 <?page no="39"?> 21 Daase (2010a, b) unterscheidet vier Dimensionen der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs (vgl. Schaubild 4):  inhaltlich: von der militärischen zur wirtschaftlichen und ökologischen, mittlerweile auch zur humanitären Sicherheit;  von seinem Referenzrahmen her: von der nationalen zur menschlichen Sicherheit;  geografisch: von der territorialen zur globalen Sicherheit sowie  bezüglich der Gefahrendimension: von der Bedrohungsabwehr zur Risikovorsorge. Schaubild 4: Dimensionen des erweiterten Sicherheitsbegriffs (Daase 2010a, S. 3) Die inhaltliche beziehungsweise Sachdimension definiert die Problembereiche, in denen Sicherheitsgefahren festgestellt werden. Dabei wird Sicherheit traditionell militärisch verstan- Referenzdimension Sachdimension Gefahrendimension ökonomisch ökologisch humanitär international Risiko Individuum regional Verwundbarkeit Gesellschaft Staat Bedrohung militärisch national Raumdimension global Schaubild 4: Dimensionen des erweiterten Sicherheitsbegriffs nach Christopher Daase (2010a, S. 3) Die inhaltliche beziehungsweise Sachdimension definiert die Problem‐ bereiche, in denen Sicherheitsgefahren festgestellt werden. Dabei wird Sicherheit traditionell militärisch verstanden. Das traf insbesondere für die ersten Jahrzehnte der bipolaren Konstellation des Kalten Krie‐ ges zu, verbunden mit einem riesigen Nuklearwaffenpotenzial sich gegenüberstehender Großmächte. Erst mit der Entspannungspolitik der 1970er Jahre wurden auch Herausforderungen neuer Art wahrge‐ 2.1 Was heißt Sicherheit? 39 <?page no="40"?> nommen. Dazu zählten insbesondere die Ölkrisen 1973 und 1979. Seit dieser Zeit gilt Sicherheit nicht mehr nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich als Zugang zu wichtigen strategischen Ressourcen. In den 1980er Jahren, ausgelöst durch das Reaktorunglück in Tscherno‐ byl, erweiterte sich der Sicherheitsbegriff erneut. Bedrohungen werden nunmehr auch ökologisch gefasst. So wird auch der Klimawandel zunehmend unter dem Sicherheitsaspekt verhandelt. Mit den jüngsten Debatten um den Menschenrechtsschutz und die Responsibility to Pro‐ tect erfährt der Sicherheitsbegriff eine weitere inhaltliche Ausdehnung um den Faktor der humanitären Sicherheit. Die zweite Dimension bezieht sich auf das Referenzobjekt und damit auf die Frage, wessen Sicherheit gewährleistet werden soll. Aus der Perspektive des politischen (Neo-)Realismus, wie sie dem Leviathan zugrunde liegt, bedeutet Sicherheit die Sicherheit des Staates vor äußeren Feinden (nationale Sicherheit). Im Fokus steht hier die Auf‐ rechterhaltung der staatlichen Souveränität. Liberale Vertreterinnen und Vertreter betonen zudem die Gesellschaft als Referenzobjekt. So heißt es bei Wilhelm von Humboldt: „Diejenigen, deren Sicherheit erhalten werden muss, sind auf der einen Seite alle Bürger in völliger Gleichheit, auf der anderen Seite der Staat selbst“ (zit. nach Daase 2010a, S. 10). Zu einem Perspektivenwechsel kommt es mit dem Kon‐ zept der menschlichen Sicherheit (human security). Hier steht nicht mehr der Staat oder die Gesellschaft als Gesamtheit, sondern das Individuum im Fokus der Betrachtung. Dieser Ansatz steht im Kontext kosmopolitischer Einflüsse, die dem Individuum und seinen Rechten Vorrang vor Gruppen- und Staatenrechten einräumen. Dabei verfolgt menschliche Sicherheit das Ziel, die Menschen vor direkten und gravierenden Bedrohungen zu schützen und sie zu befähigen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen (vgl. Commission on Human Security 2003). Das umfasst dann auch „neue Gefahren für die Sicherheit“ 2 Frieden und Sicherheit 40 <?page no="41"?> wie „Kriminalität, soziale Not, Krankheit, Armut, Arbeitslosigkeit, Migration, illegaler Drogen- und Waffenhandel“ (Daase 2010b, S. 10). Der Bericht der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen spricht von sieben Dimensionen menschlicher Sicherheit: von der wirtschaftlichen Sicherheit, der Ernährungssicherheit, der gesundheit‐ lichen Sicherheit, der Umweltsicherheit, der persönlichen Sicherheit, der Sicherheit der Gemeinschaft sowie der politischen Sicherheit (vgl. UNDP 1994, S. 24f.). Die dritte Dimension beinhaltet die Raumdimension und die Frage, für welches geografische Gebiet Sicherheit angestrebt wird. Im tradi‐ tionellen Verständnis wird mit Sicherheit die Sicherheit des nationalen Territoriums eines Staates gefasst. Dieser staatszentrierte Zugang steht in einem engen Kontext mit realistischen und neorealistischen Theorieansätzen der Internationalen Beziehungen (vgl. Waltz 1979). Regionale Sicherheitsgemeinschaften wie beispielsweise die NATO beziehen Verbündete in das Sicherheitsstreben mit ein; das Territo‐ rialprinzip wird regional, in der Regel auf der Basis eines gemeinsa‐ men Wertefundaments, ausgedehnt - am Beispiel der NATO auf den euro-atlantischen Raum. Eine nochmalige Erweiterung erfolgt mit der internationalen Sicherheit. Dieser sicherheitspolitische Ansatz zielt auf staatliche Koexistenz und zwischenstaatliche Stabilität. Dahinter steht eine institutionalistische Perspektive (vgl. Keohane 1989), verbunden mit der Annahme, dass auch unter Bedingungen der Anarchie des internationalen Staatensystems Kooperationen im gegenseitigen Inter‐ esse möglich sind. Ein klassisches Beispiel stellen hier Rüstungskon‐ troll- und Abrüstungsverhandlungen dar. Noch weitreichender greift das Konzept der globalen Sicherheit. Es basiert auf kosmopolitischen Ansätzen und steht in einem engen Kontext mit der menschlichen Sicherheit. Globale Sicherheit geht von einer poststaatlichen Konstel‐ 2.1 Was heißt Sicherheit? 41 <?page no="42"?> lation aus mit der „Menschheit als Ganzes und [der] Aussicht auf eine globale Weltgesellschaft freier Individuen“ (Daase 2010b, S. 13). Die vierte Dimension schließlich erfasst die Gefahrendimension. Mit ihr verbindet sich die Art und Weise, wie Gefahren verstanden und Unsicherheiten konzeptualisiert werden: Das kann auf verschiedenen Wegen erfolgen: „als Abwehr von Bedrohungen, als Verringerung von Verwundbarkeit und als Reduzierung von Risiken“ (Daase 2010a, S. 15). Traditionell (wie beispielsweise zu Zeiten des Ost-West-Konflikts) steht Sicherheit für die Abwehr von Bedrohungen. Diese beziehen sich auf territorial begrenzte Räume und setzen „die Existenz eines gegnerischen Akteurs, eine feindliche Intention und ein militärisches Potenzial“ (Daase 2010a, S. 15) voraus. In Zeiten wachsender ökonomi‐ scher und ökologischer Interdependenzen innerhalb der internationa‐ len Staatenwelt lassen sich Gefahren nicht mehr allein durch feindliche Akteure und ihre militärischen Potenziale ausmachen, sondern auch durch „Verwundbarkeiten“ durch externe Effekte im Sinne von Abhän‐ gigkeitsverhältnissen, die eigene Handlungsoptionen einschränken. Seit dem Ende des Kalten Krieges wird zunehmend von Risiken gesprochen. Dazu zählen in erster Linie der transnationale Terroris‐ mus, aber auch die nukleare Proliferation, organisierte Kriminalität oder Migration. Diese Verschiebung von der Bedrohungsabwehr zur Risikovorsorge bedeutet zugleich, Unsicherheiten auf Ungewissheiten auszuweiten. Eine Sicherheitspolitik, die durch Risiken bestimmt wird, „kann nicht länger reaktiv sein, wie im Falle von Bedrohungen, son‐ dern sie muss proaktiv werden und den Risiken ‚begegnen‘“ (Daase 2010a, S. 17). Mit diesen Erweiterungen des Sicherheitsbegriffs gehen zugleich Gefahren einher. Das Streben nach Sicherheit gilt neben Herrschaft und wirtschaftlicher Wohlfahrt als elementare Staatsaufgabe (vgl. Czempiel 2004, S. 8), begründet es nach Thomas Hobbes überhaupt 2 Frieden und Sicherheit 42 <?page no="43"?> 14 Ein klassisches Beispiel stellt die Migration dar: Wurde sie in den 1950er und 1960er Jahren noch als erwünschte ökonomische Maßnahme interpretiert, verbunden mit i. d. R. positiven Konnotationen, gilt diese seit den 1980er Jahren zunehmend als Problemanzeige, gefasst als Be‐ drohung sozialer Identität und Wohlfahrtsstaatlichkeit. erst die Existenz des Staates. Wenn aber Sicherheit „zum Maßstab politischen und gesellschaftlichen Handelns“ erhoben wird, liegt in der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs die Gefahr, „sämtliche sozialen und politischen Beziehungen als Abwehr von mutmaßlichen Bedro‐ hungen zu verstehen“ (Gießmann 2011, S. 543). Dieses Phänomen wird unter dem Schlagwort der „Versicherheitlichung“ (securitization) verhandelt. Dafür steht die in den 1990er Jahren von Barry Buzan, Ole Waever und Jaap de Wilde entwickelte und stark im Konstruktivismus verankerte Kopenhagener Schule (vgl. Buzan et al. 1998). Sie setzt bei der subjektiven Dimension von Sicherheit an. Danach konstruieren Sprechakte, konkret die Benennung von Problemen als Sicherheitspro‐ bleme, einen Ausnahmezustand, der außerordentliche Maßnahmen rechtfertigt und bestehende Entscheidungswege außer Kraft setzen kann. 14 2.2 Friedensversus Sicherheitslogik Die Begriffe Frieden und Sicherheit lassen Parallelen, aber auch Di‐ vergenzen erkennen. Einerseits zeigt der erweiterte Sicherheitsbegriff - wie am Beispiel menschlicher Sicherheit - „eine große Nähe zu den von Picht eingeführten Konstitutionsbedingungen des Friedens“ (Nielebock 2016, S. 9) auf. Die Kriterien menschlicher Sicherheit nach dem Bericht der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNDP 1994, S. 3) als freedom from fear (Freiheit von Furcht) und 2.2 Friedensversus Sicherheitslogik 43 <?page no="44"?> freedom from want (Freiheit von Not) korrespondieren offensichtlich mit den Picht’schen Parametern des Friedens (Schutz gegen Gewalt, Schutz vor Not und Schutz der Freiheit). Andererseits erweisen sich Frieden und Sicherheit aber auch als „differente Kategorien“ ( Jaberg 2017a, S. 43) und „nicht […] auf gleicher Ebene verrechenbare Größen“ (Daase und Moltmann 1991, S. 45). Beide Begriffe implizieren unter‐ schiedliche Logiken. Dahinter stehen eigene Formen beziehungsweise Grammatiken, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben und das Denken und Handeln innerhalb der jeweiligen Kategorien prägen (vgl. Jaberg 2017b, S. 170). Nach der Friedensforscherin Sabine Jaberg (2017a, S. 46) zeigen sich in der Auseinandersetzung mit den Begriffen Frieden und Sicherheit zwei kategoriale Differenzen: Während erstens Frieden nur gemeinsam mit anderen Akteuren verwirklicht werden könne und in diesem Sinne einen sozialen Begriff darstelle, müsse Sicherheit - insbesondere in ihrem traditionellen Verständnis als Sicherheit vor oder gegen andere - als „asozialer Begriff “ gefasst werden, der vom einzelnen Akteur her denke. So komme im Kontext von Sicherheit dem Anderen keine eigene Wertigkeit zu, diese ergebe sich vielmehr aus der Relevanz für das eigene Sicherheitsstreben. Zweitens setze Frieden - zielt dieser Begriff auf Gewaltfreiheit - den Akteuren Grenzen. Das „wechselseitige An‐ erkennungsverhältnis“ fordere von ihnen als innere Haltung „Liebe“, „Güte“ und die „Einsicht in die prinzipielle Untauglichkeit gewaltsamer Mittel“ sowie im konkreten Handeln „den Abbau gewaltgenerierender Strukturen und den Aufbau friedlicher Bearbeitungskapazitäten“. Eine Sicherheitslogik weise „diesbezüglich keine immanenten Schranken“ auf. Im Gegenteil, sie tendiere zur Grenzenlosigkeit bezüglich (a) der Wahl der Mittel, denn auch Krieg werde unter Umständen als legitim erachtet; (b) des Zeitrahmens, der gegebenenfalls ein präemptives oder gar präventives Agieren gerechtfertigt erscheinen lasse; (c) der 2 Frieden und Sicherheit 44 <?page no="45"?> Reichweite, wonach prinzipiell jedes Politikfeld als sicherheitsrelevant betrachtet werden könne (Versicherheitlichung) sowie (d) der Reaktion der Exekutive, von der Dramatisierung der Lage bis hin zu einer Eskalation im Handeln (vgl. Jaberg 2014). Auch die Friedensforscherin Hanne-Margret Birckenbach (2014) diffe‐ renziert zwischen einer Friedens- und Sicherheitslogik. In ihren Aus‐ führungen fokussiert sie auf fünf zentrale Prinzipien friedenslogischen Denkens und Handelns: ▸ das Prinzip der Gewaltprävention (mit der Zielsetzung, „voraus‐ schauend deeskalierend tätig“ zu sein); ▸ das Prinzip der Konflikttransformation (basierend auf dem Ver‐ ständnis, dass Gewalt nicht außerhalb, sondern zwischen Kon‐ fliktparteien entsteht, und auch der eigene Anteil an Gewalt reflektiert werden muss); ▸ das Prinzip der Dialog- und Prozessorientierung (mit dem Ziel, in einer zunehmend interdependenten Welt „Gelegenheiten für einen verstärkten Austausch von und mit möglichst vielen poli‐ tischen und gesellschaftlichen Kräften [zu suchen]“); ▸ das Prinzip der Einhaltung universaler Normen (um „an ihnen die Legitimität der eigenen Interessen und Handlungsweisen sowie die zur Problembearbeitung eingesetzten ideologischen, militärischen, ökonomischen und politischen Machtquellen [zu prüfen]“) sowie ▸ das Prinzip der Reflexivität (wonach das Eingestehen des eige‐ nen Scheiterns nicht wie beim sicherheitslogischen Denken als Schwäche gilt, sondern als „eine Fähigkeit, die zu verbesserten Resultaten führen kann“). 2.2 Friedensversus Sicherheitslogik 45 <?page no="46"?> 2.3 Fazit Bei Frieden und Sicherheit handelt es sich - das haben die obigen Ausführungen aufzeigen können - um durchaus differente Begriffe. Insbesondere verweisen sie auf unterschiedlich eingenommene Per‐ spektiven. Dabei lässt sich die Debatte um eine Friedens- und Sicher‐ heitslogik auf einen zentralen Punkt bringen: „[D]ie Sicherheitslogik mit ihrer auf Abgrenzung zielenden Orientierung befördert Sicherheit gegen einen anderen, die Friedenslogik weist dem Gegenüber dagegen eine zentrale Rolle als mitverantwortlichem Partner für die Qualität der Beziehung zu“ (Nielebock 2016, S. 10). Was folgt nun aber aus dieser begrifflichen Differenz von Frieden und Sicherheit? Hanne-Margret Birckenbach (2012, S. 42; Hervorh. d. Verf.) spricht von einer „Friedenslogik statt Sicherheitslogik“ und räumt damit dem Frieden den sachlichen Vorrang ein. Und auch für Sabine Jaberg (2017a, S. 43) „gebührt aus ethischer Perspektive dem Frieden der Vorzug“. Beide Friedensforscherinnen setzen auf einen Perspek‐ tivenwechsel und die konsequente Einlösung einer Friedenspolitik. Dagegen plädieren Christopher Daase und Bernhard Moltmann (1991, S. 35) für ein „integriertes Verständnis von Friedens- und Sicherheits‐ politik“: „Auch wenn dem Frieden der sachliche Vorrang einzuräumen ist, muß die Sicherheitspolitik auf ihrem temporären Vorrang bestehen, denn Friedenspolitik ohne den realistischen Blick auf die internationale Lage wird am nationalen und innergesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnis 2 Frieden und Sicherheit 46 <?page no="47"?> scheitern. Sicherheitspolitik aber ohne das Korrektiv des Friedens ist nicht friedensfähig.“ Beide Auffassungen müssen nicht in Widerspruch zueinander treten, lässt sich ein integratives Verständnis von Frieden und Sicherheit durch eine Konvergenz beider Begriffe erreichen (vgl. Jaberg 2017a, S. 47ff.), auch wenn diese nicht völlig zur Deckung gebracht werden können. Konzepte wie beispielsweise die auf die Palme-Kommission von 1982 zurückgehende Gemeinsame Sicherheit verweisen - und das zeigt sich bereits am Begriff der Gemeinsamen Sicherheit selbst - auf Möglichkeiten einer friedensfähigen Sicherheitspolitik. Ein solches Konzept ist voraussetzungsreich und zielt, verbunden mit der An‐ nahme, dass Sicherheit nicht voreinander, nur miteinander zu suchen ist, auf eine konsequente Abkehr jeglicher Abschreckungspolitik (vgl. Kapitel 11.4; auch Werkner 2019a). Weiterführende Literatur: Gießmann, Hans J. 2011. Frieden und Sicherheit. In Handbuch Frieden, hrsg. von Hans J. Gießmann und Bernhard Rinke, 541-556. Wiesba‐ den: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dieser Beitrag gibt einen guten Überblick über die begrifflichen Parallelen und Divergenzen der beiden Begriffe Frieden und Sicherheit. Jaberg, Sabine. 2017. Frieden und Sicherheit. In Handbuch Friedens‐ ethik, hrsg. von Ines-Jacqueline Werkner und Klaus Ebeling, 43-53. Wiesbaden: Springer VS. Ausgehend von der Definition von Frie‐ den und Sicherheit verhandelt die Autorin beide Begriffe als diffe‐ rente Kategorien und diskutiert Möglichkeiten einer kategorialen Konvergenz. Nielebock, Thomas. 2016. Frieden und Sicherheit - Ziele und Mit‐ tel der Politikgestaltung. Deutschland & Europa: Zeitschrift für 2.3 Fazit 47 <?page no="48"?> Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft (71): 6-17. Hierbei handelt es sich um einen gut zugänglichen Beitrag zur friedens‐ wissenschaftlichen Debatte beider Begriffe. 2 Frieden und Sicherheit 48 <?page no="49"?> 3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis Der Diskussion um den Begriff des Friedens und der ihm eingeschrie‐ benen Logiken schließt sich eine weitere Frage im Rahmen dieses Lehr‐ buchs unmittelbar an: Was heißt Friedensforschung? - oder anders gefragt: Was tun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wenn sie sich dem Untersuchungsgegenstand Frieden zuwenden? Diese Frage wird in gleicher Weise divers diskutiert wie der Frie‐ densbegriff selbst. In den Anfangsjahren der Institutionalisierung wurde der Friedensforschung teilweise sogar ihr Status als Wissen‐ schaft abgesprochen. Diesem Einwand lag „ein positivistisches Ver‐ ständnis von objektiver Wissenschaft“ zugrunde, „vor dem sich Frie‐ densforschung in der Tat nicht rechtfertigen“ ließ. So stellt der Frieden „kein gegebenes Objekt“, sondern „eine konkrete Utopie“ dar. Friedens‐ forschung heißt demnach, über „Bedingungen dieser Utopie“, das heißt über ein „noch nicht realisierte[s] Ziel“ zu forschen (Huber 1971, S. 45). Folgend soll exemplarisch auf drei Definitionen verwiesen werden, die - zu sehr unterschiedlichen Zeiten entstanden - eine relative Stabilität dessen anzeigen, was unter Friedensforschung zu verstehen ist (vgl. Bonacker 2011, S. 68): In den Empfehlungen der Struktur- und Findungskommission zur Friedensforschung vom Januar 2000, einer interdisziplinär und breit aufgestellten Arbeitsgruppe von Friedensforscherinnen und -for‐ schern, eingesetzt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Vorbereitung zur Gründung der Deutschen Stiftung Friedensfor‐ schung, heißt es dazu: <?page no="50"?> „[Die Friedens- und Konfliktforschung] befasst sich erstens mit der Frage, welche Faktoren dazu beitragen, dass aus Konflikten gefährli‐ che Konflikte werden und welche Möglichkeit zu ihrer Einhegung bestehen. […] Die Friedens- und Konfliktforschung richtet zweitens ihre Aufmerksamkeit auf die Voraussetzungen und Bedingungen eines andauernden - aus Sicht der Beteiligten: gelungenen - Friedens“ (Struk‐ tur- und Findungskommission zur Friedensforschung 2000, S. 259). In den jüngsten Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Weiterent‐ wicklung der Friedens- und Konfliktforschung vom Juli 2019 findet sich folgende Definition: „Die Friedens- und Konfliktforschung befasst sich insbesondere mit Ursachen, Formen, Dynamiken und Folgen von Konflikten und Gewalt sowie mit Möglichkeiten der Prävention, Einhegung oder Beilegung von Konflikten und der dauerhaften Stabilisierung von Frieden.“ (Wis‐ senschaftsrat 2019, S. 13) Ähnlich formulierte er es bereits fünfzig Jahre zuvor. Friedensfor‐ schung soll - so der Wissenschaftsrat der Bundesregierung im Mai 1970 - „die Probleme erforschen, die den Frieden in der Welt bedrohen, und die Bedingungen für die Erhaltung bzw. Schaffung des Friedens ermitteln“ (zit. nach DGFK 1983, S. 14). Damit kristallisieren sich für Friedensforscher und -forscherinnen zwei zentrale Tätigkeitsbereiche heraus: die Analyse von Konflikten und deren Ursachen (vgl. Part II dieses Lehrbuchs) sowie die Erarbei‐ tung von Friedensstrategien zu ihrer Einhegung (vgl. Part III dieses Lehrbuchs). Diese beiden hier exemplarisch aufgeführten Definitionen zeigen den engen Zusammenhang von Frieden und Konflikt auf. Nach Harald Müller (2012, S. 158, 155) sind sie „ein siamesischer Zwilling“, bei dem man „über den einen nicht sprechen [kann], ohne den anderen mitzuführen“. Das erklärt zugleich die in der Literatur 3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis 50 <?page no="51"?> häufig synonyme Verwendung der Termini „Friedensforschung“ und „Friedens- und Konfliktforschung“. Weitaus kontroverser als die Beschreibung dessen, was Friedens‐ forschung inhaltlich umfasst, ist ihr Selbstverständnis (vgl. Bonacker 2011, S. 68). Das beinhaltet vor allem drei Aspekte: Fragen der Norma‐ tivität, der Praxisorientierung und der disziplinären Verortung der Friedensforschung. 3.1 Zur Normativität der Friedensforschung Debatten um die Normativität der Friedensforschung stehen sympto‐ matisch für die Auseinandersetzung mit der sogenannten „kritischen Friedensforschung“. Diese Strömung ist in den 1970er Jahren in Ab‐ grenzung zur traditionellen Friedensforschung entstanden und steht in einem engen Zusammenhang mit Johan Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt und des positiven Friedens (vgl. u. a. Senghaas 1971a). Während Vertreterinnen und Vertreter der traditionellen Frie‐ densforschung ausgehend von einem negativen Friedensbegriff und einem realistischen Paradigma wesentlich auf Konfliktmanagement setzten (um Gefahren - beispielsweise des Abschreckungssystems - zu reduzieren), ging es den Protagonistinnen und Protagonisten der kritischen Friedensforschung um dahinterliegende strukturelle Ursa‐ chen und damit um eine umfassendere, vor allem auch herrschafts‐ kritische Perspektive. Sie sahen vor allem in der Herrschaftsform eine zentrale Konfliktursache und ein Instrument zur Unterdrückung von Konflikten. So warfen sie der traditionellen Friedensforschung 3.1 Zur Normativität der Friedensforschung 51 <?page no="52"?> 15 Zur Auseinandersetzung zwischen traditioneller und kritischer Frie‐ densforschung vgl. u. a. Koppe (2006, S. 58ff.), Schlotter und Wisotzki (2011b, S. 19f.), Bonacker (2011, S. 54f.) sowie Graf und Wintersteiner (2016, S. 69f.). 16 Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor. auch vor, Friedensforschung lediglich als „Befriedungsforschung“ zu verstehen. 15 Mit dieser Phase verbindet sich eine stark normativ geprägte Frie‐ densforschung, die ihren Ausdruck im „Engagement zum Frieden“ (Kaiser 1970, S. 58) findet. In diesem Kontext zieht Karlheinz Koppe (2006, S. 60) wie zuvor auch schon Johan Galtung eine Parallele zu den ethischen Standards in der Medizin: Wie jeder Arzt durch den Eid des Hippokrates der Erhaltung des Lebens verpflichtet sei, habe auch der Friedensforscher der Maxime si vis pacem para pacem  16 zu folgen. Auch für Harald Müller (2012, S. 160f.) stellt Normativität ein konstitutives Merkmal der Friedensforschung dar. Ihm zufolge gebe es drei Pfeiler, die als normative Richtschnur friedenswissenschaftlichen Arbeitens dienen können: erstens das Ziel der Minderung physischer Gewalt, zweitens - ausgehend vom Verständnis des Friedens als soziale Beziehung - die Befriedung eines Handlungssystems sowie drittens die Einnahme der Opferperspektive (im Sinne ziviler Opfer). Was heißt Normativität? Der Begriff der Normativität beinhaltet in seinem Wortstamm die „Norm“. In diesem Sinne stellen normative Äußerungen Äußerungen über Normen dar. Norm wiederum bedeutet ety‐ mologisch, Richtschnur, Regel und Maßstab zu sein. Im hier verhandelten Kontext erweisen sich zwei Begriffsdeutungen als zentral: Zum einen zeigt sich Norm „als Idee, als ideativer 3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis 52 <?page no="53"?> 17 Zuvor prägte bereits Nicolai Hartmann (1962 [1926], S. 574) den Termi‐ nus der „Tyrannei der Werte“. Begriff, als Grenzbegriff einer Eigenschaft im Status unüber‐ schreitbarer Vollkommenheit, im Blick auf den empirische Gegenstände bzw. Handlungen als mehr oder weniger gelun‐ gene Annäherungen realisiert und beurteilt werden“ (Forschner 2002, S. 191). Diese Perspektive umfasst ihre direktive Seite als inhaltliche Richtschnur. Zum anderen versteht sich Norm „im rechtlichen oder moralischen Sinn als genereller Imperativ, der rechtliches und sittliches Handeln von Einzelnen und Gruppen orientiert“ (Forschner 2002, S. 192), womit ihre imperative Seite angesprochen wird (vgl. Jaberg 2009, S. 9ff.). Dieses stark normative Verständnis von Friedensforschung wird seit den 1990er Jahren zunehmend infrage gestellt. Insbesondere von der jüngeren und mittleren Generation wird ihr nur noch eine „partielle Funktion“ (Brühl 2012, S. 176) zuerkannt. Mittlerweile beantwortet ein Großteil von ihnen die Frage, ob Friedensforschung als „Forschung für oder Forschung über den Frieden“ (Bonacker 2011, S. 46) zu verstehen sei, mit der letzteren Option (vgl. u. a. Daase 1996; Weller 2003; Bona‐ cker 2011; Schlichte 2012; Brühl 2012). Dementsprechend konstatiert Sabine Jaberg (2009, S. 5): „Aus dem ursprünglichen Unbehagen am Normverlust ist mittlerweile ein Unbehagen mit der Norm geworden.“ Gegen das Prinzip der Normativität lassen sich vor allem zwei, auf frühere Debatten zurückgehende Argumente in Anschlag bringen: die Tyrannei der Werte sowie die Zerstörung der Wissenschaft durch das Werturteil (ausführlich hierzu Jaberg 2009). Die erste Debatte geht wesentlich auf Carl Schmitt (1979 [1959]) zurück. 17 Danach existiere 3.1 Zur Normativität der Friedensforschung 53 <?page no="54"?> eine innere Logik: Mit dem Setzen von Werten grenze sich das Indivi‐ duum zugleich gegen andere Werte beziehungsweise „Unwerte“ ab. Diese Über- und Unterordnung von Werten führe zu einer potenziellen Aggressivität: So tendiere der „höhere Wert“ dazu, „den niederen Wert sich zu unterwerfen, und der Wert als solcher vernichtet mit Recht den Unwert als solchen“ (Schmitt 1979 [1959], S. 36). Eine Alternative zu dieser Tyrannei der Werte sieht Schmitt in der Wertfreiheit. In Anlehnung an diese Argumentation wird in aktuellen Debatten - beispielsweise von Gertrud Brücher oder Christoph Weller - „der Friedensnorm ein unvermeidbares Potenzial zur Legitimierung jener Gewalt unterstellt, die das Friedensideal verwirklichen soll“ ( Jaberg 2011, S. 62, vgl. auch 2009, S. 19f., 23 ff.). Die zweite, gegen die Normativität der Friedensforschung in An‐ schlag gebrachte Argumentation weist enge Bezüge zum Werturteils‐ streit auf (vgl. Jaberg 2009, S. 21f., 25 ff.). Dieser wurde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg um das Verhältnis von Wissenschaft und Politik geführt. Im Zentrum stand die Frage, ob (objektive) Wissen‐ schaft normative Aussagen für politisches Handeln treffen könne be‐ ziehungsweise solle. Während für Protagonisten wie Gustav Schmoller Wissenschaft auch Stellungnahmen zu konkreten politischen und gesellschaftlichen Problemen umfassen sollte, plädierten Vertreter wie Max Weber (1985 [1904], S. 149f.) für eine Trennung von Forschung und Werturteil, berge Letzteres die Gefahr, die Wissenschaft als solche zu zerstören. So könne es „niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein […], bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können“. Sie könne nur „die Frage der Geeignetheit der Mittel bei gegebenem Zwecke“ beantworten: „Jene Abwägung selbst nun aber zur Entscheidung zu bringen ist freilich nicht mehr eine mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Menschen“ (Weber 1985 [1904], S. 150). 3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis 54 <?page no="55"?> Parallelitäten zu aktuellen Debatten sind unverkennbar. So argumen‐ tiert beispielsweise Christopher Daase (1996, S. 482): „Mit der politisierten Begrifflichkeit grenzt die Friedensforschung […] nicht nur politische Positionen aus, die ihrem Verständnis von ‚Progres‐ sivität’ nicht entsprechen, sondern sie schaltet auch einen wichtigen wissenschaftlichen Regulierungsmechanismus aus: die Selbstkritik. […] Indem die Verfahren zur Selbstkritik, die jeder Wissenschaft eingebaut sind, aufgegeben werden, verändert die Friedensforschung ihren Cha‐ rakter von einem offenen Vernunftunternehmen zu einem geschlosse‐ nen Aussagesystem. […] Friedensforschung ist im Grunde eine situative Wissenschaft geworden, ihre Progressivität beschränkt sich auf das politische Engagement ihrer Mitglieder.“ Mit dieser „Entnormativierung“ ( Jaberg 2009, S. 39) und „Entpolitisie‐ rung“ (Ruf 2009, S. 46) sehen Vertreterinnen und Vertreter der kriti‐ schen Friedensforschung die Friedensforschung in ihren Grundfesten erschüttert. Nach Werner Ruf (2009, S. 49) zeichne sie sich „durch die freiwillige Einordnung in den herrschenden Wissenschaftsbetrieb [aus], den zu bekämpfen sie einst angetreten war“. Für diese Entwicklung lassen sich nach Thorsten Bonacker (2011, S. 69f.) verschiedene Gründe anführen: Erstens habe sich das Feld der Friedensforschung mit dem Ende des Kalten Krieges ausdifferenziert. Mit neuen beziehungsweise bis dahin wenig beachteten theoretischen und empirischen Phänomenen sei auch der Friedensbegriff nicht mehr nur „Ausweis für eine normative Selbstverpflichtung der eigenen For‐ schung“, sondern selbst zum Untersuchungsgegenstand empirischer Forschung geworden. Zweitens lasse sich angesichts der gestiegenen Komplexität ein verstärktes politisches Interesse an Expertise identi‐ fizieren, die die Friedensforschung in eine größere Nähe zur Politik gebracht habe. Drittens sei eine zunehmende Professionalisierung der 3.1 Zur Normativität der Friedensforschung 55 <?page no="56"?> Friedensforschung erkennbar, womit nicht mehr nur ihr normativer Status, sondern zunehmend auch Theorie- und Methodendebatten in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt seien. Schließlich wirken sich viertens auch der Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften und die Zunahme konstruktivistischer und poststrukturalistischer Zu‐ gänge auf das Selbstverständnis der Friedensforschung aus, gewinnen damit Ansätze an Bedeutung, die stärker auf die Beobachtung von Diskursen setzen. Letztlich kommen aber auch psychologische Komponenten zum Tragen, die sich mit normativen Debatten inhaltlich überschneiden. In gewisser Weise sei Berufswahl auch Symptomwahl. So könne die Arbeit am Frieden dazu verleiten, entweder „die eigenen destruktiven Impulse anzuregen“, beispielsweise in Form „einer heimlichen Affinität zu Militär und Krieg“, oder aber „von der eigenen Destruktivität abzulenken“, das sich dann „in einer besonders heftigen Distanz zu den Institutionen, die angeblich allein für Krieg und Gewalt verantwortlich sind“, äußert (Krell 2017, S. 957). 3.2 Zur Praxisorientierung der Friedensforschung Zu den konstitutiven Merkmalen der Friedensforschung zählt auch ihre Praxisorientierung. Wilfried Graf und Werner Wintersteiner (2016, S. 43) sprechen von einer handlungs- und lösungsorientierten Wissenschaft. In ähnlicher Weise konstatiert Harald Müller (2012, S. 163): „Es geht nicht lediglich darum, über den Frieden, seine Störungen und seine Ursachen zu räsonieren, sondern auch darum, den Praktikern und Praktikerinnen Praxeologien zur Verfügung zu stellen, die zum Schutz und Verwirklichung des Friedens nützlich sein könnten.“ 3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis 56 <?page no="57"?> Und auch Michael Brzoska (2012, S. 134) betont die Praxisorientierung der Friedensforschung und sieht in ihr „eine wichtige Legitimation für die Förderung von Friedensforschung durch öffentliche Geldgeber, etwa die DSF (Deutsche Stiftung Friedensforschung, Anm. d. Verf.)“. Die Realisierung dieses Anspruches erweist sich als durchaus her‐ ausfordernd, müssen wissenschaftliche Erkenntnisse „in handhabbare Praxeologien“ (Müller 2012, 163) umgesetzt werden. Seitens der Frie‐ densforscher und -forscherinnen erfordert dies eine doppelte Trans‐ ferleistung: zum einen eine Übersetzung von der Theorie in die Praxis, zum anderen eine „Übersetzung aus der Sprache des Wissenschaftssys‐ tems in die der Praktiker und Praktikerinnen“ (Müller 2012, S. 163; vgl. auch Schwerdtfeger 2001, S. 171). Mit dem jährlich herausgegebenen Friedensgutachten versuchen die führenden Friedensforschungsinsti‐ tute in Deutschland, genau diesem Anspruch gerecht zu werden. Aber auch inhaltlich können sich konkrete Handlungsempfehlun‐ gen für die Politik als schwierig erweisen. Ein Beispiel stellt die Stellungnahme der Herausgeber und Herausgeberinnen des Friedens‐ gutachtens 2011 ( Johannsen et al. 2011, S. 20ff.) dar, in der die Friedens‐ forscher und -forscherinnen zu keiner einheitlichen Einschätzung zur internationalen Schutzverantwortung im Falle Libyens gelangten und stattdessen mehrere Optionen nebeneinander stellten. Dies stellt ein durchaus legitimes wissenschaftliches Vorgehen dar und lässt sich ganz im Sinne des Wissenschaftsverständnisses Max Webers verorten (vgl. obigen Abschnitt 3.1). Angesichts der geforderten Orientierungs‐ leistung bleibt dennoch ein Grundproblem bestehen: „Eine Politikberatung mit dem Ziel, all die Maßnahmen und Strategien der Politik näher zu bringen, die den Frieden fördern bzw. ihn zu gefährden scheinen, verliert jedoch ihren scheinbar eindeutigen Fokus angesichts der Vielfalt von Friedensverständnissen. Weder über die Ausgestaltung des Friedens als Zustand noch über die Wege und Mittel, 3.2 Zur Praxisorientierung der Friedensforschung 57 <?page no="58"?> mit deren Hilfe dieser Zustand erreicht werden soll, herrscht Einigkeit“ (Nielebock 2017, S. 933). Neben der von Praktikern und Praktikerinnen eingeforderten „Bring‐ schuld“ der Friedensforschung verweist Karlheinz Koppe (2006, S. 61) auch auf die Defizite im Hinblick auf die „Holschuld der Politik“. Hier lassen sich zwei potenzielle Gefahren ausmachen: Politiker und Politikerinnen können erstens Wissenschaft für ihre Zwecke - zur Legitimationsbeschaffung - instrumentalisieren. Werden dagegen ihre Erwartungen durch abweichende friedenswissenschaftliche Positio‐ nen enttäuscht, können sie diese gegebenenfalls auch bewusst igno‐ rieren. Diese Tendenz lässt sich beispielsweise bei der Vorstellung des Friedensgutachtens in der Berliner Politik erkennen. So zeigen sich die einzelnen Bundestagsfraktionen - je nach außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischer Ausrichtung - in durchaus unterschiedlicher Weise an den Ergebnissen der Friedensforschungsinstitute interessiert. Illustrativ vergleicht Michael Brzoska (2012, S. 134) das Verhältnis der Politik zur Wissenschaft mit dem des Betrunkenen zum Later‐ nenpfahl: „Sie suchen Halt und nicht Erleuchtung.“ Dahinter steht die für die Friedensforschung virulente Frage, inwieweit angesichts dieser Situation „eine gleichermaßen kritische wie handlungsrelevante Friedensforschung“ (Senghaas 1971b, S. 313f.) überhaupt möglich und sinnvoll ist. Zu den Trägerinnen und Trägern friedenspraktischen Handelns gehört neben der staatlichen Exekutive und den etablierten politischen Parteien auch die Öffentlichkeit, darunter insbesondere die Friedens‐ bewegung (vgl. Schwerdtfeger 2001, S. 181). Was lässt sich nun über die Beziehungen von Friedensforschung und Friedensbewegung kon‐ statieren? Karlheinz Koppe (2009, S. 78) fasst das Verhältnis beider unter dem Stichwort „ein Ziel, zwei Wege“ zusammen: 3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis 58 <?page no="59"?> „Sie verfolgen das gleiche Ziel: Frieden schaffen, wenn’s geht ohne Waffen und ohne Gewalt. Aber ihre Wege sind verschieden: […] Die Friedensforschung beansprucht, durch möglichst sorgfältige Untersu‐ chung von Kriegsursachen und Friedensbedingungen den Weg dahin zu bahnen. Die Friedensbewegung will sich aktiv in das politische Geschehen einmischen, um mit gewaltfreien Demonstrationen, Protest‐ aktionen und öffentlichen Aufrufen die gesellschaftlichen Verhältnisse in Richtung Friedensbereitschaft und Friedensfähigkeit zu verändern“ (Koppe 2009, S. 78). Diese beiden Wege zeichnen sich im dialektischen Sinne durch „Nähe und Distanz“ (Koppe 1987, S. 97) aus. Die Nähe ergibt sich durch die Verfolgung des gemeinsamen Ziels, Frieden zu befördern, jedenfalls dann, wenn Friedensforschung normativ verstanden wird. Für die Distanz spricht nach Karlheinz Koppe ein Aspekt, der an obiger Stelle bereits für den politischen Raum konstatiert wurde: „Die Forschung liefert Analysen (auch hinsichtlich denkbarer Strategien zur Umsetzung von Schlüssen aufgrund eben solcher Analysen in politisches Handeln), während die Bewegung Rezepte anbietet und oft die Analysen der Forschung - wenn überhaupt - nur nutzt, wenn sie ihre in der Regel politisch begründeten Vorschläge stützen“ (Koppe 1987, S. 97f.). Diese „Unterwerfung der Friedensforschung“ (Koppe 1987, S. 98) unter die eigenen Prämissen könne in der Friedensbewegung gegebenenfalls sogar noch „rigoroser, durch keine selbstkritische Toleranz gemäßigt“ (Koppe 1987, S. 98) ausfallen als bei politischen Repräsentantinnen und Repräsentanten. Auch schrecken Vertreterinnen und Vertreter der Friedensbewegung bisweilen nicht davor zurück, Forschungser‐ gebnisse einseitig in ihrem Sinne zu interpretieren (vgl. hierzu auch Schmitt 1990, S. 101). 3.2 Zur Praxisorientierung der Friedensforschung 59 <?page no="60"?> Diese These von der Distanz wird von einer, wenn auch älteren empirischen Untersuchung in Finnland gestützt: Danach betrachte die Friedensbewegung die Friedensforschung (entgegen ihrem eige‐ nen Selbstverständnis) als „einfache soziale Technologie“. Umgekehrt kritisiere die Friedensforschung Aktionen und alternative Wege der Friedensbewegung, die für diese einen hohen Stellenwert besitzen, als naive Utopie (vgl. Koppe 1987, S. 99). Welche Schlussfolgerungen sollten Friedensforscher und -forsche‐ rinnen aus dieser Konstellation und den mit der Politikberatung verbundenen Herausforderungen ziehen? Nach Johan Galtung (1985, S. 149) könne dies nur bedeuten, im Sinne wissenschaftlicher Glaub‐ würdigkeit sowohl zum Establishment als auch zum Anti-Establish‐ ment Distanz zu wahren. In diesem Sinne spricht sich auch Andrew Mack (1985) für eine öffentliche Bereitstellung von Informationen aus, ohne sich selbst in den Dienst dieser zu stellen (vgl. Koppe 1987, S. 98). In der Praxis stellt dies für Friedensforscherinnen und -forschern ein nicht einfaches Unterfangen dar, gilt es, die wissenschaftliche Unabhängigkeit auch bei finanziellen Abhängigkeiten gegen potenziell entgegenstehende Akteursinteressen aufrechtzuerhalten. 3.3 Zur disziplinären Verortung der Friedensforschung Umstritten ist zudem der disziplinäre Status der Friedensforschung: Zu klären ist zuvorderst, wie sich die Friedensforschung zu den Internatio‐ nalen Beziehungen positioniert, beschäftigen auch diese sich mit dem Thementableau von Krieg und Frieden. Stellt sie eine Subdisziplin der Internationalen Beziehungen dar, kann sie als eigenständige Disziplin gelten oder fungiert sie eher als Forschungsverbund? Und was bedeutet 3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis 60 <?page no="61"?> die in diesem Kontext häufig konstatierte Interdisziplinarität - jüngst auch Transdisziplinarität - der Friedensforschung? Das Verhältnis zwischen der Friedensforschung und den Interna‐ tionalen Beziehungen war von Beginn an weitgehend unbestimmt und ihre Forschungsfelder nicht klar voneinander abgegrenzt (vgl. Czempiel 1986, S. 254). In den Anfangsjahren der Friedensforschung haben viele ihrer Vertreterinnen und Vertreter diese als Gegenentwurf zum neorealistischen Paradigma der Internationalen Beziehungen verstanden. Damit sollte explizit eine Alternative zur neorealistischen Annahme, Gewalt lasse sich nur durch Gegengewalt begrenzen, aufge‐ zeigt werden (vgl. Bonacker 2011, S. 66; Brühl 2012, S. 174). Mit der seit den 1990er Jahren zu beobachtenden Verengung des Friedensbegriffs auf die Dimension des Schutzes vor Gewalt (vgl. Kapitel 1 dieses Lehrbuchs) sowie gegenwärtigen Forschungen zu militärischen Inter‐ ventionen oder zur internationalen Schutzverantwortung scheint diese Form der Abgrenzung von den Internationalen Beziehungen immer weniger zuzutreffen. Im Gegenteil: Friedensforscherinnen wie Tanja Brühl (2012, S. 172) konstatieren eine Annäherung der beiden Diszipli‐ nen: „Die Schnittmenge wird tendenziell eher größer als kleiner“. Was bedeutet nun dieser Befund für die Friedensforschung? Kann sie - auf Forschungen zum Frieden fokussiert - als eine Subdisziplin der Internationalen Beziehungen gelten? Die personellen und inhalt‐ lichen Überschneidungen könnten symptomatisch dafür sprechen. So lässt sich zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Internationalen Beziehungen und der Friedensforschung häufig nicht trennen. In diesem Sinne ist es kennzeichnend, dass sich unter den Autoren und Autorinnen von Lehrbüchern zu den Internationalen Beziehun‐ gen (vgl. Deitelhoff und Zürn 2016; Krell und Schlotter 2018) oder unter den Herausgebern und Herausgeberinnen von Zeitschriften der Internationalen Beziehungen (wie z. B. die Zeitschrift Internationale 3.3 Zur disziplinären Verortung der Friedensforschung 61 <?page no="62"?> 18 Zum institutionellen Stand der Friedensforschung in Deutschland vgl. Part IV des Lehrbuches, insbesondere die Kapitel 13 und 14 (darüber hinaus vgl. auch Koppe 2001, Kap. V, 2006). Beziehungen, ZIB) dezidiert auch Friedensforscher und -forscherinnen finden. Ein anderer Faktor spricht aber eher gegen die Annahme einer Subdisziplin: die Multidisziplinarität der Friedensforschung. Während sich die Internationalen Beziehungen als Teildisziplin der Politikwis‐ senschaft etabliert haben und weitgehend mit einem politikwissen‐ schaftlichen Theorien- und Methodenset arbeiten, verbindet sich mit der Friedensforschung eine Vielzahl von Disziplinen: Neben Vertrete‐ rinnen und Vertretern der Politikwissenschaft sind es Soziologinnen, Völkerrechtler, Historikerinnen, Philosophen, Theologinnen, Psycho‐ logen, Ethnologinnen, Ökonomen oder auch Naturwissenschaftlerin‐ nen wie Physiker (vgl. Jahn 2012, S. 7; auch Schneider et al. 2017), die ihre je eigenen theoretischen Ansätze und methodischen Zugänge in die friedenswissenschaftliche Forschung einbringen. So sind auch wegweisende Friedensforscherinnen und -forscher wie beispielsweise Johan Galtung nicht der Politikwissenschaft zuzurechnen. Wenn vieles dagegen spricht, die Friedensforschung als Subdisziplin der Internationalen Beziehungen zu verorten, kann sie dann als eigen‐ ständige Disziplin gelten? In den letzten Jahrzehnten ist zumindest eine deutliche Professionalisierung der Friedensforschung zu verzeichnen: In Deutschland - wie auch in Europa insgesamt - etablierten sich außeruniversitäre Friedensforschungsinstitute, universitäre Institute und Zentren, Masterstudiengänge zur Friedens- und Konfliktforschung, friedenswissenschaftliche Vereinigungen und Netzwerke sowie Stiftun‐ gen. 18 Von der Institutionalisierung lässt sich aber noch nicht ohne Weiteres auf eine eigenständige Disziplin schließen. Dazu bedarf es bestimmter Kriterien: Eine Disziplin ist durch (1) den Gegenstand, (2) 3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis 62 <?page no="63"?> ein spezifisches Erkenntnisinteresse, (3) Theorien und deren systema‐ tische und historische Zusammenhänge sowie (4) (Kern-)Methoden gekennzeichnet und grenzt sich durch diese von anderen Disziplinen ab (vgl. Dubielzig und Schaltegger 2004, S. 8; Sukopp 2013, S. 19f.). Diesbezüglich verfüge die Friedensforschung zwar - so Wilfried Graf und Werner Wintersteiner (2016, S. 45) - über „einen (wenn auch diffusen) Gegenstand, über den sie sich definiert: Frieden“, auch gebe es „ein Repertoire an (kontroversen) Theorien, um den Gegenstand zu erklären“. Es fehle ihr aber ein verbindliches „Set an Methoden“. Die Bandbreite der methodischen Zugänge erweise sich - entsprechend der mit der Friedensforschung in Verbindung zu bringenden Disziplinen - als derart groß, dass von einer eigenständigen Disziplin nicht gesprochen werden könne, beziehungsweise positiv formuliert: „Die Offenheit zu vielen Fächern überwiegt die Nachteile, die ein Verzicht auf Disziplinierung mit sich bringt, wie etwa den Verzicht auf einen eigenen methodischen Zugang.“ (Brzoska 2012, S. 135) Stattdessen wird Friedensforschung als „disziplintheoretisches Patch‐ work“ (Jaberg 2011, S. 55), als „inhaltlich variables Forschungsprogramm, das unterschiedliche disziplinäre Aggregatzustände annehmen kann“ (Jaberg 2011, S. 64), als „interdisziplinärer Forschungskomplex“ (Jahn 2012, S. 7) beziehungsweise als „multi-, inter- und transdisziplinäres Forschungsfeld“ (Ide 2017, S. 8) beschrieben. Wilfried Graf und Werner Wintersteiner (2016, S. 79) sprechen von einer „Inter-Disziplin“, „die sich den Standards, Fragestellungen und Herausforderungen, wie sie sich in jeder für sie relevanten Einzelwissenschaft ergeben, stellen muss, die aber durch ihren integrativen und inter- und transdisziplinä‐ ren Ansatz unverbundene Theoriestränge zusammenführt und damit zu neuen Erkenntnissen gelangt, die über eine Einzelwissenschaft nicht zu erlangen wären“. 3.3 Zur disziplinären Verortung der Friedensforschung 63 <?page no="64"?> 19 Die Begriffsbestimmungen zur Interdisziplinarität und Transdisziplina‐ rität wie auch ihre Abgrenzungen voneinander erweisen sich als überaus Multidisziplinarität - Interdisziplinarität - Transdiszipli‐ narität Multidisziplinarität liegt vor, „wenn sich mehrere Disziplinen eines vorgegebenen Problems annehmen und dieses unabhän‐ gig voneinander mit ihren eigenen Methoden und Theorien untersuchen. Die Ergebnisse der von den Disziplinen analysier‐ ten Teilprobleme werden in der Regel am Ende nur additiv zusammengefügt“ (Dubielzig und Schaltegger 2004, S. 8). Interdisziplinarität ist „eine Form wissenschaftlicher Koopera‐ tion in Bezug auf gemeinsam zu erarbeitende Inhalte und Me‐ thoden, welche darauf ausgerichtet ist, durch Zusammenwirken geeigneter Wissenschafter/ innen unterschiedlicher fachlicher Herkunft das jeweils angemessenste Problemlösungspotenzial für gemeinsam bestimmte Zielsetzungen bereitzustellen“ (zit. nach Dubielzig und Schaltegger 2004, S. 9). Transdisziplinarität stellt eine weitere, häufig als höherwertig angesehene Stufe der Kooperation dar. Sie unterscheidet sich von der Interdisziplinarität (1) durch die Dauerhaftigkeit der Kooperation, (2) durch die Transformation disziplinärer Orien‐ tierungen und (3) durch die Beschäftigung mit lebensweltlichen, gesellschaftlich relevanten Problemen (vgl. Mittelstraß 2003, S. 9f; Jungert 2013, S. 6f.). Als weiteres Merkmal gilt häufig auch die Einbeziehung von Vertreterinnen und Vertretern der Praxis in die Kooperation (vgl. Dubielzig und Schaltegger 2004, S. 10f.). 19 3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis 64 <?page no="65"?> divers, teilweise auch widersprüchlich. Einen Überblick über die ver‐ schiedenen Zugänge findet sich beispielsweise bei Völker (2004), Jungert (2013) und Sukopp (2013). Die Inter- und Transdisziplinarität der Friedensforschung scheint so elementar wie ambitioniert. Sie erfordert gemeinsame, disziplinen‐ übergreifende Verständigungen und Forschungspraktiken. Damit ein‐ her geht die Notwendigkeit von Übersetzungsprozessen, rekursiven Lernprozessen, einer komplexen Problemsicht und einer Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit und endet bei einem neuen Wissen‐ schaftsverständnis. Fraglos ist ein solcher Zugang angesichts der zu verhandelnden Probleme durchaus erstrebenswert, gehen mit diszip‐ linärer Arbeit stets auch Erkenntnisgrenzen einher (vgl. Dubielzig und Schaltegger 2004, S. 7). Dennoch wird dieser Anspruch - und zwar nicht nur in der Friedensforschung - häufig nicht eingelöst (vgl. Jahn 2012, S. 27; Brühl 2012, S. 178; Sukopp 2013, S. 14ff.)). Bestenfalls lassen sich, wenn überhaupt, multidisziplinäre Ansätze erkennen. So konstatiert auch Jürgen Kocka (1987, S. 8): „Der Glanz des Begriffs ist ein wenig verblaßt. […] einstmals hochgespannte Erwartungen [sind] angesichts zäher Schwierigkeiten reduziert worden“. Zu den Schwie‐ rigkeiten inter- und transdisziplinärer Arbeit zählen unter anderem die unterschiedlichen disziplinären Codes und Sprachen, die mangelnde „Kopulationsfähigkeit“ grundsätzlich verschiedener Theorieentwürfe aus den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften, die jeweils in den einzelnen Fachdisziplinen vorherrschenden spezifischen Methoden oder auch die in den einzelnen Disziplinen etablierten Denkweisen und Anschauungen, die häufig als unhintergehbar gelten (vgl. Kocka 1987, S. 8f.; Sukopp 2013, S. 14f.). 3.3 Zur disziplinären Verortung der Friedensforschung 65 <?page no="66"?> 3.4 Fazit Normativität, Praxisorientierung und Interbeziehungsweise Trans‐ disziplinarität - diese Merkmale prägten von Beginn an die Friedens‐ forschung. In der Literatur werden sie häufig sogar als konstitutiv angesehen. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Systemwan‐ del in Europa ist - das haben die obigen Ausführungen aufzeigen können - ein Wandel im Selbstverständnis der Friedensforschung unverkennbar. Dieser führt aber nicht zwangsweise zu einer Aufgabe der genannten Ansprüche. So fordert der zu verzeichnende Trend von einer „Forschung für den Frieden“ zu einer „Forschung über den Frieden“ sicherlich eine stärkere empirische Unterfütterung ein, er negiert aber nicht per se das normative Selbstverständnis der Friedensforschung. Bereits jede Forschungsfrage stellt eine normative Setzung dar. So mag beispielsweise die Frage nach der Effektivität von targeting killing als Forschungsthema unter die Freiheit der Forschung nach Artikel 5 des Grundgesetzes fallen und sich in den Internationalen Beziehungen als relevant erweisen, in der Friedensforschung aber auf normative Vorbehalte stoßen. Im Vergleich zu Hochzeiten der kriti‐ schen Friedensforschung, deren normative Aussagen sich am weiten Friedensbegriff orientierten, wird seit den 1990er Jahren verstärkt ein enger (substanzieller) Friedensbegriff vertreten (vgl. Kapitel I in diesem Lehrbuch). Normative Aussagen bestehen weiterhin, verweisen aber auf einen anderen Bezugspunkt. Vor diesem Hintergrund erweisen sich für Friedensforscher und -forscherinnen zwei Aspekte als dringlich: Erforderlich ist erstens ein fortwährendes Austarieren: Darauf verweisen nicht nur Debatten über die Zivilklausel. Auch stellt die Praxisorientierung für Friedens‐ forscher und -forscherinnen eine stete Gratwanderung dar: Zum einen verfolgen sie den Anspruch, mit ihren Handlungsempfehlungen gehört 3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis 66 <?page no="67"?> zu werden; zugleich gehen sie die Gefahr ein, von politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren für ihre Ziele im Sinne eines „Flan‐ kenschutzes“ missbraucht zu werden. Benötigt wird hier eine immer neu zu justierende Balance von Nähe und Distanz. Zweitens bedarf es der Transparenz: sowohl im Hinblick auf das eigene Selbstverständnis als auch in Bezug auf die Vorgehensweise. Unerlässlich ist bei Letzterem auch ein ehrlicher Ausweis verfolgter mono-, interbeziehungsweise transdisziplinärer Ansätze und ihrer Schwierigkeiten, auch einer sich in diesem Kontext abzeichnenden Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Denn auch wenn Inter- und Transdisziplinarität oft gefordert wird, wird sie nur selten betrieben. Dieser Sachverhalt ist zumindest offenzulegen. Weiterführende Literatur: Bonacker, Thorsten. 2011. Forschung für oder Forschung über den Frieden? Zum Selbstverständnis der Friedens- und Konfliktfor‐ schung. In Friedens- und Konfliktforschung, hrsg. von Peter Schlot‐ ter und Simone Wisotzki, 46-77. Baden-Baden: Nomos. Mit dieser im Beitrag diskutierten Frage markiert der Autor einen wichtigen Wendepunkt im Selbstverständnis der Friedensforschung. Jaberg, Sabine. 2009. Vom Unbehagen am Normverlust zum Unbeha‐ gen mit der Norm? Zu einem fundamentalen Problem der neueren Friedensforschung. Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Heft 152. Hamburg: IFSH. Dieser Text setzt sich in Reflexion zweier historischer Debatten - der Tyrannei der Werte und dem Werturteilsstreit - kritisch mit den Argumenten der Skeptikerinnen und Skeptiker einer normativen Wissenschaft auseinander und plädiert für die Beibehaltung einer wert- und normbasierten Friedensforschung. 3.4 Fazit 67 <?page no="68"?> Zeitschrift für Internationale Beziehungen 19 (1). Die Zeitschrift ver‐ öffentlicht in diesem Heft die Beiträge des von ihr im Oktober 2011 organisierten Symposiums zum Verhältnis zwischen den Internationalen Beziehungen und der Friedens- und Konfliktfor‐ schung. Hier finden sich die zum Teil konträren Positionen unter anderem von Michael Brzoska, Tanja Brühl, Harald Müller und Klaus Schlichte. 3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis 68 <?page no="69"?> Part II: Weltpolitische Konflikte - Begriff, Formationen und Austragungsformen <?page no="71"?> 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen Konflikt zählt zu den zentralen Grundbegriffen - nicht nur der Friedens- und Konfliktforschung, sondern der gesamten Sozialwis‐ senschaften. Konflikte sind allgegenwärtig: Sie sind auf weltpoliti‐ scher Ebene, zwischenstaatlich, innergesellschaftlich sowie zwischen‐ menschlich und sogar intrapersonal anzutreffen. Zugleich gehört der Konfliktbegriff zu den umstrittensten seines Fachs. Er kann auf verschiedenste Weise verstanden und unterschiedlich eng und weit gefasst werden. Diese Debatten hat der Konfliktbegriff mit dem des Friedens gemeinsam. In der normativen Bewertung zeigen sich jedoch fundamentale Unterschiede: Zählt der Frieden als höchstes und anzu‐ strebendes Gut, verbindet sich mit dem Terminus des Konflikts - insbesondere in seinem Alltagsverständnis - eine in der Regel negative Konnotation. Konflikte gelten gemeinhin als gewaltsame Erscheinun‐ gen, die einem friedlichen Miteinander abträglich und zu vermeiden beziehungsweise, sofern ausgebrochen, zu beenden sind. Ist ein solches Konfliktverständnis aber auch wissenschaftlich zu rechtfertigen und zu stützen? Dafür ist zunächst der Terminus selbst in den Blick zu nehmen. 4.1 Zum Konfliktbegriff Konflikt ist dem lateinischen Ausdruck conflictus entlehnt und steht für Widerstreit und Zwiespalt. Etymologisch geht er auf confligere zurück, zusammengesetzt aus dem Präfix con (lateinisch für mit, zusammen) und dem Verb fligere (lateinisch für prallen). In dieser Ableitung <?page no="72"?> 20 Intrapersonale Konflikte werden hier vernachlässigt, gehören diese nicht zum Gegenstand der Friedens- und Konfliktforschung. stellen Konflikte - zunächst völlig wertneutral und unvoreingenom‐ men - soziale Interaktionen beziehungsweise „soziale Tatbestände“ (Bonacker und Imbusch 2006, S. 68) dar, an denen mindestens zwei Akteure 20 (Individuen, Gruppen, Organisationen, Staaten etc.) beteiligt sind, charakterisiert durch unvereinbare Positionsdifferenzen. Johan Galtung (2007, S. 135f.) betrachtet Konflikte als „triadisches Konstrukt“ (vgl. Schaubild 5), bestehend aus: ▸ dem Verhalten der Konfliktakteure, die den Konflikt anzeigen und bewusst werden lassen, ▸ den Einstellungen und Annahmen der Konfliktakteure in Bezug auf die angenommenen Konfliktursachen, die Wahrnehmung der eigenen Position und die Bewertung der anderen Partei sowie ▸ dem Widerspruch, ausgedrückt in inkompatiblen Zielzuständen. 39 Schaubild 5: Das Konfliktdreieck nach Johan Galtung (2007, S. 136) „Konflikt = Annahmen/ Einstellungen + Verhalten + Widerspruch/ Inhalt“ - so die Galtungsche Kurzformel (2007, S. 135). Zwischen allen drei Komponenten besteht ein enger Zusammenhang; sie sind stets im Kontext zu betrachten. Dabei könne ein Konflikt von jedem Punkt aus beginnen: Beispielsweise könne ein Widerspruch, der ein gewünschtes Ziel versperrt, als Frustration erlebt werden und zu einer aggressiven Einstellung und einem aggressiven Verhalten führen. Aber auch negative Einstellungen oder Verhaltensdispositionen können - sofern „etwas ‚auftaucht’, das nach einem Problem aussieht“ (Galtung 2007, S. 137) - aktiviert werden und zu einem manifesten Konflikt führen. Diese Mechanismen bergen das Potenzial, Gewaltspiralen auszulösen. Zugleich lassen sich aber auch negative Einstellungen und negatives Verhalten zügeln und Widersprüche überwinden. Galtung unterscheidet zudem zwischen der manifesten (sichtbaren) und latenten (unsichtbaren) Ebene eines Konflikts. Das Konfliktverhalten bildet die manifeste Ebene. Dagegen bleiben die Einstellungen der Akteure sowie ihre verfolgten Absichten und Ziele häufig im Verborgenen. Sie bilden die latente, unterbewusste Ebene des Konflikts. Dabei gebe es zwar Konflikte, die sich ausschließlich auf der latenten Ebene befinden, nicht dagegen Konflikte, die allein auf manifester Ebene verortet werden können. Soll aus einem Konflikt ein manifester werden, müssen die widerstreitenden, unvereinbaren Positionsdifferenzen auch offen kommuniziert werden. Das heißt: Die Positionsdifferenzen müssen den Akteuren bewusst sein und für sie handlungsbestimmend werden. Zudem müssen sie - so Werner Link (1994, S. 100) - „eine kritische Spannung im Beziehungszusammenhang bilden“. Letzteres stellt eine notwendige Bedingung dafür dar, dass „aus in sich selbst ruhenden Individuen Konfliktparteien werden“ (Meyer 2011, S. 29). 4.2 Konflikte - unerwünschte Erscheinungen? Wie ein Konflikt bewertet und ob er als destruktive oder konstruktive Kraft wahrgenommen wird, hängt wesentlich von den jeweiligen theoretischen Vorannahmen ab. Idealtypisch lassen Verhalten Einstellungen, Annahmen Widerspruch manifeste Ebene latente Ebene Schaubild 5: Das Konfliktdreieck nach Johan Galtung (2007, S. 136) „Konflikt = Annahmen/ Einstellungen + Verhalten + Widerspruch/ In‐ halt“ - so die Galtungsche Kurzformel (2007, S. 135). Zwischen allen 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 72 <?page no="73"?> drei Komponenten besteht ein enger Zusammenhang; sie sind stets im Kontext zu betrachten. Dabei könne ein Konflikt von jedem Punkt aus beginnen: Beispielsweise könne ein Widerspruch, der ein gewünschtes Ziel versperrt, als Frustration erlebt werden und zu einer aggressiven Einstellung und einem aggressiven Verhalten führen. Aber auch ne‐ gative Einstellungen oder Verhaltensdispositionen können - sofern „etwas ‚auftaucht’, das nach einem Problem aussieht“ (Galtung 2007, S. 137) - aktiviert werden und zu einem manifesten Konflikt führen. Diese Mechanismen bergen das Potenzial, Gewaltspiralen auszulösen. Zugleich lassen sich aber auch negative Einstellungen und negatives Verhalten zügeln und Widersprüche überwinden. Galtung unterscheidet zudem zwischen der manifesten (sichtbaren) und latenten (unsichtbaren) Ebene eines Konflikts. Das Konfliktver‐ halten bildet die manifeste Ebene. Dagegen bleiben die Einstellungen der Akteure sowie ihre verfolgten Absichten und Ziele häufig im Ver‐ borgenen. Sie bilden die latente, unterbewusste Ebene des Konflikts. Dabei gebe es zwar Konflikte, die sich ausschließlich auf der latenten Ebene befinden, nicht dagegen Konflikte, die allein auf manifester Ebene verortet werden können. Soll aus einem Konflikt ein manifester werden, müssen die wi‐ derstreitenden, unvereinbaren Positionsdifferenzen auch offen kom‐ muniziert werden. Das heißt: Die Positionsdifferenzen müssen den Akteuren bewusst sein und für sie handlungsbestimmend werden. Zudem müssen sie - so Werner Link (1994, S. 100) - „eine kritische Spannung im Beziehungszusammenhang bilden“. Letzteres stellt eine notwendige Bedingung dafür dar, dass „aus in sich selbst ruhenden Individuen Konfliktparteien werden“ (Meyer 2011, S. 29). 4.1 Zum Konfliktbegriff 73 <?page no="74"?> 4.2 Konflikte - unerwünschte Erscheinungen? Wie ein Konflikt bewertet und ob er als destruktive oder konstruktive Kraft wahrgenommen wird, hängt wesentlich von den jeweiligen theoretischen Vorannahmen ab. Idealtypisch lassen sich vier konflikt‐ theoretische Positionen ausmachen (vgl. Bonacker und Imbusch 2006, S. 76f.): ▸ Aus der Sicht konservativer Gesellschaftstheorien gilt Konflikt als pathologische Erscheinung, der die soziale Ordnung bedrohe und zu bekämpfen sei. Dem Konflikt kommt hier eine ausschließ‐ lich negative Funktion zu; die gesellschaftliche Konfliktrealität wird dabei weitgehend geleugnet. ▸ In einer abgeschwächten Variante wird Konflikt als Dysfunktion betrachtet. Hier wird die gesellschaftliche Konfliktrealität zwar nicht negiert, der Konflikt aber doch weitgehend negativ bewer‐ tet, sei er ein Anzeichen für die mangelnde Effizienz beziehungs‐ weise das Nicht-Funktionieren gesellschaftlicher Strukturen. ▸ Andere betonen dagegen die integrative Funktion von Konflikten. Aus dieser Perspektive sei der Konflikt ein normales Phänomen von Gesellschaften. Hier erfährt der Konflikt eine positive Be‐ wertung, insbesondere infolge seiner angenommenen systemin‐ tegrativen Funktionen. ▸ Darüber hinaus gibt es Vertreterinnen und Vertreter, die Konflikt als Katalysator sozialen Wandels betrachten. Aus dieser Perspek‐ tive werden soziale Konflikte als für die gesellschaftliche Ent‐ wicklung notwendiges Moment und Fortschritt der Geschichte verstanden. Was bedeutet nun aber die sozialwissenschaftliche Anerkennung der Rolle von Konflikten für den sozialen Wandel für die Friedens- und 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 74 <?page no="75"?> Konfliktforschung? Wie passt diese positive Funktionszuschreibung zu dem auch in der Friedens- und Konfliktforschung vorherrschenden negativen Bild von Konflikten? Hier gilt es zunächst, zwischen dem Konflikt und Formen seines Austrags zu unterscheiden (vgl. Wasmuht 1992, S. 7; Bonacker und Imbusch 2006, S. 68f.). Denn erfahren Konflikte - entgegen ihrer wertneutralen Beschreibung als soziale Tatbestände und ungeachtet ihrer auch positiven Funktionen - eine vorrangig negative Zuschreibung, ist dies häufig dem Umstand geschuldet, vorrangig Konflikte mit einem hohen Gewaltpotenzial im Blick zu haben. Diese Perspektive ist der Friedens- und Konfliktforschung auch eingeschrieben, befasst sie sich - wie im Kapitel 3 ausgeführt - mit der Frage, „welche Faktoren dazu beitragen, dass aus Konflikten gefährli‐ che Konflikte werden und welche Möglichkeiten zu ihrer Einhegung bestehen“ (Struktur- und Findungskommission der Friedensforschung 2000, S. 259). Ungeachtet dessen - und das ist stets mit im Blick zu behalten - werden die meisten der zwischenwie auch innerstaatlichen Konflikte friedlich ausgetragen; nur wenige von ihnen entwickeln sich zu ernsten Krisen und von diesen wiederum enden etwa zehn Prozent im Krieg (vgl. Ruloff 2004, S. 14; Bonacker und Imbusch 2006, S. 75). Das erkenntnistheoretische Interesse der Friedens- und Konflikt‐ forschung ist es also nicht, Konflikte per se zu vermeiden. Vielmehr geht es um einen gewaltfreien Austrag von Konflikten, das heißt um eine geregelte, zivile Konfliktbearbeitung. Das folgende Zitat illustriert diesen Sachverhalt in einem sehr anschaulichen Bild: „Konflikte sind […] das Salz in der Suppe sozialen Lebens. Weder versalzene Suppen - gewaltsam ausgetragene Konflikte - noch salzlose Suppen - völlig konfliktfreie Welten - sind wünschenswert.“ (List 2006, S. 54) 4.2 Konflikte - unerwünschte Erscheinungen? 75 <?page no="76"?> 4.3 Konflikte - komplexe Phänomene Ausgehend von dem skizzierten Konfliktbegriff und -verständnis las‐ sen sich weitere Bestimmungen vornehmen, die den Terminus näher qualifizieren (vgl. hierzu auch Bonacker und Imbusch 2006, S. 69ff.). Zentrale Differenzierungen sind die nach Konfliktebenen und -akteu‐ ren, Konfliktgegenständen sowie Austragungsformen von Konflikten. Zu Konfliktebenen und -akteuren: Konflikte können auf verschiedenen Ebenen stattfinden: von intra- und interpersonalen über intergruppale und innerstaatliche bis hin zu zwischenstaatlichen sowie transnatio‐ nalen und globalen Konflikten. Angesichts von Globalisierung und Global Governance gewinnen insbesondere Letztere zunehmend an Bedeutung. Ebenso vielfältig sind die Konfliktakteure: Bei ihnen kann es sich um Individuen, Gruppen, Netzwerke und Bewegungen, Organi‐ sationen und Regime sowie Staaten handeln. Das Verhältnis zwischen den Konfliktparteien wird häufig mit dem Begriffspaar „symmetrische“ versus „asymmetrische“ Konflikte näher bestimmt. Diese Differenzie‐ rung lässt Aussagen zur Vergleichbarkeit der beteiligten Konfliktpar‐ teien hinsichtlich ihrer Größe und Stärke zu. Ein klassisches Beispiel für einen symmetrischen Konflikt stellt der im 20. Jahrhundert do‐ minierende Ost-West-Konflikt dar, bei dem die beteiligten Akteure über annähernd gleiche Voraussetzungen, Fähigkeiten und Mittel ver‐ fügten. Dagegen verweisen asymmetrische Konflikte auf heterogene Strukturen, Fähigkeiten und Ressourcen der Konfliktparteien, die dann auch die Austragungsformen von Konflikten determinieren. Ein klassisches Beispiel stellt diesbezüglich der transnationale Terrorismus mit seinen Strategien dar. Zu Konfliktgegenständen: Darunter werden „jene materiellen oder im‐ materiellen Güter verstanden, die von den direkten Konfliktakteuren 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 76 <?page no="77"?> durch konstitutive Konfliktmaßnahmen angestrebt werden“ (HIIK 2020b). Diesbezüglich existieren verschiedene Typologien: Es kann sich beispielsweise um „objektive Konflikte“ handeln, bei denen es um die Verteilung knapper Werte und Güter geht (zum Beispiel Macht, Herrschaft, Ressourcen), oder um „subjektive Konflikte“, bei denen bestimmte Prädispositionen und sich daraus ergebene Einstellungen wie Ressentiments, Feindschaft, Aggressivität und Hass den Ausschlag geben (vgl. Meyers 1994, S. 31; Bonacker und Imbusch 2006, S. 73). Konfliktgegenstände lassen sich aber auch nach teilbaren und unteil‐ baren Konflikten differenzieren. Bei Erstgenannten handelt es sich um Konflikte, deren Ziel es ist, von einem Gut mehr als die andere Partei zu besitzen (beispielsweise Macht, Ressourcen, Territorium). Sie entsprechen der Logik des „Mehr-oder-Weniger“. Die Güter unteilbarer Konflikte wie Konflikte um Anerkennung, Werte und Normen oder Wahrheit können dagegen nur einer Partei zukommen. Sie folgen der Logik des „Entweder-Oder“. Hier schließt die Systematik verschie‐ dener Konflikttypen von Volker Rittberger und Michael Zürn (1991, S. 420) an. Sie unterscheiden zwischen: ▸ Wertekonflikten, bei denen zwischen den Akteuren unvereinbare Positionsdifferenzen über das anzustrebende Ziel bestehen; ▸ Mittelkonflikten, bei denen zwischen den Akteuren ein Dissens über den einzuschlagenden Weg, ein gemeinsames Ziel zu errei‐ chen, besteht sowie ▸ Interessenkonflikten, bei denen die Akteure um ein knappes Gut konkurrieren. Dabei ist zwischen Interessenkonflikten über absolut und relativ bewertete Güter zu differenzieren: „Charak‐ teristisch für ein absolut bewertetes Gut ist, daß der Wert, den es für die Partei besitzt, nicht davon beeinflußt wird, über wieviel die jeweils andere Partei davon verfügt. Demgegenüber bezieht ein relativ bewertetes Gut seinen Wert erst daraus, daß man 4.3 Konflikte - komplexe Phänomene 77 <?page no="78"?