Demokratie? Frag doch einfach!
Klare Antworten aus erster Hand
0111
2021
978-3-8385-5446-4
978-3-8252-5446-9
UTB
Martin Oppelt
Was unterscheidet die moderne von der antiken Demokratie? Welche Schattenseiten hat die moderne Demokratie? Gehören Demokratie und Kapitalismus zusammen? Wie steht es um Meinungsfreiheit und Toleranz in Demokratien?
Diese und weitere Fragen beantwortet Martin Oppelt in einem Buch. Er beleuchtet konkurrierende Ideen und Modelle der Demokratie, blickt auf ihre geschichtliche Entwicklung und erklärt aktuelle Herausforderungen. Zudem stellt er die wichtigsten Fachbegriffe prägnant vor und verrät, welche Websites, Videos und Bücher das Wissen aus diesem Band vertiefen können.
Frag doch einfach! Die utb-Reihe geht zahlreichen spannenden Themen im Frage-Antwort-Stil auf den Grund. Ein Must-have für alle, die mehr wissen und verstehen wollen.
<?page no="0"?> Martin Oppelt Demokratie? Klare Antworten aus erster Hand Frag doch einfach! <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 5446 <?page no="2"?> #fragdocheinfach Dr. Martin Oppelt lehrt und forscht im Bereich Politische Theorie und Ideengeschichte mit dem Schwerpunkt auf (radikalen) Demokratietheorien und der Frage nach der Bedeutung des Verrats im demokratischen Denken. Er vertritt im Wintersemester 2020/ 21 die Professur für Political Philosophy and Theory an der Hochschule für Politik an der Technischen Universität München. <?page no="3"?> Martin Oppelt Demokratie? Frag doch einfach! Klare Antworten aus erster Hand UVK Verlag · München <?page no="4"?> © UVK Verlag 2021 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5446 ISBN 978-3-8252-5446-9 (Print) ISBN 978-3-8385-5446-4 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5446-9 (ePub) Umschlagabbildung und Kapiteleinstiegsseiten: © bgblue - iStock Abbildungen im Innenteil: Figur, Lupe, Glühbirne: © Die Illustrationsagentur Abbildung Infografik: © NWM - iStock Autorenfoto: privat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 11 15 17 19 27 29 30 32 34 37 39 42 44 46 47 48 50 51 Alle Fragen im Überblick Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was die verwendeten Symbole bedeuten . . . . . . . . . . . . . . . Zahlen und Fakten zur Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelles Beispiel - Corona und die Frage der Demokratie Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung . . . . . . . . Was genau bedeutet Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seit wann gibt es die Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche konkreten Transformationen durchlief der Begriff der Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es eine wissenschaftliche Definition von Demokratie? . . . . . . Welche wissenschaftlichen Perspektiven auf die Demokratie gibt es? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sind alle Demokratien Republiken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Braucht die Demokratie den Nationalstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist der Nationalstaat ein Hindernis für die Demokratie? . . . . . . . . . Wie hat sich die Idee demokratischer Staatlichkeit entwickelt? . . . Was besagt die marxistische Staatskritik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Idealtypen von Staatlichkeit gibt es? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind mögliche Alternativen zum Nationalstaat? . . . . . . . . . . . . Kann die Stadt eine Alternative zum Nationalstaat sein? . . . . . . . . <?page no="6"?> 52 54 55 57 59 61 62 64 66 67 68 70 71 73 74 75 76 77 78 80 81 82 Welche demokratischen Regierungsformen gibt es? . . . . . . . . . . . . Was bedeutet repräsentative Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was bedeutet direkte Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was unterscheidet parlamentarische von präsidentiellen Regierungssystemen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorien und Modelle der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind Demokratietheorien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist die republikanische Demokratietheorie? . . . . . . . . . . . . . . . Welche Entwicklung nahm das republikanische Denken im Laufe der Herausbildung der modernen Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist die liberale Demokratietheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Kernannahmen vertreten liberale Demokratietheorien? . . Wo liegen die Ursprünge liberaler Demokratietheorien? . . . . . . . . Was ist die deliberative Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie kann eine deliberative Demokratie konkret aussehen? . . . . . . Wie realistisch ist das Modell deliberativer Demokratie? . . . . . . . . Was ist die radikale Demokratietheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist das Radikale an der radikalen Demokratietheorie? . . . . . . . Wo liegen die Ursprünge radikaler Demokratietheorie? . . . . . . . . . Welche epistemischen Konsequenzen hat das radikale Verständnis von Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie gewichtet die Radikaldemokratie das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist die feministische Demokratietheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist die geteilte Grundannahme feministischer Demokratietheorien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo haben feministische Demokratietheorien ihren Ursprung? . . . Alle Fragen im Überblick 6 <?page no="7"?> 83 85 86 87 89 91 93 94 97 99 100 101 104 105 108 109 110 Wie entwickelten sich die feministischen Theorien weiter? . . . . . Wie liest die feministische Theorie die Geschichte der Demokratie? Welches sind mögliche Strategien und Mittel zur Überwindung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Rolle spielt das Konzept des Geschlechts in der feministischen Demokratietheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist die postkoloniale Demokratietheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind die Betätigungsfelder postkolonialer Interventionen? . . . Was ist das übergeordnete Ziel postkolonialer Demokratietheorien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie hängen Rassismus, Kolonialismus und Demokratie zusammen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo liegen die historischen Ursprünge der Demokratie? . . . . . . . . . Was sind die Ursprünge der Demokratietheorie? . . . . . . . . . . . . . . . Welche Bedeutung hatte die Amerikanische Revolution für die Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . War die Amerikanische Revolution wirklich eine demokratische Revolution? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Bedeutungen hatte die Französische Revolution für die Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was unterscheidet die moderne von der antiken Demokratie? . . . . Wie hat sich das Freiheitsverständnis am Übergang zur Moderne gewandelt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kann man die Geschichte der Demokratie als eine Erfolgsgeschichte sehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alle Fragen im Überblick 7 <?page no="8"?> 113 115 117 119 120 121 122 124 125 126 129 130 131 133 136 139 141 142 143 145 146 147 149 Gegenwart der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Schattenseiten hat die moderne Demokratie? . . . . . . . . . . . Ist die Demokratie eine friedliche Staatsform? . . . . . . . . . . . . . . . . . Was bedeutet es, eine Bürger*in zu sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Theorien liegen dem modernen Staatsbürger*innenverständnis zugrunde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie änderte sich das Bürger*innenverständnis in der Moderne? . . Wie demokratisch ist das Konzept von Bürger*innenschaft? . . . . . Wie lässt sich Bürger*innenschaft demokratisieren? . . . . . . . . . . . . Was ist Ziviler Ungehorsam? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welches sind die vier Modelle des Zivilen Ungehorsams? . . . . . . . . Welche Bedeutung haben Protestbewegungen für die Demokratie? Was sind demokratische Protestbewegungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Populismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Linkspopulismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was bedeutet Postdemokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demokratie und Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was bedeutet Kapitalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welches sind die Grundmerkmale des Kapitalismus? . . . . . . . . . . . Welche sozialen Folgen hat der Kapitalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . Gehören Demokratie und Kapitalismus zusammen? . . . . . . . . . . . . Widersprechen sich Kapitalismus und Demokratie? . . . . . . . . . . . . Neigt der Kapitalismus zu antidemokratischen Politikformen? . . . Wie entwickelt sich gegenwärtig das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alle Fragen im Überblick 8 <?page no="9"?> 151 153 155 157 159 160 161 162 163 163 165 165 166 167 168 169 171 173 175 175 176 178 179 Gibt es demokratische Alternativen zum Kapitalismus? . . . . . . . . . Was bedeutet Wirtschaftsdemokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demokratie und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist eine Verfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist die demokratietheoretische Bedeutung der Verfassung? . . Was ist Gewaltenteilung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Woher kommt die Idee der Gewaltenteilung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie entwickelte sich die Idee der Gewaltenteilung? . . . . . . . . . . . . Was trug Montesquieu zur Idee der Gewaltenteilung bei? . . . . . . . Was sind aktuelle demokratietheoretische Perspektiven auf die Gewaltenteilung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Souveränität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Rolle spielt die Staatsform in Bezug auf die Souveränität? Wie ist der Souveränitätsbegriff entstanden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was bedeutete Souveränität laut Bodin und Hobbes konkret? . . . . Welche Bedeutung hatte die Idee der Souveränität für die moderne Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie lautet die demokratietheoretische Kritik an der Volkssouveränität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie steht es um Meinungsfreiheit und Toleranz in Demokratien? Was bedeutet wehrhafte Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es ein Recht auf Widerstand? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unter welchen Bedingungen ist Widerstand legitim? . . . . . . . . . . . Wie entwickelte sich die Lehre vom Widerstandsrecht? . . . . . . . . . Welche Bedeutung hat das Widerstandsrecht für die moderne Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Arten von demokratischem Widerstand gibt es? . . . . . . . . Alle Fragen im Überblick 9 <?page no="10"?> 181 193 199 Glossar - Wichtige Begriffe kurz erklärt . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo sich welches Stichwort befindet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alle Fragen im Überblick 10 <?page no="11"?> Vorwort Anfang der 1980er Jahre veröffentlichte der französische Philosoph und Demokratietheoretiker Claude Lefort (1924-2010) einen später auch in Deutschland viel beachteten Aufsatz mit dem Titel Die Frage der De‐ mokratie. Lefort stellt darin vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit dem Totalitarismus die Notwendigkeit fest, erneut und ganz grundlegend nach dem Wesen, dem spezifisch Neuen und der Einzigartigkeit der modernen Demokratie zu fragen. Dafür grenzt er diese doppelt ab: Einmal von ihrer historischen Vorläuferin, der absolutistischen Monarchie, deren Überwindung in der Französischen Revolution für Lefort die Geburtsstunde der modernen Demokratie darstellt. Und zum anderen von ihrer Kehrseite, sozusagen ihrem bösen Zwilling, nämlich dem modernen Totalitarismus, den er als permanente Gefahr und Möglichkeit der Demokratie begreift. So kommt Lefort zu der Erkenntnis, dass sich die Demokratie nicht in der Aufzählung und Beschreibung ihrer Institutionen, Verfahren und Akteur*innen erschöpft, sondern die Frage der Demokratie viel früher, oder besser: viel fundmentaler ansetzen muss, nämlich bei der Art und Weise, wie sich eine demokratische Gesellschaft überhaupt als solche konstituiert und inwiefern sie sich darin von anderen Gesellschaftsfor‐ mationen (etwa der Monarchie oder dem Totalitarismus) unterscheidet. Das spezifische Charakteristikum der modernen Demokratie liegt dann für Lefort gerade in der Unmöglichkeit, sie auf ein bestimmtes System von Institutionen eindeutig und letztgültig festlegen zu können. Lefort erklärt dies damit, dass die im Feuer der Revolution entstandene moderne Demokratie kurzen Prozess mit den Grundlagen aller Gewiss‐ heit gemacht hat. Wo vorher Gott, Religion und Tradition die stabilen und verlässlichen, weil unverrückbaren und unerschütterlichen Fun‐ damente des gesellschaftlichen Zusammenlebens bereitgestellt haben, hat die moderne Demokratie keine solchen Fundamente mehr, auf denen sich eine demokratische Gesellschaft wie nach einem Masterplan aufbauen lässt. Vielmehr muss sich die moderne Demokratie beständig selbst erfinden und sich aus sich selbst heraus die Antworten auf die Frage nach der bestmöglichen Umsetzung ihrer eigenen Prinzipien <?page no="12"?> geben. Da diese Antworten aufgrund der Abwesenheit letztgültiger Bezugsgrößen immer nur vorläufig sein und keinen Anspruch mehr auf absolute Wahrheit erheben können, besteht das Wesen der Demokratie für Lefort in der Institutionalisierung des Konflikts um ihre eigene per‐ manente demokratische Selbst-Infragestellung, die niemals zu einem Ende kommen kann und darf. Alle vermeintlich selbstverständlichen Begriffe, wie zum Beispiel Staat, Nation, Volk - oder eben Demokra‐ tie - sind damit notwendig Gegenstand einer auf Dauer gestellten fragenden Selbstreflexion, auf die niemand eine endgültige Antwort beanspruchen kann. Die Demokratie ist dann also, mit einem leicht abgewandelten Satz des Schriftstellers Theodor Däubler gesprochen, unsere eigene Frage als Gestalt, beziehungswese die stets nur vorläu‐ fige Antwort auf die Frage danach, wie wir uns als Gemeinschaft Freier und Gleicher verstehen und unser Zusammenleben politisch organisieren wollen. Alle vermeintlichen Sicherheiten und Gewisshei‐ ten, alle historischen, politischen und sozialen Errungenschaften, alle Institutionen, Verfahren und Statusunterschiede und schließlich auch die Demokratie selbst stehen damit stets unter dem demokratischen Vorbehalt, prinzipiell verändert, verbessert oder auch abgeschafft wer‐ den zu können. Somit muss die moderne Demokratie mit Lefort als ein (historisch relativ junges) Abenteuer mit ungewissem Ausgang verstanden werden, dessen größte Herausforderung darin besteht, mit den daraus resultierenden Unsicherheiten und Ungewissheiten umzu‐ gehen und sich nicht autoritären und totalitären Heilsversprechen hinzugeben, so schwer das auch manchen fallen mag. Vor dem Hintergrund dieses Demokratieverständnisses begreift sich auch das vorliegende Buch, das schon im Titel ein Fragzeichen hinter die Demokratie stellt und sich seinem Gegenstand also über dessen Be‐ fragung nähert. Der hier vorgestellte Frage-Antwort-Komplex wurde dabei auf Basis der relevanten und aktuellen Forschungsliteratur zur (ideen-)geschichtlichen Entwicklung und politischen Theorie der euro‐ päischen beziehungsweise westlichen Demokratien zusammengestellt. So soll gerade der Modus des Frage-Stellen-Antwort-Gebens allen an der Demokratie Interessierten einen ersten Zugang und Überblick über die relevanten wissenschaftlichen Positionen, Theorien und Ar‐ gumente bieten. Eine vertiefte Beschäftigung kann dann über die im Vorwort 12 <?page no="13"?> Anhang präsentierte wissenschaftliche Literatur sowie die Websites, YouTube-Channels und Podcasts erfolgen. Dass mit jeder Auswahl Ausschlüsse einhergehen, lässt sich dabei nicht vermeiden. Jede noch so vermeintlich wertneutrale und objektive Position, auch in den Wissenschaften, ist zudem nur vor dem Hintergrund einer politischen Haltung und/ oder Positionierung vollständig zu begreifen - und zu kritisieren. Wir sind als Menschen immer in soziale und politische Kontexte verwoben, aus denen wir uns weder lösen können noch eine solche Abstraktion überhaupt versuchen sollten. Was wir jedoch als politische und soziale Wesen tun können bzw. wozu wir auch als Wissenschaftler*innen geradezu verpflichtet sind, ist ein transpa‐ renter, reflexiver und (selbst-)kritischer Umgang mit unserer eigenen politischen Haltung. Das ist nichts Verwerfliches und schon gar nicht problematisch, sondern die Voraussetzung für demokratischen Disput und Diskurs sowie für wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt. Für vorliegendes Buch bedeutet dies, dass hier ein radikales Ver‐ ständnis von Demokratie zugrunde liegt, wie es im Anschluss an Claude Lefort stärker auf die Herausforderung und Kritik bestehender demokratischer Institutionen fokussiert, als auf deren reine Beschrei‐ bung oder legitimierende Begründung. In diesem Sinne möchte dieses Buch dazu ermuntern, sich mit den hier wie andernorts gegebenen Antworten nicht zu begnügen, sondern sich weiter und tiefer mit der Demokratie zu befassen, sie zu hinterfragen und, wo nötig, zu kritisieren, um sie so vor allzu viel Selbstzufriedenheit und historischer Selbstvergessenheit zu bewahren und sie vor allem gegen all jene ihrer Feinde zu verteidigen, die ihr in ihrem eigenen Namen versuchen den Garaus zu machen, indem sie behaupten, im Besitz einer letztgültigen Antwort auf die Frage der Demokratie zu sein. Vorwort 13 <?page no="15"?> Was die verwendeten Symbole bedeuten Toni verrät dir spannende Literaturtipps, YouTube-Seiten und Blogs im World Wide Web. Die Glühbirne zeigt eine Schlüsselfrage an. Das ist eine der Fragen zum Thema, deren Antwort du unbedingt lesen solltest. Die Lupe weist dich auf eine Expertenfrage hin. Hier geht die Antwort ziemlich in die Tiefe. Sie richtet sich an alle, die es ganz genau wissen wollen. → Wichtige Begriffe sind mit einem Pfeil gekennzeichnet und wer‐ den im Glossar erklärt. <?page no="16"?> Zahlen und Fakten zur Demokratie Quellen: Älteste demokratische Staaten: Statista 2020; Wahlrecht für Frauen in diesen Staaten: Statista 2020; Parlamente mit dem höchsten Frauenanteil: Women in National Parlaments 2019 (Inter-Parliamentary Union); Wahlbeteiligung in der BRD: Statista 2020 Vereinigtes Königreich seit 1885 USA seit 1776 Schweiz seit 1848 Neuseeland seit 1858 Kanada seit 1867 1893 1928 1960 1918/ 19 1971 20? ? Neuseeland Deutschland USA Vereinigtes Königreich Kanada Schweiz Brunei 1893 1928 1960 1918/ 19 1971 20? ? Neuseeland Deutschland USA Vereinigtes Königreich Kanada Schweiz Brunei Die fünf ältesten Demokratien der Welt Frauenwahlrecht in den fünf weltweit ältesten Demokratien und Deutschland Parlamente mit dem höchsten Frauenanteil in den ersten Kammern 2019 (in %) Wahlbeteiligung Bundestagswahl Infografik.indd Alle Seiten Infografik.indd Alle Seiten <?page no="17"?> Quellen: Älteste demokratische Staaten: Statista 2020; Wahlrecht für Frauen in diesen Staaten: Statista 2020; Parlamente mit dem höchsten Frauenanteil: Women in National Parlaments 2019 (Inter-Parliamentary Union); Wahlbeteiligung in der BRD: Statista 2020 61,3 53,2 53,1 48,2 47,3 30,9 Ruanda Kuba Bolivien Mexiko Schweden Deutschland (Platz 47) 76,3 79 82,2 79,1 77,7 70,8 71,5 76,2 1990 1994 1998 2002 2005 2009 2013 2017 Parlamente mit dem höchsten Frauenanteil in den ersten Kammern 2019 (in %) Wahlbeteiligung Bundestagswahl 27.11.2020 12: 21: 24 27.11.2020 12: 21: 24 <?page no="19"?> Aktuelles Beispiel - Corona und die Frage der Demokratie Das Jahr 2020 stand ganz im Zeichen der globalen Covid-19-Pandemie. In nur wenigen Wochen breitete sich das neuartige SARS-CoV-2-Virus vom chinesischen Wuhan über die Welt aus und beschäftigte als so ge‐ nannte Corona-Krise die Staatengemeinschaft in einem nicht gekann‐ ten Ausmaß. International führende wissenschaftliche Expert*innen bemühten sich um ein Verständnis der Ursprünge und Auswirkun‐ gen des Virus und arbeiteten fieberhaft an der Entwicklung eines Impfstoffes. Die nationalen Regierungen griffen auf die vorhandenen Expertisen zurück, um auf dieser Basis in den eingerichteten Krisen‐ stäben die politischen Konsequenzen zu ziehen. Wie für Demokratien üblich, wurden zumindest dort die von der Politik zum Schutz der Bevölkerung diskutierten und getroffenen Maßnahmen engmaschig medial aufbereitet und von einer kritischen Öffentlichkeit nahezu in Echtzeit begleitet. Nicht selten wurden in den sich entspinnenden Debatten historische Vergleiche zur mittelalterlichen Pest, den Pocken‐ epidemien der frühen Neuzeit und zur Spanischen Grippe Anfang des 20. Jahrhunderts bemüht. Dies unterstrich, jenseits der Frage nach der historisch-empirischen oder medizinischen Korrektheit dieser Vergleiche, das Bewusstsein um die Gefahr und Ernsthaftigkeit der Pandemie eindrucksvoll. Die Diskussionen um die Angemessenheit der zum Schutz der Bevölkerungen getroffenen Vorkehrungen waren damit von Anfang an nie rein medizinischer Natur gewesen, auch wenn manche Kriti‐ ker*innen sich in die Behauptung verstiegen, die Politik hätte das Heft des Handelns leichtfertig an Virolog*innen abgegeben. Vielmehr waren es stets hoch politische Fragen, die mit jeweils unterschiedli‐ chen Argumentationen und Priorisierungen weltweit unterschiedlich gestellt und beantwortet worden sind und somit entsprechend auch die verschiedensten Reaktionen und Auswirkungen in den jeweiligen Gesellschaften gezeitigt haben. Bei allem zu beklagenden Leid und trotz der unbestrittenen Tatsache, dass der Welt dieses Virus besser erspart <?page no="20"?> geblieben wäre, ist es aus einer demokratietheoretischen Perspektive dennoch erhellend, sich die Debatten rund um die Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise etwas näher zu betrachten. So war zunächst oft der Vergleich von demokratischen mit autori‐ tären Regimen gezogen worden, der sich mit Blick auf deren vermeint‐ lich bessere Eignung, effizient auf Krisen- und Ausnahmesituationen zu reagieren, anfangs zu einem teilweise zynischen Bodycount aus‐ wuchs. Nach und nach jedoch wurden, wie in Krisenzeiten üblich, die vergessenen oder vermeintlich längst beantworteten fundamenta‐ len Fragen der Demokratie erneut an die Oberfläche der politischen Diskurse gespült und die demokratischen Öffentlichkeiten befassten sich fortan intensiv mit Debatten um das Verhältnis von Herrschenden zu Beherrschten, von Politik zu Gesellschaft und Wirtschaft sowie mit Fragen nach Souveränität, Macht und Ungleichheit. Spätestens mit dem so genannten Lockdown und den damit verbundenen, zum Teil drastischen Einschränkungen in den Bereichen der Arbeit, des sozialen Miteinanders und der Freizeitgestaltung bis hinein in die intime Privatsphäre der einzelnen Haushalte, erreichte die öffentliche Debatte schließlich einen lange nicht gesehenen Politisierungsgrad. Begrüßten die einen die Maßnahmen als legitim, weil angemessen und notwendig, um Sicherheit und Leben der Bürger*innen zu garantieren, kritisierten andere diese als illegitimen Eingriff in die individuellen Freiheiten und als antidemokratische Machtübernahme außer Kon‐ trolle geratener Regierungen. In den sozialen Netzwerken war eine tiefe Spaltung der Öffentlichkeit in zwei unversöhnliche Lager zu beobachten: Die Vertreter*innen einer politischen Vernunft auf der einen und die sich als Verteidiger*innen der Freiheitsrechte gerieren‐ den Corona-Maßnahmen-Kritiker*innen, Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen auf der anderen Seite. Mit der Berufung auf zentrale Leitmotive der europäischen Aufklärung und Geschichte der moder‐ nen Demokratie wurde dieser Streit bald auch auf die Straßen und Plätze der Republik getragen, wo den Bürger*innen unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und hohen Auflagen die Ausübung ihres Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit ermöglicht wurde, das diese dafür nutzten, vor laufenden Kameras und mitschreibenden Journalist*innen den vermeintlichen Verlust ihrer Grundrechte und Aktuelles Beispiel - Corona und die Frage der Demokratie 20 <?page no="21"?> Freiheiten zu beklagen, die sie unter der angeblichen Diktatur pseu‐ dodemokratischer Regierungen widerspruchslos hinzunehmen hätten. Diese Absurdität gipfelte in der versuchten Erstürmung des Reichstags‐ gebäudes, Sitz der bundesrepublikanischen Volksversammlung und Legislative, im Spätsommer 2020, als sich die gerade einmal drei zu dessen Schutz abgestellten Polizisten plötzlich Reichsflaggen schwen‐ kenden Demonstrierenden gegenüberstehen sahen. Diese Bilder riefen historische Erinnerungen an das Ende der Weimarer Republik und die Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 ins kollektive Gedächt‐ nis und unterstrichen damit die Fragilität der Demokratie auf ebenso eindrucksvolle wie beunruhigende Art und Weise. Längst ging es da schon nicht mehr allein um das Virus oder dessen Auswirkungen, sondern um ganz Grundsätzliches, nämlich die Mitspra‐ cherechte der Bürger*innen bezüglich der möglichen (und wünschens‐ werten) (Weiter-)Entwicklungen oder auch Abschaffung der Demokratie angesichts ihrer vermeintlichen bis realen Krisenphänomene. In den Medien, sozialen Netzwerken und an den Stammtischen diskutierte man die Berechtigung der Regierung, sich auf das → Volk als Souverän aller Entscheidungen zu berufen sowie die Frage, wer dieses Volk überhaupt sei. Rechtspopulist*innen versuchten, durch rassistische und rechtsex‐ treme Diffamierungen die angeblichen Schuldigen an der Pandemie zu identifizieren, um so den freien Fall in Richtung Bedeutungslosigkeit abzufangen, in welchem sie sich seit Ausbruch der Krise Umfragen sowie der öffentlichen Wahrnehmung nach befanden. Progressive Kräfte hingegen witterten Morgenluft und sahen endlich die Chance gekommen, die Hegemonie des Kapitalismus vom Sockel zu stoßen. Schließlich war plötzlich möglich, was stets als verbrecherisches Instrumentarium sozialistischer Umsturzpläne gegeißelt wurde: Staatliche Eingriffe in den privatwirtschaftlichen Sektor. Unternehmen wurden von der Politik auf ihren Beitrag zur Bewältigung der Krise verpflichtet, die Aussetzung von Mietzahlungen wurde in Aussicht gestellt und eine grundlegende Reform des Wirtschaftslebens schien auf einmal viel realistischer als noch ein paar Monate zuvor. Und nicht nur das, auch die positiven ökologischen Effekte, die eine demokratische Planung und mitunter Beschränkung der vermeintlichen wirtschaftlichen Imperative zeitigen kann, waren direkt wahrnehmbar, was die millionenfach geteilten Satellitenbilder Aktuelles Beispiel - Corona und die Frage der Demokratie 21 <?page no="22"?> der sauberen Kanäle in Venedig zeigten. Weltweit solidarisierten sich zudem Menschen mit den Schwächsten und Verletzlichsten und waren bereit, Einschränkungen zugunsten ihrer Mitmenschen und auf Kosten ihrer Privilegien und Freiheiten zu akzeptieren. Wenn der politische Wille da ist, so der Eindruck, den man bekommen konnte, ist alles möglich und eine bessere Gesellschaft nicht mehr nur eine nie zu verwirklichende Utopie. Gleichzeitig wurde das utopische Potenzial der Krise seitens der eta‐ blierten konservativen und reaktionären Kräfte in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft bei weitem nicht ausgeschöpft. Eher hielt man sich hier an die Verteidigung oder Wiederherstellung des status quo . Dadurch wurde aber auch die Fähigkeit des Nationalstaats, überhaupt auf globale Herausforderungen reagieren zu können disku‐ tiert, während man gleichzeitig in Europa ein erschreckendes Schwei‐ gen der Institutionen der Europäischen Union vernehmen konnte. Dass jeder Abgesang auf die Gestaltungsmacht und Souveränität des Staates verfrüht wäre, zeigten aber spätestens die enormen Summen, die quasi über Nacht zur Rettung der als systemrelevant geltenden Branchen mobilisiert wurden. Geld, das andernorts immer dort fehlt, wo es für die Herstellung gerechter Lebensverhältnisse und nicht unmittelbar ökonomisch messbare Innovationen gebraucht würde. Die Regierungschef*innen und zuständigen Minister*innen der National‐ staaten wurden bei ihren regelmäßigen Rechtfertigungen gegenüber ihren Bevölkerungen dabei nicht müde zu betonen, dass man neben der Meinung von Wirtschafts-Expert*innen stets auch die Einschätzung von Jurist*innen und den zuständigen Gerichten einhole und sich streng an die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats und der Verfassung halte, die es vor zu großem Wandel zu bewahren gelte. Dennoch entzündeten sich hoch aufgeladene Debatten um die Vor‐ rangstellung der Wirtschaft gegenüber Gesellschaft, Politik und dem Wohl der Arbeitnehmer*innen, die zumindest kurzfristig eine enorme Schubkraft entwickeln und dabei aus der schwelenden Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile mit dem Einfluss von wirtschaftlichen Lob‐ bygruppen schöpfen konnten. Neben dem demokratischen Prinzip der → Freiheit und seinen Einschränkungen ging es dabei auch viel um die Frage der → Gleich‐ Aktuelles Beispiel - Corona und die Frage der Demokratie 22 <?page no="23"?> heit. Die Vorstellung, dass das Virus als der große Gleichmacher alle Menschen gleichermaßen betreffe, also für alle gleich tödlich und damit auf eine zynische Art demokratisch sei, wurde recht bald als Ideologie widerlegt. Es zeigte sich, dass schon die Gefahr, sich über‐ haupt anzustecken, ebenso ungleich verteilt war, wie soziale, politische, ökonomische und kulturelle Privilegien es auch sonst sind. In den USA, der ältesten Demokratie der modernen Welt wohlgemerkt, belegten Studien, dass die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, dreimal so hoch für Menschen ist, die als schwarz konstruiert werden, im Vergleich zu jenen, die als weiß gelten. Selbstredend hängt das mit den faktischen sozialen, politischen und ökonomischen Ungleichheiten zusammen, die besonders in kapitalistisch organisierten Gesellschaften immer schon bestimmte Bevölkerungsgruppen in prekäre und hoch vulnerable Lebenszusammenhänge zwängen und in allgemeinen Kri‐ senzeiten verheerende Ausmaße annehmen. Ob man sich ansteckte und auch wie die Krankheit dann im Ansteckungsfall verlief, hing also zu einem großen Teil davon ab, ob und inwiefern man Zugang zum Gesundheitssystem und staatlichen Leistungen hatte beziehungsweise ob man es sich schlicht leisten konnte, ja man überhaupt die Möglich‐ keit hatte, sich von den Mitmenschen zu distanzieren. Auch lasteten die wirtschaftlichen Folgen nicht auf allen gleichermaßen. Nicht alle konnten schließlich vom Ersparten leben und Einkommenseinbußen überbrücken, was nicht nur für die USA, sondern auch für die europäi‐ schen Demokratien mit starker sozialstaatlicher Tradition galt. Zwar griff zum Beispiel in Deutschland das so genannte Kurzarbeitergeld und recht schnell wurden wie gesagt auch finanzielle Mittel zur Rettung der als systemrelevant geltenden Branchen der Industrie und des Finanzwesens bereitgestellt. Für die Ärmsten der Armen jedoch wurde keine einzige zusätzliche Absicherung in den kurzfristig aufgesetzten Konjunkturmaßnahmen eingeplant und auch die anfangs noch als Held*innen besungenen und viel beklatschten Pflegekräfte im Gesund‐ heitsbereich mussten sich am Ende damit zufriedengeben, dass es bei der rein symbolischen Entlohnung für ihren aufopfernden und gefähr‐ lichen Einsatz bleiben würde. So waren auch in den demokratischen Gesellschaften nicht nur die vermeintlich Alten und Vorerkrankten einem erhöhten Risiko ausgesetzt, sondern alle von Rassismus, Armut Aktuelles Beispiel - Corona und die Frage der Demokratie 23 <?page no="24"?> und Prekarisierung betroffenen Menschengruppen, die Arbeitslosen, Migrant*innen, Pfleger*innen und Kassierer*innen und all diejenigen, die in Sammelunterkünften für Geflüchtete, Saisonarbeiter*innen auf den Spargelfeldern und in den Schlachthöfen sowie in den Lagern dies- und jenseits der europäischen Grenzen leben müssen, wo die Menschen dem Virus fast schutzlos ausgeliefert sind. Erst überschritt Corona also die Grenzen von Kontinenten, dann von Nationalstaaten und schließlich von sozialen Schichten und Klassen, und es stellte sich heraus, dass die Gefahr der Ansteckung und damit auch der Sterblichkeit eine soziale und damit eine zentrale Frage der Demokratie war. Immerhin war die Demokratie einst erfolgreich mit dem Versprechen der → Freiheit, → Gleichheit und → Solidarität für alle angetreten und bezieht bis heute daraus ihre große Attraktivität. Wie sonst wären die leidenschaftlichen Diskussionen der letzten Monate zu erklären, wenn nicht mit zumindest Restbeständen einer affektiven Bindung eines Großteils der Menschen an genau jene Prinzipien? Insofern die Infizierung aber vor allem unter Menschengruppen statt‐ fand, die aus sozialer und wirtschaftlicher Not heraus verletzlicher waren als andere, liegt etwas sehr im Argen mit der Demokratie. Leicht konnte man den Eindruck bekommen, dass jenseits der formalen Gleichheit aller Bürger*innen und Menschen per Gesetz und Verfassung de facto vor allem die zahlungskräftigen und arbeitenden Teile der Bevölkerung als vollwertige Bürger*innen akzeptiert werden, was eher an feudale, denn an demokratische Verhältnisse erinnert. Dies wurde besonders deutlich, wo in Deutschland versucht wurde, Arbeiter*innen aus Bulgarien und Rumänien, die sich in den hiesigen Fleischfabriken mit dem Virus infiziert haben, explizit als Nicht-Teil dieser Gesellschaft, als nicht-zugehörig, weil „von außen kommend“ auszugrenzen, anstatt sich mit ihnen zu solidarisieren und staatlicherseits der Pflicht nachzukommen, sie zu beschützen. Sind also Menschen, Familien, die unter Einsatz ihrer körper‐ lichen Gesundheit auf deutschem Boden leben und arbeiten, und das zu oft beschämend erbärmlichen Löhnen, kein Teil dieser Gesellschaft? Gelten für sie andere Regeln, haben sie weniger Rechte? Und was bedeutet es dann eigentlich überhaupt, Bürger*in einer Demokratie zu sein? Die Corona-Krise ließ also wie unter einer Lupe verstärkt hervortreten, was die Entwicklung der modernen Demokratie immer schon begleitet Aktuelles Beispiel - Corona und die Frage der Demokratie 24 <?page no="25"?> und sie maßgeblich mit vorangetrieben hat: Den öffentlichen Streit um die Art und Weise, menschliches Zusammenleben gemäß der Ideale der Gleichheit, Freiheit und Solidarität zu organisieren. Haben wir es mit der Demokratie dann am Ende aber angesichts all der offenkundigen wie beklagten Missstände vielleicht doch nur mit einem, wenn auch mächtigen, Mythos zu tun, wie es der Soziologe Geoffroy de Lagasnerie zuletzt behauptete? Müssen wir ihm darin zustimmen, dass wir uns besser eingestehen sollten, dass wir uns selbst anlügen, wann immer wir uns über die Gültigkeit der demokratischen Prinzipien der Volkssou‐ veränität, der Freiheit und der Gleichheit verständigen? Sicher ist, dass die Demokratie nicht das Ende der Geschichte ist. Wie alles, was einen historischen Ursprung hat, kann sie aber zu Ende gehen. Und fest steht gleichzeitig auch, dass die Demokratie und ihre Prinzipien weder eindeu‐ tig auf den Begriff gebracht noch jemals vollumfänglich verwirklicht werden können. Ob man aber deswegen Lagasneries Aufforderung zum radikalen Bruch mit der Idee der Demokratie folgen muss, um endlich die Hindernisse für die Entwicklung wirklicher sozialer Alternativen und emanzipierter gesellschaftlicher Verhältnisse zu überwinden, muss fraglich bleiben. Denn wenn die Demokratie trotz aller Mängel nach wie vor etwas anzubieten hat, dann ist es die Möglichkeit, sie in Richtung der Ausweitung und Vertiefung ihrer eigenen Prinzipien, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität, in ihrem Namen und aus ihrem Inneren heraus zu überschreiten. Man muss die Möglichkeiten nur kennen. Und sie dann auch nutzen. Linktipp | Der Frankfurter Arbeitskreis Politische Theorie bietet auf seinem YouTube-Kanal Videobeiträge zum Thema Kriti‐ sche Theorien in der Pandemie. Anlässlich der Herausforderun‐ gen durch die Covid-19-Pandemie reflektieren Expert*innen in einzelnen Beiträgen deren Auswirkungen auf zum Beispiel die Demokratie, den (black) Feminismus, Wirtschaft, Familie, Sicher‐ heit und Grenzen und vermitteln dabei kompetent und anschaulich Grundlagenwissen kritischer Sozialforschung. Aktuelles Beispiel - Corona und die Frage der Demokratie 25 <?page no="27"?> Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung Demokratie, Nationalstaat, Republik - darum geht es in diesem Kapitel. Was bedeuten diese Begriffe, welche Ge‐ schichte haben sie und wie stehen sie zueinander? Auch die spannende Frage nach Alternativen wird geklärt. <?page no="29"?> Was genau bedeutet Demokratie? Die Erfindung des Wortes demokratia wird dem antiken griechi‐ schen Geschichtsschreiber Herodot (490/ 480-430/ 420 v. Chr.) zu‐ geschrieben. Der Begriff ist eine Komposition aus dem Wort demos (→ Volk) und kratein , was mit „herrschen“ übersetzt wird. Demo‐ kratie meint dann Volksherrschaft als ein spezifisches Konzept einer politischen Ordnung. An Herodot anknüpfend erarbeiteten Platon (428/ 27-348/ 47 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.) die ersten heute bekannten Sys‐ tematisierungen verschiedener Herrschaftstypen, von denen die De‐ mokratie jeweils eine spezifische Organisationsform war. Beide un‐ terschieden für ihre Systematisierungen die quantitative Anzahl der Herrschenden und die qualitative Form der Ausübung der Herrschaft, wobei die Demokratie die Herrschaft der Vielen und Armen zu ihrem eigenen Vorteil, also eine nicht an der Tugend des Gemeinwohls orientierte Herrschaftsform war. Zwischen dem antiken und dem heutigen Verständnis von De‐ mokratie gibt es sowohl Kontinuitäten als auch erhebliche Un‐ terschiede. Heute assoziiert man mit Demokratie gemeinhin ein politisches System, das auf den per Verfassung garantierten Prin‐ zipien der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit ruht und politische Herrschaft nach dem Mehrheitswahlrecht zuteilt. Historisch betrachtet war die Demo‐ kratie trotz ihres heute guten Rufes jedoch immer auch ein System, das auf dem Ausschluss von Fremden als Nicht-Demokrat*innen sowie von bestimmten Gruppen als Nicht-Teil des zur Politik be‐ rechtigten demos aufbaute, allen voran den Frauen. Daran änderten auch die demokratischen Revolutionen im 18. Jahrhundert, die als Geburtsstunde der modernen Demokratie sowie der Idee der Menschenrechte gelten, zunächst wenig. Vor allem die Frage, was die „Herrschaft“ konkret bedeuten und wer überhaupt zum Volk im politischen Sinn zu zählen hat und wer nicht, ist bis heute hoch um‐ stritten in den politischen Theorien und der politischen Praxis der Demokratie. Fest steht nur, dass die exkludierenden Praktiken der Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 29 <?page no="30"?> Demokratie kein zufälliges und ungewolltes Nebenprodukt waren, welches die Demokratie im Laufe ihrer Entwicklung nach und nach wie einen überflüssigen Ballast losgeworden ist, sondern im Begriff der Demokratie stets inbegriffen waren. Verbunden damit ist auch der normative Wert der Demokratie immer schon ein zentraler Streitpunkt in der Geschichte der politischen Ideen gewesen. Dass die meisten Menschen die Demokratie heutzutage als die bei allen Mängeln und Nachteilen doch einzig vorstellbare und wünschens‐ werte Form politischer (Selbst-)Organisation halten, ist daher keine Selbstverständlichkeit, sondern das kontingente Ergebnis sozialer, politischer und auch wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und Kämpfe, die nicht selten von den Ausgeschlossenen initiiert und geführt worden sind. Die besondere Attraktivität, welche sich der Begriff der Demokratie über die Jahrtausende trotz aller Kritik, Anfeindungen und Angriffe bewahren konnte, liegt dann auch in der Möglichkeit, dass man sich in der politischen Praxis auf die Versprechen der Demokratie nach Volkssouveränität, → Gleichheit und → Freiheit berufen kann, um deren Einlösung einzufordern. Gleichzeitig ist die Demo‐ kratie dann aber auch ein effizientes Mittel für politische Eliten, den kritisierten status quo zu verteidigen und Reformbestrebungen marginalisierter Gruppen als antidemokratisch zu brandmarken, um sie so zu delegitimieren. In diesem Sinne ist die Demokratie nicht nur als Beschreibung für ein spezifisch organisiertes politi‐ sches System, sondern immer auch als politischer Kampfbegriff zu begreifen. Seit wann gibt es die Demokratie? Der Ursprung sowohl des Begriffs als auch der Praxis der Demokra‐ tie wird von der Forschung auf die Zeit der griechischen Antike datiert. Selbstverständlich kam auch die Demokratie dabei nicht aus dem Nichts, sondern entwickelte sich allmählich aus ihren Vorläufern heraus. Mit Blick auf die Demokratietheorie lässt sich der Beginn des demokratischen Denkens jedoch schon recht eindeutig festlegen. Zwar Demokratie? Frag doch einfach! 30 <?page no="31"?> gab es sowohl politische Ordnungen als auch politisches Denken lange vorher, etwa im babylonischen oder ägyptischen Reich. Auch das Alte Testament lässt sich zudem politisch lesen. Jedoch kennen zumindest die westeuropäische Politische Theorie und Ideengeschichte erst seit den Schriften der griechischen Antike die wirklich systematische Reflexion auf Fragen der Entstehung, Legitimation und Organisation politischer Gemeinschaften und mithin auch der Demokratie. Der Historiker Christian Maier spricht daher von der „Erfindung des Poli‐ tischen bei den Griechen“ und dasselbe gilt auch für die Wissenschaft der Politik und Demokratie. Der griechische Rhetoriker Isokrates (436-338 v. Chr.) legte in seiner „Panatenaikos-Rede“ die Übergabe der Macht des mytho‐ logischen attischen Königs Theseus auf die Volksversammlung im 13. Jahrhundert v. Chr. als demokratisches Ur-Moment fest, meinte mit Demokratie aber eine Form der republikanischen Herrschaft, die sich aristokratischer Elemente bedient, um die vermeintliche Zügellosigkeit der Demokratie zu kontrollieren. Für die Entstehung der Theorie und Praxis der Demokratie gilt heute aber der antike Stadtstaat Athen als so genannte polis als Vorbild, von der sich das Wort Politik ableitet. Im 7. Jahrhundert v. Chr. wurde dort das Königtum durch die Institution des Archontat als dem höchstem und fortan per Wahl regelmäßig neu zu besetzendem Amt ersetzt. Im 6. Jahrhundert v. Chr. wurden durch die Reformen von Solon bis Kleisthenes immer mehr politische Entscheidungs- und Kontrollrechte an eine immer größere Zahl von männlichen Vollbürgern übertragen. Aristoteles berichtet darüber in dem (ihm zugeschriebenen) Text „Der Staat der Athener“. Hier lässt sich nachverfolgen, wie sich die Idee der politischen → Gleichheit, im Griechischen Isonomie , der explizit männlichen Bürger als Grundlage des politischen Systems Athens sowie die Idee der Volksherrschaft nach und nach durchsetzen konnten. Damit rückte die Idee oder eben Erfindung eines künstlich geschaffenen politischen Verbundes an die Stelle von vermeintlich naturwüchsigen traditionellen Formen der Organisation des Zusammenlebens, etwa der Familienherrschaft. Die Idee und Praxis der Demokratie waren dabei bereits in der grie‐ chischen Antike umstritten. So beginnt auch die Geschichte der Demo‐ kratie und der Demokratietheorie, also der systematischen Reflexion Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 31 <?page no="32"?> auf die Voraussetzungen, Konsequenzen und Gefahren demokratischer Herrschaft, mit der Ablehnung der Demokratie. Literaturtipp | Die Geschichte der Demokratie und der politischen Theorien lassen sich mit folgenden zwei Büchern vertiefen: Salz‐ born, S.: Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorien im Kontext, Nomos 2017 und Dunn, J.: Setting the people free. The story of Democracy, Atlantic Books 2005. Welche konkreten Transformationen durchlief der Begriff der Demokratie? Die erste semantische Transformation hin zu einer Positivierung wird in der Forschung auf die Schriften Baruch de Spinozas (1632-1677), Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) und deren Rezeption im 17. und 18. Jahrhundert datiert. Erst hier begann man, der Demokratie einen positiven Wert zuzuschreiben, wenngleich nicht mal Spinoza und Rousseau selber an die Existenz einer wahren Demokratie glaubten. Zudem blieb die Demokratie im allgemeinen Verständnis weiterhin eine Herrschaftsform, die der Vergangenheit angehörte und eher als Kontrastfolie für eine kritikwürdige Gegenwart herangezogen wurde. Dies änderte sich erst mit Alexis de Tocquevilles (1805-1859) „Über die Demokratie in Amerika“ im 19. Jahrhundert. Ab da galt die De‐ mokratie als ein Projekt, dem die Zukunft gehört, weswegen man in der Forschung von der Futurisierung des Demokratiebegriffs als der zweiten Transformation spricht. Tocqueville war nach seinen Studien der damals recht jungen amerikanischen Demokratie fest davon überzeugt, dass die Idee der Demokratie die → Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen unaufhaltsam vorantreiben werde und aus der politischen Praxis der Moderne nicht mehr wegzudenken ist. Und tatsächlich kann die weitere Entwicklung der Demokratie im Großen und Ganzen als eine Bestätigung von Tocquevilles These der Egalisierung interpretiert werden, wurden doch innerdemokratische Standes- und Klassenprivilegien ebenso erfolgreich bekämpft, wie der systematische Ausschluss von Frauen, wenngleich das Prinzip Demokratie? Frag doch einfach! 32 <?page no="33"?