> mehr davon besitzt als andere“ (Rittberger und Zürn 1991, S. 420; Hervorh. im Original). Diese Konflikttypen bieten zugleich Anhaltspunkte für Konfliktbear‐ beitungsmöglichkeiten. Danach seien die Chancen einer Verregelung von Interessenkonflikten über absolut bewertete Güter relativ hoch, während Wertekonflikte und Interessenkonflikte über relativ bewer‐ tete Güter weitaus schwieriger zu bearbeiten seien (vgl. Schaubild 6). Konflikttypen Beispiel Verregelungs‐ fähigkeit Wertekonflikt islamischer Fundamen‐ talismus versus westli‐ che Werte sehr gering Interessenkonflikt über relativ bewertete Güter Rüstung und Rüstungs‐ kontrolle gering Mittelkonflikt Klimaschutz mittel Interessenkonflikt über absolut bewertete Güter Freihandel hoch Schaubild 6: Konflikttypen nach Volker Rittberger und Michael Zürn (1991, S. 406) mit zum Teil veränderten Beispielen Das Heidelberger Konfliktbarometer wiederum differenziert die Kon‐ fliktgegenstände danach, „welches Gut von den Konfliktakteuren angestrebt wird: ▸ Ideologie/ System: Veränderung der ideologischen, religiösen, so‐ zioökonomischen oder rechtlichen Ausrichtung des politischen Systems oder Änderung des Regimetyps. ▸ Nationale Macht: Herrschaftsgewalt in einem Staat. 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 78 <?page no="79"?> ▸ Autonomie: Erlangung oder Ausweitung der politischen Selbst‐ bestimmung einer Bevölkerung in einem Staat oder eines abhän‐ gigen Gebiets ohne Unabhängigkeitsbestrebungen. ▸ Sezession: Trennung eines Teils eines Staatsgebiets mit dem Ziel der Errichtung eines neuen Staates oder des Anschlusses an einen bestehenden Staat. ▸ Dekolonialisierung: Unabhängigkeit eines abhängigen Gebiets. ▸ Subnationale Vorherrschaft: De-facto-Kontrolle einer Regierung, einer nicht-staatlichen Organisation oder einer Bevölkerung über ein Gebiet oder eine Bevölkerung. ▸ Ressourcen: Besitz natürlicher Ressourcen oder Rohstoffe bezie‐ hungsweise der hieraus erzielte Profit. ▸ Territorium: Veränderung des Verlaufs einer zwischenstaatlichen Grenze. ▸ Internationale Macht: Veränderung der Machtkonstellation im internationalen System oder in einem seiner Regionalsysteme. ▸ Anderes: Residualkategorie“ (HIIK 2020b). Zu Austragungsformen von Konflikten: Konflikte können sich destruk‐ tiv entwickeln und zu einer Eskalation - bis hin zu ihrem gewaltsamen Austrag - führen. Sie können aber auch einen konstruktiven Verlauf nehmen, indem Unvereinbarkeiten transformiert werden. Die Band‐ breite reicht damit von Kriegen und bewaffneten Konflikten bis hin zu gewaltfreien und integrativen Handlungen (vgl. Schaubild 7). 4.3 Konflikte - komplexe Phänomene 79 <?page no="80"?> ▸ Ausrottungskrieg ▸ begrenzter Krieg ▸ punktueller Konfliktaustrag mit militärischen Mitteln ▸ Abschreckung ▸ einseitige Anpassung ▸ Schlichtung ▸ Verhandlung ▸ wechselseitige Anpassung ▸ Interessenausgleich im Kom‐ promiss ▸ Zusammenarbeit ▸ Bündnis ▸ Konföderation ▸ Integration ▸ Vereinigung Abnahme gewaltsamer und Zunahme gewaltfreier Modi des Konfliktaustrags Schaubild 7: Formen politischen Konfliktverhaltens nach Reinhard Meyers (1994, S. 29) Der Konfliktaustrag unterliegt auch Dynamiken. Gelingt es den Kon‐ fliktparteien nicht, rechtzeitig und mit einem angemessenen Verhalten auf Konflikte zu reagieren, kann eine Eskalationsspirale einsetzen, die sich verselbständigen kann: „Wir geraten in den Strudel der Konfliktereignisse und merken plötz‐ lich, wie uns eine Macht mitzureißen droht. Wir müssen all unsere Sinne wach halten und sehr überlegt handeln, damit wir uns nicht weiter in die Dynamik des Konflikts verstricken“ (Glasl 1997, S. 34). Der österreichische Trainer für Konfliktmanagement Friedrich Glasl entwickelte ein 9-stufiges Modell der Konflikteskalation (vgl. Schau‐ bild 8). Danach verengen sich mit jeder neuen Eskalationsstufe die Handlungsmöglichkeiten der Konfliktakteure. Bei Konflikten, die sich auf den ersten Eskalationsstufen (Stufen 1-3) befinden, ist eine (begrenzte) Kooperation der beteiligten Parteien noch möglich. Das 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 80 <?page no="81"?> erlaubt inhaltliche und produktive Auseinandersetzungen sowie das Erreichen von win-win-Situationen. Bei weiterer Konflikteskalation (Stufen 4-6) schwinden die Chancen einer konstruktiven Konfliktbe‐ arbeitung. Der Konflikt wird zunehmend auf der Beziehungsebene ausgetragen: „[D]er ursprüngliche Konfliktgegenstand verliert an Bedeutung, wäh‐ rend das Verhältnis der Parteien zueinander selbst zum zentralen Ge‐ sichtspunkt ihrer Auseinandersetzung wird“ (Meyer 2011, S. 37). Kritisch erweist sich nach Glasl das Überschreiten der Stufe 5, die mit einem Gesichtsverlust bei zumindest einer Konfliktpartei einhergeht. Im letzten Stadium (Stufen 7-9) schließlich können alle beteiligten Konfliktparteien nur noch verlieren. 1 1.Verhärtung 2.Debatte und Polemik 3.Taten statt Worte 2 4.Images, Koalitionen 5.Gesichtsverlust 6.Drohstrategien 3 7.Begrenzte Vernichtungsschläge 8.Zersplitterung (des Gegners) 9. Gemeinsam in den Abgrund WIN-WIN WIN-LOSE LOSE-LOSE Schaubild 8: Konflikteskalation in 9 Stufen nach Friedrich Glasl (1997, S. 216, 218 f.) 4.3 Konflikte - komplexe Phänomene 81 <?page no="82"?> Die Konflikteskalation nach Glasl kann unmittelbar an die Galtung‐ sche Konflikttheorie anschließen. Das Modell stützt seinen triadischen Ansatz; insbesondere betont es die Bedeutung der Beziehungsebene der Konfliktakteure und hebt damit auf die Einstellungen und Wahr‐ nehmungen der Akteure im Konfliktgeschehen ab. 4.4 Kriegsdefinitionen Kriege stellen eine bestimmte Form gewaltsamer Konflikte dar, ge‐ kennzeichnet durch „großräumig organisierte Gewalt“ (Münkler 2002, S. 11). Die wohl bekannteste Definition stammt vom preußischen Mi‐ litärtheoretiker Carl von Clausewitz: Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln - beziehungsweise in der Originalfassung: „So sehen wir also, daß der Krieg nicht bloß als politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln“ (Clausewitz 2000 [1832], S. 44). Des Weiteren bestimmt Clausewitz (2000 [1832], S. 27) Krieg als einen „Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“. Damit sind Mittel (Gewalt) und Zweck („dem Feinde unseren Willen aufzudringen“) des Krieges benannt. Diese funktionalistische Kriegsdefinition kann an Thomas Hobbes anschließen, hat dieser „das Konfliktpotenzial aus dem Inneren der Gesellschaft in das äußere verlagert“ und Krieg „als Motor dieser Transformation“ (Bonacker und Imbusch 2006, S. 108) angesehen. Mit der Aufklärung hat sich ein rati‐ onalistischer Kriegsbegriff herausgebildet (vgl. Bonacker und Imbusch 2006, S. 108). Danach sei Krieg irrational und eine Folge absolutistischer Herrschaftsstrukturen. Ein wesentlicher Vertreter dieses Ansatzes ist 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 82 <?page no="83"?> Immanuel Kant. Ihm zufolge sei der Mensch - ist er einmal durch eine republikanische Ordnung von seiner Unmündigkeit befreit - aufgrund seiner Vernunft in der Lage, Konflikte mit nicht-kriegerischen Mitteln zu lösen: „Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistim‐ mung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten […], sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“ (Kant 1968 [1795], S. 351). Seit den Weltkriegen dominiert die völkerrechtliche Definition. Danach stellen Kriege mit Waffengewalt und über einen längeren Zeitraum ausgetragene Konflikte zwischen zwei oder mehreren organisierten und zentral gelenkten Gruppen dar, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte eines Staates handeln muss. Im Völkerrecht kommt der Kriegsbegriff allerdings immer seltener zum Tragen. Stattdessen wird von „internationalen bewaffneten Kon‐ flikten“ (Formen zwischenstaatlicher Anwendung von Waffengewalt) beziehungsweise von „nicht-internationalen bewaffneten Konflikten“ (Formen innerstaatlicher Anwendung von Waffengewalt) gesprochen. Die empirische Kriegsforschung versucht, sich dem Phänomen des Krieges durch quantitative beziehungsweise qualitative Operationali‐ sierungen anzunähern. Im Fokus quantitativer Definitionen steht die Anzahl der Kriegsopfer. Sie bezeichnen einen sozialen Tatbestand als Krieg, wenn die Zahl der (direkten oder indirekten) Todesopfer einer gewaltsamen Auseinandersetzung einen bestimmten Schwellenwert überschreitet. Hier dominiert der Ansatz von David Singer und Melvin Small, der in das Projekt Correlates of War der Universität Michigan eingegangen ist. Sie bezeichnen jeden bewaffneten Konflikt mit min‐ 4.4 Kriegsdefinitionen 83 <?page no="84"?> destens 1.000 getöteten Kombattanten (battle deaths) pro Jahr als Krieg. Quantitative Definitionen sind nicht unumstritten; auch differieren sie stark. Das beinhaltet zum einen den Schwellenwert selbst, ist dieser immer auch zu einem gewissen Grade willkürlich. Auch gibt es Konfliktdatenbanken wie die der Universität Uppsala in Schweden, die nicht nur getötete Kombattanten, sondern auch zivile Todesopfer (battle-related deaths) mit in ihre Analysen einbeziehen. Wieder andere mahnen an, gleichfalls die Größe der betroffenen Populationen mit zu berücksichtigen. Insbesondere würden quantitative Zugänge - so die Hauptkritik - keine Aussagen über zentrale Charakteristika des Krieges zulassen (vgl. Boemcken und Krieger 2006, S. 12f.). Qualitative Definitionen stützen sich stärker auf die Beschaffenheit des Konfliktaustrags. In dieser Tradition sieht sich beispielsweise das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK), auch wenn es an die eben beschriebenen quantitativen Ansätze an‐ knüpfen kann. Das HIIK beschränkt sich in seiner Analyse nicht nur auf Kriege, sondern nimmt alle Konflikte in den Blick, die die „staatliche Kernfunktion oder die völkerrechtliche Ordnung bedrohen oder eine solche Bedrohung in Aussicht stellen“ (HIIK 2020b). Im Fokus steht die Konfliktintensität. In die Operationalisierung einbezogen werden Mittel (Waffen- und Personaleinsatz) sowie Folgen des Gewalt‐ einsatzes (Todesopfer, Flüchtlinge und Ausmaß der Zerstörung). Dabei werden fünf Intensitätsstufen von Konflikten unterschieden: Disput, gewaltlose Krise, gewaltsame Krise, begrenzter Krieg und Krieg (vgl. Schaubild 9). Ein politischer Konflikt wird als Krieg eingestuft, wenn physische Gewalt „in massivem Ausmaß angewandt wird“ und die eingesetzten Mittel und Folgen „in ihrem Zusammenspiel als umfas‐ send bezeichnet werden“ (HIIK 2020b). 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 84 <?page no="85"?> 47 Disput gewaltfreie Konflikte niedrige Intensität gewaltlose Krise gewaltsame Krise gewaltsame Konflikte mittlere Intensität begrenzter Krieg hohe Intensität Krieg Quelle: HIIK. https: / / hiik.de/ hiik/ methodik/ . Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung an der Universität Hamburg (AKUF) orientiert sich an der oben erwähnten völkerrechtlichen Definition. In Anlehnung an den ungarischen Friedensforscher István Kende (1917-1988) gilt ein gewaltsam ausgetragener Konflikt als Krieg, wenn er alle der folgenden Merkmale aufweist: <<Aufzählung (a) bis (c)>> (a) „an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt; (b) auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentral gelenkter Organisation der Kriegsführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkriege usw.); (c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, das heißt beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem Gebiet einer oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern“ (AKUF 2020). Zudem differenziert die AKUF zwischen Kriegen und bewaffneten Konflikten. Letzteres bezeichnet militärische Auseinandersetzungen, die die Kriterien der Kriegsdefinition nicht in vollem Umfang erfüllen, beispielsweise wenn die Kontinuität der Kampfhandlungen (noch) nicht gegeben ist. Auch qualitative Ansätze unterliegen der Kritik. Zum einen bleiben diese in der Regel einer staatszentrierten Perspektive verhaftet (vgl. beispielsweise Punkt a der AKUF-Definition), die der zunehmenden Entgrenzung des Krieges nicht gerecht werden. Zum anderen werden Kriege und bewaffnete Konflikte als klar abgrenzbare Tatbestände begriffen. In der empirischen Wirklichkeit sind die Grenzen - zwischen Kriegs- und Friedenszuständen, zwischen militäri- Schaubild 9: Stufen der Konfliktintensität nach dem HIIK (2020b) Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung an der Universität Hamburg (AKUF) orientiert sich an der oben erwähnten völkerrecht‐ lichen Definition. In Anlehnung an den ungarischen Friedensforscher István Kende (1917-1988) gilt ein gewaltsam ausgetragener Konflikt als Krieg, wenn er alle der folgenden Merkmale aufweist: (a) „an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt; (b) auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentral gelenkter Or‐ ganisation der Kriegsführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkriege usw.); (c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, das heißt beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem 4.4 Kriegsdefinitionen 85 <?page no="86"?> Gebiet einer oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern“ (AKUF 2020). Zudem differenziert die AKUF zwischen Kriegen und bewaffneten Konflikten. Letzteres bezeichnet militärische Auseinandersetzungen, die die Kriterien der Kriegsdefinition nicht in vollem Umfang erfüllen, beispielsweise wenn die Kontinuität der Kampfhandlungen (noch) nicht gegeben ist. Auch qualitative Ansätze unterliegen der Kritik. Zum einen bleiben diese in der Regel einer staatszentrierten Perspektive verhaftet (vgl. beispielsweise Punkt a der AKUF-Definition), die der zunehmenden Entgrenzung des Krieges nicht gerecht werden. Zum anderen werden Kriege und bewaffnete Konflikte als klar abgrenzbare Tatbestände begriffen. In der empirischen Wirklichkeit sind die Grenzen - zwischen Kriegs- und Friedenszuständen, zwischen militärischer und ziviler Sphäre sowie zwischen innen und außen - dagegen fließend. So lassen sich auch Entwicklungen und Phänomene wie die sogenannten neuen Kriege nur begrenzt in die klassischen Kategorien einordnen. Bis heute besteht eine offene Debatte darüber, wo der transnationale Terrorismus zu verorten sei: als Krieg oder krimineller Akt, verbunden mit differenten Strategien der Konfliktbearbeitung (ausführlicher dazu Kapitel 5.4). Was macht nun aber das Wesen des Krieges aus? Hier lassen sich drei zentrale Merkmale ausmachen (vgl. Jahn 2012, S. 33): Erstens stellen Kriege - in Anlehnung an Carl von Clausewitz - eine Form der Politik dar. Damit bleiben andere gewaltsame Formen individueller oder gesellschaftlicher Konflikte wie Privatfehden oder kriminelle Bandenkriege außen vor (auch unabhängig von der Zahl der Opfer). Zweitens erfordern Kriege mindestens zwei kriegsbereite Akteure oder provokant formuliert: Krieg beginnt mit der Verteidigung. Und drittens unterscheiden sich die normativen Prämissen der Gewaltanwendung: 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 86 <?page no="87"?> Das Töten im Krieg ist - selbst heutzutage bei Einhaltung des huma‐ nitären Völkerrechts - rechtlich und häufig auch ethisch erlaubt. Dabei verlangen auch Demokratien ihren Soldaten und Soldatinnen im Krieg ab, entgegen gesellschaftlich etablierter Normen und Werte zu handeln, indem sie töten und zugleich die Bereitschaft eingehen, getötet zu werden. 4.5 Kriegsursachen Warum kommt es zu Kriegen? Diese Frage ist für die Friedens- und Konfliktforschung essenziell. Die Kriegsursachenforschung hat sich zu einem etablierten Bereich des Fachs entwickelt. Dabei ist es selbstredend, dass Kriegsursachen hochkomplex und nur multikausal zu erklären sind (vgl. Matthies 2004, S. 412). Kenneth Waltz (2001) verweist auf drei Ebenen von Kriegsursa‐ chen (vgl. Schaubild 10). Danach sind es auf individueller Ebene Aggressionen, das Menschenbild oder Machtkalküle von Eliten, die Entscheidungen zum Krieg befördern können. Auf staatlicher Ebene werden bestimmte Herrschaftsstrukturen wie nicht-demokratische, ungerechte oder schwache Staaten für einen gewaltsamen Konflikt‐ austrag verantwortlich gemacht. Auf internationaler Ebene wiederum seien es die Anarchie des internationalen Systems, das sich daraus ergebene Sicherheitsdilemma sowie eine (Un-)Balance of Power, welche die Anwendung militärischer Gewalt begünstigen. 4.5 Kriegsursachen 87 <?page no="88"?> First Image Second Image Third Image Kriege entstehen in den Köpfen der Menschen als Folge von Dummheit, Selbstsucht oder aggressiven Impulsen Kriege sind das Ergebnis despotischer Herrschaft, mangelnder rechtstaatlicher Verfassung oder ungerechter Verteilung Kriege resultieren aus dem anarchischen Naturzustand: Staaten als souveräne Akteure sind keiner höheren Macht unterworfen Individuen Staaten Internationales System Schaubild 10: Typologie von Kriegsursachen nach Kenneth Waltz (2001) Waltz’ Perspektive ist eine spezifisch (neo)realistische und als solche bietet sie einen unmittelbaren konflikttheoretischen Zugang, geht sie „vom konkurrierenden Machtstreben politischer Einheiten und vom Konflikt als der Grundbedingung der Weltpolitik“ (Hubel 2005, S. 19) aus. Zusätzlich dazu lassen sich in der Kriegsursachenforschung zwei zentrale Ansätze voneinander unterscheiden: systemische und stra‐ tegische Ansätze (vgl. Rapoport 1966; ebenso Ruloff 2004, S. 14). Strategische beziehungsweise entscheidungstheoretische Ansätze haben ihre Wurzeln bei Carl von Clausewitz und seiner Bestimmung des Krieges als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Sie gehen davon aus, dass Kriege die Folge von Kalkülen von Akteuren seien. In dieser Perspektive lassen sich drei Theorien ausmachen: (a) Rational Choice-Ansätze, nach denen sich „die Rationalität des Entscheidens, zu den Waffen zu greifen, in einigen Fällen rein logisch nachvollziehen [lasse]“ (Ruloff 2004, S. 15), (b) spieltheoretische Ansätze, die auf Dilemma-Situationen abzielen, sowie (c) organisationssoziologische und -psychologische Ansätze. 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 88 <?page no="89"?> Systemische Ansätze dagegen negieren die zentrale Rolle der Han‐ delnden; sie verweisen auf vorrangig strukturelle Ursachen. Diese Perspektive findet sich prominent bei Lew Tolstoj, heißt es in seinem Epos „Krieg und Frieden“: „Obgleich Napoleon im Jahre 1812 mehr als je der Ansicht war, daß es von ihm abhänge, ob er das Blut seiner Völker vergießen wolle oder nicht […], so war er doch nie in höherem Maß als damals jenen unübertretbaren Gesetzen unterworfen, die, während er nach freiem Willen zu handeln meinte, ihn zwangen, für die Allgemeinheit, für die Geschichte eben das zu tun, was sich vollziehen sollte“ (Tolstoj 2015 [1867], S. 1059f.). Aus systemischer Sicht werden Kriege heute nicht mehr als Gesetze der Geschichte betrachtet, vielmehr als „Nebenprodukt sozialer, wirt‐ schaftlicher und politischer Umwälzungen“ (Ruloff 2004, S. 14). Hier kommen insbesondere fünf Dimensionen von Kriegsursachen zum Tragen (vgl. u. a. Brown 2001; Smith 2004; Boemcken und Krieger 2006): ▸ Sozioökonomische Faktoren: Sie gelten als die bedeutendste langfristige Ursache innerstaatlicher bewaffneter Konflikte und Kriege. Ein wesentliches Kennzeichen ist die sozioökonomische Heterogenität (soziale Ungerechtigkeit). Diese hat zahlreiche Ursachen: ungerechte Verteilungen, Wirtschaftssysteme, die einzelne Gruppen bevorzugen beziehungsweise benachteiligen, oder auch ökonomische Entwicklungen, die mit Veränderungen der Sozialstruktur einhergehen. ▸ Politische Faktoren: Auch sie erweisen sich als zentrale Kriegsur‐ sache. Insbesondere können repressive politische Systeme Krieg befördern, speziell in Transitionszeiten. Hinzu kommen politi‐ sche Machterhaltungsinteressen (wie Herrschaftssicherung, He‐ 4.5 Kriegsursachen 89 <?page no="90"?> gemoniebestrebungen, Territoriumsansprüche), gegebenenfalls politische Fehlperzeptionen nationaler Eliten und Herrschafts‐ gruppen, eine Nichtbeachtung beziehungsweise Verletzung po‐ litischer Gruppenrechte, aber auch Risiken, die von fragiler Staatlichkeit ausgehen (Legitimationsdefizite von Regierung und öffentlichen Einrichtungen, fehlende Gewaltenteilung, Krimina‐ lität etc.). ▸ Sicherheitspolitische Faktoren: Diese gehen auf vorrangig neorea‐ listische Annahmen zurück (vgl. auch obige Ausführungen zu Kenneth Waltz’ Typologie); sie ergeben sich aus der internatio‐ nalen Ordnung. Dabei werden für Kriege vor allem die Anarchie der Staatenwelt und das damit verbundene Sicherheitsdilemma verantwortlich gemacht. ▸ Ökologische Faktoren: Selbst wenn sie an die Bedeutung sozio‐ ökonomischer und politischer Faktoren nicht heranreichen, spielen sie eine nicht zu unterschätzende Rolle. So können Zerstörungen der Umwelt (wie Bodenerosion, Abholzung oder durch Naturabbau bedingter Wassermangel) zu einer Verknap‐ pung von Ressourcen führen und wirtschaftliche Probleme noch befördern. ▸ Kulturelle Faktoren: Hierzu zählen verschiedenste Muster kultu‐ reller Diskriminierung. Häufig wird auf die ethnisch-kulturelle Heterogenität abgehoben. Dabei stellen ethnische Differenzen selten die alleinige Ursache von bewaffneten Konflikten dar, sie kommen aber - in Verbindung mit sozioökonomischen und politischen Faktoren - „als wichtige Ressource machtpolitischer Mobilisierung und Manipulierung“ (Knapp und Krell 2004, S. 413) zum Tragen. Bewaffnete Konflikte und Kriege lassen sich selten auf nur eine dieser Ursachenkategorien zurückführen; es gibt nicht den sozioöko‐ 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 90 <?page no="91"?> nomischen, politischen oder kulturellen Konflikt. Vielmehr dienen die verschiedenen Erklärungsansätze als „analytisches Gesamtmodell“ (Boemcken und Krieger 2006, S. 17), in dem sich die Konflikte und Kriege in je spezifischer Weise verorten lassen. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, welche der Ursachen sich wie und zu welchem Grade in einem konkreten Fall als erklärungsfähig erweisen, sondern auch, wie die verschiedenen Faktoren in Beziehung zueinander stehen und interagieren (vgl. Smith 2004, S. 7). Mit diesen - hier nur stichwortartig aufgezeigten - Kriegsursachen ist die Vielschichtigkeit des Phänomens Krieg aber noch nicht vollständig erfasst. Für eine multidimensionale Analyse erarbeitete Dan Smith (2004, S. 8f.) in Anlehnung an David Dessler eine Typologie, mit der er neben Hintergründen bewaffneter Konflikte und Kriege (background causes, underlying conditions) weitere Faktoren in Anschlag bringt: ▸ Mobilisierungsstrategien (mobilisation strategy): Diese gehen insoweit über die Zielsetzungen der politischen Akteure hinaus, als sie Wege und Taktiken ansprechen, diese zu erreichen (ein‐ schließlich von Strategien zur Mobilisierung der Bevölkerung). ▸ Konfliktauslöser (triggers): Diese erklären weniger, warum ein bewaffneter Konflikt oder Krieg beginnt, sondern vielmehr, warum gerade zu diesem Zeitpunkt. ▸ Katalysatoren (catalysts): Darunter werden Faktoren gefasst, die die Intensität und Dauer des bewaffneten Konflikts beeinflussen. Das können interne Aspekte (zum Beispiel ein militärisches Kräftegleichgewicht der beteiligten Parteien), externe Einflüsse (wie Interventionen von außen, beispielsweise durch die interna‐ tionale Gemeinschaft) oder auch Naturphänomene (Territorium, Klima etc.) sein. 4.5 Kriegsursachen 91 <?page no="92"?> 4.6 Fazit Konflikte sind hochgradig komplexe und ambivalente Phänomene: Sie können „sowohl als ‚Klebstoff ‘ wie auch als ‚Lösemittel‘ fungieren“ (Bonacker und Imbusch 2006, S. 77) und eine konstruktive, aber auch destruktive Kraft entfalten. Dabei ist zwischen den verschiedenen Konfliktdimensionen zu unterscheiden: zwischen dem Konfliktbegriff und seinem Austrag wie auch zwischen den Konfliktformen und seinen Ursachen. Zudem erweisen sich die in der Friedens- und Konfliktforschung existierenden Konflikttypologien nicht ohne Weiteres als kompatibel, setzen sie bei verschiedenen Größen an: Das HIIK beispielsweise orien‐ tiert sich wie an obiger Stelle ausgeführt an der Konfliktintensität. Die AKUF wiederum differenziert nach Konfliktgegenständen beziehungs‐ weise nach der Zielsetzung der Konfliktparteien und unterscheidet vier Kriegstypen: Antiregime-Kriege, Autonomie- und Sezessionskriege, zwischenstaatliche Kriege und Dekolonisationskriege. Auch lassen sich Konflikte nach Konfliktakteuren klassifizieren. Hierbei hat sich die Vergesellschaftungsform beziehungsweise der politische Status der Akteure als zentrales Kriterium durchgesetzt. Eine weitere Typologie stellt, da sie bewaffnete Konflikte und Kriege nicht zwingend an einen staatlichen Akteur bindet, die des Politikwissenschaftlers Sven Chojnacki (2006, S. 56) dar. Er spricht von vier Kerntypen kriegerischer Gewalt und unterteilt diese in: ▸ „zwischenstaatliche Kriege (zwischen mindestens zwei souverä‐ nen Staaten), ▸ extrastaatliche Kriege (zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren jenseits bestehender Staatsgrenzen), 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 92 <?page no="93"?> 21 Zu Typologien bewaffneter Konflikte und Kriege vgl. auch BICC (2011). ▸ innerstaatliche Kriege (zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren innerhalb bestehender Grenzen) sowie ▸ substaatliche Kriege (zwischen nichtstaatlichen Gewaltakteuren innerhalb oder jenseits formaler Staatsgrenzen).“ 21 Diese Vielschichtigkeit macht es schwer, wenn nicht gar praktisch unmöglich, eine allgemeingültige Konflikttypologie zu entwickeln, die umfassend und widerspruchsfrei zugleich ist. Die folgenden Ausfüh‐ rungen beanspruchen auch nicht, eine solche zu liefern. Vielmehr sollen im Hinblick auf die Differenzierung von Konflikten nach ihren Ebenen und Akteuren, ihren Gegenständen und ihren Austragungs‐ formen wesentliche Charakteristika und Herausforderungen aktueller Konstellationen herausgearbeitet und diskutiert werden. Weiterführende Literatur: Bonacker, Thorsten (Hrsg.). 2008. Sozialwissenschaftliche Konflikt‐ theorien. Eine Einführung. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dieses Lehrbuch liefert einen ideenge‐ schichtlichen und systematischen Überblick über soziologische, politikwissenschaftliche und psychologische Konflikttheorien. Das umfasst neben klassischen Positionen von Thomas Hobbes, Karl Marx, Max Weber und Georg Simmel Konflikttheorien der In‐ ternationalen Beziehungen, soziologischer Gesellschaftstheorien sowie sozialwissenschaftlicher Akteurstheorien. Galtung, Johan. 2007. Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Kon‐ flikt, Entwicklung und Kultur. Münster: agenda Verlag. Die Kon‐ flikttheorie von Galtung (im Teil II seines Bandes) fokussiert auf 4.6 Fazit 93 <?page no="94"?> die zerstörerisch-schöpferische Doppelnatur des Konflikts. Nach einer Klärung von Grundbegriffen entwickelt Galtung Typologien möglicher Konflikttransformationen und gewaltloser Konfliktin‐ terventionen. Geis, Anna (Hrsg.). 2006. Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Baden-Baden: Nomos. Die Bei‐ träge dieses Bandes befassen sich mit den empirischen und theo‐ retischen Herausforderungen des globalen Kriegsgeschehens und behandeln für die gegenwärtige Friedens- und Konfliktforschung zentrale Kriegsbegriffe und -theorien. 4 Konflikt - Konzeptionelle Vorüberlegungen 94 <?page no="95"?> 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen Asymmetrische Konstellationen stellen keine neuen Erscheinungen im Konfliktgeschehen dar, sind aber in den letzten Jahrzehnten ver‐ stärkt in den Blick der Friedens- und Konfliktforschung geraten. Stellvertretend dafür stehen die Debatten um die sogenannten „neuen Kriege“. Worauf ist aber dieser Fokus auf asymmetrische Konflikte, die historisch wie global eher den Regelfall denn die Ausnahme bilden (vgl. Münkler 2006a, S. 215; Schmidt 2012, S. 28), zurückzuführen? Was zeichnet asymmetrische Konflikte überhaupt aus? Und worin besteht das Neue an den heutigen asymmetrischen Konflikten? 5.1 Symmetrie und Asymmetrie im Konfliktgeschehen Zunächst bedürfen die beiden Begriffe - Symmetrie und Asymmetrie - einer Klärung. Unter Symmetrie wird allgemein „Ebenmaß sowie Ausgewogenheit oder die wechselseitige Entsprechung von Teilen in Bezug auf Größe, Form oder Anordnung“ verstanden (Schmidt 2012, S. 26). Dagegen lässt sich Asymmetrie als die Abwesenheit dieser wechselseitigen Entsprechung beziehungsweise „den Mangel an Sym‐ metrie“ fassen und als „Ungleichmäßigkeit“ definieren (Schmidt 2012, S. 26). Diese kann verschiedene Dimensionen annehmen. So könne ein asymmetrischer Konflikt „als eine Unterschiedlichkeit der Akteure, deren Strategien, Mittel und Methoden als auch ihrer Ressourcen verstanden werden“ (Schmidt 2012, S. 29; vgl. auch Feichtinger 2004, <?page no="96"?> S. 69). Das Wörterbuch zur Sicherheitspolitik beschreibt asymmetri‐ sche Operationen als „Operationen zwischen Kräften von Gegnern/ Kontrahenten, die weit‐ gehend in der Organisationsform, ihren eingesetzten Mitteln und Fä‐ higkeiten und in der technologischen Entwicklung der eingesetzten Mittel nicht übereinstimmen“ (Meier et al. 2003, S. 30). Auf die Bedeutung der Organisationsform der Akteure verweist auch Christopher Daase. Gemäß seiner Argumentation führen verschie‐ dene Vergesellschaftungsformen der Akteure zu unterschiedlichen Konfliktstrukturen und Kriegsformen, die wiederum unterschiedliche Wirkungen auf die Normkonformität zeitigen (vgl. Daase 1999, S. 91ff.). So seien Symmetrie und Asymmetrie von Akteuren nicht nur eine Frage militärischer Macht, sondern vorrangig eine der politischen Organisation. Danach führe „eine bestimmte Vergesellschaftung zu einer bestimmten Art der Interessendefinition und einer bestimmten Präferenz hinsichtlich des Konfliktaustragungsmodus“ (Daase 1999, S. 93). Ein Staat sei - schon aufgrund seiner Ordnungsstruktur - auf bestimmte nationale Interessen und die Kontrolle von Territorium und Bevölkerung ausgerichtet. Diese versetze ihn zugleich in die Lage, ein stehendes Heer zu unterhalten, welches er - will er dem politischen System nicht nachhaltig schaden - regelgeleitet einzusetzen habe. Dagegen sei ein nichtstaatlicher Akteur, der einen weitaus geringe‐ ren Organisationsgrad aufweise und weder über die Kontrolle von Territorium und Bevölkerung noch über ein stehendes Heer verfüge, nicht diesen ordnungspolitischen Zwängen unterworfen. Er müsse sich an keine Regeln und keine konventionelle Kriegsführung halten und könne dies (neben häufig fehlendem konventionellen Kriegsgerät) 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 96 <?page no="97"?> 22 Herfried Münkler (2005a, S. 12f.) verweist hierbei auf die Territorialität und ihre Bedeutung für das Staatensystem, die Symmetrie seiner Ak‐ teure und die damit verbundene Reziprozität: „Territorialität schafft einen identifizierbaren und insofern angreifbaren und dementsprechend verletzbaren politischen Körper. Wer von seinem Territorium aus das anderer angreift, muss damit rechnen, dass sein eigenes Territorium ebenfalls angegriffen und verheert wird. So funktioniert Reziprozität. […] In einem prinzipiellen Sinne ändert sich dies erst, wenn der politische Körper verschwindet, also nichtterritoriale politische Akteure auftreten.“ angesichts fehlender politischer Organisation auch gar nicht. 22 Vor diesem Hintergrund liegt eine symmetrische Konfliktstruktur vor, wenn zwei gleich oder ähnlich vergesellschaftete Akteure (z. B. zwei staatliche Akteure) - und damit gleiche oder ähnliche Interessenstruk‐ turen und Präferenzen der Konfliktaustragung - aufeinandertreffen. Eine asymmetrische Konfliktstruktur herrscht dagegen vor, wenn zwei ungleich vergesellschaftete Akteure (staatlicher und nichtstaatlicher Akteur) - und damit divergierende Interessenstrukturen und Präfe‐ renzen der Konfliktaustragung - aufeinandertreffen (vgl. Daase 1999, S. 93f.). Bezüglich asymmetrischer Konfliktstrukturen lassen sich verschie‐ dene Konstellationen der Kriegsführung unterscheiden: Asymmetrien der Stärke und Asymmetrien der Schwäche (vgl. Münkler 2006a, S. 140f.). Asymmetrien der Stärke resultieren - militärisch betrachtet - aus einer militärorganisatorischen und/ oder waffentechnischen Über‐ legenheit. Im Fokus des Bestrebens steht hier die Gewinnung neuer Räume und Sphären. Das reicht von der Eroberung von Land- und Seeräumen über den Luft- und Weltraum bis hin zur heute dominant werdenden Sphäre des Cyberraums. Ziel dieser Strategie ist die Unver‐ wundbarkeit. Stellt die unterlegende Seite ihre Ansprüche nicht zurück, liegt eine militärische Reaktion auf die Asymmetrie der Stärke in der „Resymmetrierung militärischer Ungleichgewichte“ (Münkler 2006a, 5.1 Symmetrie und Asymmetrie im Konfliktgeschehen 97 <?page no="98"?> S. 141). Ein Beispiel hierfür stellen die Rüstungsspiralen zu Zeiten des Kalten Krieges dar. Gelingt diese Strategie angesichts nicht verfügbarer Ressourcen oder divergierender Vergesellschaftungsformen der Ak‐ teure nicht, bleibt der unterlegenden Seite - militärisch betrachtet - als Reaktion nur die „Form der strategischen Asymmetrie aus Schwäche“ (Münkler 2006a, S. 141; Hervorh. d. Verf.). Ein klassisches Beispiel stellt der Partisanenkrieg dar. In diesem geben sich die Kämpfer nicht als solche zu erkennen, sie operieren aus dem Untergrund, greifen überfallsartig an und tauchen wieder unter. Ziel dieser Strategie ist die Unerkennbarkeit. Mit ihr soll der Krieg räumlich und zeitlich entgrenzt werden, um auf diese Weise die überlegende Seite zu zermürben (vgl. Münkler 2006a, S. 141). Die verschiedenen Konfliktstrukturen und Kriegsformen haben zugleich Auswirkungen auf die Legitimität des (militärischen) Kon‐ fliktaustrags. Während sich in symmetrischen Konfliktstrukturen Streitkräfte zumeist staatlicher Konfliktparteien gegenüberstehen, die sich angesichts ihrer Gleichheit der militärischen Organisation und ihrer im Völkerrecht verankerten Regelungen als gleichrangige und legitime Gegner ansehen, stehen sich in asymmetrischen Kriegen Konfliktparteien gegenüber, die sich in ihrer militärisch-strategischen Zielsetzung grundlegend voneinander unterscheiden. Dabei werden asymmetrische Kriege nicht unter den Bedingungen wechselseitiger Anerkennung als iustus hostis geführt, womit auch die Regelungen des humanitären Völkerrechts ihre Bindekraft zu verlieren drohen (vgl. Daase 1999, S. 95f.; Münkler 2006a, S. 217; Schmidt 2012, S. 35). Die Frage der Normkonformität zeitigt wiederum stabilisierende respektive destabilisierende Konsequenzen. Dementsprechend resü‐ miert Christopher Daase (1999, S. 101): „Wo den Normen und Regeln gemäß gehandelt wird, wie im konventio‐ nellen Krieg, dort werden diese Normen und Regeln reproduziert, und 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 98 <?page no="99"?> 23 In Anlehnung an Buciak (2008, S. 36), der sechs Kriterien („Sextett der Divergenzkriterien“) in Anschlag bringt: die quantitative, qualitative und strategisch-taktische sowie die Rechts-, Eskalations- und ökonomi‐ sche Divergenz. diese Reproduktion führt zur Stabilisierung des politischen Systems. Wo Normen gebeugt und Regeln gebrochen werden, wie im unkonventio‐ nellen Krieg, dort verlieren sie an Gültigkeit, was zur Destabilisierung des politischen Systems beiträgt.“ Zusammenfassend betrachtet lassen sich asymmetrische Konstella‐ tionen der Kriegsführung mittels verschiedener Divergenzkriterien 23 näher charakterisieren: ▸ Akteursdivergenz: Die Akteure weisen in der Regel unterschiedli‐ che Vergesellschaftungsformen auf (staatliche versus nichtstaat‐ liche Akteure, qualitative Divergenz). Dabei sind nichtstaatliche Akteure im Kampf gegen staatliche Streitkräfte stets auch zah‐ lenmäßig unterlegen (quantitative Divergenz). ▸ Mitteldivergenz: Akteure in asymmetrischen Konstellationen verfügen über ungleiche Mittel. Das umfasst die Menge an Waf‐ fensystemen (quantitative Divergenz), aber auch deren Reich‐ weite und Durchschlagskraft (qualitative Divergenz). Dazu ge‐ hört auch die Fähigkeit, bestimmte Räume und Sphären (Land, Wasser, Luft, Weltraum, Cyberraum) zu beherrschen. Neben unterschiedlichen technologischen Zugängen ist dies auch dif‐ ferierenden finanziellen Ressourcen geschuldet. ▸ Strategisch-taktische Divergenz: Während sich in symmetrischen Kriegen gleiche oder ähnliche Militärorganisationen mit ver‐ gleichbaren Strategien und Taktiken gegenüberstehen, zeigen asymmetrische Konstellationen deutliche Unterschiede auf 5.1 Symmetrie und Asymmetrie im Konfliktgeschehen 99 <?page no="100"?> (Strategie der Unverwundbarkeit versus Strategie der Unerkenn‐ barkeit). ▸ Rechtsdivergenz: Reguläre Streitkräfte sind - zumindest in Demo‐ kratien - normgebunden und regelgeleitet; sie sind innerstaat‐ lich (in der Regel auf verfassungsrechtlicher Ebene) verankert und unterliegen völkerrechtlichen Regelungen. Demgegenüber stehen die irregulären Kämpferinnen und Kämpfer, die „eigene Handlungs- und Rechtfertigungsmaßstäbe“ (Buciak 2008, S. 36) entwickeln und sich in der Regel nicht an die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts gebunden fühlen. Nicht selten führt die Irregularität auch in eine „Rebarbarisierung gewaltsamer Konfliktaustragung“ (Vogt 2008, S. 45). ▸ Legitimationsdivergenz: Während sich die Akteure in symmetri‐ schen Konflikten - und dafür stehen auch die völkerrechtlichen Regelungen - als gleichrangige und legitime Gegner ansehen, sprechen sich Akteure in asymmetrischen Konstellationen ge‐ genseitig ihre Legitimität ab. Das eröffnet dann auch häufig Wege für Instrumentalisierungen ideologischer oder religiöser Art. 5.2 Die neuen Kriege Mit dem Ende der Bipolarität und Blockkonfrontation wird verstärkt ein Wandel des Krieges konstatiert. Martin van Creveld argumentiert bereits 1991, dass der klassische zwischenstaatliche Krieg überholt sei und zunehmend nichtstaatliche Akteure, innerstaatliche Kriege sowie „low intensity conflicts“ an Bedeutung gewinnen. Andere Autoren sprechen von „wars of the ‚third kind‘“ (Holsti 1996), „kleinen Krie‐ gen“ (Daase 1999) oder „wilden Kriegen“ (Sofsky 2002). Besondere 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 100 <?page no="101"?> Aufmerksamkeit erfahren hat der Begriff der „neuen Kriege“ - ein Terminus, der begrifflich auf Mary Kaldor (1999) zurückgeht und den Herfried Münkler (2002) prominent in die deutsche Forschungsland‐ schaft eingeführt hat. Dabei setzen die einzelnen Autorinnen und Autoren dieses Theorems unterschiedliche Fokusse: So macht van Creveld vorrangig die Waffentechnologie und die Existenz atomarer Waffen für das Verschwinden des Krieges zwischen Großmächten verantwortlich, während Kriege an der Peripherie fortdauern. Kaldor betont die identitätspolitische Dimension der neuen Kriege, die die machtpolitische der alten Kriege ablöse. So werden die neuen Kriege im Namen der Identität (Nation, Stamm, Religion) geführt, wobei na‐ tionalistische oder ethnische Identitäten von Kriegsakteuren benutzt werden, um Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren und die Diaspora zu unterstützen. Münkler (2002; 2006a, b; 2018) wiederum hebt auf drei Merkmale ab: ▸ die Entstaatlichung beziehungsweise Privatisierung des Krieges: Mit den neuen Kriegen habe der Staat sein Kriegsführungsmo‐ nopol verloren. So seien es zunehmend nichtstaatliche Akteure - Warlords, lokale Kriegsherren oder überregionale Kriegsunter‐ nehmer -, die das Kriegsgeschehen bestimmen und von ihm profitieren, während Staaten fast nur noch reaktiv auf Kriege reagieren. ▸ die Kommerzialisierung des Krieges: Die neuen Kriege führen zu einer Diffusion von Gewaltanwendung und Erwerbsleben. Münkler (2002, S. 29) konstatiert: „Der Krieg wird zur Lebens‐ form: Seine Akteure sichern ihre Subsistenz durch ihn, und nicht selten gelangen sie dabei zu beträchtlichem Vermögen. Jedenfalls bilden sich Kriegsökonomien aus, die kurzfristig durch Raub und Plünderungen, mittelfristig durch unterschiedliche Formen von Sklavenarbeit und längerfristig durch die Entste‐ 5.2 Die neuen Kriege 101 <?page no="102"?> hung von Schattenökonomien gekennzeichnet sind, in denen Tausch und Gewaltanwendung eine untrennbare Verbindung eingehen.“ Dabei unterscheiden sich die Warlordfigurationen der neuen Kriege von klassischen Bürgerkriegskonstellationen. Während Letztere politisch konnotiert seien und innerstaatliche Auseinandersetzungen zur Durchsetzung politischer Interessen und Ideen darstellen, könne - so Münkler (2002, S. 44) - davon „in vielen der neuen Kriege nicht die Rede sein“. ▸ die Asymmetrierung des Krieges: Diese stelle eine Reaktion auf nicht überwindbare militärische Asymmetrien dar und führe zu einer „Asymmetrierung der Kriegsgewalt durch ansonsten unterlegene und kaum kampffähige Akteure“ (Münkler 2006b, S. 134), die sich auf diese Weise zu behaupten suchen. „Die Entstehung weltpolitischer Asymmetrien durch die offenkundig uneinholbare wirtschaftliche, technologische, militärische und kulturindustrielle Überlegenheit der USA geht mit einer Asym‐ metrierung des Krieges durch die Verlagerung der Kampfzonen, die Umdefinition der Mittel zur Kriegführung und die Mobilisie‐ rung neuer Ressourcen einher“ (Münkler 2002, S. 53). Darunter lassen sich auch Strategien des transnationalen Terrorismus fassen (vgl. Kapitel 5.4 dieses Lehrbuchs). Die Asymmetrien beschränken sich dabei nicht nur auf die physische Sphäre, sie beinhalten auch eine psychische Dimension. Diese setzen bei der hohen Verwundbarkeit postheroischer Gesellschaften an, die immer weniger bereit seien, eigene Opfer in Kauf zu nehmen (vgl. Münkler 2002, S. 50). Mit dem Theorem der neuen Kriege verbinden sich weitere Charakte‐ ristika: Sie reichen von einer Entmilitarisierung des Krieges (so seien die kriegsführenden Parteien immer häufiger Krieger und nicht Soldaten) über die Nivellierung der Unterscheidung von Kombattanten und Nicht‐ 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 102 <?page no="103"?> kombattanten und eine damit verbundene Regellosigkeit, Entzivilisie‐ rung (auch Barbarisierung) und Enthegung des Krieges (sowohl zeitlich als auch räumlich) bis hin zu einer Hybridisierung der Zustände (weder Krieg noch Frieden). Die neuen Kriege richten sich auch nicht mehr gegen bewaffnete Kräfte, sondern primär gegen die Zivilbevölkerung. Waren in klassischen Staatenkriegen bis zu etwa 90 Prozent der Getöte‐ ten und Verwundeten Kombattanten, sind es in den neuen Kriegen mit 80 Prozent vorrangig Zivilisten (vgl. Münkler 2002, S. 28f.). Damit einher gehen ein „Angstmanagement“, eine weitgehende „Entdisziplinierung der Bewaffneten“ und eine „Resexualisierung der Gewaltanwendung“ (Münkler 2002, S. 29f.; vgl. Schaubild 11). Zentrale Charakteristika der neuen Kriege „Die Neuen Kriege schwelen vor sich hin, lodern gelegentlich auf und glimmen dann untergründig fort, so dass man oft nicht mit Sicherheit sagen kann, ob in dem betreffenden Gebiet Krieg oder Frieden herrscht; die Neuen Kriege sind weder zwischen‐ staatliche noch rein innergesellschaftliche Kriege, sondern fast immer beides zugleich, weswegen man auch von transnationa‐ len Kriegen spricht; die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nonkombattanten, eine Schlüsseldifferenz des klassischen Kriegsrechts, spielt in ihnen keine Rolle, weswegen mit Blick auf die Zivilbevölkerung auch von Semikombattanten gesprochen wird. Die Neuen Kriege sind infolgedessen dadurch charakteri‐ siert, dass sie keinerlei evolutive Richtung aufweisen, sondern durch rekursive und zirkuläre Dynamiken gekennzeichnet sind“ (Münkler 2018, S. 1886). 5.2 Die neuen Kriege 103 <?page no="104"?> Als Vergleichsfolie dient dem Theorem der neuen Kriege das her‐ kömmliche Kriegsgeschehen, die sogenannten „alten Kriege“. Darunter werden nicht die Imperialkriege der europäischen Kolonialmächte oder die innergesellschaftlichen Kriege in Europa und andernorts gefasst, sondern „die zwischenstaatlichen Kriege, bei denen souveräne Territorialstaaten die Monopolisten sowohl der legitimen als auch der faktischen Kriegsführungsfähigkeit waren“ (Münkler 2018, S. 1885). Dagegen mag man einwenden, dass es sich bei dieser Sichtweise um eine eurozentristische handelt, stellen die Staatenkriege global betrachtet eher die Ausnahme denn die Regel dar. Dennoch hat sich diese Konstellation international als durchaus prägend erwiesen: Allen Kriegsdefinitionen ist gemeinsam, dass sie den klassischen Staaten‐ krieg im Blick haben (vgl. Schmidt 2012, S. 24). Die Charta der Vereinten Nationen wie auch das humanitäre Völkerrecht haben den Staat als Referenzpunkt (vgl. Münkler 2018, S. 1885). Und auch Kalevi J. Holsti (1992, S. 38f., zit. nach Daase 1999, S. 15) konstatiert: „Unsere leitenden Begriffe, Theorien der internationalen Beziehungen, strategischen Analysen und Untersuchungen über systemischen Wan‐ del und die Rolle von Krieg in diesen Prozessen basieren explizit oder implizit auf den Mustern der Geschichte Europas und des Kalten Krieges.“ 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 104 <?page no="105"?> Kriterien Alte Kriege Neue Kriege Zeit: 18. Jahrhundert - 1945 verstärkt seit 1990 Akteure: Krieg zwischen modernen Staaten Kriege zwischen politisch organisierten Gruppen Implika‐ tionen für den Staat: Monopolisierung staatlicher Gewalt (zentralisiert, natio‐ nale Armeen) der Staat hat sein Monopol der Kriegsgewalt verloren; Entstaatlichung und Priva‐ tisierung des Krieges (War‐ lords, kriminelle Gruppen, Söldnerfirmen) zentrales Moment: Nation (Trinität von Volk, Heer, Re‐ gierung) Aufhebung der Trinität Krieg als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln Krieg als Fortführung der Ökonomie mit anderen Mit‐ teln (Kommerzialisierung des Krieges) Konsolidierung staatlicher Macht (Staatsbildungs‐ kriege) Erosion staatlicher Struktu‐ ren (Staatszerfallskriege) Kriegs‐ führung: klar definierter Beginn (Kriegserklärung) und klar definiertes Ende konturlos; weder Krieg noch Frieden regelgeleitet (ius in bello), klare Unterscheidung von Kombattanten und Nicht‐ kombattanten regellos, Enthegung, Entzi‐ vilisierung, Barbarisierung, Nivellierung der Unter‐ scheidung von Kombattan‐ ten und Nichtkombattanten hohe Intensität geringe Intensität Symmetrie des Krieges Asymmetrie des Krieges Schaubild 11: Alte versus neue Kriege in Anlehnung an Herfried Münkler (2002) 5.2 Die neuen Kriege 105 <?page no="106"?> 5.3 Kritik der neuen Kriege Das Theorem der neuen Kriege ist wirkmächtig, hat aber auch viel Kritik erfahren. Sven Chojnacki (2004, S. 406f.) bringt fünf Kritikpunkte in Anschlag: „1. Die simple, ja allzu simple Unterscheidung ‚alter‘ und ‚neuer‘ Kriege sowie die damit verbundene Überpointierung des Wandels; 2. Der vermeintliche Zusammenhang zwischen einer zunehmenden Ökonomi‐ sierung und einer damit einhergehenden Entpolitisierung des Krieges; 3. Die damit verbundene Tendenz, ‚neue‘ Gewaltkonflikte als ‚brutali‐ siert‘ und ‚resexualisiert‘ zu deuten; 4. Die problematische Verknüpfung mit anderen politischen Gewaltphänomenen wie dem internationalen Terrorismus; sowie 5. die Annahme der Asymmetrierung des Krieges“ So führe erstens die Unterscheidung zwischen alten und neuen Kriegen zu keiner wissenschaftlichen Klarheit; vielmehr sei die Rede von neuen Kriegen „trügerisch“ und „irreführend“ (Chojnacki 2004, S. 407). Denn weder sei der zwischenstaatliche Krieg ein historisches Auslaufmodell. Dagegen sprechen die militärischen zwischenstaatlichen Konflikte in Asien, im Nahen und Mittleren Osten sowie in Lateinamerika oder auch die „ordnungspolitisch geleitete[n] Pazifizierungsakte“ der westlichen Welt wie beispielsweise der Krieg der USA und ihrer Verbündeten 2003 gegen den Irak (vgl. Chojnacki 2004, S. 407). Noch stellen die zentralen Merkmale der neuen Kriege - die nichtstaatlichen Akteurskonstellationen, die ökonomischen Motivstrukturen und die asymmetrischen Kriegsformen - neue Phänomene dar. Diese seien, und das gelte selbst für die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, eher der Regelfall denn die Ausnahme bewaffneter Auseinandersetzungen (vgl. Daase 2011, S. 25; Pradetto 2004, S. 197f.). 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 106 <?page no="107"?> Zweitens stößt die mit der Entstehung und Verstetigung von Kriegs‐ ökonomien angenommene Entpolitisierung des Krieges auf Kritik (vgl. Chojnacki 2004, S. 408ff.; Daase 2011, S. 24). Dabei werden nicht die Rolle von Gewaltmärkten und ihre Auswirkungen auf das Kriegsge‐ schehen infrage gestellt. Unstrittig sei, so Chojnacki (2004, S. 409f.), dass es Gewaltakteure gebe, die mittels Kriege bewusst die Kontrolle über Märkte, Ressourcenvorkommen und Handelsverbindungen an‐ streben und von ihnen profitieren. Fraglich sei aber, ob Kriegsökono‐ mien „quasi automatisch zu einem Verlust des Politischen am Kriege führen“. Auch Christopher Daase (2011, S. 24) konstatiert, dass mit dieser Fokussierung „eine wenig fruchtbare Dichotomie zwischen politischen und ökonomischen Motivationen“ geschaffen werde, die dazu führe, nichtstaatlichen Oppositions- und Rebellenbewegungen ein politisches Interesse abzusprechen und ihre Legitimität zu bestrei‐ ten. Ein dritter Kritikpunkt bezieht sich auf die mit den neuen Kriegen einhergehende Tendenz der Brutalisierung und Resexualisierung des Krieges. Diese sei „grob überzeichnet“ und lasse sich empirisch nicht belegen (Chojnacki 2004, S. 412). Dabei werden zwei Argumentationen in Anschlag gebracht: Zum einen folge Gewalt auch in nichtstaatli‐ chen, ökonomisierten und asymmetrischen Konstellationen durchaus rationalen Handlungskalkülen. Zum anderen werde ebenso in Staa‐ tenkriegen „die Zerstörung der infrastrukturellen und ökologischen Überlebensbedingungen des Gegners und Opfer unter der Zivilbevöl‐ kerung direkt oder indirekt in Kauf genommen (u. a. Vietnam, Kosovo)“ (Chojnacki 2004, S. 412). Und letztlich seien auch sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen kein neues Phänomen, sondern stets schon praktizierte Strategien im Krieg (vgl. Chojnacki 2004, S. 417). Umstritten ist viertens die Einbeziehung von bisher vom Krieg getrennten Gewaltphänomenen unter das Theorem der neuen Kriege. 5.3 Kritik der neuen Kriege 107 <?page no="108"?> 24 Vgl. die Debatte 2008 in Erwägen - Wissen - Ethik 19 (1), hier insbeson‐ dere Barth (Abs. 8), Chojnacki (Abs. 7), Gärtner (Abs. 10), Imbusch (Abs. 6), Jung (Abs. 4), Kahl (Abs. 10), Krieger (Abs. 5-6), Ruf (Abs. 9) und Schlichte (Abs. 6). Der Begriff subsumiere sehr unterschiedliche Formen politischer Ge‐ walt (Krieg, Bürgerkrieg, Terrorismus), sodass traditionelle Differen‐ zierungen unterminiert werden und sich verallgemeinernde Aussagen nur schwerlich fassen lassen (vgl. Daase 2011, S. 25; Chojnacki 2004, S. 413ff.; Pradetto 2004, 196). Als besonders problematisch zeigt sich für Kritikerinnen und Kritiker die Verknüpfung der neuen Kriege mit dem transnationalen Terrorismus. 24 Für Klaus Schlichte (2008, S. 107) erweise sich diese gar als „politisch verheerend“: „Es mag sicherheitspolitische Interessenten geben, die behaupten, es gäbe einen notwendigen kausalen Zusammenhang zwischen dem Krieg in Afghanistan und dem immer schimärenhafter werdenden ‚Terror‐ netzwerk‘ Al Qaida. Empirische Belege finden sich dafür nicht.“ Insbesondere verhindere die Verschmelzung von Terrorismus und Krieg „den Blick auf die unterschiedlichen Organisationsformen, indi‐ viduellen Motive und Strategien von Terroristen“ (Kahl 2008, S. 81). Fünftens stößt die Annahme der Asymmetrierung des Krieges auf Kritik. Auch diese sei keine neue Erscheinung (vgl. Chojnacki 2004, S. 416ff.). Vielmehr drücke sich mit der Westfälischen Ordnung als Referenzpunkt eine eurozentristische Perspektive aus. Dabei sei zu fragen, wie repräsentativ dieses System überhaupt global betrachtet sei: „Viele Entwicklungen mögen aus der Perspektive Westfalens zwar ‚neu‘ sein, nicht aber für den großen Rest der Welt, wo sich dieses System nicht hat etablieren können“ (Kahl 2008, S. 81). August Pradetto (2004, S. 196) hält das Phänomen der asymmetrischen Gewalt nicht für ein zentrales Charakteristikum der neuen Kriege, sondern für 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 108 <?page no="109"?> ein „ureigene[s] Wesensmerkmal“, um „ein bestimmtes Ziel mittels effektiver und effizienter Methoden zu erreichen“. Beziehen sich die obigen Kritikpunkte auf die von Herfried Münkler herausgearbeiteten zentralen Charakteristika des Theorems der neuen Kriege, fällt die Kritik bei Christopher Daase (2011, S. 26) weitaus ele‐ mentarer aus. Danach beschreibe das Theorem der neuen Kriege nicht nur den Wandel der Kriegsformen, sondern betreibe ihn auch. Indem er die Akteure der neuen Kriege delegitimiere, weise er den Staaten - insbesondere der westlichen Welt - eine aktive Ordnungsfunktion zu. So sei als Reaktion auf die neuen Kriege, da es sich letztlich um Kriege handele, militärische Gewalt „nicht nur möglich, sondern geboten“. Das veranlasst Daase (2011, S. 21f.) zu der These: „Neu ist nämlich nicht, dass nicht-staatliche Gruppen Krieg führen; nicht, dass ökonomische Beweggründe eine Rolle bei der Kriegsfüh‐ rung spielen; nicht, dass schwache Parteien zu asymmetrischen Strate‐ gien greifen. Neu ist vielmehr die normative Einbettung der ‚neuen Kriege‘ in einen Diskurs von Recht und Gerechtigkeit, der sie zwar als ‚Kriege‘ einstuft und damit militärische Gegenmaßnahmen legitimiert, sie gleichzeitig aber als ‚neu‘ bezeichnet und damit die Dispensation von den Regeln des Kriegsvölkerrechts verlangt. Neu sind diese Kriege, insofern sie weltpolizeiliche Reaktionen und eine ‚neue Kriegsführung‘ zu erfordern scheinen.“ 5.4 Der transnationale Terrorismus Als Synonym für den transnationalen Terrorismus steht der 11. Sep‐ tember 2001. An diesem Tag wurden vier zeitgleich entführte zivile Flugzeuge zu „lebende[n] Marschflugkörper[n]“ (Hubel 2005, S. 131). Sie zerstörten das World Trade Center in New York City und trafen das 5.4 Der transnationale Terrorismus 109 <?page no="110"?> Pentagon in Washington, 3.000 Menschen wurden getötet und 25.000 verwundet. Diese Anschläge trafen die Vereinigten Staaten ins Mark. Seitdem gilt der transnationale Terrorismus als ein Symbol für die Ver‐ wundbarkeit der Supermacht USA, aber auch der gesamten westlichen Welt. Entsprechend fiel die Reaktion aus: Die NATO rief zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus. Die USA sprachen vom War on Terrorism. Mit Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der UN-Charta begann im Herbst 2001 die Operation Enduring Freedom: eine militärische Großoperation unter Führung der USA, um die für die Anschläge verantwortliche Al Qaida zu zerschlagen, ihren Anführer Osama bin Laden zu fassen und das mit dieser Terrororgani‐ sation verbündete Regime der Taliban in Afghanistan zu entmachten (vgl. u. a. Hubel 2005, S. 130f.). Der 11. September 2001 stellt eine historische Zäsur dar, die die Weltpolitik nachhaltig beeinflusste und bis heute prägt. Nach Ulrich Schneckener (2006, S. 12ff.) sind es vier Aspekte, die diese Anschläge zu einem „singulären Ereignis“ machen: ▸ die destruktive Dimension: Noch nie zuvor kostete ein Terroran‐ schlag mehr Menschen das Leben und gab es mehr Verwundete. Hinzu kamen die materiellen Verluste: 40 Milliarden US-Dol‐ lar unmittelbare Kosten sowie 80 Milliarden US-Dollar durch direkte und indirekte Folgekosten (unter anderem durch die Einstellung des Flugverkehrs, den Einbruch der Börsenkurse oder erhöhte Sicherheitsvorkehrungen im Flugverkehr und bei kritischer Infrastruktur). ▸ die mediale Dimension: Die mediale Aufmerksamkeit war so hoch wie noch nie. Zum ersten Mal in der Geschichte gab es von einem Terroranschlag Live-Bilder und Live-Übertragungen, die unmittelbar und weltweit verfolgt werden konnten. 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 110 <?page no="111"?> ▸ die operative Dimension: Die simultanen Anschläge waren durch‐ aus komplex; sie erforderten eine jahrelange Planung (unter anderem mit zahlreichen Flugstunden) und einen hohen Grad an Koordination. ▸ die weltpolitische Dimension: Die Anschläge vom 11. Septem‐ ber 2001 stellten „einen erfolgreichen, von außen geplanten Anschlag auf dem Territorium der Vereinigten Staaten“ und damit „einen Angriff auf die Weltmacht Nummer eins“ dar (Schneckener 2006, S. 14). Terrorismus - zwei Definitionen „Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, schockierende Ge‐ waltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Unter‐ grund. Sie sollen allgemein Unsicherheit und Schrecken, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen […] Der Guerillero will den Raum, der Terrorist will dagegen das Denken besetzen“ (Waldmann 2000, S. 11, 17). „Ganz allgemein lässt sich Terrorismus als eine Form der Gewalt‐ anwendung beschreiben, die wesentlich über die indirekten Effekte der Gewalt Erfolge erringen will. Terroristische Strategien zielen dementsprechend nicht auf die unmittelbaren physischen, sondern auf die psychischen Folgen der Gewaltanwendung; sie sind weniger an den materiellen Schäden - dem Ausmaß der Zerstörungen, der Anzahl von Toten, dem Zusammenbruch der Versorgungssysteme - interessiert, die von den Anschlägen verursacht werden, als an dem Schrecken, der dadurch verbreitet wird, und den Erwartun‐ gen und Hoffnungen, die mit diesen Anschlägen als Zeichen der Verletzbarkeit eines scheinbar übermächtigen Gegners verbunden werden können“ (Münkler 2002, S. 177; Hervorh. im Original). 5.4 Der transnationale Terrorismus 111 <?page no="112"?> Was heißt nun aber Terrorismus? Das Wort geht auf das lateinische terror zurück, das für „Furcht“ und „Schrecken“ steht. Diese Grundbe‐ deutung ist allen Definitionen gemeinsam. Eine frühe Begriffserklä‐ rung liefert Victor Walter (1969, S. 56). Für ihn handelt es sich um einen „spezifischen Akt oder die Drohung von Gewalt, die einen allgemeinen Zustand der Angst hervorrufen, die dann typische reaktive Verhal‐ tensmuster bewirken“ (vgl. auch Hubel 2005, S. 132). Auch andere Autorinnen und Autoren betonen die psychische Dimension, das heißt das Ziel, Angst und Schrecken zu verbreiten (vgl. u. a. Waldmann 2000; Daase 2001; Münkler 2002, S. 177; Schneckener 2006, S. 21; Hoffman 2019, S. 80f.). Historisch haben sich verschiedene Formen des Terrorismus her‐ ausgebildet (anarchistischer, sozialrevolutionärer, ethnischer oder auch ein religiös-motivierter Terrorismus; vgl. Müller 2004, S. 487ff.). Die gegenwärtig größte Herausforderung stellt seine Transnationali‐ sierung dar. Das Wort „transnational“ steht für „grenzüberschreitende Aktivitäten nichtstaatlicher Akteure“ (Schneckener 2006, S. 49). Das zeigt sich im Hinblick auf: ▸ die Zielsetzung: Dem transnationalen Terrorismus geht es nicht mehr allein um eine Reformierung der nationalen, sondern viel‐ mehr um eine Änderung der internationalen beziehungsweise regionalen Ordnung. Dazu zählt beispielsweise der Kampf gegen das westliche System (vgl. Schneckener 2006, S. 57ff.). ▸ die Legitimation: Die globale Zielsetzung wird durch eine trans‐ nationale Ideologie gerechtfertigt, „die möglichst viele Perso‐ nen und Gruppen erreichen und miteinander verbinden soll“ (Schneckener 2006, S. 60). Das gelingt häufig mittels religiöser Rückgriffe und Deutungen. ▸ die Art und Weise der Mobilisierung: Die Rekrutierung von Kämp‐ ferinnen und Kämpfern erfolgt nicht mehr nur aus einer ethni‐ 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 112 <?page no="113"?> schen Gruppe oder national, sondern transnational. So zeichnen sich Terrororganisationen wie Al Qaida durch eine multinatio‐ nale Mitgliedschaft aus (vgl. Schneckener 2006, S. 67ff.). ▸ die Organisationsstrukturen: Terroristische Organisationen ver‐ ändern sich in Richtung transnationaler Netzwerkstrukturen, „die sich über mehrere Staaten und Weltregionen erstrecken und die offen für persönliche und institutionalisierte Kontakte zu anderen Gruppen und Netzwerken sind“ (Schneckener 2006, S. 72; vgl. auch Bergesen und Lizardo 2006, S. 259f.). Für den (transnationalen) Terrorismus erweisen sich insbesondere fünf Merkmale als zentral: Bei terroristischen Angriffen handelt es sich um asymmetrische Konstellationen. Es sind grundsätzlich nichtstaatliche und militärisch schwache Akteure, die Gewalt gegen wesentlich mächtigere staatliche Akteure androhen und anwenden. Dabei sind terroristische Aktionen „nicht Ausdruck einer prinzipi‐ ellen Feigheit, sondern vielmehr das Ergebnis einer rationalen Ab‐ schätzung der Kräfteverhältnisse“ (Münkler 2002, S. 177). Es handelt sich um eine Strategie, mit der militärisch schwache Akteure und selbst kleinste Gruppen sich gegen mächtige Akteure - auch gegen Groß- und Supermächte - zu behaupten suchen, sozusagen um eine „terroristische Umkehrung von Machtasymmetrien“ (Münkler 2002, S. 187; vgl. auch Hubel 2005, S. 140; Schneckener 2006, S. 25; Hoffman 2019, S. 419f.). 5.4 Der transnationale Terrorismus 113 <?page no="114"?> (1) Terrorismus als Ausdruck asymmetrischer Konstella‐ tionen „Die systematische Asymmetrierung der Gewaltmittel durch den auf strategischer Ebene auftretenden Terrorismus ist in der Regel freilich selbst eine Reaktion auf vorhandene militärische, ökonomische, technologische und kulturelle Asymmetrien, bei denen für die unterlegende Seite keinerlei Aussicht auf eine Resymmetrierung durch Steigerung der eigenen Anstrengungen besteht“ (Münkler 2002, S. 194). Terrorismus zeichnet sich durch grundsätzlich politische Zielsetzun‐ gen und Motive aus (vgl. Müller 2004, S. 482; Hubel 2005, S. 141; Hoffman 2019, S. 80). Dementsprechend betont auch Peter Waldmann (2000, S. 11) in seiner an obiger Stelle zitierten Definition: „Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund“. (2) Terrorismus als politisch motivierte Handlung „Der Terrorismus dient dazu, Macht zu erringen, wo es daran fehlt, oder Macht zu festigen, wo sie zu gering ist. Durch die mit ihren Gewalttaten erzeugte Aufmerksamkeit versuchen Terroristen, die Druckmittel, den Einfluss und die Macht zu erlangen, an denen es ihnen ansonsten mangelt, um politische Veränderungen auf lokaler oder internationaler Ebene herbeizu‐ führen“ (Hoffman 2019, S. 81). 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 114 <?page no="115"?> 25 Diesen Begriff hat Herfried Münkler von Rolf Schroers (1961) und Carl Schmitt (2017 [1963]) übernommen und weiterentwickelt, den diese für die Förderer von Partisanenkriegen eingeführt haben. Terroristische Angriffe stellen eine Kommunikationsstrategie dar, die sich an zwei Adressaten richtet: zum einen an den Angegriffenen, um ihm dessen Verletzlichkeit bewusst zu machen und ihn zum Aufbeziehungsweise Nachgeben zu bewegen; zum anderen an „den zu interessierenden Dritten“ (Münkler 2002, S. 180), 25 verbunden mit der Botschaft, dass Widerstand gegen die überlegende Macht möglich ist und erfolgreich sein kann. Dabei dient der zu interessierende Dritte zugleich als „Legitimationsspender“ (Münkler 2002, S. 181), in deren Interesse der Terrorist zu kämpfen vorgibt. (3) Terrorismus als Kommunikationsstrategie „Terroranschläge [sind] fast immer gleichermaßen eine demons‐ trativ inszenierte Drohung, die der angegriffenen Macht signa‐ lisiert, dass die Kosten für eine Weiterführung ihrer Politik kontinuierlich steigen werden, und ein Weckruf an den zu interessierenden Dritten, der aus seiner (angeblichen) politi‐ schen Resignation und Apathie gerissen und zur Aufnahme des bewaffneten Kampfes motiviert werden soll“ (Münkler 2002, S. 181). Den Medien kommt eine zentrale Rolle zu. Sie dienen als Transmis‐ sionsriemen. Erst durch die Berichterstattung der Medien erhalten Terroristen „den Sauerstoff der Publicity, auf den sie angewiesen sind“, so die frühere britische Premierministerin Magret Thatcher (zit. nach Hoffman 2019, S. 297). Infolge der hohen Mediendichte und des 5.4 Der transnationale Terrorismus 115 <?page no="116"?> 26 Johan Huizinga (1948, S. 103) fasst Heroismus als „ein erhöhtes persön‐ liches Bewußtsein, berufen zu sein, unter Einsatz aller Kräfte bis zur Selbstopferung mitzuwirken an der Verwirklichung einer allgemeinen offenen Medienzugangs der Angegriffenen können „bei relativ gerin‐ gem Gewalteinsatz maximale Effekte erzielt werden“ (Münkler 2002, S. 189; vgl. auch Hubel 2005, S. 140). Vor diesem Hintergrund spricht Bruce Hoffman (2019, S. 296f.) auch von einer „engen symbiotischen Beziehung, in der jede Seite die andere füttert und für ihre Zwecke benutzt“. (4) Bilder als ein Mittel terroristischer Kriegsführung „[D]ie medial inszenierte Symbolkonfrontation zwischen klei‐ nen Gruppen zum Äußersten entschlossener, todesmutiger Kämpfer auf der einen und ökonomisch wie militärisch domi‐ nierenden, postheroisch geprägten Mächten und Gesellschaften auf der anderen Seite [ist] immer schon selbst ein Bestandteil des Kampfes. In diesem Sinne stellt der Terrorismus eine Form der Kriegsführung dar, in welcher der Kampf mit Waffen als Antriebsrad für den eigentlichen Kampf mit Bildern fungiert. Die Verwandlung der Berichterstattung über den Krieg in ein Mittel seiner Führung war der wahrscheinlich größte Schritt bei der Asymmetrierung des Krieges“ (Münkler 2002, S. 197). Schließlich machen sich Terroristen die im Westen vorherrschende postheroische Mentalität und damit die „fragile psychische Textur hoch entwickelter Gesellschaften“ zunutze (Münkler 2002, S. 198). Als postheroisch werden Gesellschaften mit einem Mangel an Opferbe‐ reitschaft bezeichnet. 26 So interagieren westliche Gesellschaften über 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 116 <?page no="117"?> Aufgabe“. Dementsprechend zeichnen sich postheroische Gesellschaften - so Herfried Münkler (2006a, S. 310) - durch das Schwinden eines solchen Bewusstseins aus. „Recht, Tausch und Wohlstand, nicht über Opfer und Ehre“ (Münkler 2005a, S. 15). Das erhöht ihre Verletzlichkeit gegenüber heroischen Gruppierungen und verstärkt die Wirkung terroristischer Angriffe: „Es mit Zeiten zu tun zu haben, die in einer Weise mit dem Leben umgehen, wie dies für uns gänzlich unvorstellbar ist“ (Münkler 2005a, S. 16). (5) Postheroische Mentalitäten als Ressource des Terro‐ rismus „Eine weitere Ressource, die Terroristen bei ihren Angriffen auf hoch entwickelte Gesellschaften ausbeuten, ist die in diesen Ge‐ sellschaften vorherrschende postheroische Mentalität, gegen die Terroristen ganz gezielt den Gestus ihrer heroischen Entschlos‐ senheit setzen. Wer zur Aufopferung des eigenen Lebens bereit ist, muss sich um die Sicherung von Rückzugsmöglichkeiten und Fluchtwegen nicht kümmern und kann seine gesamte Energie auf den Angriff konzentrieren, wodurch die Durchführbarkeit und die Erfolgsaussichten terroristischer Aktionen deutlich er‐ höht und oft überhaupt erst ermöglicht werden. Wahrscheinlich noch wichtiger ist jedoch die in solchen Selbstmordanschlägen zum Ausdruck gebrachte Verachtung gegenüber den unheroi‐ schen Lebensformen der Angegriffenen, denn die psychischen Effekte, auf die terroristische Anschläge vor allem abzielen, werden dadurch dramatisch intensiviert“ (Münkler 2002, S. 193). 5.4 Der transnationale Terrorismus 117 <?page no="118"?> Diese Konstellation hat Münkler dazu veranlasst, es auf die folgende Paradoxie zuzuspitzen: „Wir müssen eine heroische Gelassenheit entwickeln. Es wird auch bei uns früher oder später einen Anschlag geben. Dabei erwächst die Macht der Terroristen aus unserer eigenen Angst. Wenn wir aber die Anschläge als Unfälle ansehen würden, dann stellt sich heraus, dass die Terroristen uns gar nichts anhaben können“ (Biermann 2010). Dieser Weg mag - speziell in Demokratien - wenig realistisch erschei‐ nen, er markiert aber „die Bedingung der Möglichkeit des Erfolgs“ (Münkler 2005a, S. 16). Die (westlichen) Reaktionen auf den transna‐ tionalen Terrorismus sind andere. Als strittig erweist sich in diesem Kontext insbesondere die Verortung dieses Gewaltphänomens (vgl. Kap. 5.3 zur Kritik der neuen Kriege): Handelt es sich beim transnatio‐ nalen Terrorismus um eine Form der neuen Kriege oder doch eher um einen kriminellen Akt? Dies ist insofern bedeutend, als sich daraus differente Strategien der Konfliktbearbeitung ableiten. Sind beispiels‐ weise Terroristinnen und Terroristen bei der Gefangennahme nach der Genfer Konvention als Kriegsgefangene oder aber als Kriminelle und Verbrecher zu behandeln? In der Praxis zeigt sich hier häufig eine Ver‐ mischung beider Sphären. Und auch Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler sind in dieser Frage durchaus gespalten. Für die einen handelt es sich beim transnationalen Terrorismus um eine Form der Gewaltanwendung, die vom Krieg zwingend zu unterscheiden sei. So sei die Trennung von Krieg und Terrorismus eine historische Er‐ rungenschaft, die politisch legitime von illegitimer Gewaltanwendung und Kriegsführung von politischem Verbrechen trenne (vgl. Daase 2002a, S. 374). Zudem entsprechen terroristische Anschläge nicht dem „kriegerische[n] Merkmal der Interaktion im Sinne wechselseitiger, kontinuierlicher Gewaltanwendung“ (Chojnacki 2004, S. 414). Hinzu 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 118 <?page no="119"?> kommen normative Bedenken bezüglich der Folgen „eines ungehegten Counterterrorismus der angegriffenen Staaten“ (Geis 2006b, S. 22). So könnten demokratisch legitimierte Regierungen unter dem Vorwand eines permanenten Kriegszustandes die Einschränkung von Bürger‐ rechten sowie den Ausbau des Sicherheitsapparates vorantreiben (vgl. Daase 2002b). Andere hingegen bezeichnen den transnationalen Terrorismus als eine „spezifische Form der Kriegsführung“ (Hubel 2005, S. 140). Sie bringen die politische Zielsetzung und Motivation des Terrorismus in Anschlag. So argumentiert Herfried Münkler mit Rückgriff auf Carl von Clausewitz, wonach der Krieg „ein Akt der Gewalt [sei], um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“ (zit. nach Münkler 2008a, S. 28) und hebt - wiederum mit Rückgriff auf Clausewitz - die Chamäleonartigkeit des Krieges hervor. In diesem Sinne besitze auch der transnationale Terrorismus eine politisch-militärische Strategie, den Willen der westlichen Welt zu brechen oder zumindest soweit zu schwächen, um den eigenen politischen Willen durchzusetzen. Die Reichweite seiner Positionierung ist Münkler wohl bewusst: „Selbstverständlich ist die Rubrizierung des Terrorismus als innerstaat‐ liche Kriminalität friedenspolitisch naheliegend, aber sie liefert sich der eskalatorischen Fähigkeit der Gegenseite aus. Massive, insbesondere serielle Anschläge auf die Verkehrsinfrastruktur urbaner Räume, dazu die Drohung mit dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln können diese Bändigung leicht sprengen. Die von mir vorgeschlagene Rubri‐ zierung des Terrorismus als Krieg hat einen beachtlichen Preis, aber den Vorteil, das Heft des Handelns nicht der Gegenseite zu überlassen“ (Münkler 2008b, S. 139). Wann Gewalt als Krieg bezeichnet wird, hängt letztlich von den Kriterien und der Typologisierung des Krieges ab. Wird eine staatsbe‐ 5.4 Der transnationale Terrorismus 119 <?page no="120"?> zogene Typologisierung gewählt, die an der Vergesellschaftungsform der Akteure ansetzt, wird man nicht umhinkommen, den neuen trans‐ nationalen Terrorismus als Krieg zu bezeichnen, denn dieser richtet sich - und damit ist letztlich auch der Position Herfried Münklers zuzustimmen - gegen den gesamten Staat in seiner Trinität: gegen das Staatsvolk, das Staatsterritorium sowie die Staatsgewalt. Hier sind nicht mehr einzelne Individuen oder Gruppen Ziel des Angriffs, sondern der Staat in seinem gesamten Gebilde. 5.5 Fazit Mit den neuen Kriegen und dem transnationalen Terrorismus sind es die asymmetrischen Konstellationen, die im gegenwärtigen Konflikt‐ geschehen zum bestimmenden Faktor werden: „Der europäische ‚Sonderweg‘ symmetrischer Kriegführung ist an sein Ende gekommen. Das 21. Jahrhundert dürfte […] eine Epoche asymme‐ trischer Kriege werden“ (Münkler 2006a, S. 218). Dieser Satz impliziert zugleich drei Befunde: Erstens handelt es sich bei dem Theorem der neuen Kriege nicht um völlig neuartige Phäno‐ mene. Die Symmetrie der Kriegsführung und die damit verbundene „privilegierte Alleinverfügung des Militärs über die Gewalt des Krie‐ ges“ (Münkler 2002, S. 189) waren ein Kennzeichen der europäischen Kriegsgeschichte vom 17. bis 20. Jahrhundert, von daher ein europäi‐ scher Sonderweg. Neu ist dagegen die Bedeutung, die diesen Phäno‐ menen zukommt. Im Hinblick auf den transnationalen Terrorismus konstatiert Münkler (2002, S. 189) eine „Verselbständigung bislang un‐ tergeordneter taktischer Elemente der Kriegführung zu selbständigen Strategien“. Die Anschläge vom 11. September 2001 mögen hierfür ein 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 120 <?page no="121"?> Beispiel sein, wurden sie zum „operativen Mittelpunkt des Kriegspla‐ nes“ (Münkler 2002, S. 187). Zweitens ist mit diesem Wandel noch keine Aussage über das Ge‐ waltmaß getroffen. Denn auch wenn es in der Folge des Westfälischen Systems zu einer Einhegung und Verrechtlichung des (symmetrischen) Krieges gekommen ist, waren die europäischen Staatenkriege überaus blutige und verlustreiche Kriege. Dagegen weisen die neuen Kriege eine weitaus geringere Gewaltintensität auf, allerdings verschwimmen auch die Grenzen von Krieg und Frieden. Durch die zeitliche und räumliche Ausdehnung der neuen Kriege wird Gewalt omnipräsent (vgl. Münkler 2002, S. 218f.). Und drittens sind auch die Reaktionen auf derartige Gewaltphäno‐ mene nicht ausgemacht. Wird der transnationale Terrorismus als eine spezifische Form der neuen Kriege gefasst, mag eine solche Verortung zunächst das Kriegsparadigma auf den Plan rufen. Mit dem War on Terror fand diese Sichtweise auch eine politische Entsprechung. Kriege gegen terroristische Organisationen wie die Taliban oder Al Qaida sind aber nur schwer zu führen. So hat auch der US-amerikanische militärische Einsatz in Afghanistan, das die Taliban unterstützte, die terroristische Bedrohung nicht gebannt, „denn was bleibt, sind Netz‐ werkorganisationen, die aus der Tiefe des sozialen Raumes heraus weiterhin ihre tödlichen Angriffe durchführen können“ (Münkler 2015a). Aber auch die Verortung des transnationalen Terrorismus als eine Form von Kriminalität wird dem Gewaltphänomen nicht gerecht. Kriminelle Akte richten sich gegen Individuen oder einzelne Gruppierungen im Staat, stellen aber keine (äußere) Bedrohung dar, die unterschiedslos die gesamte Bevölkerung ins Visier nimmt. Letztlich sind es die fehlenden Mechanismen, asymmetrische gewaltsam ausge‐ tragene Konflikte und Kriege zu beenden. Sie stellen die eigentliche 5.5 Fazit 121 <?page no="122"?> Herausforderung der internationalen Staatenwelt dar (vgl. Münkler 2006a, S. 220). Weiterführende Literatur: Kaldor, Mary. 1999. New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era. London: Polity Press. Die Autorin prägte als erste den Begriff der neuen Kriege. In ihrem Werk hebt sie vor dem Hintergrund der Balkankriege auf die identitätspolitische Dimension der neuen Kriege ab, die an die Stelle der machtpolitischen getreten sei. Münkler, Herfried. 2002. Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Hierbei handelt es sich um das viel zitierte Standardwerk zu den neuen Kriegen, mit dem der Autor den Begriff prominent in die deutsche Forschungslandschaft eingebracht hat. Hoffman, Bruce. 2019. Terrorismus. Der unerklärte Krieg. Neuen Gefah‐ ren politischer Gewalt. 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Der US-amerikanische Terrorismusforscher analysiert die verschiedenen Facetten des transnationalen Terrorismus und be‐ schreibt auf empirisch fundierter Basis die von ihm ausgehenden Entwicklungen und Gefahren. Schneckener, Ulrich. 2006. Transnationaler Terrorismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Der Autor widmet sich zentralen Charakteristika, dem Zerstörungspotenzial, der Infrastruktur, dem begünstigenden Umfeld sowie Wegen der Bekämpfung des transnationalen Terro‐ rismus. 5 Konfliktebenen und Konfliktakteure - asymmetrische Konstellationen 122 <?page no="123"?> 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen Das weltweite Konfliktgeschehen - bestimmt „durch die jeweiligen Konfliktgüter und durch die Akteure, die sich darum streiten“ (Pfetsch 1998, S. 1) - ist nach wie vor ein gewaltsames: 2019 wurden von 358 beobachteten Konflikten 196 gewaltsam ausgetragen, davon 38 durch Kriege (HIIK 2020a, S. 13). So divers die einzelnen Konflikte auch sind, lassen sich in den jeweiligen Epochen zentrale internatio‐ nale Konfliktformationen aufzeigen. Darunter fasst Dieter Senghaas (1988, S. 7) „makropolitische, makromilitärische und makroökonomi‐ sche Achsen des internationalen Systems“, durch die „internationale Politik strukturiert [wird]“. Im Unterschied zu Konfliktanalysen setzen Konfliktformationen auf einer abstrakten Ebene an. Sie beschäftigen sich weniger mit den konkreten Konflikten und deren Inhalten, son‐ dern mit „den jeweiligen Rahmenbedingungen von internationaler Politik“ (Senghaas 1988, S. 10). Ein solcher Zugang ermöglicht „einen Überblick, den detailliertere Analysen über einzelne Konflikte oft nicht zu leisten vermögen“ (Senghaas 1988, S. 10). Vor diesem Hintergrund soll drei Leitfragen nachgegangen werden: Was waren die zentralen Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges? Was sind die vorherrschenden Konflikttypen heute? Und welche Konfliktkonstella‐ tionen werden in naher Zukunft von Bedeutung sein? <?page no="124"?> 6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges In der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Systemwandel 1989/ 90 dominierte - und zwar nicht nur in Europa, sondern weltweit - der Ost-West-Konflikt. Er galt als hoch gefährlich und drohte, bei Eskalation in einen Dritten Weltkrieg zu münden und nuklear aus‐ getragen zu werden. Zugleich war er durch „eine bemerkenswerte politische Stabilität von Konfliktstruktur und im Verhalten der Kon‐ fliktparteien“ (Senghaas 1988, S. 32) gekennzeichnet. Die zweite große internationale Konfliktformation jener Zeit war der Nord-Süd-Konflikt. Im Vergleich zum Ost-West-Konflikt war dieser weitaus amorpher: zum einen infolge der größeren Heterogenität der Konfliktparteien, die sich mit „Nord“ und „Süd“ verbanden, zum anderen aufgrund der verschiedenen Sichtweisen der Akteure im Hinblick auf den Kon‐ fliktgegenstand einschließlich der Frage, „ob überhaupt ein Konflikt vorliegt und wenn ja worüber“ (List 2006, S. 119). Und als dritte bestimmende Konfliktkonstellation jener Zeit kann der Nahostkonflikt gelten. Dieser stellt nicht wie der Ost-West- und Nord-Süd-Konflikt einen weltumspannenden Konflikt dar; bei ihm handelt es sich um einen regionalen Konflikt, dessen Stellenwert aber so hoch ist, dass er die internationale Politik im Ganzen zu beeinflussen vermag (vgl. List 2006, S. 131). Dieser wirkt bis in die heutige Zeit fort und bestimmt wesentlich auch das heutige internationale Konfliktgeschehen. 6.1.1 Der Ost-West-Konflikt Konstitutiv für den Ost-West-Konflikt war sein Systemantagonismus, bei dem sich zwei entgegengesetzte Systeme unversöhnlich gegenüber‐ standen. Originär lag dem Ost-West-Konflikt ein „ordnungspolitischer 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 124 <?page no="125"?> Konflikt“ (Senghaas 1988, S. 31) zugrunde, gekennzeichnet durch „Posi‐ tionsdifferenzen über eine wünschbare politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung“ (Senghaas 1998, S. 31). Der Ost-West-Kon‐ flikt besaß vier miteinander verwobene Konfrontationslinien: ▸ Ideologisch fand er zwischen Kapitalismus und Sozialismus statt. Dabei steht der Kapitalismus für „ein kulturelles System auf der Basis von wirtschaftlichen Handlungsweisen, in deren Mittel‐ punkt das imperative Gewinnstreben privater Investoren steht“ (Appleby 2011, S. 42). Während für dieses System zusammen mit dem Prinzip der freien Marktwirtschaft und liberalen Grund‐ werten die westlichen Länder standen, wurde in der früheren Sowjetunion und im gesamten Ostblock der Marxismus-Leni‐ nismus als Weltanschauung der Arbeiterklasse zur offiziellen politischen Ideologie und Staatsdoktrin. Er gliederte sich in drei Hauptbestandteile: in den dialektischen und historischen Mate‐ rialismus (philosophische Grundlage), in die politische Ökono‐ mie (Beziehungen der Menschen in Produktion und Gesellschaft) sowie in den wissenschaftlichen Sozialismus (Wissenschaft vom Klassenkampf und von der Errichtung einer sozialistischen be‐ ziehungsweise kommunistischen Gesellschaft). ▸ Politisch fand der Ost-West-Konflikt seinen Ausdruck zwischen dem politischen System der liberalen Demokratie im Westen - cha‐ rakterisiert durch freie Wahlen, Gewaltentrennung, Rechtsstaat‐ lichkeit etc. - und dem der „Diktatur des Proletariats“ im Osten. Letzteres ist ein von Karl Marx und Friedrich Engels geprägter Begriff, der originär für die Herrschaft der Arbeiterklasse steht. ▸ Wirtschaftlich äußerte er sich in der Entgegensetzung von Markt‐ wirtschaft und Planwirtschaft. Bei Ersterem werden Produktion und Verteilung von Gütern durch den Markt reguliert (Wettbe‐ werb, unsichtbare Hand). Die sozialistische Planwirtschaft ba‐ 6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges 125 <?page no="126"?> sierte dagegen auf einer Wirtschaftsordnung, in der alle ökono‐ mischen Prozesse (Produktion, Verteilung von Dienstleistungen) zentral und nach Plan gesteuert wurden. ▸ Militärisch bestand eine Rüstungskonkurrenz und -dynamik - auf konventioneller wie nuklearer Ebene. Dabei führte die Rüstungsspirale zu wechselseitigen Asymmetrierungen (in Form von Aufrüstungen) und Resymmetrierungen (zur Wiedererlan‐ gung des militärischen Gleichgewichts). Mit dem Ost-West-Konflikt wird häufig die Zeit des Kalten Krieges (1945-1989/ 90) assoziiert. Seine Ursprünge reichen allerdings bis zur Oktoberrevolution 1917 zurück, als die Bolschewiki unter Führung von Wladimir Iljitsch Lenin in Russland an die Macht kamen. Mit der Gründung der Sowjetunion (UdSSR) und deren Anspruch, „an der Spitze einer historisch notwendigen weltrevolutionären Bewegung zu stehen“ (Loth 2015, S. 354), wurde der innergesellschaftliche russische Konflikt zu einem internationalen, bei dem sich die UdSSR und die westlichen Staaten gegenüberstanden. Der Zweite Weltkrieg und sein Ausgang führten einerseits zu einem enormen Machtzuwachs der Sowjetunion in Europa; andererseits entwickelten sich die USA als Vorreiter westlicher Prinzipien zur führenden Weltmacht. Damit war die Grundkonstellation des Ost-West-Konfliktes mit der Sowjetunion und den USA als seine beiden Hauptkontrahenten geschaffen (vgl. Senghaas 1988, S. 31; Loth 2015, S. 354f.). Der Ost-West-Konflikt durchlief verschiedene Phasen: Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Herausbildung der Blockkonfrontation. Wirtschaftlich standen sich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957) und spätere Europäische Gemeinschaft (EG) im Westen und der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, 1949) im Osten gegenüber. Dabei erfolgte die Gründung des RGW als Reaktion auf den Marshallplan (1948) - ein Wirtschafts- und Wiederaufbauprogramm 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 126 <?page no="127"?> 27 Da die Sowjetunion zu jener Zeit den Sicherheitsrat boykottierte, konnte sie auch von ihrem Vetorecht keinen Gebrauch machen. der USA für Westeuropa - und die Gründung der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, 1948). Zudem entstanden auf beiden Seiten Militärallianzen: die NATO (1949) auf westlicher und der Warschauer Pakt (1955) auf östlicher Seite. Die Spaltung zeigte sich aber auch unmittelbar auf deutschem Territorium: mit zwei Staatsgründungen, der Wiederbewaffnung - in der Bundes‐ republik 1955 mit der Gründung der Bundeswehr und in der DDR 1956 mit der Schaffung der Nationalen Volksarmee (wobei es dort bereits seit 1952 als Vorläufer die Kasernierte Volkspolizei gab) - sowie der Integration der Bundesrepublik und der DDR in die jeweiligen wirt‐ schaftlichen und militärischen Bündnisse beider Blöcke. So wurden die beiden deutschen Staaten zum Epizentrum des Ost-West-Konflikts. Mit dem Koreakrieg (1950-1953) - ein klassischer Stellvertreterkon‐ flikt - und der Kubakrise (1962) erlangte der Ost-West-Konflikt eine weltpolitische Dimension. Koreakrieg (1950-1953) Korea wurde 1910 von Japan annektiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg beendeten die USA und die Sowjetunion die japani‐ sche Vorherrschaft; Korea wurde geteilt. Im Zuge des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und den USA verschärfte sich auch die Situation zwischen Nord- und Südkorea. Am 25. Juni 1950 überschritten nordkoreanische Truppen die Demar‐ kationslinie zu Südkorea, nachfolgend unterstützt durch China und die Sowjetunion. Auf Initiative der USA wurde im UN-Si‐ cherheitsrat die Resolution 82 verabschiedet, 27 die auch ein 6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges 127 <?page no="128"?> militärisches Eingreifen vorsah, um Südkorea zu unterstützen. Dieses erfolgte unter Führung der USA. Der Krieg forderte ca. 4 Millionen Opfer. Er endete am 27. Juli 1953 mit einem von den USA und der Sowjetunion initiierten Waffenstillstand, der auch die Teilung des Landes besiegelte. Insbesondere die Kubakrise stellte eine ernste Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den USA dar (vgl. Greiner 2010). Ihr voraus gingen Versuche beider Seiten, Mittelstreckenraketen möglichst nahe am Gegner zu stationieren. Die Sowjetunion brachte atomare Mittel‐ streckenraketen in der DDR in Stellung. Die USA reagierten und stationierten 1959 ihre Atomraketen in Großbritannien, Italien und der Türkei. Dieses Wettrüsten eskalierte, als die Sowjetunion nukleare Mittelstreckenraketen auch auf dem sozialistischen Kuba - geostra‐ tegisch für die UdSSR von höchster Bedeutung - aufstellten. Als US-amerikanische Aufklärungsflugzeuge den Aufbau sowjetischer Raketenbasen entdeckten, beschloss der damalige US-amerikanische Präsident John F. Kennedy die Einrichtung einer Seeblockade vor Kuba. Zugleich forderte Kennedy den sowjetischen Regierungschef Nikita S. Chruschtschow auf, die Raketen wieder abzuziehen. Sowjetische Kriegsschiffe nahmen dennoch Kurs auf Kuba, um die Seeblockade zu durchbrechen, drehten letztlich aber doch ab. Chruschtschow si‐ gnalisierte Bereitschaft, die Raketen abzuziehen, wenn im Gegenzug die USA auf eine Invasion Kubas verzichteten und ihre Raketen aus der Türkei abzögen. Als zeitgleich dann ein US-amerikanisches Auf‐ klärungsflugzeug abgeschossen wurde, drohte der Dritte Weltkrieg. Nur durch Geheimdiplomatie gelang es, die Situation zu deeskalieren: Die Sowjetunion zog ihre Raketen aus Kuba ab und die USA verzich‐ teten auf eine militärische Invasion der Insel. Im Nachgang wurden 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 128 <?page no="129"?> 28 Mit dem NATO-Doppelbeschluss reagierte die westliche Allianz auf die sowjetische Aufrüstung. Er beinhaltete das Angebot von Verhand‐ lungen über beidseitige Begrenzungen atomarer Mittelstreckenraketen; bei Nichterfolg legitimierte er zugleich aber auch die Nachrüstung und Aufstellung von Pershing II-Raketen in Europa. auch die US-amerikanischen Raketen aus der Türkei abgezogen. Wie dramatisch die Lage war, beschrieb der damalige US-amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara wie folgt: „Wir standen so nah am nuklearen Abgrund. Und verhinderten den atomaren Schlagabtausch nicht etwa durch ein gekonntes Management, sondern durch schieres Glück. Keiner von uns begriff damals wirklich, wie nah wir am Rand der Katastrophe standen“ (zit. nach Ortmann 2010, S. 438). Der Ost-West-Konflikt besaß zugleich eine innergesellschaftliche Di‐ mension. In den Ostblockstaaten zeigten sich Liberalisierungs- und Demokratisierungstendenzen; es formierte sich Widerstand. Eine starke Oppositionsbewegung stellte hier insbesondere die unabhän‐ gige polnische Gewerkschaft Solidarność dar. In der Folge wurden die Aufstände in der DDR (1953), in Ungarn (1956) und in Prag (1968) unter Beteiligung sowjetischer Truppen blutig niedergeschla‐ gen. Polen rief 1981 den Kriegszustand aus, verbot die Solidarność und verhaftete führende Vertreterinnen und Vertreter. Zudem gab es inner‐ gesellschaftliche Proteste gegen die militärische - insbesondere auch nukleare - Aufrüstung. Hier formierte sich in den 1970er Jahren eine Friedensbewegung. In der DDR wandte sie sich insbesondere gegen die Stationierung sowjetischer SS-20-Raketen und die zunehmende Mili‐ tarisierung der DDR (unter dem Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“), in der Bundesrepublik gegen den NATO-Doppelbeschluss von 1979 28 und die Stationierung von Pershing-II-Raketen und Cruise-Missiles. 6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges 129 <?page no="130"?> 29 Mutual Assured Destruction (MAD) steht im Kontext der nuklearen Abschreckung und für die Drohung einer „wechselseitigen gesicherten Vernichtung“ (Conze 2012). Auch wenn der Ost-West-Konflikt zu einer massiven, auch nuklea‐ ren Aufrüstung auf beiden Seiten führte, waren auch Phasen der Entspannung zu verzeichnen. Als Reaktion auf die Kubakrise wurde der sogenannte Heiße Draht, eine direkte Telefonverbindung zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml, eingerichtet. Erstmals kam dieser 1967 nach Beginn des Sechstagekrieges zwischen Israel und den ara‐ bischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien zum Einsatz. Die sich einsetzende Entspannungspolitik hatte allerdings weniger Abrüstung als vielmehr Stabilität zum Ziel: „Beide Seiten versuchten daher, die gewünschte politische Sicherheit durch eine Strategie der Abschreckung noch zu verstärken, ja ihr überhaupt eine Grundlage zu geben. Die Fähigkeit zur Mutual Assured Destruction 29 musste deshalb erhalten und ausgebaut werden, wobei es in sämtlichen Segmenten der atomaren Rüstung ein möglichst gut austariertes Gleichgewicht herzustellen galt. […] Nach wie vor basierte das Verhältnis von USA und Sowjetunion auf dem Prinzip ‚Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter‘“ (Conze 2012). Das schloss Rüstungskontrollabkommen nicht aus. Zu den zentralen Abkommen jener Zeit zählten vor allem das Teststoppabkommen über Atomwaffen (1963), der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kern‐ waffen (1968), SALT I (1972), der ABM-Vertrag (1972) oder auch die Schlussakte von Helsinki (1975). Auch hatte die neue Ostpolitik Willy Brandts in den 1970er Jahren wesentlich zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen Ost und West beigetragen. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass es sich hierbei um keinen linearen Prozess handelte und sich Phasen der Konfrontation und Entspannung einander ablösten. 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 130 <?page no="131"?> Das Ende des Ost-West-Konflikts wurde 1985 mit den Reformen von Michail Gorbatschow eingeleitet. In Reaktion auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme im Land setzte er auf Glasnost (Of‐ fenheit) und Perestroika (Umgestaltung) und war damit auch der Wegbereiter für Reformen im Ostblock. Über die Ursachen des Endes des Ost-West-Konfliktes gibt es verschiedene Ansätze und Argumen‐ tationslinien: ▸ Nach (neo)realistischem Ansatz war die Sowjetunion nicht mehr in der Lage, die Rüstungsspirale fortzuführen, und mit der militärischen Stärke des Westens mitzuhalten. ▸ Vertreterinnen und Vertreter des Institutionalismus machen den sich entwickelten institutionellen Rahmen dafür verantwortlich, dass eine Entspannung möglich wurde, die dann zur Überwin‐ dung des Konfliktes beigetragen habe. ▸ Die liberale Position geht von der Überlegenheit des westli‐ chen Gesellschaftsmodells aus; danach sei das Ende des Sozialis‐ mus/ Kommunismus innergesellschaftlich begründet, sozusagen als ein Triumph von Demokratie und Marktwirtschaft. ▸ Gemäß dem Konstruktivismus habe sich die soziale Konstruk‐ tion der Wirklichkeit verändert. Infolge der Reformpolitik Gor‐ batschows sei die Wahrnehmung der sowjetischen Politik im internationalen System eine andere geworden, womit ein Wan‐ del möglich wurde. 6.1.2 Der Nord-Süd-Konflikt Die zweite große Konfliktformation zu Zeiten des Kalten Krieges stellt der Nord-Süd-Konflikt dar. Er bezeichnet die konfliktive Diskrepanz in der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung zwischen den Industrieländern im Norden und den Entwicklungsländern im 6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges 131 <?page no="132"?> Süden (in Afrika, Asien und Lateinamerika) oder anders formuliert „zwischen den weltgesellschaftlich Privilegierten und Unterprivile‐ gierten“ (List 2006, S. 120). Damit verbindet sich zugleich die kausale Annahme, dass der Wohlstand des Nordens für die Armut des Südens verantwortlich sei. So verdanke der Norden seine Entwicklung der kolonialen Ausbeutung der heutigen Entwicklungsländer (vgl. List 2006, S. 120f.). Seine Wurzeln hat der Nord-Süd-Konflikt in der Kolonialisierung. Noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnete sich die Weltordnung durch große Kolonialreiche aus, die die Hälfte des Festlandes und einen Drittel der Weltbevölkerung ausmachten. Zwischen 1943 und 2002 haben 120 ehemalige Kolonien (oder Territorien) ihre Unabhängigkeit erlangt (vgl. Brock 2004, S. 618; Woyke 2016, S. 161). Inzwischen gibt es kaum noch Kolonien im Sinne „der formalen Herrschaft über fremde Territorien und Völker“ (Brock 2004, S. 618). Konfliktgegenstand: Dekolonisierung „Beide - Kolonisierung und Entkolonisierung - gingen mit erheblicher Gewaltanwendung einher, wobei deren Ausmaß im Prozess der Entkolonisierung dort am höchsten war, wo die Kolonialmächte besonders rigide Kolonialverwaltungen aufge‐ baut beziehungsweise eine enge Anbindung der Kolonien an das Mutterland angestrebt hatten, wie das beim französischen im Unterschied zum britischen Kolonialreich der Fall war“ (Brock 2004, S. 618). Im Rahmen des Dekolonisierungsprozesses formte sich der Süden zu einem „kollektive[n] Akteur“ (Hartmann 2015, S. 339). Angesichts 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 132 <?page no="133"?> ihrer kolonialen Vergangenheit und einer damit einhergehenden wirt‐ schaftlichen Marginalisierung verband die Länder des Südens eine gemeinsame Identität. Dabei verfolgten sie vor allem drei Ziele (vgl. Hartmann 2015, S. 339f.): ▸ die Befreiung der letzten Völker von kolonialen Regimen und die Überwindung der auf Rassentrennung basierenden Regime im südlichen Afrika, ▸ das Revidieren der aus der kolonialen Vergangenheit resultieren‐ den ökonomischen Ungerechtigkeiten und strukturellen Hinder‐ nisse, die zu Unterschieden in der Wirtschaftskraft und in den Lebensbedingungen zwischen den Industrieländern im Norden und den Entwicklungsländern im Süden geführt haben, sowie ▸ das Sich-Heraushalten aus der Konfrontation zwischen dem westlichen und östlichen Block. Aus diesem Kontext heraus entstand für den Süden auch der Begriff der „Dritten Welt“. Zur Aushandlung und Erreichung ihrer Ziele gründeten die Entwick‐ lungsländer eigene Foren, darunter die politisch-militärische Bewe‐ gung der Blockfreien (1961) und die stärker entwicklungspolitisch und außenwirtschaftlich organisierte Gruppe der 77 (1964). Als das wich‐ tigste Forum für den Süden galt die 1964 gegründete United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD). Hier war es vor allem die Gruppe der 77, die sich zum Sprachrohr der Entwicklungsländer machte und versuchte, die wirtschaftlichen Forderungen gegenüber den Industrieländern bei den Vereinten Nationen und auf der UNCTAD geltend zu machen. Zur Verbesserung ihrer Entwicklungsbedingungen forderten sie eine Neuordnung der Weltwirtschaft. Diese Forderung sowie die 1973 durch den Jom-Kippur-Krieg ausgelöste Ölpreiskrise, die den Industrieländern ihre Abhängigkeit von Rohstofflieferungen der Dritten Welt vor Augen führte, wurden vom Norden als Bedrohung 6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges 133 <?page no="134"?> 30 OPEC ist die Organisation erdölexportierender Länder (Organization of the Petroleum Exporting Countries). 31 Der G7 gehören Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA an. Gegründet wurde das Forum 1975 zunächst als G6 (noch ohne Kanada). wahrgenommen und ließ den Nord-Süd-Konflikt als solchen erkenn‐ bar werden. Mit einer neuen Weltwirtschaftsordnung ging es dem Süden vor allem um ▸ den Abbau von Handelshemmnissen, ▸ eine stärkere Regulierung der Preise für alle wichtigen Rohstoffe, ▸ eine Steigerung der Investitionen im Industriesektor, ▸ einen erleichterten Technologietransfer, ▸ höhere direkte Zuwendungen aus dem Norden sowie ▸ mehr Mitbestimmungsrechte und Entscheidungsbefugnisse in Organisationen, die Steuerungsfunktionen in den internationa‐ len Wirtschafts- und Finanzbeziehungen wahrnehmen, wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (vgl. Hart‐ mann 2015, S. 340). Mit der Mehrheit der Stimmen der Entwicklungsländer verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1974 eine „Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung“ (UN-Dok. A/ RES/ 3201 vom 1. Mai 1974). Auch wenn diese „eine der wichtigsten Grundlagen für die wirtschaftlichen Beziehungen zwi‐ schen allen Völkern und allen Nationen“ (Ziff. 7) sein sollte, scheiterte sie weitgehend. Angesichts der Politik der OPEC 30 und der Ölpreiskrise reagierte der Norden mit der Gründung der G7, einem jährlichen Gip‐ feltreffen der führenden Industrienationen. 31 In der Folge vermochte es dieses Forum, die internationale wirtschaftliche Agenda wesentlich 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 134 <?page no="135"?> zu beherrschen und die Vereinten Nationen sowie die Bemühungen um eine neue Weltwirtschaftsordnung zu marginalisieren (vgl. Sackel 2018). Aber auch im Süden lassen sich verschiedene Gründe für das Scheitern der anvisierten neuen Weltwirtschaftsordnung ausmachen (vgl. Hartmann 2015, S. 341ff.): ▸ die Heterogenität des Südens: Trotz der gemeinsamen kolonialen Vergangenheit und damit einhergehender gemeinsamer Merk‐ male und Interessen differenzierten sich die Entwicklungsländer immer stärker aus: Einige Länder erzielten durch eine hohe wirtschaftliche Eigendynamik (hohe Wachstumsraten) beachtli‐ che Industrialisierungsfortschritte (dazu gehören die sogenann‐ ten Schwellenländer); andere dagegen - insbesondere in Subsa‐ hara-Afrika - wurden vom Weltmarkt abgekoppelt und zählen zu den ärmsten Ländern weltweit („vierte Welt“). ▸ die Schuldenkrise: Diese führte in den 1980er Jahren zu einem Verfall der Rohstoffpreise und einer zunehmenden Verschuldung vieler Entwicklungsländer. Die vom Internationalen Währungs‐ fonds und von der Weltbank beschlossene Strukturanpassung sah vor allem eine Konditionierung über Kredite vor, die zu teilweise unbeabsichtigten wirtschaftlichen Folgen für die Ent‐ wicklungsländer führte (vgl. Schaubild 12). ▸ die Auflösung der Dritten Welt: Mit dem Ende des Ost-West-Kon‐ flikts kam es schließlich auch zu einem „Ende der Idee einer ‚Dritten Welt‘ jenseits von Ost und West“ (Hartmann 2015, S. 343). 6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges 135 <?page no="136"?> Maßnahmen Ziele unbeabsichtigte Folgen Beschränkung des inländischen Geldumlaufs Inflationsbekämpfung Existenzgefährdung von Kleinkreditnehmern Reduzierung von Staatsausgaben (Personal, Subventionen, Zuschüsse) Abbau der Staatsverschuldung erhöhte Arbeitslosigkeit, Verfall öffentlicher Dienst‐ leistungen (Ausbildung, Gesundheit), Verteuerung der Lebenshaltungskosten Privatisierung Effizienzsteigerung von Wirtschaftsaktivitäten Arbeitslosigkeit durch Rationalisierung, Verlust an entwicklungspolitischen sowie umwelt- und sozialpolitischen Handlungs‐ spielräumen Liberalisierung des Außenwirt‐ schaftsverkehrs stärkere Einbindung in den Weltmarkt, Stärkung der Wettbe‐ werbsfähigkeit durch Abbau innovations‐ feindlicher Schutz‐ maßnahmen Zusammenbruch einheimi‐ scher Betriebe, weitere Spe‐ zialisierung auf bestimmte Exportprodukte unter Ver‐ wendung industrieller In‐ puts statt Diversifizierung der Produktion Schaubild 12: Maßnahmen, Ziele und unbeabsichtigte Folgen der Strukturanpassung nach Lothar Brock (2004, S. 631) Mit dem Ende des Kalten Krieges hat der Nord-Süd-Konflikt - ungeachtet des Fortbestehens wirtschaftlicher und verteilungspoliti‐ scher Interessenkonflikte - seine ordnungspolitische Bedeutung zu einem Großteil verloren. Handels- und entwicklungspolitische Fra‐ gen werden immer stärker zugunsten sicherheitspolitischer Aspekte verdrängt. Nach Christof Hartmann (2015, S. 343) sei eine „Versicher‐ heitlichung der Nord-Süd-Beziehungen“ zu beobachten, bei der sich die Industrieländer des Nordens „durch Pandemien, ungesteuerte Mi‐ gration, ökologische Katastrophen und die Proliferation von Massen‐ 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 136 <?page no="137"?> vernichtungswaffen und Trägersystemen“ im Süden herausgefordert sehen. 6.1.3 Der Nahostkonflikt Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zählt der Konflikt im Nahen und Mittleren Osten zu den beherrschenden im globalen Konfliktge‐ schehen. Dabei handelt es sich - im Gegensatz zu den beiden zuvor diskutieren weltumspannenden Formationen - um einen regionalen Konflikt. Das mindert nicht seine Bedeutung. Nach Dieter Senghaas (1988, S. 158) gehören „regional begrenzte Konflikte in der Dritten Welt […] zu den Kernproblemen der internationalen Politik der Gegenwart“. Der Nahe und Mittlere Osten zählt seit Jahrzehnten zu den kon‐ fliktreichsten Regionen der Welt, geprägt durch zahlreiche zwischen- und innerstaatliche Konflikte, die sich überlagern und gegenseitig verstärken (vgl. Asseburg und Busse 2020, S. 8). Diese Region ist die Schnittstelle dreier Kontinente und das Zentrum dreier Weltreligionen. Über lange Zeit galt der israelisch-palästinensische Konflikt als der Kernkonflikt dieser Region, verbunden mit der Annahme, dass die Lö‐ sung dieses Konflikts die Voraussetzung für die der anderen Konflikte sei. Auch wenn diese These mittlerweile umstritten ist (vgl. Asseburg und Busse 2020, S. 8ff.), so wird ihm doch eine „in weiten Teilen der Region nach wie vor erhebliche Wirkungs- und Mobilisierungskraft“ (Asseburg und Busse 2020, S. 10) zuerkannt. Die Wurzeln des israelisch-palästinensischen Konfliktes reichen bis in der Zeit der Entstehung des Staates Israels zurück. Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine national-jüdische Bewegung, der Zionis‐ mus: zum einen aus „Furcht vor einem Verlust jüdischer Identität durch Assimilation“, zum anderen durch „die Zunahme des Antisemitismus in West- und Osteuropa“ (Robert 2015, S. 320). Ausgehend von der 6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges 137 <?page no="138"?> Idee der Rückkehr der Juden in ihre historische Heimat forderte der Zionismus einen jüdischen Staat im „Eretz Israel“ (Palästina). Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war Palästina Teil des Osmanischen Reiches. Nach seinem Zusammenbruch erhielt Großbritannien 1922 das Völkerbundsmandat für Palästina. In dieser Zeit formierte sich bereits arabischer Widerstand gegen „den zionistischen Siedlungskolo‐ nialismus“ (Robert 2015, S. 320). Nach erfolglosen Versuchen, zwischen Juden und Arabern zu vermitteln, zog sich Großbritannien mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus Palästina zurück und übertrug die Palästinafrage an die Vereinten Nationen als Nachfolgeorganisation des Völkerbundes. 1947 votierte die UN-Generalversammlung für eine Beendigung des britischen Mandats und eine Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat mit Jerusalem als neutrale Enklave. Der Teilungsplan scheiterte. Als am 14. Mai 1948 das britische Mandat endete, proklamierte David Ben Gurion noch am selben Tag einseitig den Staat Israel. Im Gegenzug besetzte Jordanien die West‐ bank, Jerusalem wurde geteilt und der Gazastreifen unter ägyptische Verwaltung gestellt (vgl. Robert 2015, S. 320f.). Jahr Bewaffnete Konflikte und Kriege 1948 Erster arabisch-israelischer Krieg, ausgelöst durch die Staatsgründung Israels 1956 Suezkrieg mit Israel, England und Frankreich auf der ei‐ nen und Ägypten auf der anderen Seite um die Kontrolle des Suez-Kanals in Ägypten 1967 Sechstagekrieg Israels gegen Ägypten, Jordanien und Syrien mit weitreichenden Gebietseroberungen Israels 1973 Jom-Kippur-Krieg Ägyptens und Syriens gegen Israel 1978 Operation „Litani“: Einmarsch der israelischen Armee in den Libanon 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 138 <?page no="139"?> 1981 Annexion der Golanhöhen durch Israel 1982 Erster Libanonkrieg: nach Angriffen der PLO vom Li‐ banon aus entschließt sich Israel zu einer Invasion im Nachbarland 1987-1993 Erste Intifada: gewaltsamer Konflikt zwischen Palästi‐ nensern und Israelis, „Krieg der Steine“ gegen die israe‐ lische Besatzung im Westjordanland 1990-1991 Zweiter Golfkrieg: der Irak beschießt Israel mit Scud-Ra‐ keten; Israel schlägt nicht zurück 2000 Beginn der zweiten Intifada: gewaltsamer Konflikt zwi‐ schen Palästinensern und Israelis nach dem Scheitern des Oslo-Friedensprozesses 2005 Rückzug Israels aus dem Gazastreifen 2006 Zweiter Libanonkrieg: Kämpfe zwischen der Hisbollah und Israel 2008/ 09 Operation „Gegossenes Blei“: Militäroperation Israels gegen Einrichtungen und Mitglieder der Hamas im Ga‐ zastreifen 2012 Operation „Säulen der Verteidigung“: Militäroperation Israels gegen Einrichtungen und Mitglieder der Hamas im Gazastreifen 2014 „Bombardements ohne Pause“ zwischen Israel und Paläs‐ tina 2014 Operation „Protective Edge“: Militäroperation der israe‐ lischen Streitkräfte als Reaktion auf den anhaltenden Raketenbeschuss durch die Hamas und andere militante palästinensische Gruppierungen Schaubild 13: Israelisch-palästinensische/ arabische Auseinander‐ setzungen 6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges 139 <?page no="140"?> Die Komplexität des israelisch-palästinensischen Konfliktes zeigt sich in der Mehrdimensionalität und Verwobenheit seiner Konfliktgegen‐ stände und -akteure. Er hat eine territoriale, ethnische und religiöse Dimension (vgl. Asseburg und Busse 2020, S. 10): ▸ Zuallererst handelt es sich um einen Territorialkonflikt. Es be‐ steht eine „Konkurrenz zwischen zwei Nationen, Juden und palästinensische Araber, um denselben geographischen Raum“ ( Johannsen 2004, S. 469). Dabei haben sich das palästinensische Territorium und seine Grenzverläufe seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den Teilungsplänen der Vereinten Nationen immer stärker zu Ungunsten Palästinas entwickelt. Neben der „kriegerische[n] Landnahme“ ( Johannsen 2004, S. 462) schafft die israelische Politik mit ihren Siedlungsaktivitäten „‚facts on the ground‘ - gemäß der Logik‚ was wir heute bauen, wird uns morgen gehören“ ( Johannsen 2004, S. 462). ▸ Damit im Zusammenhang steht der Konflikt um Staatlichkeit und Autonomie. 1948 wurde einseitig der jüdische Staat ausgerufen. Die nationale Selbstbestimmung der Palästinenser steht bis heute aus. Infolge der Territorialentwicklungen wird es auf palästi‐ nensischer Seite auch immer schwieriger, einen funktionsfähi‐ gen Staat zu etablieren. Das von der palästinensischen Autono‐ miebehörde verwaltete Territorium ist mittlerweile hochgradig fragmentiert. Das betrifft die „asymmetrischen Beziehungen zwischen den Ökonomien der Konfliktparteien“ ( Johannsen 2004, S. 465), die fehlende Kontrolle über strategische Ressour‐ cen wie Wasser und fruchtbaren Boden (vgl. Johannsen 2004, S. 460f.), aber auch fehlende staatliche Funktionen wie ein funk‐ tionierendes Gewaltmonopol. Teilweise ist gar von einem „failed quasi-state“ ( Johannsen 2004, S. 461) die Rede. 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 140 <?page no="141"?> ▸ Ein weiterer Streitpunkt stellt der Verbleib der Flüchtlinge dar. Mit der Staatsgründung Israels und den folgenden Kriegen kam es zu einer massiven Vertreibung von Palästinensern aus ihrem angestammten Gebiet. Mittlerweile gibt es ca. 5,5 Millionen palästinensische Flüchtlinge (vgl. Statista 2020, Stand: Januar 2019). Die Araber fordern ein Recht auf Rückkehr ein, was für die überwiegende Mehrheit der Israelis eine „Horrorvision“ ( Jo‐ hannsen 2004, S. 468) darstellt, bedrohe dies - so die Befürchtung - das zionistische Staatsprojekt. ▸ Ungeklärt ist nach wie vor auch die Frage des künftigen Status von Jerusalem. Die Palästinenser erheben Anspruch auf Ost-Je‐ rusalem als Hauptstadt. Israel verweigert dies und argumentiert mit der eigenen demografischen Mehrheit in der Stadt, die auch politisch forciert wird beispielsweise durch einen staatlich geförderten Wohnungsbau für jüdische Siedlerinnen und Sied‐ ler oder administrative Beschränkungen für palästinensische Einwohnerinnen und Einwohner. Für die Palästinenser stellt Ost-Jerusalem nach wie vor die größte arabische Stadt dar; „sie bleibt das religiöse, politische, soziale und ökonomische Zentrum der Palästinenser und der Verkehrsknotenpunkt der Westbank“ ( Johannsen 2004, S. 465). ▸ Schließlich handelt es sich beim israelisch-palästinensischen Konflikt um eine religiöse Aufladung einer Konfrontation zwi‐ schen Juden und Muslimen. Die religiöse Dimension zeigt sich exemplarisch bei der Hauptstadtfrage, ist Jerusalem doch für Juden und Muslime gleichermaßen von hoher religiöser Symbol‐ kraft. Neben dieser Diversität von Konfliktgegenständen zeigen sich aber auch voneinander zu unterscheidende Akteursebenen (vgl. Robert 2015, S. 321ff.; Johannsen 2017, S. 129ff.): 6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges 141 <?page no="142"?> 32 Stand: Human Development Index (HDI) von 2019 (UNDP 2019). Der HDI berücksichtigt das Bruttonationalprodukt, die Bildung sowie die Lebenserwartung. ▸ Die lokale Ebene umfasst die unmittelbar beteiligten Akteure - die Israelis und Palästinenser - vor Ort. Hier steht die Auseinan‐ dersetzung um gegenseitige Anerkennung, gesicherte Lebensbe‐ dingungen und Entwicklungschancen im Zentrum des Konflikts. Diese Ebene zeichnet sich durch eine hochgradige Asymmetrie aus. Gemessen am Human Development Index der Vereinten Nationen, einem Wohlstandsindex, steht Israel weltweit an 22. Stelle und zählt zu den Ländern mit sehr hoher menschlicher Entwicklung, Palästina dagegen weist an 119. Stelle nur eine mittlere menschliche Entwicklung auf. 32 Dazu beigetragen haben vor allem auch die Kriege, Zerstörungen und Territorialverschie‐ bungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. ▸ Auf der regionalen Ebene stehen sich Israel und die arabischen Staaten sowie der Iran gegenüber. Das primäre israelische Ziel ist die Sicherheit seines Landes. Dies umfasst „die militärische Überlegenheit Israels gegenüber seinen Nachbarn ebenso wie der unausgesprochene Anspruch auf den alleinigen Besitz von Atomwaffen“ (Robert 2015, S. 322). Das Verhältnis Israels zu den arabischen Staaten gestaltet sich unterschiedlich: Friedens‐ schlüsse gibt es mit Ägypten (1979) und Jordanien (1994), nicht dagegen mit Syrien und dem Libanon. Das iranische Atompro‐ gramm wird als Bedrohung wahrgenommen. Die aktuellen Um‐ brüche in der Region haben die Situation noch verschärft und für Israel auch zu einem „Wegbrechen alter Verbündeter“ (Asseburg und Busse 2020, S. 88) geführt. ▸ Die zentralen Akteure auf weltpolitischer Ebene waren zu Zeiten des Ost-West-Konflikts die USA und die Sowjetunion. Dabei 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 142 <?page no="143"?> stehen die USA traditionell Israel nahe; die Sowjetunion und das heutige Russland unterstützen dagegen die Interessen Paläs‐ tinas und der arabischen Staaten. Beide Großmächte verfolgen aber auch eigene geostrategische Interessen in der Region wie die Sicherung ihrer Einflusssphären (zum Beispiel der Zugang zum Suez-Kanal oder auch zu den Erdölvorräten am Persischen Golf). Mit dem Ende des Kalten Krieges spielt Russland im israe‐ lisch-palästinensischen Konflikt nur noch „eine mittelbare Rolle“ (Robert 2015, S. 324), erkennbar in der russischen Parteinahme für das Assad-Regime im syrischen Bürgerkrieg oder auch in der Vermittlerrolle im Streit um das iranische Atomprogramm. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist zu einem chronischen Konflikt geworden, bei dem Lösungen immer schwieriger werden. Das trifft nicht nur auf den einstigen Schlüsselkonflikt in dieser Region zu. Die aktuellen bewaffneten Auseinandersetzungen und Umbrüche in der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens haben diese zu einer „Welt in Unordnung“ (Kissinger 2016, S. 113) werden lassen: „Nirgends ist die Herausforderung der internationalen Ordnung kom‐ plexer, und das gilt sowohl mit Blick auf die Aufgabe, im Nahen Osten eine regionale Ordnung herzustellen, als auch in Bezug auf die gewaltige Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass diese Ordnung mit dem Frieden und der Stabilität der übrigen Welt kompatibel ist.“ 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen Mit dem Ende des Kalten Krieges haben sich „die internationalen Handlungsebenen neu formiert“ (Pfetsch 1998, S. 3). Die festen, bipo‐ 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 143 <?page no="144"?> 33 Das Heidelberger Konfliktbarometer zählte 2019 einen zwischenstaatli‐ chen, 22 innerstaatliche, acht substaatliche und sieben transstaatliche Kriege (vgl. HIIK 2020a, S. 16). laren Strukturen des Ost-West-Konflikts sind weggefallen; die relative Stabilität ist einer neuen Unordnung gewichen. Damit ergeben sich Veränderungen der Machtkonstellation im internationalen System. Mit den USA, Russland und China kristallisiert sich ein strategisches Dreieck heraus, das die neue Weltordnung herausfordert. Zudem sind es nicht mehr die zwischenstaatlichen Kriege, die dominieren; die große Mehrheit der gegenwärtigen Kriege sind inner-, sub- und transstaatliche. 33 Hier sind mit dem Wegfall der bipolaren Strukturen auch zuvor überdeckte ethnische Spannungen und Identitätskonflikte aufgebrochen. Insgesamt machen ethnische Konflikte etwa zwei Drit‐ tel aller Gewaltkonflikte aus (vgl. Scherrer 1997, S. 322). Eine weitere Herausforderung, die mit Beginn der 1990er Jahre zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, stellt fragile Staatlichkeit dar. Diese geht häufig mit innerstaatlichen Macht- und Herrschaftskonflikten - die dominierende Konfliktkonstellation in Subsahara-Afrika (vgl. HIIK 2020a, S. 58) - einher. 6.2.1 Konflikte um die internationale Vormachtstellung Für Jahrzehnte war die Bipolarität die vorherrschende Machtkonstel‐ lation im internationalen System. Mit dem Zusammenbruch der So‐ wjetunion und des Ostblocks blieben die USA als alleinige Weltmacht bestehen. Vor diesem Hintergrund beschreibt eine Reihe von Beiträgen die Weltordnung mit dem Ende des Kalten Krieges als unipolar (vgl. u. a. Wohlforth 1999). Nach Robert Kagan (2003, S. 7), amerikanischer Vertreter einer von den USA angeführten unipolaren Weltordnung, üben die Vereinigten Staaten „Macht in einer anarchischen Hobbes’‐ 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 144 <?page no="145"?> schen Welt aus, in der auf internationale Regelungen und Völkerrecht kein Verlass ist und in der wahre Sicherheit sowie die Verteidigung und Förderung einer freiheitlichen Ordnung nach wie vor von Besitz und Einsatz militärischer Macht abhängen“ (vgl. auch Brzezinski 2004). Die Frage nach Weltordnungsmodellen ist eine (neo)realistische. Hier kommt der Macht - im klassischen Sinne nach Max Weber (1985 [1922], S. 28) als „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ - eine Schlüsselrolle zu. Dementspre‐ chend kann im obigen Sinne von einer unipolaren Machtverteilung mit den USA als alleinigem Pol sprechen, wer „auf die herausragende Qualität und Quantität der militärischen Potentiale der USA abhebt“ (Link 2004, S. 379). Der Begriff der Macht ist jedoch umfassender: Michael Mann (1986) unterscheidet vier Quellen und Organisationsfor‐ men von Macht: die ideologische, wirtschaftliche, militärische sowie politische Macht. Herfried Münkler (2005b, S. 53) benennt fünf Macht- und Einflusskomponenten: neben dem militärischen Potenzial die ökonomische Kapazität, die zivilisatorisch-kulturelle Attraktivität, die wissenschaftlich-technologische Dynamik sowie die demografische Entwicklung. Vor diesem Hintergrund erklären sich dann auch multi‐ polare Weltordnungsmodelle. Diese können - je nachdem, auf welche Faktoren die einzelnen Vertreterinnen und Vertreter fokussieren - verschiedene Gestalt annehmen: Es gibt Modelle, die auf fünf bezie‐ hungsweise sechs Machtzentren abheben: die USA, die EU, Russland, China, Japan sowie teilweise Indien (vgl. u. a. Kissinger 1994; Brze‐ zinski 1997). Aus der Perspektive des Nord-Süd-Konflikts und dem Aufstieg der Schwellenländer stehen sich eher zwei Staatengruppen gegenüber: die G7sowie die BRICS-Staaten. Und im Hinblick auf die internationale Vormachtstellung fordert gegenwärtig insbesondere 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 145 <?page no="146"?> 34 Vgl. u. a. Smith (2012); Hall (2014); Bolt (2018) oder auch SIPRI (2019, S. 1). das strategische Dreieck USA-Russland-China die globale Ordnung heraus 34 (vgl. Schaubild 14). 83 Nord-Süd-Konflikts und dem Aufstieg der Schwellenländer stehen sich eher zwei Staatengruppen gegenüber: die G7sowie die BRICS-Staaten. Und im Hinblick auf die internationale Vormachtstellung fordert gegenwärtig insbesondere das strategische Dreieck USA-Russland- China die globale Ordnung heraus 34 (vgl. Schaubild 14). Schaubild 14: Zentren multipolarer Weltordnungsmodelle Quelle: Eigene Darstellung. Gerade Debatten um das strategische Dreieck USA-Russland-China werden unter dem Stichwort der „Rückkehr der Geopolitik“ (Binder und Stachowitsch 2019) geführt. Geopolitik „Praktische Geopolitik bezeichnet eine Methode der Sicherheitspolitik, deren Initiativen auf einer besonderen Berücksichtigung geographischer Faktoren (zum Beispiel Raum, Lage, Demographie, Ressourcen) fußen und darauf aufbauend von der Definition und Verfolgung geopolitischer Interessen gekennzeichnet sind. Geopolitik ist als eine aktive Sicherheitspolitik zu verstehen, die vor diesem geographischen Hintergrund nach Einflussnahme in bestimmten Zielregionen sucht und dort mit einem Gestaltungsanspruch und der Durchsetzung von Ordnungsvorstellungen verbunden ist. Prakti- 34 Vgl. u.a. Smith (2012); Hall (2014); Bolt (2018) oder auch SIPRI (2019, S. 1). FRA ITA DEU CAN USA JPN BRICS G7 EU GBR BRA ZAF RUS IND CHN Schaubild 14: Zentren multipolarer Weltordnungsmodelle Gerade Debatten um das strategische Dreieck USA-Russland-China werden unter dem Stichwort der „Rückkehr der Geopolitik“ (Binder und Stachowitsch 2019) geführt. 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 146 <?page no="147"?> 35 Die geopolitischen Arbeiten von Karl Haushofer, die mit dazu beigetra‐ gen haben, die nationalsozialistische Politik zu legitimieren, haben in Deutschland zu einer Diskreditierung geopolitischen Denkens geführt. Damit sind lange Zeit auch alternative geopolitische Ansätze aus den USA, Großbritannien oder Frankreich nicht rezipiert worden (vgl. Hoff‐ mann 2012, S. 29; Münkler 2015b, S. 258). Geopolitik „Praktische Geopolitik bezeichnet eine Methode der Sicherheits‐ politik, deren Initiativen auf einer besonderen Berücksichtigung geographischer Faktoren (zum Beispiel Raum, Lage, Demogra‐ phie, Ressourcen) fußen und darauf aufbauend von der Defini‐ tion und Verfolgung geopolitischer Interessen gekennzeichnet sind. Geopolitik ist als eine aktive Sicherheitspolitik zu verste‐ hen, die vor diesem geographischen Hintergrund nach Einfluss‐ nahme in bestimmten Zielregionen sucht und dort mit einem Gestaltungsanspruch und der Durchsetzung von Ordnungsvor‐ stellungen verbunden ist. Praktisches geopolitisches Handeln manifestiert sich demnach in geographisch begründeten, akti‐ ven sicherheitspolitischen Initiativen“ (Hoffmann 2012, S. 47). 35 Folgten die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts wie auch der Kalte Krieg mit den beiden antagonistischen Blöcken und seinen Kernstaa‐ ten USA und Sowjetunion dem Primat der Geopolitik, war mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation zunächst „eine gewisse Abwendung von Geopolitik als übergeordnetes Erklärungsmuster“ (Binder und Stachowitsch 2019, S. 5) erkennbar. Das änderte sich in den 2010er Jahren: vor dem Hintergrund der enorm steigenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Macht Chinas und seiner „sich zuneh‐ 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 147 <?page no="148"?> mend in Konkurrenz zum Westen definierenden Rolle“ (Binder und Stachowitsch 2019, S. 5), der zugleich stattfindenden Debatten um den Verlust der Deutungsmacht des Westens wie auch der stärker werdenden unabhängigen Rolle Russlands unter Wladimir Putin (vgl. Binder und Stachowitsch 2019, S. 6). Inzwischen ist eine erneute Groß‐ mächtekonkurrenz zu beobachten. Großmächtekonkurrenz „Jede Großmacht ist bestrebt, die (Welt-)Hegemonie einer der konkurrierenden Großmächte zu verhindern, und neigt deshalb dazu, eine Balancepolitik zu betreiben. Jede Großmacht möchte aber auch, um ihr Sicherheitsdilemma zu minimieren, selbst möglichst etwas stärker als ihre Konkurrenten sein beziehungs‐ weise werden“ (Link 2004, S. 380). In dieser zeigt sich der Westen zunehmend fragmentiert (vgl. Jäger 2019, S. 14ff.). Zwischen den USA und den europäischen Staaten wer‐ den Spannungen sichtbar, auch sicherheitspolitische: vom Irakkrieg 2003, dem nicht alle NATO-Staaten folgten, über die Libyen-Entschei‐ dung mit der deutschen Enthaltung 2011 bis hin zum US-amerikani‐ schen Präsidenten Donald Trump, der zu Beginn seiner Amtszeit die NATO für obsolet erklärte und mittlerweile von den europäischen Staaten höhere Verteidigungsausgaben „zur Begleichung ihrer Schul‐ den“ einfordert. Das Paradigma America First dominiert die gegenwär‐ tige US-amerikanische Politik. Dafür stehen auch der Handelsstreit mit China und der Europäischen Union, bei dem zugunsten eines US-amerikanischen Protektionismus der Freihandel zunehmend unter Druck gerät, oder auch die Aufkündigung des Pariser Klimaabkom‐ 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 148 <?page no="149"?> mens durch die USA, benachteilige es - so die Befürchtung Trumps - sein Land im internationalen Wettbewerb, insbesondere gegenüber dem Rivalen China (vgl. Jäger 2019, S. 37). Die Entschlossenheit der USA, bei Interessengegensätzen gegebenenfalls auch allein zu agieren, ist allerdings nicht neu und gehört zu den Grundkonstanten der hegemonial geprägten US-amerikanischen Politik. Nationale Sicherheitsstrategie der USA von 1994 (Auszug) „Our engagement must be selective, […] - being willing to act unilaterally when our direct national interests are most at stake; in alliance and partnership when our interests are shared by others; and multilaterally when our interests are more general and the problems are best addressed by the international community“ (The White House 1994, S. 5). Angesichts der gegenwärtigen US-amerikanischen Politik versucht die Europäische Union, sich von den USA zu emanzipieren. Die in An‐ schlag gebrachte Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik steckt allerdings noch in ihren Anfängen, ist dieses europäische Poli‐ tikfeld nach wie vor strikt intergouvernemental ausgerichtet. Zudem zeigen sich auch in anderen Bereichen innerhalb der EU zahlreiche Konfliktlinien: vom Brexit über populistische Strömungen bis hin zu Kontroversen in der Einwanderungspolitik (vgl. Jäger 2019). Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion war vom System‐ wandel 1989/ 90 am stärksten betroffen. Seit dem Zerfall der UdSSR - für Wladimir Putin die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts - kämpft Russland um seine Stellung in der Welt und seine Anerkennung als Großmacht. Nach anfänglicher Annäherung 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 149 <?page no="150"?> 36 G8 bezeichnet den informellen Zusammenschluss der führenden Indus‐ trienationen der Welt, der G7 (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA), plus Russland (1998-2014). 37 Der Eurasischen Union gehören derzeit Armenien, Kasachstan, Kirgisis‐ tan, Russland und Weißrussland an. an den Westen unter Präsident Boris Jelzin - und dafür steht auch die Kooperation in der G8 36 - entwickelt sich Russland zunehmend in Abgrenzung zum liberalen Ordnungsmodell des Westens. Die sukzes‐ sive Ausweitung der EU und NATO bis an die russische Grenze und die 2008 erfolgte NATO-Offerte an Georgien und die Ukraine lösten in Russland „die allergrößten Befürchtungen“ ( Jäger 2019, S. 74) aus - auch geopolitisch im Hinblick auf den Zugang zum Schwarzen Meer (einschließlich der Sicherung des russischen Marinestützpunktes in Sewastopol). In der Folge erhöhten sich die Spannungen. Es folgte der russisch-georgische Krieg mit der russischen Anerkennung der beiden abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien. 2014 wiederholte sich das russische Vorgehen mit dem Krieg in der Ukraine und der Annexion der Krim. Auslöser war ein beabsichtigtes Assoziierungs‐ abkommen der EU mit der Ukraine. Dieses hätte geopolitisch einen weiteren Einschnitt für Russland bedeutet. Hinzu kam, dass sich Russland zu jener Zeit auch um einen für das Bündnis notwendigen Beitritt der Ukraine zur Eurasischen Wirtschaftsunion 37 - dem russi‐ schen Gegenmodell zur Europäischen Union - bemühte. Verstärkt wendet sich Russland nun China zu. Zwischen beiden Staaten besteht eine „strategische Partnerschaft“ - sowohl wirtschaftlich als auch militärisch -, die der Devise folgt: „Niemals gegeneinander, aber nicht unbedingt immer miteinander“ (Trenin 2018a). Dabei ist China geopolitisch wenig an einem starken Russland gelegen (vgl. Jäger 2019, S. 75f.); die Partnerschaft ist eher dem gemeinsamen Ziel verpflichtet, der anhaltenden globalen Dominanz der USA entgegenzuwirken. 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 150 <?page no="151"?> 38 Die zehn Schlüsseltechnologien umfassen: Informations- und Kommu‐ nikationstechnologien, Maschinenbau/ Robotertechnik, Luft- und Raum‐ fahrt, Meerestechnik/ Spezialschiffsbau, Bahntechnik, Fahrzeuge mit al‐ ternativen Antrieben, Energieerzeugung, Landwirtschaftsmaschinen, neue Materialien sowie Pharma- und Medizintechnik. Neben der Machtkonkurrenz zwischen Russland und dem Westen ist mittlerweile auch die Rivalität zwischen China und den USA „zu einem Leitparadigma der internationalen Beziehungen geworden“ (Perthes 2020, S. 5). China verfolgt eine „Politik der ökonomischen Expansion“ ( Jäger 2019, S. 87). Mit der Strategie „Made in China 2025“ verabschiedete der chinesische Staatsrat 2015 einen Zehnjahresplan. Danach will China bis 2025 in zehn Schlüsseltechnologien 38 weltweit führende Unternehmen hervorbringen; bis 2049 soll es sich zur führen‐ den Industrienation der Welt entwickeln. Einen besonderen wirtschaft‐ lichen wie strategischen Stellenwert besitzt für China die Initiative „Neue Seidenstraße“. Dabei sollen durch neue Straßen, Bahnstrecken und Häfen Handelswege zwischen China und anderen Teilen der Welt (Zentral- und Südostasien, Nord- und Ostafrika sowie Europa) entste‐ hen und Rohstoffquellen gesichert werden. Die Route führt von Chinas Küste über das Südchinesische Meer durch die Straße von Mallaka und den Indischen Ozean und weiter durch das Mittelmeer bis zur Nordsee. Sie gilt als „geopolitisch/ geostrategische Bruchlinie […], an der sich die Machtkonstellation des 21. Jahrhunderts entwickelt“ (Lacher 2016). China setzt bei der Durchsetzung seiner außenpolitischen Interessen vor allem auf seine Wirtschafts- und Handelskraft. Zunehmend kommt aber auch sein militärisches Gewicht zum Tragen. China ist zum zweitgrößten Waffenproduzenten der Welt aufgestiegen (vgl. Tian und Su 2020, S. 11). Und auch die Konkurrenz um den internationa‐ len Einfluss mit den USA hat das Potenzial, militärisch ausgetragen zu werden (vgl. Rudolf 2020, S. 11). Dafür steht beispielsweise der 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 151 <?page no="152"?> 39 Dazu gehören die Anrainerstaaten Vietnam, Malaysia und Philippinen sowie Brunei, Taiwan und Japan. Konflikt um das Südchinesische Meer. China erhebt gegenüber den anderen Ländern in dieser Region 39 Territorialansprüche. Damit will es sich geopolitisch den Zugang zum pazifischen Raum sichern: zum einen, um „eine Sicherheitszone zu errichten und die amerikanische Interventionsfähigkeit zu konterkarieren“ (Rudolf 2020, S. 11); zum anderen, um diese Region „im Sinne einer geschützten Bastion für nuklear bewaffnete U-Boote auszubauen“ (Rudolf 2020, S. 11). Der Konflikt um Taiwan stellt ein weiteres Beispiel dar: Die USA verstehen sich als Schutzmacht Taiwans und unterhalten - verstärkt seit der Taiwankrise 1995/ 96 - militärische Beziehungen zu dem Inselstaat. China dagegen betrachtet Taiwan als Teil des eigenen Territoriums und wertet das US-amerikanische Agieren als Einmischung in die inneren Angelegenheiten (vgl. Jäger 2019, S. 104ff.). Konflikte um die internationale Vormachtstellung im strategischen Dreieck USA-Russland-China zeigen sich aber nicht nur in ihrer po‐ litischen, wirtschaftlichen und zunehmend militärischen Dimension, sondern auch ideologisch: Hier stehen sich die liberale Demokratie des Westens, die „russische Welt“ mit ihren konservativen und antili‐ beralen Wertehaltungen und der engen religiösen Rückbindung an die Orthodoxie (vgl. Jäger 2019, S. 79f.) sowie der „digitale[] Autorita‐ rismus“ Chinas (Rudolf 2020, S. 11) einander gegenüber und bieten den jeweiligen Akteuren einen Legitimationsrahmen zur Durchsetzung ihrer geopolitischen Interessen. 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 152 <?page no="153"?> 6.2.2 Ethnonationale Konflikte Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Aufbrechen der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien und im postsowjetischen Raum sind eth‐ nonationale Konflikte in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Doch auch in anderen Regionen der Welt bestimmen ethnische Auseinan‐ dersetzungen das Konfliktgeschehen; sie sind „zu einem Kernproblem regionaler, nationaler und internationaler Politik geworden“ (Senghaas 1992, S. 116) und „zu einer friedenspolitischen Herausforderung ersten Ranges avanciert“ (Helmerich 2011, S. 439). Ethnonationale Konflikte Ethnonationale Konflikte sind „Konflikte, in denen es um re‐ elle oder subjektiv als solche wahrgenommene Differenzen zwischen ethnischen Gruppen geht (vgl. Rösel 1990, S. 123) und ‚meist die Sprach- und Kulturpolitik, weiterhin die Auseinan‐ dersetzung um eine faire politische Beteiligung‘ und ‚schließlich die Wirtschaftspolitik‘ zum ‚Kristallisationspunkt der Politisie‐ rung‘ wird (Senghaas 1994, S. 72)“ (Helmerich 2011, S. 439). Bei ethnonationalen Konflikten stehen sich zwei Hauptakteure - zum einen die in einem Nationalstaat organisierte Mehrheitsgesellschaft, zum anderen Minderheiten in Form ethnonationaler Gruppen - kon‐ fliktiv gegenüber (vgl. Schneckener 2015, S. 28). Diese Konfliktkonstel‐ lation geht auf das Verhältnis von Staat und Nation zurück. Hier lassen sich zwei idealtypische Entwicklungspfade ausmachen, denen beide - wenn auch in unterschiedlicher Weise - eine „Homogenitätsannahme“ (Schneckener 2015, S. 29) zugrunde liegt: 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 153 <?page no="154"?> ▸ der Demos: Dieses Modell setzt beim Staat an, der mit seinen ihn tragenden Eliten bestrebt ist, „eine an sich heterogene Be‐ völkerung zu ‚nationalisieren‘“ (Schneckener 2015, S. 30): durch Schaffung einheitlicher Institutionen, einer gemeinsamen Öf‐ fentlichkeit oder auch nationaler Symbole. Der Demos wirkt inklusiv, indem er dazu neigt, ethnonationale Minderheiten zu assimilieren (vgl. Schneckener 2015, S. 32). ▸ der Ethnos: Dieses Modell geht von der Nation aus; hier erfolgt die Nationsbildung ohne einen beziehungsweise gegen den Staat. Es zielt darauf, „eine als homogen ‚vorgestellte Gemeinschaft‘ (Anderson 1988) zu ‚verstaatlichen‘“ (Schneckener 2015, S. 30). Der Ethnos wirkt exklusiv, indem er stärker zu Segregation und Separation tendiert (vgl. Schneckener 2015, S. 32). Vor diesem Hintergrund sind ethnonationale Konflikte ein Resultat be‐ ziehungsweise „die Kehrseite des Nationalstaates“ (Meyer 2011, S. 340). Dabei weisen ethnonationale Gruppen spezifische Charakteristika auf, die sie von anderen sozialen und kulturellen Gruppen unterscheiden (vgl. Schneckener 2015, S. 39): ▸ Es handelt sich um überpersonale, intergenerationelle und sub‐ staatliche historisch gewachsene Gruppen, die sich durch eine gemeinsame Sprache, Tradition, Kultur, Religion, eigene Institu‐ tionen oder einen bestimmten Siedlungsraum auszeichnen und von anderen Gruppen sowie der Mehrheitsgesellschaft unter‐ scheiden. ▸ Zentral ist ein „von ihren Mitgliedern geteiltes Bewusstsein der Einheit und Zusammengehörigkeit“ (Meyer 2011, S. 340; vgl. auch Waldmann 1989, S. 16ff.). Es bedarf einer kollektiven Identität, eines sogenannten „Wir-Gefühls“. 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 154 <?page no="155"?> ▸ Die Gruppenzugehörigkeit ist umfassend; sie betrifft einen Groß‐ teil der Bereiche des Lebens und ergibt sich sozusagen von selbst aufgrund des Daseins: „Membership is a matter of belonging, not of achievement“ (Margalit und Raz 1990, S. 446). ▸ Sie fordern Selbstregierungsrechte ein, um ihre politischen, kul‐ turellen beziehungsweise sozio-ökonomischen Angelegenheiten selbst regeln zu können. Zudem lassen sich verschiedene Typologien von Minderheitensituati‐ onen ausmachen, die die Konstellation und Dynamik von ethnonati‐ onalen Konflikten beeinflussen können. Dazu gehören insbesondere drei Faktoren (vgl. Schneckener 2015, S. 48ff.; Schaubild 15). ▸ Nationalstaat versus multinationaler Staat: Im Nationalstaat ste‐ hen sich idealtypisch die Mehrheitsgesellschaft als Titularnation und die ethnonationale(n) Minderheit(en) gegenüber, wobei die Konfliktlinie zwischen der Regierung als wesentliche Vertreterin der Mehrheitsgesellschaft und den Repräsentantinnen und Re‐ präsentanten der ethnonationalen Minderheit(en) verläuft. Mul‐ tinationale Staaten bestehen dagegen aus zwei oder mehreren ethnonationalen Gruppen; eine Mehrheitsgesellschaft existiert nicht. Hier verläuft die Konfliktlinie zwischen den jeweiligen ethnonationalen Gruppen. ▸ Territorialität versus Nicht-Territorialität: Im ersten Fall ist die ethnonationale Gruppe „schwerpunktmäßig und in kompakter Weise in einem geschlossenen Siedlungsgebiet“ anzutreffen, welches sie „als ihr traditionelles, angestammtes homeland be‐ greift“ (Schneckener 2015, S. 52). Im zweiten Fall lässt sich keine solche Dichte ausmachen; hier leben die Angehörigen der eth‐ nonationalen Gruppe(n) zerstreut im Land beziehungsweise in vereinzelten Enklaven. 