> der Gleichheit zwischen den Geschlechtern und Klassen bis heute nicht vollständig hergestellt ist. Daher muss die Demokratie laut dem französischen Philosophen Jacques Derrida (1930-2004) als ein Projekt verstanden werden, das immer im Kommen bleiben, sich jedoch niemals vollständig verwirklichen wird. So hat sich die Demokratie zwar weltweit als politische Herrschaftsform durchgesetzt und zumin‐ dest gegenwärtig seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine ernsthafte Systemkonkurrenz zu befürchten. Gleichzeitig gilt es aber auch, die Schattenseiten der Demokratie nicht zu vergessen und zudem zu berücksichtigen, dass die permanenten Angriffe auf die historischen Errungenschaften der Demokratie aus ihrem Inneren heraus auch Erfolg haben und das demokratische Projekt rückabwickeln könnten. Die dritte Transformation, die sich mehr auf die demokratischen Ver‐ fahren bezieht, wird auf das 20. Jahrhundert datiert und hängt eng mit der gegenwärtigen Konjunktur von Krisendiagnosen der Demokratie zusammen. Hier spricht man in der Forschung von der Rationalisie‐ rung der Demokratie, womit die Ausrichtung demokratischer Prozesse sowohl in der dominanten Demokratietheorie als auch in der politi‐ schen Praxis auf das Prinzip der Effizienz und der Produktion qualitativ guter, eben vernünftiger Ergebnisse im Gegensatz zu der traditionellen Ausrichtung auf einen möglichst maximalen demokratischen Input gemeint ist. In der Konsequenz kommt dann der Demokratie kein intrinsischer Wert mehr zu und auch die Rolle von Affekten und Lei‐ denschaften wird versucht, als undemokratisch auszuschließen. Dies führt manchen Wissenschaftler*innen zufolge zu politischer Apathie, einem enormen Vertrauensverlust in die demokratischen politischen Institutionen und zur Hinwendung zu rechtspopulistischen bis autori‐ tären politischen Kräften. Die räumlichen Transformationen des Demokratiebegriffs schließlich fanden auf der ersten Stufe vom athenischen Stadtstaat (polis) hin zum modernen Flächen- und Nationalstaat im Zuge der Amerikanischen und Französischen Revolution im 18. Jahrhundert statt. In einer zweiten räumlichen Transformation wurde das Prinzip der Demokratie ausgeweitet auf (in der Realität noch nicht vollständig verwirklichte) supranationale Organisationen, wie zum Beispiel die Europäische Union. Ob sich die Demokratie gegenwärtig in einer Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 33 <?page no="34"?> dritten räumlichen Transformation hin zu postnationalen Ordnungs‐ entwürfen weiterentwickelt, ist eine offene und in der Wissenschaft breit diskutierte Frage. Literaturtipp | Weiterführende Definitionen von Grundbegriffen der Politik - u. a. Demokratie, Bürger, Sicherheit, Gerechtigkeit, Macht - finden sich in folgenden zwei Büchern: Schwarz, M; Breier, K.-H.; Nitschke, P.: Grundbegriffe der Politik. 33 zentrale Begriffe zum Einstieg, Nomos 2018 und Göhler, G.; Iser, M.; Kerner, I. (Hrsg.): Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung, VS Verlag 2012. Und wer den Zusammenhang zwischen Größe von Staaten und ihrer demokratischen Qualität vertiefen möchte, der kann sich mal folgenden Titel anschauen: Jörke, D.: Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation, Suhrkamp 2019. Gibt es eine wissenschaftliche Definition von Demokratie? Es gibt sogar sehr viele, die sich zudem mitunter widersprechen. Das ist aber aus wissenschaftlicher Sicht gar kein großes Problem. Im Gegenteil, ist ja gerade der Konflikt und demokratische Streit um legitime Definitionen und Interpretationen der demokratischen Werte sehr zu begrüßen. Die jeweilige Definition, die über die Nen‐ nung bloßer Prinzipien wie Volkssouveränität oder von Praktiken wie der Mehrheitsentscheidung hinausgeht, hängt einmal davon ab, welchem grundlegenden Politikverständnis sie verpflichtet ist. Also ob etwa die Vorstellung einer assoziativen oder einer dissozia‐ tiven Politikvorstellung leitend ist (→ Konflikt und Konsens). Zu‐ dem ist entscheidend, welchem Modell oder welcher Theorie von Demokratie man anhängt und worauf der jeweilige Schwerpunkt gelegt wird: auf den Schutz individueller Rechte, die Formierung eines kollektiven politischen Willens, die Beratungen einer politi‐ Demokratie? Frag doch einfach! 34 <?page no="35"?> schen Öffentlichkeit oder die Kritik exkludierender Praktiken im Namen der Demokratie? Alle Definitionen stehen dabei immer un‐ ter dem Vorbehalt, nur vorläufig und unter Berücksichtigung be‐ stimmter Aspekte Gültigkeit beanspruchen zu können. Neben der wissenschaftlichen Position bestimmt immer auch die politische Haltung oder der zeitgeschichtliche Kontext die Definition dessen, was Demokratie genau bedeuten soll. Hinzu kommt, dass gerade die Demokratie sich dagegen sträubt, auf einen eindeutigen und letztgültigen Begriff gebracht zu werden. Als essentially contested concept ist sie normativ aufgeladen und es gibt verschiedene, sich historisch wandelnde Vorstellungen darüber, worin ihr normativer Kern besteht. Somit kann es keine letztgültige Definition geben. Vielmehr muss gerade in einer Demokratie der Wesenskern dessen, was demokratisch ist, notwendig umkämpft bleiben. Denn mit der unter Rückgriff auf Theorien und Definitionen der Demokratie erfolgenden Diskussion darüber, ob Institutionen, Praktiken, oder bestimmte Handlungen demokratisch sind oder nicht, verbindet sich immer entweder eine Kritik an bestehenden Institutionen oder deren Bestätigung und Stärkung. Und diese Kritik ist - gerade in Demokratien - die Voraussetzung dafür, dass eine politi‐ sche oder soziale Ordnung sich weiterhin demokratisch erhält oder verändert - eben hin zu mehr Demokratie. Für die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown (*1955) zum Beispiel ist die Demokratie deswegen vor allem ein „leerer Signifikant“, der zwar enorm populär ist, jedoch keine inhaltliche Substanz mehr aufweise. So würden sich heutzutage alle möglichen Regime und politischen Akteur*innen weltweit und von links bis rechts als Demokratien und Demokrat*innen verstehen, ohne dies wirklich inhaltlich definieren zu können oder zu wollen. Dies befördere eine Instrumentalisierung des Demokratiebegriffs, wodurch Re‐ gierungen imperiale Bestrebungen rechtfertigen sowie den Abbau demokratischer Errungenschaften legitimieren können. Unabhän‐ gig davon bemüht sich die Wissenschaft selbstverständlich um Arbeitsdefinitionen, derer sich dann auch die politische Praxis bedient. Der Rechtsphilosoph Norberto Bobbio (1909-2004) formu‐ Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 35 <?page no="36"?> lierte einmal Minimalkriterien einer modernen Demokratie, auf die immer wieder zurückgegriffen wird. Diese sind die Garantie der grundlegenden Freiheitsrechte, die Existenz mehrerer, mitein‐ ander im Wettbewerb stehender Parteien, periodische Wahlen mit allgemeinem Wahlrecht sowie kollektive Entscheidungen, die auf Basis des Mehrheitsprinzips getroffen werden. Für den Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas (*1929) besteht der normative Kern moderner Demokratien darin, die private Autonomie von Bürger*innen, die das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben ha‐ ben, mit der Idee demokratischer Staatsbürger*innenschaft, also der Inklusion freier und gleicher Bürger*innen in die politische Gemeinschaft, und der Existenz einer unabhängigen politischen Öffentlichkeit als Sphäre der freien Meinungs- und Willensbildung zusammenzubringen. Die Politikwissenschaftler Claus Offe (*1940) und Phillipe Schmitter (*1936) definieren fünf Bedingungen für die Entstehung und das Forstbestehen moderner demokratischer Systeme: Die Anerkennung der Landesgrenzen und einer gemein‐ samen politischen Kultur durch die jeweilige politische Gemein‐ schaft, religiöse Toleranz und die Ablehnung von Theokratie, die Integration verschiedener ethnischer Gruppierungen, ein ausge‐ wogenes Verhältnis zwischen einer kapitalistischen Produktion und demokratisch-staatlichen Interventionen im Sinne des Groß‐ teils der Gesellschaft sowie ein entsprechend hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit, das die relevanten Gruppen und Klassen dazu mo‐ tiviert, sich an die Regeln des demokratischen Miteinanders zu halten. Literatur- und Linktipp | Auf fast 2000 Seiten, in 400 Artikeln und von mehr als 200 Wissenschaftler*innen geschrieben umfasst diese Enzyklopädie alle Aspekte der Demokratie: Lipset, S. M. (Hrsg.): The Encyclopedia of Democracy, Routledge 1995. Die Bundeszentrale für Politische Bildung (BpB, www.bpb.de) ist zusammen mit den Landeszentralen für politische Bildung eine Bundesbehörde, die für die politische Bildung Jugendlicher und Demokratie? Frag doch einfach! 36 <?page no="37"?> Erwachsener zuständig ist. Sie dient dazu, das demokratische Be‐ wusstsein in der Bevölkerung zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu fördern. Dafür bietet sie zahlreiche digitale Inhalte, kostenlose bis relativ günstige Publikationen von renommierten Expert*innen zu allen politisch relevanten Sachfra‐ gen sowie Lehr- und Lernmaterialien und Fortbildungsangebote an. Welche wissenschaftlichen Perspektiven auf die Demokratie gibt es? Der Politikwissenschaftler Hubertus Buchstein (*1959) unterscheidet vier Typen moderner Demokratietheorien: Historische, empirische, formale und normative. Historische Demokratietheorien zeichnen entwicklungsgeschichtliche Linien nach, um markante Zäsuren identi‐ fizieren und Entwicklungen innerhalb der demokratischen Theorie und Praxis nachzeichnen zu können. Dafür befassen sie sich hauptsächlich mit Texten wichtiger Autor*innen aus der politischen Ideengeschichte der Demokratie. Hier lässt sich zum Beispiel rekonstruieren, inwiefern zwischen der antiken und der modernen Demokratie ein fundamenta‐ ler Bedeutungswandel stattgefunden oder sich das Verständnis von → Freiheit im Laufe der Jahrtausende verändert hat. Die Teildisziplin der Politischen Ideengeschichte wird dabei nach dem Politikwissen‐ schaftler Marcus Llanque (*1964) in den Funktionen des Archivs und des Arsenals gefasst. Als Archiv bewahrt sie die Traditionen des demo‐ kratischen Denkens auf, kategorisiert und sortiert sie. Als Arsenal hält sie die Argumente, Theorien, Modelle und Kritiken für die politischen Debatten und Auseinandersetzungen bereit, die von Zeit zu Zeit die Frage der Demokratie neu stellen. Empirische Theorien verdichten empirische Befunde zu allge‐ meingültigen theoretischen Aussagen. Sie beschreiben Systeme, die sich Demokratie nennen und versuchen, Kausalzusammenhänge in diesen herauszuarbeiten. Dafür gehen sie unter Rückgriff auf Metho‐ den der qualitativen und quantitativen Sozialforschung induktiv, also vom Konkreten zum Allgemeinen vor. Die empirischen Demo‐ kratietheorien interessiert meist die Form der Demokratie, die am Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 37 <?page no="38"?> besten dazu geeignet ist, rationale Ergebnisse hervorzubringen. Sie klassifizieren verschiedene Typen von Demokratien, benennen deren Funktionsvoraussetzungen, messen deren Leistungsfähigkeit und ana‐ lysieren die Gefährdungen der Demokratie. Die empirische Forschung unterscheidet klassisch direkte und repräsentative, föderalistische und einheitsstaatliche, parlamentarische und präsidentielle Regierungssys‐ teme sowie Konkurrenz- und Konkordanzvon Mehrheits- und Ver‐ handlungsdemokratien. Formale Demokratietheorien erstellen Modelle der Demokratie aus bestimmten wenigen Vorannahmen über Akteur*innen und Sys‐ temzusammenhänge und gehen dabei deduktiv, also vom Allgemei‐ nen zum Konkreten vor. Anhand der Modelle können spezifische poli‐ tische Ordnungen auf ihren Grad an Demokratie hin quantitativ und qualitativ gemessen, bewertet und verglichen werden, ohne dass dabei normative Ansprüche erhoben werden. Diese Theorien unterstellen entweder den Akteur*innen, rational zu handeln (vor allem Ansätze der Rational-Choice-Theorien) und erklären dann das Verhalten von Par‐ teien, Verbänden oder Institutionen aus dieser Grundannahme heraus. Oder die Theorien gehen von der Makroebene des Systems aus, das nach rationalen Maßstäben funktioniert, ohne dass die Akteur*innen hier eine besondere Rolle spielen (vor allem die Systemtheorie nach Niklas Luhmann (1927-1998)). Trotz ihrer unterschiedlichen Herange‐ hensweisen beanspruchen beide, Rational-Choice wie Systemtheorie, die Leistungsdefizite sowie irrationale Elemente und die Selbst‐ gefährdungen von Demokratien herausstellen zu können. Normative Demokratietheorien schließlich konstruieren, be‐ gründen und bewerten Aussagen darüber, wie die Demokratie sein sollte und bieten somit die Möglichkeit der kritischen Auseinanderset‐ zung mit der Praxis demokratischer Ordnungen und Gesellschaften. Hier spielen Fragen nach den Voraussetzungen, Bedingungen, Mög‐ lichkeiten und Hindernissen einer guten, gerechten, gelungenen und eben im vollumfänglichen Sinne demokratischen politischen Ordnung die maßgebliche Rolle. Durch eine normative Bewertung von demokra‐ tischer Legitimation und Performanz werden immer auch mögliche Alternativen einer im Vergleich zur Realität „besseren“, weil emanzi‐ pierteren, freieren, gerechteren oder demokratischeren Gesellschaft Demokratie? Frag doch einfach! 38 <?page no="39"?> sichtbar gemacht. Als Maßstab normativer Bewertungen gelten heute geteilte moralische Intuitionen, anthropologische Grundannahmen über das Wesen des Menschen oder die in der Kommunikation sich ent‐ hüllende Vernunft. Gerade Demokratien zeichnen sich dann dadurch aus, dass sie die normativen Ansprüche niemals vollständig erfüllen können und daher die normative Kritik an der Demokratie in ihr auf Dauer gestellt, also fast schon ein Prinzip ist. Gegenwärtig gibt es eine große Anzahl an normativen Demokratietheorien, neben den klas‐ sisch liberalen, konservativen, republikanischen oder sozialistischen Theorien etwa die feministische, deliberative, kosmopolitische oder radikale Demokratietheorie. Normative Demokratietheorien stellen dabei den Boden bereit, auf dem empirische und formale, ja selbst historische Untersuchungen und Forschungen notwendig ansetzen müssen. Gleichzeitig bedürfen normative Theorien stets auch der Rückbindung an empirische Forschung, um nicht zum Selbstzweck zu werden und den berechtigten Anspruch auf eine kritische Reflektion und gegebenenfalls Veränderung gegenwärtiger demokratischer Prak‐ tiken anleiten zu können. Literaturtipp | Mehr zu den Typen von Demokratietheorien findet sich in folgendem Buch: Buchstein, H.: Typen moderner Demokra‐ tietheorien. Überblick und Sortierungsvorschlag, VS Verlag 2016. Sind alle Demokratien Republiken? Zunächst bezeichnet Republik eine Staatsform und ist damit auf derselben Ebene angesiedelt wie zum Beispiel Monarchie. Von die‐ ser grenzt sich jede Republik auch bewusst ab. Man kann Republik also frei mit „Nicht-Monarchie“ übersetzen. Demokratie bezeich‐ net dann die Regierungsform, die eine Republik annehmen kann, aber nicht notwendig annehmen muss. Beide, Demokratie und Republik, sind die historischen Gegnerinnen der (absolutistischen) Monarchie, die sie gemeinsam in den demokratischen Revolutio‐ nen des 18. Jahrhunderts vom Sockel, oder besser vom Thron, gestoßen haben. Dabei existiert die Staatsform der Republik schon Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 39 <?page no="40"?> viel länger, nämlich seit der römischen Antike. Dort wechselte die Republik sich mit der Monarchie und der (temporären) Diktatur ab und war charakterisiert durch ein Mischverfassungssystem mit stark aristokratischem Anstrich, das jedoch auch die Beteiligung einfacher (männlicher) Bürger am politischen Entscheidungspro‐ zess kannte. Das Wort Republik leitet sich vom Lateinischen res publica (die öffentlichen Angelegenheiten) ab. Damit wird die Idee und Praxis der Selbstregierung und Selbstgesetzgebung von freien und gleichen Bürgern (anstelle der Willkürherrschaft eines Tyrannen, Despoten oder Monarchen) bezeichnet, wie sie die politischen Theorien des Republikanismus seit Aristoteles unterschiedlich ausbuchstabieren. Die Praxis und Theorie der Republik wirkten dann maßgeblich auf die italienischen und mitteleuropäischen Stadtstaaten der Renaissance und von dort auf die Amerikanische und Französische Revolution ein. Republiken waren jedoch historisch bei weitem nicht so demokratisch, wie das heutzutage der Fall ist. So hatten etwa im Athen des Aristoteles im 4. Jahrhundert vor Christus wie auch im Rom Ciceros im ersten vorchristlichen Jahrhundert, in Machiavellis Florenz des 15./ 16. Jahrhunderts sowie in Rousseaus Genf des 18. Jahrhunderts meist nur wenige privilegierte Männer das Recht auf die volle Teil‐ habe am politischen Leben. Auch in den modernen Republiken USA und Frankreich wurden nur ganz allmählich die politischen, sozialen und ökonomischen Teilhaberechte auch auf Frauen, Arme oder ehemalige Sklav*innen ausgeweitet und das auch nur nach zähen und harten Kämpfen der marginalisierten bis exkludierten Bevölkerungsgruppen. Das erklärt sich dadurch, dass Republiken traditionell von einem starken antidemokratischen Vorbehalt ge‐ tragen und entsprechend auch institutionell strukturiert sind. Um den vermeintlichen Nachteilen demokratischer Selbstregierung für die Stabilität der republikanischen Ordnung einen effizien‐ ten Sperrriegel vorzuschieben, griffen Republiken daher immer schon auf bestimmte institutionelle Arrangements zurück, wie zum Beispiel die heute als demokratisch geltende Praxis der Gewaltenteilung, die jedoch ursprünglich eher dem Schutz der Privilegien und Macht des Adels vor dem demokratischen Pöbel Demokratie? Frag doch einfach! 40 <?page no="41"?> diente. Die Politische Theoretikerin Hannah Arendt (1906-1975) hat darauf hingewiesen, dass den Gründern der nordamerikani‐ schen Republiken die Pluralität an Meinungen und Interessen sogar als wesentliches Unterscheidungsmerkmal der Republik von der klassischen Demokratie galt, der sie die Tendenz zur gewalt‐ vollen Gleichmachung unterstellten und ihr daher das Prinzip der → Repräsentation entgegenstellten. Außerdem bauen Republiken auf das tugendhafte Verhalten der Bürger*innen und sehen darin neben den angemessenen Institutionen die Garantie für eine stabile und freiheitsfördernde politische Ordnung. Tugend meint dabei, spätestens im Konfliktfall die eigenen Interessen zurück‐ zustellen und zum Wohl der Gemeinschaft zu entscheiden. Die politische Erziehung zu tugendhaften Bürger*innen ist ein zutiefst republikanisches Ideal, das Anhänger*innen des Liberalismus den Angstschweiß auf die Stirn treibt und sie totalitäre Verhältnisse fürchten lässt. Die Staatsform der Republik war also historisch gesehen eher eine Art Vorbedingung für die moderne Demokratie oder besser der Rahmen, innerhalb dessen sich demokratische Kämpfe um die Beteiligung ausgeschlossener, unterdrückter und entrechteter Gruppen unter Einforderung der Versprechen auf Selbstregierung in Verbindung mit den Prinzipien der → Gleich‐ heit und → Freiheit entfalten konnten. Besonders prägnant und wichtig für die postkoloniale Demokratietheorie geschah das zum Beispiel im Zuge der Haitianischen Revolution von 1791 bis 1804 oder in Kolonien, etwa Algerien, die sich im Zuge der nationalen Befreiungskämpfe gegen die koloniale Vorherrschaft in Republiken transformierten. Heute sind die meisten Demokratien Republiken, konstitutionelle Monarchien wie England sind eher eine Ausnahme. Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 41 <?page no="42"?> Braucht die Demokratie den Nationalstaat? Seit dem Westfälischen Frieden 1648 setzte sich der Nationalstaat als hegemoniales Ordnungsparadigma europaweit und später auf‐ grund der imperialen Großmachtbestrebungen über den Rest der Welt durch. Die moderne Demokratie wurde zudem im Gefolge der Nationalstaatsbildung erkämpft und weiterentwickelt. Der Natio‐ nalstaat als spezifisches Ordnungsgebilde konnte dabei entweder integral, also als ein Zusammenschluss mehrerer Territorialstaa‐ ten unter dem Dach der Nation, erfolgen oder aber separatistisch, also in Form eines Austritts aus einem größeren Verbund, etwa einem Reich. Die dritte Möglichkeit war die der Revolution, in welcher eine sich selbst als Souverän setzende Nation, beziehungs‐ weise deren als legitim erachtete Vertreter*innen, mit dem Sturz des monarchischen Souveräns die Ursprünge der Nation begründeten. Im deutschen Vormärz und der Revolution von 1848/ 49 verban‐ den sich zum Beispiel nationalistische Bestrebungen mit demokra‐ tischen Forderungen nach → Gleichheit und politischer Teilhabe. Bereits die Erfahrungen der demokratischen Revolution in Nord‐ amerika und Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schienen zudem den Nationalstaat, also die Einheit von Volk, Staat und Territorium, als den bestgeeigneten Rahmen für die Umset‐ zung demokratischer Ideen auszuweisen. In seinen Ursprüngen war auch der Nationalismus eine Widerstandsbewegung gegen die absolutistisch-paternalistische Willkürherrschaft, die der Idee und Praxis der Monarchie und der großen Imperien mit dem Nationalstaat ein Modell gegenüberstellte, das den Freiheits- und Gleichheitsansprüchen moderner Bürger*innen gerecht werden sollte. Mit Berufung auf den Willen der Nation, beziehungsweise des → Volkes als wahrer Souverän wurden so die Macht- und Herr‐ schaftsansprüche des Erbadels und des Klerus zurückgewiesen. Berühmt und prägend für die nationalstaatliche Demokratie war der so genannte Ballhausschwur im Zuge der revolutionären Ereignisse in Frankreich 1789. Als die Generalstände, die politische Vertretung der in Klerus, Adel und Dritter Stand gegliederten Demokratie? Frag doch einfach! 42 <?page no="43"?> mittelalterlichen Ständegesellschaft, zusammenkamen, um dem König angesichts des drohenden Staatsbankrotts neue Steuern zu bewilligen, forderte der Dritte Stand, der vornehmlich aus dem Bürgertum, aber auch aus lohnabhängigen Angestellten, Handwer‐ kern und Bauern bestand, politische Mitspracherechte ein. Die Abgeordneten des Dritten Standes schworen, „sich niemals zu tren‐ nen, bis der Staat eine Verfassung hat […] und nur der Gewalt der Bajonette zu weichen“. Damit ermächtigte sich der Dritte Stand zur verfassungsgebenden Nationalversammlung (Assemblée Na‐ tionale) und läutete zugleich die Totenglocke für die absolutistische Monarchie. Als Ludwig XVI. (1754-1793) noch am gleichen Tag die Versammlung auflösen lassen wollte, verweigerte deren gewählter Präsident Jean-Sylvain Bailly (1736-1793) die königliche Anord‐ nung mit den berühmt gewordenen Worten, wonach die versam‐ melte Nation von niemandem Befehle entgegenzunehmen habe. Die Idee war also, dass die Nation keine politischen Privilegien innerhalb ihrer Grenzen mehr zulassen und alle Staatsbürger*innen gleich behandeln würde. Diese emanzipatorische Stoßrichtung des Nationalismus beziehungsweise der Nationalstaatlichkeit war bis weit ins 20. Jahrhundert wirkmächtig, etwa im Rahmen der antikolonialen und postsowjetischen Befreiungsbewegungen oder der Gründung des Staates Israel als effizienter Schutzraum für ein Leben in Würde, Freiheit und Sicherheit für die weltweit verfolgten Jüd*innen. Gleichzeitig bleibt aber zu hinterfragen, ob es unbedingt der Na‐ tional staat, sprich die Verwirklichung der Idee einer sprachlichen, kulturellen und mentalen Einheit namens Nation und deren zugrun‐ deliegender Ideologie des Nationalismus sein muss, die den Rahmen für die Umsetzung demokratischer Ideen und Prinzipien ja nicht nur vorstrukturiert, sondern in gewisser Weise mit Leben füllt. Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 43 <?page no="44"?> Ist der Nationalstaat ein Hindernis für die Demokratie? Aus einer emanzipatorischen Perspektive wie zum Beispiel der des Marxismus ist der Nationalstaat durchaus ein Hindernis für die De‐ mokratie. Laut Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820- 1895) entspringt die Nation nämlich der Ausbeutung der Arbeiter*in‐ nenklasse. Gleichzeitig dient sie ihrer Aufrechterhaltung. Denn der Kapitalismus ist auf einen Staat angewiesen, der das Eigentumsrecht garantiert, eine effiziente Produktion organisiert und die Klassentren‐ nung, wenn nötig mit Gewalt, aufrechterhält. Neben der nötigen Infrastruktur hat er zudem auch für die Erziehung der Bürger*innen zu sorgen, wobei dem Nationalismus die Rolle zukommt, nach dem Teile-und-Herrsche-Prinzip das Konkurrenzdenken zwischen den Nationen zu schüren, um gleichzeitig die Herrschafts- und Unter‐ drückungsverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit innerhalb der Nationalstaaten zu verschleiern. Für Marx und Engels aber haben die Arbeiter*innen eigentlich kein Vaterland, insofern sie ein gemeinsames Schicksal und den historischen Auftrag teilen, sich als Proletarier*in‐ nen aller Länder zu vereinigen und sich jenseits der Idee der Nation zum Kampf gegen die Herrschaft der Bourgeoisie und für die wahre, von aller Herrschaft befreite Demokratie zu mobilisieren. Aus dieser Perspektive ist die Form des Nationalstaats daher ein Hindernis für die demokratischen Prinzipien der Gleichheit und Freiheit. Die marxisti‐ sche Kritik am Nationalstaat (siehe auch die Frage zur marxistischen Staatskritik) bewahrheitete sich dann in gewisser Weise am imperialen Machtstreben der europäischen Nationalstaaten im 19. und 20. Jahr‐ hundert. Ganz besonders in Deutschland zeigte sich der Nationalismus von seiner autoritär-aggressiven Seite, die eine vermeintliche Überle‐ genheit des deutschen Volks und der deutschen Nation gegenüber anderen Nationen und Völkern weltweit zur Grundlage einer chau‐ vinistischen, rassistischen, militaristischen und imperialen Machtpo‐ litik machte und schließlich in den Nationalsozialismus mündete. Hannah Arendt hat herausgearbeitet, inwiefern der Nationalismus aufgrund dieser Eigenschaften ein wesentlicher Wegbereiter und eine Stütze totalitärer Herrschaftspraktiken ist. Nationalismus und Natio‐ nalstaatlichkeit wandelten und wandeln sich also leicht von einer Be‐ freiungsbewegung zur strukturellen Unterdrückung von Minderheiten Demokratie? Frag doch einfach! 44 <?page no="45"?> innerhalb der eigenen nationalstaatlichen Grenzen sowie gegenüber als minderwertig betrachteten Nationen. „Nationalismus raus aus den Köpfen! “ ist daher ein auf antifaschistischen Demonstrationen oft geäußerter Slogan, weil vor dem Hintergrund der historischen Erfah‐ rungen mit dem Faschismus in Nationalismus und Nationalstaatsden‐ ken ein Grundübel und wesentliches Hindernis für emanzipatorische Bestrebungen und Demokratisierungsfortschritte auch in demokra‐ tischen Gesellschaften gesehen werden können. Zumal die exklusi‐ ven und exkludierenden Eigenschaften der Nation eben notwendig in einem starken Spannungsverhältnis zum demokratischen Prinzip der → Gleichheit stehen. Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, dass nationalistische kollektive Identitäten, die auf einer vermeintlich naturwüchsigen oder kulturell gewachsenen Zusammengehörigkeit aufbauen, zwangsläufig irgendwann zu gewaltvollen Mitteln greifen, um durch die Identifikation und Vernichtung vermeintlicher Feinde ihre Homogenität aufrecht zu erhalten. Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson (1936-2015) hat in gleicher Stoßrichtung darauf aufmerksam gemacht, dass die Nation immer als eine Erfindung, eine Imagination betrachtet werden muss und nicht naturalisiert werden darf. Als solches Konstrukt konnte sie zwar in einer spezifischen historischen Konstellation ein enorm hohes Mobilisierungspotenzial entfalten und extrem effizient im Kampf gegen den Absolutismus und auch später noch gegen Willkürherrschaft und Unterdrückung von Freiheitsrechten eingesetzt werden. Dennoch bleibt es dabei: Nation und Nationalstaat sind historische und politische Konstrukte, die einen Anfang hatten und folglich auch irgendwann ein Ende haben können. Somit ist die historisch gewachsene Verbindung von National‐ staat und Demokratie eben kontingent, also nicht zwingend notwendig. Literaturtipp | Wie formte Nationalismus die Welt? B. Anderson beschreibt in seinem Buch den Aufstieg und Fall von Nationen. Anderson, B.: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Verso Books 2016. Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 45 <?page no="46"?> Wie hat sich die Idee demokratischer Staatlichkeit entwickelt? Der Staat als spezifische Organisationsform menschlichen Zusammen‐ lebens entwickelte sich aus der frühneuzeitlichen Idee, dass die Herr‐ schenden für das Glück und Wohlbefinden ihrer Untergebenen Sorge zu tragen und entsprechend Not und Elend effizient zu verringern und zu bekämpfen haben. Die im 16. Jahrhundert entstandene Wissenschaft von der guten policey befasste sich entsprechend mit den nötigen Maßnahmen für Infrastruktur, Wirtschaftslenkung und auch mit den Lebensweisen der Untertanen. Dafür musste der Staat eine Menge an Wissen akkumulieren, was die Geburtsstunde der Statistik war. Die statistische Erfassung der Bevölkerung diente der effizienten Kontrolle und Machtausübung unter der Prämisse der allgemeinen Wohlfahrt und Sicherheit. Der französische Historiker Michel Foucault (1926- 1984) bezeichnete diese paternalistische Form der Machtausübung zum Wohle der Untertanen als „Pastoralmacht“. Diese geriet im Zuge der Aufklärung und demokratischen Revolution im 18. Jahrhundert zunehmend in die Kritik vor allem frühliberaler Denker*innen. Ver‐ treter*innen einer liberalen Volkwirtschaftslehre, wie zum Beispiel Adam Smith (1723-1790), wollten den Markt aus der Kontrolle des als ineffizient erachteten Staates befreien, um so der Ideologie der „unsichtbaren Hand“ den Weg zu bereiten. Von der eher auf die Rechte der Bürger*innen fokussierten Seite liberalen Denkens wurde vor allem der staatliche Anspruch und Einfluss auf die persönliche Ent‐ wicklung und Lebensweisen der Menschen zurückgewiesen. Immanuel Kant (1724-1804) bezeichnete den paternalistischen Staat, der seine Bürger*innen wie Kinder behandle, gar als die schlimmste Form des Despotismus. Vielmehr solle der Staat seine Untertanen als autonome und vernunftbegabte Staatsbürger*innen behandeln. Folglich habe der Staat sich auch nicht um das Glück und Wohlbefinden der Bürger*in‐ nen zu kümmern, sondern dafür zu sorgen, dass Verfassung und allgemeine Rechtsprinzipien größtmöglich übereinstimmen, sprich der Rechtsstaat funktioniert. Ein solcher ist für Kant entsprechend eine Vereinigung von Menschen unter Rechtsgesetzen, die durch drei Ge‐ walten charakterisiert ist, nämlich die Herrschergewalt mit dem Recht Demokratie? Frag doch einfach! 46 <?page no="47"?> auf die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt der Regierung gemäß den Gesetzen und die rechtsprechende Gewalt. Der einflussreichste Kritiker der Idee des paternalistischen Wohl‐ fahrtsstaates nach Kant war Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770- 1831). Für ihn war der Staat neben Familie und bürgerlicher Gesell‐ schaft ein Teilbereich eines Gesamtsystems der Sittlichkeit, innerhalb derer das Individuum jeweils spezifischen Verpflichtungen nachzu‐ kommen habe. In Abgrenzung zum frühneuzeitlichen Staatsverständ‐ nis waren Fragen der Organisation von Wirtschaft und Arbeit ebenso wie die Rechtspflege und bürgerliche Vereinigungen keine originäre Angelegenheit des Staates, sondern gingen diesem voraus. Den Staat überhöhte Hegel dann als die Wirklichkeit der sittlichen Idee und befreite ihn so vom instrumentellen Zugriff der Ansprüche der Bür‐ ger*innen auf Sicherheit, Glück und Wohlfahrt, den zum Beispiel die Vertragstheorien von Thomas Hobbes (1588-1679) und John Locke (1632-1704) vorsahen. Was besagt die marxistische Staatskritik? Karl Marx und Friedrich Engels traten mit dem Anspruch an, Hegels Staatstheorie vom (idealistischen) Kopf auf die (mate‐ rialistischen) Füße zu stellen. Aus dieser Perspektive war der Staat für sie ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft als spezifi‐ scher Organisationsform der materiellen Produktionsverhältnisse, nämlich dem Privateigentum an Produktionsmitteln. Damit war er Ausdruck antagonistischer Klassengegensätze zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Darin kommt ihm die Funktion zu, die ausbeuterischen Herrschaftsverhältnisse der Bourgeoisie über das Proletariat zu verschleiern. Der Staat gibt sich dabei nur den Anschein objektiver Parteilosigkeit, in Wahrheit jedoch war er das Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument der Bourgeoi‐ sie zum Schutz der Produktions- und Eigentumsverhältnisse und damit Teilnehmer des Klassenkampfes. Als Produkt spezifischer sozialer Verhältnisse, maßgeblich des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit, kann der Staat in der Theorie des Marxismus auch Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 47 <?page no="48"?> nicht direkt abgeschafft werden. Vielmehr muss das Proletariat, sobald es zum Bewusstsein seiner historischen Bedeutung als revolutionäre Klasse gekommen ist, den Staat übernehmen und zu seinem Werkzeug einer Diktatur des Proletariats machen, die als Übergangsphase zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Reich der → Freiheit, der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft oder wahren Demokratie zu begreifen ist. In dieser Phase muss die Revolution gegen die erwartbaren Widerstände reaktionärer Kräfte im Inneren und gegen äußere Feinde verteidigt werden, wofür es den Staat zunächst noch braucht. Mit der schritt‐ weisen Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und damit der Existenzgrundlagen der Klasse der Bourgeoisie, für Marx und Engels der notwendige Schritt heraus aus den sozialen Verhältnissen, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist, wird der Staat schließlich jedoch genauso absterben, wie die Klassengesellschaft sich durch das Verschwinden der sozialen Unterschiede auflösen wird. Historisch hat sich die marxistische Geschichtsphilosophie nicht bewahrheitet. Im Gegenteil ist der Staat im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts immer mächtiger geworden. Während der totali‐ tären Herrschaftsregime im 20. Jahrhundert war er so mächtig wie historisch nie zuvor und wurde unter maximal möglichem Einsatz von Gewalt zur systematischen Vernichtung von Jüd*innen sowie weiteren als Feind*innen identifizierten Menschengruppen und zur allumfassenden Kontrolle und Unterwerfung der Bevölkerun‐ gen eingespannt. Auch nach dem zweiten Weltkrieg und dem Sieg der Alliierten über Faschismus und Nationalsozialismus blieb der Staat im Zuge der Re-Demokratisierung Europas das wichtigste Organisationsprinzip. Welche Idealtypen von Staatlichkeit gibt es? Von einer weniger ideengeschichtlichen und mehr systematischen Perspektive aus lässt sich die Entwicklung der modernen demokrati‐ schen Staatlichkeit idealtypisch rekonstruieren. Das bedeutet wohlge‐ merkt nicht, dass die Entwicklung tatsächlich so stattgefunden hat. Ge‐ Demokratie? Frag doch einfach! 48 <?page no="49"?> schichte, auch die der Demokratisierung, verläuft nicht linear, sondern in Form von revolutionären Umwälzungen, von Brüchen und Sprün‐ gen, in Konflikten und Widersprüchen und mitunter auch Rückschrit‐ ten und Rücknahmen historischer Errungenschaften. Daher spricht man in der Forschung von Kontingenz. Dies bedeutet nicht reine Willkür oder bloßen Zufall, wohl aber die Nicht-Notwendigkeit histo‐ rischer Entwicklungen. Zudem lassen sich heute die verschiedenen Dimensionen in demokratischen Staaten wenn auch unterschiedlich ausgeprägt, so doch gleichzeitig auffinden. Idealtypisch entwickelte sich also aus dem Bedürfnis und der Forderung nach Sicherheit der so genannte Schutzstaat, der die Gemeinschaft vor feindlichen Angriffen schützen, den Frieden im Inneren sichern und die bestehende Eigen‐ tumsordnung im Sinne der (männlichen) Besitzbürger garantieren sollte. Mit den verstärkten Forderungen nach → Freiheit entwickelte sich der Schutzstaat dann zum Rechtsstaat weiter, der auf Basis einer Rechts- und Verfassungsordnung für die Garantie und den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte zu sorgen hat und dies in Form spezieller Institutionen, zum Beispiel Verfassungsgerichten, leistet. Mit dem politischen Ruf nach → Solidarität entwickelte sich der Rechtsstaat zum Sozialstaat weiter, der nun also auch für die Gewährleistung sozialer Rechte und für die Schaffung ökonomischer → Gleichheit zu‐ ständig ist, so dass die sozialen und ökonomischen Bedingungen dafür geschaffen werden, dass alle Menschen in angemessener Weise am öffentlichen Leben teilhaben können. Die Forderung nach Gleichheit schließlich führte zur Herausbildung des demokratischen Staates, der das Prinzip der Volkssouveränität in die Wirklichkeit umsetzen sollte und dies über die Institution des allgemeinen und freien Wahl‐ rechts sowie die prinzipielle Öffnung der Zugänge zu politischen Äm‐ tern und unterschiedlichen institutionellen Möglichkeiten der Teilhabe am politischen Leben gewährleistet. Schließlich entwickelte sich der demokratische Staat zum Kulturstaat weiter, der die Bildung für alle Bürger*innen, die Förderung der wissenschaftlichen Forschung und die Schaffung von Gerechtigkeit im internationalen Kontext, etwa in Fragen des Friedens und der Ökologie, voranbringen soll. Gegenwärtig lassen sich zudem die Auswirkungen eines bereits länger laufenden Wandels der demokratischen Staatlichkeit hin zu einem nationalen Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 49 <?page no="50"?> Wettbewerbsstaat als historisch neuem Typus kapitalistischer Herr‐ schaft beobachten. Dieser muss sich laut dem Politikwissenschaftler Joachim Hirsch (*1938) im globalen Wettbewerb um die besten Investi‐ tionsbedingungen für das internationale Kapital gegen konkurrierende Staaten durchsetzen, woraus ein enormes Bedrohungspotenzial für den liberalen Rechtsstaat erwächst, insofern dieser als Investitionshemmnis und damit Hindernis für die Finanzströme gesehen und entsprechend bekämpft wird. Literaturtipp | Über das Verhältnis von Staat und Kapitalismus schreibt J. Hirsch in seinem Buch Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, ID-Verlag 1995. Die Notwendigkeit eines Staats als Korrektiv gegenüber den Märkten beschreibt R. Voigt in Der Januskopf des Staates. Warum wir auf den Staat nicht verzichten können, Franz Steiner Verlag 2009. Was sind mögliche Alternativen zum Nationalstaat? Der Sozialphilosoph Daniel Loick (*1977) erforscht die Bedeutung der von ihm so genannten Subalternen Sozialitäten, also der Lebenszu‐ sammenhänge von sozialen Gruppen, die gegenüber der privilegierten Mehrheitsbevölkerung benachteiligt werden und aus dem berechtigten Gefühl der Ohnmacht heraus alternative Lebensformen jenseits des klassisch nationalstaatlichen Rahmens entwickeln. Hierunter fasst er zum Beispiel queere Gemeinschaften, die sich in bewusster Ab‐ grenzung von heterosexistischen Geschlechterverhältnissen und der bürgerlichen Kleinfamilie politisch und auch demokratisch organisie‐ ren. Ebenso zählt er diasporische Communities von Migrant*innen und Geflüchteten in Großstädten und Lagern dazu, die sich von den hegemonialen Subjektivierungsformen der bürgerlichen Gesellschaft emanzipieren und in einer so genannten präfigurativen Praxis mög‐ liche zukünftige Alternativen zur nationalstaatlichen Demokratie ex‐ perimentell vorwegnehmen. In diesen alternativen und aktivistischen Kontexten, etwa auch im Rahmen der Platzbesetzungen, Protestcamps Demokratie? Frag doch einfach! 50 <?page no="51"?> und der radikalen Ökologiebewegung der jüngeren Vergangenheit (siehe hierzu auch die Frage zu den Protestbewegungen), wird aus der Kritik an den negativen Aspekten nationalistisch und kapitalis‐ tisch organisierter demokratischer Gemeinschaften heraus versucht, alternative Verständnisse von Arbeit, neue Identitäten und damit verbunden auch neue Institutionen und solidarischere Formen des Miteinanders zu entwickeln. Für Loick stellen die Erfahrungen von Migrant*innen in der Diaspora, denen seitens der Nationalstaaten vollwertige Staatsbürgerschaften verwehrt werden, sowie ihre Fähig‐ keiten, Verbindungen über die Grenzen von Nationalstaaten hinweg zu knüpfen, also die Möglichkeit bereit, Demokratie jenseits des Nationalstaates vorwegzunehmen. Statt weiter vergeblich auf die Anerkennung durch Politik, Verwaltung und Mehrheitsgesellschaft der Nationalstaaten zu hoffen, ziehen sie sich aus den etablierten vertikalen Machtverhältnissen zurück und formieren Gegengemeinschaften, deren Mitglieder sich horizontal, also gegenseitig anerkennen und dadurch subalterne Handlungsfähigkeit ausbilden. Kann die Stadt eine Alternative zum Nationalstaat sein? Der Politikwissenschaftler Paul Sörensen (*1983) hat soziale Bewegun‐ gen analysiert, die sich auf die Stadt als den Ort emanzipatorischer und progressiver politischer Bestrebungen konzentrieren, etwa die Recht-auf-Stadt-Initiativen, das Solidarity-City-Netzwerk, die Sanctu‐ ary-Cities in den USA und Großbritannien oder die munizipalistischen Bewegungen im Anschluss an die Platzbesetzungen 2011 und 2012 in Spanien. Er deutet diese Interventionen, die ganz zentral die Stadt als den Ort politischer Transformationsprozesse begreifen, als Praktiken eines transnationalen Widerstands, der jedoch nicht einfach nur rein negativ gegen den Nationalstaat gerichtet ist, sondern diesen in einer welterschließenden Absicht transformieren möchte. Anstatt also nur dem Staat den Gehorsam zu verweigern, geht es auch hier zentral darum, alternative Formen von Sozialität und Subjektivität vor‐ zuleben und neue Ordnungen zu erschaffen, die dereinst das Modell des Nationalstaats ablösen könnten. Einmal im Sinne einer alternativen Globalisierung der Vernetzung von politischen Akteur*innen über die Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 51 <?page no="52"?> Grenzen der Nationalstaaten hinweg und zum anderen in Form der Infragestellung des staatlichen Monopols auf territoriale Souveränität, was vielleicht den Weg für eine post-territoriale Form der Bürger*in‐ nenschaft bereiten kann. Literaturtipp | Vier Literaturtipps zum Thema Widerstand und Bürger*innenschaft, in denen es u. a. darum geht, welches emanzi‐ patorische Potenzial urbane Protestbewegungen haben und wie sich deren Erstarken deuten lässt: Harvey, D.: Rebellische Städte. Vom Recht auf Stadt zur urbanen Revolution, Suhrkamp 2013; Loick, D.: Wir Flüchtlinge. Überlegungen zu einer Bürgerschaft jenseits des Nationalstaats, in Leviathan 45, 2017, S. 574-591; Loick, D.: Subalterne Sozialität. Zur normativen Struktur von Gegen-Ge‐ meinschaften, in Jahrbuch Praktische Philosophie in globaler Per‐ spektive 4, 2020, S. 105-134. Sörensen, P.: Widerstand findet Stadt. Präfigurative Praxis als transnationale Politik ‚rebellischer Städte‘, in Zeitschrift für Politische Theorie 1, 2019, S. 29-48. Welche demokratischen Regierungsformen gibt es? Es existieren unterschiedliche Arten und Weisen, das Prinzip der Volksherrschaft im Rahmen des Nationalstaats und gemäß dem Prinzip der Gewaltenteilung umzusetzen. Jede kann dabei als eine Antwort auf die grundlegenden Fragen der Demokratie verstanden werden: wer zum demos gehört und in welcher Art und Weise des‐ sen Herrschaft organisiert wird. In den politischen Systemen sowie Regierungsformen drücken sich also spezifische politisch, histo‐ risch, sozial, ökonomisch und kulturell bedingte Interpretationen von Demokratie aus, denen eine Struktur und ein Regelwerk gegeben wurde. Eine der zentralen Grundfragen war dabei seit jeher das Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrsch‐ ten, das von einer unterstellten Identität, etwa in den Theorien direkter Demokratie, bis hin zur größtmöglichen Differenz in eher Demokratie? Frag doch einfach! 52 <?page no="53"?> konfliktorientierten Demokratietheorien reicht, die dann in der Praxis auf das Prinzip der → Repräsentation zurückgreifen. Die demokratischen Regierungsformen werden dann danach unter‐ schieden, wie sie die Bestellung und Legitimation der Regierung, also der Spitze der Exekutive, organisieren. Hier unterscheidet man vor allem präsidentielle von parlamentarischen Systemen und danach, ob die Institutionen im Einzelnen sowie das System als Ganzes eher auf Konfliktvermeidung, Konsens, oder aber auf Streit und die offene Austragung von Konflikten ausgerichtet ist. Im ersten Fall spricht man in der Forschung von Konsens- oder Konkordanzdemokratien, im zweiten Fall von Mehrheits- oder Konkurrenzdemokratien. In der Realität sind die Demokratien Mischformen und die Modelle daher als Idealtypen zu verstehen. Konkurrenzdemokratien zeichnen sich demnach dadurch aus, dass sie Macht und Gewalt sehr stark konzentrieren und die Durch‐ setzung politischer Programme über die Herstellung parlamentari‐ scher Mehrheiten befördern. Konsensdemokratien setzen hingegen auf das Prinzip der Machtteilung und bemühen sich um einen möglichst hohen Grad an Inklusion unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Gruppen. Konkurrenzdemokratien werden zudem meist durch Einparteienregierungen in Zweiparteiensyste‐ men angeführt, das Wahlsystem wird über ein Mehrheitswahlrecht organisiert und dem Parlament kommt die Letztentscheidung in der Legislative zu. Konkordanzdemokratien setzen demgegenüber auf Koalitionsregierungen in einem Vielparteiensystem und greifen auf das Verhältniswahlrecht zurück. Zudem kontrollieren Verfas‐ sungsgerichte letztinstanzlich die parlamentarische Gesetzgebung. Als Vorteile der Konkurrenzdemokratie gelten gemeinhin die hohe Effizienz der Regierung, da diese auf einer stabilen Mehrheit im Parlament aufruht. Außerdem können Entscheidungen hier angeb‐ lich schneller, weil relativ unabhängig von den Parteien getroffen werden. Als Nachteil gilt, dass die Perspektiven und Interessen von Minderheiten unter Umständen weniger berücksichtigt werden. Demgegenüber gelten Konkordanzdemokratien als weit repräsen‐ tativer, gleichzeitig aber wenigstens im Konfliktfall als weniger Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 53 <?page no="54"?> effizient, insofern Entscheidungen mitunter eben nicht so schnell getroffen werden können. Empirische Forschungen zur Demokra‐ tie haben jedoch ergeben, dass diese Vorannahmen nicht immer haltbar sind. Mit Blick auf die Problemlösungsfähigkeit sind auch die präsidentiellen Systeme den parlamentarischen also nicht un‐ bedingt überlegen, ebenso wenig die Konkurrenzdemokratien den Konkordanzdemokratien. Laut dem Politikwissenschaftler Arend Lijphart (*1936) sind Verhandlungsdemokratien zum Beispiel wirt‐ schaftlich gleichrangig zu Mehrheitsdemokratien und auf den Ge‐ bieten des Umweltschutzes und der Sozialpolitik sogar überlegen. Als ein Beispiel für eine Konkordanzdemokratie kann das politische System der Schweiz gelten, wohingegen das britische Westmins‐ termodell den Idealtyp der Konkurrenzdemokratie darstellt. Was bedeutet repräsentative Demokratie? Unter einer repräsentativen Demokratie versteht man eine Art der Herrschaftsform, die ganz zentral auf das Prinzip der → Repräsentation zurückgreift, um verbindliche politische Entscheidungen vorzuberei‐ ten, zu legitimieren und zu treffen. Anstelle eines unmittelbar die Gesetze gebenden oder diese gar ausführenden Volkes, wie es in der griechischen Antike in Teilen verwirklicht war, werden hier also Repräsentant*innen oder Abgeordnete per Wahl und nur für eine bestimmte Zeit vom souveränen (Wahl-)Volk damit beauftragt, mittelbar den Willen eben dieses Volkes umzusetzen, etwa in Form der Gesetzgebung, Verfassungsgebung, oder -änderung. Die gewähl‐ ten Volksvertreter*innen finden sich in der Regel in Parteien und diese im Parlament zusammen, weswegen repräsentative Demokratien auch parlamentarische Demokratien genannt werden, was aber nicht mit dem parlamentarischen Regierungssystem verwechselt werden darf. Mit der Entwicklung des modernen Nationalstaats hat sich die Praxis der Repräsentation für moderne Demokratien weitestgehend durchgesetzt, wenngleich es in den meisten repräsentativ organisierten Demokratien auch plebiszitäre, also direktdemokratische Elemente gibt (siehe hierzu die Frage zur direkten Demokratie). Der repräsen‐ Demokratie? Frag doch einfach! 54 <?page no="55"?> tativen Demokratie wird der Vorteil zugeschrieben, die Interessensar‐ tikulation und Entscheidungsfindung großer und vor allem pluralisti‐ scher Bevölkerungen auf zudem großflächigen Territorien bestmöglich umsetzen zu können. Zudem wird im Prinzip der Repräsentation von dessen Befürworter*innen ein Sperrriegel gegen den angeblich leicht aufzuwiegelnden unmittelbaren Volkswillen gesehen, was der antidemokratischen Stoßrichtung der liberalen Tradition gemäß als ein wesentlicher Garant für die Stabilität und Rationalität der politischen Ordnung der Demokratie sowie der in ihr getroffenen Entscheidungen gilt (siehe dazu die Frage zur liberalen Demokratietheorie). Da das Prinzip der Repräsentation zudem in der Lage ist, gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Minderheiten Gehör zu verschaffen, wird es auch als eine Absicherung gegen die „Tyrannei der Mehrheit“ angesehen. Dank der Integration der Erfahrungen und Interessen von Minoritäten in den Willensbildungs- und Entscheidungsfindungs‐ prozess trägt es zudem zur Qualitätssteigerung des demokratischen Outputs bei (siehe dazu die Frage zur deliberativen Demokratietheorie). Unter Effizienzgesichtspunkten wird der repräsentativen Demokratie außerdem zugutegehalten, die dauerhafte Einbindung und Professio‐ nalisierung von Expert*innenwissen zu ermöglichen. Die gewählten Repräsentant*innen handeln dabei zwar im Namen des Volkes bzw. vertreten dieses, sind jedoch nicht in Form eines imperativen Mandates an einen ohnehin nicht unmittelbar gegebenen Volkswillen gebunden, sondern meist nur ihrem Gewissen, ihrer Urteilskraft, der Verfassung und in einigen Fragen auch ihrer Fraktion gegenüber verantwortlich. Die Abgeordneten demokratischer Parlamente üben also in der Regel freie Mandate aus, im Gegensatz etwa zu Rätesystemen. Die Repräsen‐ tant*innen gesellschaftlicher Gruppen wiederum müssen nicht unbe‐ dingt formell ernannt sein, sondern können im Zuge demokratischer Proteste sich selbst ermächtigender marginalisierter Gruppen mit in‐ formeller Legitimation ausgestattet werden. Was bedeutet direkte Demokratie? Eine idealtypische direkte Demokratie, die auch als identitäre Demo‐ kratie bezeichnet wird, geht von der Deckungsgleichheit der Herr‐ Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 55 <?page no="56"?> schenden und Beherrschten, beziehungsweise der Regierenden und Regierten aus. Alle Bürger*innen wären hier also gleichermaßen an der Gesetzgebung, der Ausübung der Gesetze sowie der Rechtsprechung beteiligt. In der Realität findet sich allerdings nirgends ein reines direkt‐ demokratisches System. In den meisten repräsentativen Demokratien werden jedoch direktdemokratische oder plebiszitäre (von lat. Plebiszit = Volksbeschluss) Elemente für besonders legitimierungs‐ bedürftige, hoch umstrittene oder symbolisch herausragende Fälle vorgesehen. Das Staatsvolk trifft dann als Gesamtheit die grundle‐ genden politischen Entscheidungen unmittelbar, etwa im Rahmen von Volksabstimmungen, Volksbegehren, Volksentscheiden, in Verfas‐ sungsreferenden oder mittels der Wahl der Staatsoberhäupter. Oft wird Rousseau als Urheber der Idee direkter Demokratie genannt, was auch mit der Rezeption seiner Schriften in Carl Schmitts (1888-1985) Souveränitätslehre zusammenhängt. Diese Lesart ist zwar in Teilen berechtigt, im strengen Sinne jedoch nicht korrekt. Denn Rousseau hat selber betont, dass er eine reine Demokratie im Sinne der Identität von Regierenden und Regierten für weder möglich noch wünschenswert hält. Darin ist ihm insofern zuzustimmen, als die Deckungsgleichheit von Herrschenden und Beherrschten, sei sie faktisch existent oder seitens der Machthabenden nur behauptet, eine große Gefahr für die individuelle Freiheit und den Schutz der Privatsphäre darstellen kann. Das belegt auch Schmitts Lesart der Schriften Rousseaus, der diese zu einer Befürwortung der Diktatur als Ausdruck demokratischer Willensbekundung herangezogen hat. Die Totalitarismen des 20. Jahr‐ hunderts jedenfalls bauten ihre Gewalt- und Terrorherrschaften auch auf der behaupteten Einheit von Regierenden und Regierten auf. Jedoch gibt es auch demokratische Alternativen zur → Repräsentation durch gewählte Abgeordnete, die versuchen, sich dem Ideal der direkten Demokratie anzunähern, um so die Schattenseiten repräsentativer Systeme, zum Beispiel die Möglichkeit der Korruption, abzufedern. Hierzu zählt etwa das Rätesystem, welches Abgeordnete vorsieht, die von einem Rat in die nächsthöhere Ebene abgesandt und mit einem imperativen Mandat ausgestattet werden. Sie sind also zwingend an den zuvor demokratisch ermittelten Willen des sie entsendenden Rates gebunden. Direktdemokratische Elemente finden jedoch nicht nur in Demokratie? Frag doch einfach! 56 <?page no="57"?> der Politik Berücksichtigung, sondern auch im Arbeitsleben, etwa klassisch in Form von Arbeiter*innen- und Betriebsräten, wie sie die sozialistische Gesellschaftstheorie als konkreten Institutionenent‐ wurf für die Umsetzung demokratischer Selbstbestimmung entworfen hat. Für die politische Theorie und Praxis moderner Demokratien stellt das Ideal der direkten Demokratie also ein wichtiges kritisches Instrumentarium dar, um Verletzungen der Prinzipien der Gleichheit und Freiheit innerhalb bestehender Herrschaftsverhältnisse in den Blick zu bekommen und anprangern zu können. Literaturtipp | Der Klassiker zum Thema: Bermbach, U. (Hrsg.): Theorie und Praxis der direkten Demokratie, Westdeutscher Verlag 1973. Was unterscheidet parlamentarische von präsidentiellen Regierungssystemen? Ein parlamentarisches Regierungssystem ist neben dem präsidentiellen Regierungssystem eine der zwei hauptsächlichen Typologien, mit denen die Vergleichende Regierungslehre arbeitet. Mittels dieser Typologien wird die real existierende Vielzahl an unterschiedlichen Formen von Regierungssystemen gebündelt, um so vergleichend untersuchen zu können, wie und mit welchen Vorund/ oder Nachteilen jeweils das spezifische Verhältnis zwischen Staatsoberhaupt, Regierung und Parlament geregelt ist. Als Vorlage für die beiden Modelltypen dient das britische Westminstermodell für die parlamentarische und das US-ame‐ rikanische politische System für die präsidentielle Demokratie. Laut dem Politikwissenschaftler Winfried Steffani (1927-2000) ist die Möglichkeit der Abberufung der Regierung durch das Parlament aus politischen Grün‐ den das wichtigste Unterscheidungsmerkmal präsidentieller und parla‐ mentarischer Regierungssysteme. Alle Regierungssysteme, deren Parla‐ mente über ein Abberufungsrecht aus politischen Gründen verfügen, gehören für ihn zum Typus des parlamentarischen Regierungssystems, alle anderen zum Typus präsidentielles Regierungssystem, wo eine Ab‐ berufung nur aus verfassungsrechtlichen Gründen möglich ist. Weitere Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung 57 <?page no="58"?> Unterscheidungsmerkmale, auf welche in der Forschung zurückgegriffen wird, sind die Frage nach einer doppelten Exekutive, bestehend aus Präsident*in oder Monarch*in sowie Premierminister*in in der parlamen‐ tarischen, oder einer geschlossenen Exekutive in der präsidentiellen Demokratie, wo die Staatspräsident*in zugleich Regierungschef*in ist. Parlament und Regierung stehen im präsidentiellen Regierungssystem eher unverbunden nebeneinander und werden zur Kooperation gezwun‐ gen, während sich die Gewalten im parlamentarischen Regierungssystem eher verschränken und die Parlamente die Regierung bestellen, sprich aus ihrer Mitte heraus bestimmen. Im präsidentiellen System hingegen wird das Staatsoberhaupt mehr oder weniger direkt vom Volk gewählt. Die Parlamente in präsidentiellen Systemen legen den Fokus daher auf die Gesetzgebungsfunktion und die Kontrolle der Regierung, was im parlamentarischen System die Opposition innerhalb des Parlaments gegenüber der aus der Parlamentsmehrheit hervorgegangenen Regierung übernimmt. Im parlamentarischen System ist laut Steffani zudem die Vereinbarkeit von Regierungsamt und Parlamentsmandat möglich, was im präsidentiellen System ausgeschlossen ist. Wo die Regierung im parlamentarischen System das Parlament prinzipiell auflösen kann, ist dies der Präsident*in im präsidentiellen System nicht möglich. Hier ist zudem die Fraktionsdisziplin weit geringer ausgeprägt als im parlamen‐ tarischen System. Wie alle Modelle offenbart auch diese Dichotomie ihre Grenzen und Schwächen bei der Anwendung auf die empirische Vielzahl an existierenden Systemen, so dass ausgehend von den zwei Grundtypen weitere Kategorien gebildet worden sind. Hierzu zählt etwa das semi-präsidentielle Regierungssystem als Mischform des parlamen‐ tarischen und präsidentiellen Regierungssystems, wozu zum Beispiel Frankreich gerechnet wird. Literaturtipp | Weitere Einblicke in die verschiedenen Regierungs‐ systeme geben die beiden folgenden Einführungen: Lauth, H.J.: Vergleichende Regierungslehre. Eine Einführung, Springer VS 2010 und Steffani, W.: Parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien, Opladen. 1979. Demokratie? Frag doch einfach! 58 <?page no="59"?> Theorien und Modelle der Demokratie Blick ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus: Sozialis‐ mus, Liberalismus und Konservatismus entstehen. Sie ord‐ nen und gewichten die demokratischen Prinzipien neu. Weitere Demokratietheorien setzen ihre Schwerpunkte anders, so z. B. die deliberative, die feministische sowie die postkoloniale Demokratietheorie. <?page no="61"?> Was sind Demokratietheorien? Während der Begriff der Demokratie der Antike entstammt, sind die Demokratietheorien, die die Entwicklung der heutigen Demokratie be‐ einflussten und wie sie in Universitäten beforscht und gelehrt werden, modernen Ursprungs. Sie sind in einem engen Zusammenhang mit De‐ mokratisierungsprozessen entstanden und damit Ausdruck und Folge von politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Konflikten, die sie wiederum zu beeinflussen hofften und hoffen. Sie beziehen sich auf die Legitimität bestehender politischer oder sozialer Ordnungen und wollen diese analysieren, beschreiben, begründen, bewahren oder verändern. Im Lauf der Entwicklung der politischen Ideengeschichte haben sich Vertreter*innen und Theorien der unterschiedlichsten Strömungen dabei sowohl ablehnend als auch zustimmend auf die Demokratie bezogen. Mit Blick auf die relative Erfolgsgeschichte der modernen Demokratie haben sich besonders die ideengeschichtlichen Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts, der Sozialismus, der Libera‐ lismus und der Konservatismus mit ihren zahlreichen Verästelungen hervorgetan und verschiedene Modelle einer demokratischen Ordnung mit je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen favorisiert und inspi‐ riert, wobei sich alle drei Strömungen mit den konkreten politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Konflikten der europäischen Gesellschaften ab dem Zeitalter der Aufklärung befass‐ ten. Die so entwickelten und im Laufe der Zeit verschiedentlich inter‐ pretierten Demokratietheorien geben also nicht einfach eine ideale Wirklichkeit vor, der man nur noch wie einer Blaupause folgen und die Realität entsprechend den theoretischen Vorüberlegungen nachbauen muss. Vielmehr beschreiben sie konkrete Probleme, um dann (abhängig von ihrem jeweiligen Erfolg beim relevanten Adressat*innenkreis) gestalterisch in die Wirklichkeit einzugreifen. Nur sind politische und soziale Prozesse kontingent, so dass sich die Art der Einflussnahme weder vorhersehen noch vorwegnehmen lässt. Daher reicht es auch nicht aus, dass möglichst viele Menschen eine theoretische Schrift, ein Flugblatt oder ein Buch lesen. Vielmehr müssen sich um die Rezeption und Interpretation von Theorien herum Diskussionen entspinnen, die dann wiederum zu einer starken Mobilisierung einer kritischen Masse von Bürger*innen beitragen, die politischen Druck auf die bestehende Theorien und Modelle der Demokratie 61 <?page no="62"?> Ordnung aufbaut und die theoretisch vorgedachten Ideen zu konkre‐ ten politischen Forderungen verdichtet. Damit Demokratietheorien also über ihren jeweiligen Entstehungszeitraum hinaus bestehen und zum Teil bis heute immer wieder befragt, interpretiert und kritisiert werden konnten, musste ihnen von sozialen Bewegungen, Parteien und Bürger*innen über die Zeitläufte hinweg eine gewisse Bedeutung zugesprochen werden. Die Theorien besaßen ihre Relevanz damit keineswegs quasi „von selbst“, etwa weil sie „wahrer“ oder „richtiger“ waren als konkurrierende Ideen oder Theorien. Vielmehr waren sie für die Rezipient*innen zu den verschiedenen Epochen auf die eine oder andere Art plausibler, weil diese in den jeweiligen Theorien die drängendsten Fragen, Probleme und Konflikte als am geeignetsten formuliert, kritisiert, (de-)legitimiert oder beantwortet empfanden. Literatur- und Linktipp | Hier werden die zentralen Demokratie‐ theorien der letzten Jahrzehnte übersichtlich dargestellt und analy‐ siert: Lembcke, O.; Ritzi, C.; Schaal, Gary S. (Hrsg.): Zeitgenössische Demokratietheorien. Band 1: Normative Demokratietheorien, VS Verlag 2012. Der Theorieblog (www.theorieblog.de) bietet nützliche Informa‐ tion und anregende Reflexionen zu politisch relevanten Themen aus Wissenschaft, Gesellschaft und Politik und dient als Diskussionsort für politisch interessierte Menschen. Neben Veranstal‐ tungshinweisen sowie Job-, Praktika- und Stipendienangeboten bietet der Theorieblog zudem auch eine umfangreiche Liste mit wichtigen Zeitschriften und Links. Jacobin ist ein US-amerikanisches Magazin, das auch in Deutsch‐ land online und gedruckt erscheint. Es bietet sozialistische Perspek‐ tiven auf Wirtschaft, Politik und Kultur: jacobin.de. Was ist die republikanische Demokratietheorie? Der Republikanismus ist eine Strömung des politischen Denkens, die bereits seit der Antike existiert. Die Theorien innerhalb des Republi‐ kanismus, die sich seither entwickelt haben, werden dabei ganz grob Demokratie? Frag doch einfach! 62 <?page no="63"?> in zwei Stränge unterschieden: Den auf die griechische Antike zurück‐ zuführenden bürger*innenorientierten Strang rund um die Idee politischer Tugend und den römischen Strang, der mehr auf die Frage nach angemessenen institutionellen Vorrichtungen für eine stabile und freiheitliche politische Ordnung abhebt. Im Unterschied zum Liberalis‐ mus basieren republikanische Theorien bei allen Differenzen im Detail auf der Idee der natürlichen Bindung des Individuums an die Gemeinschaft und organisieren sich um das Prinzip der kollektiven Ausübung politischer Herrschaft. Im Konfliktfall hat das Wohl des Gemeinwesens Vorrang vor individuellen Interessen und Freiheiten, was im Prinzip das Kernverständnis der politischen Tugendlehre des Republikanismus widerspiegelt. Politik wird im Republikanismus nicht als Mittel zum Zweck ver‐ standen, sondern als die einem vollwertigen menschlichen Dasein entsprechende Betätigung eines Austauschs von Freien und Gleichen, die sich um alle relevanten Belange des öffentlichen Lebens und die Erreichung kollektiver Ziele kümmern. Ideengeschichtlich wird der Republikanismus in seinen Ursprüngen auf die Schriften Aristoteles zurückgeführt. In seinem Werk „Politik“ legt er das republikanische Grundverständnis des Menschen als zoon politikon fest, das heißt als ein Wesen, das von Natur aus auf ein politisches Leben, ein bios politikos, hin ausgerichtet ist und sich dadurch sowohl von Tieren als auch von Göttern unterscheidet. Damit ein in dem Sinne vollwertiges politisches Leben gelebt werden kann, müssen für Aristoteles die männlichen Vollbürger sowohl am Regieren wie auch an der Rechtsprechung be‐ teiligt sein. Da sie aber nicht immer alle zeitgleich beteiligt sein können, greift das Prinzip des Ämtertausches, was die Fähigkeit und Bereit‐ schaft voraussetzt, sowohl zu herrschen als auch sich beherrschen zu lassen. Wohlgemerkt unter der Bedingung, dass sich immer alle als Gleiche begegnen und so der Gefahr der Willkür- und Fremdherrschaft vorgebeugt wird. Die Tugend als Voraussetzung für die Stabilität und das Gelingen des freiheitlichen Miteinanders muss den Bürger*innen aus Sicht des Republikanismus anerzogen beziehungsweise mussten diese überhaupt erst zu Bürger*innen erzogen, also entsprechend der Wertvorstellungen der Gemeinschaft sozialisiert werden. Das Indivi‐ duum ist im Republikanismus damit zur vollen Entfaltung seiner Theorien und Modelle der Demokratie 63 <?page no="64"?> Anlagen immer schon auf die Gemeinschaft angewiesen und Politik wird hier entsprechend verstanden als die Umsetzung eines positiven Verständnisses von → Freiheit im Sinne des Austauschs und der ge‐ meinsamen Beratschlagung und Entscheidungsfindung unter Gleichen und Freien, also als ein Raum und eine Praxis kollektiven Handelns. Erst als gleichberechtigtes Mitglied einer autonomen, handlungsmächtigen politischen Gemeinschaft, eben der Republik, ist also ein vollwertiges Dasein als Bürger*in möglich. Welche Entwicklung nahm das republikanische Denken im Laufe der Herausbildung der modernen Demokratie? Die republikanische Idee von Bürger*innenschaft bestimmte in der Folge auch maßgeblich das politische Denken zur Zeit der republika‐ nischen Stadtstaaten der Renaissance und frühen Neuzeit. Hier ist vor allem Niccolò Machiavelli (1469-1527) mit seinen Schriften „Discorsi“ und „Der Fürst“ als einflussreich zu nennen. Im Unterschied zu den zyklischen Geschichtsbildern der klassischen Theorien des Republika‐ nismus begriff er die Entwicklung von Republiken nicht mehr als einen Wechsel von Aufstieg und Niedergang, der regelmäßig ins Chaos des Bürgerkriegs und daran anschließend in die Tyrannei führte und nur durch die Rückbesinnung auf die politischen Tugenden überwunden werden konnte. Vielmehr konzipierte Machiavelli die Republik als Mo‐ dus der möglichst friedlichen Austragung eines permanenten Ur-Kon‐ flikts zwischen Herrschenden und Beherrschten (→ Konflikt und Konsens), der jedoch prinzipiell niemals überwunden werden kann, sondern das republikanische Miteinander dauerhaft strukturiert. Damit stellte Machiavelli den Republikanismus in ein lineares Verständnis von Zeit und machte ihn so für die Moderne anschlussfähig, weswegen innerhalb der republikanischen Theoriegeschichte von einem Machia‐ vellian moment als wegweisendem Perspektivenwechsel gesprochen wird. Die im engeren Sinne republikanischen Demokratietheorien wurden schließlich ab dem 18. Jahrhundert entwickelt und nahmen damals maßgeblich Einfluss auf die politischen Geschehnisse der demokratischen Revolutionen. Hier wurde vor allem die Frage nach der angemessenen Größe für eine Republik diskutiert. Jean-Jacques Demokratie? Frag doch einfach! 64 <?page no="65"?> Rousseaus Idealbild der kleinräumigen und tugendhaften polis nach dem Vorbild der Genfer Stadtrepublik stand den Ideen der amerikani‐ schen „Federalist Papers“ gegenüber, die mit Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika für den Übertrag des republikanischen Ideals auf die Ebene des großräumigen Territorialstaates argumentierten. Mit Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ wurde die Idee der Volkssouveränität und des Gemeinwillens (volonté générale) zum zentralen Prinzip der republikanischen Theoriebildung und demokratischen Bestrebungen. Wie die Vertragstheorien des Liberalismus ging Rousseau von der natürlichen → Freiheit des Menschen aus, die er mit notwendigen Einschränkungen im Rahmen einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung versöhnen wollte. Die Republik war für Rousseau dann die Antwort auf das politische Grundproblem, nämlich eine Form des Zusammenschlusses zu finden, die die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds schützt und gleichzeitig auch die → Freiheit der Individuen bewahrt. Dies sollte dadurch gewährleistet werden, dass sich die Mitglieder im Rahmen der Selbstgesetzgebung nicht von ihren individuellen Interessen, sondern vom Gemeinwillen leiten lassen und so ihre verlorene natürliche Freiheit in Form bürgerlicher Freiheit und der Herrschaft der selbstgegebenen Gesetze wiedererlangen. Folglich legt dieser Strang des Republikanismus sehr viel Wert auf → Partizipation und die Tugend als Voraussetzung für diese und hat folglich ein großes Problem mit dem modernen demokratischen Prinzip der → Repräsentation. Demgegenüber sahen die „Federalist Papers“ genau in der Repräsentation die Möglichkeit, den Republikanismus in die Moderne zu retten und als Ordnungs- und Strukturprinzip einer großflächigen politischen Gemeinschaft mit hoher Bevölkerungszahl anzuwenden. Statt der Tugend als Stabilitätsanker setzten sie auf die Verfassung und die Gewaltenteilung gemäß dem Prinzip der checks and balances . Der Republikanismus rousseauistischer Prägung wurde also vor allem im Zuge der Französischen Revolution sehr einflussreich, insofern das Prinzip der Volkssouveränität und des Gemeinwillens die politischen Kräfte zu mobilisieren verhalf, die das Ancien Régime stürzten. Auf der anderen Seite nahmen Maximilien de Robespierre (1758-1794) und Louis Antoine de Saint-Just (1767-1794) im Zuge der jakobinischen Terrorherrschaft Rousseaus Tugendideal zum Orientie‐ Theorien und Modelle der Demokratie 65 <?page no="66"?> rungspunkt für ihre auf das Ethos der Bürger*innen ausgerichtete Politik und sorgten somit dafür, dass dieses ebenso wie ihre Gleich‐ setzung von Tugend, Demokratie und Republik von manchen bis heute als mitverantwortlich und prototypisch für totalitäre Formen politischer Herrschaft angesehen wird. Der eher römisch inspirierte Republikanismus fand seinen Höhepunkt hingegen in der Gründung der Republik der Vereinigten Staaten von Amerika. Was ist die liberale Demokratietheorie? Die liberalen Demokratietheorien gehen auf die Strömung des klassischen Liberalismus zurück, der ein Produkt der Aufklärung ist, jedoch erst seit dem 19. Jahrhundert unter diesem Namen geführt wird. Innerhalb der Theorien und politischen Praxis ge‐ genwärtiger Demokratien gilt der Liberalismus als die dominante oder hegemoniale Strömung. Historisch von Bedeutung war er vor allem als Kampfgefährte der demokratischen Freiheitsbewegungen im Zuge der demokratischen Revolution, da er auf Seiten des Bür‐ gertums erfolgreich für die theoretische Unterfütterung der Forde‐ rungen nach politischer Teilhabe und ökonomischer Autonomie sorgte. Als politische Gegenbewegung zu radikalrepublikanischen und radikaldemokratischen Bewegungen und Ideen wurde der Liberalismus dann in Reaktion auf die Erfahrungen mit der Jako‐ binischen Terrorherrschaft Robespierres und Saint-Justs zu einer eigenständigen Demokratietheorie weiterentwickelt. Die liberalen Demokratietheorien des 20. Jahrhunderts entstanden dann vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Totalitarismus, den sie als eine Konsequenz des politischen Denkens der Französischen Revo‐ lution, des Republikanismus und des Sozialismus interpretieren. Demokratie? Frag doch einfach! 66 <?page no="67"?> Welche Kernannahmen vertreten liberale Demokratietheorien? Dem liberalen politischen Denken liegt im Kern die Annahme zugrunde, dass jeder Mensch von Natur aus mit unverbrüchli‐ chen Freiheitsrechten ausgestattet ist, die zu respektieren und zu schützen erste Aufgabe von Staat und Gemeinschaft ist. Man spricht hier von einem Verständnis negativer → Freiheit, die als Abwehr- und Schutzraum Ansprüche und Zugriffe des Kollektivs und der Obrigkeit abwehren soll. Dem Staat kommt damit im liberalen Denken eine gewisse paradoxe Bedeutung zu, insofern er sowohl die größte Gefahr für die freie Entfaltung des Indivi‐ duums darstellt, als auch dafür zuständig ist, die geeigneten Rah‐ menbedingungen zu schaffen, dass Menschen ihren persönlichen Interessen nachkommen und ihre Freiheit ausleben können. Der Liberalismus ist dabei stark interessiert an der Aufrechterhaltung der Trennung vom Bereich der Politik einerseits und des Marktes und der Privatsphäre andererseits, wo das Individuum als homo oeconomicus frei und autonom seinen Bedürfnissen und Interessen nachgehen können soll. Das liberale politische Denken hebt also ganz zentral die Bedeutung der Individuen als Rechtssubjekte hervor und plädiert für einen so genannten „freien Markt“ als die Sphäre, in der sich die Menschen als Bürger*innen und Privat‐ menschen frei von externen politischen und ideologischen Einflüs‐ sen begegnen können, um unter dem als wertvoll eingeschätzten Prinzip der Konkurrenz miteinander Handel und Austausch zu betreiben und so die individuellen Lebensentwürfe bestmöglich zu verfolgen. Für diese Idee steht Adam Smiths Diktum von der „unsichtbaren Hand des Marktes“ Pate, sprich die Vorstellung, dass eine möglichst frei von politischer Regulierung konzipierte ökonomische Produktions- und Tauschsphäre quasi von selbst die bestmögliche Verwirklichung der Freiheit für eine maximale Anzahl an Menschen umzusetzen in der Lage ist. Entgegen allen empirischen Belegen, wonach die Vorstellung einer unsichtbaren Hand so nicht haltbar ist und trotz der sozialen und politischen Theorien und Modelle der Demokratie 67 <?page no="68"?> Verwerfungen, die ein solcher Marktradikalismus historisch bis heute zeitigt, hält das liberale Denken in großen Teilen an dieser Idee fest. Der Liberalismus band die Vorstellung einer für die individuelle → Freiheit effizienten politischen Ordnung dabei stets eng an die Wirtschaftsordnung des Kapitalismus. Wo liegen die Ursprünge liberaler Demokratietheorien? Als politische Theorie geht der Liberalismus zurück auf die Vertrags‐ theorien von Thomas Hobbes (1588-1679), vor allem aber John Lockes (1632-1704). Die auch als Kontraktualismus bekannten Theorien teilen die Grundannahme, dass jede Form von Herrschaft gegenüber den Freiheitsrechten und -ansprüchen der Individuen rechtfertigungs‐ pflichtig ist und nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn alle Menschen zumindest der Idee nach aus freien Stücken und auf Basis ihrer Vernunft der jeweiligen Ordnung zustimmen würden. Dafür über‐ trugen die kontraktualistischen Theorien das Modell des Vertrags in die politische Theorie und konzipierten ihre Rechtfertigungsnarrative nach dem Dreischritt vorstaatlicher/ vorvertraglicher Naturzustand - Vertragsschluss - Gesellschaftszustand. Das Gedankenexperiment des Naturzustandes, in dem sich alle Menschen hypothetisch vor jeder Ein‐ richtung einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung befanden, diente dann dazu, die Herausbildung von Staat und Gesellschaft als notwendig, gleichzeitig aber als prinzipiell frei gestaltbar darzustellen. Daraus ergab sich der Idee nach die Konsequenz, dass die Menschen sich qua Vernunft zusammenfanden, um sich per Vertragsschluss unter Gleichen und Freien auf eine Form der Herrschaft und politischen Organisation zu einigen, die ihnen den Ausgang aus dem Naturzustand und die Überwindung von dessen Unzulänglichkeiten ermöglichte. Im dritten Schritt wurde dann derjenige Gesellschaftszustand entworfen, der am besten den Anforderungen und Bedürfnissen der Individuen entsprechen sollte. In seinem berühmten Werk „Leviathan“ konstruierte Thomas Hob‐ bes Mitte des 17. Jahrhunderts den Naturzustand als einen permanen‐ ten Krieg aller gegen alle um das nackte Überleben, woraus er die Demokratie? Frag doch einfach! 68 <?page no="69"?> absolute Macht und Herrschaft des Leviathan genannten Souveräns ableitete. Diesem würden sich die Menschen freiwillig als Untertanen unterwerfen und ihm all ihre Freiheits- und Mitspracherechte sowie das Gewaltmonopol übertragen, um im Gegenzug den Schutz vorein‐ ander und vor äußeren Feinden garantiert zu bekommen. Rousseau warf Hobbes später vor, damit lediglich die absolutistische Monarchie gerechtfertigt zu haben. Ob Hobbes’ Theorie bereits liberal war, ist umstritten, sie muss vielleicht besser als proto-liberal verstanden wer‐ den. Denn immerhin wurde hier die Rechtmäßigkeit von Herrschaft über Menschen von deren prinzipieller Zustimmung und nicht etwa von religiöser Überlieferung, Sitte und Tradition abhängig gemacht, was in der Geschichte des politischen Denkens eine revolutionäre Neuerung gegenüber der Antike und dem Mittelalter darstellte. John Locke benutzte in seinen knapp 40 Jahre später entstandenen „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ ebenfalls das Modell des Vertrags‐ schlusses. Dieses unterschied sich insofern von jenem Hobbes’, als die Individuen sich bereits im Naturzustand Eigentum aneignen konnten, wo es bei Hobbes nur Besitz gab, der einem zudem jederzeit von Stärkeren oder Schlaueren genommen werden konnte. Deshalb konnte für Hobbes nur der Leviathan für die Transformation von Besitz in die rechtliche Kategorie des Eigentums und dann für dessen Schutz sorgen. Für Locke aber galt bereits die persönliche Arbeit und der Fleiß, den Individuen in die Aneignung der Natur im vorgesellschaftlichen Zu‐ stand investierten, als die Begründung von Eigentumsrechten. Nur gab es im Naturzustand keine übergeordnete Instanz, die Eigentumsverlet‐ zungen effizient und legitim sanktionieren konnte, weswegen sich die Menschen auch hier zu einem Vertragsschluss zusammenfanden, um ihr natürliches Recht auf Selbstverteidigung an eine zwangsbewehrte neutrale Instanz zu übertragen. Anders als bei Hobbes schufen sie dabei jedoch nicht in einem Akt einen übermächtigen Herrscher, dem sie sich absolut zu unterwerfen hatten, sondern fanden sich zunächst zu einer Vertragsgemeinschaft zusammen, die dann erst im nächsten Schritt eine Regierung einsetzte und sich dabei das Recht vorbehielt, diese bei Verstößen gegen die vertraglichen Pflichten (vorrangig den Schutz der Freiheiten und des Eigentums der Individuen) jederzeit wieder abzusetzen (ein für Hobbes nicht wünschenswerter Vorgang). Theorien und Modelle der Demokratie 69 <?page no="70"?> Locke wurde damit zum eigentlichen Ahnherrn des liberalen Denkens und, für seine Kritiker, des Besitzindividualismus, da er die Grundlagen dafür schaffte, politische Mitsprache an ökonomische Leistungsbereit‐ schaft und -fähigkeit zu knüpfen. Lockes „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ hatten maßgeblichen Einfluss auf die politischen Ak‐ teur*innen der Amerikanischen und Französischen Revolution. Seine Theorie diente der Selbstbeschreibung der nordamerikanischen Repu‐ bliken sowie der Rechtfertigung der kolonialen Bestrebungen durch die britischen Siedler*innen. Locke verkörperte schließlich wie kein Zweiter die internen Widersprüche des Liberalismus in seiner Person, insofern er sowohl einer der wichtigsten Vordenker der modernen Idee der individuellen → Freiheit als zugleich auch über Anteile profitabel am transatlantischen Sklavenhandel beteiligt war. Was ist die deliberative Demokratie? Das deliberative Modell der Demokratie wurde maßgeblich vom Philosophen Jürgen Habermas (*1929) entwickelt. Es beansprucht, eine Überwindung der jeweiligen Schwachstellen des libera‐ len und republikanischen Demokratieverständnisses anzu‐ bieten. Wo der Liberalismus zu sehr auf den Schutz und die Verwirklichung der Privatinteressen der Bürger*innen als Aufgabe demokratischer Politik fokussiere, überfrachte der Republikanis‐ mus diese laut Habermas mit seinen Tugendanforderungen und der geforderten prinzipiellen Bereitschaft zur permanenten Teil‐ habe an allen Entscheidungsprozessen. Damit seien beide Theo‐ rien nicht ausreichend, um ein qualitativ anspruchsvolles und möglichst legitimes demokratisches Miteinander zu befördern. Die Legitimation und Qualität der Willensbildung und Entschei‐ dungsfindung in repräsentativen und liberalen rechtsstaatlichen Demokratien und hochkomplexen Gesellschaften zu steigern, soll daher die deliberative Demokratie leisten. Hierbei spielt die Institution der demokratischen Öffentlichkeit eine zentrale Rolle. Die Grundannahme der deliberativen Demokratie lautet, dass politische Diskurse, also die sprachliche Kommunikation zwischen Bürger*innen und Politiker*innen über öffentliche An‐ Demokratie? Frag doch einfach! 70 <?page no="71"?> gelegenheiten, in der Lage sind, objektive Wahrheiten und ver‐ nünftige Entscheidungen zutage zu fördern. Damit jedoch der vernünftige Charakter der Meinungs- und Willensbildung sich entfalten kann, gilt es, bestimmte Verfahren anzuwenden, die eine Art Rationalisierungsdruck auf die öffentliche Meinungsbildung ausüben und so die Qualität der politischen Entscheidungen nach vernünftigen Maßstäben verbessern. Die deliberative Demokratietheorie legt also ihren Schwerpunkt auf die → Freiheit der Meinungsäußerung in einer deliberieren‐ den, sprich beratenden Öffentlichkeit. Diese wird als Transforma‐ tionsriemen zwischen der Zivilgesellschaft und den Institutionen des politischen Systems und des Staates verstanden. Habermas spricht von der Öffentlichkeit als einem Resonanzboden für das Aufspüren gesellschaftlicher Probleme und zugleich als „diskursi‐ ver Kläranlage“. Diese hat die Funktion, aus den „trüben Fluten“ der politischen Kommunikation die vernünftigen Elemente her‐ auszufischen, also diejenigen Beiträge, die wichtig und hilfreich für die Gesamtgesellschaft zur Lösung eines allgemeinen Problems sein können. Wie kann eine deliberative Demokratie konkret aussehen? Habermas stellt sich die funktionale Arbeitsteilung einer deliberati‐ ven demokratischen Gesellschaft so vor, dass der Staat weiterhin die Aufgabe übernimmt, öffentliche Güter, Dienstleistungen, Subven‐ tionen und Infrastrukturen für verschiedene gesellschaftliche Funkti‐ onssysteme bereitzustellen, etwa für die Industrie, das Gesundheits‐ system, die Bildung oder die Forschung. Die Vertreter*innen dieser Funktionssysteme wiederum versuchen dann wie bisher auch, über Öffentlichkeitsarbeit und Lobbyismus ihre vermeintlich funktionalen Imperative als allgemeingültig durchzusetzen und drohen dafür mit den ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln, etwa dem Abzug von Arbeitsplätzen, dem Verlust von Einfluss, Ansehen und Bedeu‐ tung auf den Weltmärkten oder mit Versorgungsengpässen. Die Bür‐ ger*innen erfahren diese Drohungen und ihre Auswirkungen nun als konkreten Stress in ihrer alltäglichen Lebenswelt und je nachdem, Theorien und Modelle der Demokratie 71 <?page no="72"?> welcher Klasse, sozialen Schicht oder Gruppe sie angehören, leiden sie entsprechend unterschiedlich stark unter diesen Drohungen und deren Auswirkungen. Aus der Zivilgesellschaft heraus interpretieren dann Bürger*innengruppen, soziale Vereinigungen, Initiativen oder Intellektuelle die sozialen Probleme und Leidenserfahrungen und for‐ mulieren entsprechende politische Forderungen an das System. Das wiederum hat Einfluss auf die Einstellungen der Bürger*innen in ihrer Eigenschaft als potenzielle Wähler*innen. Als solche können sie sich die Konkurrenz der Parteien zunutze machen und mit dem Entzug ihrer Stimme drohen. In dieser Abhängigkeit des politischen Systems von der demokratischen Legitimation durch die Wähler*innen sieht Habermas die Möglichkeit garantiert, dass die politische Öffentlichkeit über die öffentliche Meinung und Wahlen maßgeblich an der Bewahrung oder Veränderung von politischen Machtverhältnissen beteiligt ist. Die po‐ litischen und wirtschaftlichen Eliten sollen dann einerseits von der Zi‐ vilgesellschaft Impulse aufnehmen, diese verarbeiten und als konkrete Maßnahmen und Vorschläge an die Wähler*innen zurückgeben und auf der anderen Seite eben die Anforderungen und Bedürfnisse ihrer (potenziellen) Wähler*innenschaft in das politische System einspeisen. In dem so entstehenden kommunikativen Kreislauf zwischen Zen‐ trum und Peripherie der Gesamtgesellschaft produziert die politische Öffentlichkeit schließlich nicht mehr einfach nur öffentliche, sondern reflektierte öffentliche Meinungen. Dem Modell der Deliberation nach durchläuft die politische Wil‐ lensbildung also einen Filterprozess, durch den sich schrittweise eine allgemein vernünftige Meinung herausbildet. Demokratisch ist dieser Prozess insofern, als er im Großen und Ganzen die Inklusion und gleichen Teilnahmechancen aller Betroffenen anstrebt sowie die Transparenz der Beratungen gewährleisten soll. Deliberation bedeutet dann das vernünftige Diskutieren und Abwägen aller relevanten Fra‐ gestellungen, Ansprüche, Bedürfnisse und Informationen zu einem Thema, so dass am Ende eine Bewertung erfolgen kann, die ohne Verzerrungen und Zwang zustande kommt. Habermas spricht hier vom Ideal des herrschaftsfreien Diskurses und dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Damit das gewährleistet ist, gilt es, angemes‐ sene Verfahren zu entwickeln und anzuwenden, um dafür zu sorgen, Demokratie? Frag doch einfach! 72 <?page no="73"?> dass sich wirklich das objektiv bessere Argument durchsetzt und die vernünftigsten aller möglichen Entscheidungen getroffen werden. Das deliberative Modell der Demokratie setzt also auf die Vernunft, die in der Kommunikation aufgeklärter Individuen angelegt ist. Statt der Konfrontation von individuellen Interessen und der Kollektivierung eines staatsbürgerlichen Ethos steht hier somit die Kooperation der Individuen zum Zweck gemeinsamer Problemlösungen der Gesell‐ schaft als Ganzer im Vordergrund. Wie realistisch ist das Modell deliberativer Demokratie? Aufgrund sozialer Benachteiligung bringt nicht jede*r dieselben öko‐ nomischen, intellektuellen und kognitiven Bedingungen mit, so dass ein wirklich herrschaftsfreier Diskurs ein unmögliches Ideal zu bleiben scheint, solange nicht die entsprechenden gesellschaftlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Habermas gesteht auch selber ein, dass das Argumentieren eine sehr anspruchsvolle und voraus‐ setzungsreiche Form der Kommunikation ist. Statt auf eine soziale Revolution setzt er jedoch darauf, dass das Argumentieren zu den alltäglichen kommunikativen Praktiken menschlichen Miteinan‐ ders gehört, sich alle Menschen also ohnehin permanent in einem „Raum der Gründe“ bewegen und in einem „Wettbewerb um bessere Argumente“ stehen, womit zumindest die Grundbedingungen für die Verwirklichung einer deliberativen Demokratie gegeben wären. Ex‐ perimente in Kleingruppen mit moderierten Mini-Öffentlichkeiten, Fokusgruppen und mediierten Expert*innengruppen bestätigen zudem die Vermutungen über den positiven Einfluss, den die Teilnahme an entsprechend strukturierten Diskursen auf die Herausbildung reflek‐ tierter Meinungen hat. Die Diskussionen in den Kleingruppen führten in der Regel zu einer Angleichung von Meinungen, statt zu Polarisie‐ rung und die Teilnehmer*innen verfügten nachher über mehr und bessere Informationen. Die jeweiligen settings motivierten sie dazu, sich irritieren zu lassen, von etwaigen Vorurteilen abzurücken, um sich zu informieren, dazuzulernen und dann über die jeweiligen Argumente nachzudenken und ihre Meinung gegebenenfalls zu verändern oder anzupassen, sprich: der Kraft des besseren Arguments Raum zu geben. Theorien und Modelle der Demokratie 73 <?page no="74"?> Was ist die radikale Demokratietheorie? Die radikaldemokratische Theorie steht in der Tradition des Poststrukturalismus und des Marxismus, von dem sie sich aber als post-marxistisch in manchen Aspekten bewusst absetzt. So befürwortet sie Konflikte und den Streit um die Konstitution und Transformation bestehender gesellschaftlicher und politischer Ordnungen als den Kern demokratischer → Freiheit und Selbst‐ regierung, folgt jedoch nicht mehr der marxistischen Perspektive auf das Proletariat als zentralem Akteur der Revolution und auch nicht mehr der Idee, dass die Geschichte objektiven Gesetzen folgt. Die radikale Demokratietheorie geht vielmehr davon aus, dass moderne Gesellschaften von einer unausweichlichen Kon‐ tingenz durchzogen sind, sodass alle sozialen, ökonomischen und kulturellen Institutionen und Ist-Zustände als immer nur vorläufige und umstrittene Ergebnisse konflikthaften politischen Handelns zu begreifen sind. Die Vertreter*innen der Radikaldemo‐ kratie, zum Beispiel Ernesto Laclau (1935-2014), Chantal Mouffe (*1943), Judith Butler (*1956), Étienne Balibar (*1942) oder Wendy Brown (*1955), sind davon überzeugt, dass die Herausforderung und gegebenenfalls Überschreitung der konkreten politischen Institutionen sowie der Grenzen des Sag-, Denk- und Machbaren einer Gesellschaft, die der französische Radikaldemokrat Jacques Rancière (*1940) als die Aufteilung des Sinnlichen bezeichnet, eine herausragende emanzipatorische Bedeutung besitzen. Im Zentrum dieses Verständnisses von radikaler Demokratie steht damit das konfliktgeladene Spannungsverhältnis zwischen dem → Volk als konstituierender Macht und der etablierten institutionellen Ordnung, die vom demos potenziell jederzeit neu geordnet oder komplett verworfen werden kann. Demokratie? Frag doch einfach! 74 <?page no="75"?> Was ist das Radikale an der radikalen Demokratietheorie? Radikal meint für die Radikaldemokratie, auf den Grund oder an die Wurzel aller bestehenden Institutionen, Prozeduren oder auch Begriffe des demokratischen Selbstverständnisses zu gehen, um dieses von dort ausgehend als kontingent zu begreifen und zu kritisieren. Die radikalen Demokratietheorien arbeiten nämlich auf die Radikalisierung der Demokratie, das heißt auf ihre Erweiterung sowie auch auf ihre Ver‐ tiefung hin. Dabei bestreiten sie alle vermeintlichen Unmöglichkeiten und juristischen wie politischen Sachzwänge sowie unverrückbaren Traditionen, die von konservativen und reaktionären Kräften gerne ins Feld geführt werden, um Reformprozesse an bestehenden Institutionen und Systemen abzuwehren. Dagegen nehmen radikaldemokratische Theorien nicht die Perspektive der Begründung oder Bewahrung der demokratischen Ordnung ein, sondern im Gegenteil die der Ent-Grün‐ dung, der Dekonstruktion und der politisch wie sozial Ausgegrenzten und Entrechteten. Hierzu zählen etwa die antikolonialistischen Befrei‐ ungsbewegungen, die Frauenbewegung, die LGBTQI-Bewegung oder die migrantischen und antirassistischen Initiativen, welche auf die Überwindung der bestehenden politischen und sozialen Machtverhält‐ nisse abzielen. In ihrem Verständnis des Politischen, das einen Primat gegenüber dem Sozialen, dem Ethischen oder dem Ökonomischen beansprucht, gibt es für radikale Demokratietheorien keine prinzipiel‐ len Hindernisse für demokratische Radikalisierungen der bestehenden politischen und sozialen Ordnungen, die die Abwehr der Forderungen dieser Gruppen nach einer Vertiefung und Erweiterung der Demokratie rechtfertigen würden. Radikal sind sie also auch, weil sie keinerlei außer- oder vorpolitische Begrenzung demokratischer Forderungen zulassen, sondern von der prinzipiellen Grundlosigkeit der modernen Demokratie ausgehend die prinzipielle Grenzenlosigkeit demokrati‐ scher Forderungen zum Programm erheben. Theorien und Modelle der Demokratie 75 <?page no="76"?> Wo liegen die Ursprünge radikaler Demokratietheorie? Der Begriff der radikalen Demokratie geht auf Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zurück. In ihrem Buch „Hegemonie und radikale De‐ mokratie“ (Hegemony and Socialist Strategy) von 1989 suchten sie nach Möglichkeiten einer aktuellen linken Politik jenseits der Engführungen des orthodoxen Marxismus auf das Proletariat als politisches Subjekt, ohne dabei den emanzipatorischen Anspruch des Marxismus aufzuge‐ ben. Dafür radikalisierten sie die Kernwerte der liberalen Demokratie, die liberale → Freiheit und die demokratische → Gleichheit, um vor allem den paradoxen Widerspruch zwischen beiden produktiv zu wenden und für die Ausbildung antikapitalistischer Strategien zugäng‐ lich zu machen. Besonders Chantal Mouffe plädiert dafür, dass eine radikaldemokratische Politik klar erkennbare Alternativen im politi‐ schen Spektrum zwischen rechter, konservativer, liberaler und linker, progressiver Politik braucht. Erst dann kann sich in der Gesellschaft der leidenschaftliche Streit entwickeln, der die prinzipiell gesellschafts‐ zerstörenden antagonistischen Konflikte in einer friedlichen, aber im‐ mer noch konflikthaften, Mouffe benutzt hierfür den Begriff agonalen, Art und Weise politisch wendet und somit die Demokratie am Laufen und am Leben hält. Die Kernaufgabe der Demokratie ist es demnach, aus Antagonist*innen beziehungsweise Feind*innen Gegner*innen zu machen, die sich in ihrer Gegner*innenschaft anerkennen und sich dennoch oder deswegen konflikthaft um die beste Interpretation der Demokratie streiten. Jacques Rancière prägte hierfür den Begriff des Streithandels. Jedoch beschränkt sich radikale Demokratie dann nicht auf das politische System, sondern bezieht auch Überlegungen zur Radikalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft und Wirtschaft mit ein. Im Anschluss an Claude Lefort unterscheidet die Radikaldemokratie das Politische als die Dimension radikaler Selbstinfragestellung und Selbstkonstitution demokratischer Gesellschaften von der Dimension der Politik als ihren fixierten Institutionen und Verfahren. Im Politi‐ schen sind laut Lefort die für die Radikaldemokratie relevanten Grund‐ fragen nach der Art und Weise, wie sich eine Gesellschaft überhaupt als solche erschafft, anzusiedeln. Erst diese Fragen ermöglichen für die Demokratie? Frag doch einfach! 76 <?page no="77"?