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 155 <?page no="156"?> ▸ Patronage versus Nicht-Patronage: Einige ethnonationale Gruppen verfügen über Patronagestaaten, die ihnen als Schutzmacht zur Seite stehen und sie bei der Durchsetzung ihrer sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Interessen gezielt unterstützen. Damit einher geht aber auch die Gefahr, die innerstaatlichen Auseinander‐ setzungen auf eine bilaterale beziehungsweise internationale Ebene zu heben, verbunden mit einer möglichen Konflikteskalation. Nationalstaat Multinationaler Staat Patronage Nicht- Patronage Patronage Nicht- Patronage Territo‐ rialität Abchasien und Südossetien (Georgien) Irakisch- Kurdistan (Irak) Korsika (Frankreich) Chittagong Hill Tracts (Bangla‐ desch) Kosovo (ehemaliges Jugoslawien) Kaschmir (Indien) Katalonien (Spanien) Darfur (Sudan) Rohingya (Myanmar) Nicht- Territo‐ rialität Russen (baltische Staaten) Roma (in vielen europäischen Staaten) Zypern (bis 1961) Rätoromanen (Schweiz) Schaubild 15: Typologie von Minderheitensituationen nach Ulrich Schneckener (2015, S. 56) mit zum Teil veränderten Beispielen In der jüngeren Nationalismusforschung werden ethnonationale Kon‐ flikte entlang der Frage diskutiert, „ob es sich bei einer Nation bezie‐ hungsweise Ethnie um eine naturgegebene und unveränderbare Rea‐ lität oder um eine sozial konstruierte Kategorie handelt“ (Helmerich 2011, S. 437). Hier lassen sich vor allem drei Erklärungsansätze vonein‐ ander unterscheiden (vgl. Schrader 2012; Helmerich 2011, S. 437ff.): 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 156 <?page no="157"?> ▸ der Primordialismus: Dieser vertritt eine essentialistische Sicht‐ weise. Danach erweisen sich die ethnischen Merkmale sozialer Gruppen als zentral; sie leiten das kollektive Selbstverständnis und ihr Handeln. Nach dieser Perspektive stellen ethnische Faktoren eigenständige Wirkmächte in der Weltpolitik und eine unabhängige Variable in Gewaltkonflikten dar. Ein bekannter Vertreter dieses Zugangs ist Samuel P. Huntington (1996). So entstünden mit dem Ende des Kalten Krieges Allianzen nicht mehr vorrangig auf der Basis politisch-ideologischer oder wirt‐ schaftlicher Interessen, sondern entlang ethnischer, kultureller und religiöser Konfliktlinien, die nach Huntington zu einem Kulturkampf - einem clash of civilizations - führen können. ▸ der Konstruktivismus: Nach diesem Ansatz sind Akteure in in‐ tersubjektive Strukturen eingebettet. Ethnische Identitäten sind soziale Konstrukte, „die unter dem Einfluss dominierender Eliten und im Zusammenleben der jeweiligen Gruppe geformt, verän‐ dert, aufgewertet oder in den Hintergrund gedrängt werden“ (Schrader 2012) und entscheidend das Selbst- und Fremdver‐ ständnis der Akteure prägen. Ethnische Faktoren nehmen hier die Funktion einer intervenierenden Variablen an. ▸ der Instrumentalismus: Aus dieser Perspektive stellen ethnische Faktoren in den seltensten Fällen eine genuine Konfliktursache dar; vielmehr besteht eine Scheinkorrelation zwischen ethnischen Faktoren und Gewaltkonflikten. Sie werden - als Folge ökonomi‐ scher und sozialer Krisen - von Eliten bewusst für politische Zwecke instrumentalisiert. „Die eigene Anhängerschaft soll gegen andere Gruppen aufgehetzt und mobilisiert werden. Ziel ist es, rivalisierende Gemeinschaften und ihre Führer abzuwerten, vom Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen abzuschneiden und von der politischen Macht zu verdrängen“ (Schrader 2012). 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 157 <?page no="158"?> Gemeinsam ist allen drei theoretischen Ansätzen die Anerkennung der Lebens- und Konfliktrelevanz ethnischer Faktoren. Sie unterscheiden sich analytisch hinsichtlich ihrer Annahmen über den Wirkzusammen‐ hang: Während Primordialisten in ethnischen Faktoren eine zentrale Konfliktursache sehen, stellen sie für Konstruktivisten und Instrumen‐ talisten „weniger die Ursache als vielmehr die Folge von Konflikten“ (Schneckener 2015. S. 40) dar. So kann der ethnische Fokus durchaus zu einer Verkürzung der durchaus komplexen Konfliktursachen führen, denen in der Regel strukturelle, sozio-ökonomische, politische und kulturelle Faktoren zugrunde liegen (vgl. Schaubild 16). Faktoren Formen strukturelle Faktoren ▸ fragile Staatlichkeit/ Staatskollaps ▸ innerstaatliche Sicherheitsprobleme ▸ ethnische Geografie politische Faktoren ▸ diskriminierende politische Institutionen (Benachteiligung einzelner Gruppen) ▸ exklusive nationale Ideologien ▸ Politik zwischen Gruppen (Wenn einzelne Gruppen konfrontative Strategien verfolgen) ▸ Elitenpolitik sozio-ökonomische Faktoren ▸ ökonomische Probleme ▸ diskriminierende ökonomische Systeme (Benachteiligung einzelner Gruppen) ▸ ökonomische Entwicklung und Moderni‐ sierung (Veränderung der Sozialstruktur, nachhaltige Abwerbung von Fachkräften, Flüchtlingsströme etc.) kulturelle Faktoren ▸ Muster kultureller Diskriminierung ▸ problematische Historie Schaubild 16: Zugrundeliegende Konfliktursachen nach Michael E. Brown (2001, S. 5) 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 158 <?page no="159"?> Ethnonationale Gruppen fühlen sich „ökonomisch benachteiligt, kul‐ turell überfremdet und politisch entmündigt beziehungsweise recht‐ los“ (Senghaas 1992, S. 117). Daraus leiten sich nach Dieter Senghaas (1992, S. 118ff.) drei mögliche konkrete Konfliktkonstellationen ab: Zum einen werden ethnonationale Konflikte aus Gründen der Besitz‐ standswahrung geführt. Das ist immer dann der Fall, wenn eine eth‐ nonationale Gruppe ökonomisch stark ist und sich von der Mehrheits‐ gesellschaft ausgenutzt fühlt. Das motiviert Sezessionsbestrebungen, also die Loslösung des eigenen Gebietes vom Staatsverband. Dies war beispielsweise bei Slowenien im ehemaligen Jugoslawien der Fall; ein aktuelles Beispiel stellt Katalonien dar. Zum zweiten ergeben sich ethnonationale Konflikte aus einer Überfremdungsabwehr heraus. Hier hat eine ethnische Minderheit die tatsächliche oder vermeintliche Vorherrschaft über eine ethnische Mehrheit. Dabei ist die Mehrheitsge‐ sellschaft bemüht, die Dominanz der Minderheit abzuwehren. Ende der 1980er Jahre waren es die baltischen Staaten, die sich mit ihrer Politik der Loslösung gegen „die wachsende Gefahr einer ‚Russifizierung‘“ (Senghaas 1992, S. 118) wandten. Drittens und am häufigsten zeigen sich ethnonationale Konflikte als Ergebnis einer Assimilationsabwehr. Hier versucht die Minderheit, sich gegen den Assimilierungsdruck der Mehrheit zu stellen: „Wird Assimilierungsdruck penetrant, entstehen gewaltträchtige Min‐ derheitenkonflikte, im Grenzfall eine dramatische Eskalation ethnona‐ tionalistisch motivierter Gewalt, die in aller Regel erhebliche Gegenge‐ walt provoziert: Das bedeutet Bürgerkrieg“ (Senghaas 1992, S. 120). Ethnonationale Politik erweist sich letztlich aber auch immer als ambivalent: Die Befreiung aus der erfahrenen Benachteiligung, Über‐ fremdung und Entmündigung erfordert eine Abgrenzung nach außen, auch gegenüber anderen Ethnien. Damit verbindet sich „die Gefahr 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 159 <?page no="160"?> 40 Bei fragiler Staatlichkeit „handelt es sich weniger um eine Bedrohung als vielmehr um ein Risiko, aus dem konkrete Bedrohungen für andere hervorgehen oder sich verstärken können“ (Schneckener 2005). der Selbstabkapselung und der daraus resultierenden Lernpathologie, die Entwicklung eines Machtbehauptungswillens, der sich […] bis zur Machtbesessenheit steigern kann“ (Senghaas 1992, S. 125). 6.2.3 Innerstaatliche Macht- und Herrschaftskonflikte durch fragile Staatlichkeit Innerstaatliche Macht- und Herrschaftskonflikte stellen eine zentrale Herausforderung im globalen Konfliktgeschehen dar, insbesondere in der Region Subsahara-Afrika (vgl. HIIK 2020a, S. 58). Diese gehen zumeist auf fragile Staatlichkeit und damit auf die Schwäche und den Zerfall von Staaten zurück. 40 Mit fragiler Staatlichkeit kann eine Viel‐ zahl unterschiedlicher Konflikte, unter anderem auch ethnonationale Konflikte, die im vorherigen Abschnitt verhandelt wurden, einherge‐ hen. Der Fokus soll hier auf den Konfliktgegenstand der nationalen Macht und Fragen der Herrschaftsgewalt in einem Staat liegen. Zudem handelt es sich bei fragiler Staatlichkeit nicht allein um ein Phänomen des afrikanischen Kontinents und begrenzt auf den Subsahararaum (vgl. hierzu auch die Kritik von Schubert 2005, S. 22f.). Neben diesem zeichnen sich beispielsweise auch die MENA-Region ( Jemen, Syrien, Irak oder auch Libyen) oder Südasien (Afghanistan, Pakistan) durch einen hohen Grad an fragiler Staatlichkeit aus (vgl. Lambach 2016; Fragile States Index 2020). Das Phänomen der Schwäche und des Zerfalls von Staaten hat mit Beginn der 1990er Jahren an Bedeutung gewonnen. Zum einen bewirkten das Ende des Ost-West-Konfliktes und der Wegfall von Hilfeleistungen der beiden Supermächte an potenziell Verbündete in 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 160 <?page no="161"?> der Dritten Welt einen verstärkten - insbesondere auch sicherheitspo‐ litischen - Fokus auf dieses Phänomen, „brachen die zuvor künstlich am Leben gehaltenen Staaten reihenweise zusammen“ (Lambach et al. 2016, S. 70; vgl. auch Schubert 2005, S. 18). Zum anderen verstärkte sich die mediale Aufmerksamkeit. Dazu haben insbesondere zwei Ereignisse beigetragen: der internationale Einsatz in Somalia mit der für das US-amerikanische Militär verlustreichen Schlacht von Mogadischu (1993) sowie die Terroranschläge vom 11. September 2001, die den Zusammenhang von failing respektive failed states und transnationalem Terrorismus offenbarten (vgl. Schubert 2005, S. 18f.; Schneckener 2007, S. 99). Fragile Staaten sind „Staaten, deren Institutionen nicht oder nicht mehr in der Lage sind, bestimmte elementare Leistungen gegenüber ihrer Bevölkerung zu erbringen“ (Schneckener 2007, S. 104). Es gibt verschiedene Wege, dieses institutionelle Versagen zu definieren. Das ist davon abhängig, wie die Funktionen des Staates gefasst werden (vgl. Lambach 2012, S. 35ff.): Für Max Weber (1985 [1922], S. 822) zeichnet sich der Staat insbesondere dadurch aus, dass er „innerhalb eines bestimmten Gebietes - dies: das ‚Gebiet‘, gehört zum Merkmal - das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“. Während der Staat bei Weber „nicht aus dem Inhalt dessen zu definieren [ist], was er tut“ (Weber 1985 [1922], S. 821), wird er bei John Locke genau darüber bestimmt: zum Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum. In diesem liberalen Sinne definiert auch Ulrich Schneckener (2007, S. 105) die Kernfunktionen des Staates mit „Sicherheit, Wohlfahrt und Legitimität/ Rechtsstaatlichkeit“. In der Literatur wird häufig zwischen vier verschiedenen Typen von Staatlichkeit unterschieden (vgl. u. a. Schneckener 2007, S. 107f.; Hirschmann 2016. S. 24f.; auch Schaubild 17): 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 161 <?page no="162"?> ▸ konsolidierte beziehungsweise sich konsolidierende Staatlich‐ keit (consolidated/ consolidating states): Dieser Typus umfasst Länder, bei denen alle drei Kernfunktionen des Staates - auch über einen längeren Zeitraum - gewährleistet sind. ▸ schwache Staatlichkeit (weak states): Diese stellt die erste Stufe der Fragilität dar. Hier funktioniert - mit gewissen Abstrichen - noch weitgehend das staatliche Gewaltmonopol; größere De‐ fizite treten dagegen bei der Gewährleistung von Wohlfahrt und/ oder bezüglich der Legitimität und Rechtsstaatlichkeit auf. ▸ versagende oder verfallende Staatlichkeit (failing states): Bei dieser zweiten Fragilitätsstufe ist das staatliche Gewaltmonopol und damit die Schutzfunktion des Staates stark eingeschränkt, während der Staat in seinen anderen beiden Kernfunktionen (Wohlfahrt und/ oder Legitimität/ Rechtsstaatlichkeit) noch eine gewisse Steuerungsfähigkeit besitzt. ▸ gescheiterte beziehungsweise zerfallene Staatlichkeit (failed/ col‐ lapsed states): Hier ist die höchste Fragilitätsstufe erreicht, bei der alle drei Kernfunktionen des Staates weitgehend versagen. konsolidierter Staat schwacher Staat zerfallender Staat zerfallener Staat starker Staat kollabierter Staat fragile Staatlichkeit Schaubild 17: Das Kontinuum von Staatlichkeit nach Daniel Lam‐ bach (2012, S. 35) Für fragile Staatlichkeit lässt sich eine Vielzahl von Erklärungsfaktoren ausmachen. Ulrich Schneckener (2007, S. 109ff.) differenziert zum einen zwischen Struktur-, Prozess- und Auslösefaktoren. Dabei beschreiben 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 162 <?page no="163"?> Strukturfaktoren jene Bedingungen, die sich aus „den natürlichen Gegebenheiten eines Landes“ (Schneckener 2007, S. 110) ergeben. Pro‐ zessfaktoren fokussieren stärker auf Aspekte, die aus dem Verhalten der Akteure, insbesondere der Eliten, resultieren. Auslösefaktoren wiederum sind bestimmte Begebenheiten, die einen (spontanen) Wan‐ del auslösen. Zum anderen unterscheidet Schneckener verschiedene Ebenen: die internationale beziehungsweise regionale Ebene mit dem Verhältnis zwischen dem jeweiligen Staat und seinem internationa‐ len beziehungsweise regionalen Umfeld (Makroebene), die nationale Ebene mit dem Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft (Meso‐ ebene) sowie die substaatliche Ebene mit dem Verhältnis zwischen Staat und substaatlichen Akteuren (Mikroebene). Daraus ergibt sich eine Matrix mit neun Erklärungsansätzen (vgl. Schaubild 18). Die aus fragiler Staatlichkeit resultierenden innerstaatlichen Macht- und Herrschaftskonflikte gehen vielfach auf die Kolonialzeit zurück. Das trifft insbesondere auf den afrikanischen Kontinent zu, hat „die ‚Portionierung‘ Afrikas entlang europäischer Interessenpolitik“ (Hirschmann 2016, S. 167) im 19. Jahrhundert die Basis für dortige bis heute währende Spannungen, Konflikte und Kriege gelegt. Ebenso gehen viele der politischen - aber auch wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen - Faktoren, mit denen sich Konflikte um Macht und Herrschaft im Staat erklären lassen, aus den Kolonialisierungs- und Dekolonisierungsprozessen hervor. Vor diesem Hintergrund differen‐ ziert Kai Hirschmann (2016, S. 169) auch dezidiert zwischen Ursachen und Wirkungen. 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 163 <?page no="164"?> Ebene Strukturfaktoren Prozessfaktoren Auslösefaktoren Internatio‐ nale/ regio‐ nale Ebene Grad der Einbindung in die Weltwirtschaft Instabilität der Region/ fragile Staaten im Umfeld Einfluss anderer Staaten (Großmacht, frühere Kolonialmacht etc.) Bürgerkriege im Umfeld Aktivitäten transnationaler Gewaltnetzwerke Wirtschaftskrisen in Nachbar‐ staaten ökologische Degradierung der Region Militärintervention von außen Auswirkungen externer Finanzkrisen rapider Preisverfall bei Rohstoffen Flüchtlingsströme Zustrom von Waffen Auswirkungen von Natur- und Dürrekatastrophen Nationale Ebene „ererbte“ Strukturen (z. B. koloniale Strukturen) multiethnische Bevölke‐ rungsstruktur demografische Faktoren (Geburtenrate, Anteil Jugendlicher etc.) rapide Absenkung des Lebens‐ standards politische Instrumentalisierung sozialer Unzufriedenheit Politisierung ethnischer Diffe‐ renzen Zunahme des politischen Extre‐ mismus (inkl. Repression) rasche machtpolitische Ver‐ änderung (Putsch, Umsturz, Rebellion) massive Unterdrückung der Opposition (Massaker, Ver‐ haftungen etc.) rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage (soziale Unruhen, Plünderungen) 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 164 <?page no="165"?> Ressourcenknappheit/ strukturelle Ungleichverteilung von Ressourcen krisenanfällige Rentenökonomie Einfluss traditioneller Herr‐ schaftsformen (Clanstruktur, Rolle von Chiefs, patriarchische Strukturen) Erfahrungen vorangegangener Konflikte Diskriminierung bestimmter Gruppen Zunahme von Korruption und Klientelismus Privatisierung von Gewalt gescheiterte/ stagnierende Demokratisierung Zunahme ökologischer Pro‐ bleme (z. B. Wassermangel) Hungersnot/ Epidemien Ausbruch eines Bürgerkrieges Substaatliche Ebene Zentrum-Peripherie-Gegen‐ sätze (z. B. Landflucht) lokale Ungleichheiten regionale bzw. lokale Identi‐ täten wachsende Kriminalität in Städten Zunahme lokaler Gewaltakteure ethnischer Separatismus lokale Machtkämpfe lokale Unruhen (riots) lokale/ regionale Naturkata‐ strophen bzw. Ernteausfälle Schaubild 18: Destabilisierende Faktoren für Staatlichkeit nach Ulrich Schneckener (2007, S. 112) 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 165 <?page no="166"?> Im Folgenden soll ein vertiefter Blick auf politische Konstellationen, die innerstaatliche Macht- und Herrschaftskonflikte befördern können, erfolgen. Hier lassen sich verschiedene Aspekte ausmachen (vgl. Lam‐ bach et al. 2016, S. 57ff.): ▸ Neopatrimonialismus, Klientelismus und Korruption: Der Neopat‐ rimonialismus ist ein häufiges Charakteristikum fragiler Staaten und bedeutet, „dass die Machtausübung des Herrschers durch alle gesellschaftlichen Ebenen hindurch personalisiert und der Zugang zu ihr monopolisiert ist“ (Tetzlaff 2000, S. 13f.; vgl. auch Lambach et al. 2016, S. 57). Wesentliche Elemente einer solchen Regierungsführung sind Korruption (Selbstbereicherung) durch Verwaltungsbeamte und politische Eliten sowie Klientelismus (die umgekehrte Richtung der Korruption, indem der Klient politische Unterstützung leistet und dafür entlohnt wird). Beide Momente schwächen die Legitimation des Staates und höhlen ihn von innen aus. ▸ gezielte Demontage staatlicher Institutionen: Fehlt einer Regie‐ rung der notwendige Rückhalt in der Bevölkerung, kann sie versucht sein, alternative Machtzentren (wie Armee, Polizei, Verwaltung) zu kontrollieren oder zu zerstören. Letzteres er‐ folgt entweder durch die Behinderung der Verwaltung (durch Kürzung/ Aussetzung der Beamtengehälter) oder Erosion des Gewaltmonopols (durch Korrumpierung der Sicherheitskräfte oder Aufstellung eigener paramilitärischer Einheiten). ▸ die Existenz eines Schattenstaates: Das meint die Schaffung einer „personenbezogene[n], klientelistische[n] Politikformation, die außerhalb des formalen Staatsapparates steht“ mit „quasi-feu‐ dale[n] Beziehungen zwischen Patronen und Klienten“ (Lam‐ bach et al. 2016, S. 60). 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 166 <?page no="167"?> ▸ Regimetyp: Hier existieren zwei differente Positionen: Eine sieht in autokratischen Regimen eine Ursache für Macht- und Herr‐ schaftskonflikte sowie Staatszerfall, die andere eher in hybriden Regimen beziehungsweise Regimetransformationen. ▸ Fragmentierung des politischen Systems durch Eskalation von Machtkämpfen: Machtkämpfe sind Konflikte „um die Frage der Verteilung beziehungsweise des Zugangs zu staatlicher Macht […], entweder im Rahmen eines bestehenden Regimes oder im Versuch, das herrschende Regime durch ein anderes zu ersetzen“ (Lambach et al. 2016, S. 63f.). Die Fragmentierung des politischen Systems basiert auf einer Polarisierung der beteiligten politi‐ schen Akteure, setzt etwa gleich starke Machtressourcen der Akteure voraus und führt häufig zu einer Militarisierung der Gruppen. ▸ Transition: Auch Regimewandel bergen Risiken. Demokratisie‐ rungsbestrebungen können Auslöser für größere politische Ge‐ walt sein. So könne ein Scheitern „in konsolidierten Staaten zum Widererstarken der Autokratie, in fragilen Staaten aber zu Bürgerkrieg und Staatskollaps führ[en]“ (Lambach et al. 2016, S. 64). Exemplarisch steht hierfür der Arabische Frühling. Die folgenden drei Konfliktportraits in Subsahara-Afrika - konkret Somalia, Kongo und Mali - sollen diese Konfliktkonstellation um na‐ tionale Macht und Herrschaft durch fragile Staatlichkeit noch einmal exemplarisch veranschaulichen. Außerhalb des Subsahara-Raums gilt Afghanistan als ein Beispiel von hoher internationaler Aufmerksam‐ keit; aber auch die postsozialistischen Farbrevolutionen (2003-2005) und der Arabische Frühling (2010-2012) - von Henry E. Hale (2013) als „regime change cascades“ bezeichnet - stehen für diesen Konflikt‐ typus. 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 167 <?page no="168"?> Konfliktportrait Somalia Somalia - geprägt durch eine diverse Clanstruktur - ist 1960 aus dem Zusammenschluss der ehemaligen Kolonien Bri‐ tisch-Somaliland und Italienisch-Somaliland entstanden. 1969 übernahm Siad Barre die Macht. Nach brutaler Herrschaft, die das Vertrauen der Bevölkerung in eine Zentralregierung nach‐ haltig beschädigte, und der Unterdrückung der anderen Clans einschließlich einer stetigen Umverteilung der Ressourcen zu‐ gunsten seines Clans (Darod) wurde er 1991 gestürzt. Seit dieser Zeit ist das Land von Bürgerkrieg, gewaltsamen Clanrivalitäten und humanitären Katastrophen geprägt. Trotz internationaler Einsätze (UNOSOM, AMISOM) scheiterten mehrere Versuche, eine Zentralregierung zu etablieren. Auch beansprucht das rela‐ tiv stabile Somaliland im Nordwesten des Landes internationale Anerkennung als eigenständiger Staat. Neben den Kämpfen zwischen den Clans um Land, Ressourcen und die Vorherrschaft gewinnt die islamistische Bewegung al-Shabaab zunehmend an Bedeutung. Sie kontrolliert Teile in Zentral- und Südsoma‐ lia, hat Verbindungen zu al-Qaida und zum IS und verübt zahlreiche Anschläge im Land. Ihr Ziel ist die Errichtung eines islamischen Staates und die Beteiligung am weltweiten islamis‐ tischen Terrornetzwerk. So formiert sich die heutige Konflikt‐ linie zwischen der Regierung unter dem Präsidenten Mohamed Abdullahi Mohamed, unterstützt durch die Missionen UNSOM (Vereinte Nationen) und AMISOM (Afrikanische Union), und al-Shabaab, die unter anderem mit Waffenlieferungen aus dem Ausland unterstützt wird. 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 168 <?page no="169"?> Konfliktportrait Kongo Bis zur Staatsgründung 1960 war das Gebiet des Kongo unter belgischer Kolonialherrschaft. Unter der 30-jährigen Herrschaft des Diktators Mobutu Sese Seko (1965-1997) hat sich nie ein funktionierender Staat entwickeln können; auch fehlte infolge von Korruption und Vetternwirtschaft das Vertrauen in staat‐ liche Institutionen (wie Polizei, Militär, Justiz oder Parteien). Mobutu unterdrückte seine Bevölkerung und bereicherte sich und seine Familie an den Ressourcen des Landes. Mit dem Genozid in Ruanda (1994) und der Flucht von Hutus in den Kongo nahm die Instabilität des Landes noch zu. Im Bürgerkrieg (Erster Kongokrieg 1996-1997) wurde Mobuto von der durch mehrere Nachbarländer unterstützten Rebellenkoalition AFDL gestürzt und der Rebellenchef Laurent-Désiré Kabila neuer Prä‐ sident. Es folgte ein weiterer Bürgerkrieg (Zweiter Kongokrieg 1998-2003), in dem wiederum mehrere untereinander zerstrit‐ tene Rebellengruppen versuchten, die Regierung in Kinshasa zu entmachten - mit Unterstützung von außen (Ruanda, Uganda und Burundi intervenierten gegen Kabila, während Simbabwe, Angola, Namibia und Sudan den Präsidenten unterstützten). Nach der Ermordung des Präsidenten und der Machtübernahme durch seinen Sohn Joseph Kabila kam es 2002 unter Vermittlung Südafrikas zu einem Friedensabkommen und 2006 zu ersten freien Wahlen, aus denen Kabila als Sieger hervorging. Heute lassen sich vor allem zwei Konfliktlinien ausmachen: zum einen der andauernde Kampf um die politische Macht beziehungs‐ weise den Machterhalt in Kinshasa (unter anderem Proteste durch Verzögerung von Wahlen), zum anderen die nach wie vor gewaltsamen Konflikte im Ostkongo - häufig entlang 6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen 169 <?page no="170"?> ethnischer Linien, die gegeneinander um die Vorherrschaft - teils gegen die Regierung - kämpfen. Konfliktportrait Mali Seit der Unabhängigkeit 1960 von der Kolonialmacht Frankreich ist Mali durch fragile Staatlichkeit geprägt. Insbesondere im Norden des Landes hat es der Staat nie vermocht, zentrale Funktionen zu erfüllen. Das begünstigte die Ausbreitung von Gruppierungen, die auf Drogen- und Waffenhandel setzten, und die Etablierung einer Kriegsökonomie. Konflikte zwischen der sesshaften Bevölkerung und den Nomaden der Sahara, insbesondere den Tuareg, reichen weit in die Geschichte zurück. Bisher gab es mehrere Tuareg-Rebellionen. 2012 eskalierte der Konflikt zwischen der Regierung Malis und der MNLA, einer Sammelbewegung verschiedener Tuareg-Gruppen, erneut. Zu‐ sammen mit islamistischen Gruppierungen (mit unmittelbaren Verbindungen zu Al Qaida) eroberte die MNLA den Norden Malis und erklärte Azawad für unabhängig. Bei ihrer Eroberung konnte sie sich auch auf wiederkehrende Kämpfer mit schweren Waffen aus dem Bürgerkrieg in Libyen 2011 stützen. Unter‐ schiedliche Zielsetzungen zwischen der säkularen MNLA und den islamistischen Bewegungen verschärften die Konfliktlage noch einmal. Während die MNLA mit der Erklärung der Unab‐ hängigkeit ihr Ziel erreicht hatte, ging es den islamistischen Gruppierungen vorrangig um die Einführung der Scharia. In der Folge vertrieben diese die MNLA aus dem Norden und übernahmen die Kontrolle. Im selben Jahr stürzte auch die Regierung Malis infolge eines Militärputschs. 2013 eroberten 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 170 <?page no="171"?> malische und französische Truppen wichtige Städte im Norden zurück, gefolgt von der internationalen Mission MINUSMA zur Stabilisierung des Staates Mali. Weder MINUSMA noch das 2015 etablierte Friedensabkommen haben bisher zu einer Beilegung des Konflikts geführt. Weiterhin finden Anschläge im Norden Malis statt und auch der Süden wird zunehmend von ethnischen Spannungen und islamistischem Terror erfasst. 6.3 Gewalt durch Klimawandel - ein Konfliktszenario der Zukunft? Seit Ende der 1980er Jahre geraten Umweltkonflikte verstärkt in den Fokus der Friedens- und Konfliktforschung. Dabei werden Umweltzer‐ störungen zum einen im Kontext ökologischer Sicherheit und damit als Teil des erweiterten Sicherheitsbegriffs diskutiert; zum anderen wird debattiert, inwieweit mit dem Umweltwandel auch Konflikte und Kriege einhergehen können (vgl. Libiszewski 1993, S. 23). Dazu gehören Phänomene wie der Klimawandel, der Abbau der stratosphä‐ rischen Ozonschicht, die Degradation von Agrarland, die Entwaldung, die Verschmutzung und Zerstörung von Wasservorräten oder auch die Erschöpfung von Fischbeständen (vgl. Scheffran 2011, S. 33). Eine besondere politische Aufmerksamkeit erfahren der Klimawan‐ del und seine Folgen. Ein weiterer globaler Temperaturanstieg würde das Ausmaß extremer Wetterereignisse (Dürren, Überschwemmun‐ gen, Sturm- und Flutkatastrophen) erhöhen und zu großskaligen - teilweise auch voneinander abhängenden - Veränderungen im Erd‐ system führen. Wenn die Klimaerwärmung über einen kritischen Punkt hinausreicht, kann sie sprunghafte und irreversible Verände‐ 6.3 Gewalt durch Klimawandel - ein Konfliktszenario der Zukunft? 171 <?page no="172"?> rungen auslösen. Zu diesen sogenannten Kippelementen gehören das Austrocknen des Amazonasregenwaldes, der Verlust der Taiga‐ wälder durch Feuer, Trockenheit und Stürme, das Abschmelzen der arktischen Eisplatte, tauende Permafrostböden, das weltweite und unwiederbringliche Schmelzen von Gletschern, die Verlangsamung des Golfstromes, das Ausbleiben des asiatischen Monsuns oder auch das Absterben der Korallenriffe. Nach jüngsten Forschungen zeigen sich ernsthafte Auswirkungen bereits bei einer durchschnittlichen Erderwärmung von 1,5 Grad Celsius (vgl. Lenton at al. 2019; auch Dröge 2019). Wesentlich trug die Weltklimakonferenz in Toronto 1988 dazu bei, den Klimawandel auf die internationale politische Agenda zu setzen; zu‐ gleich wurde dieser in den Kontext internationaler Sicherheit gestellt (so auch der Titel der UN-Klimakonferenz: World Conference on the Changing Atmosphere: Implications for Global Security). Dabei erkannte die UN-Generalversammlung den Klimawandel als einen „common concern of mankind“ an (UN-Dok. A/ RES/ 43/ 53 vom 6. Dezember 1988, Ziff. 1; vgl. auch Dröge 2020, S. 16). Zwanzig Jahre später sprach der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon in seinem Bericht „Climate change and ist possible security implications“ (UN-Dok. A/ 64/ 350 vom 11. September 2009) von fünf potenziellen Wegen des Einflusses des Klimawandels auf die Sicherheit: ▸ Vulnerabilität: Bedrohung der Ernährungssicherheit und Ge‐ sundheit sowie erhöhte menschliche Belastungen durch extreme Wetterlagen; ▸ Entwicklung: negative Auswirkungen auf Entwicklungsprozesse mit der Folge verminderter Kapazitäten von Staaten, ihre Stabi‐ lität aufrechtzuerhalten; 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 172 <?page no="173"?> ▸ Sicherheit: ein erhöhtes Risiko innerstaatlicher Konflikte durch klimainduzierte Migration und Konkurrenz um natürliche Res‐ sourcen einschließlich internationaler Auswirkungen; ▸ Staatenlosigkeit: der Verlust von Staatlichkeit durch das Ver‐ schwinden von Territorien mit entsprechenden Auswirkungen auf die Rechte, Sicherheit und Souveränität der betroffenen Staaten und ihrer Bevölkerungen; ▸ internationaler Konflikt: negative Auswirkungen auf die inter‐ nationale Kooperation durch einen klimainduzierten Abbau ge‐ meinsam genutzter Ressourcen. In Deutschland war es insbesondere der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung „Globale Umweltveränderungen“ (WBGU), der auf die Gefahren des Klimawandels aufmerksam machte. So könne aus diesem „Gewalt und Destabilisierung erwachsen, die die nationale und internationale Sicherheit in einem erheblichen Ausmaß bedrohen“ (WBGU 2008, S. 1; vgl. auch Schaubild 19). Die Rede vom Klimawandel als Sicherheitsproblem - auch unter dem Begriff der ökologischen Sicherheit gefasst - steht im Kontext des erweiterten Sicherheitsbegriffes (vgl. Kap. 2.1). Sie kann unterschied‐ liche politische Implikationen auslösen, hinter denen verschiedene theoretische Zugänge stehen (vgl. Brzoska und Oels 2011, S. 56ff.): ▸ der positivistisch-pluralistische Ansatz: Danach ist „[d]ie Rede von der Sicherheit […] nützlich, weil sie Aufmerksamkeit und Ressourcen mobilisiert“ (Brzoska und Oels 2011, S. 56). Sie soll „direkt zu den gewünschten Maßnahmen führen“ (Brzoska und Oels 2011, S. 57) wie beispielsweise zu einer umfassenden Klima‐ schutzpolitik. Die Verortung des Klimawandels als Sicherheits‐ problem könne - so die Annahme - Vorteile im politischen Wettbewerb gegenüber anderen Policyfeldern bewirken. 6.3 Gewalt durch Klimawandel - ein Konfliktszenario der Zukunft? 173 <?page no="174"?> ▸ die Versicherheitlichung nach der Kopenhagener Schule: Sie sieht die Rede vom Klimawandel als Sicherheitsproblem kritisch. So verbinde sich mit Sprechakten, das heißt mit der Benennung von Problemen als Sicherheitsprobleme, die Gefahr, dass die politische Ordnung untergraben werden und der Staat in seiner Existenz gefährdet sein könnte. Damit können Sicherheitspro‐ bleme einen Ausnahmezustand legitimieren, der außerordentli‐ che Maßnahmen rechtfertigt sowie bestehende Entscheidungs‐ wege und demokratische Verfahren außer Kraft setzt. ▸ die Versicherheitlichung nach der Pariser Schule: Nach ihr ist es „eine empirisch offene Frage, was die politischen Implikationen [des Klimawandels] sind“ (Brzoska und Oels 2011, S. 59). Bei die‐ sem Ansatz stellt Sicherheit eine Form des Risikomanagements dar, verbunden mit dem Ziel, „die für die Reproduktion und Produktivität einer Bevölkerung notwendige Zirkulation von Menschen und Dingen vor Störungen zu sichern“ (Brzoska und Oels 2011, S. 60) beziehungsweise wenn diese auftreten, auf ein vertretbares Ausmaß zu beschränken. Im Hinblick auf den Klimawandel kommt hier insbesondere der Wissenschaft die Rolle zu, dieses Ausmaß (Ausstoß von Kohlendioxid, Tempera‐ turanstieg etc.) zu definieren. 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 174 <?page no="175"?> Konfliktkonstellationen ▸ Degradation der Süßwasserressourcen ▸ Rückgang der Nahrungsmittelproduktion ▸ Zunahme von Sturm- und Flutkatastrophen ▸ Migration Schlüsselfaktoren bei der Entstehung und Verstärkung der Konfliktkonstellationen ▸ Staatsform, politische Stabilität ▸ Governance-Strukturen (Leistungs- und Problemlösungsfähigkeit von Institutionen) ▸ Wirtschaftsleistung und Verteilungs‐ gerechtigkeit ▸ gesellschaftliche Stabilität (u. a. ethnische Balance) und Demografie (Bevölkerungsdichte und -wachstum) ▸ geografische Faktoren ([in]stabile Nachbarländer) ▸ internationale Machtverteilung und Interdependenz (u. a. Zugang zu Weltmärkten) Schaubild 19: Klimainduzierte Konfliktkonstellationen und deren Schlüsselfaktoren in Anlehnung an den WBGU (2008, S. 170) In der Friedens- und Konfliktforschung kontrovers diskutiert wird die Frage, inwieweit der Klimawandel zur Entstehung respektive Verschärfung von gewaltsamen Konflikten beitragen kann. Während Harald Welzer (2008) von Klimakriegen spricht und einen Anstieg dieser voraussagt, sehen viele Friedensforscherinnen und -forscher keine direkten Kausalitäten zwischen Klimavariablen und unmittelba‐ rer Gewalt (vgl. die Studie von Sakaguchi et al. 2017, Dröge 2020, S. 17), insbesondere „keine monokausalen Verknüpfungen“ (Waldmann 2011, S. 453). Für sie stellt der Klimawandel eher ein „Risikomultiplikator und Konflikttreiber“ (Rüttinger 2018) dar. Dieser könne soziale und wirtschaftliche Verwerfungen hervorrufen, das heißt den sozioökono‐ 6.3 Gewalt durch Klimawandel - ein Konfliktszenario der Zukunft? 175 <?page no="176"?> mischen Druck erhöhen, die Ressourcenknappheit verstärken und damit Flüchtlingsbewegungen befördern. Inwieweit diese Faktoren letztlich in gewaltsame Konflikte münden, hänge - so die Argumen‐ tation - zuvorderst von den vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen ab (vgl. u. a. Breitmeier 2009, S. 14ff.; Scheff‐ ran 2011, S. 33ff.; Sakaguchi et al. 2017; Dröge 2020, S. 17f.). Darfur-Konflikt Seit 2003 kämpfen in der westsudanesischen Provinz Darfur die von der Regierung in Khartum unterstützten arabischen Reitermilizen gegen verschiedene Rebellen um Einfluss und Ressourcen in der Region. Die Kämpfe kulminierten 2007; sie zeichneten sich durch eine enorme Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung aus: Allein bis 2007 verloren mehr als 200.000 Menschen das Leben, über zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner flüchteten. Daraufhin beschloss der UN-Sicher‐ heitsrat mit UNAMID eine der größten Friedensmissionen zur Stabilisierung der Region (vgl. UN-Dok. S/ RES 1769 vom 31. Juli 2007). Die Vereinten Nationen und Afrikanische Union entsandten gemeinsam 26.000 Mann nach Darfur. Nachdem die Mission keinen Fortschritt bei der politischen Bearbeitung des Konflikts erzielte, fokussierte sie sich auf den Schutz der Zivilbevölkerung und humanitäre Hilfe. Die Kontroverse um den Einfluss des Klimawandels auf gewaltsame Konflikte ist intensiv am Beispiel des Krieges in Darfur (2007) geführt worden. Für die einen steht der Darfur-Konflikt exemplarisch für klimainduzierte Gewalt: „The violence in Darfur is usually attributed to ethnic hatred. But global warming may be primarily to blame“ 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 176 <?page no="177"?> (Faris 2007). Und auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon (2007) sieht den Darfur-Konflikt als wesentliche Folge des Klimawandels an: „[T]he Darfur conflict began as an ecological crisis, arising at least in part from climate change“. In ähnlicher Weise verweist Welzer (2008, S. 94ff.) auf die ökologische Komponente. So würden „klimabedingte Veränderungen den Ausgangspunkt des Kon‐ fliktes bilden“ (Welzer 2008, S. 97), auch wenn andere Konfliktursachen mit hinzukämen. Im Fokus dieser Analysen steht insbesondere der Konflikt zwischen sesshaften Ackerbauern und nomadischen Hirten um lebensnotwendige Ressourcen wie Wasser und Land, der sich infolge des Rückgangs der Niederschläge und der ausbreitenden Dürre verstärkte und in Gewalt umschlug. Für die anderen stehen dagegen ursächlich andere Konfliktkonstel‐ lationen: Dazu gehört der ethnische Konflikt zwischen arabischen und afrikanischen Gruppierungen im Land und die zunehmende Un‐ terstützung arabischer Milizen durch die Zentralregierung in Khartum. Mit dem zunehmenden Einfluss der Muslimbrüder im Land verstärkte sich die Dichotomie „Araber versus Afrikaner“ noch. Zudem haben die Politik der Regionalisierung und Verwaltungsreformen zu verstärkten Spannungen geführt: durch die Ersetzung traditioneller Regelungen durch staatliches Verwaltungsrecht wie auch traditioneller Methoden der Streitschlichtung durch staatliche Verwaltungsakte. Hinzu komme noch eine internationale Dimension des Konfliktes (Tschad, Libyen) (vgl. Schreiber 2011, S. 220ff.). 6.4 Fazit Die vorgestellten Konfliktformationen und -konstellationen können keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben; zu divers sind die Ge‐ 6.4 Fazit 177 <?page no="178"?> genstände und Ursachen von gewaltsamen Konflikten und Kriegen. Entsprechend defizitär bleiben monokausale Erklärungen; die Hinter‐ gründe des Konfliktgeschehens lassen sich nur mit multidimensionalen Ansätzen analysieren und verstehen. Das erklärt auch, warum sich keine allgemeingültigen und vor allem auch trennscharfen Konflikttypologien entwickeln lassen. Das trifft insbesondere auf das heutige Konfliktge‐ schehen zu. Gelang es noch, zu Zeiten des Kalten Krieges zentrale Formationen mittels der Ost-West- und Nord-Süd-Achse zu bestimmen, zeigen sich die heutigen gewaltsamen Konflikte und Kriege weitaus facettenreicher. Sie sind sowohl regionaler als auch transnationaler: ▸ Große Machtblöcke wie zu Zeiten des Kalten Krieges lassen sich nicht mehr ausmachen; dennoch sind Konfliktlinien um die internationale Vormachtstellung (wie gegenwärtig zwischen den USA, Russland China) weiterhin erkennbar. ▸ Ein Großteil von Konflikten ist auf Regionen beschränkt. Dabei finden weit über 90 Prozent aller gewaltsamen Konflikte in Subsahara-Afrika, der MENA-Region, Asien und Lateinamerika statt. Hier wirkt die Nord-Süd-Konfliktlinie fort. ▸ Zwischenstaatliche Konflikte sind - ungeachtet des Theorems der neuen Kriege - zwar weiterhin präsent, aber auf einem sehr niedrigen Niveau. Es dominieren innerstaatliche sowie transnationale Konflikte. Dabei prägt bis heute vielfach die Kolonialgeschichte mit ihren künstlichen Staatsbildungen und willkürlichen Grenzziehungen das aktuelle Konfliktgeschehen. Das lässt sich sowohl bei ethnonationalen Konflikten als auch bei innerstaatlichen Macht- und Herrschaftskonflikten durch fragile Staatlichkeit aufzeigen. ▸ Sozioökonomische Faktoren erweisen sich nicht nur als eine bestimmende Komponente im innerstaatlichen Konfliktgesche‐ hen, sie entscheiden häufig auch darüber, ob globale Herausfor‐ 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 178 <?page no="179"?> derungen wie beispielsweise der Klimawandel bewältigt werden können oder in gewaltsame Konflikte und Kriege münden. Frank R. Pfetsch (1998, S. 4) fasst das globale Konfliktgeschehen wie folgt zusammen: „Die Zeit nach dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzungen wird weniger von internationalen Machtkonflikten bestimmt als vielmehr von Auseinandersetzungen um transnationale Phänomene wie ökolo‐ gische, Bevölkerungsexplosion, Migration, Terrorismus, Drogen usw. Es scheint, dass im globalen Maßstab vor allem wirtschaftliche Güter bei nach wie vor vorherrschenden ethnisch-religiös-nationalen Konflikten Rivalitäten bilden werden.“ Weiterführende Literatur: Dülffer, Jost. 2004. Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1990. München: Oldenbourg Verlag. Dieser Band gibt einen Überblick über die von Brüchen, Konflikten und Integrationsversuchen geprägte Zeit zwi‐ schen dem Zweiten Weltkrieg und der Auflösung des Ostblocks. Senghaas, Dieter. 1988. Konfliktformationen im internationalen Sys‐ tem. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Der Autor wendet sich zentralen Konfliktformationen jener Zeit zu: dem Ost-West-Konflikt, dem Nord-Süd-Konflikt sowie Regionalkonflikten in der internationa‐ len Politik. Johannsen, Margret. 2017. Der Nahost-Konflikt. Eine Einführung. 4. Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Die Autorin geht auf die Entstehung und Entwicklung des Nahostkonflikts ein, nimmt eine Konflikt‐ analyse vor und reflektiert den Friedensprozess. Dabei stellt sie sowohl den Kern des Konflikts als auch seine internationalen Dimensionen dar. 6.4 Fazit 179 <?page no="180"?> Hall, Gregory O. 2014. Authority, Ascendancy, and Supremacy. China, Russia, and the United States’ Pursuit of Relevancy and Power. New York: Routledge. Der Autor untersucht die US-amerikanische, chinesische und russische Konkurrenz um Macht und Einfluss nach dem Ende des Kalten Krieges. Dabei nimmt er jeweils die ökonomische, politische, militärische sowie soziale und demogra‐ fische Sphäre der Big 3 in den Blick. Wolff, Stefan (Hrsg.). 2018. Ethnic Conflict. Critical Concepts in Political Science. London: Routledge. Dieses vierbändige Werk mit zahlrei‐ chen Beiträgen bietet einen umfassenden und repräsentativen Überblick über die verschiedenen Ansätze und Aspekte ethnischer Konflikte. Lambach, Daniel, Eva Johais und Markus Bayer. 2016. Warum Staaten zusammenbrechen. Eine vergleichende Untersuchung der Ursachen von Staatskollaps. Wiesbaden: Springer VS. Die Autorinnen und Autoren dieser Studie diskutieren verschiedene - politische, wirt‐ schaftliche, sozialstrukturelle und kulturelle sowie internationale und regionale - Faktoren, die zu einem Staatskollaps führen beziehungsweise diesen befördern können. Brzoska, Michael, Martin Kalinowski, Volker Matthies und Berthold Meyer (Hrsg.). 2011. Klimawandel und Konflikte. Versicherheitli‐ chung versus präventive Friedenspolitik? Baden-Baden: Nomos. In diesem Band geht es um den spezifischen Wirkungszusammen‐ hang von Klimawandel und Gewaltkonflikten, um die Kritik an der Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung sowie um friedenspolitische Präventionsstrategien. 6 Konfliktgegenstände - zentrale Formationen 180 <?page no="181"?> 7 Austragungsformen von Konflikten - friedenspolitische Herausforderungen durch neue technologische Entwicklungen Nicht nur weltpolitische Konflikte bedrohen den Frieden, auch neue technologische Entwicklungen, die in neue Waffensysteme, Formen der Kriegsführung und damit verbundene Rüstungswettläufe münden. Dazu gehören insbesondere unbemannte Waffensysteme und ihre zunehmende Automatisierung und Autonomisierung, der Cyberraum und die Digitalisierung der Kriegsführung (Cyberwar) oder auch Be‐ strebungen zur Bewaffnung des Weltraums. Ihre zugrundeliegenden Technologien stellen keine dezidiert militärischen Entwicklungen dar, sie finden sich gleichfalls im zivilen Bereich. Und auch hier entfachen sie vielfach kontroverse Debatten - sei es um das autonome Fahren oder auch um die zunehmende Digitalisierung des Alltags („Internet der Dinge“). Im militärischen Kontext verschärfen sich diese Anfragen noch einmal, stehen hier nicht Gefahren durch potenzielle Unfälle zur Debatte, sondern Formen gezielten Tötens von Menschen. Das impli‐ ziert politische, ethische und rechtliche Infragestellungen: bezüglich der Auswirkungen auf die beteiligten Akteure, der Hemmschwelle zum Krieg sowie bestehender völkerrechtlicher Regelungen. 7.1 Unbemannte Waffen und der Trend zu ihrer Autonomisierung Unbemannte Waffensysteme - umgangssprachlich Drohnen - entfa‐ chen kontroverse Debatten: Während die einen vom „drohenden <?page no="182"?> 41 Dieser Abschnitt stützt sich auf Werkner (2019b). Ende der Menschlichkeit“ (Human Rights Watch) sprechen, halten sie andere für „einen bedeutenden ethischen Fortschritt in der Geschichte der Kriegsführung“ (Statman 2014, S. 46). Dass die Kriegsführung durch eine immer stärker werdende Technologisierung geprägt ist, stellt keine Ausnahme, sondern den Regelfall dar (vgl. Geiß 2015, S. 10). Dabei ist im Laufe der Geschichte die Distanz des Soldaten zum Gefechtsfeld immer größer geworden: vom unmittelbaren Kampf Mann gegen Mann auf dem Schlachtfeld über eine Kriegsführung mit Artillerie und gepanzerten Fahrzeugen bis hin zu Bombardements aus der Luft. Unbemannte Systeme gehen noch einen Schritt weiter: Sie ermöglichen einen „Luftkrieg per Joystick“ (Gast 2010), bei dem die eigenen Soldatinnen und Soldaten außerhalb der Gefahrenzone bleiben. 41 Das Einsatzspektrum unbemannter Systeme ist mittlerweile vielfältig: ▸ zur Bekämpfung von Bodenzielen in Gebieten ohne hinreichende Luftabwehr, ▸ zur Unterstützung von Infanterie/ Bodentruppen beispielsweise im Häuserkampf, ▸ zur Unterstützung der Marine im Kampf gegen Piraten oder bei humanitären Einsätzen (Seenotrettung, Flüchtlinge etc.), ▸ zum Aufspüren und zur Erstversorgung von Verwundeten, ▸ zur Aufklärung und Spionage, zum Entschärfen von Minen oder Sprengfallen sowie ▸ bei ABC-Einsätzen. Künftig sind Einsätze unbemannter Systeme auch für Luftkämpfe, Luftraumkontrollen und automatisierte beziehungsweise autonomi‐ sierte Abfangmissionen an Luftraumgrenzen oder im Weltraum bei‐ 7 Austragungsformen von Konflikten 182 <?page no="183"?> 42 Aber auch im zivilen Bereich werden unbemannte Systeme vielfältig eingesetzt: bei Sicherheitsorganen wie der Polizei, dem Zoll oder dem Grenzschutz, im Katastrophenschutz und in der Unfallrettung, im Be‐ reich der Infrastruktur beispielsweise zur Verkehrsüberwachung, in der Logistik bei der Paketzustellung oder im Lieferservice, in der Medizin unter anderem als Operationsdrohnen, in der Wissenschaft bei geologi‐ schen oder biologischen Beobachtungen, aber auch in den Medien oder im Sport (vgl. Funk 2017, S. 180). 43 US-amerikanische Einsätze bewaffneter Drohnen erfolgten aber auch in Somalia und in Jemen. spielsweise zur Läsion feindlicher Satelliten denkbar (vgl. Funk 2017, S. 179f.). 42 Letztlich sind „findigen Nutzern wohl im Guten wie im Schlechten kaum Grenzen gesetzt“ (Funk 2017, S. 180). In der Entwicklung unbemannter Systeme wird eine „nächste mili‐ tärische Evolutionsstufe“ (König 2017, S. 1) und ein „Paradigmenwech‐ sel im Bereich der Militärtechnologie“ (Geiß 2015, S. 3) gesehen. Aktuell lassen sich zwei zentrale Trends ausmachen: zum einen zu ihrer Bewaffnung, zum anderen zu einer immer größeren Autonomie (vgl. Schörnig 2012, S. 34ff.). Infolge des massiven Einsatzes bewaffneter Drohnen durch die USA gegen Al Qaida und die Taliban in Afghanistan sowie im Norden Pakistans 43 gelangten unbemannte Waffensysteme in den Fokus der Öffentlichkeit (vgl. Oeter 2014, S. 36). Nach dem Bericht des Bureau of Investigative Journalism sind seit 2015 allein in Afghanistan bei US-amerikanischen Einsätzen 4.126 bis 10.076 Menschen getötet (da‐ von 300 bis 909 Zivilisten) und 658 bis 1.769 verletzt worden (The Bureau of Investigative Journalism 2020; Stand 1. Juli 2020). Eng damit verbunden sind Diskussionen um das sogenannte targeting killing. Neben der Bewaffnung unbemannter Systeme ist ein Trend zu einer immer größeren Autonomie zu verzeichnen. Der Übergang von auto‐ matisierten zu autonomen Systemen ist fließend. Der Unterschied 7.1 Unbemannte Waffen und der Trend zu ihrer Autonomisierung 183 <?page no="184"?> bemisst sich daran, wie hoch der Grad menschlicher Beteiligung am System ist. Verbreitet ist ein dreistufiger Ansatz (Human Rights Watch 2012; vgl. auch Dickow 2015; Geiß 2015; Franke 2016), der zwischen nicht-autonomen, semi-autonomen und autonomen Systemen unter‐ scheidet: ▸ Nicht-autonome Systeme erfordern - wenn auch in großer Distanz - über eine Fernsteuerung einen menschlichen Bediener (human in the loop). ▸ Bei semi-autonomen Systemen werden die Einsätze autonom ausgeführt, aber durch den Menschen überwacht; dabei kann der Mensch jederzeit in die Autonomie des Systems eingreifen und eine Verhaltensänderung bewirken (human on the loop). ▸ Vollautonome Systeme, die gegenwärtig noch nicht existieren, agieren ohne die Steuerung oder Kontrolle durch die Anwende‐ rin und den Anwender. Hier kann der Mensch nur durch einen Veto-Befehl - der gegebenenfalls temporär aus technischen oder operativen Gründen nicht wahrgenommen werden kann - in die Funktionsweise eingreifen (human out of the loop). Auch Michael Funks Kategorisierung (2017, S. 166ff.) basiert auf diesem dreistufigen Ansatz, wobei er auch die historischen Entwicklungsstu‐ fen in den Blick nimmt und die unbemannten Systeme in diesem Kontext verortet (vgl. Schaubild 20). 7 Austragungsformen von Konflikten 184 <?page no="185"?> Formen technischer Werkzeuge (Kategorien 1-6) Energie Bewegung/ Prozess Intention/ Rahmen Routine Problemlösung Ziel/ Zweck Kontrolle/ Eingriff vormo‐ dern/ mo‐ dern 1 Handwerk‐ zeug Menschlicher Leib (Faustkeil etc.) 2 Maschine Zeug Menschlicher Leib 3 Automat Zeug Menschlicher Leib hypermodern 4 eingebettete technische Autonomie Zeug Drohne Menschlicher Leib 5 technische Semiautono‐ mie Zeug Drohne Menschl. Leib Postulat 6 technische Autonomie „Zeug“ (? ) Schaubild 20: Formen technischer Werkzeuge nach Michael Funk (2017, S. 168) 7.1 Unbemannte Waffen und der Trend zu ihrer Autonomisierung 185 <?page no="186"?> 44 Vgl. hierzu u. a. Schörnig (2012, 2014), Petermann (2012), Koch (2014), Oeter (2014), Rudolf (2014), Statman (2014), Dickow (2015), Geiß (2015), Franke (2016) und Bustamante (2017). Dabei nimmt er eine stufenweise aufsteigende Implementierung von Bereichen menschlicher Leiblichkeit in Werkzeuge vor. Werkzeuge der Kategorien 1 bis 3 gehören zu vormoderner und moderner Technik. Unbemannte Systeme stellen hypermoderne Techniken (im Sinne der Steigerung moderner Entwicklungen) dar und sind - je nach Autonomiegrad - in den Kategorien 4 bis 6 zu verorten. Gegenwär‐ tige unbemannte Systeme beziehungsweise Drohnen gehören zu den Kategorien 4 (eingebettete technische Autonomie) und 5 (technische Semiautonomie). Autonome Waffen der Kategorie 6 existieren aktu‐ ell noch nicht; „doch mehr und mehr wird sich das Aufgabenfeld den wachsenden technologischen Fähigkeiten der Robotik anpassen“ (Dickow 2015, S. 5), sodass in den kommenden Jahren mit einer schlei‐ chenden Autonomisierung zu rechnen sein dürfte. Im Hinblick auf die zunehmende Automatisierung und Autonomi‐ sierung bewegt sich die Diskussion 44 zwischen zwei Polen: Die einen sehen darin eine Effektivitätssteigerung wie auch eine Humanisierung der Kriegsführung. Automatisierte Systeme entlasten den Menschen von gefährlichen, eintönigen oder auch „schmutzigen“ Aufgaben. Sie übernehmen zunehmend auch komplexe Datenauswertungen und bieten auf deren Grundlage entsprechende Handlungsoptionen an. Militärisch verbinden sich damit zwei zentrale Vorteile: Zum einen können unbemannte Systeme eingesetzt werden, ohne die eigenen Soldatinnen und Soldaten zu gefährden. Gerade in postheroischen Gesellschaften sei dieser Vorzug nicht zu unterschätzen und in der Politik ein Standardargument für deren Einsatz. Zum anderen können automatisierte Waffen, da sie im Vergleich zum Menschen weitaus mehr Informationen in kürzerer Zeit auswerten können, Reaktionszei‐ 7 Austragungsformen von Konflikten 186 <?page no="187"?> ten und Abläufe deutlich beschleunigen. Zudem gelten automatisierte Waffen als Präzisionswaffen. Der israelische Philosoph und Ethiker Daniel Statman (2014, S. 47) sieht darin eine positive Entwicklung: „Je präziser eine Waffe ist, desto eher entspricht sie den Anforderungen in puncto Zielunterscheidung und Verhältnismäßigkeit“, würde der Ein‐ satz ungenauerer Waffen eher mehr als weniger zivile Opfer fordern. Ronald Arkin (2010) vertritt sogar die These, dass Roboter, da sie ohne Emotionen und niedere Beweggründe agierten, die ethisch besseren Entscheidungen träfen, also die Kriegsführung humaner würde. Gleichwohl sind unbemannte Waffensysteme hoch umstritten: Die Vorzüge einer fortschreitenden Automatisierung implizieren zugleich Gefahren und ethische Infragestellungen. Zum einen könne mit die‐ ser Entwicklung ein Absinken der Hemmschwelle zum militärischen Einsatz einhergehen, seien Soldatinnen und Soldaten „mit den Konse‐ quenzen der Gewalteinwirkung nicht mehr unmittelbar konfrontiert“ (Oeter 2014, S. 39). Zum anderen verweist der Philosoph und Ethiker Bernhard Koch (2014, S. 24) auf den Umstand, dass es weniger um „Risiko-Minimierungs-Kriege“ gehe, sondern eher um „Risiko-Trans‐ fer-Kriege“. So berge eine Kriegsführung mit unbemannten Systemen die Gefahr einer Entgrenzung des Krieges. Des Weiteren wird von Kritikerinnen und Kritikern eine mangelnde Diskriminierung zwischen Kämpfer und Zivilisten angemahnt. So seien Kämpferinnen und Kämpfer in asymmetrischen Konflikten üb‐ licherweise nicht klar von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden - ein Problem, das sich beim Einsatz von Distanzwaffen noch potenziere (vgl. Oeter 2014, S. 37; Schörnig 2012, 50 f.). Neben Aspekten der Kom‐ patibilität unbemannter Waffen mit dem humanitären Völkerrecht (Unterscheidungsgebot, Verhältnismäßigkeitsprinzip) sind insbeson‐ dere auch offene Fragen hinsichtlich der Kontrolle und Verantwortung der neuen Waffen zu klären (vgl. Geiß 2015; König 2017). 7.1 Unbemannte Waffen und der Trend zu ihrer Autonomisierung 187 <?page no="188"?> Mit steigendem Autonomisierungsgrad (bis hin zu autonomen Sys‐ temen) nimmt die Virulenz dieser Fragen zu: Wer kann beispielsweise zur Rechenschaft gezogen werden, wenn autonome Waffen das falsche Ziel angreifen oder gar Zivilistinnen und Zivilisten töten? In diesem Kontext bedarf auch die neue Qualität des Gewalteinsatzes einer kritischen Reflexion: Dürfen Maschinen - so unter anderem Marcel Dickow (2015, S. 5) - über Leben und Tod von Menschen entscheiden? Angesprochen sind hiermit elementare Fragen der Menschenwürde. So könne eine Maschine sich nicht moralisch verhalten und kein „Verständnis für Sterblichkeit und den Wert des Lebens“ entwickeln (Dahlmann und Dickow 2019, S. 19). Darüber hinaus sei beim Einsatz bewaffneter unbemannter Systeme (automatisiert wie autonom) ganz grundsätzlich das ethische Recht‐ fertigungsmuster des Tötens im Krieg infrage gestellt. Während die Soldatin und der Soldat „in einer Art institutionalisierter Notwehr“ den Gegner gezielt töten dürfe, da jener seine Gewalt sonst gegen ihn oder seine Kameraden, die er „solidarisch vor der Gewalt des Gegners zu schützen habe“, richten wird, lasse sich diese Argumentation bei unbemannten, ferngesteuerten Systemen nicht mehr anwenden. Hier stehen die Soldatin und der Soldat außerhalb der Gefahrenzone und auch in keiner unmittelbaren Solidaritätsbeziehung zu gefährdeten Kameradinnen und Kameraden (Oeter 2014, S. 39). Schließlich ergeben sich zahlreiche Herausforderungen in Rüs‐ tungsfragen: Mit den neuen Waffensystemen steige die Gefahr des Wettrüstens (vgl. Schörnig 2012; Geiß 2015); eine Vielzahl der be‐ stehenden Rüstungskontrollverträge schließen unbemannte Systeme nicht mit ein; die Dual-Use-Komponenten sowie die schnelle Weiter‐ gabe technologischen Wissens erschweren die Rüstungsexportkon‐ trolle; auch ergeben sich Risiken der Proliferation und Missbrauchspo‐ 7 Austragungsformen von Konflikten 188 <?page no="189"?> 45 Dieser Abschnitt stützt sich auf Werkner (2019c). tenziale unter anderem durch substaatliche Akteure oder Terroristen (vgl. Petermann 2012, S. 80ff.). 7.2 Der Cyberraum und die Digitalisierung der Kriegsführung Eine weitere friedenspolitische Herausforderung besteht in der Digi‐ talisierung der Kriegsführung. Der sogenannte Cyberwar stellt - so die häufige Charakterisierung in der Literatur - neben Land, Wasser, Luft und Weltraum die „fünfte Dimension der Kriegsführung“ dar. Mit ihm verlagert sich die Kriegsführung in einen vom Menschen selbst geschaffenen virtuellen Raum, in eine nicht-physische Domäne (vgl. Taddeo 2014, S. 42; Dickow und Bashir 2016), was ihn grundlegend von herkömmlichen Kriegsformen unterscheidet. 45 Das Phänomen des Cyberwar „Der Alptraum aller Militärs: Der Feind ist unsichtbar, blitz‐ schnell und scheinbar überall, doch nicht zu fassen. Und er kann hart zuschlagen: Die Energieversorgung großer Städte bricht zusammen, die Verkehrsregelung ebenso wie der Währungskurs an den internationalen Börsen. Nationale und globale Infra‐ strukturen, Wirtschaft und Politik sind von Informationstechnik durchdrungen und Kriegsgeräte arbeiten auf informationstech‐ nischer Grundlage, alles ist mit allem vernetzt“ (Irrgang 2017, S. 101). 7.2 Der Cyberraum und die Digitalisierung der Kriegsführung 189 <?page no="190"?> Die Diskurse zum Cyberwar sind divers: Für die einen stellt dieser lediglich einen Mythos dar. Mit ihm verbinde sich vielmehr das Be‐ streben von Sicherheitsfirmen und Regierungen, Restriktionen von Freiheiten im Netz durchzusetzen (vgl. Dunn Cavelty 2013, S. 106f.). Auch sehen einige in diesem Phänomen gewöhnliche Formen von Sabotage und Spionage (vgl. Rid 2018, S. 13). Dagegen halten Exper‐ ten wie Sandro Gaycken den Cyberwar für eine real existierende Bedrohung und Sicherheitsgefahr (vgl. Gaycken und Talbot 2010, S. 32). Insbesondere ermögliche er schwächeren wie substaatlichen Akteuren, mit einem relativ geringen Ressourceneinsatz dem Gegner zu schaden (vgl. Gaycken 2010, S. 104f.). Weitaus dramatischer äußern sich US-amerikanische Politiker. Nach dem damaligen Antiterror-Be‐ rater des Weißen Hauses Richard A. Clark verbinde sich mit dem Cyberwar gar die Gefahr eines „electronic Pearl Harbor“ (vgl. Linzen 2014, S. 5). Unabhängig, welcher Position man folgt, wird die zunehmende Digitalisierung die Kriegsführung wesentlich prägen. Zu klären bleibt, welcher Sphäre (zivil oder militärisch) sich Cyberangriffe zuordnen lassen und wann von einem bewaffneten Angriff gesprochen werden kann, das heißt, inwieweit und ab welchem Zeitpunkt ein Cyberan‐ griff auf die Infrastruktur eines Landes als „digitale Kriegserklärung“ (Linzen 2014, S. 2f.) aufzufassen ist. Eine allgemein verbindliche Defi‐ nition des Cyberwar existiert nicht; in der Literatur finden sich ver‐ schieden enge beziehungsweise weite Verständnisse. Einigkeit besteht allerdings darin, den Cyberwar als eine „Zustandsbeschreibung eines Krieges mit Cybermitteln“ zu verstehen (Linzen 2014, S. 2), ganz im Sinne von Peter W. Singer und Allan Friedman (2014, S. 121): „The key elements of war in cyberspace all have their parallels and connections to warfare in other domains“. 7 Austragungsformen von Konflikten 190 <?page no="191"?> Das Tallinn Manual on the International Law Applicable to Cyber Warfare, eine Studie über die Anwendbarkeit des Völkerrechts auf Cyberkonflikte und Cyberkrieg, versteht unter einem Cyberangriff im Sinne eines Cyberwar „a cyber operation, whether offensive or defensive, that is reasonably expected to cause injury or death to persons or damage or destruction to objects“ (Schmitt 2013, Rule 30; identisch in der Fassung 2.0 von 2017, Rule 92). Zentral ist bei dieser Begriffsbestimmung der Aspekt der Gewaltan‐ wendung („the use of violence against a target“; Schmitt 2017, S. 415), die einen Cyberangriff beispielsweise von Cyberspionage unterschei‐ det. Dabei versteht das Tallinn Manual unter Gewalt nicht nur den gewaltsamen Akt selbst, sondern auch seine Konsequenzen: „‚[V]io‐ lence‘ must be considered in the sense of violent consequences and is not limited to violent acts“ (Schmitt 2013, Rule 30; 2017, Rule 92). Auch Niklas Schörnig (2019, S. 45ff.) setzt beim Ausmaß und der Zielsetzung der Gewaltanwendung an und nimmt fünf Abstufungen vor: ▸ den Hacktivismus, bei dem Protest oder Propaganda mit mög‐ lichst hoher Aufmerksamkeit erreicht werden soll, ▸ die Cyberkriminalität, worunter ökonomisch motivierte Atta‐ cken gegen Privatpersonen oder Unternehmen zu verstehen sind, ▸ die Cyberspionage, ein ähnliches Phänomen, ohne damit aber primär ökonomische, vielmehr politische Ziele zu verfolgen, ▸ den Cyberterrorismus mit dem Motiv, gezielt materielle oder gar physische Schäden anzurichten, zum Beispiel durch Angriffe gegen die zivile Infrastruktur, sowie 7.2 Der Cyberraum und die Digitalisierung der Kriegsführung 191 <?page no="192"?> ▸ den Cyberwar, wenn ein Land einer Vielzahl von Angriffen ausgesetzt ist, die entweder physische Schäden anrichten oder darauf zielen, die Verteidigungsfähigkeit des Landes in starkem Maße zu beeinträchtigen, um so einen Angriff zu erleichtern. In diesem Sinne sollte vom Cyberwar nur im Zusammenspiel mit kinetischen Angriffen gesprochen werden. Auch wenn die Grenzen fließend sind, lassen diese Abstufungen eine differenzierte Sicht auf Cyberangriffe zu. Insbesondere dienen sie dazu, einen inflationären Gebrauch des Kriegsbegriffes zu verhindern. Mit Cyberangriffen verbinden sich vier zentrale Herausforderungen: 1. Es kommt zu einer Verschmelzung militärischer und ziviler Räume. Die Kriegsführung wird mit zivilen Mitteln geführt, sie erweist sich als „vollkommen blutlos“ (Gaycken 2014, S. 6). Ihre - zumeist zeitlich verzögerten - Wirkungen beispielsweise auf vitale Teile der Infrastruktur eines Landes können dagegen dramatisch sein. Und je nachdem, ob Cyberangriffe als zivile oder militärische Bedrohung gefasst werden, werden auch Ver‐ antwortlichkeiten und Maßnahmen zur Abwehr dieser virtuellen Angriffe unterschiedlich ausfallen (vgl. Kriesel und Kriesel 2012, S. 128f.; Theiler 2012, S. 145; PoKemptner 2014, S. 39). 2. Cyberangriffe sind durch eine hohe Wirkasymmetrie gekenn‐ zeichnet. So können schon kleine Angriffe mit wenig techni‐ schem Aufwand und geringen Kosten dramatische Wirkungen zeitigen, insbesondere wenn diese kritische Bereiche der Infra‐ struktur treffen. Man denke nur an den Ausfall von Wasser- oder Stromversorgungen in Großstädten oder Angriffe auf Chemie‐ fabriken und Atomkraftwerke. Innerhalb weniger Tage könnten Zwischenfälle dieser Art - ganz unblutig - zu hohen Opferzahlen führen. Zugleich besteht eine „Asymmetrie der Fehlertoleranz“ 7 Austragungsformen von Konflikten 192 <?page no="193"?> (Gaycken 2012, S. 99). Während die Angreiferin und der Angrei‐ fer etliche Versuche unternehmen kann, von denen nur einer seine Wirkung entfalten muss, hat die Verteidigerin und der Verteidiger zur Abwehr dieses Angriffs in der Regel nur einen Versuch und dieser müsse dann „immer erfolgreich sein“ (Gay‐ cken 2012, S. 99). 3. Es besteht das Problem der Attributation. Das heißt: Angreiferin‐ nen und Angreifer können im Cyberraum häufig nicht - und wenn überhaupt, dann nur mit großer zeitlicher Verzögerung - identifiziert werden. Dies ist allerdings zentral, wenn potenzi‐ elle Angreifer durch Strafen abgeschreckt werden sollen. Die fehlende Täteridentifikation lässt sich auf verschiedene Gründe zurückführen: auf „die Flüchtigkeit der physischen Spuren“ im Internet, auf den „apologetische[n] Charakter der Datenspuren“, ist der informatorische Gehalt bei Cyberangriffen grundsätzlich manipulierbar, auf den „Mensch-Maschine-Gap“, denn selbst wenn die Maschine identifiziert werden könne, sei weiterhin ungeklärt, welche Person zum entscheidenden Zeitpunkt einen Zugriff gehabt habe, und auf „die Alltäglichkeit der Waffe“, han‐ delt es sich im Cyberwar um „handelsübliche Alltagstechnolo‐ gien“ wie alltägliche PCs, USB-Sticks oder Standardprogramme (Gaycken 2012, S. 101ff.). 4. Cyberangriffe besitzen gegenüber allen konventionellen Formen der Kriegsführung einen zentralen Vorteil: Sie benötigen keine Vorwarnzeiten. Digitale Erstschläge erfolgen in Bruchteilen von Sekunden. Entsprechend gering ist die Zeit, sich gegenüber diesen Angriffen zu verteidigen. Wie sieht nun der empirische Befund aus? In den vergangenen Jahren lassen sich durchaus Beispiele aufzeigen, die auf die außenpolitische Dimension von Cyberangriffen verweisen: So hat 2007 ein Angriff auf 7.2 Der Cyberraum und die Digitalisierung der Kriegsführung 193 <?page no="194"?> Estland (durch kremlnahe Aktivistinnen und Aktivisten aus Russland) zentrale Regierungs- und Bankinternetseiten lahmgelegt. Weitere An‐ griffe gab es auf Einrichtungen in Georgien (im Kontext des Kaukasus‐ krieges), auf Sony (durch Nordkorea), auf das interne Kommunikati‐ onssystem des Deutschen Bundestages oder auf die Energieversorgung in der Ukraine. Mit Stuxnet haben es US-amerikanische und israelische Militärs und Nachrichtendienste im Juni 2010 sogar erreicht, mit Hilfe einer Schadstoffsoftware in das Netz der Urananreicherungsanlage in Natanz im Iran einzudringen und einige hundert Zentrifugen zu zer‐ stören. Stuxnet gilt als die „erste digitale, zielgerichtete ‚Cyberwaffe‘“ (Neuneck 2017, S. 809). Die Staaten reagieren zum einen mit geheim- und nachrichten‐ dienstlichen Maßnahmen, zum anderen mit einer zunehmenden Mili‐ tarisierung des Cyberraums (vgl. Heintschel von Heinegg 2015). So haben mittlerweile zahlreiche Länder - auch die Bundesregierung - in ihren Streitkräften Cyberkommandos eingerichtet. Darüber hinaus hat der NATO-Gipfel 2016 in Warschau Cyberangriffe als militärische Aktion bewertet, die nach Art. 5 des NATO-Vertrages auch den Bünd‐ nisfall auslösen kann. Diese Militarisierung der Cybersicherheit ist nicht unproblema‐ tisch, verbinden sich mir ihr nicht unerhebliche Probleme: Zunächst zeitigt sie Tendenzen eines digitalen Rüstungswettlaufs. Des Weite‐ ren stellen sich grundlegende völkerrechtliche Anfragen: Zum einen machen die Attributation und die völkerrechtlich notwendige Zu‐ rechnung eines Cyberangriffs zu einem Staat die Anwendung des Selbstverteidigungsrechts schwierig; zum anderen setzt die zeitlich versetzte Wirkung von Cybergriffen (beispielsweise bei Angriffen auf vitale Teile der Infrastruktur) der Selbstverteidigung enge Grenzen. So wird „ein primär reaktiver Ansatz […] regelmäßig nicht genügen, um 7 Austragungsformen von Konflikten 194 <?page no="195"?> Sicherheitsbedrohungen aus dem Cyberspace effektiv zu begegnen“ (Kreuzer 2019, S. 82). 7.3 Die Militarisierung des Weltraums Weniger im Fokus der Aufmerksamkeit steht eine weitere Entwick‐ lung: die Militarisierung des Weltraums. Solche Programme sind nicht neu: 1983 - zu Hochzeiten des Ost-West-Konfliktes - kündigte der damalige US-amerikanische Präsident Ronald Reagan die Strategic Defense Initiative (SDI) an. Das sogenannte Star-Wars-Programm sollte sowjetische Interkontinentalraketen abfangen. Zu seiner Umsetzung kam es letztlich nicht und mit dem Ende des Kalten Krieges gerieten derartige Programme auch weitgehend aus dem Blickwinkel der Öf‐ fentlichkeit. 35 Jahre später, am 18. Juni 2018, kündigte der US-amerika‐ nische Präsident Donald Trump an, bis Ende 2020 eine Weltraumarmee (Space Force) als eigene Teilstreitkraft aufzubauen mit dem erklärten Ziel, den Weltraum zu dominieren. Bereits ein Jahr später nahm das United States Space Command seine Arbeit auf. Auch andere Staaten sehen den Weltraum als einen neuen Bereich der Konfrontation an. So gab der französische Präsident Emmanuel Macron im Juli 2019 den Aufbau eines militärischen Weltraumkommandos bekannt. Und auch die NATO hat im gleichen Jahr mit ihrer Weltraumstrategie den Weltraum zu einer militärischen Sphäre erklärt; danach soll es künftig neben Heer, Luftwaffe, Marine und Cyber auch eine Teilstreitkraft Weltraum geben (vgl. Hagen 2015; Deutscher Bundestag 2018, S. 4f.; 2020, S. 1f.; ZDF 2019). Zu den führenden Weltraumnationen gehören aber auch Länder wie Russland, China und Indien - Staaten, die geopolitische Konstellationen und machtpolitische Gleichgewichte nachhaltig beeinflussen können. 