> Radikaldemokratie dann die Kritik und mögliche Transformation der gegebenen Verhältnisse. Mit Lefort wird die Grundbedingung der modernen Demokratie darin gesehen, dass die demokratische Revolution im 18. Jahrhundert die letzten Orientierungspunkte der Gewissheit aufgelöst hat. Wo etwa zuvor die König*in im Absolutismus die Einheit der Gesellschaft gemäß dem göttlichem Willen konstituiert, legitimiert und garantiert hatte, ist der Ort der Macht in der modernen Demokratie zur umkämpften symbolischen Leerstelle geworden, die durch das abstrakte Prin‐ zip der Volkssouveränität nicht mehr eindeutig und schon gar nicht auf Dauer besetzt werden kann. Daran anschließend nehmen radikal‐ demokratische Theorien die symbolische Bedeutung der Macht in ihrer gesellschaftskonstruierenden Kraft in den Fokus. Indem nämlich die Macht die Einheit der Gesellschaft symbolisch inszeniert, Lefort spricht hier von der Funktion der mise-en-scène , gibt sie ihr im Akt der symbolischen → Repräsentation zugleich ihre Form (mise-en-forme) und spricht dieser Form den ihr eigenen Sinn zu (mise-en-sens). Die so mittels der Repräsentation konstituierte gesellschaftliche Einheit kann angesichts eines entleerten und nur temporär zu besetzenden Macht-Zentrums in der modernen Demokratie dann jedoch nie voll‐ ständig real und entsprechend auch nie wirklich repräsentiert werden. Zugleich aber gibt es ohne diesen notwendig zum Scheitern verurteil‐ ten Versuch nicht einmal eine vage Vorstellung von Gesellschaft. Die hieraus resultierenden Widersprüche zwischen den im Symbolischen zu verortenden demokratischen Idealen und der erfahrbaren nichtidea‐ len Praxis werden von der Radikaldemokratie als Bedingung und Motor demokratischer Politik begrüßt. Welche epistemischen Konsequenzen hat das radikale Verständnis von Demokratie? Der radikalen Vorstellung demokratischer Politik korrespondiert dabei ein Verständnis gefährlicher → Freiheit, die deswegen so genannt wird, weil sie aufgrund der Abwesenheit letzter Gründe und Gewissheiten ein kollektives Unbehagen hervorruft, das leicht dazu verführen kann, sich totalitären Heilsversprechen hinzugeben. Um das zu vermeiden, Theorien und Modelle der Demokratie 77 <?page no="78"?> müssen die demokratischen Bürger*innen es daher nicht nur akzeptie‐ ren, sondern besser begrüßen, dass die demokratischen Institutionen das demokratische Prinzip der → Gleichheit zwar versprechen, aber zugleich niemals vollständig stillen können. Denn nur dann bleibt das dynamisierende Moment der Demokratie erhalten, das immer weiter auf die Einlösung der Versprechen der Gleichheit und Freiheit pocht und sich mit keiner gegebenen Antwort je zufriedengeben wird. Denn als Erstes gilt es laut Lefort unbedingt, alle Formen sozialer Erstarrung zu vermeiden und die Kritik an der Demokratie sowie ihre Weiterent‐ wicklung stets als Möglichkeit offenzuhalten. Daher lehnt die radikale Demokratie alle essenzialistischen Vorstellungen von → Volk, Nation oder Bürger*in als freiheitsgefährdend ab. Das unterscheidet sie wesent‐ lich von konkurrierenden Demokratie- und Politikverständnissen, wie dem Liberalismus (siehe die Frage zur liberalen Demokratietheorie), die auf die Legitimation, die Festigung und den Erhalt etablierter Ordnungen abheben. Die radikale Demokratietheorie begreift sich also als eine bewusst konfrontative und kritische Herausforderung der dominanten liberal-demokratischen Praxis. Sie geht davon aus, dass demokratische Ordnungen nicht einfach schon aufgrund ihrer Existenz, ihrer Selbstbe‐ zeichnung und ihres Selbstverständnisses als (gelungene) demokratische Ordnungen zu akzeptieren sind. Vielmehr gelte es, darauf zu achten, dass und wie Demokratien in einer kontingenten politischen Praxis etabliert, institutionalisiert und gegenüber Wandel und Transformation offen oder geschlossen gehalten werden. Dabei sind es in der modernen Demokratie die Grundprinzipien der → Freiheit und → Gleichheit, auf die sich jede politische Theorie und Praxis ernsthaft und in einer emanzipatorischen Absicht beziehen muss, wenn sie aus der Perspektive der Radikaldemokratie wirklich demokratisch sein soll. Wie gewichtet die Radikaldemokratie das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit? Der von der Radikaldemokratie als Grundbedingung geforderte Bezug auf die Prinzipien der Gleichheit und Freiheit klingt zunächst banaler, als er (in der Theorie wie in der Praxis) ist. Denn die beiden Grundprin‐ zipien sind nicht so ohne weiteres und schon gar nicht widerspruchsfrei Demokratie? Frag doch einfach! 78 <?page no="79"?> miteinander zu versöhnen. Vielmehr widersprechen sie sich sogar, zumindest dann, wenn man das individuelle Freiheitsverständnis des Liberalismus zugrunde legt. Dann geht nämlich jedes Mehr an öko‐ nomischer, politischer und sozialer → Gleichheit immer zu Lasten der individuellen → Freiheit und umgekehrt. Diesen Widerspruch nun aber nicht (zu einer Seite hin) aufzulösen, etwa zugunsten des demokratischen Prinzips der Gleichheit, sondern mit der von Chantal Mouffe als demokratisches Paradox bezeichneten Grundbedingung demokratiefördernd und -vertiefend umzugehen, ist der theoretische und praktische Anspruch der Radikaldemokratie. Dieser erhält dann notwendig einen kritischen Impetus, wo er an die Bewertung beste‐ hender politischer Systeme, Institutionen und gesellschaftlicher Ord‐ nungen herangetragen wird, die sich als demokratisch verstehen. Hinter dieser kritischen Grundhaltung und Stoßrichtung steht eben die Annahme, dass der Prozess der Demokratisierung niemals voll‐ ständig abgeschlossen sein wird und man folglich niemals dauerhaft mit den aktuellen Errungenschaften zufrieden sein darf. Vielmehr gelte es, die Demokratie als ein prinzipiell nicht abzuschließendes emanzipatorisches Projekt zu begreifen, das im Kern einmal aus der defensiven Stoßrichtung gegen alle Versuche eines Rückbaus histo‐ rischer demokratischer Errungenschaften und zum anderen aus der progressiven Stoßrichtung einer immer weiteren Demokratisierung der Demokratie besteht. Dies kann sowohl die Ausweitung demokra‐ tischer Prinzipien auf bisher noch nicht (hinreichend) demokratisierte gesellschaftliche und private Sphären sein, wie zum Beispiel den Arbeitsplatz, die Bürokratie, die Familie oder Intimbeziehungen, als auch eine Vertiefung oder Radikalisierung bereits bestehender politi‐ scher Praktiken bezeichnen. Bei allen Unterschieden im Detail geht es den Radikaldemokrat*innen also um intensivere und weiterreichende Praktiken demokratischer Selbstregierung. In diesem Sinne meint Demokratie dann vor allem eine Lebensform, in der prinzipiell alle über alles verfügen sollen, was sie als Gemeinschaft betrifft und zwar unter Einhaltung größtmöglicher Transparenz. Da die Demokratie diesem Verständnis nach auf keinem Fundament aufruht, muss und kann sie sich nur in der politischen und demokratischen Praxis selbst immer wieder neu hervorbringen. Daher ist der permanente demokratische Theorien und Modelle der Demokratie 79 <?page no="80"?> Streit um die Deutungshoheit über die temporär gültige Definition der demokratischen Werte, Institutionen und Praktiken der Kern des radikalen Demokratieverständnisses und macht für dieses das Wesen der Demokratie aus. Literaturtipp | Mehr über radikaldemokratische Theorien bietet folgendes Handbuch mit Artikeln zu zentralen Begriffen und ideen‐ geschichtlichen Vorläufern. Daneben sind Porträts einflussreicher Vertreter*innen, u. a. Miguel Abensour, Etienne Balibar, Wendy Brown, Judith Butler, Ernesto Laclau, Jacques Rancière und Iris Marion Young enthalten: Comtesse, D.; Flügel-Martinsen, O.; Mar‐ tinsen, F.; Nonhoff, M. (Hrsg.): Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch, Suhrkamp 2019. Siehe außerdem auch Flügel-Martin‐ sen, O.: Radikale Demokratietheorien zur Einführung, Junius 2020. Was ist die feministische Demokratietheorie? Obwohl in modernen demokratischen Gesellschaften allen Bür‐ ger*innen formal gleiche Rechte zugesprochen werden, bestehen bis heute Unterschiede zwischen Männern und Frauen mit Blick auf die politische → Partizipation, die → Repräsentation, aber vor allem auch den sozioökonomischen Status fort. Frauen sind weniger präsent in Politik und Wirtschaft, und wo sie erwerbstätig sind, verdienen sie trotz gleicher oder besserer Qualifikation und Tätigkeit weniger als Männer. Diese Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen, ihre Ursachen zu erforschen, sie zu kritisieren und vor allem sie zu überwinden ist das gemeinsame Ziel feministischer Demokratietheorien. Jedoch unterscheiden sie sich bei der Frage nach den dazu geeigneten Mitteln. Im politischen Alltag ist oft von Gleichberechtigung die Rede, wo es um Feminismus geht, womit vor allem auf die faktische vollumfängliche Verwirklichung bereits existierender Rechte gezielt wird. Dieses Ziel wird auch von bürger‐ lichen feministischen Theorien und Bewegungen verfolgt, die von Demokratie? Frag doch einfach! 80 <?page no="81"?> der Grundannahme der prinzipiellen → Gleichheit von Männern und Frauen unter der Kategorie der Staatsbürger*innenschaft aus‐ gehen. In diesem Fall spricht man in der Forschung und in feminis‐ tischen Kontexten von Gleichheitsfeminismus. Demgegenüber positionieren sich Vertreter*innen eines Differenzfeminismus kritisch, insofern sie von fundamentalen Unterschieden zwischen weiblichen und männlichen Lebensrealitäten und Erfahrungen ausgehen, etwa aufgrund der systematischen Ungleichbehandlung, und diese Unterschiede entsprechend in der Theorie und Praxis der Demokratie berücksichtigt wissen wollen. Hier ist dann das Mittel zur Erreichung der Emanzipation mitunter eine gezielte Un‐ gleichbehandlung von Männern und Frauen, etwa über spezifische Repräsentationsformen, Quoten oder Vetorechte für Frauen. Die feministische Demokratietheorie ist damit nicht einfach eine neben vielen um Gültigkeit und Einfluss ringenden Theorien der Demokratie. Vielmehr muss sie als unbedingt notwendiges kritisches Korrektiv der gegenwärtigen demokratischen Praxis angesichts der systematischen Unterdrückung von vor allem, je‐ doch nicht allein, Frauen angesehen werden, woran auch manche Demokratietheorien ihren Anteil haben. Was ist die geteilte Grundannahme feministischer Demokratietheorien? Bei allen Unterschieden und Differenzen im Einzelnen sind sich feministischen Theorien weitestgehend darüber einig, dass die mo‐ dernen und liberal-demokratischen Gesellschaften immer schon von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten durchzogen waren, die zudem nicht zufällig, sondern von systematischer Bedeutung sind. De facto waren es nämlich auch nach der demokratischen Revolution im 18. Jahrhundert vor allem die → Gleichheit und → Freiheit der Männer, die sich Geltung verschaffen konnten und das unter der Voraussetzung der Exklusion von Nicht-Männern und Nicht-Weißen. Aus feministischer Perspektive leiden daran nicht nur die Ausgeschlos‐ senen, Marginalisierten und Unterdrückten selbst, sondern letztlich die Theorien und Modelle der Demokratie 81 <?page no="82"?> Gesellschaft als Ganze. Daher braucht es sowohl einen kritisch feminis‐ tischen Blick auf die Geschichte der Demokratie und ihrer Theorien als auch eine Neubewertung der demokratischen Prinzipien und Verfahren sowie deren Ausweitung auf möglichst viele gesellschaftliche Bereiche, um die Gleichheit der Geschlechter endlich zu verwirklichen. Das bedeutet, dass feministische Demokratietheorien nicht nur im Feld der Politik intervenieren, sondern auch im Bereich des Arbeitslebens, der Familie und Intimbeziehungen. In all diesen Dimensionen bedarf es einer Sichtbarmachung systematischer Ungleichbehandlungen und Unterdrückungsmechanismen sowie der Aufdeckung der diese legiti‐ mierenden Diskurse, um einer wirklichen Demokratisierung den Weg bereiten zu können. Wo haben feministische Demokratietheorien ihren Ursprung? Die feministische Demokratietheorie hatte von Anbeginn an einen starken Praxisbezug und leitet bis heute soziale und politische Kämpfe und Protestbewegungen an. Zeitgleich und mitunter auch gemeinsam kämpfen feministische, antikoloniale und sozialistische Bewegungen seit dem 18. Jahrhundert gegen die „halbierte“ Aufklärung, die stets hauptsächlich für Männer galt und dadurch mit den Frauen die Mehr‐ heit der Menschen um die Versprechen der Aufklärung betrog. In ihren Ursprüngen geht die feministische Bewegung damit auf die Zeit der demokratischen Revolution zurück. Die englische Autorin und Pädagogin Mary Wollstonecraft (1759-1797) etwa stellte 1792 in ihrem Buch „Verteidigung der Rechte der Frau“ ganz der Tradition der Aufklärung verpflichtet die Forderung auf, Frauen im Namen der Vernunft die gleichen Rechte und die gleiche Erziehung wie den Männern zuteilwerden zu lassen. Sie forderte konkret das Wahlrecht für Frauen, deren angemessene → Repräsentation in den Parlamenten und die freie Berufswahl, um den Frauen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Die häusliche Unterdrückung und Erziehung der Frauen bezeichnete sie als Tyrannei und die ökonomische Abhängigkeit von den Ehemännern als legalisierte Prostitution. Sie hat maßgeblichen Einfluss auf die Frauenbewegung genommen, zumal sie bereits in Demokratie? Frag doch einfach! 82 <?page no="83"?> Ansätzen vorwegnahm, was heute selbstverständlich scheint: Die Idee von Weiblichkeit als einem sozialen und politischen Konstrukt und damit verbunden die Infragestellung vermeintlich natürlicher Un‐ terschiede zwischen den Geschlechtern als Rechtfertigung für die wirt‐ schaftliche, politische und soziale Ungleichbehandlung. Sie entlarvte als eine der Ersten das demokratische Versprechen der → Freiheit und → Gleichheit als androzentrisch, sprich als ein exklusiv männliches Versprechen, für dessen Einlösung feministische Bewegungen und Akteur*innen bis heute kämpfen. Bereits ein Jahr zuvor veröffentlichte die französische Autorin und Re‐ volutionärin Olympe de Gouges (1748-1793) die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ als Reaktion auf die bürgerliche Verfassung in Frankreich. De Gouges kritisierte darin, dass die Rechte der Menschen und Bürger nach wie vor nicht nur rhetorisch die der Männer sind ( hommes bedeutet im Französischen sowohl Menschen als auch Männer), sondern dass auch nach der Revolution die Frauen faktisch immer noch in die Sphäre des Haushalts gesperrt werden und der öffentliche Raum weiterhin den Männern vorbehalten bleibt. Dagegen forderte sie mit ihrem berühmten Ausspruch „Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Mann gleich an Rechten“ die politische Teilhabe und den Zugang zu öffentlichen Ämtern für Frauen sowie gemeinsames Eigentum von Eheleuten, gleiches Wahlrecht und gleiche Bildung für Frauen, wofür sie von Robespierre 1793 auf der Guillotine hingerichtet wurde. Wie entwickelten sich die feministischen Theorien weiter? Ab dem 19. Jahrhundert entstanden neben der bürgerlichen und republi‐ kanischen auch die proletarische und sozialistische Frauenbewegung, die vor allem volle politische Mitspracherechte und ökonomische Gleichberechtigung forderten. Die Ungleichbehandlung der Geschlech‐ ter wurde in diesen Bewegungen als eine Variante des Klassenkonflikts im Kapitalismus interpretiert und kritisiert und damit zur Grundlage für den feministischen Kampf für die Rechte der Proleta‐ rier*innen gemacht. Hier rückt vor allem die Demokratie in ihrer Verbindung mit der kapitalistischen Wirtschaftsform in den Fokus. Denn sowohl die liberale Trennung von öffentlichem und privatem Theorien und Modelle der Demokratie 83 <?page no="84"?> Leben als auch die kapitalistische Produktionsweise sind auf die von Frauen verrichtete und meist unbezahlte Care-Arbeit für ihr Funktio‐ nieren fundamental angewiesen und haben daher, so die Kritik, gar kein Interesse an der Überwindung der patriarchalen Verhältnisse und der Geschlechtertrennung. Die sozialistische Politikerin und Frauenrecht‐ lerin Clara Zetkin (1857-1933) zum Beispiel verstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Emanzipation als Teil der großen sozialen Frage, die sich nicht einfach durch einen Einschluss der Frauen in die formale Rechtegemeinschaft beantworten ließ, sondern die ganz grundlegend bei der kapitalistischen Organisation der Gesellschaft und Wirtschaft anzusetzen und diese zu überwinden hatte. Ungefähr zur gleichen Zeit forderte die Politikerin und Arbeiter*innenvertrete‐ rin Rosa Luxemburg (1871-1919) vollwertige Arbeitsmöglichkeiten, ökonomische → Freiheit und das Stimmrecht für Frauen. Auch für sie bedeutete die Emanzipation der Frau wie des gesamten Menschen‐ geschlechts die Emanzipation der Arbeit vom Kapital. Luxemburg war der Überzeugung, dass den Frauen deswegen das Wahlrecht vorenthalten blieb, weil der bürgerliche Staat die Abschaffung der Klas‐ senherrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat fürchtete. Und das zu Recht, wie sie hinzufügte. Wegen ihres revolutionären Engagements wurde sie von bürgerlichen wie reaktionären Kräften gefürchtet und 1919 von Faschisten ermordet. Mit der sozialistischen Frauenbewegung rückte die Frage nach der Rolle des Staates ins Zentrum feministischer Debatten um die Demokratie. Während die bürgerliche Frauenbewe‐ gung an der rechtlichen Gleichstellung der Frau sowie der prinzipiellen Aufteilung der Bereiche der Öffentlichkeit und des Privatlebens fest‐ hielt, machten Feminist*innen in der sozialistischen Tradition fortan darauf aufmerksam, dass der Staat nicht als geschlechtsneutrale In‐ stanz missverstanden werden dürfe. Gerade die staatlich geschützten Institutionen der Ehe und Familie würden nämlich das Denken des liberalen Besitzindividualismus auf den Körper der Frau anwenden und diesen der männlichen Kontrolle unterwerfen, weswegen die bürgerliche Kleinfamilie als Ursprung der Reproduktion faktischer Geschlechterungleichheit überwunden werden muss. Demokratie? Frag doch einfach! 84 <?page no="85"?> Wie liest die feministische Theorie die Geschichte der Demokratie? Der feministische Blick auf die Geschichte der modernen Demokratie offenbart, inwiefern den Männern von Anbeginn an die Sphäre der Öffentlichkeit, des Staates, der Rechtsprechung der Ökonomie, der Bildung und der Erwerbsarbeit vorbehalten war, während Frauen die Aufgabe der Reproduktion und der unbezahlten Care-Arbeit, also der Aufzucht und Erziehung des Nachwuchses oder der Pflege von Familienmitgliedern, und damit der Platz im Haushalt zugewiesen wurde. Die Politikwissenschaftlerin Carole Pateman (*1940) hat Ende der 1980er Jahre in „Der Geschlechtervertrag“, einem der Schlüssel‐ texte der feministischen Demokratietheorie, herausgearbeitet, dass die Idee von Staat und Staatsbürger*innenschaft in der Moderne immer schon auf einem Unterwerfungsvertrag der Männer über die Frauen aufruhte. Damit entlarvte sie die Idee des Gesellschaftsvertrags von Hobbes, Locke und Rousseau als Mythos, insofern die Gemeinschaft der Vertragsschließenden stets die exklusive Angelegenheit der Männer war und auf dem systematischen Ausschluss der Frauen aus der Sphäre der Politik aufbaute. Entgegen der allgemeinen Erzählung, dass Hobbes mit dem antiken Politikverständnis gebrochen und das Tor zur Moderne aufgestoßen habe, wies Pateman auf die Kontinuität bezüglich des Ausschlusses der Frauen seit der Antike hin. Auch in der bürgerlichen Moderne wurde Frauen die Fähigkeit zur Politik und zur Demokratie nicht nur abgesprochen, sie war geradezu Bedingung dafür, dass Männer sich als Freie und Gleiche entfalten konnten, während Frauen ihnen alle Hindernisse vom Hals schafften. Vor allem die für moderne liberale Gesellschaften charakteristische Trennung der Bereiche der Öffentlichkeit und des Privaten stützte diese Ausschlüsse und schützte auch die damit einhergehenden patriarchalen Gewalt‐ verhältnisse. Vergewaltigung in der Ehe etwa wurde in Deutschland erst 1997 zum Straftatbestand und das gegen damals 138 Stimmen von Bundestagsabgeordneten aus CDU, CSU und FDP, darunter Horst Seehofer, Volker Kauder und Friedrich Merz. Dem gingen Jahrhunderte feministischer Kämpfe voraus, die stets auf harte Widerstände der männlich dominierten Politik und Öffentlichkeit prallten. Zuvor galt es stets als Privatsache, was Männer zu Hause ihren Frauen antaten und Theorien und Modelle der Demokratie 85 <?page no="86"?> dieses Privileg gaben viele Männer in politischen und ökonomischen Machtpositionen, aber auch einfache Bürger nur widerwillig und nicht freiwillig auf. Welches sind mögliche Strategien und Mittel zur Überwindung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern? Die Frage nach den angemessenen Strategien und Mitteln zur Überwindung der Unterdrückung der Frau unterscheidet feminis‐ tische Kämpfe um die Demokratie sowie die sie begleitenden Demokratietheorien nach Gleichheits- und Differenzfeminismen. In ihrem Klassiker der feministischen Literatur „Das andere Ge‐ schlecht“ von 1949 entwickelte etwa die französische Autorin Simone de Beauvoir (1908-1986) die These, dass auch Politik und Gesellschaft insofern ein Geschlecht haben, als in ihnen geschlechtlich codierte Machteffekte auf die Sozialisation von Frauen und Männern einwirken. De Beauvoir prägte den berühm‐ ten Ausspruch, wonach Frau nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht wird und dass das Weiblich-Sein vom Blick der Männer aus als defizitäre Abweichung von der männlichen Norm bestimmt und den Frauen entsprechend so anerzogen wird. Als Vertreterin des Gleichheitsfeminismus gab es für sie keinen Grund, Unterschiede zwischen Männern und Frauen als etwas anderes als sozial konstruiert anzusehen. Demgegenüber geht der Differenzfeminismus von der Verschiedenheit der Geschlechter aus, wobei diese von manchen als biologisch, von anderen als kulturell, historisch und sozial bedingt angesehen werden. In den meisten Fällen wird vor allem auf die faktischen Unterschiede in den Erfahrungen im Alltag und den Lebensrealitäten von Frauen abgehoben. Auf jeden Fall macht das Frau-Sein für Vertreter*innen des Differenzfeminismus einen Unterschied aus, der in Politik und Gesellschaft entsprechend berücksichtigt werden muss. Die afroamerikanische Aktivistin Angela Davis (*1944) machte in die‐ ser Tradition stehend darauf aufmerksam, dass unterschiedliche Erfahrungen unterschiedlicher Repräsentationen, Artikulationen und Strategien für den politischen Kampf bedürfen und dabei auch Demokratie? Frag doch einfach! 86 <?page no="87"?> die unterschiedlichen Unterdrückungsmechanismen entlang der Kategorien Race, Class und Gender zu berücksichtigen seien. Sie forderte daher die Verbindung von antirassistischen und anti‐ kapitalistischen Kämpfen mit der feministischen Bewegung. Die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw (*1959) prägte für die Überschneidung verschiedener Diskriminierungskategorien, die zu jeweils ganz unterschiedlichen Diskriminierungserfahrun‐ gen führen, den heute in der Forschung geläufigen Begriff der Intersektionalität. Damit trug sie ein maßgebliches begriffliches und theoretisches Instrumentarium zu den gegenwärtig vor al‐ lem im US-amerikanischen Kontext stark diskutierten gruppenbe‐ zogenen Identitätspolitiken bei, mittels derer aufgrund ihrer spezifischen Diskriminierungserfahrung zusammengeschlossene gesellschaftliche Gruppen für ihre jeweilige politische, soziale und juristische Besserstellung kämpfen. Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young (1949-2006) wies in diesem Zusammenhang und als Vertreterin des Differenzfeminis‐ mus Anfang der 1990er Jahre darauf hin, dass das Festhalten am Prinzip der Gleichbehandlung der Frauen reale Unterdrückungen marginalisierter Gruppen durch privilegierte Gruppen ausblende, weswegen sie die Idee eines universalen und für alle gleich geltenden Rechts als Mythos kritisierte und dagegen die Idee von spezifischen und exklusiven Sonder- und Vetorechten für unterdrückte Minderheiten sowie gesonderte Repräsentations‐ formen für diese Gruppen befürwortete. Welche Rolle spielt das Konzept des Geschlechts in der feministischen Demokratietheorie? Seit den 1970er Jahren wurde innerhalb der feministischen Bewegungen das körperliche Selbstbestimmungsrecht, etwa im Fall von Abtreibung oder physischer Gewalt gegen Frauen, zur zentralen Forderung feminis‐ tischer Bewegungen. „My body, my choice“ lautete der Slogan, der auch ganz grundsätzlich Geschlechterkonstruktionen als kulturelle, soziale und politische Institutionen der hierarchischen Festlegung auf eines von nur zwei gültigen Geschlechtern ins Zentrum der feministischen Theorien und Modelle der Demokratie 87 <?page no="88"?> Demokratiekritik rückte. Hier wurde das Werk der amerikanischen Politikwissenschaftlerin und Feministin Judith Butler zentral für die feministische Theoriebildung. Butler thematisiert Körper als Objekte und Subjekte biopolitischer Zurichtung und weist die Norm binärer Zweige‐ schlechtlichkeit und die Institution der Heterosexualität als die Sicherung männlicher Dominanz- und Machtverhältnisse zurück. Geschlecht ist für Butler nichts, was man hat, sondern etwas, das man tut und zwar in der Erfüllung von Rollenerwartungen und Normen oder aber im bewussten Verstoß dagegen. Butler radikalisierte die Erkenntnisse der frühen Frau‐ enbewegungen dahingehend, dass sie nicht nur das soziale Geschlecht (gender) sondern auch das biologische Geschlecht (sex) als soziale Konstruktion begreift und so jede Vorstellung von vermeintlicher Natürlichkeit als Grundlage der Zuschreibung von Geschlechterunter‐ schieden den Boden entzog. Daran knüpft sie die Forderung, kämpferisch gegen Rollenerwartungen vorzugehen und spielerisch mit ihnen umzu‐ gehen, um so einer Vielgeschlechtlichkeit sowie herrschaftsfreien Verhältnissen und einer emanzipierteren Gesellschaft den Weg zu ebnen. Die Philosophin Kate Manne hat jüngst die gesellschaftliche Funktion männlicher Gewalt in Paarbeziehungen herausgearbeitet. Mittels Sexis‐ mus, so Manne, werden patriarchale Verhältnisse als quasi-natürlich dargestellt und somit der Versuch unternommen, diese der Kritik und der politischen Veränderbarkeit zu entziehen. Die misogyne Gewalt gegen Frauen wiederum dient der männlichen Disziplinierung all jener Frauen, die gegen die patriarchalen Herrschaftsverhältnisse aufbegehren. Auch deswegen beschränkt sich zum Beispiel der queere Feminismus nicht einfach auf die Einforderung gleicher Rechte, sondern lehnt die dem zugrundeliegende binäre Geschlechterordnung ab beziehungsweise die damit verbundenen macht- und gewaltvollen Zuordnungen und Zwänge zu einer vermeintlich eindeutigen Positionierung. Mit Hilfe der Erkennt‐ nisse der Genderforschung wird darauf hingearbeitet, die Tatsache im allgemeinen Bewusstsein zu verankern, dass Geschlechtsmerkmale prinzipiell veränderbar und damit politisch herausforderbar sind, vor allem wo sie der Legitimierung und Zementierung ungleicher Macht- und Unterdrückungsverhältnisse dienen. In den letzten Jahren wurde neben der sexuellen Selbstbestimmung und dem Kampf gegen patriarchale Übergriffe auf den weiblichen Körper Demokratie? Frag doch einfach! 88 <?page no="89"?> dann vor allem die Gestaltung der Arbeitswelt zur zentralen Frage der feministischen Demokratietheorien, wobei hier längst nicht mehr nur auf den Bereich der Erwerbsarbeit fokussiert wird. Die Trennung zwischen produktiver Erwerbsarbeit und vermeintlich unproduktiver Sorgearbeit wird zunehmend als undemokratisch kritisiert und daran anschließend die Aufwertung und Anerkennung von Care-Arbeit als der klassischen Erwerbsarbeit gleichwertig gefordert. Demokratisie‐ rung meint dann die Überwindung dieser Trennungen mit dem Ziel eines emanzipierten Lebens und Arbeitens jenseits geschlechtlicher Zuschreibungen. Aus feministischer Perspektive bedeutet Demokratie daher heute mehr als „nur“ den Einschluss von Frauen in die bestehen‐ den Institutionen, sondern immer auch eine Form der Organisation des Arbeitens und Lebens zu erfinden und zu erkämpfen, welche die konkreten Lebensformen und Erfahrungen von Frauen gleichberechtigt zur Geltung bringen und die systematische Unterdrückung der Frau beenden kann. Literaturtipp | Wer mehr über die feministische Demokratiethe‐ orie erfahren möchte, kann in die folgenden drei Titel schauen: Holland-Cunz, B.: Feministische Demokratietheorie. Thesen zu einem Projekt, Opladen 1998; Karsch, M.: Feminismus. Geschichte, Positionen, Bundeszentrale für politische Bildung 2016 und Pate‐ man, C.; Gross, E. (Hrsg.): Feminist Challenges. Social and Political Theory, Routledge 2013. Was ist die postkoloniale Demokratietheorie? Postkoloniale Theorien sind im engen Sinn keine Demokratietheo‐ rien. Vielmehr befassen sie sich mit den Bedingungen und Effekten der sozialen, politischen und ökonomischen Gegebenheiten und Her‐ ausforderungen ehemaliger Kolonien z. B. in Afrika, den Amerikas und Asien sowie den Einflüssen kolonialer Denkweisen auf die Identität der Menschen in und außerhalb von Staaten mit kolonia‐ Theorien und Modelle der Demokratie 89 <?page no="90"?> ler Vergangenheit. Postkolonialismus muss also als Sammelbegriff verstanden werden, der kolonialismuskritische Theorien und Posi‐ tionen in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften bündelt. Diese Ansätze eint, dass sie essenzialistische Annahmen über die Vorbild- und Modellfunktion der Entwicklung der europäischen Geschichte, Kultur, Politik und Gesellschaften als eurozentristisch kritisieren. Hier kommt dann fast schon zwangsläufig die Demokratie ins Spiel, insofern die nationalstaatlichen Demokratien des Westens als ehemalige Kolonialmächte maßgeblich für die Situation der Post‐ kolonien verantwortlich sind. Zudem hatten und haben neben den konkreten Herrschaftspraktiken in Geschichte und Gegenwart auch die Theorien und Ideen der westlichen Demokratie sowohl auf die koloniale Praxis, als auch auf die antikolonialen Befreiungskämpfe und die Identitäten der ehemals Kolonisierten einen großen Einfluss. Deswegen meint die Vorsilbe „post“ auch nicht, dass es um abge‐ schlossene historische Phänomene, sondern im Gegenteil um die langfristigen Auswirkungen des Kolonialismus geht. Postkolo‐ niale Theorien befassen sich daher kritisch mit der Rekonstruktion kolonialer Herrschaft und mit deren Konsequenzen sowie mit der Analyse antikolonialer Widerstandsbewegungen. Zu den prominen‐ testen Vertreter*innen postkolonialer Theoriebildung gehören Frantz Fanon (1925-1961), Edward Said (1935-2003), Stuart Hall (1932-2014), Gayatri Chakravorty Spivak (*1942), Dipesh Chakrabarty (*1948), Homi K. Bhabha (*1949), bell hooks (*1952) und Achille Mbembe (*1957). Diese Autor*innen und Denker*innen nehmen auf den unter‐ schiedlichsten wissenschaftlichen Feldern, etwa der Literaturwissen‐ schaft, der Anthropologie, der Philosophie, der Geschichtsschreibung und der Soziologie, sowohl strukturelle Probleme wie Korruption, Armut und den Mangel an Rechtsstaatlichkeit in den ehemals kolo‐ nisierten Ländern in den Blick, als auch Fragen der Subjektivität unter der Bedingung eurozentristischer und rassistischer Perspektiven auf Menschen in ehemaligen Kolonien. Umstritten ist dabei schon der Begriff des Postkolonialismus, insofern er ja unter der Hand erneut die Perspektive der Kolonialmächte zum zentralen Angelpunkt für den Blick auf die ehemaligen Kolonien macht, anstatt dass sich die Demokratie? Frag doch einfach! 90 <?page no="91"?> Forschungen über die Eigenarten und Besonderheiten der betreffen‐ den Länder und Regionen auch begrifflich von den Kolonialmächten emanzipieren würden. Gleichzeitig ist es aber eben der europäische Kolonialismus gewesen, dessen gewaltvolle Herrschaftspraktiken und diese stützende Theorien die Welt ab dem 16. Jahrhundert in enger Verbindung mit der Entstehung der Nationalstaaten und dem globalen Kapitalismus maßgeblich geprägt haben und dies auch bis heute tun beziehungsweise es zu tun beanspruchen. So scheint der Begriff der Postkolonialen Theorien dennoch geeignet, um genau diese Effekte kritisch in den Blick zu nehmen. Literatur- und Linktipp | Dem Thema Postkolonialität und De‐ mokratie widmet die Zeitschrift für Politische Theorie ein ganzes Heft: Ehrmann, J. (Hrsg.): Themenschwerpunkt Postkolonialität und die Krise der Demokratie. Zeitschrift für Politische Theorie 2/ 2021. Dass bell hooks oben klein geschrieben wurde, ist kein Recht‐ schreibfehler, sondern das Pseudonym der US-amerikanischen Li‐ teraturwissenschaftlerin Gloria Watkins. Sie gilt als Verfechterin feministischer und antirassistischer Ansätze. Ihr Pseudonym ist der Name ihrer indigenen Großmutter, den sie in Kleinschreibung publiziert. Auf YouTube finden sich einige Videos mit ihr zu ver‐ schiedenen Themen. Was sind die Betätigungsfelder postkolonialer Interventionen? Postkoloniale Theorien sind in erster Linie kritische Theorien und ähneln in ihrem emanzipatorischen Anspruch der Sichtbarmachung und Überwindung von Ungerechtigkeiten und Gewaltverhältnissen den radikaldemokratischen und feministischen Demokratietheorien. Als ein Hauptangriffspunkt postkolonialer Theorien kann neben den andauernden kolonialen Herrschaftspraktiken der internationalen Staatengemeinschaft der hegemoniale kulturelle und wissenschaftli‐ Theorien und Modelle der Demokratie 91 <?page no="92"?> che Kanon des Westens und seiner vielen wissenschaftlichen Teil‐ disziplinen angesehen werden. Die europäische Perspektive wurde schließlich unter massivem Einsatz von Gewalt zum allgemeingülti‐ gen Blick auf die Welt und ihre Geschichte gemacht, ja zu ihrer Wahrheit erhoben. Postkoloniale Theorien arbeiten heraus, wie als Re‐ sultat dieser behaupteten Vorbildfunktion der europäischen Geschichte Schwarze Menschen, Indigene und people of color als minderwertig konstruiert wurden und bis heute unter diesen Fremdzuschreibungen leiden. Frantz Fanon thematisierte 1952 in seinem Buch "Schwarze Haut, weiße Masken", wie diese koloniale Form der Subjektivierung dazu führt, dass "die Verdammten dieser Erde" (so der Titel eines weiteren Buchs Fanons von 1961) sich als defizitär gegenüber den als überlegen konstruierten Weißen begreifen und daher keine posi‐ tive und selbstbestimmte Identität ausbilden können. Postkoloniale Interventionen in Theorie und Praxis setzen daher zum Beispiel an den Universitäten an, wo sie sich um die Erweiterung oder Neubestü‐ ckung von Seminarplänen und Literaturlisten mit Autor*innen aus den ehemaligen Kolonien bemühen, um marginalisierten oder schlicht überhörten Stimmen Gehör zu verschaffen und so einen Beitrag zur Herausbildung eigener Identitäten zu leisten. Sie reichen zudem von konkreter Communityarbeit und Bildungsprojekten über Initiativen zur Umbenennung öffentlicher Plätze und Straßen und der Entfernung kolonialer Denkmäler aus dem öffentlichen Raum bis hin zu konkreten Forderungen nach juristischen und finanziellen Entschädigungen für erlittenes Unrecht, Gewalt und wirtschaftliche Ausbeutung an die Regierungen der ehemaligen Kolonialmächte. Oft scheitert das schon an deren mangelnder Bereitschaft, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und Verantwortung für historische Verbrechen zu übernehmen. Auch in Deutschland ist zum Beispiel vielen Menschen nicht bewusst, dass sie als deutsche Staatsbürger*innen die Erben einer Kolonialmacht sind und ihnen damit eine historische Verantwortung zukommt. Deutsche Kaufmannsfamilien wie die Welser und die Fugger waren tief in den grausamen Menschenhandel verstrickt und deutsches Leinen war als Tauschware und zur Herstellung der Arbeitskleidung ein maßgeblicher Faktor im transatlantischen Sklavenhandel. Noch Ende des 19. Jahrhunderts haben Deutsche Sklaven gegen Waffen Demokratie? Frag doch einfach! 92 <?page no="93"?> eingetauscht und diese in den damaligen Kolonien Kamerun und Togo eingesetzt und das mit dem Wissen und der Billigung des Auswärtigen Amtes. Auch die Forderungen nach Entschädigung der Nachfahren der Opfer des deutschen Völkermordes an den Herero und Nama im heutigen Namibia, der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, schaffen es zwar regelmäßig in die deutschen Medien, die angemessene kollektive Unterstützung sowie politische und juristische Anerken‐ nung der eigenen Verantwortung bleibt jedoch bis heute größtenteils aus. Was ist das übergeordnete Ziel postkolonialer Demokratietheorien? Postkolonialen Demokratietheorien geht es darum, dass die Menschen, über die bisher immer nur aus einer spezifisch westlichen, oft paterna‐ listischen und rassistischen Perspektive gesprochen wurde, selber das Wort ergreifen und autonom und auf Basis ihrer ganz spezifischen Erfahrungen ihre eigene Geschichte und Identität ausbilden. Sie wollen ein vollständiges und angemessenes Bild von den realen Lebensbedin‐ gungen, Selbstverständnissen, Ansprüchen und Bedürfnissen in den ehemals kolonisierten wie auch den ehemals kolonisierenden Ländern der Welt zeichnen. Somit ergibt sich nicht nur ein neuer Blick auf die Geschichte der ehemaligen Kolonialstaaten, oder eben eine ganz neue, eigene Geschichte, sondern auch auf die bis heute andauernden Politiken der Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Ausbeutung und des Rassismus seitens der Kolonialmächte und gegenwärtigen Demokra‐ tien. Wie diese unter dem Deckmantel der Demokratisierung und Modernisierung der Welt legitimiert oder gar verborgen werden, arbei‐ ten postkoloniale Theorien heraus. So sollen die ehemaligen Objekte der europäischen Kolonialpolitik in den Status von Subjekten erhoben werden beziehungsweise diese sich selbst dazu ermächtigen, ihre eigene Stimme zu finden, um zu selbstbestimmten Akteur*innen ihres Schicksals zu werden. Dafür werden die unterschiedlichsten Felder und Themen auch der Demokratietheorie bearbeitet. Hierzu zählen etwa Fragen der → Freiheit und → Gleichheit, der → Repräsentation, der Souveränität, des Widerstands und der Institutionen. Auch die Theorien und Modelle der Demokratie 93 <?page no="94"?> Bedeutung der europäischen Philosophie von Aristoteles über Locke zu Kant und Hegel für das rassistische Projekt des Kolonialismus werden von postkolonialen Theorien thematisiert. Die Demokratie stellt für postkoloniale Perspektiven dann vor allem die Reflexionsfolie dar, auf der kritische Interventionen stattfinden können, um die wirtschaftli‐ chen und politischen Verflechtungen von Rassismus, Sklavenhandel, Kapitalismus, Liberalismus und Demokratie herauszustellen und in ihrem Fortleben und Weiterwirken zu erfassen. Wie hängen Rassismus, Kolonialismus und Demokratie zusammen? Mittels postkolonialer Theoriebildung ist es möglich zu zeigen, dass und inwiefern Rassismus und Kolonialismus bis heute tief in das demokratische Selbstverständnis europäischer Gesellschaften einge‐ schrieben sind. So befasst sich etwa der aus der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun stammende Politiktheoretiker und Historiker Achille Mbembe (*1957) mit den Langzeiteffekten des europäischen Kolonia‐ lismus in Afrika und Europa und der Bedeutung der Demokratie in die‐ sen Zusammenhängen. Mbembe arbeitete heraus, dass der Rassismus allen politischen Praktiken der Demokratien bis heute fundamental zugrunde liegt und nicht etwa „nur“ eine beklagenswerte Begleiter‐ scheinung längst vergangener Zeiten ist. Im Anschluss an die Theorien Frantz Fanons versteht er Rassismus, Kolonialismus, Sklavenhandel, Kapitalismus und die moderne Demokratie nicht nur historisch, son‐ dern bis in die Gegenwart hinein aufs engste systematisch miteinander verknüpft, was er an den europäischen Politiken der systematischen Ausgrenzung von Migrant*innen und Geflüchteten veranschaulicht. Genau wie zu Zeiten des Kolonialismus zielt die gegenwärtige demo‐ kratische Praxis demnach auf die Ausbeutung, den Ausschluss oder die Vernichtung von Menschenleben, die als weniger wert bis wertlos gelten. Am Beispiel der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die zugleich eine der frühesten europäischen Siedlungskolonien und die erste Demokratie der modernen Welt waren, zeigt er, dass sich die demokratischen Prinzipien der → Freiheit und → Gleichheit sowie die Praxis der Sklaverei nicht voneinander trennen lassen. So hatten Demokratie? Frag doch einfach! 94 <?page no="95"?> die USA zeitgleich eine demokratische Gemeinschaft der Gleichen sowie eine davon getrennte Gemeinschaft der Ungleichen verwirklicht, dieses Paradox in ihre Geschichte und Identität integriert und zugleich wiederum verdrängt. Die Etablierung und Entwicklung der amerika‐ nischen Demokratie war dabei laut Mbembe geradezu abhängig von der Plantagenwirtschaft und dem Sklavenhandel. Die Erfindung der Idee der Rasse und der daraus resultierende Rassismus ermöglichten und legitimierten die fundamentale Selbstwidersprüchlichkeit, indem die einen (weißen) Menschen als zur Vernunft und Demokratie fähig und berechtigt konstruiert und die anderen (nicht-weißen) als von Natur aus zur Ausbeutung und Sklaverei bestimmt wurden. Diese Un‐ terscheidung und die damit einhergehende Ungleichbehandlung von Menschengruppen ist für Mbembe ins Herz der liberalen Demokratie eingeschrieben und das notwendige Resultat eines Politikverständnis‐ ses, das die Welt immer schon in Freund*innen und Feind*innen einteilt. Zugleich schlägt dieses Prinzip nun auf die westlichen Demo‐ kratien selbst zurück. Das lange Zeit gut funktionierende Verhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie ist laut Mbembe nämlich so gut wie vorbei. Da der Kapitalismus stets nach Menschengruppen verlange, die ausgebeutet werden können und die entsprechend als verzichtbar gelten müssen, produziere die liberale Demokratie diese längst nicht mehr allein in den ehemaligen Kolonien, sondern mehr und mehr auf ihren eigenen Territorien. Mbembe bezeichnet dies als das „Schwarzwerden der Welt“, das einhergeht mit der Zerstörung der Ökologie und dem weltweiten Anstieg von Hass und Gewalt aufgrund der Konflikte um begrenzte Ressourcen. Deswegen müsse die Demokratie, um wiederbelebt und zu einem Projekt für alle Menschen werden zu können, zukünftig jenseits des Nationalstaats neu gedacht werden. Dafür brauche es eine Abkehr von der Idee, dass der Planet Erde den Menschen zur Ausbeutung zur Verfügung steht. Schließlich bedarf es auch der Überwindung der klassischen Vorstellung von demokratischer Bürger*innenschaft als Zugehörigkeit zu einem mit Gewaltmitteln begrenzten Territorium sowie der Idee einer natürlichen Ausstattung mit Rechten, die von Staat und Politik gegen unterprivi‐ legierte und ausgegrenzte Mitmenschen verteidigt werden müssen. Vielmehr muss Demokratie zukünftig als Projekt eines globalen Mitei‐ Theorien und Modelle der Demokratie 95 <?page no="96"?> nanders neu gedacht und gelebt werden, wofür die radikale Abkehr von der eurozentristischen Perspektive auf die Geschichte und Gegenwart der Demokratie sowie von ihren rassistischen Implikationen unbedingt notwendig ist. Literatur- und Linktipp | Zwei spannende, aufschlussreiche Werke zu den Postkolonialen Theorien: Do Mar Castro Varela, M.; Dhawan, N.: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, utb 2020 und Kerner, I.: Postkoloniale Theorien zur Einführung, Junius 2017. Die Zeitschrift PERIPHERIE (www.zeitschrift-peripherie.de) be‐ fasst sich aus interdisziplinärer Perspektive mit Politik, Ökonomie, Kultur und Gesellschaft in der ungleichen kapitalistischen und postkolonialen Welt. Sie fordert und fördert die kritische Ausein‐ andersetzung und Diskussion zwischen Nord und Süd, zwischen Wissenschaft und Bewegung, zwischen Theorie und Praxis. Die Artikel diskutieren Themen wie Globalisierung, Demokratisierung, ökonomische und ökologische Krisen und Rassismus sowie Ge‐ schlechter- und Klassenverhältnisse. Democracy Now! ( www.democracynow.org) ist ein unabhän‐ giges und spendenfinanziertes US-amerikanische Politikmagazin, das sich marginalisierten Gruppen und politischen Themen, die im Mainstream weniger Gehör finden, widmet. Die Sendung bietet Features, Interviews, Debatten und Medienbesprechungen und berichtet zum Beispiel über die Friedens- und Arbeiterbewegungen, Menschenrechtsverletzungen, Migration, Genderfragen, Polizeige‐ walt und Umweltpolitik. Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. ist antirassis‐ tisch und postkolonial engagiert und fördert Schwarzes Bewusst‐ sein und eine positive Identitätsbildung Schwarzer Menschen (isd online.de). Demokratie? Frag doch einfach! 96 <?page no="97"?> Geschichte der Demokratie Revolutionen haben eine große Bedeutung in der Ent‐ wicklung der Demokratie. Daher ein Blick zurück in die Geschichte - zuerst geht’s nach Athen. <?page no="99"?> Wo liegen die historischen Ursprünge der Demokratie? Das Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus gilt im westlichen politischen Denken gemeinhin als die Wiege der Demokratie. Dabei wird leicht übersehen, dass auch die antiken griechischen Stadtstaaten nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern die unterschiedlichsten Einflüsse aus nicht-griechischen Kulturen auf‐ genommen haben, etwa aus Nordafrika. Zudem war die attische Demokratie nach modernem Maßstab nicht unbedingt als lupen‐ rein demokratisch zu bezeichnen. Immerhin waren es nur die rund 30.000 männlichen Vollbürger, die für die 300.000 Einwohner*innen an der Volksversammlung und dem Rat der 500 teilhaben durften. Frauen, Kinder, Sklav*innen und Fremde waren ausgeschlossen. Wer den Bürgerstatus besaß, der durfte sein Recht auf freie Mei‐ nungsäußerung und auf Teilnahme an der Volksversammlung, der ekklesia , wahrnehmen. Die Ämter in den Gerichtsversammlungen (dikasterien) wurden sogar per Los vergeben. Zahlenmäßig verhielt es sich ungefähr so, dass in der Regel 6.000 Bürger bei den Volks‐ versammlungen zugegen waren, ungefähr 500 bis 1000 bei den Gerichtsversammlungen. Nochmal 500 Bürger stellten den Rat und weitere 700 füllten einem Rotationsprinzip folgend öffentliche Ämter aus. Damit stellte die politische Ordnung Athens zugleich welthistorisch gesehen eine Besonderheit dar, insofern es weder vorher noch zeitgleich politische Herrschaften ohne Königtum und mit derartigen Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten der Aristokratie gab. Die damals neue Praxis der Volksversammlung ist bis heute eine der Leitinstitutionen der Demokratie und auch die Bindung an selbstgegebene Gesetze anstelle der Unterordnung unter göttlichen Willen war zu der Zeit einzigartig, ebenso wie die Idee und (wenngleich eingeschränkte) Praxis der Isonomie , also der radikalen → Gleichheit innerhalb der Bürgergemeinschaft. Und auch wenn die athenische Demokratie nach einigen Jahrhunderten wieder untergegangen ist, so hielt sich doch der Begriff der Demo‐ kratie und die in ihm gespeicherten Vorstellungen und Praktiken im kulturellen und politischen Langzeitgedächtnis Europas so leben‐ Geschichte der Demokratie 99 <?page no="100"?> dig, dass er im 18. Jahrhundert aus dem Archiv der Ideengeschichte geholt und für die politischen Kämpfe gegen den Absolutismus und die Macht der Kirche wiederbelebt oder besser: neu definiert und konzipiert werden konnte. Was sind die Ursprünge der Demokratietheorie? Die Ideengeschichte der Demokratie setzte mit einer fundamentalen Kritik ein, die lange wie ein schweres Erbe auf ihr lastete. Als erste demokratietheoretische Schriften gelten die Werke Platons und Aris‐ toteles. Beide waren große Kritiker der Herrschaftsform der Demo‐ kratie. Platon, der im Kanon der Ideengeschichte als Gründer des westlichen politischen Denkens gilt, hat der athenischen Demokratie nie verziehen, dass sie seinen Lehrer und sein großes Vorbild Sokrates (469-399 v. Chr.) zum Tode verurteilt hat. Die Idee der Herrschaft des Pöbels, so wird der demos zusätzlich zum politischen Begriff des → Volkes seit Platon bis heute auch verstanden, hielt er für gefährlich, da sie den Leidenschaften der ungebildeten Masse zu viel Raum lasse und somit die Stabilität und Gerechtigkeit der politischen Ordnung nicht gewährleisten könne. Demgegenüber bevorzugte Platon eine streng nach Kompetenz und Zuständigkeit hierarchisch gegliederte Ständeordnung unter der Leitung von extra dazu ausgebildeten Philo‐ sophenherrscher*innen, zu denen er explizit auch Frauen ausbilden las‐ sen wollte. Aristoteles assistierte seinem Lehrer Platon dahingehend, dass er die Demokratie als die Herrschaft der Vielen oder der Massen und damit vor allem als Herrschaft der Armen begriff, die in der Politik vor allem ihren eigenen Nutzen durchsetzen wollen und damit die Stabilität und das Gemeinwohl gefährden. Aristoteles, der selbst als so genannter Metöke kein volles Bürgerrecht genoss, rechtfertigte diese Praxis der Privilegierung männlicher Vollbürger mit der Unterscheidung der Sphäre der Politik von der des Haushalts. Die Politik war der Bereich und die Praxis des öffentlichen Lebens, in dem sich die Männer exklusiv als Freie und Gleiche mit den Angele‐ genheiten der Gemeinschaft, der Gesetzgebung und Rechtsprechung befassen und so zu ihrem vollen Menschsein als Gemeinschaftswesen Demokratie? Frag doch einfach! 100 <?page no="101"?> (zoon politikon) gelangen konnten. Demgegenüber war die Sphäre des Haushalts, im griechischen oikos , wovon unser heutiger Begriff der Ökonomie abstammt, der Herrschaft des Mannes unterworfen. Hier war der Mann Hausvorsteher und Despot, unter seinem Befehl hatten die Frauen für die Reproduktion zu sorgen, also den Nachwuchs und dessen Aufzucht, sowie für die Bedingungen, dass der Mann befreit von ökonomischen Sorgen und damit nicht anfällig für Korruption seiner Bestimmung als politischem Lebewesen und Aktivbürger nach‐ gehen kann. Dafür griff der Despot auf die Institution der Sklaverei zurück, die Aristoteles damit rechtfertigte, dass es von Natur aus fürs Herrschen bestimmte Menschen und solche, die zum Dienen bestimmt wären, gebe. Mit dieser Rechtfertigung der Praxis der Sklaverei und der damit einhergehenden Unterscheidung von Menschen in jene zur Politik Befähigten, Freien und Gleichen, und den Nicht-Befähigten, die damit legitimerweise als Unfreie und Ungleiche zu behandeln waren, legte Aristoteles nicht nur die Grundsteine für die Theorie und Praxis des europäischen politischen Denkens der letzten zweieinhalbtausend Jahre, sondern auch des Rassismus, wie sie von den postkolonialen Demokratietheorien freigelegt werden. Welche Bedeutung hatte die Amerikanische Revolution für die Demokratie? Die Amerikanische und die Französische Revolution im 18. Jahrhundert werden als die demokratischen Revolutionen bezeichnet und gelten als die Geburtshelferinnen der modernen Demokratie. Zwar spricht man oft von England als deren Mutterland, diese Zuschreibung ist jedoch mit Vorsicht zu betrachten. So war es zwar das britische Parlament, das sich bereits im 17. Jahrhundert gegen König Charles I. (1625-1649) auflehnte und diesen auf Betreiben Oliver Cromwells (1599-1658) hinrichten ließ. Jedoch hatte Cromwell trotz der kurzfristig von ihm geführten republikanischen Phase in seiner Funktion als Lordprotektor wenig demokratisierende Absichten und nach seinem Tod konnte sich die Monarchie recht schnell restaurieren. Am ehesten Einfluss auf die Herausbildung der modernen Demokratie hatten noch die Theorien Hobbes und Lockes (siehe auch die Frage zu den liberalen Geschichte der Demokratie 101 <?page no="102"?> Demokratietheorien). Das imperiale Großbritannien jedoch trug dann eher als Feindbild demokratischer Kämpfe um Unabhängigkeit und Souveränität, etwa in den USA und Indien, zur Demokratisierung Europas bei. Die Amerikanische Revolution im 18. Jahrhundert gilt jedenfalls heute als die erste erfolgreiche demokratische Revolution der Neuzeit. Ob es sich bei der Gründung der Vereinigten Staaten wirklich um eine Revolution und um eine Demokratie im engen Sinne gehandelt hat, ist umstritten und hängt von dem jeweiligen Begriff ab, den man zu‐ grunde legt. Für Hannah Arendt ist die Sache eindeutig. Von Revolution könne man nur da sprechen, wo das Pathos des Neubeginns mit Frei‐ heitsvorstellungen verknüpft würde, wo ein Neuanfang sichtbar wird und wo in einem Befreiungskampf gegen Unterdrücker im Namen der → Freiheit eine neue Staatsgewalt und ein neues politisches Gemein‐ wesen geschaffen wird. All dies trifft auf die USA zu, wo die dreizehn nordamerikanischen Kolonien am 4. Juli 1776 ihre Unabhängigkeit erklärten und sich damit vom britischen Mutterland lossagten. Damit einher ging die Überwindung der Monarchie, insofern sich die ehe‐ maligen Kolonialstaaten als freie Republiken entwarfen, die sich 1787 eine Verfassung gaben und als die Vereinigten Staaten von Amerika gründeten. Die Verfassung legte das heute geltende Präsidialsystem der USA mit dem Prinzip der als checks and balances bezeichneten Gewaltenteilung fest. In den berühmten „Federalist Papers“, einer Artikelserie die 1787 und 1788 von den drei als Gründerväter der USA bezeichneten Autoren Alexander Hamilton (1755/ 57-1804), James Madison (1751-1836) und John Jay (1745-1829) in New Yorker Zei‐ tungen publiziert wurde, diskutierten diese die wesentlichen Aspekte der Verfassungsgebung sowie der Ausgestaltung der amerikanischen Institutionen. Dabei wurden sie maßgeblich von den politischen Ideen und Theorien der Aufklärung sowie des frühen Liberalismus Lockes und des republikanischen Denkens von Machiavelli bis Montesquieu beeinflusst. Schon die Präambel der Unabhängigkeitserklärung von 1776 liest sich wie von John Lockes „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ (siehe die Frage zur liberalen Demokratietheorie) abge‐ schrieben: Demokratie? Frag doch einfach! 102 <?page no="103"?> „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Dass zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten.“ Dass auch in der damit ersten und bis heute am längsten bestehenden modernen Demokratie diese → Gleichheit nicht für alle Menschen galt, sondern vor allem Sklav*innen davon ausgenommen waren und deren Nachkommen bis heute unter strukturellem Rassismus und sozialer, politischer und ökonomischer Ungleichbehandlung zu leiden haben, ist Teil des unrühmlichen Erbes der USA, welches diese bis heute nicht hinreichend aufgearbeitet haben. Gleichzeitig war der Begriff der Demokratie bereits zur Zeit der Revolution aufgrund des schlechten Leumunds hoch umstritten und traf nicht selten auf Kritik und Ablehnung. Für die Autoren der „Federalist Papers“ etwa war das Prinzip der → Repräsentation vor allem deswegen so bedeutend, weil es eine freie Republik von einer reinen Demokratie und der damit einhergehenden Gefahr einer Mehrheitsherrschaft zu Lasten der Frei‐ heiten und Rechte von Individuen und Minoritäten unterschied. Dies kritisierte auch Hannah Arendt, da die Revolution dem amerikanischen → Volk zwar die → Freiheit gegeben habe, jedoch keinen Raum, um diese Freiheit wirklich auszuüben. Nicht das Volk, sondern nur die gewählten Repräsentant*innen hätten sich entsprechend wirklich politisch betätigen können, sprich nur sie waren in einem positiven Sinn frei. Alexis de Tocqueville sah das in seinem 1835 erschienenen Buch „Über die Demokratie in Amerika“ jedoch anders, insofern er die Neigung der amerikanischen Bürger*innen zur Gründung von zivilgesellschaftlichen Vereinigungen als das Residuum der → Freiheit und den Schutz gegen die Tyrannei der Mehrheit interpretierte. Geschichte der Demokratie 103 <?page no="104"?> War die Amerikanische Revolution wirklich eine demokratische Revolution? Zwar beginnt die Verfassung von 1787 mit den Worten „We, the people“, was als demokratischer Selbstgründungsakt einer zuvor in der Form nicht existenten politischen Gemeinschaft interpretiert werden kann. Jedoch dominierten im politischen Diskurs der Zeit eher die Begriffe der Republik, der Freiheit oder der Nation, als dass man sich positiv auf die Demokratie bezog. Und auch faktisch blieb der Bereich der Politik den männlichen Besitzbürgern vorbehalten, neben den Sklav*innen blieben die native americans ebenso ausgeschlossen wie die Frauen. Wie der amerikanische Soziologe William Edward Burghardt Du Bois (1868-1963) in „The Souls of the Black Folk“ 1903 festhielt, zog die amerikanische Demokratie eine Grenze in ihrem Inne‐ ren entlang der Unterscheidung zwischen Weißen und Nicht-Weißen, um Letztere systematisch auszugrenzen, zu unterdrücken und sie dazu zu zwingen, sich als defizitär gegenüber der weißen Bevölkerung zu verstehen, was bis zur heutigen Black-Lives-Matter-Bewegung immer wieder zu Protesten, Widerstand und der Forderung nach Einlösung der Versprechen der Demokratie führte. Gleichzeitig war bereits die Gründerzeit der Vereinigten Staaten von Debatten um den effizienten Schutz von Minderheiten sowie von der grundlegenden Überzeugung politischer → Gleichheit getragen. Ideen, die, waren sie einmal in der Welt, immer wieder für demokratische Forderungen und soziale und politische Kämpfe mobilisiert werden konnten. Insofern die Un‐ abhängigkeitserklärung und die Verfassung der USA also von einem fundamentalen Wandel der politischen Kultur, der Mentalität und des politischen Systems entsprechend der Prinzipien der Freiheit und Gleichheit zeugen und diese bis heute trotz aller Unzulänglichkeiten und Widersprüche begünstigen, kann man mit einigem Recht von einer demokratischen Revolution sprechen. Demokratie? Frag doch einfach! 104 <?page no="105"?> Welche Bedeutungen hatte die Französische Revolution für die Demokratie? In der europäischen Erinnerungspolitik spielt die Französische Revolution bis heute eine hervorgehobene Rolle für die Heraus‐ bildung der modernen Demokratie und das sicher mit einigem Recht. Auch über die Grenzen Frankreichs hinaus wurde ihre Bedeutung stets in den höchsten Tönen gewürdigt. So hat Kant die Französische Revolution als Geschichtszeichen dafür verstanden, dass sich das Menschengeschlecht als Ganzes auf dem Weg des Fortschritts befinde. Hegel bezeichnete sie als einen herrlichen Sonnenaufgang, insofern die Menschen hier erstmalig die Wirk‐ lichkeit nach ihren eigenen Gedanken umgebaut hätten. Und Marx prägte unter anderem mit Blick auf die Ereignisse in Frankreich das Bild von Revolutionen als Lokomotive der Geschichte, sprich als Vehikel oder Katalysator des Fortschritts. Selbst wenn man also den historisch vielleicht nicht haltbaren Mythos eines sich selbst ermächtigenden Souveräns beiseitelässt, stellt die Französische Revolution doch eine welthistorische Zäsur dar. Es mag sein, dass einzelne Ereignisse, die bis heute gefeiert werden, etwa der Sturm auf die Bastille, gar nicht die maßgeblichen Auswirkungen auf den Verlauf der Entwicklungen hatten, die ihnen zugeschrieben werden. Und sicher waren es vor allem traditionelle Konflikte zwischen Klerus, Adel und Monarchie, die in Verbindung mit einer Staatsschuldenkrise den entscheidenden Funken an das Pulverfass legten. Dahingehend ist Tocqueville sicher zuzustimmen, die von ihm als demokratische Revolution bezeichneten Vorgänge nicht auf die Ereignisse ab 1789 engzuführen, sondern sie viel früher ansetzen zu lassen. Gleichzeitig aber machte die Französische Revolution der mittelalterlichen Ständegesellschaft, der Herrschaft des Adels und der Kirche sowie dem Absolutismus als politischem Ordnungsmodell in einer bis dato ungeahnten Radikalität den Prozess, was gewissermaßen den Horizont für die weitere Entwick‐ lung der modernen Demokratie aufzog. Was nicht bedeuten soll, dass sich die moderne Demokratie im Sinne einer bruchlosen Geschichte der Demokratie 105 <?page no="106"?> Erfolgsgeschichte ihren Weg bahnte. Aber der Wandel, den die Revolution mit sich brachte, war so radikal und fundamental, dass trotz aller gegenläufigen Versuche durch autoritäre und später totalitäre Angriffe auf die Demokratie das demokratische Bewusst‐ sein als solches bis heute nicht aus der Welt zu schaffen war. Im direkten Vergleich mit der amerikanischen Vorläuferin war die Französische Revolution dann auch um einiges radikaler, insofern sie einen grundlegenden Bewusstseinswandel herbeiführte, der die Prinzipien der → Gleichheit und → Freiheit fest im kollektiven Gedächtnis verankerte. Dies gelang etwa durch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, auch wenn diese de facto lange Zeit nur für die männlichen Bürger galten (siehe dazu auch die Frage zur feministischen Demokratietheorie). War die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776 von Locke in‐ spiriert, liest sich die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Teilen wie eine Würdigung der Lehren Rousseaus. Artikel 1 etwa sieht vor, dass die Menschen frei und gleich an Rechten geboren werden und es auch bleiben sollen, was ziemlich genau dem Wort‐ laut von Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ entspricht. Zugleich galt dieses Prinzip nicht für die Menschen in den französischen Kolo‐ nien. Jedoch ging von der Französischen Revolution eine enorme Strahlkraft aus, die fortan weltweit Kämpfe gegen Unterdrückung und für die Demokratie anleiten sollte. So bediente sich die bereits 1791 einsetzende Haitianische Revolution als weltweit einzige erfolgreiche Revolution von Sklav*innen, der Black Jacobins , der Prinzipien und Ideen der Französischen Revolution und wendete sie gegen die französische Kolonialmacht, um mit der Republik Haiti den dritten Verfassungsstaat der modernen Welt nach den Vereinig‐ ten Staaten und Frankreich zu begründen. Dennoch verschwindet sie in der hegemonialen Geschichtsschreibung und Philosophie des Westens häufig hinter der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Folgenreicher für die Entwicklung der modernen Demokratie als die eher liberale Anfangsphase der Französischen Revolution war dann aber die radikaldemokratische Phase zwischen 1792 und 1794, Demokratie? Frag doch einfach! 106 <?page no="107"?> die mit dem Sturm der Volksmassen auf die Tuilerien begann und ihren Höhepunkt in der Hinrichtung Ludwigs XVI. 1793 hatte. Die symbolische Bedeutung dieser Ereignisse hat Claude Lefort unter Rückgriff auf Ernst Kantorowicz’ (1895-1963) Lehre der zwei Körper des Königs herausgearbeitet. Als die Revolutionäre Ludwig XVI. aufs Schafott schleiften und dort unter seinem bürgerlichen Namen Louis Capet hinrichteten, war laut Lefort nicht nur einer von vielen gewaltvollen Macht- und Elitenwechseln der Geschichte zu beobachten gewesen. Vielmehr wurde der Ort der Macht, der symbolisch von den zwei Körpern des Königs besetzt wurde, dem göttlich-unsterblichen und dem irdisch-sterblichen, in dem Moment entleert, als die Revolutionäre ihm den Kopf abschlugen. Fortan war es nicht mehr möglich, die Einheit der Gesellschaft und der Nation als unter dem Willen Gottes geeint und im Körper des Königs repräsentiert zu begreifen. Vielmehr trat das abstrakte Prinzip der Volkssouveränität an die Stelle der Macht, woraus der nie zu stillende Konflikt um die legitime Besetzung der Macht‐ position als Kernprinzip der modernen Demokratie resultierte. Da die Gesellschaft sich nicht mehr als unter Gott und König*in geeint begreifen konnte und da die Demokratie zudem alle religiösen und traditionellen Fundamente unwiederbringlich auflöste, zerfiel die Gesellschaft in unzählige innere Konflikte zwischen den Indivi‐ duen, Gruppen und Klassen sowie in einen Grundkonflikt zwischen Herrschenden und Zivilgesellschaft, wodurch der demokratische Streit zum Wesenskern der modernen Demokratie wurde. Das schlug sich auch in der jakobinischen Verfassung von 1793 nieder, die zwar nie in Kraft getreten ist, laut dem Politischen Theoretiker Oliver Marchart (*1968) aber bis heute als eine der demokra‐ tischsten Verfassungen aller Zeiten gelten kann. Sie war in einem radikal egalitären Geist verfasst und hielt zum Beispiel das allgemeine Glück der Gesellschaft als explizites Ziel fest, wo sich die Verfassung der USA ein bisschen zurückhaltender mit dem "Streben nach Glück" begnügt. Das allgemeine Wahlrecht war zwar nach wie vor nur für Männer vorgesehen, jedoch auch für Nicht-Fran‐ zosen. Das Recht auf → Widerstand gegen Unterdrückung wurde Geschichte der Demokratie 107 <?page no="108"?> außerdem als ein Menschenrecht und sogar heiligste Pflicht des Volkes verstanden. Besonders diese Phase der Revolution ist also in ihrer Bedeutung für die Weiterentwicklung der modernen De‐ mokratie nicht zu unterschätzen, lässt sich auf sie nicht zuletzt der Begriffswandel vom antiken Demokratieverständnis zur mo‐ dernen Demokratie mit den Prinzipien der → Repräsentation, der Gewaltenteilung, der Verfassungsstaatlichkeit sowie der Grund- und Menschenrechte datieren. Literaturtipp | Mehr über Revolutionen gibt es zum einen in Hannah Arendts Werk Über die Revolution, Piper 2020 zu lesen. Daneben sind auch folgende Titel sehr aufschlussreich: Furet, F; Ri‐ chet, D.: Die Französische Revolution, Fischer 1997 und Hobsbawm, E.: Europäische Revolutionen 1789-1848, Parkland 2004. Was unterscheidet die moderne von der antiken Demokratie? Trotz derselben Begrifflichkeit unterscheiden sich antike und moderne Demokratie doch ganz wesentlich voneinander. Der Be‐ deutungswandel vollzog sich im Zuge der Aufklärung und der demokratischen Revolution. Zwar wurde die antike Demokratie in den Schriften Rousseaus gewürdigt und hatte dadurch Einfluss auf die jakobinischen Revolutionäre um Robespierre. In den blutigen Auswüchsen der Terrorherrschaft sahen jedoch viele moderne Demokratietheoretiker die unvermeidliche Kehrseite des demokra‐ tischen Prinzips der Volkssouveränität in all seiner Radikalität, weswegen sie sich darum bemühten, dieses weitestgehend einzu‐ schränken, ohne dabei jedoch die Demokratie als Bezugspunkt komplett aufzugeben. Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill (1806-1873) zum Beispiel, deren Schriften herausragenden Einfluss auf die Weiterentwicklung der Demokratie nach der Französischen Demokratie? Frag doch einfach! 108 <?page no="109"?> Revolution hatten, nahmen zentral die Gefahr der Tyrannei der Mehrheit gegenüber Minderheiten in den Blick und bemühten sich, über das Prinzip der → Repräsentation, der Gewaltenteilung und der Zivilgesellschaft die schlimmsten Auswüchse einer an der Antike orientierten Demokratie einzuhegen. Tocqueville war zum Beispiel der Ansicht, dass ein kluges Setting demokratischer Institutionen dazu beitragen kann, die unmittelbare Herrschaft des → Volkes zu kanalisieren, um dann zugleich die Bürger*innen im Prozess der → Partizipation einen gewissen Transformations- oder Lernprozess zu tugendhaftem und vernünftigem Handeln sowie politischer Urteilskraft durchlaufen zu lassen. Wie hat sich das Freiheitsverständnis am Übergang zur Moderne gewandelt? Als zentraler Unterschied zwischen der antiken und der modernen Demokratie wird vor allem das gewandelte Freiheitsverständnis gesehen. Der französische Schriftsteller und liberale Politiker Ben‐ jamin Constant (1767-1830) brachte diesen Unterschied 1819 in sei‐ ner berühmten Rede „Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der Heutigen“ systematisch auf den Begriff. Er wies den modernen Freiheitsbegriff dadurch aus, dass er dem Schutz der individuellen Freiheitsrechte verpflichtet sei, wohingegen das antike Verständnis unter → Freiheit die aktive Teilhabe der Bürger am politischen Leben verstanden habe. Somit war die → Partizipation in der Antike erste Bürgerpflicht und verlangte den Individuen aus Sicht der liberalen Demokratieskeptiker*innen eine Menge an Einsatzbereitschaft und Leidensfähigkeit ab, die Menschen in der Moderne zurecht nicht mehr auf sich zu nehmen bereit wären. Demgegenüber sei modernen Verhält‐ nissen eine Freiheit angemessen, die es den Bürger*innen ermögliche, ihre Autonomie im privaten Rückzugsraum zu genießen. Dies sei allein deswegen schon zu bevorzugen, als in modernen großflächigen Gesellschaften der Wille der Einzelnen faktisch gar keinen vergleich‐ baren Einfluss mehr auf die politische Willensbildung haben könne, wie noch im Athen oder Sparta der Antike. Wo Rousseau in seiner Geschichte der Demokratie 109 <?page no="110"?> an der Antike orientierten Konzeption politischer Freiheit also noch von einem Zwang zur Freiheit sprechen konnte, waren Zwang und Freiheit in der Moderne zwei unversöhnliche Gegensätze geworden und dem hatte die moderne Demokratie Rechnung zu tragen. Nicht mehr Apathie und mangelnde Beteiligung der Bürger*innen galten als die Gefahr für die Freiheit, sondern der Zwang der Gemeinschaft und des Staates zur Unterordnung unter den Willen des Kollektivs oder seiner Mehrheit. In einflussreichen Strängen der politischen Ideengeschichte wurde diese Argumentation dahingehend überspitzt, dass man eine Linie von Rousseaus Idee der Volkssouveränität und des Gemeinwillens bis zur totalitären Herrschaft des Nationalsozialismus und Stalinismus gezogen und hier systematische Zusammenhänge unterstellt hat, die der Historiker Jacob L. Talmon (1916-1980) auf den Begriff der totalitären Demokratie brachte. Kann man die Geschichte der Demokratie als eine Erfolgsgeschichte sehen? Die Geschichte der Demokratie wird oft als eine beispiellose Erfolgs‐ geschichte erzählt. Und in einem gewissen Maß ist sie das auch. So kann sie gemessen an ihren Vorgänger- und Konkurrenzregimen ein deutliches Mehr und einen stetigen Zuwachs an allgemeinen Partizipationschancen für sich verbuchen. Institutionell umgesetzt wird sie gegenwärtig in so vielen Ländern und so umfassend wie his‐ torisch nie zuvor. In den letzten über 200 Jahren wurden die faktischen Einschränkungen des demokratischen Gleichheitsprinzips weltweit erfolgreich bekämpft und nach und nach abgebaut. So war die Zahl der weltweiten Demokratien zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch recht überschaubar, stieg jedoch im Laufe des Jahrhunderts stark an. Die erste Welle der Demokratisierung startete im 19. Jahrhundert in Nordamerika und brachte bis 1922 insgesamt 29 nach heutigen Maßstäben einigermaßen entwickelte Demokratien hervor. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte mit der Demokratisierung des ehemaligen Nazideutschlands und seiner Verbündeten seitens der Alliierten die zweite Welle der Demokratisierung ein, die bis 1962 weltweit 36 Demokratien hervorbrachte. Die dritte Welle Mitte der 1970er Jahre Demokratie? Frag doch einfach! 110 <?page no="111"?> demokratisierte vor allem die Militärdiktaturen in Lateinamerika und Südeuropa, während die vierte Welle nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den Ländern des ehemaligen so genannten Ostblocks einsetzte. Für das Jahr 2018 bewertete die Nichtregierungsorganisation Freedom House 86 Länder weltweit als „frei“ und damit demokratisch, was 2,9 Milliarden Menschen oder 39 % der Weltbevölkerung betrifft. Das bedeutet umgekehrt, dass über 60 % der Weltbevölkerung in nur teilweise demokratischen oder nichtdemokratischen Verhältnissen le‐ ben. Dabei marschierte die Demokratie keineswegs störungsfrei in Rich‐ tung eines globalen Siegeszugs. Zu stark waren trotz aller Bemühungen die Kräfte der Restauration und Reaktion von Anbeginn an gewesen. So konnten sich zum Beispiel in Deutschland erst nach der Revolu‐ tion 1918 und den Wahlen zur Nationalversammlung 1919, also mit Beginn der Weimarer Republik durch die Verfassungsgebung im selben Jahr, demokratische Forderungen allmählich durchsetzen. Damit die Demokratie in Europa allerdings wirklich den viel beschriebenen Siegeszug antreten und sich von dort dann über den Globus ausbreiten konnte, mussten die Alliierten Kräfte USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien 1945 erst die Welt vom deutschen Faschismus und Nationalsozialismus befreien. Bis dahin genoss die Demokratie zu wenig den Rückhalt der Bevölkerungen sowie der politischen und ökonomischen Eliten und Machthaber. Zu stark waren die autoritä‐ ren Sehnsüchte in der Tradition des deutschen politischen Denkens auch in anderen Ländern verankert, zu mächtig waren die Kräfte der Restauration und der Untertanenkult, als dass sich die Weimarer Demokratie hätte halten können. Die Nationalsozialisten konnten dann die ihnen zur Verfügung stehenden beziehungsweise die ihnen zur Verfügung gestellten institutionellen Mittel sowie die Steighilfe der wirtschaftlichen und politischen Eliten ausnutzen, um mit formell demokratischen Mitteln 1933 eine Diktatur zu errichten und diese zu ei‐ nem barbarischen Terrorregime auszubauen. Das weist bereits auf eine der Schattenseiten der Demokratie hin: die permanente Möglichkeit ihres Rückbaus aus ihrem eigenen Inneren heraus und unter Berufung auf ihre Prinzipien der Volkssouveränität und Mehrheitswahl. Geschichte der Demokratie 111 <?page no="113"?> Gegenwart der Demokratie Kern einer jeden Demokratie ist das Volk. Doch welche Rolle haben die Bürger*innen genau in einer Demokratie? <?page no="115"?> Welche Schattenseiten hat die moderne Demokratie? Laut dem französischen Historiker Pierre Rosanvallon (*1948) muss die Geschichte der Demokratie bis in ihre Gegenwart hinein als eine Geschichte der gebrochenen Versprechen und verratenen Ideale gelesen und erzählt werden. Daher empfiehlt es sich, die Demokratie immer von mindestens zwei Seiten zu betrachten, auch gegenwärtig: von ihren unbestreitbaren Erfolgen mit Blick auf die Befreiung (mancher) Menschen aus Knechtschafts- und Unterdrückungsverhältnissen sowie dann aber auch von ihren Rückschlägen, Brüchen und Schattenseiten her. So wird sichtbar, dass die weltweiten Protestbewegungen seit dem 18. Jahrhundert bis heute ihre wesentlichen Impulse aus den Versprechen der Demokratie ziehen und entsprechend als Demokratiebewegungen zu begreifen sind. Gleichzeitig hat die Demokratie historisch eine Menge Gewalt ausgeübt und Leid produziert. So hat die postkoloniale Demokratietheorie herausge‐ arbeitet, inwiefern die Ursprünge der modernen Demokratie mit der Kolonialwirtschaft und dem transatlantischen Sklavenhandel zusammenhängen. Nur so konnten die ökonomischen Grundlagen und der unermessliche Reichtum geschaffen werden, aus dem der Kapitalismus und die moderne Demokratie sozusagen als zweieiige Zwillinge entstanden sind und von dem sie bis heute zehren. Dabei beuteten die demokratischen Regime große Teile der Menschheit aus und entwarfen dafür das Konzept der menschlichen Rasse sowie die Ideologie des Rassismus. Dieser diente der Abwertung von Menschen zu Sklav*innen, um diese wie eine Ware behandeln und der Maximierung des Profits unterwerfen zu können. Dafür konnte man auf eine lange Tradition der Abwertung vermeintlich minderwertiger Kulturen, Gesellschaften oder Menschengruppen im demokratischen Denken zurückgreifen. Schon Aristoteles hat bekanntlich zwischen Griechen als vollwertigen politischen Lebe‐ wesen und minderwertigen Barbaren unterschieden, die man legi‐ timerweise versklaven dürfe. John Locke wiederum rechtfertigte mit seiner Politischen Theorie der Freiheit auch die Kolonisierung Gegenwart der Demokratie 115 <?page no="116"?> Amerikas und die Unterwerfung der native americans und selbst in den Schriften des Deutschen Idealismus und der Aufklärung, allen voran Kants und Hegels, findet sich zutiefst rassistisches Gedan‐ kengut. Die oft verborgene Perfidie des demokratischen Projekts erweist sich also in der Gleichzeitigkeit von emanzipatorischem Fortschritt für die einen und Unterwerfung der anderen. Die Frage nach den notwendigen Zusammenhängen und deren Fortleben wird dabei sehr selten gestellt, sondern stattdessen wird oft so getan, als handle es sich dabei lediglich um Korrelationen und historische Ausrutscher. Bis heute ist die Demokratie jedoch eine exkludierende politi‐ sche Organisationsform, die aufgrund ihrer Versprechen auf → Gleichheit und → Freiheit aber die Möglichkeit zur Überwin‐ dung von Ungerechtigkeit bereitstellt. Dies bezeugen eindrucksvoll die Kämpfe der Ausgeschlossenen um den Einschluss in die Gemeinschaft der Demokrat*innen in den letzten Jahrhunderten. Von den mittelalterlichen Kreuzzügen über den transatlantischen Menschenhandel und die Plantagenwirtschaft in Nordamerika, den Kolonialismus und Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert bis hin zur gegenwärtigen Abwehr globaler Migrationsbewegungen teilte das politische Denken und die politische Praxis der europäi‐ schen Gesellschaften die Welt immer schon in Demokrat*innen und Nicht-Demokrat*innen, Vernünftige und zur Vernunft nicht Fähige, in Herrscher*innen und Diener*innen, Herr*innen und Sklav*innen, Freund*innen und Feind*innen und sprach den jeweils Ersteren die legitime Ausübung von Macht, Herrschaft und Gewalt über Letztere zu. Diese Unterscheidung vollzieht die Demokratie bis heute auch in ihren eigenen Hoheitsgebieten, etwa mit Blick auf den Ausschluss von Fremden oder Frauen aus Bereichen des politi‐ schen, ökonomischen oder sozialen Lebens. Diese Ausschlüsse sind zudem immer, mal mehr, mal weniger sichtbar, mit dem Einsatz massiver Gewalt verbunden und müssen daher regelmäßig zum Gegenstand öffentlicher Debatten gemacht werden. Demokratie? Frag doch einfach! 116 <?page no="117"?> Ist die Demokratie eine friedliche Staatsform? Empirisch gesehen führen Demokratien weniger wahrscheinlich Kriege gegeneinander, was zur so genannten Theorie des demokra‐ tischen Friedens führte. Allerdings befördern sie aufgrund ihrer kapitalistischen Grundstruktur und ihres Ressourcenbedarfs zahlrei‐ che globale Konflikte außerhalb ihrer Territorien und sind somit nicht als per se friedfertig zu begreifen. Im Gegenteil neigen sie auf ihre ganz eigene Art mitunter zu sehr exzessiven Formen der Gewaltausübung. In der feministischen Theoriebildung wurde etwa das demokratische Prinzip der Volkssouveränität für den Ausschluss und die Unterdrückung von Frauen als mitverantwortlich ausgemacht. So war es bis ins 20. Jahrhundert hinein selbstverständlich, Frauen aller Klassen nicht als Teil des souveränen demokratischen → Volkes zu akzeptieren, da ihnen die dafür maßgeblichen Tugenden und die ökonomische Unabhängigkeit von der männlichen Demokratietheo‐ rie abgesprochen und verwehrt worden sind (siehe hierzu auch die Frage zur feministischen Demokratietheorie). Ebenso blieben auch besitzlose Männer bis zum Erkämpfen des allgemeinen Wahlrechts im 19. und 20. Jahrhundert vom souveränen Volk ausgeschlossen, wie auch Jüd*innen sowie den ehemaligen Sklav*innen in den Kolonien der Status als Vollbürger*in lange verwehrt wurde. Entscheidend dabei ist, dass diese historischen Ausschlüsse dem Konzept des Volkes und der diesem korrespondierenden Vorstellung von Souveränität nicht äußerlich sind, sondern sich in die Idee von Staatsbürger*innenschaft, → Partizipation, Vernunft und Subjektstatus eingeschrieben haben. Das allgemeine Verständnis demokratischer → Freiheit war also trotz seiner revolutionären Implikationen und universellen Ansprüche stets androzentrisch, westlich und bürgerlich ausbuchstabiert und alle Ein‐ forderungen der Verwirklichung von → Gleichheit und → Freiheit für Frauen*, people of color , oder Proletarier*innen, wurden lange Zeit und werden zum Teil bis heute mit dem Verweis auf die Volkssouveränität zurückgewiesen. Dies wird in der radikalen Demokratietheorie, die sich traditionell für die Bedeutung der Perspektiven und Kämpfe der Ausgeschlossenen und Marginalisierten für die Demokratie interessiert, damit erklärt, dass moderne Demokratien auf keinen festen Grundlagen mehr aufru‐ Gegenwart der Demokratie 117 <?page no="118"?> hen und daher in der politischen Praxis oft der Identifikation eines kollektiven Feindes bedürfen, um in Abgrenzung von diesem eine ei‐ gene positive Identität auszubilden. Wo Identität aber nur in Differenz, also in der Abgrenzung zu einem „Außen“ möglich ist, kommt es fast zwangsläufig zu gewaltvollen Politiken der Feindschaft, insofern die zuvor identifizierten und zur Stabilisierung der eigenen Identität ver‐ femten Feind*innen auch effizient bekämpft werden müssen. Daraus ergeben sich auch in Demokratien Praktiken gewaltsamer Ausschlüsse und der gleichzeitigen Berufung auf vermeintliche Sachzwänge, um so die Rücknahme historischer Errungenschaften zu rechtfertigen. Überall dort, wo zudem der demos nicht als politische, sondern als ethnische Einheit begriffen wird und sich Vorstellungen von Staat und Nation als naturwüchsige Phänomene durchsetzen, erweist sich die Demokratie als ein gewaltvolles Regime par excellence. Der britische Soziologe Michael Mann (*1942) spricht daher in seinem gleichnamigen Buch von 2007 von der dunklen Seite der Demokra‐ tie. Laut Mann sind ethnische Säuberungen diese dunkle Seite, insofern Genozide nicht nur wesentlich häufiger in Europa als anderswo in der Welt stattfanden, sondern sie nachgerade strukturell mit dem Projekt der europäischen Moderne und der Demokratie verbunden sind. Damit steht Mann in einer Tradition mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno (1903-1969) und Max Horkheimer (1895-1973), die den Zivilisationsbruch und die Barbarei des Holocaust nicht als der Moderne und Vernunft zuwiderlaufend, sondern als deren Konsequenz analysierten. Für Mann ist es dabei besonders der Nationalstaat, der die Geschichte des 20. Jahrhunderts als eine Geschichte der Gewalt gegen ethnische Gruppen mit dem Ziel ihrer Vernichtung schrieb, wobei neben politischen auch militärische, kulturelle und vor allem ökonomische Faktoren zu berücksichtigen seien. So muss die Theorie des demokratischen Friedens angezweifelt werden, insofern demokratische Gesellschaften nicht zwangsläufig weniger gewaltvoll sind und unter Umständen die Demokratisierung von Gesellschaften sogar mit einem enormen Anstieg gewaltvoller Auseinandersetzungen einhergeht. Gleichzeitig gilt, dass ein jedes Regime, das Gewalt gegen Minderheiten ausübt, eigentlich nicht mehr demokratisch genannt werden darf. Letztlich muss auch die Aufgabe Demokratie? Frag doch einfach! 118 <?page no="119"?> der demokratischen Zivilgesellschaft sein, ihre Regierungen sowie das soziale und politische Miteinander demokratisch zu überwachen und zu gestalten, wofür ein Bewusstsein um die Kehrseiten und Gefahren der Demokratie unumgänglich ist. Was bedeutet es, eine Bürger*in zu sein? Das Konzept der Staatsbürger*innenschaft weist im Deutschen schon begrifflich eine enge Verbindung zum Nationalstaat auf. Damit scheint die Frage, wer oder was eine Staatsbürgerin ist, schnell beantwortet. Jede*r, die/ der von einem Nationalstaat beziehungsweise seiner Regie‐ rung und Bürokratie mit dem entsprechenden Dokument ausgestattet und somit als Staatsangehörige*r ausgewiesen ist, womit bestimmte soziale, politische, ökonomische und rechtliche Privilegien verbunden sind, die Nicht-Mitgliedern verwehrt werden. Hierzu zählen etwa das permanente Aufenthaltsrecht, das Auslieferungsverbot, die Reisefrei‐ heit, das Recht zu arbeiten und zu wählen, aber auch die Pflicht, Steuern zu zahlen und gegebenenfalls Zivildienst oder Wehrdienst zu leisten. Staatsbürger*innenschaft bezeichnet also die rechtliche Zuge‐ hörigkeit zu einer etablierten und eben heutzutage meist in Form des Nationalstaates organisierten Rechtsgemeinschaft von Bürger*innen. In diesem positivistischen Zugriff ist es dann auch der Staat, der die Kriterien und den Zugang regelt, in Deutschland etwa über die Geburt, die Staatsbürger*innenschaft der Eltern und/ oder die Einbürgerung. Genauso wie der Nationalstaat jedoch ein historisch recht junges Konstrukt ist, ist es auch die Idee der Staatsbürger*innenschaft. Linktipp | Die Wochenzeitung „der Freitag“ bietet Podcasts rund um die Themen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Demokratie und lädt dafür regelmäßig Expert*innen aus Wissenschaft, Medien und Politik zum Gespräch: https: / / www.freitag.de/ autoren/ podcast. Future Histories (www.futurehistories.today) bietet neben Kurzvideos zum Beispiel zum Thema Anarchismus auch längere kompetente Podcastbeiträge von Spezialist*innen ihres Gebiets zu aktuellen und relevanten Themen rund um Politik, Digitalisierung und Demokratie. Gegenwart der Demokratie 119 <?page no="120"?> Deutschlandfunk Kultur bietet mit dem Philosophiemagazin „Sein und Streit“ in 30bis 45-minütigen Beiträgen Gespräche mit Ex‐ pert*innen alles Wissenswerte und Diskussionswürdige rund um aktuelle, brennende politische und philosophische Fragen und Her‐ ausforderungen. www.deutschlandfunkkultur.de/ sein-und-streit.2 161.de.html Welche Theorien liegen dem modernen Staatsbürger*innenverständnis zugrunde? Viel länger als das moderne Konzept der Staats bürger*innenschaft gibt es Debatten und Theorien über Bürger*innenschaft. Diese thematisieren die rechtlichen, politischen, normativen, ethischen und moralischen Be‐ dingungen der Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen. Das geht zurück bis zu Platons und Aristoteles’ Überlegungen dazu, was es bedeutet, ein gutes Mitglied einer gerechten Ordnung oder ein zoon politikon in einer Tugendgemeinschaft zu sein. Gegenwärtig gibt es in der poli‐ tikwissenschaftlichen Forschung eine Vielzahl an so genannten citizen‐ ship-Theorien, die im Prinzip mit den jeweiligen Demokratietheorien zusammengehören. So gibt es neben liberalen und republikanischen auch radikaldemokratische, multikulturalistische, kosmopolitische und femi‐ nistische Theorien des Bürger*innen-Seins, die mal mehr, mal weniger beanspruchen, die politische und rechtliche Wirklichkeit nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch normativ zu beeinflussen. Mit der Entwicklung der antiken zur modernen Demokratie entwi‐ ckelte sich auch entsprechend der Bürger*innenbegriff weiter, bezie‐ hungsweise traten neue zu den klassischen Verständnissen hinzu. Für Aristoteles etwa war die unmittelbare Teilhabe an Rechtsentscheidungen und an politischen Entscheidungen noch maßgeblich für die Bestimmung des Bürger*innenstatus. Dabei legte er einen qualitativen Maßstab an und sah das Ausmaß der Beteiligung als bestimmend an. Deswegen hat er Demokratien auch zumindest in diesem einen Punkt den Vorzug vor allen anderen Herrschaftstypen gegeben. Im Unterschied zum modernen Verständnis ging es Aristoteles aber nicht einfach um die reine Existenz von Partizipationsrechten, sondern um die wirkliche aktive Beteiligung Demokratie? Frag doch einfach! 120 <?page no="121"?> am politischen Leben. Dafür waren bestimmte Fähigkeiten und Tugenden von Nöten, um auch wirklich ein guter Bürger und damit ein vollwer‐ tiges menschliches Lebewesen zu sein. Das Gemeinwesen hatte daher die Aufgabe, seine Mitglieder zu tugendhaften, gemeinwohlorientierten Bürgern zu erziehen. Mit Blick auf die Notwendigkeit der regelmäßigen Herrschaftsablösung zur Vermeidung von Korruption und Machtmiss‐ brauch war das vor allem die Befähigung, sowohl herrschen als auch sich beherrschen lassen zu können. Wie änderte sich das Bürger*innenverständnis in der Moderne? Mit der Moderne trat ein völlig neues Verständnis einer Idealbür‐ ger*in auf. Mit Hobbes wurden die Menschen nicht mehr als von Natur aus auf die politische Gemeinschaft hin angelegt betrach‐ tet. Statt dem zoon politikon wurde der Mensch jetzt als homo oeconomicus gefasst. Aus dieser radikal anderen Anthropologie ergaben sich folgenreiche Konsequenzen für das Verhältnis von Politik, Gemeinschaft und Individuum. Die moderne Bürger*in wird seither als ein von Natur aus mit Freiheitsrechten ausgestat‐ tetes Wesen betrachtet, das zur Vernunft befähigt ist und diese möglichst frei entfalten soll, um seine natürlichen Interessen und individuelle → Freiheit voll entfalten zu können. Bürgerin in der Moderne ist man dem liberalen Verständnis nach also dadurch, dass man qua Geburt und Menschsein gewisse Rechte genießt, die dem Staat unverfügbar sind und von diesem garantiert und geschützt werden müssen. Das bedeutet auch umgekehrt, dass sich jede Form von politischer Herrschaft vor dem Individuum rechtfertigen muss und nur dann als legitim gelten kann, wenn es dieser zumindest theoretisch zustimmen würde. Im Unterschied zur Antike ist das ein eher negatives Konzept, das externe Ansprüche an das Individuum prinzipiell als freiheitsgefährdend abwehrt, wohingegen das antike Bürger*innenverständnis positiv, sprich ak‐ tivierend und einfordernd konzipiert war. Unter Rückgriff auf diese Gegenwart der Demokratie 121 <?page no="122"?> antiken Vorstellungen prägte Rousseau im 18. Jahrhundert eine ideengeschichtlich einflussreiche Unterscheidung, indem er den Begriff der Bürger*in unterschied in Bourgeois/ e und Citoyen/ ne. Unter der Citoyenne verstand er das Idealbild eines politischen Wesens, das Politik nicht zum Zweck seines Individualinteresses betreibt, sondern sich eben tugendhaft um die Verwirklichung des Gemeinwohls sorgt. Citoyen und Citoyenne leiten sich laut Rousseau nämlich von der antiken polis her, die im Französischen mit Anlehnung an die lateinische civitas als cité übersetzt und von der einfachen Stadt (ville) auch qualitativ unterschieden wurde. Hier war also noch die Stadt der Bezugspunkt für die politische Identität. Die einfache, an ihrem Privatinteresse mehr als am Ge‐ meinwohl orientierte Bürger*in war für Rousseau daher besser mit Bourgeois/ e beschrieben. Neben Kant nahm vor allem Marx diese Unterscheidung auf, um mit Bourgeoisie die über das Proletariat herrschende und über die Produktionsmittel verfügende Klasse zu bezeichnen. Heute dominieren in demokratischen Gesellschaften und deren Staatsbürger*innenbegriff meist Mischformen des libe‐ ralen und des republikanischen Bürger*innenverständnisses, wobei ein deutliches Übergewicht der liberalen Konzeption einer univer‐ salen Idee gleich und frei geborener Bürger*innen als Individuen festzustellen ist. Aus Sicht der dominanten liberalen Tradition neigt das republikanische Denken nämlich in manchen Varianten dazu, der Gemeinschaft zu viel Bedeutung gegenüber der Autonomie des Individuums einzuräumen, was sie als freiheitsgefährdend und vormodern ablehnt. Wie demokratisch ist das Konzept von Bürger*innenschaft? In den vielen unterschiedlichen Varianten von (Staats-)Bürger*innen‐ schaft oder citizenship , die sich im Laufe der Zeit aus der liberalen und republikanischen Tradition ausdifferenziert haben, lässt sich die Ge‐ meinsamkeit feststellen, dass Bürger*innen stets als Gleiche konzipiert werden, beziehungsweise diese → Gleichheit nicht als das Ziel, sondern als bereits existente Voraussetzung der gemeinsamen Teilhabe an der Demokratie? Frag doch einfach! 122 <?page no="123"?> Rechtsgemeinschaft unterstellt wird. Das klingt zunächst demokratisch. Die liberale Vorstellung etwa geht davon aus, dass die formal-rechtliche Gleichstellung aller über den für alle gleich gültigen Katalog an Grund- und Menschenrechten auch für eine faktische Gleichheit unter den Bür‐ ger*innen als Menschen sorgt - und sei es als prinzipielle Chancengleich‐ heit, die dann entsprechend der individuellen Begabungen und Anstren‐ gungen zu unterschiedlichen Erfolgen und Lebenswegen führen kann. Diese Perspektive übersieht jedoch, dass die rein formale Gleichheit vor dem Gesetz noch keine Chancengleichheit garantieren kann, nicht einmal innerhalb derselben Bürger*innenschaft. Denn die Perspektiven eines Individuums, das zeigen Untersuchungen immer wieder, hängen zu einem Großteil von den ökonomischen und sozialen Umständen ab, in die man hineingeboren wird. Wirklich demokratisch wäre es also, die Gleichheit der Bürger*innen nicht einfach nur vorauszusetzen, sondern sie zum erklärten Ziel aller Politik zu machen. Ansonsten wird leicht übersehen, dass das Konzept der Staatsbürger*innenschaft Ungleichhei‐ ten und Ausschlüsse nicht nur ausblendet, sondern sie notwendig immer auch produziert. Das demokratische Gleichheitsideal ist nämlich sehr gewaltvoll, solange es Menschengruppen gibt, die als ungleich gelten oder die trotz des geltenden Rechts als Ungleiche behandelt werden. Das gilt sowohl innerhalb von Nationalstaaten, als auch global gesehen. Denn jede Gemeinschaft von Gleichen, wenn sie nicht als prinzipiell erweiterungsfähig gedacht und entsprechend offen gehalten wird, wird zu einer exklusiven und aggressiven Angelegenheit, insofern sie die von ihr produzierten Ungleichen vernachlässigt, unterdrückt oder sogar offen bekämpft. Das galt lange Zeit und gilt mitunter immer noch für Frauen, die zwar irgendwann formal volle politische und soziale Teilhaberechte genossen, faktisch aber nach wie vor unter machtvollen Diskursen, ungleich besetzten Institutionen sowie Gewalt leiden, ebenso wie Nicht-Bürger*innen, Migrant*innen, people of color, Jüd*innen und LGBTQI+-Personen. Linktipp | OpenDemocracy ist eine unabhängige politische Website (www.opendemocracy.net) mit einem eigenen You‐ Tube-Kanal (www.youtube.com/ channel/ UCKTPks8QcY-i8l7YeW Gegenwart der Demokratie 123 <?page no="124"?