7.3 Die Militarisierung des Weltraums 195 <?page no="196"?> Die Nutzung des Weltraums erweist sich für das 21. Jahrhundert als essenziell. Der Weltraum stellt eine klassische Dual-Use-Domäne dar, das heißt eine Sphäre, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt wird. Im zivilen Bereich spielt der Weltraum bei der Datenübermitt‐ lung, Kommunikation und Beobachtung eine zentrale Rolle; mittler‐ weile zählen Satelliten zur kritischen Infrastruktur (vgl. Neuneck 2008, S. 130; Mutschler 2013, S. 7ff.). Der Weltraum - eine kritische Infrastruktur „Das öffentliche Leben würde buchstäblich aus dem Takt gera‐ ten: Ampeln und Signale im Schienenverkehr, die über GPS synchronisiert werden, würden den Dienst verweigern, Geld‐ automaten wären funktionsunfähig, Kartenzahlung wäre nicht mehr möglich. Die globalen Finanzmärkte, die zu großen Teilen von präzisen Zeitsignalen aus dem Weltraum abhängig sind, würden ebenso zusammenbrechen wie mancherorts die Strom‐ netze. Ohne funktionierende Kommunikationssatelliten würden zudem Mobilfunknetze und Internetverbindungen ausfallen. In‐ nerhalb weniger Stunden käme es zu schwerwiegenden Unfällen etwa im Flugverkehr, wo Piloten plötzlich ohne Navigations- und Wetterdaten auskommen müssten“ (Becker 2019, S. 62). Bislang ist ein derartiges Szenario noch nicht eingetreten, aber es zeigt die Abhängigkeit des zivilen und kommerziellen Bereichs des Lebens von satellitengestützten Daten auf. Satelliten stellen ein sehr „transparentes Medium“ dar (Neuneck 2008, S. 130); ihre kreisförmigen Bahnen sind gut zu bestimmen und gegenüber äußeren Einflüssen (beispielsweise Kollisionen mit anderen Objekten) nur schlecht zu 7 Austragungsformen von Konflikten 196 <?page no="197"?> schützen (vgl. Neuneck 2008, S. 130). Gegenwärtig bestehen drei Ten‐ denzen beziehungsweise Herausforderungen bei der (zivilen) Nutzung des Weltraums (vgl. Mutschler 2013; Becker 2019, S. 63ff.): 1. die Kommerzialisierung der internationalen Raumfahrt: Seit dem Ende des Kalten Krieges wächst die Weltraumnutzung kontinu‐ ierlich. Sie hat mittlerweile zu einer Vervielfachung der Satelliten im Orbit geführt. Praktisch nutzen alle Länder - und nicht nur staatliche, sondern auch nichtstaatliche Akteure - satellitenge‐ stützte Dienste; gegenwärtig verfügen mehr als 60 Staaten über eigene Satelliten (vgl. Schaubild 21). Mit dieser Entwicklung gehen dann auch zunehmende Probleme hinsichtlich der Ver‐ kehrssicherheit einher. Satelliten in Zahlen Anzahl 1.886 (darunter USA: 859, China: 250, Russland: 146, Deutschland: 29) Funktionen 41% Kommunikation, 35 % Erdbeobachtung, 6 % Na‐ vigation und Positionsbestimmung, 18 % andere Nutzung 44% rein kommerziell, 17 % rein militärisch, 7 % rein zivil, 32 % gemischt Schaubild 21: Satelliten in Zahlen nach der Union of Concerned Scientists (Mai 2018), zit. nach Becker (2019, S. 66) 2. die Zunahme des Weltraumschrotts: Das umfasst „von Menschen erzeugte Gegenstände im All oder abgebrochene Teile von Welt‐ raumgegenständen, die nicht mehr funktionstüchtig sind und auch keine Funktionstüchtigkeit mehr erlangen können“ (Deut‐ scher Bundestag 2018, S. 12). Mit der steigenden zivilen, kommer‐ ziellen und militärischen Nutzung des Weltraums nimmt dieser 7.3 Die Militarisierung des Weltraums 197 <?page no="198"?> zu. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der diese Gegenstände im Orbit unterwegs sind, können schon kleine Teile schwere Schäden anrichten. Zudem setzen Kollisionen von Satelliten, deren Wahrscheinlichkeit infolge ihrer größeren Dichte steigt, immense Mengen an Weltraumschrott frei. 3. der Rüstungswettlauf im Weltraum: Die friedliche und zivile Nutzung des Weltraums würde durch einen Rüstungswettlauf im Orbit her‐ ausgefordert, auch erhöhten sich dadurch noch einmal die Gefahren von Kollisionen sowie durch Weltraumschrott, bei denen Satelliten zerstört oder auch ganze Bereiche des erdnahen Weltraums unbe‐ nutzbar werden könnten. Die politischen Pläne und militärischen Programme der letzten Jahre lassen eine solche Entwicklung durch‐ aus als reale Gefahr erscheinen. Die Auswirkungen wären global: Da der Weltraum keine nationalen Grenzen kennt, würden auch unbe‐ teiligte Akteure von einem militärisch im Weltraum ausgetragenen Konflikt potenziell unmittelbar betroffen sein. Inwieweit ist der Weltraum schon zu einer militärischen Domäne geworden? Prinzipiell müssen im militärischen Bereich zwei Formen der Nutzung des Weltraums unterschieden werden: zum einen die militärische Nutzung von Satellitenfunktionen im Orbit („military use of space resources“, Zhao und Jiang 2019, S. 51), zum anderen die Entwicklung und Installation von Weltraumwaffen („to develop and install weapons either in outer space or on earth with the target in outer space“, Zhao und Jiang 2019, S. 51). In der Literatur findet sich hierfür bisweilen auch die Unterscheidung zwischen „space militarization“ und „space weaponization“ (Zhao und Jiang 2019, S. 51). Im militärischen Alltag ist die erste Form („military use of space recources”) inzwischen unverzichtbar: für die Datenübermittlung, Kommunikation, Aufklärung, Navigation und Überwachung. Dabei spielt das Global Positioning System (GPS) eine zunehmende Rolle. 7 Austragungsformen von Konflikten 198 <?page no="199"?> Das folgende Beispiel verdeutlicht diese Entwicklung: Während der Anteil gelenkter Munition (mit GPS-Signalen) im US-amerikanischen Militär im Zweiten Golfkrieg 1991 lediglich acht Prozent betrug, erhöhte sich dieser Anteil im Kosovokrieg 1999 auf 28 Prozent, im Afghanistaneinsatz 2001 auf 52 Prozent und im Irakkrieg 2003 auf 64 Prozent (vgl. Hansel 2010, S. 267). Dabei steigert sich auch stetig „der anteilige Rückgriff auf kommerzielle Übertragungskapazitäten“: von 15 Prozent während der Operation Desert Storm über 60 Prozent während der Operation Allied Force bis zu 80 Prozent während der Operation Iraqi Freedom (Hansel 2010, S. 267). Weltraumwaffen „Als Weltraumwaffen gelten zum einen bewaffnete Systeme wie waffentragende Satelliten, die im Weltraum stationiert sind, und bewaffnete Raumgleiter, also Flugkörper, die längere Zeit im Weltraum um die Erde kreisen. Solche Systeme könnten Ziele im Weltraum selbst und/ oder Ziele auf der Erde angreifen. Zum anderen gehören auch bodengestützte Raketen, die zum Beispiel gegen Satelliten eingesetzt werden können, zu dieser Kategorie“ (BICC 2013). „A space weapon is a device stationed in outer space […] or in the earth environment designed to destroy, damage or otherwise interfere with the normal functioning of an object or being in outer space, or a device stationed in outer space designed to destroy, damage or otherwise interfere with the normal functioning of an object or being in the earth environment. Any other device with the inherent capability to be used as defined above will be considered as a space weapon” (Chanock 2013, S. 695). 7.3 Die Militarisierung des Weltraums 199 <?page no="200"?> Davon zu unterscheiden ist die Bewaffnung des Weltraums („space weaponization“). Im Gegensatz zur ersten beschriebenen Form der militärischen Nutzung zeichnen sich Weltraumwaffen durch ihre In‐ tention des direkten Schädigens und Zerstörens aus. Es gibt verschiedene Kategorien von Weltraumwaffen. Zum einen lassen sie sich im Hinblick auf geografische Aspekte kategorisieren. Hier existieren drei Optionen, die bereits in den obigen Definitionen anklingen: from space to space, from space to earth sowie from earth to space. Waffen wie beispielsweise bodengestützte Interkontinental‐ raketen, die sich gegen Ziele auf der Erde richten, zählen, auch wenn sie durch den Weltraum fliegen, im Allgemeinen nicht zu Weltraumwaffen (vgl. BICC 2013). Zum anderen lassen sich Weltraumwaffen nach ihren Technologien differenzieren (vgl. Neuneck 2008, S. 134ff.; Mutschler 2010, S. 3ff.). Dazu zählen insbesondere: ▸ Nuklearexplosionen: Eine im Weltall ausgelöste Nuklearexplo‐ sion kann infolge ihrer radioaktiven Strahlung Satelliten und ihre Umgebung auf viele Jahre hin schädigen oder zerstören. ▸ Strahlenwaffen: Dazu gehören Waffen, die durch Laser oder Mikrowellen einen gezielten Strahl erzeugen und auf diese Weise Satelliten blenden oder auch (durch Hitze beziehungsweise Schmelzen) zerstören können. ▸ kinetisch wirkende Waffen: Hierbei erfolgen Zerstörungen durch direkte Aufpralle, die angesichts der genauen Vorausberechnung der Bahnen und der Leichtbauweise der Satelliten relativ leicht zu erzeugen sind. Welche Weltraumwaffen bereits verfügbar sind, lässt sich schwer exakt ermitteln. Zum einen handelt es sich um Dual-Use-Objekte, die sich so‐ wohl in der zivilen Raumfahrt als auch für die Kriegsführung einsetzen 7 Austragungsformen von Konflikten 200 <?page no="201"?> lassen, zum anderen unterliegt die Entwicklung dieser Waffen einer strengen Geheimhaltung. Bereits entwickelt und getestet worden sind Antisatellitenwaffen. Sie zielen darauf, die Satelliten des Gegners zu zerstören oder funktionsunfähig zu machen. Bei Antisatellitenraketen (ASAT-Raketen) erfolgt dies auf kinetischem Wege, das heißt durch direkten Aufprall. Die führenden Weltraumstaaten - USA, Russland und China - haben „ihre Fähigkeit zum Satellitenkrieg“ allesamt demonstriert (Hagen 2015, S. 16). Russland und die USA führten bereits zu Zeiten des Kalten Krieges Tests durch. 2007 schoss China einen eigenen, ausgedienten Satelliten ab. 2008 zerstörten die USA einen ihrer Spionagesatelliten, zu dem der Kontakt abgebrochen war. Und jüngst testeten sowohl China (2018) als auch Russland (2018) ihre neuesten ASAT-Raketen. Aber auch Indien gab bekannt, im März 2019 erfolgreich einen Testsatelliten in niedriger Umlaufbahn abgeschossen zu haben (vgl. Hagen 2015, S. 16; Huber 2019). Neben Antisatelliten‐ waffen sind weltraumgestützte Waffen denkbar. Hierbei handelt es sich um Waffen, die im Weltraum stationiert sind und von dort aus Ziele im Orbit oder auf der Erde angreifen können. Diese existieren bislang noch nicht. Am wahrscheinlichsten scheinen hier weltraumgestützte Laserwaffen, die die USA bereits erfolgreich getestet haben (vgl. Huber 2019). Mit Weltraumwaffen verbinden sich verschiedene Funktionszuschrei‐ bungen. Zunächst fällt hierunter die aktive Kontrolle des Weltraums. Diese umfasst vier Komponenten (vgl. Hansel 2010, S. 273): ▸ Surveillance: Maßnahmen zur Überwachung des Weltraums, um Gefahren zu erfassen und näher zu bestimmen, ▸ Protection: Maßnahmen zum Schutz der eigenen Systeme, 7.3 Die Militarisierung des Weltraums 201 <?page no="202"?> ▸ Prevention: vorbeugende Maßnahmen, damit die eigenen Fähig‐ keiten oder die Fähigkeiten Dritter nicht durch die Gegnerin oder den Gegner genutzt werden können, sowie ▸ Negation: Maßnahmen, um zu verhindern, dass die Gegnerin oder der Gegner seine eigenen Fähigkeiten zum Einsatz bringen kann. Die Implementierung dieser Aufgaben kann defensiv wie offensiv erfolgen und mit diplomatischen, wirtschaftlichen oder aber auch mit militärischen Mitteln erfolgen. Die ambitionierten Pläne der USA gehen aber noch weiter. Mit dem Aufbau einer Weltraumarmee be‐ absichtigen sie nicht nur die Kontrolle, sondern die Dominanz im Weltraum. So erklärte Donald Trump anlässlich der Errichtung des U.S. Space Command: „With today’s action, we open another great chapter in the extraordi‐ nary history of the United States military. SPACECOM will ensure that America’s dominance in space is never questioned and never threatened, because we know the best way to prevent conflict is to prepare for victory“ (The White House 2019). Internationale Verträge setzen einer Militarisierung im Weltraum ge‐ wisse Grenzen, erweisen sich aber auch als labil. Der Weltraumvertrag von 1967 - die sogenannte Magna Charta des Weltraums - ist bislang von 107 Staaten ratifiziert worden, darunter auch von jenen Staaten, die militärische Ambitionen im Weltraum verfolgen (wie den USA, Russland und China). Mit ihm verpflichten sich die Staaten im Interesse der gesamten Menschheit zur ausschließlich friedlichen Nutzung des Weltraums (das Common Heritage of Mankind- oder kurz: CHOM-Prin‐ zip). Der Weltraumvertrag untersagt eine Militarisierung des Mon‐ des und anderer Himmelskörper wie auch eine Stationierung von Massenvernichtungswaffen - insbesondere von Nuklearwaffen - im 7 Austragungsformen von Konflikten 202 <?page no="203"?> Orbit. Jedoch sind weder das Durchqueren des Weltraums mit nuklear bestückten Raketen zu Angriffs- oder Raketenabwehrzwecken noch die Verwendung und Stationierung konventioneller Weltraumwaffen verboten. Die völkerrechtliche Debatte um eine aktive militärische Nutzung des Weltraums entfacht sich insbesondere an der Auslegung des Gebots der „friedlichen Nutzung“ des Weltraums nach Art. IV des Weltraumvertrages. Speziell die USA interpretieren „friedliche Nut‐ zung“ im Sinne von „nicht aggressiv“, womit eine militärische Nutzung des Weltraums zu Selbstverteidigungszwecken nicht ausgeschlossen wäre (vgl. Deutscher Bundestag 2018, S. 8). Unwidersprochen ist diese Interpretation nicht; Kritikerinnen und Kritiker bezeichnen diese Sichtweise auch als „unnecessary, wrong, and potentially noxious“ (Mosteshar 2019). Neben dem Weltraumvertrag erwies sich der ABM-Vertrag zwi‐ schen den USA und der Sowjetunion von 1972 als zentral - der erste Vertrag, der nicht Offensiv-, sondern Defensivwaffen begrenzte. Er erlaubte eine begrenzte Anzahl von Raketenabwehrstellungen auf dem Land, verbot aber vorbeugend eine Stationierung auf Schiffen, in Flugzeugen und im Weltraum. Damit sollte die gegenseitige Ver‐ wundbarkeit der Großmächte erhöht und ein nuklearer Erstschlag verhindert werden. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 kündigten die USA diesen Vertrag auf. Während die internationale Gemeinschaft seit Jahren auf ein Verbot von Weltraumwaffen drängt, weigern sich insbesondere die USA, sich in ihrer militärischen Handlungsfähigkeit bei weltraumgestützter Ra‐ ketenabwehr, Antisatellitenwaffen und Weltraumwaffen gegen Luft- und Bodenziele zu beschränken (vgl. Altmann et al. 2017, S. 118). Ihre Programme zielen darauf, die eigene Verwundbarkeit zu reduzieren. Das gilt nicht nur für den Schutz ihrer militärischen Objekte im Orbit, sondern auch der zivilen, „[bestehen] Anreize für einen terroristischen 7.3 Die Militarisierung des Weltraums 203 <?page no="204"?> Angriff […] weniger in der militärischen, sondern weit mehr in der gesellschaftlichen Abhängigkeit der USA von ihren Weltraumfähigkei‐ ten“ (Hansel 2010, S. 271). Im Ergebnis führt dies zu einer weiteren Asymmetrierung der Kriegsführung. 7.4 Fazit Technologische Innovationen haben von jeher die Kriegsführung und den Konfliktaustrag beeinflusst. Im 20. Jahrhundert war es die Atom‐ waffe, die den Ost-West-Konflikt nachhaltig prägte und die weltpo‐ litische Konstellation bis heute prägt. Das 21. Jahrhundert zeichnet sich insbesondere durch Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien aus, die - militärisch genutzt - die Sicherheitspolitik herausfordern können. Dazu zählen unbemannte Waffen und der Trend zu ihrer Autonomisierung, der Cyberraum und die Digitalisierung der Kriegsführung sowie die jüngsten Programme zu einer Militarisierung des Weltraums. Mit ihnen einher geht: ▸ ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Zivilem und Militäri‐ schem: Es sind allesamt Dual-Use-Technologien, die von staat‐ lichen wie nichtstaatlichen Akteuren für zivile, kommerzielle und militärische Zwecke nutzbar gemacht werden können. Das erschwert Abrüstungs- und Rüstungskontrollbemühungen. ▸ ein Wandel der Streitkräfte: „Die Massenarmeen des 20. Jahrhun‐ derts werden im Zuge der digitalen Revolution mehr und mehr von Hightech-Armeen abgelöst“ (Neuneck 2014). US-Expertin‐ nen und Experten sprechen inzwischen von einer „Revolution in Military Affairs“ (vgl. Neuneck 2014). ▸ eine Veränderung der Kriegsführung: Verwundbarkeiten werden einseitig minimiert und Asymmetrien verstärkt. Das macht sie 7 Austragungsformen von Konflikten 204 <?page no="205"?> für technisch hochgerüstete westliche Staaten attraktiv: „Der ‚postheroische‘ Westen wird schon deshalb nicht auf Hochtech‐ nologie verzichten, um die eigenen Verluste zu minimieren und der Öffentlichkeit Waffengänge so überhaupt vermitteln zu kön‐ nen“ (Neuneck 2014). Das erweist sich durchaus als ambivalent, handelt es sich hierbei häufig nicht um „Risikominimierung“, sondern um „Risikotransfer“ (vgl. Koch 2014). ▸ eine Ausdehnung der Dimensionen der Kriegsführung: Bei den Sphären des Cyber- und Weltraumes handelt es sich um „gemein‐ schaftsfreie Räume“ (Neuneck 2014): zahlreiche Staaten haben Zugang zu diesen Räumen, in ihnen fehlen nationale Grenzen, das Agieren erfolgt global. Die Einführung dieser Waffensysteme ist umstritten. Argumentativ lassen sich drei Zugänge beziehungsweise Theorieschulen ausmachen (vgl. Moltz 2019, S. 23ff.): ▸ ein Nationalismus, der basierend auf realistischen Grundannah‐ men auf Dominanz und geopolitische Vorteile setzt und vor diesem Hintergrund die Einführung der neuen Systeme für die eigene Sicherheit als essenziell ansieht; ▸ ein technologischer Determinismus, der gleichfalls eine Bewaff‐ nung für unvermeidbar hält, allerdings weniger aus politischen Gründen als vielmehr aus einem technologischen Determinis‐ mus heraus, sowie ▸ ein globaler Institutionalismus, der die Etablierung internationaler Institutionen und Vereinbarungen zur Durchsetzung eines Verbots destruktiver Waffen für unerlässlich erachtet (auch unter Verweis auf das Konzept der gemeinsamen Sicherheit, vgl. Wolter 2003). Friedenspolitisch wird es darauf ankommen, die destruktiven Seiten der neuen technologischen Entwicklungen nicht zum Tragen kommen 7.4 Fazit 205 <?page no="206"?> zu lassen. Hier verorten sich dann auch Bemühungen um ein vorzeiti‐ ges Verbot von autonomen oder auch weltraumgestützten Waffen. Weiterführende Literatur: Werkner, Ines-Jacqueline und Marco Hofheinz (Hrsg.). 2019. Unbe‐ mannte Waffen und ihre ethische Legitimierung. Wiesbaden: Sprin‐ ger VS. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes nehmen unbe‐ mannte Waffensysteme in den Blick. Sie diskutieren Fragen der Veränderung der Kriegsführung und ihrer Legitimität, strategische und sicherheitspolitische Aspekte, völkerrechtliche Dimensionen sowie Rüstungskontrollfragen. Werkner, Ines-Jacqueline und Niklas Schörnig (Hrsg.). 2019. Cyberwar - die Digitalisierung der Kriegsführung. Wiesbaden: Springer VS. Ausgehend von einer begrifflichen Differenzierung reflektieren die Autorinnen und Autoren die Herausforderungen im Cyber‐ raum aus technologischer, friedenspolitischer, völkerrechtlicher, rüstungspolitischer und theologischer Perspektive. Moltz, James Clay. 2019. The Politics of Space Security: Strategic Restra‐ int and die Pursuit of National Interests. 3. Aufl. Stanford: Standford University Press. Der Autor nimmt die politischen Strategien der militärischen Nutzung des Weltraums der letzten sechzig Jahre in den Blick und untersucht die Hintergründe, die in früheren Phasen zu ihrer Begrenzung geführt haben, mittlerweile aber in Richtung einer Weltraumbewaffnung deuten. 7 Austragungsformen von Konflikten 206 <?page no="207"?> Part III: Friedensstrategien <?page no="209"?> 8 Frieden durch Abschreckung In jüngster Zeit finden sich verstärkt Bemühungen, „die in den Großtheorien der Internationalen Beziehungen bisweilen nur implizit enthaltenen Aussagen zu den Voraussetzungen für Frieden expliziter herauszuarbeiten“ (Kahl und Rinke 2019, S. 65). Diese prägen die Debatte in besonderer Weise. Ein solcher Zugang weist zudem den Vorteil auf, Friedensstrategien systematischer in den Blick zu nehmen, zielgerichteter zu verorten und in ihren Grundannahmen und Wirkun‐ gen klarer differenzieren zu können. Die (neo)realistische Denkschule war über einen langen Zeitraum des Kalten Krieges das in der politischen Praxis vorherrschende Pa‐ radigma. Dazu haben wesentlich die bipolare Struktur und der Syste‐ mantagonismus beigetragen. Ausdruck fand es in der Gleichgewichts- und Abschreckungspolitik. Mit der einsetzenden Entspannungspolitik, spätestens aber mit dem Ende des Ost-West-Konflikts durchbrachen institutionalistische, liberale wie auch zunehmend konstruktivistische Ansätze diese (neo)realistische Dominanz. Jedoch scheinen die ge‐ genwärtigen Machtverschiebungen im internationalen System und Auseinandersetzungen um die internationale Vormachtstellung (USA - Russland - China; vgl. Kap. 6.2.1) zu einer teilweisen Rückkehr der Geopolitik geführt zu haben und damit (neo)realistische Strategien wieder zu begünstigen. Das (neo)realistische Paradigma ist in der Friedensforschung hoch umstritten, dabei wird ihm vielfach seine Friedensfähigkeit abgespro‐ chen. Kritisiert wird insbesondere das in der Abschreckung angelegte immanente Auseinanderdriften von Ziel und Mittel im Sinne der Maxime „Si vis pacem, para bellum“ (Wenn du den Frieden willst, <?page no="210"?> bereite den Krieg vor). Diese Kritik findet ihren Kulminationspunkt in der Strategie der nuklearen Abschreckung. 8.1 Der (neo)realistische Zugang zum Frieden Der Realismus entstand in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Reak‐ tion auf die Krisenerfahrungen jener Zeit - das Aufkommen des Faschismus und Stalinismus, das Scheitern des Völkerbundes sowie den Zweiten Weltkrieg - und als Gegenbewegung zum Idealismus mit seinen „utopischen“ Hoffnungen auf Völkerverständigung und friedlicher internationaler Zusammenarbeit (vgl. Krell 2004, S. 62). Mit seinem Buch „Politics Among Nations: The Struggle for Power und Peace“ (1948) prägte Hans J. Morgenthau wesentlich den politischen Realismus. In Entgegensetzung zum Idealismus ging es ihm darum, die „ideologische Verbrämung zu durchschauen“ und „die wirklichen politischen Kräfte und Erscheinungen, die dahinter liegen, zu erfassen“ (Morgenthau 1963 [1948], S. 122). Sein Anspruch war es, sich nicht von einem Idealzustand leiten zu lassen, sondern von der realen politischen Situation - das heißt der weltpolitischen Lage, so wie sie ist - auszugehen. Und diese sei stets von gegensätzlichen Interes‐ sen und Konflikten geprägt und ein Interessenausgleich immer nur vorübergehend (vgl. Krell und Schlotter 2018, S. 150). Das zentrale Charakteristikum der realistischen Denkschule ist das Machtstreben. Dabei verfolgt Morgenthau einen anthropologischen Ansatz, wonach es wesentlich in der Natur des Menschen liege, andere zu beherrschen. In diesem Punkt unterscheiden sich die realistische und neorealistische Schule voneinander. John H. Herz (1950), ein weiterer bedeutender Vertreter des Realis‐ mus und bereits Vordenker eines Neorealismus, hebt auf die Struktur 8 Frieden durch Abschreckung 210 <?page no="211"?> des internationalen Systems ab. Da dieses keine übergeordnete Ord‐ nungs- und Sanktionsinstanz kenne, entstehe eine Unsicherheit, die die Staaten zwinge, selbst Vorsorge für ihre Sicherheit zu treffen. Da dies alle Staaten tun, resultiere daraus ein Sicherheitsdilemma: So verstärke sich mit der Maximierung der jeweils eigenen Sicherheit die Unsicherheit der Anderen und erhöhe wiederum deren Sicherheitsvor‐ sorge. Letztlich führe dieser Mechanismus zu einem gegenseitigen und konkurrierenden Macht- und Rüstungswettlauf. Statt mehr Sicherheit komme es im Ergebnis zu mehr Instabilität und größerer Unsicherheit - ein Teufelskreis von Sicherheitsbedürfnis und Machtanhäufung. Der Neorealismus, entstanden mit dem Kalten Krieg und dem Ost-West-Konflikt, setzt hier an. Auch er sieht die Machtkonkurrenz in der Struktur des internationalen Systems begründet. Kenneth N. Waltz (1979), einer der führenden Vertreter des Neorealismus, differenziert zwischen Akteuren (units) und Strukturen (structure). Die zentralen Akteure sind bei Waltz - wie generell im Neorealismus - Staaten. Sie besitzen ein zentrales Bedürfnis: das Überleben. Daraus resultiere auch das Streben nach Erhalt der staatlichen Integrität und nach Sicherheit. Dabei seien Staaten in ihrem Kern identisch und unterscheiden sich lediglich in ihrer Machtfülle (capabilities) voneinander. Die politische Struktur - neben den Akteuren der zweite Faktor im internationalen System - zeichnet sich bei Waltz durch drei wesentliche Merkmale aus: ▸ durch Ordnungsprinzipien: So fehle es dem internationalen System im Gegensatz zur staatlichen Ordnung an einer über‐ geordneten Ordnungs- und Sanktionsmacht, insbesondere an einem Gewaltmonopol. Zentraler Ausgangspunkt stellt bei ihm die anarchische Ordnung des internationalen Systems dar. ▸ durch die Eigenschaften der Akteure: Die Anarchie und die damit verbundene Unsicherheit zwinge die Staaten - in Anlehnung 8.1 Der (neo)realistische Zugang zum Frieden 211 <?page no="212"?> an John H. Herz -, sich jeweils selbst um ihr Überleben und ihre Souveränität zu kümmern - „durch Vorsorge für die Vertei‐ digung, durch Abschreckung oder durch Bündnisse“ (Krell und Schlotter 2018, S. 159). ▸ durch deren Stärkeverhältnisse: Die Staaten unterscheiden sich in ihren zur Verfügung stehenden Machtpotenzialen voneinan‐ der. Dabei stelle die militärische Macht einschließlich techno‐ logischer Entwicklungen und Fähigkeiten (wie beispielsweise Nuklearwaffen) die zentrale Ressource im internationalen Sys‐ tem dar. Die entscheidende Frage sei hierbei auch nicht, „wie viel“, sondern „wie viel mehr“ Macht ein Akteur besitze. Im Hinblick auf den Frieden zeigen sich Realismus wie Neorealismus eher pessimistisch: Frieden sei „ein stets prekärer Zustand“ (Kahl und Rinke 2019, S. 67). So verstehe sich Friedenspolitik auch vorrangig als Sicherheitspolitik (vgl. Kahl und Rinke 2019, S. 68). Nach (neo)rea‐ listischer Logik sei das zentrale Ziel der Staaten - die Stabilität und Sicherheit im internationalen System - nur über ein Mächtegleichge‐ wicht (Balance of Power) zu erreichen: „Der Staat darf sich keiner anderen Organisation unterordnen und keine Souveränität abgeben. Um sein bloßes Überleben zu gewährleis‐ ten, sieht er sich vielmehr zu Gleichgewichtspolitik und militärischer Abschreckung gezwungen“ (Kahl und Rinke 2019, S. 69). Dabei sei Frieden - je nachdem, welche Form das internationale System annehme (uni-, bi- oder multipolar) - leichter oder auch schwerer zu erreichen beziehungsweise zu sichern. Für Kenneth N. Waltz (1979) erweist sich das bipolare System am stabilsten. In einem solchen sei die Anzahl der potenziellen Konflikte geringer; Bipolarität erleichtere die Gegenmachtbildung und reduziere die Gefahr von Fehlkalkulationen der relativen Macht. So verband sich für ihn mit dem Ende des 8 Frieden durch Abschreckung 212 <?page no="213"?> Ost-West-Konfliktes auch die Gefahr eines Verlustes relativer Stabilität zugunsten einer neuen Unordnung. 8.2 Begriff und Funktionsweise der Abschreckung Abschreckung zählt zu den klassischen (neo)realistischen Strategien. Sie stellt ein an sich einfaches Prinzip dar: „The concept of deterrence is simple, prevention by threat. One side advertises the damaging consequences of an act, to prevent an adversary from acting” (Mandelbaum 1979, S. 47). Glenn Snyder (1960, S. 164) definiert Abschreckung in Anlehnung an Max Weber als „eine Art politischer Macht“. Abschreckung als Form politischer Macht „Wenn wir politische Macht allgemein als die Fähigkeit defi‐ nieren, andere zu veranlassen, etwas zu tun oder nicht zu tun (was sie andernfalls getan oder nicht getan hätten), so ist Abschreckung einfach der negative Aspekt politischer Macht. Es ist die Macht, jemanden davon abzuhalten etwas zu tun, was den eigenen Interessen zuwiderläuft - und dies auf Grund an‐ gedrohter Sanktionen“ (Snyder 1960, S. 164; vgl. auch Senghaas 1981, S. 213). Darauf basiert auch die Definition von Klaus-Dieter Schwarz (2005, S. 5). Er fasst unter Abschreckung „die Einflussnahme auf das Verhalten anderer, um sie davon abzuhalten, etwas Unakzeptables zu tun, indem 8.2 Begriff und Funktionsweise der Abschreckung 213 <?page no="214"?> man für sie ebenfalls Unakzeptables als Erwiderung in Aussicht stellt“. Mit welchen Mitteln abgeschreckt wird, hänge dabei „vom jeweiligen Problem und Kontext der Bedrohung“ (Schwarz 2005, S. 5) ab. In diesem weiten Verständnis ist Abschreckung nicht auf das Militärische, insbesondere nicht auf das Nukleare, beschränkt, sondern umfasst ein breites Spektrum von Sanktionen. Einige Vertreterinnen und Vertreter sehen hier auch Parallelen zum kriminologischen Modell der Strafver‐ folgung: “[T]here is substancial evidence that in many areas of crime sentencing creates a deterrent effect“ (Freedman 2008, S. 64; vgl. auch Hoberg 2019, S. 15). Abschreckungsstrategien sind voraussetzungsreich; für ihr Funk‐ tionieren bedarf es notwendiger Bedingungen - und zwar auf beiden Seiten: Abschreckung und ihre wechselseitigen Perzeptionen „Abschreckung verlangt Macht, Bereitschaft, sie zu nutzen, und auf Seiten des Gegners das Bewusstsein, daß beides auf der anderen Seite vorhanden ist. Abschreckung ist darüber hinaus nicht die Summe dieser Faktoren, sondern ein Produkt aus ihnen. Sinkt einer auf Null, wird Abschreckung wirkungslos“ (Kissinger 1961, S. 24; vgl. auch Delbrück 1989). Dies impliziert einen Mechanismus der Interdependenz von Konflikt und Kooperation. Beide sind konstitutiv: „[E]einem Gegner klar zu machen, aus eigenem Interesse bestimmte Absichten aufzugeben, setzt ein zweiseitiges, kooperatives Verhältnis voraus“ (Senghaas 1981, S. 122). Abschreckung wirkt nur, solange „die Drohung der einen die Intention und das Verhalten der anderen Seite überhaupt beeinflussen 8 Frieden durch Abschreckung 214 <?page no="215"?> kann“ (Senghaas 1981, S. 123). Dies gilt für beide Seiten; so wird auch das eigene Verhalten von dem des Gegners beeinflusst (vgl. Senghaas 1981, S. 123). Diese Form der Interdependenz setzt rational handelnde Akteure voraus. Vor diesem Hintergrund müssen Strategien der Abschreckung zumindest vier Faktoren berücksichtigen: 1. „unser Verständnis des relativen militärischen Gleichgewichts sowie der Verfügbarkeit anderer Machtinstrumente (wie etwa Sanktionen); 2. unsere Einschätzung der Grenzen unserer eigenen Entschlossen‐ heit und die der Gegner, militärische Mittel und Sanktionen einzusetzen; 3. das Verständnis des relativen militärischen Gleichgewichts so‐ wie der Verfügbarkeit anderer Machtinstrumente durch den Gegner; und 4. die Einschätzung unserer Entschlossenheit durch unsere Gegner, militärische Mittel und Sanktionen einzusetzen“ (Bergeron 2018, S. 22; vgl. auch Huth 1999). Das Konzept der Abschreckung beruht damit auf drei Voraussetzun‐ gen (vgl. Haffa 2018, S. 96f.): Zum einen bedarf es der Fähigkeit. Abschreckung funktioniert nur, wenn die Mittel der Abschreckung zu jeder Zeit und in entsprechender Weise zur Verfügung stehen. Zweitens erfordert Abschreckung Glaubwürdigkeit, das heißt die „hin‐ reichende Entschlossenheit […], wirklich militärisch aktiv zu werden, ‚if deterrence fails‘“ (Langendörfer 1987, S. 122). Und drittens benötigt Abschreckung Kommunikation. Dem potenziellen Aggressor müssen in unmissverständlicher Weise die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Abschreckung kommuniziert werden. Von daher ist Abschreckung stets auch „ein psychologisch-politischer Akt“ (Krause 2015, S. 2). 8.2 Begriff und Funktionsweise der Abschreckung 215 <?page no="216"?> Abschreckungskonzeptionen variieren, je nachdem, vor was und wie abgeschreckt werden soll. In der Literatur lassen sich vier zentrale Unterscheidungen identifizieren (vgl. u. a. Freedman 2008, S. 32ff.; Mazarr 2018, S. 2ff.: Schwarz 2005, S. 9ff.): ▸ enge versus weite Formen der Abschreckung: Abschreckung kann begrifflich enger und weiter gefasst sein und verschiedene Reichweiten besitzen. Sie kann eng ausgerichtet sein, indem sie ausschließlich militärische Maßnahmen der Abschreckung einschließt: „The narrowest definitions hold that deterrence refers solely to military tools of statecraft - using the threat of military response to prevent a state from taking an action“ (Mazarr 2018, S. 4). Oder sie kann weiter ausgelegt sein und den Gegner auch mit nicht-militärischen Mitteln von einer militäri‐ schen Aktion abzuhalten beabsichtigen: „A broader conception keeps the focus on threats but expands the scope to nonmilitary actions: A state can deter using threats of economic sanctions, diplomatic exclusion, or information operations“ (Mazarr 2018, S. 4). Bei diesem weiten Verständnis ist allerdings der Grat zwi‐ schen Abschreckung (jemanden von einer Aktion abhalten) und Erzwingung (jemanden zwingen, sein Verhalten zu ändern) relativ schmal (vgl. Schwarz 2005, S. 10f.). ▸ unmittelbare versus allgemeine Abschreckung: Ersteres beinhaltet die Abschreckung in einer akuten Krise: „Immediate deterrence represents more short-term, urgent attempts to prevent a speci‐ fic, imminent attack“ (Mazarr 2018, S. 4). Letzteres - und das ist der vorherrschende Typus - richtet sich gegen eine fortwäh‐ rende Bedrohung: „General deterrence is the ongoing, persistent effort to prevent unwanted actions over the long term and in noncrisis situations“ (Mazarr 2018, S. 4). 8 Frieden durch Abschreckung 216 <?page no="217"?> ▸ direkte und erweiterte Abschreckung: Direkte Abschreckung be‐ inhaltet die Abschreckung zum Schutz des eigenen Staates; erweiterte Abschreckung schließt den Schutz anderer mit ein: „Direct deterrence consists of efforts by a state to prevent attacks on its own territory […]. Extended deterrence involves discouraging attacks on third parties, such as allies or partners“ (Mazarr 2018, S. 3). Ein prominentes Beispiel für Letztere stellt der nukleare Schutzschirm der USA über die NATO-Verbündeten zu Zeiten des Kalten Krieges dar. Die Wirkung der erweiterten Abschreckung ist aber nicht unumstritten; so dürfte sich deren Glaubwürdigkeit - insbesondere in heutigen Zeiten - als gerin‐ ger erweisen. ▸ Verweigerung versus Bestrafung: Der erste Ansatz setzt auf Er‐ folgsverweigerung. Diese beruht auf der Fähigkeit, einen poten‐ ziellen Angriff militärisch erfolgreich verteidigen zu können: „Deterrence by denial strategies seek to deter an action by ma‐ king it infeasible or unlikely to succeed, thus denying a potential aggressor confidence in attaining its objectives” (Mazarr 2018, S. 2). Der zweite Ansatz basiert auf Bestrafung und Vergeltung: „Deterrence by punishment […] threatens severe penalties, such as nuclear escalation or severe economic sanctions, if an attack occurs. […] The focus of deterrence by punishment is not the direct defense of the contested commitment but rather threats of wider punishment that would raise the cost of an attack” (Mazarr 2018, S. 2). Abschreckung ist damit ein durchaus facettenreiches Phänomen. Sie kann mit verschiedenen Mitteln, in unterschiedlicher Reichweite und in diversen Konstellationen zur Geltung kommen: 8.2 Begriff und Funktionsweise der Abschreckung 217 <?page no="218"?> „Abschreckung wird daher missverstanden, wenn man sie auf die militärische Sicherheitspolitik reduziert, wie es in der Zeit des Kal‐ ten Krieges weithin üblich war, oder sie als ein typisches Element traditioneller Machtpolitik begreift, die Gewalt androht oder einsetzt, um Vorteile zu erringen und Nachteile zu vermeiden. Ihr Gehalt ist wesentlich umfassender und beruht auf dem Einsatz vielfältiger und sich ergänzender Machtmittel, nicht nur der ‚harten‘, sondern auch der ‚weichen‘ Macht der Diplomatie, mit der sie bei der Verfolgung außen‐ politischer Interessen und der Gestaltung internationaler Ordnung eng zusammenwirkt“ (Schwarz 2005, S. 11). Und auch wenn Abschreckungstheorien in den bipolaren Zeiten des Kalten Krieges häufig auf zwei Akteure beschränkt waren, kann Ab‐ schreckung zugleich in mehrdimensionalen und multipolaren Struk‐ turen erfolgen. Das erhöht die Komplexität, verändert aber nicht das Prinzip der Abschreckung. 8.3 Nukleare Abschreckung Ungeachtet der Weite des Anwendungsbereiches fokussieren viele der Vertreterinnen und Vertreter von Abschreckungstheorien - und das sowohl im akademischen als auch im politischen Feld - auf eine spezifische Form: auf die nukleare Abschreckung. Das ist insbesondere der atomaren Gefahr zu Zeiten des Kalten Krieges geschuldet. Ange‐ sichts der Zerstörungskraft der Atombombe sei - so Georg Picht (1971, S. 24) zu Hochzeiten des Ost-West-Konfliktes - die Alternative zum Frieden nicht mehr der Krieg, sondern der „biologische Untergang der Menschheit“. Das unterscheidet nukleare Abschreckung von ihren konventionellen Formen und zeigt in besonderer Weise die friedenspo‐ litischen Dilemmata eines solchen Ansatzes auf. Sie ist „wahrscheinlich 8 Frieden durch Abschreckung 218 <?page no="219"?> das einzige politische Konzept, das total versagt, wenn es nur zu 99,9 Prozent erfolgreich ist“ (Wieseltier 1984, S. 93). Wirkungen von Nuklearwaffen Atomare Waffen erzielen ihre dramatische Wirkung durch die freigesetzte Energie infolge von Kernexplosionen. Dafür sind drei Hauptzerstörungsformen verantwortlich (vgl. Altmann et al. 2017, S. 76ff.): ▸ Hitzestrahlung: Sie umfasst 35 Prozent der Zerstörung. Nach Ende der Spaltkettenbeziehungsweise Fusionsreak‐ tion heizt sich das Material der Bombe auf 10 7 bis 10 8 Grad Celsius auf und gibt diese Wärme in die Umgebung ab. „Getroffene Lebewesen und Objekte werden außen begin‐ nend verbrannt, brennbare Stoffe werden angezündet - bei Wasserstoffbomben in bis zu über 10 km Entfernung“ (Altmann et al. 2017, S. 77). ▸ Druckwelle: Sie verursacht 50 Prozent der Zerstörungs‐ kraft. Vom Feuerball geht eine Stoßwelle (schneller als Schallgeschwindigkeit) aus, verbunden mit starken Luft‐ strömungen. „Die auf getroffene Flächen ausgeübten Kräfte können Menschen und Objekte umherschleudern, Gebäude umwerfen usw. […]. Die Druckwelle kann über Lungenriss primäre Todesursache sein. Splitter von Glas‐ scheiben, die noch in großer Entfernung bersten, können als Geschosse Sekundärverletzungen hervorrufen“ (Alt‐ mann et al. 2017, S. 82). ▸ radioaktive Strahlung: Sie macht 15 Prozent der Zerstörung aus (5 Prozent Sofortstrahlung und 10 Prozent verzögerte 8.3 Nukleare Abschreckung 219 <?page no="220"?> radioaktive Strahlung). Die Strahlung resultiert aus den bei der Spaltung beziehungsweise Fusion erzeugten Neu‐ tronen sowie der Röntgen- und Gammastrahlung aus dem Feuerball. Tödliche Dosen reichen kilometerweit. „Weiter‐ hin rufen die Neutronen Reaktionen in den umliegenden Kernen hervor […]. Zusammen mit den fast ausnahmslos radioaktiven Spaltprodukten werden diese Atome bzw. Staubteilchen mit dem Aufwind der Explosion in die Luft gehoben und dann mit dem Wind weiter verbreitet“ (Alt‐ mann et al. 2017, S. 83). Die zentralen Abschreckungsvoraussetzungen gelten in gleicher Weise für die nukleare Abschreckung. Auch hier bedarf es zum einen der Fähigkeit, diese Waffen vorzuhalten. Angesichts des unermesslichen Zerstörungspotenzials erweist sich diese Voraussetzung aber nicht als trivial: Nuklearwaffen müssen in einer Weise zur Verfügung stehen, die es der Gegnerin und dem Gegner unmöglich machen, sie durch einen Erstschlag vollständig zu zerstören. Gefordert ist eine Zweitschlags‐ fähigkeit, das heißt das Potenzial, mit atomaren Waffen auf einen nuklearen Erstschlag des Gegners reagieren zu können: „Die gesicherte Fähigkeit zum nuklearen Gegenschlag gilt als das wichtigste Kriterium für nukleare Abschreckung“ (Krell 1984, S. 80; vgl. auch Langendörfer 1987, S. 127ff.). Diese lässt sich auf verschiedene Weise erreichen, beispielsweise durch die Härtung von Raketensilos, die Verteilung der Nuklearwaffen auf mehrere Trägerarten (Bomber, Landraketen, U-Boot-Raketen) oder einen vorzeitigen Start der eigenen Raketen (in der Zeit zwischen Anflug und Auftreffen der gegnerischen Spreng‐ köpfe). Insbesondere Letzteres birgt die Gefahr, durch einen Fehlalarm einen Nuklearkrieg auszulösen (vgl. Altmann et al. 2017, S. 103). Aber 8 Frieden durch Abschreckung 220 <?page no="221"?> auch prinzipiell impliziert diese Form der Unverwundbarkeit ein Di‐ lemma: Sie muss „auf Dauer funktionieren“, ohne genau zu wissen, ob sie „tatsächlich funktioniert“ (Atomwaffen A-Z 2020a). Zum anderen setzt auch nukleare Abschreckung Glaubwürdigkeit voraus. Diese Forderung stellt eines der zentralen Dilemmata dar. So lassen sich die Drohung mit und der Einsatz von Nuklearwaffen zwar unterscheiden, voneinander zu trennen sind sie dagegen nicht (vgl. Quin‐ lan 1989, S. 209). Das trifft für jede Form der Abschreckung zu; allerdings verweisen Nuklearwaffen auf die spezifische Ambivalenz dieser Strategie. Vor diesem Hintergrund lassen sich in friedenspolitischen und -ethi‐ schen Debatten um die nukleare Abschreckung drei grundlegende Positionen voneinander unterscheiden: 1. „Der Einsatz nuklearer Waffen muß stets verwerflich sein, folg‐ lich auch der Besitz zum Zwecke der Abschreckung. 2. Der Einsatz kann in bestimmten Formen und unter bestimmten Umständen legitim sein, folglich kann der Besitz gerechtfertigt werden. 3. Während der Einsatz stets als verwerflich gelten muß, kann der Besitz zum Zwecke der Abschreckung zu rechtfertigen sein“ (Quinlan 1989, S. 195). Bei allen stellen sich kritische Anfragen: Vertreterinnen und Vertreter der ersten Position müssen sich fragen lassen, wie sie es verantwor‐ ten können, den Einsatz von Atomwaffen einseitig „durch keine Gegenmacht eingeschränkte Option den Skrupellosen und Aggres‐ siven [zu] überlassen“ (Quinlan 1989, S. 196). Denn Nuklearwaffen sind entwickelt und präsent. Zwar lassen sich auch Hoffnungen auf eine atomwaffenfreie Welt in Anschlag bringen. Angesichts aktueller Entwicklungen (wie der bereits angesprochenen Renaissance der Geo‐ politik, vgl. Kapitel 6.2.1) scheint diese aber eher ferne Vision als 8.3 Nukleare Abschreckung 221 <?page no="222"?> politische Realität. Und auch der Atomwaffenverbotsvertrag von 2017 vermag es nicht, die Nuklear- und NATO-Staaten mit einzubeziehen. Die zweite Position kann das Glaubwürdigkeitsproblem nuklearer Abschreckung zwar umgehen, ist aber mit dem Problem der Verhältnis‐ mäßigkeit konfrontiert und der Frage, wie ein nuklearer Einsatz überhaupt mit einer differenzierten und verhältnismäßigen Anwendung von Ge‐ walt einhergehen kann. Selbst die Entwicklungen „kleiner“ Atomwaffen („Mini-Nukes“) können das Problem der Verhältnismäßigkeit nicht lösen, denn auch bei Atomwaffen mit geringer Sprengkraft wären „Kollateral‐ schäden an der Zivilbevölkerung infolge der Verstrahlung durch den radioaktiv verseuchten Auswurf ungeheuer groß“ (Barleon 2012, S. 141). Befürworterinnen und Befürworter der dritten Position müssen sich schließlich dem Dilemma stellen, mit Waffen zu drohen, die niemals eingesetzt werden dürfen. Nukleare Abschreckung bedarf der hinreichenden Entschlossenheit, diese im Ernstfall auch einzusetzen. Entfällt diese Handlungsoption, verfehlt Abschreckung ihre Wirkung. So liegt dieser Option die prekäre Annahme zugrunde, „durch das bewußte Eingehen von Risiken […] den Gegner zu einer bestimmten positiven Verhaltensweise anzuregen beziehungsweise ihn von spezi‐ fischen Handlungen abzuhalten“ (Senghaas 1981, S. 124). Wie sieht angesichts dieser Dilemmata die politische Praxis aus? Zu Zeiten des Kalten Krieges war die nukleare Abschreckung stets präsent, fester Bestandteil der Militärstrategien beider Hauptkontrahenten - der USA und der früheren Sowjetunion - und zentrales Charakteristikum des Ost-West-Konfliktes. Es galt das „Gleichgewicht des Schreckens“. Dieser Terminus steht umgangssprachlich für die Doktrin der Mutual Assured Destruction (MAD), das heißt der wechselseitig zugesicherten Zerstörung. Mit der MAD-Doktrin verbindet sich die (neo)realistische Logik einer Balance of Power mit dem Bestreben beider Seiten, „eine gesicherte Zweitschlagskapazität aufrecht zu erhalten“ (Krause 2015, 8 Frieden durch Abschreckung 222 <?page no="223"?> S. 4). Dabei würden sich die Parteien - so die Argumentation - nicht ge‐ genseitig angreifen, „denn in diesem Falle hätte der Angegriffene immer noch genügend verbleibende Kernwaffen, um zu einem flächendecken‐ den Gegenschlag auszuholen. Folglich würde der Angreifer gleichzeitig sein eigenes Todesurteil unterschreiben“ (Atomwaffen A-Z 2020b). Auf diese Weise sollte ein atomarer Krieg verhindert und Frieden gesichert werden. Dementsprechend kritisch wurden auch Abwehrsysteme be‐ wertet, was unter anderem 1972 zum Abschluss des ABM-Vertrages (Anti-Ballistic-Missiles) führte. Mit ihm verpflichteten sich die USA und die UdSSR, keine landesweiten Verteidigungssysteme gegen ballistische Raketen aufzubauen. So erlaubt der Vertrag jedem Vertragspartner lediglich zwei lokal begrenzte Raketenabwehranlagen. Mit dem Ende des Kalten Krieges schienen Nuklearwaffen an Bedeutung zu verlieren. So kündigte der damalige US-amerikanische Präsident Barack Obama das Ziel eines Global Zero an. Barack Obamas Prager Rede vom 5. April 2009 (Auszüge) „Ein Thema, das ganz entscheidend für die Sicherheit der Natio‐ nen ist und für Frieden in der Welt, die Zukunft der Atomwaffen im 21. Jahrhundert. Die Existenz Tausender von Atomwaffen ist das gefährlichste Erbe des Kalten Krieges. […] Der Kalte Krieg ist zu Ende gegangen. Und Tausende von diesen Waffen existieren weiter. Es ist eine seltsame Wendung der Geschichte: Die Gefahr eines weltweiten Atomkriegs hat sich verringert, das Risiko eines atomaren Angriffs ist gestiegen. Mehrere Nationen haben solche Waffen entwickelt, die Tests gehen weiter, der Handel auf dem Schwarzmarkt mit spaltbarem Material blüht. Die Technologie zum Bau einer Bombe wurde verbreitet. Die Terroristen sind entschlossen, eine solche Waffe zu kaufen, zu 8.3 Nukleare Abschreckung 223 <?page no="224"?> bauen oder zu stehlen. Und deswegen brauchen wir ein weltweites Nichtverbreitungssystem. Denn immer mehr Menschen und auch Nationen können sonst die Regeln brechen und dann könnten wir einen Punkt ohne Wiederkehr erreichen. […] Als Nuklearmacht, als einzige Atommacht, die diese Nuklearwaffe eingesetzt hat, haben die Vereinigten Staaten eine moralische Verpflichtung, hier zu handeln. Wir können das nicht alleine leisten, aber wir können führend dabei sein. Wir können das einleiten. Ich möchte heute also ganz deutlich und mit Überzeugung Amerikas Bereitschaft erklären, den Frieden und die Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen anzustreben. Ich bin nicht naiv. Das Ziel wird sich nicht rasch erreichen lassen. Vielleicht auch nicht in der Zeit meines Lebens. Es wird Geduld und Beharrlichkeit erfordern. Aber jetzt müssen wir die Stimmen jener ignorieren, die sagen, dass die Welt sich nicht ändern kann. Wir müssen darauf bestehen und sagen: Yes, we can. […] Zunächst einmal werden die Vereinigten Staaten konkrete Schritte einleiten, um zu einer Welt ohne Atomwaffen zu gelangen. Das Denken des Kalten Krieges zu beenden, dafür brauchen wir eine Reduzierung der Rolle der Nuklearwaffen in unserer eigenen nationalen Si‐ cherheitsstrategie. Andere mögen das Gleiche tun. Aber damit kein Missverständnis entsteht: Solange diese Waffen existieren, werden die USA ein sicheres und effektives Arsenal behalten, um jeden Gegner potenziell abzuschrecken und unseren Verbündeten […] zur Hilfe kommen zu können. Aber wir werden die Arbeit an der Reduzierung unseres Arsenals einleiten, unsere Gefechtsköpfe und Arsenale reduzieren. Und dafür werden wir einen neuen Vertrag zur Reduzierung strategischer Waffen in diesem Jahr mit Russland verhandeln“ (Obama 2009). 8 Frieden durch Abschreckung 224 <?page no="225"?> Von diesem Ziel scheint die Welt heute entfernter denn je: Die interna‐ tionalen Rüstungskontroll- und Abrüstungsbemühungen sind an einen Tiefpunkt angelangt: „Obwohl die Weiterentwicklung von Kernwaffen nie gestoppt wurde, entwickelte sich zwischen Ost und West eine gemeinsame Verantwor‐ tung für die Verhinderung eines atomaren Untergangs. Diese gemein‐ same Verantwortlichkeit ist mittlerweile nahezu komplett verloren gegangen“ (Thränert 2018). Die großen Nuklearmächte sind „nicht mehr auf Ausgleich bedacht“ (Thränert 2018). Ziel sei es vielmehr, „in einer auf Konkurrenz angeleg‐ ten internationalen Arena auf der Siegerseite zu sein“ (Thränert 2018). So ist die nukleare Option - auch die des Erstschlages - weiterhin Bestandteil von Militärstrategien (so in den USA, in der NATO sowie in Russland). Die Nuclear Posture Review der USA von 2018 beispielsweise sieht diese sogar für nichtnukleare Bedrohungen vor. Diese Entwick‐ lung ist zu einem Großteil der Renaissance der Geopolitik geschuldet (vgl. Kapitel 6.2.1). Mit den neuen nuklearen geopolitischen Dreiecken USA - Russland - China sowie China - Indien - Pakistan (vgl. Rudolf 2019, S. 87) sind nicht nur neue Großmachtrivalitäten erkennbar, auch kommt dem aufstrebenden China eine Schlüsselposition zu. So ist derzeit nicht nur in den USA und in Russland, sondern auch in Asien eine nukleare Aufrüstung zu verzeichnen. Auch hat die neue Struktur des internationalen Systems im 21. Jahr‐ hundert „zu Veränderungen und Erweiterungen von Abschreckungs‐ theorie und -doktrin“ (Krause 2015, S. 5) geführt. Dazu zählt unter anderem die Neubewertung der strategischen Bedeutung von Abwehr‐ systemen. So haben die Terroranschläge vom 11. September 2001 die USA unmittelbar veranlasst, aus dem ABM-Vertrag auszusteigen. Und auch Staaten mit anders gelagerten strategischen Kulturen bezie‐ 8.3 Nukleare Abschreckung 225 <?page no="226"?> hungsweise Rationalitätserwägungen - sei es der Iran mit seinem Atomprogramm und der damit verbundenen Gefahr der Entwicklung von atomaren Waffen oder aber auch die potenziell höhere Risiko‐ bereitschaft der chinesischen Führung - lassen „Möglichkeiten zur Neutralisierung der Abschreckungsmittel des Kontrahenten“ (Krause 2015, S. 6) bedeutsam werden (deterring their deterrent, vgl. Payne 2001, S. 185ff.). Ferner spielen neue technologische Möglichkeiten, die mit militärischen Fähigkeiten im Weltraum und im Cyberbereich einhergehen (vgl. Kapitel 7), eine zunehmende Rolle. Sie führen dazu, die Trennlinie zwischen atomaren und nichtatomaren Waffen immer stärker zu verwischen (vgl. Thränert 2018). 8.4 Fazit Angesichts seines Hauptziels, Stabilität im internationalen System durch eine Balance of Power zu bewahren beziehungsweise herzustel‐ len, setzt der (Neo)Realismus sehr viel stärker auf eine sicherheitspo‐ litische denn friedenspolitische Logik. In diesem Sinne konstatiert auch Ulrich Menzel (2001, S. 18): „An die Stelle der Friedenspolitik tritt die Sicherheitspolitik“ (vgl. auch Kahl und Rinke 2019, S. 68). Mit dem Fokus auf das militärische Instrument fallen dann auch Ziel und Mittel auseinander. Das wird in Abschreckungskonzeptionen - insbesondere in nuklearen - deutlich. Hierin zeigt sich ihre „Janusköpfigkeit“ (Tre‐ nin 2018b, S. 43): „Das Dilemma besteht in der fundamentalen Ungereimtheit dieser Politik: über Drohpolitik die Stabilisierung des Status quo anstreben zu wollen, während Drohpolitik allemal langfristig Stabilität untergräbt“ (Senghaas 1981, S. 119; Hervorh. im Original). 8 Frieden durch Abschreckung 226 <?page no="227"?> Frieden und Abschreckung bilden - so die dominierende Position der bundesdeutschen Friedensforschung - einen Antagonismus: 1. „weil Abschreckung ein ‚System organisierter Friedlosigkeit‘ (Senghaas 1981, S. 288) ist; 2. weil Abschreckung die Kontrahenten zwingt, permanent Mili‐ tärpotenziale, also Mittel der Kriegführung zu unterhalten - und zwar im Zustand der Kriegsbereitschaft; 3. weil bei Versagen der Abschreckung Krieg stattfindet, und zwar gegebenenfalls bis hin zur letzten Konsequenz eines allgemeinen thermonuklearen Schlagabtausches; 4. weil das vordergründig defensive Basistheorem der Abschre‐ ckungskonzeption auch die Möglichkeit zulässt, nukleare Erst‐ schlagsfähigkeit und damit Vorbereitungen für einen offensiven Angriffskrieg zu rechtfertigen; 5. weil Abschreckung ein konfrontatives Konzept ist, das eines Feindbildes bedarf und damit kooperative politische Ansätze zur gemeinsamen Friedenssicherung mit Kontrahenten und Geg‐ nern konterkariert; 6. weil Abschreckung destabilisierende Rüstungswettläufe indu‐ ziert, da der Gegner auf militärische Maßnahmen zur ‚Verbes‐ serung der Abschreckung‘ jeweils mit eigenen Maßnahmen reagiert“ (Schwarz 2019, S. 275). Damit schließt sich im Senghaas’schen Sinne die Konsequenz an: „Frieden wird es nur jenseits von Abschreckung geben“ (Senghaas 1981, S. 15 u. 289). Dieses in der Friedensforschung fast einhellige Urteil ist aber auch kritisch zu hinterfragen. Denn das, was jeder nuklearpazifistischen Position entgegensteht, ist die Verfügbarkeit der nuklearen Waffe. Das schließt auch das Potenzial zur kurzfristigen Wiedererlangung 8.4 Fazit 227 <?page no="228"?> nuklearer Fähigkeiten mit ein. So folgert der Philosoph Dieter Henrich (1990, S. 18): „Die unmittelbar überzeugende Begründung für die unbedingte Illegi‐ timität ihres Gebrauchs steht also der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit entgegen, dem absoluten Gebot durch einen Appell zur sittlichen Ein‐ deutigkeit auch ebenso unmittelbar wirkliche Geltung zu verschaffen. Und das Widerspiel beider Einsichten, um die sich gegenläufig jeweils ein Totaleindruck zur Beurteilung unserer Situation und einer grund‐ sätzlichen Handlungsperspektive ausbildet, führt in eine Antinomie, in der sich jeder Ansatz zur Besinnung zunächst einmal verfängt.“ Weiterführende Literatur: Freedman, Lawrence. 2008. Deterrence. Cambridge: Polity Press. Die‐ ser Band beleuchtet zentrale Grundlagen der Abschreckung ein‐ schließlich jüngerer Debatten im angloamerikanischen Raum. Dieter Senghaas. 1981. Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt. Der Autor kritisiert die nukleare Abschreckung als Form „organisierter Friedlosigkeit“. Seine Kritik aus Zeiten des Kalten Krieges erweist sich für viele Vertreterinnen und Vertreter der Friedensforschung bis heute als zentral. Werkner, Ines-Jacqueline und Thomas Hoppe (Hrsg.). 2019. Nukleare Abschreckung in friedensethischer Perspektive. Wiesbaden: Springer VS. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes nehmen die nu‐ kleare Abschreckung unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts in den Blick und reflektieren ihre Voraussetzungen und Risiken. 8 Frieden durch Abschreckung 228 <?page no="229"?> 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation Institutionalistische Friedensstrategien suchen den Frieden durch Ein‐ wirkung auf die Interaktion der Akteure im internationalen System zu erreichen. Prinzipiell stehen hierfür zwei Wege offen: „Frieden durch internationale Institutionen“ und „Frieden durch Völkerrecht“. Wie eng beide Zugänge zusammenhängen können, zeigt sich bei den Vereinten Nationen. Ihnen kommt bei der Friedenssicherung eine herausgehobene Position zu. Als größte internationale Organisation - gegenwärtig gehören ihr 193 Staaten an - kann sie als universalis‐ tische Institution par excellence gelten. Mit dem in der UN-Charta verankerten Gewaltverbot gelang dem Völkerrecht ein historischer Durchbruch. Dennoch sind Geist, Logik und Praxis des Krieges nicht überwunden. Und auch die jüngsten Entwicklungen zur Verhinderung beziehungsweise Beendigung massiver Menschenrechtsverletzungen - die verstärkt seit den 1990er Jahren stattfindenden humanitären mi‐ litärischen Interventionen sowie die in den 2000er Jahren in die inter‐ nationale Politik implementierte internationale Schutzverantwortung - haben bisher zu keiner Pazifizierung des internationalen Systems führen können. Die folgende Fokussierung auf die Vereinten Nationen, das völker‐ rechtliche Gewaltverbot und Wege seiner Durchsetzung stellt nur einen - aber zentralen - Ausschnitt institutionalistischer Friedensstra‐ tegien dar. Auch wenn diese sehr viel weiter zu fassen sind, lassen sich an der vorgenommenen Auswahl grundlegende Prinzipien des institutionalistischen Zugangs, seine Chancen und Hindernisse sowie aktuellen Herausforderungen aufzeigen und diskutieren. <?page no="230"?> 46 Eine supranationale Institution ist eine überstaatliche Einrichtung, die für die Bürgerinnen und Bürger der zur Institution gehörenden Staaten unmittelbar verbindliche - also nicht erst in innerstaatliches Recht zu transformierende - Normen schaffen kann. 9.1 Der institutionalistische Zugang zum Frieden Wie der neorealistische Ansatz geht auch die institutionalistische Denkschule von der Anarchie des internationalen Systems aus, in Abgrenzung zu ihm könne aber ihre Wirkung durch internationale Kooperation verringert werden. Hintergrund dieser Annahme ist die zunehmende Interdependenz, womit Staaten ihre zentralen Funktio‐ nen ohne Zusammenarbeit gar nicht beziehungsweise nur zu einem geringen Teil oder zu hohen Kosten erreichen können. Die Einsicht in die Interdependenz von Staaten lasse auch die Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen Konfliktaustrags sinken, womit zugleich die Sorge schwindet, Opfer militärischer Macht zu werden (vgl. Keohane und Nye 1977; Schimmelfennig 2017, Kap. 4; Kahl und Rinke 2019, S. 70ff.). Dazu bedarf es geeigneter Institutionen. Institutionen sind auf Dauer gestellte Norm- und Regelsysteme, „die Verhaltensmuster vor‐ schreiben, Aktivitäten beschränken und Verhaltenserwartungen be‐ stimmen“ (Brühl 2019, S. 428). Institutionen sind vielfältig: Es können internationale Organisationen sein, die über eine Rechtspersönlichkeit, ein Budget, feste Strukturen und Arbeitsteilungen verfügen und als eigenständige Akteure agieren. Sie können auf ein einzelnes Politikfeld begrenzt sein wie die NATO oder aber problemfeldübergreifend wirken wie die Vereinten Nationen oder die Europäische Union. Letztgenannte geht in ihrer Kooperation deutlich weiter. Als supranationale Institu‐ tion 46 zeichnet sie sich nicht nur durch Zusammenarbeit, sondern auch durch einen Prozess der Integration aus. Dabei lässt sich Integration idealiter 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 230 <?page no="231"?> „als Endpunkt einer Entwicklung fassen, die bei der Zivilisierung von Konflikten im Sinne einer immer weiteren Zurückdrängung gewaltsa‐ mer Konfliktaustragungsmodi beginnt und sich über die Stadien einer immer enger und gehaltvoller werdenden Kooperation zwischen gesell‐ schaftlichen und/ oder nationalen Akteuren bis zu deren Verschmelzung vorarbeitet“ (Meyers 1994, S. 58; vgl. auch Kahl und Rinke 2019, S. 72). Neben internationalen Organisationen gibt es internationale Regime. Sie sind politikfeldspezifische Institutionen, die sich durch gemein‐ same Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren auszeichnen. Im Gegensatz zu Organisationen besitzen sie keine Akteursqualität, sie können also nicht als eigenständiger Akteur auftreten. Dazu zählen beispielsweise Rüstungskontroll- und Abrüstungsregime. Darüber hinaus existieren internationale Netzwerke, die gleichfalls über proze‐ durale Regeln verfügen, im Unterschied zu internationalen Regimen aber keine inhaltlichen Regeln aufweisen. Dazu gehört unter anderem das G8-Treffen. Aber auch internationale Ordnungsprinzipien wie bei‐ spielsweise der Grundsatz der staatlichen Souveränität lassen sich unter internationale Institutionen fassen (vgl. Brühl 2019, S. 428). Internationale Institutionen weisen verschiedene friedensfördernde Funktionen auf: Zum einen stellen sie eine Plattform für Verhand‐ lungen bereit und ermöglichen Kommunikationsprozesse zwischen Konfliktparteien. Zum anderen können sie den Konfliktaustrag positiv beeinflussen, indem sie spezifische Verfahren zur Verfügung stellen. Beispielsweise setzte die KSZE zu Zeiten des Ost-West-Konflikts auf die „normative Kraft des Dauerdialogs“ (Schlotter 1995, S. 121). Und auch die UN-Charta verfügt über ein breites Spektrum an Maßnah‐ men zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten wie Verhandlungen, Untersuchungen, Vermittlungen, Vergleiche, Schiedssprüche, gericht‐ liche Entscheidungen oder auch die Inanspruchnahme regionaler Ein‐ richtungen (Art. 33). Zudem können internationale Institutionen Me‐ 9.1 Der institutionalistische Zugang zum Frieden 231 <?page no="232"?> chanismen bereitstellen, Vereinbarungen umzusetzen, die Einhaltung von Standards zu überwachen oder auch Fehlverhalten zu identifizie‐ ren und zu sanktionieren (vgl. Brühl 2011, S. 225; Meyer 2011, S. 501). Allerdings sind internationale Institutionen nicht per se friedlich; „Institutionalisierung und Friedensförderung gehen nicht zwangsläu‐ fig Hand in Hand“ (Müller 1994, S. 228). Die friedensstiftende Funktion von Institutionen könne „durch friedensgefährdende oder gerechtig‐ keitsmindernde Nebenwirkungen kompensiert oder kompromittiert“ werden (Müller 1994, S. 228). So gebe es auch Formen „antagonisti‐ sche[r] Kooperation“, die Interessengegensätze verschärfen und Kon‐ flikte zementieren. Dafür stehen insbesondere exklusive Organisatio‐ nen, die Staaten in Ingroup und Outgroup verorten und so zwischen Freund und (potenziellem) Feind differenzieren (vgl. Brühl 2011, S. 244). Nach Harald Müller (1994, S. 232ff.) müssen internationale Institutio‐ nen, um friedensfördernd wirken zu können, idealtypisch acht Bedin‐ gungen erfüllen (vgl. auch Brühl 2011, S. 244): 1. Sie müssen kooperativ ausgerichtet sein. 2. Sie müssen sowohl den Gewaltcharakter von Nationalstaaten einhegen als auch die Entstehung eines globalen Gewaltmono‐ pols, „demgegenüber die Weltgesellschaft bei Missbrauch hilflos wäre“ (Müller 1994, S. 232), verhindern können. Zentrale Kenn‐ zeichen hierfür sind Subsidiarität und Transnationalität. 3. Sie müssen inklusiv sein und keinen Akteur, dessen Interessen von den Regelungen der Institution betroffen sind, ausschließen. 4. Ihre Transferleistungen müssen allgemein zustimmungsfähig sein, das heißt den Rawlsschen Gerechtigkeitskriterien entspre‐ chen, und dürfen nicht zu einer weiteren Ausdehnung von Asymmetrien führen. 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 232 <?page no="233"?> 5. Ihre Partizipationschancen müssen fair sein. Ohne Machtres‐ sourcen zu ignorieren haben sie die regionale Repräsentation und die Mitsprache aller teilnehmenden Akteure (auch im Hin‐ blick auf die von ihnen vertretenen Menschen) zu ermöglichen. 6. Sie müssen flexibel, anpassungs- und lernfähig sein: sowohl bezüglich politikfeldspezifischer Kausalitäten und Zweck-Mit‐ tel-Relationen als auch im Hinblick auf systemexterne Heraus‐ forderungen. 7. Sie müssen empathiefähig und in der Lage sein, ein wechselseiti‐ ges Verständnis für Interessen, Empfindlichkeiten und Wertori‐ entierungen der jeweils anderen Seite zu entwickeln. 8. Schließlich müssen sie sich am Wohl des einzelnen Menschen orientieren. Diese Bedingungen haben eine zentrale Funktion: „die konfligieren‐ den Interessen der Akteure derart zu kanalisieren, daß friedliche Konfliktbehandlung gefördert wird“ (Müller 1994, S. 232). Damit zielen internationale Institutionen auf eine Änderung des Kontextes der Interaktion der Akteure im internationalen System (vgl. Czempiel 1998, S. 83). Neben internationalen Institutionen gibt es einen zweiten Ansatz, der im institutionalistischen Sinne bei der Interaktion des internatio‐ nalen Systems ansetzt: die Verrechtlichung der internationalen Bezie‐ hungen. Dafür steht auch die Kurzformel: „Frieden durch Recht“. Eine globale Friedensordnung wird als Rechtsordnung verstanden, womit dem Völkerrecht und seinen Institutionen ein zentraler Stellenwert zukommt. Ihnen sind wichtige friedensstiftende Funktionen inhärent: Erstens kann das Völkerrecht dazu beitragen, die Interaktionen von staatlichen Akteuren, ihre Vereinbarungen sowie die sich daraus ent‐ wickelnden Stadien des Friedensprozesses zu kodifizieren. In diesem Kontext haben sich auch Institutionen zur internationalen Konflikt‐ 9.1 Der institutionalistische Zugang zum Frieden 233 <?page no="234"?> bearbeitung etabliert, die häufig analog zum innerstaatlichen Recht geschaffen wurden. Zweitens entfaltet es seine friedensfördernde Wir‐ kung durch seine Rechtsprechung. Diese ist - so Ernst-Otto Czempiel (1998, S. 85) - „die höchste und friedlichste Form der Konfliktregelung“, sie „[verbindet] Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit miteinander“ und stellt damit „die andere, dem Krieg entgegengesetzte Seite des Konti‐ nuums der Konfliktlösungen“ dar. Und drittens vermag das Völkerrecht durch die Weiterentwicklung von Normen die Entstehung beziehungs‐ weise Eskalation von Konflikten zu verhindern. Dabei reagiert es auch auf den Gestaltungsbedarf neuer Problemlagen in der internationalen Politik (vgl. Czempiel 1998, S. 85ff.; auch Brühl 2011, S. 229f.). Die Verrechtlichung des internationalen Systems erweist sich aber auch als voraussetzungsreich und bewegt sich häufig jenseits von Idealvorstellungen. So kann das Völkerrecht nur das festschreiben, „was von den Staaten als Teilnehmern des Systems als verbindlich angesehen wird“ (Czempiel 1998, S. 85). 9.2 Das völkerrechtliche Gewaltverbot und seine Durchsetzung Das völkerrechtliche Gewaltverbot ist erst jüngeren Datums. Histo‐ risch hat sich das Völkerrecht vom bellum iustum zum ius contra bellum fortentwickelt. Mit der Lehre vom gerechten Krieg wurden Maßstäbe zur Bewertung von Kriegen, die zu jener Zeit als ein legitimes Mittel der Politik galten, entwickelt (vgl. Werkner 2018, S. 36ff.). Dabei differenziert die Lehre zwischen dem Recht zum Kriegführen (ius ad bellum) und der rechtmäßigen Kriegsführung (ius in bello). Das ius ad bellum umfasst die Kriterien legitime Autorität, gerechter Grund, rechte Absicht, letztes Mittel, Aussicht auf Erfolg und Verhältnismä‐ 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 234 <?page no="235"?> 47 Das humanitäre Völkerrecht regelt die Art und Weise des Einsatzes militärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen. Es dient „dem Schutz von Menschen, die an bewaffneten Konflikten beteiligt oder von diesen betroffen sind und deren fundamentale Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum) beeinträchtigt werden“ (Krajewski 2020, S. 237). ßigkeit der Folgen. Das ius in bello beinhaltet die beiden Kriterien Verhältnismäßigkeit der Mittel und Unterscheidung in Kombattanten und Nicht-Kombattanten. Ziel der Lehre vom gerechten Krieg war es - entgegen mancher Kritik - nie, Kriege zu legitimieren und Herrscher in ihrem kriegerischen Tun zu bestärken, sondern durch das Insistieren auf bestimmte Kriterien - die alle in ihrer Gesamtheit erfüllt sein müssen - dazu beizutragen, Kriege zu begrenzen. Zeitlich reicht die bellum iustum-Lehre bis in die Antike, bis zu Platon und Aristoteles, zurück. Mit Hugo Grotius (1583-1645) hat sie Eingang in das moderne Völkerrecht gefunden. Zentral ist bei ihm der Gedanke der grundsätzlichen Gleichheit der Kriegsparteien - ein Kennzeichen, das auch das heutige humanitäre Völkerrecht 47 prägt. Die beiden Weltkriege bewirkten einen Bewusstseinswandel. Mit dem 1919 gegründeten Völkerbund wurde das erste System kollektiver Sicherheit geschaffen. Dieses sah ein partielles Kriegsverbot vor (Art. 11 Völkerbundsatzung). So sollten zwischenstaatliche Konflikte durch Verfahren der friedlichen Streitbeilegung gelöst werden (Art. 12 ff. Völkerbundsatzung). Erst wenn diese Bemühungen fehlschlugen, durf‐ ten die Mitgliedsstaaten nach Ablauf von drei Monaten militärische Maßnahmen ergreifen. Dass der Völkerbund Kriege letztlich nicht verhindern konnte, lag zum einen an der „Halbherzigkeit bezüglich des Gewaltverbots“ (Heintze 2019, S. 755), zum anderen an dem Umstand, dass der Völkerbund zu keiner Zeit alle Großmächte der damaligen Zeit umfasste (vgl. Heintze 2019, S. 755). Einen weiteren Schritt auf 9.2 Das völkerrechtliche Gewaltverbot und seine Durchsetzung 235 <?page no="236"?