> 5OdjA). Durch die Berichterstattung und Analyse sozialer und politischer Fragen versucht sie, die demokratische Debatte weltweit zu fördern. Mit den Menschenrechten als zentralem Leitfaden stellt sie Fragen zu Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie und gibt denjenigen, die für ihre Rechte kämpfen, die Möglichkeit, ihre Argumente vorzubringen und zum Handeln anzuregen. Der You‐ Tube-Kanal bietet Live-Diskussionen und Vorträge renommierter Expert*innen zum Thema Demokratie. Wie lässt sich Bürger*innenschaft demokratisieren? Das starre, Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten bewahrende bis reproduzierende Verständnis von Staatsbürger*innenschaft wird in vielen demokratischen Gesellschaften gegenwärtig immer stärker hin‐ terfragt und an der ein oder anderen Stelle gerät es auch schon ins Wanken. Das ist den sozialen und politischen Kämpfen verschiedener Initiativen um eine Radikalisierung und Demokratisierung von Bür‐ ger*innenschaft zu verdanken. Dabei geht es sicher in erster Linie darum, dass die bestimmten Gruppen verwehrten und vorenthalte‐ nen Rechte auch auf diese ausgeweitet werden, etwa das Recht auf Eheschließung und die Adoption von Kindern für Homosexuelle. Gleichzeitig aber wird dabei immer auch ganz grundsätzlich in Frage gestellt, wie eine Gemeinschaft überhaupt Zugehörigkeit definiert und zuteilt, um so mögliche Blockaden einer inklusiveren und emanzipier‐ teren Gesellschaft abzubauen und sich dem Ideal wirklich befreiter Verhältnisse anzunähern. Hierfür kann die Bürger*innenschaft als zentrale demokratische Institution eines der wichtigsten Scharniere und damit einer der effizientesten Ansatzpunkte für demokratische Kämpfe sein. Damit versteht sich aber, dass man als demokratische Bürger*in nicht rein passiv darauf vertrauen darf, dass der Staat schon alles Nötige regelt, beziehungsweise dass alles gut ist, wie es ist. Denn Bürger*in einer Demokratie zu sein, bedeutet immer auch, Teil des Souveräns und damit politische Akteur*in zu sein, unabhängig davon, ob man den Bürger*innenstatus formal bereits genießt, ihn für sich oder andere erkämpfen oder bürgerliche Teilhabe- und Freiheitsrechte Demokratie? Frag doch einfach! 124 <?page no="125"?> gegen ihren Rückbau verteidigen muss. Étienne Balibar hat in diesem Sinne formuliert, dass demokratische Bürger*innenschaft entweder konfliktgeladen ist oder gar nicht existiert, und Claude Lefort hat ihm dahingehend zugestimmt, als die erste bürgerliche Tugend die Uneinigkeit sei. Die Frage der Bürger*innenschaft hängt also eng mit der Antwort auf die demokratische Frage zusammen, was für eine Art politischer und sozialer Gemeinschaft man sein möchte, und damit die Antwort auf diese Frage auch wirklich demokratisch sein kann, kann sie sich nur an den Leitsternen der Verwirklichung der → Freiheit und → Gleichheit für alle orientieren. Das schließt dann für die konkrete Praxis auch das politische Engagement jenseits von Wahlen, Parteien und Verbänden ein, etwa in Protestbewegungen oder mitunter auch Aktionen des Widerstands und Zivilen Ungehorsams. Literatur- und Linktipp | Ein Buch nach dem Motto „Alles über Bürger*innenschaft“: Isin, E.F.; Turner, B.S. (Hrsg.): Handbook of Citizenship Studies, Sage Publications 2002. Ein sehr erhellendes Interview mit der Theoretikerin und Aktivistin Bini Adamczak über die Möglichkeit der radikalen Veränderung der gegenwärtigen Welt gibt es zudem auf der Website der Zeitschrift analyse&kritik zu lesen (www.akweb.de/ bewegung/ bini-adamcza k-vom-widerstand-zur-utopie). Was ist Ziviler Ungehorsam? Als Zivilen Ungehorsam bezeichnet man eine besondere Form der poli‐ tischen Teilhabe, die im Kern den bewussten und symbolischen Verstoß gegen eine geltende rechtliche Norm, ein Gesetz oder eine eigentlich legitime Handlungserwartung an Bürger*innen meint. Der Verstoß ist dabei prinzipiengeleitet und verfolgt das Ziel, auf Missstände hin‐ zuweisen und/ oder bestimmte Gesetze und Maßnahmen zu verhindern oder zu verändern. Er weist eine gewisse Nähe zum Widerstand auf, ist mit diesem jedoch nicht gleichzusetzen. Ob der Zivile Ungehorsam immer öffentlich stattfinden und zudem prinzipiell gegen staatliche In‐ stitutionen gerichtet sein muss, ist in der Wissenschaft wie in der Praxis Gegenwart der Demokratie 125 <?page no="126"?> umstritten. Gewöhnlich wird das Prinzip des Zivilen Ungehorsams in modernen Gesellschaften auf den amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau (1817-1862) sowie auf Mohandas Karamchand Gandhi (1869-1948) und Martin Luther King Jr. (1929-1968) zurückgeführt. In diese Tradition stellen sich heute viele Protestbewegungen, die in ihrer politischen Praxis auf den Zivilen Ungehorsam als Strategie zurückgreifen. In der Politikwissenschaft und Demokratietheorie gibt es verschiedene Ansätze der Bewertung der Bedeutung sowie der Rechtfertigung des Zivilen Ungehorsams für die Demokratie. Welches sind die vier Modelle des Zivilen Ungehorsams? Der Sozialphilosoph Robin Celikates (*1977) unterscheidet vier Modelle innerhalb der Demokratietheorie, um Zivilen Ungehorsam konzeptionell zu fassen. Das romantisch-individualistische Modell assoziiert Robin Ce‐ likates mit Thoreaus Schrift „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ . Hier wird der Zivile Ungehorsam mit dem Verweis auf ein höheres natürliches oder göttliches Gesetz gerechtfertigt, wobei es die Angelegenheit des Individuums ist, diese Gewissensfrage zu prüfen. Aus einer demokratietheoretischen Sicht ist dieses Modell dahingehend problematisch, als es keine Kriterien außerhalb des je eigenen Gewissens angeben kann. Laut Hannah Arendt ist es daher innerhalb dieser Form Zivilen Ungehorsams nicht möglich festzustel‐ len, ob es sich bei dem mit Pathos und einer gewissen Opferbereitschaft durchgeführten Akt um ein Kennzeichen von Wahnsinn oder um ein wirklich politisches Anliegen handelt, es also den Anspruch auf die Verbesserung der Verhältnisse für alle erhebt. Um legitim zu sein, muss sich Ziviler Ungehorsam für Arendt nämlich im Kontext einer zwischenmenschlichen kollektiven Praxis entfalten. Wie der Revo‐ lutionär, so Arendt, strebt auch die Gehorsamsverweigerer*in danach, die Welt zu verändern. Die entscheidende Frage ist jedoch die nach der Einbeziehung der anderen sowie nach dem Verzicht auf Gewalt. Das liberal-konstitutionalistische Modell hingegen hält Zivilen Ungehorsam nur dann für rechtfertigbar, wenn plausibel gemacht wer‐ den kann, dass er sich gegen die Verletzung von individuellen Rechten Demokratie? Frag doch einfach! 126 <?page no="127"?> oder fundamentalen Verfassungsprinzipien seitens einer staatlichen Institution oder der Mehrheitsgesellschaft richtet. Insofern die geltende Verfassung also prinzipiell als legitim angesehen werden kann, jedoch punktuell gegen manche in ihr niedergelegte Prinzipien verstoßen wird und das in einem entsprechend ausreichenden Maß, kann Ziviler Ungehorsam als legitimes Mittel akzeptiert werden. Für dieses Modell stehen John Rawls (1921-2002) und Jürgen Habermas Pate. Beide sehen den Zivilen Ungehorsam als eine Praxis, die innerhalb der demokrati‐ schen politischen Systeme stattfindet und nicht deren Überschreitung, Veränderung oder gar Abschaffung beansprucht. Laut Rawls wird legitimer Ziviler Ungehorsam in Situationen ausgeübt, in welchen man damit rechnet, bestraft zu werden und diese Bestrafung dann auch akzeptiert. Damit bewegt sich der Zivile Ungehorsam im Rahmen der Gesetzestreue und kann an der Grauzone zum Gesetzesübertritt noch gerechtfertigt werden, sofern man der Öffentlichkeit die eigenen heh‐ ren Absichten glaubhaft vermitteln kann. Habermas geht sogar einen Schritt weiter und wünscht sich die vorherige Ankündigung von Akten Zivilen Ungehorsams. Er versteht diesen als eine Art ultima ratio , wenn alle anderen institutionell vorgesehenen Wege das bestehende Unrecht nicht beseitigen konnten. Das dritte Modell bezeichnet Celikates als avantgardistisch. Dem‐ nach wird Ziviler Ungehorsam eingesetzt, um strukturelle Blockaden zu beseitigen, die eine Transformation der Gesellschaft oder die Er‐ kenntnis derer Notwendigkeit behindern. Hierfür sieht er die Umwelt‐ bewegung der 1980er Jahre als paradigmatisch an, insofern diese das Mittel des Zivilen Ungehorsams als eine Art Notbremse einsetzte, um der Mehrheitsgesellschaft einen heilsamen Schock zukommen zu lassen und sie zum Umdenken beziehungsweise zu einem radikalen Wandel ihrer Gewohnheiten und Praktiken zu bewegen. Aus einer demokratietheoretischen Perspektive ist hieran zu kritisieren, dass es den Zivilen Ungehorsam zu einer Frage der richtigen Erkenntnis erhebt und so Gefahr läuft, paternalistisch bis autoritär zu werden. Zusammenfassend können alle drei Modelle zwar eine gewisse Berech‐ tigung und Legitimation beanspruchen. Jedoch bekommen sie mit ihrer Bezugnahme auf das individuelle Gewissen, die Prinzipien der Moral und des Rechts sowie auf die privilegierte Erkenntnis die spezifisch Gegenwart der Demokratie 127 <?page no="128"?> demokratietheoretische Bedeutung des Zivilen Ungehorsams nur un‐ genügend in den Blick. Daher schlägt Celikates ein viertes, radikaldemokratisches Mo‐ dell als geeignet vor, das den Zivilen Ungehorsam als einen Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung von den Vorbehalten des liberalen Modells befreit. Demnach hat der Zivile Ungehorsam eine Ausweitung und eine Vertiefung der Demokratie, ihrer Prozeduren, Institutionen und Normen zum Ziel. Seine wesentliche Bedeutung liegt nicht in der Durchsetzung einer konkreten politischen Forderung, sondern in der Wiederaufnahme des öffentlichen politischen Streits um die Antworten auf die Frage der Demokratie. Hier leitet also ein Verständ‐ nis des demos in seiner konstituierenden Kraft die Überlegungen an. Der Zivile Ungehorsam macht dann die Widersprüche zwischen den in Verfassung und Gesetz positivierten gleichen Rechten aller auf der einen, und den in der politischen Realität faktisch erfahrbaren Ungleichbehandlungen auf der anderen Seite sichtbar. Die Effekte können dann sowohl die Schaffung eines kollektiven Bewusstseins für geschehendes Unrecht als auch der Anstoß von öffentlichen Diskus‐ sionen und Prozessen der Transformation des bestehenden Systems sein. Auch in der Teilhabe an Aktionen des Zivilen Ungehorsams selbst ist ein demokratischer Wert zu sehen, insofern diese Gefühle der Selbstwirksamkeit vermitteln und dadurch Selbstermächtigung ermöglichen können, wie sie Voraussetzung für die Herausbildung einer aktiven politischen Zivilgesellschaft und einer kollektiven de‐ mokratischen Identität sind. Zivil ist der Ungehorsam dann, weil er gegenüber den Mitbürger*innen gewaltfrei, sprich nicht-militärisch abläuft. Die Ausübung Zivilen Ungehorsams kann als die bevorzugte Praxis radikaldemokratischer Bürger*innenschaft verstanden werden. Oder, mit Hannah Arendt gesprochen, als der radikaldemokratische Ausdruck dessen, dass in einer Demokratie niemand das Recht hat, zu gehorchen. Demokratie? Frag doch einfach! 128 <?page no="129"?> Welche Bedeutung haben Protestbewegungen für die Demokratie? Die gegenwärtig weltweit zunehmenden Protestbewegungen, etwa die Alter-Globalisierungsbewegung, die Ökologiebewegung, die Black-Li‐ ves-Matter-Bewegung und die Metoo-Bewegung, lassen sich nicht nur als Fortführungen der Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen der Mitte des 20. Jahrhunderts verstehen, sondern auch in die lange Tradition der demokratischen und sozialrevolutionären Bewegungen seit den demo‐ kratischen Revolutionen im 18. Jahrhundert einreihen. Proteste sind nicht einfach Begleit- oder gar Verfallserscheinungen demokratischer Gesellschaften, ihnen kommt vielmehr eine konstitutive Bedeutung sowohl für die Herausbildung als auch für die Weiterentwicklung der Demokratie zu. Der Blick in die Geschichte der Demokratie zeigt, dass diese sich weder allein aus sich selbst heraus weiterentwickelt hat, noch von den politischen und wirtschaftlichen Eliten ausging und ausgeht, sondern dass es in den allermeisten Fällen der politische und soziale Druck von Protestbewegungen war, der zu einem substanziellen Wandel und zu demokratischen Verbesserungen geführt hat. Zugleich sind Protestbewegungen weder in der politischen Debatte noch im wissenschaftlichen Diskurs unumstritten geblieben. Immerhin agieren sie mitunter außerhalb der etablierten und per Verfassung legitimierten politischen Institutionen und Beteiligungsmöglichkeiten und greifen dafür oft auf Strategien wie den Zivilen Ungehorsam zurück. Zentral wird vor allem die Frage diskutiert, was das Demokratische oder De‐ mokratisierende an Protestbewegungen ist. Gerade in Zeiten, in denen wie zuletzt antidemokratische rechtspopulistische bis rechtsradikale Bewegungen sich das demokratische Narrativ des legitimen Protests ei‐ nes souveränen → Volks gegen eine vermeintliche Fremdbestimmung anzueignen versuchen, kann schließlich nicht jeder öffentliche und kollektive Ausdruck von Protest an sich schon gutzuheißen sein. Gegenwart der Demokratie 129 <?page no="130"?> Was sind demokratische Protestbewegungen? Um zu bewerten, ob Protestbewegungen wirklich demokratisch sind, empfiehlt es sich darauf zu achten, ob die geäußerten Forderungen auf eine Exklusion bestimmter Menschengruppen aus der (Rechts-)Ge‐ meinschaft der gleichen und freien Bürger*innen abzielen oder sie im Falle ihrer Verwirklichung exkludierende Effekte zeitigen würden. Ist dies der Fall, kann man nicht von demokratischen Protesten sprechen. Denn demokratische Proteste zielen zwar mitunter gegen die Regeln, Normen und Praktiken der Mehrheitsgesellschaft, jedoch immer mit dem prinzipiellen Anspruch auf die Ausweitung der Gemeinschaft der Freien und Gleichen sowie die Vertiefung ihrer demokratischen Praxis und Institutionen. Wirklich demokratische Protestbewegungen erkennt man deswegen daran, dass sie das demokratische Prinzip der → Gleichheit Ernst nehmen und diese Gleichheit in politische Forderungen nach einer Ausweitung von Privilegien und Rechten für tendenziell alle Menschen überführen. So kämpfen demokratische Protestbewegungen explizit oder implizit für den, mit Jacques Rancière gesprochen, Anteil der Anteilslosen, also für den Einschluss oder die Rechte derer, die formal keine vollwertigen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft sind und/ oder von dieser überhört und missachtet werden. Dabei kann dieser Protest sowohl von unmittelbar Betroffenen ausgehen als auch von oder zusammen mit eigentlich Privilegierten, die sich solidarisieren. Die Frauenbewegung (siehe hierzu die Frage zur feministischen Demokra‐ tietheorie) zum Beispiel hatte keine Möglichkeit, das Wahlrecht für Frauen gegen den männlichen Souverän innerhalb des bestehenden Systems zu erstreiten. Deswegen nahmen die Frauen sozusagen den Umweg über die Straße, um auf der politischen Bühne nicht nur gehört zu werden, sondern dort auch selber aufzutreten. Jenseits konkreter Forderungen geht es demokratischen Protestbe‐ wegungen also immer um die Ausweitung der Grenzziehungen des ge‐ genwärtigen → Volks. Judith Butler zum Beispiel sieht die Bedeutung von Protestbewegungen, vor allem der Versammlungen und Besetzun‐ gen von öffentlichen Plätzen, darin, dass sich hier in der politischen Praxis und der gemeinsamen Erfahrung kollektiven Miteinanders ein widerständiges Volk in Opposition zum aktuell gültigen Verständnis Demokratie? Frag doch einfach! 130 <?page no="131"?> des Volkes herausbildet. Wohlgemerkt ohne den Anspruch zu erheben, mit dem gesamten Volk identisch zu sein. Vielmehr sind es hier ver‐ schiedene Volksverständnisse, die in einen Konflikt zueinander treten. Die Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey (*1964) schlägt für die Platz‐ besetzungen daher den Begriff der präsentischen Demokratie vor, die im Anschluss an die antike Praxis der Versammlungsdemokratie als Alternative zum repräsentativen System der liberalen Demokratie verstanden werden muss. So sieht sie die Bedeutung von Protestbewe‐ gungen darin, dass diese einen Bruch mit dem bestehenden System voll‐ ziehen und sich aus den Institutionen zurückziehen, um sich so auf den Plätzen zur konstituierenden Kraft des demos zusammenzufinden und dort experimentell neue demokratische Formen des Zusammenlebens auszuprobieren und gegebenenfalls vorwegzunehmen. Hinzu kommt schließlich, dass sich demokratische Proteste mit erreichten Erfolgen nie auf Dauer zufriedengeben können, da jeder weitere Einschluss die Grenze zu den Ausgeschlossenen und Entrechteten nur verschiebt, jedoch nicht aufhebt. Denn auch die Demokratie ist immer auf Diffe‐ renzziehungen angewiesen, um Identitäten auszubilden, nur gilt es eben, die jeweilige Grenze als demokratische Kampfzone dynamisch zu halten. Protestbewegungen, die dies nicht tun, sind nicht nur nicht demokratisch, sondern in ihrem Anspruch auf Exklusion bestimmter Menschengruppen antidemokratisch. Was ist Populismus? Seit ein paar Jahren ist der Populismus ein bestimmendes Thema in der demokratischen Öffentlichkeit, Politik und den Wissenschaf‐ ten. Zahlreiche Studien beschäftigten sich mit den Ursachen für den weltweiten Anstieg populistischer Bewegungen und Parteien und ihrer zunehmenden Wahlerfolge auch in liberalen Demokratien. Um den Populismus besser verstehen und analysieren zu können, befragen sowohl ökonomische als auch sprachwissenschaftliche, soziologische, ideengeschichtliche und politikwissenschaftliche Studien diesen auf seine Ursprünge und Ausprägungen in den Gegenwart der Demokratie 131 <?page no="132"?> USA, Südamerika und Europa. Zudem wird er als Ideologie, Stilmit‐ tel, Strategie oder politischer Kampfbegriff untersucht, woran sich Analysen seiner Effekte auf die demokratischen Gesellschaften an‐ schließen. Dabei steht oft die Frage im Raum, ob es sich beim Popu‐ lismus noch um einen (wenngleich vielleicht extremen) Ausdruck demokratischer Politik handelt oder aber um eine Gefahr für die Demokratie. Hierzu reichen die Bewertungen von einer grundsätz‐ lichen Ablehnung des Populismus seitens liberaler Positionen bis zu einer Affirmation des Populismus als geeigneter Strategie für eine linke, progressive demokratische Politik im Kampf gegen Neolibe‐ ralismus und Rechtspopulismus. Uneinigkeit herrscht jedoch schon bei den Versuchen, Populismus eindeutig zu definieren. Vom Begriff her nimmt der Populismus zentral auf die Kategorien des → Volkes (lat. populus) Bezug. Die „Encyclopedia of Democracy“ definiert Populismus als eine politische Bewegung, welche die Interessen, kulturellen Wesenszüge und spontanen Empfindungen der so ge‐ nannten einfachen Bevölkerung zu berücksichtigen behauptet. Von dieser grenzen populistische Bewegungen und Parteien die privi‐ legierten Eliten ab, gegen die sie sich wiederum unter Rückgriff auf den vermeintlichen Willen der Mehrheit oder gleich des ganzen Volkes positionieren. Diesem versprechen Populist*innen durch Massenversammlungen oder andere Formen direkter Demokratie am bestehenden Institutionensystem vorbei besser Geltung zu verschaffen. Jedoch hält diese Standarddefinition der Aufteilung des öffentlichen Raums in einfaches Volk gegen korrupte Elite einer empirischen Überprüfung kaum stand. Nicht nur finden sich Unterstützer*innen populistischer Parteien und Bewegungen in allen ökonomischen und sozialen Gesellschaftsschichten. Zudem sind die Populist*innen aber längst nicht mehr die Alternative zum bestehenden System der Demokratie, sondern erfolgreich parteiförmig organisiert und entsprechend auch in nationalen und supranationalen Parlamenten vertreten. So hat der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller (*1970) jüngst die Berufung auf den vermeintlichen Volkswillen als ein ent‐ scheidendes, jedoch noch nicht hinreichendes Kriterium herausge‐ Demokratie? Frag doch einfach! 132 <?page no="133"?> arbeitet. Populist*innen würden zwar weiterhin behaupten, den Willen des Volkes besser zu kennen beziehungsweise ihm im Gegensatz zu den etablierten Parteien und Politiker*innen über‐ haupt Gehör zu schenken. Oft geschehe dies auch in Verbindung mit der Berufung auf den vermeintlichen gesunden Menschenver‐ stand, der in der etablierten und korrumpierten politischen Elite bewusst missachtet würde. Dabei präsentieren sich die Populist*in‐ nen laut Müller jedoch gegenwärtig als die einzig legitimen Vertreter*innen des → Volkes. Nicht die Ablehnung des Prinzips der → Repräsentation als solchem ist also entscheidend, sondern die Behauptung einer wahrhaften und authentischen Repräsenta‐ tion, die sie beanspruchen, ohne sich dabei um die empirischen Wahlergebnisse groß zu scheren. Neben und außer sich dulden sie keine anderen Parteien und Politiker*innen als legitime Reprä‐ sentant*innen, außer sie sind aus strategischen Gründen in eine Koalition gezwungen. Dies ändert jedoch nichts am Anspruch, die einzig legitimen Vertreter*innen des so genannten einfachen Volkes zu sein. Der dafür entsprechend in Stellung gebrachte Volksbegriff ist dabei der eines vermeintlich reinen, homogenen, also konfliktfreien Volkes. Hier wird jede pluralistische und hete‐ rogene Vielfalt demokratischer Gesellschaften auf einen ethnisch und/ oder kulturell fundierten Volksbegriff enggeführt, um davon dann alle vermeintlich volksfeindlichen sozialen und politischen Gruppen von Feminist*innen, Linken, Migrant*innen, Jüd*innen und queeren Menschen auszugrenzen und ihnen das Recht auf politische → Partizipation abzusprechen. Müller versteht daher den Rechtspopulismus als eine wesentliche Gefahr für die liberale Demokratie, da dieser Pluralismus und die Legitimität der institutionalisierten demokratischen Konfliktaustragung nicht anerkennt. Was ist Linkspopulismus? Der Linkspopulismus bedient sich mitunter der gleichen Grundmuster und Strategien wie der Rechtspopulismus, jedoch mit einer anderen Gegenwart der Demokratie 133 <?page no="134"?> Freund*in-Feind*in-Konstellation und vor allem mit anderen Zielset‐ zungen. Er strebt soziale Gerechtigkeit, ökonomische Umverteilung und eine Ausweitung der Grundrechte auf alle Menschen an. Auch er versammelt rhetorisch das Volk hinter sich, positioniert es jedoch nicht gegen sozial, ökonomisch und politisch schwächer gestellte Gruppen wie zum Beispiel Migrant*innen, sondern gegen Wirtschaftseliten, ökonomische Lobbygruppen, transnationale Konzerne, korrupte Poli‐ tiker*innen oder allgemein das Kapital und die Ideologie des Neolibe‐ ralismus. Chantal Mouffe entwickelte ein gegenwärtig breit diskutiertes theo‐ retisches Konzept eines Linkspopulismus. Vor dem Hintergrund der seit einigen Jahren zunehmenden Orientierung der europäischen Sozi‐ aldemokratie an der Ideologie des Neoliberalismus kritisierte sie deren Politik der Neuen Mitte, einer Politik jenseits von links und rechts, als die Hauptursache für den Aufstieg des Rechtspopulismus. Indem die sozialdemokratischen Parteien in Europa nämlich die soziale Frage aus dem Blick genommen hätten und das bestehende Wirtschaftssystem als alternativlos akzeptierten und es damit jeder politischen Kritik entzogen, hätten sie eine wirtschafts- und konsensorientierte Politik befördert, die das gesellschaftliche Bedürfnis nach sozialer und öko‐ nomischer Gerechtigkeit sowie nach der Austragung von Konflikten nicht mehr befriedigen kann. Dieses Bedürfnis würden die Rechtspo‐ pulist*innen erfolgreich bedienen, weil sie das strategische Potenzial populistischer Politik beziehungsweise das populistische Prinzip jeder Politik erkannt hätten. Das klassische Wähler*innenklientel der Sozi‐ aldemokratie hingegen würde sich von dieser nicht mehr repräsentiert fühlen und entsprechend in die Arme rechtspopulistischer Bewegun‐ gen und Parteien getrieben. Den Rechtspopulismus versteht Mouffe also als eine Antwort auf die Situation der Postdemokratie beziehungs‐ weise der in ihren Worten post-politischen Situation liberaler De‐ mokratien im 21. Jahrhundert. Für den Kampf um eine Wiedergewin‐ nung der im Zuge der Neoliberalisierung seit den 1980er Jahren stetig abgebauten demokratischen Errungenschaften des Sozialstaats sowie seiner politischen Teilhabemöglichkeiten empfiehlt Mouffe daher den linken und progressiven Kräften die Strategie des Linkspopulismus anzuwenden, den sie explizit nicht als eine Gefahr, sondern als die Demokratie? Frag doch einfach! 134 <?page no="135"?> Möglichkeit der Wiederbelebung der Demokratie versteht. Dafür greift sie auf die Erkenntnisse Ernesto Laclaus zurück. Dieser verstand den Populismus als eine rein formale und von allen Inhalten zunächst entleerte Logik, wie man politische Ordnungen und Hegemonien errichtet beziehungsweise in gegenhegemonialen Projekten verändern kann. Mouffe füllte dieses Konzept dann sozusagen mit einer linken Politik der Re-Demokratisierung der liberalen Demokratien an. Ent‐ scheidend dafür sei die glaubhafte und mobilisierende Konstruktion eines Wir-Sie-Gegensatzes, der nicht wie die rechte Strategie auf den Ausschluss von religiösen, ethnischen oder politischen Minderhei‐ ten zielt, sondern die progressiven linken Kräfte in Gesellschaft und Politik gegen den Kapitalismus und Neoliberalismus in Stellung bringt. So würde eine Form leidenschaftlicher Auseinandersetzung mit möglichen Systemalternativen erneut entfacht und eine schlagkräftige politische Bewegung aufgebaut werden können, wie sie in den par‐ lamentarischen Demokratien der letzten Jahrzehnte vor allem von jenen, die unter den Auswüchsen des Neoliberalismus, der steigenden Armut, den Wirtschafts- und Finanzkrisen sowie der Klimakrise litten, schmerzlich vermisst wurde. Mouffe geht es dabei wohlgemerkt nicht darum, ein populistisches Regime zu errichten. Die Strategie des Linkspopulismus soll vielmehr eine breite gesellschaftliche Bewegung initiieren, die dann den Marsch durch die Institutionen antritt, um in Form von Parteien in die Parlamente einzuziehen und dort Regie‐ rungsmacht zu übernehmen. Wenn die progressiven Parteien dann den Staat zum Instrument einer radikaldemokratischen Politik machen, wäre es möglich, die demokratischen Prinzipien der → Gleichheit und → Freiheit maximal zu vertiefen und auszuweiten. Literaturtipp | Mehr zu den Fragen „Was ist Populismus und unter welchen Bedingungen entsteht er? “ in: Jörke, D.; Selk, V.: Theorien des Populismus zur Einführung, Junius 2017. Gegenwart der Demokratie 135 <?page no="136"?> Was bedeutet Postdemokratie? Unter dem Begriff der Postdemokratie werden in den letzten Jahren unterschiedliche Krisendiagnosen zum Zustand der Demo‐ kratie gefasst. Die Vorsilbe „post“ bedeutet, dass man es nicht mit etwas völlig anderem als den traditionellen demokratischen Insti‐ tutionen zu tun hat, diese sich aber dennoch maßgeblich verändert haben und entsprechend von der Idee ihrer Einrichtung als auch von ihren aktuellen Versprechen stark abweichen. Gemein ist allen Verwendungen, dass man die gegenwärtige Demokratie entweder mitten in oder gar schon am Ende von einem Prozess der Entde‐ mokratisierung sieht. Der Soziologe und Politikwissenschaftler Colin Crouch (*1944) etwa bezeichnet mit Postdemokratie den Zustand der demokratischen Institutionen als Attrappen. Sie wür‐ den der Form halber zwar noch weiterbestehen, seien aber längst ausgehöhlt. Hinter den Kulissen würden mächtige transnationale Firmen und Lobbygruppen die Fäden ziehen, während man vorne auf der Bühne weiterhin Wahlen abhält, die jedoch zu Medien- und PR-Spektakeln verkommen sind. Wo die nationale Souveränität durch die Globalisierung ohnehin stark gefährdet ist, wiegt die Einflussübergabe durch die Politik an transnationale Wirtschafts‐ lobbys zudem doppelt schwer. Denn mit der allmählichen Aufgabe des Anspruchs auf das Prinzip der Volkssouveränität verliert der Nationalstaat als Ganzer weiter an Bedeutung, ohne dass die Demokratie aber in eine alternative, etwa supranationale Form überführt wird. Mit dem Begriff der Postdemokratie wird also vor allem die stetig voranschreitende Verschmelzung von Politik und Wirtschaft kritisiert, insofern der demokratische Staat sich immer mehr den Gesetzen und vermeintlichen Imperativen des Marktes unter‐ wirft. Hierfür wird vor allem die Ideologie des Neoliberalismus verantwortlich gemacht, die die demokratischen Prinzipien durch die Sprache und Logik des ökonomischen Wettbewerbs ersetzt und in alle gesellschaftlichen Bereiche vordringt. Somit wird der Staat zum Unternehmen gemacht und die Demokratie als Markt verstanden. Jacques Rancière spricht davon, dass die Politik in die Fänge der wirtschaftlichen Notwendigkeit und der rechtlichen Re‐ Demokratie? Frag doch einfach! 136 <?page no="137"?> gulierung geraten sei. Daher würde mehr und mehr der politische Konflikt zugunsten eines unterstellten Konsenses aus der demo‐ kratischen Praxis verbannt und das Prinzip des Streithandels als Wesenskern der Demokratie verdrängt. Dieser Punkt weist auf einen weiteren Aspekt der Postdemokratie, nämlich die Abgabe von Verantwortung seitens der Legislative an die Judikative. Viele Parteien würden heutzutage die offene Konfliktaustragung und ideologische Auseinandersetzung scheuen und entsprechend strit‐ tige Entscheidungen lieber gleich an die Gerichte weiterreichen, was im Umkehrschluss zu einer Entmachtung und einem Bedeu‐ tungsverlust der Parlamente als Herzkammern der Demokratie führt. Damit, so eine weithin geteilte Analyse unter den Theore‐ tiker*innen der Postdemokratie, würde die Politik maßgeblichen Anteil am Aufstieg rechtspopulistischer und antidemokratischer Parteien und Bewegungen haben, die sich relativ erfolgreich als Alternative zur bestehenden Postdemokratie präsentieren und zugleich weiter zum Abbau historischer Errungenschaften der Demokratie beitragen. Dahingehend werden Maßnahmen vorgeschlagen, die etwa den Einfluss wirtschaftlicher Eliten aus der Politik zurückdrängen sollen oder alternative Formen der → Partizipation bereitstellen, um der politischen Apathie der Bürger*innen ebenso entgegenzuwirken, wie deren Hinwendung zu rechtspopulistischen Demagog*innen. Literaturtipp | Einen kritischen Blick auf den Neoliberalismus wirft die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown in ihrem Buch, in dem es auch um eine Neuordnung des gesamten Denkens und um die Folgen für die Demokratie geht: Brown, W.: Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Suhrkamp 2018. Gegenwart der Demokratie 137 <?page no="139"?> Demokratie und Wirtschaft Spannend ist auch das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus. Passen die beiden überhaupt zusammen? Das wird jetzt genauer betrachtet! <?page no="141"?> Was bedeutet Kapitalismus? Der Kapitalismus ist eine spezifische Organisationsform der Pro‐ duktion und Verteilung von gesellschaftlichem Wohlstand, die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln, der Trennung dieses Eigentums von den Produzent*innen, auf Lohnarbeit und Profit‐ steigerung beruht. Wie jedes soziale, politische und ökonomische Phänomen hat natürlich auch der Kapitalismus eine Geschichte. Das bedeutet, dass er in bestimmten historischen, politischen und sozialen Kontexten entstanden ist und sich seine Bedeutung und Gestalt im Laufe der Zeit verändert hat. Somit gibt es eigent‐ lich verschiedene Kapitalismen sowohl in der Vergangenheit wie auch gegenwärtig. Hinzu kommt, dass der Kapitalismus nicht nur ein analytischer und deskriptiver, sondern auch ein politischer Kampfbegriff ist, den manche lieber durch das netter klingende Wort Marktwirtschaft ersetzen. Die unterschiedlichen Bedeutungs- und Verwendungsdimensionen lassen sich zum Beispiel an den in den öffentlichen Debatten der letzten Jahre oft diskutierten Begriffsvariationen des Spät-, Finanz- oder Raubtierkapitalis‐ mus veranschaulichen. Lässt erstere mindestens eine historisch abzugrenzende frühkapitalistische Variante vermuten, liegt bei zweiterer eher die Frage nach den systematischen Unterschieden zum Industriekapitalismus nahe, wohingegen der eindeutig pejora‐ tive dritte Begriff zumindest die Möglichkeit andeutet, dass es auch so etwas wie einen guten Kapitalismus geben kann, wenngleich er selber die Auswirkungen des gegenwärtigen als rücksichtslos und gefährlich bis tödlich markiert. Der Kapitalismus wird allgemein als eine Wirtschaftsform be‐ zeichnet, also eine spezifische Art, die Befriedigung der grundle‐ genden materiellen Bedürfnisse einer Gesellschaft zu organisieren. Der Begriff kann einen jedoch leicht auf die falsche Fährte bringen, dass man es mit unterschiedlichen und einander relativ unverbun‐ denen Sphären - hier die Wirtschaft, da die Gesellschaft, dort die Politik - zu tun hat. Das ist mitnichten der Fall. Der Kapitalismus hat als besondere Weise, wie Menschen, beziehungsweise Gesell‐ Demokratie und Wirtschaft 141 <?page no="142"?> schaften, die Aneignung der Natur zu ihrer Sache machen und wel‐ chen Stellenwert sie dieser Angelegenheit zuschreiben, notwendig fundamentale Auswirkungen darauf, wie man das gesellschaftliche Zusammenleben und dessen politische Regelung und Steuerung begreift. Nicht zuletzt hat das dann auch ganz massive Auswirkun‐ gen auf die Frage, ob und wie man sich als autonomes Individuum oder Mitglied einer Gemeinschaft, als natürliches oder soziales We‐ sen, als politisches und souveränes Subjekt versteht. Daher sollte man vom Kapitalismus besser als einer Gesellschaftsordnung sprechen, die maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der Politik nimmt, umgekehrt jedoch auch viel stärker politisch steuer- und reformierbar ist, als man manchmal den Eindruck bekommen kann, wenn Politiker*innen und Wirtschaftsvertreter*innen von den Sachzwängen und Imperativen der Märkte sowie der Alterna‐ tivlosigkeit zum Kapitalismus sprechen. Damit versteht sich, dass die aktuellen Verbindungen von Kapitalismus und Demokratie weder rein zufällig noch nebensächlich sind, sondern systematisch zusammenhängen. Welches sind die Grundmerkmale des Kapitalismus? Als eine Minimaldefinition lassen sich trotz aller Unterschiede in Ge‐ schichte und Gegenwart des Kapitalismus ein paar Grundmerkmale festhalten. Kapitalismus bedeutet zunächst das Privateigentum an Produktionsmitteln, also aller in der Natur vorfindbaren Arbeitsge‐ genstände und Rohstoffe sowie aller Werkzeuge und Maschinen, mit denen man die natürlichen Ressourcen im Prozess der Arbeit umfor‐ men, sprich bearbeiten kann, um so die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn dann von Eigentum die Rede ist, meint das die Idee, dass es Privatpersonen oder privatwirtschaftliche Firmen sind, welchen die Verfügung über die Produktionsmittel als legitim zuge‐ schrieben wird und nicht etwa dem Staat als Verwalter der allgemeinen Angelegenheiten oder gar der sich selbst verwaltenden Allgemeinheit. Der Staat hat wiederum unter anderem die Aufgabe, Verstöße gegen die Eigentumsrechte zu sanktionieren und so die Eigentumsverhält‐ Demokratie? Frag doch einfach! 142 <?page no="143"?> nisse mit dem Gewaltmonopol zwangsbewehrt zu schützen, um so die Gesellschaftsordnung als Ganze zu bewahren. Der Kapitalismus zeichnet sich dann dadurch aus, dass er die Gesellschaft in zwei Klassen teilt. Eben jene, welche die Produktionsmittel ihr rechtliches Eigentum nennen kann, und jene, die mit diesen Produktionsmitteln arbeitet, also die Arbeiter*innen oder allgemeiner die Produzent*innen. Erstere sind in der traditionellen marxistischen Theorie die Klasse der Kapitalist*innen oder der Bourgeoisie, letztere die Klasse der Proletarier*innen. Hinzu kommt im Kapitalismus die Institution eines so genannten und mindestens in Teilen auch strukturell so funktionierenden freien Arbeitsmarktes, auf dem die Arbeiter*innen ihre Arbeitskraft wie eine Ware anbieten und sich für den Einsatz ihrer Arbeitskraft entlohnen lassen. Ganz wesentlich ist dann noch die Kapitalakkumulation, also der stetige Versuch, unter dem Ge‐ bot der Profitmaximierung den im Arbeitsprozess erwirtschafteten Mehrwert abzuschöpfen, um ihn zu reinvestieren und zu einer weite‐ ren Produktion und Mehrwertsteigerung beizutragen. Die Anhäufung und Expansion des Kapitals werden also zum Selbstzweck und zu einer kaum beherrschbaren Dynamik, die stetiges Wachstum fordert und die Missachtung dieser Forderung hart bestraft. Somit tritt die ursprüngliche Idee der Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse in den Hintergrund und wird verdrängt von einer Logik des Höher, Weiter, Mehr, die auf der Suche nach immer neuen Rohstoffen und Absatzmärkten den ganzen Planeten als Ressourcenspeicher für die Bearbeitung durch Menschen betrachtet, was zu den mittlerweile bekannten und immer stärker beklagten wie bekämpften sozialen und ökologischen Katastrophen der Vergangenheit und Gegenwart führte. Welche sozialen Folgen hat der Kapitalismus? Die sozial problematische Dimension am Kapitalismus ist vor allem die Art und Weise, wie, zumindest der marxistischen Theorie nach, Mehrwert generiert wird, der als Einsatz für die Kapitalakkumulation die Maschine sozusagen am Laufen hält. Denn entgegen der klassischen Lehre der Ökonomie waren Marx und Engels nicht davon überzeugt, dass Gewinn im Prozess des Tauschhandels entsteht. Vielmehr ergaben Demokratie und Wirtschaft 143 <?page no="144"?> ihre Analysen, dass er über die Ausbeutung von Arbeitskraft erfolgt. Die Arbeiter*innen tragen ihre Arbeitskraft nämlich als Ware auf den Arbeitsmarkt, weil sie nichts anderes besitzen. Dort kaufen die Kapi‐ talist*innen sie für einen bestimmten Preis, für den die Arbeiter*innen dann wiederum mit den Produktionsmitteln der Kapitalist*innen diese Arbeitskraft in die Bearbeitung von Rohstoffen und die Herstellung von Waren und Gütern stecken. Damit schaffen die Arbeiter*innen zunächst Wert, der sich jedoch nicht mit dem Preis deckt, den die Kapitalist*innen für ihre Arbeitskraft bezahlen. Im 19. Jahrhundert zahlten sie gerade so viel, wie die Arbeiter*innen brauchten, um ihre Arbeitskraft bis zum nächsten Tag wiederherzustellen und auch heute streichen die Kapitalist*innen weit höhere Summen ein, als sie den Arbeiter*innen bereit sind auszuzahlen. Den Mehrwert, also die Differenz zwischen dem, was der Arbeiter*in bezahlt wird und dem, was die Ware auf dem Markt einbringt, streichen die Kapitalist*innen ein, um es erneut in den Produktionsprozess einzuspeisen, weiteres Kapital zu generieren, zu akkumulieren, zu zentralisieren und so die Profite weiter zu maximieren. Die Tätigkeit der einzelnen Arbeiter*in wird dabei im Produktions‐ prozess auf die massenhafte Wiederholung weniger immer gleicher Handgriffe innerhalb der gesamten Produktionskette beschränkt, was laut Marx zur Entfremdung von dem Produkt ihrer Tätigkeit, von der Tätigkeit selbst sowie von sich und den Mitmenschen führt. Der Kapitalismus ist also ein gesellschaftliches System, das auf der Produktion von Waren beruht, die sich gegenüber den Menschen verselbstständigen und ihnen quasi verdinglicht, als so genannte zweite Natur gegenübertreten oder sie als solche umgeben. Das bedeutet, dass die Menschen sie nicht mehr als das Produkt ihres Handelns zum Zweck der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse wahrnehmen, sondern als etwas, das nach einer ganz eigenen und von ihnen unabhängigen Logik funktioniert und einen Zweck an sich darstellt. Die daraus resultierenden, weil für das stetige Wachstum not‐ wendigen Ausbeutungsverhältnisse der Klassengesellschaft werden dann der traditionellen marxistischen Theorie nach durch eigens dafür geschaffene gesellschaftliche und politische Institutionen, zum Beispiel den Staat, die Bürokratie und die Polizei, verschleiert und im Notfall Demokratie? Frag doch einfach! 144 <?page no="145"?> sogar mit Gewalt verteidigt, damit die Gesellschaftsordnung als Ganze aufrechterhalten und möglichen Angriffen und Forderungen nach Ver‐ änderung seitens der Ausgebeuteten entzogen wird. Waren früher die demokratischen Nationalstaaten der Rahmen für diese Zweiklassenge‐ sellschaften, hat sich die Ausbeutung im Zeitalter der Globalisierung gegenwärtig zusätzlich in den globalen Süden verschoben. Dass das eigentlich immer schon in einem fundamentalen Widerspruch zu den demokratischen Prinzipien der → Gleichheit und → Freiheit stand, liegt auf der Hand. Linktipp | Labournet.tv ist ein Online-Archiv und Filmemacher‐ kollektiv für Filme aus der Arbeiterbewegung, gefördert durch die gemeinnützige Stiftung „Menschenwürde und Kommunikation in der Arbeitswelt“. Die Seite sammelt Filme über klassische Lohnarbeit, gewerkschaftliche Organisierung und Aktionen von Migrant*innen und Erwerbslosen, Selbstorganisation der Lohn‐ arbeitenden, historische und aktuelle Arbeitskämpfe und gesell‐ schaftliche Alternativmodelle. Die Filme werden untertitelt, neh‐ men die Perspektive von Beschäftigten ein und lassen sie direkt zu Wort kommen (https: / / labournet.tv). Gehören Demokratie und Kapitalismus zusammen? Die gegenwärtig enge Verbindung von Demokratie und Kapita‐ lismus ist nicht selbstverständlich. Sie lässt sich ideengeschicht‐ lich auf die heute dominante Theorieströmung des Liberalismus zurückverfolgen. Dort war die Idee der Teilhabe am Wirtschafts‐ geschehen immer schon an die Idee politischer Teilhabe gekop‐ pelt. Die liberale Bürger*in hat nach der Theorie John Lockes ihre Ursprünge in der Sphäre der Ökonomie, insofern es die Bearbeitung der Natur im vorgesellschaftlichen Zustand ist, die laut Locke aus den Individuen Eigentümer*innen macht, was dann zur Notwendigkeit von Staat, Gesellschaft und Politik führt. Das liberale Verständnis von Demokratie und Staat wurde also um den Schutz von Privateigentum herum aufgebaut und dieses Demokratie und Wirtschaft 145 <?page no="146"?> wiederum ist eng gekoppelt an die Ideologie des Leistungsprin‐ zips sowie der Nutzen- und Profitmaximierung. Damit ist die soziale und ökonomische Ungleichheit kapitalistisch-liberalde‐ mokratisch organisierter Gesellschaften immer schon vorausge‐ setzt und gerechtfertigt. Bereits in einer der Gründungstheorien der modernen Demokratie war also das demokratische Prinzip der → Gleichheit von Anbeginn an systematisch vom Prinzip der individuellen → Freiheit auf die Plätze verwiesen. Formal wurde zwar die Gleichheit über die Jahrhunderte als Folge sozialer und politischer Kämpfe immer weiter ausgeweitet, faktisch jedoch baute die kapitalistisch organisierte Demokratie weiterhin auf Ungleichheit und Ausbeutung auf. Auch die Erfindung der Privat‐ sphäre und des Marktes, die beide dem staatlichen Zugriff maximal entzogen werden sollen, waren entscheidende Wegbereiter für die Verschmelzung der modernen Demokratie mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Aus einer demokratischen Perspektive muss der Kapitalismus also eigentlich dafür kritisiert werden, dass er Menschen in Gruppen einteilt, diese in eine Hierarchie zueinander bringt, um dann die einen durch die anderen zum Zwecke der Profitmaximierung ausbeuten zu können. Die liberale Demokratie jedoch blendet diese eigentlich antidemokratischen Effekte aus beziehungsweise rechtfertigt sie mit ihrem Menschenbild und Politikverständnis. Widersprechen sich Kapitalismus und Demokratie? Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nennt die freiheit‐ lich-demokratische Grundordnung als Kern, den es zu schützen gilt. Es erwähnt jedoch den Kapitalismus als Wirtschaftsform oder gar Gesellschaftsordnung mit keinem Wort. Trotzdem werden antikapita‐ listische Betätigungen in der politischen Praxis als verfassungsfeindlich eingestuft, wenn sie einen grundsätzlichen Systemwechsel und einen Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsstrukturen anstreben. Der Kapitalismus und die liberale Demokratie wurden im Laufe der letzten Jahrhunderte also stets als einander zugehörig betrachtet, so dass vielen Menschen heute gar nicht mehr bewusst ist, dass zwischen Demokratie? Frag doch einfach! 146 <?page no="147"?> ihnen nur ein historisch kontingentes, jedoch kein notwendiges Bedingungsverhältnis existiert. Und dieses Verständnis wird von Politik, Staat und Wirtschaft gegenwärtig befördert. Immer mehr Forscher*innen und Aktivist*innen gehen jedoch von einem funda‐ mentalen Widerspruch zwischen Demokratie und Kapitalismus aus, der in den letzten Jahren im Rahmen der zahlreichen globalen Krisen immer stärker zutage tritt. Daher zweifeln sie auch an den vielen Krisendiagnosen, die primär auf die Situation der Demokratie fokussieren. Einmal, weil das unterstellt, dass die demokratischen Institutionen nicht mehr in der Lage seien, politische, ökonomische und soziale Herausforderungen effizient zu bearbeiten, gleichzeitig aber in diesen Diagnosen keine wirklichen Alternativen formuliert werden. Und zum anderen, weil die Diagnosen falsch ansetzen, wenn sie die Krise allein oder ursächlich auf Seiten der Demokratie verorten und nicht auf Seiten des Kapitalismus. Laut dem Soziologen Klaus Dörre (*1957) etwa verhält es sich eher so, dass die demokratische Herrschaftsform gegenwärtig dem Kapitalismus geopfert werde, der für sein Überleben immer stärker auf autoritäre Herrschaftspraktiken angewiesen ist. Neigt der Kapitalismus zu antidemokratischen Politikformen? Die seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Faschismustheorien sowie Studien in der Tradition der Frankfurter Schule um Max Hork‐ heimer und Theodor W. Adorno arbeiten seit Jahrzehnten heraus, inwiefern der Kapitalismus die Demokratie zwar gebrauchen kann, sie aber nicht notwendig braucht, beziehungsweise er diese leicht zu einer autoritären bis faschistischen Herrschaftsform umformen kann, sobald es die Umstände erfordern. Dies konnten sie am Beispiel des Aufstiegs des Faschismus und Nationalsozialismus zeigen. In der spezifischen Verbindung von materiellen, sozialen und kollektiv-psychologischen Voraussetzungen wurden in Deutschland Antisemitismus und autori‐ täre Ideologien den Menschen als Scheinlösungen präsentiert, um aus den Verhältnissen heraustreten zu können, unter denen sie litten. Dabei waren es die Logik und Folgen des Kapitalismus, die zum Beispiel zur Demokratie und Wirtschaft 147 <?page no="148"?