> dem Weg zum Gewaltverbot stellte der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 dar. Das ursprünglich bilaterale Abkommen zwischen Frankreich und den USA über einen Gewaltverzicht stand allen Staaten offen, so dass die meisten Staaten diesem beitraten und ein universelles Völkerrecht entstehen konnte. Es enthielt erstmals ein Verbot der Anwendung kriegerischer Gewalt. Nach Artikel 2 sollte die Konfliktbeilegung aus‐ schließlich mit friedlichen Mitteln erfolgen. Dass auch der Briand-Kel‐ logg-Pakt fehlschlug war vor allem dem fehlenden Mechanismus zur Durchsetzung des Kriegsverbots geschuldet. Hinzu kam, dass das Abkommen zwar den Krieg, nicht aber bereits Angriffsakte und Grenzverletzungen verbot (vgl. Heintze 2019, S. 756; Brühl 2011, S. 231). Zu einer „kopernikanischen Wende“ und einem Ende des ius ad bellum kam es 1945 mit der Gründung der Vereinten Nationen. An‐ gesichts der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges galt es, „künftige Generationen von der Geißel des Krieges zu befreien“ und alle An‐ strengungen zu unternehmen, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“ (Präambel der UN-Charta). Ausgangspunkt der UN-Charta ist die souveräne Gleichheit aller Mitgliedsstaaten (Art. 2 Abs. 1 UN-Charta). Sie verpflichten sich, Streitigkeiten durch friedliche Mittel beizulegen (Art. 2 Abs. 3 UN-Charta). In diesem Kontext enthält die UN-Charta - und zwar erstmals - ein universelles Verbot der Androhung und Anwendung militärischer Gewalt in den zwischen‐ staatlichen Beziehungen (Art. 2 Abs. 4 UN-Charta). Beide Prinzipien - das Gewaltverbot und das Gebot der friedlichen Streitbeilegung - stehen in einem engen systematischen Zusammenhang; sie stehen spiegelbildlich zueinander (vgl. Krajewski 2020, S. 187). 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 236 <?page no="237"?> Das Gewaltverbot in der Charta der Vereinten Nationen „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden“ (Art. 2 Abs. 3). „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehun‐ gen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“ (Art. 2 Abs. 4). Die Charta der Vereinten Nationen kennt nur zwei Ausnahmen vom Gewaltverbot: Die erste Ausnahme umfasst den Einsatz militärischer Gewalt im Rahmen einer vom Sicherheitsrat beschlossenen Zwangs‐ maßnahme nach Kapitel VII der UN-Charta. So kann der Sicherheitsrat bei einer Bedrohung oder einem Bruch des Weltfriedens die Mitglieds‐ staaten ermächtigen, alle notwendigen Maßnahmen - darunter auch militärische - zu ergreifen, um den Frieden zu sichern beziehungsweise wiederherzustellen. Dabei gelten militärische Mittel als Ultima Ratio; sie dürfen erst angeordnet werden, wenn nichtmilitärische Maßnah‐ men keinen Erfolg zu zeitigen versprechen (vgl. Heintze 2019, S. 763; Krajewski 2020, S. 188). 9.2 Das völkerrechtliche Gewaltverbot und seine Durchsetzung 237 <?page no="238"?> Ausnahmen vom Gewaltverbot (I): Art. 42 UN-Charta (Auszug) „Ist der Sicherheitsrat der Auffassung, dass die in Artikel 41 vorgesehenen Maßnahmen unzulänglich sein würden oder sich als unzulänglich erwiesen haben, so kann er mit Luft-, See- und Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen.“ Die zweite Ausnahme umfasst im Falle eines bewaffneten Angriffs das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta - ein Recht, das begrenzt ist und nur solange gilt, bis der Sicherheitsrat die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Es versteht sich „angesichts der Primärverantwortlichkeit des Sicherheitsrates als subsidiärer ‚Notbehelf ‘“ (Krajewski 2020, S. 223). Ausnahmen vom Gewaltverbot (II): Art. 51 UN-Charta (Auszug) „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten An‐ griffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Si‐ cherheitsrat sofort anzuzeigen.“ 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 238 <?page no="239"?> Wie ausgeführt verbinden die Vereinten Nationen das Gewaltver‐ bot mit Mechanismen seiner Durchsetzung; der Sicherheitsrat dient dabei als zentrale Sanktionsinstanz. Diese Konstruktion stellt eine Konsequenz aus dem Scheitern des Völkerbundes dar. Dennoch: Die Vereinten Nationen sind weit davon entfernt, dem Anspruch ihrer Charta gerecht zu werden. Häufig ist der Sicherheitsrat durch poli‐ tische Interessengegensätze seiner Mitglieder - insbesondere seiner fünf ständigen Mitglieder - blockiert und bleibt ungeachtet seiner Verpflichtung auf das Völkerrecht ein vorrangig politisches Gremium. So konstatiert Ernst-Otto Czempiel (1998, S. 107): „Das Völkerrecht ist und bleibt ein Konsensrecht, das darauf angewiesen ist, von den beteiligten Staaten akzeptiert zu werden. Seine Friedens‐ leistung ist nur so groß, wie die Systemmitglieder dies zulassen. Bei ihnen liegt daher die Entscheidung darüber, ob und in welchem Maße das Völkerrecht den Frieden voranbringen kann.“ 9.3 Humanitäre militärische Interventionen Mit den 1990er Jahren gerieten humanitäre militärische Interventionen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Sie haben kontroverse Debatten entfacht. Sie stehen in Verdacht, zentrale völkerrechtliche Normen wie das Souveränitätsprinzip, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, vor allem aber auch das Gewaltverbot - die größte historische Errungenschaft der Vereinten Nationen - infrage zu stellen oder zumindest zu schwächen. Zugleich wurden völkerrechtlich ver‐ bindliche Menschenrechtsnormen geschaffen, die durch internationale Gremien geschützt werden (internationaler Menschenrechtsschutz). Dafür steht beispielsweise die Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UN-Generalversammlung. Berechtigen 9.3 Humanitäre militärische Interventionen 239 <?page no="240"?> nun - so die grundlegende Frage - massive Menschenrechtsverletzun‐ gen in einem Staat andere Staaten oder internationale Organisationen zur militärischen Gewaltanwendung? Der Begriff der humanitären militärischen Interventionen „Als humanitäre Intervention wird […] der Einsatz von Waffen‐ gewalt verstanden, mit dem schwerste Menschenrechtsverlet‐ zungen wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlich‐ keit oder andere schwere humanitäre Krisen unterbunden oder verhindert werden sollen, ohne dass der betroffene Staat diesem Einsatz zustimmt. Abzugrenzen ist die humanitäre Intervention somit zunächst von der Intervention auf Einladung und von hu‐ manitären Aktionen ohne Gewaltanwendung (Krajewski 2020, S. 225, Hervorh. im Original). Völkerrechtlich wird das Recht zu humanitären militärischen Inter‐ ventionen mit Kapitel VII der UN-Charta begründet (vgl. Krajewski 2020, S. 226). Danach können schwerste Menschenrechtsverletzungen als eine Bedrohung des Friedens im Sinne von Artikel 39 UN-Charta gelten. Deren Maßnahmen bedürfen dann wie alle Kapitel VII-Maß‐ nahmen der Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates. Kontrovers debattiert wird dagegen die Frage, ob in Ausnahme‐ situationen auch ohne eine Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates gehandelt werden kann - gerade in Fällen, in denen sich der Sicher‐ heitsrat als handlungsunfähig oder -unwillig erweist und es gilt, Mas‐ saker und Genozid zu stoppen. Exemplarisch für diese Debatte steht der Einsatz der NATO 1999 im Kosovo. Der UN-Sicherheitsrat bewertete zwar die Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen im Kosovo 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 240 <?page no="241"?> durch serbische Sicherheitskräfte als eine Gefahr für den Frieden in der Region, erteilte aber angesichts der Haltungen von Russland und China keine Ermächtigung zu einem militärischen Einsatz. Da eine weitere Verschärfung der Situation im Kosovo absehbar war, entschied sich die NATO zu Luftangriffen gegen Serbien. Der Einsatz der NATO im Kosovo (1999) 1989 hob der damalige jugoslawische Präsident Slobodan Milo‐ ševiċ die Autonomie des Kosovo auf, entmachtete das kosova‐ rische Regionalparlament und führte gezielte Umsiedlungspro‐ gramme durch, um Serben im Kosovo anzusiedeln. Es kam zu systematischen Menschenrechtsverletzungen (Enteignungen, Vertreibungen, Massaker). Mit der Gründung der Befreiungsar‐ mee des Kosovo (UÇK) begann 1998 der Krieg um die Kontrolle des Kosovo. Internationale Bemühungen führten zum Vertrag von Rambouillet, einem Friedensvertrag zwischen Jugoslawien und der politischen Führung der Kosovo-Albaner. Als Miloševiċ diesen Vertrag nicht unterzeichnete, griff die NATO ein (24. März - 10. Juni 1999). Ziel des NATO-Einsatzes war es, die serbische Regierung zum Abzug ihrer Armee aus dem Kosovo zu zwingen, um weitere serbische Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Im Kontext des Kosovoeinsatzes ist diese Debatte um das rechte Verhältnis von Politik, Recht und Moral geführt worden (vgl. Werkner 2010, S. 142ff.). So sei eine zunehmende Diskrepanz von Moral und 9.3 Humanitäre militärische Interventionen 241 <?page no="242"?> 48 Neben dieser grundsätzlichen Debatte spielt auch das Kriterium der rechten Absicht mit hinein. So sind humanitäre Motive häufig auch nur ein Vorwand für politische Zwecke. Recht zu beobachten. 48 Nach dem Staats- und Verfassungsrechtler Ulrich Preuß (2000, S. 136) stellten die NATO-Aktionen in Jugoslawien den Versuch dar, unter Berufung auf die Legitimität einer universalen Moral die Legalität der bestehenden rechtlichen Ordnung zu relativie‐ ren und diese, zumindest vorübergehend, außer Kraft zu setzen. Der Soziologe Ulrich Beck (2000, S. 234) beschreibt die Entwicklung in analoger, durchaus pointierter Weise: „An die Stelle des in der national‐ staatlichen ersten Moderne geltenden Grundsatzes Völkerrecht bricht Menschenrecht tritt der in seinen Folgen noch undurchdachte, weltge‐ sellschaftliche Grundsatz der zweiten Moderne: Menschenrecht bricht Völkerrecht.“ Krieg sei dann - so Beck (2000, S. 236) - nicht mehr im Clausewitzschen Sinne eine Fortsetzung der Politik, sondern der Moral mit anderen Mitteln. Auch Jürgen Habermas (1999) argumentiert im Hinblick auf den Kosovoeinsatz der NATO: „[W]eil der Sicherheitsrat blockiert ist, kann sich die NATO nur auf die moralische Geltung des Völkerrechts berufen - auf Normen, für die keine effektiven, von der Völkergemeinschaft anerkannten Instanzen der Rechtsanwendung und -durchsetzung bestehen“ und folgert, die Menschenrechtspolitik sei „angesichts des unterinstitutionalisierten Weltbürgerrechts zum bloßen Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand, den sie zugleich befördern will, genötigt“ - eine völkerrechtlich durchaus streitbare Position. Humanitäre militärische Interventionen sind genau in diesem Span‐ nungsverhältnis zwischen Legalität und Legitimität zu verorten. Auf der einen Seite sind die Staaten im Sinne der Legalität an das Völker‐ recht als geltendes Recht gebunden. Andererseits betrachten Staaten es aber auch als moralisch geboten und folglich legitim, im Falle massiver 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 242 <?page no="243"?> Menschenrechtsverletzungen einzugreifen und - notfalls auch ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates - militärische Gewalt anzuwen‐ den. Im Unterschied zur formalen Gesetzmäßigkeit der Legalität zielt Rechtmäßigkeit im Sinne der Legitimität auf die Einhaltung bestimm‐ ter Standards und Wertvorstellungen, im Kontext der humanitären militärischen Interventionen auf den Schutz der Menschenrechte. So firmiert der Kosovoeinsatz auch unter dem Label „nicht legal, aber legitim“. Bei dieser Gegenüberstellung geht es vor allem um das Verhältnis von Souveränität und Menschenrechten. Das ergibt sich bereits aus dem Begriff der humanitären militärischen Intervention. In der poli‐ tischen Philosophie der internationalen Beziehungen lassen sich dies‐ bezüglich zwei idealtypische Grundkonzeptionen unterscheiden: eine völkerrechtlich-institutionalistische und eine menschenrechtlich-indi‐ vidualistische (vgl. Kersting 1998, S. 34ff.). Beim völkerrechtlich-insti‐ tutionalistischen Ansatz spielen die Staaten, die als Rechts- und Pflicht‐ subjekte auftreten, eine zentrale Rolle. Die Innerstaatlichkeit erweist sich in diesem Konzept als eigenständiger normativer Bereich, womit der Souveränität ein bedeutender Stellenwert zukommt. Menschen‐ rechtliche Theoriekonzeptionen hingegen stellen das Individuum in den Mittelpunkt. Dabei atomisiert der individualistische Ansatz das Völkerrecht und ersetzt es durch ein Weltbürgerrecht, verbunden mit einer „radikalen Depotenzierung einzelstaatlicher Souveränität“ (Kersting 1998, S. 35). Diese Konzeption erfordert im Grunde eine Revision des klassischen Nicht-Interventionismus des gegenwärtigen Völkerrechts zulasten des Prinzips der Nicht-Einmischung in die in‐ neren Angelegenheiten und der staatlichen Selbstbestimmung. Damit sind interventionistische Positionen stets von souveränitätstheoreti‐ schen Überzeugungen und theoriekonzeptionellen Entscheidungen abhängig, die sich letztlich auf das grundlegende Verständnis des 9.3 Humanitäre militärische Interventionen 243 <?page no="244"?> 49 Dieser Abschnitt stützt sich auf Werkner (2019d). Verhältnisses von Recht und Moral zurückführen lassen und historisch ihre Wurzeln in der Gegenüberstellung von Naturrecht und Rechtspo‐ sitivismus haben. 9.4 Die internationale Schutzverantwortung Zu einer Weiterentwicklung kam es mit der internationalen Schutzver‐ antwortung (Responsibility to Protect, R2P), die wie kaum ein anderes Konzept in nur kurzer Zeit Eingang in die internationale Politik gefun‐ den hat. 49 Entwickelt wurde es durch die von der kanadischen Regie‐ rung eingesetzte unabhängige Kommission International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS 2001). Ausgangspunkt waren die Massaker in Ruanda 1994 und Srebrenica 1995, verbunden mit Überlegungen, Menschenrechtsverletzungen in den Fokus des ansonsten stark staatsbezogenen Völkerrechts zu rücken. Völkermord in Ruanda (1994) Mit dem bis heute ungeklärten Mord am ruandischen Präsiden‐ ten Juvénal Habyarimana begann am 6. April 1994 ein Völker‐ mord, dem in nur 100 Tagen bis zu einer Million Menschen - darunter etwa 800.000 Tutsi und 200.000 moderate Hutu - zum Opfer fielen. Diese Gewalteskalation kam nicht überraschend. Bereits seit Jahrzehnten herrschten Spannungen zwischen der Hutu-Mehrheit und der Tutsi-Minderheit, deren Wurzeln bis in die koloniale Geschichte Ruandas zurückreichen. Obwohl UN-Truppen vor Ort waren (Mission UNAMIR), verhinderten 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 244 <?page no="245"?> sie den Genozid nicht. Die stationierten Blauhelme besaßen kein Mandat für ein militärisches Eingreifen und die internationale Staatengemeinschaft vermochte es nicht, auf diese Situation zu reagieren und notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Massaker in Srebrenica 1995 Am 11. Juli 1995 nahm die bosnisch-serbische Armee unter General Ratko Mladić die Stadt Srebrenica ein - ein Ort im Osten von Bosnien und Herzegowina nahe der Grenze zu Serbien und Zufluchtsort für bosnische Muslime. In den folgenden Tagen wurden 7.000 muslimische Männer und Jungen im wehr‐ fähigen Alter selektiert, hingerichtet und in Massengräbern verscharrt. Dieses Massaker gilt als das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Dabei hatten die Vereinten Nationen das Gebiet zur UNO-Sicherheitszone erklärt und niederländische UN-Truppen dort stationiert. Ähnlich wie in Ruanda konnten auch sie nur zuschauen; weder das UN-Mandat noch die Ausrüstung reich‐ ten aus, einzugreifen und den Genozid zu stoppen. Das Konzept der internationalen Schutzverantwortung hat die Kon‐ troversen zwischen dem souveränitäts- und menschenrechtsbasierten Ansatz nicht vollständig auflösen können; mit ihm ist es aber gelungen, die gegensätzlichen Positionen zueinander in Beziehung zu setzen. Im Mittelpunkt des ICISS-Berichtes steht die Neubestimmung des Souve‐ ränitätsbegriffs. Danach beinhalte staatliche Souveränität nicht allein die Unabhängigkeit (Nichteinmischung in die inneren Angelegenhei‐ ten) und Selbstbestimmung von Staaten, sondern müsse sich zugleich an der Souveränität seiner Bürgerinnen und Bürger messen lassen. Das 9.4 Die internationale Schutzverantwortung 245 <?page no="246"?> schließe den Schutz der Bevölkerung mit ein. Sind Staaten nicht in der Lage oder willens, dem Schutz ihrer eigenen Bevölkerung nachzukom‐ men, gehe diese Verantwortung an die internationale Gemeinschaft über. Dieser von der Kommission neu gefasste Souveränitätsbegriff basiert auf dem Human Security-Ansatz, er stellt „den Menschen in den Mittelpunkt und macht ihn zum Maßstab internationaler Politik“ (Kursawe 2012, S. 35). Der ICISS-Bericht benennt drei Teilverantwortlichkeiten: die Präven‐ tion (Responsibility to Prevent), die Reaktion (Responsibility to React) und den Wiederaufbau (Responsibility to Rebuild). Im Gegensatz zu den humanitären militärischen Interventionen wird ein weiter Ansatz der Krisen- und Konfliktbearbeitung verfolgt. Auch wenn öffentliche Debatten eher selten darauf Bezug nehmen, gilt Gewaltprävention als die vorrangige Aufgabe und Verpflichtung. Auch im Falle der Responsibility to React, die erst eintritt, wenn die Prävention versagt hat, sind zunächst Zwangsmaßnahmen jenseits militärischer Gewalt vorgesehen wie fi‐ nanzielle Sanktionen, Zugriffssperren, das Einfrieren von Bankkonten oder auch Waffenembargos und die Einstellung militärischer Unterstüt‐ zungsprogramme. Militärische Interventionen sieht das Konzept der internationalen Schutzverantwortung nur in Ausnahmesituationen - bei Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlich‐ keit und ethnischen Säuberungen - als Ultima Ratio vor. Mittlerweile ist das Konzept der internationalen Schutzverantwor‐ tung auch in Dokumenten der Vereinten Nationen verankert (vgl. u. a. Haedrich 2012, S. 26f.; Loges 2013, S. 19ff.). Zunächst fand es Aufnahme im High Level Panel Report von 2004: „Wir unterstützen die sich herausbildende Norm, der zufolge eine kollektive internationale Schutzverantwortung besteht, die vom Sicher‐ heitsrat wahrzunehmen ist, der als letztes Mittel eine militärische Intervention genehmigt, falls es zu Völkermord und anderen Massen‐ 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 246 <?page no="247"?> tötungen, ethnischer Säuberung oder schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht kommt und souveräne Regierungen sich als machtlos oder nicht willens erwiesen haben, diese zu verhindern“ (UN-Dok. A/ 59/ 565 vom 2. Dezember 2004, Art. 203). Auf dem Weltgipfel der Vereinten Nationen 2005 ist die Responsibility to Protect von den Staats- und Regierungschefs einstimmig verabschiedet worden (UN-Dok. A/ RES/ 60/ 1 vom 24. Oktober 2005). Die zentralen Bestimmungen finden sich in den Artikeln 138 und 139. Auszüge aus der Resolution des Weltgipfels von 2005 (UN-Dok. A/ RES/ 60/ 1) 138. Jeder einzelne Staat hat die Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethni‐ scher Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. […] Die internationale Gemeinschaft sollte gegebenenfalls die Staaten ermutigen und ihnen dabei behilflich sein, diese Verant‐ wortung wahrzunehmen, und die Vereinten Nationen bei der Schaffung einer Frühwarnkapazität unterstützen. 139. Die internationale Gemeinschaft hat durch die Vereinten Nationen auch die Pflicht, geeignete diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel nach den Kapiteln VI und VIII der Charta einzusetzen, um beim Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Ver‐ brechen gegen die Menschlichkeit behilflich zu sein. In diesem Zusammenhang sind wir bereit, im Einzelfall und in Zusammen‐ arbeit mit den zuständigen Regionalorganisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, 9.4 Die internationale Schutzverantwortung 247 <?page no="248"?> falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölke‐ rung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. […] Eine Stärkung erfuhr die internationale Schutzverantwortung, als der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon 2007 Francis Deng zum Sonderberater zur Verhinderung von Völkermord und 2008 Edward C. Luck zum Sonderberater für die Responsibility to Protect ernannte. In seinem Bericht über die „Umsetzung der Schutzver‐ antwortung“ (UN-Dok. A/ 63/ 677 vom 12. Januar 2009) konkretisierte er das Konzept der R2P und beschrieb die erforderlichen Maßnahmen seiner Implementierung. Dies erfolgte - in Anlehnung an die Artikel 138 und 139 der Resolution des Weltgipfels (UN-Dok. A/ RES/ 60/ 1 vom 24. Oktober 2005) - im Rahmen einer Drei-Säulen-Strategie, die erstens die Schutzverantwortung des Staates, zweitens internationale Hilfe und Ka‐ pazitätsaufbau sowie drittens die rechtzeitige und entschiedene Reaktion der internationalen Gemeinschaft enthält. Ein wesentlicher Fokus liegt dabei auf der Schaffung einer Frühwarnkapazität. Ein Vergleich zwischen dem ICISS-Bericht und der Umsetzung der in‐ ternationalen Schutzverantwortung im Rahmen der Vereinten Nationen lässt Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede erkennen. Als zentral erweist sich der breite Ansatz, insbesondere die herausgehobene Rolle der Prävention. Allerdings wurde der von der kanadischen Kommission vorgeschlagene dritte Teil der Schutzverantwortung - die internationale Verantwortung für den Wiederaufbau (Responsibility to Rebuild) - nicht in die Dokumente der Vereinten Nationen übernommen. Hier gab es Bedenken insbesondere von Ländern des Südens, die darin die Gefahr einer Dominanz westlicher Normsetzung und eines „Rückfall[s] in kolo‐ 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 248 <?page no="249"?> 50 Hier bedient sich der ICISS-Bericht der Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg. Danach müssen sechs Kriterien erfüllt sein: legitime Autorität, gerechter Grund, rechte Absicht, letztes Mittel, Verhältnismäßigkeit der Mittel sowie Aussicht auf Erfolg (vgl. ICISS 2001, S. 32). 51 Diesbezüglich machte die Kommission weitreichende Vorschläge, u. a. zur Einbeziehung regionaler Organisationen, zur Möglichkeit der „kon‐ struktiven Enthaltung“ im UN-Sicherheitsrat oder zur Einbeziehung der UN-Generalversammlung. niale Bevormundung“ sahen (Justitia et Pax 2015, S. 3). Auch finden sich weder die konkreten Kriterien für militärische Interventionen 50 noch die Vorschläge der Kommission bei einer Blockierung des UN-Sicherheits‐ rates 51 in den UN-Dokumenten wieder. Diese heben unverändert auf die zentrale Stellung des UN-Sicherheitsrates ab. Ein weiterer Unterschied besteht im Anwendungsspektrum. Die Responsibility to Protect greift - entsprechend den UN-Dokumenten - in vier konkreten Fällen: bei Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie ethnischen Säuberungen. Der ICISS-Bericht bezog noch einen weiteren Tatbestand ein: dramatische Natur- oder Umweltkatastrophen (vgl. ICISS 2001, S. 33). Dieser fand bei der internationalen Verankerung des Konzepts jedoch keine Berücksichtigung. So wird häufig auch von einer „R2P-lite“ gesprochen (u. a. Weiss 2006, S. 750; Krause und Staack 2019, S. 645). Welchen völkerrechtlichen Status besitzt nun die Responsibility to Protect? Vielfach ist von einer „emerging norm“ beziehungsweise einer in „Norm im Entstehen“ die Rede. Diese Einschätzung ist nicht unumstritten. Politische, rechtliche und ethische Debatten zeigen sich hier durchaus gespalten (vgl. u. a. auch Staack und Krause 2015). Während Ban Ki-moon in seinem Bericht von 2009 betont: „Hervorzuheben ist, dass die Bestimmungen der Ziffern 138 und 139 des Gipfelergebnisses fest in den anerkannten Grundsätzen des Völker‐ 9.4 Die internationale Schutzverantwortung 249 <?page no="250"?> rechts verankert sind. Sowohl nach Völkervertragsrecht als auch nach Völkergewohnheitsrecht sind die Staaten verpflichtet, Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhü‐ ten und zu bestrafen“ (UN-Dok. A/ 63/ 677 vom 12. Januar 2009), kritisiert beispielsweise der Politikwissenschaftler Christopher Daase (2013), dass „quasi-rechtliche Rechtfertigungsstrategien für Maßnah‐ men ermöglicht [werden], die stricto sensu völkerrechtswidrig sind“. So gebe die Rede von der „emerging norm“ vor, „die Kluft zwischen Legitimität und Legalität zu schließen“, womit die Grenze zwischen moralischer und rechtlicher Normativität zulasten der Autorität beider verschwimme. Auch jüngste friedensethische Debatten nehmen hier Differenzierungen vor; sie verweisen auf den vorrangig politisch-ethi‐ schen Charakter der R2P: „Das Konzept nimmt völkerrechtliche Normen auf, gibt aber auch Gelegenheit, das Völkerrecht weiterzuentwickeln. Es bewegt sich dem‐ entsprechend auf der Ebene politischer Normativität und stellt eine ‚rechtsethische Überlegung‘ dar, die zur Bearbeitung ‚politischer Auf‐ gaben‘ motiviert“ (Marauhn 2019, S. 145; vgl. auch Hoppe 2019, S. 40f.; Krause 2019, S. 107). In diesem Sinne sei die internationale Schutzverantwortung zwar ein „normatives Konzept, aber keine völkerrechtliche Norm“ (Marauhn 2019, S. 144). In der politischen Praxis kam das Konzept der R2P jedenfalls bisher nur sehr selektiv und auch eher restriktiv zur Anwendung, zumeist in Form seiner ersten Säule, das an die Verantwortung des betreffenden Staates, seine Bevölkerung zu schützen, appelliert, und weniger als Aufforderung der internationalen Staatengemeinschaft, ihrer Schutz‐ verantwortung nachzukommen (vgl. Hoppe und Schlotter 2017, S. 694). Dazu hat zu einem Großteil auch der Einsatz in Libyen 2011 - die 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 250 <?page no="251"?> erste militärische Intervention, die explizit mit der Responsibility to Protect gerechtfertigt wurde - beigetragen. Dieser Einsatz galt mit dem verfolgten Regimewandel nicht nur als negativer Präzedenzfall einer (zu) weiten Auslegung des UN-Mandats, sondern hat vor allem das prinzipielle Missbrauchspotenzial des Konzepts der internationalen Schutzverantwortung offen zutage treten lassen. Die Libyen-Intervention 2011 In Reaktion auf die sich verschärfende Situation des Bürger‐ krieges in Libyen verabschiedete der UN-Sicherheitsrat am 17. März 2011 die Resolution 1973. In dieser autorisierte der Sicher‐ heitsrat erstmals ein militärisches Eingreifen in einen inneren Konflikt im Namen der Responsibility to Protect. Die Mitglieds‐ staaten wurden ermächtigt, „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen“, die libysche Zivilbevölkerung zu schützen und eine Flugverbotszone einzurichten. Nachdem die NATO (vor allem unter französischer und britischer Beteiligung) die Kon‐ trolle über den Luftraum erreicht hatte, setzte sie ihre Angriffe auf militärische Ziele in Libyen fort, um die oppositionellen libyschen Rebellen im Kampf gegen die Regierungstruppen von Muammar al-Gaddafi zu unterstützen. Dabei zielte der NATO-Einsatz mit dem Sturz Gaddafis im August 2011 auf einen Regimewechsel und überzog damit - so die zentrale Kritik - das UN-Mandat. Dieses Vorgehen hatte Folgen: So scheiterte beispielsweise ein westlicher Resolutionsentwurf zu Syrien im Oktober 2011 mit dem expliziten Verweis Russlands, dass das Eingreifen der NATO den Bürgerkrieg in Libyen verschärft habe und sich dieses westliche Vorgehen nicht wiederholen dürfe. 9.4 Die internationale Schutzverantwortung 251 <?page no="252"?> Neben diesen Bedenken stellt sich mit Thomas Hoppe (2019, S. 50) aber auch die ethisch entscheidende Frage, „welche Aussichten bestehen, Menschen wirksam zu schützen und eine Ordnung zu errichten, die weiteren Gräueltaten vorbeugen soll, wenn zugleich diejenigen Akteure, ohne deren maßgebliches Zutun eine interventionsbedürftige Situation nicht entstanden wäre, ihre Macht und die damit verbundene Handlungsfreiheit behalten“. Das zeigt den schmalen Grat zwischen Schutz und Missbrauch auf. Im Nachgang der Kontroverse um das Libyen-Mandat brachte Brasilien die Responsibility while Protecting (die Verantwortung beim Schützen) in die Debatte ein. Das brasilianische Konzept baut auf die R2P auf. Dabei wird die militärische Intervention als letztes Mittel einer internationalen Schutzverantwortung nicht negiert, diese soll aber, um Missbrauchsfälle zu verhindern, von Elementen einer Responsibility while Protecting flankiert werden. Dazu gehören unter anderem: ▸ die politische Unterordnung und chronologische Sequenzierung aller drei Pfeiler der R2P, ▸ eine umfassende Analyse potenzieller Konsequenzen eines mili‐ tärischen Eingreifens im Vorfeld der Entscheidung, ▸ die Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat nach Kapitel VII der UN-Charta sowie „in außergewöhnlichen Umständen durch die Generalversammlung gemäß Resolution 377 (V)“, ▸ eine rechtliche, operative und zeitliche Begrenzung des mili‐ tärischen Einsatzes und eine Beschränkung auf die originäre Intention des Mandats sowie ▸ verbesserte Verfahren im UN-Sicherheitsrat zur Überwachung der Interpretation und Umsetzung der Mandate (vgl. Brenner 2012). Statt dieses Konzeptpapier konstruktiv zu diskutieren und weiterzu‐ entwickeln, stieß es - insbesondere im Westen - auf weitgehende 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 252 <?page no="253"?> Skepsis mit der Folge, dass der brasilianische Vorschlag wieder weit‐ gehend aus dem Fokus aktueller Debatten verschwand. Unabdingbar bleibt aber auch künftig die Fortentwicklung der Responsibility to Protect: Zum einen gilt es, das Missbrauchspotenzial zu verringern. Ein Problem stellen hier die „hidden agendas“ von intervenierenden Staaten dar mit dem Potenzial, die originäre Intention der interna‐ tionalen Schutzverantwortung zu diskreditieren. Zum anderen ist es die selektive Befassung mit Menschenrechtsverletzungen, die der Glaubwürdigkeit der R2P entgegensteht. Schließlich bestehen nach wie vor Implementierungsprobleme. So ist weiterhin die zentrale Frage offen, wie der Schutz durchgesetzt werden kann. Diesbezüglich erweist sich die Bindung der internationalen Schutzverantwortung an eine Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat als „ein Problem von besonderer Tragweite“ (Hoppe 2019, S. 51), führt sie in vielen Fällen zu einer Nichtreaktion auf schwerste Menschenrechtsverletzungen. Erforderlich ist ein „normativer Konsens über das Verhältnis von R2P und militärischer Intervention“ (Oeter 2019, S. 99). Mit einer Responsi‐ bility not to Veto oder eines Code of Conduct für die Ausübung des Ve‐ torechts existieren entsprechende Vorschläge, die Handlungsfähigkeit des UN-Sicherheitsrates in R2P-Fragen zu erhöhen, die Erfolgsaussich‐ ten dürften allerdings eher gering sein. 9.5 Systeme kollektiver Sicherheit - ein Mythos? Die Reformbedürftigkeit der Vereinten Nationen ist allgegenwärtig; sie wird seit Jahrzehnten angemahnt. Und auch die jüngsten Entwicklun‐ gen wie die R2P, die sich am Schutz des Individuums ausrichtet, haben es nicht vermocht, das in der Charta verankerte Gewaltverbot durchzu‐ setzen. Dafür lassen sich verschiedene Gründe anführen: Das beginnt 9.5 Systeme kollektiver Sicherheit - ein Mythos? 253 <?page no="254"?> bei der nicht vorhandenen Repräsentativität des UN-Sicherheitsrates, insbesondere im Hinblick auf seine ständigen Mitglieder, und die damit verbundene Vetopraxis und reicht bis zum nur unvollständig ausge‐ prägtem Gewaltmonopol. So besitzen die Vereinten Nationen mit dem Sicherheitsrat zwar das „legitimierende Gewaltmonopol“, angesichts fehlender Stand-by-Forces und entsprechender Abkommen nach Art. 43 UN-Charta fehlen ihnen bislang jedoch die Mittel (das „possessive Gewaltmonopol“, vgl. Jaberg 2013, S. 243), es auch durchzusetzen. Als noch grundsätzlicher dürften sich aber die Herausforderungen, die konzeptionell mit Systemen kollektiver Sicherheit einhergehen, erweisen. Im Gegensatz zu Allianzen sind Systeme kollektiver Sicher‐ heit inklusive Institutionen, womit sie nach Harald Müller (1994, S. 233) eine zentrale Bedingung zu ihrer Friedensfähigkeit erfüllen. Zudem verfügen sie über einen nach innen wirkenden Sanktionsmechanismus (vgl. Meyer 2011, S. 481, 566). Systeme kollektiver Sicherheit Darunter wird „eine spezifische Anordnung von Staaten zur Gewährleistung ihrer Sicherheit verstanden […], die im Wesent‐ lichen durch das Zusammenwirken zweier Merkmale charakte‐ risiert ist: 1. Ein System kollektiver Sicherheit bezieht die potenziellen Gegner ein. 2. Im Fall eines Rechtsbruchs (zumal mit militärischer Gewalt‐ anwendung verbunden) sind alle anderen Mitglieder dazu verpflichtet, mittels Sanktionen gegen den Rechtsbrecher dem Recht Geltung zu verschaffen“ (Jaberg 1998, S. 16). 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 254 <?page no="255"?> Damit können Systeme kollektiver Sicherheit als Sicherheitsgarant fungieren, die Abschreckung beziehungsweise Abhaltung verstärken und Kooperation begünstigen (vgl. Jaberg 1999, S. 50ff.). In der De‐ finition von Daniel Frei (1970, S. 69f.) deutet sich aber bereits die Schwachstelle des Konzeptes an: „Das Wesen der kollektiven Sicherheit […] liegt darin, daß dieses System zwar mit dem Krieg rechnet und auch bereit ist, gegen Widerspenstige […] einen gerechten Krieg zu führen. Aber man setzt dabei offenbar stillschweigend voraus, dass es gar nicht zu einem solchen Strafkrieg im Namen der Völkergemeinschaft kommen werde, sondern daß bereits die Aussicht auf einen solchen den potentiellen Rechtsbrecher abschrecken werde“ (vgl. auch Meyer 2011, S. 481). Ernst-Otto Czempiel (1994, S. 792) setzt an diesem Punkt an. Er erkennt zwar den institutionellen Fortschritt eines solchen Systems an, sieht aber in der kollektiven Sicherheit einen „Konstruktionsfehler“: „Das Prinzip kann nur funktionieren, wenn es nicht gebraucht wird; wird es gebraucht, funktioniert es nicht. Kollektive Sicherheit beruht auf einem Mythos“ (Czempiel 1994, S. 795; vgl. auch Meyer 2011, S. 482; Hubel 2005, S. 180f.). Einwände gegen das System kollektiver Sicherheit sind verbreitet. In diesem Kontext werden vor allem drei Argumente in Anschlag gebracht (vgl. Jaberg 1999, S. 48f.; Hubel 2005, S. 182): ▸ Nach dem Prinzip der kollektiven Sicherheit müssen Staaten be‐ reit sein, einen Aggressor notfalls auch mit militärischen Mitteln abzuwehren. Das setzt die Bereitschaft voraus, „einen lokalen Konflikt auch zu einem umfassenden Krieg eskalieren zu lassen und dafür die eigenen Streitkräfte entschlossen einzusetzen“ 9.5 Systeme kollektiver Sicherheit - ein Mythos? 255 <?page no="256"?> (Hubel 2005, S. 182) - und zwar auch dann, wenn die eigenen Interessen nicht unmittelbar betroffen sind. ▸ Systeme kollektiver Sicherheit erfordern die klare Identifizie‐ rung von Opfer und Aggressor. Das schließt die Bereitschaft ein, „traditionelle freundschaftliche Beziehungen zu einem nun als Aggressor zu kennzeichnenden Staat aufzugeben“ (Hubel 2005, S. 182). ▸ Schließlich stößt das Prinzip der kollektiven Sicherheit gegen‐ über Atommächten an ihre Grenze, erhöhe sich unter diesen Bedingungen die Gefahr einer nuklearen Zerstörung. Diese Einwände negieren nicht per se die Verdienste kollektiver Si‐ cherheit, verweisen aber auf das, was Ernst-Otto Czempiel Konstruk‐ tionsfehler nennt. Dieser bezieht sich allerdings vorrangig auf das militärische Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft gegen einen potenziellen Aggressor. Davon unberührt bleiben dagegen in der Regel Maßnahmen unterhalb der militärischen Schwelle. 9.6 Fazit Die institutionalistischen Ansätze zum Frieden - das Setzen auf in‐ ternationale Institutionen wie auch die zunehmende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen - haben eines gemeinsam: Sie ver‐ bindet das Ziel, die anarchische, rechtlose Situation im internationalen System aufzuheben oder zumindest abzumildern. Durch Regeln und Normen suchen sie, die Voraussetzungen für einen Interessenausgleich zu schaffen und die Interaktion von Staaten so zu beeinflussen, dass ein gewaltfreier Umgang mit Konflikten befördert wird. Dieser Zugang mag defizitär, wenn nicht gar ambivalent erscheinen. Dafür sprechen die nach wie vor fehlende Durchsetzungskraft des 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 256 <?page no="257"?> völkerrechtlichen Gewaltverbots, die häufig zu konstatierende Hand‐ lungsunfähigkeit der Vereinten Nationen oder auch der OSZE, das interessengeleitete „Abschotten“ exklusiver Organisationen, wie es selbst die Politik der Europäischen Union zeigt (als Synonym hierfür steht ihre Flüchtlingspolitik), oder auch das Missbrauchspotenzial, das sich mit der internationalen Schutzverantwortung und humanitär begründeten militärischen Interventionen verbindet. Warnungen vor allzu überzogenen Erwartungen und Hoffnungen auf einen globalen Frieden durch einen „irgendwie gearteten Friedens‐ bund“ (Knapp 1994, S. 261) oder die eine idealtypische Institution sind nicht neu. Unter Verweis auf Vertreter wie Jean Jacques Rousseau oder Immanuel Kant betont auch Manfred Knapp (1994, S. 261f.) im Hinblick auf die Vereinten Nationen die notwendig gradualistische Annäherung an den Frieden, versteht sich dieser als Prozess: „Nicht die perfektionierte Friedensorganisation mit sehr weitgehenden Regelungskompetenzen sei das Ziel, sondern die durch sie - im Sinne eines regulierten friedlichen Wandels - instrumentierte Friedensstrate‐ gie verspreche einen gangbaren Weg zur annäherungsweisen Lösung des Friedensproblems.“ Weiterführende Literatur: Czempiel, Ernst-Otto. 1998. Friedensstrategien. Eine systematische Dar‐ stellung außenpolitischer Theorien von Machiavelli bis Madariaga. 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag. Ausgehend vom Verständnis des Friedens als Prozess untersucht der Autor institutionalistische wie auch liberale Friedensstrategien. Im ersten Fall wird der Friede durch Einwirkung auf die Interaktion gesucht, im zweiten durch Änderung gesellschaftlicher Strukturen. 9.6 Fazit 257 <?page no="258"?> Merkel, Reinhard (Hrsg.). 2000. Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Anlässlich des NATO-Einsatzes 1999 im Kosovo diskutieren die Autoren Fragen nach dem Fundament, der Reichweite, der Revisionsbedürftigkeit und Zukunft tradierter Normen des Völkerrechts und der internationalen politischen Ethik. Werkner, Ines-Jacqueline und Thilo Marauhn (Hrsg.). 2019. Die inter‐ nationale Schutzverantwortung im Lichte des gerechten Friedens. Wiesbaden: Springer VS. Die Autorinnen und Autoren dieses Ban‐ des diskutieren, inwieweit es im Rahmen der Schutzverantwortung möglich ist, Geist, Logik und Praxis des Krieges zu überwinden. 9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 258 <?page no="259"?> 10 Frieden durch Demokratisierung Während (neo)realistische und institutionalistische Zugänge ihren Fokus auf die Anarchie des internationalen Systems richten, nehmen liberale Friedensstrategien die staatlich organisierten Gesellschaften in den Blick. Im Zentrum der Betrachtung steht hier die Frage, unter wel‐ chen innergesellschaftlichen Bedingungen außenpolitische Entschei‐ dungen getroffen werden und wie ein Frieden durch Änderung gesell‐ schaftlicher Strukturen erreicht werden kann. Hier lassen sich zwei potenzielle Wege ausmachen: Ein erster setzt beim Herrschaftssystem an und fragt nach der Regierungsform und der Verfasstheit des poli‐ tischen Systems. Ein zweiter bezieht sich auf das Wirtschaftssystem und umfasst Fragen der Förderung des Friedens und des Wohlstands durch Freihandel, internationale Wirtschaftsorganisationen, Handel, Verstaatlichung der Rüstungsindustrie oder Kontrolle wirtschaftlicher Macht (vgl. Czempiel 1998, S. 6, 147 ff.). Beide „entscheiden über die Auswahl der zu verfolgenden Interessen und über die Mittel und Instrumente, mit denen sie in der internationalen Umwelt verwirk‐ licht werden sollen“ (Czempiel 1998, S. 147). Dabei erweist sich das Herrschaftssystem als die bestimmende Struktur; „davon abhängig ist das Wirtschaftssystem. Seine Verteilungsprozesse lassen sich leichter verändern als die der Herrschaft“ (Czempiel 1998, S. 149). Herrschaftsfragen dominieren dementsprechend auch die liberalen Debatten der Friedens- und Konfliktforschung, insbesondere Fragen der Förderung des Friedens durch demokratische Strukturen und Prozesse der Demokratisierung. In diesem Kontext beherrschen zwei Theoreme die Diskussion: der auf Immanuel Kant zurückgehende demokratische Frieden sowie - als ein jüngeres Konzept aus der Zeit <?page no="260"?> der heutigen Friedensforschung - das zivilisatorische Hexagon von Dieter Senghaas. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Darstellung und Diskussion dieser beiden Theoreme. Auch wenn sie nur exemplarisch für die liberalen Debatten der Friedensforschung stehen, lassen sich an ihnen zentrale Argumentationen dieses Zugangs einschließlich seiner Antinomien aufzeigen. 10.1 Der liberale Zugang zum Frieden Im Gegensatz zu den beiden zuvor behandelten Denkschulen öffnet die liberale Schule die Blackbox des Staates. Für liberale Vertreterin‐ nen und Vertreter wird das Verhalten von Staaten weniger durch ihre Machtverteilung oder ihre Kooperationen und Kooperationshin‐ dernisse im internationalen System bestimmt. Vielmehr geht es auf die „Beziehungen der Regierungen zu ihren gesellschaftlichen Umfel‐ dern“ (Mayer 2017, S. 554) zurück. Im Fokus der liberalen Analyse stehen die Präferenzbildungsprozesse der staatlich organisierten Ge‐ sellschaften. Die zentralen Akteure im internationalen System sind also nicht Staaten, sondern Individuen und Gruppen. Konkreter gefasst sind es die demokratischen Mehrheiten beziehungsweise mächtige Interessengruppen, die das Verständnis von Sicherheit, Wohlfahrt und Souveränität prägen, welches die einzelnen Regierungen nach außen verfolgen. Staaten agieren dabei als „Transmissionsriemen der dominanten gesellschaftlichen Präferenzen“ (Kahl und Rinke 2019, S. 73). Auf der Basis gemeinsamer Interessen kann es zu Koexistenz und Kooperation, bei unterschiedlichen Präferenzen aber auch zu Konflikten und gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen (vgl. Krell und Schlotter 2018, S. 176f.). 10 Frieden durch Demokratisierung 260 <?page no="261"?> Liberale Traditionen reichen bis zum Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts zurück und verbinden sich ideengeschichtlich insbeson‐ dere mit Immanuel Kant (1724-1804). Dafür steht vor allem Kants „Zum ewigen Frieden“ (1795) - ein zentrales Referenzwerk auch für die heutige Friedens- und Konfliktforschung. Spätestens mit den Krisenerfahrungen des 20. Jahrhunderts, zuvorderst dem Scheitern des Völkerbundes und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, traten liberale Theorien zugunsten realistischer in den Hintergrund. Und auch die Friedensforschung hat, sofern sie Herrschaftsfragen in den Blick genommen hat, angesichts der Dominanz des Ost-West- und Nord-Süd-Konflikts zumeist einen anderen Fokus gesetzt: „Im Allgemeinen dominierten seinerzeit anstelle der Dichotomie Demo‐ kratie/ Autokratie jedoch die Unterscheidungen Kapitalismus/ Kommu‐ nismus sowie Industrieländer/ Entwicklungsländer die Debatten. Ent‐ sprechend waren Entwicklung, Abrüstung oder friedliche Koexistenz die bestimmenden Leitbilder, nicht Demokratisierung“ (Geis und Wolff 2011, S. 113). Zu einer Renaissance liberaler Ansätze kam es mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Systemwandel in Mittel- und Osteuropa, der „einen Blick in die gesellschaftlichen Tiefenschichten der internatio‐ nalen Politik freigegeben und die Gültigkeit der liberalen Analyse bestätigt [hat]“ (Schieder 2006, S. 175). In jüngerer Zeit war es And‐ rew Moravcsik (1997), der in Auseinandersetzung und Differenz zum (Neo)Realismus und Institutionalismus einen „neuen Liberalismus“ entwickelte (vgl. auch Schieder 2006). Den Kern seiner Theorie bilden drei Grundannahmen: ▸ der Vorrang des sozialen Akteurs und der Gesellschaft vor dem Staat: Die Hauptakteure im internationalen System sind Indi‐ viduen und gesellschaftliche Gruppen, „die gemäß ihren jewei‐ 10.1 Der liberale Zugang zum Frieden 261 <?page no="262"?> ligen Präferenzen materielle und ideelle Interessen innerhalb des Staates, aber auch im transnationalen Beziehungsgeflecht durchsetzen“ (Schieder 2006, S. 182; vgl. Moravcsik 1997, S. 516f.). Das muss nicht zwingend harmonisch verlaufen; „[v]ielmehr ist die Gesellschaft von einem ständigen Wettbewerb zwischen Einzel- und Gruppeninteressen geprägt“ (Schieder 2006, S. 183). Konflikte entstehen, wenn Wertvorstellungen auseinanderdrif‐ ten, die Ressourcen knapp sind oder unterschiedliche Zugänge zur politischen Partizipation bestehen (vgl. Moravcsik 1997, S. 517; Schieder 2006, S. 183). ▸ innergesellschaftliche Repräsentation und staatliche Präferenzbil‐ dung: Der Staat ist kein einheitlicher Akteur; er repräsentiert die Präferenzen gesellschaftlicher Akteure, die sich in Interessen‐ vermittlungs- und Entscheidungsprozessen durchsetzen. Nach Moravcsik (1997, S. 518) ist er „a representative institution con‐ stantly subject to capture and recapture, construction and re‐ construction by coalitions of social actors“. Das heißt nicht, dass der Staat im (neuen) Liberalismus keine Bedeutung mehr habe: „Im Gegenteil: Jede Regierung repräsentiert bestimmte Gruppen und Individuen mehr oder weniger vollständig als andere - von Diktaturen im Stile eines Josef Stalin bis hin zu breiten Formen der demokratischen Partizipation in der OECD-Staatenwelt“ (Schieder 2006, S. 184). Die Annahme des Staates als Transmissi‐ onsriemen gesellschaftlicher Präferenzen impliziert dann auch, dass es Staaten nicht per se und vorrangig um die Maximierung von Sicherheit und Macht geht. „Ihr Grundmotiv ist vielmehr das Streben nach Wohlfahrtsgewinnen“ (Schieder 2006, S. 184). ▸ internationale Umwelt und interdependente Präferenzordnungen: Die Interaktion im internationalen System ergibt sich ebenfalls aus den innerstaatlichen und innergesellschaftlichen Präferenz‐ 10 Frieden durch Demokratisierung 262 <?page no="263"?> bildungsprozessen. Moravcsik (1997, S. 521) hat es auf die Kurz‐ formel gebracht: „[W]hat states want is the primary determinant of what they do.“ Dabei lassen sich drei potenzielle Konstellatio‐ nen von Präferenzordnungen ausmachen: (1) konvergierende Präferenzen der Staaten - sie erhöhen die Chancen für zwi‐ schenstaatliche Kooperationen; (2) divergierende gesellschaftli‐ che Präferenzen zwischen den Staaten - sie vergrößern die Wahrscheinlichkeit von Spannungen und Konflikten; und (3) komplementäre nationale Präferenzen - hier bestehen in der Re‐ gel „ausreichend Anreize für zwischenstaatliche Verhandlungen, Konzessionen und Formen der internationalen Politikkoordina‐ tion“ (Schieder 2006, S. 185). Dabei wird internationale Politik über zwei Mechanismen gesteuert: Einerseits beschränken gesellschaftliche Präferenzordnungen Hand‐ lungsoptionen und damit staatliche Außenpolitik (Selektion). Anderer‐ seits versuchen Staaten, ihre innergesellschaftlichen Strukturen und Handlungen auf das internationale System zu übertragen (Externali‐ sierung). In diesem Sinne konstatiert Ernst-Otto Czempiel (1998, S. 152): „Ist die Gewalt traditionelles Medium des internen Verteilungsprozes‐ ses, ist sie, sozusagen, Bestandteil der politischen Kultur eines Staates, so wird sie sich auch bei der Regelung externer Konflikte anbieten. Sie wird um so attraktiver sein, als das Instrumentarium dazu, die organisierte militärische Gewalt, ohnehin vorhanden ist.“ Im Weiteren differenziert Andrew Moravcsik (1997, S. 524ff.; vgl. auch Schieder 2006, S. 186ff.) die liberale Theorie weiter aus. Er unterschei‐ det - je nachdem, welche Einflussfaktoren im Fokus des Interesses und der Analyse stehen - zwischen drei Varianten des Liberalismus: 10.1 Der liberale Zugang zum Frieden 263 <?page no="264"?> ▸ dem ideellen Liberalismus: Darunter fasst Moravcsik (1997, S. 525) ein „set of preferences shared by individuals concerning the proper scope and nature of public goods provision, which in turn specifies the nature of legitimate domestic order by stipulating which social actors belong to the policy and what is owed them”. Der ideelle Liberalismus fokussiert auf die Kompatibilität sozialer Werte und Identitäten bezüglich des Ausmaßes und der Natur öffentlicher Güter. ▸ dem kommerziellen Liberalismus: Hier ist das Staatsverhalten von den Gewinnen und Verlusten gesellschaftlicher Akteure durch transnationale Wirtschaftsbeziehungen abhängig. In Anlehnung an Adam Smith (1723-1790) gehören Freihandel und wirtschaft‐ liche Ordnungen, die auf Privateigentum und Marktwirtschaft beruhen, zu den erfolgversprechendsten Voraussetzungen für die Schaffung und Sicherung des Friedens. Dahinter steht die „Annahme einer Kausalbeziehung zwischen wachsender ökono‐ mischer Abhängigkeit, Gewinnen aus internationaler Arbeits‐ teilung (und deren Antizipation) und internationalem Handel sowie steigender (ökonomischer) Nachteile eines Einsatzes mi‐ litärischer Gewalt und damit einer konfrontativen staatlichen Außenpolitik, insbesondere für Wirtschaftsakteure“ (Groten und Staack 2015, S. 273). ▸ dem republikanischen Liberalismus: Bei dieser Variante des Libe‐ ralismus stehen die Art und Weise der gesellschaftlichen Präfe‐ renzbildungsprozesse und der Zugang zur politischen Partizipa‐ tion im Zentrum der Betrachtung. Je stärker Individuen und Gruppen in Entscheidungsprozessen repräsentiert sind, desto größer ist ihr politischer Einfluss. Ist der politische Einfluss auf viele Akteure verteilt, neigen Staaten eher zu Kooperation, da ein Großteil der gesellschaftlichen Akteure - so die republikani‐ 10 Frieden durch Demokratisierung 264 <?page no="265"?> sche Annahme - risikoavers sei. Konzentriert sich dagegen der politische Einfluss auf nur wenige Individuen beziehungsweise Gruppen, ist das Risiko höher, dass Staaten eine konfliktive oder gar expansive Politik verfolgen. So könne die „überrepräsen‐ tierte Minderheit […] die Kosten für eine konfrontative Außen‐ politik überproportional auf die unterrepräsentierte Mehrheit übertragen […], bei gleichzeitiger Nutzbarmachung der damit einhergehenden Vorteile (materiell, ideell) einer solchen Politik für sich selbst“ (Groten und Staack 2015, S. 273f.). Vor diesem Hintergrund ist in Anlehnung an Immanuel Kant Frieden nur möglich, wenn Staaten demokratisch beziehungsweise republi‐ kanisch verfasst sind. 10.2 Der demokratische Frieden Der demokratische Frieden und mit ihm „die Idee einer besonderen Friedensfähigkeit der Demokratie“ (Geis und Wolff 2011, S. 112) zählen „zu den am erfolgreichsten popularisierten Ergebnissen staatsphiloso‐ phischen und politologischen Denkens der Moderne“ (Müller 2002, S. 47). In der friedenswissenschaftlichen Forschung waren es insbeson‐ dere Ernst-Otto Czempiel (1986, 1996) und im amerikanischen Raum Michael Doyle (1983) und später Bruce Russett (1993), die in Aufnahme des Kant’schen Arguments „Zum ewigen Frieden“ den liberalen An‐ satz stark machten und das Theorem des demokratischen Friedens etablierten. Dieses erweist sich auch politisch als wirkmächtig. „Die aktive Förderung von Demokratie - Demokratisierungshilfe oder auch Demokratisierungsdruck - steht heute an der Spitze der Ziele westlicher Außenpolitik. […] Neben normativen Begründungen gilt die ordnungsstiftende, friedenserhaltende Wirkung der Demokratie nach 10.2 Der demokratische Frieden 265 <?page no="266"?> außen als wichtigste Rechtfertigung“ (Müller 2002, S. 47). So werden nicht nur Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union und die Europäische Nachbarschaftspolitik entsprechend konditioniert. Auch die Entwicklungshilfe oder internationale Einsätze werden vor diesem Hintergrund häufig mit dem Aufbau demokratischer Strukturen ver‐ knüpft. Dabei ist der Zusammenhang von Demokratie und Frieden nicht so eindeutig wie es das Theorem des demokratischen Friedens zunächst vermuten lässt. Ausgehend von der Grundthese des demokratischen Friedens, dass demokratische Staaten untereinander keine Kriege füh‐ ren, lassen sich zwei Theoriestränge ausmachen: Der monadische Strang geht davon aus, dass Demokratien grundsätzlich friedfertiger sind als andere Formen staatlicher Organisation. Für Vertreterinnen und Vertreter des dyadischen Stranges gilt die Friedfertigkeit nur für Demokratien untereinander. So lässt sich empirisch ein Doppelbefund konstatieren: Einerseits führen Demokratien in der Tat untereinander (fast) keine Kriege und tragen ihre Konflikte in der Regel mit zivilen Mitteln aus. Andererseits sind Demokratien gegenüber nicht-demo‐ kratischen Staaten durchaus kriegsbereit und verhalten sich ihnen gegenüber in ähnlicher Weise unfriedlich wie dies bei autokratischen Staaten zu beobachten ist (vgl. u. a. Aust et al. 2004, S. 15; Rauch 2005, S. 22ff.; Hasenclever 2006, S. 214f.). Die dyadische Variante des demokratischen Friedens stellt den friedenswissenschaftlichen Main‐ stream dar. Nur wenige Friedensforscherinnen und -forscher halten an der monadischen Argumentation fest. Dazu zählen insbesondere der US-amerikanische Politikwissenschaftler Rudolph Rummel (1995), aber auch der deutsche Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel (1998, S. 149ff.). Nach Czempiel (1972, S. 55) stehe nicht die theoretische Beziehung von Demokratie und Frieden infrage, „sondern die Unzu‐ länglichkeit, ja die Verfälschung ihrer Umsetzung in politische Praxis“. 10 Frieden durch Demokratisierung 266 <?page no="267"?> So widerlege der empirische Doppelbefund nicht die monadische Ar‐ gumentation, sondern sei vielmehr Ausdruck einer unvollkommenen Demokratie. Dazu gehöre beispielsweise die mangelhafte Demokra‐ tisierung der Außenpolitik, was sich unter anderem an begrenzten parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten zeige (vgl. auch Geis und Wolff 2011, S. 116f.). Welche Erklärungsansätze kommen nun aber konkret beim de‐ mokratischen Frieden zum Tragen? Zwei Bemerkungen seien hier vorangestellt: Zum einen basieren monadische und dyadische Theo‐ riestränge auf den gleichen beziehungsweise ähnlichen Annahmen über Kausalmechanismen, die ausgehend vom politischen System der Demokratie entsprechende Rückschlüsse auf das Außenverhalten von demokratischen Staaten ziehen. So besteht ungeachtet des empirischen Doppelbefundes zwischen beiden Versionen ein enger theoretischer Zusammenhang: „Da die Argumentationslogiken beider weitgehend identisch sind, wird die dyadische Theorie von Zweifeln an der Stimmigkeit und Richtigkeit der monadischen erheblich in Mitleidenschaft gezogen“ (Müller 2002, S. 48). Obgleich der demokratische Frieden - dies als zweite Vorbemerkung - als eine der zentralen liberalen Friedensstrategien firmiert, werden ne‐ ben liberalen auch Argumentationslinien anderer Metatheorien wirk‐ sam. So nimmt der demokratische Frieden Anleihen aus der Rational Choice-Theorie, dem Funktionalismus sowie dem Konstruktivismus (vgl. Müller 2002, S. 52). Der liberale Erklärungsansatz des demokratischen Friedens geht auf den ersten Definitivartikel von Immanuel Kants „Zum ewigen Frieden“ zurück. 10.2 Der demokratische Frieden 267 <?page no="268"?> Immanuel Kant (1795): „Zum ewigen Frieden“ (Auszug) „Erster Definitivartikel zum ewigen Frieden: Die bürgerliche Ver‐ fassung in jedem Staate soll republikanisch sein. Die erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen), zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen) und drittens die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung - die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß - ist die republikanische. […] Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher, immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“ (Kant 1968 [1795], S. 351). Nach Kant stellt die Beschaffenheit des politischen Systems - konkret die republikanische Verfassung - die zentrale Friedensbedingung dar. Maßgeblich sei dabei das Mitspracherecht der Bürgerinnen und Bürger bei allen wichtigen (außen)politischen Fragen. So entscheiden sich diese aus utilitaristischen Gründen und Kosten-Nutzen-Abwägungen 10 Frieden durch Demokratisierung 268 <?page no="269"?> gegen den Krieg, da sie sowohl „das leibliche Risiko für sich und ihre Angehörigen“ als auch „die unmittelbaren und die längerfristigen Folgekosten“ scheuen (Müller 2002, S. 53, siehe Kasten). Das heißt: Je größer der Grad der politischen Partizipation der Bürgerinnen und Bürger ist, desto risikoscheuer und kriegsabgeneigter zeigen sich Staaten. In diesem Sinne konstatiert auch Harald Müller (2002, S. 53): „Für die Theorien des demokratischen Friedens ist die Präferenzstruktur der Bürger demokratischer Staaten keine empirische Frage, sondern - zumindest im Sinne einer statistischen Verteilung - fixiert.“ Der demokratische Frieden basiert auf der Annahme, dass „die In‐ stitutionen der Demokratie - Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Wahlen, Koalitionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und die entsprechende Transparenz und die öffentlichen Diskurse - den Bür‐ gerwillen in politische Entscheidungen transformieren“ (Müller 2003, S. 227; vgl. auch Hasenclever 2006, S. 217ff.). Dabei garantiert die de‐ mokratische Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive und Judikative) die wechselseitige Kontrolle, ausgedrückt in dem Prinzip der Checks and Balances. Die Rechenschaftspflicht der Exekutive trägt zur nötigen Transparenz in Demokratien bei. Wahlen repräsentieren die Bürger‐ interessen, legitimieren die Arbeit von Parlament und Regierung, gewährleisten den Interessenausgleich, integrieren die Bevölkerung in die Politik und ermöglichen die Konkurrenz persönlicher und programmatischer Alternativen. Zudem sind es die in Demokratien garantierte Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, die die Voraussetzungen für die politische Partizipation der Bürgerin‐ nen und Bürger schaffen und öffentliche Diskurse ermöglichen. De‐ mokratisch gewählte Regierungen unterliegen somit „dem Imperativ der doppelten Konsonanz“; ihnen müssen nicht nur „weite Teile der politischen Eliten freiwillig folgen, sondern auch die Mehrheit der 10.2 Der demokratische Frieden 269 <?page no="270"?> Bürgerinnen und Bürger“ (Hasenclever 2006, S. 217f.). Mit dem Krieg und seinen hohen Kosten stehen stets auch das politische Amt bezie‐ hungsweise die Wiederwahl auf dem Spiel. So werden Regierungen demokratischer Staaten einen Krieg nur riskieren, wenn sie diesen vor ihren Bevölkerungen auch rechtfertigen können. Das dürfte vorrangig bei Verteidigungskriegen der Fall sein (vgl. Hasenclever 2006, S. 218). In autokratischen Systemen ist die politische Partizipation der Bürgerinnen und Bürger dagegen deutlich eingeschränkt. Das erlaubt autokratischen Regierungen, Entscheidungen - selbst Kriegsentschei‐ dungen - zu treffen, die nicht am Bürgerwillen rückgebunden sind. So belegen auch empirische Untersuchungen, dass das Risiko des Verlustes des politischen Amtes im Falle einer militärischen Niederlage in Autokratien weitaus geringer ist als in Demokratien (vgl. Bueno de Mesquita und Siverson 1995; Hasenclever 2006, S. 218f.). Neben den politischen Institutionen zählt die politische Kultur zu den wesentlichen Kontextfaktoren außenpolitischen Verhaltens von Staaten (vgl. Hasenclever 2006, S. 219ff.). Sie gibt unter anderem Auskunft über die innergesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt. Nach liberaler Lesart externalisieren Staaten Normen, „welche sie im In‐ nern selbst praktizieren“ (Rauch 2005, S. 39). Dabei befördern die Institutionen der Demokratie ein Verhalten, das Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung ablehnt. „Vielmehr ergibt sich aus dem grundlegenden Respekt vor der Würde und den Rechten des Anderen eine fundamentale Präferenz für Interessenausgleich und Kompromiss“ (Hasenclever 2006, S. 219). Und das führe dazu, dass „die Bürgerinnen und Bürger von ihren Regierungen erwarten, dass sie so wenig Gewalt wie möglich bei der Verfolgung nationaler Interessen einsetzen“ (Hasenclever 2006, S. 219). In autokratischen Systemen herrscht eine Minderheit über eine Mehrheit. Die ungleichen Partizipationsmöglichkeiten bergen Unge‐ 10 Frieden durch Demokratisierung 270 <?page no="271"?> rechtigkeiten, die „sich auf Dauer nur mit organisiertem Zwang auf‐ rechterhalten [lassen]“ (Hasenclever 2006, S. 220). Die daraus resultie‐ rende innere Gewalt übertrage sich auf das internationale System. So seien autokratische Staaten außerstande, Konflikte friedlich zu lösen. „Vielmehr stellen sie eine permanente Gefahr für die internationale Sicherheit und den Frieden in der Welt dar“ (Hasenclever 2006, S. 220). Hieraus leite sich dann auch die Erklärung dafür ab, dass die Friedfertigkeit von Demokratien nur gegenüber ihresgleichen gelte: „Demokratien und Autokratien befinden sich im ‚Naturzustand‘, weil demokratische Regierungen nicht erkennen können, dass autokratische Regierungen ähnlichen Gewaltbeschränkungen unterworfen sind wie sie selbst. Zwischen ihnen herrscht tiefstes Misstrauen und entspre‐ chend brutal entfaltet das Sicherheitsdilemma seine Wirkung“ (Hasen‐ clever 2006, S. 220). So führe das Sicherheitsdilemma dazu, „dass demokratische Regierun‐ gen meinen, sich vor der Ausbeutung ihrer natürlichen Zurückhaltung durch gewaltbereite Autokratien schützen zu müssen“, und zwar in aller Härte, gegebenenfalls auch „präemptiv auf Bedrohungen ihrer Interessen“ (Hasenclever 2006, S. 221). 10.3 Antinomien des demokratischen Friedens In der Friedensforschung ist das Theorem des demokratischen Friedens nicht unwidersprochen geblieben. Das empirische Spannungsverhältnis, „warum ‚der demokratische Friede‘ statistisch nicht eine deutlich grö‐ ßere Friedfertigkeit der Demokratien insgesamt, sondern nur ihren außergewöhnlichen Pazifismus gegenüber ihresgleichen beinhaltet“ (Müller 2008), ist bis heute Gegenstand intensiver Debatten. Das größte 10.3 Antinomien des demokratischen Friedens 271 <?page no="272"?> deutsche Friedensforschungsinstitut, die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, hat ihr Forschungsprogramm über zwölf Jahre (2000-2011) explizit den Antinomien des demokratischen Friedens ge‐ widmet. Antinomien gehen weiter als Kritik; sie nehmen die theoreti‐ schen Annahmen und die ihr inhärenten Widersprüche in den Blick: „Die Antinomie ist als Widerspruch ‚in dem Sinne fundamental, dass er etwas Wesentliches über das System, in dem er entsteht (z. B. […] über die Struktur einer bestimmten Theorie) aussagt und man ihn durch bloßes Bestreiten einer seiner Seiten nicht eliminieren kann, sondern, wenn überhaupt, erst durch die Änderung der Grundlage, aus der er entsteht‘ (Sandkühler 1990, S. 147). Das Auffinden von ‚Antinomien des demokratischen Friedens‘ würde also die Notwendigkeit nach sich ziehen, die Befunde in die Theorie zu integrieren und/ oder diese gründlich zu ändern“ (Müller 2002, S. 51f.). Harald Müller (2002) macht zahlreiche Antinomien (insgesamt 26) fest, bei denen die gesetzten Kausalmechanismen auch andere Ent‐ wicklungsmöglichkeiten als die im Theorem angenommenen zulassen. Dabei eruiert er vier Kategorien von Antinomien (vgl. Müller 2002; 2003, S. 229ff.): Inklusion/ Exklusion: Der demokratische Frieden basiert auf „der be‐ wussten Selbstvergewisserung der Demokratien“ (Müller 2003, S. 229). Nur Staaten, die mit den Institutionen der Demokratie ausgestattet sind, seien in der Lage, dem Frieden zugewandte Wertorientierungen und Normen zu generieren, diese auf das internationale System zu übertragen und eine friedfertige Außenpolitik zu betreiben. Der dya‐ dische Theoriestrang setzt bei Demokratien auf eine sich gegenseitig verstärkende Wirkung der institutionellen Faktoren. Sozial-konstruk‐ tivistisch betrachtet entstehe ein „Engelskreis“; Demokratien erkennen einander als solche an und gehen von positiven Erwartungen über das 10 Frieden durch Demokratisierung 272 <?page no="273"?> Verhalten der Partnerdemokratien aus (vgl. Risse-Kappen 1995). Dem‐ gegenüber wird Autokratien ein solches friedfertiges Verhalten abge‐ sprochen; sie werden als different angesehen und als minderwertig und gefährlich diskreditiert. Die Zuordnung zur demokratischen Ingroup beziehungsweise nicht-demokratischen Outgroup einschließlich der mit ihr verbundenen Dichotomie von „Demokratie = friedlich“ und „Nicht-Demokratie = gewaltsam“ erfolgt jedoch nicht nach objektiven Kriterien. Zwar mag sie häufig der Realität entsprechen, zwingend ist sie aber nicht (vgl. auch Müller 2008). Vielmehr ist sie das Resultat einer sozialen Konstruktion. Der Doppelbefund des demokratischen Friedens lässt sich dann wie folgt erklären: „Im Ergebnis bildet sich eine demokratische Sicherheitsgemeinschaft heraus, die nach innen durch Verständnis und Solidarität gekennzeich‐ net ist und nach außen auf Unabhängigkeit und Distanz achtet. Die Gemeinschaftsmitglieder entwickeln ein starkes Gruppenbewusstsein oder „Wir-Gefühl“. Sie haben ein gemeinsames Interesse am Erhalt ihrer Gruppe und sind zunehmend bereit, Ressourcen zu ihrer Verteidigung zu mobilisieren“ (Hasenclever 2006, S. 229). Eine weitere Antinomie lässt sich dieser Kategorie zuordnen: die Am‐ bivalenz der liberalen Kultur. Die Wertorientierung der Bürgerinnen und Bürger und die liberale Kultur - unter anderem gekennzeichnet durch die Achtung der Menschenwürde, der Menschenrechte, des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit - zählen zu den zentralen Grundbedingungen des demokratischen Friedens. Vor diesem Hinter‐ grund mag der Demokratieexport im Sinne der Übertragung „ihre[r] internen Konfliktlösungsmechanismen auf die Außenbeziehungen“ (Müller 2002, S. 58) als wünschenswerte Strategie gelten. Dafür ste‐ hen verschiedene Wege offen: zum einen durch das Vertrauen „auf die unwiderstehliche Kraft von Modernisierungsprozessen“ (Hasen‐ 10.3 Antinomien des demokratischen Friedens 273 <?page no="274"?