> Weltwirtschaftskrise und damit zur Massenarmut und Verelendung führten. Das nationalsozialistische Regime wurde aus diesen Bedin‐ gungen heraus an die Macht gebracht, das eigentliche Übel - den Kapitalismus - aber hat es nicht angerührt. Im Gegenteil blühte die kriegsrelevante deutsche Industrie unter dem Nationalsozialismus auf und die Entrechtung, Enteignung und Versklavung von Jüd*innen und Kriegsgefangenen diente der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Machtverhältnisse. Faschismus und Nationalsozialismus in Deutsch‐ land waren aus dieser Perspektive also aus den Funktionsweisen, Logiken und Effekten des Kapitalismus heraus entstanden. Nach 1945 hat die europäische Nachkriegsordnung mittels des Sozial- und Wohlfahrtsstaats sowie sozialdemokratischer Politik in gewisser Art die schlimmsten Auswirkungen der Klassengesellschaft gemildert und dem demokratischen Anspruch der → Gleichheit zu‐ mindest annähernd versucht zu genügen. Starke Gewerkschaften, Tarifverträge, soziale Teilhabe- und Grundrechte sowie Absicherungen gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit sorgten eine Zeit lang für die angebliche Versöhnung von Kapitalismus und sozialer Demokratie, wo der Staat als Vermittler zwischen Wirtschaft und Gesellschaft für die Balance zwischen Wohlstandsgenerierung und sozialem Frieden sorgte. Spätestens seit dem Wegfall der Sowjetunion als Systemkonkurrentin hat sich jedoch das liberale Paradigma in den europäischen Staaten allmählich gegenüber dem sozial-demokra‐ tischen durchgesetzt, insofern die vermeintlich sozialistische oder gar kommunistische Idee der Gleichheit angeblich gescheitert sei. Gleichzeitig stagnierte in den Folgejahren das jahrzehntelange Wirt‐ schaftswachstum in den Industrienationen aufgrund unterschiedlicher Faktoren, was insofern zum Problem für die Demokratie wurde, als diese vor allem über ihre Leistungsfähigkeit und Effizienz mit Blick auf die Schaffung von Wohlstand legitimiert wurde. Sobald die demokra‐ tische Herrschaftsform diese Funktion aber nicht mehr vollumfänglich ausfüllen konnte und entsprechend die Grundlage für die Finanzie‐ rung des Wohlfahrts- und Sozialstaats angeblich weggebrochen ist, stand auch die soziale Abmilderung des Klassenkonflikts als eines der Kernprinzipien der Nachkriegsordnung zur Disposition, wovon der Rückbau sozialer Grundrechte vor allem auch in traditionell sozialde‐ Demokratie? Frag doch einfach! 148 <?page no="149"?> mokratischen Ländern zeugt. Historisch wie auch gegenwärtig zeigt sich also, dass der Kapitalismus sehr gut mit der Demokratie auskommt, so lange diese den kapitalistischen Logiken und Prinzipien nicht im Weg steht. Wo dies jedoch der Fall ist, wendet sich der Kapitalismus schnell autoritären Staatsformen und Herrschaftspraktiken zu, sofern diese ihm besser dienen. Wie entwickelt sich gegenwärtig das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie? Laut Klaus Dörre lassen sich gegenwärtig in Europa und der Welt Transformationen demokratischer Kapitalismen oder kapitalistischer Demokratien in unterschiedliche Varianten entdemokratisierter Demokratien beobachten. Wo zum Beispiel die griechische Bevölke‐ rung 2015 im Zuge der Staatsschuldenkrise in einem Volksentscheid gegen die Austeritätspolitik der von der EU eingesetzten Troika und de‐ ren radikale Sparauflagen im Sozial- und Gesundheitsbereich stimmte, hatte diese Abstimmung unter völliger Missachtung des Prinzips der Volkssouveränität keinerlei Konsequenz. Denn die eigene Regierung hat sich damals über das Votum des griechischen → Volkes hinwegge‐ setzt, und zwar weil es die internationalen Finanzmärkte so gefordert haben. Eine wesentliche Erkenntnis aus der so genannten Finanzkrise war, dass sich der Handlungsspielraum der Politik demokratischer Staaten angesichts der vermeintlichen Imperative des Marktes als sehr eingeschränkt offenbaren musste. Zudem geht in den kapitalistisch organisierten Liberaldemokratien die so genannte Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander. Aus dem Anstieg der sozialen Ungleichheit resultieren starke soziale und politische Polarisierun‐ gen und Spannungen auf der einen, sowie ein Rückzug großer Teile der Bevölkerung aus den klassischen Institutionen des demokratischen Staates auf der anderen Seite, was unter den Schlagworten der Politik- oder Wahlverdrossenheit und der politischen Apathie gefasst wird. Die in den demokratischen Nationalstaaten lange Zeit gut funktionie‐ rende Symbiose zwischen liberaler Demokratie und kapitalistischer Ökonomie scheint also gegenwärtig in gewisser Weise vorbei zu sein. Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi (1886-1964) Demokratie und Wirtschaft 149 <?page no="150"?> hat schon vor längerem festgestellt, dass die modernen Gesellschaften zu Anhängseln des Marktes geworden sind. Wo die Wirtschaft aber nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet ist, sondern die sozialen Beziehungen umgekehrt in das Wirtschaftssystem, muss die Gesellschaft fast schon zwangsläufig so umgestaltet werden, dass das kapitalistische System mit seinen eigenen Gesetzen funktionieren kann. Dieser Umbau geht aber zu Lasten der ohnehin schon unter dem Kapitalismus Leidenden, so dass mit dem Abbau der sozialstaatli‐ chen Absicherungen existentielle Ängste den Alltag von immer mehr Menschen bestimmen. Der jahrzehntelange Burgfrieden zwischen Ka‐ pitalismus und Demokratie scheint also auch innerhalb der Industrie‐ nationen des globalen Nordens allmählich zu Ende zu gehen, von den Teilen der Welt zu schweigen, wo die Menschen noch nicht einmal mehr für die kapitalistischen Ausbeutungszusammenhänge gebraucht werden. Somit brechen gesellschaftliche Antagonismen erneut und in vielen Fällen nur notdürftig vermittelt wieder auf und äußern sich in zunehmend aggressiveren Auseinandersetzungen. Dennoch hält sich in großen Teilen der demokratischen Bevölkerun‐ gen hartnäckig der von Wissenschaft und Politik genährte Mythos, wonach Demokratie und Kapitalismus sich gegenseitig bedingen, die so genannte freie Marktwirtschaft immer noch am effizientesten für allgemeinen Wohlstand sorgt und diese wiederum die Bedingung für das Fortbestehen demokratischer Gesellschaften sei. Diese Ansicht ist verständlicherweise vor allem dort verbreitet, wo man unter dem Strich doch irgendwie vom Kapitalismus profitiert, oder aber schlicht Angst vor einem fundamentalen Wandel hat und sich eine radikale Verände‐ rung nicht vorzustellen wagt. Wendy Brown bezeichnet den Kapitalis‐ mus daher als den zweieiigen Zwilling der modernen Demokratie, der immer schon der Gerissenere von beiden war und gegenwärtig anfängt, die Demokratie als Ballast zu empfinden und loswerden zu wollen. Die Frage ist dann, ob und wie die Demokratie darauf reagieren wird und ob es gelingt, demokratische Alternativen zum Kapitalismus durchzu‐ setzen. In letzter Konsequenz können diese Alternativen jedoch nicht in einer Reform der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsform des Kapitalismus bestehen, sondern würden wohl den Bruch mit der bestehenden Ordnung voraussetzen. Demokratie? Frag doch einfach! 150 <?page no="151"?> Gibt es demokratische Alternativen zum Kapitalismus? Angesichts weltweit zu beobachtender Krisenphänomene wie der Massenverarmung bei einem gleichzeitig immer weiter anwachsenden Reichtum einiger Weniger, dem Abbau von sozialen Sicherungen und Mindeststandards sowie der grassierenden Zerstörung von Natur und Umwelt und immer knapper werdenden fossilen Energieträgern ist die Frage nach den Alternativen zum Kapitalismus in den letzten Jahren immer drängender geworden. Allerdings kann der Kapitalismus laut Expert*innenmeinung kaum aus seinem Inneren heraus wirklich demokratisch reformiert werden. Vielmehr braucht es dafür laut dem Politikwissenschaftler Elmar Altvater (1938-2018) einen extremen ex‐ ternen Anstoß und zugleich glaubwürdige Alternativen, damit eine Überwindung des Kapitalismus und damit eine wahrhaft solidarische Gemeinschaft in den Bereich des Möglichen rücken. Alternativmodelle zur kapitalistischen Demokratie sowie Strategien zur Überwindung des Kapitalismus kennt die Ideengeschichte zuhauf. Für alle ist die Abschaffung des Privateigentums an Produkti‐ onsmitteln der zentrale Ansatzpunkt, wenngleich sich sowohl die Strategien als auch die Zielvorstellungen stark unterscheiden. Die marxistische Theorie in ihrem klassischen Zuschnitt setzte zum Beispiel immer darauf, dass sich der Kapitalismus mit der Klasse des Proletariats seine eigene Totengräberin geschaffen hat und die internen Dynamiken kapitalistischer Gesellschaften letztlich zwangsläufig zum letzten Gefecht zwischen Kapital und Arbeit führen werden. Aus die‐ sem würde dann das Proletariat als Siegerin hervorgehen und mittels einer Übergangsphase der so genannten Diktatur des Proletariats die eigenen Bedingungen so weit verallgemeinern, dass schließlich der Schritt in die klassenlose Gesellschaft des Kommunismus, für Marx das Reich der → Freiheit, vollzogen werden kann. Weniger radikal, nämlich nicht über einen absoluten Bruch mit dem bestehenden System und auch nicht mit allen Formen von Staatlich‐ keit, hat der demokratische Sozialismus versucht, den Kapitalismus zu überwinden beziehungsweise ihm Alternativen abzutrotzen. Der Sozialismus hat als einzige politische Theorieströmung und Bewegung dabei die Eigentumsfrage ganz zentral thematisiert. Hier wird der Staat als zentrales Instrument der Steuerung einer demokratischen Demokratie und Wirtschaft 151 <?page no="152"?> Wirtschaftspolitik verstanden, etwa für die Garantie und wirkliche Durchsetzung starker sozialer und politischer Teilhabe in möglichst vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Nicht die Revolution, son‐ dern die Reform ist dabei das Leitbild der Strategiewahl, wenngleich auch die Theorien des demokratischen Sozialismus mit dem zu erwar‐ tenden Widerstand von Kapital, Militär und Bürokratie rechneten. In dieser Tradition arbeitete zum Beispiel der Politikwissenschaftler Wolf‐ gang Abendroth (1906-1985) heraus, dass die Verfassungsordnung Deutschlands von einem fundamentalen Widerspruch durchzogen war, insofern das Grundgesetz einerseits eines der wichtigsten Mittel zur Stabilisierung der bestehenden Macht- und Ungleichheitsverhältnisse ist, es andererseits aber auch ein Instrument zu deren Transformation darstellt. Somit sei die rechtsstaatliche Demokratie der Nachkriegszeit eigentlich die geeignete Herrschaftsform, eine Entwicklung von der kapitalistischen Demokratie hin zum demokratischen Sozialismus an‐ zustoßen, was dann die demokratisch organisierte Verfügung der Ge‐ sellschaft über die Produktionsmittel bedeuten würde. Hierfür müsste jedoch der organisierte und effiziente Kampf um die Institutionen der Demokratie erfolgen. Der Philosoph Hannes Kuch (*1980) sieht drei konkrete Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die sich aus der Tradition des Sozialismus gewinnen lassen. Einmal die Formen der Gemeinwirtschaft, zu welchen Menschen sich freiwillig zusammenfinden, um ohne die Mechanismen des Marktes oder staat‐ licher Planung für die gegenseitige Bedürfnisbefriedigung zu sorgen. Das zweite Modell ist das einer demokratischen Planung unter Berück‐ sichtigung persönlicher Wahlfreiheit, ohne dafür auf zentralisierte Institutionen zurückzugreifen. Das dritte Modell schließlich ist der Marktsozialismus, in welchen zwar Produkte, Güter und Dienstleis‐ tungen nach wie vor über Märkte gehandelt, jedoch in Unternehmen und Kontexten hergestellt werden, die mehr oder weniger der öffent‐ lichen Kontrolle unterliegen und damit demokratisch sind. Demokratie? Frag doch einfach! 152 <?page no="153"?> Was bedeutet Wirtschaftsdemokratie? Für Friedrich Engels war die Arbeit als Herrschaft des Menschen über die Natur zugleich auch der Beginn der Herrschaft von Menschen über Menschen und damit der Ursprung der menschlichen Geschichte. Damit steht er in der Tradition Rousseaus, der die Erfindung des Eigentums an Land sowie dessen Bearbeitung als den Ursprung jeder Gesellschaft und damit aber auch von Ausbeutungs-, Gewalt- und Un‐ gleichheitsverhältnissen identifizierte. Beide begründeten damit eine kritische Tradition gegenüber dem liberalen Verständnis von Arbeit als freiheitsfördernd, wie sie im Anschluss an John Locke entstanden ist. Viele wissenschaftliche Ansätze versuchen gegenwärtig, mal mehr, mal weniger radikal eine Demokratisierung der Arbeitswelt voranzu‐ treiben und damit die beiden Strömungen in gewisser Weise miteinan‐ der zu versöhnen. Die Forderungen nach alternativen Verständnissen von Arbeit sowie der Politisierung und Demokratisierung der Arbeits‐ welt werden unter dem Begriff der Wirtschaftsdemokratie gefasst. Das bedeutet im Kern, Gewerkschaften und Betriebsräten wieder mehr Mitbestimmungsrechte zu gewähren, sowie basisdemokratischere Strukturen etwa von Genossenschaften flächendeckend einzuführen. Zentral wird dabei die Beschränkung des Prinzips der Volkssouverä‐ nität auf die Sphäre der klassischen Politik kritisiert und gefordert, dieses eben auf weitere gesellschaftliche Bereiche, allen voran das Wirtschafts- und Arbeitsleben, auszuweiten und Institutionen der demokratischen Mitbestimmung und Mitgestaltung zu etablieren. Die Philosophin Lisa Herzog (*1983) etwa versteht die Arbeit als eine Grundtätigkeit menschlichen Miteinanders, die es entsprechend nicht abzuschaffen, sondern von der herrschenden Ideologie des Neolibera‐ lismus zu befreien gilt. Dafür dürfe man nicht einfach der vermeintlich freien Hand der Märkte das Feld überlassen, sondern müsse seitens der Politik wieder die Steuerungskompetenzen wahrnehmen und verbindliche demokratische Spielregeln für die Arbeitswelt aufstellen. Ansätze wie diese machen die Alternativen also nicht vom radikalen Bruch abhängig, sondern versuchen sie im bestehenden politischen und gesellschaftlichen System ausfindig zu machen. Sie verstehen vor allem Arbeitsbeziehungen als soziale Räume, in denen Menschen immer schon als Kollektiv und damit politisch handeln, anstatt jede Demokratie und Wirtschaft 153 <?page no="154"?> für sich allein und gegen alle anderen zu kämpfen. Demokratie muss dann aber auch an solchen und für solche Orte erkämpft werden, die gegenwärtig noch als Privatsache gelten. Das zuletzt verstärkt disku‐ tierte bedingungslose Grundeinkommen könnte eine Möglichkeit sein, die Voraussetzungen hierfür zu schaffen, wobei es gegen massive Widerstände in Wirtschaft, Politik und auch Gesellschaft erkämpft werden müsste. So gibt es eine Vielzahl an Institutionenentwürfen und Überlegungen zu sozialen Praktiken, die im Falle einer Überwin‐ dung als demokratische Alternativen zum Kapitalismus zumindest in Ansätzen vorhanden wären. Die Frage, ob sich diese auch dereinst als wirkliche Systemalternativen durchsetzen werden, hängt von den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnissen und herrschenden Meinungen in den demokratischen Gesellschaften ab, vor allem aber auch von der Wahl der richtigen Mittel und Strategien. Literatur- und Linktipp | R. Zelik entwirft in seinem Buch eine Gesellschaft der Zukunft - ohne Faschismus und ohne ökologi‐ schen Kollaps. Zelik, R.: Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus, Suhrkamp 2020. Die Initiative #DEMOCRATIZINGWORK ist ein weltweiter Zu‐ sammenschluss von Wissenschaftler*innen, die sich im Zuge der Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie für die Demokratisierung der Arbeitswelt starkmachen. Ihr Motto: Arbeit demokratisieren, dekommodifizieren und nachhaltig gestalten. https: / / democratizin gwork.org/ Demokratie? Frag doch einfach! 154 <?page no="155"?> Demokratie und Recht Verfassung, Gewaltenteilung und Souveränität: drei ganz wichtige Elemente der Demokratie, um die es nun geht. Außerdem mit von der Partie: der Widerstand und seine Aufgabe in der Demokratie. <?page no="157"?> Was ist eine Verfassung? Demokratische Staaten zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf einer schriftlich kodifizierten Verfassung aufruhen, weshalb man sie auch als Verfassungsstaaten bezeichnet. Lediglich Großbritannien und Neuseeland stellen hier eine Ausnahme unter den demokratischen Staaten weltweit dar. Im Vereinigten Königreich ist das Verfassungs‐ recht nicht in einem zentralen Dokument niedergeschrieben und fest‐ gelegt, sondern speist sich aus geltenden Gesetzen, Gewohnheitsrech‐ ten und Konventionen, die stetig angepasst werden. In Neuseeland ist die Verfassung ebenfalls auf verschiedene Gesetzestexte aufgeteilt. Zudem spielen hier auch die englische Magna Charta von 1297 und die Bill of Rights von 1688 eine wichtige Rolle für die geltenden Ver‐ fassungsprinzipien. Israel wiederum hat bislang einige Grundrechte schriftlich fixiert, die Verfassungsgebung ist dort jedoch ein noch nicht abgeschlossenes Projekt. Zwar gab und gibt es auch Staaten, die eine Verfassung haben und keine Demokratien sind, zum Beispiel die Islamische Republik Iran und das Sultanat Brunei. In Brunei sieht die Verfassung zum Beispiel keinerlei Grund- und Mitspracherechte der Bevölkerung vor und dient rein dem Machterhalt der absolutistischen Herrschaft des Sultans, wohingegen im Iran nicht das souveräne Volk, sondern der Koran die Quelle und zentrale Bezugsgröße der Verfassung darstellt. In der Regel fallen Verfassungsgebung und Selbstgründung demokratischer Nationalstaaten jedoch zusammen. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika 1788 oder die Jakobinische Verfassung Frankreichs von 1793, die zwar nie zur Anwendung kam, aber trotzdem als ein Gründungsdokument der modernen De‐ mokratie gelten kann, sind herausragende historische Beispiele. In der Bundesrepublik Deutschland ist das 1949 verabschiedete Grund‐ gesetz die Verfassung. Meistens heben Verfassungstexte mit einer Erklärung der Souveränität, in Demokratien der Volkssouveränität an. Verfassungen dienen dann grundsätzlich der Garantie von allge‐ meinen Rechten, die in ihnen niedergelegt sind, und geben zudem die politische Ordnung vor. So stiftet die Verfassung die Einheit des politischen Gemeinwesens und legt zudem die rechtlich verbindlichen Demokratie und Recht 157 <?page no="158"?> Regeln der Organisation der Gemeinschaft in einem rechtsförmigen Dokument fest. Dieses gibt verbindlich darüber Auskunft, wie die Staatsgewalt aufgeteilt und ausgeübt werden soll. Als Grundlagentext einer politischen Gemeinschaft hält die Verfassung die prinzipielle Organisation des Verhältnisses zwischen den Herrschenden und den Beherrschten fest. Damit übt sie auch eine integrative Funktion für das politische Gemeinwesen aus, das sich trotz der bestehenden Herrschaftsverhältnisse und faktischer Ungleichheiten als unter der Verfassung geeint begreifen kann. Schließlich bindet die Verfassung alle bestehenden Institutionen an die als legitim geltenden Grundwerte der politischen Gemeinschaft. Sie gibt verbindlich Auskunft darüber, wie die höchsten Organe des Staates zu besetzen sind und dient zudem als Orientierungsrahmen für alle gesellschaftlichen und politischen Überlegungen und Projekte mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit. Anhän‐ ger*innen der radikalen Volkssouveränität sehen die Hauptaufgabe der Verfassung darin, die Kompetenz zur Rechtsetzung und Verfas‐ sungsänderung der Volksversammlung abzusichern. Der moderne Republikanismus hingegen versteht die Verfassung als ein identitäts‐ stiftendes Dokument, das die Einheit der Gemeinschaft symbolisch herstellt und schützt, wohingegen der Liberalismus die Funktion der Verfassung vor allem in der Begrenzung des politischen Souveräns und im Schutz der individuellen Grund- und Menschenrechte mittels der Gewaltenteilung begreift. Die Verfassung schützt also in Demokratien mit den Mitteln des Rechtsstaats die Privatsphäre der Individuen durch ein System von gleichen Grundfreiheiten für alle Bürger*innen, die lediglich durch die Freiheitsrechte der anderen begrenzt werden. Sie ga‐ rantiert den Zugang zu unabhängigen Gerichten, den gleichen Rechtsschutz für alle, die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Rechtsprechung und Exekutive und damit die Bindung der öffent‐ lichen Verwaltung an Recht und Gesetz. Sie ermögliche die Teilhabe der Bürger*innen am politischen System, indem sie allen die glei‐ chen Vereinigungs-, Partizipations- und Kommunikationsrechte zuspricht. Hinzu kommen die periodischen Wahlen und Referenden Demokratie? Frag doch einfach! 158 <?page no="159"?> auf der Grundlage eines inklusiven und egalitären Wahlrechts und der Wettbewerb zwischen verschiedenen Parteien sowie das Mehrheitsprinzip bei Entscheidungen in repräsentativ bestellten Körperschaften. Schließlich soll die Verfassung eine politische Öf‐ fentlichkeit durch die Garantie der Presse- und Informationsfreiheit ermöglichen. Was ist die demokratietheoretische Bedeutung der Verfassung? Demokratietheoretisch relevant ist vor allem die Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit. Die Frage, wie mit den aus dieser de facto überall (wenn auch in unterschiedlichem Maß) bestehenden Deckungsungleichheit resultierenden Konflikten umzugehen ist, steht dabei im Zentrum der Überlegungen. Zumal vor dem Hintergrund der Idee der Volkssouveränität ja auch eine Verfassung nicht einen für alle Zeiten gültigen Rahmen einmalig festlegen kann, sondern zugleich auch in gewisser Weise immer einen Horizont aufzieht, in den sich die Vorstellungen zukünftiger Ordnun‐ gen mit Verweis auf die grundlegenden Ideale und Leitvorstellungen etwa der → Freiheit und → Gleichheit der Menschen einschreiben lassen. Das bedeutet, dass man mit Berufung auf die Verfassung unter Umständen auch die Überwindung bestehender Regeln, Normen, Institutionen und Verfahren anstreben und einfordern muss und die Verfassung (oder die in ihr festgehaltenen Prinzipien) damit auch zum Leitstern progressiver politischer Kämpfe werden kann. Oder man bekämpft direkt die geltende Verfassung als ein Hindernis für eine gerechte Gesellschaft, wie zum Beispiel in Chile, wo 80% der Bevölkerung Ende Oktober 2020 nach jahrelangen sozialen Protesten die Einrichtung eines Verfassungskonvents durchsetzten, der die bis dahin geltende Verfassung des Diktators Augusto Pinochet und deren neoliberales Programm überwinden soll. Aus demokratietheoretischer Perspektive ist eine Identität zwischen der Verfassungsnorm und der Verfassungswirklichkeit daher nicht nur eine Unmöglichkeit, sondern es muss in den Brüchen zwischen Anspruch und Wirklichkeit ein Demokratie und Recht 159 <?page no="160"?> dynamisierendes Moment gesehen werden, das die demokratischen Gesellschaften vor Erstarrung und Machtkonzentration bewahrt und sie zur Verteidigung und Erweiterung ihrer Verfassungen motivieren und mobilisieren kann. Gleichzeitig aber versuchen auch reaktionäre und autoritäre Kräfte, sich die Verfassung zu Nutze zu machen, um dadurch jedoch eine Abwehr demokratischer Forderungen oder gar eine Rückabwicklung der Demokratie und ihrer historischen Errungenschaften voranzutreiben. Eine Verfassung allein macht also noch keine Demokratie, sondern braucht zu ihrem Schutz sowie zu ihrer Entfaltung, Verwirklichung und Weiterentwicklung nicht nur Verfassungsgerichte, sondern vor allem eine aktive und demokratische Zivilgesellschaft. Der Politikwissenschaft‐ ler Dolf Sternberger (1907-1989) und Jürgen Habermas favorisierten in dieser Richtung in den 1970er und 1980er Jahren die Idee eines Verfas‐ sungspatriotismus als republikanische Alternative zu einem ethnisch fundierten, völkisch-nationalistischen Patriotismus der Rechten. Wie dieser jedoch gewährleistet werden und ob er auch wirklich effizient die Gefahr antidemokratischer Agitationen abwehren kann, ist eine offene Frage. Solange diese nicht beantwortet ist, ist es vor allem das Konzept der wehrhaften Demokratie, welches die Verfassung vor ihren Feinden verteidigen kann. So es denn Anwendung findet. Was ist Gewaltenteilung? Gewaltenteilung bezeichnet das Prinzip und die daran angeschlos‐ sene politische Praxis in modernen demokratischen Rechtsstaaten, dass eine Institution grundsätzlich nicht verschiedene Funktionen politischer Gewalt ausüben darf. Heute versteht man unter Gewal‐ tenteilung in der Regel die Aufteilung der politischen Gewalt in die Bereiche Gesetzgebung (Legislative), Regierung (Exekutive) und Rechtsprechung ( Judikative). So heißt es in Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes, dass die Staatsgewalt vom → Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzge‐ bung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt Demokratie? Frag doch einfach! 160 <?page no="161"?> wird. Gemeint sind hier Bundestag und Länderparlamente sowie Regierung, Verwaltung und Gerichte. Zudem werden die Medien in demokratischen Gesellschaften als Kontrollinstanz und vierte Gewalt bezeichnet. Man unterscheidet zudem eine horizontale Gewaltenteilung verschiedener Zuständigkeiten zwischen Legis‐ lative, Exekutive und Judikative von einer vertikalen Gewalten‐ teilung von (Staaten-)Bund, Ländern und Kommunen im Rahmen eines föderalen Systems. So sollen → Freiheit und → Gleichheit bestmöglich bewahrt und ein Übermaß an Machtkonzentration einer Person, Partei oder Institution verhindert werden. Woher kommt die Idee der Gewaltenteilung? Die Idee und Praxis der Gewaltenteilung entsprang dem Bedürfnis nach effizienten Gegenmitteln gegen die Machtkonzentration in den Händen Einzelner oder von Gruppen und gegen die damit einhergehende Gefahr für individuelle Rechte und Freiheiten. Das moderne Konzept der Gewaltenteilung ist kein im ursprünglichen Sinne demokratisches Prinzip, sondern entspringt der eher demokratieskeptischen Tradition des Liberalismus. Neben der Angst vor der Macht der Masse als der demokratischen Urgewalt war es die Macht des Staates, den die liberale Tradition fürchtete, wenngleich die Idee der Gewaltenteilung auch Anleihen bei der republikanischen Tradition der Mischverfassung nimmt. In ihrer spezifisch modernen Ausprägung geht sie aber auf die Zeit der Aufklärung zurück und ist als Reaktion auf ein gewan‐ deltes Problembewusstsein bezüglich der Dauerhaftigkeit politischer Herrschaft zu verstehen. Hatten die Denker*innen des Politischen in der Antike sich noch darum bemüht, stabile politische Ordnungen auf Dauer oder zumindest für lange Zeit zu ermöglichen, so wird ein Zuviel an Stabilität und Dauerhaftigkeit mit Beginn der Moderne eher als Einfallstor für Machtmissbrauch und Willkürherrschaft und damit als eine mögliche Gefahr für die Freiheit des Individuums verstanden. Demokratie und Recht 161 <?page no="162"?> Wie entwickelte sich die Idee der Gewaltenteilung? Der Kanon des westlichen politischen Denkens führt John Locke und den Baron de Montesquieu (1689-1755) als die wichtigsten Vordenker der Praxis der Gewaltenteilung, wenngleich Lockes Theorie die Judi‐ kative noch nicht als eine eigene Gewalt vorsah und Montesquieu wie‐ derum an der Zuteilung von Privilegien für bestimmte gesellschaftliche Gruppen festhielt, was mit heutigen Vorstellungen demokratischer Gewaltenteilung unvereinbar ist. John Locke hat sich in seinen „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ 1689 mit der Frage der Gewalten‐ teilung auseinandergesetzt. Die Legislative verstand er noch als die höchste Gewalt, wohingegen heutige Demokratien den Schwerpunkt zumindest in der politischen Praxis stärker auf die Regierung, also die Exekutive legen. Locke aber leitete alle Gewalten aus der Legislative ab, welche als Gesetzgeberin die vereinigte und übertragene Gewalt aller vertragsschließenden Mitglieder der Gesellschaft ist (siehe dazu die Frage zur liberalen Demokratietheorie). Sie ist komplett auf den Zweck ihrer Einrichtung verpflichtet, nämlich das Leben, die → Freiheit und das Eigentum der Bürger*innen zu schützen. Die Exekutive ist laut Locke dann für die Umsetzung der Gesetze im Inneren der Gesellschaft zuständig. Als dritte nennt er die prärogative Gewalt, die man so heute nicht kennt und die für die Sicherheit und Interessen der Gemeinschaft nach außen zuständig ist. Die Außenpolitik entbindet Locke dabei im Unterschied zur Exekutive explizit von der Kontrolle der Legislative: Sie ist die Macht, frei von Vorschriften für das öffentliche Wohl zu handeln. Damit ließen sich Menschenhandel, Sklaverei und Landraub in den Kolonien leichter durchführen, ohne dass eine auf der Idee eines Naturrechts auf → Gleichheit und Freiheit aufbauende Gesell‐ schaft in einen zu argen Zwiespalt mit dem eigenen Selbstverständnis geriet. Und selbst wenn die ohnehin nur sporadisch zusammentretende Legislative in einen Konflikt mit den außenpolitischen Praktiken der Exekutive geraten wäre, sah Lockes Modell dafür keine juridische Schlichtung vor, sondern überließ dies den jeweiligen politischen Kräfteverhältnissen. Demokratie? Frag doch einfach! 162 <?page no="163"?> Was trug Montesquieu zur Idee der Gewaltenteilung bei? Montesquieu hat sich 1748 in seiner Schrift „Vom Geist der Gesetze“ mit der Gewaltenteilung befasst, wobei er sich an der englischen Verfassung ebenso orientierte, wie am republikanischen Prinzip der Mischverfassung. Damit die politische → Freiheit der Bürger*innen gewährleistet werden kann, so Montesquieus Grundannahme, darf die gesetzgebende Macht die Gesetze nicht zugleich ausführen und die ausführende Macht keine Gesetze erlassen. Denn sobald in ein und derselben Person oder Beamtenschaft die legislative mit der exekutiven Befugnis verbunden wäre, gäbe es keine Freiheit mehr. Im Hintergrund von Montesquieus Überlegungen stand die Gefahr der Despotie, die nicht nur in der Monarchie und der Aristokratie, sondern auch in der Demokratie eine stets reale Möglichkeit darstellt. Deswegen muss auch die Demokratie institutionelle Vorkehrungen treffen, um der Machtkonzentration etwas entgegenzusetzen und so jeder Despotie den Nährboden zu entziehen. Montesquieu vertraute dabei explizit auf das Prinzip der gegenseitigen Kontrolle der Gewalten. Im Unterschied zu Locke sprach er daher auch der Legislative keine der Exekutive übergeordnete Stellung zu. Vielmehr prüft die Legislative die Umset‐ zung der erlassenen Gesetze durch die Exekutive und die Exekutive bestimmt, wann die Legislative zusammentritt. Montesquieu sah also keine dauerhafte Vertretung der Legislative vor, wobei er im Gegensatz zu Locke weniger daran interessiert war, dass die Bürger*innen ihren Privatgeschäften nachgehen können. Vielmehr fürchtete er schlicht einen zu großen Einfluss der Gesetzgebung mindestens so sehr, wie eine zu große Macht der Exekutive. Was sind aktuelle demokratietheoretische Perspektiven auf die Gewaltenteilung? In der Politikwissenschaft wird in den letzten Jahren ein allmähli‐ ches Aufweichen der strikten Trennungen beziehungsweise eine Schwerpunktverschiebung der traditionellen Aufteilungen der Gewal‐ ten verbunden mit einer Neuordnung der Kompetenzen beobachtet. Die einen nehmen eine zunehmende Macht der Exekutiven in den Demokratie und Recht 163 <?page no="164"?> Blick, vor allem da in den Staaten weltweit über die letzten Jahr‐ zehnte immer öfter Gebrauch vom Instrument des Ausnahmezustands gemacht wird. Andere sorgen sich eher über einen stetigen Machtzu‐ wachs der Judikativen, wo Parteien sich mehr und mehr davor scheuen, strittige Fragen öffentlich zu debattieren und die Verantwortung für die Gesetzgebung damit aus Angst vor weiterem Ansehensverlust gleich an die zuständigen Gerichte weiterreichen. Wendy Brown etwa kritisiert die damit einhergehende Ausdehnung der Macht der Judika‐ tiven als einen Ausweis einer allgemeinen Entdemokratisierung westlicher Demokratien. Wo Gerichte nämlich immer häufiger le‐ gislative Funktionen übernehmen, führe das zu einer regelrechten Subversion der Demokratie. Aus der Perspektive eines präsentischen Verständnisses von Demokratie wird an der Idee der Gewaltenteilung zudem mehr und mehr kritisiert, dass die konstituierende Macht eines sich in den Straßen und auf den Plätzen versammelnden demos in diesem gar keine oder nur ganz wenig Berücksichtigung findet, womit der Mythos der Identität politischer Macht und Gewalt mit den bestehenden Institutionen genährt würde. Isabell Lorey bezeichnet diese Vorstellung einer gewaltenteilig organisierten und strukturierten Demokratie als eine juridische Demokratie, welche die demokrati‐ sche → Partizipation auf die Beteiligung an den Institutionen innerhalb des gewaltenteiligen Systems festlegt und politische Bewegungen dazu zwingt, sich der geltenden Logik zu unterwerfen und sich entsprechend Repräsentant*innen und Ansprechpartner*innen für Politik und Me‐ dien zu geben, damit diese dann in den Aushandlungsprozess mit den traditionellen Vertreter*innen der politischen Gewalten treten. Aus ei‐ ner radikalen Perspektive auf die Demokratie kann der demokratische Wille des → Volkes als Ursprung aller legitimen Gewalt jedoch nicht an einem bestimmten Ort oder auf eine bestimmte Weise verkörpert oder repräsentiert werden, weder als legislative, noch als exekutive Gewalt. Demokratie in diesem Sinne bedeutet dann den Bruch mit der bestehenden politischen Ordnung und damit auch dem Prinzip der Gewaltenteilung, um sich aus den Institutionen zurückzuziehen und als Versammlung der Vielen die Macht zurückholen und sich Gedanken über eine Neustrukturierung des politischen Systems machen zu kön‐ nen. Jedoch ist diese Strategie des Exodus auch innerhalb der radikal‐ Demokratie? Frag doch einfach! 164 <?page no="165"?> demokratischen Theorie umstritten. Chantal Mouffe etwa plädiert in direkter Ablehnung dieser Rückzugsstrategien für eine so genannte Politik des Stellungskrieges um die demokratischen Institutionen und den Staat und schlägt dafür die Strategie des Linkspopulismus vor. Was ist Souveränität? In politischen und öffentlichen Debatten spielt der Begriff der Souveränität meist dann eine Rolle, wenn es um den Eingriff fremder Staaten in die inneren Angelegenheiten eines Landes geht bzw. um die Angst vor dem Verlust von Souveränität eines Staates und seiner Bevölkerung. So anerkennt man in den Interna‐ tionalen Beziehungen etwa das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates, wenngleich dieses in seiner Absolutheit im Zuge der Entwicklung und des Ausbaus einer internationalen Menschenrechtspolitik in den letzten Jahrzehnten nach und nach von der Idee einer Verantwortung der internationa‐ len Staatengemeinschaft gegenüber Menschenrechtsverletzungen unter dem Schlagwort der responsibility to protect (r2p) in Frage gestellt wurde. Welche Rolle spielt die Staatsform in Bezug auf die Souveränität? Für die Frage der Souveränität spielt die Staatsform keine Rolle. So haben souveräne Staaten das Recht, innerhalb ihres Territoriums frei und autonom über die Art ihrer Regierung, ihr Rechtssystem und ihre gesellschaftliche Ordnung zu befinden. Laut Völkerrecht sind die Staaten in ihren Beziehungen zueinander aufgrund ihrer Souveränität dann als gleichwertig zu betrachten und zu behandeln, egal ob es sich um Autokratien, Monarchien oder Demokratien handelt. Wie so oft hat auch das seine zwei Seiten. Einmal können damit imperiale Bestrebungen fremder Mächte abgewehrt oder wenigstens kritisiert werden, zum anderen aber können Staaten mit dem Verweis auf Demokratie und Recht 165 <?page no="166"?> ihre Souveränität auch die Kritik der Internationalen Gemeinschaft an Menschenrechtsverletzungen zurückweisen. Mit der Demokratie hat der Begriff der Souveränität zunächst also nicht unmittelbar zu tun. Gleichzeitig aber ist das Konzept der Volkssouveränität seit den demokratischen Revolutionen im 18. Jahrhundert eines der, wenn nicht das demokratische Kernprinzip schlechthin. So heißt es etwa in Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, womit der demos als Souverän und Quell aller politischen Entscheidungen gesetzt wird. Souveränität bedeutet konkret, über die Zuweisung oder den Entzug von kollektiven Gütern, Privilegien oder Entscheidungen zu verfügen. Zum anderen aber muss, wer oder was souverän sein will, über die nötigen materiellen Ressourcen verfügen, diesen Anspruch auch ver‐ bindlich durchsetzen zu können. Bei der Frage nach der Souveränität geht es also immer um die für die politischen und sozialen Belange letztgültig zuständige Instanz, die innerhalb ihres Zuständigkeitsbe‐ reichs sozusagen keine Herrin mehr über und neben sich dulden kann und muss. Historisch ist das moderne Konzept der Souveränität eng verbunden mit der Entstehung der Nation und des Staates und daher auch so schwer vom Nationalstaat als traditionellem Träger der Souveränität zu trennen. Deswegen sind die aktuellen Versuche und Experimente, nationalstaatliche Souveränität auf supranationale Organisationen wie zum Beispiel die Europäische Union zu übertragen, auch so heftig umstritten. Die Idee einer höchsten politischen Gewalt oder Macht reicht jedoch bis ins Mittelalter zurück und konkretisierte sich dort in den Machtkämpfen zwischen Kaiser*innen, König*innen und Päpsten. Wie ist der Souveränitätsbegriff entstanden? Maßgeblich theoretisch ausgearbeitet wurde der Souveränitätsbegriff in der frühen Neuzeit von Jean Bodin (1530-1596) und Thomas Hobbes. Sie haben als Erste alle Rechte und Befugnisse zu herrschen in einer Position zusammengeführt und damit zunächst eine wichtige Legiti‐ mationsstrategie für die absolutistische Monarchie begründet. Für den französischen Staatstheoretiker Bodin waren nämlich die souveränen Demokratie? Frag doch einfach! 166 <?page no="167"?> Fürsten direkt von Gott als dessen Stellvertreter auf Erden eingesetzt und damit die höchste weltliche Instanz. Jeder Angriff auf einen Herr‐ scher war daher einem Angriff gegen Gott und die von ihm gewollte weltliche Ordnung gleichgekommen, war also quasi ein Sakrileg. Ganz ähnlich konzipierte Hobbes seinen Leviathan als „sterblichen Gott“ und legibus absolutus , also losgelöst von aller weltlichen Kontrolle und zeitlichen Einschränkungen. Und selbst die Unterordnung der weltlichen Souveräne unter das göttliche Recht beziehungsweise den göttlichen Willen oblag letztlich ihrer eigenen Auslegung. Bodin und Hobbes reagierten damit jeweils auf die Unruhen und Gewaltexzesse der konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die nicht unerheblich von dem Kampf um Souveränität zwischen weltli‐ chen und religiösen Mächten motiviert und befeuert wurden. Mit ihren Souveränitätskonzepten bereiteten Bodin und Hobbes daher aber auch den Weg für die Zurückdrängung des Religiösen aus dem Bereich der Politik vor. Ernst Kantorowicz sprach mit Blick auf das Verhältnis und Verständnis von Politik und Religion im Mittelalter daher von den zwei Körpern des Königs: dem irdisch-sterblichen und dem mythologisch-göttlichen, die der jeweilige König oder die Königin beide in sich vereinte oder besser: verkörperte. Was bedeutete Souveränität laut Bodin und Hobbes konkret? Bodin hat fünf wesentliche Merkmale von Souveränität formuliert: Gesetze ohne weitere Zustimmung erlassen zu können, das alleinige Recht, Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, das Recht zur Er‐ nennung und Absetzung der Staatsbeamten, das Recht der höchstrich‐ terlichen Entscheidungsgewalt sowie das Recht zur Begnadigung. Laut Hobbes bezieht der Souverän seine Macht aus dem Vertragsschluss der Naturzustandsbewohner*innen, also aus dem Zusammenschluss von Menschen, die ihn in einem einmaligen Akt der Kompetenzübertra‐ gung zugleich erschaffen und mit allen Befugnissen und der höchsten legitimen Gewalt ausstatten, um im Gegenzug die Sicherheit an Leib und Leben garantiert zu bekommen. Der Leviathan hat entsprechend das alleinige Recht, alle ihm nötig erscheinenden Gesetze zu erlassen und durchzusetzen, um dem Grund seiner Einsetzung gerecht zu Demokratie und Recht 167 <?page no="168"?> werden. Widerstand gegen den Souverän ist damit nicht legitim, denn alle seine Handlungen (sofern sie nicht das Leben der Individuen bedrohen) sind prinzipiell gerecht. Auch Hobbes Souverän bestimmt zudem über die zugelassenen öffentlichen Meinungen, die Steuern, die Rechtsprechung, Krieg und Frieden, Einsetzung und Entlassung der Beamten und darüber, welcher Untertan mit welchen Ehrungen auszustatten ist. Welche Bedeutung hatte die Idee der Souveränität für die moderne Demokratie? Der Begriff der Souveränität diente der Identifikation der obersten Gewalt und gleichzeitig der Verunmöglichung von widerständigen Akten gegen deren Entscheidungen, was freilich politische Akteur*in‐ nen in der geschichtlichen Wirklichkeit nicht davon abgehalten hat, mit der Souveränität als politischem Kampfbegriff um die Letztgül‐ tigkeit ihrer jeweiligen Ordnungsvorstellungen zu konkurrieren. Die Französische Revolution zum Beispiel gilt auch deswegen als die Geburtsstunde der modernen Demokratie, weil sie ein bis dahin ebenso beispielloser wie unvorstellbarer Akt der Ersetzung der absolutisti‐ schen Souveränität der Monarch*innen als Stellvertreter*innen Gottes auf Erden durch die Idee der Volkssouveränität war. Diese geht auf Jean-Jacques Rousseau zurück, der mit seinem „Gesellschaftsvertrag“ im 18. Jahrhundert eine radikale Kritik an Hobbes Vertragskonzeption vorgenommen und das → Volk an die Stelle der absolutistischen Herrscher*innen gesetzt hat. Das Volk als Souverän und damit Träger des Gemeinwillens hat demnach keinerlei Einschränkungen seiner Allbefugnisse hinzunehmen. Die Souveränität ist nicht teilbar und nicht übertragbar, der Souverän kann durch nichts verpflichtet werden, nicht einmal durch die von ihm selbst gegebenen Gesetze. Fortan gab es der Idee nach in demokratischen Gesellschaften keine höhere Macht mehr als das souveräne Volk, mit all den daran anknüpfenden Problemen und Herausforderungen, wie die Herrschaft des Volkes zu verstehen, seine Macht zu verwirklichen oder zu repräsentieren oder es als Akteurin an der Ausübung der Herrschaft konkret zu beteiligen ist. Aus dieser Idee resultierte dann die Identifikation des Demokratie? Frag doch einfach! 168 <?page no="169"?> Volkes mit dem Staat oder der Nation. Alternativ dazu unterschied man den demos danach, sowohl konstituierende Macht als auch konsti‐ tuierte Gesamtheit zu sein. Damit ist der Souverän die revolutionär gründende Kraft, die sich in einem einmaligen Akt eine Form gibt, um dann symbolisch in der Verfassung vertreten beziehungsweise aufge‐ hoben zu werden. Die Leistung des Konzepts der Volkssouveränität für die moderne Demokratie besteht seit Rousseau also in der Bindung jeder politischen Herrschaft an das Volk als Quelle der Legitimität. Für Ingeborg Maus (*1937) ist die Volkssouveränität deswegen das Kernprinzip moderner Demokratien, da es Grund- und Freiheitsrechte sowie eine kritische Öffentlichkeit und den Rechtsstaat überhaupt erst ermöglicht. Gleichzeitig kann sie auch für den Kampf gegen Ungleichheit und Fremdbestimmung durch wirtschaftliche und politi‐ sche Eliten, Technokrat*innen und Expertokrat*innen herangezogen und für die Demokratisierung der Demokratie mobilisiert werden. Hier setzen Reaktualisierungen und Neudefinitionen des Souveränität‐ sprinzips an, etwa in Form partizipatorischer Entscheidungsverfahren oder im Rahmen von Protestbewegungen und Platzbesetzungen sowie präsentischen Formen der Versammlungsdemokratie außerhalb der Parlamente und traditionellen Institutionen von Staat und Politik. Wie lautet die demokratietheoretische Kritik an der Volkssouveränität? Das Prinzip der Volkssouveränität wurde auch aus demokratietheore‐ tischer Perspektive kritisiert. Denn in gewisser Weise lebt die Idee der absoluten und unanfechtbaren Herrschaft des monarchischen Souve‐ räns in dieser Idee weiter und führt trotz aller Modifikationen in der Praxis immer wieder zu massiven Ungerechtigkeiten, gerade mit Blick auf die Umsetzung der demokratischen Prinzipien der → Gleichheit und → Freiheit. Hannah Arendt etwa kritisierte die Idee der Souve‐ ränität als unbedingter Autonomie und Selbstherrschaft politischer Gemeinschaften dahingehend, dass dies dem Faktum menschlicher Pluralität widerspreche und letztlich die Freiheit der Menschen ge‐ fährde, insofern Souveränität in der Tradition von Bodin und Hobbes immer eine Form staatlicher Herrschaft begründe und stabilisiere, Demokratie und Recht 169 <?page no="170"?> die auf Unterwerfung und Befehlsgewalt hinauslaufe. Dies begünstige eine Form von Staatsabsolutismus, insofern dieser Vorstellung nach Gesetz und Macht derselben Quelle entspringen. Dann aber kann das Gesetz laut Arendt nicht mehr die Funktion der Kontrolle und Beschränkung der Regierung übernehmen und der Verabsolutierung eines kontingenten politischen Willens auch nichts mehr entgegenset‐ zen, so lange nur glaubhaft der vermeintliche Wille des → Volkes ins Spiel gebracht werden kann. Feministische Kritiken an der Demokratie haben dahingehend herausgearbeitet, dass die Forderungen von Frauen nach dem Wahlrecht lange Zeit mit Blick auf eben einen solchen Willen, nämlich den des souveränen männlichen Volkes, zurückgewiesen wur‐ den, ohne dass dem innerhalb der geltenden Souveränitätslogik und -praxis dann etwas entgegengesetzt werden konnte. Mittels der Idee der Volkssouveränität ließen und lassen sich also bestehende Diskri‐ minierungen, Marginalisierungen und Ausschlüsse rechtfertigen und vor Kritik und Transformation abschirmen. Als Leitprinzip demo‐ kratischer Politik hatte sie in der Geschichte der Demokratie oft dazu gedient, die Unterwerfung, Knechtschaft, Ausbeutung und Sklaverei in den Kolonien mit dem vermeintlich absoluten Herrschaftsanspruch der weißen, europäischen Souveräne zu rechtfertigen. Entsprechend wird Volkssouveränität in diesem Verständnis bis heute meist von konservativen und reaktionären politischen Kräften zur Verteidigung des status quo und der damit verbundenen Privilegien angerufen. Die Volkssouveränität kann also aufgrund ihres Absolutheitsanspruchs und der damit einhergehenden Verfügung über Gewaltmittel politische Konflikte um eine Demokratisierung der Demokratie stillstellen, bevor sie überhaupt begonnen haben. Wendy Brown sieht diese Logik am Werk, wo Nationalstaaten oder Staatenbünde wie die USA und die Eu‐ ropäische Union Zäune und Mauern an den Grenzen ihrer Territorien errichten, um mittels der effizienten Abwehr der Ausgeschlossenen so das Weiterbestehen einer sich faktisch im Niedergang befindenden na‐ tionalstaatlichen Souveränität wenigstens zu simulieren. In Wahrheit, so Brown, sind Mauern und Zäune aber ein Zeichen für den Souve‐ ränitätsverlust der Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung, weswegen auch die Demokratietheorie Alternativen zum Prinzip der Souveränität entwerfen müsse. Demokratie? Frag doch einfach! 170 <?page no="171"?