> clever 2006, S. 231; pazifistischer Liberalismus), zum anderen durch die „tätige[] Befreiung von Menschen aus Unrechtsverhältnisse[n]“ (Hasenclever 2006, S. 230f.) mittels militärischer Gewalt (militanter Liberalismus). Diesbezüglich weisen die einzelnen Demokratien sehr unterschiedliche Kulturen auf: Während beispielsweise Deutschland eher durch eine antimilitaristische Kultur geprägt sei, gebe es auch Demokratien wie die USA oder Großbritannien, deren Bevölkerungen sich sehr viel einfacher „von der Angemessenheit kriegerischer Maß‐ nahmen gegenüber einem nicht-demokratischen Staat überzeugen“ (vgl. Hasenclever 2006, S. 231) lassen. Konfliktverschärfende Folgen wettbewerblicher Strukturen: Wettbe‐ werbliche Strukturen sind wesentlicher Bestandteil demokratischer Institutionen im Staat, aber auch der Wirtschaftsbeziehungen von De‐ mokratien untereinander sowie weltweit. Aufgrund von Wohlfahrts‐ interessen entwickeln Demokratien ein kooperatives Verhalten und gehen interdependente Beziehungen mit anderen Staaten ein. Die dar‐ aus resultierenden Prozesse können sich jedoch ambivalent gestalten: „Wettbewerb kann Interesse an der kooperativen Erarbeitung von Rah‐ menregeln wecken oder zur friedlichen Transformation von Konflikten führen. Wettbewerb selbst kann überdies als friedliches Substitut für gewaltsame Konflikte verstanden werden. Er kann indes auch Interes‐ sengegensätze und damit Inklusions-/ Exklusionsdynamiken hervorru‐ fen oder verstärken“ (Müller 2003, S. 229f.). Hierfür steht beispielsweise die aktuelle wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den USA und der Europäischen Union, bei dem der Freihan‐ del zunehmend unter Druck gerät (vgl. Kapitel 6.2.1). Die Ambivalenz utilitaristischer Kosten-Nutzen-Kalküle: Aus Kants Grundannahme, dass Bürgerinnen und Bürger unter allen Umständen Kriegsopfer und Kriegskosten vermeiden würden, folge nicht zwingend 10 Frieden durch Demokratisierung 274 <?page no="275"?> eine friedfertige Außenpolitik. Denn so lassen sich (eigene) Opfer und Kosten durch neue militärische Optionen - sei es durch wirksamere Waffen, neue Technologien oder Strategien - umgehen. Auf diese Weise wird das Argument in sein Gegenteil verkehrt. In der politischen Praxis finden sich hierfür zahlreiche und auch aktuelle Beispiele: So führe der Trend zur Automatisierung und Autonomisierung von Waffen zu einer Humanisierung der Kriegsführung. Unbemannte Systeme können eingesetzt werden, ohne die eigenen Soldatinnen und Soldaten zu gefährden. Zudem gelten Drohnen als Präzisionswaffen; das fördere das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und minimiere zivile Opfer. Damit sinkt - empirisch wie normativ - die Hemmschwelle zum militärischen Einsatz (vgl. auch Müller und Schörnig 2001; Kapitel 7.1). Entdemokratisierungstendenzen durch Entscheidungsverlagerung: Gerade Demokratien sind vielfach in internationale Organisationen und Institutionen eingebunden. Damit einher geht eine Entschei‐ dungsverlagerung auf die internationale Ebene. Diese unterminiere aber zugleich zwei zentrale Grundbedingungen des demokratischen Friedens - die politische Partizipation der Bürgerinnen und Bürger sowie die Transparenz politischer Entscheidungen - und führe unmit‐ telbar „zur Aufhebung der wichtigsten friedensfördernden Mechanis‐ men“ (Müller 2003, S. 230). Dabei degradiere die in internationalen Organisationen, insbesondere in Verteidigungsallianzen, vielfach er‐ wartete Bündnissolidarität die Parlamente zu „pure[n] Akklamations‐ instanzen“ (Müller 2003, S. 230). Die von Harald Müller aufgezeigten Antinomien negieren nicht die Kausalitätsannahmen des demokratischen Friedens, relativieren sie aber (Müller 2002, S. 76). Dabei liegt für Müller (2002, S. 76) die größte Brisanz in der dritten Kategorie, das heißt „in der gegenwärtig beobachtbaren Tendenz, Risiken und Kosten des Krieges durch gezielte Rüstungsanstrengungen zu mindern“. 10.3 Antinomien des demokratischen Friedens 275 <?page no="276"?> 52 Die Begriffe Zivilisierung und Zivilisation sind nicht synonym zu ver‐ wenden; Zivilisierung ist hier stärker im Sinne von Zivilität zu verstehen. 10.4 Frieden als Zivilisierungsprozess - das zivilisatorische Hexagon Im Kontext liberaler Friedensstrategien steht neben dem Theorem des demokratischen Friedens ein weiterer Ansatz: Frieden durch Zivilisie‐ rung. 52 Mit ihm verbindet sich in der Friedensforschung insbesondere das von Dieter Senghaas (u. a. 1995) entwickelte zivilisatorische Hexa‐ gon. Allgemeinsprachlich steht Zivilisierung für die „Verwirklichung fortschrittlicher Lebensumstände und sozial verträglicher Verhaltens‐ weisen“ (Wortbedeutung.info 2020). Senghaas geht es allerdings nicht um Zivilisierung „in einem abstrakt-allgemeinen Sinne“, sondern um Konstitutionsbedingungen des Friedens „in und zwischen sich mo‐ dernisierenden beziehungsweise modernen Gesellschaften“ (Senghaas 1995, S. 196; Hervorh. im Original). Dabei bündelt er die „historische Erfahrung aus der neuzeitlichen Geschichte in Teilregionen Europas“ (Senghaas 1995, S. 202) und „[geht] den Wurzeln des relativ gewalt‐ freien Zusammenlebens in und zwischen westlichen Staaten auf den Grund“ (Müller 2003, S. 233). Im Ergebnis identifiziert er sechs Bedin‐ gungen für einen inneren Frieden, die sich zu einem zivilisatorischen Hexagon fügen (vgl. Schaubild 22): ▸ staatliches Gewaltmonopol: Eine wesentliche Friedensbedingung stellt „die Entprivatisierung der Gewalt beziehungsweise die Herausbildung eines legitimen, in aller Regel staatlichen Gewalt‐ monopols“ (Senghaas 1995, S. 198) dar. Sie markiert „die friedens‐ strategische conditio sine qua non“ ( Jaberg 2019, S. 86; Hervorh. im Original), ohne die eine gewaltfreie Konfliktbearbeitung nicht umsetzbar ist. 10 Frieden durch Demokratisierung 276 <?page no="277"?> ▸ Rechtsstaatlichkeit: Das Gewaltmonopol bedarf zu seiner Einhe‐ gung und Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit. Erst damit verliert es „seinen ursprünglichen Charakter, nämlich einfach eine Instanz von letztlich kriegerisch errungener, also willkürlicher Vormacht zu sein“ (Senghaas 1995, S. 199). Andernfalls bestünde die Gefahr der Entwicklung zu einer Diktatur. ▸ Interdependenzen und Affektkontrolle: Ein weiteres konfliktregu‐ lierendes Moment stellen für Senghaas die aus der arbeitsteiligen Ökonomie bekannten „langen Ketten des Handelns“ (Norbert Elias) dar. Sie schaffen Interdependenzen und damit Verflech‐ tungen zwischen den Individuen und verbinden sie mit dem Ganzen. Damit einher geht eine Affektkontrolle, das heißt „die in differenzierten Gesellschaften sich aus diversen komplexen Handlungszusammenhängen ergebende Selbstkontrolle bezie‐ hungsweise Selbstbeherrschung“ (Senghaas 1995, S. 200). Die Affektkontrolle stellt eine wesentliche Voraussetzung sowohl für Aggressionshemmung und Gewaltverzicht als auch für Toleranz und Kompromissfähigkeit dar (vgl. Senghaas 1995, S. 200; auch Müller 2003, S. 231). ▸ demokratische Partizipation: Sie dient der breiten Artikulation von Interessen in politisierbaren Gesellschaften und der Integra‐ tion dieser in den politischen Prozess. „Je offener und flexibler dabei das rechtsstaatlich-demokratische Institutionsgefüge ist, um so belastungsfähiger wird es bei anhaltenden und mögli‐ cherweise sich ausweitenden politischen Anforderungen sein“ (Senghaas 1995, S. 201). ▸ soziale Gerechtigkeit: Dazu zählen eine Politik der Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit sowie Maßnahmen der Sicherung der Grundbedürfnisse (Bedürfnisgerechtigkeit). Sie sind für die Mehrheit der Menschen in einem solchen politischen Rahmen 10.4 Frieden als Zivilisierungsprozess - das zivilisatorische Hexagon 277 <?page no="278"?> im Sinne der Fairness unerlässlich. „Die materielle Anreicherung von Rechtsstaatlichkeit, insbesondere im Sinne eines Anteils an Wohlfahrt, ist […] eine konstitutive Bedingung der Lebensfähig‐ keit von rechtsstaatlichen Ordnungen und damit des inneren Friedens“ (Senghaas 1995, S. 2ß1f.). ▸ Konfliktkultur: Die beschriebenen gesellschaftlichen Entwick‐ lungen und sozialisatorischen Prägungen können - so Senghaas (1995, S. 202) - die Voraussetzungen dafür schaffen, „daß ein solches Arrangement verläßlich verinnerlicht wird, eine Bereit‐ schaft zur produktiven Auseinandersetzung mit Konflikten vor‐ liegt und kompromißorientierte Konfliktfähigkeit einschließlich der dafür erforderlichen Toleranz zu einer selbstverständlichen Orientierung politischen Handelns wird“. Gewaltmonopol Interdependenzen und Affektkontrolle Soziale Gerechtigkeit Konfliktkultur Demokratische Partizipation Rechtsstaatlichkeit Schaubild 22: Das zivilisatorische Hexagon nach Dieter Senghass (1995, S. 203) 10 Frieden durch Demokratisierung 278 <?page no="279"?> 53 Gleichwohl nimmt das Gewaltmonopol - wie es Sabine Jaberg dezidiert anmerkt - eine besondere Stellung ein, wofür „die Platzierung des Gewaltmonopols an prominenter Stelle, nämlich der oberen Spitze des Hexagons“ ( Jaberg 2019, S. 86) stehe. Das zivilisatorische Hexagon ist nicht „monothematisch oder schrumpftheoretisch“ von einem der sechs Punkte her zu denken, sondern konfigurativ. Erst aus der Betrachtung der Gesamtheit aller sechs Komponenten ergeben sich die „eingebauten wechselseitigen Korrektive (negative Rückkoppelungen)“ wie „die sich wechselseitig stützenden Rückkoppelungen“ (Senghaas 1995, S. 204). 53 Im Ergebnis führen die genannten Kriterien des zivilisatorischen Hexagons zu einem inneren Frieden. Frieden durch Zivilisierung „Wo Politik innerhalb von Gesellschaften zu verläßlicher Koexis‐ tenz führt, ist innerer Frieden gesichert. Der Zusammenbruch von Koexistenz, also Regression, wäre dann gleichbedeutend mit Entzivilisierung beziehungsweise der Gefährdung und dem Verlust des inneren Friedens. Gelungene Zivilisierung und Frieden sind also identische Tatbestände“ (Senghaas 1995, S. 197; Hervorh. im Original). In einem weiteren Schritt diskutiert Dieter Senghaas die Übertragbar‐ keit des zivilisatorischen Hexagons auf die internationale Ebene. Ange‐ sichts unterschiedlicher Realitäten könne dieses „nicht unkontextiert auf die Welt insgesamt übertragen werden“ (Senghaas 1995, S. 214). Dennoch sei „die zivilisatorische und damit friedenspolitische Aufga‐ benstellung vergleichbarer Natur“ (Senghaas 1995, S. 214). Folgend 10.4 Frieden als Zivilisierungsprozess - das zivilisatorische Hexagon 279 <?page no="280"?> 54 Die ersten drei Postulate übernimmt er von Georg Picht (1971, S. 33) und ergänzt diese um einen weiteren Schutzimperativ. benennt er in Anlehnung an Georg Picht vier Postulate 54 für eine Zivilisierung internationaler Politik: ▸ Schutz vor Gewalt durch Erwartungssicherheit, ▸ Schutz der Freiheit durch Rechtsstaatlichkeit, ▸ Schutz vor Not durch ökonomischen Ausgleich sowie ▸ Schutz vor Chauvinismus durch Empathie. Diese haben sich „historisch als notwendig für einen tragfähigen, das heißt nachhaltigen politischen Modus Vivendi erwiesen, der als ‚En‐ gelskreis‘ die Chancen zu politischer Progression beschreibt“ (Seng‐ haas und Senghaas-Knobloch 2019, S. 52f.). Dazu bedarf es anhaltender Bemühungen, auch weil Rückfälle - selbst in etablierten Demokratien - immer möglich sind (vgl. Senghaas 1995, S. 222; Senghaas und Senghaas-Knobloch 2019, S. 52f.). Das zivilisatorische Hexagon hat eine breite Rezeption erfahren und „der erlahmten Diskussion über die Friedenstheorie wichtige produk‐ tive Anstöße gegeben“ (Vogt 1996, S. 100), zugleich aber auch ein geteiltes Echo hervorgerufen: Einerseits sehen Friedensforscherinnen und -forscher im Hexagon einen „umfassenden Ansatz zu den Grund‐ bedingungen zivilisierter Konfliktbearbeitung“ (Ropers und Debiel 1995, S. 16) beziehungsweise eine „Basisstruktur einer verlässlichen Friedensordnung“ (Matthies 1997, S. 22). Andererseits ist das Seng‐ haas’sche Konzept auf heftige Kritik gestoßen, insbesondere bei den‐ jenigen, die die Gewaltursachen in der westlichen Entwicklung und deren Strukturen festmachen (vgl. Müller 2003, S. 238). Dabei werden vor allem folgende Einwände in Anschlag gebracht (vgl. Jaberg 2019, S. 91ff.; Vogt 1996, S. 101ff.; Müller 2003, S. 233ff.): 10 Frieden durch Demokratisierung 280 <?page no="281"?> ▸ Ambivalenz des staatlichen Gewaltmonopols: Friedenswissen‐ schaftlich erfährt das staatliche Gewaltmonopol eine dreifache Kritik. So diene es erstens der „Stabilität staatlicher Herrschaft“ (Zellentin 1995, S. 59; zit. nach Jaberg 2019, S. 92). Zweitens stehe es für „militärisch organisierte[] Gewalt“ (Zellentin 1995, S. 60; zit. nach Jaberg 2019, S. 92). Und drittens komme darin eine „Paradoxie“ zum Ausdruck, wenn „Gewalt - und mithin die Negation des Friedens - als staatliches Gewaltmonopol und als zivilisierende Gewalt zusätzlich auf der Seite des positiven Friedens auftaucht“ (Brücher 2002, S. 230; zit. nach Jaberg 2019, S. 93). Die dahinterstehende Fundamentalkritik - der staatliche Missbrauch von Gewalt als Kehrseite des staatlichen Gewaltmo‐ nopols - lässt sich aber auch entkräften. So bindet Senghaas das staatliche Gewaltmonopol bewusst an die Rechtsstaatlich‐ keit und demokratische Partizipation zurück (vgl. Müller 2003, S. 233). ▸ Ambivalenz der Affektkontrolle: Kritikerinnen und Kritiker beto‐ nen die friedensgefährdenden Momente der Affektkontrolle. So könne diese zu einer „Barriere gegenüber der eigenen Emotio‐ nalität“ führen und „die Fähigkeit zur Einfühlung in fremdes Leiden und fremde Notlagen [erschweren]“ (Brücher 2002, S. 236; zit. nach Jaberg 2019, S. 94). Auch hier sieht das Gegenargument ähnlich aus: Übersehen werde, dass die Affektkontrolle nicht für sich alleine steht, sondern an die anderen Komponenten des Hexagons rückgebunden ist, etwa an eine konstruktive Konfliktkultur (vgl. Müller 2003, S. 233). ▸ Eurozentrismus: Als zentral erweist sich auch der Vorwurf eines Eurozentrismus. So werde die westliche Zivilisation in den Fokus der Betrachtung gerückt, idealisiert und von der Universa‐ lisierbarkeit der europäischen Erfahrungen und Entwicklungen 10.4 Frieden als Zivilisierungsprozess - das zivilisatorische Hexagon 281 <?page no="282"?> ausgegangen. Senghaas (1995, S. 206) selbst betont: „Das zivili‐ satorische Hexagon systematisiert Erfahrungen, die ganz ohne Zweifel europäischen und nicht außereuropäischen Ursprungs sind. […] Insofern ist ihre Charakterisierung als eurozentristisch korrekt. Universelle Geltung gewinnen diese Errungenschaften in der Gegenwart nicht dadurch, daß eine solche postuliert oder gar in der übrigen Welt missionarisch propagiert wird. Die universelle Geltung stellt sich vielmehr dadurch ein, daß es auch in allen übrigen Teilen der Welt einen Übergang in die Moderne, das heißt in sozial mobile und darauf aufbauend politisierte Gesellschaften gibt“. ▸ Gleichzeitigkeit von Zivilisation und Barbarei: Kritikerinnen und Kritiker wie Wolfgang R. Vogt werfen dem Senghaas’schen Kon‐ strukt eine Idealisierung der westlichen Zivilisation vor. Denn diese habe zugleich auch Gewalt freigesetzt: innergesellschaft‐ lich als Unterwerfung der Schwachen und Unterprivilegierten sowie zwischenstaatlich, wofür exemplarisch die Kriegsgräuel im 19. und 20. Jahrhundert stehen (vgl. Vogt 1996, S. 103). Diese Gewaltexzesse lediglich als Regressionen zu betrachten, verstell‐ ten - so Vogt (1996, S. 106) - „den Blick für die unheilvolle, verkoppelte Gleichzeitigkeit von Zivilisation und Barbarei in der Moderne“. ▸ insuffiziente Eckvariablen: Aus einer „modellimmanenten Kritik“ ( Jaberg 2019, S. 91) heraus stellen die sechs Komponenten des zivilisatorischen Hexagons zwar notwendige, aber keine hinrei‐ chenden Kriterien einer Zivilisierung dar. In diesem Kontext werden verschiedene Erweiterungen in die Debatte eingebracht: Christoph Drewes (1997, S. 128) plädiert für „einen Kreis der Nachhaltigkeit“, der alle sechs Eckpunkte umschließt. Günther Bächler (1997, S. 319) verortet die ökologische Dimension als 10 Frieden durch Demokratisierung 282 <?page no="283"?> einen siebten Eckpunkt. Ulrike C. Wasmuht (1998, S. 377) fordert dagegen in feministischer Kritik die Aufnahme der Kategorie „Geschlecht“ ein. Harald Müller (2003, S. 234) wiederum schlägt eine Erweiterung zum „Dekagon“ vor. So seien Interdependenz und Affektkontrolle zwei eigenständige Elemente von Zivilisa‐ tion. Zudem seien eine aktive und engagierte Zivilgesellschaft, Vertrauen sowie die wirtschaftliche Struktur, insbesondere die Frage ihrer Konzentration, unverzichtbare Teile einer gewalt‐ freien Zivilisation. Senghaas lehnt eine Komponentenerweite‐ rung nicht prinzipiell ab, eine solche sei allerdings nur notwen‐ dig, wenn das Hexagon aus „systematischen Gründen erweitert werden muss, um zivilisierte Konfliktbearbeitung in allen kon‐ kreten Politikfeldern zu garantieren“ (Senghaas 2004, S. 134; Hervorh. im Original). 10.5 Fazit Das liberale Forschungsprogramm unterscheidet sich von den beiden zuvor behandelten Ansätzen vorrangig dadurch, dass es darauf insis‐ tiert, die Blackbox des Staates zu öffnen (vgl. Mayer 2017, S. 554). Damit wird es möglich, innergesellschaftliche Friedensbedingungen freizulegen. Vor dem Hintergrund der Theoreme des demokratischen Friedens und des zivilisatorischen Hexagons scheint die Förderung von Demokratie und Demokratisierungsprozessen friedenspolitisch geboten. Die westliche Politik - und dafür steht exemplarisch die Politik der Europäischen Union - hat diese Empfehlung aufgegriffen und versucht, sie in die Praxis umzusetzen. Dieser direkte Zugriff, so Harald Müller (2002, S. 47), verwundert nicht, denn: „Über sich selbst Gutes zu hören, ist stets angenehm“. Aber nicht nur in der politischen 10.5 Fazit 283 <?page no="284"?> Praxis scheint die Umsetzung mit Schwierigkeiten behaftet, auch in der Theorie sind die liberalen Annahmen über den unmittelbaren Kausal‐ zusammenhang von Frieden und Demokratie nicht unumstritten. Darüber hinaus - und hierin liegt das eigentliche Defizit - erklären beide Theoreme nicht, wie Frieden zwischen heterogenen Akteuren (beispielsweise zwischen Demokratien und autoritären Regimen) ge‐ lingen kann und welche Rahmenbedingungen strategisch verlässli‐ chen Friedenshandelns in diesen Kontexten zu gelten haben. Denn „[e]s gibt gesellschaftliche Umbruchsituationen, in denen die Anwen‐ dung der liberalen Demokratie westlicher Provenienz nicht möglich erscheint“ (Tetzlaff 2017, S. 663). In diesem Sinne konstatiert auch Harald Müller (2003, S. 242): „Das ‚zivilisatorische Hexagon‘ ebenso wie die Theorie vom ‚demo‐ kratischen Frieden‘ gehen das Risiko ein, aus einer kontingenten historischen Formation auf generalisierbare Friedensursachen hin zu schließen. Sie bleiben dabei die Antwort auf die Frage schuldig, ob und wie Frieden zwischen den relativ homologen Akteuren innerhalb dieser Ordnung und jenen außerhalb, also Frieden in einer heterogenen Welt möglich sein kann. Sie vermögen bislang auch nichts über die Robustheit des Modells gegenüber Herausforderungen aus der Tiefen‐ struktur zu sagen. Genau in diesen beiden offenen Fragen liegen die Hausaufgaben künftiger Friedenswissenschaft.“ Weiterführende Literatur: Czempiel, Ernst-Otto. 1998. Friedensstrategien. Eine systematische Dar‐ stellung außenpolitischer Theorien von Machiavelli bis Madariaga. 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag. Ausgehend vom Verständnis des Friedens als Prozess untersucht der Autor institutionalistische wie auch liberale Friedensstrategien. Im ersten Fall wird der Friede 10 Frieden durch Demokratisierung 284 <?page no="285"?> durch Einwirkung auf die Interaktion gesucht, im zweiten durch Änderung gesellschaftlicher Strukturen. Geis, Anna, Harald Müller und Wolfgang Wagner (Hrsg.). 2007. Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Zur Kritik einer Theorie liberaler Außen- und Sicherheitspolitik. Frankfurt a. M.: Campus Verlag. In Anlehnung an Immanuel Kant sind Demokratien fried‐ fertig. Dennoch führen sie militärische Interventionen und Demo‐ kratisierungsfeldzüge durch. Der Band geht diesen Schattenseiten liberaler Friedens- und Sicherheitspolitik nach. Vogt, Wolfgang R. (Hrsg.). 1995. Frieden als Zivilisierungsprojekt. Neue Herausforderungen an die Friedens- und Konfliktforschung. Baden-Baden: Nomos. Dieser Band startet mit einem Beitrag von Dieter Senghaas zum „Frieden als Zivilisierungsprojekt“. Er und die anderen Autorinnen und Autoren reflektieren in diesem Band den Ansatz „Frieden durch Zivilisierung“ und diskutieren die damit verbundenen Friedensbedingungen. 10.5 Fazit 285 <?page no="287"?> 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden Konstruktivistische Zugänge zum Frieden brechen mit den rationalis‐ tischen und materialistischen Annahmen der (neo)realistischen wie auch der institutionalistischen und liberalen Theorieschulen. Im Fokus der Betrachtung stehen hier nicht Fragen der Macht- oder Wohlfahrts‐ maximierung. Nach konstruktivistischem Verständnis folgen Staaten und gesellschaftliche Gruppen in ihrem Verhalten einer Logik der Angemessenheit. In diesem Sinne konstituiert sich internationale Politik als „ein sozialer Raum, der von Ideen (in Gestalt von Werten, Kultur und Identitäten) bestimmt ist, die die Vorstellungen und das Handeln der Akteure prägen und weit mehr sind als ein Oberflächen‐ reflex materieller Bedingungen“ (Mayer 2017, S. 556). Insbesondere mit dem Ende des Kalten Krieges haben konstruktivistische Ansätze eine zunehmende Bedeutung in den Internationalen Beziehungen erfahren; Jeffrey Checkel (1998) spricht in diesem Kontext von einem „Constructivist Turn“. Die Friedens- und Konfliktforschung hat schon sehr früh diesen Weg eingeschlagen und sich nicht-materiellen Faktoren gewidmet, „ohne dabei von ‚Konstruktion‘ oder ‚konstruktivistischen Faktoren‘ zu sprechen“ (Weller 2008): „Self-fulfilling prophecies (Kelman 1965), autistische Wahrnehmungs‐ strukturen (Senghaas 1972), Lernpathologien (Deutsch 1966), Fehlwahr‐ nehmungen ( Jervis 1976), gesellschaftliche Projektionen (Richter 1982), Feindbilder (Senghaas 1969), ‚Subjektivität‘ (Steinweg und Wellmann 1990) und ideologische Faktoren (Vilmar 1972) sind nur einige der <?page no="288"?> Stichworte und Konzepte, die in den wissenschaftlichen Analysen von Krieg und Frieden lange Zeit vor dem Aufkommen des ‚Konstruk‐ tivismus‘, insbesondere in der politikwissenschaftlichen Teildisziplin ‚Internationale Beziehungen‘ eine bedeutsame Rolle spielten“ (Weller 2008). Für Christoph Weller (2008) liegen Kriegsursachen wie Friedensbedin‐ gungen „nachweislich auch - oder sogar vor allem - in subjektiven und kollektiven Konstruktionen der jeweiligen Konflikt-‚Wirklichkeiten‘“ begründet. Dennoch haben sich in diesem Feld keine systematischen Forschungslinien oder dominierenden Theoreme herausgebildet. Viel‐ mehr sind parallele Diskurse erkennbar, die häufig voneinander unab‐ hängig geführt werden, aber durchaus inhaltliche Überschneidungen und Bezüge aufweisen. In diesem Kapitel werden zwei vielverspre‐ chende Zugänge näher vorgestellt: der Einfluss von Respekt und Anerkennung in Friedensfragen sowie die in diesem Kontext dem Ver‐ trauen zukommende Rolle. Letzteres ist nicht neu; vertrauensbildende Maßnahmen und das damit im Zusammenhang stehende Konzept der gemeinsamen Sicherheit stellte zu Hochzeiten des Kalten Krieges eine zentrale Friedensstrategie dar. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes trat dieser Ansatz weitgehend in den Hintergrund, dabei scheint er angesichts aktueller Spannungen und Machtrivalitäten dringlicher denn je. 11.1 Der konstruktivistische Zugang zum Frieden Zu den prominentesten Vertretern des Konstruktivismus zählt in den Internationalen Beziehungen Alexander Wendt (u. a. 1992, 1999). Er setzt sich kritisch mit den (neo)realistischen Grundannahmen, wie sie beispielsweise Kenneth Waltz formuliert hat (vgl. Kapitel 8.1), aus‐ 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 288 <?page no="289"?> einander. So seien „nicht allein materielle Faktoren wie ökonomische Ressourcen oder militärische Fähigkeiten, sondern auch immaterielle Faktoren wie Ideen, Normen und Identitäten bei der Erklärung von in‐ ternationaler Politik entscheidend“ (Ulbert 2015, S. 254). Dabei wendet sich Wendt drei Aspekten beziehungsweise Problemlagen zu: (1) dem Verhältnis von Akteur und Struktur, (2) dem Stellenwert der Anarchie sowie (3) der Basis des Handelns von Staaten im internationalen System (vgl. Ulbert 2006, S. 415; 2015, S. 254). Ausgangspunkt ist bei Wendt das Wechselverhältnis zwischen kol‐ lektivem sozialem Handeln und sozialen Strukturen. Dabei seien so‐ wohl rein individualistische als auch ausschließlich strukturalistische Ansätze zur Erklärung sozialer Phänomene verkürzend. Vielmehr bedingen Akteure und Strukturen sich gegenseitig: Einerseits sind Strukturen „konstitutiv für Akteure und deren Interessen“, anderer‐ seits „[können] Akteure diese Strukturen durch ihr Handeln immer wieder reproduzieren und aufrechterhalten, aber auch verändern“ (Ulbert 2006, S. 417). Das heißt: „Die (soziale) Realität ist sehr viel mehr von uns Menschen gemacht als wir wahrhaben wollen“ (Krell 2004, S. 78). An diesem Punkt setzt Wendt`s Hauptkritik am (Neo)Realismus an. Denn so sei auch die Anarchie im internationalen System nicht unausweichlich, sondern das Resultat der Konstruktion von Staaten: „Anarchy is What States Make of it” (Wendt 1992). Das im (Neo)Rea‐ lismus bestimmende Sicherheitsdilemma und der daraus folgende Rüstungswettlauf hängen vielmehr von den Signalen, die Staaten im internationalen System aussenden, und von den Interpretationen dieser durch die anderen Staaten ab. Dabei seien verschiedene Ent‐ wicklungen denkbar: „Ein Teufelskreis aus Angst und Misstrauen wäre ebenso möglich wie ein Engelskreis aus Neugier und Vertrauen“ (Krell und Schlotter 2018, S. 334). 11.1 Der konstruktivistische Zugang zum Frieden 289 <?page no="290"?> „Anarchy is What States Make of it” (Auszug) „This process of signaling, interpreting, and responding comple‐ tes a ‚social act‘ and begins the process of creating intersubjec‐ tive meanings. […] Self-help security systems evolve from cycles of interaction in which each party acts in ways that the other feels are threatening to the self, creating expectations that the other is not to be trusted. Competitive or egoistic identities are caused by such insecurity; if the other is threatening, the self is forced to ‘mirror’ such behavior in its conception of the self ’s relationship to that other. Being treated as an object for the gratification of others precludes the positive identification with others necessary for collective security; conversely, being treated by others in ways that are empathic with respect to the security of the self permits such identification” (Wendt 1992, S. 405, 406 f.). Nach Wendt (1999, S. 254) sind drei prinzipielle Ausrichtungen von Beziehungen zwischen Staaten im internationalen System denkbar: Sie können sich gegenseitig als Feinde, Rivalen oder Freunde wahrnehmen (vgl. Ulbert 2006, S. 421f.; Schaubild 23). Aus diesen Rollen ergeben sich verschiedene Strukturen. Charakterbildend für diese sind unter‐ schiedliche Stufen der Gewaltbereitschaft: ▸ Hobbes’sche Kultur: In dieser nehmen sich die Staaten einander als eine Art Widersacher wahr. Es herrscht ein potenzieller „Krieg aller gegen alle“. Die Beziehungen zwischen ihnen sind durch Feindschaft geprägt. Es besteht eine hohe Gewaltbereit‐ 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 290 <?page no="291"?> schaft, die in der Folge zu einem anarchischen Selbsthilfesystem führt. ▸ Locke’sche Kultur: Sie ist durch Rivalität gekennzeichnet. Die Akteure stehen untereinander in einem (ökonomischen) Wett‐ bewerb. Aus Eigennutz erkennen sie internationale Regeln und Normen an. Die Strukturen sind hier nicht mehr antagonistisch, wobei Akteure zur Durchsetzung ihrer Interessen unter Umstän‐ den auch bereit sein können, Gewalt anzuwenden, ▸ Kantianische Kultur: Hier nehmen sich die Staaten gegenseitig als Freunde beziehungsweise Verbündete wahr. Ihre Beziehun‐ gen zeichnen sich durch Kooperation aus. Sie agieren miteinan‐ der auf der Basis von Respekt, Anerkennung und Legitimität. Damit verbunden ist eine gewaltfreie Beilegung von Meinungs‐ verschiedenheiten. Feind Rivale Freund hoch Gewaltbereitschaft niedrig Schaubild 23: Rollenverständnisse internationaler Akteure nach Cornelia Ulbert (2006, S. 421) in Anlehnung an Alexander Wendt (1999, S. 254) Diese verschiedenen Rollenverständnisse im Handeln von Staaten sind nicht nur das Resultat materieller Strukturen, sie werden wesentlich von ideellen Faktoren bestimmt: „Erst diese Ideen sorgen dafür, dass die Interessen von Staaten inhaltlich bestimmt werden, dass abstrakte Konzepte wie ‚Macht‘ eine Bedeutung erhalten und dass sich Staaten darüber im Klaren werden, mit welchen Strategien sie ihre Interessen verfolgen“ (Ulbert 2006, S. 423). 11.1 Der konstruktivistische Zugang zum Frieden 291 <?page no="292"?> Ideen sind dabei nicht lediglich ein „Ausdruck von Interessen“ oder ein „Filter für die Wahrnehmung von Interessen“; sie „ermöglichen und rechtfertigen Handlungen, Handlungsspielräume und Strategien“ (Krell und Schlotter 2018, S. 338; Hervorh. im Original). In diesem Sinne ist auch das Menschenbild im Konstruktivismus nicht fix und unver‐ änderlich, das heißt der Mensch ist nicht von Natur aus friedfertig oder aggressiv, sondern variabel und abhängig von historischen und kulturellen Kontexten (vgl. Wendt 1999, S. 133; Krell und Schlotter 2018, S. 339). Indem sich Ideen, Normen und Identitäten in der Inter‐ aktion mit anderen Akteuren verändern und zu einer Neubestimmung von Interessen führen können, wird auch ein struktureller Wandel im internationalen System möglich (vgl. Ulbert 2006, S. 423f.). Der Konstruktivismus unterscheidet sich somit in zentralen Punkten von anderen Theorieschulen. Die Akteure haben andere Dispositio‐ nen. Zentral ist die soziale Angemessenheit von Handlungen, nicht ihre Zweckrationalität. Für die konstruktivistische Denkschule cha‐ rakteristisch sind - noch einmal zusammenfassend dargestellt - drei Faktoren: ▸ Internationale Gegebenheiten wie die Anarchie sind zu einem Großteil nicht Ergebnis materieller Bedingungen, sondern sozial konstruiert „im Sinne von ‚hergestellt‘ und damit grundsätzlich auch veränderbar“ (Krell und Schlotter 2018, S. 339). ▸ Ideen spielen eine größere Rolle als in anderen Theorieschulen. Nicht die Struktur des internationalen Systems entscheidet, wie wir Staaten wahrnehmen, sondern „unsere Vorstellungen und Interpretationen, also ‚Ideen‘, die […] auf doppelte Weise (über die Reaktionen der Gegenseite) Realität selbst herstellen“ (Krell und Schlotter 2018, S. 342). 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 292 <?page no="293"?> ▸ Zudem erfahren kulturelle Faktoren, insbesondere Identitäten und Normen, in den internationalen Beziehungen eine Aufwer‐ tung. Wie in einem Schachspiel konstituieren sie „die Rollen der Figuren und ihr Verhältnis zueinander, und sie verleihen Zügen einen Sinn“ (Krell und Schlotter 2018, S. 342). Inwieweit der Konstruktivismus als eigenständige Theorieschule auf einer Stufe stehend neben dem (Neo)Realismus, Institutionalismus und Liberalismus gelten kann, ist umstritten. Gert Krell und Peter Schlotter (2018, S. 345) sprechen vielmehr von einer „generelle[n] For‐ schungsperspektive“, die „die Beachtung selbstverständlicher sozial- oder geisteswissenschaftlicher Einsichten und Haltungen anmahnt“. So lasse sich der Konstruktivismus auch mit anderen theoretischen Perspektiven verbinden. Beispielhaft steht dafür die konstruktivisti‐ sche Interpretation des demokratischen Friedens (vgl. Kapitel 10.2). 11.2 Respekt und Anerkennung Debatten um Respekt und Anerkennung können konstruktivistisch gelesen und fruchtbar gemacht werden. Indem der Fokus auf der so‐ zialen Angemessenheit liegt, kommen Verhaltensweisen der Akteure („appropriate behaviours“; Lindemann 2010, S. 22) stärker in den Blick: „This means, for example, that it is important to know if state actors perceive themselves as representatives of a traditional military power or as that of a ‘civil power’ in order to understand their interest or their hesitation in sending their soldiers into battle” (Lindemann 2010, S. 22). Fragen um Respekt und Anerkennung gehen aber noch weiter. Aner‐ kennung stellt „ein fundamentales menschliches Bedürfnis“ (Wolf 2017, S. 903) dar. Das bedeutet: „Wird sie Individuen oder ihren Identifikati‐ 11.2 Respekt und Anerkennung 293 <?page no="294"?> onsgruppen verweigert, kommt es zu Störungen von Kommunikation und Zusammenarbeit, weil Akteure ihren Anspruch auf angemessenen Respekt missachtet sehen. Umgekehrt spricht Vieles dafür, dass mehr Respekt friedliche Kooperation fördert“ (Wolf 2017, S. 903). Die essen‐ zielle Bedeutung, die diesen Faktoren zukommt, spiegelte sich jedoch lange Zeit kaum in den Forschungen der Internationalen Beziehungen wider (vgl. Wolf 2008, S. 7). Zuvorderst waren es Vertreterinnen und Ver‐ treter der Politischen Philosophie, die sich diesen Debatten stellten (vor allem Honneth 1992; Taylor 1993). Das scheint sich - auch infolge des „constructivist turn“ in den Internationalen Beziehungen - zu ändern. In der deutschen Friedensforschung ist es gegenwärtig insbesondere Reinhard Wolf (2008, 2011, 2017), der den Einfluss der immateriellen Faktoren Respekt und Anerkennung auf Konfliktkonstellationen und deren Nutzbarmachung für Friedensstrategien untersucht. Begrifflich lassen sich unter Respekt und Anerkennung zunächst einmal „affirmative Verhaltensweisen beziehungsweise Haltungen“ verstehen, „die Akteure gegenüber fremden Identitäten zum Ausdruck bringen“ (Wolf 2017, S. 905). Der Terminus der Anerkennung ist viel‐ schichtig; er kann verschiedene semantische Bedeutungen annehmen (vgl. Smetkamp 2012, S. 112): 1. die formelle Anerkennung als Rechtsprechung (innerstaatlich, aber auch auf völkerrechtlicher Ebene wie beispielsweise die Anerkennung von Staaten oder der Autonomie von Gebieten; Anm. d. Verf.); 2. die würdigende Anerkennung als Lob für die Leistung oder Fähigkeit von Personen oder Institutionen; 3. die bejahende Anerkennung als Akzeptanz und Toleranz von Standpunkten oder Forderungen; 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 294 <?page no="295"?> 4. die epistemologische Anerkennung als ein Für-Wahr-Halten von Aussagen oder Tatbeständen; 5. die deontologische Anerkennung als Achtung, beispielsweise des Status von Personen als frei und selbstbestimmt, sowie 6. die konsequenzialistische Anerkennung als Rücksichtnahme ge‐ genüber Personen, die von der eigenen Handlung betroffen sind. Auch lassen sich verschiedene Sphären der Anerkennung - ohne diese hier näher ausführen zu können - ausmachen, wie die Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse bei Axel Honneth aufzeigt (vgl. Schaubild 24). Anerken‐ nungsweise emotionale Zuwendung kognitive Achtung soziale Wert‐ schätzung Persönlich‐ keitsdimension Bedürfnis- und Affektnatur moralische Zurechnungsfähigkeit Fähigkeiten und Eigenschaften Anerken‐ nungsformen Primärbezie‐ hungen (Liebe, Freundschaft) Rechtsverhält‐ nisse (Rechte) Wertegemein‐ schaft (Solidari‐ tät) Entwicklungs‐ potenzial - Generalisie‐ rung, Materiali‐ sierung Individualisie‐ rung, Egalisie‐ rung praktische Selbstbezie‐ hung Selbstvertrauen Selbstachtung Selbstschätzung Missachtungs‐ formen Misshandlung und Vergewalti‐ gung Entrechtung und Ausschlie‐ ßung Entwürdigung und Beleidigung bedrohte Per‐ sönlichkeits‐ komponente physische Integrität soziale Integrität „Ehre“, Würde Schaubild 24: Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse nach Axel Honneth (1992, S. 211) 11.2 Respekt und Anerkennung 295 <?page no="296"?> 55 Respekt wird häufig auch synonym zu dem Begriff der Achtung verwen‐ det (vgl. u. a. Smetkamp 2012, Kap. III; Correll 2016, S. 86). Für den Kontext der Friedens- und Konfliktforschung erweist sich die Definition von Reinhard Wolf als konstruktiver Referenzrahmen: Anerkennung „Soziale Anerkennung kann als Akt verstanden werden, mit dem Alter deutlich macht, dass er Egos Selbstbild akzeptiert. Indem er dieses bestätigt, verfestigt er es für Ego (aber auch in der Wahrnehmung Dritter) und beseitigt eine mögliche Quelle von Irritationen und Konflikten. Da jedes Selbstbild ganz he‐ terogene Inhalte von unterschiedlicher Relevanz haben kann (von trivialen biographischen Ereignissen bis hin zu höchst in‐ dividuellen Stärken oder Schwächen) kann auch Anerkennung ganz verschiedene Formen und Qualitäten annehmen: rechtliche Gleichstellung, öffentliche Auszeichnung, persönliche Bewun‐ derung, Freundschaft und Liebe“ (Wolf 2017, S. 905). Demgegenüber ist Respekt 55 ein enger zu fassender Begriff. Er bezieht sich auf die Anerkennung des Status einer Person oder Institution und damit auf die Anerkennung einer bestimmten Position innerhalb einer sozialen Hierarchie (vgl. Wolf 2017, S. 905). 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 296 <?page no="297"?> Respekt „Vom Streben nach sozialem Respekt will ich deshalb immer dann sprechen, wenn Akteure (Individuen, informelle Gruppen, Organisationen) mit ihren Handlungen (auch oder ausschließ‐ lich) darauf abzielen, dass ihr selbstempfundener Wert eine an‐ gemessene Beachtung durch ihre soziale Umwelt erfährt. Verein‐ facht ausgedrückt verlangen wir nach möglichst vollständiger Respektierung all dessen, worauf sich unser Selbstwertgefühl gründet“ (Wolf 2008, S. 8; Hervorh. im Original). Akteuren kann es, wenn sie nach Respekt streben, um verschiedene Aspekte gehen. Sie können um eine „angemessene[] Beachtung ihrer physischen Gegenwart, ihrer sozialen Bedeutung (im Sinne von ‚Wich‐ tigkeit‘), ihrer Standpunkte, Ideen und Werte, ihrer Interessen und Bedürfnisse, ihrer Leistungen, Fähigkeiten, Verdienste und Vorzüge [oder, Anm. d. Verf.] ihrer Rechte“ streben (Wolf 2008, S. 10). In der internationalen Politik können beispielsweise Staaten, „die ihr Ansehen oder ihren Status gewürdigt sehen wollen oder einfach nur mehr internationale Beachtung finden möchten“ (Wolf 2008, S. 16), nach Respekt und Anerkennung streben. In Anlehnung an Axel Honneth und Charles Taylor ist „ein positives Selbstverhältnis elementar angewiesen auf die Anerkennung durch andere“ (Wolf 2017, S. 906). Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass eine Verweigerung dieser Anerkennung „nicht stoisch ignoriert werden“ kann, sondern „eine schwerwiegende Verletzung des eigenen Selbstwertgefühls“ darstellt (Wolf 2017, S. 906). In der Konsequenz führt dies zu einem „Kampf um Anerkennung“ (Honneth 1992) - eine für Honneth zentrale Ursache sozialer Konflikte (vgl. auch Wolf 2017, 11.2 Respekt und Anerkennung 297 <?page no="298"?> S. 907). Zugleich bietet das Wissen um die Hintergründe aber auch einen Ansatzpunkt zu einer friedlichen Konfliktbearbeitung. In der internationalen Politik lassen sich zahlreiche Beispiele aus‐ machen, die die Bedeutung der Faktoren Respekt und Anerkennung aufzeigen (vgl. Wolf 2008, S. 25ff.). Im europäischen Kontext steht dafür exemplarisch Russland. Die russische Führung kämpft seit dem Ende des Kalten Krieges um eine größere Beachtung ihrer Rolle in der Welt - insbesondere durch den Westen. Mit den Osterweiterungen von EU und NATO bis an die russische Grenze heran wurde dieses Bedürfnis weitgehend missachtet; Kränkungen und Verletzungen waren die Folge (vgl. Wolf 2008, S. 30f.). So mahnte Wladimir Putin auch vor 20 Jahren im Deutschen Bundestag Verhandlungen auf Augenhöhe an. Seine Forderungen blieben weitgehend ungehört. Diese Politik der Nichtanerkennung verschärfte die Spannungen und Konflikte zwischen Russland und dem Westen. Russland wendet sich zunehmend vom Westen ab und schafft eine zu ihm in Abgrenzung stehende eigene Identität. Rede von Wladimir Putin im Deutschen Bundestag am 25. September 2001 (Auszug) „Russland hegte gegenüber Deutschland immer besondere Ge‐ fühle. Wir haben Ihr Land immer als ein bedeutendes Zentrum der europäischen und Weltkultur behandelt, für deren Entwick‐ lung auch Russland viel geleistet hat. Kultur hat nie Grenzen gekannt. Kultur war immer unser gemeinsames Gut und hat die Völker verbunden. Heute erlaube ich mir die Kühnheit, einen großen Teil meiner Ansprache in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant, in der deutschen Sprache, zu halten. […] Trotz allem Positiven, das in den vergangenen Jahrzehnten erreicht 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 298 <?page no="299"?> wurde, haben wir es bisher nicht geschafft, einen effektiven Mechanismus der Zusammenarbeit auszuarbeiten. Die bisher ausgebauten Koordinationsorgane geben Russland keine rea‐ len Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung mitzuwirken. Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen. Dann spricht man wieder von der Loyalität gegenüber der NATO. Es wird sogar gesagt, ohne Russ‐ land sei es unmöglich, diese Entscheidungen zu verwirklichen. - Wir sollten uns fragen, ob das normal ist, ob das eine echte Partnerschaft ist. […] Noch vor kurzem schien es so, als würde auf dem Kontinent bald ein richtiges gemeinsames Haus entste‐ hen, in welchem Europäer nicht in östliche und westliche, in nördliche und südliche geteilt werden. Solche Trennungslinien bleiben aber erhalten, und zwar deswegen, weil wir uns bis jetzt noch nicht endgültig von vielen Stereotypen und ideologischen Klischees des Kalten Krieges befreit haben. Heute müssen wir mit Bestimmtheit und endgültig erklären: Der Kalte Krieg ist vorbei.“ (Putin 2001). Lassen die negativen Folgen einer Missachtung des Bedürfnisses nach Anerkennung aber auch den Schluss zu, dass ein Mehr an gegensei‐ tigem Respekt und wechselseitiger Anerkennung zu friedlicheren Beziehungen führt? Diese These liegt nahe, wenngleich empirisch belastbare Studien hierzu noch ausstehen (vgl. Wolf 2017, S. 908). Dennoch ist davon auszugehen, „dass wechselseitige Respektbezeugungen auf die Dynamik der Kon‐ fliktinteraktion einwirken. Vor allem bei Beziehungen zwischen Akteu‐ 11.2 Respekt und Anerkennung 299 <?page no="300"?> ren, die selten interagieren und sich hinsichtlich ihres relativen Status im Unklaren sind, könnte die Berücksichtigung des Faktors Respekt zu plausibleren Erklärungen führen. Gegenseitige Respektbezeugungen, so die Vermutung, sollten nicht nur eine allgemeine Entkrampfung angespannter Situationen begünstigen, sondern auch Statuskonflikte entschärfen, deliberative Lernprozesse begünstigen und gegenseitige Empathie fördern. Auf diese Weise könnten sowohl das wechselseitige Vertrauen als auch die Schnittmenge der verhandlungsleitenden win sets vergrößert werden“ (Wolf 2008, S. 35; Hervorh. im Original). Angesichts dieses Befundes spricht vieles dafür, „das konstruktive Potenzial menschlicher Anerkennungsbedürfnisse“ (Wolf 2017, S. 911) friedenspolitisch fruchtbar zu machen. Diesbezüglich schlägt Reinhard Wolf verschiedene Schritte vor. So gelte es, ▸ stärker die Identitäten und Sichtweisen der Anderen sowie damit verbundene Erwartungen zu berücksichtigen, um Missverständ‐ nisse zu vermeiden; ▸ dem Gegenüber intensiver zuzuhören und ihm Raum für seine Sichtweisen zu geben; ▸ nach Gesten zur Anerkennung fremder Statusansprüche zu suchen; ▸ nicht davor zurückzuschrecken, auch abweichende Bewertun‐ gen und Standards anzusprechen; ▸ Doppelstandards zu thematisieren, um Vorwürfe auszuräumen oder aber eigene Haltungen zu korrigieren, sowie ▸ bewusster auf Public Diplomacy zu setzen und die Sichtweisen der Bevölkerungen - gerade in autokratischen Staaten - mit einzubeziehen (vgl. Wolf 2017, S. 911). Dieser Weg ist nicht einfach, denn mit der Anerkennung des Anderen sind auch Risiken verbunden: Die Respektbekundung könnte zu Miss‐ 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 300 <?page no="301"?> verständnissen über den Status von Akteuren führen, als Zustimmung ihrer (aggressiven) Politik gewertet werden und mögliche Transfor‐ mationschancen verschütten; durch sie könnten sich andere Akteure zurückgesetzt fühlen; oder sie könnte von der eigenen Bevölkerung als unangemessen betrachtet und abgelehnt werden (vgl. Wolf 2017, S. 908f.). So besteht die Herausforderung einerseits darin, die normative Differenz - aus westlicher Perspektive gegenüber autoritären Regi‐ men und Diktaturen - auszuhalten. Diese Spannung hat eine lange Tradition. Sie zieht sich sowohl durch die UN-Charta als auch durch den KSZE-Prozess (zwischen dem Prinzip VI der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und dem Prinzip VII der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten). Andererseits existieren aber auch Grenzen: nicht in der Achtung des Anderen, jedoch in der Anerkennung seiner Handlungen. 11.3 Vertrauen Ein weiterer in den Internationalen Beziehungen und der Friedens- und Konfliktforschung „stark vernachlässigter, aber höchst lohnenswerter Untersuchungsgegenstand“ (Brugger et al. 2013, S. 66; vgl. auch Booth und Wheeler 2008, S. 252) stellt das Vertrauen dar. Vertrauen gilt als „Schmiermittel sozialer Interaktionen“; es „ermöglicht […] robuste Absprachen, fördert offene Kommunikation, erhöht den Glauben in externe Informationen und schafft Raum für gemeinsames soziales Lernen“ (Brugger et al. 2013, S. 66). Eine einheitliche und allgemein anerkannte Definition existiert auch bei diesem Terminus nicht. Dennoch gibt es Grundkonstellatio‐ nen, die als Konsens gelten können: So wird formell zwischen der 11.3 Vertrauen 301 <?page no="302"?> 56 Sowohl Vertrauen als auch Kontrolle zielen auf „die Bildung positiver Kooperationserwartungen“. Dabei setzt Vertrauen „auf die Einschätzung Vertrauenshandlung durch die Geberin oder den Geber und der mögli‐ chen Erwiderung durch die Nehmerin oder den Nehmer unterschieden: „Ein Akteur, der Vertrauensgeber, entscheidet sich für oder gegen eine Vertrauenshandlung in Form einer kooperativen und riskanten Vorleistung gegenüber dem Vertrauensnehmer in Abhängigkeit von dessen zu erwartender Reaktion (Vertrauenserwartung)“ (Brugger et al. 2013, S. 68; Hervorh. im Original). Aus der zeitlichen Verzögerung zwischen der Vertrauenshandlung und der möglichen Erwiderung resultiere dann „das Vertrauensproblem“ (Brugger et al. 2013, S. 68; Hervorh. im Original; vgl. Schaubild 25). 175 2013, S. 66; vgl. auch Booth und Wheeler 2008, S. 252) stellt das Vertrauen dar. Vertrauen gilt als „Schmiermittel sozialer Interaktionen“; es „ermöglicht […] robuste Absprachen, fördert offene Kommunikation, erhöht den Glauben in externe Informationen und schafft Raum für gemeinsames soziales Lernen“ (Brugger et al. 2013, S. 66). Eine einheitliche und allgemein anerkannte Definition existiert auch bei diesem Terminus nicht. Dennoch gibt es Grundkonstellationen, die als Konsens gelten können: So wird formell zwischen der Vertrauenshandlung durch die Geberin oder den Geber und der möglichen Erwiderung durch die Nehmerin oder den Nehmer unterschieden: „Ein Akteur, der Vertrauensgeber, entscheidet sich für oder gegen eine Vertrauenshandlung in Form einer kooperativen und riskanten Vorleistung gegenüber dem Vertrauensnehmer in Abhängigkeit von dessen zu erwartender Reaktion (Vertrauenserwartung)“ (Brugger et al. 2013, S. 68; Hervorh. im Original). Aus der zeitlichen Verzögerung zwischen der Vertrauenshandlung und der möglichen Erwiderung resultiere dann „das Vertrauensproblem“ (Brugger et al. 2013, S. 68; Hervorh. im Original; vgl. Schaubild 25). Schaubild 25: Die Reaktionszeit als Dimension des Vertrauensproblems Reaktionszeit Vertrauenshandlung mögliche Erwiderung durch Geber durch Nehmer Quelle: Brugger et al. (2013, S. 69). Vertrauen aus konstruktivistischer Perspektive, die hier im Fokus der Betrachtung stehen soll, geht deutlich über rationalistische Ansätze hinaus. Letztere dominieren zwar die Forschungslandschaft (vgl. Brugger et al. 2013), sind aber substanzieller Kritik ausgesetzt: „So wird zum einen argumentiert, dass sich Vertrauen im Sinne eines informationsbasierten Kalküls kaum noch von Kontrolle unterscheiden lässt. 57 Zum anderen wird bezweifelt, dass Vertrauen - wenn es denn mehr ist als informationsbasiertes Kalkül - überhaupt rationalen Ursprungs sein kann“ (Brugger et al. 2013, S. 66f.). Forschungen zum Vertrauen im konstruktivistischen Sinne finden sich mittlerweile in verschiedenen Bereichen der Internationalen Beziehungen: Sie reichen von der internationalen Gemeinschaftsbildung über psychologisch fundierte Außen- 57 Sowohl Vertrauen als auch Kontrolle zielen auf „die Bildung positiver Kooperationserwartungen“. Dabei setzt Vertrauen „auf die Einschätzung eines Akteurs als vertrauenswürdig“, während Kontrolle „auf das Wissen über die kooperationsfördernde Wirkung struktureller Rahmenbedingungen“ basiere (Brugger et al. 2013, S. 69; Hervorh. d. Verf.). Schaubild 25: Die Reaktionszeit als Dimension des Vertrauensprob‐ lems nach Philipp Brugger et al. (2013, S. 69) Vertrauen aus konstruktivistischer Perspektive, die hier im Fokus der Betrachtung stehen soll, geht deutlich über rationalistische An‐ sätze hinaus. Letztere dominieren zwar die Forschungslandschaft (vgl. Brugger et al. 2013), sind aber substanzieller Kritik ausgesetzt: „So wird zum einen argumentiert, dass sich Vertrauen im Sinne eines informationsbasierten Kalküls kaum noch von Kontrolle unterschei‐ den lässt. 56 Zum anderen wird bezweifelt, dass Vertrauen - wenn es 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 302 <?page no="303"?> eines Akteurs als vertrauenswürdig“, während Kontrolle „auf das Wissen über die kooperationsfördernde Wirkung struktureller Rahmenbedin‐ gungen“ basiere (Brugger et al. 2013, S. 69; Hervorh. d. Verf.). denn mehr ist als informationsbasiertes Kalkül - überhaupt rationalen Ursprungs sein kann“ (Brugger et al. 2013, S. 66f.). Forschungen zum Vertrauen im konstruktivistischen Sinne finden sich mittlerweile in verschiedenen Bereichen der Internationalen Beziehungen: Sie reichen von der internationalen Gemeinschaftsbildung über psychologisch fundierte Außenpolitikforschung bis hin zur Versöhnungsforschung (vgl. hierzu auch den Literaturbericht von Brugger et al. 2013, S. 84ff.). In der deutschen Friedensforschung ist es insbesondere der Philo‐ soph Pascal Delhom (2007, 2015, 2019a, 2019b), der das Konzept des Vertrauens für ein Friedensdenken fruchtbar macht. Er betont die Rolle des Vertrauens „als Wagnis mit eigenen Bedingungen“ (Delhom 2019a, S. 120). In Anlehnung an Niklas Luhmann versteht Delhom (2019a, S. 120) Vertrauen „als eine Form des Umgangs mit der Freiheit anderer Menschen“. Freiheit heißt hier, „dass kein Handlungssubjekt die Handlungen der anderen gänzlich vorhersehen oder kontrollieren kann“ (Delhom 2019a, S. 121) - und zwar nicht nur angesichts der nicht vorhersehbaren Zukunft, sondern auch aufgrund des „offenen Hand‐ lungsspielraums, den die Freiheit bedeutet“ (Delhom 2019a, S. 121). Daraus resultiert dann auch unser Unwissen: Zum einen wissen wir nicht, wie sich die anderen - auch uns gegenüber - verhalten werden. Zum anderen können wir „unser eigenes Vertrauen ihnen gegenüber nie völlig begründen“ (Delhom 2019a, S. 121) - oder mit Niklas Luh‐ mann (2014, S. 32) gesprochen: „Vertrauen bleibt ein Wagnis.“ 11.3 Vertrauen 303 <?page no="304"?> Vertrauen als asymmetrische Beziehung „Vertrauen [ist] grundsätzlich eine asymmetrische Beziehung. Denn das jeweils eigene Vertrauen, das wir im anderen haben oder das wir ihm schenken, hängt nicht vom Vertrauen des anderen in mir ab. Und das Wagnis des Vertrauens wird nicht dadurch geringer, dass der andere dasselbe Wagnis auch eingeht. Gegenseitiges Vertrauen bildet also keine Symmetrie der Bezie‐ hung, sondern eine doppelte Asymmetrie“ (Delhom 2019b, S. 97). Die Vertrauensbildung umfasst drei konstitutive Elemente: Erstens beinhaltet es das Vertrauen desjenigen, der unter bestimmten Bedin‐ gungen seinem Gegenüber Vertrauen schenkt; zweitens handelt es sich um das Vertrauen, das der andere durch bestimmte Verhaltensweisen bei dem Vertrauenden hervorruft; und drittens inkludiert es die inhalt‐ liche Komponente, das heißt, was anvertraut wird (vgl. Delhom 2007, S. 339ff.; 2019b, S. 100ff.). Vertrauen zu schenken birgt das Risiko der Enttäuschung. Da Vertrauen stets ein Wagnis darstellt, ist die oder der Vertrauende auch beständig der Gefahr ausgesetzt, sich verletzbar zu machen. Bestimmte Bedin‐ gungen können - auch wenn sie keine Garantie für die Verlässlichkeit des Anderen darstellen - Vertrauen begünstigen (vgl. Delhom 2019a, S. 123ff.; 2019b, S. 101ff.): ▸ die Annahme der Vertrauenswürdigkeit des anderen Akteurs: Zum einen setzt es das Zutrauen in die Fähigkeit des Anderen voraus, diese Aufgabe auch erfüllen zu können. Zum anderen speist es sich aus den Erfahrungen vergangener Handlungen, aus 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 304 <?page no="305"?> dem Ruf und dem Ansehen des Anderen oder aus einer günstigen Situation heraus. ▸ die Bereitschaft des anderen Akteurs, Verantwortung zu über‐ nehmen: So können explizite Selbstverpflichtungen zur Über‐ nahme von bestimmten Aufgaben Vertrauen fördern. ▸ das Vorhandensein eines Vertrauensklimas: Besteht eine Kultur des Vertrauens, ist Vertrauen also weitläufig akzeptiert und exis‐ tiert eine entsprechende Praxis, erweist sich „die verbindliche Kraft des geschenkten Vertrauens“ (Delhom 2019b, S. 102) als hoch wie auch umgekehrt enttäuschtes Vertrauen sich nachteilig auf das Vertrauensklima auswirken kann. ▸ die Einbeziehung eines dritten Akteurs: Diese oder dieser kann als Zeugin oder Zeuge einer Selbstverpflichtung, als Garant für die Einhaltung dieser oder aber als Vertrauensperson fungieren und Vertrauensbeziehungen begünstigen. Auch Vertrauen hervorzurufen ist nicht einfach - insbesondere in konfliktiven Zeiten. Wenn Skepsis und Misstrauen die Wahrnehmun‐ gen und Interaktionen bestimmen, bedarf es häufig „,kostspielige[r] Zeichen‘, durch die eine der Parteien die Verlässlichkeit ihrer Haltung gegenüber der anderen glaubwürdig zu bezeugen hat. Je geringer das Vertrauen des anderen ist, desto kostspieliger müssen die Signale sein, um zu überzeugen“ (Delhom 2019a, S. 104). So bedurfte es bei‐ spielsweise nach dem Ende des Kalten Krieges zahlreicher Gesten und Signale von Michael Gorbatschow, um im Westen Vertrauen in den Reformwillen der Sowjetunion hervorzurufen. Nach Andrew H. Kydd (2007, S. 230ff.) waren es 1988 insbesondere vier Ereignisse, die die Wahrnehmungen des Westens in die Sowjetunion veränderten: (1) der Beginn des sowjetischen Rückzugs aus Afghanistan, (2) das Gipfeltreffen zwischen Michael Gorbatschow und Ronald Reagan in Moskau, bei dem sich Reagan davon überzeugen konnte, dass „Soviet 11.3 Vertrauen 305 <?page no="306"?> intentions had fundamentally altered“ (Kydd 2007, S. 231), (3) die im Anschluss stattfindende 19. Parteikonferenz mit der Zielsetzung einer umfassenden gesellschaftlichen und politischen Umgestaltung des Landes sowie (4) die Rede Gorbatschows vor der Generalversamm‐ lung der Vereinten Nationen mit der Ankündigung eines einseitigen substanziellen Truppenabzugs aus Osteuropa von 500.000 Mann ein‐ schließlich sechs Panzerdivisionen (vgl. auch Delhom 2019b, S. 104ff.). Das friedenspolitische Potenzial des Vertrauens „Dieses doppelseitige Wagnis des Vertrauens, das einerseits ohne Garantie des Erfolgs - wenn auch immer mit bestimmten Absicherungen - geschenkt wird, und um das andererseits mit gewagten Vorleistungen geworben wird, scheinen die Be‐ dingungen dafür zu sein, dass eine Sicherheitspolitik durch Kooperation in Zeiten des Konfliktes entstehen, aber auch in Zeiten des Friedens bestehen und sich etablieren kann“ (Delhom 2019b, S. 107). 11.4 Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit Ein Beispiel, wie die verhandelten friedenswissenschaftlichen Ansätze von Respekt, Anerkennung und Vertrauen in friedens- und sicherheits‐ politische Strategien münden können, ist das Konzept der gemein‐ samen Sicherheit. Die auf die Palme-Kommission 1982 und ihren Bericht „Common Security“ zurückgehende Grundidee, die konfron‐ tative Abschreckungspolitik durch kooperative bündnisüberwölbende Regelungen zu ersetzen (vgl. Palme et al. 1982), eröffnete im Kalten 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 306 <?page no="307"?> 57 Dieser Abschnitt basiert auf Werkner (2019a). Krieg Potenziale für eine konstruktive Sicherheitspolitik. Mit dem „neuen Kalten Krieg“ und den gegenwärtig zunehmenden Spannun‐ gen zwischen dem Westen und Russland (vgl. Kapitel 6.2.1) werden friedenspolitische Forderungen laut, dieses Konzept wiederzubeleben. Auf diese Weise sollen Wahrnehmungen verändert, konfrontative Situationen entschärft und Kooperation möglich werden. 57 Mit dem Begriff der gemeinsamen Sicherheit ist der Lösungsansatz bereits angezeigt. Die eigene Sicherheit muss „stets auch die Sicherheit des Nachbarn und des Gegenübers berücksichtigen“ (Lutz 1986, S. 46). Sicherheit ist nicht mehr voreinander, sondern nur noch miteinander zu suchen (vgl. Schubert 1992, S. 161). Auf diese Weise geht gemein‐ same Sicherheit über die traditionelle Sicherheitslogik hinaus und lässt Momente einer Friedenslogik wirksam werden (vgl. Kapitel 2.2). Gemeinsame Sicherheit beruht auf der Akzeptanz wechselseitiger ökonomischer und politischer Abhängigkeiten und auf der gemeinsa‐ men und unteilbaren Verantwortung für den Frieden. Dabei werden - im Gegensatz zu Ansätzen des liberalen Friedens (wie der Politik der EU-Integration) oder (neo)realistischen Ansätzen der kollektiven Verteidigung (wie der NATO), die beide auf gemeinsamen Wertefun‐ damenten beruhen - gesellschaftspolitische Differenzen anerkannt. Das vorrangige Ziel sind koexistenzielle Beziehungen, bei denen ein Wertekonsens nicht erreicht, ein globaler Interessenabgleich aber möglich wird: „Gemeinsame Sicherheit leugnet nicht den Gegensatz der Sicherheitskontrahenten, sie baut aber auf ihr vernunftorientiertes Miteinander am und im Interesse der Kriegsverhütung“ (Lutz 1986, S. 79). Gemeinsame Sicherheit unterscheidet sich in Intention, Wirkung und Mitteln grundlegend von einer Politik der Abschreckung. Von 11.4 Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit 307 <?page no="308"?> ihrer Intention her fokussiert eine auf Abschreckung abzielende Politik auf die eigene Sicherheit, während gemeinsame Sicherheit die Sicher‐ heitsinteressen und Bedrohungswahrnehmungen aller Beteiligten mit bedenkt und einbezieht. Das bedeutet zugleich, dass jede Seite der anderen „das gleiche Maß an Sicherheit zubillig[t], das sie für sich selbst in Anspruch nimmt“ (Scheler 2012, S. 84). Das schließt auch autokratische Staaten wie beispielsweise Russland mit ein, ist ihre Mitwirkung bei der Bearbeitung von Konflikten und der Lösung globaler Probleme unerlässlich. Grundbedingung dieses Interessenabgleichs und Basis einer solchen Zusammenarbeit ist der Gewaltverzicht. Im Gegensatz zu einer Politik der Abschreckung, die auf das militärische Instrument setzt, versucht gemeinsame Sicherheit, diese Logik zu durchbrechen und die Rüs‐ tungsspirale zu beenden. Damit impliziert sie eine andere Wirkung. An die Stelle militärischen Denkens tritt die „Repolitisierung der Sicherheitspolitik“ (Pott 1988, S. 5). Gemeinsame Sicherheit setzt auf ein gemeinsames Vorgehen mit Mitteln der Kommunikation und Kooperation sowie gegenseitiger Vereinbarungen und vertrauensbildender Maßnahmen. Im Gegensatz zur Abschreckung verlangt gemeinsame Sicherheit zieladäquate Mit‐ tel. Aus dieser Perspektive erweist sich der politische Dialog als der wichtigste Schritt zu einem gewaltfreien System. Erst wenn es gelingt, Konfrontation durch Dialog zu ersetzen, kann Vertrauen gebildet sowie Frieden geschaffen und konsolidiert werden (vgl. Mutz 1986, S. 109ff.). Dabei ist Dialog dort am drängendsten, wo er unmöglich erscheint (vgl. Reißig 2008, S. 34). Er setzt voraus, den Akteuren - auch den „normativ Anderen“ - ihre Lern-, Reform- und Friedensfähigkeit nicht grundlegend abzusprechen (vgl. IFSH 1988, S. 9). Diese Friedensstrategie steht vor Herausforderungen: Sie erfordert zunächst Vertrauen. Unter konfrontativen Konstellationen ist Vertrau‐ 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 308 <?page no="309"?> ensbildung nicht einfach, muss diese unter Bedingungen doppelter Kontingenz hergestellt werden. Da sowohl die Äußerungen und Re‐ aktionen des einen als auch des anderen Akteurs anders ausfallen können als der jeweils andere erwartet, bleibt Vertrauen „eine zu‐ nächst einseitige und darum ‚riskante Vorleistung‘“ (Stegmaier 2008, S. 415). Zur Vertrauensbildung gibt es keine Alternative: „Gemeinsame Sicherheit baut auf kooperative und wechselseitige Handlungs- und Verhaltensformen“; das kann auch „einseitige Maßnahmen im Sinne von Selbstbeschränkung und Destabilisierungsverzicht bis hin zu uni‐ lateralen (autonomen) Vorleistungen“ mit einschließen (Lutz 1986, S. 79). Neben Vertrauen basiert gemeinsame Sicherheit auf Respekt und Anerkennung. Das erfordert die Überwindung eines Denkens in Freund-Feind-Schemata und die Fähigkeit, ohne die „Projektion des Bösen“ (Nedelmann et al. 1987, S. 211) auszukommen. Gemeinsame Sicherheit birgt - und darin liegt die zweite Herausfor‐ derung - ein Paradoxon in sich: Das Konzept setzt „als Funktionsbedin‐ gung sein Funktionieren voraus“ (Müller 1986, S. 170). Gewaltfreiheit ist zugleich Voraussetzung und Ergebnis gemeinsamer Sicherheit. Wie kann - so die sich daraus ergebene zentrale Frage - gemeinsame Si‐ cherheit angesichts bewaffneter Konflikte zur Anwendung kommen? Hier schlägt Erwin Müller (1986, S. 170) zwei Auswege aus diesem Dilemma vor: Erstens könne ein Akteur, sofern er sich damit nicht selbst gefährdet, so handeln, „als bestünde bereits Einigkeit über den noch zu vereinbarenden beidseitigen Verhaltenskodex“. Damit verbindet sich die Intention, auf diesem Wege - sozusagen im Vorgriff - den angestrebten Verhaltenskodex zu etablieren. Zweitens könnten die Beteiligten den Konflikt „einfrieren“, bis eine einvernehmliche Lösung gefunden ist. Auch hinter diesem Ansatz steht der Gedanke, auf der Basis der Vorwegnahme des gewünschten Zustandes (durch 11.4 Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit 309 <?page no="310"?> eine einstweilige Vernachlässigung des konkreten Konfliktes) eine konstruktive Konfliktbearbeitung zu ermöglichen. Gemeinsame Sicherheit kann allerdings nicht gelingen, wenn vitale und existenzielle Interessen von Beteiligten verletzt werden. Hier stößt das Konzept an seine Grenzen. Das Recht auf Sicherheit endet - so der Friedensforscher Reinhard Mutz (1986, S. 137) - dort, „wo es das Recht des Kontrahenten auf gleiche Sicherheit in Frage stellt“. Gemeinsame Sicherheit ist - und das hat sie mit dem Friedensbegriff gemeinsam - als Prozess zu verstehen; sie ist sowohl Ziel als auch Verlaufsmuster (vgl. Pott 1988, S. 7). Damit stellt gemeinsame Sicherheit ein sehr voraussetzungsreiches Konzept dar. Angesichts des Wandels von einem bizu einem multi‐ polaren System hat sich seine Komplexität noch einmal gesteigert. Dabei weist die gemeinsame Sicherheit, vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts entstanden, deutlich über diese Konstellation hin‐ aus und lässt sich - und darauf verwiesen Friedensforscherinnen und -forscher bereits in den 1980er Jahren - auch auf andere Konfliktkons‐ tellationen anwenden: „Räumlich und zeitlich ist die Reichweite des Konzepts Gemeinsamer Sicherheit prinzipiell unbegrenzt. Es gibt kein systematisches Argu‐ ment, das ausschließt, daß nach demselben Handlungsmodell, das die Sicherheit zwischen den USA und den UdSSR, zwischen West- und Osteuropa auf ein solides Fundament stellt, auch die Sicherheitsbezie‐ hungen zwischen den Konfliktparteien im Nahen Osten, in Südostasien oder in Mittelamerika dauerhaft stabilisiert werden können“ (Mutz 1986, S. 145). 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 310 <?page no="311"?> 11.5 Fazit Im Vergleich zu (neo)realistischen, institutionalistischen und liberalen Friedensstrategien betonen konstruktivistische Zugänge immaterielle Faktoren, womit die Interaktionen der Akteure in den Fokus der Betrachtung rücken und diskursive Prozesse für das Zustandekommen von Kooperation Bedeutung erlangen. Exemplarisch stehen hierfür die Ostpolitik Willy Brandts, die Rolle Michael Gorbatschows beim Systemwandel Ende der 1980er Jahre oder auch das Agieren von Yitzhak Rabin und Jassir Arafat im Osloer Friedensprozess 1993. Die hier vorgestellten Zugänge - und darin liegt ihr zentraler Vorteil gegenüber liberalen Friedensstrategien - eröffnen Wege der Koopera‐ tion mit dem Anderen, auch mit dem „Normativ-Anderen“. Vertrauen führt nicht schon automatisch zu einer kooperativen Sicherheitspoli‐ tik; eine solche Politik ist aber ohne Vertrauen nicht möglich. Dabei findet sich Vertrauen nicht bereits vor, sondern muss aktiv gebildet werden (vgl. Delhom 2019b, S. 108). Respekt und Anerkennung stellen hierfür notwendige Bedingungen dar (vgl. Brugger et al. 2013, S. 89). Das heißt: Auch wenn Respekt und Anerkennung Risiken bergen und Vertrauen stets ein Wagnis darstellt, gibt es hierzu keine Alternativen. Vertrauen aufzubauen und Kooperation auf Anerkennung zu gründen, ist ein langer Prozess. In dessen Verlauf kann dieses Wagnis aber auch „berechenbarer“ werden. Dafür steht der „Schatten der Zukunft“ (Axel‐ rod 1984, S. 11, 113 ff.) - kein inhärent konstruktivistisches Argument, es lässt sich aber auch für diese Perspektive fruchtbar machen. Wenn Akteure annehmen, auch in der Zukunft hinreichend oft zu interagie‐ ren, und sich damit wiederholt in derselben Konstellation befinden, antizipieren sie diese Situation bereits in ihrer aktuellen Strategie und verhalten sich kooperativer. Vieles spricht also dafür, kooperativen Ansätzen wie der gemeinsamen Sicherheit bei der Wahrnehmung der 11.5 Fazit 311 <?page no="312"?> Friedensverantwortung eine größere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Weiterführende Literatur: Booth, Ken und Nicholas J. Wheeler. 2008. The Security Dilemma: Fear, Cooperation, and Trust in World Politics. Houndmills: Palgrave. Die beiden Autoren analysieren die Bedeutung des Faktors Vertrauen unter den anarchischen Bedingungen des internationalen Systems. Hirsch, Alfred und Pascal Delhom (Hrsg.). 2015. Friedensgesellschaften - zwischen Verantwortung und Vertrauen. Freiburg: Verlag Karl Alber. Die hier versammelten Beiträge verhandeln aus friedens‐ wissenschaftlicher Perspektive das Konzept des Vertrauens und seinVerhältnis zur Verantwortung. Lindemann, Thomas und Erik Ringmar (Hrsg.). 2014. The International Politics of Recognition. New York: Routledge. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes reflektieren aus theoretischer Perspektive sowie anhand empirischer Beispiele die Rolle von Anerkennung in der internationalen Politik. Luhmann, Niklas. 2014. Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 5. Aufl. Konstanz: UVK. Bei diesem Band handelt es sich um ein soziologisches Standardwerk. In diesem analysiert Luhmann die Funktion, Bedingungen und Taktiken des Vertrauens. 11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 312 <?page no="313"?> Part IV: Zum Stand der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland <?page no="315"?> 12 Institute der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland 12.1 Zu den Anfängen der Institutionalisierung der Friedens- und Konfliktforschung - ein kursorischer Überblick Auch wenn die Ursprünge der Friedensforschung bis in die Zeit der Aufklärung zurückreichen, entwickelte sich die moderne Friedensfor‐ schung in Deutschland - wie auch in den USA und Europa - mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Als wegweisend kann hier die Konstituierung der Forschergruppe Research Exchange on the Preven‐ tion of War in den USA (1951/ 52) um die Wissenschaftler Kenneth E. Boulding, Arthur Gladstone und Herbert C. Kelman gelten, die dann an der Universität Michigan das Center for Research on Conflict Resolution (1957) sowie das Journal of Conflict Resolution (1957) ins Leben riefen. Eine wichtige Etappe der Institutionalisierung der Friedensforschung in Europa stellt die Gründung des Peace Research Institute Oslo (PRIO) in Norwegen 1959 dar, das eng mit dem Namen Johan Galtung verbunden ist. Er gründete auch die Zeitschrift Journal of Peace Research (1964). Im selben Jahr etablierte sich ein internationaler Verband der Frie‐ densforschung, die International Peace Research Association. Weitere wichtige Institutsgründungen folgten in Europa: 1966 das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) in Schweden, 1970 das Tampere Peace Research Institute (TAPRI) in Finnland sowie 1971 das Uppsala University’s Department for Peace and Conflict Research in Schweden. Neben den skandinavischen Ländern wurden friedenswis‐ <?page no="316"?> senschaftliche Programme auch in den Niederlanden, Belgien und Großbritannien eingerichtet. Für den deutschsprachigen Raum ist exemplarisch das in den 1980er Jahren entstandene und eng mit dem Namen Gerald Mader verbundene Friedenszentrum in Stadtschlaining in Österreich - mit dem Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK), der European Peace University (EPU, bis 2013) und dem Friedensmuseum - zu erwähnen oder mit Swisspeace die schweizerische friedenswissenschaftliche Stiftung in Bern (vgl. Koppe 2006, S. 31f.; Graf und Wintersteiner 2016, S. 38ff.). In Deutschland selbst begann die Institutionalisierung der Friedens‐ forschung mit der Gründung der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) 1958 in Heidelberg unter der Leitung des Philosophen und Bildungsreformers Georg Picht. Die Arbeitsgemein‐ schaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK), der deutsche Dach‐ verband der Friedensforscher und -forscherinnen, wurde 1968 einge‐ richtet. Die Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK), eine Fördereinrichtung der Friedensforschung, bestand nur von 1970 bis 1983, hat in dieser Zeit aber etwa 360 Projekte im gesamten Spektrum der Friedensforschung gefördert. Aufgelöst wurde sie infolge des Parteienstreits um die sozialliberale Ost- und Entspan‐ nungspolitik (vgl. Koppe 2006, S. 37ff.; Jahn 2012, S. 25). Zwei zentrale Institutsgründungen folgten: 1970 die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt a. M. mit dem Politikwissen‐ schaftler Ernst-Otto Czempiel als einem der Mitbegründer des Instituts sowie 1971 das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) in Hamburg, das bis 1984 von General a. D. Wolf Graf von Baudissin und in der darauffolgenden Dekade von Egon Bahr geleitet wurde. Beide Institute sind die größten Friedensforschungsinstitute in Deutschland; bis heute erfolgt dort ein Großteil der friedenswissen‐ schaftlichen Forschung. In der Folge entstanden weitere Einrichtungen 12 Institute der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland 316 <?page no="317"?> 58 Diese Aufstellung folgt der Institutsliste, die mir die Deutsche Stiftung Friedensforschung zur Verfügung stellte, wofür ich mich an dieser Stelle vielmals bedanken möchte. Die Darstellungen selbst basieren auf den Ausführungen der Instituts-Homepages. der Friedens- und Konfliktforschung; insbesondere seit den 1990er Jahren ist eine Etablierung neuer Institute zu verzeichnen. Der nachstehende, nur kursorische Überblick über die aktuelle Institutslandschaft in Deutschland gliedert sich - jeweils alphabetisch - in außeruniversitäre Institute (Abschnitt 17.2), außeruniversitäre Institute, die (nur) einen Schwerpunkt im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung aufweisen (Abschnitt 17.3), universitäre Institute und Zentren (Abschnitt 17.4) sowie Verbände, Netzwerke und Stiftun‐ gen (Abschnitt 17.5). 58 12.2 Außeruniversitäre Institute Die Berghof Foundation wurde 1971 von Georg Zundel gegründet. Sie weist einen starken Praxisbezug auf. Als unabhängige und gemein‐ nützige Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Berlin und Tübingen unterstützt sie Konfliktparteien und andere Akteure in ihren Bemü‐ hungen, durch Friedensförderung, Friedenserziehung und Konflikt‐ transformation politischen und sozialen Wandel sowie dauerhaften Frieden zu erreichen. Das Bonn International Center for Conversion (BICC) wurde 1994 mit Sitz in Bonn unter dem Gründungsdirektor Herbert Wulff errich‐ tet. Das BICC forscht schwerpunktmäßig zu Fragen der Rüstung, Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie der Dynamik gewaltsamer Konflikte einschließlich ihrer Prävention, Transformation und Been‐ digung. Es betreibt kritische, problemorientierte und politikrelevante 12.2 Außeruniversitäre Institute 317 <?page no="318"?> Forschung. Als Thinktank möchte es den Austausch und Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern von NGOs, Regierungen, privaten Or‐ ganisationen, Forschungsinstituten und Universitäten befördern. Die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt a. M., 1970 errichtet, ist das größte Friedensforschungsinsti‐ tut in Deutschland und seit 2009 Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. In ihrer Arbeit folgt die HSFK dem Motto theoria cum praxi: Sie betreibt erkenntnisorientierte Grundlagenforschung und strebt danach, pra‐ xisrelevante Ergebnisse in Politik und Gesellschaft zurückzuspielen. Thematisch beschäftigte sich die HSFK zu Beginn ihres Bestehens vor allem mit dem Ost-West- und Nord-Süd-Konflikt; in den 1990er Jahren dominierten Reflektionen zum Beitrag Europas zum Frieden; die 2000er Jahre waren geprägt von Forschungen zu Antinomien des demokratischen Friedens; es folgte das Forschungsprogramm „Just Peace Governance“; seit 2018 widmet sich die HSFK in ihrem neuen Forschungsschwerpunkt den ambivalenten Beziehungen zwischen Zwang und Frieden. „Wer Frieden will, muss für Sicherheit sorgen“ - unter dieser Maxime steht die Arbeit des Instituts für Friedensforschung und Sicher‐ heitspolitik (IFSH) in Hamburg. 1971 gegründet stellt es neben der HSFK einen der wichtigen Orte friedenswissenschaftlicher Forschung dar. Inhaltlich steht das IFSH für vier Themen: Erstens untersucht es europäische Friedens- und Sicherheitsordnungen. Das Zentrum für OSZE-Forschung (CORE) am IFSH ist das einzige Institut weltweit, das die Arbeit der OSZE wissenschaftlich begleitet und auswertet. Unter diesen ersten Schwerpunkt fallen aber auch Forschungen zu interna‐ tionalen Polizeimissionen. Ein zweiter Arbeitsschwerpunkt widmet sich dem gesellschaftlichen Frieden und der inneren Sicherheit, ein dritter untersucht Fragen von Rüstungskontrolle und neuen Techno‐ 12 Institute der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland 318 <?page no="319"?> logien und ein vierter verhandelt Folgen des Klimawandels auf das Konfliktgeschehen, die Sicherheit und den Frieden. Das Institut für Theologie und Frieden (ITHF), 1978 gegründet mit Sitz in Hamburg, stellt eine relativ kleine Forschungseinrichtung der katholischen Kirche in Trägerschaft der katholischen Militärseelsorge dar. Es betreibt theologische und für die Theologie bedeutsame For‐ schung zum Thema Frieden. Aktuell arbeitet das Institut zu Fragen der Friedenskonsolidierung, des Rechts und der Ethik im bewaffneten Kon‐ flikt, normativer Grundlagen der EU-Sicherheitspolitik, islamischer Friedensethik, der Responsibility to Protect und der Terrorismusbe‐ kämpfung. Zudem werden historische friedensethische Traditionsli‐ nien aufgearbeitet. 12.3 Außeruniversitäre Institute mit Forschungsschwerpunkten im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung Die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. (FEST) ist ein interdisziplinäres Forschungsinstitut, seit 1958 mit Sitz in Hei‐ delberg. Hier entstanden 1959 unter anderem auch die wesentlich auf Carl Friedrich von Weizsäcker zurückgehenden Heidelberger Thesen. Die FEST steht für einen weiten Friedensbegriff; Forscher um Georg Picht entwickelten ein bis heute zentrales mehrdimensionales Modell (vgl. Kapitel 1). Der Arbeitsbereich „Frieden“ trägt diesem Friedens‐ verständnis Rechnung. Thematisch fokussiert er auf friedensethische Fragestellungen. Das umfasst aktuell drei Schwerpunkte: Fragen zum Konzept des gerechten Friedens, zu Religion und Frieden (insbesondere zu friedensethischen Diskursen in den Religionen) sowie zu Militär und Frieden (unter anderem zu friedenspolitischen Implikationen einer 12.3 Außeruniversitäre Institute 319 <?page no="320"?> europäischen Armee oder den Auswirkungen der Aussetzung der Wehrpflicht). Das German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg wurde 1964 gegründet und ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Das GIGA gehört zu den führenden europäischen Forschungsinstituten für Area Studies und Comparative Area Studies. Es arbeitet zu politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen in den vier Weltregionen Afrika, Asien, Lateinamerika und Nahost. Zugleich forscht das GIGA zu Themen mit globaler Bedeutung. Im Forschungsschwerpunkt „Frie‐ den und Sicherheit“ analysieren Wissenschaftler und Wissenschaftle‐ rinnen Friedens- und Konfliktprozesse in den Regionen, untersuchen internationale Gewalt- und Sicherheitsdynamiken und gehen der Rolle von lokalen, nationalen, regionalen und internationalen Akteuren in Konflikten nach. Das German Public Policy Institute (GPPI) ist ein im Jahr 2003 ge‐ gründeter unabhängiger Thinktank in Berlin. Die Arbeit des Instituts folgt drei Prinzipien: Erstens soll die Forschung des GPPI dem besse‐ ren Verständnis der weltweiten politischen Zusammenhänge dienen (reflect); zweitens bietet es Politikberatung an, unter anderem für die Vereinten Nationen, die Europäische Kommission und nationale Re‐ gierungen (advise), und drittens beabsichtigt es, mit seiner Forschung die öffentliche Debatte zu wesentlichen Fragen globaler Politik zu befördern (engage). In einem seiner Forschungsschwerpunkte widmet sich das Institut dem Thema „Frieden und Sicherheit“. Im Fokus der Untersuchungen stehen hier Fragen militärischer Gewaltanwendung einschließlich der Prävention und Beendigung organisierter Gewalt. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) wurde 1962 in München gegründet, seit 2001 hat sie ihren Sitz in Berlin. Die SWP ist der führende Thinktank der Bundesregierung und des Bundestages. Sie berät politische Entscheidungsträgerinnen und -träger zu Fragen der 12 Institute der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland 320 <?page no="321"?> Außen- und Sicherheitspolitik beziehungsweise der internationalen Politik. Mit ihren derzeit 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bietet sie eine breite regionale und thematische Expertise: von Fragen zu politischen Strukturen bis hin zu außen- und sicherheitspolitischen Entwicklungen in verschiedenen Regionen: EU und Europa, Türkei, USA und Lateinamerika, Osteuropa und Eurasien, Naher/ Mittlerer Osten und Afrika sowie Asien). 12.4 Universitäre Institute und Zentren Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) der Univer‐ sität Hamburg wurde 1986 etabliert. Zentraler Gegenstand der Arbeit der AKUF ist die Beobachtung und Analyse des weltweiten Kriegs‐ geschehens. Sie erfasst und typologisiert alle aktuellen Kriege und bewaffneten Konflikte, ermittelt und analysiert statistische Trends zum Kriegsgeschehen und trägt auf dieser Basis zur Theoriebildung über Kriegsursachen bei. Die Daten der AKUF, ihre Kriegsdefinition und ihre Kriegstypologie bilden in Deutschland eine wichtige empiri‐ sche Grundlage friedenswissenschaftlicher Forschung. Das Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF) der Universität Hamburg entstand 2006. Es sieht sich in der Tradition der von Carl Friedrich von Weizsäcker an der Universität Hamburg Mitte der 1960er Jahre gegründeten Forschungsstelle der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW). Sein Ziel ist es, die eigene primär naturwissenschaftliche Forschung mit der Friedensforschung in den Fakultäten zu verknüpfen. Zu den Forschungsschwerpunkten des ZNF zählen die Nuklearwaffen- und Bi‐ owaffenkontrolle, die Analyse biologischer Risiken sowie Interessen- und Zielkonflikte der Land- und Wassernutzung. 12.4 Universitäre Institute und Zentren 321 <?page no="322"?> Die Friedensakademie Rheinland-Pfalz der Universität Ko‐ blenz-Landau wurde 2014 gegründet. Sie verfolgt das Ziel, als Schnitt‐ stelleninstitution den wechselseitigen Austausch zwischen akademi‐ scher Forschung und zivilgesellschaftlichen Akteuren zu fördern. In ihrer Forschung fokussiert die Friedensakademie auf drei Bereiche: auf Umwelt- und Ressourcenkonflikte, auf die Stärkung und Weiterent‐ wicklung von Strategien der Krisenprävention und zivilen Konfliktbe‐ arbeitung sowie auf Friedenspädagogik. Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung e.V. (HIIK) existiert seit 1991. Es widmet sich der Förderung und Verbrei‐ tung des Wissens um Entstehung, Verlauf und Beilegung inner- und zwischenstaatlicher politischer Konflikte weltweit. Das HIIK gliedert sich in fünf Regionalgruppen: Asien, Vorderer und Mittlerer Orient und Maghreb, Amerika, Afrika und Europa. In diesen arbeiten derzeit über 200 ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen - überwiegend Studierende, aber auch Promovierende und Alumni - an der Erstellung von Datenbanken zu den einzelnen Konflikten. Bekannt ist das HIIK vor allem durch die jährliche Herausgabe des Konfliktbarometers. Das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Duisburg-Essen wurde 1990 eingerichtet. Das INEF stellt sich der Aufgabe, die Felder Entwicklung und Frieden gemeinsam zu bearbeiten und insbesondere Fragen an deren Schnittstelle zu untersuchen. Es verbindet allgemeine Grundlagenforschung mit anwendungsorientier‐ ter Forschung und Politikberatung zu spezifischen Themenbereichen. Das derzeitige Forschungsprogramm „Ordnungsbildung und Verant‐ wortung im Schatten von Hierarchien“ fokussiert auf drei Bereiche: auf „transnationale Governance und die Verantwortung privater Akteure“, auf „Entwicklungspartnerschaften in Zeiten der SDGs“ sowie auf „Intervention, Widerstand und die Disruption politischer Ordnungen“. 12 Institute der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland 322 <?page no="323"?> Das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Universität Bochum wurde 1988 auf Initiative des dama‐ ligen Rektors Knut Ipsen mit dem Ziel gegründet, internationale Konflikte zu erforschen und Lösungsansätze für diese Konflikte zu entwickeln. Es gehört zu den führenden Forschungsinstituten des humanitären Völkerrechts in Europa. Zu den Forschungsbereichen des interdisziplinären, aber in seinem Schwerpunkt rechtswissenschaftlich arbeitenden Instituts gehören unter anderem Fragen des internationa‐ len und des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts, Fragen im Bereich der Minderheitenrechte und des Rechts auf Selbstbestimmung sowie Probleme internationaler Organisationen bei der Durchführung humanitärer Hilfsoperationen. Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld wurde 1996 eingerichtet. Es analysiert die Bedingungen, Ausdrucksformen und Konsequenzen von Konflik‐ ten und Gewalt innerhalb von Gesellschaften. Das IKG hat vier Forschungscluster: (1) Radikalisierung/ De-Radikalisierung von Indi‐ viduen und (extremistischen) Gruppen, (2) Diskriminierung/ Gleich‐ wertigkeit von Gruppen innerhalb der Gesellschaft, (3) Margina‐ lisierung/ Integration von Individuen und Gruppen innerhalb der Gesellschaft sowie (4) Migration, Raum und sozialer Wandel. Das Institut für Konfliktmanagement (IKM), 2008 gegründet, ist eine Einrichtung der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). In den vergangenen Jahren hat das Institut seinen ursprünglich rechts‐ wissenschaftlichen Fokus erweitert und arbeitet nunmehr disziplinen- und fakultätsübergreifend. Das IKM verfolgt das Ziel, interessenba‐ sierte Methoden der Konfliktbearbeitung in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft weiter zu etablieren und neue Anwendungsmöglich‐ keiten zu erschließen. Der Bereich der internationalen Friedenspro‐ 12.4 Universitäre Institute und Zentren 323 <?page no="324"?> zesse widmet sich vorrangig der Forschung und Praxis von Friedens‐ mediation (Center for Peace Mediation). Das Zentrum für Historische Friedensforschung (ZHF) der Universität Bonn wurde 2013 gegründet. Es setzt im Bereich der historischen Friedensforschung die Arbeit der 2011 aufgelösten Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte e. V. fort. Das ZHF dient als Ankerpunkt für vielfältige Projekte zur Erforschung von Frieden und Sicherheit in der Geschichte. Das Zentrum für Konfliktforschung (ZfK) wurde 2001 als eine fachbereichsübergreifende Einrichtung der Universität Marburg ge‐ gründet. Es widmet sich der Aufbereitung schwerer Menschenrechts‐ verletzungen und Prozessen der Friedenskonsolidierung nach massi‐ ver Gewalt, Intergruppenkonflikten sowie der Politik internationaler Administration in Nachkriegsgesellschaften. Zu den aktuellen For‐ schungsschwerpunkten zählen internationale Interventionen (Fragen zu Legitimation, Durchführung und Folgen), Flucht und Migration (un‐ ter anderem zum Konflikt-Flucht-Nexus), Gewalt (Formen, Akteure, Motivationen etc.), Transitional Justice sowie Akteure und Dynamiken sozialer Konflikte. 12.5 Verbände, Netzwerke und Stiftungen Die Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) wurde 1968 als deutsche Wissenschaftsvereinigung von Friedens- und Konfliktforschern und -forscherinnen aus allen akademischen Disziplinen gegründet. Derzeit zählt die AFK über 270 Mitglieder. Im Zentrum ihrer Aktivität stehen die jährlich stattfindenden AFK-Kollo‐ quien. Sie dienen dem wissenschaftlichen Austausch ebenso wie der Vermittlung der Friedens- und Konfliktforschung in die Öffentlichkeit. 12 Institute der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland 324 <?page no="325"?> Innerhalb der AFK koordinieren Arbeitskreise fachlich orientierte Dis‐ kurse und organisieren Tagungen und Workshops, wobei insbesondere die Forschungsinteressen der AKF-Mitglieder berücksichtigt werden. Der Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AHFK) besteht seit 1984. Er ist eine wissenschaftliche Vereinigung von Mitgliedern aus verschiedenen Ländern in und auch außerhalb von Europa. Der Arbeitskreis will dazu beitragen, die Herausforderungen des Friedens in all seinen historischen Dimensionen zu erforschen. Er vereint vielfältige Positionen, Ansätze und Interessen. Der AHFK versteht sich als Forum für einen interdisziplinären und internationa‐ len Austausch, der durch jährliche wissenschaftliche Tagungen und Mitgliederversammlungen gefördert wird. Die Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik e.V. (AGFP) gibt es seit 1974. An der Schnittstelle zwischen Friedenswissenschaft und Ver‐ mittlungsarbeit sowie zwischen pädagogischer Konzeption und prak‐ tischer Projektarbeit organisiert die AGFP Bildungsprojekte zu den Schwerpunktthemen demokratische Bildung, Partizipation und Ge‐ waltprävention. Je nach Angebot oder Projekt wendet sich die Arbeit der AGFP an Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene oder Fachkräfte. Dahinter steht die Überzeugung, dass Menschen jeden Alters lernen können, zu einer friedlicheren Welt beizutragen. Der Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und interna‐ tionale Sicherheit e.V. (FONAS) wurde 1996 im Physikzentrum der Deutschen Physikalischen Gesellschaft als eingetragener Verein mit Sitz in Hamburg gegründet. Zweck von FONAS ist es, die wissenschaft‐ liche Arbeit zu Fragen der Abrüstung, der internationalen Sicherheit und des internationalen Friedens mit mathematischen, natur- oder technikwissenschaftlichen Methoden zu fördern. Das beinhaltet zum Beispiel die Abschätzung der Folgen neuer Waffentechnologien, die Analyse militärrelevanter Forschungs- und Technologieentwicklun‐ 12.5 Verbände, Netzwerke und Stiftungen 325 <?page no="326"?> gen, den Vergleich verschiedener Abrüstungsoptionen, die Erarbeitung von Vertragsvorschlägen oder die Forschung und Entwicklung neuer Verifikationsmethoden. Das Forum Friedenspsychologie e.V. wurde 1982 gegründet und ist seit 1986 ein eingetragener Verein mit gegenwärtig etwa 100 Mitgliedern. Die Aktivitäten des Forums Friedenspsychologie umfassen die Mitar‐ beit bei der Herausgabe der Zeitschrift „Wissenschaft und Frieden“, die Durchführung von Kongressen und Fachtagungen, Informationen durch öffentliche Vorträge sowie Veröffentlichungen und Stellungnah‐ men zu friedenspolitischen Themen. Die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) wurde im Oktober 2000 durch die deutsche Bundesregierung, vertreten durch das Bun‐ desministerium für Bildung und Forschung, gegründet. Sie ist eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Osnabrück. Gemäß ihrer Satzung ist es ihre Aufgabe, „das friedliche Zusammenleben der Menschen und Völker zu fördern. Sie soll mithelfen, Voraussetzungen und Bedingungen dafür zu schaffen, dass Krieg, Armut, Hunger, Unterdrückung verhütet, Menschenrechte gewahrt und die internationalen Beziehungen auf die Grundlage des Rechts gestellt werden. Sie soll ferner mithelfen, dass die natürlichen Le‐ bensgrundlagen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten sowohl genutzt als auch für kommende Generationen erhalten werden“. Die DSF führt keine eigenen Forschungsprojekte durch. Als Bundes‐ stiftung fördert sie friedenswissenschaftliche Vorhaben (Standardpro‐ jekte, Pilotstudien), den wissenschaftlichen Nachwuchs (Post-doc-Pro‐ jekte), die wissenschaftliche Vernetzung, die Vermittlung von Forschungsergebnissen in die Praxis und Öffentlichkeit oder auch Publikationen wie das Friedensgutachten. Sie folgt - mit 20-jähriger 12 Institute der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland 326 <?page no="327"?> Unterbrechung - der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Kon‐ fliktforschung (DGFK). 12.6 Fazit 1. Die moderne Friedensforschung ist noch ein sehr junges Wissen‐ schaftsfeld, dennoch erweist sich ihre institutionelle Landschaft als durchaus vielfältig. Dabei hat der obige kursorische Überblick drei zentrale Kennzeichen der deutschen Friedens- und Konflikt‐ forschung offengelegt: 2. Während viele der außeruniversitären friedenswissenschaftli‐ chen Institute sowie Verbände und Netzwerke sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mit dem Ost-West-Konflikt zu etablieren begannen, hat sich die Friedens- und Konfliktfor‐ schung in den Universitäten erst nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Systemwandel in Europa durchsetzen können. So gründete sich ein Großteil der universitären Institute und Zentren erst nach 1990. Diese Entwicklung dürfte auch in einem engen Zusammenhang mit der Einrichtung von universitären Studiengängen zur Friedens- und Konfliktforschung stehen. 3. Ein Großteil der friedenswissenschaftlichen Institute, Zentren und Netzwerke betont Interdisziplinarität als ein zentrales Merk‐ mal ihrer Institution. Diese Zuschreibung sagt noch nichts dar‐ über aus, inwieweit damit auch explizit interdisziplinäre Arbeit verbunden ist; häufig wird es über Multidisziplinarität nicht hinausgehen. Zumindest zeigt dies jedoch ein entsprechendes Problembewusstsein an. 4. Schließlich lassen fast alle friedenswissenschaftlichen Einrich‐ tungen eine enge Verbindung von Theorie und Praxis erkennen. 12.6 Fazit 327 <?page no="328"?> Weitgehend durchgängig beschreiben sie, eine erkenntnisorien‐ tierte Grundlagenforschung mit praxisrelevanten Ergebnissen zu verbinden, wobei auch dem Aspekt der Vermittlung von Forschungsergebnissen eine zentrale Bedeutung zukommt. Weiterführende Literatur: Koppe, Karlheinz. 2001. Der vergessene Frieden. Friedensvorstellungen von der Antike bis zur Gegenwart. Opladen: Leske + Budrich. Im Kapitel V dieses Buches erfolgt eine ausführliche Dokumentation der Friedenswissenschaften im 20. Jahrhundert. Koppe, Karlheinz. 2006. Zur Geschichte der Friedensforschung im 20. Jahrhundert. In Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einfüh‐ rung, hrsg. von Peter Imbusch und Ralf Zoll, 17-66. 4. Aufl. Wies‐ baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. In diesem Aufsatz gibt der Autor einen guten Überblick insbesondere über die Anfänge der Institutionalisierung der Friedens- und Konfliktforschung in den USA, Europa und Deutschland. 12 Institute der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland 328 <?page no="329"?> 59 Der Studiengang an der Fernuniversität Hagen wurde 2007 eingestellt, damit auch die Förderung durch die DSF. 60 Die Deutsche Stiftung Friedensforschung listet acht Masterstudiengänge der Friedens- und Konfliktforschung auf, die in ihrem Namen auch die Begriffe Frieden und/ oder Konflikt beinhalten. Auf der Homepage der Arbeitsgemein‐ schaft für Friedens- und Konfliktforschung finden sich neun Studiengänge. So zählt die AFK auch den Studiengang „Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik“ zur Friedens- und Konfliktforschung. Zudem existieren weitere Studiengänge, die thematisch eng an die Friedens- und Konfliktfor‐ schung anschließen, wie beispielsweise „Internationale Humanitäre Hilfe“ in Bochum, „Demokratisches Regieren und Zivilgesellschaft“ in Osnabrück oder „Mediation und Konfliktmanagement“ an der Viadrina in Frankfurt (Oder). 61 Die Darstellungen folgen im Wesentlichen den Beschreibungen auf den Universitäts-Homepages. 13 Masterstudiengänge der Friedens- und Konfliktforschung In den 2000er Jahren haben sich in Deutschland die ersten universitären Masterstudiengänge für Friedens- und Konfliktforschung etabliert - auch mit Hilfe der DSF, die den Aufbau einiger dieser Studiengänge (in Hagen 59 , Hamburg, Marburg und Tübingen) im Rahmen ihres Sonderprogramms zur Struktur- und Nachwuchsförderung gefördert hat. Die Masterstudi‐ engänge weisen - je nach Begriffsverständnis des Friedens, Traditionen und Anknüpfungspunkten vor Ort - unterschiedliche Ausrichtungen, Schwerpunkte und Zielsetzungen auf: So sind sie an verschiedenen Instituten und Fachbereichen angesiedelt, stärker disziplinär oder multibeziehungsweise interdisziplinär ausgerichtet sowie eher forschungs- oder praxisorientiert (vgl. auch Imbusch und Zoll 2006, S. 179ff.). Der nachstehende Überblick über diese Studienangebote 60 erfolgt in gebotener Kürze und alphabetisch nach dem Standort der Universitäten: 61 <?page no="330"?> An der Universität Augsburg wird seit 2016 der viersemestrige Master‐ studiengang Sozialwissenschaften: Konflikte in Politik und Gesellschaft angeboten. Der Studiengang vermittelt politikwissenschaftliche und soziologische Theorien und Methoden der Konfliktanalyse. Das bein‐ haltet die Analyse von Konfliktursachen, -verläufen und -dynamiken auf unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Ebenen. Da‐ bei lernen die Studierenden zentrale Instrumente der Konfliktanalyse sowie politische und gesellschaftliche Strategien der Konfliktregelung kennen. Ziel des Masterstudiengangs ist es, die Studierenden auf Be‐ ratungs-, Management- und Forschungstätigkeiten in politischen, so‐ ziokulturellen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Einrichtungen vorzubereiten. Im Rahmen des Studienprogramms werden zahlreiche englischsprachige Lehrveranstaltungen angeboten. Der vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duis‐ burg-Essen getragene viersemestrige Masterstudiengang Internatio‐ nale Beziehungen und Entwicklungspolitik wurde 2006 eingerichtet. Er verbindet eine fundierte theoretische Ausbildung im Fachgebiet Inter‐ nationale Beziehungen mit einer intensiven Ausbildung im Teilgebiet Entwicklungspolitik. Neben einschlägigen Theorien und Themen der Internationalen Beziehungen - darunter regionale Kooperation und Integration, internationale Organisationen, Globalisierung, internatio‐ nale Wirtschaftsbeziehungen - legt der Studiengang einen speziellen Fokus auf Theorien von Global Governance, Friedens- und Konfliktfor‐ schung, die Nord-Süd-Beziehungen sowie die entwicklungspolitische Praxis. Der Bereich Entwicklungspolitik zeichnet die Politikwissen‐ schaft an der Universität Duisburg-Essen in besonderer Weise aus, vor allem auch durch die räumliche und institutionelle Nähe zum Institut für Entwicklung und Frieden. Zudem verbindet sich mit dem Studiengang eine regionale Orientierung auf Ostasien, Europa und Afrika (primär Sub-Sahara-Afrika). Das befähigt die Studierenden 13 Masterstudiengänge der Friedens- und Konfliktforschung 330 <?page no="331"?> insbesondere für Tätigkeiten in der internationalen Politik und Ent‐ wicklungszusammenarbeit, in internationalen Organisationen, Nicht‐ regierungsorganisationen und Stiftungen. Lehrsprachen sind Deutsch und Englisch. Der konsekutive und forschungsorientierte viersemestrige Master‐ studiengang Internationale Studien/ Friedens- und Konfliktforschung wurde 2006 eingerichtet und wird gemeinsam von der Goethe-Uni‐ versität Frankfurt und der Technischen Universität Darmstadt in Kooperation mit dem Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung angeboten. Die Studierenden werden mit theore‐ tisch angeleiteten und normativ begründeten Perspektiven nationaler, transnationaler und globaler Vergesellschaftungsprozesse vertraut ge‐ macht und erwerben die Fähigkeit zu einer differenzierten Analyse von inner- und zwischenstaatlichen Konflikten sowie einer reflektierten Entwicklung von Strategien der Konfliktregelung und Friedensförde‐ rung. Im Zentrum des Studiengangs steht die Politikwissenschaft, insbesondere die Internationalen Beziehungen. Des Weiteren sind die Disziplinen Soziologie und Philosophie sowie über die Wahlpflichtmo‐ dule auch die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften sowie Ingenieur- und Naturwissenschaften (Letztere schwerpunktmäßig in Darmstadt) beteiligt. Insgesamt zeichnet sich der Masterstudiengang durch eine große Auswahl an unterschiedlichen Lehrveranstaltungen aus, die neben der Kooperation auch der Größe des politikwissenschaftlichen Fachbereichs an der Universität Frankfurt geschuldet ist. Dementspre‐ chend breit sind die Berufsoptionen. An der Universität Hamburg wird in Zusammenarbeit mit dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der konsekutive und nur zweisemestrige Masterstudiengang Peace and Security Studies - 2006 erstmalig akkreditiert - angeboten. Ziel des Studienganges ist es, hochqualifizierte Absolventen und Absolventinnen (Voraussetzung 13 Masterstudiengänge der Friedens- und Konfliktforschung 331 <?page no="332"?> ist ein mindestens vierjähriger Hochschulabschluss, 240 ECTS-Punkte) auf Tätigkeiten in der friedenswissenschaftlichen Forschung und Lehre sowie in der Praxis (Peacekeeping, Monitoring, Verifikation, Entwicklung, Mediation, Vermittlung, Konversion, Verwaltung in na‐ tionalen und internationalen Organisationen, Verbänden, Medien, Unternehmen etc.) vorzubereiten. Das Studienprogramm basiert auf einer Kombination aus friedenswissenschaftlicher und sicherheitspo‐ litischer Wissensaneignung, verbunden mit praxisgerichteten Übun‐ gen. Der Studiengang enthält fünf thematische Schwerpunkte: inter‐ nationale Friedens- und Sicherheitspolitik, Friedenssicherungs- und Konfliktvölkerrecht, Naturwissenschaften und Frieden, Friedensethik sowie wirtschaftliche Fragen von Frieden und Krieg. Dabei wird sowohl interals auch transdisziplinär vorgegangen. So haben die Studierenden die Möglichkeit zur praxisgerichteten Forschung an den Residenzinstituten des „Kooperationsverbundes Friedensforschung und Sicherheitspolitik (KoFrieS)“. Hierbei handelt es sich um führende wissenschaftliche und sicherheitspolitisch tätige Einrichtungen, die zugleich die Betreuung der Masterarbeiten übernehmen. Lehrsprachen sind Deutsch und Englisch. Die Universität Jena hat zum Wintersemester 2020/ 21 einen neuen Masterstudiengang International Organisations and Crisis Management eingerichtet. Dieser fokussiert auf drei Bereiche: Erstens geht es um Ziele, Aufgaben, Strukturen, Kulturen und Normen internationaler Re‐ gierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Zweitens fragt er nach Möglichkeiten und Grenzen internationalen Krisenmanagements. Und drittens thematisiert er, ob und wie internationale Organisationen diese Krisen bewältigen können, welche Effektivitäts- und Legitimati‐ onsprobleme dabei entstehen und wie internationale Organisationen auch selbst in die Krise geraten können. Lehrsprache ist Englisch. Das 13 Masterstudiengänge der Friedens- und Konfliktforschung 332 <?page no="333"?> dritte Semester wird findet an einer internationalen Partneruniversität statt. Der Masterstudiengang Friedens- und Konfliktforschung an der Otto von Guericke-Universität Magdeburg, 2017 umbenannt in Peace and Conflict Studies, ist ein viersemestriges, nunmehr ausschließlich englischsprachiges Studienfach. Etwa ein Viertel der Studierenden kommt aus dem Ausland, unter anderem aus Lateinamerika, Asien und Afrika. Seine Kernfächer sind die Politikwissenschaft und So‐ ziologie. Darüber hinaus können die Studierenden auch Lehrveran‐ staltungen in den Disziplinen Geschichte, Philosophie, Psychologie und Kulturwissenschaften belegen. Die thematischen Schwerpunkte liegen im Pflichtbereich neben grundsätzlichen Theorien und Metho‐ den der Friedens- und Konfliktforschung in der Konfliktanalyse und Konfliktbearbeitung sowie in Konzepten der Friedenssicherung. Im Wahlpflichtbereich stehen vier Themen - regionale und globale Ord‐ nungsbildung, nachhaltige Entwicklung und Ressourcenmanagement, Gewalt und Medien sowie globale Gerechtigkeit - im Fokus der Lehre. Typischerweise qualifiziert der Studiengang für eine Tätigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit, in internationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, Verbänden und Stiftungen, in Medien, in der Wissenschaft wie in staatlichen Behörden und Ministerien. Der viersemestrige Masterstudiengang Friedens- und Konfliktfor‐ schung an der Philipps-Universität Marburg ist ein forschungsori‐ entierter, interdisziplinärer und international ausgerichteter Studien‐ gang. Er fokussiert auf die Bearbeitung und friedliche Regelung von Konflikten. Im Mittelpunkt stehen potenziell gefährliche Konflikte, die in oder zwischen Staaten ausgetragen werden. Eine besondere Rolle spielt dabei die internationale und globale Umwelt dieser Konflikte. Im Gegensatz zu den vielfach politikwissenschaftlich dominierten Studi‐ engängen weist die Friedens- und Konfliktforschung in Marburg eine 13 Masterstudiengänge der Friedens- und Konfliktforschung 333 <?page no="334"?> starke soziologische Ausrichtung auf. Dementsprechend liegen die thematischen Schwerpunkte dieses Masterstudiengangs neben Aspek‐ ten der strukturellen Prävention von Konflikt- und Gewalteskalation und der politischen, kulturellen und sozio-ökonomischen Ursachen von Konflikten in der Dynamik von Intergruppen-, innerstaatlichen und internationalen Konflikten. Darüber hinaus werden Möglichkei‐ ten der Intervention in und der Schlichtung von Konflikten sowie Probleme der Konfliktnachsorge, der Friedenskonsolidierung und der Aufarbeitung von Massengewalt behandelt. Das Studium ermöglicht die berufliche Tätigkeit in einem weiten Bereich von Berufsfeldern: in der Wissenschaft, in der zivilen Konfliktbearbeitung, in staatlichen Institutionen und Organisationen, in der Konfliktmediation und im Konfliktmanagement, in der Politikberatung, in den Medien sowie in der Wirtschaft. Lehrsprachen sind Deutsch und Englisch. Zudem bietet die Philipps-Universität Marburg in Kooperation mit der University of Kent einen viersemestrigen englischsprachigen Mas‐ terstudiengang Peace and Conflict Studies an. Die Studierenden verbrin‐ gen jeweils ein akademisches Jahr in Canterbury und Marburg und erhalten nach erfolgreichem Abschluss einen MA in Peace and Conflict Studies (Joint Degree) von der Universität Marburg und der University of Kent. Gegenstand dieses gemeinsamen Studiengangs sind Konflikte und Friedensprozesse im internationalen Wandel. Zu seinen thematischen Schwerpunkten zählen Konflikttheorien, Konfliktbearbeitung, Konflikt‐ analyse und Intergruppenkonflikte. Auch hier ist das Spektrum der möglichen beruflichen Tätigkeiten breit gefächert, vergleichbar mit dem deutschsprachigen Marburger Studiengang. 2004 wurde an der Universität Tübingen der viersemestrige Mas‐ terstudiengang Peace Research and International Relations eingerichtet. Dieser Studiengang ist stark politikwissenschaftlich geprägt mit einem Fokus auf die Internationalen Beziehungen und damit disziplinär 13 Masterstudiengänge der Friedens- und Konfliktforschung 334 <?page no="335"?> ausgerichtet. Ziel des Studienganges ist es, den Studierenden auf den Gebieten der Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensför‐ derung sowie des Weltregierens die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, um konstruktiv mit alten und neuen Her‐ ausforderungen des Friedens umgehen zu können. Im Studiengang werden zum einen die Dynamiken, Prozesse und Strukturen gewalt‐ förmiger Konflikte analysiert und diese Analyse durch praxisrelevante Erfahrungen vertieft. Zum anderen lernen die Studierenden Chancen und Möglichkeiten von Kooperation zur Bewältigung internationaler und innergesellschaftlicher gewaltträchtiger Konflikte kennen. Die thematischen Scherpunkte des Studienprogramms umfassen neben theoretischen und methodischen sowie normativen und kritischen Perspektiven die Herausforderungen globalen Regierens und die Ana‐ lyse bewaffneter Konflikte. Lehrsprache ist Englisch. Zudem gibt es an zahlreichen Universitäten - zumeist in der Politik‐ wissenschaft - Universitätsprofessuren mit der Denomination Friedens- und Konfliktforschung beziehungsweise Konfliktforschung. Ein Großteil von ihnen steht im Kontext der Masterstudiengänge und der universi‐ tären Institute und Zentren zur Friedens- und Konfliktforschung. Auch sind mit der Leitung außeruniversitärer Institute - wie der HSFK, des IFSH und des BICC - häufig auch Professuren an den entsprechenden Universitäten verbunden. Darüber hinaus finden sich Professuren mit entsprechenden Denominationen an den Bundeswehr-Universitäten in Hamburg und München, am Otto-Suhr-Institut der Freien Univer‐ sität Berlin sowie an den Universitäten in Erfurt, Mannheim und Osnabrück. 13 Masterstudiengänge der Friedens- und Konfliktforschung 335 <?page no="337"?> 62 Auch hier folge ich der Liste der Deutschen Stiftung Friedensforschung. Die Darstellungen selbst basieren auf den Ausführungen der Homepages der Fachzeitschriften. 14 Zur Publikationslandschaft Auch ein Blick in die friedenswissenschaftlichen Publikationen zeugt von der Etablierung der Friedens- und Konfliktforschung in der deutschen Wissenschaftslandschaft: An erster Stelle ist das jährliche Friedensgutachten (Abschnitt 19.1) aufzuführen, das nicht nur inner‐ halb der Wissenschaft, sondern vor allem auch im bundespolitischen Berlin zur Kenntnis genommen wird. Des Weiteren existieren mittler‐ weile vier renommierte friedenswissenschaftliche Fachzeitschriften (Abschnitt 19.2). 62 Darüber hinaus stehen für Studierende, Wissen‐ schaftler und Wissenschaftlerinnen sowie die interessierte Öffentlich‐ keit diverse Lehr- und Handbücher (Abschnitt 19.3) zur Verfügung. 14.1 Das Friedensgutachten Das Friedensgutachten analysiert das aktuelle Konfliktgeschehen, zeigt Trends der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik auf und gibt konkrete Empfehlungen für das friedenspolitische Han‐ deln der deutschen Bundesregierung. Das Gutachten wird von den führenden deutschen Friedensforschungsinstituten seit 1987 jährlich herausgegeben. Seit 2018 erscheint das Friedensgutachten in neuer Konzeption und Gestaltung: In fünf Kapiteln - bewaffnete Konflikte, nachhaltiger Frieden, Rüstungsdynamiken, institutionelle Friedens‐ sicherung und transnationale Sicherheitsrisiken - bilanzieren und <?page no="338"?> bewerten Autorenteams der Institute die aktuellen Entwicklungen. Zusätzlich nimmt das Kapitel „Fokus“ jeweils einen aktuellen Kon‐ flikt beziehungsweise eine aktuelle Konfliktregion in den Blick. Die Ergebnisse des Friedensgutachtens werden jährlich in Berlin - auf der Bundespressekonferenz, in Bundesministerien sowie Fraktionen und Ausschüssen des deutschen Bundestages, aber auch der Öffentlichkeit - vorgestellt und diskutiert. 14.2 Fachzeitschriften Die Friedens-Warte. Journal of International Peace and Organization, eine vierteljährlich erscheinende begutachtete Fachzeitschrift im Ber‐ liner Wissenschaftsverlag, wurde 1899 vom späteren Friedensnobel‐ preisträger Alfred Fried begründet. Sie ist die älteste Zeitschrift im deutschsprachigen Raum für Fragen der Friedenssicherung und der internationalen Organisation. Neben dem fachlichen Austausch inner‐ halb und zwischen den friedenswissenschaftlichen Disziplinen will die Zeitschrift traditionell einen Beitrag dazu leisten, das für eine Politik der aktiven Friedensgestaltung erforderliche Fachwissen in die politi‐ sche Praxis zu vermitteln. Sie widmet sich neben sozialwissenschaftli‐ cher Forschung insbesondere dem Völkerrecht und der Geschichte der Internationalen Beziehungen. Seit 2011 folgen die Ausgaben folgender Struktur: ▸ Debatte: Zwei Beiträge, die kontrovers zum Thema des jeweili‐ gen Hefts Stellung beziehen, eröffnen die Debatte und geben Impulse für die Diskussion. ▸ Abhandlungen: Hier werden drei bis vier weitere Beiträge zum Schwerpunktthema des Hefts versammelt. 14 Zur Publikationslandschaft 338 <?page no="339"?> ▸ Freie Beiträge: Ein bis zwei Beiträge zu grundlegenden oder aktuellen friedenswissenschaftlichen Themen außerhalb des Themenschwerpunkts beschließen das Heft. Sicherheit und Frieden. Security and Peace (S+F) ist eine seit 1983 vier‐ teljährlich erscheinende Fachzeitschrift im Nomos Verlag. Sie versteht sich als Diskussionsforum für neuere Forschungsergebnisse und politi‐ sche Entwicklungen auf dem Gebiet der Friedensforschung und Sicher‐ heitspolitik. Das Themenspektrum reicht von naturwissenschaftlichen Aspekten der Rüstungskontrolle bis zu Fragen der Nationenbildung in Nachkriegsgesellschaften. Durch Analysen, Stellungnahmen, Do‐ kumente und Informationen sollen kontroverse Auffassungen und brisante Themen einer sachlichen Diskussion zugeführt werden. Da‐ bei will S+F ein Forum der Kommunikation für Wissenschaft und Politik sowie zwischen ziviler Gesellschaft und Streitkräften sein. Jedes Heft ist einem Schwerpunktthema gewidmet. Neben Beiträgen zum Schwerpunkt werden aber auch Texte zu allgemeinen Themen der Sicherheitspolitik und Friedensforschung veröffentlicht. Die Au‐ toren und Autorinnen der S+F haben die Wahl, ihre deutsch- oder englischsprachigen Beiträge allein durch die Herausgeberinnen und Herausgeber sowie Redaktion der Zeitschrift beurteilen zu lassen oder einem zusätzlichen anonymisierten Begutachtungsverfahren mit externen Gutachtern zu unterziehen. Auch die Zeitschrift Wissenschaft & Frieden (W&F) gibt es seit 1983. Sie ist eine vierteljährlich im Eigenverlag erscheinende interdiszipli‐ näre Wissenschaftszeitschrift für Friedensforschung, Friedenspolitik und Friedensbewegung. 1992 vereinigte sich W&F mit „Frieden“ (vor‐ mals „medatus“), der Zeitschrift des Forschungsinstituts für Friedens‐ politik e. V. in Weilheim. Aus dem „Informationsdienst Wissenschaft und Frieden“ wurde die Zeitschrift Wissenschaft und Frieden, getra‐ gen von einem gemeinnützigen Verein, dem wichtige friedenswissen‐ 14.2 Fachzeitschriften 339 <?page no="340"?> schaftliche Institutionen angehören wie beispielsweise die Arbeitsge‐ meinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK). W&F publiziert zu friedenspolitischen, militärstrategischen und rüstungstechnischen Fragen, untersucht Gewaltursachen und -verhältnisse und thematisiert Wege und Möglichkeiten zur zivilen Konfliktlösung, zur Wahrung der Menschenrechte und zur Zukunftssicherung. Sie bietet ein Forum für die Diskussion wissenschaftlicher Analysen und Einschätzungen. Zudem informiert die Zeitschrift über aktuelle Publikationen und Termine und berichtet aus Initiativen und Projekten sowie von Konfe‐ renzen und Tagungen. Die Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung (ZeFKo) erscheint halbjährlich. Sie ist ein peer-reviewed journal, das seit 2012 im Auftrag des Vorstands der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktfor‐ schung (AFK) zunächst im Nomos Verlag und seit 2019 bei Springer VS herausgegeben wird. Die ZeFKo versteht sich als Kommunikationsfo‐ rum für die Auseinandersetzung um begriffliche, theoretische, metho‐ dische und konzeptionelle Fragen der Forschung zu Gewalt, Konflikt und Frieden und beabsichtigt, insbesondere auch die interdisziplinären Debatten in der Friedens- und Konfliktforschung anzuregen. Die ZeFKo veröffentlicht Beiträge in vier Rubriken: ▸ Aufsätze: Hier werden Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung in Form methodisch und theoretisch reflektierter Studien zu Fra‐ gestellungen der Friedens- und Konfliktforschung veröffentlicht. ▸ Replik: Diese Rubrik eröffnet Gutachtern und Gutachterinnen die Möglichkeit, die von ihnen begutachteten Aufsätze zu kom‐ mentieren und eine Debatte zum Thema anzustoßen. ▸ Literaturberichte: Berichte dieser Rubrik beschreiben den Stand der Forschung in einzelnen Themenfeldern und geben Einblicke in wichtige disziplinäre und interdisziplinäre Debatten. 14 Zur Publikationslandschaft 340 <?page no="341"?> ▸ Forum: Beiträge dieser Rubrik informieren über aktuelle Ent‐ wicklungen in der Friedens- und Konfliktforschung. Hier finden sich Diskussionsbeiträge oder Sammelrezensionen zu wichti‐ gen Neuerscheinungen, Hinweise auf Forschungsprogramme, Tagungsberichte oder Calls for Papers. Ergänzend zu den halbjährlichen ZeFKo-Ausgaben gibt die Zeitschrift seit 2017 auch Sonderbände zu spezifischen Themen der Friedens- und Konfliktforschung heraus. 14.3 Lehr- und Handbücher Mit der Etablierung der universitären Masterstudiengänge sind ver‐ stärkt auch Lehr- und Handbücher zur Friedens- und Konfliktfor‐ schung erschienen. Folgend soll ein kurzer kursorischer Überblick gegeben werden. Die - alphabetisch aufgeführten - Bände deutscher Friedensforscher und -forscherinnen sind allesamt nach 2000 erschie‐ nen. Sie sollen - ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit - einen Einblick in die Schwerpunkte und Vielfalt der verhandelten friedens‐ wissenschaftlichen Themen vermitteln: Altmann, Jürgen, Ute Bernhardt, Kathryn Nixdorff, Ingo Ruhmann und Dieter Wörhrle. 2017. Naturwissenschaft - Rüstung - Frieden. Basiswissen für die Friedensforschung. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Diese Einführung stellt die naturwissenschaftlichen Grundlagen für die Friedens- und Konfliktforschung dar. Das umfasst die Bereiche Physik, Chemie, Biologie, Informatik, militärische Forschung und Entwicklung sowie Grundsatzfragen der Bewertung und Gestaltung von Naturwissenschaft und Technik. 14.3 Lehr- und Handbücher 341 <?page no="342"?> Bonacker, Thorsten (Hrsg.). 2008. Sozialwissenschaftliche Konflikt‐ theorien. Eine Einführung. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis‐ senschaften. Dieses Lehrbuch liefert einen ideengeschichtlichen und systematischen Überblick über soziologische, politikwissenschaftliche und psychologische Konflikttheorien. Das umfasst neben klassischen Positionen von Thomas Hobbes, Karl Marx, Max Weber und Georg Simmel Konflikttheorien der Internationalen Beziehungen, soziologi‐ scher Gesellschaftstheorien sowie sozialwissenschaftlicher Akteurs‐ theorien. Davy, Jennifer A., Karen Hagemann und Wte Kätzel (Hrsg.). 2005. Frieden - Gewalt - Geschlecht: Friedens- und Konfliktforschung als Geschlechterforschung. Essen: Klartext. Dieser Band stellt neue An‐ sätze und Ergebnisse aus der Friedens- und Konfliktforschung als Ge‐ schlechterforschung vor. Im Mittelpunkt der Beiträge steht die Frage, wie Weiblichkeit und Männlichkeit in historischen und aktuellen Dis‐ kursen konstruiert werden und Geschlechterbilder die Möglichkeiten und Grenzen friedenspolitischen Handelns beeinflussen. Eckern, Ulrich, Leonie Herwartz-Emden und Rainer-Olaf Schlultze (Hrsg.). 2004. Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland. Eine Be‐ standsaufnahme. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Aus‐ gehend von theoretischen Fragestellungen (unter anderem zum Selbst‐ verständnis der Friedensforschung sowie zu friedenstheoretischen Ansätzen) liefert der Band eine Bestandsaufnahme der deutschen Friedens- und Konfliktforschung aus historischer, theologischer, sozi‐ alwissenschaftlicher, rechtlicher und naturwissenschaftlicher Sicht. Gießmann, Hans J. und Bernhard Rinke (Hrsg.). 2019. Handbuch Frieden. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Das Handbuch nimmt den Begriff des Friedens in seinen verschiedenen Facetten in den Blick. Das verdeutlicht auch die Struktur des Bandes. Nach einer wissen‐ schaftlichen und politischen Einordnung des Friedensbegriffs (erster 14 Zur Publikationslandschaft 342 <?page no="343"?> Teil) werden - jeweils alphabetisch - im zweiten Teil des Handbuchs das Begriffsfeld Frieden verhandelt (Gerechter Frieden, Friedensbewe‐ gung, Friedenspädagogik, Friedensethik etc.) sowie im dritten Teil Friedenskontexte in den Blick genommen (Frieden und Abschreckung, Frieden und Bildende Kunst, Frieden und Demokratie, Frieden und Demokratisierung, Frieden und Entwicklung, Frieden und Gender etc.). Hubel, Helmut. 2005. Weltpolitische Konflikte. Baden-Baden: Nomos. Im Rahmen der Reihe „Studienkurs Politikwissenschaft“ erschienen untersucht der Band weltpolitische Konflikte. Der Autor gibt einen Überblick über Theorieansätze, Konflikttypen (exemplarisch werden hier sieben Typen vorgestellt) sowie ausgewählte Akteure der Kon‐ fliktbewältigung (Vereinte Nationen, OSZE, NATO, USA, EU). Imbusch, Peter und Ralf Zoll (Hrsg.). 2006. Friedens- und Konflikt‐ forschung. Eine Einführung. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozi‐ alwissenschaften. Dieses Lehrbuch kann als ein Klassiker der deut‐ schen Friedens- und Konfliktforschung gelten. Hervorzuheben ist das Grundlagenkapitel, das neben der Geschichte der Friedensforschung im 20. Jahrhundert eine sehr gute Darstellung der zentralen Begriffe der Friedens- und Konfliktforschung (unterteilt in Konflikt, Gewalt, Krieg und Frieden) sowie einen Überblick über sozialwissenschaftliche Konflikttheorien enthält. Es folgen Konfliktanalysen aus dem interna‐ tionalen System (Kapitel 2), gesellschaftliche Konfliktkonstellationen (Kapitel 3) sowie Ausführungen zu Friedensethik, Friedenserziehung und Konfliktregelung (Kapitel 4). Ein Manko stellt hier angesichts der weitgehend unveränderten Ausgaben - die erste Auflage erschien 1996 - die fehlende Aktualität der Fallbeispiele dar. Jahn, Egbert. 2012. Frieden und Konflikt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dieser Band bietet eine kurze, soziohistorisch geprägte Einführung in zentrale Bereiche der Friedens- und Konflikt‐ forschung. Das Lehrbuch enthält fünf Kapitel: 1. Entstehung und 14.3 Lehr- und Handbücher 343 <?page no="344"?> Rolle der Friedens- und Konfliktforschung im Wissenschaftssystem, 2. Konflikt, Krieg, Gewalt und Massenmord, 3. Kooperation, zivile Kon‐ fliktbearbeitung sowie Frieden und Sicherheit, 4. Entwicklungsetappen des Krieges und Friedens sowie 5. ausgewählte Forschungsfelder der Friedens- und Konfliktforschung. Meyer, Berthold. 2011. Konfliktregelung und Friedensstrategien. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dieser Einführungsband gliedert sich in vier Abschnitte: Grundlagen, Kon‐ fliktregelung im demokratischen Rechtsstaat, Konfliktregelung im interethnischen und interkulturellen Bereich sowie Konfliktregelung durch internationale Organisationen. Dabei werden jeweils die eige‐ nen Ausführungen des Autors um Texte weiterer Friedens- und Kon‐ fliktforscher und -forscherinnen ergänzt. Rinke, Bernhard und Wichard Woyke (Hrsg.). 2004. Frieden und Sicherheit im 21. Jahrhundert. Eine Einführung. Opladen: Leske + Bud‐ rich. Das Buch stellt aktuelle Risiken vor (Proliferation und Rüstung, internationaler Terrorismus, ökologische Aspekte), verhandelt Fragen der Konfliktregelung und Friedenssicherung (Vereinte Nationen, USA, humanitäre Interventionen, Rolle Deutschlands) und diskutiert die neue europäische Sicherheitsarchitektur (NATO, EU, OSZE). Insofern weist das Lehrbuch einen spezifischen Fokus auf die Internationalen Beziehungen auf. Sahm, Astrid, Manfred Sapper und Volker Weichsel (Hrsg.). 2002. Die Zukunft des Friedens. Bd. 1: Eine Bilanz der Friedens- und Konflikt‐ forschung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. In diesem ersten Band versuchen Mitglieder der Gründergeneration der Friedens- und Kon‐ fliktforschung, einen Rückblick auf die vergangenen vier Jahrzehnte der Forschung zu Krieg und Frieden (Friedensbegriff, Friedensakteure, Friedensstrategien) und einen Ausblick auf die Zukunft des Friedens zu geben. In der Folge ist ein zweiter Band erschienen: Jahn, Egbert, Sabine 14 Zur Publikationslandschaft 344 <?page no="345"?> Fischer und Astrid Sahm (Hrsg.). 2005. Die Zukunft des Friedens. Bd. 2: Die Friedens- und Konfliktforschung aus der Perspektive der jüngeren Generationen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dieser präsentiert Diagnosen und Strategien, wie sie gegenwärtig von den jüngeren Vertreterinnen und Vertretern der Friedens- und Konfliktfor‐ schung diskutiert werden. Schlotter, Peter und Somone Wisotzki (Hrsg.). 2011. Friedens- und Konfliktforschung. Baden-Baden: Nomos. Dieses Buch gibt einen Überblick über die zentralen Themenbereiche der Friedens- und Kon‐ fliktforschung. Ausgehend vom Stand und Selbstverständnis der Frie‐ densforschung enthält der Band Beiträge zum Umgang mit Konflikt, Gewalt und Krieg (Kriegsursachenforschung, demokratischer Frieden, Entwicklungstheorien, Militär und Gesellschaft), zu Friedensstrategien (internationale Organisationen, Rüstungskontrolle und -abrüstung, Geschlechterperspektiven, zivile Konfliktbearbeitung) sowie Texte an‐ derer Disziplinen (Friedenspädagogik, historische Friedensforschung, Naturwissenschaft). Schwerdtfeger, Johannes. 2001. Begriffsbildung und Theoriestatus in der Friedensforschung. Opladen: Leske + Budrich. Dieser Band zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht die inhaltlichen Probleme der Friedens‐ forschung reflektiert, sondern sich mit den verschiedenen Verfahren zur Bestimmung des Friedensbegriffs sowie mit unterschiedlichen wissenschaftstheoretisch begründeten Denkansätzen beschäftigt. Vor diesem Hintergrund behandelt das Buch Dimensionen des Friedensbe‐ griffs, Theoriebegriffe und -konzepte des Friedens sowie Fragen von Theorie und Praxis. Sommer, Gert und Albert Fuchs (Hrsg.). 2004. Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim: Beltz Ver‐ lag (eine zweite Auflage ist derzeit in Arbeit). Dieser Band widmet sich insbesondere aus psychologischer Perspektive (aber auch aus Sicht 14.3 Lehr- und Handbücher 345 <?page no="346"?> der Soziologie und Pädagogik) Themen wie Aggression, Angst und Traumatisierung, Konfliktverständnis und -bearbeitung, Feind- und Selbstbilder, gewaltfreier Widerstand und Friedensbewegung sowie Verhandlung, Mediation und Versöhnung. Werkner, Ines-Jacqueline und Klaus Ebeling (Hrsg.). 2017. Handbuch Friedensethik. Wiesbaden: Springer VS. Dieses fast 1.000-seitige Hand‐ buch bietet eine umfassende, systematische Übersicht zu zentralen Aspekten der Friedensethik, einen interdisziplinären Zugang zum Stand der Forschung sowie zu aktuellen politischen und gesellschaftli‐ chen Debatten. Nach einer Verständigung über Grundbegriffe (Frieden, Ethik, Friedensethik) widmet sich der Band friedensethischen Diskur‐ sen (gerechter Krieg, gerechter Frieden, Pazifismus, Krieg und Frieden in der politischen Theorie der Internationalen Beziehungen) sowie - in dialogorientierter Perspektivenerweiterung - Ausführungen zu Krieg und Frieden im jüdischen, islamischen, hinduistischen sowie buddhistischen Kontext. Es folgen friedensethische Analysen zu aktu‐ ellen Kontroversen und Entwicklungen (Fragen zu Herrschaft, Recht, Gerechtigkeit und Gewalt). Beiträge zur ethischen Selbstreflexion der Friedens- und Konfliktforschung beschließen diesen Band. 14 Zur Publikationslandschaft 346 <?page no="347"?> Literatur Altmann, Jürgen, Ute Bernhardt, Kathryn Nixdorff, Ingo Ruhmann und Dieter Wörhrle. 2017. Naturwissenschaft - Rüstung - Frieden. Basiswis‐ sen für die Friedensforschung. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Appleby, Joyce. 2011. Die unbarmherzige Revolution. Eine Geschichte des Kapitalismus. Hamburg: Murmann Verlag. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF). 2020. Kriegsdefi‐ nition und Kriegstypologie. www.wiso.uni-hamburg.de/ fachbereich-s owi/ professuren/ jakobeit/ forschung/ akuf/ kriegsdefinition.html. Zuge‐ griffen: 1. Juli 2020. Arkin, Ronald C. 2010. The Case for Ethical Autonomy in Unmanned Systems. Journal of Military Ethics (4): 332-341. Asseburg, Muriel und Jan Busse. 2020. Der Nahostkonflikt. Geschichte, Positionen, Perspektiven. 3. Aufl. München: C. H. Beck. Atomwaffen A-Z. 2020a. 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Literatur 394 <?page no="395"?> Abbildungsverzeichnis Schaubild 1: Die erweiterten Begriffe von Gewalt und Frieden nach Johan Galtung (1975, S. 33) . . . . . 19 Schaubild 2: Das Gewaltdreieck nach Johan Galtung (2007) 22 Schaubild 3: Phasenmodell des Friedens nach Ernst-Otto Czempiel (1998, S. 65) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Schaubild 4: Dimensionen des erweiterten Sicherheitsbegriffs nach Christopher Daase (2010a, S. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Schaubild 5: Das Konfliktdreieck nach Johan Galtung (2007, S. 136) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Schaubild 6: Konflikttypen nach Volker Rittberger und Michael Zürn (1991, S. 406) mit zum Teil veränderten Beispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Schaubild 7: Formen politischen Konfliktverhaltens nach Reinhard Meyers (1994, S. 29) . . . . . . . . . . . . . . 80 Schaubild 8: Konflikteskalation in 9 Stufen nach Friedrich Glasl (1997, S. 216, 218 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Schaubild 9: Stufen der Konfliktintensität nach dem HIIK (2020b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Schaubild 10: Typologie von Kriegsursachen nach Kenneth Waltz (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Schaubild 11: Alte versus neue Kriege in Anlehnung an Herfried Münkler (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Schaubild 12: Maßnahmen, Ziele und unbeabsichtigte Folgen der Strukturanpassung nach Lothar Brock (2004, S. 631) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 <?page no="396"?> Schaubild 13: Israelisch-palästinensische/ arabische Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Schaubild 14: Zentren multipolarer Weltordnungsmodelle . 146 Schaubild 15: Typologie von Minderheitensituationen nach Ulrich Schneckener (2015, S. 56) mit zum Teil veränderten Beispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Schaubild 16: Zugrundeliegende Konfliktursachen nach Michael E. Brown (2001, S. 5) . . . . . . . . . . . . . . 158 Schaubild 17: Das Kontinuum von Staatlichkeit nach Daniel Lambach (2012, S. 35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Schaubild 18: Destabilisierende Faktoren für Staatlichkeit nach Ulrich Schneckener (2007, S. 112) . . . . . . 164 Schaubild 19: Klimainduzierte Konfliktkonstellationen und deren Schlüsselfaktoren in Anlehnung an den WBGU (2008, S. 170) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Schaubild 20: Formen technischer Werkzeuge nach Michael Funk (2017, S. 168) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Schaubild 21: Satelliten in Zahlen nach der Union of Concerned Scientists (Mai 2018), zit. nach Becker (2019, S. 66) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Schaubild 22: Das zivilisatorische Hexagon nach Dieter Senghass (1995, S. 203) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Schaubild 23: Rollenverständnisse internationaler Akteure nach Cornelia Ulbert (2006, S. 421) in Anlehnung an Alexander Wendt (1999, S. 254) 291 Schaubild 24: Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse nach Axel Honneth (1992, S. 211) . . . . . . . . . . . 295 Schaubild 25: Die Reaktionszeit als Dimension des Vertrauensproblems nach Philipp Brugger et al. (2013, S. 69) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Abbildungsverzeichnis 396 <?page no="397"?> uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik schaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Stat te \ te \ \ M \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschicht tik \ tik \ Spra Spra acherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidakt mus mus DaF DaF F \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourism tik \ tik \ \ VW \ VW WL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanist haft haft Theo Theo ologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissensc aft \ aft \ \ Li \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha nik \ nik \ Hist Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn sen sen Mat Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss -aft \ aft \ scha scha aft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha nik \ nik \ Hist Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn sen sen Mat Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss -esen esen scha scha aft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwe istik istik \ Fr \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinav gie \ gie \ \ BW \ BW WL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilolog Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ \ \ \ g \ \ g \ \ \ p \ p rt \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosoph ien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc ien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc d Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturw BUCHTIPP Reinhard Wesel Die UNO Aufgaben und Arbeitsweisen 1. Auflage 2019, 300 Seiten €[D] 34,99 ISBN 978-3-8252-5292-2 e ISBN 978-3-8385-5292-7 BUCHTIPP Die Kooperation der Staaten bei transnationalen und globalen Problemen - Frieden/ Sicherheit, Menschenrechte, Weltwirtschaft, Entwicklung, Umwelt/ Klima - ist orientiert am Mandat der UNO: Die „Charta der Vereinten Nationen“ legt als Kernstück des Völkerrechts seit 1945 nahezu unverändert die Pflichten und Rechte der Organisation und ihrer nun 193 sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten fest, bestimmt also Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO und regelt ihre Funktionsweise. Über 75 Jahre haben sich jedoch die Arbeitsweisen und Methoden der multilateralen Diplomatie ausdifferenziert. Das Handbuch erklärt in überblickenden und zugleich gewichtenden Darstellungen die Grundlagen und oft schwer durchschaubaren Regelungen internationaler Zusammenarbeit in der und durch die UNO, veranschaulicht das nötige Informationswissen mittels zahlreicher Schaubilder, Synopsen, Tabellen und Pro-/ Contra-Listen, gibt strukturierende Orientierung, wo und wie die Phänomene und Probleme, Institutionen und Prozesse eingeordnet werden können - und bietet Interpretationen für eine eigenständige kritische Beurteilung an. UVK Verlag. Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 9797 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="398"?> uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik schaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Stat te \ te \ \ M \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschicht tik \ tik \ Spra Spra acherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidakt mus mus DaF DaF F \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourism tik \ tik \ \ VW \ VW WL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanist haft haft Theo Theo ologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissensc aft \ aft \ \ Li \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha nik \ nik \ Hist Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn sen sen Mat Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss -aft \ aft \ scha scha aft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha nik \ nik \ Hist Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn sen sen Mat Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss -esen esen scha scha aft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwe istik istik \ Fr \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinav gie \ gie \ \ BW \ BW WL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilolog Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ \ \ \ g \ \ g \ \ \ p \ p rt \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosoph ien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc ien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc d Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturw BUCHTIPP BUCHTIPP Domenica Dreyer-Plum Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union 2020, 220 Seiten €[D] 24,90 ISBN 978-3-8252-5346-2 e ISBN 978-3-8385-5346-7 Was ist 2015 in der sogenannten Migrationskrise passiert? Wie ist die darauf antwortende Politik zu bewerten? Wer sind die entscheidenden Akteure in der europäischen Grenz- und Asylpolitik? Und was sind die gesellschaftlichen und politischen Gründe dafür, dass das Politikfeld seit den späten 1990er Jahren zunehmend auf europäischer Ebene gestaltet wird? Die Autorin liefert ausgewogene Antworten, indem zum einen die Genese des Politikfeldes vor dem Hintergrund der Schengen-Kooperation historisch und politisch aufgearbeitet wird. Zudem erläutert sie, wie die Institutionen ihr Mandat genutzt haben und welche Standards bei der Einreise, Visavergabe und in Asylverfahren laut EU-Recht gelten. Dabei werden auch die Schwachstellen beleuchtet, die den andauernden Streit um die Ausrichtung der europäischen Grenz- und Asylpolitik prägen. UVK Verlag. Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 9797 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="399"?> ,! 7ID8C5-cfeedi! ISBN 978-3-8252-5443-8 Ines-Jacqueline Werkner Friedens- und Konfliktforschung Eine Einführung Das Buch führt systematisch und kompakt in zentrale Themenfelder der Friedens- und Konfliktforschung ein. Es reflektiert den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung und zeigt die derzeitigen Herausforderungen auf. Im Fokus der Analyse steht zunächst der Friedensbegriff mit seinen Dimensionen und seinem Verhältnis zur Sicherheit. Im Weiteren nimmt die Autorin das Phänomen des Konfliktes sowie aktuelle weltpolitische Konfliktkonstellationen in den Blick und verhandelt Konfliktbearbeitungsmechanismen und Strategien der Friedensförderung. Abschließend gibt das Lehrbuch einen Überblick über den Stand der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland mit seinen Instituten und universitären Studiengängen. Werkner Politikwissenschaft Friedens- und Konfliktforschung Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 54438 Werkner_S-5443.indd 1 54438 Werkner_S-5443.indd 1 29.09.20 16: 40 29.09.20 16: 40