> Wie steht es um Meinungsfreiheit und Toleranz in Demokratien? Artikel 1 des Grundgesetzes bezeichnet die Menschenwürde als unantastbar und verpflichtet „alle staatliche Gewalt“ auf deren Schutz. Das bedeutet unumstößlich, dass Antisemitismus, Rassismus, Sexis‐ mus, und Homophobie in einem zu bekämpfenden Widerspruch zu den Grundlagen der Demokratie in Deutschland stehen. Viele Rassist*innen, Antisemit*innen und Frauenfeind*innen berufen sich demgegenüber gerne auf die Meinungsfreiheit und stellen damit so manche Demokrat*in vor ein vermeintliches Dilemma, das jedoch nur ein Scheindilemma ist. Denn das Recht auf freie Meinungsäußerung bedeutet keinesfalls, dass jede*r alles öffentlich äußern kann, was ihm oder ihr beliebt. Personen, die gruppen- und menschenfeindli‐ che Aussagen vertreten, wie zum Beispiel Holocaust-Leugner*innen, verschanzen sich gerne hinter einem instrumentellen Verständnis von Meinungsfreiheit und Toleranz und glauben so, demokratische Institutionen unterlaufen und für ihre Zwecke missbrauchen zu kön‐ nen. Ein Recht auf Meinungsfreiheit und ein Anspruch auf Toleranz gegenüber der eigenen Meinung kann aber nur dann ein sinnvolles Recht sein, wenn dessen Grenzen bestimmt sind, man also politisch festlegt und juristisch schützt, wo diese Grenze verläuft und wann sie überschritten ist. Der Philosoph und Soziologe Herbert Marcuse (1898-1979) hat darauf hingewiesen, inwiefern der Begriff der Tole‐ ranz ursprünglich eine subversive Praxis bezeichnet hat, die darauf zielte, die Menschen zu einer befreiten und egalitären Gesellschaft zu führen. Die gegenwärtig in demokratischen Staaten dominante Praxis der Toleranz sei jedoch keine befreiende, sondern eine repressive, da sie unter anderem rassistische und religiöse Diskriminierung weitest‐ gehend akzeptiere, wo sie als eine Gleichgültigkeit im doppelten Wortsinn verstanden und praktiziert würde. Wo alles gleich gültig ist und man sich allen Positionen gegenüber gleichgültig verhält, wird die herrschende Praxis der Ungerechtigkeit und Diskriminierung bewahrt oder sogar verstärkt. Und ein politisches System beziehungsweise eine Gesellschaft, in der man sich dieser Frage rein positivistisch, also über die enge juristische Auslegung geltender Bestimmungen nähert und offenkundige menschenfeindliche Äußerungen unter Umständen Demokratie und Recht 171 <?page no="172"?> juristisch adelt, trägt maßgeblich zu diesem falschen, weil repressiven Verständnis von Toleranz bei. Um der Toleranz ihren befreienden Gehalt zurückzugeben, braucht es also eine starke gesellschaftliche Intoleranz gegenüber allen repressiven und reaktionären Kräften und ihren Versuchen, die emanzipatorischen Errungenschaften der Demo‐ kratie rückabzuwickeln. Literatur- und Linktipp | Der Soziologe und Erziehungswis‐ senschaftler Wilhelm Heitmeyer hat mit seinem Team in einer Langzeitstudie das Phänomen der Gruppenbezogenen Menschen‐ feindlichkeit gegenüber Migrant*innen, Jüd*innen, Sinti und Roma, Muslimen, Homosexuellen, Obdachlosen, (Langzeit-)Arbeitslosen, Menschen mit Behinderungen und poeple of color erforscht und die Ergebnisse in der Reihe Deutsche Zustände bei Suhrkamp ver‐ öffentlicht. Das 1982 gegründete Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der TU Berlin zählt zu den weltweit bedeutendsten Einrichtungen seiner Art. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die interdisziplinäre Grundlagenforschung zum Antisemitismus in seinen vielfältigen Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen in Vergangen‐ heit und Gegenwart. Es betreibt umfangreiche Forschungen bei‐ spielsweise zur Geschichte des Holocaust, zur deutsch-jüdischen Geschichte, zu anderen Ausprägungen von Rassismus und Gewalt oder zu Minderheiten in Deutschland und gibt unter anderem das Jahrbuch für Antisemitismusforschung heraus: www.tu-berlin.de/ fakultaet_i/ zentrum_fuer_antisemitismusforschung. Das Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokra‐ tieforschung (KReDo) ist eine Forschungseinrichtung an der Uni‐ versität Leipzig. Es betreibt demokratietheoretische Grundlagen‐ forschung und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit gesamtgesellschaftlichen, aktuellen politischen wie auch histori‐ schen Entwicklungen. Seit 2002 untersucht es die rechtsextremen Einstellungen in Deutschland und veröffentlicht dazu regelmäßig die Leipziger Autoritarismusstudie: www.kredo.uni-leipzig.de. Demokratie? Frag doch einfach! 172 <?page no="173"?> Was bedeutet wehrhafte Demokratie? Der Eindruck der Wehrlosigkeit der Demokratie, der sich in öf‐ fentlichen Debatten angesichts der enormen Anstiege von Beleidigun‐ gen, Anfeindungen und Hassreden manchmal einstellen mag, täuscht. Im Gegenteil lässt sich aus dem Grundgesetz keine bedingungslose → Freiheit für die Feinde der Freiheit herauslesen. Gerade pluralisti‐ sche Demokratien können Meinungsfreiheit nicht als uninteressierte Beliebigkeit durchgehen lassen, sondern müssen dieser Grenzen setzen und dazu haben sie auch die Möglichkeit. Das Bundesverfassungsge‐ richt zum Beispiel sprach in dem Zusammenhang vom Konzept der streitbaren oder wehrhaften Demokratie, wofür sich in der Politik‐ wissenschaft der 1937 von Karl Loewenstein (1891-1973) geprägte Begriff der militant democracy etabliert hat. Dahinter verbirgt sich die Idee und Möglichkeit, zu verhindern, dass die Feind*innen der Demokratie diese mit demokratischen Mitteln abschaffen. Dazu ge‐ hören mit Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes die Unaufhebbarkeit des Verfassungskerns, den das Grundgesetz mit Artikel 79 sogar der Souveränität des → Volkes entzieht. Außerdem bietet das Grundgesetz die Möglichkeit, zu seinem Schutz bestimmte Freiheiten auch schon präventiv einzuschränken, zum Beispiel durch Parteien- und Vereins‐ verbote oder die Verwirkung von Grundrechten. Hinzu treten Paragra‐ phen des Strafgesetzbuchs, die zum Beispiel „Volksverhetzung“ und Holocaust-Leugnung verbieten (§ 130 StGB) oder die Fortführung ver‐ fassungswidriger Parteien (§ 84 StGB). Wichtig im Rahmen der wehr‐ haften Demokratie ist aber vor allem, dass keine uneingeschränkte Meinungsfreiheit vorgesehen ist. Artikel 18 des Grundgesetzes sieht vor, dass jede*r, die die Pressefreiheit, die Lehrfreiheit, Versammlungs‐ freiheit, Vereinigungsfreiheit oder das Eigentum dazu missbraucht, gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorzugehen, diese Grundrechte verwirken kann. In welchem Umfang und Ausmaß, dar‐ über befindet das Bundesverfassungsgericht. Seit 1949 wurden diese Grundrechtsverwirkungen jedoch nie ausgesprochen und lediglich viermal erfolglos eingeleitet, jedes Mal gegen Rechtsextremisten. Das zeigt, dass die rechtlichen Instrumente vorhanden sind, um gegen die Feinde der Demokratie vorzugehen. Nur setzt das eben immer auch den politischen Willen voraus, diese zu nutzen. Strukturelle Demokratie und Recht 173 <?page no="174"?> Hindernisse im Kampf gegen die Antidemokrat*innen treten dann hinzu, wo Institutionen wie Verfassungsschutz und Polizei, die zum Schutz des Grundgesetzes installiert worden sind, von Rechtsextremen und deren Sympathisant*innen unterlaufen und dennoch politisch protegiert werden. Umso wichtiger ist daher die Etablierung und Be‐ wahrung einer aktiven und kritischen Zivilgesellschaft, die den Schutz der Demokratie übernehmen muss, wo Behörden und Institutionen versagen. Literatur- und Linktipp | Zwei spannende Bücher über rechte Feinde der Demokratie, ihre Ziele, ihre ideologischen Grundlagen, Methoden, Verbündeten: Fuchs, C.; Middelhoff, P.: Das Netzwerk der neuen Rechten. Wer sie lenkt, wer sie finanziert und wie sie die Gesellschaft verändern, Rowohlt 2019 und Salzborn, S.: Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten, Beltz Juventa 2017. Das Forschungsprojekt „Gegneranalyse. Antiliberales Denken von Weimar bis heute“, www.gegneranalyse.de, befasst sich mit den Ursachen und Mustern der „antiliberalen Konterrevolution“ und setzt sich mit den Vordenkern der Neuen Rechten auseinander. Auf der Website bietet es Essays zu den einschlägigen Autoren sowie ein Glossar zu Grundmustern des antiliberalen Denkens, aktuelle Debattenbeiträge und Verweise auf weiterführende Literatur. Un‐ ter @gegneranalyse kann auf Facebook, Twitter und Instagram mitdiskutiert werden. Das Netzwerk für Demokratie und Courage (NDC), www.netzw erk-courage.de, ist ein bundesweites Netzwerk, das von jungen Menschen getragen wird, die sich für Demokratieförderung und gegen menschenverachtendes Denken engagieren. Das Hauptauf‐ gabenfeld ist die Ausbildung von jungen Menschen als Multiplika‐ tor*innen und die Durchführung von Projekttagen, Seminaren und Fortbildungen an Schulen, Berufsschulen, Bildungseinrichtungen sowie für viele andere Gruppen. Demokratie? Frag doch einfach! 174 <?page no="175"?> Gibt es ein Recht auf Widerstand? Laut Artikel 20, Absatz 4 des Grundgesetzes der Bunderepublik Deutschland haben „alle Deutschen“ gegen „jeden, der es unter‐ nimmt, diese [verfassungsmäßige] Ordnung zu beseitigen“ das Recht zum Widerstand, „sofern andere Abhilfe nicht möglich ist“. Konkret bedeutet das, dass sowohl Individuen wie auch Gruppen mitunter geltendes Recht brechen und den Gesetzesgehorsam verweigern dürfen, wenngleich sich die Formen widerständigen politischen Handelns heutzutage weit über den bloßen Bruch mit dem geltenden Recht hinaus entwickelt haben. In der konkre‐ ten Positivierung des klassischen Widerstandsrechts im Grund‐ gesetz zeigt sich dessen traditionell ordnungsbewahrender oder -wiederherstellender Charakter, insofern es sich explizit auf die in verschiedenen Artikeln des Grundgesetzes festgeschriebene freiheitlich-demokratische Grundordnung der BRD bezieht und sich bewusst gegen den Versuch ihrer Abschaffung oder Ver‐ änderung (auch) durch staatliche Organe richtet. Die praktische Relevanz des Artikels ist jedoch umstritten. Denn solange das Grundgesetz gilt, besteht ja eigentlich die Möglichkeit „anderer Abhilfe“, etwa der Rechtsweg. Gilt das Grundgesetz aber zum Beispiel aufgrund eines Staatsstreichs nicht mehr, wäre auch der Artikel zum Recht auf Widerstand bedeutungslos. Unter welchen Bedingungen ist Widerstand legitim? Die Frage, unter welchen Bedingungen der notfalls auch gewaltsame Widerstand gegen die herrschende Macht legitim ist, beschäftigt das politische Denken schon länger, als es die Bundesrepublik Deutschland gibt. Bereits in der römischen Antike wurde sie im Rahmen des Tyrannenmordes als dem mitunter einzigen Mittel zum Zweck der Überwindung von Tyrannei und der Wiederherstellung der Republik verhandelt. Ein berühmtes und bis heute kontrovers diskutiertes Bei‐ spiel ist die Ermordung Julius Cäsars durch Brutus, der von den einen als Verräter, von den anderen als Retter der Republik verstanden wird. Demokratie und Recht 175 <?page no="176"?> Die in der Forschung heute als klassisch bezeichnete Lehre vom Widerstandsrecht entwickelte sich allerdings erst ab dem 16. Jahr‐ hundert, und zwar im Zuge der Herausbildung der modernen Politik und des modernen Staates und der damit verbundenen Überlegungen zu legitimen Formen von Herrschaft. Diese Diskussionen setzten sich ideengeschichtlich ebenso im Theoriestrang des Sozialismus, und darin in marxistischen wie in anarchistischen Theorien, als auch in den Strömungen des Konservatismus, Liberalismus und Republikanismus fort. Die meisten der Versuche, ein Recht auf Widerstand theoretisch zu fassen, gehen dabei von überpositiven Prinzipien aus, welche die Individuen oder Kollektive unter spezifischen Umständen von ihrer Gehorsamspflicht gegenüber als illegitim empfundenen Gesetzen und Autoritäten entbinden. Eng verbunden mit dem Recht auf Widerstand war damit immer schon die Frage nach legitimer Gewalt, die ja klas‐ sisch dem Staat zugesprochen wird. Im Gegensatz dazu sowie zur revolutionären oder staatsgründenden Gewalt äußert sich ein wie auch immer konkret gefasstes Widerstandsrecht dann eher als Gegen-Ge‐ walt in Reaktion auf illegitime Gewaltausübung seitens der Macht- und Amtsinhaber*innen, weswegen dem klassischen Widerstandsrecht die Funktion der Bewahrung oder Wiederherstellung der etablierten und als legitim erachteten Ordnung zugesprochen wird. Wie entwickelte sich die Lehre vom Widerstandsrecht? Die Vordenker*innen des Widerstandsrechts haben sich vor allem Gedanken über dessen konkrete Anwendungsregeln gemacht. Unter‐ schieden wurde dabei zwischen dem Recht von Individuen und dem Recht eines demos (→ Volk) als politisches Kollektiv, gegen illegitime Herrschaftsgewalt vorzugehen. Ersteres fokussierte auf die Abwesen‐ heit positiver Rechte, letzteres auf Situationen, in denen die legitim ins Amt gekommene Staatsgewalt gegen die eigene Rechtsordnung verstößt, ohne dass man sie im Rahmen der bestehenden Gesetze und Institutionen dafür effizient sanktionieren könnte. Dabei gilt es zu beachten, dass das Widerstandsrecht und seine Ausübung vom Konzept des Zivilen Ungehorsams insofern zu unterscheiden sind, als Widerstand eben eine als illegitim erachtete Herrschaft voraussetzt, Demokratie? Frag doch einfach! 176 <?page no="177"?> während der Zivile Ungehorsam eher gegen eine prinzipiell als legitim anerkannte, aber konkret illegitim handelnde Regierung und im Rah‐ men eines im Großen und Ganzen funktionierenden Rechtsstaats zur Anwendung kommt. Das Widerstandsrecht in seiner modernen Variante geht maßgeblich auf die Vertragstheorien von Thomas Hobbes und vor allem John Locke zurück. Aus der kontraktualistischen Logik heraus war Widerstand prinzipiell dann legitim, wenn der vertraglich eingesetzte Souverän gegen den Zweck seiner Einsetzung verstößt. Bei Hobbes war das der Schutz des individuellen Lebens, womit Widerstand für ihn nur dann und auch nur individuell erlaubt war, wenn der Leviathan das Leben eines Untertanen bedrohte und diesen damit quasi zurück in den Naturzustand entließ. John Lockes Vertragsmodell hingegen kennt sowohl ein individuelles Widerstandsrecht gegen illegitime Herrschaft und Gewalt als auch ein kollektives Widerstandsrecht gegen eine vom → Volk eingesetzte, aber gegen den Einsetzungsvertrag versto‐ ßende Regierung. Beiden jedoch liegt die Skepsis gegenüber staatlicher Bevormundung und die Vorstellung eines natürlichen Rechts auf Selbstverteidigung und Selbsterhaltung von Leben, → Freiheit und Eigentum zugrunde. Für die Politikwissenschaftlerin Frauke Höntzsch (*1980) bedeutet dies eine Entpolitisierung des Widerstandsrechts, insofern es zuvorderst der individuellen Selbsterhaltung und Besitz‐ standswahrung dient, nicht jedoch der kollektiven Transformation gesellschaftlicher Missverhältnisse. Zwar unterliegt laut Locke auch die Entscheidung zum kollektiven Widerstand gegen eine vertrags‐ brüchige Regierung dem Mehrheitsbeschluss vertragschließender In‐ dividuen, was man einerseits in gewisser Weise als demokratisch verstehen kann. Locke war der Meinung, dass das Volk Richter sei, also über die legitime Anwendung des Rechts auf Widerstand entscheiden solle. Andererseits aber wird der Legitimität kollektiven politischen Widerstands damit faktisch eine hohe Hürde auferlegt. Man denke nur an das nationalsozialistische Deutschland, dessen Unrechtsregime von der Mehrheit der Bevölkerung getragen wurde. Hier blieb es dem Mut aufrechter Antifaschist*innen wie Georg Elser (1903-1945) oder der Weißen Rose um Sophie Scholl (1921-1943) überlassen, den Widerstand Demokratie und Recht 177 <?page no="178"?> unter Lebensgefahr auch gegen die gesellschaftliche Mehrheit in die eigene Hand zu nehmen. Welche Bedeutung hat das Widerstandsrecht für die moderne Demokratie? Mit Herausbildung der modernen Demokratie ab dem 18. Jahrhundert wurde das Widerstandsrecht weniger als Instrument von Bürger*innen gegen den Machtmissbrauch einzelner Herrscher*innen oder staatli‐ cher Organe diskutiert, als vielmehr gegen die befürchtete Tyrannei demokratischer Mehrheiten in Stellung gebracht. Zur liberalen Angst vor dem Staat gesellte sich also die Sorge vor einer Übermacht des revolutionären demos . Im weiteren Verlauf der Herausbildung der demokratischen Nationalstaaten wurden daher die systemstabilisier‐ enden Funktionen des Widerstandsrechts, nämlich willkürlichem Machtmissbrauch effiziente Hindernisse entgegenzusetzen sowie die politische Grundordnung zu erhalten oder im Notfall wiederherzustel‐ len, auf die Idee der Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit und das Prinzip der Gewaltenteilung übertragen. Daneben lassen sich aber in der Geschichte und Gegenwart der mo‐ dernen Demokratie Widerstandsbewegungen identifizieren, die sich nicht (mehr) ohne weiteres auf die Funktion der Stabilisierung oder Wiederherstellung der bestehenden politisch-ökonomischen Staaten- und Weltordnung festlegen lassen (wollen) und die dennoch - oder je nach Perspektive genau deswegen - als demokratisch einzustufen sind. Hierzu zählen historisch etwa die Aufstände gegen die Sklaverei oder die antikolonialen Befreiungskriege sowie die feministischen Kämpfe für die Befreiung der Frauen aus der männlichen Vorherrschaft. Auch gegenwärtige widerständige politische Praktiken sowohl im urbanen Rahmen, etwa die Recht-auf-Stadt-Initiativen, die Sanctuary-Cities-Be‐ wegungen oder die Platzbesetzungen, als auch global und digital sich formierender Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutungsverhält‐ nisse, hier wäre zum Beispiel an die Alter-Globalisierungsbewegung und Anonymous zu denken, versuchen den nationalstaatlichen Rah‐ men mit mal explizitem, mal implizitem Verweis auf die Demokratie bewusst zu unterlaufen oder zu übergehen. Demokratie? Frag doch einfach! 178 <?page no="179"?> Welche Arten von demokratischem Widerstand gibt es? Die unterschiedlichen Aktionsformen und Ausübungen des Wider‐ standsrechts speisen sich aus unterschiedlichen Strängen der Ge‐ schichte des demokratischen Denkens. Mal bezieht man sich stärker auf die postmarxistisch-anarchistische Tradition, in welcher die Pariser Kommune und andere historische Vorbilder einer so genann‐ ten „präfigurativen“ (das heißt die angestrebte bessere Wirklichkeit experimentell vorwegnehmenden) politischen Praxis die wesentliche Rolle spielen. Andere wiederum, wie zum Beispiel die Black-Lives-Mat‐ ter-Bewegung, stellen sich eher in die Tradition der Neuen Sozialen Bewegungen der 1960er Jahre und folgender, etwa der US-amerikani‐ schen Bürgerrechtsbewegung. Gemein haben sie, dass sie sich nicht mehr mit der Bewahrung oder Wiederherstellung des status quo befas‐ sen, sondern eine emanzipiertere Gesellschaft für alle anstreben. Hierbei steht in akademischen wie aktivistischen Kontexten weniger die Frage nach der Legitimität, sondern eher die Wahl der geeigneten Mittel und Strategien zur Erreichung der Ziele der jeweiligen wider‐ ständigen Praxis zur Debatte. So wird lebhaft diskutiert, wie man sich als soziale und politische Bewegung zum bestehenden System und seinen Institutionen zu verhalten hat. Chantal Mouffe hat zwei in diesem Kontext dominante Alterna‐ tiven als Exodus und Stellungskrieg bezeichnet. Vertreter*innen der Exodus-Strategie lehnen in der Tradition des Anarchismus die Zusammenarbeit mit den etablierten politischen Institutionen ab und setzen auf den Rückzug aus dem politischen System, um sich dort zu einer schlagkräftigen Gegengewalt zu formieren. Vertreter*innen der Stellungskrieg-Strategie hingegen fokussieren im Anschluss an die Hegemonietheorie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci (1891-1937) auf die hartnäckige Errichtung einer Gegenhegemonie, wofür sie nicht den Staat zu umgehen oder gar abzuschaffen versuchen, sondern selber Staat werden wollen und dafür zum Beispiel in Form von Parteien den Marsch durch die Institutionen anstreben. So verstandene und praktizierte Formen des Widerstands können mit dem französi‐ schen Philosophen Miguel Abensour (1939-2017) als eine Demokratie gegen den Staat verstanden werden, insofern es hier im Unterschied zum klassischen Widerstandsrecht nicht um den Erhalt einer sich als Demokratie und Recht 179 <?page no="180"?> demokratisch begreifenden Ordnung geht, sondern um deren perma‐ nente und niemals vollständig abgeschlossene Demokratisierung. Literatur- und Linktipp | Dem Thema Widerstand hat die Zeit‐ schrift für Politische Theorie ein ganzes Heft gewidmet: Celikates, R.; Höntzsch, F. (Hrsg.): Themenschwerpunkt Widerstand, trans‐ national. Zeitschrift für Politische Theorie 1/ 2019. Das „Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft - Thüringer Dokumentations- und Forschungsstelle gegen Menschenfeindlich‐ keit“ (IDZ, www.idz-jena.de) in Jena ist eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stif‐ tung (www.amadeu-antonio-stiftung.de). Aufgaben des Institutes sind der Erkenntnistransfer zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft sowie die gemeinsame Entwicklung, Realisierung und Dissemination von Forschungsprojekten zur Förderung der demokratischen Kultur. Es bietet Studien und Publikationen zu den demokratiefeindlichen Phänomenen der Diskriminierung, Hasskri‐ minalität und der Rechten Radikalisierung in sozialen Netzwerken. Das Weizenbaum-Institut (www.weizenbaum-institut.de) erforscht interdisziplinär und grundlagenorientiert den Wandel der Gesell‐ schaft durch die Digitalisierung und entwickelt Gestaltungsop‐ tionen für Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Die 20 For‐ schungsgruppen befassen sich mit den ethischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekten rund um das Internet und die Digitalisierung und deren Auswirkungen unter anderem auf die Demokratie. Demokratie? Frag doch einfach! 180 <?page no="181"?> Glossar - Wichtige Begriffe kurz erklärt Im Text waren zentrale Fachbegriffe mit einem → gekenn‐ zeichnet. Diese werden nun erklärt, allerdings nicht, wie üblich, in wenigen Sätzen, sondern, der Komplexität der Begriffe entsprechend, ausführlich und eingehend. <?page no="183"?> Volk Das Volk ( gr. demos) ist der zentrale Begriff der Demokratie. Zugleich gibt es „das“ Volk nicht. Wenn die Demokratie als Herrschaft des Volkes also dem Prinzip der Volkssouveränität Rechnung trägt, sprich den Willen „eines“ Volkes zu repräsentieren und umzusetzen beansprucht, dann ist der Streit um die Zusammensetzung dieses „einen“ Volkes für die Demokratie wesentlich. Allen Überlegungen liegt dabei immer schon ein mindestens doppel‐ ter Volksbegriff zugrunde. Mit „Volk“ wurde stets sowohl eine politisch handelnde Einheit vorgestellt, als gleichzeitig immer auch die Masse gemeint war, die sich aus den Vielen (Einzelnen) zusammensetzt. Wenn im Grundgesetz der Bundesrepublik von „dem deutschen Volk“ die Rede ist, ist das politische Volk gemeint, das sich als Souverän eine Ver‐ fassung gegeben hat. Gleiches gilt, wenn Gerichte in demokratischen Gesellschaften „im Namen des Volkes“ Urteile fällen. Daneben gibt es im griechischen auch noch den Begriff des ethnos , der ebenfalls mit Volk übersetzt werden kann. Wer ein ethnisches Verständnis von Volk bemüht, behauptet eine quasi natürliche Abstam‐ mung als vorpolitische Grundlage, die sich dann in einer gemeinsamen Kultur oder Sprache und mitunter auch in vermeintlich gemeinsamen biologischen Merkmalen konkretisiert. Diese Vorstellung eines vor‐ politisch existenten Volks wird vor allem im Zuge ethnonationalisti‐ scher, rassistischer, rechtsextremer und rechtspopulistischer Politiken bemüht, die aufgrund ihres exkludierenden und aggressiven Charak‐ ters leicht in Gewalt gegen Minderheiten und vermeintlich feindliche Völker und Nationen umschlagen. Mitunter finden sich solche Vorstel‐ lungen aber auch in konservativen Kontexten, etwa im Rahmen der Behauptung einer historisch gewachsenen Leitkultur als Fundament einer nationalen Identität. In beiden Übersetzungen wird das Volk in seiner Identität aber immer durch Grenzziehungen konstituiert, die notwendig Ausschlüsse und Ungleichheiten produzieren. Wer also vom „Volk“ spricht, tut dies nie interessefrei oder wertneutral, sondern nimmt damit zwangsläufig eine bestimmte Grenzziehung vor. Glossar - Wichtige Begriffe kurz erklärt 183 <?page no="184"?> Konflikt und Konsens Demokratien lassen sich theoretisch danach unterscheiden, ob sie grundlegend auf Konsens oder Konflikt aufbauen, was sich zum Beispiel in den Unterschieden von Konkordanz- oder Konkurrenzde‐ mokratien (siehe dazu auch die Frage zu den demokratischen Regie‐ rungsformen) ausdrückt. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass sie jeweils nur das eine oder das andere zulassen. Jede politische Gemein‐ schaft und erst recht die Demokratie braucht zunächst immer einen gewissen Grundkonsens, um überhaupt zu funktionieren und erst recht auf eine prinzipiell friedliche Art und Weise. Zugleich kann dieses friedliche Zusammenleben nicht die Stillstellung, Verdrängung oder Abwesenheit von politischen, sozialen oder ökonomischen Konflikten bedeuten. Andernfalls könnte man angesichts der Heterogenität von modernen Gesellschaften nicht mehr von einer Demokratie sprechen. Gleichzeitig macht es einen Unterschied ums Ganze, was man als den prinzipiellen Wesenskern oder die fundamentale Voraussetzung der Demokratie betrachtet, sprich ob man vom Standpunkt Konflikt oder vom Standpunkt Konsens auf die gängigen Politikformen und -stile in demokratischen Gesellschaften blickt. Vertragstheoretische Argumentationen in der Tradition der liberalen Demokratietheorie gehen zum Beispiel vom Krieg aller gegen Alle im Naturzustand, also der Situation vor der Einrichtung von Politik und Gesellschaft aus. Daraus leiten sie aber einen Ur-Konsens der Gemeinschaft der Vertragschließenden ab, die sich freiwillig zu einer politischen Gemeinschaft zusammenfinden. Entsprechend gestalten liberale Theorien Institutionen (z. B. Parlament, Regierung, Parteien) danach aus, dass sie den gesellschaftlichen Grundkonsens fördern. Machiavelli hingegen sieht in der Tradition der republikanischen Demokratietheorie am Grunde einer jeden politischen Ordnung einen nicht zu tilgenden Ur-Konflikt zwischen Herrschenden und denje‐ nigen, die nicht beherrscht werden wollen. In der Politik könne es dementsprechend niemals darum gehen, diesen Konflikt aufzulösen, sondern nur darum, mit ihm umzugehen und entsprechend die Insti‐ tutionen danach auszurichten. Politik bedeutet in der konfliktorientierten Tradition dann immer Streit und mitunter Kampf, was der Demokratie ein dynamisierendes Glossar - Wichtige Begriffe kurz erklärt 184 <?page no="185"?> Moment einschreibt. Konsensorientierte Demokratietheorien hinge‐ gen sind nicht empfänglich für Politikformen wie Protestbewegungen oder Aktionen des Zivilen Ungehorsams, welche die Herausforderung, Überschreitung oder den Bruch mit der etablierten Rechtsordnung und dem politischen System als wesentlich erachten. Sie fixieren sich auf ordnungsgemäße und regelkonforme Politik und suchen Gegenmittel für jede Störung des reibungslosen Ablaufs. Ihnen ist damit eher ein strukturkonservatives Moment eigen, wohingegen konfliktorientierte Theorien der Politik eher auf die Veränderung politischer Prozesse und Institutionen fokussieren. Repräsentation Repräsentation meint die Vergegenwärtigung von etwas, das nicht ge‐ genwärtig ist. Im engen Sinn bezeichnet sie das politische Handeln per demokratischer Wahl auf Zeit bestimmter Vertreter*innen im Namen des → Volkes. In einem weiteren Sinn meint es auch die politische Interessensvertretung gesellschaftlicher Gruppen. Die Politikwissen‐ schaftlerin Hanna Pitkin (*1931) unterscheidet dabei systematisch nach Repräsentation als standing for und acting for, also einmal als direkte Vertretung und zum anderen als ein Handeln im Auftrag. Die Repräsentation dient heute als eines der wesentlichen Prinzipien moderner Demokratien der Konkretisierung der Volkssouveränität und Gewaltenteilung in Flächenstaaten mit großen Bevölkerungen. Dort soll sie es einem demokratischen Volk ermöglichen, trotz all seiner Pluralität und Heterogenität handlungs- und entscheidungsfä‐ hig zu sein. Demokratietheoretisch war die Repräsentation aber stets umstritten, insofern sie einer unmittelbaren Herrschaft des Volkes eigentlich widerspricht und als Auswahl der vermeintlich Besten und Verhinderung von Pöbelherrschaft aristokratisch-elitären Ursprungs ist. Zugleich war die Repräsentation aber immer ein starkes politisches Argument im Rahmen demokratischer Kämpfe, etwa um die politische Mitsprache von Frauen, von ethnischen, religiösen oder sexuellen Minderheiten sowie von people of color. Hier dient Repräsentation vor allem der Formierung eines politischen Kollektivs und einer politischen Identität auf Basis geteilter Diskriminierungserfahrun‐ Glossar - Wichtige Begriffe kurz erklärt 185 <?page no="186"?> gen und trägt so zur Mobilisierung von demokratischem Protest- und Transformationspotenzial bei. Im Anschluss daran verstehen neuere Repräsentationstheorien die Bedeutung von Repräsentation als eine notwendige Voraussetzung für politisches Handeln in demokratischen Gesellschaften. Entgegen dem klassischen Verständnis als Darstellung einer politischen Einheit und ihrer Vielzahl an individuellen Interessen geht es hier aber um die Repräsentation von gesellschaftlicher Differenz. Dieses konstrukti‐ vistische Verständnis von Repräsentation bedeutet also, dass die zu repräsentierenden Gruppen erst im und durch den Akt der Repräsen‐ tation überhaupt entstehen und damit zugleich als Gruppe handlungs‐ fähig werden. Repräsentation schafft also die Repräsentierten und nicht umgekehrt. Partizipation Partizipation bezeichnet die Mitbestimmung an politischen Entschei‐ dungen durch (möglichst) alle von diesen Entscheidungen Betroffenen und ist damit ein zentrales demokratisches Prinzip, das traditionell in einem Konflikt zur → Repräsentation steht. Die konkreten Formen können dabei sehr unterschiedlich ausfallen, prinzipiell streben parti‐ zipatorische Demokratietheorien jedoch nach einer möglichst weiten und tiefen Beteiligung der Bürger*innen in Politik und Gesellschaft. Das bedeutet, dass die Beteiligung auf möglichst viele Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgeweitet wird, etwa den Ar‐ beitsplatz, die Bürokratie, die Gemeinde, Nachbarschaft oder sogar die Familie, und dass außerdem die Art der Beteiligung unmittelbarer wird, etwa in Form von Volksentscheiden, Referenden oder der Einbindung von Bürger*innen in kommunale Entscheidungen. Im Bereich der Wirtschaft gilt das Modell der Genossenschaft, in welchem Arbeiter*in‐ nen und Angestellte Anteile an ihrem Unternehmen halten, als eine Möglichkeit für mehr Partizipation und damit mehr Demokratie. Dabei gilt es, neben der strukturellen Trägheit von Institutionen und dem Unwillen politischer Machteliten, Einflussmöglichkeiten her‐ zugeben, vor allem sozio-ökonomische Voraussetzungen und Kosten für die Verwirklichung vollwertiger demokratischer Partizipation zu berücksichtigen. Nicht jede und jeder hat schließlich die Zeit und das Glossar - Wichtige Begriffe kurz erklärt 186 <?page no="187"?> Geld, sich politisch zu beteiligen. Damit rücken Forderungen nach politischer Bildung, aber auch sozialer und ökonomischer Sicherheit als Voraussetzung für gelingende politische Partizipation in den Fokus. Auch die Frage nach geschlechterspezifischen Unterschieden spielt hier eine große Rolle, insofern Frauen jahrtausendelang systematisch aus dem Bereich des politischen Lebens ausgeschlossen wurden und mächtige Rollenzuweisungen der Frauen in die Sphäre des Haushalts und der Familie auch in vermeintlich aufgeklärten demokratischen Gesellschaften fortwirken. Allein die Existenz demokratischer Partizi‐ pationsrechte wie das Recht auf Versammlungsfreiheit oder Meinungs‐ freiheit sind also noch kein Garant dafür, dass wirkliche Partizipation auch stattfindet. Partizipation allein ist zudem noch kein hinreichend demokratisches Prinzip. So sind etwa Zusammenschlüsse von Bür‐ ger*innen zu beobachten, die sich in feindlicher Absicht gegen andere soziale Gruppen richten oder die es ablehnen, zugunsten des Gemein‐ wohls auf individuelle Privilegien zu verzichten und die somit die demokratischen Prinzipien der → Freiheit und → Gleichheit verletzen. Wichtig festzuhalten ist, dass es bei der demokratischen Partizipation nicht allein darum geht, bestimmte (kollektive) Interessen umzusetzen oder eine möglichst effiziente Formulierung des Mehrheitswillens zu ermöglichen. Vielmehr besitzt die Partizipation an demokratischen Entscheidungsprozessen einen Eigenwert, insofern sich das Indivi‐ duum im politischen Miteinander, in der Diskussion, dem Streit, der Beratschlagung und Entscheidung sowohl Kompetenzen aneignen als sich auch als selbstwirksam erfahren kann. Gleichheit Ihren frühesten politischen Ausdruck fand die Gleichheit im antiken griechischen Prinzip der Isonomie . Das bedeutete so viel wie Gleich-Ge‐ setzlichkeit und meinte die Idee, dass man innerhalb der Bürgerge‐ meinschaft gleichberechtigt den Gesetzen gehorcht, die man sich als Gemeinschaft der Gleichen selbst gegeben hat. In der Französischen Revolution, der Geburtsstunde der modernen Demokratie, war die Gleichheit (égalité) neben der → Freiheit (liberté) und der → Solidarität (fraternité) die zentrale politische Forderung. Glossar - Wichtige Begriffe kurz erklärt 187 <?page no="188"?> Der Philosoph Étienne Balibar schlägt daher vor, von der „Gleich‐ freiheit“ zu sprechen, da seit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 die Freiheit nicht mehr ohne die Gleichheit zu haben ist. Wo nämlich Gleichheit ohne Freiheit angestrebt würde, ist die Ungleichheit zwischen Herrschenden und Beherrschten immer schon angelegt. Freiheit ohne Gleichheit bedeutet umgekehrt, dass die einen freier als die anderen und letztere damit tendenziell unfrei sind. Beide Prinzipien entstammen jedoch verschiedenen Denkströmungen und stehen in einer gewissen Spannung zueinander. Denn ein Mehr an Gleichheit geht in liberal-demokratischen Gesellschaften immer zu Lasten der individuellen Freiheit und umgekehrt. Die Gleichheit ist dabei der grundlegend demokratische Wert und bedeutet die Annähe‐ rung an das Ideal der Identität zwischen Regierenden und Regierten als Umsetzung des Prinzips der Volkssouveränität. Eine komplett verwirklichte Identität wird dabei selbst von radikalen Theorien als weder möglich, noch als wünschenswert vorgestellt, insofern dies eine totalitäre Gesellschaftsform bedeuten würde, die alle Unterschiede zwischen den Individuen nivelliert. Als politische Forderung wird die Gleichheit jedoch bis heute in aller Radikalität ausgespielt, um Formen von Bevormundung, Herrschaft und Unterdrückung zu kritisieren. Denn mit dem Verweis auf die Gleichheit lässt sich jede politische Ordnung in Frage stellen, die notwendig eine gewisse Ungleichheit zwischen Herrschenden und Beherrschten sowie Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern mit sich bringt. Gleichheit ist damit ein tendenziell anarchisches, also gegen die jeweils bestehende Ordnung gerichtetes, Prinzip. In dieser kritischen Stoßrichtung lassen sich Unterschiede des ökonomischen, politischen oder sozialen Status von Menschen durch nichts rechtfertigen. So lassen sich in Debatten um die konkrete Umsetzung des Gleichheits‐ prinzips große Unterschiede feststellen. Wird in der Tradition des Sozialismus eher auf die Herstellung sozialer und ökonomischer Gleichheit als Ziel demokratischer Politik abgehoben, geht die liberale Tradition eher von einer vorpolitischen Rechts- und Chancengleichheit der Bürger*innen als Startbedingung demokratischer Politik aus. Daraus folgt dann, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten nicht mehr als durch ungleiche Verhältnisse bedingt problematisiert, Glossar - Wichtige Begriffe kurz erklärt 188 <?page no="189"?> sondern als Folge unterschiedlicher individueller Leistungspotenziale und -bereitschaften legitimiert werden. Freiheit Die Freiheit entstammt in ihrer gegenwärtig dominanten Interpreta‐ tion der Denkströmung des Liberalismus (siehe dazu die Frage zur liberalen Demokratietheorie). Sie meint dann die maximal mögliche Befreiung des Individuums von äußeren Zwängen, was durch Grund‐ rechte, Menschenrechte und rechtsstaatliche Mittel gewährleistet wer‐ den soll. Dies geschieht etwa durch die Absicherung der Privatsphäre, in der Staat und Gesellschaft nichts zu suchen haben. Im späten Mit‐ telalter und in der Frühen Neuzeit meinte Freiheit noch den Besitz von Privilegien im Sinne einer Befreiung von Pflichten. Erst im Zuge der Aufklärung wurde sie zum Kampfbegriff und spielte eine wesentliche Rolle für die Überwindung des Absolutismus durch die Französische Revolution. Ideengeschichtlich unterscheidet man einen antiken republikani‐ schen von einem modernen liberalen Freiheitsbegriff. Wo die republi‐ kanische Tradition danach fragt, wofür man frei sein soll, fragt die liberale Freiheit nach dem frei wovon. Der Ideenhistoriker Isaiah Berlin (1909-1997) hat diese Unterscheidung auf die Begriffe der positiven (republikanischen/ antiken) und negativen (liberalen/ modernen) Frei‐ heit gebracht. Die negative zog er der positiven Freiheit vor, weil diese der Gefahr des Totalitarismus besser begegnen kann. Die positive Freiheit, die demgegenüber verstärkt Wert auf die Ermöglichung von und die Aktivierung der Bürger*innen zu politischer → Partizipation legt, wird von Liberalen als tendenziell proto-totalitär begriffen. Hannah Arendt kritisierte dieses moderne Verständnis von Freiheit als Unabhängigkeit von anderen dahingehend als gefährlich, als dies der Pluralität menschlichen Handelns nicht gerecht würde und zu‐ dem entpolitisierend wirke. Freiheit als „in Ruhe gelassen werden“ führe demnach entweder in die politische Apathie oder degradiere die Mitmenschen zum Mittel zum individuellen Zweck. Freiheit muss für Arendt daher gemäß der republikanischen Tradition als Miteinan‐ der-Handeln in einer gemeinsam geteilten Welt konzipiert werden. Freiheit lässt sich in Gemeinwesen dabei niemals radikal und vollum‐ Glossar - Wichtige Begriffe kurz erklärt 189 <?page no="190"?> fänglich umsetzen, insofern dies bedeuten würde, die Unterschiede zwischen Individuen absolut zu setzen, womit jedwede Form von Gemeinschaft unmöglich wäre. Solidarität Die dritte Forderung der Französischen Revolution nach → Freiheit, → Gleichheit und Brüderlichkeit, die man später mit „Geschwister‐ lichkeit“ übersetzte, um den Ausschluss der Frauen auch rhetorisch zu überwinden, lässt sich als das Prinzip der Solidarität übersetzen. In die‐ sem frühen Verständnis galt eine wie auch immer gefasste Gleichheit noch als Voraussetzung für Solidarität. Gleichzeitig war damit schon die Spur gelegt, Solidarität als Idealvorstellung einer kommenden Gemeinschaft zu begreifen. Als politischer Kampfbegriff hat sie vor allem in der Arbeiter*innenbewegung des 19. Jahrhunderts Wirkmacht entfaltet und den modernen Sozialstaat maßgeblich geprägt. Der Begriff der Solidarität leitet sich vom lateinischen Wortstamm solidus (fest, dicht) ab und geht auf das römische Zivilrecht zurück, wo er die Rechtsidee einer Schuld und Verpflichtung für das Ganze bezeichnete. Daher kennen wir heute noch die Idee der „Solidargemein‐ schaft“, in der „eine*r für alle und alle für eine*n“ haften. Damit berührt Solidarität laut dem Soziologen Heinz Bude (*1954) ein Verständnis von Zugehörigkeit, Verbundenheit sowie der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, etwa für die Klasse, das Gemeinwesen oder die Weltgesellschaft. Jedoch lässt sich Solidarität nicht auf bestimmte Gruppen festlegen. In modernen Demokratien dient sie laut dem Soziologen Hauke Brunk‐ horst (*1945) dazu, soziale Bewegung und die Transformation der Demokratie zu ermöglichen. Solidarität setzt Gleichheit dann nicht länger voraus, sondern hat sie zum Ziel. Sie meint dann eine Bezie‐ hungsweise, die eine Gemeinschaftlichkeit erschafft, in der Menschen trotz entgegengesetzter Interessen füreinander einstehen und Hilfe zur Selbstermächtigung leisten. Laut der politischen Theoretikerin Bini Adamczak (*1979) ist Solidarität daher eine im Hier und Jetzt machbare Erfahrung sowie ein Verlangen danach, alle Verhältnisse umzustürzen, die ein emanzipiertes Leben für alle verhindern. Die einen sehen dabei in der Solidarität unter Gleichen, etwa zwischen Glossar - Wichtige Begriffe kurz erklärt 190 <?page no="191"?> Arbeiter*innen, den Ausweg aus undemokratischen Verhältnissen und befürworten den Weg des Klassenkampfes. Andere ziehen die Idee ei‐ ner Solidarität der Differenz und die Strategie der Identitätspolitik für Gruppen vor, die vom universalen Prinzip der Staatsbürger*innen‐ schaft ausgeschlossen werden. 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Verwendete Literatur 198 <?page no="199"?> Wo sich welches Stichwort befindet Abendroth, Wolfgang 152 Abensour, Miguel 179 Adamczak, Bini 190 Adorno, Theodor W. 118, 147 Altvater, Elmar 151 Anderson, Benedict 45 Arbeit 69 Arendt, Hannah 41, 44, 102f., 126, 128, 169, 189 Aristoteles 29, 31, 40, 63, 100f., 115, 120 Ausbeutung 44, 93 Balibar, Étienne 74, 125, 188 Berlin, Isaiah 189 Besitzindividualismus 70, 84 Bhabha, Homi K. 90 Bobbio, Noberto 35 Bodin, Jean 166, 169 Bourgeoisie 47 Brown, Wendy 35, 74, 150, 164, 170 Brunkhorst, Hauke 190 Buchstein, Hubertus 37 Bude, Heinz 190 Bürger*innen 24, 46, 64, 66f., 78, 119, 125 Burghardt Du Bois, William Edward 104 Butler, Judith 74, 88, 130 Capet, Louis 107 Celikates, Robin 126 Chakrabarty, Dipesh 90 Chakravorty Spivak, Gayatri 90 Charles I. 101 Cicero 40 Constant, Benjamin 109 Crenshaw, Kimberlé 87 Cromwell, Oliver 101 Crouch, Colin 136 Davis, Angela 86 de Beauvoir, Simone 86 de Gouges, Olympe 83 Dekonstruktion 75 de Lagasnerie, Geoffroy 25 demos 29, 52, 74, 100, 118, 131, 178 Derrida, Jacques 33, 45 de Saint-Just, Louis Antoine 65f. de Spinoza, Baruch 32 Differenz 52 Diktatur 40, 48, 56, 111, 151 Diskurs 123 Dörre, Klaus 147, 149 Elser, Georg 177 Engels, Friedrich 44, 47, 143 Expert*innen 22 Fanon, Frantz 90, 94 Federalist Papers 65, 102f. Foucault, Michel 46 Freiheit 22, 24f., 30, 37, 41, 43f., 48, 56, 64f., 67, 70, 74, 76f., 93, 102, 110, 116, 121, 135, 173 Fundamente 11 Gandhi, Mohandas Karamchand 126 <?page no="200"?> Gemeinwillen 65 Gemeinwohl 29 Gesellschaft 68 Gewalt 44, 48, 53, 87f., 92, 95, 115, 126, 164 Gewaltenteilung 29, 40, 46, 52, 65, 102, 108f., 158, 160, 185 Gewaltmonopol 69 Gleichheit 22, 24f., 30ff., 41, 44, 49, 76, 78, 81, 93, 99, 103f., 116, 122, 130, 135, 148 Gramsci, Antonio 179 Grundgesetz 175 Habermas, Jürgen 36, 70, 127, 160 Hall, Stuart 90 Hamilton, Alexander 102 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 47, 105, 116 Hegel, Georg Wilhem Friedrich 94 Herodot 29 Herzog, Lisa 153 Hirsch, Joachim 50 Hobbes, Thomas 47, 68, 85, 101, 121, 166, 168f., 177 Höntzsch, Frauke 177 hooks, bell 90 Horkheimer, Max 118, 147 Identität 52 Individuum 63 induktiv 37 Inklusion 36, 53 Integration 55 Isokrates 31 Jay, John 102 Kampf 30, 40f., 45, 104, 116f., 124, 141, 178, 185, 189 Kant, Immanuel 46, 94, 105, 116, 122 Kantorowicz, Ernst 107, 167 Kapitalismus 21, 44, 68, 91, 94f., 141 King Jr., Martin Luther 126 Kleisthenes 31 Kommunikation 70 Konflikt 12, 34, 53, 61, 64, 74, 159 kontingent 75 Kontingenz 49, 74 Kritik 13, 35, 39, 77 Kuch, Hannes 152 Laclau, Ernesto 74, 76, 135 Lefort 78 Lefort, Claude 11, 13, 107, 125 Legislative 21 Legitimation 38, 70 Liberalismus 41, 63, 65f., 78, 145, 161 Lijphart, Arend 54 Llanque, Marcus 37 Locke, John 47, 68ff., 85, 94, 101f., 106, 115, 145, 162f., 177 Loewenstein, Karl 173 Loick, Daniel 50 Lorey, Isabell 131, 164 Ludwig XVI. 43, 107 Luhmann, Niklas 38 Luxemburg, Rosa 84 Machiavelli, Niccolò 40, 64, 102, 184 Madison, James 102 Maier, Christian 31 Mandat, imperatives 56 Mann, Michael 118 Manne, Kate 88 Marchart, Oliver 107 Marcuse, Herbert 171 Marx, Karl 44, 47, 105, 122, 143 Wo sich welches Stichwort befindet 200 <?page no="201"?> Maus, Ingeborg 169 Mbembe, Achille 90, 94 Mehrheitswahlrecht 29 Menschenrechte 29, 123 Mill, John Stuart 108 Minderheiten 55 Monarchie 11, 39, 42f., 105 Montesquieu 102, 162f. Mouffe, Chantal 74, 79, 134, 165, 179 Müller, Jan-Werner 132 Nation 12, 42-45, 78 Nationalismus 44 Nationalstaat 22, 33, 42, 54, 91, 95, 118f., 123, 166 Naturzustand 68 Offe, Claus 36 Öffentlichkeit 19f., 36, 70, 72, 85 Ökonomie 101 Opposition 58 Parlament 54 Parteien 54 Partizipation 65, 80, 109, 117, 133 Pateman, Carole 85 Pitkin, Hanna 185 Platon 29, 100, 120 Polanyi, Karl 149 polis 31, 33 Politik 31, 63, 100 Populismus 131 Privatsphäre 67 Proletariat 47 Rancière, Jacques 74, 76, 130, 136 Rassismus 23, 101 Rawls, John 127 Rechtspopulist*innen 21 Rechtsstaat 22, 46, 49, 158 Rechtsstaatlichkeit 29 Regierungsform 39 Repräsentation 41, 53-56, 65, 77, 80, 82, 93, 108f., 133, 185 Republik 39ff., 66, 103, 175 Revolution 11, 29, 39f., 42, 48, 73f., 77, 81f., 108, 129 Amerikanische 33, 70, 101, 104 Französische 33, 65f., 70, 101, 105 Haitianische 41 Robespierre 65f., 83, 108 Rosanvallon, Pierre 115 Rousseau, Jean-Jacques 32, 40, 56, 65, 69, 85, 106, 108f., 122, 168 Said, Edward 90 Schmitt, Carl 56 Schmitter, Phillipe 36 Scholl, Sophie 177 Selbstgesetzgebung 40, 65 Selbstregierung 40f., 74, 79 Smith, Adam 46, 67 Sokrates 100 Solidarität 24f., 49 Solon 31 Sörensen, Paul 51 Souverän 21, 42, 69, 105 Souveränität 20, 52, 93, 157, 165, 173 Staat 12, 44, 46, 67f., 84f., 124, 142, 148 Staatsbürger*innenschaft 36, 81, 85, 117, 119, 123f., 191 Staatsvolk 56 Steffani, Winfried 57 Sternberger, Dolf 160 Streit 20, 76 Wo sich welches Stichwort befindet 201 <?page no="202"?> Subjektivität 51 Talmon, Jacob L. 110 Theseus 31 Thoreau, Henry David 126 Tocqueville, Alexis de 32, 103, 105, 108 Toleranz 171 Totalitarismus 11 Tugend 29, 41, 63ff., 125 Typen von Demokratien 38 Tyrannei der Mehrheit 55, 103, 109 Verfassung 22, 24, 29, 43, 46, 65, 102, 104, 157, 169 Vernunft 68 Volk 12, 21, 42, 54, 74, 78, 100, 129, 168 Völkerrecht 165 Volksabstimmungen 56 Volksherrschaft 31 Volkssouveränität 25, 29f., 65, 77, 107f., 117, 136, 153, 157, 159, 166, 169, 185 Volksversammlung 31, 99 Volkswillen 55 volonté générale 65 Wahl 54 Widerstand 93, 104, 107, 125, 168, 175transnationaler 51 Widerstandsrecht 175 Wollstonecraft, Mary 82 Zetkin, Clara 84 Ziviler Ungehorsam 125, 176f., 185 Zivilgesellschaft 71f., 107, 109, 119, 128, 160 Wo sich welches Stichwort befindet 202 <?page no="203"?> ,! 7ID8C5-cfeegj! ISBN 978-3-8252-5446-9 Was unterscheidet die moderne von der antiken Demokratie? Welche Schattenseiten hat die moderne Demokratie? Gehören Demokratie und Kapitalismus zusammen? Wie steht es um Meinungsfreiheit und Toleranz in Demokratien? Diese und weitere Fragen beantwortet Martin Oppelt in seinem Buch. Er beleuchtet konkurrierende Ideen und Modelle der Demokratie, blickt auf ihre geschichtliche Entwicklung und erklärt aktuelle Herausforderungen. Zudem stellt er die wichtigsten Fachbegriffe prägnant vor und verrät, welche Websites, Videos und Bücher das Wissen aus diesem Band vertiefen können. Frag doch einfach! Die utb-Reihe geht zahlreichen spannenden Themen im Frage-Antwort-Stil auf den Grund. Ein Must-have für alle, die mehr wissen und verstehen wollen. Politikwissenschaft Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel