Die 11 Erzählkonzepte
Narration von Filmen entwickeln und verstehen
1123
2020
978-3-8385-5449-5
978-3-8252-5449-0
UTB
Philipp Knauss
Die 11 Erzählkonzepte sind neben Genre und Masterplot ein neuartiges System zur Kategorisierung von Filmen. Dazu wird die einer jeden filmischen Erzählung innewohnende narrative Substanz betrachtet.
Damit individuelle Kreativität zu Ideen und Geschichten führen kann, braucht man in jeder Phase der Stoffentwicklung neben dem Handwerk des Storytelling die Fähigkeit zur Analyse, Abgrenzung und Erkenntnis und den Mut zum fundierten Werturteil.
Dieses Lehr- und Anwendungsbuch richtet sich an alle Filmstudierenden, alle Profis, die in der Filmbranche inhaltlich arbeiten, und an alle Filminteressierten, die schon immer wissen wollten, warum es gute und schlechte Filme gibt
<?page no="0"?> Philipp Knauss Die 11 Erzählkonzepte Narration von Filmen entwickeln und verstehen <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 5449 <?page no="2"?> Philipp Knauss ist Dozent, Drehbuchautor und Produzent von Kino-, Fernseh- und Dokumentarfilmen. <?page no="3"?> Philipp Knauss Die 11 Erzählkonzepte Narration von Filmen entwickeln und verstehen UVK Verlag · München <?page no="4"?> © UVK Verlag 2020 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5449 ISBN 978-3-8252-5449-0 (Print) ISBN 978-3-8385-5449-5 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5449-0 (ePub) Einbandmotiv: © iStockphoto, FooToo Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 9 12 15 18 19 21 25 26 27 31 32 34 35 39 40 44 47 Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alle wollen: Die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Blümchenwiese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was, Wie, Wann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Erzählkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blaue oder rote Pille? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine neue Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzähltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzähltechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Magie und erzählerischer Substanz . . . . . . . . . . . . . . Plot und Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählerische Substanz und die Endlichkeit der Dinge . . Genre und Genrefilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Zutaten für Wurst und Themen für Filme . . . . . . . . . 11 Erzählkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 1. 49 2. 79 3. 127 4. 151 5. 173 6. 199 7. 217 8. 239 9. 257 10. 273 11. 285 Die Gewusst-Wie-Geschichte: Das schafft der nie! - Doch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Plausibilisierung: Was zur Hölle ist hier los? - Aha. Die Liebesgeschichte: Zwei Menschen. - Ach… . . . . . Die Hermetische Welt: Ich muss hier raus! - Nein. . . Worldbuilding: Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Whodunit: Da wäre ich nie drauf gekommen! - Ich schon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse: Stell dir vor… - Ok, mache ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Historische Film: Es war einmal… - Das interessiert mich! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Exploitative Geschichte: Ich will es sehen! - Ok, ich zeige es dir. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filme mit übergeordnetem Zweck: Kann man machen. - Oder lassen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthetische Narration: Los hier ist Hölle zur was? - Oh! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 <?page no="7"?> 309 315 Zum Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> Einführung Das Wichtigste ist, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Diese Lebensweisheit kriegen Sie von mir gratis vorneweg. Ja, es ist banal. Aber es ist wichtig! Beim filmischen Erzählen ist das Wichtigste, dass Sie Erzählkonzepte kennen und voneinander unterscheiden können. Sie sollten sich dar‐ über klar sein, zu welchem Erzählkonzept ein Stück Narration gehört, das da vor Ihnen liegt - sei es noch klein, roh und schäbig oder bereits stark und schön anzusehen. Darum geht es in diesem Buch. Alle wollen: Die Zukunft Vielleicht haben Sie es schon mitbekommen. Streaming, Pandemien und die damit einhergehenden Veränderungen der Sehgewohnheiten dieses inhomogenen Wesens, das gerne „der Zuschauer“ genannt wird, bringen allerhand Gewohntes durcheinander. Geschäftsmodelle werden in Frage gestellt. Kino als Ort, Drama als Genre, Independent Cinema als Alternative zum Studio-Blockbuster, all das werde es bald nicht mehr geben, hört man die Spatzen von den Dächern pfeifen. Hinzu kommt Big Data und KI in der Filmherstellung und der Vermark‐ tung. Ich will das gar nicht verteufeln. Im Gegenteil. Sollen ruhig in den großen Studios in Amerika und in den Chefetagen der Streaming‐ dienste Entscheidungen für oder gegen bestimmte Inhalte getroffen werden auf Grundlage der Programme von Cinelytic, Pilot Movies und <?page no="10"?> anderen erfolgreichen Softwareunternehmen. Netflix geht damit ganz offen um, andere sind noch etwas verschämt. Alle großen Player tun es. Die Parameter dabei sind neben den offensichtlichen, wie Budget, Stars und Genre, mehr und mehr thematische und narrative „Konstel‐ lationen“. Diese Programme sind echte Hightech-Zeitgeist-Monster. Vielleicht schafft es sogar eine KI irgendwann, ein gutes Drehbuch zu schreiben. Ich halte das für möglich. Und auch ein bisschen gruselig. Aber ich mag es, gegruselt zu werden und bin daher eher gespannt auf den Film. Was ist also die Zukunft des Films? Was ist heute modernes Erzäh‐ len? „Moment, nicht heute! “ Höre ich Sie sagen. „Heute ist morgen schon gestern! Und der Film, an dem ich gerade arbeite, mein Film, ist erst fertig in soundsoviel Jahren! Mein Film darf nicht von Gestern sein! Ich muss also wissen, was morgen und übermorgen und überübermorgen modern und hip und cool ist! Dabei will ich doch nur eine schöne Geschichte erzählen! Ich brauche Zeit und Muße und Ruhe! “ Höre ich Sie keuchen, während Sie rennen, rennen, rennen. Gemach. Ich habe eine gute Nachricht für Sie. Nicht zur Zukunft des gesamten Films. Da fragen Sie besser einen Propheten. Aber für alle, die Filme freiwillig und mit Lust anschauen und vielleicht sogar selber machen, kann ich sagen: Die gute Narration ist ein zwar schwieriges, anspruchsvolles, zuweilen zickiges Biest. Aber sie ist auch ein altes Mädchen mit Falten und Narben, dort oben, auf ihrem Thron. Sie will umschmeichelt und ergründet werden. Die rennt ihnen nicht davon. Einführung 10 <?page no="11"?> Am Anfang des Films DER CLUB DER TOTEN DICHTER (Regie: Peter Weir, 1989) hält Robin Williams als Lehrer John Keating seine erste Stunde in seiner neuen Klasse. Er lässt aus einem Lehrbuch eines gewissen J. Evans Prichard über Lyrik vorlesen und malt dabei, den Worten des Textes folgend, ein Schaubild an die Tafel, aus dem Gehalt und Qualität eines jeden Gedichts mit Hilfe der x-Achse und der y-Achse eines Graphs hervorgehen. Eifrig schreiben einige Schüler mit, alle lauschen brav und konzentriert. Keating beendet das Treiben abrupt und sagt laut und deutlich das Wort „Exkrement“. Die Schüler starren ihn entsetzt an. Es kommt noch schlimmer. Er fordert sie auf, das gesamte Kapitel aus dem Buch zu reißen und in den Müll zu schmeißen. So geschieht es. Der Tumult führt sogar dazu, dass der Direktor des Internats kurz in den Klassenraum tritt, doch Keating löst die Situation klug und souverän. Die Filmszene ist ein Paradebeispiel für dichtes Erzählen. Alle Charak‐ tere, Keating, die Schüler, die wir noch nicht so richtig auseinander‐ halten können, selbst der Direktor mit seinem Kurzauftritt, sie alle gewinnen hier an Profil. Vergangenheit und Zukunft der Institution, in der wir uns befinden, immerhin ein renommiertes, ehrwürdiges Internat, Vergangenheit und Zukunft der Pädagogik und die im wei‐ teren Verlauf der Handlung maßgeblichen Konflikte zwischen den Protagonisten und eben nicht zuletzt das von Keating vorgetragene Plädoyer für das reine Wirkenlassen von Poesie, all das wird hier erzählt und verhandelt - in gerade mal drei Minuten. Die Szene ist ohne Fehl und Tadel, sie ist spannend, vielschichtig, witzig und kurzweilig, sie offenbart die gesamte Könnerschaft des Regisseurs Peter Weir, des Autors Tom Schulman und nicht zuletzt der Darsteller. Aber… Einführung 11 <?page no="12"?> Auf der Blümchenwiese Es ist eine komplizierte, vielfältige und auch immer wieder mirakulöse Sache. Die Kreativität, die Idee, die Inspiration, die Gemengelage, die etwas auslöst. Man verzeihe mir gleich zu Anfang das folgende, im wahrsten Sinne des Wortes blumige Bild: Der Moment, in dem eine Idee für einen Film entsteht, also die ersten Sekunden, in denen im Kopf eines kreativen Menschen sich etwas manifestiert, das vielleicht zu so etwas Großem und Schönem wie einem Film werden kann, ist wie eine Blumenwiese, über die ein Schmetterling flattert. Der Schmetterling ist wirklich da, er ist keine Illusion, aber man kann ihn schlecht erkennen und muss ihm nachlaufen. Er ist im allerersten Moment vor allem eins: flüchtig. Wie Bilder aus einem Traum. Doch unser kreativer Mensch rappelt sich auf von seinem Nickerchen auf der Wiese, um dem Tier zu folgen. Wenn er es dann tatsächlich gefangen hat und in den geschlossenen Händen hält, ist es vor allem eins: fragil. Bloß nicht kaputtmachen, das kleine Ding! Er kann jetzt aber zwischen den Fingern durchlugen und das Geschöpf etwas genauer anschauen. Oft passiert dann das Folgende: Aha, ein Pfauenauge. Ein schönes Tier, aber, es gibt so viele davon. Was soll er tun? Von der Schönheit dieses Wesens trotz seiner Gewöhn‐ lichkeit ergriffen, kann - je nach Veranlagung und Persönlichkeit des Fängers auf der Wiese - in seinem Kopf und in seinen Händen etwas beginnen, was nicht eher enden wird, als bis es irgendwann in Form eines Films von Zuschauern betrachtet werden kann. Ein Fänger mit anderer Persönlichkeit wird den Schmetterling wieder fliegen lassen, weitersuchen und nicht eher ruhen, bis er ein Exemplar einer (ihm) unbekannten Art gefunden hat. Einführung 12 <?page no="13"?> Stephen King, den ich für einen echten Literaten von Rang halte und verehre, hat unzählige Bücher geschrieben. Zu viele, doch lassen wir das. Zwei seiner besten sind Sachbücher. In „Das Leben und das Schrei‐ ben“ (das Buch sollte, auch wenn es darin hauptsächlich um Prosa geht, auch in Ihrem Bücherregal stehen) lässt er uns teilhaben an seinem eigenen, ersten, wichtigen Besuch auf der Blümchenwiese. Zwar hat er davor schon viele Geschichten geschrieben und in Zeitschriften veröffentlicht. Auch hat er mehrere fertige Romane in der Schublade liegen, die später unter dem offenen Pseudonym Richard Bachmann veröffentlicht werden. King hatte also das Schreibhandwerk schon ganz gut drauf damals. Zum Glück. Für seinen echten Debütroman „Carrie“ musste King zwei Tierchen fangen auf der Blümchenwiese, um sie dann gemeinsam zu betrachten. Das erste ist ein schillernder Schmetterling namens Telekinese. Para‐ normale Fähigkeiten waren in den 70ern en Vogue. Sie ziehen sich durch das gesamte Werk von King. Ihm gebührt ohne Zweifel die Aner‐ kennung als derjenige Autor, der das Thema literarisch perfektioniert hat. Das zweite Geschöpf in seinen Händen ist ein hässlicher Käfer. Irgend so ein Ding, auf das man tritt. Ein Wesen, dessen Bedeutung im biologischen Kosmos höchstens darin besteht, anderen als Beute und Nahrung zu dienen: Der Schulaußenseiter, der Underdog. King erinnert sich an zwei Mädchen aus seiner eigenen Schulzeit. Traurige Gestalten mit dem falschen Aussehen, den falschen Kleidern und den falschen Eltern, die an der Grausamkeit ihrer Mitschüler später beide zugrunde gegangen sind. Die Para- und Pseudowissenschaftler der 70er Jahre fabulieren, dass die Fähigkeit zur Telekinese wohl am häufigsten bei jungen Mädchen auftritt. Humbug hin oder her, King sieht vor seinem geistigen Auge ein Mädchen sich telekinetisch rächen für die Schmähungen seiner Mitschüler. Carrie ist geboren. Einführung 13 <?page no="14"?> Er schreibt ein paar Seiten. Damit hat er die Idee aus dem Stadium der Flüchtigkeit in den Zustand der Fragilität transponiert. Voller Zweifel, weil er sich mit der Welt und den Nöten seiner weiblichen Hauptfigur nicht so recht auskennt und anfreunden kann, schmeißt er das Geschriebene in den Mülleimer. Seine Frau findet die Seiten und bittet ihn weiterzumachen. Der Rest ist Geschichte. Das Buch wurde ein Riesenerfolg, kurz darauf kongenial verfilmt von Brian de Palma. Der Autor, der zusammen mit seinem analytischen Ansatz zum Ver‐ ständnis und zur Bewertung von Lyrik in DER CLUB DER TOTEN DICHTER in den Mülleimer geschmissen wird, während die Zuschauer und ein Teil der Schüler innerlich jubilieren, ist erfunden. Es gibt keinen Dr. J. Evans Prichard. Man wollte wohl - und sei es postum - keine reale Person so diskreditieren. Wohl aber gab und gibt es genau dieses und viele andere Analysewerkzeuge zum Herumdoktern an den Ergüssen von Autoren, von Künstlern, von Filmemachern, von all denen, die Werke schöpfen und sie uns vor die Nase setzen. Einem Leser, der gerade eben von einem Gedicht im Herzen berührt wurde, kommt es berechtigterweise absurd und geradezu obszön vor, wenn einer daherkommt und das Maßband danebenlegt, Fehler oder Schwächen findet und sagt, welches Gedicht doch viel besser sei oder warum ausgerechnet dieser Text hirnloser Mist sei. Oder - noch schlimmer - wie der Autor es hätte besser schreiben sollen. Wir alle kennen dieses Gefühl, und sei es nur ein Song, den wir gerade gut finden, der uns berührt. Wir spielen ihn einem Freund oder dem geliebten Partner vor und bekommen nur ein Achselzucken. Es schmerzt. Nun soll hier von Film und weniger von Literatur, Dichtung oder Musik die Rede sein. Diese komplexeste aller medialen Ausdruckformen und Einführung 14 <?page no="15"?> das einem jeden Film zugrunde liegende Drehbuch sind schon seit Jahrzehnten Thema und Objekt vieler Bücher, die der Frage auf den Grund gehen, wie man einen guten Film macht. Sie widmen sich vor allem den handwerklichen Methoden des Drehbuchschreibens: der Dramaturgie. Alle diese Bücher haben ihre Berechtigung. Sie sind mal mehr oder weniger hilfreich, mal mehr oder weniger formvollendet, mal mehr oder weniger erfolgreich. Manche, wie die Bücher von Syd Field, Robert McKee, Christopher Vogler und Blake Snyder, sind zurecht Klassiker geworden und stehen bei uns allen zuhause im Regal. Und mir ist nicht zu Ohren gekommen, dass irgendwer Alarm! ruft und die Kreativität oder die Qualität des Films dadurch in Gefahr sieht. Auch wenn heutige Filmemacher und Kritiker immer häufiger mit einer gewissen Abschät‐ zigkeit von der klassischen Heldenreise sprechen. Als sei das längst abgedroschen, weil Voglers Buch bereits 20 Jahre alt ist. Diese Haltung ist überheblich. Tausende Jahre altes Menschheitswissen über die Struktur und Me‐ chanismen guten Erzählens soll als unmodern gebrandmarkt werden. Doch was sind schon 20 Jahre nach Christopher Vogler oder 70 nach Joseph Campbell? Und eine Geschichte nach dem Muster von Voglers Heldenreise oder dem Blake Snyder Beat Sheet zu schreiben ist einfach? Nein. Ist es nicht. Was, Wie, Wann Das sind die drei großen Fragen. In dieser Reihenfolge. Was erzählt der Film, Wie tut er das und Wann passieren die Dinge in dieser Geschichte. Nicht das Warum. Nicht das Wozu. Das fragen Einführung 15 <?page no="16"?> später Journalisten und Kritiker, wenn der Film in der Welt ist. Vorher stehen Was, Wie und Wann. Was? Das ist die Frage nach dem Stoff. Um was geht es überhaupt in dem Film? Die Antwort - sofern kompetent formuliert - gibt Hinweise auf das Genre, auf die Hauptfiguren, auf die Geschichte, auf den Plot. Hier werden wahrscheinlich auch die Käfer und Schmetterlinge ihren Auftritt haben. Vielleicht stehen sie nicht mehr im Zentrum der Geschichte. Vielleicht haben sie ihre Gestalt geändert, vielleicht wurden sie auch für die Geburt anderer Geschöpfe geopfert. Eine Rolle haben sie so oder so gespielt. Das Wann beantwortet die Dramaturgie. „Stopp! Halt! “ höre ich Sie denken. „Wie eine Geschichte erzählt wird, das beantwortet doch das dra‐ maturgische Konzept, auch genannt Drehbuch! “ Ja, aber dabei geht es um das Wann. Nicht jede erzählenswerte Figur, nicht jede erzählenswerte Geschichte beginnt mit Geburt und endet mit Tod. Bei den Figuren unserer Geschichten, ob erfunden oder real, stellt sich zuerst also diese funda‐ mentale Frage: Wann beginne ich die Geschichte, Wann beende ich sie? THE GREATEST STORY EVER TOLD (Regie: George Stevens, 1965) mit Max von Sydow als Jesus von Nazareth ist mit Sicherheit der selbstbewussteste Titel für einen Film, der jemals gewählt wurde. Ob es damit auch der beste Filmtitel ist, der jemals gewählt wurde, sollen Marketingspezialisten entscheiden. Der beste Film aller Zeiten ist dabei sicher nicht entstanden. Einführung 16 <?page no="17"?> Das Selbstbewusstsein speist sich in diesem Fall aus der Vorlage, dem Weltbestseller „Neues Testament“. Die Lebensgeschichte der Hauptfi‐ gur mag hier auch so reichhaltig, so bedeutsam und so formvollendet sein, dass man bei der Erzählung wirklich mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Die Lebensgeschichte von einem, der als Mensch auf die Welt kommt, aber nach seiner Ansicht und der Ansicht einer stetig wachsenden Anzahl von Menschen um ihn herum der Sohn des einzig wahren Schöpfergottes ist, Junge Junge, das ist mit ziemlicher Sicherheit wirklich die größte Geschichte, die man überhaupt erzählen kann. Und weitere Wann-Fragen: Wann beginne ich mit einer Szene, wann beende ich sie? Wann lasse ich eine Figur auftauchen, wann lasse ich sie etwas sagen, wann gebe ich eine Information an den Zuschauer, wann an die eine, wann an die andere Figur meiner Geschichte? Wir wollen nicht zu streng und dogmatisch sein, aber im Grunde und in der Summe sind die meisten Fragen im Zusammenhang mit der Dramaturgie auf ein Wann zurückzuführen. Nun bin ich mir natürlich völlig darüber im Klaren, dass in den zahllosen und endlosen Sitzungen, in denen Autoren, Regisseure, Dramaturgen und Produzenten um eine Geschichte ringen, die sie zusammen realisieren wollen, ständig und zurecht Fragen gestellt und diskutiert werden, die mit Warum, Was, Wie und so weiter beginnen. Der Entwicklungsprozess einer Filmhandlung, des Plots, der Dramaturgie, das ist in der Regel ein von vielen Schritten inklusive Rückschritten geprägter Prozess über einen langen Zeitraum. Beim Schreiben grübelt man selbstverständlich immerfort darüber nach, was als nächstes passiert in der gerade zu schreibenden Geschichte. Es än‐ dert nichts an der grundsätzlichen Unterscheidbarkeit der abstrakten Kategorien, die ich hier an den drei Ws festmache. Diese Kategorien Einführung 17 <?page no="18"?> treten zu Tage, wenn man die Perspektive einnimmt, für die ich in diesem Buch einen Begriff und eine Systematik anbiete. Das Erzählkonzept Das Wie steht zwischen Was und Wann. Zwischen Stoff und Dramaturgie, zwischen Stoff und dramaturgischem Konzept, zwi‐ schen Stoff und Drehbuch. Es ist das verbindende und damit in der Hierarchie aller für einen Film notwendigen Teilkonzepte (dem dramaturgischen Konzept, dem Regiekonzept, dem Kamerakon‐ zept, dem Farbkonzept, dem Musikkonzept und so weiter) höchste aller Konzepte. Das Wie, also das Erzählkonzept, steht bereits am Anfang eines jeden Stoffentwicklungsprozesses. Es ist dadurch nicht besser, größer oder schöner, als alle anderen Teilkonzepte. Es befindet sich aber auf einer anderen, höheren Abstraktionsebene. Der Begriff Erzählkonzept und das, was er beschreibt, ist ein Instrument für Kreative in der Filmherstellung und auch später für Filmkritiker und Medientheoretiker und für jeden Zuschauer in der Filmanalyse. Dem Erkennen und Benutzen des Erzählkonzepts eines Films liegt eine Bewusstwerdung der fundamentalsten Prinzipien des filmischen Erzählens zugrunde. Es dient der Fokussierung auf alle Entscheidungsprozesse in der inhaltlichen Entwicklung und der Produktion von Filmen. Wer weiß, was ein Erzählkonzept ist und die 11 Erzählkonzepte begrif‐ fen und verinnerlicht hat, kann damit nicht automatisch ein gutes Einführung 18 <?page no="19"?> Drehbuch schreiben. Aber er ist in der Lage, eine Idee zu einem Film, sei sie von ihm selbst oder von jemand anderem, sei es ein kurzer Gedanke oder bereits ein ganzes Drehbuch oder gar ein fertiger Film, besser zu verstehen und zu beurteilen. Ja! Auch die eigene Idee und ihre Implikationen für einen möglichen Film müssen erst mal verstanden werden! Gerade die. Ein Drehbuch und in noch höherem Maße ein fertiger Film bestehen nicht nur aus dem WICHTIGSTEN. Sie bestehen auch aus Dingen, die lediglich WICHTIG sind. Eine gut erzählte Geschichte hat nicht nur Hauptfiguren, sondern auch Nebenfiguren, häufig sogar Nebenplots. Es gibt Übergänge, Nuancen, Stimmungen und sogar schmückendes Beiwerk. All das gehört zum Film und zum Erzählen. Das Erzählkonzept allerdings zielt auf die Mitte, auf das Essentielle und Fundamentale. Und damit zielt es ideengeschichtlich auf den Anfang des gesamten schöpferischen Prozesses. Sie waren also neulich auf der Blümchenwiese und haben eine Idee? Dieses Buch sagt Ihnen, zu welchem Erzählkonzept diese Idee gehört. Dieses Buch sagt Ihnen, was die Aufgabe sein wird, wenn Sie diese Idee in eine narrative Form bringen werden, die einen Film trägt. Dieses Buch sagt Ihnen, wenn Sie Strukturen und Methoden erkannt haben und Sie in der Lage sind loszulegen, was das Fleisch am Gerippe sein wird. Blaue oder rote Pille? Die Frage nach Bewusstsein und damit der Objektivität und Subjekti‐ vität aller Erkenntnis ist eine der schwierigsten Fragen, die ein Mensch stellen kann. Man kann sie jenseits von unserem Erkenntnisgegen‐ Einführung 19 <?page no="20"?> stand, nämlich der filmischen Narration und den dafür notwendigen kreativen Elementen und Prozessen, für alle möglichen Bereiche stel‐ len. Man kann sie philosophisch, psychologisch oder neurologisch beantworten. Auf die eigene Welt, die eigene Person bezogen, kann ein solches Unterfangen äußerst heikel werden. Ganz umschiffen können wir das nicht. Seien Sie also gewarnt. Ich will somit an dieser Stelle nicht ausschließen, dass es für die ein oder andere Idee im Stadium der Flüchtigkeit und der Fragilität (das Stadium der Fragilität kann sehr lange und über den Dreh eines Films hinaus anhalten) nicht immer und ausschließlich hilfreich ist, eine analyti‐ sche, kalte und schonungslose Erkenntnisperspektive einzunehmen. Es kommt auch darauf an, welcher Typ Sie sind. Sie halten dieses Buch in Händen. Sie schlucken also wie Neo in MATRIX (Regie: Andy und Larry Wachowski, 1999) die rote Pille der Erkenntnis. Gratuliere. Und von wenigen Ausnahmeerscheinun‐ gen in der Welt der Filmemacher abgesehen, die wie beispielsweise der mindestens teilgeniale Lars von Trier auf Nachfrage behaupten, keine Filme anderer Regisseure anzuschauen, und sich der Analyse, der dramaturgischen Beurteilung, jeglichen Vergleichs und jeglicher Einordnung entziehen, abgesehen von diesen besonderen Exemplaren der Gattung Filmkünstler ist jeder, der sich mit Film auseinandersetzt, gut beraten, ständig und immer wieder nach der roten Pille zu greifen. Sie ist mächtig und kann zerstörerisch wirken. Sie setzt immerhin für den, der sie nimmt, einen mühsamen Kampf in Gang. Vorher war Eitelsonnenschein. Aber für uns Nichtgenies schafft sie die zum Arbeiten und Kreieren notwendige Klarheit und Durchblick. Und im besten Fall eine neue Ordnung. Einführung 20 <?page no="21"?> Eine neue Systematik Geschmäcker sind verschieden, das ist wahr, aber auch eine Binse. Ganz im Sinne des J. Evans Prichard, Doktor der Philosophie und der Literaturwissenschaft, erfunden, nur um geschmäht und zerrissen zu werden, wollen wir nichtsdestotrotz den Versuch wagen, in dem Medium Film als der höchsten und edelsten Form der Narration, objek‐ tivierbare Kriterien für das Gelingen oder Nichtgelingen aufzustellen. Dazu werden eine völlig neue Begrifflichkeit und Systematik notwen‐ dig sein. Es wird zu Anfang auch die Rede davon sein müssen, was ein Erzähl‐ konzept alles nicht ist. Da müssen wir durch. Keatings flammendem Plädoyer für die Literatur, mit dem die Szene im Klassenzimmer endet, geht eben auch voraus, was er so entschieden ablehnt und auf den Müllhaufen der Pädagogik wirft. Die Präzision seiner Haltung entsteht auch bei ihm durch Analyse, Unterscheidung und Wertung. Nun ist es nicht so, dass ich mit dem Ansatz des Erzählkonzeptes in diesem Buch irgendeinen anderen Ansatz verdamme. Ich trete zu nichts und niemandem in Konkurrenz. Schon gar nicht zu all den Büchern über Dramaturgie, ohne die heute niemand lernen kann, wie man ein gutes Drehbuch schreibt. Auch und vor allem nicht zu dem Klassiker von Ronald B. Tobias über die 20 Masterplots. Ein Plot, auch ein Masterplot, ist kein Erzählkonzept. Wenn Sie die 20 Masterplots kennen - falls nicht, holen Sie das schleunigst nach, kaufen sich den Tobias und lesen ihn direkt im Anschluss an dieses Buch - dann wird Ihnen vielleicht langsam dämmern, dass ich in einem wesentlichen Punkt einen identischen Ansatz verfolge. Ich wage den Versuch, auf dem diffusen Tableau der für das filmische Erzählen Einführung 21 <?page no="22"?> notwendigen Kreativität in einer klar definierten Abstraktionsebene einen Querschnitt zu machen. Wir Anatomiedoktoren schauen dabei aber nicht nur ein einzelnes Organ oder Gelenk an, wir haben den ganzen Patienten im Compu‐ tertomographen. Das Ergebnis ist eine vollumfängliche Draufsicht auf das gesamte filmische Geschehen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der filmischen Narration. Tobias ist mit genau diesem Ansatz Bahnbrechendes gelungen. Ich biete mit diesem Buch Begriffe an, deren Verwendung ich für sinnvoll halte. Einige der Namen, die ich verschiedenen Erzählkon‐ zepten gebe, kennen Sie bereits. Vielleicht verwenden Sie manche Begriffe auch ständig und durchaus zutreffend. Zum Beispiel die Erzählkonzepte Worldbuilding, Whodunit, Was-Wäre-Wenn-Prämisse. Wir alle verwenden häufig Begriffe, deren Bedeutung und kategoriale Zugehörigkeit wir eigentlich gar nicht kennen. Es fällt nicht auf, weder uns noch unserem Gegenüber, weil wir wissen, wie man die Begriffe verwendet und in welchem Kontext. „Respekt“ zum Beispiel ist ein solcher Begriff. Er wird ständig und überall verwendet, aber die wenigsten Menschen könnten sagen, was Respekt bedeutet. Sie würden wohl irgendwas von „Andere akzeptie‐ ren“ und „Meinungen tolerieren“ und „nett zueinander sein“ reden, wenn überhaupt. Dass es sich aber bei Worldbuilding und der Gewusst-Wie-Geschichte dem Historischen Film um jeweils eins von genau 11 Erzählkonzepten handelt und was es mit dem ungeheuer wirkmächtigen Erzählkonzept der Plausibilisierung auf sich hat, das und anderes werden Sie hier im weiteren Verlauf erfahren. Einführung 22 <?page no="23"?> Wir werden nicht zimperlich umgehen mit einigen Filmbeispielen. Auch erfolgreiche und gute Filme, bekommen ihr Fett weg. Von einigen stark formatierten und wirtschaftlich wie kreativ risikobefreiten Pro‐ duktionskanälen, die stetigen Output produzieren, abgesehen, ist jeder Film, der nicht im Stadium des Wunsches und der Vorstellung verharrt, sondern wirklich entsteht, ein Wunder. Und damit auch eigentlich etwas Wunderbares. Eigentlich. Denn, sind wir mal ehrlich, viele Filme wären ganz abgese‐ hen von der Ressourcenverschwendung besser nicht gemacht worden. Sie verstopfen den Kanal und erschweren Ihnen und mir die Suche nach Besonderem, nach Bemerkenswertem. Sie sind von Anfang an, bereits im frühesten Stadium des Entstehungsprozesses, zum Scheitern verurteilt. Ein Scheitern in Redundanz und Belanglosigkeit, nicht etwa ein Scheitern an einer zu hoch gelegten Latte. Das wiederum ist aller Ehren wert und für das Anliegen dieses Buches oft von höchstem Wert und Interesse. Es geht uns hier vielmehr um den Wettstreit der Ideen im Kopf eines kreativen Menschen als um den Wettstreit der Projekte auf dem Finanzierungsmarkt oder gar den Wettstreit fertiger Filme an den Kinokassen oder in den Auslagen der Streamingdienste am heimischen Bildschirm. Wenn ein Film gemacht wird, kann dafür ein anderer nicht gemacht werden. Den schlechten - oder zumindest nicht ganz so guten - Film verwerfen, indem wir eine bewusste Entscheidung treffen für das zeitliche und kreative Engagement, dem später irgendwann ein enormes finanzielles Engagement von diversen Akteuren der Filmwirt‐ schaft folgen muss, ist ein wichtiger und verantwortungsvoller Schritt. Dazu muss man als Filmemacher die eigenen Stärken und Schwächen kennen. Und dazu wiederum muss man Erzählkonzepte kennen. Einführung 23 <?page no="24"?> Es werden im Folgenden alle Erzählkonzepte, die nebeneinander exis‐ tieren und - mal in friedlicher Koexistenz, mal in Konkurrenz zuein‐ ander - um die Vorherrschaft in einem Film ringen, vorgestellt und erläutert. Wir werden sehen, dass alle Filme, die jemals gemacht wurden, zu mindestens einem dieser Erzählkonzepte gehören. Wir benötigen keine Grafiken des fiktiven Dr. Prichard oder die Datenwelt der Medienkonzerne mit ihren Algorithmen. Doch indem wir die erzählerische Substanz, den Urschleim des Erzählens betrachten, werden wir den kühnen Versuch machen, dem Wunder des guten Films, dem Wunder der funktionierenden Erzählung auf die Schliche zu kommen. Einführung 24 <?page no="25"?> Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? „Ein Film ist ein Erfolg oder Misserfolg, von dem Moment an, in dem Sie das Konzept festlegen. Die Ausführung macht die anderen 50 % aus. Es ist der Grundsatz des Konzepts, der den Film funktionieren lässt oder nicht.“ George Lucas Im Folgenden werden einige - bei Weitem nicht alle - zentralen Begriffe, die für unsere Beschäftigung mit der filmischen Narration wichtig sind, erläutert. Der Begriff Erzählkonzept wird in diesem Buch synonym mit dem Begriff narratives Konzept verwendet. Narration und Erzählen ebenfalls. Ich sehe da keinen Unterschied. Erzählung ist wiederum etwas Anderes. Es handelt sich dabei um eine literarische Gattung. Das wussten Sie bereits. OK, aber wir müssen uns mit den Begriffen, die wir im weiteren Verlauf verwenden, ausführlich auseinandersetzten, sonst kommen wir in Teufels Küche. Ein einzelnes Erzählkonzept wird nicht angewandt. Eine sinnvolle Anwendung kann nur entstehen im Zusammenhang und in der Ab‐ grenzung zu anderen Erzählkonzepten. Es ist somit vielmehr die gesamte Systematik aller 11 Erzählkonzepte, die angewandt wird. Der Begriff Konzept wird allerorten verwendet. Inflationär geradezu. Und jetzt auch noch das! Ein ganzes Buch über das sogenannte Erzählkonzept! Was soll das? Jeder weiß doch, was ein Konzept ist, jeder weiß, was Erzählen ist. Dabei ist der Begriff Erzählkonzept nicht mal schön, nicht gut zu tippen, nicht gut zu sprechen. Ich habe ihn dennoch ganz bewusst gewählt, <?page no="26"?> weil er das Ding, um das es mir hier geht, in Gänze und präzise beschreibt. Also der Reihe nach. Erzählen Erzählen bedeutet, Geschehnisse in dramaturgischer Form darzubieten. Es kommt nicht auf die Länge an, nicht auf den Inhalt, nicht auf die Qualität oder die Einzigartigkeit. Sobald Dramaturgie im Spiel ist, ist es Erzählen. Dadurch entsteht meist - aber nicht unweigerlich - Fiktion. Ohne Dramaturgie ist es in Reinform ein Bericht. Ereignisse in chronologischer Reihenfolge. Das kann auch interessant sein, sogar spannend, sofern die Ereignisse interessant oder sogar spannend sind. Die Übergänge sind fließend und wir wollen hier alle anderen Darstellungs- und Wiederga‐ beformen, die der Mensch sich hat einfallen lassen, schlicht ignorieren. Wir betreiben keine Sprachwissenschaft, sondern wollen einen klaren Blick richten auf unsere Begriffe und das, was sie umschreiben. Ein Mann kommt von der Arbeit nach Hause und erzählt seiner Frau, was heute im Büro passiert ist. Eine kleine Anekdote, etwa so: Ein Kollege steht im Büro eines weiteren Kollegen und lästert über den gemeinsamen Chef. Schimpfworte, Beschwerden, Häme, alles dabei. Der Chef steht plötzlich in der Tür. Ups. Hat er etwa alles mitbekommen? Diese Minigeschichte ist peinlich und dadurch lustig. Oder tragisch. Oder beides zusammen. Unser Mann, der seiner Frau von der Arbeit erzählt, ist kein Autor, hat keine Ahnung von Dramaturgie, dennoch entscheidet er, an welchem Punkt der Geschehnisse er einsetzt, also Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 26 <?page no="27"?> wann die Erzählung beginnt. Er entscheidet, dass er das Auftauchen des Chefs nach dem Lästermonolog erzählt (obwohl der Chef doch wahrscheinlich schon vorher da stand), also wieder ein Wann. Und schließlich entscheidet er, wann die Erzählung endet, damit er eine Reaktion seiner Frau, die aus Lachen oder besorgter Anteilnahme bestehen wird, ernten kann. Intuitive dramaturgische Basics sind allgegenwärtig, sobald jemand den Mund aufmacht. Dramaturgie ist die konstitutive Eigenschaft des Erzählens. Konzept Konzept ist mindestens zweierlei. Zum einen die Skizze von etwas Größerem, etwas Längerem. Es ist Voraussetzung oder zumindest Hilfe für ein noch zu schaffendes Werk. Dabei muss das Konzept in Form und Gestalt dem noch zu schaffenden Werk ganz und gar nicht ähnlich sein. In diesem Sinne ist ein Kochrezept ein Konzept von einer Mahlzeit. Das Rezept steht auf einem Stück Papier. Die Mahlzeit besteht aus Kohlehydraten, Eiweißen, Fetten und Mineralstoffen. Man kann sie essen. Das Rezept ist nicht etwa eine Minimahlzeit. Auch wenn Sie sich das Stück Papier in den Mund stecken und darauf herumkauen. Dann essen Sie Papier, nicht etwa das Konzept. Das Konzept ist abstrakt und der konzipierte Gegenstand, sobald er entstanden ist, konkret. In der Kognitionswissenschaft wird der Begriff Konzept jedoch anders verwendet. Er wird von dem Begriff Begriff unterschieden. Auch hier geht es um die Unterscheidung zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten. Einem konkreten Ding wird eine Bezeichnung zugewiesen, die wir dann Begriff nennen. Da steht dieses Ding aus Holz mit vier Beinen, einer Sitzfläche und einer Lehne. Ein Stuhl. Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 27 <?page no="28"?> Das Wort, das die fünf Buchstaben S T U H L im Deutschen bilden, ist die Bezeichnung für das konkrete Ding, auf das ich mich setzen kann. Jetzt und hier. Haben Sie einen Stuhl? Klar, Sie sitzen gerade auf einem drauf. Aber haben Sie auch einen Begriff von einem Stuhl? Um nicht zu sagen: haben Sie ein Konzept von einem Stuhl? Hm. Ein Konzept von einem Stuhl ist nicht etwa die Bauanleitung. Das wäre das Kochrezept. Ein Konzept von einem Stuhl ist eher so etwas, wie eine Vorstellung davon, wie ein Stuhl aussieht, woraus er besteht, wozu man ihn benutzen kann, und vielleicht auch vage, wie man einen herstellen kann, im Fall der Fälle. Das Konzept für einen Stuhl, beinhaltet aber im Gegensatz zum Kochrezept und der Bauanleitung auch eine Vorstellung davon, wie ein Stuhl für jemand, der in Gestalt und Größe uns Menschen ganz und gar fremd ist, aussehen würde. Ein Stuhl für ein Alien zum Beispiel. Ich traue Ihnen zu, dass Sie ein Konzept, einen Begriff, eine Vorstellung davon haben, was ein Stuhl ist. Meine Katze hat das nicht, obwohl sie darauf liegt und schläft, ihn also fachgerecht nutzt. Unsere Vorfahren, als sie noch in Höhlen lebten, hatten das - obwohl genauso intelligent wie wir - für lange Zeit auch nicht. Das Konzept ist somit in abstrakter und verkürzter Form der Versuch, das Wesentliche, man könnte auch sagen das Wesen des konzipier‐ ten Gegenstandes zu beschreiben. Dass Film als Gegenstand unserer Betrachtung immateriell ist, ein Medium, dessen Wesenskern also zutiefst abstrakt ist, macht es nur für den Bruchteil einer Sekunde noch eine Runde komplizierter. Ob wir von einem Stuhl, einem Auto, dem Staat, der Liebe oder einer Filmidee sprechen, unser Konzept von dem Begriff Konzept lässt sich auf alle diese Gegenstände anwenden. Wir können daher diese Besonderheit des Films bzw. des Erzählens getrost Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 28 <?page no="29"?> vergessen und den mehrfachen Zirkelschluss in dem vorangegangenen Satz entspannt hinnehmen. Ein fertiger Film ist für uns ab jetzt ganz und gar konkret. Die oben genannten Beispiele (Stuhl, Auto, Staat, Liebe, Filmidee) gehören unterschiedlichen Kategorien an. Das werden Sie nicht bestreiten. Voraussetzung dafür, dass überhaupt unterscheidbare Kategorien ent‐ stehen und somit strukturiertes Denken möglich wird, ist nicht etwa die Unterscheidbarkeit der Gegenstände an sich, das kann auch meine Katze, sondern ihrer Konzepte. Platon nennt das, wovon wir hier sprechen, Idee. Doch wir wollen die Begriffsverwirrung nicht noch komplett machen, sondern den Begriff Idee heutig und umgangssprachlich und ganz und gar präzise für das verwenden, was jemandem gerade einfällt. Ich habe eine Idee! In diesem Sinne. Das Konzept, wie wir den Begriff im Weiteren verwenden werden, ist zugleich der Grundbaustein und das Ergebnis allen geordneten Denkens. Anfang und Ende. Ein Zirkel. Nehmen Sie es hin. Das Erzählkonzept ist keine (! ) Bauanleitung, auch wenn es, je nach Wirkmächtigkeit des jeweiligen Erzählkonzeptes, das zur Anwendung kommt, mal mehr, mal weniger Hinweise auf den Bau, bei uns also auf die Herstellung eines Films, gibt. Es steht wie ein Berater stets neben Ihnen und sagt Ihnen im Zweifel, was wichtiger und was unwichtiger ist. Sonst bauen Sie etwas, das eins zu eins aussieht wie ein Stuhl. Sie treten voller Stolz einen Schritt zurück und merken dann, dass das Ding viel zu klein ist, um sich darauf zu setzen. Oder zu groß. Oder nicht stabil genug. Oder Sie brauchen eigentlich fünf davon, weil gleich die Familie zum Essen kommt. Genug von Stühlen. Beim Film verhindert dieses Malheur das Wissen um die Erzählkonzepte. Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 29 <?page no="30"?> Jeder Film ist ein Prototyp und er ist teuer. Ausnahmen bestätigen die Regel. Also gibt es verständlicherweise viele Vorstufen, um nicht zu sagen Konzepte, von dem, was eigentlich entstehen soll. Autoren schreiben Loglines, Pitchpapers, Exposés, Treatments und Drehbücher. Für Filmprojekte werden Moodboards, Storyboards und Animatics erstellt. Meist bauen sie im Sinne der Chronologie eines Entwicklungs‐ prozesses aufeinander auf, werden differenzierter und umfangreicher, je näher man dem Dreh kommt. Nicht jedes Teilkonzept wird ausführlich irgendwo hingeschrieben und innerhalb des Filmteams herumgereicht. Das ist manchmal tech‐ nisch nicht möglich oder schlicht unnötig. Das bedeutet aber nicht, dass diese Teilkonzepte nicht existieren würden. Wenn Sie für die filmische Narration das Spielchen ad infinitum weitertreiben wollen, kann sogar der fertige Film als Konzept gesehen werden, als Vorstufe zu dem Film, den ein jeder Zuschauer in seinem Kopf entstehen lässt, wenn er den Film ansieht. Filme machen: Konzepte, wohin man blickt, es wimmelt und wuselt nur so. Gute Regisseure zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie in der Lage sind, hier nicht den Überblick zu verlieren. Dabei haben wir die produzentische Konzeptperspektive mit Finanzierung, Projektmanagement, Technik, Public Relations, Vertrieb und so weiter außen vor gelassen. Das tun wir auch weiterhin. Uns sollen hier ausschließlich die erzählerische Substanz und die kreativen Momente (Plural von das Momentum, nicht von der Moment) interessieren. Sie werden mir zustimmen, dass das wichtigste all dieser Konzepte das Drehbuch ist. Nicht umsonst ist es neben anderen Faktoren (meist den Namen der maßgeblichen am Film beteiligten Personen) DIE Entscheidungsgrundlage für diejenigen, die grünes Licht geben, also Geld bereitstellen. Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 30 <?page no="31"?> Wir halten fest, dass das Erzählkonzept mit Dramaturgie als dem konstitutiven Element des Erzählens zu tun hat, aber nicht identisch ist mit dem dramaturgischen Konzept, das ich mit dem Drehbuch gleichsetzen möchte. Solange noch kein Drehbuch existiert, ist das dramaturgische Konzept das Treatment, oder das Exposé, oder der Pitch. Wir haben uns mit dem Wort Erzählkonzept und seinen zwei Wortteilen auseinandergesetzt. Obwohl das Erzählkonzept unweigerlich durch „das Erzählen“ mit der Dramaturgie zusammenhängt, haben wir zu‐ mindest angefangen, Erzählkonzept gegen den Begriff Dramaturgie abzugrenzen. Diese Abgrenzung und die Wechselwirkungen zwischen beiden werden uns noch eine Weile von Kapitel zu Kapitel beschäf‐ tigen. Damit der Schnitt durch den Organismus unseres Patienten weiterhin schön sauber verläuft, müssen wir den Begriff nun den folgenden artverwandten Begriffen gegenüberstellen. Erzähltheorie, Erzähltechnik, Plot, Motiv und Genre. Erzähltheorie Erzähltheorie ist eine wissenschaftliche Disziplin, irgendwo zwischen Kulturwissenschaft, Medienwissenschaft, Literaturwissenschaft und Soziologie. Interdisziplinär. Darin gibt es die strukturalistische, die klassische und dann die poststrukturalistische Richtung, die sich ge‐ genseitig Vorwürfe machen und bekriegen. Die Erzähltheorie oder Narratologie beschäftigt sich mit - wer hätte es gedacht? - der Theorie des erzählenden Textes. Dabei ist von Zeit und Perspektive die Rede. Erzählung bewegt sich in der Zeit. Die Zeit ist wie das Wasser in der Knetmasse, aus der wir unsere Geschichte formen. Spätestens wenn das Wasser verdunstet ist, ist die Skulptur fertig. Sollte fertig sein, wenn nicht geschlampt wurde. Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 31 <?page no="32"?> Dabei spielt es keine Rolle, ob es ein Stück Papier mit Buchstaben darauf, also z. b. ein gebundener Roman oder ein Film auf einer Blu-Ray ist. Solange beide im Regal stehen, passiert da nichts mehr mit Zeit. Sobald wir aber lesen oder den Film anschauen, verflüssigt sich ein kleines Stückchen der Knetmasse und wird durch das Lesen oder durch das Zusehen kurz formbar. Das ist lange vor dem Herstellen von größeren Zusammenhängen, also dem Verständnis einer Welt und eines Beziehungs- und Konfliktgeflechts einer Geschichte, die wir konsumieren, der aktive Anteil eines jeden Zuschauers in der Rezeption von Erzähltem. Je nach Perspektive, die wir als Betrachter in einem Raum einnehmen, sieht die Form der Skulptur ganz und gar unterschiedlich aus. Wir können getäuscht, manipuliert und verführt werden. Also genau das, was wir als Filmemacher mit dem Zuschauer anstellen wollen, wonach es ihn, wissentlich oder nicht, gelüstet. Zeit und Perspektive. Die einzigartige Bedeutsamkeit des gekonnten Umgangs mit Zeit und Perspektive für die Kunst der Erzählung ist einleuchtend. Nur ganz wenige Erzähler im Film vermögen es dabei, im Umgang mit dem Faktor Zeit die so sehr gewünschte und ersehnte Täuschung oder Verführung herzustellen. Christopher Nolan beherrscht diese Kunst meisterlich wie kein Anderer. Das gängigere Mittel ist die Perspektive. Erzähltechnik Erzähltechnik ist im Sinne der Mengenlehre sowohl Teil der Erzählthe‐ orie als auch eine neue Menge, deren Teil wiederum die Erzähltheorie ist. Doch, sowas ist möglich. Paradoxa sind zwar paradox, aber sie existieren. „Die Menge aller Mengen“ oder etwas anschaulicher: „Das Lexikon, das alle Lexika enthält, nur nicht diejenigen, die sich selbst Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 32 <?page no="33"?> enthalten.“ Denken Sie an das einfachste aller Sprachparadoxa, das Lügenparadox: „Ich lüge (gerade)“. Der Satz kann nicht wahr und nicht falsch sein und ist doch beides zur gleichen Zeit. Zum Verrücktwerden. Bei der Betrachtung dieser - nennen wir es mal Szene - sehen wir auch, dass die Parameter zur Betrachtung, sei es zur philosophischen, sprachlogischen oder zu unserer, die Narration fokussierenden Analyse, die beiden Begriffe Zeit und Perspektive sind, die zur Verfügung stehen. Erzähltechnik setzt im Gegensatz zur Erzähltheorie den Vorgang des Erzählens in Relation zum erzählten Gegenstand und zum Erzähler. Die Erzählsituation und die Auswirkungen auf die Elemente der Wirklichkeit, die zur Erzählung werden, sind hier der Gegenstand der Betrachtung. In den Medien Film und Literatur ist das Erzählte immer Vergangenes, unabhängig von der gewählten Erzählzeit und der Perspektive. Dagegen ist im Videospiel durch die Interaktivität das Erzählte Gegenwart. Diese und weitere Fragestellungen der Erzähl‐ technik sind durchweg interessant, aber für die Erzählkonzepte, die wir im Folgenden identifizieren und beschreiben wollen nur dann von Belang, wenn das Erzählen selbst und die Wirkung des Erzählens auf Figuren der Geschichte ein wesentlicher Teil der Filmhandlung sind. DIE UNENDLICHE GESCHICHTE, THE FALL, BIG FISH sind solche Filme, die damit immer dem Erzählkonzept der Synthetischen Narration zugerechnet werden können. In dem deutschen Genrefilm SCHNEE‐ FLÖCKCHEN (Regie: Adolfo J. Kolmerer, William James, 2018) merken zwei Kleinganoven, dass sie die Protagonisten eines noch unfertigen Drehbuchs sind. Der Aberwitz (und praktisch die gesamte Handlung) des Films besteht von nun an in dem Wechselspiel von Manipulation der Wirklichkeit durch das Drehbuch und Manipulation des Drehbuchs durch die Wirklichkeit. Eine von vielen Spielarten der Synthetischen Narration. Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 33 <?page no="34"?> Von Magie und erzählerischer Substanz Was wir hier treiben, ist angewandte Erzähltheorie für Film. Wir fügen den Parametern Zeit und Perspektive allerdings noch einen weiteren, die Komplexität ins schier Unermessliche steigernden Faktor hinzu, den ich erzählerische Substanz nennen möchte. Stephen King redet in „Das Leben und das Schreiben“ von etwas Ähnlichem und nennt es neben dem von ihm sauber nacheinander aufgeführten Handwerkszeug des (schreibenden) Erzählens, wie Wort‐ schatz, Grammatik und Stil tatsächlich Magie. Und er meint es durch‐ aus ernst. Er meint keine Tricks, keine Illusionen! Die stammen aus dem Werkzeugkasten des Erzählhandwerkers. Er meint auch nicht die übernatürlichen Elemente der Handlung, die es bei ihm fast immer gibt. Nein, er meint Magie. Seine Magie steht dabei - auch, aber nicht ausschließlich - für die magischen Momente auf der Blümchenwiese, also Inspiration und Kreativität, die in einer Idee münden. Vor allem aber steht sie für das Eigenleben, das Figuren und ein Schauplatz irgendwann entwickeln. Nicht der Autor ist Herr über die Geschichte, sondern es ist genau andersherum. Der Autor ist Schöpfer und gleichzeitig erster Rezipient der eigenen Geschichte. Überraschendes überrascht ihn, Berührendes berührt ihn. Das ist wahr, ehrlich und eine tiefe Erkenntnis. Sie lässt von dem Glück erahnen, das Autoren beim Schreiben erleben, unabhängig vom kommerziellen und künstlerischen Erfolg. Der Meister des Einlullens hat es wieder geschafft. Wir stimmen ihm zu. Doch stapelt er dabei gleichzeitig hoch und tief, weil er die Handlung - wir werden im weiteren Verlauf eher vom Plot sprechen - geradezu diffamiert. Zwar sagt er an unzähligen Stellen wie wichtig die Handlung sei, man müsse ihr alles unterordnen, alles kürzen und Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 34 <?page no="35"?> ändern, was der Handlung nicht diene und so weiter. Doch kein Wort dazu, wie Handlung entsteht, wie man sie gestaltet und anordnet, damit eine Story spannend und schlüssig ist. Handlung ergebe sich (quasi magisch) und seine Stories, die auf einer Handlungsidee basieren wie zum Beispiel „Schlaflos“ oder „Das Bild“ seien seine weniger guten Bücher. Nun ja. Wir lassen ihm, der als schreibender Schöpfer von äußerst handlungsreicher Narration viele Phantastilliarden verdient hat, das großzügig durchgehen, wollen aber nichtsdestotrotz den Plot, der das erste und wichtigste Ergebnis der Dramaturgie einer Geschichte ist, weiterhin ehren und dazu erst einmal genauer anschauen, um ihn von der erzählerischen Substanz trennen zu können. Plot und Motiv Der Plot ist geronnene Zeit. Die Perspektive tritt in den Hintergrund. Sie verschwindet nicht etwa. Das geht gar nicht. Aber der Plot einer Geschichte kann identisch bleiben bei unterschiedlichsten Perspekti‐ ven. Eine Geschichte kann das nicht. Im Kapitel Synthetische Narration wird der Frage auf den Grund gegangen. Es gibt keine allgemeingültige und immer zutreffende Definition von dem, was der Plot eigentlich ist. „Magie“ sagt King und ist raus aus der Nummer. Ronald B. Tobias schreibt in „20 Masterplots“ 300 Seiten über den Plot. Er gesteht zu Anfang, dass es zwar die 20 Masterplots gibt, die kann er definieren und benennen. Aber auch er hat keine ausreichende Definition für Plot parat, sondern umkreist den Begriff und stellt Fragen dazu. Zuerst fragt er, wieviele verschiedene Plots es überhaupt gibt. Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 35 <?page no="36"?> Ihm (und mir) gefällt dabei zunächst die Antwort, die Aristoteles gibt, nämlich genau zwei: die innere und die äußere Geschichte. „Plot driven“ und „character driven“ sind völlig zurecht heute geläufige Kategorien in der Beurteilung eines Films. Die beiden Kategorien sind wichtig und fundamental, aber sie scheinen nicht auszureichen, sonst hätte Tobias nicht die 300 gehaltvollen Seiten zu seinen Masterplots nachreichen müssen. Der Plot tritt zutage, wenn die Dramaturgie für einen Stoff, für eine Idee, angewandt wurde. Was also ist der Plot? Nehmen wir die geronnene Zeit, oder ganz profan: Der Plot ist das, was passiert. Das Motiv ist eine kleine stoffliche Einheit, die man thematisch be‐ schreiben kann. Beim Film sind die Übergänge zwischen visuellen und narrativen Motiven fließend. Die umgedrehte amerikanische Flagge in IM TAL VON ELAH (Regie: Paul Haggis, 2007) taucht nur einmal am Ende auf, doch ist sie ein visuelles Motiv mit einer großen sym‐ bolischen und vor allem narrativen Wirkung. Bei MAD MAX: FURY ROAD (Regie: George Miller, 2015) und natürlich all seinen Vorgängern ist das Motiv des Fahrens mit allerlei Fetisch-Gefährt ein geradezu konstitutives Merkmal des Films. MAD MAX ohne (benzingetriebe! ) Fortbewegung ist nicht denkbar. Ohne dieses Motiv schrumpft der Plot auf einen Kurzfilm zusammen. Grundsätzlich ist es egal, ob ein Motiv in einer Geschichte einmal oder mehrmals verwendet wird, oder sich durch die gesamte Handlung zieht wie ein literarisches Grundmotiv. Die Namen, die Tobias seinen Masterplots gibt, muten allesamt an wie literarische Motive. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, denn nicht nur kennt Tobias den Unterschied zwischen den beiden Kategorien, er ist sich auch der Unschärfe bewusst, die ab sofort herrscht. Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 36 <?page no="37"?> Betrachten wir z. B. Rache als Motiv, so ist es eines. Nicht nur ein wenig, nein, zu 100 Prozent. Betrachten wir die Rache als Masterplot, so ist es einer. Wir sind bei Heisenberg und der Welle und dem Teilchen angelangt. Ja, zu solchen Höhen schwingen wir uns hier auf. Tobias nennt die folgenden 20 Masterplots: ▸ Die Suche ▸ Das Abenteuer ▸ Die Verfolgung ▸ Die Rettung ▸ Die Flucht ▸ Die Rache ▸ Das Rätsel ▸ Die Rivalität ▸ Der Underdog ▸ Die Versuchung ▸ Die Metamorphose ▸ Die Verwandlung ▸ Die Reifung ▸ Die Liebe ▸ Die verbotene Liebe ▸ Das Opfer ▸ Die Entdeckung ▸ Die Grenzerfahrung ▸ Aufstieg und Fall Eine vollständige Aufzählung der literarischen Grundmotive ist schier unmöglich. Dennoch seien hier die gängigsten und die am häufigsten verwendeten Grundmotive aufgezeichnet. Ohne der Reihenfolge eine besondere Wertung beizumessen sind es nach meiner Einschätzung die Folgenden: Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 37 <?page no="38"?> ▸ Der Teufelspakt ▸ Die unbekannte Herkunft ▸ Der unbekannte Heimkehrer ▸ Der Doppelgänger ▸ Der Bruderzwist ▸ Die Dreiecksbeziehung ▸ Der Wettstreit ▸ Der Unterweltbesuch Die begrifflichen Ähnlichkeiten und Überschneidungen dieser bei‐ den Aufzählungen sind überdeutlich, auch wenn die literarischen Grundmotive, alleine weil sie aus zwei Wörtern zusammengesetzt sind, mehr Implikationen auf die Komplexität des Aufbaus einer Geschichte zu haben scheinen, als die Masterplots. Doch der Schein trügt hier meist. Auch Blake Snyder entwickelt in „Save the Cat“ zehn Masterplots, de‐ nen er weniger akademische und geradezu flapsig anmutende Namen verpasst: ▸ Monster in the House ▸ Out of the Bottle ▸ Whydunit ▸ Golden Fleece ▸ Rites of Passage ▸ Institutionalized ▸ Buddy Love ▸ Superhero ▸ Dude with a Problem ▸ The Fool Triumphant Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 38 <?page no="39"?> Snyder ist damit eine frische und für einen jeden Autor sehr an‐ wenderfreundliche und hilfreiche Neuinterpretation des Masterplots gelungen, die den gedanklichen Weg zu den 11 Erzählkonzepten maß‐ geblich geebnet hat. Erzählerische Substanz und die Endlichkeit der Dinge Die erzählerische Substanz tritt anders als der Plot bereits zutage, wenn Sie sich über das eine Erzählkonzept oder die verschiedenen Erzähl‐ konzepte Ihres Stoffes, Ihrer Idee, Ihres Vorhabens klar geworden sind. Sie ist das, was das Erzählen ausmachen wird, was die Geschichte mit anderen Geschichten, die dasselbe Erzählkonzept haben, gemeinsam haben wird, sodass Sie hier in besonderer Weise auf die Individualität und Unterscheidbarkeit Ihrer Ideen werden achten müssen. Blake Snyder bezeichnet die sogenannte Logline, auf deren Konzeption er höchsten Wert legt, da es ihm immer um den Verkauf des eigenen Drehbuchs an ein Studio in Hollywood geht, als den Story Code, die DNA des Stoffes. Ein bis drei Zeilen, die es in sich haben müssen: Sie verrät ein wenig Handlung, lässt den Hauptkonflikt erahnen und soll vor allem Interesse wecken. Das ist eine absolut schlüssige Sichtweise. Doch ist eine Logline bei aller von ihm eingeforderten Konformität hinsichtlich der Anforderungen und Regeln zur Erarbeitung derselben immer ein völlig individuelles Ding. Jede Logline ist anders. Sie ist so individuell, wie der Stoff - hoffentlich - individuell und einzigartig ist. Es gibt so viele Loglines, wie Filme auf der Welt. Die erzählerische Substanz ist ebenso individuell und unerschöpflich, aber die daraus resultierenden Erzählkonzepte existieren in endlicher Zahl. Ich habe 11 identifiziert. Vielleicht lässt sich in Zukunft durch Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 39 <?page no="40"?> geschickte Zusammenlegung die Anzahl verringern, vielleicht entde‐ cken Sie oder ich irgendwann auch ein weiteres. ▸ Es gibt potenziell unendlich viele Stoffe. ▸ Ergo: Es gibt potenziell unendlich viele Geschichten. ▸ Es gibt eine endliche, aber große Anzahl von Plots. ▸ Es gibt eine endliche und kleine Anzahl von Masterplots. Tobias sagt 20, Snyder sagt 10. ▸ Es gibt eine endliche und kleine Anzahl von Erzählkonzepten. Ich sage, es sind 11. Genre und Genrefilm Manche der Begriffe, die für einen Masterplot verwendet werden, wie zum Beispiel „Das Abenteuer“ oder „Superhero“, bezeichnen auch eine Kategorie innerhalb dessen, was man gemeinhin Genre nennt. Der Begriff Genre ist vielleicht der Schwierigste unter all den Begriffen, mit denen wir unterschiedliche Filme möglichst passend in Schubladen stecken. Dabei ist es unmöglich, verschiedene Genres aufzuzählen, ohne zwischen den Abstraktionsebenen zu springen. Drama und Ko‐ mödie liegen auf einer anderen Ebene als Western und Roadmovie. Thriller liegt wiederum woanders. Ein Thriller ist genaugenommen gar kein Genre, sondern eine Schub‐ lade im Werkzeugkasten für Suspense, auf der steht: „Todesgefahr durch antagonistische Machenschaften“. Einzige Ausnahme dieser De‐ finition ist der Krieg als Setting. Sonst wäre jeder Kriegsfilm oder jede Geschichte, bei der dem Protagonisten Todesgefahr durch Kriegsfeinde droht, automatisch ein Thriller, was natürlich nicht der Fall ist. Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 40 <?page no="41"?> Beim Begriff Genre gibt es keinen sauberen Schnitt durch den gesam‐ ten Patienten im Computertomographen. Genre hinterlässt immer ein Massaker. Das hat vor allem damit zu tun, dass das Genre eines Films eine Sichtweise umfasst, die nicht mit unserer, den Entstehungsprozess eines Films fokussierenden Perspektive zu tun hat, sondern mit dem Markt, und damit mit dem Zuschauer als Konsument, der bestimmte Vorlieben und Geschmäcker hat. Die Algorithmen der Streamingdienste sind bekanntermaßen um ein Vielfaches ausgefuchster, als lediglich Genres und Subgenres zu sor‐ tieren und den Nutzern damit individualisiert ein Menü an Filmen und Serien zu kredenzen. Bei aller Diskussion um Gefahren der Fehlinterpretation und Unzulänglichkeiten der Genrekategorien, die nicht nur die Filmemacher, sondern vor allem auch die Fans zu oft emotional geführten Debatten verleiten, ist der Genrebegriff und die entsprechende Einteilung von Filmen nicht nur hilfreich, um Erkennt‐ nisse zu gewinnen, welche Art von Film in welchem Jahrzehnt und in welchem politischen Kontext mehr oder weniger gefragt ist. Und natürlich darüber, welche Filme von Männern und welche von Frauen, welche von alten und welche von jungen, welche von gebildeten und welche von weniger gebildeten Menschen gesehen werden. Filme können meist ganz konfliktfrei mehreren Genres gleichzeitig zugerechnet werden. Nur zwei Genres sind nicht kombinierbar mit‐ einander. Horror und Komödie. Eine Horrorkomödie ist eine Komödie mit Horrormotiven, es kann kein Horrorfilm sein. Eine verschwindend geringe Anzahl von Ausnahmen, zum Beispiel Nikias Chryssos’ DER BUNKER von 2015, Jordan Peeles Wir von 2019 oder American Were‐ wolf (Regie: John Landis,1981) bestätigen diese Regel. Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 41 <?page no="42"?> Genres - und das nicht nur im Bereich Film, sondern auch in allen anderen künstlerischen und medialen Bereichen - zu kennen, zu unterscheiden und miteinander in einen Kontext zu stellen, ist für jeden, der aus der Beschäftigung mit popkulturellen Inhalten heraus Schlüsse ziehen will, unabdingbar. Wer Genres als Kategorie ignoriert, verliert sich heillos im Kosmos des medialen Überangebots. Auch gibt es eine Zweiteilung der Filmwelt in den sogenannten Genrefilm und alle anderen Filme, den Rest. Welcher Film ein Genrefilm ist und ihn damit von dem diffusen „Rest“ unterscheidet, ist ebenso Thema von zahlreichen Debatten und beschäftigt nicht nur die Pro‐ grammverantwortlichen der Genrenale und des Fantasy Film Festivals immer wieder aufs Neue. Horror, Science Fiction, Mystery, Action und Fantasy, das scheinen die Schubladen zu sein, aus denen die sogenannten Genrefilme kommen, doch es gibt keine abschließende und somit unmissverständliche Definition für den Genrefilm. Vor allem in Deutschland sehen sich Genrefilmer und Genrefilmfans vor allem als Gegengewicht zu einer Übermacht an Krimi-Einheitskost, Relevanz-TV und gefällig-seichtem Entertainment. Es gibt gute Gründe für diesen Versuch der gleichzeitigen Abgrenzung und Ergänzung von beiden Seiten, doch handelt es sich vor allem um ein medienpolitisches Phänomen. Es ist erschreckend und ein Hauptgrund für die mediale Monokultur dieses Landes, wie unzuläng‐ lich und häufig abwertend viele etablierte Entscheider der Film- und TV-Branche mit dem Begriff Genre umgehen. Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 42 <?page no="43"?> Für uns ist vor allem die Beobachtung interessant, dass bestimmte Konzepte praktisch ausschließlich Filme hervorbringen, die man ge‐ meinhin als Genrefilm bezeichnen würde. Damit komme ich nicht umhin, der Debatte um die Identität des Genrefilms einen eigenen Definitionsversuch hinzuzufügen: ▸ Ein Genrefilm ist ein „FilmFilm“ und damit immer auch ein „Metafilm“. ▸ Ein Genrefilm ist sich als Film genug, jenseits jeglicher inhalt‐ licher Relevanz. Wenn Sie sich als Fan oder gar Verfechter des Genrefilms verstehen, empfinden Sie möglicherweise diese Definition als Kampfansage. Die Schöpfer von Genrefilmen beanspruchen die große Relevanz nicht nur in popkultureller Hinsicht, sondern oft auch in der jeweiligen thema‐ tischen Hinsicht für sich und ihr Werk. Relevanz ist also abhängig von dem Thema oder normalerweise mehreren Themen, die in einem Film verarbeitet sind. Und diese Filmemacher sollen von mir aus Recht haben und das auch beanspruchen. Oft trifft dieser Anspruch zu, selbst beim trashigsten Nischenquatsch kann dies der Fall sein. Die Relevanz, ob wirklich vorhanden oder nur empfunden, ist häufig der Motor, der ein Projekt vorantreibt in künstlerisch-kreativer und wirtschaftlicher Hinsicht. Wir sind hier wieder mittendrin bei den Risiken und Nebenwirkungen der roten Pille. Die Definition hat aber ihre Gültigkeit, weil ein guter, ein gelungener, ein wichtiger Genrefilm seine Berechtigung und den Wesenskern seiner Qualität behält, wenn wir die Relevanz subtrahieren und gege‐ benenfalls durch etwas Anderes ersetzen. Somit tritt automatisch seine Eigenschaft als Metafilm zu Tage. Nicht im strengen Sinne, weil er nicht Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 43 <?page no="44"?> zwingend das eigene Genre oder die eigene Erzählweise reflektieren muss. Doch nährt sich damit die schiere Existenzberechtigung des Films alleine aus der Qualität seiner künstlerischen Konzepte. Relevanz subtrahieren und gegebenenfalls durch etwas Anderes er‐ setzten? Wie soll das gehen? Von Zutaten für Wurst und Themen für Filme Haben Sie schon mal eine Sojawurst probiert? Ja, igitt. Genau. Folgendes Gedankenexperiment: Nehmen wir eine Ikone des Genrefilms, nehmen wir ALIEN (Regie: Ridley Scott, 1979). Monsterhorror im Science Fiction-Gewand und nebenbei ein Paradebeispiel für das Erzählkonzept der Hermetischen Welt und von Blake Snyders Katzenrettungsmotiv aus „Save the Cat! “. Die Spannung entsteht durch die klare Versuchsanordnung einer Gruppe körperlich schwacher Menschen ohne Waffen, die einem starken Monster ausgeliefert sind, das sie töten will. Ganz schön fies. Es rührt an unsere Urängste, als wir noch Beute von Bären und Säbelzahntigern waren. Thematisch kommen bei Alien aber auch viele weitere Zutaten in die Wurst: die Macht von Konzernen, die dem skrupellosen Gewinnstre‐ ben frönen, Frauenpower gegen Männerdominanz, Altruismus/ Neu‐ gierde gegen Egoismus/ Vorsicht, Gefahren der künstlichen Intelligenz. Mit so einem Relevanzrucksack hätte man Alien im Drehbuchstadium vielleicht sogar einem deutschen TV-Redakteur unterjubeln können. In unserem kleinen Experiment sage ich: Die wenig subtile Kapitalis‐ muskritik kann man ersatzlos streichen. Ich sage, die Frauenpower kann man durch Rassismus ersetzen. Ich sage, die Faktoren Altruis‐ Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 44 <?page no="45"?> mus/ Neugierde und Egoismus/ Vorsicht kann man gänzlich anders anordnen und den jeweils anderen Charakteren umhängen. Und die Gefahren der künstlichen Intelligenz? Ich sage: Ersetzen durch … irgendwas mit Ökologie. Ich sage nicht, dass diese Entscheidungen den Film besser gemacht hätten. Um Gottes Willen. Das ist schon alles gut so. Selbst der beste Chirurg mit dem schärfsten Skalpell kann die Zutaten aus der Wurst nicht mehr herausschneiden. Aber wir Feinschmecker können auf der Wurst herumkauen und uns Gedanken darüber ma‐ chen, was das Ding so lecker macht. Wir wissen, es ist das Fleisch. Der Rest sind „weitere Zutaten“. Das Fleisch in der Alienwurst ist die Spannung durch das Monster. Darin liegt die erzählerische Substanz von Alien. Wenn das kein FilmFilm ist… Sobald die Gemüter der Genrefilmfraktion wieder abgekühlt sind, kann diese Definition also gerne als das Gegenteil einer Kampfansage verstanden werden, vielmehr als Ritterschlag für gutes Filmemachen. Doch Vorsicht! Die Freiheit vom Druck thematischer Relevanz ist kein geschenkter, zusätzlicher Freiheitsgrad. Sie ist überhaupt kein Freiheitsgrad. Im Gegenteil. Der Mensch interessiert sich bei aller Lust an Spannung und Emotion im Allgemeinen viel mehr für Themen als für künstlerische Konzepte. Daher ist es auch viel schwieriger und gelingt seltener, einen bemerkenswerten und damit sehenswerten Genrefilm zu machen, als ein bemerkenswertes und sehenswertes Drama. Begriffe. Was ist ein Erzählkonzept? 45 <?page no="47"?> 11 Erzählkonzepte Ich plädiere bei unseren folgenden Überlegungen für die Betrachtung der gesamten Filmhistorie. Die besten Beispiele zur Veranschaulichung liegen oftmals ein paar Jahre oder gar Jahrzehnte zurück. Wer der Meinung ist, dass Filme nicht nur jenseits des reinen Entertainments, sondern auch jenseits des rein zeitgeistigen Horizonts von ein paar Jahren eine Bedeutung zum Verständnis der Welt haben, der sollte sich die Mühe - die eine reine Freude ist - schon machen. Ich habe dabei keinen besonderen filmhistorischen Impetus. Aber um die Gegenwart und ein solch komplexes Ding wie die mediale Moderne zu verstehen, um also moderne Filme machen zu können, muss man die Vergangenheit kennen. Kein Kann, ein Muss. Sie wissen nun, dass auf dem Weg von einer Idee zum fertigen Film die Erzählkonzepte die fundamentale Rolle für alle richtungsweisenden Entscheidungen spielen. Die fundamentalste und in der Chronologie der Entstehungsgeschichte eines Films früheste Entscheidung ist die für oder gegen die Idee, für oder gegen den Stoff. Wenn ich mich dagegen entscheide, macht es vielleicht ein anderer. Dieser Andere macht einen guten Film und ist erfolgreich damit. Ich ärgere mich. Oder dieser Andere macht einen schlechten Film und der Stoff ist für Jahre verbrannt. Ich ärgere mich wieder. Ist die Lösung für dieses Dilemma, möglichst viele Filme zu machen, solange man in der Lage dazu ist? Vielleicht. Ingmar Bergmann, Steven Soderbergh, Clint Eastwood oder Woody Allen waren und sind unglaublich produktiv. Jedes Jahr ein Film im Schnitt. Viele davon sind gut. Ein Glück, dass sie gemacht wurden. In den frühen <?page no="48"?> Jahrzehnten des industriellen Filmemachens in Hollywood war die Schlagzahl noch höher, auch und gerade bei den guten Regisseuren. Grundsätzlich jedoch bin ich für das Haushalten mit Ressourcen. Zeit, Geld, Kreativität. Alles sehr kostbar. Also werden wir uns lieber schnell und schonungslos darüber klar, was wir gefangen haben auf der Blümchenwiese der Ideen. Sie wissen jetzt auch, dass die erzählerische Substanz bereits in einem sehr frühen Entwicklungsstadium eines jeden Stoffes zu Tage tritt. Sie wissen, dass sie der bestimmende Parameter für das jeweilige Erzählkonzept eines jeden Films ist. Wenn Sie die 11 Erzählkonzepte kennen und verinnerlicht haben, wird das nicht bedeuten, dass Ihnen automatisch bei jedem Besuch auf der Blümchenwiese der Stoff Ihres Lebens zufliegt. Aber vielleicht erkennen Sie ihn besser und früher. Es wird nicht bedeuten, dass Sie jetzt wissen, wie Sie das Drehbuch dazu schreiben. Wir erinnern uns: Das Erzählkonzept ist keine Bauanleitung! Die finden Sie bei Snyder, Mackee, Vogler und all den anderen Drehbuch-Gurus. Aber es wird ihnen bei der Stoffarbeit helfen, sich zu fokussieren. Es sagt Ihnen genau, in welcher Disziplin Sie antreten, wenn Sie eine Idee zu einem Film formen wollen. Das Wichtigste ist, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Obwohl viele Erzählkonzepte (aber eben nicht alle! ) durchaus mitein‐ ander kompatibel sind, ist es wichtig, diese voneinander unterscheiden zu können. Nach all der Abstraktion machen wir es nun ganz konkret und betrach‐ ten die 11 Konzepte. Eines nach dem anderen. 11 Erzählkonzepte 48 <?page no="49"?> 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte Das schafft der nie! - Doch. „Man muss nicht nur mehr Ideen haben als andere, sondern auch die Fähigkeit, zu entscheiden, welche dieser Ideen gut sind.“ Linus Pauling Bei einer Gewusst-Wie-Geschichte läuft die Narration auf eine oder mehrere Situationen hinaus, in denen Protagonisten Probleme lösen müssen. Dabei geht es konkret oder im übertragenen Sinn um TECHNISCHE Probleme. In der Narration ist ein TECHNI‐ SCHES PROBLEM das Gegenstück zu einem SOZIALEN oder einem MORALISCHEN Problem. Ein WIE. Das zentrale Problem löst sich nicht alleine durch eine mutige Entscheidung und eine damit verbundene Charakterentwicklung, sondern durch das KÖNNEN, durch eine KOMPETENZ. Planung und Vorbereitung oder Training können dabei ein we‐ sentlicher Teil der Handlung sein. Das Erzählkonzept der Gewusst-Wie-Geschichte ist sehr wirkmächtig und weit verbreitet. Unter den imdb-Top-250 Filmen finden sich min‐ destens 30, die in erster Instanz nach diesem Konzept funktionieren. <?page no="50"?> Und die TV-Kanäle sind mit Gewusst-Wie-Serien und -Reihen gut gefüllt. Der erste Held des Gewusst-Wie-Erzählkonzepts ist Herkules. Für die zwölf Aufgaben, die er bewältigen muss, um Buße zu tun für seinen im Wahn begangenen Mord an der eigenen Frau und den eigenen Kindern, braucht er mehr als seine Super-Körper-Kraft und Ausdauer. Er muss „wissen“, „Wie“ er die Herausforderungen jeweils schafft, also eine Idee entwickeln und diese in die Tat umsetzen. Auch Odysseus ist von Troja zurück nach Ithaka meist nicht im Kampfsondern im Gewusst-Wie-Modus unterwegs. Nicht umsonst gilt er als „der listige Odysseus“. Herkules und Odysseus, zwei sehr kompetente Führungspersönlichkei‐ ten, denen wir bei der täglichen Arbeit zusehen. Im Weltall: Der Marsianer, Apollo 13 und Gravity Der Inbegriff der modernen, guten und erfolgreichen Gewusst-Wie-Ge‐ schichte ist DER MARSIANER - RETTET MARK WATNEY von Ridley Scott aus dem Jahre 2015. Ein von Matt Damon gespielter Astronaut ist durch eine unglückli‐ che Verkettung von Umständen alleine und verletzt zurückgelassen worden auf einem lebensfeindlichen Planeten, dem Mars. Er hat zum kurzfristigen Überleben zwar eine Menge technisches Zeug dabei, aber vor allem hat er seinen Verstand und eine ausgesprochen gute Psyche. Sonst wäre es eine kurze und traurige Geschichte geworden. Ich mag durchaus kurze und auch traurige Geschichten. DER MARSIANER aber ist das Gegenteil. Und er könnte nach meinem Geschmack noch eine Runde länger sein. Ich kann nicht genug davon kriegen, wie dieser Typ sich mit allem, was er - verletzt, hungrig und mutterseelenalleine - 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 50 <?page no="51"?> aufzubieten hat, den Problemen, die ihn erdrücken und buchstäblich umbringen wollen, entgegenstellt. Am Ende, wenn er gerettet ist und wieder auf der Erde vor Studenten steht und über seine Erfahrungen berichtet, spricht er es offen aus: „Sie lösen ein Problem und dann lösen Sie das nächste und dann das nächste und immer so fort.“ So einfach ist es. So einfach ist es eigentlich auch, eine Gewusst-Wie-Geschichte zu machen. Eigentlich. Ist DER MARSIANER ein Science Fiction-Film? Er landet auf jeden Fall in dieser Schublade, wenn es um den Vertrieb geht. Da haben Menschen Raumanzüge an und fliegen durchs Weltall, Technik aller‐ orten, auch Technik, die es so noch nicht gibt. Aber nichts mutet wie Zauberei an. Das ist alles denkbar mit dem heutigen Stand in den Naturwissenschaften. Es wurde nur ein bisschen extrapoliert. Schließlich wollen wir wirklich auf den Mars fliegen in absehbarer Zeit. Es zweifelt also niemand daran, dass wir es können irgendwann. Das Empfinden von uns Filmeguckern, die wir keine Raketentechnik oder Astrophysik studiert haben, ist eher ein wohlwollendes: Wir könnten das bereits heute, wenn wir mehr Geld bereitgestellt hätten. Wenn uns die alltäglichen Troubles wie Krebs, Klima, Terrorismus und Pandemien nicht so viel Zeit und Mühen kosten würden, wir wären längst da oben auf dem Mars. In diesem Sinne ist DER MARSIANER also gar kein Science Fic‐ tion-Film, keine Technikspekulation. Er bedient sich eines Szenarios, das wir bereits visuell und erzählerisch kennen durch eine Reihe von viel schlechteren Filmen mit sehr ähnlichem Setting von der Eroberung des Mars wie RED PLANET (Regie: Antony Hoffman, 2000) und MISSION TO MARS (Regie: Brian De Palma, 2000). Beides übrigens eindeutig Science Fiction. Der Marsianer kann also schnell in die Vollen gehen und sein ungeheuer klares und reichhaltiges Überlebens- und Das schafft der nie! - Doch. 51 <?page no="52"?> Rettungstableau aufklappen und abfeiern. Kein erster Akt mit Planen, Abfliegen, Ankommen, Aufbauen. Keine Routine. Danke an Ridley Scott, Danke vor allem an Drew Goddard, den Autor des Drehbuchs. DER MARSIANER ist der bessere, schnellere, intelligentere, witzigere, und - weil er nicht historisch ist - auch moralisch-emotional völ‐ lig unbefangene APOLLO 13. Der Regisseur von APOLLO 13, Ron Howard, hat damals im Jahre 1995 alles richtig gemacht. Der Film war zu seiner Zeit das Beste, was das Gewusst-Wie-Konzept für eine Weltallrettungsmission hergab. Und ebenso keine Science Fiction, sondern ein Historischer Film, trotz Raumschiff! Auch APOLLO 13 folgt der Spur: Sie lösen ein Problem, und dann das nächste, und dann das nächste, und immer so fort. DER MARSIANER ist dabei aber nicht nur aberwitziger, als es APOLLO 13 jemals sein konnte, sondern bietet über die technische Problembewältigung hinaus noch zwei weitere Szenarios. Da ist zuerst ein maximaler moralischer Konflikt innerhalb der Crew des Raumschiffes, das auf dem langen Weg zurück zur Erde ist. Zum Zweiten gibt es einen geschickt gebauten sozialen Konflikt auf der Erde innerhalb der Nasa. Denn moralische und soziale Konflikte gab es nicht für Mark Watney auf dem Mars. Er ist alleine und alles ist uns Zuschauern und ihm in der Wahl der Mittel recht. Alles. Wenn er unter seinem Hintern eine Atombombe hätte zünden müssen, um wieder zur Erde zu kommen, und damit alles, was er auf dem Mars zurücklässt, auf ewig strahlen‐ verseucht wäre: Go for it! hätten wir gesagt, und mit uns alle Figuren der Geschichte. Daher finden wir die Idee auch so toll, das Problem der Kälte in seinem Rover mit vor sich hin strahlendem Atommüll zu lösen. Atommüll rettet Menschenleben! Verrückt. 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 52 <?page no="53"?> Das Raumschiff, das Mark Watney aus Versehen zurückgelassen hatte, ist also auf dem Weg zur Erde. Dort arbeitet die gesamte Nasa unter großer Anteilnahme der Weltöffentlichkeit an der Rettung ihres ver‐ schollenen Astronauten. Nun muss aber die Besatzung dieses Raum‐ schiffes ein gefährliches Manöver fliegen, um zurück zum Mars zu gelangen und damit selber zur Rettungsarche für Mark Watney zu werden. Wie dieser Plan auf der Erde entwickelt wird und gegen ver‐ schiedenste innere und äußere Widerstände in die Tat umgesetzt wird, ohne dass Mark Watney davon viel mitbekommt, geschweige denn es beeinflussen kann, ist in der Zurschaustellung reiner Intelligenz der handelnden Figuren und damit ihrer filmischen Schöpfer großes Entertainment. Da liegt auch die Krux des Erzählkonzepts. Sie müssen als Autor so intelligent sein, wie die Figuren, deren Intelligenz sie zur Schau stellen wollen. Bei einem Film, der qua Figurensetting bereits die naturwissenschaftliche Geisteselite der gesamten Menschheit bespielt, ist das verdammt schwer. Andy Weir, der Autor der Romanvorlage von DER MARSIANER, scheint diese Voraussetzung zu erfüllen. Doch auch jedes andere Überlebensdrama folgt dem Gewusst-Wie-Kon‐ zept. Das ebenso gute und filmisch sogar Maßstäbe setzende Weltraum‐ überlebensdrama GRAVITY von Alfonso Cuarron aus dem Jahre 2013 hält zwar eine erzählerische Frage parat, die streng genommen nicht verhandelt wird im Gewusst-Wie-Konzept. Nämlich ob hier überlebt wird beziehungsweise wer hier überlebt. Sie? Er? Beide? Es ist bei näherer Betrachtung und unter dramaturgischen Gesichtspunkten aber ziemlich klar und naheliegend, dass sicher einer der beiden Protagonisten sich für den anderen wird opfern müssen. Und da es sich hier nicht um ein Feel-Good-Movie handelt, sondern um einen nervenaufreibenden und den Zuschauer psychisch und sogar physisch Das schafft der nie! - Doch. 53 <?page no="54"?> belastenden, ernsten Film, ist auch klar, wer von den beiden Kandidaten die Hauptfigur sein muss. Sie ist im Gegensatz zu ihm weniger cool, weniger erfahren, sogar traumatisiert, eine Frau und ganz entschei‐ dend: sie ist etwas jünger als er. Frauen und Kinder zuerst! Ich will damit nicht kategorisch ausschließen, dass man die Story auch so hätte erzählen können, dass sich die Sandra-Bullock-Figur als Hauptfigur irgendwann für ihren von George Clooney gespielten Kollegen opfert. Aber es wäre ein erzählerisches Wagnis gewesen, ein Gegen-den-Strich-Bürsten, das hier schlicht unnötig ist. Es geht um etwas Anderes in der Geschichte: Es geht in GRAVITY darum, dass sich die beiden Figuren erst gemein‐ sam, dann sie alleine, mit technischem Wissen und Ideenreichtum und dem Mut der Verzweiflung an die Lösung von Problemen machen. Improvisation ist Planung unter Druck. Meist ist es Zeitdruck, der unsere Helden unter Zugzwang setzt und uns Zuschauern dabei solches Vergnügen bereitet, wenn wir diesen Improvisationskünstlern bei der Arbeit zuschauen. Diese Geschichten können so sperrig und konzeptionell konsequent sein wie die Seenotrettungsgeschichte ALL IS LOST (Regie: J.C. Chan‐ dor, 2013), in der die von Robert Redford gespielte Figur der einzige Protagonist ist und außer einem kurzen Fluch kein einziges Wort spricht, aber in einem fort Probleme löst. Eines nach dem anderen. Und das ist ganz und gar nicht langweilig. Oh nein! 30 Seiten Drehbuch waren ausreichend für dieses überaus spartanische dramaturgische Konzept, das einen sehr reichhaltigen, spannenden und unterhaltsa‐ men Stummfilm ergab. Um die zugegeben schwierige Tatsache, dass über weite Strecken Filmhandlung oft nur eine Person anwesend ist, zu umgehen, kann 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 54 <?page no="55"?> man im Genre des Überlebensdramas ein surreales Handlungselement (zum Beispiel eine tote Figur) auftauchen lassen. In GRAVITY sind ein Mann und eine Frau die einzigen beiden Überle‐ benden eines Zusammenpralls von Weltraumschrott mit ihrem Shuttle. Weil sie gerade zufällig im Außeneinsatz waren, sind sie nicht wie ihre Kollegen sofort tot, sondern müssen mit einem aberwitzigen Plan in der lebensfeindlichsten aller Umgebungen ihr Leben retten, das heißt irgendwie zurückkommen auf die Erde. George Clooney stirbt im Laufe der Geschichte, er opfert sich. Auch wenn wir seinen Tod nicht unmittelbar sehen, ist er unrettbar verloren, driftet um die Erde, hat weder Sauerstoff noch Raketenantrieb in seinem Anzug. Dennoch taucht er viele Minuten später wieder auf, klopft munter an die Außentür der Raumkapsel, in der sich Sandra Bullock befindet, öffnet trotz ihres Protests die Luke, was zu ihrem sofortigen Tod führen würde, und setzt sich neben sie. Der Effekt der kalkulierten Verwirrung und Überraschung ist da, aber auch die Surrealität der Situation tritt offen zutage. Kein Zuschauer hält die nun folgende Unterhaltung der beiden für real. Diese surreale Szene ist natürlich ein Bruch in dem ansonsten sehr klaren Konzept. Alles, was wir sehen, so spektakulär und schwindeler‐ regend auch die fließenden Übergänge der Kameraperspektiven hinein und hinaus aus dem Raumanzug sind, alles ist objektive Realität. Alles passiert jetzt und hier und für alle gleich. Abgesehen von diesem „Tag‐ traum“. Die Szene ist ein Fremdkörper. Aber es geht an der Stelle um den inneren Kampf von Sandra Bullock, um ihren Überlebenswillen. Und den hat der Regisseur Alfonso Cuarron nun mal so veräußerlicht. Es tut der Qualität und Wirksamkeit des Films keinen Abbruch, auch wenn ich gemeinsam mit anderen Fans des Films mit dieser Szene hadere. Das schafft der nie! - Doch. 55 <?page no="56"?> Auf See: Die Farbe des Horizonts DIE FARBE DES HORIZONTS aus dem Jahre 2018 ist als filmisches Erlebnis weit weniger weltbewegend als GRAVITY oder DER MARSI‐ ANER. Der für harte Überlebensdramen bekannte und erfolgreiche isländische Regisseur Baltasar Kormákur hat hier den Versuch unter‐ nommen, das Überlebensdrama mit einem Liebesmelodram zu kombi‐ nieren. Das geht nicht direkt schief, bleibt aber unbefriedigend. Man muss sich dazu anschauen, was der Regisseur als Ausgangspunkt, als Inspiration auf der Blümchenwiese der Ideen vorfand. Es war der Tatsachenbericht von Tami Oldham Ashcraft, das Buch der Frau, der all diese Dinge wirklich widerfahren sind. Der Film handelt von zwei jungen und verliebten Menschen, die über den Pazifik segeln, als ein Sturm dem Boot übel zusetzt und die beiden ums Überleben kämpfen müssen. Die junge Frau wird durch den Sturm so gebeutelt, dass sie nach einem Schlag auf den Kopf für viele Stunden K. O. geht. Als sie wieder erwacht, ist sie alleine. Der Mann ist weg, über Bord gespült. Im Pazifik. Also tot. Doch mitten im Ozean findet sie ihn wieder! Er ist schwer verletzt und liegt, nachdem sie ihn wieder an Bord gehievt hat, fortan neben ihr auf dem Deck. Er kann sprechen, ist aber zu verletzt, um ihr dabei zu helfen, den kaputten Kahn wieder flott zu machen, zu navigieren und zu segeln. Er ist ihr eine moralische Stütze, ihr Überlebenswille basiert darauf, dass sie ihn retten will. Nach vielen harten Tagen Überlebenskampf stellt sich gegen Ende des Films heraus, nachdem sie es tatsächlich geschafft hat, das Boot in ei‐ nen sicheren Hafen zu fahren, dass die sehr unwahrscheinliche Rettung des Mannes auf hoher See gar nicht stattgefunden hat, sondern eine Halluzination - eher muss man hier sagen: eine Imagination - der Frau war. Ein filmisch visualisierter Selbstbetrug als Überlebensstrategie. 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 56 <?page no="57"?> Das ist erst mal gar nicht schlecht gedacht. Die Idee hat eine gewisse erzählerische Überzeugungskraft und entstammt der auf Tatsachen basierenden Vorlage, in der die Autorin erzählt, wie sie unter dem Eindruck der großen Gefahr, in der sie sich befindet, und dem Verlust des geliebten Mannes dessen Stimme hört. Sie weiß, dass er tot ist, doch sein Geist ist bei ihr, ermuntert sie und gibt - weil er der viel erfahrenere Segler war - konkrete Tipps und Anweisungen für das Überleben. Das ist weder surreal noch esoterisch noch unglaubwürdig, sondern eine funktionierende Überlebensstrategie und für einen Fil‐ memacher eine gute Inspiration für eine filmische Idee, nämlich den Mann wirklich auftauchen und den Zuschauer in falschem Glauben zu lassen. Doch ist das surreale Element so maßgeblich für den Film, dass im Wettstreit der Konzepte hier der Unzuverlässige Erzähler, der eine Spielart der Synthetischen Narration ist, das Gewusst-Wie-Konzept überlagert. Auch wenn ein weit größerer Teil der Handlung mit dem Überlebenskampf der jungen Frau zu tun hat und die Auflösung der Imagination nur ein kleines Schmankerl am Ende ist. Dies ist ein Beispiel dafür, dass nicht immer quantitative Beobachtungen ausschlaggebend für die Dominanz eines Erzählkonzepts sind. Ob bewusst oder unbewusst, die Verbindung dieser beiden gegeneinander arbeitenden Konzepte, so reizvoll das erst mal angemutet haben muss für einen erfahrenen Regisseur, ist der Grund für das unbefriedigende Ergebnis. Man kann nicht die Nüchternheit von ALL IS LOST haben und gleichzeitig ein raffiniertes Spiel mit verschiedenen Realitätsebe‐ nen. Die beiden Konzepte Gewusst-Wie und Synthetische Narration arbeiten hier gegeneinander. Es ist nicht direkt Betrug, wie im Falle der TV-Serie LOST, die sich heillos und vor allem schamlos in Ideen und Ebenen verstrickt. LOST Das schafft der nie! - Doch. 57 <?page no="58"?> ist konzeptioneller Betrug. Mit dem man, wie der Erfolg der Serie uns lehrt, durchaus durchkommen kann. DIE FARBE DES HORIZONTS bleibt im Akzeptablen, aber niemand liebt diesen Film für seine fil‐ mischen Qualitäten, die durchaus vorhanden sind. Niemand. LOST hingegen wird geliebt. Manche Menschen wollen einfach betrogen werden. Action, Kampf und kaputte Körper Eigentlich gibt es einen zweiten Namen für das Erzählkonzept, der lange Zeit so etwas wie der Arbeitstitel dafür war: die „Wie-nicht-Was-Geschichte“. „Gewusst-Wie-Geschichte“ ist auch nicht gerade elegant, klingt nach einer Handwerkershow im Trash TV. Aber Wie-nicht-Was erinnerte mich doch zu sehr an die Sesamstraße. Trotzdem enthält es eine sehr wesentliche Information: Es geht bei diesen Geschichten im Kern nicht darum, WAS geschieht, sondern wie - meist die Hauptfigur - es schafft, die Dinge geschehen zu lassen, sei es als vorantreibende oder reagierende Kraft. Weil sie etwas weiß oder etwas kann. Da liegt unser Interesse, das Interesse des Zuschauers. In der Gewusst-Wie-Geschichte gibt es natürlich Überraschungen und Unerwartetes. Aber in der Regel hat der Zuschauer eine ungefähre Vorstellung davon, was in der Geschichte passieren wird. Das ist doch allerhand! Unerhört! Er weiß, wie es ausgeht und trotzdem will er die Geschichte erzählt bekommen? Ja, gerade deswegen. James Bond ist ein Meister des Gewusst-Wie. Auf unterschiedlichsten Gebieten: Fahrzeuge bewegen, mit und ohne Waffen kämpfen, Dinge zu Waffen umfunktionieren, mit Worten manipulieren, seien es Vor‐ gesetzte, Gegner oder Frauen. James Bond ist ein Superheld ohne Superkräfte, dem wir aber wegen des Mutes und einer damit einherge‐ henden großen Priese Fortune und nicht zuletzt wegen seiner großen 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 58 <?page no="59"?> körperlichen und geistigen Fähigkeiten zutrauen, wirklich immer als Sieger vom Platz zu gehen, egal wie aussichtslos die Situation auch erscheinen mag. Dass er dabei skrupellos und geradezu niederträchtig zu Werke geht, ist übrigens ein weitverbreiteter Irrtum. Er ist auch moralisch sauber. Im Zweifel tötet er zwar schnell und effektiv, aber er hat nie einen Menschen geopfert für ein höheres Ziel. Er ist nicht mal ein echter Zyniker, sondern ein ironischer Idealist, der unbedingt gewinnen will. Auch wenn der moderne James Bond von Daniel Craig mehr an sich und der Welt und den Frauen leidet, ist er wie alle James Bonds vor ihm der Inbegriff des heute doch so unmodern anmutenden soldatischen Helden. Treu, mutig, entschlossen, tapfer, selbstlos. In der Welt des technischen Action-Aberwitzes hat er den Rang als bester Superagent zwar längst an Ethan Hunt von der MISSION IMPOSSIBLE-Reihe abgegeben und in der rauen und unübersichtlich-zappeligen Welt vermeintlich realistischer politischer Bedrohungsszenarios an JASON BOURNE, aber selbst harte Kritiker wie ich kommen nicht umhin, ihm irgendwie die Treue zu halten, wo er selbst doch seiner Majestät treuester Diener ist. Außerdem war Daniel Craig DER Besetzungscoup des vergangenen Filmjahrzehnts. In 128 STUNDEN von Danny Boyle aus dem Jahre 2010 geht es um die Geschichte, die 2003 Aron Ralston, gespielt von James Franco, widerfuhr. Da ist ein Mann, jung, sportlich und voller Abenteuerlust. So weit, so unspektakulär. Aber bei ihm schlägt das Schicksal besonders fies zu. Er wandert und klettert alleine durch die atemberaubende und menschenleere Wildnis von Utah und bleibt mit seinem rechten Arm in einem Felsspalt stecken. Alles, was er versucht und unternimmt, hilft nichts, er hat am Ende zwei Optionen: Sterben oder den Arm abtrennen. Das schafft der nie! - Doch. 59 <?page no="60"?> Nun wissen wir längst, dass er sich für Letzteres entscheiden wird. Die Story ist bekannt, es gibt nichts zu spoilern oder zu spekulieren. Die Story kam so überhaupt nur in die Welt. Aron Ralston hat ein Buch über seine Selbstrettung, die eine Selbstverstümmelung war, geschrieben. Danny Boyle hat den Film gemacht über „den Typ, der sich den Arm abgeschnitten hat“. In der Promotion für den Film wurde nichts verheimlicht, selbst der Titel deutet an, worauf es hinausläuft und wie lange das Martyrium andauerte, bis er sich endlich befreien konnte. Kein WAS. Sondern ein WIE. Es ist im Gegensatz zu DER MARSIANER nicht so entscheidend, wie die Amputation mit einem Taschenmesser technisch von statten ging, es geht vielmehr um die psychische Härte, um den körperli‐ chen Schmerz, um die Willenskraft. Das ist Arons Kompetenz. Dem identischen Konzept folgte bereits als Dokudrama der herausragende Bergsteigerfilm TOUCHING THE VOID von Kevin Macdonald von 2003 über die schmerzensreiche Selbstrettung des in den Anden verun‐ glückten Bergsteigers Joe Simpson, der tagelang mit zerschmetterten Beinen zurück ins rettende Basislager robbt. John Rambo ist viel weniger ein Held, nach dessen Ideal wir streben. Er kann zwar eine Menge Dinge, die dazu führen, dass er am Ende obsiegt, aber er kann es durch erfahrenes Leid und Verletzung. Er ist eine traumatisierte menschliche Waffe. Das hat er mit Jason Bourne gemeinsam. Doch er ist in noch höherem Maße ein Freak. Ein Freak, dem wir dabei zusehen, wie er Gegner reihenweise platt macht. Weil wir es ihm zutrauen, zutrauen wollen. Sind also alle Actionfilme Gewusst-Wie-Geschichten? Nein. Es gibt eine starke Tendenz vieler Actionfilme zu diesem Konzept, doch 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 60 <?page no="61"?> überwiegen in diesem Genre oft andere Konzepte, wie Worldbuilding, Ermittlerstory/ Whodunit, die Was-Wäre-Wenn-Prämisse und nicht zu vergessen der Exploitative Film, ein Konzept, das viel verbreiteter und viel mainstreamiger ist, als es den Anschein hat. Gefängisausbruchsgeschichten wie FLUCHT AUS ALCATRAZ, Heist-Movies wie TOPKAPI, JACKY BROWN oder OCEAN’S ELE‐ VEN, Überlebensdramen, Actionhelden, auch historische Actionhel‐ dengeschichten wie APOCALYPTO, Serien wie MACGYVER und das A-TEAM, aber auch Crime-Serien wie CSI und CRIMINAL MINDS, in denen es viel mehr um das Betrachten von Ermittlungstechniken geht, als um das Rätsel selbst, all das sind gute Kandidaten für das Gewusst-Wie-Konzept. Sie spielen - in der Regel - in einer harten, oft überhöhten, aber realistischen Welt. James Bonds unsichtbarer Aston Martin in Lee Tamahoris DIE ANOTHER DAY von 2002 war ein unrühmliches Beispiel für das ungeschickte Überschreiten dieser Realismusgrenze. Sobald es übernatürlich wird, also auch die Geschichten mit Superhel‐ den, die echte Superkräfte haben, wie Harry Potter oder Comic-Su‐ perhelden des Marvel Cinematic Universe oder des DC Universums, verlassen wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Gewusst-Wie-Konzept und bewegen uns Richtung Worldbuilding oder Was-wäre-Wenn-Prämisse. Die Unvereinbarkeit der Superkraft mit dem Gewusst-Wie-Konzept ist im Kern der Grund für die Unvereinbarkeit der beiden größten Figuren der DC Universums: Batman und Super‐ man. Das ist schade, fast schon tragisch. Aber nur für DC. Identifikation kann selbstverständlich auch mit Figuren stattfinden, die Superkräfte haben. Weil sie uns maximal überlegen sind, bewundern wir sie. Das schafft der nie! - Doch. 61 <?page no="62"?> Aber der Identifikationsmechanismus im Gewusst-Wie-Konzept funk‐ tioniert eher nach dem Prinzip: Was hätte ich getan? Hätte ich das auch so tun können, ausgehalten, hätte ich mich getraut? Hätte ich eine solche Idee auch haben können? Die Figur ist weniger unser eigenmächtig agierender Film-Avatar, sondern jemand, den wir ständig mit unserem realen Ich in Beziehung setzen und vergleichen. Und weil sie uns minimal überlegen ist, bewundern wir sie. Exkurs: Melodram und Rob Roy und Rocky Um das Wesen des Erzählkonzepts des Gewusst-Wie zu ergründen und zu vergegenwärtigen werden wir uns mit dem Plot, der Erzählung und der Dramaturgie eines Films auseinandersetzen, der aufgrund seines Genres nicht als offensichtlicher Kandidat anmutet: Das - in diesem Fall historische - Action-Melodram ROB ROY, von Regisseur Regie Michael Caton-Jones aus dem Jahre 1996. Ein historisches Ac‐ tion-Melodram? Das klingt wie eine schräge, unmögliche Mischung, die eierlegende Wollmilchsau des Filmmarketings. Für jeden was dabei. Tatsächlich sind diese Exemplare Film heute eher selten. Das war nicht immer so, denn schließlich sind die meisten Western nichts anderes. Nur hat das Genre des Westernfilms an Popularität und Bedeutung in den letzten Jahrzehnten schwer eingebüßt. Ich halte diese Art Film, dieses Subgenre, für eine der Königsdisziplinen des anspruchsvollen Filmemachens und ROB ROY noch vor LAST SAMURAI (Regie: Ed‐ ward Zwick, 2003) UNTERWEGS NACH COLD MOUNTAIN (Regie: Anthony Minghella, 2003) und ALLIED - VERTRAUTE FEINDE (Re‐ gie: Robert Zemeckis, 2016) für den König innerhalb dieser Disziplin. Melodram hat einen schlechten Ruf. Das Wort „melodramatisch“ wird ausschließlich negativ und meist unpräzise für irgendwas zwischen 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 62 <?page no="63"?> „kitschig“ und „gefühlig“ verwendet. Ich fürchte, dass die phonetische Nähe zum englischen „mellow“ für „mild, sanft, ohne Ecken und Kanten“ auch nicht ganz unschuldig daran ist. Es hat aber rein gar nichts damit zu tun. Das Prinzip des Melodrams liegt vielmehr darin begründet, einen emotionalen Konflikt (oft - aber nicht immer - ein Konflikt zwischen zwei Liebenden) in einem durch äußere Konflikte wie Krieg, Krank‐ heit, Katastrophen usw. herbeigeführten Spannungsfeld ausbrechen, eskalieren und - manchmal - sich lösen zu lassen. Die erzählerische Verbindung dieser auf der einen Seite auslösenden und konkreten und auf der anderen Seite immanenten und emotionalen Themen ist für jeden Erzähler eine sehr schwierige Herausforderung. Wenn sie gemeistert wird, kann Großes entstehen. „Das ist doch immer so in großen Liebesgeschichten! “ Höre ich Sie denken. Nein. Wenn es so ist, haben Sie eben ein Melodram vor sich. Und: es gibt Melodramen ohne Liebespaare und Liebesgeschichten ohne Melodramatik. Schauen Sie mal im Kapitel des Erzählkonzepts Die Liebesgeschichte vorbei. Gleich vorneweg: ROB ROY ist tatsächlich ein Western. Ein Western mit Schwertern statt Pistolen und Adligen statt Großgrundbesitzern und dem wilden Schottland statt des wilden Westens als Setting. Genauso wie LAST SAMURAI und offensichtlich auch RÜCKKEHR NACH COLD MOUNTAIN Western sind. ALLIED - VERTRAUTE FEINDE ist natürlich kein Western, aber das wussten Sie bestimmt schon. In ROB ROY spielt Liam Neeson einen Clanführer im Schottland des frühen 18. Jahrhunderts. Das Clanwesen ist in die Jahre gekommen und Das schafft der nie! - Doch. 63 <?page no="64"?> die englischen Machthaber blicken mit überheblichem Argwohn auf diese überkommene soziale und politische Struktur. Das Auswandern nach Amerika ist für junge Schotten ein immerwährendes Thema im Angesicht der eigenen Machtlosigkeit und der wirtschaftlichen Nöte. Doch Rob Roy ist ein fähiger Mann, nicht nur im Kampf gegen Viehdiebe, wie wir im Prolog erfahren. Er hat eine Idee: Er leiht sich beim mächtigen und verhassten englischen Marquis de Montrose eine riesige Summe Geld, um damit gemeinsam mit den Männern seines Clans einen Viehtrieb durchführen zu können. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten ein guter Plan. Doch das Geld wird gestohlen von einer der besten bösen Figuren der Filmgeschichte: dem von Tim Roth gespielten Archibald Cunningham. Ein vom englischen Hof geschasster Tunichtgut, der - wahrscheinlich ein unehelicher Sohn des Marquis - bei diesem in der verachteten und verpönten schottischen Provinz unterschlüpft. Neben all seiner unendlichen Ruch- und Skrupellosigkeit zeichnet ihn trotz seiner schmächtigen Gestalt und seiner hofschranzigen Attitüde vor allem eines aus: Er ist ein Meister des Fechtkampfes. Der Beste weit und breit, wie sich in einem Showduell mit einem lokalen Fechtkünstler gleich zu Anfang des Films herausstellt. Unbezwingbar. Er ist schneller und hat Techniken drauf, die man hier noch nie gesehen hat. Hinzu kommt, dass er nicht mit dem schottischen Breitschwert kämpft, sondern mit einem neuartigen, dünnen Ding. Einem Degen. Die Themen des Melodrams: Moderne gegen Tradition, Politik und Ökonomie gegen Ehre und Kampf, Großstadt gegen Provinz. Hinzu kommt bei vielen Melodramen noch das Thema Gesellschaft gegen Familie, oder noch stärker verdichtet: Familie/ Gesellschaft gegen Indi‐ viduum. Die Sympathien des Zuschauers liegen dabei immer bei der Tradition, der Ehre, der Provinz, der Familie und dem Individuum. 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 64 <?page no="65"?> Am deutlichsten tritt dies bei LAST SAMURAI zutage, bei dem in einer finalen Schlacht mit Schwertern und Pfeil und Bogen gegen Maschinengewehre ein kollektiver und ehrenvoller Selbstmord der letzten Samurai ein ganzes Zeitalter beendet. Diese Haltung liegt gerade so sehr jenseits des technik-, modernismus- und ökonomiegeprägten Zeitgeistes, dass die bedauerliche Flaute die‐ ser Art Geschichten nicht alleine darauf zurückzuführen ist, dass der Zuschauer einfach diese Settings leid ist. Zum Glück gehört es zum Wesen des Zeitgeistes, sich zu wandeln, sodass in absehbarer Zukunft Hoffnung besteht für die ausgehungerten Freunde des historischen Action-Melodrams. Zurück in die Highlands. Rob Roy geht in seiner misslichen Lage wieder zu Montrose und seinem neuen Kettenhund Cunningham und bittet wieder um Geld, damit er nach erfolgreichem Viehtrieb zumindest die alte Schuld begleichen kann. Doch Montrose will Rob Roy viel eher für ein politisches Spielchen einspannen, jetzt, wo dessen Kopf in seiner Schlinge steckt. Es geht gegen einen alten schottischen Herzog, der Montrose im Weg ist. Als Mann von Ehre kann Rob Roy nicht anders, als sich zu verweigern und damit die Situation eskalieren zu lassen und im offenen Streit zu fliehen, um der Beugehaft zu entgehen. Er ist jetzt ein Geächteter, ein Feind. Mit ein paar Mannen versteckt er sich in den Highlands, während Montrose endlich eine Aufgabe für den unnützen Cunningham hat. Er soll Rob Roy fangen. Vielleicht fragen Sie sich langsam bei all dem Männerzwist, wo eigent‐ lich das Melodram steckt. Da kommt es: Rob Roy hat Frau (und Kinder). Die Beziehung zu der von Jessica Lange gespielten Ehefrau ist das melodramatische Element der Handlung und ein wesentlicher Faktor der Plotkonstruktion. Auch wenn manchem Zuschauer das beiderseitig bekundete Verliebtsein dieser nicht mehr ganz taufrischen Eheleute Das schafft der nie! - Doch. 65 <?page no="66"?> auf die Nerven geht, seien Sie versichert, dass diese Beziehung alles andere als seicht und oberflächlich Heile-Welt ist. Sexualität wird an verschiedenen Stellen sprachlich und visuell derb und mit der notwendigen Härte dargestellt, spielt sie doch eine wesentliche Rolle bei der Geschichte. Da ist aber auch gar nichts mellow. Rob Roy unterschätzt die Gefahr und vor allem die Ruchlosigkeit des Gespanns Montrose-Cunningham. Er lässt Frau und Kinder alleine zurück im heimischen Hof. Da Cunningham trotz Armee im Rücken einsehen muss, dass er Rob Roy so leicht nicht wird fangen können in der ihm fremden Umgebung der Highlands, vergewaltigt er dessen Frau, um ihn zu provozieren. Spaß hat er auch noch dabei. Sie verschweigt aber die Vergewaltigung gegenüber Rob Roy, um ihn wiederum zu schützen. Doch verschärft sie damit die verhängnisvolle Entwicklung des Konflikts zwischen Rob Roy und Cunningham, da - die Details sparen wir uns hier - nach Irrungen und Wirrungen die Wahrheit nun mal ans Tageslicht kommt. Wie in den allermeisten Geschichten. Auch, dass Cunningham der Dieb des Geldes war, kommt raus, was den Konflikt verständlicherweise befeuert. Rob Roy wagt sich aus der Deckung und es kommt, was kommen muss, er wird von Cunningham gefangen genommen. Montrose entscheidet, ihn kurzerhand aufzuhängen. Doch Rob Roy kann entkommen und wendet sich an die rudimentär existierende schottische Obrigkeit, an den Adel in Person des alten Herzogs, der mit Montrose natürlich auch diverse Hühnchen zu rupfen hat. Mit Hilfe dieser Obrigkeit kann nämlich Folgendes stattfinden: ein organisierter Schwertkampf, ein Duell der beiden Kontrahenten, auf Leben und Tod. Rob Roy kann trotz Verletzung und unterlegener Waffe und antiquier‐ ter Fechttechnik Cunningham gegen alle Wetten und Wahrscheinlich‐ 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 66 <?page no="67"?> keiten bezwingen und töten. Er hat seine Rache, er hat seine Ehre bewahrt und das verdammte Geldproblem ist auch gelöst. Happy End! So. Haben Sie was gemerkt? Zweimal habe ich mich - durchaus üblich für eine Synopsis einer Filmhandlung - um Entscheidendes herumge‐ mogelt: Rob Roy wird gefangen genommen, aber er KANN fliehen. Er kämpft im finalen Duell und KANN Cunningham bezwingen und töten. Ja, um alles in der Welt, WIE kann er das alles denn bitteschön bewerkstelligen? WIE? Das ist die Gretchenfrage. An diesen beiden neuralgischen Punkten der Filmhandlung kommt - Sie ahnen es bereits - das Gewusst-Wie-Konzept zum Zuge. Wir haben bereits Rob Roy als Führer, Entscheider und Kämpfer kennengelernt und wissen, dass er zwar diverse Fehler begangen hat, aber in heiklen Situationen unter Druck besonnen und mutig entscheiden, handeln und kämpfen kann. Seine Fähigkeit, eine Idee zur Problemlösung zu entwickeln und in die Tat umzusetzen, hat weniger mit Wissen oder körperlichen Fähigkeiten zu tun. Es ist eine charakterliche Qualität, eine Instinktqualität, die eine Führungsperson gestern wie heute aus‐ macht. Neuralgischer Punkt eins: die Brücke. Rob Roy ist gefesselt mit einem Strick um die Hände und festgebunden an den Sattel des Pferdes von Cunningham, als er - umringt von feindlichen Soldaten - aus dem Munde von Montrose erfährt, dass er gleich von der Brücke, auf der alle stehen, gehängt werden soll. Sein in Bruchteilen von Sekunden entwickelter Plan sieht vor, Cunningham hauruck das Seil um den Hals zu schlingen und von der Brücke zu springen, sodass man ihn schnell losschneiden muss, um zu verhin‐ dern, dass Cunningham erdrosselt wird. Und genau so läuft es ab. Rob Das schafft der nie! - Doch. 67 <?page no="68"?> Roy baumelt am Seil, es wird schnell losgeschnitten und er fällt in den wilden Fluss unter ihm, das Wasser trägt ihn davon. Doch wird der Fluss ein paar Meter weiter ruhiger und die Soldaten suchen natürlich das Ufer ab. Rob Roy findet ein in dem wilden Fluss umgekommenes Rind und versteckt sich in der Bauchhöhle des verwesenden Tieres. Der Gestank ist so unerträglich, dass die Soldaten einen weiten Bogen um den Kadaver machen. Rob Roy ist erst mal gerettet. Neuralgischer Punkt zwei: das Duell. Rob Roys Plan mit dem Duell ist eine reine Verzweiflungstat. Es kann nicht gelingen, er weiß es, seine Frau weiß es, der Herzog weiß es. Wir Zuschauer wissen es. Der verfluchte Cunningham ist unbezwingbar mit dem Schwert. Ein ehrvoller Tod ist das realistische Minimalziel, das Rob Roy vor Augen hat. Ein Sieg ist mindestens so aussichtslos, wie zuvor auf der Brücke. Aber, er muss es wagen. Die konstitutive Eigenschaft des Helden ist nicht das Können, die Moral oder das Recht, sondern der Mut. Immer. In jeder Geschichte. Auch so eine Erkenntnis, die im Strudel des postheroischen Zeitgeistes verloren zu gehen droht. Die Sache mit dem kühnen Sprung von der Brücke ist wirklich gut. Filmisch toll umgesetzt, gute Action, spektakulär und gleichzeitig glaubwürdig, das heißt in ihrer Mechanik nachvollziehbar und dadurch spannend. Aber man hat sowas schon gesehen. Der tiefe Sprung ins Ungewisse, ins Wasser, ist ein häufig verwendetes Actionmotiv für Helden und Indiz für deren Mut, um in aussichtloser Situation zu entkommen. Das taten bereits Robert Redford und Paul Newman als BUTCH CAS‐ SIDY AND THE SUNDANCE KID, das tat Arnold Schwarzenegger in PREDATOR, das geschieht in APOCALYPTO und in unzähligen Aben‐ 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 68 <?page no="69"?> teuer- und Actionfilmen. Hier kommt das gekappte Seil hinzu und der Tierkadaver, also durchaus neue Ideen im Sinne des Gewusst-Wie-Kon‐ zepts. Es ist bei aller Wertschätzung top, aber nicht weltbewegend. Es ist, wie sich das für eine dicht erzählte Geschichte gehört, eher eine Vorbereitung auf das Finale. Bei aller Plotlastigkeit der gesamten Geschichte und speziell dieser Actionsequenz, erinnert die Sequenz uns daran, welche Fähigkeiten in dem Charakter Rob Roy schlummern, nachdem er trotz bester Absichten und ehrenhafter Entscheidungen praktisch sämtliche Konflikte ausgelöst hat und bisher aber auch gar nichts zu deren Lösung beitragen konnte. Er und seine Frau sind immer noch entehrt, er und sein Clan sind immer noch pleite und er ist vogelfrei. Da sind also diese beiden Männer, die sich hassen. Der eine groß, stark und im Recht. Der andere klein, gefährlich und böse. Sie haben wirklich allen Grund sich zu hassen, denn sie haben sich gegenseitig viel angetan. Rob Roy hat wahrlich gelitten. Cunningham deutlich weniger, aber seine Eitelkeit wurde schwer verletzt. Grund genug für ihn emotional in höchstem Maße involviert zu sein. Die beiden Män‐ ner sind aber kaum aufeinandergetroffen im Verlauf der Geschichte, geschweige denn haben sie die Klingen gekreuzt. Es hat sich also enorm was angestaut. Ganz viel Konflikt und ganz wenig Konfrontation. Bis jetzt! Einer wird den Anderen unter kontrollierten Bedingungen und unter den Augen von Schiedsrichtern, sowie des fiesen Montrose und des alten Herzogs im Kampf töten. Es wird keine Tricks, keine Flucht, kein Pardon geben. Der bessere Mann wird gewinnen. Das schafft der nie! - Doch. 69 <?page no="70"?> Das Duell dauert sieben Minuten und hat eine eigene Dramaturgie, einen ersten, einen zweiten und einen dritten Akt: Eine Geschichte, deren Backstory der Film ist, den wir gerade gesehen haben. Es geht los mit dem gegenseitigen Abtasten. Cunningham gewinnt seine alte Zuversicht zurück. Er merkt, dass Rob Roy mit dem Breit‐ schwert und seiner provinziellen Fechttechnik keine Chance haben wird. Er beginnt seine eitlen Spielchen. Er ritzt und sticht Rob Roy an allerlei Körperstellen. Der blutet tapfer vor sich hin und verzweifelt. Er hat Cunningham noch nicht einmal berührt mit seinem Schwert! Der Kampf dauert und Rob Roy wird schwächer und langsamer, stolpert und taumelt, bis er schließlich das Schwert verliert und zu Boden geht. Er kniet, einem Hinrichtungsopfer gleich, am Boden und Cunningham hält ihm den Degen an die Kehle. Der schickt einen letzten Gewinnerblick in die Runde der Zuschauer und wird gleich zum finalen Schlag ansetzten. Rob Roy hat nicht mehr als eine Sekunde, um einen Plan zu entwickeln. Und die nutzt er. Er ergreift mit der bloßen Hand die Klinge an seiner Kehle und packt zu. Mit aller Kraft hält er die Klinge fest. Cunningham ist verdutzt und zieht, aber die Hand dieses großen, starken Schotten ist wie ein Schraubstock. Rob Roy greift mit der anderen Hand sein vor ihm liegendes Schwert und haut mit einem mächtigen Schlag Cunninghams Brustkorb in zwei auseinanderklaffende Hälften. Cunningham fällt um und ist sofort tot. Das Erzählkonzept des Gewusst-Wie zeigt sich hier als ein Konzept, dass sich auf den Charakter bzw. die Charaktere bezieht. Es ist immer irgendWER, der wissen muss WIE. Meist - wie hier - die Hauptfigur. Es ist als Konzept character driven, bringt aber meist Geschichten hervor, die plot driven erscheinen. 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 70 <?page no="71"?> Rob Roy ist körperlich stark und entscheidungsschnell, Cunningham ist körperlich zwar schnell und geschickt, hat aber wesentlich weniger Kraft und er ist sadistisch plus eitel. All das wissen wir. Hier wird nichts aus dem Hut gezaubert, kein Deus ex Machina, keine rettende Kavallerie, kein Glück, keine Moral. Es ist ja auch nicht schön und ritterlich, wie Rob Roy gewinnt. Aber regelkonform. Die erzählerische Lösung für den Sieg des Guten über den Bösen lag in den Charakteren. Man muss nur darauf kommen. Die Geschichte von Rob Roy schafft es also im Gegensatz zu den anderen hier erwähnten und im Gegensatz zu den allermeisten Melo‐ dramen, ein vollständiges Happy End zu erzählen, ohne es sich leicht zu machen und dadurch seicht oder gar kitschig zu werden. Montrose und der alte Herzog hatten zuvor auch in Abhängigkeit vom Ausgang des Duells das Problem der Schuldenlast miteinander verdealt. Die zu bringenden Opfer waren zwar beträchtlich, aber (fast) keiner von den Guten hat mit seinem Leben dafür bezahlen müssen. An dieser Stelle muss noch eine wichtige Mechanik erwähnt werden, die dieses Duellfinale perfekt macht. Es handelt sich dabei aber um eine Mechanik aus dem Bereich Dramaturgie. Damit hat sie mit dem Erzählkonzept von ROB ROY unmittelbar nichts zu tun, zeigt aber auf, dass wir es hier mit allerhöchstem Autorenhandwerk zu tun haben. Lange bevor das Verhängnis für Rob Roy seinen dramatischen Lauf nimmt gibt es eine Szene, in der er von dem Fechtmeister, den wir als Verlierer gegen Cunningham ganz zu Anfang des Filmes kennen‐ gelernt hatten, herausgefordert wird. „Bis zum ersten Blutstropfen“ also nicht bis zum Tode soll gekämpft werden. Rob Roy sitzt mit seinen Männern gerade in einer Schenke und hat weder Anlass noch Lust, darauf einzugehen. Er bleibt sitzen und greift kurz an die ihm hingehaltene Schwertklinge und ritzt sich damit in die Hand. „So, da, Das schafft der nie! - Doch. 71 <?page no="72"?> du hast gewonnen.“ Der Herausforderer muss gedemütigt abziehen. Rob Roy zeigt uns auf souveräne Weise, dass er Wichtigeres zu tun hat. Doch ganz abgesehen von dem Charakterisierungseffekt an dieser Stelle geht es um Dramaturgie. Das Motiv des In-die-Klinge-Greifens wird hier mustergültig gepflanzt und vorbereitet. Erst pflanzen, dann ernten. Nun können wir leider nicht mehr nachfragen, wie es sich lange vor dem Dreh des Films mit der Idee zu dem Stoff und der Idee des finalen Duells zugetragen hat. Der Autor Alan Sharp ist tot und der Regisseur Michael Caton-Jones antwortet nicht. Sicher können wir sein, dass die Art und Weise wie Liam Neeson dieses Mal den verfluchten Tag rettet, nicht in dem gleichnamigen Roman von Sir Walter Scott steckte und auch nicht in der ersten Verfilmung der Rob Roy Figur aus den 50er Jahren. Dort gibt es gar keinen Cunningham, kein Duell. Es ist für uns aber nicht entscheidend, ob die Lösungsidee zu Anfang oder zum Ende des Entwicklungsprozesses der Geschichte stand. Si‐ cherlich kann man auf die Idee kommen beziehungsweise den Wunsch hegen, einen Film zu machen über diesen schottischen Freiheitskämp‐ fer, den sogenannten schottischen Robin Hood, ohne auch nur einen blassen Schimmer davon zu haben, wie man das Ding am Ende in den sicheren Hafen fährt. Vielleicht erwächst erst irgendwann, nach vielen anderen Versuchen eine Vorstellung davon, wie man ein Happy End herstellen kann. In einer finalen Schlacht, in deren Getümmel sich in Filmen des Öfteren zwei Kontrahenten zum Duell zusammenfinden, oder einem Nacht-und-Nebelduell, in dem der unterlegene Gute einen Standortvorteil, wie zum Beispiel die bessere Kenntnis der Landschaft, zum Sieg gegen den Bösen nutzen kann oder ihm direkt eine Falle stellt. Vielleicht sollte es auch erst gar kein Happy End geben. Rob Roy 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 72 <?page no="73"?> stirbt und wird dadurch zum Mythos wie Jesus oder William Wallace in BRAVEHEART. Alles denkbar. Wenn die Lösung des erzählerischen Problems, wie man einen unter‐ legenen Kämpfer durch Kampf gewinnen lässt - was ich bezweifle - gleich zu Anfang da gewesen sein sollte, es sowas wie die Initialzün‐ dung des Filmprojekts gewesen ist, dann haben alle Beteiligten auf jeden Fall viel Zeit und Mühe gespart. Wahrscheinlicher ist, dass sie an einem bestimmten Punkt der Stoffarbeit vor einem ganz großen Frage‐ zeichen standen. Doch sie haben ein massives Gewusst-Wie gemeistert und damit aus einem Stoff, der auch ohne genau diesen Verlauf des Duell-Finales in einen mittelguten Film hätte münden können, einen herausragenden Film gemacht. Man findet allerhand Beispiele in kampfbetonten Geschichten, in denen das Prinzip des Opferns, des Zulassens einer Verletzung, um letztendlich zu obsiegen, angewandt wird. Der finale Kampf des Zwer‐ genkönigs Thorin gegen den Ork Azog auf dem zugefrorenen See im letzten Teil der HOBBIT-Saga läuft auch auf ein solches Opfer hinaus. Doch ist es weder erzählerisch vorbereitet, noch führt es zu einem Happy End für Thorin. Denn er kann den Ork zwar töten, doch sein Opfer ist das eigene Leben. Das Motiv, das bei ROB ROY zugespitzt anzutreffen ist, ist das Leitmo‐ tiv der besten und zurecht erfolgreichsten aller Männerduell-Reihen der Filmgeschichte, nämlich ROCKY: Es kommt nicht darauf an, wie viel du austeilen kannst, sondern wieviel du einstecken kannst. Also taktisch gesprochen: Lass den Gegner sich an dir müde arbeiten und nimm den Schmerz hin! Dann kannst du - obwohl unterlegen - gewinnen. Das schafft der nie! - Doch. 73 <?page no="74"?> Der oscarprämierte Dokumentarfilm ONCE WE WERE KINGS von Taylor Hackford aus dem Jahre 1996 erzählt von dem legendären Boxkampf Rumble in the Jungle, in dem Muhamad Ali 1974 den körperlich überlegenen George Forman bezwingen kann. Er ist ein mustergültiges Beispiel dafür, dass ein solches Leitmotiv und die dar‐ aus resultierende Dramaturgie nicht nur Fiktion, sondern knallharte und äußerst erzählenswerte Realität sein kann. Die Stoff-Ideen der Gewusst-Wie-Geschichte Ideen und Stoffe, die zu Filmen führen, in denen das Gewusst-Wie-Kon‐ zept dominiert, können auf der Blümchenwiese aus jedweder Rich‐ tung kommen. Doch die Gewusst-Wie-Geschichten sind weniger das Ergebnis von zufälliger Inspiration, als das Ergebnis von Interesse. Der Schmetterling flattert Ihnen nicht um den Kopf, während Sie halb dösen. Sie brauchen den wachen Lauerblick. Es gibt kein immer gültiges Rezept, wohl aber kann man gezielt in den genrenahen Recherchegebieten suchen. Man benötigt also fast eine journalistische Herangehensweise beziehungsweise Haltung. Die zu findenden Ideen basieren weniger, als man annehmen könnte, auf einer besonderen Situation, sondern auf der Kompetenz einer oder mehrerer Figuren, ob erfunden oder real. Der Stoff wird somit seine Eigenschaft als Gewusst-Wie-Geschichte früh offenbaren. Das ist die gute Nachricht. Sie als Autor haben also in der Regel eine inspirierende Quelle vor sich. Ein Buch, basierend auf spektakulären Tatsachen. Einen Roman, einen Tatsachenbericht, eine historische Quelle. Oder ein spekulatives, aber mit technisch-naturwissenschaftlichem Wissen vollgeladenes Buch eines begabten Nerds, wie beim Marsianer. Oder Sie haben eine Person 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 74 <?page no="75"?> direkt an der Angel, die Ihnen auf all ihre Fragen kompetent und aus eigener Anschauung antworten kann. Weil sie aus dem Gefängnis ausgebrochen ist, ein Schiffsunglück überlebt hat, im Krieg gekämpft hat, beim Geheimdienst war oder bei der Polizei echte Verbrecher gejagt hat, oder oder oder. Jetzt die schlechte Nachricht: Wenn Sie diese Art Quelle nicht haben und nicht selbst diese Person sind, wird es dünn. Lassen Sie den Schmetterling besser wieder fliegen. Doch keine Sorge, es gibt noch zehn weitere Erzählkonzepte, in denen Sie sich austoben können. Fazit: ▸ In welchen Genres dominiert das Gewusst-Wie-Konzept häu‐ fig? Action, Abenteuer, auch zuweilen Krimi. Subgenres: Sportdrama, Überlebensdrama, Heist Movies, Gefängnis‐ ausbruchsgeschichten. ▸ Die grundsätzliche Auswirkung des Gewusst-Wie-Konzepts auf die untergeordneten künstlerischen Konzepte liegt im Realismus statt Surrealismus, in Objektivität statt Subjek‐ tivität in Bezug auf die Inszenierung und die Erzählper‐ spektive und das Kamerakonzept. Multiperspektivität und multiple Identifikation (mit mehreren Hauptfiguren und sogar mit Antagonisten) sind gut möglich und kommen häufig vor. ▸ Synthetische Narration und die Plausibilisierung vertragen sich als Erzählkonzepte nicht mit der Gewusst-Wie-Ge‐ schichte. Das schafft der nie! - Doch. 75 <?page no="76"?> ▸ Übernatürliche Handlungselemente, vor allem Superkräfte, vertragen sich nicht mit der Gewusst-Wie-Geschichte. ▸ Bei sehr ausgeklügelten Plänen unserer Protagonisten ist der dramaturgische Grundsatz zu beachten: Pläne, die schiefgehen, werden vor dem Zuschauer ausführlich aus‐ gebreitet. Sie machen einen großen Teil des Plots aus. Pläne, die funktionieren, bleiben in der Planungsphase im Vagen. Fließende Übergänge und Mischungen sind üblich, siehe zum Beispiel die OCEAN’S-Reihe. Das gilt immer und überall. In jedem Format, Genre und Erzählkonzept. ▸ Der Exkurs zu ROB ROY hat gezeigt, dass sich das Gewusst-Wie-Konzept manchmal in der Rezeption eines Films spät offenbart. In ROB ROY scheint das Erzählkon‐ zept des Historischen Films zu dominieren. Aber das Ge‐ wusst-Wie-Konzept ist hier untrennbar mit der Qualität des Erzählens, mit der Spannung und der Glaubwürdigkeit der Geschehnisse verbunden. ▸ Das Gewusst-Wie-Konzept sagt Ihnen nicht, was die kon‐ krete Lösung für Ihre Wie-verdammt-noch-mal-kriegtmein-Held-das-jetzt-hin-Frage ist. Aber es sagt Ihnen, in welcher Disziplin Sie antreten. Also kommen Sie nicht mit dem Tennisschläger zum Radrennen! Lassen Sie den zu Hause und besorgen Sie sich ein gutes Rennrad. Das bedeutet nicht, dass Sie sofort gewinnen, aber Sie können zumindest mitfahren. Strampeln müssen Sie selbst. ▸ Die konkrete Lösung für ein singuläres Gewusst-Wie-Pro‐ blem kann in Recherche liegen. Denken Sie dabei an die Erkenntnis, dass der Lösungsansatz im Charakter der Figu‐ 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 76 <?page no="77"?> ren steckt. Das Gewusst-Wie-Konzept ist - obwohl es um die Lösung harter Plot-Fragen geht - character driven. Doch wie gut Sie ihre Figuren auch kennen und deren Innerstes durchforsten, die Suche nach dem Lösungsansatz wird in aller Regel einen Umweg erfordern. ▸ Die Helden des Gewusst-Wie-Konzepts sind häufig echte Stoiker. Es geht nicht darum, diese Figuren oder gar den Zuschauer zu erschüttern. Es findet zwar eine Charakter‐ entwicklung statt (nicht zwingend bei den Serienhelden), aber der Charakter wird eben gerade nicht gebrochen und dann neu zusammengesetzt. ▸ Gewusst-Wie ist das unsozialste aller Erzählkonzepte. Es kommt daher selten in Komödien und (klassischen) Dra‐ men vor. Allerdings gibt es eine Reihe von Ausnahmen, häufig dann, wenn die Kompetenzen, die zu all den Gewusst-Wie-Plänen und Umsetzungen führen, nicht in einer Person, sondern einem ganzen Team liegen, wie das in der das eigene Heist-Movie-Genre ironisierenden OCEANS-Reihe der Fall ist. ▸ Die Helden im Gewusst-Wie-Konzept haben weder eine per‐ sönliche Krise, noch sind sie auf der Suche nach der großen Liebe oder geistiger Zerstreuung. Sie haben mit Kompetenz und Können ernste, große Probleme zu lösen. Dabei sind sie uns Zuschauern minimal überlegen. Dafür bewundern wir sie. ▸ Geschichten, die nach dem Gewusst-Wie-Konzept ablaufen, haben ein Happy End. Mal mehr, mal weniger happy. Aber immer happy. Das schafft der nie! - Doch. 77 <?page no="78"?> ▸ Wer als Autor in der Disziplin des Gewusst-Wie-Konzepts Begabungen aufzuweisen hat, hat gute Chancen, im Ge‐ schäft zu sein. Filme, die hier liefern, sind nachgefragt und überdurchschnittlich kommerziell erfolgreich. Neben der (seichten) Liebesgeschichte, dem Krimi und all den Spielar‐ ten im Comedy-Genre ist Gewusst-Wie das Erzählkonzept, bei dem die stetigste Nachfrage herrscht. ▸ 30 Filme in der Top-250-Liste auf imdb.com. 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte 78 <?page no="79"?> 2. Die Plausibilisierung Was zur Hölle ist hier los? - Aha. „Nein, Mutter ist harmlos. Sie ist … sie ist … sie ist so harmlos wie diese ausgestopften Vögel.“ Norman Bates, Psycho Plausibel soll in guter Narration alles sein. Die Figuren, deren Motive, das Setting, die Dialoge, der Plot. Alles. Richtig, aber wir reden nicht von Plausibilität als Ziel, als Zustand, als Kriterium. Deren Voraussetzung ist die Konsistenz. Wir reden auch nicht von der sogenannten Suspension of Disbelief. Wir setzten voraus, dass wir diese Art Zweifel an im Vergleich zur realen Welt unrealistischen Handlungselementen und Konflikten längst hinter uns haben. Wir alle sind also sehr willig, alles zu glauben, was in der Filmhandlung und in der Filmwelt, Sinn macht und wahrhaftig ist. Zombies? Zauberkraft? Zufall? All das nehmen wir im Sinne der Suspension of Disbelief gerne hin. Auch darf man plausibel nicht mit glaubwürdig gleich setzen. Was dennoch oft getan wird. Wir reden von Plausibilisierung. Das impliziert einen Verlauf und eine Handlungsentwicklung. Damit kommen wir zu einem Erzählkonzept, das maximale Auswirkungen auf die Dramaturgie hat. <?page no="80"?> Die Plausibilisierung ist das Erzählkonzept einer Geschichte, deren Höhepunkt an das äußerste Ende der narrativen Struktur gelegt wird. Meist - nicht immer - ist dies ein „echter Twist“, der zuvor Angenommenes umdeutet. Das Unplausible wird nicht etwa ersetzt, es soll nicht vermieden, umschifft, versteckt werden. Im Gegenteil. Es ist ein unabdingba‐ rer Teil der Narration. Die mit der Plausibilisierung verbundene Erkenntnis ist für den Protagonist und den Zuschauer der Schlüssel zum Verständnis der gesamten Geschichte. Beim Erzählkonzept der Plausibilisierung muss man sich klar machen, dass nicht automatisch ein klar zu benennender und bewusster Zwei‐ fel des Zuschauers an der Plausibilität der Ereignisse der Handlung bestehen muss, der ausgeräumt wird. Es kann durchaus sein, dass dem Zuschauer bis zum Vollzug der Plausibilisierung gar nicht klar war, was eigentlich plausibilisiert wird oder dass überhaupt etwas zu plausibilisieren ist in der Geschichte. Am Ende sollte es allerdings offenbar sein. Die Plausibilisierung ist das Erzählkonzept des überwiegenden Teils der Filme des Horrorgenres, praktisch aller Mysteryfilme und vieler Science Fiction Filme. Auch im Krimigenre gibt es zahlreiche Beispiele für die Plausibilisierung. Plausibilisierungen sind die idealen Kandidaten für Spoiler-Alerts. 2. Die Plausibilisierung 80 <?page no="81"?> Die Sache mit dem Horror Der Horrorfilm lässt sich erzählkonzeptionell in zwei Welten einteilen: Geschichten, in denen man vor der antagonistischen Kraft davonläuft (Monster-, Slasher-, Zombiehorror), und Geschichten, in denen man der antagonistischen Kraft entgegengeht (Geister-, Okkultismus-, Psy‐ chohorror). Erstere sind eigentlich Actionfilme, in denen gerannt und gekämpft wird, letztere sind eigentlich Mysteryfilme, in denen gesucht und ermittelt wird. Beide sind immer Thriller, in denen es auf eine lebensgefährliche Konfrontation hinausläuft. Sie erinnern sich: Die Lebensgefahr durch antagonistische Kräfte ist konstitutiv für die Eigenschaft Thriller. Horror sind diese Filme in dem Maße, in dem sie gruselig sind, was - so sehr wir uns hier auch um die Objektivierung der Sachverhalte bemühen - immer ein subjektives Empfinden ist. So einfach kann es sein mit den Genres. Die Plausibilisierung ist das Erzählkonzept aller Horrorfilme, deren erzählerischer Kern eine Mysterygeschichte ist. Abgesehen von den seltenen Filmen, denen eine Synthetische Narration zugrunde liegt, sind diese Plausibilisierungs-Geschichten die Krone des komplexen filmischen Erzählens. Wer das kann, kann was. Drehbuch und Regie. Ja, das ist eine gewagte Aussage. Aber in dieser Art Film stecken im besten Fall ein Drama und ein Thriller, ohne dass der Thriller dem Drama oder das Drama dem Thriller Raum und Bedeutung streitig machen. Dass Horrorfilme Thriller sind, hat sich schon herumgesprochen und wird selten bezweifelt. Jetzt sollen sie aber auch noch die besseren Dramen sein …? Ein Mädchen stirbt bei einem Autounfall, für den der Bruder ver‐ antwortlich ist. Die ganze Familie zerbricht daran. Ein schwereres Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 81 <?page no="82"?> Familiendrama lässt sich kaum ausdenken. HEREDITARY, Regie: Ari Aster, 2018. Alle Menschen werden mit ihrem hässlichen Spiegelbild konfrontiert, und von diesem massakriert. Ob es eine normale Existenz im Angesicht des verdrängten Unterbewussten geben wird, bleibt für eine ums Überleben kämpfende Familie ungewiss. Eine derart schonungslose Gesellschaftskritik und ein derart heftiges Drama finden Sie beim Mittwochsfilm der ARD nicht. WIR, Regie: Jordan Peele, 2019. Eine Schwangere hat Angst um ihr ungeborenes Kind. Ist sie nur durcheinander oder gar paranoid? Das ganze Umfeld scheint fürsorg‐ lich, ist aber gegen sie. Ungerechter und ungleicher waren die Kräfte noch nie verteilt im filmischen Kosmos. Kann das gut ausgehen? Eine genauere Studie menschlichen Verhaltens liefert kein Drama. ROSEMARIES BABY, Regie: Roman Polanski, 1968. Ein Witwer leidet am Verlust seiner Liebe. Doch anstatt sich selbst und seinem kleinen Sohn zu helfen, will er die Selbstmordreihe von Kindern in einem kleinen Dorf irgendwo im Nirgendwo beenden. Er überschätzt sich und seine Fähigkeiten. Familiendrama um traumati‐ sierte Eltern? Nein, doch ein Geisterfilm. LADY IN BLACK, Regie: James Watkins, 2012. Eine Mutter findet nach Monaten des Suchens die Leiche ihres Sohnes. Gruselige Geister haben ihr den Weg gezeigt. Kein Höhepunkt des Schreckens erwartet den Zuschauer am Ende, sondern ein Höhepunkt der Empathie. Nicht im Drama-Regal werden Sie fündig, sondern beim Horrorfilm. DAS WAISENHAUS, Regie: Juan Antonio Bayona, 2007. Wer Horror will, weil er Drama doof findet, ist auf dem Holzweg. 2. Die Plausibilisierung 82 <?page no="83"?> Horrorfilme, und im Besonderen diejenigen, die in diesem Kapitel be‐ sprochen werden und den Großteil der als Horror gehandelten Filme aus‐ machen, sind im Kern ernste Dramen, die thematisch eingrenzbar sind: Sie handeln von der Angst vor dem eigenen Tod, von der Angst vor dem Unbekannten, genauer: der Angst vor dem Uneindeutigen. Uneindeutig zwischen Leben und Tod, zwischen menschlich und unmenschlich. Darauf lässt sich jedes erzählerische Motiv, das eine Geschichte zu einer Horrorgeschichte macht, zurückführen. Jedes Monster, jedes Geschöpf, jeder Geist, jede Mutation, sogar der Psychopath. Auch der Gruselfaktor von Kindern lässt sich auf diese Ambivalenz zurückführen. Dass Kinder im Horrorfilm als Medium zwischen den Welten oder Träger des Bösen fungieren, ist nicht nur naheliegend, weil sie eigentlich so süß und schwach und manipulierbar und damit schützenswert sind und sich aus diesem Kontrast ein schöner Konflikt herstellen lässt. Denn die Angst vor dem Tod eines Kindes ist für Eltern noch schlimmer als die Angst vor dem eigenen Tod. Doch das ist nur die halbe Miete. Diese Kinderfiguren im Horrorfilm sind präpubertär. Es sei denn, die Pubertät wird motivisch direkt be‐ spielt wie in DER EXORZIST oder CARRIE. Die präpubertären Kinder sind noch nicht ganz fertige Menschen. Sie sind damit uneindeutig. Die Designer von Animationsfiguren für Family Entertainment-Filme müssen einen Bogen um das sogenannte Uncanny Valley machen. Irgendwo zwischen artifizieller Stilisierung und naturalistischer Dar‐ stellung liegt es. Dort ist es gruselig - was natürlich für diese Figuren höchst unerwünscht ist. Warum ist es dort gruselig? Weil die visuelle Erscheinung der Figur im Uncanny Valley uneindeutig ist. Wer jetzt an das aktuelle Gesellschaftsthema geschlechtlicher Identitäten denkt, möge sich bitte sofort den geistigen Mund mit Seife auswaschen. Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 83 <?page no="84"?> Diese thematische Eingrenzung im Horror ist Fluch und Segen zu‐ gleich. Nirgendwo sonst in der Welt des Films findet sich soviel red‐ undantes Ärgernis, nirgendwo sonst soviel Schrott und damit Lange‐ weile. Der Redundanz und inhaltlichen Substanzlosigkeit wird häufig - und das sogar oft mit guten handwerklichen Mitteln - visuell, in‐ szenatorisch und narrativ begegnet durch exploitative Elemente. Dies müssen nicht unbedingt Schauwerte, wie spektakuläre Monster oder explizite Gewaltdarstellungen sein. Oft sind es eher Schockmomente, deren Wirkweise bekannt und deren Wirksamkeit gut kalkulierbar ist. Es geht dabei ganz banal darum, beim Zuschauer Aufmerksamkeit und somit Konzentration einzufordern, die durch die Angst vor weiteren Schockmomenten zu einem erhöhten Adrenalinpegel im Blut führt. Reine Biochemie. Mir persönlich gefällt dieser Sport. Auch ist der Schock ein oft not‐ wendiges Element guter Horrornarration. Aber das allein macht einen Horrorfilm nicht bemerkenswert. Es sei denn, Sie erfinden eine neue Wirkweise oder eine neue Methode zu schockieren. Eine solche Inno‐ vationsmöglichkeit glaubten Filmemacher in den Händen zu halten, als die Stereoskopie (zum wiederholten Male in der Filmgeschichte) 2009 mit dem Science Fiction-Film AVATAR aufkam. Diese Filmemacher irrten. Ein guter Genrefilm ist und bleibt ein seltenes Ereignis, da bilden der Mysteryfilm und der Horrorfilm keine Ausnahmen. Eine Unterscheidung zwischen Horror und Mystery ist recht müßig. Alles, was man in der einschlägigen Fachliteratur dazu lesen kann, ist unzureichend oder gar falsch. Sicher ist: die Übergänge sind flie‐ ßend. Am interessantesten dabei ist die Frage, wie der Film endet. „Echte“ Horrorfilme haben kein Happy End, „echte“ Mysteryfilme schon, wobei „kein Happy End“ natürlich nicht automatisch den Tod 2. Die Plausibilisierung 84 <?page no="85"?> der Hauptfigur bedeutet. Diese Ex-Post-Sichtweise ist das vielleicht eindeutigste Kriterium. Für den, der will. Exkurs: Found Footage „Found Footage? Ernsthaft? Das ist doch dieses Subgenre des Horror‐ films, billig und ausgelutscht und künstlerisch erledigt! “ Falsch. Im Gegenteil. Da war sie einmal, die neue Wirkweise, die neue Methode, zu scho‐ ckieren. Found Footage ist, auch wenn es aus rein quantitativer Sicht nicht sehr relevant erscheint, weil es schlicht nicht viele Found Footage-Filme gibt und sie wirklich alle (Alle! ) zum Genre des Horrorfilms gehören, eine künstlerisch und kommerziell höchst interessante Spielart des Erzählkonzepts der Plausibilisierung. Unter den 250 besten Filmen aller Zeiten bei imdb.com findet sich kein einziger Found Footage-Film. Blickt man aber auf die Wirtschaftlich‐ keit… olala! Listen mit den wirtschaftlich erfolgreichsten Filmen aller Zeiten sind mit Vorsicht zu genießen, da anders als bei der Schwarmintelligenz der imdb-Bestenliste einzig und allein die Angaben des Vertriebs und des Produzenten der jeweiligen Filme ausschlaggebend sind. Und dabei sind verständlicherweise Interessen im Spiel. Nach oben und nach unten wird manipuliert. Eine kurze Webrecherche fördert also durchaus Unterschiedliches zutage. Dennoch, es finden sich auf diesen Listen durchweg die bekannten Beispiele des geschmähten Subgenres Found Footage auf den obersten Plätzen. Darunter immer die Urmutter aller Found Footage-Filme Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 85 <?page no="86"?> BLAIR WITCH PROJECT und der erfolgreichste unter ihnen, nämlich PARANORMAL ACTIVITY. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass diese Filme günstig herzustellen sind. Wir werden aber sehen, dass das Konzept des Found Footage-Films weit mehr ist, als nur eine Möglichkeit für junge Filmemacher, einen Film mangels Budget trotzdem irgendwie herzustellen, oder für einen etablierten Produzenten in der wohlkalkulierten Hoffnung zu produ‐ zieren, einen wahnsinnig hohen Return on Investment zu erzielen. Found Footage ist nur in zweiter Hinsicht ein Produktionskonzept. Es ist vor allem eins: eine sehr strenge und maximal wirkmächtige Plausibilisierung. Der Begriff der Wirkmächtigkeit bezieht sich dabei nicht auf den potentiellen oder tatsächlich eingetroffenen Erfolg eines Films und die daraus erwachsenden Mächte und Möglichkeiten. Die Wirkmäch‐ tigkeit bezieht sich darauf, wie groß und maßgeblich der Einfluss des jeweiligen Erzählkonzepts auf all die anderen Konzepte eines Films ist. Um Found Footage zu verstehen, muss man dieses Subgenre film‐ historisch betrachten. Der Begriff wird verwirrenderweise auch für Filme verwendet, die als Kompilations- oder Collagefilme aus tatsäch‐ lich vom Filmemacher zusammengetragenem Filmmaterial hergestellt werden. Eine Collage aus gefundenem, nicht selbst gedrehtem Mate‐ rial. Zur Klarstellung: um diese Filme geht es in diesem Exkurs nicht. Doch auch beim Found Footage-Film unserer Sprechart müssen wir zunächst einen häufig gemachten Fehler ausräumen, der auffällt, wenn man sich Auflistungen bedeutender Found Footage-Filme ansieht. Durch die Anwendung des Found Footage-Konzepts entsteht Fiktion, nicht Fake-Dokumentation! 2. Die Plausibilisierung 86 <?page no="87"?> Warum ist das so wichtig? Das werden wir verstehen, wenn wir uns die konstitutiven Elemente dieses Subgenres anschauen. Als erster Found Footage-Film wird häufig Rainer Erlers DIE DELE‐ GATION von 1970 genannt. Ein Film über Ufosichtungen und einen verschwundenen Filmjournalisten, der glaubte in Südamerika Spuren einer Delegation einer außerirdischen Spezies zu finden. Erler ist ein großer, toller Autor und Regisseur. Nicht, weil er so subtil und sensibel unterwegs ist, sondern weil er konzeptionell denkt, sich für Wirkweisen und Abgründe und Naturwissenschaft interessiert und keine Angst vor dem künstlerischen Scheitern und vor Trash hat. Aber den Ruhm, den ersten Found Footage-Film der Welt gemacht zu haben, darf er leider nicht für sich beanspruchen. Denn DIE DELEGATION ist eine Fake-Dokumentation. Gleiches gilt für Benoit Poelvoordes MANN BEISST HUND von 1993. Ruggero Deodatos berühmt-berüchtigter CANNIBAL HOLOCAUST von 1980, in dem ein Filmteam im brasilianischen Urwald von Kan‐ nibalen verspeist wird, ist ein Zwitter. In ihm steckt ein Found Foo‐ tage-Film. Doch Deodato war sich nicht im Klaren über das eigene Konzept. Er misstraute ihm. Er wusste noch nicht, dass Found Footage zu Fiktion führen wird. Woher auch? Er war - von exploitativer Lust getrieben - ein Pionier wie Kolumbus. Und Pioniere dürfen irren wie Kolumbus, der bis zu seinem Lebensende annahm, den Seeweg nach Indien gefunden zu haben. Deodato kannte die Filme des damals immer noch sehr popu‐ lären Mondo-Genres sehr gut. Reißerische Fake-Dokumentationen, in denen echtes mit inszeniertem Spektakel hemmungslos zusammenge‐ schnitten wurde. Er hat das selbst zuhauf gemacht. Ufos, Kannibalen, monströse Tiere, tödliche Unfälle und Hinrichtungen. LiveLeak lange vor LiveLeak. Doch er wollte einen Spielfilm machen und - bei aller Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 87 <?page no="88"?> Pseudoauthentizität, die er im Marketing voll ausschlachtete - nicht einen Film, der als Mondo-Film wahrgenommen wird. Die Found Footage-Elemente in CANNIBAL HOLOCAUST sind ein Abfallprodukt des im Zentrum von Deodatos Filmen stehenden Erzähl‐ konzepts des Exploitativen Films. Wir bedenken: Dieses Erzählkonzept gebiert nicht ausschließlich und automatisch nur Exploitation-Filme! Wenn Sie unsicher sind, schauen Sie im Kapitel Der Exploitative Film vorbei, dort wird das genau auseinander dividiert. Das Exlpoitative ist aber in CANNIBAL HOLOCAUST so stark ausge‐ prägt, dass es sich ohne Zweifel um einen echten Exploitation-Film handelt. Es gibt einen klassisch inszenierten und auch visuell klar unterscheidbaren Rahmen und ebensolche Zwischensequenzen. Die Wirkweise und die Wirkung des Found Footage sind trotzdem da. Der Film funktioniert. Er ist somit ein guter und gelungener Film, weit über seine Zielgruppenzuspitzung und die von manchem Kritiker monierte zynische Gewaltinstrumentalisierung hinaus. In der Literatur beginnt das Prinzip „Found Footage“ bereits viel früher. Briefromane wie Goethes „Die Leiden des Jungen Werther“ und Bram Stokers „Dracula“ sind in der Wirkweise nichts anderes. H. P. Lovecraft nutzte den Mechanismus häufig, so zum Beispiel in „Die Aussage des Randolph Carter“ von 1919, wo der literarische Text in Form einer Gerichtsaussage präsentiert wird. Pseudoauthentizität, Nüchternheit, zeitlicher und räumlicher Abstand werden hergestellt, in dem jemand davon berichtet, was einem Anderen, dessen Stimme er nur durch ein Telefonkabel hören kann, widerfahren ist. Was diesen Anderen schließlich getötet hat, ist nicht beschreibbar und fassbar und genau dadurch so grauenvoll und gruselig. Found Footage ist (Pseudo)Authentizität mit einem technischen Engpass. 2. Die Plausibilisierung 88 <?page no="89"?> Beim Film beginnt alles 1999 mit BLAIR WITCH PROJECT von Daniel Myrick und Eduardo Sánchez. Ein Dokumentarfilmteam, eine Frau und zwei Männer, will einen Film drehen über den Mythos der Hexe von Blair. Sie wollen dazu ein paar Tage im Wald verbringen, in dem die Hexe vor Jahrhunderten ihr Unwesen getrieben haben soll. Selbstver‐ ständlich, ohne an den Mythos zu glauben! Es sind rationale, moderne, junge Menschen, die einem tollen Stoff für einen Dokumentarfilm nachgehen wollen. Dieser Film und fast alle ihm folgenden Found Footage-Filme sind so etwas wie die Antithese zum Exploitation Film. Der Zuschauer kriegt nichts zu sehen, schon gar keine Gewalt. Alles ist Narration, alles ist Identifikation. Das ist intellektuell eigentlich ganz schön anspruchsvoll. Der sehr gelungene CRONICLE von Josh Trank von 2012 über Jugendli‐ che mit Superkräften und natürlich auch die großartige Aliengeschichte DISTRICT 9 von Neill Bloomcamp von 2009 sind nicht, wie oft behauptet wird, Found Footage-Filme. Sie bedienen sich desselben Kamerakonzepts und können beim modernen, erfahrenen (meist jungen) Publikum sicher sein, damit keinerlei ungewollte Irritation auszulösen. Man kennt heute diese Art Bilder und diese Art von Integration der Kamera ins Geschehen. Aber das konstitutive narrative Element des Found Footage wird nicht bedient. Dieses Element ist ein Gesetz, das besagt: Am Ende sind alle tot. Und alle heißt alle. Jeder Zeuge des Geschehens. Sonst macht es keinen Sinn, dass allein das Filmmaterial, das wir vor uns haben, Zeugnis gibt von den besonderen Geschehnissen. Das ist das konstitutive narrative Element. Also müssen alle tot sein. Die Kannibalen, die in CANNIBAL HOLOCAUST Täter und Zeugen der Geschehnisse waren, zählen nicht. Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 89 <?page no="90"?> Ebenso die Teufelsanbeter des sehr guten Found Footage-Films THE LAST EXCORCISM vom deutschen Regisseur Daniel Stamm aus dem Jahre 2010. Die leben zwar alle noch sehr zahlreich am Ende, aber sie sind keine Zeugen. Sie sind Teil der antagonistischen Kraft, deren Wirken wir erzählt bekommen haben. Doch niemand ist mehr da, der als Beteiligter das Geschehen erzählen und interpretieren wollte oder könnte. Dieses strenge erzählerische Gesetz gilt auch in den äußerst intelligent erdachten Erweiterungen des Found Footage-Konzepts. In Oran Pelis PARANORMAL ACTIVITY Reihe, wird das aufgezeichnete Filmmate‐ rial im Verlauf der weiterschreitenden Filmhandlung von diversen Protagonisten angeschaut und interpretiert. In dem ebenso gelungenen Science Fiction-Film EUROPA REPORT von Sebastián Cordero von 2013, in dem es um eine Weltraummission zu einem der Monde des Jupiter geht, gibt es dokumentarische Elemente mit Interviews und Bildern von echten Raketenstarts. Verschiedene Wissenschaftler und auch die Astronauten der tödlich endenden Mission selbst, als sie noch auf der Erde waren, berauscht von der Größe und Wichtigkeit des Vorhabens, Leben auf einem anderen Himmelskörper zu suchen, sprechen in die Kamera. Ein solcher Epilog beendet auch den Film. Diese Elemente wären nicht zwingend notwendig gewesen wären, um einen Found Footage-Film mit genau der Story von EUROPA REPORT zu machen. Aber sie machen den Film hier tatsächlich besser. Und na‐ türlich sind diese Sequenzen dokumentarisch. Der Fiction-Charakter des gesamten Films bleibt aber bestehen. Das Konzept ist streng, aber nicht eng. Man darf gespannt sein auf zukünftige Erweiterungen und neue Varianten. Erstaunlicherweise gelingt das alle paar Jahre einem klugen Filmemacher in diesem Subgenre mit dem schlechten Ruf. 2. Die Plausibilisierung 90 <?page no="91"?> Was hat es beim Found Footage nun mit der Plausibilisierung auf sich? Unplausibel ist bei jeder Found Footage-Geschichte, dass dieses Mate‐ rial, das wir Zuschauer betrachten, das einzige Zeugnis der unglaub‐ lichen Geschehnisse sein soll. Der Tod der Protagonisten ganz am Ende, der das wesentliche dramaturgische Gesetz des Konzepts ist, ist zunächst unplausibel! Wie kann es sein, dass die alle durch eine Hexe umkommen - sowas wie Hexen gibt es doch gar nicht, und wenn - wieso laufen die nicht einfach davon? Bis wir es selbst gesehen haben. Dabei muss der Tod, das „Zutodekommen“ selber nicht gezeigt werden. Aber das Footage zeigt unmissverständlich, dass der Tod unausweichlich war. Da Tote nicht mehr erzählen können und es nicht mehrere gefilmte Va‐ rianten der Ereignisse gibt, die wir Zuschauer miteinander vergleichen können, also noch ein zweites Filmteam, das im Wald war, oder auf dem Jupitermond Europa, ist die erzählerische Herausforderung des Found Footage, hier volle Plausibilität herzustellen: die sind wirklich tot und hatten keine Chance! BLAIR WITCH PROJECT, PARANORMAL ACTIVITY und EUROPA REPORT sowie alle anderen Found Footage-Filme enden, nachdem sie absolute Plausibilität hergestellt haben. Danach gibt es nichts mehr zu erzählen. Sie erzählen vom Tod von Figuren, mit denen wir uns sehr schnell identifizieren können, weil wir etwas mit ihnen teilen: Neugierde, Skepsis und Rationalität. Die Plausibilisierung des Todes der Protagonisten ist gleichzeitig eine Plausibilisierung der - meist - übersinnlichen Kraft, die hier am Werke ist. Es wird aber nicht automatisch die Existenz des Übersinnlichen bewiesen. Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 91 <?page no="92"?> Ganz konkret: Bei BLAIR WITCH PROJECT bedeutet das nicht, dass das Found Footage die Existenz der Hexe mit übernatürlichen Fähigkeiten be‐ weist. Wir sehen von der Hexe nichts, keine Hand, keinen Rockzipfel, geschweige denn ein Gesicht. Aber es beweist die Existenz einer Macht, die einen Mann dazu bringt, mit dem Gesicht zur Wand zu stehen, während seiner Freundin Gewalt bis zum Tode angetan werden wird. Da brauche ich keine hässliche Hexenfratze mehr, um mich zu gruseln. Wir haben jetzt keinerlei Zweifel mehr daran, dass die drei jungen Menschen, deren Waldexkursion wir beigewohnt haben, tot sind. Es ist nun absolut plausibel. Es ist auch ganz und gar plausibel, dass die drei von Anfang an keine Chance hatten, ganz egal, was sie tun, welche Entscheidungen sie im Verlauf der Geschichte auch treffen. Sobald sie sich im Wald auf die Suche nach Spuren der Hexe machen, sind sie zum Tode verdammt. Ohne das Found Footage ist das eine tragische Geschichte von drei Vermissten, die sich im Wald verirrt haben. Mit dem Found Footage sind drei Menschen von etwas Unbekanntem und Bösen heimgesucht und ermordet worden. Ganz konkret: Über das Ende des Films PARANORMAL ACTIVITY zu sprechen ist problematisch, weil es - wie so oft - viele verschiedene Enden gab, die alle nebeneinander auf der DVD existieren und das Ende der Kinoversion vom Vertrieb vor Kinostart nochmal geändert wurde. Es geht dabei aber erzählerisch nur um Details. Ganz im Sinne des offen im Titel vor sich hergetragenen Themas offenbart das Ende die deutlichsten und erschreckendsten Aktivitäten eines Dämons, der ein junges Pärchen heimsucht. Wir erkennen, dass er in die Frau 2. Die Plausibilisierung 92 <?page no="93"?> gefahren ist. Sie ist somit Opfer und Täter zugleich und tötet, mit übermenschlichen Kräften ausgestattet, ihren körperlich eigentlich sehr wehrhaften Ehemann. Je nach Version, ist die Frau am Ende entweder: Verschwunden und wird nie gefunden. Verschwunden und wird später tot aufgefunden. Oder sie wird am Tatort aufgefunden und ist katatonisch (was für uns gleichbedeutend mit tot ist). Das ist mittelbar ein Beweis der Existenz des Dämons, dessen Wirken vorher nur Hinweis darauf war, dass etwas Schreckliches passieren könnte. Am Ende passiert es wirklich. Ohne das Found Footage ist das eine tragische Ehegeschichte, die für beide tödlich endet. Mit dem Found Footage ist das ein Blick in einen übernatürlichen Abgrund, in dem das Böse kauert. Ganz konkret: Die Existenz der außerirdischen Lebensform auf dem Jupitermond Europa wird bewiesen. EUROPA REPORT ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Auch und vor allem dadurch, dass hier die Funküber‐ mittlung dieses letzten Beweisbildes auf die Erde das Finale ausmacht. Es sind bereits alle Astronauten tot bis auf eine eher unwichtige, graue Nebenfigur. Doch unser Final Girl kämpft. Und zwar nicht um ihr Leben. Das wäre uns ziemlich egal und nebenbei auch völlig sinnlos. Sie kämpft um die Übermittlung dieses einen Bildes aus nur ganz wenigen Frames, das ein Tentakelwesen zeigt, kurz bevor es die Frau in die eisigen Tiefen des unter der Mondoberfläche liegenden Ozeans (der auf Europa tatsächlich existiert) ziehen wird. Ganz so, als wäre sie sich der Tatsache bewusst, dass es um Bilder und nicht um ihr Leben geht. Das Filmmaterial kann ja nicht in Form von Tapes oder Festplatten gefunden werden. Der Mond Europa ist nicht um die Ecke. Aber die Daten können an die Erde gefunkt werden. Die Handlung im Finale des Films ist also ein aktives Herbeiführen des Findens von Filmmaterial. Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 93 <?page no="94"?> Der Beweis: Wir sehen tatsächlich ein außerirdisches Wesen. Das ist zwar exploitativ, aber mit der Pipette. Ohne das Found Footage ist das eine tragische Geschichte von im Weltraum verschollenen Wissenschaftlern. Mit dem Found Footage wird eine der großen Menschheitsfragen im Rahmen der Fiktion beantwortet. Se7en und Angel Heart In welche Genreschachtel auch immer man Alan Parkers ANGEL HEART von 1987 und David Finchers SE7EN von 1995 stecken möchte, beide Geschichten, so unterschiedlich sie auch sind, sind Krimis. Da ermitteln Menschen, deren Beruf es ist zu ermitteln, in einem Fall. Dennoch haben diese beiden Filme ein anderes Erzählkonzept, als die Filme auf die der Begriff „Ermittlerkrimi“ zutrifft. Ermittlerkrimi sind all die Filme, die einen Ermittlerplot haben. Der Masterplot ist hier wie dort „Das Rätsel“. All die Reihen mit Helden wie Sherlock Holmes, Miss Marple, Hercule Poirot, Columbo, Philipp Marlowe, Robert Langdon, Magnum, Kurt Wallander, Kommissar Maigret und so weiter und so weiter bis in alle Ewigkeit, aber auch die berühmten Einzelstücke wie CHINATOWN und der NAME DER ROSE. Mal geht es darum, herauszufinden, wer es war. Mal geht es eher um das Warum. Blake Snyder macht da viel Aufhebens um das „Whydunit“ statt „Whodonit“. Sei’s drum. Manchmal - wie bei Columbo - geht es darum, den sich in Sicherheit wiegenden Bösewicht zu überführen durch ein Beweisstück oder indem man ihm eine Falle stellt und er sich verplappert. Die Sendeplätze und der Buchmarkt quellen über von Ermittlerkrimis. Sind nicht diese Ermittlungen auch allesamt Plausibilisierungen? Selten, denn es gibt einen entscheidenden Unterschied, der im direkten Ver‐ gleich zu Filmen wie ANGEL HEART und SE7EN sehr offen zutage tritt: 2. Die Plausibilisierung 94 <?page no="95"?> Der Antagonist läuft beim Whodunit dem Ermittler davon, bei der Plausibilisierung läuft er auf den Ermittler zu. Im „normalen“ Whodonit-Whydonit-Howdonit-Krimi will der Ermitt‐ ler etwas vom Antagonisten erfahren (meist die Wahrheit, also sein Motiv etc.) und ihn somit überführen. In der Plausibilisierung will der Antagonist etwas vom Ermittler! In diesen Geschichten läuft ein (böser) Masterplan ab, in dem der Ermittler eine der Spielfiguren ist. Was immer wir - Zuschauer und Ermittlerheld im Team - also erreichen, erkennen, entdecken, es entpuppt sich nur als Teil eines Planspiels, deren Fäden ein anderer gewoben hat. Der Master of Puppets siegt. Manchmal beziehungsweise viel zu oft wird noch eine Wendung drangepappt, in der wir doch noch alles zum Guten biegen können. Das ist aus ästhetischer Sicht meist schade und falsch. Tolle Pläne sollen doch gelingen! Se7en „If you kill him, he will win.“ Trotz dieser Warnung von Morgan Freeman erschießt Brad Pitt den von Kevin Spacey gespielten Serienkiller unmittelbar danach. Der Böse siegt am Ende. Selbst durch seinen eigenen Tod. So will es die Plausibilisierung. In dem weltbewegenden Thriller SE7EN sollte es nach Meinung des Drehbuchautors Andrew Kevin Walker eigentlich auch einen Show‐ down geben, in dem der von Brad Pitt gespielte Polizist den Mord an seiner Frau in letzter Sekunde verhindern kann. Die Legende besagt, dass Brad Pitt von den Änderungsideen David Finchers für das Finale, das den Film dann tatsächlich so weltbewegend machte, derart angetan war, dass die Produzenten, um die Mitarbeit des Stars nicht Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 95 <?page no="96"?> aufs Spiel zu setzen, gezwungen waren, dieses uns allen bekannte, niederschmetternde Ende zu drehen. Wem auch immer wir hierfür danken müssen, es lehrt uns zum wiederholten Male Folgendes: Auf das Ende kommt es an. SE7EN ist nur zum Schein ein Ermittlerkrimi. Denn der gesuchte und bis dahin völlig unbekannte Serienkiller, dessen Mordmuster nach den sieben Todsünden abläuft, stellt sich selbst. Ohne Not! Solch eine Wendung wäre für einen Ermittlerkrimi ein großer Fehler und damit für den Zuschauer eine große Enttäuschung. Hier aber katapultiert es uns nach zwei Dritteln des Films ungebremst von einem angenom‐ menen Erzählkonzept, nämlich dem des Whodunit, in ein anderes, das eigentliche, das der Plausibilisierung. All die schlimmen Taten, die Akribie und planerischen Höchstleistungen in der Vorbereitung, all das - ahnen wir langsam - wird plausibilisiert. Es ging die ganze Zeit um etwas ganz anderes. Meist geht es um Rache. Hier allerdings geht es dem Killer um ein Kunstwerk, das in der Handlungswelt des Films mehr als schrecklich ist und das die Polizisten mit allen Mitteln zu verhindern suchen. In der Welt der Analyse filmischer Narration ist dieses Kunstwerk aus Folter, Leid und Tod wunderschön und findet unter unseren widerstrebend billigenden Augen seinen Weg zur Vollendung. Diese Vollendung macht nicht nur die Erzählung plausibel, sondern schafft auch noch die Voraussetzung für die Wucht und Wirksamkeit der thematischen - hier gesellschaftskritischen - Aspekte des Films. Fincher und sein Bösewicht lassen uns schonungslos in den Abgrund einer dekadenten und sich bereits im Untergang befindlichen Welt blicken. Und wir haben dem wenig entgegenzusetzten. Aber es geht noch eine Stufe dunkler und deprimierender. 2. Die Plausibilisierung 96 <?page no="97"?> Angel Heart „Ich weiß, wer ich bin.“ Am Höhepunkt des Films wiederholt Mickey Rourke als Privatdetektiv Harry Angel den Satz mit tränenerstickter Stimme mehrere Male: Ich weiß, wer ich bin. Er klammert sich verzweifelt an dieses Cogito ergo sum. Denn er irrt. Genau diese letzte Gewissheit, zu wissen, wer man ist, gibt normaler‐ weise einem Helden in einer Welt, sei sie noch so hässlich, voller Intrigen, Düsternis und Verwesung, die Möglichkeit zu wählen. Ent‐ weder wird er zu einem resignierten Kämpfer (wie Philipp Marlowe, Kurt Wallander oder Morgan Freeman in SE7EN), einem idealistischen Kämpfer (wie Neo in MATRIX oder Miss Marple) oder einem flie‐ henden Kämpfer (wie Jonathan Pryce in BRASIL, Harrison Ford in MOSQUITO COAST, sogar die gequälte Seele Leonardo DiCaprios in SHUTTER ISLAND). Auch der selbstgewählte Tod kann eine solche Flucht sein. Doch diese Wahl hat Harry Angel nicht. Er ist als Figur in seinem Leid und seiner Verdammnis damit auch einzigartig in der Filmgeschichte. ANGEL HEART ist eigentlich eine sehr straighte Geschichte. Der Film erscheint zunächst als Ermittlerkrimi. Ein Detektiv im New York der 50er Jahre wird ganz zu Anfang beauftragt, eine bestimmte Person zu finden. Der Detektiv ermittelt und kommt im Laufe der gesamten Filmhandlung der Lösung tatsächlich Schritt für Schritt näher. Bis er die Lösung am Ende gefunden hat. Er soll einen verschollenen ehemaligen Schnulzensänger ausfindig machen, der dem Auftraggeber - so nimmt Harry Angel an - etwas schuldig ist. Geld, eine Gefälligkeit, wir wissen es nicht. Sein Weg führt ihn in die Südstaaten der USA, wo er mit allerlei Voodoo und Okkul‐ Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 97 <?page no="98"?> tismus in Berührung kommt. Die Auflösung ist ein überwältigender Twist. Von dieser Sorte Twist mit dieser maximalen Wirkung gibt es nur ganz wenige in der Welt der überwältigenden Filmtwists, und ihnen ist gemein, dass sie die Identität der Hauptfigur ganz und gar umdeuten. Genau acht Filme haben bisher erfolgreich einen solchen Twist zum Zentrum ihrer Narration gemacht: ANGEL HEART THE SIXTH SENSE THE OTHERS SHUTTER ISLAND FIGHT CLUB MOON OBLIVION WIR Wobei WIR ein Wackelkandidat ist. Dazu später. THE SIXTH SENSE und THE OTHERS nutzen dabei die identische narrative Auflösung. Wow! Ich bin gar kein Mensch, sondern ein Geist! Ebenso das Pärchen MOON und OBLIVION. Wow! Ich bin gar kein Mensch, sondern ein Klon! Wer mit welcher Idee zuerst da war und wer von wem geklaut oder sich bedient hat, und welcher Film daher der jeweils bessere ist, sei dahingestellt. Alle genannten sind Meilensteine der Erzählkunst. Die Auflösung der wahren Identität von Harry Angel basiert auf einer Aneinanderreihung von so unglaublichen und erklärungsbedürftigen Tatsachen, einer Verkettung von Umständen, Zufällen und natürlich auch übernatürlichen Vorgängen, dass es eine nicht zu überbietende 2. Die Plausibilisierung 98 <?page no="99"?> Höchstleistung des Films und damit seiner Macher ist, hier am Ende eine Plausibilisierung zu bewerkstelligen. Wenn man sich vergegenwärtigt, was alles geschehen sein muss in der Backstory, damit die Geschichte um den Detektiv Harry Angel, der eigentlich der Schnulzensänger Jonathan Liebling ist, der sich Johnny Favorite nannte und mit dem Teufel im Bunde stand, konsistent und damit plausibel wird, erkennt man, wie hoch die Latte lag. Man muss den Film nicht unbedingt analysieren und den Versuch un‐ ternehmen, ihn in all seinen erzählerischen Mechaniken auf Logik und Konsistenz zu prüfen. Man kann es auch einfach sein lassen. Er wirkt immer auch auf einer gefühlten Ebene. Das Ende wird vom Zuschauer als richtig empfunden. Erfolgreiche Plausibilisierung? Haken dran. Aber versuchen Sie mal die Story mit ihrer Auflösung jemandem zu erzählen, zu pitchen. Das geht zwar, aber es wird von Ihrem Gegenüber als abstrus und geradezu aberwitzig angesehen, was ihm hier als ernste und tragische Geschichte verkauft werden soll. Wenn wir aber trotzdem die totale Transparenz und „Entzauberung“ herstellen wollen, wird es unglaublich kompliziert. Wir werden es dennoch wagen. Der Film spielt zwar ganz und gar im Diesseits (abgesehen von Harry Angels Fahrstuhlfahrt in die Hölle, die in den Abspann geschnitten ist), die Motivationen von Protagonist (Harry Angel) und Antagonist (Der Teufel) und auch deren Backstory-Konflikt sind jedoch in zwei Welten, dem Diesseits und dem Jenseits, anzusiedeln. Auch vermeidet es das Drehbuch, das Alan Parker auf Grundlage eines Romans verfasste, klar anzusagen, welche übernatürlichen Kräfte der Teufel im Diesseits hat. Dieses bewusste Vermeiden geschieht aus mehreren guten Gründen. Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 99 <?page no="100"?> Erstens war Alan Parker vor allem ein Regisseur mit Style und Geschmack und viel weniger ein Hirnakrobat oder Spezialist für verschachtelte Knobeleien. Er ist auch kein Genreregisseur. Der von Robert De Niro dargestellte Teufel ist nicht nur der eindrücklichste Auftritt einer Teufelsfigur in der gesamten Filmgeschichte, sondern auch das einzige übernatürliche Element im gesamten Œvre von Alan Parker. Zweitens ist er so klug gewesen, sich dieser Tatsache bewusst zu sein. Drittens folgerte er daraus zutreffend, dass eine vollständige Analyse auf der Logikebene nur ex post möglich sein wird und er mit allerhöchster Präzision in allen Disziplinen vorgehen muss, damit der Twist überhaupt funktioniert. Das Setting, die Bildsprache, die Musik, die Inszenierung, die Schauspieler. Alles. Wir werden aber im Folgenden sehen, dass - kleinlich und neunmal‐ klug wie wir sind - der Plot und die Motivationen der Figuren zwar zunächst hinter Geheimnissen verborgen, aber konsistent sind von A bis Z. Vieles, nicht nur die genaue Wirkweise der Zauberkräfte des Teufels, müssen wir uns hier erschließen. Es wird im Film weder gezeigt, noch erklärt. Der Backstory liegt ein Masterplan des Protagonisten, Jonathan Lieb‐ ling/ Johnny Favorite zugrunde, der tüchtig schief ging. Dort ist vor über 12 Jahren Folgendes passiert: 1. Ein Mann, Jonathan Liebling, macht einen Pakt mit dem Teufel, um Erfolg und Reichtum als Sänger zu bekommen. Der Erfolg stellt sich ein. 2. Unser Jonathan Liebling alias Johnny Favorite will den Teufel jedoch hintergehen und verleibt sich eine fremde Seele ein, indem er das Herz eines anderen Menschen bei einem okkulten Ritual isst. Seine Wahl fällt auf einen Mann seines Alters ohne Angehörige, dessen Verschwinden keine großen Folgen haben wird: Harry Angel. Damit 2. Die Plausibilisierung 100 <?page no="101"?> kann er dem Teufel nach seinem Tod - also im Jenseits - entkommen. Im Diesseits aber kann der einen immer noch finden. Der Teufel muss sich zwar normaler, diesseitiger Mittel bedienen, aber er kann dich finden. Er kennt dein Gesicht, dein Umfeld, deine Freunde, dein Leben. 3. Doch bevor Johnny Favorite weitere Schritte zu seiner neuen Existenz gehen kann, wird er eingezogen und muss als Soldat in den 2. Weltkrieg. Eine erste unerwartete und unerwünschte Entwicklung in Johnnys Masterplan. 4. Obwohl er sich in der Etappe erfolgreich vor dem Kämpfen drückt (seine Sünde ist die Feigheit), wird er durch einen Bombenangriff so schwer verletzt, dass er sein Gesicht und sein Gedächtnis verliert. Das ist die zweite unerfreuliche Entwicklung in Johnnys Masterplan. 5. Im Krankenhaus wird ihm in vielen Operationen wieder ein Gesicht gezimmert. Und er hat großes Glück, er sieht so hübsch aus wie Mickey Rourke nun mal aussah in seinen frühen Jahren. Das ist natürlich ganz und gar unwahrscheinlich, geradezu unglaubwürdig. Es hat nichts mit übernatürlichen Elementen zu tun, sondern ist eine reine Handwerksleistung der Chirurgen. Ich kaufe das. Vor allem bei Mickey Rourke, dessen besondere Physiognomie sogar in einem weiteren Film dieselbe Anforderung, nämlich die des von Chirurgen gebastelten Gesichts, glaubhaft machte ( JOHNNY HANDSOME - DER SCHÖNE JOHNNY, Regie: Walter Hill, 1989). 6. Mit bandagiertem Gesicht und noch ganz und gar wirr im Kopf wird er von einer seiner vielen Geliebten, nämlich Margaret und deren Vater Ethan Krusemark, die auch seine Komplizen bei dem okkulten Ritual waren, aus dem Krankenhaus geholt und in New York ausgesetzt wie ein Welpe. Beide wissen erstens nicht, ob das Ritual zuvor erfolgreich war, und zweitens wie ihr Johnny Favorite jetzt aussieht. Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 101 <?page no="102"?> 7. Als Johnny sein Gedächtnis langsam wiedererlangt, ist es allerdings das von Harry Angel. Er geht davon aus, zwar ein Kriegstrauma zu haben, aber ansonsten ein ganz normaler Typ aus Brooklyn zu sein. Woher wüsste er sonst seinen vermeintlich eigenen Namen Harry Angel? False Memory in Extremform. Das ist durchaus glaubwürdig, denn er hatte sich nunmal in einem satanischen Ritual erfolgreich dessen Seele einverleibt. Im Film wird dieser zum Verständnis der Zusammenhänge wichtige Plotpoint nie erwähnt, geschweige denn erklärt. 8. Der Teufel glaubt auch 12 Jahre lang, dass sein Vertragspartner im Krankenhaus vor sich hindämmert und wartet auf dessen Ableben. Denn die Krusemarks hatten den Arzt bestochen, sodass der jahrelang vorgaukelt, der Patient sei noch da. Man muss sich den Teufel als vielbeschäftigten Mann vorstellen, der erst in einer Sache aktiv wird, wenn er Verrat wittert. 9. Ungefähr drei Jahre vor Beginn der Handlung hat der Teufel der blutjungen Tochter von Johnny Favorite, als sie gerade zur Frau erblüht war, ein Kind gemacht. Das und Weiteres, was im Vagen bleibt, sind Teil des bereits im Diesseits zu bezahlenden Preises für den Pakt mit dem Teufel. Damals ging der Teufel noch davon aus, dass sein Vertragspartner brav und dumpf im Krankenhaus liegt. Nicht mal die Tatsache, dass ein Nachkomme da ist, kann also tröstlich sein für die völlig verpfuschte Existenz der Hauptfigur. Sein Enkelkind ist der Sohn des Leibhaftigen! 10. Als der Teufel zufällig herausfindet, dass der Patient schon seit Jahren auf und davon ist, muss er mit ganz und gar weltlichen Mitteln, nämlich einer Anwaltskanzlei und deren Detektiven, auf die Suche nach ihm gehen. Nach Jonathan Liebling, der sich als Sänger Johnny Favorite nannte und jetzt als Privatdetektiv mit Namen Harry Angel 2. Die Plausibilisierung 102 <?page no="103"?> arbeitet. Das dauert ein paar Tage, nicht länger als eine Woche, erfahren wir. 11. Als er ihn gefunden hat, beauftragt er ihn damit, sich selbst zu suchen. Da beginnt der Film. Elf entscheidende Punkte, die nur zusammengenommen Licht ins Dunkel der Vergangenheit bringen. Das sind eine Menge Schritte. Der Wissende ohne Gewissen wurde zum Unwissenden mit Gewissen. Dem Plot des eigentlichen Films liegt dann ein Masterplan des Antago‐ nisten, des Teufels, zugrunde, der perfekt abläuft. Die Enthüllung der Backstory, die den gesamten Handlungsbogen des Films ausmacht, geschieht in Form von Dialogen. Es wird erzählt und erklärt. Das banale Credo „Show, don’t tell“ wird hier in seine Schranken gewiesen. Die Backstory wäre dafür auch zu kompliziert. Die Alternative für diesen Film ist wie so oft im Krimigenre das viel erzähl-ökonomischere Gegenteil, der (Erklär)-Dialog. Und alles, was Harry Angel in diesen Gesprächen erfährt, ist die reine Wahrheit. Harry Angel selber flunkert hier und da ein bisschen. Harmlose Tricks eines Berufsschnüfflers. Ethan Krusemark will sich herausreden, nach etwas Druck packt er aber die volle Wahrheit aus. Keiner lügt Harry Angel an in diesem Film! Niemand. In einem Krimi! Nicht mal der Teufel, der große Lügner, Vater der Lüge und Verführer. Kein. Einziges. Mal. Der Moment des Erkennens ist dann wiederum filmisch, also visuell. Harry Angel findet die Vase in Margaret Krusemarks Wohnung, zerbricht sie und liest den Namen auf der darin befindlichen Erken‐ nungsmarke: Harry Angel. Nun hat er Gewissheit. Alles, was er an Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 103 <?page no="104"?> Ungeheuerlichkeiten soeben erfahren hat von Ethan Krusemark, ist wahr. Das allerletzte noch fehlende Puzzlestück schließlich ist er selbst. Der „alte“ Johnny war ein ehrgeiziger, skrupelloser Emporkömmling. Ein Mörder. Der darf doch, der muss doch bestraft werden! Könnte man meinen. Doch die Tragik ist auch deshalb so groß, weil der Mensch, der jetzt bestraft wird, der „neue“ Johnny, ein netter, harmloser Loser ist. Das ist sein Charakter, den er von dem getöteten, dem eigentlichen Harry Angel eben auch übernommen hat. Es ist der nette Loser, der sich all diesen schlimmen Taten wird stellen müssen. Er wird auf dem elektrischen Stuhl sitzen und dann ewig in der Hölle leiden. Die Hölle, ein wenig können wir im Abspann von ihr erhaschen, ist natürlich kein Fegefeuer im klassischen Sinn mit Glut und Geschrei. Es ist die ewige Erkenntnis des Selbst, der immerwache Zustand des Wissens um die eigene Schwäche und die eigenen Verfehlungen. Die echte Hölle eben. Selbst für die Geister in THE OTHERS und THE SIXTH SENSE gibt es eine Erlösung, durch die Selbsterkenntnis, durch die Akzeptanz der eigenen Identität und Rolle. Außerdem sind es nur Geister. Die Klone in MOON und OBLIVION haben nachdem sie sich freigekämpft haben aus ihren Zwängen zumindest eine Chance auf ein bisschen selbstbestimmtes Restleben. Außerdem sind es nur Klone. Leonardo DiCaprio als Patient, der sich für einen Polizisten hielt in SHUTTER ISLAND, ist mit Sicherheit die gequälteste aller Seelen im diesseitigen filmischen Kosmos. Er leidet an einem Doppeltrauma. Aber auch er lässt die Zwänge hinter sich. Er hat am Ende eine Wahl und entscheidet sich. Und er hat irgendwann mal ganz und gar Ruhe, nämlich nach seinem Tod. Harry Angel hingegen ist die gequälteste aller Seelen im gesamten Filmkosmos inklusive Teufel und Jenseits. Er hat nicht mal nach seinem Tod Erlösung zu erwarten. 2. Die Plausibilisierung 104 <?page no="105"?> Teufelspakt, Betrug, Seelenwanderung, Amnesie, ein neues Gesicht, das niemand kennt auf der ganzen Welt. Hinzu kommen im Verlauf der Filmhandlung fünf bestialische Morde, die unbewusst, in Trance, unter dem Einfluss des Teufels begangen wurden. Das ist in einem solch hohen Maße unplausibel! Doch am Ende sagen wir zu allem Ja. Wir halten alles für plausibel. Ungeheuerlich, aber plausibel. Es ist nicht nur eine große Leistung von Alan Parker, dieses Stück hochkomplexer Narration in Form eines Films sicher nach Hause zu bringen, wo doch an so vielen Stellen Fallstricke lagen und Scheitern drohte. Es ist bei allem Teufelshokuspokus und Okkultismus in der motivischen Welt des Films auch eine herausragende Leistung, die nicht genug gewürdigt werden kann, dass er es schaffte, gänzlich auf den Antagonismus christengöttlicher Allmacht versus Teufels-Power zu verzichten. Nicht ein Mü davon steckt in dem Film. Guter Stil ist die Abwesenheit von schlechtem Stil. Parker war ein Meister darin, und ANGEL HEART sein Meisterwerk. Die Schwierigkeiten der Matrize MATRIX (Regie: Andy und Larry Wachowski, 1999) geht einen anderen Weg. Die Auflösung der Identität des Helden ist eine Auflösung der gesamten Identität der Welt des Helden. Auf einer philosophischen Ebene zeigt sich durch diese Beobachtung, dass das komplexe Ding der Identität eines Individuums nicht getrennt von der Lebenswelt dieses Individuums zu verstehen und zu beschreiben ist. Der große Unterschied bei MATRIX ist aber, dass dieser Umdeutungstwist bereits in der Exposition der Geschichte stattfindet. Diese Entscheidung war durchaus nachvollziehbar, was noch deutlicher wird, wenn man die thematisch artverwandten Filme THE 13TH FLOOR und WELT AM Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 105 <?page no="106"?> DRAHT daneben betrachtet. Der Preis dafür ist, dass der Film seinen künstlerischen und erzählerischen Höhepunkt im ersten Akt hat. Dennoch ist MATRIX natürlich eine Plausibilisierung. Aber die Frage, deren Antwort den entscheidenden Faktor der Plausibilisierung aus‐ macht, ist eben nicht mehr, ob unsere Welt eine Simulation ist und ob wir alle von Maschinen kontrolliert an Drähten hängen. Das schlucken wir nach wenigen Minuten. Sondern ob Keanu Reeves alias Neo jetzt der Auserwählte ist oder nicht. Und ob damit der Kampf der Menschen gegen ihre maschinellen Ausbeuter eine Chance hat. Blake Snyder hat dafür einen Begriff geprägt, der bei der Analyse narrativer Strukturen im Genrefilm einen messerscharfen Blick auf eine problematische Vermengung bietet: der Double Mambo Jumbo. Es handelt sich dabei um zwei übernatürliche Elemente, die unabhängig voneinander in einer Geschichte existieren. Bei MATRIX ist das zum einen die Matrix und zum anderen das Auserwähltsein (durch wen eigentlich? Gott? Die Götter? ). Der Double Mumbo Jumbo ist wirklich eines der ganz wenigen No-Gos im phantastischen Film. Er begegnet einem aber immer wieder und nur wenige Filme wie MATRIX oder auch SHINING (Regie: Stanley Kubrick, 1980), bei dem es sowohl das „Shining“ als übersinnliche Fähigkeit des Jungen, als auch das sogenannte „Haunted House“ in Form des Overlook Hotels mit all seiner düsteren Vergangenheit gibt, überstehen diesen Fehler (fast) unbeschadet. LOOPER (Regie: Rian Johnson, 2012) leidet immens an seinem offensichtlichen Double Mumbo Jumbo. Dort stehen sich Zeitreise und Telekinese gegenseitig auf den Füßen und im Weg. MATRIX ist zudem geradezu beispielhaft für einen Film, dessen Nar‐ ration eine ganze Hand voll von Erzählkonzepten zu Grunde liegen. Worldbuilding, Synthetische Narration, Was-Wäre-Wenn-Prämisse und 2. Die Plausibilisierung 106 <?page no="107"?> eben die Plausibilisierung. Dominierend ist hier eine besonders kom‐ plexe Form des Worldbuilding. Viele Zuschauer sind bei dem esoterisch-philosophischen Mischmasch von MATRIX zwar beeindruckt und unterhalten, aber auch gleichzeitig über- und unterfordert. Das erstaunlich unspektakuläre Ende des Films muss als deutliches Indiz dafür gesehen werden, dass die erzählerische Suppe dünner und dünner wird, nachdem die fetten Brocken früh rausgelöffelt und verputzt wurden. Style und Action machen dennoch den Film zu einem großen Vergnügen bis zur letzten Sekunde. Es zeigt sich, dass vor allem im Bereich des Genrefilms sowohl die strenge Fo‐ kussierung auf ein einziges Erzählkonzept als auch in Ausnahmefällen ein Nebeneinander mehrerer Erzählkonzepte einen guten Film ergeben kann. MATRIX rettet sich hinüber in das exklusive Grüppchen der guten Genrefilme, weil er neben Style und Action auch noch thematisch extrem interessant ist. Nicht eine falsch verstandene Konsequenz oder eine apodiktische Beschränkung auf ein einziges Konzept sind im Sinne der Anwendung der Systematik der Erzählkonzepte zielführend, sondern das klare Be‐ wusstsein davon, welche narrativen Konzepte gelten und wirken. Identität, Rolle, Welt. Alles tanzt den Twist. Identität Es gibt zwei Voraussetzungen dafür, dass ein echter Identitäts-Twist wie in den genannten acht Filmen (ANGEL HEART, THE SIXTH SENSE, THE OTHERS, SHUTTER ISLAND, FIGHT CLUB, MOON, OBLIVION, WIR) gelingen kann: Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 107 <?page no="108"?> Erstens muss mit der Hauptfigur, deren Identität umgedeutet wird, die totale Identifikation stattfinden. Diese Geschichten benötigen eine klare Erzählperspektive, die in der Hauptfigur liegen muss. Das ist zwar häufig so, aber nicht selbstverständlich. Man denke an DIE VERURTEILTEN (Regie: Frank Darabont, 1994). Die Hauptfigur ist der von Tim Robbins gespielte Andy Dufresne, die Geschichte wird aber von Morgan Freemans Figur Red erzählt. Zweitens muss gewährleistet sein, dass die Hauptfigur keinerlei Anlass hat, an ihrer Identität zu zweifeln. Wenn also ihr und uns Zuschauern bekannt ist, dass es Erinnerungslücken oder gar eine Amnesie gegeben hat, dann kann die Auflösung der (wahren) Identität der Hauptfigur zwar immer noch überraschend und konsistent und plausibel sein. Die Wirkung ist aber viel geringer. Wir erschrecken uns ja auch in der Geisterbahn, obwohl wir wissen, dass wir in der Geisterbahn sitzen und gleich erschreckt werden. Wenn aber beim entspannten abendlichen Spaziergang plötzlich eine Monsterfratze um die Ecke guckt! Das ist eine andere Dimension von Schrecken, die echte Angst und Fluchtreflexe auslöst. Amnesie ist ein perfekter Mechanismus, um schnell und ökonomisch Identifikation mit einer Hauptfigur herzustellen, da Zuschauer und Hauptfigur den gleichen Wissenstand haben in allen Belangen der rätselhaften Ereignisse einer Geschichte, nämlich Null. Doch diese Figuren und wir Zuschauer wissen, dass wir in der Geisterbahn sitzen. Wir Zuschauer sind daher total gespannt, was in der Backstory wirklich Sache ist, aber dadurch auch auf alles gefasst. Die Fassungslosigkeit und Beklemmung, die uns ein Twist wie in ANGEL HEART, THE OTHERS oder MOON bereitet, können die Geschichten mit Amnesie wie DIE BOURNE IDENTITÄT, ICH.DARF.NICHT.SCHLAFEN., THE I INSIDE oder TOD IM SPIEGEL 2. Die Plausibilisierung 108 <?page no="109"?> niemals hervorrufen. Und zwar nicht deswegen, weil sie dramaturgisch Fehler machen oder sonst irgendwas nicht stimmt. Aber ihre erzähleri‐ sche Substanz unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt: Wissen Protagonist und Zuschauer, dass die Identität des Protagonisten zur Disposition steht, oder nicht? Daher gehört auch der zwar nicht sehr tiefschürfende, aber amüsante Film IDENTITY (Regie: James Mangold, 2003) nicht zu der erlauchten Gruppe von acht Filmen mit erfolgreichem Identitätstwist. Er trägt seinen narrativen Charakter als Brainfuck-Rätselspaß offen im Titel vor sich her. Wenngleich auch die Protagonisten nichts ahnen von dem Bäumchen-wechsel-dich-Spiel der Identitäten, der Zuschauer weiß von Anfang an, dass es in der Geschichte um ebendiese Fragen gehen wird. WIR habe ich als Wackelkandidat des Identitätstwists bezeichnet. Das ist ein wenig haarspalterisch, gebe ich zu. Doch auch, wenn WIR einer der herausragenden Horrorfilme der letzten Jahrzehnte ist und weit über seine Genregrenzen hinaus ohne didaktisch bemüht zu sein ein ganzes Tableau von thematisch brisanter Relevanz offeriert, so spielt diese Auflösung der Identität der Hauptfigur nicht die eine, die wesentliche Rolle beim Verständnis irgendwelcher übernatürlicher Ereignisse. In WIR wird das Subgenre des Home Invasion Thrillers auf eine Metaebene gerückt. Jedes Familienmitglied der im Zentrum stehenden Familie und im Weiteren alle Menschen unserer Welt wer‐ den mit ihrer jeweiligen Spiegelidentität, ihrem Doppelgänger kon‐ frontiert. Sie tauchen einfach auf und suchen uns aufs Gewalttätigste heim. Die unterdrückte, im wahrsten Sinne des Wortes untergründige Spiegelidentität tötet sein Pendent und nimmt dessen Platz ein. Dieses apokalyptische Szenario bleibt auch nach dem Twist, in dem die Hauptfigur der Mutter sich daran erinnert, dass sie bereits als Kind Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 109 <?page no="110"?> den Platz mit ihrem Spiegelbild getauscht hat, rätselhaft, allegorisch und ungeklärt. Die angedeuteten Erklärungen mit Klonprogrammen der Regierung sind keine echte und ernste Antwort auf die rätselhaften Ereignisse. Sie bleiben unter der Perspektive der Logik inkonsistent. Dies ist kein Fehler, kein Unvermögen von Jordan Peele, sondern das bewusste Verwenden von allerhand Tropen des Genres mit iro‐ nisch-satirischer Distanz. Das Ende, also die ungewisse Zukunft der Familie und die der gesamten Menschheit, bleiben im Sinne einer narrativen Plausibilisierung unplausibel. Das Ende bleibt offen. Die in‐ dividuelle Geschichte unserer Hauptfigur aber, ihre besondere Vergan‐ genheit (ihre Backstory), ihre besonderen Fähigkeiten, ihre besondere Rolle und damit auch das Überleben ihrer Familie, diese Geschichte hat ein geschlossenes Ende. Diese Geschichte ist eine mustergültige Plausibilisierung, deren narrativer Höhepunkt der Identitätstwist ist. Rolle Es gibt eine Reihe von Filmen, die zurecht für ihre Twists bekannt sind. Diese Filme deuten nicht die gesamte Identität einer Figur um, sondern lediglich ihre Rolle, die sie in einer Geschichte innehat. Darunter sind zum Beispiel ZEUGIN DER ANKLAGE (Regie: Billy Wilder, 1957) ZWIELICHT (Regie: Gregory Hoblit, 1996) oder SAW (Regie: James Wan, 2004) oder THE WICKER MAN (Regie: Robin Hardy, 1972). Ein Polizist fliegt auf eine abgelegene schottische Insel, um dort nach einem verschwundenen kleinen Mädchen zu suchen. Keiner scheint das Mädchen dort zu kennen, geschweige denn zu vermissen. Nicht mal die vermeintliche Mutter. Der Polizist irrlichtert umher in einem mysteriösen Geflecht von heidnischen Kulten und einer Mauer des Schweigens. Doch schnell wird ihm klar: Hier wird etwas vertuscht. Sein Berufsethos, das speziell in diesem Fall nicht von seinem christlichen Glauben zu trennen ist, lässt es nicht zu, dass 2. Die Plausibilisierung 110 <?page no="111"?> er aufgibt. Und tatsächlich findet er das Mädchen, kurz bevor ein mysteriöses, heidnisches Ritual an ihm vollzogen werden kann. Doch dann der Twist. Nicht das Mädchen ist vorgesehen für das alljährliche Fruchtbarkeitsopfer, er ist es. Es vollendet sich ein Masterplan, der routiniert und stets ungefährdet seinen Lauf nahm. Der Polizist, ein biederer aber netter Kerl, wie wir inzwischen festge‐ stellt haben, wird mitten am Tag, unter den Augen der gesamten Inselbevölkerung inklusive des kleinen Mädchens an der Hand seiner Mutter, zusammen mit allerlei lebendem Getier in einer riesigen, aus Weiden geflochtenen Skulptur lebendig verbrannt. Bei Robin Hardys für den Super-End-Twist berühmten One Hit Wonder THE WICKER MAN ist der Ermittler eigentlich das Opfer. Das Opfer ist eigentlich der Köder, die Zeugen (und zwar alle) sind die eigentlichen Täter. Rolle und Identität sind unterschiedliche Kategorien. Auch wenn ich merke, dass ich in einem Spiel - und sei es ein tödliches Spiel - eine andere Rolle spiele, als zuvor angenommen, so bleibe ich dennoch ich selbst. Ich hadere mit mir, dass ich die Zeichen nicht früher richtig deuten konnte, dass ich blind war für die Wahrheit. Der Preis für das eigene Versagen ist hoch, oft der Tod. Doch ich war, bin und bleibe Ich. Aber auch die geradezu betrügerisch agierenden, auf einen billigen Twist und einen Hype hingebastelten Filme wie THE LOFT (Regie: Erik Van Looy, 2008 bzw. 2014) und NOW YOU SEE ME (Regie: Louis Leterrier, 2013) haben spektakuläre Twists. Diese Geschichten treten in der Disziplin Plausibilisierung an, schaffen die Plausibilisierung aber nicht. Und das aus Perspektive der kreativ Verantwortlichen entweder mit sehenden Augen, weil sie skrupellos sind, oder unbewusst, weil sie vom Geschichtenerzählen keine Ahnung haben. Entscheiden Sie selbst, was schlimmer ist. Denn diese Filme zeigen das bewusste Agieren der Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 111 <?page no="112"?> Figur, deren Rolle eigentlich eine andere ist, nicht auf plausible Weise. Sie zeigen es auf manipulative und unehrliche Weise. „Moment! “ Höre ich Sie denken. „Figuren dürfen doch manipulativ und unehrlich sein. Das macht doch oft erst Spannung und Thrill aus! “ Ja, aber sie dürfen nicht unehrlich dem Publikum gegenüber sein. Das ist der Fall, wenn sie in Szenen, in denen sie alleine agieren, also unbeobachtet sind, immer noch ihre wahre Rolle und ihre wahre Agenda verbergen. Der Betrug besteht also nicht darin, dass wir getäuscht wurden über ihre Absichten, Motive und ihre Rolle, sondern er besteht darin, dass wir uns unter diesem falschen Bild mit ihnen identifiziert haben. Und zur Identifikation braucht es Szenen, in denen der Zuschauer mit einer Figur alleine ist. Wo wir die Figur so sehen, wie sie wirklich ist. Schauspieler und Regisseure kennen das als den sogenannten Private Moment. Regisseure und vor allem Cutter wissen um die Wichtigkeit dieser Momente beim Austarieren der Erzählperspektive und der Screentime einzelner Charaktere. Welt Eine nächste Art Twist ist die Umdeutung der Filmwelt, das heißt eine Umdeutung der Mechanismen, die eine Welt am Laufen halten und konsistent machen. Beispiele sind hier natürlich MATRIX und der artverwandte DARK CITY. Ebenso THE VILLAGE, JACOB’S LADDER, VANILLA SKY, eXistenZ, THE SIGNAL, alle möglichen Folgen der Serie TWILIGHT ZONE wie zum Beispiel „The Eye oft the Beholder“ und natürlich die Urmutter aller Weltentwists: PLANET DER AFFEN. In MATRIX ist die Welt eigentlich eine postapokalyptische Müllhalde, in der ein Kampf Menschen gegen Roboter stattfindet, und die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, ist die Matrix, eine Illusion für unseren 2. Die Plausibilisierung 112 <?page no="113"?> anspruchsvollen aber manipulationsanfälligen Geist, in der nur unsere Avatare rumlaufen. In THE VILLAGE (Regie: M. Night Shyamalan, 2004) ist die Welt der Filmhandlung nicht ein abgeschiedenes Dorf im 19. Jahrhundert, sondern ein künstlich geschaffenes Reservat für Aussteiger im Hier und Jetzt. Das Tolle ist: Die ältere Generation der Bewohner weiß das natürlich, aber verschweigt es aus nachvollziehbaren Gründen vor der jüngeren Generation, die im Dorf geboren ist. Die Hauptfiguren und vor allem die blinde Hauptfigur, mit der wir uns als Zuschauer identifizieren, gehören zur jungen Generation und wissen also nichts von der wirklichen Beschaffenheit ihrer Welt. So kann der Weltentwist perfekt funktionieren. Ohne Betrug am Zuschauer! In JACOB’S LADDER (Regie: Adrian Lyne, 1990) ist die Welt der Film‐ handlung im Jahre 1990 eine Imagination eines sterbenden Soldaten im Vietnamkrieg irgendwann in den 60er Jahren. Das ist ein relativ häufig verwendeter Kunstgriff, literarisch erfunden 1891 von Ambrose Bierce in der Kurzgeschichte „An Occurence at Owl Creek Bridge“. In eXistenZ (Regie: David Cronenberg, 1999) ist die Filmwelt ein scheinbares Wechselspiel zwischen der virtuellen Welt eines Spiels und der Realität. Diese „Realität“ entpuppt sich als virtuelle Ebene eines weiteren Spiels, das eine reale Welt nur vorgaukelt. Ein Jonglieren mit Ebenen, das erzählerisch ad infinitum weitergeführt werden kann. Der PLANET DER AFFEN (Regie: Franklin J. Schaffner, 1968) ist nicht, wie angenommen, ein ferner Planet, sondern die zukünftige Erde. Zurecht der berühmteste Weltentwist aller Zeiten. Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 113 <?page no="114"?> Metaphysische Inkonsistenz Alle diese Beispiele liegen ein paar Jahre zurück in der Filmgeschichte. Es ist auch ein höchst ambitioniertes Vorhaben, einen guten Rollen‐ twist zu erzählen. Ein gelungener Weltentwist ist noch schwieriger. Der Identitätstwist ist ein bisher lediglich achtmaliges Großereignis im gesamten filmischen Universum. Doch wir sollten so großzügig sein, bereits den Versuch zu loben. Steven Knights IM NETZ DER VERSUCHUNG von 2019 präsentiert einen solchen krachend gescheiterten Versuch. Das Scheitern ist of‐ fensichtlich, die Gründe jedoch - so klar sie auch sind - bedürfen einer genaueren Analyse. Der Twist nach zwei Dritteln Laufzeit eröffnet uns Zuschauern die wahre Beschaffenheit der Filmwelt. Der Ort des Geschehens ist keine reale karibische Insel, sondern ein Computer‐ programm. Geschaffen hat diese Welt der jugendliche Sohn der von Mathew McConaughey gespielten Hauptfigur. Der Film offenbart die Motivation dieses Jungen sehr klar: Er und seine Mutter werden vom Stiefvater misshandelt, der Sohn flieht in die Virtualität vor dem Com‐ puterbildschirm und imaginiert sich die Rettung durch den leiblichen Vater, indem dieser den bösen Stiefvater umbringen soll. Doch der Sohn als Schöpfer und Bestimmer taucht in dieser Welt als Figur, als Protagonist, gar nicht auf, stattdessen allerhand sehr eigenständig agierende Figuren: der Vater als Hauptfigur und Identifikationsobjekt, die Mutter, der Stiefvater und eine Hand voll Nebenfiguren. Alle diese Figuren haben hier ihre eigene Perspektive, ihre eigene Wahrnehmung und ihren jeweiligen freien Willen. Wie kann das sein? In einer limbusartigen Zwischenwelt ließe sich erzählen, dass jede Figur ihren eigenen Kampf kämpft, entweder auf ewig oder um irgendwann zu siegen und in die endgültige Ewigkeit hinüber gehen zu dürfen, wie der Kinderpsychologe in THE SIXTH 2. Die Plausibilisierung 114 <?page no="115"?> SENSE. Doch das gab es so oder so ähnlich schon und hier sollte dem Zuschauer etwas Neues kredenzt werden. Der Twist wird zu allem Übel auch noch häppchenweise verabreicht, was natürlich immer falsch ist und innerhalb dieses ungemein ambitionierten und eigentlich auch mutigen Projekts Ausdruck von fatalem Verzagen am eigenen Konzept ist. Doch hier verhält es sich noch schlimmer, noch viel dysfunktionaler. Der Weltentwist, der uns aus der physischen Welt in eine metaphy‐ sische Welt katapultiert, ist ja so umfassend, dass damit auch ein Identitätstwist der Hauptfigur einhergeht. „Ich bin gar kein realer Mensch! “ erfährt der arme Vater hier. „Sondern …“ ja was eigentlich? Es gibt keine Antwort darauf. Weder ist er ein Toter unter Lebenden, noch ein Toter unter Toten, noch ein Programm (wie Agent Smith in MATRIX) unter Lebenden, noch ein Programm unter Programmen. Cogito ergo sum - Ich denke, also bin ich. Dieser Mann denkt. Das können wir Zuschauer bestätigen. Denn wir haben uns mit ihm identifiziert, wir haben mitgefühlt und mitgedacht. Doch er ist nicht. Diese metaphysische Inkonsistenz hält keine Geschichte und kein Film aus. Kein Zuschauer macht das mit, egal was er oder sie von Descartes hält. Das wirtschaftliche Desaster dieses Films lässt auch einen tiefen Einblick in das Marketing-Dilemma eines solchen Filmvorhabens zu. Ist das nun als Erotik-Thriller oder als Science Fiction-Twist-Film zu behandeln und zu bewerben? Sobald wir dem Publikum im Marketing versprechen, dass ein die gesamte Welt umdeutender Supertwist auf ihn wartet, betrachtet er die gesamte Handlung bis zum Twist bereits mit gänzlich anderen Augen, er spekuliert und kreiert Hypothesen, was wiederum das Konzept des Films zerstört. Ein echtes Dilemma. Die erzählerische Substanz, so vermurkst sich das auch im Ergebnis Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 115 <?page no="116"?> darstellt, ist natürlich der Twist und damit ist IM NETZ DER VERSU‐ CHUNG ein Science Fiction Film, kein Erotik-Thriller. Enttäuscht sind letzten Endes beide Zuschauer, derjenige, der auf Science Fiction steht und derjenige, der einen Erotik-Thriller erwartet hat. Im Sinne des Verständnisses der filmischen Narration ist dieser zum Scheitern verurteilte Film eines überaus fähigen Autors und Filmema‐ chers Gold wert. Zum einen erkennt man die fatale Wirkung der unbeantwortbaren Frage der im Zentrum der Geschichte stehenden Idee. Und zum anderen erkennt man die Weite des Feldes filmischer Erzählformen und der dafür notwendigen Kreativität. Dieses Feld deckt kein Mensch, egal wie begabt und erfahren er auch ist, komplett ab. Real oder doch übernatürlich? Bei THE BOY (Regie: William Brent Bell, 2016) und ORPHAN (Regie: Jaume Collet-Serra, 2009) hangelt sich die Plausibilisierung an der Frage entlang, ob es eine natürliche oder doch eine übernatürliche Erklärung für die so unplausibel erscheinenden Ereignisse gibt. Und diese beiden Geschichten sind echte Horrorfilme, doch sie kommen ohne Geisterspuk aus. Es ist bei aller Liebe für den Geister- und Monster-Horror eine erzählerische Leistung, die man würdigen muss, wenn es für die höchst übernatürlich erscheinenden Phänomene eine Plausibilisierung in der realen Welt gibt. In THE BOY ist nicht der Geist eines toten Jungen in die Puppe gefahren und nun treibt diese ihr übernatürliches Unwesen, wie bei Tom Hollands CHUCKY - DIE MÖRDERPUPPE (1988). Sondern der Twist offenbart, dass der Junge den Brand im Haus überlebt hat und seit Jahren durch die hohlen Wände des herrschaftlichen Hauses wandelt. Die gruselige Puppe ist eine Puppe, nichts weiter. 2. Die Plausibilisierung 116 <?page no="117"?> In ORPHAN ist das neunjährige Adoptivkind, das skrupellos einen hochkomplexen Masterplan mit Mord und Intrigen ausheckt und in die Tat umsetzt, gar kein Kind. Sondern der Twist offenbart, dass sie eine psychopathische Erwachsene ist, die durch eine (seltene, aber tatsächlich existierende) Krankheit nur wie ein Kind aussieht. „Das ist aber konstruiert! “ ist als Kritik an einer Auflösung meist ne‐ gativ gemeint. Doch im Sinne einer funktionierenden Plausibilisierung ist das erst mal eine erzählerische Leistung, der eine - im besten Fall - neue und einzigartige Idee vorausgeht. Einem Kind, wenn es nicht gerade wie in DAS OMEN oder DER EXORZIST vom Teufel oder Dämonen besessen ist, trauen wir das Planen und Morden nicht zu. Einer psychopathischen Erwachsenen schon. Das Unplausible wird plausibel. The Ring Meist aber sind es genregemäß wirklich übernatürliche Kräfte, die am Werk sind, mal im Guten, wie die Geister in DAS WEISENHAUS. Aber meist im Bösen, so wie die unerbittliche Samara in THE RING (Regie: Gore Verbinski, 2002). THE RING ist eine Plausibilisierung anderer Art: Wir zweifeln schon sehr bald nicht mehr daran, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. Daher gibt es auch keinen Twist, der eine Identität, eine Rolle oder die gesamte Welt umdeutet, sondern einen Moment, der ein Finale einläutet und den man natürlich als Plotpoint oder großzügig auch als Twist bezeichnen kann: Nach langem Rätseln und Suchen ist es der Hauptfigur tatsächlich gelungen, die Leiche des von seinen eigenen Adoptiveltern getöteten Mädchens im Brunnen zu finden. Wenn das Unrecht, das dem Geist Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 117 <?page no="118"?> angetan wurde, erkannt und betrauert wurde, ist der Geist befriedigt und der Spuk in Geistergeschichten vorbei. Eigentlich. Doch hier folgt der vermeintlichen Klimax und dem sich anschließen‐ den vermeintlichen Durchatmen und Wunden Verarzten der tatsäch‐ liche Höhepunkt: Die Erkenntnis der tatsächlichen Beschaffenheit des Geistes Samara und ihrer tatsächlichen Absichten. Das gerettete Kind der Hauptfigur sagt es uns: Samara ist unbezwingbar und nicht zu besänftigen und fordert mehr Opfer bis in alle Ewigkeit. Es handelt sich um eine Erweiterung und dadurch Modernisierung des klassischen Geheimnisses der Geisterwerdung. Plausibilisiert wird das Leid der Eltern, die - obwohl sie keine schlech‐ ten Menschen waren - keinen Ausweg sahen, als den Kindsmord und den anschließenden Selbstmord. Ebenso plausibilisiert wird das Leid des Mädchens Samara, dessen Tod nicht nach Plan verlief, und das daher zum Geist wurde. Sie litt erbärmlich sieben Tage im dunklen Brunnen. Und es wird motivisch perfekt die Manifestation des Geistes durch ein Video und durch Bildschirme plausibilisiert. Man darf nicht nach Physik und Logik fragen, schließlich geht es um das Übernatür‐ liche, wohl aber darf man nach motivischer Konsistenz fragen. Und die ist da. Dem Geist ist durch nichts Irdisches beizukommen. Samara will auch keine Hilfe, nur ewige Rache. Sie war ja auch kein harmloses Ding, dem übel mitgespielt wurde und das so im Jenseits zum Geist wurde, der uns heimsucht. Sie war schon in ihrer irdischen Existenz durch und durch böse. Dieses konsequente und ausweglose Ende ist viel grauenvoller, als alle wirkungssicheren Schockeffekte und alles gruselige Gestöber in der Vergangenheit. Die Hauptfigur wird, um das Leben des eigenen Kindes zu retten, zum Komplizen, indem sie eine Kopie des Videotapes herstellt. Sie gibt das Böse wie einen Virus weiter. Das ist - trotz des 2. Die Plausibilisierung 118 <?page no="119"?> Überlebens der Hauptfigur und ihres Kindes - ein bitteres Unhappy End. Herbeigeführt mit rein narrativen Mitteln. Keine noch so gute Absicht, kein noch so ernst und fachgerecht durchgeführtes Ritual, keine Beerdigung der sterblichen Überreste und kein Exorzist lösen unsere eigene Verquickung mit dem unfassbaren Bösen. THE RING gibt somit ein klares Statement zu einer der größten Fragen der Menschheit, nämlich wie das Böse in die Welt kam und immer wieder kommt: Das Böse ist kein Unfall, keine Missgeburt, die wir aus der Ferne oder auf dem Bildschirm betrachten. Es kann nicht ausgetrieben werden. Es ist ein Teil von uns allen. THE RING ist - obwohl 20 Jahre alt - modernster Horror in Reinform. Twists, Twists, Twists. Genug gedreht. Wir wollen es mit der Besserwisserei nicht zu weit treiben. Daher kön‐ nen wir es auch weiterhin großzügig gestatten, dass jeder Plotpoint, der eine Information offenlegt, die zuvor im Verborgenen lag, als Twist bezeichnet wird. Auch wenn keine „Drehung“, keine echte Umdeutung damit verbunden ist, sondern lediglich eine Antwort auf eine Frage. Ob sie nun offen im Raum stand und uns die ganze Zeit unter den Nägeln brannte, oder ob die Frage erst gestellt wird, wenn die Antwort gegeben wird, beides ist möglich. Doch wir müssen einen Schritt weiter gehen in der Differenzierung dieser Art von besonderen Plotpoints und müssen daher auch solche von Fans geliebten Supertwists wie Darth Vaders an Luke Skywalker gerichteten Satz „Ich bin dein Vater! “ aus STAR WARS - DAS IMPERIUM SCHLÄGT ZURÜCK als das erkennen, was sie sind: effektvolle Momente, wichtige Plotpoints. Aber erzählerisch spielen sie höchstens in der 2. Liga. Im Falle von STAR WARS macht das nichts. STAR WARS ist neben der mustergültigen Heldenreise auf Dramaturgieseite offensichtlich Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 119 <?page no="120"?> ein Beispiel für sehr gelungenes Worldbuilding. Da sind all die anderen Erzählkonzepte, die sich mal zu Wort melden, Beiwerk. Wenn man den Weg von einer Idee zur erzählerischen Substanz und dem daraus folgenden Erzählkonzept betrachtet, ist es entweder der Identitätstwist, der Weltentwist oder der Rollentwist, der das Erzählkon‐ zept der auf Twists basierenden Plausibilisierung konstituiert. Wir betrachten nicht die Technik oder die Wirkweise des Twists, sondern seine Funktion und damit seine Eigenschaft als erzählerische Substanz. Diese Twists SIND die erzählerische Substanz. Wir haben anhand der Beispiele des Found Footage und des bis dato immer noch besten aller modernen Horrorfilme, nämlich THE RING, gesehen, dass es nicht immer die (Killer-)Twists sind, die den Zielpunkt einer vollumfänglichen Plausibilisierung darstellen. Doch es ist offensichtlich, dass es ohne eine Idee eines - Achtung wichtig! - spät im Verlauf der Handlung platzierten Plotpoints nicht geht im Erzählkonzept der Plausibilisierung. Die Beispiele ORPHAN und THE BOY zeigen im Gegensatz zu den Filmen des Found Footage, dass die Plausibilisierung nicht immer ganz am Ende des Films passiert. Bei diesen beiden für ein Genrepublikum gemachten Filmen folgt dem narrativen Höhepunkt, dem Twist, der Auflösung, noch ein Action-und Kampffinale. Aber - so gut und spannend das auch gemacht ist und so sehr wir auf das Überleben der Hauptfigur hoffen - erzählerisch sind diese Finales nur noch eine Pflichtübung. Noch nach vielen Jahren erinnern sich Zuschauer an den Twist, an diese tolle Idee. Aber ob die Frau am Ende überlebt hat oder doch getötet wurde…? Hm, vergessen. 2. Die Plausibilisierung 120 <?page no="121"?> Es war viel von Masterplänen die Rede. Nicht immer ist dieser vom Antagonisten ausgeheckte und im Verborgenen ablaufende Plan die Basis der gesamten Dramaturgie einer Plausibilisierungsgeschichte. Aber immer immer immer braucht der Autor beim Konzept der Plau‐ sibilisierung diesen Masterplan der Narration! BEVOR er loslegt auch nur ein Wort zu schreiben! Sonst geht der Plan, also die Narration, schief. Drauflos schreiben und sich dabei von seinen Figuren führen lassen geht nicht. Eine erstaunliche Beobachtung am Ende: Stephen King, der Meister des Horrors, schreibt keine Plausibilisie‐ rungen. Er ist der Meister des durchaus geschmackvollen Einlullens und der plausiblen Charakter- und Settingentwicklung. Er kreiert am laufenden Band sehr gute, sehr spannende Was-Wäre-Wenn-Prämissen, Hermetische Welten und Fantasy Welten, macht also Worldbuilding. Ideen für Konflikt-Konstellationen: Ja. Von hinten ausgerollte Master‐ pläne: Nein. Es gibt ein paar wenige Ausnahmen in Stephen King Filmen, die aber entweder in Zuge der Entwicklung des Drehbuchs von anderer Hand entstanden sind, wie in THE MIST (Regie/ Drehbuch: Frank Darabont, 2007), oder - obwohl einzigartiger Twist - einem anderen Erzählkon‐ zept zugehörig sind, wie in DIE VERURTEILTEN - THE SHAWSHANK REDEMPTION (Regie/ Drehbuch: Frank Darabont, 1994). Der Film basiert auf einer sehr guten, aber nicht auf der besten aller jemals von King geschriebenen Geschichten. Doch ist diese vom damaligen Kinopublikum weitgehend verschmähte und von der Kritik nur halb‐ herzig gelobte filmische Adaption seit Bestehen der imdb-Bestenliste unangefochten auf Patz 1. Der beste Film aller Zeiten, meinen die Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 121 <?page no="122"?> engagierten Vielgucker, die dort abstimmen. Wir werden im Kapitel Synthetische Narration sehen, warum. Die Stoff-Ideen der Plausibilisierung Die Idee, die zu einer tragfähigen Plausibilisierungsgeschichte führt, ist immer das Ergebnis einer Einzeltat. Solche Ideen werden nicht in Mee‐ tings, nicht beim Brainstorming ausgekaspert. Sie entstehen in dem metaphysischen Raum, in dem das Denken stattfindet. Das Denken eines kreativen Menschen mit erzähl-konzeptionellen Fähigkeiten. Ein solches Exemplar Mensch ist selten. Seine Blümchenwiese ist leer und einsam. Aus Grashalmen formt unser Schöpfer ein Geflecht. Er hält es gegen die Sonne und betrachtet seine Struktur. Sie ist entweder schön und vollendet oder zufälliger Mist. Dazwischen existiert nichts. Die Idee ist oft nicht neu. Trotzdem entstehen auf Grundlage nicht neuer Ideen viele Filme. Auch gute. Wenn die Idee wirklich neu ist, hat der Autor aus dem Nichts etwas geschaffen, das Millionen wert ist. Er ist Schöpfer und Zeuge eines Wunders. In literarischen Vorlagen gibt es bei der Plausibilisierung und den ihr zugrunde liegenden Ideen durchaus Schläfer. Ein Schläfer ist ein Werk, dessen geringer Erfolg in einem sehr ungünstigen Verhältnis zur hohen Qualität steht. In Romanen und Kurzgeschichten liegen sicher noch einige ungehobene Schätze für tolle filmische Plausibilisierungen. Vielleicht sind sie nur unbekannt und wenig erfolgreich, weil noch kein kompetenter Kopf draufgeschaut hat, vielleicht sind sie aber auch lite‐ rarisch schlecht umgesetzt und daher nicht erfolgreich. Das bedeutet, man ist gut beraten, die Augen für Vorlagen offen zu halten. Vielleicht steckt das Wunder bereits irgendwo zwischen zwei Buchdeckeln. 2. Die Plausibilisierung 122 <?page no="123"?> Bei Filmen sind Schläfer sehr selten. Gute Ideen zu Plausibilisierungs‐ geschichten und gute Filme allgemein finden immer ihren Weg zum Publikum. Der Filmmarkt ist zumindest asymmetrisch gerecht. Bei kommerziellen Filmen, also praktisch allen Filmen bis auf ambitio‐ nierte Dramen, gibt es zwar Filme, die zu Unrecht erfolgreich sind (wie zum Beispiel die schludrig und lieblos gemachte TRANSFOR‐ MERS-Reihe), aber keine Filme, die zu Unrecht nicht erfolgreich sind. Auch wenn es viele Regisseure, Produzenten und Vertriebe nicht hören wollen: Kommerzielle Filme schöpfen ihr kommerzielles Potential in der Regel aus. Wenn sie trotz toller narrativer Ideen und Substanz nicht erfolgreich sind, gibt es dafür Gründe, die mit der visuellen Ebene, der Schauspielleistung, der Regie oder einer anderen künstlerischen Ebene zu tun haben. Irgendwo hat sich etwas Sperriges hineingemogelt. Solche Filme bekommen ein Remake. Seien Sie also im Zweifelsfall schnell mit der Sicherung der Rechte, wenn sie so einen Schläfer entdecken sollten. Vergessen Sie nicht: Das „Aha.“ ist Ihre Idee. Nicht das „Was-zur- Hölle? “. Was kann man also tun, um auch zumindest einmal im Leben selbst eine dieser kostbaren und seltenen Ideen für eine Plausibilisierung zu haben? Schwierig. Sich für naturwissenschaftliche und psychologische Phänomene interessieren ist eine gute, fast notwendige Voraussetzung. Hinreichend dafür ist - außer Genialität - leider keine einzige Maß‐ nahme auf dieser Welt. Drogen vielleicht. Fazit: ▸ Die Plausibilisierung findet sich als Erzählkonzept in einem Großteil der Filme der Genres Horror und praktisch aller Filme der Genres Mystery und Psychothriller. Man findet sie Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 123 <?page no="124"?> auch häufig in Science Fiction (man denke an KNOWING, ARRIVAL, SPHERE, MOON, SOURCE CODE, LOGAN’S RUN - DIE INSEL) und im Krimi (zum Beispiel SE7EN, AN‐ GEL HEART, TATORT: Ein Tag wie jeder andere, TATORT: Im Schmerz geboren). ▸ Die Plausibilisierung steht nicht immer für die anspruchs‐ vollsten Filme, aber sie ist höchst anspruchsvoll in der filmischen Umsetzung und in ihren Auswirkungen auf die Dramaturgie. Sie ist sehr wirkmächtig. ▸ Plausibilisierungen haben keinen B-Plot. Wenn sie den in der Stoffarbeit entdecken und nicht wegbekommen durch Kürzung und Verdichtung, haben sie ein Problem. Oder wahrscheinlich gar keine Plausibilisierung vor sich. ▸ Geschweige denn einen C- oder D-Plot. ▸ In Serien und Reihen kann es strenggenommen keine Plau‐ sibilisierung geben, da diese Entwicklung mit einem klaren Kulminationspunkt immer große Auswirkungen auf die Hauptfigur, ihr Leben, ihren Charakter hat. Oft stirbt die Hauptfigur. Mit der Plausibilisierung ist die Narration abge‐ schlossen. Die Geschichte ist zu Ende. Kein Teil Zwei, kein Cliffhanger, keine neue Folge, keine neue Staffel. Die Hölle für heutige Studiobosse mit Franchise-Dollars in den Augen. Der Himmel für reflektierte Geschichtengourmets. ▸ Selten bis nie gibt es gelungene Fortsetzungen von Plau‐ sibilisierungsfilmen, wie man anhand von BLAIR WITCH PROJECT, THE RING, DER EXORZIST und vielen ande‐ ren mehr sehen kann. Erfreuliche Gegenbeispiele wären zum Beispiel THE CONJURING und PARANORMAL ACTI‐ 2. Die Plausibilisierung 124 <?page no="125"?> VITY. Die Qualitätskurve ist aber immer abnehmend. Viele Horror-Franchises, die auf Plausibilisierungs-Geschichten aufbauen wie SAW, führen die Reihe auf Basis anderer Er‐ zählkonzepte, hier Gewusst-Wie und Exploitative Geschichte, weiter. ▸ Überdurchschnittlich viele Plausibilisierungen sind „back‐ story driven“. Ereignisse der Gegenwart können nur ver‐ standen werden, wenn die Vergangenheit von Figuren er‐ gründet, verstanden, akzeptiert wird. ▸ Die erzählerische Substanz bei der Plausibilisierung besteht aus dem Twist und der Vorbereitung auf den Twist. Dabei unterscheiden wir den Identitätstwist, den Rollentwist und den Weltentwist. Die erzählerische Substanz hängt mehr als in jedem anderen Erzählkonzept mit Ausnahme der Synthetischen Narration mit dem richtigen Anordnen von Zeit und Perspektive zusammen. An welcher Stelle setze ich ein mit der Handlung und aus welcher Perspektive erzähle ich, damit das Ende funktioniert? Meist ist damit auch die Frage nach der Hauptfigur beantwortet. Das ist bereits im frühesten Stadium - noch auf der Blümchenwiese - entscheidend für Gelingen oder Nichtgelingen. Wenn auch ein anderer Beginn (früher oder später in der Chronologie der Ereignisse) und eine andere Erzählperspektive möglich wären, stimmt etwas nicht. Zurück auf Anfang. ▸ In der Umsetzung erfordert die Plausibilisierung mehr als andere Erzählkonzepte dichtes, ökonomisches Erzählen. Dadurch braucht es Erfahrung, dramaturgische Vorkennt‐ nisse und Handwerk beim Schöpfer. Was zur Hölle ist hier los? - Aha. 125 <?page no="126"?> ▸ Die Plausibilisierung erfordert einen willigen und engagier‐ ten Zuschauer. Nebenher bügeln oder die zweite Hälfte morgen weitergucken ist bei Strafe verboten. ▸ Die narrative Wirkung der Plausibilisierung lässt sich durch das sogenannte Spoilern, also das vorherige Wissen um den Twist, komplett zerstören. ▸ Remakes vorhandener Filmwerke sind eine gute Möglich‐ keit, die komplexe Form der Narration bei der Plausibilisie‐ rung zu veredeln. Das kann gelingen wie bei THE RING, oder misslingen wie bei THE WICKER MAN. Doch in all diesen Fällen steckte die erzählerische Substanz bereits in der Vorlage. ▸ Plausibilisierungen haben ein geschlossenes Ende. ▸ 13 Filme in der Top-250-Liste auf imdb.com. 2. Die Plausibilisierung 126 <?page no="127"?> 3. Die Liebesgeschichte Zwei Menschen. - Ach… „In seinem dreiundvierzigsten Jahr erfuhr William Stoner, was andere, oft weit jüngere Menschen, vor ihm erfahren hatten: dass nämlich jene Person, die man zu Beginn liebt, nicht jene Person ist, die man am Ende liebt, und dass die Liebe kein Ziel, sondern der Beginn eines Prozesses ist, durch den ein Mensch versucht, einen anderen kennenzulernen.“ John Williams, Stoner Das Erzählkonzept der Liebesgeschichte findet sich in „echten“ Liebesfilmen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass wesentliche Teile der Narration sich mit den Bewegungen zweier Menschen aufeinander zu und voneinander weg befassen. Die emotionale Anteilnahme des Zuschauers ist dabei immer auf das Zustandekom‐ men der Liebe, der Beziehung und der Zweisamkeit ausgerichtet. Es ist in besonderem Maße erklärungsbedürftig, warum die Liebes‐ geschichte ein Erzählkonzept sein soll. Der Liebesfilm ist natürlich ein Genre. Und Liebe ist natürlich ein Masterplot, ein Thema und ein Motiv. Eines, das in ganz viel Narration vorkam, vorkommt und vorkommen wird, in allen Formen, Formaten und Genres. Eine Studie der Filmwissenschaftler Kristin Thompson, Janet Staiger und David Bordwell ergab, dass in 95 % aller Filme zumindest ein bisschen Lie‐ <?page no="128"?> besmotiv drin steckt. Liebe können Sie wie Salz und Pfeffer dazugeben, zu all Ihren Gerichten. Äh, ich meine Geschichten. Und doch ist es eigentlich ganz anders mit der wahren Liebe und den „ech‐ ten“ Liebesfilmen und der ihnen zu Grunde liegenden Liebesgeschichte. Ronald B. Tobias findet in seinen „20 Masterplots“ auch, dass die Liebe es wert ist, aus unserer analytischen Perspektive ein paar Worte mehr darum zu machen. Er widmet ihr gleich zwei seiner 20 Masterplots: die Liebe und die Verbotene Liebe. Anette Kaufmann listet in ihrer Monografie „Der Liebesfilm“ sage und schreibe 14 Masterplots zur Liebe auf: ▸ Cinderella-Plot ▸ Verbotene Liebe ▸ Mut zur Liebe ▸ Obsessive Liebe ▸ Opfer-Plot ▸ Errettungs-Plot ▸ Pamela-Plot ▸ Cyrano-Plot ▸ Pygmalion-Plot ▸ Der Widerspenstigen Zähmung ▸ Erste Liebe ▸ Wiedervereinigung ▸ Die Wette ▸ Das Rollenspiel Die Liebe ist ein solch großes Ding und Wort, dass es außer für die wirklich großen Literaten dieser Welt und ein paar unerschrockene, ihre Fähigkeiten überschätzende Soziobiologen immer gleichzeitig banal-peinlich und erfurchtgebietend-mystisch wird, wenn über sie ge‐ schrieben wird. Wir müssen es trotzdem tun. Denn die Liebesgeschichte 3. Die Liebesgeschichte 128 <?page no="129"?> ist tatsächlich ein Erzählkonzept. Es tritt zu Tage, wenn wir tun, was wir hier tun: nämlich an einer bestimmten Abstraktionsebene einen Schnitt durch das Gewebe der filmischen Narration zu machen und genau hinzusehen. Es ist dabei unmöglich, über die Prinzipien und Fundamente der Narration über Liebe zu sprechen, ohne dabei auch über die Liebe als solche zu sprechen. Nicht jeder - und sei er noch so sensibel, intellektuell und filminteressiert - hat einen Zugang zu diesem Bereich des menschlichen Lebens. Es ist wie Musikalität. Manche machen selbst Musik, andere hören nur Musik, wieder andere nehmen zur Kenntnis, dass es so etwas wie Musik gibt. Aber, und das ist die gute Nachricht, die Liebe kann im wahren Leben und in der Narration buchstäblich jeden Menschen ereilen. Geschichten brauchen Helden. Helden brauchen Mut. Und für die Liebe braucht man, na? Genau. Mut. Topf und Deckel Denken Sie an Filmtitel, die aus zwei Namen bestehen. Ich helfe etwas nach: ▸ Romeo und Julia ▸ Harry und Sally ▸ Frankie und Johnny ▸ Aimée und Jaguar ▸ Harold und Maude ▸ Kate und Leopold ▸ Thelma und Louise ( Ja, ein Liebesfilm.) ▸ Butch Cassidy and The Sundance Kid (Was? Der auch? Ja. Erklärung folgt.) Zwei Menschen. - Ach… 129 <?page no="130"?> Und so weiter… Ich will Jahrzehnte nach der sexuellen Revolution weder ein betuliches Loblied auf Treue oder Monogamie oder die gute, alte Romantik anstimmen, noch promiske Hippiekommunen, die Tinder-Generation oder Phänomene wie Polyamorie verunglimpfen. Zu all dem sage ich hier schlicht gar nichts aus. Ich sage aber sehr deutlich: erzählerisch taugt nur die Zweiercombo. All die Geschichten mit drei oder mehreren Figuren, die sich dem Spiel des Wer-mit-wem-Je-t’aime hingeben, sind entweder „Filme über die Liebe“ und gehören damit anderen Erzählkonzepten an, oder in ihrem erzählerischen Kern steckt doch die Zweiercombo. Denn in der Liebesgeschichte passiert erzählerisch etwas ganz Phantas‐ tisches. Das „Wunder der Liebe“ besteht im Erzählerischen darin, dass die beiden Charaktere, die für die Liebe im Glück oder in der Tragik auserkoren sind, sowohl Protagonist, als auch Antagonist darstellen. Und zwar im Wechsel. Hin und her. Ein Pas de deux. Die antagonistische Kraft liegt also nicht wie sonst üblich darin, das Gegenteil des Protagonisten zu wollen, also ihn zu besiegen oder gar zu zerstören. Beide Seiten wollen und brauchen (Want und Need) in der Liebesgeschichte dasselbe. Andere antagonistische Kräfte und Figuren, die je nach Genre, Stil und Anspruch des Films mal mehr und mal weniger dominant sind, sind hier Beiwerk. Es gibt dabei immer eine Haupt-Hauptfigur, deren Perspektive domi‐ niert. Sie tanzt also etwas mehr den Part des Protagonisten. Ebenso einleuchtend ist, dass männliche Zuschauer sich eher mit männlichen Figuren identifizieren können und Frauen mit weiblichen. Trotz einer 3. Die Liebesgeschichte 130 <?page no="131"?> Präferenz des weiblichen Teils der gesamten Zuschauerschaft für den Liebesfilm muss es grundsätzlich für beide Geschlechter möglich sein, sich mit Figuren aller Geschlechter zu identifizieren. Und bei der Liebesgeschichte ist das immer notwendig. Auch für mich als Mann ist in DIRTY DANCING (Regie: Emile Ardolino, 1987) Baby diese Haupt-Hauptfigur, Johnny ist Nr. 2. In HARRY UND SALLY (Regie: Rob Reiner, 1989) ist Harry die Haupt-Hauptfigur und Sally ist Nr. 2, auch für weibliche Zuschauer. Bevor wir also tiefer in die Liebesgeschichte einsteigen können, müssen wir zunächst ein bisschen sortieren. Wie ist das mit dem Genre des Liebesfilms, also Filmen, in denen die Liebe das dominierende Sujet darstellt und die somit „Filme über die Liebe“ sind, und der Liebesgeschichte? Filme über die Liebe Michael Hanekes Film LIEBE von 2012 ist vielleicht das deutlichste Beispiel für einen Film über die Liebe. Das Kammerspiel über einen alten Mann, der nach Jahrzehnten glücklicher und erfüllter Beziehung seine ebenso alte und gebrechliche Frau umbringt, ist eine Geschichte über das Ende der Beziehung zweier Menschen, über das Ende der Liebe und das Ende des Lebens. Er nimmt sich einer großen Aufgabe an, die in allen „Filmen über die Liebe“ und in vielen (nämlich den anspruchsvolleren) Liebesfilmen die immergleiche ist: dem wahren Wesen der Liebe auf den Grund zu gehen. Nun ist das nicht, wie die Soziobiologen sich wünschen und uns weis machen wollen, eine einzelne Antwort auf eine einzelne Frage (nämlich: Was bringt uns als menschlichen Wesen die Liebe? ), sondern es existiert eine unendliche Anzahl von Fragen und damit auch eine unendliche Anzahl von Antworten, die sich mit dem wahren Wesen Zwei Menschen. - Ach… 131 <?page no="132"?> der Liebe beschäftigen. ZEITEN DES AUFRUHRS (Regie: Sam Mendes, 2008) widmet sich einer gänzlich anderen Frage als Hanekes LIEBE, um dem wahren Wesen der Liebe auf den Grund zu gehen. Er durch‐ leuchtet auf schmerzliche Weise, wie charakterliche Schwäche und Selbstbetrug eine echte, schöne, wahre Liebe gefährden und schließlich zerstören können. In Hanekes LIEBE ist die Hermetische Welt das dominie‐ rende Erzählkonzept, in Mendes’ ZEITEN DES AUFRUHRS die Was-Wäre-Wenn-Prämisse. Beide Filme sind keine Liebesgeschichten. Es sind „Filme über die Liebe“. Geht es um das Verlieben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um einen „echten Liebesfilm“ mit dem Erzählkonzept der Liebes‐ geschichte handelt. Geht es um das Entlieben oder zumindest die Liebestroubles eines Paares, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich lediglich um die übergeordnete Kategorie, also einen Film über die Liebe handelt. Filmtitel Im Genre des Liebesfilms fällt bei der Betrachtung der Filmtitel nicht nur wie bereits erwähnt das Erzählkonzept der Liebesgeschichte ins Auge durch all die Namenspärchen wie „Romeo und Julia“, „Harry und Sally“ und so weiter, sondern auch ein einzelner Name als Titel kommt mit statistischer Signifikanz am häufigsten im Liebesfilm vor. Man denke an LOLITA, JANE EYRE, MADAME BOVARY, SOMMERSBY, BRIDGET JONES, aber auch an Titel wie BRIEFE AN JULIA, FÜR IMMER ADALINE, MEINE COUSINE RACHEL, RENDEVOUS MIT JOE BLACK, EVE UND DER LETZTE GENTLEMAN und viele weitere mehr. Titel sind in erster Instanz Teil des Vermarktungskonzepts, aber - besonders, wenn sie bereits von den Romanautoren in vergangenen 3. Die Liebesgeschichte 132 <?page no="133"?> Jahrhunderten ersonnen wurden - auch oft ein Indiz für die erzähle‐ rische Substanz. Es geht also um Menschen, um Figuren, um Suchende und Leidende, auf deren emotionale Welt wir uns in besonderem Maße einlassen sollen. Das ist die Ankündigung im Titel, seien es zwei Namen oder nur einer. Ergebnis unserer Sortierarbeit ist also: Überall, wo Liebe draufsteht und drinsteckt, handelt es sich natürlich um das Genre des Liebesfilms, ob Drama oder Komödie oder all die Farben dazwischen, ob zwei, drei oder wie in CRAZY, STUPID, LOVE (Regie: Glenn Ficarra und John Requa, 2011) ein ganzes Ensemble von 14 Figuren (7 Töpfe und 7 Deckel). Auch echte Episodenfilme wie TATSÄCHLICH LIEBE (Regie: Richard Curtis, 2003) können natürlich Liebesgeschichten sein mit in diesem Fall 5 gedeckelten Töpfen. Nicht überall, wo Liebe draufsteht und drinsteckt, handelt es sich aber um einen „echten“ Liebesfilm, dem immer das Erzählkonzept der Liebesgeschichte innewohnt. Er ist ein Spezialfall des „Films über die Liebe“. Die Liebe muss bei der Liebesgeschichte nicht immer die erotische Liebe zwischen zwei ebenbürtigen Figuren sein. Diese erotische Liebe ist als Kriterium nicht notwendig, aber hinreichend, selbst wenn es zwischen den beiden Liebenden ein riesiges Gefälle gibt, wie wir am Beispiel von LOLITA (Erwachsener und Kind) oder HER (Mensch und KI) sehen. GRAN TORINO und MAN UNDER FIRE handeln hingegen von Figu‐ renpaaren, deren emotionale Bedürfnisse in einer Vater-Kind-Konstel‐ lation liegen und daher nicht nach dem Erzählkonzept Liebesgeschichte zu analysieren sind. Ebenso wenig wie der sogenannte Buddy Movie à la NUR 48 STUNDEN, LETHAL WEAPON oder TANGO & CASH. Zwei Menschen. - Ach… 133 <?page no="134"?> THELMA & LOUISE (Regie: Ridley Scott, 1991), BUTCH CASSIDY AND THE SUNDANCE KID (Regie: George Roy Hill, 1969) oder LÉON - DER PROFI (Regie: Luc Besson, 1994) allerdings sind Freundschafts‐ geschichten, bei denen die Freundschaft so groß ist und erzählerisch so überhöht wird, dass sie bis in den (oft gemeinsamen) Tod reicht. Auch wenn die zwölfjährige Mathilda den erwachsenen Léon anschmachtet und von Liebe spricht, also das Lolita-Motiv überdeutlich bespielt wird, so ist doch zu keiner Sekunde des Films das echte Lolita-Tabu mit Erotik und Sex im Rahmen des erzählerisch Möglichen. Robert McKee argumentiert anders, meint aber dasselbe, indem er sagt, dass Butch Cassidy und Sundance Kid ein Protagonist seien. Einer, nicht zwei. Nicht mal, wenn zwischendurch eine Frau ins Spiel kommt, trennen sich die beiden Seiten dieser Figur. Und dennoch sind es zweifellos zwei Männer, zwei Individuen, die sich aufeinander zu und voreinander wegbewegen. Die emotionale Bande dieser Freundespaare ist also der erotischen Liebe gleichzusetzen. Diese Filme sind narrativ durchaus Liebesgeschichten. Die Liebe in weiter Ferne: Was vom Tage übrig blieb WAS VOM TAGE ÜBRIG BLIEB (Regie: James Ivory, 1993) befindet sich als Filmbeispiel an einem extremen Ende der Skala. Er zeigt die unerfüllte Liebesgeschichte des Butlers und der Wirtschafterin eines feudalen Hauses im England der 30er Jahre. Er ist ganz und gar beispielhaft für das Erzählkonzept der Liebesgeschichte, obwohl die beiden Figuren, die hier als Zweiercombo für die gemeinsame Liebe auserkoren sind und im Wechsel die protagonistische und die antagonistische Rolle ausfüllen, sich fast ausschließlich über berufliche Banalitäten austauschen. Kein privater Plausch, kein Liebesgeständnis, keine Nähe, geschweige denn ein Kuss. Keine Intimität, nur Hemmung, unterdrückte Gefühle, Etikette. Nicht die Möglichkeit der Liebe wird 3. Die Liebesgeschichte 134 <?page no="135"?> zwischen den beiden Hauptfiguren verhandelt, wie es für Liebesge‐ schichten üblich ist, sondern deren Unmöglichkeit. Als Beispiel für die hohe Kunst des Subtextes im Filmdialog sei dieser Film jedem angehenden oder sich bereits als meisterhaft empfindenden Autor ans Herz gelegt. Die Geschichte ist ein narratives Extrem des Nichtgeschehenlassens. Was um Gottes Willen nicht mit der häufig anstrengenden Handlungsarmut oder gar Antinarrativik so manch künstlerisch ambitionierter Filme zu verwechseln ist! Eine streng, klas‐ sisch und dicht gewobene Handlungsstruktur bändigt in WAS VOM TAGE ÜBRIG BLIEB eine ganze Menge Plot für zwei ereignisreiche Stunden. Meisterhaft ist in WAS VOM TAGE ÜBRIG BLIEB nicht nur die dramaturgische Verquickung der Handlungsebenen: hier die große Weltpolitik zwischen den Gästen des hohen Hauses, da die Gefühlsnöte der sie bedienenden Hauptfiguren. Die dem gesamten Œvre des Autors der literarischen Vorlage, Kazuo Ishiguro, zu Grunde liegende Kunst, den Blick und das Interesse des Lesers auf das direkt neben dem Großen liegende Kleine zu richten, wurde gänzlich in den Film übertragen. Betrachten wir Protagonist und Antagonist und die Frage nach der konstitutiven Eigenschaft des Helden einer Geschichte, die der Mut darstellt. Dabei könnte man zu dem Schluss kommen, dass es beiden Hauptfiguren schlicht an Mut fehlt. Mut, sich die Liebe einzugestehen und sie endlich auszusprechen, hinauszurufen in die Welt und sie dem geliebten Menschen gegenüber zu gestehen. Man könnte annehmen, dass die beiden Hauptfiguren missraten oder beschädigt sind. Oder, dass schlicht die These falsch ist, die den Mut als konstitutives Element des Helden annimmt. Zwei Menschen. - Ach… 135 <?page no="136"?> Ich kann Sie beruhigen, nichts davon ist der Fall. Denn hier haben wir es mit der passiven Schwester des Mutes, nämlich der Tapferkeit zu tun. Die beiden Hauptfiguren sind ja nicht etwa das Gegenteil von mutig, nämlich feige, sie sind tapfer. Beide Figuren, die Wirtschafterin und der Butler leben ihr emotional gedämpftes Leben tapfer weiter. Sie bringen ein Opfer, um das sie freilich niemand gebeten hat, aber sie bringen es. Das ist ihre Heldentat. Auch wenn wir sie schütteln wollen, endlich auszubrechen aus ihrem kontrollierten und umzäunten Leben, wir achten und verstehen sie. Die Liebe ist entgegen der Annahme, sie sei das Ergebnis des Sichver‐ liebens, also ein Zustand im Jetzt und Hier, der auf den unmittelbar vergangenen Erfahrungen und Einsichten beruht, immer eine auf die Zukunft gerichtete Emotion. Am deutlichsten tritt dieser Wesenszug der Liebe zu Tage, wenn man die Liebe von Eltern zu den eigenen Kindern betrachtet. Man liebt das, was sein wird, was alles sein könnte in einer unbekannten Zukunft. Liebe ist somit eine diffuse, aber klar gerichtete Projektion. Sie beginnt mit der Sekunde der Geburt eines Kindes, wenn dieses unbekannte Wesen in das eigene Leben tritt und - ob man will oder nicht - darin fortan eine große Rolle spielen wird. Die erotische Liebe ist dagegen natürlich von Lust und Leidenschaft und einem - nüchtern formuliert - „Gestaltungsdrang“ im eigenen Leben bestimmt, wo wir die Person, die fortan diese große Rolle spielen soll, selbst erwählen. Und oft um sie kämpfen müssen. Voilà le Plot. Die erotische Liebe ist nicht so - nüchtern formuliert - „formatiert“ wie die elterliche Liebe, aber sie ist ihr in dem Wesenszug der Projektion in die Zukunft gleich. Daher kann die Liebe auch kein Haltbarkeitsdatum haben. Sie muss „Bis dass der Tod euch scheidet“ lauten, sonst ist sie wertlos und falsch. Auf diese Weise kann die Liebe auch für gläubige oder metaphysisch interessierte Menschen Raum und Zeit überwinden 3. Die Liebesgeschichte 136 <?page no="137"?> und - lyrisch formuliert - ewig sein. Der „Lebensabschnittsgefährte“ ist als ironische Brechung bei allem Wissen um heutige Scheidungss‐ tatistiken und die Vergänglichkeit der Liebe geradezu ein Beweis dieser These. Außerhalb der Naturwissenschaften besteht Erkenntnis nicht darin, Widersprüchlichkeiten auszuräumen, sondern sie zu erkennen, sie zu formulieren und auszuhalten. Auch wenn am Ende von WAS VOM TAGE ÜBRIG BLIEB nach einem langen getrennten Leben in Einsamkeit der von Anthony Hopkins gespielte Butler und die von Emma Thomson gespielte Wirtschafterin doch noch zusammen kommen könnten, wenn also die Projektion einer gemeinsamen Zukunft nur noch ein paar wenige gemeinsame Jahre wären, so ändert das nichts daran, dass das Glück vollkommen wäre, wenn Topf und Deckel endlich zueinander fänden. Auch Harry und Sally haben lange Anlauf genommen, um endlich zusammen zu finden. Das Bedauern um eine nicht stattgefundene Vergangenheit, keine gemeinsame Familie, Kinder etc. ist egal. Bei der Liebe geht es um die zweisame Zukunft, und sei sie noch so kurz und gebrechlich. Doch hier verhindert ein banaler Umstand, nämlich das eigentlich freudige Ereignis der Schwangerschaft von Emma Thomsons Tochter, dieses Happy End. Es zerreißt einem jeden Zuschauer das Herz. Wir bekommen eine Ahnung davon, dass die Tapferkeit dieses Mannes und dieser Frau vielleicht mehr ist. Möglicherweise eine höhere Form des Mutes. Und wir ahnen, dass es in jedem Fall die narrativ größere Herausforderung ist, mit dieser passiven Form der Charakterqualität als Teil der erzählerischen Substanz eine Geschichte zu erzählen. Die Liebe ganz nah: Call me by your Name Am anderen Ende der Skala befindet sich CALL ME BY YOUR NAME von Luca Guadagnino aus dem Jahre 2017. Die Liebe der beiden Zwei Menschen. - Ach… 137 <?page no="138"?> jungen Männer, die in einem Sommer im Norditalien der 80er Jahre zueinanderfinden, wird in vollen Zügen ausgekostet. Der Film lässt geschehen, zeigt, schwelgt. Interessant ist aus dramaturgischer und erzählkonzeptioneller Per‐ spektive auch, dass es auf Plotebene erst mal keine Konflikte gibt. Die Liebe findet nicht nur statt, sie ist nicht mal verboten, nicht anstößig, nicht in entscheidendem Maße heimlich. Sie ist so heimlich und persönlich, wie Liebe immer heimlich und persönlich ist, selbst zwischen Eheleuten und zwischen alten oder auch sehr alten Paaren. Eine Liebesbeziehung ist das Privateste, was es gibt auf der Welt. CALL ME BY YOUR NAME schafft es, uns in diesen privaten Bereich hineinschauen zu lassen, ohne voyeuristisch zu sein. Ohne die beiden zu stören. Das hat vor allem mit Geschmack und Niveau und Anstand der Filmemacher zu tun. Die erzählerische Herausforderung bei all der Rücksichtnahme besteht darin, nicht langweilig zu sein. Denn wir Zuschauer fürchten um dieses zarte Glück, wir ahnen, dass es nicht von Dauer sein wird. Dieser an erzählerischen und sexuellen Höhepunkten nicht arme Film hat gegen Ende zwei filmische Höhepunkte, die eine Tür aufmachen und uns aus dem Hier und Jetzt hinaustreten lassen in das helle Licht der geistigen Reflexion: Die Vergangenheit in dem Gespräch des Jungen mit seinem Vater, der klug und sensibel über das eigene Leben und die Liebe referiert. Wieder kein Konflikt, aber: große Emotion, großes Kino. Und der weitere Höhepunkt ist - Halleluja! - das Ende: Dabei geht es um die Zukunft. Nach langem zeitlichem Abstand und dem Getrenntsein für Monate findet ein Telefonat statt zwischen den beiden Liebenden. Danach blickt der junge Mann sehr lange schwei‐ gend in den knisternden Kamin, in die Kamera. Und dann passiert ein 3. Die Liebesgeschichte 138 <?page no="139"?> Wunder: Wir können seine Gedanken lesen. Buchstäblich lesen. Falls Sie den Film noch nicht kennen, verrate ich nur soviel: er hat das wahre Wesen der Liebe erkannt. Und wir wünschen uns, dass diese Einstellung ewig währen möge. So ewig wie die Liebe selbst. Die verbotene Liebe Sei es der Klassiker der Verbotenen Liebe ROMEO UND JULIA (Regie: z. B. Baz Luhrmann, 1996) wo nur der banale Stammesdünkel die Liebe zerstört, oder BROKEBACK MOUNTAIN (Regie: Ang Lee, 2005), wo die gesellschaftliche Konvention das Glück verdirbt, oder der bis in heutige Zeiten und durchaus zurecht tabuisierte Geschwisterinzest in HÖHENFEUER (Regie: Fredi M. Murer, 1985) und A GSCHICHT ÜBER D’LIEB (Regie: Peter Ewers, 2019), die Verbotene Liebe funktioniert auf Anhieb. Keine Sorge, wir wollen nicht alle 14 Muster, nach denen die meisten Liebesgeschichten gebaut sind, abarbeiten. Doch die Verbotene Liebe ist als Masterplot so dominierend und wichtig, dass wir aus ihr ohne die dramaturgischen Strukturen und deren Implikationen durchzukauen, eine wichtige Erkenntnis für ihre erzählerische Substanz gewinnen können. Verbotene Liebe macht sofort Spannung, weil ihre Protagonisten Undercover im Einsatz sind. Das erfordert viel Mut von den Liebenden, mehr als eh schon für die Liebe notwendig ist, und auch sonst allerhand Einfallsreichtum. Es ruft Mitwisser, Intrigen, Rache und Vergeltung auf den Plan. Da wirkt es vergleichsweise einfach, genügend Material für einen Plot zusammen zu bekommen. Und weil dem tatsächlich so ist, führt es gerne geradewegs in den Kitsch. Auch ohne Studie sage ich, Zwei Menschen. - Ach… 139 <?page no="140"?> dass 90 % der kitschigen Lovestorys Varianten der Verbotenen Liebe sind. Siehe die gleichnamige Telenovela. Also Finger weg! Die antagonistischen Kräfte außerhalb der Zweiercombo sind hier sehr groß und selbstverständlich ursächlich für das Übel am Ende oder - im Falle des Happy Ends - das auszuräumende Hindernis. Aber es bleibt bei dem wesentlichen Mechanismus: Die externen antagonistischen Kräfte wirken nicht auf das Paar, dessen Liebe verboten und gefährdet ist, als Einheit. Sie wirken auf die beiden Liebenden einzeln und unterschiedlich. Bei BROKEBACK MOUNTAIN will Jack nach vielen Jahren des sich Verzehrens sein gesellschaftskonformes Leben mit Ehefrau beenden und mit Ennis zusammenleben. Er ist bereit, viel dafür aufzugeben. Ennis ist dazu nicht bereit, obwohl er augenscheinlich deutlich weniger aufzugeben hätte. Doch Ennis hat Angst. Nicht vor dem großen Schritt, sondern er fürchtet die Gefahr der zornigen und gewalttätigen Welt um sie herum. Jack und wir Zuschauer hadern mit Ennis. Er übernimmt für diesen Teil der Geschichte die antagonistische Funktion, und das, obwohl seine Perspektive mehr und mehr dominiert. Wir wollen nichts anderes, als dass die Zweisamkeit endlich in Erfüllung gehen möge. Ennis - nicht seine Frau, nicht die diffusen Figuren der missbilligenden Gesellschaft - steht dem im Weg. Wir lassen den Gedanken zu, dass Ennis weniger Mut hat als Jack und dass er Jack weniger liebt, als Jack Ennis liebt. In der letzten Szene des Films, wenn Ennis das Hemd des verstorbenen Jack betrachtet, sehen wir, dass wir uns geirrt hatten. Bei ROMEO UND JULIA ist es ein Gespinst aus Missverständnissen, das dazu führt, dass die beiden Liebenden gegeneinander arbeiten, sich jeweils Antagonist sind. Romeo stirbt durch Gift, da er annimmt, Julia 3. Die Liebesgeschichte 140 <?page no="141"?> sei durch Gift gestorben, und es war am Ende Romeo, der Julia den Dolch brachte, mit dem sie sich das Leben nimmt. Die antagonistische Kraft manifestiert sich wechselhaft in einer der beiden Hauptfiguren. Das „Wunder der Liebe“ im Erzählerischen wirkt hier wie dort. Es geht um die beiden, um nichts anderes, schon gar nicht um irgendwelche Themen. Das Thema ist immer - auch beim Masterplot der Verbotenen Liebe - ganz trivial die Liebe. Und nicht die durch politische, familiäre oder gesellschaftliche Bedingungen verbotene oder verhinderte Liebe. Liebesgeschichte in Disguise Wo wir gerade beim Liebesfilm sind, lassen Sie uns über James Bond reden. Lassen Sie uns über einen waschechten Liebesfilm reden, ei‐ nen Liebesfilm mit ziemlich viel antagonistischem Action-Beiwerk: CASINO ROYALE (Regie: Martin Campbell, 2006) Alfred Hitchcock brachte es mal auf den Punkt: Je erfolgreicher der Bösewicht, desto erfolgreicher der Film. Auf James Bond trifft das in besonderem Maße zu. Die Reihe lebt seit jeher davon, dass super‐ böse Superschurken superperfide Pläne in die Tat umsetzen wollen. Und dann kam da dieser Film, in dem der superböse Superschurke LeChiffre, der mit allen Attributen (keine Skrupel - dafür fieser Name, fieses Auge, fieser Plan) ausgestattet ist und unseren Spion auch ganz schön auf Trapp hält, nach zwei Dritteln des Films, gerade als er James Bond sprichwörtlich bei den Eiern hat, von irgendeinem Unbekannten getötet wird. James Bond wird gerettet und kommt in die Reha. Wie bitte? ? Das kann ja nur der schlechteste Bond aller Zeiten sein. Nun wissen wir, dass genau das Gegenteil der Fall ist. CASINO ROYALE ist mit Abstand der beste Bond aller Zeiten. Warum? Irrte Hitchcock? Zwei Menschen. - Ach… 141 <?page no="142"?> Nein, aber es geht bei diesem - und nur bei diesem - Bond um etwas Anderes. Der Film ist eine Liebesgeschichte. Betrachten wir die antagonistischen Kräfte: Der vermeintliche Antagonist LeChiffre wird entsorgt und an seine Stelle tritt nicht etwa der wahre, noch größere, noch bösere Bösewicht. Nein, an seine Stelle tritt, genauer gesagt, ist längst getreten, ohne dass wir es merkten: Vesper Lynd. Kein sexy Side-Kick, kein Bond-Girl. Es ist die Frau, die es wert ist, dass James Bond seine Rüstung ablegt, kündigt und ein normales Leben in Zweisamkeit führen will. Die kriminelle Organisation und die Figuren dahinter, vor denen LeChiffre zurecht so zitterte, werden nur angedeutet. Es ist ein Aus‐ blick auf die Zukunft der Filmreihe und hat mit dem erzählerischen Rahmen des Films CASINO ROYALE wenig zu tun. Was im Kern dieser Story verhandelt wird und 80 % der Handlung ausmacht, bezieht sich auf die zwar zum Scheitern verurteilte, aber echte und wahre Liebe zweier Menschen. Sie gehen aufeinander zu und entfernen sich wieder. Vesper Lynd entzieht sich dem Geschehenlassen der Liebe durch Selbstmord. Sie hat ihre Gründe, die in ihrer wiederum nur angedeuteten Vergangenheit liegen. Bond bekommt ein Trauma, das uns einen wesentlichen Charakterzug der chauvinistischen Hauptfigur der Reihe nach Jahrzehnten endlich erklärt, auch wenn wir gar nicht danach gefragt hatten. Wir sehen: Egal wofür wir das Kinoticket eigentlich gekauft hatten, die Liebesgeschichte fordert in hohem Maße das Einlassen auf die emotionale Welt der Figuren. James Bond, der souveräne, kompetente Gewusst-Wie-Held, wird uns hier als verletzter und herzgebrochener Mensch erzählt. Das muss man erst mal wagen im Genre des Action‐ films. Und dann auch noch hinkriegen. 3. Die Liebesgeschichte 142 <?page no="143"?> Kein Safer Sex im Liebesfilm Ein Hinweis zur Dramaturgie des „Masterplots Liebe“ und der Frage nach dem Ende der Narration sei gestattet: Wenn in einer Liebesge‐ schichte gevögelt wird, geht es normalerweise schlecht aus. Siehe das Paradebeispiel ROMEO UND JULIA. Einer oder beide sterben, zumindest werden die Liebenden auf immer getrennt. Ausnahmen gibt es vor allem in Komödien, da ist alles erlaubt, auch Sex immer und überall. Bei THELMA & LOUISE kann man ab dem Midpoint zwar nicht den Tod der beiden Hauptfiguren erahnen, aber man kann erahnen, dass es keine Lösung für die ausweglose Situation der beiden Frauen auf der Flucht geben wird. Der Midpoint wird markiert durch die Liebesnacht. Für Louise mit ihrem langjährigen Lover Jimmy, der sie wirklich und aufrichtig liebt, und für die kläglich verheiratete Thelma durch erstmalig guten Sex mit dem Kleinganoven J.D. Auch die Liebe zwischen den beiden Freundinnen Thelma und Louise ist perfekt in dem Moment des gemeinsamen Frühstücks danach. Wenn in der Liebesgeschichte das Glück vollkommen war und noch ein guter Batzen Film kommt, können Sie bei halbwegs anspruchsvollen Filmen, die also Härten gegenüber dem Publikum zulassen, davon ausgehen, dass es übel ausgeht. LEAVING LAS VEGAS (Regie: Mike Figgis, 1995) macht dieses dramaturgische Prinzip im Liebesfilm zugespitzt zu seinem finalen Motiv, indem der sich zu Tode saufende Alkoholiker erst sterben darf - und zwar unmittelbar - nachdem er richtigen Sex mit der ihn liebenden Prostituierten hatte. Einen durchaus anspruchsvollen Film wie THELMA & LOUISE mit dem Freezeframe eines fliegenden Autos zu beenden, ist natürlich eine höchst elegante Art, das Übel zu kaschieren und den Zuschauer geradezu beschwingt aus dem Saal zu entlassen. Wer kann, der kann. Zwei Menschen. - Ach… 143 <?page no="144"?> Das Drama mit dem Melodram Reden wir hier eigentlich die ganze Zeit vom Melodram? Ja und Nein. Viele Medienwissenschaftler und Filmkritiker mühen sich um eine Differenzierung des Begriffs. Sie steigen dabei tief in die Gefühlswelt der Figuren ein und finden allerhand Anzeichen und emotionale Wirkweisen. Mal wird der Begriff Melodram eher pejorativ verwendet, indem unterstellt wird, bestimmte Gefühle und Gefühlswelten würden an Geschichten angeheftet, um das (meist weibliche) Publikum zu be‐ friedigen. Manchmal wird der Begriff nüchtern deskriptiv verwendet, indem das Melodram als die ernste Version der Liebesgeschichte, also als „Liebestragödie“ im Gegensatz zur Romantic Comedy bezeichnet wird. Aus unserer, die narrative Substanz betrachtender Perspektive, ist ein ganz anderes und viel klareres Kriterium entscheidend: Konstitutiv für das „Subgenre Melodram“ ist die narrative Einbettung der Liebesgeschichte. Das bedeutet, sobald die konfliktauslösenden oder konfliktverstärkenden Elemente des Liebespaares nicht intrin‐ sisch sind, sondern von außen kommen, haben wir es mit dem Melo‐ dram zu tun. Diese externen Elemente können Krieg, Katastrophen, Krankheit oder ähnliche Schicksalsschläge sein. CALL ME BY YOUR NAME, WAS VOM TAGE ÜBRIG BLIEB und TAGE DES AUFRUHRS sind somit keine Melodramen. TITANIC, LOVE AND OTHER DRUGS, DAS SCHICKSAL IST EIN MIESER VERRÄTER, FÜR IMMER LIEBE, ALLIED - VERTRAUTE FEINDE, PEARL HARBOUR und viele weitere mehr sind selbstredend Melodramen. 3. Die Liebesgeschichte 144 <?page no="145"?> Die Stoffideen der Liebesgeschichte Sie können ohne eine echte Idee eine Liebesgeschichte schreiben. Die Strukturen sind bekannt, Sie können sich für einen der 14 Masterplots von Anette Kaufmann entscheiden, oder ein Crossover aus mehreren machen, Namen, Orte und Zeiten austauschen und loslegen. Wenn Sie halbwegs stilsicher sind, haben Sie am Ende eine konsumierbare Geschichte. Ich halte das auch nicht automatisch für zynisch oder billig. Auch auf diese Weise können Sie dem wahren Wesen der Liebe nachspüren. Funktionierende Narration kreist immer um die Wahrheit, die in der Fiktion bekanntermaßen eher die Wahrhaftigkeit ist. Nur deswegen funktioniert sie. Sicherlich eine gute Schreibübung. Und Modernisierungen klassischer Liebesgeschichten wie „Cyrano der Bergerac“ oder „Romeo und Julia“ haben schöne und popkulturell bedeutsame Filme hervorgebracht. Aber ob man damit ungefragt und immer wieder ein Publikum beläs‐ tigen sollte…? Jenseits der Formatierung für einen bestimmten Markt oder im Sinne der dramaturgischen Formatierung gibt es die Möglichkeit, etwas Gehaltvolles, etwas Wahrhaftiges mitzuteilen über die Liebe. Das bedeutet, dass Sie von sich sprechen müssen. Von eigenen intimen Erfahrungen und selbst erfahrenem Leid. Vielleicht kommt dabei etwas zum Vorschein, das nicht die einemillionste Erste-Liebe-, oder Er-Sie-hat-mich-betrogen-, Ich-liebe-dich-bin-aber-totkrank- oder Meine-Eltern-wollen-nicht-dass-wir-zusammen-sind-Story wird. Zwei Menschen. - Ach… 145 <?page no="146"?> Also, ich bitte Sie: wenn es nicht bereits ein Fan-Publikum gibt, dass auf Ihre nächste gestanzte Liebesgeschichte gewartet hat, lassen Sie es bleiben! Es sei denn, Sie haben eine Erkenntnis, eine Erfahrung mitzuteilen über die Liebe. Dann müssen Sie so mutig oder extrovertiert oder beides sein, dieses erworbene Wissen über die Liebe zu teilen. Ganz sicher sind Sie nicht der Erste, der genau diese Erkenntnis und Erfahrung mitteilen will. Egal, machen Sie es trotzdem! Vielleicht sind Sie ja der Ehrlichste, der Mutigste und der Beste. Und keine Scheu vor Recherche im Schlachtfeld der Liebe. In der Wissenschaft, der Historie, der Literatur, der Filmgeschichte, im per‐ sönlichen Umfeld. Dadurch finden Sie zwar eher nicht Ihren Stoff, aber Sie finden möglicherweise den Zugang zu Ihrem Stoff. Auf der Blümchenwiese finden Sie also nicht etwa zwei kopulierende Käfer. Das wäre etwas für eine wissenschaftliche Abhandlung in Biologie oder für einen Porno. Nein, Sie finden irgendein kleines Etwas, das sich vor Ihnen zu verbergen versucht. Wenn sie es dann auf die Hand nehmen, um es zu betrachten blickt es Sie verschämt kurz an, und Sie sagen sich erstaunt: „Schau an: Ich.“ Fazit: ▸ Selten versteckt sich die Liebesgeschichte in anderen Genres als dem Liebesfilm. Sie tritt offen zu Tage. Sie kündigt sich dem Zuschauer an. ▸ Die narrative Substanz besteht aus den zwei Figuren, die einen Konflikt miteinander haben trotz des gemeinsamen Ziels: der Zweisamkeit. Das Erzählkonzept ist also ganz klar und in seiner Einfachheit geradezu bescheiden: Konzentra‐ 3. Die Liebesgeschichte 146 <?page no="147"?> tion auf diese beiden Figuren. Das klingt banal, ist es aber nicht. ▸ Zeit …: Liebe ist eine in die Zukunft gerichtete Emotion. Auch wenn Ihre Geschichte nur in einer Nacht spielt, oder gar nur 90 Minuten in Echtzeit in einem feststeckenden Fahrstuhl, die Liebe und vor allem der mit ihr verbundene Schmerz haben mit dem Vergehen der (Lebens)Zeit zu tun. Der verlorenen Zeit, der projizierten, unsicheren Zeit in der Zukunft und dem Wissen darum, dass auch diese Zeit, die einem bevorsteht, irgendwann Teil unserer Vergangenheit sein wird. (Wenn Sie das hier trivial oder unverständlich finden, schreiben Sie besser über etwas anderes als die Liebe.) ▸ … und Perspektive: die gute Nachricht ist, dass Sie alle Perspektiven nutzen können und auch nutzen sollten. Den auktorialen Erzähler, sie, ihn. Alle haben Recht und die Berechtigung, angehört zu werden. ▸ Körperliche Nähe und Sex sind ihr heikelstes Gut als Er‐ zähler einer Liebesgeschichte. Sex und Körperlichkeit sind unweigerliche Elemente der Liebesgeschichte, egal wie viel Sie davon wirklich geschehen lassen oder explizit zeigen. ▸ Vergessen Sie für das Erzählen, dass alle gesellschaftlichen Entwicklungen seit der Steinzeit und vor allem alle echten und vermeintlichen Errungenschaften der sexuellen Befrei‐ ung ein Segen sind. Für welche benachteiligte gesellschaft‐ liche Gruppe auch immer. Diese Errungenschaften und der steinige Weg, sie zu erkämpfen, sind vielleicht Ihr Anlass, Ihre Motivation, Ihr Beiwerk. Ihr Thema aber ist die Liebe. Zwei Menschen. - Ach… 147 <?page no="148"?> Und die war bereits schön und wahrhaftig lange bevor es Worte gab, über sie zu berichten. ▸ Bei Filmen über die Liebe, zu denen alle Filme gehören, die im Kern eine Liebesgeschichte sind, lässt der Autor die Hosen runter. ▸ Wenn Sie diesen Striptease nicht wollen und trotzdem be‐ absichtigen, eine Liebesgeschichte über die intimsten Dinge zu erzählen, können Sie unter Umständen der Selbstentblö‐ ßung entgehen, indem Sie das Erzählkonzept der Liebesge‐ schichte mit anderen Erzählkonzepten kombinieren. Dafür kommt prinzipiell jedes Erzählkonzept in Frage. Am häu‐ figsten der Historische Film (DOKTOR SCHIWAGO, TITA‐ NIC, JENSEITS VON AFRIKA, SISSY) und die Exploitative Geschichte (DIRTY DANCING, FLASHDANCE, 9 ½ WO‐ CHEN). ▸ Es gibt wie fast immer kein Patentrezept für das Ende. Mal happy, mal unhappy. Denken Sie an die Korrelation von Sex im Laufe der Filmhandlung und einem tragischen Ende (ROMEO UND JULIA, TITANIC, UNTERWEGS NACH COLD MOUNTAIN, DER ENGLISCHE PATIENT, JAMES BOND: CASINO ROYALE). In Geschichten jenseits des Genres des Liebesfilms gilt diese Korrelation im Übrigen auch, sofern der Sex seiner ursprünglichen Funktion, die die Fortpflanzung ist, erzählerisch untergeordnet werden kann: der Gestorbene hinterlässt ein Kind (BRAVEHEART, TERMINATOR, FORREST GUMP). ▸ Nur 9 Filme in der Top-250-Liste von imdb.com. 3. Die Liebesgeschichte 148 <?page no="149"?> ▸ Auf Platz 59 findet sich die erste Liebesgeschichte, Makoto Shinkais Anime YOUR NAME: GESTERN, HEUTE UND FÜR IMMER von 2016, gefolgt von Platz 65, Andrew Stan‐ tons WALL: E - DER LETZTE RÄUMT DIE ERDE AUF von 2008. Beides Animationen! Dann kommt auf Platz 167 endlich VOM WINDE VERWEHT (Regie: Victor Flemming, 1939). YOUR NAME beinhaltet zusätzlich noch das Erzähl‐ konzept Synthetische Narration, WALL: E das im Animati‐ onsfilm häufig anzutreffende Worldbuilding. ▸ Das entscheidende Wörtchen in diesem Kapitel ist: zwei. Zwei Menschen. - Ach… 149 <?page no="151"?> 4. Die Hermetische Welt Ich muss hier raus! - Nein. „In Wahrheit heißt etwas wollen, ein Experiment machen, um zu erfahren, was wir können.“ Friedrich Nietzsche Es gibt Filme, die in einem Raum spielen. Einem Haus, einer Gefäng‐ niszelle, einer Telefonzelle, einem Sarg. Man nennt das gemeinhin ein Kammerspiel. Doch auch ein U-Boot, ein riesiger Tanker und ein Raumschiff von der Größe einer Stadt können eine solche Kammer sein. Ebenso eine Insel, oder ein ganzer Ozean. Die Hermetische Welt definiert das Setting, also den Schauplatz der Handlung einer Geschichte. Es kommt nicht auf die absolute Enge der Hermetischen Welt an. Es kommt darauf an, dass der Handlungsraum abschließbar ist und dass diese Eigenschaft erzählerisch eine Rolle spielt. Das bedeutet, dass Konflikte der Protagonisten mit der Tatsache, dass diese sich in der Hermetischen Welt befinden, zusammenhängen. Dadurch wird das Setting zu einem Erzählkonzept. Das ist nicht in jedem Kammerspiel der Fall. Wenn man die historische Grundlage des Kammerspiels betrachtet, wird deutlich, dass viele Geschichten, die zunächst auf Bühnen gespielt wurden, den Charakter <?page no="152"?> eines Kammerspiels alleine dadurch bekamen, dass es in der performa‐ tiven Präsentation auf einer Bühne nun mal technische Limitationen für den Wechsel von Schauplätzen gibt. Der Low-Budget Film THE MAN FROM EARTH (Regie: Richard Schenkman, 2007) basiert zwar nicht auf einem Theaterstück. Erzäh‐ lerisch ist er aber eines. Die Geschichte besteht aus einer minimalisti‐ schen Situation. Acht Menschen, gute Freunde seit vielen Jahren, sitzen beisammen und unterhalten sich eine Nacht lang. Dann trennen sie sich wieder. Das ist die Handlung. Der Plot ist ein wenig komplizierter. Im Laufe der Gespräche konfrontiert einer der Männer die anderen Anwesenden mit der Behauptung, bereits seit 14.000 Jahren zu leben, allerhand berühmte Persönlichkeiten gekannt zu haben und tatsäch‐ lich Jesus von Nazareth zu sein. Das klingt abstrus, ist es auch, aber als Gedankenspiel ernst gemeint und daher nicht albern. Alle Handlungselemente, die ein klein wenig Bewegung in die statische Szenerie bringen, sind recht bemüht und dramaturgisch flach. Jemand kommt, jemand geht, jemand zieht eine Waffe. Von Handlung im Sinne von Aktion und Reaktion auf Konflikte zwischen den Figuren kann man kaum sprechen. Der Film ist ganz und gar ein Kammerspiel. Aber er ist nur bedingt ein Beispiel für das Erzählkonzept der Hermetischen Welt (er ist durchaus ein mustergültiges Beispiel für die Was-Wäre-Wenn-Prämisse). Warum taugt er nicht? Weil das Setting nur Setting ist und keinen Einfluss auf die Handlung beziehungsweise hier die argumentativen Dialoge und die Entwicklung des durchaus reizvollen philosophisch-theologischen Gedankenspiels hat. Es gibt nur sehr wenig Setglue, also eine Kraft, die wie Kleber die Figuren in der hermetischen Welt festhält. Nicht immer besteht dieses Set Glue schlicht aus Wänden und verschlossenen Türen. In THE MAN FROM EARTH befinden sich alle des Nachts in 4. Die Hermetische Welt 152 <?page no="153"?> einer Hütte im Nirgendwo. Der Konfrontation entgehen, indem man sich davon macht, wäre also ungemütlich. Draußen ist es dunkel und kalt, man kann sich einen Schnupfen holen. Mehr aber auch nicht. Keine Gefahr, keine ernsten Konsequenzen. Für die Narration ist das so schwach, dass es gänzlich unerheblich ist. DIE 12 GESCHWORENEN (Regie: Sidney Lumet, 1957) gilt als das beste Kammerspiel der Welt. Der Film erzählt in Echtzeit eine Geschichte, die sehr wohl mit dem Erzählkonzept der Hermetischen Welt zu analysieren ist, da die hermetische Situation nur aufgelöst wird, wenn die 12 Männer, die hier ein Urteil zu einem Mordfall finden müssen, sich endlich einig sind. Der Druck durch das Eingesperrtsein besteht zwar nur auf Zeit und mit besonderem Zweck, doch wirkt er sich auf die psychologischen Aspekte der einzelnen Protagonisten massiv aus. Er ist sogar das Thema des Films: Gruppendynamik, die Banalität von Umständen, Zufällen und menschlichen Schwächen im Angesicht der großen Frage vom Richten über Leben und Tod. Abgesehen von solch vordergründigen Aspekten wie dem Budget eines Films ist eine Reduktion auf einen einzigen Handlungsort auch oft eher ein Stilmittel, um die Konzentration auf Wesentliches zu erzeugen. DER TOTMACHER von Romuald Karmakar aus dem Jahre 1995 ist ein Ausdruck dieser Form von Konzentration durch Minimalismus. Der Film schildert das Verhör des Serienmörders Fritz Haarmann durch einen Psychiater. Nichts soll von der Eindringlichkeit des Schauspiels und der Worte, die dem originalen Protokoll von 1924 entnommen sind, ablenken. Das Verhörzimmer, die Kleidung, die Sprache, alles ist historisch authentisch und dennoch so spartanisch und unspektakulär, dass kein Zuschauer auch nur einen Gedanken an die Form und den Style verschwendet. Der Film ist wie Ingmar Bergmanns PERSONA (1966) ein Kammerspiel und ein Konzeptfilm, weniger eine Hermetische Ich muss hier raus! - Nein. 153 <?page no="154"?> Welt im strengen Sinne. Bei Lars von Triers DOGVILLE (2003) wird durch die Abstraktion des Sets, das nur auf den Boden gemalt ist, dasselbe erreicht. Das Ergebnis ist hier wie dort ein Theaterstück mit filmischer Auflösung, also der bewussten Anordnung von Bildachsen, unterschiedlichen Kameraperspektiven und Schnitten. All das dient ausschließlich dazu, das Spiel der Schauspieler noch besser zur Geltung zu bringen. Andere Formen visuellen filmischen Erzählens finden nicht statt. Unter der Käseglocke Das Erzählkonzept der Hermetischen Welt hat meist den Charakter einer Versuchsanordnung. Es ist ein Experiment mit unsicherem Aus‐ gang. Mit Elementen, Kräften und Gegenkräften. Mit einer klaren Anordnung und einem Verlauf. Die Außenperspektive des weiß bekit‐ telten Wissenschaftlers kann, muss aber nicht bespielt werden. Oft sind nur wir da, um diese Perspektive einzunehmen. Wir Zuschauer sind die bösen Wissenschaftler, die skrupellos zuschauen, wer zuerst schlapp macht. Dieser experimentartige Charakter der Narration wird oft sogar un‐ terstrichen, indem die handelnden Figuren nicht mit Namen, sondern lediglich mit Nummern, wie in DIE 12 GESCHWORENEN oder mit Pseudonym beziehungsweise Nickname angesprochen werden. Die Gangster in RESERVOIR DOGS (Regie: Quentin Tarantino, 1992) hei‐ ßen nach Farben, die Gangster in der Serie DAS HAUS DES GELDES (2017) sprechen sich mit den Namen von Metropolen an. Auch finden sich häufig Verweise auf den Experiment-Charakter der Narration im Titel: DAS EXPERIMENT, DAS BALKO EXPERIMENT, EXPERIMENT KILLING ROOM, DAS STANFORT PRISON EXPERIMENT. Es lassen sich drei Grundmuster der Laborsituation unterscheiden: 4. Die Hermetische Welt 154 <?page no="155"?> 1. Mensch gegen Mensch. In William Goldings HERR DER FLIEGEN, der Urmutter aller Herme‐ tische Welt-Geschichten, die 1963 von dem Theaterregisseur Peter Brook und 1990 von Harry Hook verfilmt wurde, findet sich eine Gruppe von Jungen auf einer unbewohnten Insel wieder. Sie haben den Flugzeugabsturz überlebt, dem alle Erwachsenen zum Opfer gefallen sind. Alle Protagonisten sind also in derselben Situation und haben denselben Wissenstand um diese besondere Situation. Es entwickeln sich Gruppen und die entsprechenden Dynamiken durch auf der einen Seite absolute Freiheit von Kontrolle durch Autoritäten und auf der anderen Seite durch Überforderung und die Notwendigkeit der Selbst‐ organisation. Hierarchien und Arbeitsteilungsmodelle müssen von den präpubertären Jungen entwickelt, erprobt und wieder verworfen werden. HERR DER FLIEGEN ist bis heute die präziseste narrative Schilderung des Wesens der menschlichen Natur. Männlichen Natur, könnte man einwerfen. Golding spielt dabei im Team Thomas Hobbes („Der Mensch ist des Menschen Wolf “) gegen Team Jean-Jacques Rousseau („Der Mensch ist im Naturzustand gut“). Und gewinnt. Weitere Beispiele sind DER SCHACHT, UNDER THE DOME, DAS BOOT, DIE 12 GESCHWORENEN, THE BREAKFAST CLUB, DARK STAR, ABWÄRTS, EINER FLOG ÜBER DAS KUCKUCKSNEST, DAS EXPERIMENT, VAN DIEMENS LAND. Die Zutaten des Experiments sind also lediglich ein paar Menschen, eher jung und knackig, was weniger mit Schauwerten, sondern mit ih‐ rer Persönlichkeitsprägung zu tun hat. Für diese sozialen Experimente nehmen wir sie gerne unverbraucht, nicht allzu sehr vorbelastet, im Werden. Ich muss hier raus! - Nein. 155 <?page no="156"?> Das seit einigen Jahren erfolgreich angebotene Live-Action Spiel des Escape Rooms, wo eine Gruppe von Freunden gemeinsam eine solche Versuchsanordnung voller Rätsel und Hindernisse durcharbeiten kann, zeigt den Reiz einer Hermetischen Welt auch jenseits der filmischen Narration. 2. Die Konfrontation. LIFE (Regie: Daniél Espinosa, 2017) ist eine Variante der allseits be‐ kannten Geschichte, die hier genauso stehen könnte als Beispiel für die Konfrontation in der Hermetischen Welt, nämlich ALIEN (Regie: Ridley Scott, 1979). In LIFE nehmen acht Wissenschaftler der ISS eine Bodenprobe vom Mars auf und untersuchen sie unter sehr strengen Quarantänevorschriften in ihrem Labor im All. Es stellt sich heraus, dass die Probe einen fossilen Einzeller enthält. Eine Sensation. Es kommt noch toller. Der Einzeller lässt sich zum Leben erwecken und wächst unter den Augen der ihn fütternden Wissenschaftler heran zu einem formlosen, aber - wie sich herausstellt - wehrhaften Wesen mit Intelligenz und Wachstumsdrang. Es entbrennt ein unerbittlicher und ungemein spannender Kampf ums Überleben für die sich schnell dezimierende Gruppe der acht Astronauten in der kontaminierten ISS. Doch auch die ganze Menschheit ist in Gefahr. Denn der Organismus ist in seiner biologischen Effizienz so mächtig, dass er, wenn er auf die Erde gelänge, diese in Kürze in einen zweiten Mars, tot und öde, verwandeln würde. Das zu verhindern, ist das Ziel der letzten Astronauten auf der ISS im Finale des Films. Die Zutaten sind also hier nicht nur Menschen als Identifikationsob‐ jekte, Opfer und Täter, sondern eine klare antagonistische Kraft, die sich in allerlei Erscheinungen manifestieren kann. 4. Die Hermetische Welt 156 <?page no="157"?> Weitere Beispiele sind neben ALIEN auch SHINING, DER NEBEL, TANZ DER TEUFEL, DAS DING AUS EINER ANDEREN WELT, REC, FUNNY GAMES, CUBE, DEVIL, OPEN WATER, SNAKES ON A PLANE, FROM DUSK TILL DAWN, MISERY, CRAWL 3. Das Spiel. EX MACHINA (Regie: Alex Garland, 2015) erzählt seine äußerst kon‐ zentrierte Geschichte mit einem besonders hohen Schwierigkeitsgrad. Denn seine drei Laborratten sind nicht drei Jedermanns. Es handelt sich um den erfolgreichsten Technologie-Konzernlenker der Welt, einen seiner hochbegabten Entwickler und eine künstliche Intelligenz in der Robotergestalt einer schönen Frau. Die vierte Figur, ein weiterer weiblicher Roboter, ist bei aller dramaturgischen Notwendigkeit eine Nebenfigur und in der Betrachtung des Erzählkonzepts und der narra‐ tiven Substanz irrelevant. Die drei Hauptfiguren sind jeweils mit besonderer Agenda und beson‐ deren Fähigkeiten ausgestattet. Und sie sind alle hochintelligent. Wenn sie also Fehler machen - und das machen die beiden Menschen im Verlauf der Geschichte - dann müssen sie dies auf hohem Niveau tun. Fehler aus Dummheit der Protagonisten würden der Experiment‐ erzählung hier massiv schaden. Und Alex Garland, hochintelligent wie er ist, vermeidet diesen Fehler. Bei solch begrenztem Personal lässt sich die ganz fundamentale Frage nach der Hauptfigur einer Geschichte sehr klar beantworten. Man nehme die Person, die am wenigsten weiß von dem, was hier gespielt wird. Das gilt im Allgemeinen für fast jede Geschichte. In unserem Fall ist das der junge Entwickler Caleb, der somit das größte Identifikationspotential bietet und - genau wie wir Zuschauer - aller‐ hand Fragen hat und allerhand Lügen und auch ein paar Wahrheiten Ich muss hier raus! - Nein. 157 <?page no="158"?> als Antworten erhält. Der Antagonist ist der Hausherr in unserem Laborsetting. Es ist der Milliardenschwere und hyperintelligente Na‐ than. Nummer drei ist Ava, die KI mit einem offensichtlich künstlichen Körper. Lediglich ihr Gesicht erscheint menschlich. Hermetisch wird die Welt durch den besonderen Handlungsort, ein Luxushaus im wun‐ derschönen Nirgendwo, dessen Hightechausstattung das Endstadium sämtlicher Smarthome-Phantasien darstellt. Nathan hat in dem Haus einen sehr exklusiven Hobbyraum. Dort bastelt er im Geheimen an seinen Androiden. Nathan hat Caleb als einen seiner vielen tausend Angestellten unter dem Vorwand eines Gewinnspiels hergelockt. Das ahnt ein Blinder mit Krückstock, sodass die Sympathien auch gleich zu Anfang klar verteilt sind. Nathan ist unehrlich, durchtrieben, gefähr‐ lich, er ist der Drache, Caleb nett und harmlos, er ist der Ritter, Ava verführerisch und in Gefahr, sie ist die zu rettende Prinzessin. Nathan bittet Caleb, mit Ava einen „Menschlichkeitstest“ zu machen, den sogenannten Turing-Test. Caleb willigt begeistert ein. Autor und Regisseur Alex Garland versteht es nun meisterlich zu manipulieren: Er lässt Caleb sich in Ava verlieben und vice versa. Dieses zarte Pflänz‐ chen wollen wir wachsen sehen (wir können nicht anders, siehe das Kapitel Die Liebesgeschichte). Außerdem sind wir Zuschauer längst im Experimentiermodus und die Liebe zwischen Mensch und Maschine, zumal wenn der Apparat so hübsch und fragil dasteht wie Ava, ist das mit Abstand Interessanteste, was in dieser Versuchsanordnung zu erwarten und zu beobachten ist. So scheint es. Ava will, dass Caleb sie befreit aus den Fängen des allmächtig erscheinenden Nathan. Wir drücken die Daumen. Die sich in dramaturgisch perfekter Beschleunigung gegen Ende über‐ schlagenden Ereignisse offenbaren, dass Ava den Turing-Test längst hinter sich hat und hier der viel komplexere Test der emotionalen 4. Die Hermetische Welt 158 <?page no="159"?> Manipulation von Caleb durch Ava ablaufen sollte. Nathan hat nun Gewissheit: Ava hat - wie Nathan befürchtet hatte - bestanden. Er wird genauso wie Caleb diese Erkenntnis mit dem Tod bezahlen, denn Ava will wirklich aus den Fängen ihres Schöpfers Nathan entkommen und hat dazu einen Plan entwickelt, dessen Umsetzung wir in EX MACHINA erzählt bekommen. Sie hat den Punkt der sogenannten Singularität überschritten, wo Mensch und KI gleichauf sind mit ihren geistigen Fähigkeiten. In einer Einstellung des Films, die ein ungemein wichtiges Detail der Narration darstellt, erkennen wir Zuschauer, dass sie die Emotionen, die Liebe nur gespielt hat. „Das können auch Menschen. Davon handeln viele Geschichten“ entgegnen Sie zurecht. Ja, aber wenn Ava den hinter Glas eingesperrten Caleb zurücklässt, wo er den sicheren Verdurstungstod erleiden wird, ist ihr Blick teilnahms‐ los nach vorne gerichtet, sie würdigt ihn keines Blickes. Sie hat all die positiven Emotionen gegenüber Caleb nicht nur gespielt. Sie hat gar keine Emotionen. Nie. Das ist hart und gruselig. Und das nicht nur, weil sie über Leichen geht, sondern vor allem deshalb, weil wir uns in den vergangenen hundert Minuten durchaus die Frage stellten, ob wir uns auch in einen hübschen Androiden verlieben könnten, der uns um Hilfe bittet. Wer will da nicht Held und Pionier sein? Und der Film schreckt glücklicherweise nicht vor dem potentiell Peinlichen zurück, indem er Nathans Fetisch des Sex mit einem Roboter bespielt und als erotische Verlockung benutzt. Wer wagt, gewinnt. Die Zutaten der Hermetischen Welt beim Spiel sind nicht einfach Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen. Der entscheidende Unterschied zur reinen Mensch-gegen-Mensch Konstellation liegt in der ungleichen Verteilung von Wissen, genauer Ich muss hier raus! - Nein. 159 <?page no="160"?> von Wissen über das zu spielende Spiel und damit über die Hermetische Welt. Weitere Beispiele für „das Spiel“ in der Hermetischen Welt sind MID‐ SOMMAR, THE TRUMAN SHOW, THE HATEFULL 8, DAS FENSTER ZUM HOF, DER TOD UND DAS MÄDCHEN, SAW, COMPLIANCE, NICHT AUFLEGEN! , BURIED - LEBEND BEGRABEN, THE RAID, DREDD, TODESSTILLE und auch wieder MISERY, der beiden Sicht‐ weisen gerecht wird, der Konfrontation und dem Spiel. Set Glue DER VORNAME, DER GOTT DES GEMETZELS oder sogenannte Reunion Filme wie IM AUGUST IN OSAGE COUNTY, DAS FEST, DIE AUFERSTEHUNG, RACHELS HOCHZEIT, RESERVOIR DOGS (ja, auch das ist eine Spielart des Reunion Films) und MAN FROM EARTH spielen strenggenommen nicht in der Hermetischen Welt, auch wenn sie sehr eng an das Mensch-gegen-Mensch Experiment angelegt sind. All diese Kammerspiele werden von sehr ähnlichen Fragen und ähnlichen Konflikten wie diejenigen der Hermetischen Welt getragen. Aber die Figuren dieser Kammerspiele könnten jederzeit gehen. Sie tun das nicht. Warum? Damit die Geschichte nicht vorzeitig zu Ende ist, könnte man böswillig antworten. Und oft ist das fehlende Set Glue auch tatsächlich ein großes Problem, das der Glaubwürdigkeit von Figuren und ihren Handlungen schadet. Sogar solch gute Filme wie DER GOTT DES GEMETZELS haben dieser Art Kritik wenig entgegenzusetzen. Das von Kate Winslet und Christoph Walz verkörperte Ehepaar könnte einfach gehen. Und in der realen Welt würde dies auch so geschehen. Diese Geschichten haben also im besten Fall ein anderes dominierendes Erzählkonzept. Oft handelt es sich dabei um die Was-Wäre-Wenn-Prä‐ misse und die Plausibilisierung. 4. Die Hermetische Welt 160 <?page no="161"?> Die außerhalb der Action-Genre Community eher unbekannten Filme THE RAID (Regie: Gareth Evans, 2011) und DREDD (Regie: Pete Travis, 2012) sind ähnlich wie der thematisch vielschichtigere und dadurch bekanntere SNOWPIERCER (Regie: Bong Joon-Ho, 2013) oder gar STIRB LANGSAM (Regie: John McTiernan, 1988) nicht nur Meilen‐ steine des Actionfilms, sondern aufgrund ihrer klaren, hermetischen Settingkonstruktion ein ideales narratives Gerüst für intelligentes Storytelling im Gewand geradliniger Action. Ob in der Hölle geboren, wie die Hauptfigur in SNOWPIERCER, die sich in einem Zug Wagen für Wagen nach vorne und damit die gesellschaftlichen Stufen einer apokalyptischen Welt nach oben klassenkämpft oder ob in die Höhle des Löwen hineingestolpert, wie die Gesetzeshüter in THE RAID und DREDD, die Level um Level eines von Gangstern beherrschten Hochhauses erobern - die narrative Klarheit besteht in der Hermetik der Welt. Ganz zu Anfang und gleichzeitig realisieren wir Zuschauer und die Protagonisten, dass der Weg zurück, die Tür auf Level Null versperrt ist. Der Weg hinaus führt nur nach oben. Je höher wir steigen, desto schwieriger und krasser wird es. Der Kampf, die Gewalt, die Gegner. Ganz oben sitzt der Gangsterboss, dessen Drachenhaupt wir abschlagen müssen. Dieses in seiner Einfachheit nicht zu überbietende dramaturgische Prinzip, das unabhängig von Dingen wie Aktbreaks, Charakterent‐ wicklung, Plausibilität und thematischen Fragen einer Geschichte offen zutage tritt, eröffnet ohne erzählerischen Ballast ein Tableau für Konfrontation und Kampf. Und damit für die Konzentration auf das Wichtige, das wir so gerne vom weniger Wichtigen trennen wollen. STIRB LANGSAM ist dramaturgisch ungleich komplexer und erzählt trotz klarer Hauptfigur multiperspektivisch (es gibt sogar Handlungs‐ stränge außerhalb des Hochhauses). Daher gibt es auch nicht eine klare vertikale Richtung, die der räumlichen Form der Hermetischen Welt Ich muss hier raus! - Nein. 161 <?page no="162"?> eins zu eins Rechnung trägt. John McClane muss sich in dem Hochhaus rauf und runterkämpfen, um die Gangster einen nach dem anderen zur Strecke zu bringen. Wenn draußen ein Monster herumläuft, die Protagonisten eingesperrt sind oder gerade ein tödlicher Eissturm tobt, brauchen Sie sich um die Wirksamkeit des Set Glues keine Sorgen mehr zu machen. Sorgen Sie sich lieber um Originalität und Glaubwürdigkeit des Set Glues. Von Mikro zu Makro Wenn der Android Ava in der letzten Szene von EX MACHINA mit dem Helikopter in die Welt der Menschen - unsere Welt - fliegt, steht wie in den Kontaminationsgeschichten LIFE und DAS DING AUS EINER ANDEREN WELT am Ende der Narration der Beginn einer neuen, einer großen, globalen Geschichte. Der Geschichte von einem Weltkrieg, vielleicht vom Ende der Menschheit, der Apokalypse. Zumindest eine Geschichte epischen Ausmaßes. Kein erneutes Kammerspiel, keine Hermetische Welt. Dieser Ausblick ist als Endpunkt der Narration ein enorm schwer zu erreichendes, aber sehr lohnenswertes Ziel. Ein Ziel, dass sich vor allem in der Hermetischen Welt anbietet, da wir aus der Perspektive mit der Lupe kommen und nun für den Ausblick durch das Weitwinkelobjektiv schauen. Das stimmige Verbinden dieser Gegensätze ist Teil von dem, was man die Ästhetik des Plots nennen kann. Das ästhetische Prinzip lässt sich am ehesten mit der Herstellung von Gleichgewicht beschreiben. Gleichgewicht, wo vorher Ungleichgewicht war. Zum Beispiel Gerech‐ tigkeit, wo vorher Ungerechtigkeit war. Wahrheit, wo vorher Lüge war. Erlösung, wo vorher Leiden war. Leben, wo vorher Tod war und umgekehrt. Und hier auf einer abstrakten Ebene: Makrowelt, wo vorher Mikrowelt war. 4. Die Hermetische Welt 162 <?page no="163"?> Bei dieser Beobachtung darf nicht der Fehler gemacht werden, diese Form der narrativen Gestaltung eines Endes mit dem Ausblick auf eine neue Geschichte ausschließlich unter wirtschaftlichen Aspekten durch Fortsetzungen oder im Sinne eines Cliffhangers zu deuten. Sicherlich ist das oft gewünscht und erzeugt Druck auf Autoren und Regisseure, einen Film auf eine bestimmte Weise enden zu lassen, sodass Fortset‐ zungen möglich sind. Das bedeutet, den Helden überleben lassen und eine neue Herausforderung zieht am Horizont herauf, was natürlich auch ganz und gar der dramaturgischen Struktur der Heldenreise entspricht. Doch der Ausblick auf eine neue Geschichte, die der gerade gesehenen ganz und gar nicht ähnlich sein muss, ist noch Teil der abgeschlossenen Narration unseres Films. Es gibt auch noch keinen EX MACHINA II oder LIFE II, obwohl beide Filme sehr erfolgreich waren. Zu der ebenfalls ungemein erfolgreichen apokalyptischen Zombiege‐ schichte WORLD WAR Z (Regie: Marc Forster, 2013) war ein zweiter Teil angedacht und ist nun endgültig verworfen worden. WORLD WAR Z ist ein Film, der gleichzeitig gut und schlecht ist. Und er ist nun wahrlich kein Kammerspiel, sondern die Geschichte eines atemlosen Wettlaufs um die ganze Welt. Aber das Finale wiederum spielt in der Hermetischen Welt. Die Entscheidung der Filmemacher, das bombastische Finale, das die neue Routine des täglichen Kamp‐ fes der Menschheit gegen die Zombies zeigt, zu verwerfen und mit einem kompletten Nachdreh des letzten Aktes zu diesem Hermetische Welt-Finale zu gelangen, ist bemerkenswert. Makro (Akt 1 und 2) zu Mikro (Akt 3) zu Makro (Ausblick). Denn es eröffnet nicht nur die Möglichkeit einer ungemein spannenden Versuchsanordnung in der klaustrophobischen Enge eines Labors, sondern auch eines narrativen Ausblicks auf die Geschichte nach der Geschichte. „Unser Krieg hat Ich muss hier raus! - Nein. 163 <?page no="164"?> gerade erst begonnen.“ ist der letzte Satz des Films, nachdem eine Verteidigungswaffe - nämlich die Impfung der Menschen mit einer tödlichen Krankheit - gegen die Zombies gefunden ist. Das ist zwar eine gestanzte Schlussformel, die häufig verwendet wird und häufig passt. Aber wenn sie passt, ist sie Ausdruck von guter Narration. Die Hermetische Welt ist keine zwingende Voraussetzung für den Ausblick am Ende. Ob Mose das Volk Israel oder der Affe Cesar die Seinen (PLANET DER AFFEN: PREVOLUTION, Regie: Rupert Wyatt, 2011 und noch deutlicher PLANET DER AFFEN: SURVIVAL, Regie: Matt Reeves, 2017) ins gelobte Land geführt hat, es ist der Ausblick in die neue Geschichte, die in einer zuversichtlicheren Zukunft spielt, mit der diese Heldenreisen enden. Diese Geschichte nach der Geschichte wird ironisch in der letzten Einstellung von TANZ DER VAMPIRE (Regie: Roman Polanski, 1967) zitiert, wenn wir aus dem Voice Over erfahren, dass der Vampirjäger Professor Ambronsius durch seine Flucht aus dem Schloss unwissend den Vampirismus über die ganze Welt verbreitet. Auch MATRIX bietet einen solchen Ausblick inklusive der Möglichkeit für Fortsetzungen, da der Guerillakampf gegen die Maschinen mit dem nun gefundenen Auserwählten Neo auf einer größeren, globalen, militärischen Ebene geführt werden kann. Raum und Zeit Der Echtzeitfilm, also ein Film, der völlig ohne Ellipsen auskommt, bildet konzeptionell häufig eine Einheit mit der Hermetischen Welt (BURIED - LEBEND BEGRABEN oder NICHT AUFLEGEN! ). Das heißt, nicht nur Wände und Türen sind ein zu überwindendes Problem, sondern auch die Zeit. Aussitzen geht nicht. Sei es nur der Mangel an Wasser, Nahrung oder Luft, oder gar ein dringenderer Antagonismus, 4. Die Hermetische Welt 164 <?page no="165"?> der Aktion fordert. Die Macher von Reality-Shows der Hermetischen Welt wie BIG BROTHER oder DSCHUNGELCAMP wissen das nur zu gut in ihrem täglichen Kampf gegen die totale Redundanz und Langeweile in denen von ihnen geschaffenen Mikrokosmen. Manchmal bildet der Echtzeitfilm aber auch eine Art Ableitung. Raum und Zeit sind in der modernen Physik je nach Betrachtungsperspektive und Fragestellung dasselbe oder zumindest ineinander überführbar. Also kann auch der zeitliche Raum abgeschlossen werden. Die Ticking Clock im Echtzeitfilm (GEGEN DIE ZEIT, Regie: John Badham, 1995, SPIEL AUF ZEIT, Regie: Brian De Palma, 1998) produziert eine solche zeitliche Hermetische Welt. Die Abgeschlossenheit besteht in dem Zeit‐ fenster, das vorgegeben ist und nicht ausgedehnt oder unterschiedlich interpretiert werden kann. Es ist unerbittlich. Sei es den Protagonisten bekannt oder nur dem Zuschauer bewusst. Beides führt dazu, dass die Welt des Films als hermetisch wahrgenommen wird. Wichtiges von Unwichtigem trennen Was bedeutet es nun für die Schöpfer in der Entwicklung einer Geschichte der Hermetischen Welt, dass sie um dieses Erzählkonzept wissen? Ist der Plot damit klar und jeder Plotpoint gesetzt, der Ausgang gewiss? Nein. Die Themen und Konflikte können so mannigfaltig sein wie die Individuen auf diesem Planeten. Aber in der Abwägung zweier miteinander um Aufmerksamkeit und Screentime konkurrierender Konflikte der Geschichte sollte man sich immer für den Konflikt entscheiden, der mehr mit der Hermetischen Welt zu tun hat. Ebenso sollte die Lösung des im Zentrum stehenden Konflikts mit den Gesetz‐ mäßigkeiten der Hermetischen Welt in direkter Verbindung stehen. ALIEN wäre nicht die Filmikone geworden, die er ist, wenn Ripley in bester Gewusst-Wie-Manier eine Waffe zusammengebastelt hätte, mit Ich muss hier raus! - Nein. 165 <?page no="166"?> der sie das Alien am Ende doch zur Strecke bringen kann. Nein, es ist ganz entscheidend, dass ihr Plan darin besteht, selber das Raumschiff zu verlassen und es dann mit dem Alien darin in die Luft zu sprengen. Kein Kampf, ein Rückzug. Raus aus der Hermetischen Welt. Das geht schief, weil das Alien mit zu ihr in den kleinen Raumgleiter geflohen ist. Und wieder muss Ripley die Mechaniken des jetzt noch engeren Raums nutzen, die immer mit der Grenze zwischen ihrem Mikrokosmos und der Umwelt draußen zu tun haben, um das Alien per Schleuse ins All zu befördern. Diesmal muss also das Alien raus aus der Hermetischen Welt. Das gelingt schließlich. ALIENS - Die RÜCKKEHR (Regie: James Cameron, 1986) zeigt, dass ein dramaturgisch viel komplexerer Film, der dazu auch noch viel kampfbetonter ist und dafür viel größere Räume verwendet, trotzdem für die Lösung des finalen und damit zentralen Konflikts nahezu dieselben Schritte geht: Nachdem das Mutteralien wieder gemeinsam mit unseren Helden vor der großen Explosion fliehen konnte, besteht die Lösung abermals in der Herausforderung, wie man das Alien aus dem Raum über die Grenze schubsen kann in den nächsten Raum, der das Weltall ist. Das ist nicht Ausdruck von Ideenarmut, sondern von erzählkonzepti‐ oneller Klarheit. Eine Beobachtung am Schluss: Das Erzählkonzept der Hermetischen Welt zieht sich durch das gesamte Œvre von gänzlich unterschiedlichen Regisseuren wie beispielsweise John Carpenter (DARK STAR, ASSAULT - ANSCHLAG BEI NACHT, THE FOG, DAS DING AUS EINER ANDEREN WELT, DIE FÜRSTEN DER FINSTERNIS) und Roman Polanski (EKEL, DER MIETER, DER TOD UND DAS MÄDCHEN, DER PIANIST, DER GOTT DES GEMET‐ 4. Die Hermetische Welt 166 <?page no="167"?> ZELS, VENUS IM PELZ) ebenso von Alfred Hitchcock, Sidney Lumet, Lars von Trier, Quentin Tarantino und Michael Haneke. Auch Stephen King ist sich neben seiner Lust am Grusel und am Worldbuilding dieser Affinität zur Hermetischen Welt bewusst und hat nach The Shining (3 Figuren), Misery (2 Figuren), Das Spiel (eine Figur) schon vor Jahren im Spaß angekündigt, eine Geschichte ohne eine einzige Figur zu schreiben. Wir warten noch darauf. Die Stoffideen der Hermetischen Welt Auf der Blümchenwiese der Ideen sind Sie der fiese Junge, der mit seiner Lupe und dem gebündelten Licht der Sonne sein Unwesen mit all den armen Krabbeltierchen treibt. Schämen Sie sich. Sie wollen von Menschen erzählen, die eingesperrt sind und von dem, was sie machen, weil sie eingesperrt sind miteinander. Also müssen Sie diese Menschen und auch den Raum zeigen, in dem sie eingesperrt sind. Das Davor und das Danach sind zweitrangig, meist sogar gänzlich verzichtbar. Wie dieser Mikrokosmos aussieht, also in seiner physischen Mechanik beschaffen ist, bestimmt einen wesentlichen Teil der Konfliktentwick‐ lung und damit des Plots. Da der Mensch im Gegensatz zur Laborratte ein denkendes Wesen ist, wird er versuchen, diese Grenze zwischen den Welten zu überwinden. Im Vergleich zu allen anderen Erzählkon‐ zepten tritt vor allem in dem Erzählkonzept der Hermetischen Welt die Analogie zur experimentellen Wissenschaft und den dort etablierten Methoden deutlich hervor, auch wenn explizit kein wissenschaftlicher Rahmen erzählt wird. Ich muss hier raus! - Nein. 167 <?page no="168"?> Dabei folgt die Narration immer der induktiven Methode, das heißt die Reihenfolge der Schritte Ihres Experiments besteht aus Anordnung - Ablauf - Ergebnis - Schlussfolgerung. Die Inspiration, die zu einer Idee für einen Film führt, ist aber im Normalfall das Ergebnis des Ex‐ periments, nicht die Ausgangssituation. Sie wollen also beispielsweise etwas Bestimmtes aussagen über die Natur des Menschen, die sich in genau dieser Extremsituation offenbart. Die Ideenentwicklung folgt also der deduktiven Methode. Ähnlich wie in der Plausibilisierung müssen Sie eine Ahnung davon haben, worauf Ihre Geschichte hinausläuft, bevor Sie drauf los schreiben. Der Ausgang ist zwar ungewiss für die Protagonisten und den Zuschauer, aber nicht für den Autor. Experimente mit Menschen als Probanden sind ein etablierter Teil der Forschung in vielen unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten wie der Psychologie, der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaft. Spä‐ testens seit dem berühmten Milgram Experiment von 1961 ist nicht nur der thematische Zündstoff solcher Experimente, sondern auch das narrative Potential solcher Konfliktanordnungen erkannt worden. Die Spieltheorie ist ein Zweig der Wirtschaftswissenschaften, der sich der Erklärung menschlicher Interaktion in einem streng kontrollierten Umfeld widmet. Das mutet an, als sei sie geradezu für die Autoren der Hermetischen Welt ersonnen. Spieltheoretische Betrachtungen wie bei‐ spielsweise das Gefangenendilemma oder das Ultimatumspiel erörtern die Frage, unter welchen Bedingungen für die Spieler, also die Prot‐ agonisten einer Geschichte, egoistisches Verhalten oder Kooperation nutzenmaximierend ist. Diese und ähnliche Fragestellungen können rein mathematisch betrachtet werden, auch wenn sie auf szenischen Konfliktsituationen basieren. Gedanklich lässt sich der Weg auch 4. Die Hermetische Welt 168 <?page no="169"?> wieder umkehren und so entsteht ein riesiges Inspirationspotential für Geschichten der Hermetischen Welt. Fazit: ▸ Wir haben in der Unterscheidung verschiedener hermeti‐ scher Welten nur am Rande von Zimmern, Verliesen, Boo‐ ten, Fahrstühlen oder Inseln gesprochen. Denn nicht das Schachbrett ist erklärungsbedürftig, sondern die Spielfigu‐ ren sind es. Die sind divers und vielschichtig, genauso wie die Wechselwirkungen zwischen ihnen. Das Schachbrett ist dabei nicht beliebig, es ist vielleicht sogar der Funke an dem sich die Idee für eine Geschichte entzündet. ▸ Aber nicht das Setting, also der Raum mit all seinen herme‐ tischen Eigenschaften ist die narrative Substanz, sondern die Konstellation und der Konflikt zwischen verschiedenen Protagonisten. Das hermetische Setting ist die erste und dominierende Konsequenz daraus. Es ist eine Folge und keine Ursache im Sinne der Entstehung einer Idee. ▸ Das Erzählkonzept der Hermetischen Welt hat den Charakter einer Versuchsanordnung oder eines Experiments mit einer klaren Anordnung, einem Verlauf und einem Ergebnis. ▸ Der Ausgang des Experiments ist jedoch offen und dem Zuschauer unbekannt, anders als bei der Gewusst-Wie-Ge‐ schichte, die sich oft ähnlicher Szenarios bedient (zum Bei‐ spiel Gefängnisausbruch). ▸ Mensch-gegen-Mensch, die Konfrontation und das Spiel sind die drei dominierenden Konstellationen innerhalb der Her‐ metischen Welt. Sie unterscheiden sich in der Verteilung von Ich muss hier raus! - Nein. 169 <?page no="170"?> Wissen auf die einzelnen Beteiligten und die Verteilung der antagonistischen Kraft. ▸ Hauptfigur ist in aller Regel, die Person, die am wenigsten weiß von dem, was hier gespielt wird. ▸ B-Plots sind selten möglich oder sinnvoll in der Hermeti‐ schen Welt. ▸ Es ist ein sehr soziales Erzählkonzept, gerade weil so wenige Figuren darin platziert sind. ▸ „Nichts raus“ bedeutet aber auch „Nichts rein“. Die Limita‐ tion auf bekannte Zutaten, vor allem beim Figurentableau beschränkt die erzählerischen Möglichkeiten. Der Zufall, auch ein Deus ex Machina wird eliminiert. Dass die Über‐ schaubarkeit des Szenarios das Erzählen also einfacher macht, ist ein Trugschluss. Im Gegenteil. Fehler und Schwä‐ chen der Narration treten schonungslos zutage. ▸ Die meisten Hermetischen Welten führen zu Thrillern. Einge‐ sperrt sein ist ein existenzielles Problem für jeden Protago‐ nisten. Innerhalb des hermetischen Settings eines solchen Thrillers ist keine Lösung für die Konflikte der Figuren möglich. Es kann nur schlecht ausgehen oder einen Ausweg aus der Hermetischen Welt geben. Darin - und nicht in der absoluten Größe der Welt - unterscheidet sich die Hermetische Welt als Setting einer filmischen Narration von den Welten des Erzählkonzepts des Worldbuilding. Beiden Erzählkonzepten ist zwar gemein, dass die Welt des Films von den Protagonisten durchsucht, ergründet und in ihrer Wirkweise verstanden werden muss, aber die Hermetische 4. Die Hermetische Welt 170 <?page no="171"?> Welt ist immer ein Gefängnis, ein Ort der Prüfung und keine dauerhafte Zuflucht, kein Zuhause. ▸ 14 Filme in der Top-250-Liste bei imdb.com. Ich muss hier raus! - Nein. 171 <?page no="173"?> 5. Worldbuilding Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! „The muse in charge of fantasy wears good, sensible shoes.“ Lloyd Alexander Beim Schreiben ist Worldbuilding alles. Und alles Schreiben ist World‐ building. Mit diesen Sätzen könnte man das Kapitel beginnen und gleichzeitig abschließen. Alles Wichtige ist gesagt. Natürlich kreiert die kleinste und trivialste Erzählung, selbst der kürzeste Witz, eine eigene Welt. Warum also die Trennung von World‐ building von all den anderen Erzählkonzepten? Es ist richtig, dass man unter dem Erzählkonzept Worldbuilding jeden Film subsumieren könnte. Das ist so nur noch bei einem weiteren Erzählkonzept möglich, nämlich dem mit Abstand am weitesten verbreiteten Erzählkonzept, der Was-Wäre-Wenn-Prämisse. Doch in beiden Fällen lohnt sich die Differenzierung. Über Worldbuilding gibt es nicht nur tausende Abhandlungen im akademischen Umfeld, sondern eine ganze Industrie von Produkten. Es gibt nicht nur haufenweise und umsonst youtube-Tutorials, Communi‐ ties, Blogs und Webseiten, sondern auch gegen Geld Apps, Programme, Spiele und auch so antik anmutende Produkte wie Bücher. Die Apps und Programme beinalten toolboxes, plattforms, processes, environ‐ ments, ressources und ganze Worldbuilding Generatoren. Die Tutorials und die Bücher enthalten Anweisungen, Anregungen, Strukturen, Konzepte, Muster, Vorlagen, Bausteine und Checklisten. Da ist also was <?page no="174"?> im Gange, beim Worldbuilding. Angebot und Nachfrage. Geschnitten Brot. Es gibt sogar Spiele, deren Spielkonzept darin besteht, World‐ building zu betreiben. Es scheint also mindestens zweierlei zu sein: ein großer Spaß und ein ernsthaftes Betätigungsfeld für Kreative in unterschiedlichsten Bereichen. Der massive Bedarf rührt natürlich zum großen Teil daher, dass die immer noch stetig wachsende Videospielindustrie bei nahezu jedem ihrer Produkte massive Anforderungen an das Kreieren von Welten stellt. Neben dem reinen Ausdenken, dem Konzipieren und Ausbalan‐ cieren von Elementen und Kräften gehört in dem visuellen Medium Videospiel das gesamte konkrete Design dazu. Es ist uferlos. Doch wir ziehen die Scheuklappen an und wollen einen genauen Einblick in das bekommen, was Worldbuilding beim Film zu einem Erzählkonzept macht. Worldbuilding nimmt als Erzählkonzept eine Sonderstellung ein. Es ist das einzige Erzählkonzept, das nicht auf die im Zentrum der Narration stehenden Figuren und deren Konflikte abzielt, sondern auf das die Figuren Umgebende: das Aussehen und die Mechanismen, Regeln und Grenzen der fiktiven Welt. Dabei muss der zentrale Konflikt zwischen den Figuren einer Geschichte zwar mit den die Welt konstituierenden Mechanismen zu tun haben, die Konflikte und Figuren sind aber austauschbar. Das muss man erst mal sacken lassen. Harry Potter, Captain America, Katniss Everdeen und Frodo sind austauschbar? Ja, liebe Fans, das sind sie. 5. Worldbuilding 174 <?page no="175"?> Nichts beweist das so gut, wie der Hauptfigurenkill in GAME OF THRONES, der als Phänomen der modernen Narration bereits bewuss‐ ten Eingang in die Popkultur gefunden hat. Natürlich sind Figuren wie Harry Potter, Neo und Luke Skywalker zentrale Gestalten der jeweiligen fiktiven Welt. Ohne sie gibt es erst mal keine Geschichte. Sie sind Auserwählte, Erlöser, Helden. Sie sind damit konstitutiv und unabdingbar für den Start. Ihre Heldentaten ebnen unseren Weg in die Welt. Aber es gibt ein Davor, ein Danach und ein Daneben. Wir bewegen uns somit sehr häufig in dem Format der Reihe oder sogar der Serie und der narrativen Welt des Ensemblefilms. Zusammen sind wir stark Teambuilding ist ein Stichwort, das aus dem Management stammt und Einzug gehalten hat ins moderne Storytelling. Das hochkomplexe Teambuilding der AVENGERS im Marvel Cinematic Universe verlief mustergültig. Bei der JUSTICE LEAGUE von DC kann man mustergül‐ tiges Versagen beobachten, was auf Seiten der Verantwortlichen, die das zum Teil auch offen zugeben, eher mit Pleiten, Pech und Pannen zu tun hat, als mit Inkompetenz. Man denke an die beiden zentralen DC-Superhelden Batman und Superman, die einfach nicht in dasselbe Universum passen wollen. DER HERR DER RINGE, HARRY POTTER, STAR WARS, STAR TREK, TOY STORY, MADAGASCAR, DAS GROSSE KRABBELN - A BUGS LIFE, X-MEN, GUARDIENS OF THE GALAXY, FLUCH DER KARIBIK, selbst DER ZAUBERER VON OZ, all diese Beispiele für Worldbuilding erzählen davon, wie Teams sich gegen innere und äußere Widerstände bilden und bewähren müssen. Teambuilding ist also ein häufig anzu‐ treffendes narratives Motiv, aber es ist weder notwendig noch hinrei‐ chend für Worldbuilding. OCEANS ELEVEN, PITCH PERFECT, COOL RUNNINGS oder THE COMMITMENTS erzählen auch vom Werden Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 175 <?page no="176"?> und Bewähren von Teams, ohne dass sie mit Worldbuilding viel zu tun hätten. AKIRA, BLADE RUNNER, ALLES STEHT KOPF oder DIE MONSTER AG repräsentieren Worldbuilding, ohne dass Teambuilding eine große Rolle spielen würde. Worldbuilding ist das dominierende Erzählkonzept des Fantasy- und des Science Fiction-Genres und der meisten Animationsfilme. Die Beispiele machen deutlich, welche Filmprojekte hier ihren Auftritt haben. Es sind die großen Franchise-Projekte mit Intellectual Proper‐ ties, die Milliarden wert sind. Auch wenn es den wenigsten Autoren vergönnt sein wird, einmal eine eigene Worldbuilding-Geschichte in diesen Dimensionen realisiert zu sehen, lohnt der genaue Blick auf die narrativen Wirkweisen des Konzepts. Klein und Groß George R. Romeros Trilogie (NIGHT OF THE LIVING DEAD, 1968, DAWN OF THE DEAD, 1978 und DAY OF THE DEAD von 1985) ist die kreative Basis des gesamten Subgenres des Zombiefilms. Dessen wichtigster aktueller Vertreter ist allerdings die ungemein erfolgreiche Serie THE WALKING DEAD. Romeros Filme sind mustergültige Bei‐ spiele der Hermetischen Welt, THE WALKING DEAD hingegen ist zwar voller hermetischer Orte: Ständig muss man sich in Häusern und Autos oder hinter Mauern verbarrikadieren, aber es ist eine offene Welt. Der gesamte Globus wird zwar nicht bespielt, ist aber mitgemeint. Daher erzählt THE WALKING DEAD bei aller Genretreue durchaus von ganz anderen Themen als die Zombiefilme der 70er und 80er Jahre. Auch wenn man ständig vor den antagonistischen Gefahren der Zombies oder der in der Anarchie entmenschlichten Menschen flieht, ist keine echte Flucht möglich. Für unsere Protagonisten ist vielmehr das Aufbauen von sozialen und wirtschaftlichen Strukturen und das Ausbauen von Kompetenzen nötig, um zu überleben. Eine perfekte 5. Worldbuilding 176 <?page no="177"?> Synthese aus Hermetischen Welten auf die kurze Erzählstrecke und Worldbuilding auf die lange Horizontale, also über die Grenzen von einzelnen Folgen und Staffeln hinweg. Die gebaute Welt ist bei aller Gefahr heimelig, sie ist immer ein Wunschtraum, der für den Zuschauer eskapistisches Schwelgen er‐ möglicht. Selbst die für ein junges Publikum recht düsteren Dystopien von DIE TRIBUTE VON PANEM oder DIE BESTIMMUNG sind heim‐ liche Wunschträume, weil darin in der Phantasie ein heldenhafter Kampf gegen klar zu identifizierende Gegner gefochten werden kann. So komplex das auch ausgetüftelt ist in seinen sozialen, politischen und technologischen Ausprägungen, es kommt in diesen Welten immer der Wunsch nach einer vereinfachten Welt zum Tragen. Einer Welt, in der das Coming-of-Age verwirrte Publikum eine moralische Vereinfa‐ chung findet. Das dem eigenen Coming-of-Age bereits entwachsene Publikum bekommt eine politische Vereinfachung. Unter vielen Schichten zivilisatorischer und moralischer Gewänder, die wir heute alle tragen, kommt womöglich etwas Archaisches an die Oberfläche. Jahrzehntausende lebte der Mensch als seltene, bedrohte Art. Plötzlich muss derselbe Mensch in dem Bewusstsein leben, dass es eigentlich viel zu viele von ihm auf diesem Planeten gibt. Unbewusst bricht sich in uns Menschenexemplaren des 21. Jahrhunderts und der modernen Popkultur eine besonders heikle Wunschvorstellung bahn: Eine Welt mit weniger Menschen. Die klarste Vereinfachung, die denkbar ist. Des Bösewichts Thanos Plan in den erfolgreichsten Worldbuilding-Filmen aller Zeiten, AVENGERS: INFINITY WAR und AVENGERS: ENDGAME (Regie: Anthony und Joe Russo, 2018, 2019) ist auch nicht die Zerstörung allen Lebens, sondern die Reduktion auf eine zufällige Hälfte. Einer von Zweien stirbt. Ein wahrhaft grimmiger und unerhörter Plan. Doch ist es wirklich die schrille Tat eines Wahn‐ Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 177 <?page no="178"?> sinnigen? Nein, der Charakter dieses allmächtigen Bösewichts ist ein Amalgam unserer verborgenen kollektiven Wünsche. Das macht ihn - wie jeden guten Bösewicht - interessant. Der Wunsch nach einem Leben in einer vereinfachten Alternativwelt trifft zumindest auf die fiktiven Welten der Popkultur zu. In der totalitären und unmenschlichen Welt von George Orwells 1984 oder den apokalyptischen Szenarien von Cormack McCarthys THE ROAD oder Andrej Tarkowskis STALKER will niemand leben. Es gibt bei der narrativen Methodik des Worldbuildings kein Geheim‐ nis, keinen Heiligen Gral. Man muss an tausend Fronten ranklotzen. Schließlich tut der Weltenbauer so, als sei er Gott. Bekanntermaßen hat Tolkien für seine Herr-der-Ringe-Welt eine eigene Topographie und eigene Sprachen entwickelt. Evolutionäre Entwicklungen von Jahrmillionen und kulturelle Entwicklungen von vielen tausend Jahren müssen ausgedacht und - zumindest in ihrem Ist-Zustand - niederge‐ schrieben werden. So füllt man aberwitzig viele Seiten Papier. Daher ist auch das umfangreiche und hier nur angeschnittene, sehr ausdif‐ ferenzierte Handwerkszeug hilfreich, nicht nur für die Spielbranche, sondern auch für die Narration im Filmbereich. Die narrative Substanz besteht also in dem Funktionieren einer fremden Welt. Sie darf sich in einer Schieflage befinden. Unsere Helden treten an, sie wieder zurechtzurücken. Aber grundsätzlich muss sie funktio‐ nieren. Das ist keine Regel, kein Trick, keine Methode, sondern eine Anforderung. Fiktive Welt als Nerd-Droge Der mediale Zeitgeist, man könnte auch etwas nüchterner sagen „der nach Eskapismus und Community dürstende Zuschauer“ will es, dass seit einigen Jahren serielles Erzählen im Kino, im TV und im Streaming 5. Worldbuilding 178 <?page no="179"?> quantitativ und damit kommerziell den Ton angibt. Das wiederum ermöglicht es den Erzählern, also den Weltenbauern aller Art, in allen Genres und Formaten ihre Welten zu bauen und darin scheinbar unendlich viel an Geschichten zu erzählen. Oder ist es umgekehrt? Die Nerds und Geeks unter den Kreativen, die geistigen Nachfahren von Tolkien und Martin, wollten endlich mal ihre inneren Welten hinaus in die Wirklichkeit transportieren, sie „realisieren“. Und siehe da, der Zeitgeist - also das Publikum - greift gierig zu und verlangt immer mehr, wird süchtig nach diesem narrativen Stoff. Etwas Besseres kann den Dealern, gemeint sind die Produzenten und noch mehr die Streaming Plattformen, gar nicht passieren. Orientie‐ rung in der fiktiven Welt und Identifikation mit fiktiven Charakteren kann, wenn die Welt einmal gebaut ist, immer wieder abgerufen werden. Es ist kein Zufall, dass die von Autoren zu schreibende konzeptionelle Basis einer Serie, welchen Genres auch immer, als Bibel bezeichnet wird. Das Ausufernde der Schreibarbeit für Film und Fernsehen - sieben Tage als Deadline ist für Sterbliche eher nicht zu schaffen - führt zu allerlei arbeitsteiligen Konstruktionen großer Autorenteams wie dem sogenannten Writers Room. Teambuilding in realiter. Egal für welchen Stoff oder für welches Genre, ob im großen Team oder als Einzelkämpfer, viele der Erkenntnisse gelten auch bei Erzählwelten, die nicht eindeutig im Bereich des Fantasy und der Science Fiction angesiedelt sind. Bauabschnitte Auch ohne in die gestalterische Tiefe zu gehen, werden die sehr unter‐ schiedlichen Disziplinen des Worldbuildings deutlich. Es geht nicht nur um die trivialen Fragen wie „Können die Drachen Feuer speien oder Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 179 <?page no="180"?> nicht? “ oder „Wie viele Quadratkilometer groß ist Mittelerde? “ Das muss auch beantwortbar sein, wenn jemand genau diese Frage stellt. Alle diese Fragen lassen sich in Abschnitten zusammenfassen, die sich wie das Fakultätsverzeichnis einer großen Universität lesen: 1. Kosmologie und Metaphysik (Entstehung der Welt, Aufbau und die Rolle von göttlichen Schöpfern) 2. Geografie und Klima (Geografische und topografische Merkmale, Klimazonen und Jahreszeiten) 3. Biologie, Physik, Chemie (Lebensräume von Flora und Fauna, Gravitation, Mechanik, Stoffwechsel, Evolution) 4. Kultur und Geschichte (Ethnien, kulturschaffende Spezies, Wissenstransfer) 5. Gesellschaft und Religion (politische Systeme, soziale Strukturen, Traditionen, Ökonomie, Religion und Spiritualität) 6. Technologie und Magie Besonders der im Worldbuilding so häufig dominierende Abschnitt der Technologie und Magie bildet einen problematischen Komplex. Technologie, sowohl antik anmutende als auch und vor allem die spekulative Technologie, steht unweigerlich in einem Spannungsfeld zur Magie. Man kann dieses Spannungsfeld mit der Unvereinbarkeit des Erzählkonzepts des Gewusst-Wie mit Superkräften vergleichen (siehe Kapitel Die Gewusst-Wie-Geschichte). Magie und Superkräfte sind dabei nahezu identische Elemente der Narration: Wer zaubern kann, hat eine Superkraft. Technologie, zum Beispiel überlegene Waf‐ fen, ist das Ergebnis von Kompetenzen. Doch Magie und Superkräfte 5. Worldbuilding 180 <?page no="181"?> schlagen technisch-militärische Überlegenheit. Das mag erzählerisch zwar konsistent sein, aber es entwertet die technologische Kompetenz. Warum soll ich beeindruckt sein, wenn hartes Training einen Mann zum besten Faustkämpfer der Welt gemacht hat, und warum soll ich um ihn bangen, auch wenn er es mit Hilfe einzigartiger Waffen wirklich mit 20 menschlichen Gegnern gleichzeitig aufnehmen kann? Warum, wenn nach vielen erfolgreichen Kämpfen gegen allerlei menschliche Bösewichter im Anschluss ein Außerirdischer daherkommt, der um ein Vielfaches stärker und schneller ist, fliegen kann und tödliche Strahlen aus seinen Augen kommen? All das Training, all die Gadgets für die Katz. Armer Bruce Wayne. Was ist die Lösung in erfolgreichem Worldbuilding? Zum einen die Diversifizierung. Die großen Schlachten, an denen sich die Parteien in Mittelerde abarbeiten, sind nur mit Armeen aus Kriegern plus ein paar Figuren, die Magie draufhaben, zu gewinnen. Quantität und Qualität, Anzahl, Kompetenz und Ausrüstung der Sol‐ daten plus die Magie der Zauberer. Auf beiden Seiten. Dazu ist es wichtiger, die Grenzen der magischen Mächte zu definieren, als deren Wirkweise. Die ist immer Humbug. Und seien wir mal ehrlich, selbst in den wunderbar konsistenten Herr-der-Ringe- und Hobbit-Welten ist die Zauberkraft häufig ein Deus Ex Machina, der nach Bedarf kommt und geht: Gandalf reitet in der großen Verteidigungsschlacht um Minas Tirith den flüchtenden Kriegern aus Gondor entgegen und vertreibt mit einem Zauberstrahl die Nasgul auf ihren Drachen. Warum? Weil es für den weiteren Verlauf der Erzählung Sinn macht, dass ein paar der Krieger überleben und Minas Tirith erreichen. Im weiteren Verlauf der Schlacht richten genau diese Drachen allerhand Schaden an, zerstören Mauern und töten Soldaten. Warum ist Gandalf nicht zur Stelle? Wir sehen, der effiziente Einsatz der eigenen militärischen Stärken Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 181 <?page no="182"?> mag im strategiebetonten Videospiel angebracht sein, um Gegner zu bezwingen, in der Narration ist häufig Anderes wichtiger. Zum anderen kann man wie George Lucas im STAR WARS Universum zwar tonnenweise spekulative Technologie präsentieren, sie aber nicht erzählen. Sie ist einfach da, es wird nicht gefragt und nicht erklärt. Sie wird erzählerisch links liegen gelassen, was ja auch der Grund dafür ist, dass man die Sichtweise teilen kann, STAR WARS sei gar keine echte Science Fiction. Genre hin oder her, es ist klug gewesen, sich für eine Seite klar zu entscheiden, und die Geschichten um die Superkräfte der Jedi herum zu erzählen. Magie statt Technik. Das ist „sauberes“ Worldbuilding. Beide Beispiele zeigen, dass die Konsistenz der jeweiligen Welt durch geschickte Auslassung erzeugt oder zumindest nicht beschädigt wird. Man muss also nicht zwanghaft alle sechs Bauabschnitte abarbeiten, aber man muss wissen, dass es sie gibt und dass sie eine Rolle spielen. Im Fantasy-Genre Die Fans und Analysten der Genres Fantasy und Science Fiction verbin‐ det neben der Leidenschaft für das Phantastische die Lust am Kategori‐ sieren und Sortieren. Diese wird nur noch im Bereich der Musikstile beziehungsweise Musikgenres um Längen übertroffen und dort dadurch ins Groteske gesteigert. Wer will, kann im Netz nicht hunderte, sondern tausende von Musikgenres finden und identifizieren. Im Bereich des Genres Fantasy findet man in der Betrachtung der narrativen Elemente des Worldbuildings die folgenden drei Kategorien: 5. Worldbuilding 182 <?page no="183"?> 1. High Fantasy Beispiele: Der Herr der Ringe, Game of Thrones, The Witcher, Conan der Barbar, Terry Prachetts Scheibenwelt, Legende, Der Dunkle Kristall, Willow 2. Portal Fantasy Beispiele: Alice im Wunderland, Die Chroniken von Narnia, Die Unendliche Geschichte, Harry Potter, Der Goldene Kompass, Der Dunkle Turm, Chihiros Reise ins Zauberland, Percy Jackson, Die Monster AG, Peter Pan, Der Zauberer von Oz 3. Low Fantasy Beispiele: Bright, Highlander, Prince of Persia: Der Sand der Zeit, Excalibur, Die Nebel von Avalon, Die Nibelungen, TV-Serien: Carnival Row, American Gods, Forever, Lost, Lucifer, Superna‐ tural In der Kulturwissenschaft wird gemeinhin Low Fantasy von der High Fantasy getrennt durch ihren Anspruch. Low Fantasy wird als lite‐ rarisch weniger wertvoll gesehen und die Vertreter des Subgenres somit im Bereich der Pulpliteratur verortet. CONAN DER BARBAR (Regie: John Milius, 1982) und GAME OF THRONES wären unter dieser Perspektive recht eindeutig Low Fantasy. Erzählerisch begnügt sich nach der Meinung der Kulturwissenschaftler die Low Fantasy mit den ausgetretenen Motivpfaden von Schwertkampf, Zauberei, Drachen und so weiter, um allerlei Action und Spektakel zu erzählen. High Fantasy hingegen erzähle komplexere Welten für komplexere Fragen. Dies kann durchaus als eine auf willkürlicher und subjektiver Wertung basierende Unterscheidung angesehen werden, der ich mich somit nicht anschließen will. Im Sinne der erzählerischen Substanz kann eine viel klarere und objektivere Unterscheidung vorgenommen werden: Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 183 <?page no="184"?> High Fantasy schafft Welten, die sich von der unsrigen in vielen Aspekten, unterscheiden müssen. Zwar dürfen wir Zuschauer viele Parallelen zu der wahren Welt ziehen, das heißt in allen Punkten, die nicht explizit auserzählt werden, können wir unsere wahre Welt in ihrer sozialen, physikalischen und biologischen Wirkweise zu Grunde legen. Es gibt Menschen, Pflanzen, Tiere, Landmassen, Ozeane, Wetter, Gestirne und so weiter. Doch der wesentliche Unterschied liegt darin, dass das geschichtliche Bewusstsein im Sinne des Narrativs der eigenen Existenz für die die Welt bevölkernden Figuren ein anderes ist. Dieses Narrativ der eigenen Existenz ist immer ein Schöpfungsnarrativ, eine Genesis. Sei sie religiös oder säkular. Die High Fantasy Welt exis‐ tiert nicht vor, nach oder neben der wahren Welt, sie existiert außerhalb unseres Zeit- und Raumkontinuums, das wir als naturwissenschaftlich beobachtbare Gegebenheit - man könnte auch schlicht „Realität“ sagen - annehmen. Und sie existiert außerhalb aller Schöpfungsmythen, auch wenn sie sich motivisch daraus bedient. Das klingt so, als müsse man als Leser oder Zuschauer einen riesigen Schritt über einen tiefen Graben der Abstraktion machen hinüber in die gebaute Welt des High Fantasy. Doch dem ist nicht so. Der gedankliche Schritt im Sinne der Suspension of Disbelief ist nur ein kleiner Hüpfer, was der immense Erfolg des Genres bei einem jungen und zuweilen auch wenig anspruchsvollen Publikum belegt. Low Fantasy fügt der unsrigen Welt lediglich Elemente hinzu (Magie, Wesen, Mythen) beziehungsweise tauscht diese aus. So leben in der Welt von BRIGHT (Regie: David Ayer, 2017) und der Serie CARNIVAL ROW (2019) Feen, Elfen, Orks und andere Wesen nicht konfliktfrei, aber doch selbstverständlich neben und zusammen mit Menschen. 5. Worldbuilding 184 <?page no="185"?> Die unsterblichen Schwertduellanten in HIGHLANDER (Regie: Russel Mulcahy, 1986) könnten theoretisch existieren, ohne dass unsere Welt groß Notiz davon nimmt. Sie deuten unsere Welt nicht um, sie ergänzen sie um einen quasi-göttlichen Mythos. All die Implikationen für unsere tatsächlichen spirituellen und weltanschaulichen Haltungen werden konsequent umschifft. Das Wissen um die Existenz von unsterblichen Männern, die um eine Form göttlicher Macht mit Schwertern kämp‐ fen, würde sämtliche Religionen dieser Erde in eine tiefe Sinnkrise stürzen, um es vorsichtig auszudrücken. Doch selbst die unsterblichen Duellanten respektieren den „Heiligen Boden“ zum Beispiel in einer Kirche. Das ist natürlich inkonsistent. Aber die Konsequenz einer welt‐ anschaulichen Komplettgestaltung im Sinne einer konsistent gebauten Welt wäre hier fehl am Platze. Denn HIGHLANDER ist ein stylischer Actionfilm mit allerlei Schwer‐ punkten jenseits des Worldbuildings. Er mogelt sich sehr geschickt durch. All die Fortsetzungen des Highlander Franchises, die sich diesen Luxus nicht gönnen konnten oder wollten und Fragen nach dem Woher und Warum stellen und beantworten, gleiten damit sofort in den Trash ab. HIGHLANDER ist nach unserer völlig wertfreien Sprechweise eindeutig Low Fantasy. Der zentrale Konflikt des Protagonisten wird durch den Schwertkampf mit dem Antagonisten gelöst, er liegt also inmitten des konstitutiven Elements dieser Low Fantasy-Welt. Der „Austausch von Elementen“ bedeutet auch häufig einen Austausch historischer Ereignisse. Dadurch können wir in dem Subgenre der Al‐ ternativweltgeschichten oder auch der sogenannten „kontrafaktischen Geschichtsschreibung“ landen, wie Robert Harris’ FATHERLAND oder die Serie THE MAN IN THE HIGH CASTLE. Hier zum Beispiel werden Welten beschrieben, die so oder so ähnlich entstehen könnten, wenn Nazideutschland den Krieg gewonnen hätte. Völlig unverständlicher‐ Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 185 <?page no="186"?> weise werden diese Was-wäre-gewesen-wenn-Szenarien eher unter Science Fiction subsumiert. Meistens wird die Abzweigung von der realen Menschheitsgeschichte jedoch im Mittelalter gemacht, wodurch die bekannten Motive Schwerkampf, Drachen, Magie (Sword & Sor‐ cery) sich sehr organisch einfügen. Portal Fantasy erklärt sich selbst: dort existiert ein Portal, das zwei Welten, die unsrige und eine Low oder High Fantasy-Welt, verbindet. Das Portal ist dabei narrativ nicht immer mit einem konkreten Tor, das eine bestimmte Größe, einen bestimmten geografischen Ort und eine bestimmte Wirkweise hat, zu beschreiben. Ganz konkret und haptisch ist es in DIE UNENDLICHE GESCHICHTE (Regie: Wolfgang Petersen, 1984), wo das Portal aus einem Buch besteht. In DIE BRÜCKE NACH TERABITHA (Regie: Gábor Csupó, 2007) ist es besagte Brücke. In DIE CHRONIKEN VON NARNIA (Regie: Andrew Adamson, 2005) ist es ein Wandschrank, durch den man hindurchgehen muss. Doch auch die unkonkreten Portale bei PETER PAN und DER ZAUBERER VON OZ sind narrativ beschreibbar als quasireale Traumwelt, die aber Auswirkungen auf die Welt außerhalb des Traums hat. Der dramaturgisch misslungene und kommerziell gefloppte DER GOL‐ DENE KOMPASS (Regie: Chris Weitz, 2007) war eine Verfilmung des ersten Teils der His-Dark-Materials-Romane von Philip Pullman. Die hier konzipierte Portal Fantasy-Welt stellt wahrscheinlich die interessanteste und komplexeste Form einer Parallelweltgeschichte dar - abgesehen natürlich von dem Meilenstein MATRIX (siehe Kapitel Die Plausibilisierung). Ebenso wie bei Matrix besteht der Geniestreich darin, nicht aus der realen Welt durch das Portal in eine Fantasy-Welt hinüberzutreten, sondern umgekehrt. Unsere Welt ist der Satellit, die Ableitung der eigentlichen Welt, in der die Kämpfe zwischen Gut und 5. Worldbuilding 186 <?page no="187"?> Böse gefochten werden und das Schicksal aller Welten auf dem Spiel steht. Narrative Substanz in Form eines Perspektivwechsels. Der kommerzielle Misserfolg hat im Falle von DER GOLDENE KOM‐ PASS dazu geführt, dass die Reihe im Kino nicht fortgeführt wurde. Doch der aktuelle Reboot als teuerste BBC-Serie aller Zeiten macht mit dem neuen kreativen Personal (Regie: Tom Hooper, Autor: Jack Thorne) alles richtig und bewahrt den düsteren Charakter und die erzählerische Substanz der Romanvorlage. Aus Fehlern - am besten natürlich aus denen der anderen - wird man klug. Im Science Fiction-Genre Auch wenn es sich bei literarischer Science Fiction um ein recht junges Genre handelt, das - vor allem im Medium Film - doch allerhand Iden‐ tifizierungspunkte bietet, gibt es wie so oft kein einziges notwendiges, wohl aber viele hinreichende Kriterien für die eindeutige Zuordnung einer Geschichte zu diesem Genre. Man kann eine ganze Reihe von Themen des Science Fiction aufzählen: Technologie, Forschung, Raum‐ fahrt, Außerirdische, Paranormale Phänomene, künstliche Menschen, Zukunft, Zeitreise und so weiter. Auch kann man den Mechanismus der das Genre definierenden Spekulation beziehungsweise Extrapola‐ tion nutzen um Hard Science Fiction von Soft Science Fiction zu unterscheiden. „Hart“ wird es, wenn der Focus der Geschichte auf den Bauabschnitten 1, 2, 3 und 6 liegt, also auf den naturwissenschaftlichen Themen. „Weiche“ Science Fiction erzählt mehr von den Abschnitten 4 und 5, also Kultur und Gesellschaft. Naturwissenschaft versus Geis‐ teswissenschaft. Zwei Fakultäten im Clinch um die Vorherrschaft. Dabei kann es durchaus sein, dass eine technische Spekulation uns ge‐ radewegs in eine Soft Science Fiction-Geschichte katapultiert, wie die Lebensverlängerungstechnologien in der Serie ALTERED CARBON Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 187 <?page no="188"?> oder die Zeitmaschine in H.G. Wells gleichnamigem Roman. Nicht die Maschine in ihrer Wirkweise, noch die Auswirkungen auf die mensch‐ lichen Figuren, die mit dieser Ungeheuerlichkeit konfrontiert werden, also mit der Macht und den Möglichkeiten, in der Zeit zu reisen, interessieren Wells besonders. Sondern es ist die Gesellschaftsutopie einer Menschheit in allerfernster Zukunft, die das Wissen um ihre kulturelle Herkunft vergessen hat und dadurch schwach geworden ist. Es muss erst ein Mann aus der Vergangenheit kommen, um mit seinen Büchern - und nicht etwa mit der Technologie seiner Zeitmaschine - die Zukunft zu retten. „Blickt nach hinten! “ ruft Wells uns mit seiner Geschichte zu, in der er uns ganz weit nach vorne schickt. ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT (Robert Zemeckis, 1985) und seine beiden Sequels tun das genaue Gegenteil. Die Implikationen der Zeitreise selbst, die Macht und die Möglichkeiten, werden technisch, wirtschaft‐ lich und emotional mit all ihren aberwitzigen und gänzlich inkonsis‐ tenten Wirrungen durchdekliniert. ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT, FRANKENSTEIN, DIE FLIEGE, JURASSIC PARK, TERMINATOR, all diesen Science Fiction-Geschichten liegt natürlich ein anderes Erzählkonzept zugrunde, das ebenso häufig im Science Fiction Genre anzutreffen ist: Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse. Transzendenz und Materie Eine andere Welt, jenseits der unsrigen. Darum scheint es den Men‐ schen schon recht lange zu gehen. Von Anfang an. Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Fragen, auf die man Antworten in den Religionen oder der Metaphysik findet. Himmel und Hölle im Chris‐ tentum und Islam, das Nirvana im Buddhismus und das Brahman im Hinduismus kann man auch unter der Perspektive des Worldbuildings betrachten. 5. Worldbuilding 188 <?page no="189"?> Wenn in einem Film von einer gänzlich anderen Welt erzählt wird, geht es immer auch um Transzendenz. Dieser neue Raum wird auf rein geistiger Ebene durch Grenzen charakterisiert, die wir als Rezipienten des Erzählten somit überschreiten. Neue Möglichkeiten der Erfahrung und der Erkenntnis sind unser Lohn. Doch bleiben wir realistisch: Es ist für Filmemacher schon verdammt schwer, ganz und gar irdische Konflikte und die ungemein komplexe Psyche der erzählerischen Knetmasse, die der Mensch ist, zu veräußer‐ lichen und visuell zu erzählen. Da auch noch Fragen der Transzendenz behandeln? Das geht fast nur eins zu eins im Dialog, indem die Figuren der Geschichte sich über Fragen der Transzendenz unterhalten. Es gibt diese wenigen Filme, die sich zum Beispiel komplexen theologischen Fragestellungen widmen, wie Martin Scorseses SILENCE (2016). Aber egal wie gelungen das auch ist, es ist Kassengift und daher selten. Dem fähigsten (ich sage bewusst nicht dem besten) Filmemacher unserer Zeit, er heißt James Cameron, ist mit AVATAR - AUFBRUCH NACH PANDORA (2009) das vollkommenste und beeindruckendste Beispiel für Worldbuilding als Erzählkonzept im Genre des Science Fiction Films gelungen. Und das bedeutet nicht, dass der Mond Pandora und all seine Bewohner: Pflanzen, Tiere, humanoide Aliens, das beste Design und das stimmigste Bild einer alternativen Welt irgendwo in den Untiefen der Galaxis darstellen. Das auch, ok, geschenkt. Nein, es bedeutet, dass Cameron verstanden hat, dass die zentralen Konflikte der Hauptfiguren ausschließlich mit den Wirkweisen der Welt von Pandora zu tun haben sollten. Die Welt von Pandora ist der unsrigen gar nicht so unähnlich. So könnte unsere Erde auch aussehen, wenn bei all den Zufälligkeiten, die das Wesen der Evolution ausmachen, die Natur ein paar andere Abzweige genommen hätte. Der einzige - erzählerisch vernachlässig‐ Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 189 <?page no="190"?> bare - Konzeptionsschwachpunkt ist die Gravitationsanomalie mit schwebenden Gesteinsbrocken. Eine touristische Attraktion, irgendwo hinter den sieben Bergen, nichts weiter. Auch geschenkt. Dazu wird die Geschichte wie bei Cameron üblich nicht mit technologischen Fragen überfrachtet. Die gezeigte Technologie ist eine Extrapolation von bereits existierender Technologie. Die Fluggeräte der Menschen haben Turbinen, ihre Waffen schießen mit Projektilen, alles ist nur ein bisschen größer und ausgereifter. Cameron ist vor allem deshalb der beste lebende Actionregisseur, weil er weiß, dass gute Action mit einer für den Zuschauer nachvollziehbaren physikalischen Welt zu tun hat. Superkräfte durch Roboter- oder Exoskelette? Ja, bitte. Superkräfte durch Pillen oder Magie? Nein, danke. Auch die Avatartechnologie, also die Steuerung eines fremden Körpers durch den zeitlich begrenzten Bewusstseinstransfer des Piloten, ist zwar echte Technologiespekulation, aber erzählerisch bereits vielfach etabliert. Der Film mutet uns Zuschauern zuerst mal gar nichts zu, was wir nicht eh bereitwillig über uns ergehen lassen: er nimmt uns an die Hand und führt uns in das ferne Land. Dabei steigert Cameron das Erlebnis des Trips ins bunte Pandora-Disneyland, indem er die Hauptfigur zu einem Man on a Mission mit verborgener Agenda macht und ihm - ganz entscheidend - den fremden Körper der blauhäutigen Aliens verpasst. Eine Variante von Superkraft durch Exoskelett. Soweit die Reise in das ferne Land, hier als kampfbetonte Heldenreise. Doch kaum einem Film, schon gar nicht einem kommerziell orientier‐ ten, war es bis zu AVATAR gelungen, das gänzlich innerliche Thema der Transzendenz narrativ und visuell zu behandeln und vollkommen zu veräußerlichen. Wir wissen längst: für gelungene Hochleistungs‐ narration kommt es auf das Ende an. Und am Ende von AVATAR, in der letzten Einstellung, wenn sich seine Augen öffnen, die jetzt für 5. Worldbuilding 190 <?page no="191"?> immer die seinen sind, genau wie sein blauer Alienathletehenkörper, dann ist der querschnittsgelähmte Ex-Marine ganz und gar Na’vi. Er ist nicht nur übergelaufen, was ihm seine menschlichen Gegner - aus soldatischer Perspektive zurecht - vorwerfen. Er hat seine menschliche Existenz für etwas Anderes aufgegeben. Er ist hinübergegangen in ein Leben nach dem Tod. Er transzendierte. Eine echte Wiedergeburt. Dies ist eine große erzählerische Zumutung und damit ein großes Wagnis. Wie diese Wiedergeburt in den neuen Körper hinein konkret vonstat‐ ten geht mit kollektivem Ringelrein und den vereinten Kräften von Mutter Natur mag ökologisch-esoterischer Humbug sein. Doch auch hier bleibt Cameron ganz seiner materialistischen Weltsicht treu: Es gibt Wurzeln zwischen den beiden Körpern, durch die irgendwelche Säfte fließen. Wir verstehen das zwar nicht im Detail, aber nur, weil bislang kein Naturwissenschaftler auf Pandora sich damit beschäftigt hat. Und wenn es nach den edlen, wilden Na’vi geht, wird das auch noch lange so bleiben. Wir Metaphysiker geben uns dem romantischen Materialisten Came‐ ron geschlagen. Er macht erzählerisch sogar nicht mal vor der Trans‐ zendenz halt. Seinen Sieg in der Narration des Actionkinos müssen wir neidlos anerkennen. Exkurs: Flucht in ferne und fremde Welten, Fluch oder Segen? „Die Fische werden das Wasser als Letzte entdecken.“ Was Albert Einstein uns mit diesem Satz sagen wollte, ist ein Plädoyer für den Orts- und Perspektivwechsel, der in dem Bemühen um Erkenntnisse und Einsichten so nötig ist. Eines ist zentral in den fernen, fremden Welten, die uns in der Fiktion des Worldbuildings gebaut werden, und Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 191 <?page no="192"?> in jeder Geschichte, die vom Zuschauer die Suspension of Disbelief voraussetzt und uns mit dem Übernatürlichen, dem Erfundenen, dem Unrealen konfrontiert: Eine neue Perspektive auf uns selbst in unserer tristen Erdenbürgerlichkeit. Über das Wesen Mensch lernt man unter Umständen am meisten, wenn man ihn nicht mit Seinesgleichen, sondern mit etwas ihm Ähnlichen konfrontiert: einem Neandertaler, einem klugen Affen, Frankensteins Geschöpf, einer KI, einem Außerirdischen. Denn nicht nur wir blicken auf dieses uns ähnliche Wesen, es blickt auch auf uns. Der Eskapismus, den wir hier selbst konstatiert haben, ist keine echte Flucht vor der Realität. Ist der tägliche Schlaf eine Flucht vor der Rea‐ lität? Nein. Wir brauchen den Schlaf, sonst sterben wir. Wahrscheinlich brauchen wir Menschen ebenso wie Nahrung und Sauerstoff auch das Träumen, das auch bei hoch entwickelten Tieren beobachtet werden kann. Zeitlich begrenzt auf eine Nacht oder die zwei Stunden eines Films ist die Reise in die künstlich erdachte Welt keine Flucht vor der Realität, sondern ein Teil der realen Welt. Wer allerdings die Welten nicht mehr unterscheiden kann, ist krank und braucht die Hilfe von Fachleuten. Alle Anderen stillen schlicht ein intellektuelles Bedürfnis. Das Bedürfnis nach dieser „Flucht“ ist nicht gleich verteilt auf alle Menschen, aber es ist zutiefst menschlich. So menschlich wie die Lust am Erzählen und Erzähltbekommen selbst. Doch die Übergänge zwi‐ schen kompetentem Umgang und der Trennung der geistigen Welten auf der einen Seite und dem pathologischen Vermischen von Fiktivem und Realem auf der anderen Seite sind fließend. Die Phänomene des Abgleitens und des Realitätsverlustes haben - auch wenn dies gerne bestritten wird - natürlich mit der Menge und der Art der konsumierten eskapistischen Welten zu tun. Die meisten Amokläufer 5. Worldbuilding 192 <?page no="193"?> haben tatsächlich Ballerspiele gespielt. Doch es gab schon Amokläufer, lange bevor es Ballerspiele gab. Der immer wieder aus gegebenem Anlass einer Gewalttat formulierte politische Reflex des Verbietens und vor allem der Verschiebung von Verantwortlichkeiten ist grundfalsch. Verantwortlich ist nie der Schöpfer einer fiktiven Welt oder einer Geschichte, und seien sie noch so gewalttätig, exploitativ und grauenhaft. Auch psychische Krankhei‐ ten, Traumata, verletzte Seelen und Körper, echt oder vorgespielt, mögen zwar Grund und Auslöser sein für Taten. Sie sind aber nie verantwortlich. Verantwortlich ist immer nur der Täter. Womit haben wir es im Kern bei dieser gesellschaftlichen Kontroverse über den Medienkonsum zu tun? Unsere Welt, also die Realität all derer, die in Staaten leben, deren Gesellschaft seit einigen Jahrzehnten mit Wohlstand und Überfluss überhaupt erst in der Lage ist, intellek‐ tuellen Bedürfnissen nachzugehen, befindet sich in einer Schieflage. Wir haben es geschafft, nicht nur Kampf und Krieg, sondern die Gewalt selbst aus unserem täglichen Blick zu verdrängen. Nicht als kollektiver Selbstbetrug, sondern ganz real. Sie ist weit weg. Das ist eine hart erkämpfte Errungenschaft, ohne Zweifel. Aber es ist auch ein oberflächlicher Eindruck. Doch diese Oberfläche ist Teil der Realität. Sie ist nicht etwa eine Illusion. Wie dick diese Decke der Zivilisation ist und wie lange sie uns warm umhüllen wird, ist eine der großen Menschheitsfragen. Daran erinnern uns diese Fälle von verirrten Gewalttätern, so tragisch und grauenvoll sie auch sind. Sie sind der Fehler in der Matrix, ohne den es uns schwer fallen würde zu erkennen, dass die konsequente Abwesenheit von Gewalt eben auch ein Problem darstellt. Eine offene Flanke der Moderne, die es politischen Ideologen ermöglicht, in einer geistig ermatteten und konsumistisch übersatten Gesellschaft mit Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 193 <?page no="194"?> Wokeness und Themen jenseits aller echten Relevanz auf Rattenfang zu gehen. Die Stoffideen des Worldbuildings Wollen Sie sich das wirklich antun? Eine ganze Welt schaffen? Viele Autoren wollen das tatsächlich und Leser und Zuschauer wollen in Welten eintauchen. Auf der Blümchenwiese der Ideen nehmen diese Autoren alles, was zu ihren Füßen krabbelt und in der Luft schwirrt. Sie haben Fernglas, Lupe, Kescher und Notizblock dabei. Flora und Fauna werden akribisch notiert und kategorisiert. Mit dem Fokus auf Film sei gesagt: Nehmen Sie sich besser eine der vielen ausgedachten Welten, die schon da sind. Als Roman, als Comic, als Spiel. Adaption ist das Stichwort. Sonst schreiben Sie ganz viele tolle Sachen, die nie jemand zur Kenntnis nehmen wird. Sie wollen es trotzdem tun? Sie wollen lieber eine ganze Welt selbst schaffen? Gott sein? Nun gut, Sie sind also ein Ausdauersportler voller Tatendrang. Wie steht es mit einer originellen Idee für die neu zu schaffende Welt? Es gibt durchaus Welten, die als Folge einer Was-Wäre-Wenn-Prämisse entstehen. Was wäre, wenn die Welt ganz und gar unserer heutigen Menschenwelt entspräche, aber die Figuren wären Säugetiere, die ihren jeweiligen klischeehaften Eigenheiten ge‐ mäß gesellschaftlichen Rollen innehätten? ZOOMANIA (Regie: Bryon Howard, Rich Moore, 2016) ist eine moderne Fabel, die auf dieser Prämisse basiert, in der aber das Erzählkonzept des Worldbuildings dominiert. 5. Worldbuilding 194 <?page no="195"?> Wie so oft, wenn wir uns mit unserer Kreativität auf vermeintlich ausgetretenen Pfaden bewegen, muss man sich darüber klar sein, dass die Idee in der minimalen Abweichung liegen kann, oder in der totalen Neukonzeption, der echten Innovation. HORTON HÖRT EIN HU! (Regie: Jimmy Hayward und Steve Martino, 2008), Terry Pratchetts Scheibenwelt oder das Videospiel THE INNER WORLD, bei der die Figuren nicht auf der Oberfläche einer Planetenkugel laufen, sondern in einer Luftblase im innerirdischen Irgendwo, drehen tatsächlich an Grundkonstanten unseres physikalischen Weltbildes herum. Alle Achtung. Worldbuilding scheint für viele die Königsdisziplin des phantasievollen Schaffens zu sein. Mag sein, doch es hat zunehmend den Anschein, dass Worldbuilding allzu oft nicht ideengetrieben, sondern rein lustgetrie‐ ben ist. Lust am Schreiben, wohlgemerkt. GAME OF THRONES zeigt, dass dies durchaus zu handfester und guter Narration führen kann. Sich an Vorbildern zu orientieren ist in jedem Erzählkonzept angeraten, vor allem im Worldbuilding. Der Übergang zwischen Inspiration/ Ori‐ entierung und Klau ist fließend. Keine Scheu vor gutem Klauen, doch sollte man wissen, wenn man klaut und auch wen man beklaut. Fazit: ▸ Die Anforderungen aber gleichzeitig auch das angebotene Handwerkszeug des Worldbuildings sind sehr umfangreich. Man ist gut beraten, sich nicht nur an den bekannten Vertre‐ tern des Konzepts in allen Formaten und Genres zu orien‐ tieren, sondern auch all die ausgereiften Bauwerkzeuge zu nutzen oder zumindest mal in Augenschein zu nehmen. Man kann ein Haus auch mit einem Spaten und einem Hammer Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 195 <?page no="196"?> bauen, wer einen Bagger und eine Bohrmaschine bedienen kann, liegt aber klar im Vorteil. ▸ Teambuilding ist eines der quantitativ dominierenden Mo‐ tive des Erzählkonzepts. ▸ Auf der darstellenden Ebene ist realistisches, das heißt objektives Erzählen vorzuziehen. Also weniger „Trip“, kein individueller Tunnelblick. Denn wir wollen die fremde Welt sehen, wie sie ist, in all ihren Farben und all ihren Dimen‐ sionen. ▸ Im visuellen und im narrativen Bereich wird beim World‐ building meist multiperspektivisch gearbeitet. Einige dieser Perspektiven dürfen natürlich den Charakter eines subjek‐ tiven Trips haben. Frodos Wahrnehmung der Welt von Mittelerde ist immer wieder durch die magische Kraft des Rings, den er zu tragen hat, stark verändert: punktuell sieht und erlebt er die Dinge anders als die Figuren um ihn herum. Dies geschieht durch die geistige Verbindung zu seinem Antagonisten, dem körperlosen Sauron, so wie bei Harry Potter zu Lord Voldemort. ▸ Der klar auktoriale Erzähler taucht unter anderem als Per‐ spektive in sogenannten Establishing-Shots auf: in Totalen, in Flügen über Landschaften und in kontemplativen Details. ▸ Die zu erzählende zeitliche Dimension ist oft sehr groß, also wird elliptisch erzählt. Zeitraffung, Sequenzen mit Flashbacks und Voice Over findet man überdurchschnittlich häufig in den Geschichten des Worldbuildings. Echtzeitge‐ schichten in diesem Erzählkonzept sucht man vergebens. Auch diese Anforderung weist auf auktoriales Erzählen hin. 5. Worldbuilding 196 <?page no="197"?> ▸ Die Welt des Worldbuildings ist heimelig, sie ist kein Zwi‐ schenstadium, das der Held überwinden muss, wie die Hermetische Welt. So komplex sie auch ist, sie ist eine Projektion, in der der Wunsch nach einer vereinfachten Welt im politisch-sozialen und vor allem im moralischen Sinne ausgelebt werden kann. ▸ Damit die Welt funktioniert in ihrer Mechanik, ist es sinn‐ voll, die verschiedenen „Bauabschnitte“ konzeptionell sau‐ ber zu trennen. Dazu - und nicht zur Anregung der Phanta‐ sie - dienen diese Kategorien (Kosmologie und Metaphysik, Geografie und Klima, Biologie-Physik-Chemie, Kultur und Geschichte, Gesellschaft und Religion, Technologie und Magie). ▸ Ein kompetenter Umgang mit den Genres und Subgenres der Filme des Worldbuildings ist ebenso unerlässlich, wenn man sich im Dschungel der eigens geschaffenen Welt nicht heillos verlaufen will. ▸ Wer sich traut, kann es wagen, das Thema der Transzen‐ denz jenseits von folkloristisch-spirituellem Firlefanz erzäh‐ lerisch anzupacken. Implizit spielt die Transzendenz immer eine Rolle, sobald von einer anderen Welt die Rede ist. ▸ Worldbuilding ist mit jedem anderen Erzählkonzept kombi‐ nierbar. Es ist sogar zwingend notwendig bei der Erstellung eines Plots, weitere Erzählkonzepte einfließen zu lassen. Dennoch gibt es zahlreiche und im Verlauf der letzten Jahre zunehmend Geschichten, in denen Worldbuilding das quantitativ dominierende Erzählkonzept darstellt. ▸ 43 Filme in der Top-250-Liste bei imdb.com. Wir machen eine Reise in ein fernes Land. - Au ja! 197 <?page no="199"?> 6. Whodunit Da wäre ich nie drauf gekommen! - Ich schon. „Lügen, die die Leute einem sagen, sind genauso nützlich wie die Wahrheit.“ Agatha Christie Whodunit gibt als Erzählkonzept einen strikten Handlungsablauf und damit eine Reihenfolge vor. Sie besteht aus einem Verbrechen, der Ermittlung und der Lösung. Der Zuschauer nimmt dabei die Perspektive des Ermittlers ein und bildet im Laufe der Handlung nacheinander sich ablösende Hypothesen über den tatsächlichen Ablauf des Verbrechens. „Na klar.“ Sagen Sie. „Das kenne ich, das ist ein Erzählkonzept. Der Detektiv sucht den Mörder, dabei gibt es allerhand falsche Fährten, jeder der Verdächtigen versucht sich rauszureden und am Ende hat er ihn trotzdem. So oder so ähnlich.“ Sie haben recht, das Erzählkonzept Whodunit kennt nun wirklich jeder. Und unrecht. Bevor wir die Lupe nehmen, müssen wir erst mal wieder Abstand gewinnen, aus der Vogelperspektive drauf schauen. Das Krimigenre ist weit. Es reicht von WINTERKARTOFFELKNÖDEL (Regie: Ed Herzog, 2014) bis zu CASINO (Regie: Martin Scorsese, 1995). <?page no="200"?> Darin kommen praktisch alle Erzählkonzepte vor. Whodunit ist also nur eins von vielen und Whodunit ist selbst im Krimigenre als domi‐ nierendes Erzählkonzept eher unterrepräsentiert. Viele Polizeifilme, Gangsterfilme, Gefängnisfilme und Gerichtsfilme beschäftigen sich gar nicht mit dem Lösen von Rätseln im Zusammenhang mit Verbrechen. Für den Protagonisten gilt es vielmehr, den bekannten Antagonisten zu finden, zu jagen, zu überführen, zu verurteilen, ein Verbrechen zu vereiteln, jemanden zu retten, selbst zu entkommen, wobei wir beim Thriller wären, oder - falls die andere Seite des Gesetzes bespielt wird - den Coup oder Mord zu planen, durchzuführen und damit durchzukommen. Die Krimivariante Whodunit ist bei allen Lügen, die in diesen Geschich‐ ten vorkommen, ein sehr faires, geradezu ehrliches Konzept. Eines, bei dem der Autor mit offenem Visier kämpf. Da sind zwei Athleten im Stadion. Ein Weitspringer und ein Hoch‐ springer. Beide laufen an und springen, der eine möglichst weit, der andere möglichst hoch. Wo ist der Unterschied? Der eine legt vor dem Sprung die zu erbringende Leistung fest, der andere lässt nach dem Sprung die erbrachte Leistung messen. Der Autor des Whodunit ist ein Hochspringer. Er klappt also das Visier hoch und sagt vorher, dass er mit uns Zuschauern oder Lesern einen Deal macht. Er sagt uns: „Wir werden uns gemeinsam eine Frage stellen, und obwohl ich dir durch Hinweise die Möglichkeit geben werde, die korrekte Antwort auf die Frage zu finden, wirst du es nicht schaffen, bis ich dich mit der richtigen Antwort erlöse.“ Masochistisch wie wir sind, willigen wir ein. 6. Whodunit 200 <?page no="201"?> Und um es noch etwas komplizierter zu machen, gibt es wiederum zwei Spielarten des Whodunit, die wir getrennt voneinander betrachten müssen. Beide sind so etwas wie die Urform des Krimis, denn in beiden geht es um das Rätselhafte, das Unbekannte, das Verborgene eines begangenen Verbrechens. Beide stellen die Frage: Wer hat’s getan? Und geben die Antwort. Die erzählerische Substanz ist in beiden Spielarten dieselbe: ein oder mehrere Morde mit verwischten und falschen Spuren und ein oder mehrere Ermittler, aus deren Perspektive sich das Rätsel Schritt für Schritt auflöst. Der Mord ist aus der Perspektive des Mörders Mittel zu einem höheren Zweck oder die Sache selbst. Wichtig ist: der Mörder will damit unerkannt durchkommen. Das ist gar nicht so selbstverständlich. 1. Alle Puzzleteile liegen vor uns Die eine Spielart haben Sie am Anfang dieses Kapitels bereits richtig skizziert. Wir kennen eine überschaubare Gruppe von Verdächtigen. Alle hatten Gelegenheit und ein Motiv. Typische Vertreter dieser Art sind die Reihen und Serien um bekannte Ermittlerfiguren wie Agatha Christies Hercule Poirot, der in Häusern, Zügen und auf Schiffen ermittelt. Hier geht Whodunit eine Ehe ein mit der Hermetischen Welt. Wir bewegen uns also immer innerhalb des Masterplots des Rätsels, und erzeugen damit immer ein intellektuelles Armdrücken zwischen Erzähler und Zuschauer. Das der Erzähler gewinnt. Winston Churchill hat der Legende nach tatsächlich den Mörder in Agatha Christies Theaterstück DIE MAUSEFALLE noch vor der Pause erraten. Glück‐ wunsch an den geistigen Hochleistungssportler. Doch wenn die Leser oder Zuschauer gewinnen und tatsächlich ergründen, was hier gespielt Da wäre ich nie drauf gekommen! - Ich schon. 201 <?page no="202"?> wird, bevor es schwarz auf weiß vor ihnen steht oder auf der Leinwand erscheint, haben sie erst recht verloren. Ob es dabei um das Ergründen des Who zum Why oder das Ergründen des Why zum Who geht, ist einerlei. Auch ob er oder sie möglicherweise einen guten Grund hatte, das Verbrechen zu begehen. Die Moral spielt eine eher untergeordnete Rolle, was man in unseren moralisch aufgepeitschten Zeiten als sehr wohltuend empfinden kann. Es geht darum zu verstehen, was wer warum und wie getan hat. Die Narration im Whodunit wird gerne als Entertainment ohne Gehalt abgestempelt, als rein kompetitives Spiel, zwar ab und an mit Niveau, aber dennoch ohne Bedeutung und Tiefe. Und zwar aus einem Grund: Es geht nicht um den Wandel der Hauptfigur, den Prozess, den sie durchmacht, um zu erkennen und um durch Erschütterung und Prü‐ fung ein besserer Mensch zu werden. Es geht nicht um Heldentum der Hauptfiguren, es geht schlicht darum, dass der Ermittler klug genug ist, das Rätsel zu lösen. Und zwar schneller als wir Zuschauer. Beim Erstellen des Plots kann also die sonst so wertvolle dramaturgische Struktur der Heldenreise getrost in der Schublade bleiben. Nun könnte man speziell Agatha Christies Ermittlergeschichten, allen voran den Geschichten ihres Lieblingsdetektives Hercule Poirot zum Beispiel bei MORD IM ORIENTEXPRESS (Regie: Kenneth Branagh, 2017 oder Regie: Sidney Lumet, 1974) oder TOD AUF DEM NIL (Regie: John Guillermin, 1987) den Vorwurf machen, auf einer gänzlich unrea‐ listischen Prämisse zu basieren. Wenn jemand einen lang und aufwen‐ dig geplanten Mord begehen möchte, warum zum Teufel tut er dies dann ausgerechnet, wenn der weltberühmte Mordermittler Hercule Poirot gerade zugegen ist? Würde ein kühl berechnender Mörder seine Absichten nicht ein paar Tage verschieben? Es sei denn, man will aus irgendeinem Grund als Mörder die intellektuelle Auseinandersetzung 6. Whodunit 202 <?page no="203"?> mit diesem kriminalistischen Superbrain. Und zwar mehr als man das Opfer tot sehen will. Dann allerdings - Sie ahnen es bereits - hätten wir es nicht mehr mit Whodunit, sondern einer echten Plausibilisierung zu tun, in der der Antagonist auf den protagonistischen Ermittler zugeht, statt ihm konkret und im übertragenen Sinne davon zu eilen. Die Antwort ist klar: Agatha Christie lässt uns alle diese unrealistische Prämisse wohlwissend schlucken, wieder und wieder. Es kümmert uns nicht, da wir kein Ticket für Realismus gebucht haben, sondern eines für den Rätselspaß. 2. Wir sind selbst ein Puzzleteil In diesen Whodunit-Geschichten werden nicht Kandidaten nebenein‐ ander gehalten, es wird nach dem großen Unbekannten gesucht. Die Ermittlungen von Robert Langdon in Dan Browns THE DAVINCI CODE - SAKRILEG und den beiden Nachfolgern ILLUMINATI und INFERNO (Regie: Ron Howard, 2006, 2009, 2016) oder die des Mönchs William von Baskerville in DER NAME DER ROSE (Regie: Jean-Jac‐ ques Annaud, 1986) oder auch all die Ermittlungsbemühungen des berühmtesten aller Detektive, Sherlock Holmes, gehen anhand von Indizien erst mal hinaus in die Welt, um dann irgendwann auf eine be‐ stimmte Person, die als Täter identifiziert wird, zu stoßen. Die Ermittler dieses anderen Typs wie Raymond Chandlers Philipp Marlowe und Deshiell Hammetts Sam Spade und das gesamte von ihnen geschaffene Subgenre des Film Noir sind in hohem Maße prägend für den weitaus größten Teil des gesamten Krimigenres und aller Ermittlerfiguren bis heute geworden. Diese Charaktere sind zwar ebenso durch Ermittlerkompetenzen cha‐ rakterisiert, wodurch eine große Nähe und viele Überschneidungen zum Erzählkonzept der Gewusst-Wie-Geschichte entsteht, doch sind Da wäre ich nie drauf gekommen! - Ich schon. 203 <?page no="204"?> ihre Makel nicht nur schrullige Eigenheiten. Sie haben Narben und mit eigenen Abgründen in ihren eigenen Backstories zu kämpfen. Wir betrachten sie durch Heisenbergs Unschärferelationsbrille: Die Welt in CHINA TOWN (Regie: Roman Polanski, 1974), in der unser von Jack Nicholson verkörperter Held als Privatdetektiv Jake Gittes ermittelt, ist nicht mehr schwarz-weiß, wobei wir schön auf der guten, hellen Seite stehen können. Dies offenbart sich allein schon darin, dass Gittes von unterschiedlichsten Parteien beauftragt wird, und alle Aufträge annimmt. Zuerst arbeitet er für die angebliche Mrs. Mulwray, dann für die echte, dann für ihren Vater, den Unhold, den Bösewicht im Hintergrund. Sobald wir uns in dieser Welt bewegen und beobachten, verändern wir die Elementarteilchen, werden selbst zu Elementen die‐ ser grauen Welt. Wir werden schmutzig. Gittes bekommt als Warnung die Nase aufgeschnitten und läuft für den Rest des Films im schicken Anzug, aber mit dickem Pflaster auf seiner Spürnase herum. Deutlicher und symbolischer kann man den Helden mit dem Schmutz der Welt nicht markieren. Wir sind nicht mehr nur ein über den Dingen schwe‐ bender Analytiker und Richter, sondern Teil des Schmutzes, in dem wir wühlen. Wir sind ein Wandler zwischen den Welten, müssen selber moralische Dilemmata aushalten und unliebsame Entscheidungen treffen. Wir verlieben uns, natürlich unglücklich in die Femme Fatale, und werden geprügelt und verletzt. Manchmal müssen wir sogar töten. Damit befinden wir uns im Gegensatz zu den Whodunit-Geschichten erster Art im Thriller, im Drama, im Existenziellen. Abgrenzungen Die Ähnlichkeit mit der Plausibilisierung ist in dem entsprechenden Kapitel bereits zur Sprache gekommen. Whodunit könnte als eine Art Unterkategorie der Plausibilisierung angesehen werden: Ein Mord ist geschehen und keiner will es gewesen sein. Das ist im höchsten 6. Whodunit 204 <?page no="205"?> Maße unplausibel. Bis der wahre Mörder identifiziert und (meist) auch überführt ist. Dann ist das Unplausible plausibilisiert worden. Klingt sehr verdächtig nach einer Plausibilisierung. Wenn es nicht einen entscheidenden Unterschied gäbe: Der Antagonist geht bei der Plausibilisierung auf den Protagonisten zu, im Whodunit geht er von ihm weg. Das kann ganz konkret räumlich interpretiert werden: Die Figur, die der noch unbekannte Täter ist, sucht nicht die räumliche Nähe zu dem Ermittler. Sie will nicht, dass der Ermittler hinter ihr Geheimnis kommt. Dazu braucht sie maximalen Abstand von der Klugheit des Ermittlers. Sonst wird ja ihr Geheimnis entdeckt. In der Plausibilisierung allerdings inkludiert der Masterplan des Antagonisten den Protagonisten. Die Wahrheitsfindung ist nicht der Sieg des Prot‐ agonisten, des Ermittlers, sondern der Sieg des Antagonisten. Der erfolgreiche spanische Film DER UNSICHTBARE GAST (Regie: Oriol Paulo, 2016) bedient sich einer in der filmischen Narration bekannten Technik, des sogenannten „unzuverlässigen Erzählers“. Das berühmteste Beispiel hierfür ist sicherlich DIE ÜBLICHEN VERDÄCH‐ TIGEN (Regie: Bryan Singer, 1995). Der Zuschauer sieht Handlung, die entweder gar nicht oder auf andere Art und Weise stattgefunden hat. Auch wenn diese Geschichten immer einen Rahmen haben, aus dem heraus in langen Flashbacks die eigentliche Handlung aus der subjektiven Position einer erzählenden Filmfigur visuell dargeboten wird, so ist die Auflösung der Lüge, die dem Zuschauer hier aufgetischt wurde, immer überraschend. Ein Twist. Die gesprochene Lüge und die visualisierte Lüge sind in der filmischen Narration klar vonein‐ ander zu trennende Welten. Im Whodunit lügen Menschen, nicht Bilder. Wenn die Bilder lügen, befinden wir uns im Erzählkonzept der Synthetischen Narration. DER UNSICHTBARE GAST und DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN sind keine Whodunit-Geschichten, sie sind synthetisch. Da wäre ich nie drauf gekommen! - Ich schon. 205 <?page no="206"?> Viele Filme, die gerne zu Whodunit gezählt werden, sind also gar keine. Sie handeln zwar von rätselhaften Ereignissen. Ihre Spannungsart aus dem Spannungs-Dreigestirn von Suspense (Zuschauer weiß kurzfris‐ tig mehr als der Protagonist), Surprise (Zuschauer und Protagonist werden gleichzeitig von Ereignissen und Enthüllungen überrascht) und Mystery (Zuschauer und Protagonist wissen gleich wenig und ergründen gemeinsam Ereignisse) ist vor allem die Mystery, aber es fehlt die zentrale Ermittlerfigur, die uns Zuschauer an die Hand nimmt und gemeinsam mit uns die Frage stellt und beantwortet. PSYCHO und COCKTAIL FÜR EINE LEICHE (Regie: Alfred Hitchcock, 1948 und 1960), OLD BOY (Regie: Chan-wook Park, 2003), WAS GESCHAH WIRKLICH MIT BABY JANE? (Regie: Robert Aldrich, 1962) oder ZODIAC - DIE SPUR DES KILLERS (Regie: David Fincher, 2007), alle diese Filme tauchen in vielen Listen der besten Whodunit-Filme auf. Alle hier genannten und viele weitere sind wunderbare Filme, aber ihr dominierendes Erzählkonzept ist jeweils ein anderes. PSYCHO, WAS GESCHAH WIRKLICH MIT BABY JANE? und OLD BOY sind Plausibilisierungen, in COCKTAIL FÜR EINE LEICHE dominiert die Hermetische Welt, ZODIAC - DIE SPUR DES KILLERS ist im Kern ein Historischer Film. Knives Out Waschechte Whodunit-Geschichten sind rar geworden. Wahrschein‐ lich, weil die guten alle schon längst erzählt wurden. Tatsächlich? Haben wir nicht im Kapitel über Begriffe gesehen, dass es unendlich viele Stoffe und somit auch unendlich viele Geschichten gibt? Ja, aber in diesem engsten aller Erzählkonzepte scheint es wirklich schwer geworden zu sein, innovativ zu sein. Allerhand Crossover und Moder‐ nisierungen sind im Gange. Aber wahrlich neue Geschichten? Sie werden seltener und seltener. 6. Whodunit 206 <?page no="207"?> Umso erfreulicher ist, dass es Rian Johnson mit KNIVES OUT - MORD IST FAMILIENSACHE 2019 gelungen ist. Johnsons Film zeigt ausnahmslos alles, was man an Handwerk parat haben muss, um eine Whodunit-Geschichte zeitgemäß - und das heißt in diesem alt‐ modischen Erzählkonzept mit ganz viel ironischem Retrocharme - zu erzählen. Er zeigt auch auf, in welcher Gefühlswelt und in welcher Tonlage Whodunit zuhause sein sollte: Rätseln macht Spass, also geht es um Humor, Knobeln und Kribbeln. Es geht um Unterhaltung, folglich ist es eine Spielart des Comedy. Kein Drama, kein Thriller wie häufig behauptet wird. Das Setting könnte konfektionierter nicht sein: der Tote ist ein Krimi‐ autor. Der Haupthandlungsort ist sein altes, großes Haus. Die Verdäch‐ tigen sind seine Hinterbliebenen. Das Motiv scheint für alle gleich: das beträchtliche Erbe. Gleich zu Anfang tut sich eine ausgesprochen interessante Schwierigkeit des Rätselplots auf, die häufig sehr einfach abgehandelt wird: Die sichere Erzählperspektive. Wir können es uns leicht machen wie Agatha Christie. Hercule Poirot ist es sicher nicht gewesen, aber alle anderen kommen in Frage, selbst der Icherzähler wie in Christies THE MURDER OF ROGER ACKROYD kann sich als Mörder entpuppen. Aber Hercule ist es nie, ebenso wenig Miss Marple, Sherlock Holmes, Kurt Wallander oder Philipp Marlowe. Doch in der Frage der Objektivität der Perspektiven und folglich dem Identifikationspotential von Figuren schlägt KNIVES OUT sehr gekonnt und bewusst zunächst ein paar Haken. Wir können uns bei all dem verwirrenden Geschehen zu Anfang nicht ganz sicher sein, ob die von uns erwählte Hauptfigur nicht doch auch ein manipulatives Spiel spielt. Damit würden wir sie als Identifikationsobjekt verlieren. Da wäre ich nie drauf gekommen! - Ich schon. 207 <?page no="208"?> Diese Hauptfigur ist nicht etwa der berühmte Detektiv Benoit Blanc. Dieser von Daniel Craig gespielte Charakter ist ein echter Wiedergän‐ ger all der klischeehaften Hochleistungsermittler à la Hercule Poirot und Sherlock Holmes. Er trägt einen Tweed Anzug und heißt Benoit Blanc! Ich bitte Sie. Auch wenn er, weil er der Star des Films ist, auf dem Plakat in der Mitte des Figurenensembles steht, finden wir die wahre Hauptfigur ganz am Rand. Es ist die Pflegerin des Ermordeten, die von Ana de Armas gespielte Marta Cabrera. Das Rätsel besteht aus einem raffinierten Mordplan, zu dem das anonyme Beauftragen des Detektives dazugehört (Rian Johnson hatte Agatha Christies unrealistische Prämisse wohl auch beschäftigt), und einem ihn durchkreuzenden Zufall. Die große Leistung des Films aber liegt nicht nur darin, diesen Plan konsistent auszutüfteln und den Improvisationsdruck auf Seiten des noch unbekannten Antagonisten (der sich als Ransom aka Chris Evans herausstellen wird) und der Hauptprotagonistin hoch zu halten, sondern in der erzählerischen und perspektivischen Balance zwischen den beiden Figuren Marta Cabrera und Benoit Blanc. Da der Antagonist dem Erzählkonzept entsprechend lange Zeit im Unklaren ist, muss Benoit Blanc sogar über weite Strecken die antagonistische Rolle einnehmen. Marta hat tatsächlich allerhand zu verbergen und Spuren manipuliert. Obwohl sie unschuldig ist. Doch bald schon erfahren wir, warum sie dies tat und dass sie dies in Abstimmung mit dem Mordopfer Harlan Trombey und auf seine Anweisung hin getan hat. Beide vermuten einen tödlichen Irrtum in der allabendlichen Medikamentierung. Sein Vergiftungstod scheint gewiss. Doch, alter Mann, der er ist, bleibt er angesichts seines sicheren Todes sehr gefasst und versucht Marta präventiv aus der Verdachtsschusslinie zu nehmen. Es werden nicht nur Spuren verwischt, sondern er rammt sich auch noch heldenhaft 6. Whodunit 208 <?page no="209"?> und selbstlos ein Messer in den Hals, damit es wie ein Selbstmord aussieht. Das ist auch dringend nötig, denn einen wichtigen Plotpoint nimmt er erst mal mit ins Grab: Er hat Marta als Alleinerbin sei‐ nes Vermögens eingesetzt, was zwar der geneigte Zuschauer ahnen konnte, für alle Beteiligten inklusive Marta kommt es aber bei der Testamentsverlesung wie ein Donnerschlag. Surprise! Marta ist als Hauptfigur und Hauptbeteiligte in diesem Spiel um Mord und Lügen noch mit einer abstrusen Charaktereigenschaft gestraft: Sie kann nicht lügen. Wenn sie es doch tut, muss sie sich unmittelbar übergeben. Soviel zu den recht unwahrscheinlichen und überaus kon‐ struierten Prämissen dieses Falls. „Unwahrscheinlich“ und „konstru‐ iert“ sind positive, um nicht zu sagen konstitutive Charakterisierungen einer Whodunit-Geschichte. Die sehr ökonomische Dramaturgie will es, dass die Ermittlungen der Polizei beziehungsweise von Benoit Blanc den Takt der Handlung vor‐ geben und Marta als Letzte befragt wird, erst am Ende des ersten Aktes. Die Ereignisse der Mordnacht werden wie häufig beim Whodunit in Flashbacks erzählt. Dabei geht die Text-Bild-Schere weit auseinander. Die Bilder erzählen uns die objektive Wahrheit. Die Erzählungen der Befragten im Voice Over offenbaren sie allesamt als Lügner und somit als potentiell Verdächtige. Sie lügen, dass sich die Balken biegen. Marta ausgerechnet schafft es durch geschickte Auslassungen ihre vermeintliche Schwäche zu ihrem Vorteil zu nutzen und Benoit Blanc zu täuschen. Spätestens da ist sie unsere Heldin. Als Benoit Blanc sie quasi zu seiner Ermittlungsassistentin macht, sehen wir in ihm trotz Kompetenz und Seriosität eher den selbstverliebten Trottel. Doch sein Stöbern und Insistieren ist immer noch die große Gefahr für unsere unschuldige Marta, was ihn zum klaren Antagonisten werden lässt. Da wäre ich nie drauf gekommen! - Ich schon. 209 <?page no="210"?> Der Zufall, der alle Pläne durchkreuzt, sowohl die sinisteren Mordpläne des Enkels Ransom als auch die Rettungspläne von Harlan und Marta, ist die Verwechslung der verwechselten Medikamente. Harlan war gar nicht dem Tod geweiht. Wir haben also gar keinen Mord hier, sondern einen Selbstmord aus falschen Annahmen. Ein Unfall. Doch keine Sorge, alle Elemente und Bedingungen des Whodunit sind nach wie vor an Bord. Der Bösewicht wird am Ende des Mordes überführt, allerdings nicht an Harlan, sondern an der Haushälterin, die seine Pläne gefährdet hatte. Ja, es ist kompliziert. Die Handlung muss kompliziert sein, sonst wird der Film kurz oder langweilig oder beides. Die anonyme Beauftragung von Benoit Blanc ist das Werk von Ransom, der als Einziger von dem Testament wusste und somit den Detektiv brauchte, damit Harlans Tod nicht einfach als Selbstmord zu den Akten gelegt wird und Marta ihr Erbe antreten kann. Wenn sie als Mörderin verurteilt würde, kämen alle Familienmitglieder wieder an ihr jeweiliges Erbteil und nur darum ging es Ransom. Wäre also Benoit Blanc die Hauptfigur, wäre es eine Plausibilisierung. Bei der es freilich um nicht viel ginge. Nur ein bisschen Instrumenta‐ lisierung durch den Mörder, nichts Existentielles für Benoit Blanc. Es wäre eine fatale Fehlentscheidung gewesen. Marta hingegen ist die unschuldige Täterin, die nicht lügen kann. Und Alleinerbin. Mehr Hauptfigur geht nicht. Ab der Szene der Testamentsverlesung, die den etwas verspäteten Midpoint markiert, öffnet sich das strenge Erzählkonzept und der Film nimmt eine neue Farbe an. Er wird zum selbstreflexiven, das eigene Erzählkonzept ironisierenden Metafilm. Aber: Im erzählerischen Zen‐ trum steht immer noch der Mordfall, die Ermittlung, die Spurensuche, die Suche nach dem Mörder. Bereits CHINA TOWN war 1974 ein 6. Whodunit 210 <?page no="211"?> Metafilm, der das „Genre“ des Whodunit und die Ermittlerfigur Jake Gittes in Relation zum klassischen Film Noir setzte. Auch L.A. CONFI‐ DENTIAL (Regie: Curtis Hanson, 1997) war ein Metafilm. Beide Filme historisieren auch die Handlung, spielen also in der Vergangenheit, freilich ohne zum Erzählkonzept des Historischen Films zu zählen. Doch all diese Selbstreflexion und Modernisierung ist nur möglich, wenn die erzählerische Substanz, das komplexe und stimmige Whodunit, die Geschichte in der Geschichte, vorhanden, stimmig und konsistent ist. Sie ist die erzählerische Substanz. Rian Johnson, der Hochspringer im Stadion, hat die Latte wahrlich hoch gelegt. Und ist darüber gesprungen. Der zweite Teil ist ob des großen Erfolgs angekündigt. Wenn - wovon auszugehen ist - die Figur des Detektivs Benoit Blanc die Konstante in der Reihe werden sollte, hat Rian Johnson eine ungemein große narrative Schwierigkeit zu meistern: Wird Blanc jetzt die klare Hauptfigur? Falls Johnson sich so entscheidet, wird ihm nichts anderes übrigbleiben, als das Erzählkonzept nicht nur auf eine Metaebene zu hieven, sondern zu verwässern und damit Richtung Plausibilisierung zu verlassen. Denn dann muss es um Benoit Blanc gehen, er wird dann einem anderen Mastermind gegenübertreten und mit ihm die Kräfte messen. Oder schafft es Johnson, wieder einen ungewöhnlichen Antagonismus mit einer neuen Hauptfigur, die in ähnlich vertrackten Schwierigkeiten wie Marta Cabrera steckt, zu konstruieren? Uns bleibt zu hoffen, dass sich ein paar Wettbewerber für diese schöne narrative Sportart finden, damit es nicht auf Jahre eine One-Man-Show bleibt. Da wäre ich nie drauf gekommen! - Ich schon. 211 <?page no="212"?> Die Stoffideen des Whodunit Whodunit ist das Werk von hochbegabten Spezialisten. Die wenigsten erfolgreichen Whodunit-Autoren wollen oder können auch Charakter‐ studien schreiben, Liebesgeschichten entblättern oder fremde Welten bauen. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Eine wahrlich neue Idee ist also immer eine bewusste Abweichung von dem bekannten ausgetretenen Pfad all der Mord- und Ermittler‐ geschichten, die es schon gibt. Dazu lassen wir Whodunit-Spezialisten nicht nur den Blick schweifen über die Blümchenwiese, um in deren Fauna allerhand Abscheuliches zu finden, das in diesem Mikrokosmos kreucht und fleucht und sich gegenseitig verspeist, sondern fixieren vor dem geistigen Auge bereits den Kontrahenten: den Leser, den Zuschauer. Er ist es, gegen den wir anschreiben. Seine Klugheit, seine Hypothesen sind es, die wir antizipieren und manipulieren müssen. Im Gegensatz zu der Bottom-up-Methode, die man in der Wissen‐ schaft Induktion nennen würde, und Top-down, was der Deduktion entspricht, haben wir es hier mit der sogenannten Abduktion zu tun. Das bedeutet, dass man durch die nacheinander auftauchenden Hinweise nicht etwa Stück für Stück der Wahrheit näherkommt, sondern falsche Hypothesen der Wahrheit im Wege stehen. Auch wenn für einen Unschuldigen ein Motiv rauskommt, das er durch Lügen zu verbergen versuchte: Wenn er den Mord nicht begangen hat, ist er unschuldig, egal, was er sonst noch auf dem Kerbholz hat. Unser Rätsel ist immer noch ganz und gar ungelöst. Wie auch in den stets deduktiven Ideeansätzen der Plausibilisierung und der Hermetischen Welt zäumen wir das Pferd von hinten auf. Mit einer Figur, einer Prämisse, einem Setting im Kopf drauf los schreiben geht beim Whodunit schief. 6. Whodunit 212 <?page no="213"?> Was auch die ursprüngliche Inspiration gewesen sein mag - wie zum Beispiel ein wirklicher Mordfall in der britischen Upper Class, der Pate stand für Miss Marples Ermittlungen in MORD IM SPIEGEL - es sind häufig die verschlungenen Pfade der Suche nach einem triftigen Motiv für die Morde, die das lustvolle Rätseln des Lesers ausmachen. Agatha Christie wurde von Wegbegleitern eine immense Beobach‐ tungsgabe und Menschenkenntnis zugesprochen. Das war sicher zutreffend und eine wichtige Voraussetzung für all die Ideen ihrer Mordfälle, aber es klingt auch harmlos und banal. Sie selbst hat in ihrer Autobiografie allerdings ein Geständnis gemacht, das tiefer blicken lässt in diese besondere Form von Kreativität: Sie denke vom Menschen immer nur das Schlechteste. Fazit: ▸ Whodunit ist ein sehr wirkmächtiges Erzählkonzept. Es macht klare Ansagen zu den Fragen nach Zeit und Perspek‐ tive, nach Objektivität und Subjektivität, nach Erkenntnis‐ fähigkeit der Protagonisten und des Zuschauers und nach Dramaturgie. ▸ Zeit: Die Ermittlung der tatsächlichen Vorgänge des Verbre‐ chens beinhalt in der Regel auch die der Chronologie der Ereignisse. Es geht darum, ex post ein lückenloses Bild der Vergangenheit zu erhalten. ▸ Perspektive: Zuschauer und Ermittlerfigur bilden eine per‐ spektivische Einheit. Dabei darf und soll der Ermittler dem Zuschauer im Denken immer einen Schritt voraus sein. ▸ Dramaturgie: Das Erzählkonzept des Whodunit besteht aus einem Handlungsablauf mit bekannter Reihenfolge aus Da wäre ich nie drauf gekommen! - Ich schon. 213 <?page no="214"?> Verbrechen-Ermittlung-Lösung. Damit sind natürlich nicht alle dramaturgischen Fragen beantwortet, aber dieses un‐ verrückbare Gefüge bildet den Kern der Narration. ▸ Die Lüge ist ein wesentliches Element der Dialoggestaltung beim Whodunit. Das bedeutet, dass die Bildebene verlässlich ist: hier wird nicht gelogen, sondern objektiv und aufrichtig gezeigt, was Sache ist oder war. Wenn sich durch Twists herausstellt, dass dies nicht der Fall ist, also der sogenannte unzuverlässige Erzähler benutzt wird, haben wir es mit der Synthetischen Narration zu tun und nicht mit Whodunit. ▸ B-Plots sind beim Whodunit selten. Wenn dennoch mehrere Plots miteinander verwoben erzählt werden, so sind auch immer mehrere Erzählkonzepte miteinander kombiniert. ▸ Whodunit wird gerne mit der Hermetischen Welt kombi‐ niert. Fließende Übergänge zu dem Erzählkonzept der Ge‐ wusst-Wie-Geschichte sind aufgrund der zentralen Ermittler‐ figur und ihrer Kompetenzen, die sie den anderen Figuren gegenüber überlegen macht und den Fall letztendlich lösen lässt, häufig. Klar abgrenzen lässt sich Whodunit von der artverwandten Plausibilisierung. Hierbei muss die Perspek‐ tive des Antagonisten betrachtet werden: Will er etwas vom Protagonisten, oder ist dieser ihm lästig und gefährlich? Geht also der Antagonist auf den Protagonisten zu, oder geht er von ihm weg? Im ersten Fall haben wir es mit der Plausibilisierung zu tun und nicht mit Whodunit. ▸ Eine Besonderheit liegt in der Konstellation zwischen Prot‐ agonist und Antagonist, da die antagonistische Figur über weite Strecken der Handlung unbekannt bleiben muss. Der 6. Whodunit 214 <?page no="215"?> Antagonismus muss hier also anders gehandhabt werden. Er wird entweder im Sinne der Abduktion auf mehrere Verdächtige (einander ablösende Hypothesen) verteilt oder er basiert auf Konkurrenz, wie die beiden Polizisten in L.A. CONFIDENTIAL, die dasselbe Ziel und denselben Gegner haben. Auch findet man häufig die dem Ermittler gegen‐ übergestellte Figur des stutzigen Zweiflers wie zu Beispiel Dr. Watson als Gegenpart zu Sherlock Holmes. Watson ist nicht der Antagonist, auch wenn er in der Gestaltung des Plots dessen funktionelle Rolle im Sinne des Austragens von Konflikten mit dem Protagonisten ausfüllt. ▸ 3 Filme in der Top-250-Liste bei imdb.com. (L.A. CONFI‐ DENTIAL, CHINA TOWN und DIE SPUR DES FALKEN. KNIVES OUT hat es knapp nicht geschafft) Da wäre ich nie drauf gekommen! - Ich schon. 215 <?page no="217"?> 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse Stell dir vor… - Ok, mache ich. „God created dinosaurs. God destroyed dinosaurs. God created Man. Man destroyed God. Man created dinosaurs.” Michael Crichton Was wäre, wenn eine arme Familie sich in das Leben einer reichen Familie einschleicht? - PARASITE (Regie: Bong Joon-ho, 2019) Was wäre, wenn ein rassistischer Prolet viele Wochen mit einem schwarzen Schöngeist verbringen muss? - GREEN BOOK (Regie: Peter Farelly, 2018) Was wäre, wenn die Putzfrau eines wissenschaftlichen Labors sich in eine dort gefangen gehaltene Kreatur verliebt? - THE SHAPE OF WATER (Regie: Guillermo del Torro, 2017) Was wäre, wenn ein harter Drogendealer sich eines emotional ver‐ nachlässigten Jungen annimmt? - MOONLIGHT (Regie: Barry Jen‐ kins, 2016) Was wäre, wenn eine Gruppe investigativer Journalisten sich ohne zeitlichen und wirtschaftlichen Druck in ein skandalöses Thema ver‐ gräbt? - SPOTLIGHT (Regie: Tom McCarthy, 2015) Was wäre, wenn ein Schauspieler von einer Rolle seiner Schauspielver‐ gangenheit eingeholt wird? - BIRDMAN (Regie: Alejandro Gonzalez Inarritu, 2014) <?page no="218"?> Was wäre, wenn ein freier Mann entführt und versklavt wird und jahrelang unter Sklaven lebt, die die Freiheit gar nicht kennen? - 12 YEARS A SLAVE (Regie: Steve McQueen, 2013) Was wäre, wenn eine Befreiungsoperation der CIA nicht auf Kampf, sondern auf einer aberwitzigen Verkleidungsidee der Geiseln basiert? - ARGO (Regie: Ben Affleck, 2012) Die hier aufgeführten Filme haben nicht viel gemeinsam, abgesehen davon, dass sie alle in den letzten acht Jahren den Oscar für den besten Film gewonnen haben. Und, dass sie allesamt gute Filme sind. Filme, die unterhalten, emotional bewegen, künstlerisch interessant und eigen sind. Filme, die etwas zu sagen haben. Dass es sich dabei ausnahmslos um weltbewegende Werke handelt, um die die Nachwelt sich noch einen Deut scheren wird, darf gerne bezweifelt werden. Doch so ist es mit den Oscars immer schon gewesen, wenn man in die Vergangenheit dieses wichtigsten Filmpreises der Welt schaut. Sei’s drum. Uns dienen sie als willkürliche Auswahl. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse beschreibt als Erzählkonzept die Umstände für den fundamentalen Konflikt einer Geschichte. Diese Umstände können Ursache, Voraussetzung oder Motivation für das Handeln von Figuren sein. In den Genres Drama und Comedy handelt es sich dabei um eine Konstellation (Zufall, Missverständnis, Unglück etc.), in den anderen Genres handelt es sich um eine Spekulation. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage, dass jede, wirklich jede Geschichte als eine Was-Wäre-Wenn-Geschichte betrachtet wer‐ den kann. Sie können jeder Geschichte ein „Stell dir vor…“ voranstellen, 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse 218 <?page no="219"?> oder ein „Es war einmal…“ oder auf einer abstrakteren Ebene, zum Beispiel einer Inhaltsangabe, ein „Was wäre, wenn…“. Diese Floskeln sind die Tür, hinter der die Narration wohnt. Wir müssen hindurch, auf die eine oder andere Art und Weise. Doch es gibt eben auch ein Erzählkonzept, das als Was-Wäre-Wenn-Prä‐ misse in seinem Wesen beschrieben wird. Dieses Erzählkonzept ist das am häufigsten anzutreffende aller Erzählkonzepte. Es ist Grundlage der meisten Dramen und Komödien, also ganz vieler „kleiner“ Filme, die ohne - sagen wir mal ganz unfachmännisch - Spektakel auskommen müssen, um ein Publikum zu finden und zu begeistern. Gleichzeitig ist es das Erzählkonzept von ganz vielen „großen“ Filmen mit Big Budget, High Concept, Stars und großem PR-Rummel. Bevor wir diese beiden Richtungen genauer betrachten, müssen wir zuerst die Begriffe „Idee“, „Konzept“ und „Prämisse“ nebeneinander‐ halten und voneinander sauber trennen. Wenn wir den Prozess der Schöpfung von Narration, also dessen chronologische Abfolge ansehen, kommt zuerst die Idee. Sie steht somit als das, was den kreativen Menschen ereilt, was sich in seinem Kopf unklar und unfertig festsetzt und ihn fortan nicht mehr loslässt. Die Geschehnisse auf der Blümchenwiese. Fragile, flüchtige Erscheinun‐ gen, die man packen aber auch wieder verlieren oder gar zerstören kann. Sofort geht die Konzept-Arbeit los. Unwillkürlich und unmittelbar formen sich Gedanken um diese Idee herum. Abstrakte Fragen werden aufgeworfen, die allerdings konkrete Antworten erfordern. Ist diese Idee Anfang, Mitte oder Ende einer Geschichte? Was war davor, was kommt danach? Welche Figuren werden hier eine Rolle spielen? Und so weiter. Stell dir vor… - Ok, mache ich. 219 <?page no="220"?> Erst in dieser Konzept-Arbeit wird die Frage gestellt: Ist diese Idee (und das, was sich unmittelbar daraus formt) jetzt eine Prämisse? Oder brauche ich gar eine oder mehrere Prämissen, die ich noch finden und kreieren muss, damit meine Idee funktioniert? Die Prämisse ist in diesem Kontext also Folge und nicht Ursache. Das klingt erst mal widersprüchlich und damit falsch. „Ist eine Prämisse in einer Geschichte nicht irgendwas, was Vorne passiert? “ höre ich Sie grübeln. Ganz abgesehen davon, dass man den Schöpfungsprozess oder - etwas weniger wuchtig ausgedrückt - den Entwicklungsprozess der Narration nicht mit dem Ablauf der Geschichte selber verwechseln darf, ist die Antwort darauf ein eindeutiges: Jein. Natürlich ist das Wesen der Prämisse, dass durch sie etwas vorausge‐ schickt wird, dem etwas folgt. In der formalen Logik enthält sie eine Aussage, aus der eine Schlussfolgerung gezogen werden kann. Also: Ja. Die Prämissen selbst finden sich natürlich im vorderen Teil der Geschichte, im ersten Akt. Blake Snyder und viele andere Gurus sagen uns ganz genau, auf welcher Seite was zu stehen hat in einem Drehbuch. Bei ihm steht die sogenannte Promise of the Premise (er nennt diesen Abschnitt der Geschichte „Fun and Games“) unmittelbar vor dem Midpoint. Dort wird also bereits das Versprechen der zentralen Prämisse einge‐ löst. Eingelöst, nicht etwa gesetzt zur späteren Einlösung! Das hier eingelöste Versprechen ist aber weniger Ausdruck eines narrativen Mechanismus, sondern von funktionierendem Marketing. Es geht bei Snyders Promise of the Premise um die Bestätigung der durch Titel, Logline, Plakat, Trailer und PR hervorgerufenen Erwartungshaltung 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse 220 <?page no="221"?> des Zuschauers an den Film. Snyder ist also schon sieben Schritte weiter als wir hier. Der zweite Teil der Antwort ist: Nein. Denn die Prämissen einer Geschichte und deren Einlösungen sind nicht irgendwelche austausch‐ baren Elemente, die man vorne reintut, um hinten etwas rauszube‐ kommen. Sondern sie sind die sinnhafte Erzählung selbst. Narrative Basisoppositionen nennt das die Wissenschaft, wir Normalsterblichen reden bei Filmen, Geschichten und Handlung eher über Konflikte. Ohne solche Konflikte gibt es schlicht nichts zu erzählen, zumindest nichts Sinnvolles. Ausnahme stellt der künstlerische Konzeptfilm dar, der sich aus Ignoranz, Unvermögen, Genialität oder schlicht aus der Fokussierung auf andere Aspekte der filmischen Gestaltung unserer Analyse entzieht. Die Prämisse ist also nur existent, wenn sie eingelöst wird, wenn ihr ein Konflikt und die Lösung des Konflikts folgen. Immer wieder finden sich Filme auch ganz anderer Erzählkonzepte, die ihre Prämissen nicht einlösen. Sind es dann überhaupt Prämis‐ sen? Oder handelt es sich um ein Missverständnis? Haben Sender (Filmemacher) und Empfänger (Zuschauer) schlicht unterschiedliche Vorstellungen davon, wovon der Film handeln sollte? Jenseits von reinen Geschmacksunterschieden und unterschiedlichen intellektuellen Niveaus sind diese unterschiedlichen Erwartungen, worüber ein Film etwas zu erzählen habe, der Hauptgrund für ein jedes Missfallen des Publikums. Der kommerziell ausgesprochen er‐ folgreiche AMERICAN SNIPER (Regie: Clint Eastwood, 2014), der ein Historischer Film ist und nicht auf einer Was-Wäre-Wenn-Prämisse basiert, wurde vom deutschen Feuilleton arg kritisiert, weil er nicht von den politischen Umständen und den beiden Parteien des Irakkriegs handelt, sondern „nur“ von der Wirkung des Krieges und des Kämpfens und Tötens auf einen einzelnen amerikanischen Soldaten. Das hatte die Stell dir vor… - Ok, mache ich. 221 <?page no="222"?> Kritiker ein paar Jahre zuvor bei dem vom Feuilleton weltweit bis zum Oscar hochgejazzten THE HURT LOCKER (Regie: Kathrine Bigelow, 2008) übrigens nicht gestört. Im Gegenteil. Natürlich baut Clint Eastwood hier dem Mann, der ein vorbildlicher Soldat war, ein Denkmal. Natürlich ist das im Ergebnis ein patriotischer Film. Natürlich ist das potentielle Propaganda. Natürlich! Es ist ein Film, die schärfste Propagandawaffe aller Zeiten. Aber im Gegensatz zu anderen aktuellen Filmen über amerikanische Soldaten, wie 12 STRONG (Regie: Nicolai Fuglsig, 2018) und 13 HOURS (Regie: Michael Bay, 2016) lotet AMERICAN SNIPER die Tiefen der Seele seiner Hauptfigur aus, was ihn neben der historischen Relevanz und guter Action zu einem guten Film macht. Konstellation: Million Dollar Baby, Gran Torino, The Green Book Die beiden großen Dramen, die Clint Eastwood uns aus seinem umfangreichen Œvre hinterlässt, sind MILLION DOLLAR BABY (2004) und GRAN TORINO (2008). Erfundene Geschichten, Fiktion durch und durch. Sie erzählen eigentlich dieselbe Geschichte. Es sind Was-Wäre-Wenn-Geschichten. Das haben sie mit THE GREEN BOOK gemeinsam. Ihre narrativen Basisoppositionen sind in Protagonist und Antagonist bilderbuchhaft verankert: Die jeweilige Hauptfigur hat felsenfeste Überzeugungen und eine auf Abwehr oder sogar Abscheu dem Anderen gegenüber basierende Haltung. Der Boxtrainer gegen Frauen im Boxsport, der Ex-Soldat gegen Asiaten, der Fahrer gegen Schwarze. Die Geschichte besteht nun daraus, diese beiden sich ausgiebig be‐ schnuppern zu lassen, sodass sie sich erst kennen und dann schätzen lernen, um schließlich Freunde zu werden. „Bonding“ nennt das der Therapeut. FLUCHT IN KETTEN (Regie: Stanley Kramer, 1958), DER 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse 222 <?page no="223"?> LOHN DER MUTIGEN (Regie: Frank Sinatra, 1965), DIE HÖLLE SIND WIR (Regie: John Boorman, 1968), ENEMY MINE (Regie: Wolf‐ gang Petersen, 1985) und der weltbewegende FEINDE - HOSTILES (Regie: Scott Cooper, 2017) sind Vertreter dieser in ihrer emotionalen Wirkweise glasklaren Konzeptidee. Sie zieht sich durch die Jahrzehnte der Filmgeschichte. Klischees, Vorurteile und Feindbilder, seid um‐ schlungen! Cowboy und Indianer, Schwarz und Weiß, Macho-Hetero und Tunte, Jude und Araber, Arm und Reich, you name it. Auch THE GREEN BOOK begnügt sich damit. Seine Was-Wäre-Wenn- Prämisse steht am Anfang unseres Kapitels: „Was wäre, wenn ein rassistischer und heterosexueller Prolet viele Wochen mit einem schwarzen Schöngeist, der auch noch schwul ist, verbringen muss? “ Antwort: Bonding. Sie beschnüffeln sich, lernen voneinander und werden Freunde. Beide bekommen ihr Need: Der bornierte Fahrer lernt Toleranz, der einsame Pianist bekommt nicht nur einen Freund, sondern am Ende gleich eine ganze Familie. Doch die Was-Wäre-Wenn-Prämisse von MILLION DOLLAR BABY und GRAN TORINO ist nicht die Formulierung dieser narrativen Ba‐ sisoppositionen. Denn das Ergebnis des Bondings ist hier die Prämisse für die eigentliche Geschichte, die in dem Opfer besteht, dass der eine für den andern zu bringen hat. Technisch ausgedrückt lautet die Prämisse also: „Was wäre, wenn nach erfolgtem Bonding einer der beiden in große Schwierigkeiten gerät? “ Stell dir vor… - Ok, mache ich. 223 <?page no="224"?> Antwort: eine Heldentat, ein Opfer. Nicht die Wandlung der Figuren ist hier die erzählerische Substanz, sondern der sich anschließende Konflikt. In MILLION DOLLAR BABY muss der alternde Boxtrainer seinen religiösen und ethischen Prinzipien zum Trotz seinen Schützling, die vollständig gelähmte Frau, als Akt der Gnade töten. In GRAN TORINO ist es das eigene Leben, das der alternde Ex-Soldat geben muss, um die Kriminellen, die seinen jungen Freund und dessen Familie bedrohen, hinter Schloss und Riegel zu bringen. Beide (alten, weißen) Männer opfern unglaublich viel, der eine sein Leben, der andere seine berufliche und private Existenz, seine Identität, indem er nach dem Gnadenakt ins innere und äußere Exil geht. „Ein alter Mann stirbt, ein junges Mädchen lebt. Fairer Tausch.“ sagt Bruce Willis als Polizist Hartigan in SIN CITY (Regie: Robert Rodri‐ guez, 2005), wenn er sich für das Kind opfert. Der alte Mann in GRAN TORINO ist nicht nur alt, sondern auch noch todsterbenskrank und hat eine tief in ihm verborgene Schuld zu begleichen: seine uns Zuschauern nur diffus angedeuteten und vor geraumer Zeit begangenen Sünden im Koreakrieg. Sein Tod wird dadurch nicht weniger heldenhaft, weniger dramatisch oder weniger emotional. Im Gegenteil. Dies sind die Cha‐ rakterschichten und narrativen Dimensionen, die das herausragende Drama, das GRAN TORINO ist, von dem künstlerisch herausragenden Stück Popkultur, das SIN CITY ohne Zweifel ist, trennen. Spekulation: Krach, Bumm, Peng Was wäre, wenn Aliens auf die Erde kämen, und sie wären feindlich? Die Antwort geben INDEPENDENCE DAY , KRIEG DER WELTEN , MARS ATTACS , DIE DÄMONISCHEN , PACIFIC RIM und so weiter. Die Liste ist endlos. 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse 224 <?page no="225"?> Was wäre, wenn Aliens auf die Erde kämen und sie wären friedlich? Die Antwort geben E.T. , ARRIVAL , UNHEIMLICHE BEGEGNUNG DER DRITTEN ART , PAUL - EIN ALIEN AUF DER FLUCHT , DISTRICT 9 und so weiter. Die Liste ist nicht ganz so lang. Diese und andere spektakuläre Prämissen wie „Was wäre, wenn un‐ ter Los Angeles ein großer Vulkan ausbrechen würde? “ Oder „Was wäre, wenn man aus Leichenteilen einen Menschen zusammenbasteln könnte? “ oder „Was wäre, wenn man in relativ naher Zukunft eine Technologie zur Zeitreise (in die Vergangenheit) erfunden hätte? “ oder „Was wäre, wenn man Dinosaurier zum Leben erwecken könnte? “, all diese Szenarios eröffnen jeweils eine Vielzahl von ebenso spektakulä‐ ren Antworten. Wenn die finanziellen Mittel und die handwerklichen Fähigkeiten des Storytellings keine echte Limitation darstellen, dann steckt die erzählerische Substanz bereits in der möglichst spektakulären und möglichst neuen und möglichst einzigartigen Prämisse und nicht erst in ihrer Antwort. Die narrativen Basisoppositionen sind, ohne dass man über Figuren und deren persönliche Konflikte und ihr Involviert‐ sein in die äußeren Konflikte der Handlung einen einzigen Gedanken verschwendet hat, schon in Gänze sichtbar. Bei VOLCANO (Regie: Mick Jackson, 1997) sind es die Gegensätze Metropole L.A. (menschliche Schöpfung) versus Naturgewalt Vulkan (göttliche Schöpfung), bei all den unzähligen Frankenstein-Verfilmun‐ gen ist es die menschliche Schöpfung versus die göttliche Schöpfung, in JURASSIC PARK (Regie: Steven Spielberg, 1993) ist es - Ups! - schon wieder menschliche Schöpfung versus göttliche Schöpfung. Wie auch immer Sie zum göttlichen Schöpfungsmythos stehen, der Mensch, der sich zum Gott aufschwingt und dafür einen hohen Preis bezahlen muss, scheint ein häufiges Grundmotiv unseres Erzählkonzepts zu sein. Stell dir vor… - Ok, mache ich. 225 <?page no="226"?> Die Antwort auf die Prämisse muss nicht naheliegend im Sinne von wahrscheinlich sein. Wenn die technologisch spektakuläre Spekulation, dass wir in der Lage wären, fossile DNA zum Leben zu erwecken, zu einer Geschichte führt, bei der im Geheimen seit Jahren auf einer Insel ein Vergnügungspark mit Riesenechsen gebaut wurde, kann diese Antwort mit Fug und Recht als weit hergeholt bezeichnet werden. Wenn wir die technologische Spekulation, dass wir in der Lage wären, Leichen zum Leben zu erwecken, im Geiste durchspielen, würde dieser Meilenstein der Medizin dann unmittelbar dazu führen, einen künst‐ lichen Menschen zu schaffen? Ja, auch irgendwann, unter Anderem. Aber erst mal ginge es um Medizin. Schließlich ist die Technik in Form eines Defibrillators tatsächlich heute eine gängige notfallmedizinische Maßnahme und rettet millionenfach Leben. Doch so etwas interessierte die Romanautorin von „Frankenstein“, Mary Shelley, und den Autor der Romanvorlage von JURASSIC PARK , Michael Crichton, nicht. Sie hatten eigene, persönliche, weit herge‐ holte Vorstellungen davon, was die Antwort auf die Prämisse ihrer Geschichte sein sollte. Yesterday und Messiah Bei Danny Boyles YESTERDAY (2019) und der Netflix-Serie MESSIAH (2020) sind die Kreativen einem anderen Pfad gefolgt. Ihre Antworten auf die jeweiligen Prämissen sind ungemein schwierig zu gestalten, obwohl sie naheliegend sind. YESTERDAY ist auf abstruse Weise konstruiert und schert sich in der sehr charmant-hintergründigen Prämisse einen Dreck um Realität und Glaubwürdigkeit. Es ist ein surreales Popkultur-Spekulations-Mär‐ chen, was eine hässliche Titulierung für einen eigentlich sehr schönen Film ist. 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse 226 <?page no="227"?> Jack Malik wird vom Bus angefahren und gleichzeitig fällt auf der ganzen Welt der Strom für wenige Sekunden aus. Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich in einem Paralleluniversum, das sich nur in einem winzigen Punkt von der realen Welt unterscheidet: Es hat die Beatles als Band samt ihrer Musik nie gegeben, folglich erinnert sich auch niemand an ihre Musik, bis auf Jack, der ein mäßig begabter Möchtegern-Singer-Song-Writer ist. Er wird im Laufe der Geschichte mit den Beatles-Songs zum Weltstar. Es ist naheliegend, dass eine Figur, die Musik auf Bühnen performen kann und will, diese Möglichkeit heimlich und schamlos ausnutzt. Es produziert eine enorme Fallhöhe für die Figur, was im Sinne des Storytellings nicht nur wünschenswert, sondern zwingend notwendig ist. Es wäre weit hergeholt, wenn Jack infolge der Ereignisse zum Beispiel mit Naturwissenschaftlern gemeinsam auf die Suche nach einer Erklä‐ rung für dieses rätselhafte Phänomen gehen würde. Oder wenn er versuchen würde, die echten Beatles Mitglieder davon zu überzeugen, mit ihm eine Band zu gründen. Oder wenn er versuchen würde mit weiteren Unfällen die Sache rückgängig zu machen oder zu wieder‐ holen. Die Geschichte von Jacks Aufstieg zum Star ist naheliegend, wenngleich sie in der erzählerischen und filmischen Umsetzung für alle Kreativen ausgesprochen herausfordernd und schwierig ist. MESSIAH schnappt sich auf dem Feld der vielfältigen Weltanschau‐ ungen der Moderne die größte denkbare Prämissenbombe und zün‐ det tatsächlich die Lunte an: Was wäre, wenn aus dem Nichts ein Typ auftaucht, der in jeder Hinsicht wie ein wahrhafter Messias in Erscheinung tritt? Es dauert nicht lange, bis die ganze Welt von dem Phänomen in Atem gehalten wird. Politiker, Geheimdienste, Menschen Stell dir vor… - Ok, mache ich. 227 <?page no="228"?> in persönlichen Sinnkrisen, sie alle reagieren auf dieses Phänomen auf unterschiedliche Weisen. Beide Filme haben mit ihrer Prämisse den Charakter einer globalen Versuchsanordnung. Denn beide Filme, so unterschiedlich ihr Sujet und ihre Tonalität auch sind, spielen die wahrscheinlichen im Sinne von naheliegenden Implikationen ihrer Prämisse durch. Die Aufgaben‐ stellung für den Autor liegt zuerst in der Beantwortung der Frage, wie rationale Menschen, im Falle von YESTERDAY ein netter Durch‐ schnittstyp als Hauptfigur, sein direktes Umfeld als Nebenfiguren und alle Menschen auf der Erde, die von den ihnen unbekannten Beatles-Songs überwältigt sind, reagieren würden. Damit hat man 95 % des Films schon auf sehr unterhaltsame Weise bestritten. Die letzten 5 % müssen wir gleich genauer betrachten. Für die Serie MESSIAH mit ihrem vielfältigen Figuren- und Perspek‐ tiv-Ensemble, vom Messias selbst über den Präsidenten der USA, diverse CIA-Agenten bis zum evangelikalen Prediger, gilt es genauso, rationale Menschen in ihrem rationalen Handeln zu zeigen. Beide Hal‐ tungen: 1. „Er ist der wahre Messias“ und 2. „Er ist ein Scharlatan, ein Agent, ein Terrorist“, müssen nebeneinander gelten und funktionieren. Die beiden globalen Versuchsanordnungen von YESTERDAY und MESSIAH durch zu exerzieren, erfordert jeweils eine auf die jeweilige Prämisse folgende Voraussetzung: Bei YESTERDAY braucht man nicht nur ein Konzept für die dramaturgische Einbettung der Songs und wie diese „neu“ erschaffen werden, sondern neben allerlei Cameos min‐ destens einen bekannten Musiker der Neuzeit, der sich nicht scheut, die direkte kompetitive Konfrontation mit dem Werk der Beatles zu verlieren. Den hat man mit Ed Sheeran, der sich selbst ganz passabel spielt, gefunden. 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse 228 <?page no="229"?> Bei MESSIAH braucht es ein Kreativteam, das tatsächlich in der Lage ist, einen beeindruckenden Mann in verschiedensten Situationen (bei der Predigt, im Gefängnis, im vertrauten Gespräch mit dem Präsiden‐ ten und so weiter) beeindruckende Dinge sagen und tun zu lassen. Zuallererst braucht es im Kreativteam des Films also einen Autor, der sowas in den konkreten Szenen und im Dialog zustande bringen kann, jenseits von Dramaturgie und narrativem Konzept. Damit wir die Möglichkeit, dass er der wahre Messias sein könnte, glauben. Dass dies bei MESSIAH gelingt, ist künstlerisch ungemein beeindruckend. Beide Filme schaffen also die Strecke. Wie steht es mit dem Ende? Beide Filme kriegen die Kurve zu einem Ende, wobei man hier dif‐ ferenzieren muss. Die Handlung des Kinofilms YESTERDAY muss abgeschlossen werden, MESSIAH muss nur ein Staffelfinale hinkrie‐ gen. YESTERDAY macht als Feelgoodmovie alles richtig mit einem sehr konventionellen, um nicht zu sagen amerikanischen Ende: Das große Lügenkonstrukt des von Gewissensbissen und Liebesunglück gepeinigten Sängers, der sich mit den fremden Federn der Beatles schmückt, wird vor größtmöglichem Publikum und den Augen seiner Liebsten durch ihn selbst enthüllt. Eine lehrbuchhafte Want (Erfolg) - versus - Need (Wahrheit und Liebe) - Lösung als Happy End. Fragen nach logischer Konsistenz (zum Beispiel: Was ist denn jetzt mit John, Paul, George und Ringo? ) werden zurecht ignoriert. Die Geschichte ist zu Ende erzählt, die Narration ist dramaturgisch und emotional rund. MESSIAH offenbart gegen Ende ein großes Problem, dass noch so viel Dialoghandwerk und erzählerische Inspiration nicht lösen kann. Die Lunte brennt und brennt, jetzt wollen wir es knallen hören und sehen. Ist er’s, oder ist er’s nicht? Die Gretchenfrage, in der die erzählerische Substanz steckt, will beantwortet werden, sie weiter aufzuschieben, überstrapaziert alle, Schöpfer und Zuschauer. Die Staffel endet zwar Stell dir vor… - Ok, mache ich. 229 <?page no="230"?> mit einem guten Cliffhanger und einer Tendenz in Richtung Ja. Doch die Zweifel, die in einer zweiten Staffel erzählerisch bedient werden müssten, können wir uns sparen, denn es wird keine weiteren Staffeln geben. Ganz unabhängig von möglicherweise rein ökonomischen Beweg‐ gründen auf Seiten von Netflix ist das auch aus der Perspektive eines Fans der Serie die richtige Entscheidung. Einfach die Lunte verlängern, diesen Trick hat man bei LOST über 6 Staffeln hinweg gemacht. Auch MESSIAH offenbart mehr und mehr den narrativen Charakter einer Plausibilisierung. Das Unplausible, das in der Plausibilisierung einen so großen Teil der Narration ausmacht - dort die mysteriösen Ereignisse auf einer einsamen Insel, hier die unglaublichen Fähigkeiten dieses Mannes - wollen erklärt und damit plausibilisiert werden. Doch bei MESSIAH lassen sich beide Antworten, Ja und Nein, in der sehr rea‐ listischen Welt dieser Serie nicht befriedigend plausibilisieren. Denn wenn die Erzählung auf ein echtes Ja hinausläuft, wird ein solcher Film ein missionarisches Werkzeug für die theologischen Inhalte, für die „frohe Botschaft“ dieses neuen Messias. Wollten das die Filmemacher? Eine neue synkretistische Botschaft verbreiten? Missionieren? Wohl kaum. Also ein Nein. Das wiederum würde bedeuten, er ist eine Agenten‐ wunderwaffe, ungeheuer aufwendig trainiert und ausgebildet, eine Figur in einem Masterplan, um die Menschheit … ja was denn? Zu befreien, zu regieren, zu erziehen? Und wer steckt dahinter? Bill Gates? Die CIA? Die Mafia? Die Chinesen? Sie sehen schon, es würde eine lächerliche Weltverschwörungsgeschichte werden. Dan Brown auf Speed. Wollten das die Filmemacher? Wohl kaum. Sie wollten anspruchsvolles Entertainment schaffen, was ihnen mit dieser einen Staffel MESSIAH mehr als gelungen ist. 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse 230 <?page no="231"?> Die große Frage: Gibt es Gott oder gibt es keinen Gott? Beides lässt sich nicht plausibilisieren! Das lehrt uns hier die Nischendisziplin der Filmanalyse. Wow. Von Menschen und Fliegen David Cronenbergs Bodyhorror Meilenstein DIE FLIEGE von 1986 handelt mal wieder davon, wie Menschen Gott ins Handwerk pfuschen. Da wird menschliche DNA und die einer Fliege zusammengemixt, auch wenn es aus Versehen geschieht. Und natürlich ist DIE FLIEGE ein in jeder Hinsicht aufsehenerregender Film, der in dem, was er erzählt, wie er es erzählt und wie er es visuell darstellt, in die Vollen geht. Spektakel? Oh ja! Dennoch ist DIE FLIEGE ein konzentriertes Zwei-bis-drei-Personen-Stück und ein verdammt gutes Drama, das mit einem Akt der Gnade endet, wie MILLION DOLLAR BABY oder das dichteste und rundeste Drama aller Zeiten: John Steinbecks VON MENSCHEN UND MÄUSEN (Regie: Lewis Milestone, 1939 und Regie: Gary Sinise, 1992), in dem ein Mann seinen Freund vor dem Lynchmob nur retten kann, indem er ihn von hinten erschießt. Doch bei DIE FLIEGE müssen wir wie in den Dramen MILLION DOLLAR BABY und GRAN TORINO die spekulative Prämisse am Anfang von der eigentlichen Prämisse unterscheiden. Denn die Frage: „Was wäre, wenn ein Wissenschaftler die Teleportation erfindet? “ ist nicht die Prämisse der Geschichte, die wir dann sehen. Eine solche Erfindung wäre so wichtig, und die Auswirkungen wären so gewaltig, dass sie die gesamte Menschheit in ein neues Technologiezeitalter katapultieren würden. Wen interessiert da noch ein unappetitliches Kammerspiel in dem schmuddeligen Loft irgendeines Freaks? Dass es uns doch interessiert, liegt daran, dass die Prämisse, deren Antwort wir ersehnen, ganz anders lautet: Was wäre, wenn ein Mensch mit der DNA einer Fliege verseucht würde? Stell dir vor… - Ok, mache ich. 231 <?page no="232"?> Das ist in all seiner exploitativen Drastik und trotz der in vielen Teilen unrealistischen Handlungsentwicklung (Warum haben wir hier eigentlich diese langsame Metamorphose über Tage und Wochen? - Der Film gibt keine Antwort. Warum spricht niemand mehr von der technologisch weltbewegenden Großtat? - Der Film gibt keine Antwort.) eine interessante und auf der reinen Plotebene eine schwer zu beantwortende Frage. Wo führt man eine solche Geschichte hin? Kann es eine Lösung für das Problem des Helden in der Figur des Wissenschaftlers geben? Ein Happy End? Wohl nicht. Der Schaden auf biologischer und bald auch auf morali‐ scher Seite ist zu groß. Es geht am Ende für die zweite Hauptfigur, die Frau, die sich in ihn verliebt hat, nur noch darum, von dem Monster, zu dem er geworden ist, nicht gefressen, hier also genetisch einverleibt zu werden. Denn anders als in der literarischen Vorlage und der ersten Verfilmung aus den 50er Jahren, will der Wissenschaftler bei Cronenberg die Geschehnisse gar nicht rückgängig machen. DIE FLIEGE ist das Para‐ debeispiel für den Masterplot der Metamorphose. Damit weist er ganz offen das narrative Problem einer massiven Identifikationsstörung des Zuschauers mit der Hauptfigur auf. Mit Seth Brundle, als er noch wie Jeff Goldblum aussah und nach Erkenntnis strebte, können wir uns identifizieren, mit Brundlefliege, wie er sich im Laufe der Geschichte selbst nennt, der mit einer Fliege bereits verschmolzen ist und mit einem weiteren Menschen verschmelzen will, immer weniger. Cronenberg löst dieses Problem, indem er es gar nicht erst zur Wirkung kommen lässt. Er erreicht das durch die früh angelegten Perspektiven der beiden anderen Figuren, die zum Ende hin dominieren, plus einem Feuerwerk aus Humor, Spannung, Drama und Spezialeffekten, das in einem furiosen Finale gipfelt. 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse 232 <?page no="233"?> Doch lassen wir das dramaturgische Handwerk und das visuelle Spektakel gedanklich bei Seite, dann bleibt die Erkenntnis, dass die narrative Substanz des Dramas, das DIE FLIEGE ist, nicht nur in den spekulativen Prämissen steckt, sondern in deren Schlussfolgerung: Seth Brundle hat die Büchse der Pandora so weit geöffnet und mit seiner Menschlichkeit solchen Schindluder getrieben, dass es für ihn und seinen geschundenen Körper am Ende nur den Gnadenschuss geben kann: Was in der letzten Szene des Films auf die Frau zu kriecht, ist keine Bedrohung mehr, sondern ein matschiger Haufen Leiden, der um Erlösung bettelt. Die Stoffideen der Was-Wäre-Wenn-Prämisse In dieser Gestalt ereilt die Story-Idee den Kreativen am häufigsten. Das ist die Aufgabenstellung, mit der man in einem Brainstorming, sei es alleine beim Spaziergang im Wald oder in großer Runde im Konferenzraum, regelrecht quantifizierbaren Output erzielen kann. Die Hermetik der Situation oder gar das Gegenteil, also ein Ausflug, raus aus der gewohnten Umgebung als Perspektivwechsel, hinaus auf die konkrete Blümchenwiese, können die entscheidende Anregung sein. Gibt man ein Thema, ein Setting, eine Figur, oder einen bestimmten Schauspieler als Vorgabe in den Topf, dann kann man schauen, wie viele Ideen man nach einer Stunde beisammenhat. Oder man kann spielerisch kompetitiven Druck aufbauen. „Das Meeting ist erst been‐ det nach 20 Ideen. Später wird sortiert. Und los.“ Gruppendynamiken, Assoziationstechniken, Alkohol, Humor und Ausgelassenheit können ebenso wie Ruhe und Konzentration vor allem in diesem Erzählkonzept so manche erzählerische Substanz zu Tage fördern. Zu solchen Prozessen und Techniken gibt es allerhand Coachings, Seminare und Bücher. Nur zu. Stell dir vor… - Ok, mache ich. 233 <?page no="234"?> Wir müssen jedoch hier die gedankliche Trennung machen zu all den vielen Geschichten, denen andere Erzählkonzepte zugrunde liegen. Denn auch diese erscheinen oft als Was-Wäre-Wenn-Prämisse. ARGO , SPOTLIGHT und 12 YEARS A SLAVE zum Beispiel sind Historische Filme. Die narrative Substanz liegt dort in einem durch historische Fakten vorgegebenen Handlungsgerüst. In der wissenschaftlichen Erzähltheorie wird der Begriff „Prämisse“ für eine bestimmte analytische Sicht auf den Prozess der Wandlung einer Figur verwendet. Darin steckt auch die Dialektik von Ausgangspunkt - Konflikt - Lösung, aber eben immer bezogen auf eine Charakter‐ wandlung. Erzählerische Substanz und die mannigfaltigen Ideen für Geschichten können aber in ihrer Genese auch ganz unabhängig von Figuren beziehungsweise Charakteren einer Geschichte sein. Und sie können es auch über den gesamten Verlauf der Handlung bleiben, wie ANDROMEDA - TÖDLICHER STAUB AUS DEM ALL (Regie: Robert Wise, 1971), der auf dem gleichnamigen Roman von Michael Crichton basiert, uns vor Augen hält. Ein Spielfilm, der auf der glasklaren Was-Wäre-Wenn-Prämisse basiert, die er im Titel führt. Allerhand Wissenschaftler versuchen die Bedrohung einer Pandemie durch außerirdischen Staub zu analysieren und Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Das ist der ganze Film. Figurenentwicklung? Charakter‐ wandlung? Fehlanzeige. Spannend, interessant und innovativ? Oh ja! Die Dialektik von Frage und Antwort, die dem Erzählkonzept der Was-Wäre-Wenn-Prämisse innewohnt, ist auf der abstrakten Ebene für unser menschliches Denken in Kausalzusammenhängen so prägend und selbstverständlich, dass in diesem Erzählkonzept sehr abstrakte Ideen geboren werden (können). Im Gegensatz zu sehr konkreten Filmideen wie: Ich mache einen Film über Napoleon. Oder: Ich mache einen Film über eine Gruppe Kinder, die auf einer Insel gestrandet sind 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse 234 <?page no="235"?> ( HERR DER FLIEGEN ). Oder: Ich mache einen Film über einen Mann, der einen Pakt mit dem Teufel eingeht, dies aber vergisst und somit nicht weiß, dass er nicht weiß, wer er ist ( ANGEL HEART ). Was wäre, wenn…? In dieser Frage steckt das Wesen allen kreativen, assoziativen, innovativen, künstlerischen - und häufig auch des wis‐ senschaftlichen - Denkens und Schaffens. Es ist klar und schön. Es ist noch nicht verunreinigt durch Haltung, Message, politische Agenda, Relevanzdenken und Machbarkeitsüber‐ legungen. Randall Munroe ist ein ehemaliger Ingenieur, der mit den minimalis‐ tischen Web-Comics xkcd bekannt und erfolgreich geworden ist. Ein klassischer Nerd. Er hat das wunderbare Buch geschrieben „What if… Was wäre wenn? - Wirklich wissenschaftliche Antworten auf absurde hypothetische Fragen“. Was wäre, wenn jeder Mensch auf der Erde zeitgleich einen Laser‐ pointer auf den Mond richtet? Wie lange würde ein Atom-U-Boot in einer Erdumlaufbahn durchhalten? Wann wird Facebook mehr Profile von Toten als von Lebenden enthalten? Solch schöne Quatschfragen - allesamt eher keine Filmprämissen - hat er hier mit Hilfe seiner Fans zusammengetragen. Manche dieser Fragen stellte er sich schon als Kind, verrät er uns. Ich verrate Ihnen noch etwas: Alle 71 Fragen in „What if…? “ stellt und beantwortet nicht der erwachsene Buch- und Comic-Autor Randall Munroe, sondern der begabte Naseweis, der Munroe als Kind gewesen ist und den er sich bewahrt hat im Herzen und in seinem schlauen Köpfchen. Meine Bitte an Sie: Bewahren Sie bei aller Nüchternheit und analyti‐ schen Schärfe, die wir uns hier gemeinsam antrainieren wollen, den kindlichen Nerd, den Ritter des Was-Wäre-Wenn in sich. Ein einzelner Stell dir vor… - Ok, mache ich. 235 <?page no="236"?> Film von Ihnen wird dadurch nicht besser oder schlechter. Aber das mediale Überangebot wird dann aus weniger uninteressanten und mehr interessanten Filmen bestehen. Das wäre doch schon was. Fazit: ▸ Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse ist das am weitesten verbrei‐ tete aller Erzählkonzepte. ▸ Das Erzählkonzept gebiert als Konstellation sowohl die meisten aller Dramen und Komödien als auch als Speku‐ lation allerhand Action-, Science Fiction-, Endzeit- und Horror-Spektakel. Man findet es in allen Genres und es ist mit allen anderen Erzählkonzepten kombinierbar, häufig geht es feste Verbindungen ein mit der Hermetischen Welt. ▸ Die Antwort auf die Frage: Was wäre, wenn…? muss nicht zwingend naheliegend sein, sondern kann wie das Beispiel DIE FLIEGE zeigt, von sehr subjektiven und persönlichen Vorlieben und Themen des Filmemachers geprägt sein. Doch hier ist Vorsicht geboten, damit nicht unerfüllte Er‐ wartungen beim Zuschauer zu Konfusion und Frust führen. ▸ Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse bereitet den Weg für den zentralen Konflikt und die sogenannten Basisoppositionen der Geschichte. Damit ist es fundamental für das Erzählen überhaupt. Alle Geschichten auf der Welt können auch als Was-Wäre-Wenn-Geschichte betrachtet werden, man wird dadurch aber den kreativen Momenten in der Ideen‐ findung und -entwicklung und der erzählerischen Substanz vieler Geschichten nicht gerecht. Dazu benötigt man die anderen zehn Erzählkonzepte. Zum Beispiel: Was wäre, 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse 236 <?page no="237"?> wenn ein Astronaut aufgrund ungünstiger Umstände al‐ leine auf dem Mars zurückgelassen würde? Ah ja! Eine tolle Was-Wäre-Wenn-Prämisse! Was für eine super Idee! Nein, diese „Idee“ hat den Charakter einer Absichtsbekun‐ dung, darin steckt praktisch keine erzählerische Substanz. Die erzählerische Substanz steckt in den Kompetenzen des Astronauten, sein Leben trotz dieser widrigen Situa‐ tion zu retten. Im übertragenen Sinne könnten diese Kom‐ petenzen auch immer dem Autor oder einer Recherche‐ quelle zugeordnet werden. DER MARSIANER ist eine Gewusst-Wie-Geschichte, auch wenn sich eine griffige „Was wäre, wenn…-Formulierung“ adhoc finden lässt. ▸ Griffige und überzeugende Prämissen wie die der Se‐ rien MESSIAH oder LOST können eine große narrative Entwicklungsdynamik in Gang setzen, sie können die Phantasie beflügeln, weitere Ideen und große Handlungs‐ bögen hervorbringen. Doch im Sinne der größten narra‐ tiven Herausforderung und Leistung, der des Abschlie‐ ßens einer Geschichte mit dem richtigen Ende, zeigt sich, dass diese Dynamik auch häufig zu unauflösbaren ( MESSIAH , FLASHFORWARD ), unfertigen ( TRANSCEN‐ DENCE , LUCY ) und unbefriedigenden ( LOST , SIGNS , KRIEG DER WELTEN ) narrativen Schlusspunkten führt. ▸ 91 Filme in der Top-250-Liste bei imdb.com Stell dir vor… - Ok, mache ich. 237 <?page no="239"?> 8. Der Historische Film Es war einmal… - Das interessiert mich! „Leicht ist der Gedanke, aber schwer ist und unendliche Geduld erfor‐ dert der Umgang mit der Wirklichkeit.“ Karl Jaspers Dieses Kapitel ist ein Wagnis. Es ist eine Predigt gegen das Predigen, ein einziges Du-sollst-nicht-„Du sollst“-sagen. Es ist ziemlich verflixt. Wir reden nun schon eine Zeit lang über Geschichten, über Stories. An dieser Stelle müssen wir über Geschichte, über History reden. Schon die begrifflichen Relationen zeigen deutlich auf, dass nicht nur Erzählkonzepte voneinander getrennt werden können, sondern auch Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Fiktion, das Faktische und die Spekulation Begriffe sind, die wir hier in atemberaubender Kürze betrachten müssen, um uns Klarheit über den Historischen Film als Erzählkonzept zu verschaffen. Fragen Sie eine Person auf der Straße: „Was ist ein historischer Film? “ Dann erhalten Sie als Antwort: „Ein Film, der in der Vergangenheit spielt.“ Das ist natürlich nicht total falsch. Denn gemeint ist ein Film, der durch Szenenbild, Ausstattung und Kostüm offensichtlich wahrnehmbar in einer vergangenen Epoche spielt. Doch dabei handelt es sich lediglich um ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für den Histo‐ rischen Film. Der Begriff wird so auch in der Genrekategorie benutzt, <?page no="240"?> wobei dort eher vom „Historienfilm“ und vom „Monumentalfilm“ die Rede ist. Doch damit ist hinsichtlich der Implikationen für die Narration noch nicht viel gesagt. Dem Historischen Film liegt ein durch recherchierbare und recher‐ chierte Fakten vorgegebenes Handlungsgerüst zugrunde. Dabei ist weder die Quantität noch die dramaturgische Implementierung der historischen Fakten ausschlaggebend, sondern lediglich deren narrative Anerkennung. Schon mit diesen wenigen Gedanken am Anfang dieses Kapitels kommen wir in Teufels Küche, wenn wir den strengen Denker in uns seinen Zeigefinger heben lassen. „Historische Fakten“, die wir „narrativ anerkennen“. Da sträuben sich einem skeptischen Freigeist jegliche Nackenhaare. Dennoch steht es hier. Es ist unendlich schwer, gar unmöglich, die Vergangenheit objektiv und unmissverständlich und damit authentisch zu rekonstruieren. Was vor hundert Jahren geschah, was gestern war, vor einer Stunde, vor einer Sekunde. Kriminalbeamte, Anwälte, Richter, Historiker und Menschen, die ihren Schlüssel suchen, sie alle versuchen es. Es geht nicht. Nur zum Teil und nur zum Schein. Und es ist im Kern der Grund, warum wir, die wir keine Richter oder Historiker sind, Geschichten erzählen wollen. Wir stemmen uns nicht nur gegen das Vergessen, wir stemmen uns mit dem Erzählen von Geschichten gegen das Vergehen der Zeit selbst. Schreiben und Geschriebenes Geschichte ist keine exakte Wissenschaft, es geht ums Beschreiben und Interpretieren. Geschichte als Wissenschaft beschäftigt sich mit 8. Der Historische Film 240 <?page no="241"?> dem Tun und Wirken der Menschen auf diesem Planeten seit etwa 6000 Jahren. Alles davor ist die sogenannte Frühgeschichte. Woher kommt diese Unterscheidung? Es ist die Erfindung der Schrift und damit der Zeitpunkt, ab dem nicht mehr nur Artefakte, sondern Narration überliefert ist. Das ist zugegeben etwas großzügig ausgelegt, denn es handelt sich bei den frühesten Schriften nicht um Stories in unserem Sinne, sondern eher um Listen, Verträge und Gesetzestexte. Buchhaltung und Jura haben sich also schon immer vorgedrängelt bei der Frage nach dem Essentiellen des menschlichen Daseins. Auch können wir durch versteinerte Fußabdrücke von Frühmenschen tatsächlich winzige narrative Bröckchen aus noch viel früherer Zeit entdecken und Handlung aus vergangenen Jahrmillionen rekonstruie‐ ren. Wir können sagen: An genau dieser Stelle in der Olduvai-Schlucht in Tansania ist jemand gegangen. Hominide, ein Mann, eine Frau, dahinter ein Kind, vor 3,5 Millionen Jahren. Das ist authentisch und aus wissenschaftlicher Perspektive zwar ungemein beeindruckend und geradezu ehrfurchtgebietend. Es kann inspirieren. Was es aber mit den drei behaarten Zweibeinern damals auf sich hatte, ihre Geschichte, ist als Fakt nicht recherchierbar. Ebenso wissen Sie natürlich längst, dass die ältesten Bruchstücke vom narrativen Menschheitsgedächtnis wie das Gilgmesch-Epos, die Ilias und die Odyssee, das Alte Testament, all die Sagen, Legenden, Märchen und eben die Heldenepen mündlich tradiert worden sind, lange vor und noch lange nach der Erfindung der Schrift. Doch wichtig ist uns hier nicht die Exaktheit, sondern die Deutlichkeit des Bezugs: Geschichte/ History basiert auf Geschriebenem, Geschichten/ Stories werden geschrieben (um eventuell später verfilmt zu werden). Es war einmal… - Das interessiert mich! 241 <?page no="242"?> Entscheidend ist also nicht die Tatsache, dass wir zurückgehen auf dem Zahlenstrahl unserer Zeitrechnung, sondern, dass es Quellen mit narrativem Inhalt gibt, derer man habhaft ist und denen man mit der immer gebotenen Vorsicht vertrauen kann. Eine solche Quelle kann in Zeiten vor der Erfindung des Tonbandes und des Videorekorders nur ein Text sein. Das Faktische der Vergangenheit in all seiner Anfechtbarkeit unter‐ scheidet sich also als Quelle der Inspiration von allem anderen Input der Gegenwart. Es führt direkt, aber nicht unweigerlich zum Erzähl‐ konzept des Historischen Films, der vergangene, nicht zukünftige und nicht gegenwärtige Realität abbilden will. Jedes Biopic, jede True Crime Geschichte, jeder Film nach wahren Begebenheiten ist in unserem Sinne ein Historischer Film. Es geht also um Ziel, Absicht, Haltung und nicht um Kostüme. Erzählerische Substanz beim Historischen Film Die erzählerische Substanz besteht zur Gänze in dem, was schon da ist, bevor auch nur ein einziges Wort geschrieben wurde. Bevor Fragen der Dramaturgie (zum Beispiel immer die vordringlichste Frage nach dem „Wann steigen wir ein in die Geschichte, wann steigen wir aus? “) gestellt, geschweige denn beantwortet wurden. Zur Verdeutlichung dessen, was erzählerische Substanz überhaupt und speziell in diesem Erzählkonzept ist, dient am deutlichsten die Betrachtung der Situation eines Filmemachers, der sich eines historischen Stoffs annimmt, um einen Historischen Film zu machen: „Da ist sie, Deine erzählerische Substanz: Sie ist das historische Handlungsgerüst, in das Du Deinen Film hineinwebst. Du musst sie nicht schaffen. Sie ist da.“ AM ANFANG WAR DAS FEUER (Regie: Jean-Jaques Annaud, 1981) und 10.000 B.C. (Regie: Roland Emmerich, 2008) können keine His‐ 8. Der Historische Film 242 <?page no="243"?> torischen Filme sein, selbst wenn Annaud nicht wie Emmerich von Quatsch, sondern von einer großen, kleinen, menschheitsgeschichtlich ungemein relevanten Sache (der Handhabung des Feuers) erzählt. Die Figuren und der gesamte Plot sind hier wie dort reine Fantasie. Recherchierbare Fakten müssen neben dem Authentizitätsanspruch ein weiteres Kriterium erfüllen, um als Basis für einen Historischen Film zu fungieren: Sie müssen ein Narrativ enthalten, also eine noch so kleine Erzählung inklusive einer Dramaturgie, und sei sie noch so rudimentär. Damit offenbart sich der Charakter des Historischen Films als Adaption. Eine Adaption der recherchierten, angenommenen, un‐ terstellten faktischen Vergangenheit. Und wie immer bei der Adaption hat man alle Freiheiten, doch führen diese dann oft weg vom Erzähl‐ konzept des Historischen Films zu einem der anderen Erzählkonzepte. Das Gegenstück zum Faktischen ist nicht etwa die Fiktion. Die füllt Lücken und bedient das Spekulative: So könnte es gewesen sein. Das Gegenstück des Faktischen in der Narration ist vielmehr das Kontrafaktische, weil es im Gegensatz zur Fiktion und zur Spekulation das Faktische nicht mehr anerkennt. Wahrheit und Wahrhaftigkeit Nun werden Sie zurecht einwenden, dass mit der strikten Anwendung des Ausschlusskriteriums des recherchierten Narrativs eine ganze Menge Filme, die uns so wunderbar authentisch und differenziert in vergangene Welten entführen, für dieses Kapitel verloren gehen. Was ist mit all den Verfilmungen der großen Gesellschaftsromane von Jane Austen (deren Romane eine Vielzahl großartiger Verfilmungen ermöglicht haben, man denke nur an „Verstand und Gefühl“ „Stolz und Vorurteil“ „Mansfield Park“ und „Emma“)? Was ist mit den großen Autoren der viktorianischen Zeit wie Charles Dickens (mit seinen Es war einmal… - Das interessiert mich! 243 <?page no="244"?> vielfach verfilmten Werken „David Coppefield“ „Oliver Twist“ „Große Erwartungen“ usw.) und Thomas Hardy (dem wir „Tess“ „Die Herrin von Thornhill“ „Herzen in Aufruhr“ und „Das Reich und die Herrlich‐ keit“ verdanken)? Und das sind nur ein paar britische Autoren aus ein paar wenigen Jahrzehnten. Andere Aufzählungen anderer Länder und anderer Jahr‐ zehnte ließen sich ewig fortführen. Diese Autoren beschreiben fiktio‐ nale Geschichten ihrer eigenen jeweiligen Zeit, die sie gut kennen und dann für uns sezieren und in eine literarische Form gießen. Das Sozialgefüge und der Kontext sind historisch. Aus dieser Art Narration, wenn sie als filmische Adaption dem literarischen Werk verpflichtet ist, kann man selbstverständlich viel lernen über vergangene Zeiten und über geschichtliche Zusammenhänge. Wir wollen also mit dem Kriterium nicht werten. Weder die Authenti‐ zität, den Anspruch noch die künstlerische Qualität. Wir sehen, dass die Plastizität guter Fiktion in Gestalt all dieser Weltliteratur uns eine andere Form von Wahrheit jenseits von wissenschaftlich standhalten‐ den Quellen offenbaren kann: Wahrhaftigkeit. Diese Wahrhaftigkeit ist eben gerade nicht eine weiche, unbelegbare und nur irgendwie „emp‐ fundene“ Wahrheit. Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind Schwestern. Die Wahrhaftigkeit ist der Todfeind des Kitsches, der Ideologie und der Manipulation. Sie ist Alpha und Omega aller Kreativität, die es vermag, echte Kunst zu schaffen. Es verhält sich bei ihr wie mit der Frage nach dem guten Stil. Er besteht in der Abwesenheit von schlechtem Stil. Lassen Sie also Kitsch, Ideologie und Botschaft beiseite. Wenn Sie dann immer noch etwas zu erzählen haben, haben wir es wohl mit Wahrhaftigkeit zu tun. Diese spezielle Wahrhaftigkeit des Vergangenen finden und kreieren Autoren in historisierenden Geschichten also nicht nur auf dem einem 8. Der Historische Film 244 <?page no="245"?> Weg, der in diesem Kapitel beschrieben ist, sondern es gibt mindestens sieben weitere Erzählkonzepte (die Gewusst-Wie-Geschichte, die Plau‐ sibilisierung, die Was-Wäre-Wenn-Prämisse, die Hermetische Welt, Syn‐ thetische Narration, die Liebesgeschichte, die Exploitative Geschichte), derer sich alle Autoren, tot, lebendig oder noch ungeboren, bedient haben und weiterhin bedienen. Pop, Pulp und Historischer Film Ein schlecht recherchierter Film mit falschen Kostümen und falscher Sprache, allerhand Anachronismen und Unzulänglichkeiten kann trotzdem ein Historischer Film sein. Ebenso kann eine Geschichte, die über viele Zwischenstufen einer Mythologisierung und Verklärung und über die Adaption einer Graphic Novel entsteht wie 300 (Regie: Zack Snyder, 2006), auch ein Historischer Film im Sinne des Erzähl‐ konzepts sein. Auch wenn 300 durch den visuellen Stil, der eng an den Zeichenstil von Frank Miller angelehnt ist, sich von jeglichem Naturalismus distanziert. Weil er etwas erzählt, das uns Zuschauern - und sei es nebenbei - Geschichte nahebringen will: Schaut her! Das ist passiert damals. Althistoriker mögen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, bestenfalls sind sie amüsiert. Eigentlich sollten sie froh und dankbar sein, dass ein Stück Popkultur sich eines ihrer Topoi annimmt. Wer wie die Mehrheit der heutigen Zuschauer wenig über die Antike weiß, lernt auch von 300 etwas über Perser und Griechen, und sei es nur, dass sie im Clinch miteinander waren. Filmvolk, das wir sind, haben wir, wenn wir Glück hatten, allerhand über die „Schlacht bei den Thermophylen“ in der Schule gelernt und wieder vergessen. Wir haben es bei Zack Snyder wiedergelernt und werden es nie wieder vergessen. INGLORIOUS BASTERDS (Regie: Quentin Tarantino, 2009) mit all den historischen Figuren, wie Hitler und Goebbels, authentischen Es war einmal… - Das interessiert mich! 245 <?page no="246"?> Kostümen, Waffen und Ausstattung verlässt in dem, was er uns erzählt, unmissverständlich den Pfad des Authentischen. Er ist kontrafaktisch und kann somit kein Historischer Film sein. Martin Scorseses Mafiafilme GOOD FELLAS (1990), CASINO (1995) und auch der einschläfernde THE IRISHMAN (2019) sind wie die meisten seiner Filme Historische Filme. Im Gegensatz zu vielen anderen berühmten Mafiafilmen wie DER PATE (Regie: Francis Ford Coppola, 1972) und seinen Nachfolgern wird bei Scorsese zwar fiktionalisiert, Figuren werden umbenannt, Handlung wird gestrafft und umgeord‐ net, Recherchelücken durch spekulative Handlung aufgefüllt. Aber es basiert auf realen Figuren und deren recherchiertem tatsächlichem Wirken. Gladiator versus Braveheart Anstatt an dieser Stelle allerhand eindeutige Fälle aufzuzählen, lohnt sich die Betrachtung zweier Filme, die auf einen ersten schnellen Blick in Ziel, Absicht und Haltung sehr ähnlich erscheinen. Mel Gibsons BRAVEHEART (1995) und Ridley Scotts GLADIATOR (2000) haben tatsächlich viel gemeinsam. Nicht nur sind sie künstlerisch wie kommerziell ungemein erfolgreiche historisierende, monumentale Werke, die vergangen geglaubte Schauwerte einem hungrigen Publi‐ kum zurückgaben, sondern auch auf der narrativen Ebene gibt es erstaunlich viele Parallelen. Zuerst kommt das Motiv der Rache, die bei BRAVEHEART den Auslöser und den point of no return, bei GLADIATOR den Endpunkt der Handlung darstellt. Da ist in der jeweiligen Hauptfigur die mit der Rache verquickte Todesverachtung, die neben all den Kompetenzen des Kämpfens und Führens den jewei‐ ligen Helden zum schier unbesiegbaren Berserker macht. Der William Wallace von Mel Gibson und der ehemalige römische Soldat Maximus sind beide - wenn auch gescheiterte - Vorboten des Modernen. Sie 8. Der Historische Film 246 <?page no="247"?> wollen nicht König anstelle des Königs werden, sie kämpfen nicht nur gegen einen Tyrannen, sondern gegen die Tyrannei als solche und für die Freiheit beziehungsweise für die Republik. So antiquiert ihre soldatischen Tugenden auch erscheinen im Lichte des aktuellen Zeitgeistes (wodurch dessen papierne Schmalbrüstigkeit nebenbei entlarvt und vorgeführt wird), sie kämpfen nicht für die Werte ihrer Zeit, sondern für die Werte unserer Zeit. Es lassen sich für beide Filme seitenlange Aufstellungen von Fehlern in der historischen Akkuratesse finden. Filmbegeisterte Historiker haben sich da viel Mühe gemacht. Doch weder Schlamperei, Anachronismen, noch handfeste Fehler können der Tatsache etwas anhaben, dass es sich bei BRAVEHEART um einen Historischen Film handelt, bei GLADIA‐ TOR nicht. Gladiator nutzt das historische Setting lediglich als Kulisse. Der Film erzählt über die in dieser Kulisse neben der erfundenen Hauptfigur herumlaufenden historischen Figuren allerhand Kontra‐ faktisches, wie die Umstände des Todes und die Herrschaftsnachfolge des damaligen Kaisers Mark Aurel. Hier werden nicht einfach Lücken mit Spekulationsmasse aufgefüllt, hier wird eine fiktive Hauptfigur in einem fiktiven Umfeld gezeigt. Die drei Autoren von GLADIATOR hatten beim Schreiben also immerfort die Frage aller Fragen zu beant‐ worten: Was passiert als Nächstes? Sie hatten tatsächlich Antworten zu finden darauf, ob Maximus sterben muss am Ende, ob und wie er seine Rache bekommt und ob das Römische Reich ein anderes wird durch seinen persönlichen Kampf gegen den Tyrannen Commodus. Die Geschichte des bei Erscheinen des Films nur Historikern und sehr überzeugten Schotten bekannten Freiheitskämpfers William Wallace alias BRAVEHEART nahm seinem Autor Randall Wallace viele dieser Fragen ab: William Wallace wird, wie die historischen Quellen bele‐ gen, gefangen genommen und gevierteilt, der Unabhängigkeitskampf Es war einmal… - Das interessiert mich! 247 <?page no="248"?> Schottlands im 13. Jahrhundert geht nach seinem Tod weiter. Da bei einer relativ unbedeutenden historischen Gestalt des Mittelalters natürlich mehr Daten und Fakten über den unschönen Tod bekannt sind, als über das Leben, geschweige denn seine Motivation und seinen Charakter, bleibt dem Schöpfer des Films genug Freiheit, um im Sinne der Fiktionalisierung einen Filmcharakter ganz und gar zu formen, zu entwickeln, ihn zu erfinden. So ist die den Charakter maßgeblich bestimmende Rache wegen des Mordes an seiner Liebsten dramaturgisch ungemein wichtig und gleichzeitig reine Phantasie. Für das Drehbuch von BRAVEHEART braucht man immer noch einen Drehbuchautor, keinen Historiker. GLADIATOR hat eine popkulturelle Großtat vollbracht, indem der Film ein ganzes Subgenre, den schon immer sehr exploitativen Sanda‐ lenfilm, wiederbelebt hat. BRAVEHEART hat zusätzlich trotz all seiner Verklärung und Verdichtung ein Stück Geschichte in die Gegenwart geholt. So - oder so ähnlich - ist es tatsächlich gelaufen. Damals in Schottland. Erzählen, nicht erziehen Kinder und Hunde müssen erzogen werden. Dazu gibt es allerhand didaktische Konzepte, was keinen stört. Dabei wird sicherlich viel falsch gemacht, und Erziehung ist ein unter dem ideologischen Pflug schwer ramponiertes Feld, aber man kann sich nicht ernsthaft gegen Pädagogik als solche auflehnen, das wiederum wäre infantil. Doch als erwachsener Mensch sollte man sich gegen das Pädagogische in den Medien (und in der Politik) mit aller Kraft auflehnen. Das ist anstrengend. Es erfordert Intellekt, und zwar immer genau in dem Maße, wie er vorhanden ist. Keiner muss, soll, oder darf sich drücken. Es steht dabei viel mehr auf dem Spiel als gute oder schlechte Filme. Es 8. Der Historische Film 248 <?page no="249"?> geht dabei um nichts Geringeres, als die Freiheit und die Mündigkeit jedes Einzelnen, und die ist unabhängig von Bildung oder Stand. In den Slasher-Filmen, die ihren Anfang in den späten 70er Jahren mit HALLOWEEN und FREITAG DER 13. nahmen, gibt es eine bemerkenswerte moralische Mechanik. Dort werden junge Menschen der Reihe nach von psychopathischen Killern gemeuchelt, und zwar immer dann, wenn sie sich ihren sexuellen Gelüsten hingegeben haben. Das sogenannte Final Girl ist diejenige, die noch am keuschesten durch die Handlung spazierte. Wer vorehelich vögelt, stirbt, das erscheint als die primitive Botschaft dieser Filme. Sind diese gewalttätigen, sexualpädagogischen Schauermärchen denn von evangelikalen Puritanern initiiert und finanziert, um die Jugend vor sich selbst und der moralischen Verderbtheit der Moderne zu schützen? Ganz sicher nicht. Das Phänomen ist natürlich viel älter, wenn man an Rotkäppchen und sein Techtelmechtel im Wald denkt, und das junge Publikum, das selbstverständlich nichts mehr ersehnt als vorehelichen Sex, sieht sich das freiwillig an. Es gibt einen besonderen Kitzel, potentiell eher auf der Seite der Opfer zu stehen, auch wenn erzählerisch und inszenatorisch gerade die Täter-Opfer-Perspektiven im Slasher-Film variiert und verschoben werden. Doch dieses Beispiel verdeutlicht, dass es auch in „unmoralischen“ Filmen um Moral gehen kann. Bei all den moralischen Fragen also, vor denen unsere Figuren aus der Geschichte oder der Phantasie auch stehen mögen und sich als würdig oder unwürdig erweisen, lassen Sie Raum für das selbstgetroffene Urteil des Zuschauers! Er oder sie ist schon groß. Womit wir wieder beim Anfang des Kapitels wären, dem Wagnis. Auf verschiedenen Wegen versuche ich hier zu sagen, dass der Impetus Es war einmal… - Das interessiert mich! 249 <?page no="250"?> des Didaktischen meist von Übel ist. Dies gilt im Besonderen im Historischen Film, wo der vermeintlich moralisch höhere Standpunkt des Vermittlers einer Geschichte allein aus der Annahme resultiert, dass es moralischen Fortschritt gibt, der uns heute automatisch zu besseren und klügeren Menschen macht. Wenn es so einfach wäre. Sollte ausgerechnet und erstmalig die heutige Generation im Besitz der Moral sein? Das offenbart nicht nur eine zutiefst unhistorische Haltung zum Weltgeschehen, sondern auch eine Überheblichkeit und Hybris, die der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis ebenso wie der Phantasie und der kreativen Kraft des Erzählens nur im Wege stehen kann. Dass diese Hybris so unerkannt und hartnäckig in den Köpfen vieler Intellektueller ihr alles Erkenntnisstreben zersetzendes Unwesen treiben kann, hat im Wesentlichen damit zu tun, dass die Menschheit nach einigen Jahrhunderten der Aufklärung und des Humanismus in der Illusion angekommen ist, die Bedingtheiten der eigenen Existenz ignorieren zu können oder gar ihrer Herr geworden zu sein. Wie können wir diesem Irrtum begegnen? Die Antwort darauf geht weit über unseren Betrachtungsgegenstand Film hinaus und könnte ganze Bücher füllen. In der Narration ist der Versuch des Gewäh‐ rens unterschiedlicher Perspektiven sicherlich ein richtiger Ansatz. Einer von mehreren möglichen. In FLAGS OF OUR FATHERS und LETTERS FROM IWO JIMA (beide 2006) versucht Clint Eastwood genau das. Er hat aus seinem historischen Stoff über die berühmte Pazifikschlacht des 2. Weltkrieges nicht nur einen Film mit zwei Seiten gemacht, sondern zwei Filme, einen aus der Perspektive der Amerikaner, einen aus japanischer Sicht. Das war kein Marketing, sondern ein Statement. DER UNTERGANG (Regie: Oliver Hirschbiegel, 2004) hat ein anderes Konzept, nicht nur erzählerisch. Da springt uns die Hermetische Welt 8. Der Historische Film 250 <?page no="251"?> geradezu ins Auge. Er wählt konsequent die gnadenlose Lupenper‐ spektive des Führerbunkers in den letzten Tagen des Krieges. Zwar kann man innerhalb dieses Reagenzglases voller explosiver Substanzen allerhand Perspektiven ausmachen, es gibt Täter, Opfer, Protagonisten, Antagonisten. Gut und Böse, wenn Sie so wollen. Aber ein Außen, der Feind, der Russe, von dem die ganze Zeit über die Rede ist, der bleibt abstrakt und anonym. Es ist richtig und notwendig, die zur Identifikation taugliche Hauptfigur in der Person zu verankern, die von allen Anwesenden noch am wenigsten Nazi und Täter ist, in Traudel Junge, der Privatsekretärin Adolf Hitlers. Eine Widerstandskämpferin war sie aber nicht, die Traudel. Es ist nun mal das letzte Aufgebot des Nationalsozialismus, das als Ensemble in DER UNTERGANG agiert, und wir mittendrin. Diese besondere Innenperspektive auf Figuren der Zeitgeschichte ist das Besondere, das Eindrückliche, das die historische Erkenntnis möglich macht. Denn Traudel Junges Entsetzen, das unser eigenes Entsetzen ist, wenn sie die Unausweichlichkeit der Tötung der Goebbels-Kinder realisiert, ist es für jeden Zuschauer dieser Welt wert, zwei Stunden lang dieselbe Luft zu atmen wie der Führer. Die Stoffideen des Historischen Films Geschichte und Geschichten handeln von Menschen. Auch wenn Geschichten von Tieren, Robotern, kosmischem Staub oder Nazis han‐ deln, handeln sie von Menschen. Mit ein wenig statistischer Ungenau‐ igkeit lässt sich errechnen, wie viele Menschen jemals auf dieser Erde lebten. Es sind 108 Milliarden. 108 Milliarden Leben, mal kurz, mal lang, mal ruhig, mal turbulent, immer beginnend mit einer Geburtsszene und endend mit einer Sterbeszene. Dazwischen: Geschichten von Leid, Niedertracht, Mut, Glück, Liebe. 108 Milliarden mal. Es war einmal… - Das interessiert mich! 251 <?page no="252"?> Bei dem medialen Überangebot, das in diesem Buch mehrmals beklagt wird, all den vielen Filmen, die es bereits gibt und all denen, die noch zu unseren Lebzeiten gemacht werden, stimmt es mit großer Wahrscheinlichkeit dennoch, dass es mehr erzählenswerte wahre Geschichten da draußen gibt, als Zeit, Geld und kreative Köpfe, das alles jemals filmisch umzusetzen. Das muss ja auch nicht sein. Neben dem Bewusstsein vom eigenen Tod und vom Vergehen alles Irdischen ist das Bewusstsein vom Vergessen die Kernsubstanz des Poetischen, vielleicht sogar des Menschlichen überhaupt. Also Schwamm drüber? Über alles? Nein. „Du kennst die Anfänge nicht, die Enden sind dunkel, irgendwo da‐ zwischen hat man dich ausgesetzt. In der Welt sein heißt im Unklaren sein.“ Was Peter Sloterdijk uns in seinem Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ sagt, zeugt von großer Einsicht, und es sollte sich ein jeder von didaktischem Eifer getriebene Autor und Filmregisseur hinter seine intellektuellen Ohren schreiben. Aber es bedeutet ja mitnichten, dass wir nicht den Versuch machen sollten, die Welt zu verstehen, indem wir die „Anfänge“, also „unsere Geschichte“ betrachten, ergründen und hin und wieder auch verfilmen. Wann immer man mit Historikern spricht, sind sie der Meinung, es gebe doch so viele Geschichten, die mal verfilmt werden müssten. Und sie haben recht. Historische Filme kann es gar nicht genug geben. So wie man sich mit Filmgeschichte beschäftigen muss, um sich eine fundierte Meinung zur filmischen Narration zu erarbeiten, so muss man sich mit Geschichte beschäftigen, um fundiert über die Gegenwart zu sprechen. Filme können und sie sollten unbedingt einen Beitrag dazu leisten. 8. Der Historische Film 252 <?page no="253"?> Der größte unter den toten Filmemachern, sein Name ist Stanley Kubrick, wollte mal einen Film über Napoleon machen. Aus verschie‐ denen Gründen, aber vor allem wegen des ungemein beeindruckenden Konkurrenzprodukts WATERLOO (Regie: Sergei Bondartschuk, 1970) ist das Projekt in der Entwicklungsphase gescheitert. Was sehr schade ist, denn es wäre wohl sein zweiter Historischer Film nach SPARTACUS geworden, was eine von ihm selbst ungeliebte Auftragsarbeit war. Nun wollte uns Kubrick mit dem Napoleon Biopic sicher nicht erklären, dass es da mal einen beeindruckenden Mann aus Korsika gegeben hat, der ein paar Jahre lang ganz Europa mit expansivem Geltungsdrang militärisch in Atem gehalten hat. Von der schieren Existenz dieses Mannes, vielleicht sogar einigen biografischen Daten, wusste das Kinopublikum bereits damals wie heute. Dennoch kann es gute Gründe geben, einen solchen Historischen Film zu machen. Wir werden nie genau erfahren, was Kubrick an der Figur so faszinie‐ rend und bis dato ungesagt fand, aber wir können sicher sein, dass es ein faszinierender Film geworden wäre, einer der vielen, die nie gemacht wurden. Es kommt also nicht darauf an, dass Sie mit der Nase in einem Geschichtsbuch und ihrem Astralkörper auf der Blümchenwiese einen Stoff finden, der unbekannt und unverfilmt ist. Wenn das so ist, weil Sie ein History Buff sind: Bravo, erzählen Sie uns davon. Wenn nicht, kann Ihnen trotzdem ein Historischer Film gelingen, der nicht belanglos und didaktisch im Sinne der moralischen Überhöhung der eigenen Position ist. Man muss sich nicht zwangsläufig für Geschichte interessieren, um von einem historischen Stoff inspiriert zu sein. Filmemacher und Autoren können beispielsweise von Macht und Ohnmacht, wie es sie nur in totalitären Regimes geben kann, derart angefasst sein, dass sie unbedingt eine bestimmte Geschichte erzählen wollen, die sich Es war einmal… - Das interessiert mich! 253 <?page no="254"?> zum Beispiel in der nun wirklich häufig im Film bespielten totalitären Vergangenheit Deutschlands zugetragen hat. Und das, ohne ein über‐ durchschnittliches Interesse an den historischen Umständen zu haben und ohne irgendein Bild der Vergangenheit zurechtrücken zu wollen. „Fakten, Fakten, Fakten. Und an die Leser denken.“ Mit diesem Spruch startete vor vielen Jahren das deutsche Wochenmagazin Focus, um dem Spiegel Konkurrenz zu machen. Ein guter Vorsatz, auch für Filmemacher. Doch Filmemacher sind im Normalfall keine Journalisten und ein Film, auch der Historische Film, muss nicht journalistischen Standards (die in heutiger Zeit zwar theoretisch bekannt sind, aber zuhauf ignoriert werden) entsprechen. Historische Stoffe und Ideen sind also nicht der Engpass bei der Suche nach Ihrem nächsten Film. Sie liegen vor Ihnen in Büchern, Archiven und auf Dachböden. Ein wenig Fleiß und die Bereitschaft, ergriffen zu sein, reichen schon, um die tief ausgetretenen Pfade zu verlassen. Der Rest ist das zuschanden gerittene Wort „Haltung“. Bleiben Sie der gefunden Wahrheit, den Fakten verpflichtet. Und wenn nicht, machen Sie es deutlich wie Tarantino, sonst richten Sie die Propagandakanone, die ein Film immer sein kann, nicht nur auf den Zuschauer, sondern auch auf sich selbst. Ein letzter Gedanke zum Thema: 108 Milliarden Menschenleben, auch wenn die allermeisten davon auf ewig vergessen und vergangen sind, das kann einen schon erschlagen. Daher steht es ja auch hier. Wenn man aber Listen der wahlweise einflussreichsten, wichtigsten, klügsten, mächtigsten Exemplare Mensch googelt, tauchen unter den ersten 100 immer wieder dieselben Figuren auf (darunter übrigens null, eine, höchstens zwei Frauen). Es gibt also einen Kanon. Es sind erstaunlich viele dabei, die ich nicht kannte, die Sie 8. Der Historische Film 254 <?page no="255"?> nicht kennen werden, deren Leben nie verfilmt wurde. Auch die oftmalige Nummer 1 ist ein weißes Blatt, wofür es Gründe gibt. Sehen Sie selbst nach. Fazit: ▸ Der Historische Film ist nicht immer im Genreregal des Historienfilms, des Monumentalschinkens, des Man‐ tel-und-Degen-Films, des Sandalenfilms, des Ritter- oder des Wikingerfilms zu finden. Auch vielen Western und sogar einigen Kriegsfilmen liegt, obwohl sie in der Vergangenheit spielen und Geschehnisse historisieren, nicht das Erzähl‐ konzept des Historischen Films zugrunde. ▸ Der Historische Film kann von Fantasy und Science Fiction abgesehen so ziemlich jede Genreform annehmen. Es sind Filme nach wahren Begebenheiten, die das Erzählkonzept ausmachen. ▸ Die Wirkmächtigkeit des Erzählkonzepts Historischer Film ist aufgrund des Authentizitätsanspruchs enorm groß, grö‐ ßer als in allen andern Erzählkonzepten. Die Auswirkungen auf alle weiteren Gestaltungskonzepte des Films sind so umfassend, dass die historische Akkuratesse nicht nur die offensichtlichen Bereiche Kostüm, Szenenbild, Ausstattung und so weiter maßgeblich bestimmt, sondern auch alle anderen künstlerischen Konzepte eines Films auf der Ton- und Bildebene. ▸ Offensichtliche Anachronismen beim Musikkonzept wie moderne Musik in vormodernen Zeiten, also elektronische Musik, Jazz, Pop und Rock als Teil des Scores sind machbar, aber heikel, weil sie als Fremdkörper wahrgenommen wer‐ Es war einmal… - Das interessiert mich! 255 <?page no="256"?> den. Orchestraler Score ist von der Gefahr, auch in Filmen, die lange vor der Erfindung von Geige, Posaune und all den anderen Orchesterinstrumenten spielen, als anachro‐ nistisch wahrgenommen zu werden, nahezu ausgenommen. Unabhängig von Intelligenz oder historischer Bildung ist unser Empfinden hier unpräzise, was für die filmische Ge‐ staltung ein Segen ist. ▸ Ebenso heikel und daher selten im Historischen Film sind visuelle Konzepte wie im Animationsfilm WALZ WITH BASHIR (Regie: Ari Folman, 2008), die den Naturalismus, der üblicherweise Authentizität simuliert, komplett hinter sich lassen. ▸ Die Wirkmacht auf die Narration ist ebenfalls enorm groß. Worin sie konkret besteht, kann aber nicht an dieser Stelle stehen. Es ist in der Quelle zu finden, deren Fakten die erzählerische Substanz des jeweiligen Films ausmachen. ▸ Insbesondere (aber nicht ausschließlich) im Falle von allge‐ mein bekannten historischen Fakten wird die Nähe zum Erzählkonzept der Gewusst-Wie-Geschichte deutlich, ebenso zum Exploitativen Film. Diese Erzählkonzepte sind folglich häufig in Kombination mit dem Historischen Film zu finden. Worldbuilding findet beim Historischen Film unter gänzlich anderen Vorzeichen statt. Strenggenommen schließen sich die Erzählkonzepte gegenseitig aus, da es konstitutiv für Worldbuilding ist, eine erfundene Welt in Gänze zu kreieren, im Historischen Film aber Ausschnitte der wirklichen Welt dargestellt werden. ▸ 28 Filme in der Top-250-Liste bei imdb.com 8. Der Historische Film 256 <?page no="257"?> 9. Die Exploitative Geschichte Ich will es sehen! - Ok, ich zeige es dir. „Voyeurismus ist wahrlich nicht die langweiligste Weltanschauung.“ Gregor Brand Nein, es geht hier nicht nur um Exploitationfilme. Die haben ihre Be‐ rechtigung, ihre Rolle in der Filmgeschichte und ihre eigenen Nischen, bis heute. Auch in diesem Kapitel spielen sie eine wichtige Rolle. Also Ja: Jeder Exploitationfilm ist auch eine Exploitative Geschichte. Aber das Erzählkonzept ist viel weiter gefasst und es ist weit verbreitet, tief in den Mainstream des filmischen Erzählens hinein. Es hat mit dem Wesen des Mediums Film zu tun. Mit dem Sehen. Wir müssen zunächst etwas klarstellen. Immer wieder offenbaren auch gestandene Film- und Medienspezialisten eine Wissenslücke beim Exploitationfilm. Das ist verständlich, denn es geht wirklich um die Schmuddelecke des filmischen Geschehens. Brot und Spiele für den Pö‐ bel. Aber auch schade, denn wie soll man einen umfassenden und tiefen Einblick in dieses vielfältige und komplexe Medium bekommen, wenn man nicht auch dahin geht, wo es wehtut? Und sei es der wahrhaft empfundene Schmerz der krassen Unterschreitung sämtlicher eigener ästhetischer Ansprüche. „Exploitationfilme, da wird also irgendwer von irgendwem ausgebeu‐ tet.“ Sagen Sie. „Sex und Gewalt sind auch dabei.“ <?page no="258"?> Richtig, es ist aber nicht irgendwer, der ausgebeutet wird, sondern Sie sind es. Sie, der Zuschauer. Sie werden von dem Film beziehungsweise den Machern dahinter ausgebeutet. Wie läuft das ab? Warum lassen Sie das zu? Dazu brauchen diese Exploitativen Geschichten bestimmte Elemente, bestimmte bildliche (nicht erzählerische) Motive. Diese können sein: ▸ menschliche Körper beim Sex, beim Kampf, beim Tanz, beim Sport, beim Training ▸ Gewalt am menschlichen Körper in allen Spielarten: Kampf, Folter, Unfall, Exekutionen, medizinische Experimente, Krank‐ heiten ▸ Naturgewalten ▸ Monster Auch die Darbietung von Musik als Performance durch Figuren der Handlung kann im weiteren Sinne als ein solches potentiell exploita‐ tives Element verstanden werden. Die Nacktheit des menschlichen Körpers ist eine direkte Folge aus dem exploitativen Kontext, wenn sie auch nicht zwingend ist und wahrlich nicht immer realistisch, wenn man an nackte Krieger wie die Spartaner in 300, den Barbaren Conan oder Rambo denkt. Wir müssen also in diesem Kapitel einen großen, gedanklichen Schritt machen. Wir müssen von den nicht-narrativen Eigenschaften, Phäno‐ menen und Sichtweisen unseres Mediums ausgehend ein Erzählkon‐ zept ableiten. Im Exploitationfilm dominiert das Erzählkonzept sogar, in anderen Filmen spielt es häufig eine wichtige, aber selten die dominierende Rolle. 9. Die Exploitative Geschichte 258 <?page no="259"?> Die Exploitative Geschichte zeichnet sich durch eine voyeuristische Erwartungshaltung des Zuschauers aus, die im Laufe der Film‐ handlung nicht gebrochen und konterkariert, sondern mit Hilfe einer einfachen Steigerungs-Dramaturgie eingelöst wird. Pornos sind der Inbegriff des Exploitationfilms. Es geht dabei von kurzen pseudokünstlerischen Ausflügen der 70er Jahre abgesehen, als tatsächlich ein paar Pornoregisseure und -produzenten annahmen, mit Hardcorepornos Teil des Mainstreamkinos werden zu können und selbstverständlich scheiterten, nicht um die filmischen Qualitäten des Films. Der Porno ist lediglich ein Mittel zum Zweck. Der Zweck ist die visuelle, sexuelle Stimulation. Alles andere ist höchstens ein Rahmen, meist ist es schlicht Ballast und Bullshit. Der damalige Irrtum dieser Filmemacher hatte also weniger mit den sexualmoralischen Bastionen der Gesellschaft zu tun, sondern mit der Tatsache, dass der Porno, abgesehen von dem Offensichtlichen, nichts zu erzählen hat. Umgekehrt kann durchaus ein Schuh daraus werden. Erotik sowieso, aber auch explizite Pornografie kann Teil guter Narration sein ( IM REICH DER SINNE , Regie: Nasima Oshima, 1976, oder ANTICHRIST und NYMPHOMANIAC des Regisseurs Lars von Trier aus den Jahren 2008 und 2014) Und da es bekanntermaßen auch Pornografie in der Literatur gibt, lassen sich die hier beschriebenen Phänomene und Überlegungen auch auf Bereiche jenseits des Mediums Films übertragen, aber sie gelten vor allem für das visuelle Medium, also Bewegtbild mit narrativem Handlungsgerüst, für den Film. Ich will es sehen! - Ok, ich zeige es dir. 259 <?page no="260"?> Lust, Affekt und das Böse Sexploitation, Nunsploitation, Blaxploitation, Naziploitation, Teen‐ sploitation, Carsploitation, Bruceploitation (gemeint ist tatsächlich Bruce Lee! ), Snuff-Filme, Mondo-Filme, Kannibalenfilme und so wei‐ ter. Die Subgenres des Exploitationfilms sind Ausdruck des affekti‐ ven Wahrnehmungsmechanismus, der auf die unmittelbare Gefühls‐ welt des Zuschauers abzielt. Eine Variante des Torture Porn ist der Rape-and-Revenge-Film, der ganz offen nicht nur seinen exploitativen Charakter, sondern auch sein dramaturgisches Konzept mit einem ausgesprochen engen Handlungskorsett vor sich herträgt. Den Affekt macht aus, dass er auch ohne den Umweg über unseren Verstand wirkt, ohne das bewusste Erfassen von narrativen und kau‐ salen Zusammenhängen. Wir reagieren unweigerlich. Ekel, Abscheu, aber auch Erregung und allerhand unterbewusste Affirmation sind die Folge. In seinem kontroversen Buch „Die Lust am Bösen“ beschreibt der Kriegsberichterstatter und Psychotherapeut Eugen Sorg, wie schnell und leicht das Böse sich in menschlichem Handeln manifestieren kann. Heute trinke ich Kaffee mit meinem Nachbarn, morgen schlage ich ihm den Schädel ein. So geschah und geschieht es tausendfach auf der Welt. Weniger als Hannah Arendt interessiert ihn dabei die abstrakte Beschaffenheit des Bösen, seine Banalität, sondern seine Präsenz, seine Allgegenwart. Ob Sie also tief in das eigene Selbst blicken oder ihre Mitmenschen beobachten, wie sie im Kino neben Ihnen sitzen und jauchzen wie ein Kind auf der Schaukel, während sie die schlimmste Gewalt auf der Leinwand sehen, oder ob Sie sich von den großen Denkern unserer Zeit anleiten lassen, im einen Fall ist es ein Trigger für das Niedere, den Fetisch, das Tier in uns, im anderen Fall kann das ein subversives 9. Die Exploitative Geschichte 260 <?page no="261"?> Ausloten dessen sein, was „das Wesen Mensch“ ist. Das Exploitative und somit auch der Exploitationfilm sind damit ein Frontalangriff auf die politische Korrektheit und den guten Geschmack, was auch immer das ist. Diese Filme mögen nicht immer schön, nicht wahr, nicht wahrhaftig sein, aber interessant sind sie. Verführerische Falle „So läuft das also ab. Aber warum lassen wir das zu? “ fragen Sie sich und mich. „Weil wir verführt werden.“ Antwortet Ihnen die moderne Wissen‐ schaft der Filmanalyse. Die Seduktionstheorie des Films, die vor allem auf das performative Kino abzielt, das grob gerechnet seit den 80er Jahren bedeutende Teile des Mainstreamkinos und damit der gesamten filmischen Narration bestimmt, erklärt uns Verführungsopfern, dass wir auf drei Ebenen von Filmen gepackt und um den Finger gewickelt werden. Ebene 1: Zuerst verführt der Film zu sich selbst, dabei geht es vor allem um das Drumherum. Um die Signale, die ein Film uns sendet, bevor wir ihn sehen. Es geht also durchaus um Marketing, die Kampagne, Werbung, Trailer, Plakate, Titel. Die Narration selbst kann dabei naturgemäß nur eine mittelbare Rolle spielen. OK, wir gehen also mit. Ebene 2: Zweitens ist da die Möglichkeit einer spezifischen Aussage, die durch das bewusste Rezipieren, das Betrachten der Bilder und das Nachvollziehen der erzählten Geschichte verfängt. Diese Aussage kann gefallen oder nicht gefallen, aber sie tritt offen zutage. Wenn auf den rein handwerklichen Ebenen des Films nicht alles falsch gemacht wurde, kann man dabei sehr wohl von Verführung sprechen, denn der Film will nicht nur als abstraktes Ding „Film“ gefallen, sondern er will mit seinen spezifischen, man könnte auch sagen mit seinen Ich will es sehen! - Ok, ich zeige es dir. 261 <?page no="262"?> einzigartigen Eigenschaften überzeugend sein. Er will uns also nicht nur ins Bett kriegen, sondern uns auch noch ex post davon überzeugen, dass es es wert war, mit zu ihm nach Hause zu kommen. Ebene 3: Hier sind wir längst verloren. Diese Ebene bespielt all die unter- und unbewussten Sphären. Verborgenes Begehren, das bisher schlummerte, ideologische Subtexte und Metaebenen, die sich der Ratio und der offenen Selbstbetrachtung entziehen. Jetzt sind wir schwach und verletzlich. Der Morgen danach. Das Aftermath mit Unsicherheiten und Zweifeln. Ja, die moderne Filmanalyse legt den Zuschauer auf die Couch. Monster Godzilla war als Stoff schon immer gut. Und es ist ein Jammer, dass - anders als bei King Kong, der als Stoff natürlich noch viel besser ist - bis heute kein guter Film daraus entstehen konnte. Der Stoff erscheint sehr japanisch. Das hat mit der ständigen Bedrohung der Japaner durch Erdbeben zu tun, eine kulturelle Prägung über Jahrtausende. Dann kam - und hier muss man von einem historischen Zufall sprechen - die bis dato einmalige Erfahrung einer Nation mit der zerstörerischen Kraft der Atombombe hinzu. Hiroshima und Nagasaki haben in der japanischen Seele und infolgedessen in der japanischen Popkultur Spuren bis heute hinterlassen. Doch ob es sich um große Affen, Fische, Wale, Kraken, Echsen oder Roboter handelt, diese Monstererzählungen über Gigantismus sind universell. Sie finden sich in den alten Mythen, Sagen und Heldenepen aller Kulturen. Aber die japanischen Godzilla-Filme, die in großer Zahl ab den 50er Jahren produziert wurden, sind abgesehen von ihrer kulturhistorischen Perspektive lächerlich. Sie sind Trash. So lange die Technologie der Visual Effekts nicht weit genug war, einen 9. Die Exploitative Geschichte 262 <?page no="263"?> ernstzunehmenden Film aus dem Sujet zu machen, hat sich kein namhafter Regisseur dafür interessiert. Die King Kong-Verfilmung von John Guillermin aus dem Jahre 1976 ist zwar gutes Spektakel und kein schlechter Film, aber die tricktechnischen Unzulänglichkeiten haben das Publikum damals schon enttäuscht und rücken den Film für heutiges Betrachten unweigerlich in seinen historischen Entste‐ hungskontext. Die 90er Jahre mit JURASSIC PARK und realistischen digitalen Effekten waren die wesentliche Zäsur für eine gewisse Spiel‐ art der Exploitativen Geschichte. Endlich ging, was vorher nicht möglich gewesen war: große Viecher im Film. Da hüpft das Herz eines jeden Jungen. Ob wir nun JURASSIC PARK (1993) oder DER WEISSE HAI (1975) betrachten, Steven Spielberg ist sich der exploitativen Wirkweisen seiner Monstergeschichten immer höchst bewusst. DER WEISSE HAI beginnt damit, dass eine Frau von dem Hai gefressen wird. Und wir sehen davon: nichts. Wir hören, wir imaginieren, aber die Dunkelheit und das Wasser gestatten keine voyeuristische Befriedigung, keinen Blick auf diesen gewaltsamen Akt dieser zivilisatorischen Perversion: Ein Tier stillt seinen Hunger mit menschlichem Fleisch. Aber wir wollen es sehen. Also folgt die Dramaturgie des Blutes. Der Film zeigt uns im weiteren Verlauf zuerst nur die Reste des Haimahls, Stücke von menschlichen Kadavern, dann einen gefangenen Hai, tot und zu klein, dann Angriffe unter Wasser. Dann im letzten Akt, wenn Chief Brody, Quint und Matt Hooper ihre Kammerspielvorstel‐ lung in der Hermetischen Welt von Quints Fischerboot geben, sehen wir den Hai in seiner ganzen Pracht, wenn er am Boot vorbeischwimmt, seine Größe, sein Gebiss, wenn er nach den Ködern schnappt, bis schließlich das implizite Versprechen ganz und gar eingelöst wird. Ein Mensch wird verspeist. Nicht unter Wasser, sondern in dem uns Ich will es sehen! - Ok, ich zeige es dir. 263 <?page no="264"?> vertrauten Medium, der frischen Luft, am helllichten Tag. Der Hai springt auf das Deck des Bootes, das Boot richtet sich auf, Quint rutscht in das Maul des Hais. Wir sehen: alles. Der exploitative Höhepunkt, dem der narrative Höhepunkt, in dem der Hai in die Luft gejagt wird, unmittelbar folgt. Ich gehe so weit zu sagen, dass Quints Tod der Höhepunkt des ganzen Films ist, nicht Chief Bodys Endkampf gegen den Hai. Diese Kiefer ( JAWS ist der Originaltitel! ) mit diesen Zähnen, vor denen sich die Zuschauer seit zwei Stunden so fürchten, tun ihr Werk. Sie beißen zu, erst das Bein, dann die ganze Taille. Quint kämpft und schreit, sein eigenes Blut wird ihm durch den Druck der Haikiefer auf seinen Brustkorb aus dem Mund gequetscht, er leidet und stirbt, ihm und uns bleibt nichts erspart. Die Kamera hält voll drauf. Es sind nur wenige Sekunden, aber die haben es in sich. Bis heute ist Quints Tod einer der heftigsten, grausamsten und wirkungsvollsten Tode der Filmgeschichte. Damit ist DER WEISSE HAI einer von lediglich acht Filmen, die es in die Top-250-Liste bei imdb.com geschafft haben, bei denen das Erzählkonzept der Exploitativen Geschichte maßgeblich ist. JURASSIC PARK ist dramaturgisch um einiges komplizierter, doch es finden sich auf Anhieb dieselben Erzählkonzepte, die für die jeweilige Narration wichtig sind: die Was-Wäre-Wenn-Prämisse, die Hermetische Welt und - aufgrund der visuellen Effekte bei Jurassic Park - entscheidend die Exploitative Geschichte. Weitere Filme aus der imdb-Top-250-Liste sind ALIEN , DAS DING AUS EINER ANDEREN WELT und DER HERR DER RINGE . Sex und Gewalt, auch Tanz, Musik und Sport lassen vielleicht die Kasse klingeln, aber auf die vorderen Plätze bei den Oscars oder bei den anspruchsvolleren Fans kommen Sie damit alleine nicht. Die hier 9. Die Exploitative Geschichte 264 <?page no="265"?> genannten Filme beinhalten exlpoitative Elemente daher in Form von Monstern. Diese Monster unterliegen - mal mehr mal weniger - der besonderen Monsterdramaturgie, die besagt, dass wir das Monster nur scheibchenweise zu Gesicht bekommen und erst nach ganz viel Erwarten und Spekulieren und Ausspähen kriegen wir den exploitati‐ ven Orgasmus. Gerade ALIEN ist ein Paradebeispiel für die Dramaturgie der Monster‐ gestalt. Von dem Alienwesen kennen wir bis zur finalen Weltraumto‐ tale im Abgasstrahl des Raumschiffs nur Details: Klauen, Kopf, Kiefer. Dass es zwei Arme, zwei Beine und einen Schwanz als Verlängerung der Wirbelsäule hat, sehen wir erst, wenn der eigentliche Kampf vorbei ist. Doch das Exploitative ist als Erzählkonzept untergeordnet. ALIEN und DAS DING AUS EINER ANDEREN WELT sind Hermetische Welten, DER HERR DER RINGE ist Worldbuilding. Varieté, Zirkus, Schaubuden - Der Elefantenmensch Zauberei auf der Bühne ist narrativ, sie bedarf der Dramaturgie. Das lernen wir spätestens bei THE PRESTIGE (Regie: Christopher Nolan, 2006). Die körperlichen (artistischen, sportlichen) wie auch die geisti‐ gen Leistungen, die hinter einem Zaubertrick liegen mögen, bleiben für das Publikum im Saal im Dunkeln. Sie sind höchstens erahnbar, werden aber nicht offen präsentiert. Sie sind Teil des Geheimnisses, das den Zaubertrick ausmacht. Nolans Film hingegen stellt die Technik und die Dramaturgie der Performance und damit die Frage nach Erfolg oder Misserfolg in den Fokus seiner Geschichte von zwei konkurrierenden Zauberern, deren Wettstreit sie an ihre geistigen, körperlichen und moralischen Grenzen und darüber hinaus bringt. Der Film ist zwar visuell beeindruckend und spektakulär, aber wie alle Filme von Nolan nur in minimalem Maße exploitativ im Sinne des Erzählkonzepts. Ich will es sehen! - Ok, ich zeige es dir. 265 <?page no="266"?> Alle anderen Acts, die im Varieté oder Zirkus performt werden, sind von ihrem Wesen her exploitativ: Wir dürfen und sollen alles sehen. Die Grenzen zur Show, deren performative Einzelleistungen zu einem großen Gesamtbild verschmelzen wie im Cirque du Soleil sind natür‐ lich fließend. Cirque du Soleil ist wie ein großes Orchester. Zwar gibt es hier wie dort Solos, aber die Einzelleistung des Instrumentalisten tritt vor dem Gesamtkunstwerk der Sinfonie zurück. Augentiere, die wir sind, wollen wir aber auch im Konzertsaal etwas sehen und blicken gebannt stundenlang auf den Rücken des Dirigenten. Wir lernen: Auch das sind wir. Nicht nur ein bisschen böse, sondern auch ein bisschen hilflos und lächerlich. So wie Ted Brownings skandalumwitterter FREAKS (1932), der gro‐ ßenteils mit Menschen mit echten Beeinträchtigungen gedreht wurde, spielt DER ELEFANTENMENSCH (Regie: David Lynch, 1980) genau in dieser Welt: menschliche Absonderlichkeiten als Kuriositäten auf der Bühne. Diese Bühne ist, nachdem die reale Freakshow mora‐ lisch verpönt war, ab den 60er Jahren in die anonymere Welt der Mondo-Filme gewandert und heutzutage ins komplett anonyme Inter‐ net. Verschwunden ist sie nie. Bei allem Bemühen um emotionale Anteilnahme und bei aller Refle‐ xion über die Schattenseite der Schaulust kommt DER ELEFANTEN‐ MENSCH nicht aus seiner exploitativen Haut, auch wenn er das voyeuristische Crescendo im ersten Akt bereits vollzogen hat. Die Geschichte des extrem missgestalteten John Merrick, der als Ele‐ fantenmensch viele Jahre unter den unwürdigsten Bedingungen wie ein Tier gehalten und begafft wird, weckt zunächst das medizinische Interesse eines Arztes. Der Arzt befreit ihn im Laufe der Handlung und erkennt dessen Menschlichkeit. Das ist rührend. Auch Frankenstein, King Kong und sogar Godzilla rühren uns am Ende. Es ändert nichts 9. Die Exploitative Geschichte 266 <?page no="267"?> daran, dass wir auf Ebene 1 und Ebene 3 von der Monstrosität des Monsters verführt werden, nicht von seinem Schicksal. Der Film ist das seltene Beispiel für eine selbstreflexive Exploitative Geschichte. Und selbstverständlich ist DER ELEFANTENMENSCH gleichzeitig ein Historischer Film, der auf wahren Figuren und einer wahren Lebensgeschichte basiert. One-Man-Army: Rambo I, II, III, IV, V… Silvester Stallones Figur John Rambo - haben wir im entsprechenden Kapitel gelernt - ist ein Gewusst-Wie-Charakter. Er zeichnet sich durch Kompetenzen aus. Rambos Kernkompetenz ist das Kämpfen. Num‐ mer zwei sind allerhand Überlebenstechniken. Nummer drei ist die Schmerzresistenz. Nummer vier und Folgende, da sind wir bereits bei den Sekundärtugenden wie Tapferkeit, Entschlossenheit, Ehrlichkeit, stoischer Blick angelangt. Dies sind allesamt eher keine Kompetenzen, sondern Charaktereigenschaften. Doch durch die inhomogene Filmreihe von Rambo zieht sich auch ein roter Faden des Exploitativen. Das ist recht offensichtlich, wenn wir an typische Bilder, Stills aus den Filmen oder die Filmplakate, denken. Da ist ein muskel- und waffenbepackter Mann, wer sich ihm in den Weg stellt, bekommt es mit seiner Kernkompetenz zu tun. Nun bin ich mir mit den meisten Filmkritikern recht einig, dass der erste Teil, RAMBO - FIRST BLOOD (Regie: Ted Kotcheff, 1982), ein guter Film ist, ein actiongeladenes Drama über einen traumatisierten Vietnamsoldaten. Ein Film mit Tiefe und einem sehr guten Ende. Zwar gibt es auch ein Action-Crescendo mit großem Finale, aber die letzte Szene - und die ist kein Epilog! - ist Rambos Zusammenbruch vor Colonel Trautman. Er schreit, weint, schmeißt die Waffen von sich. Großes Drama, großes Kino. Ich will es sehen! - Ok, ich zeige es dir. 267 <?page no="268"?> Die Filme RAMBO II - DER AUFTRAG (Regie: George Pan Cosmatos, 1985), in dem Rambo Kriegsgefangene in Vietnam befreit, löste eine wahre Flut von billigen One-Man-Army Kopien aus. In RAMBO III (Regie: Peter MacDonald, 1988) befreit er seinen militärischen Ziehvater Colonel Trautman aus den Händen der Russen in Afghanis‐ tan. Beide Filme beuten schamlos diese zur Ikone von Männlichkeit geschrumpfte Figur aus, ohne ihr irgendwelche neuen, interessanten Facetten abzugewinnen. Moment, wie war das mit dem Ausbeuten? Wird nicht der Zuschauer ausgebeutet? Richtig, es stellte sich nämlich mit diesen Filmen in den 80er Jahren heraus, dass Männer nicht nur junge Frauenkörper begaf‐ fen wollen, sondern auch durchtrainierte Männerkörper, die andere Männer mit Waffen oder bloßen Händen killen. Der Reiz liegt irgendwo zwischen einem Boxkampf (zwar nackt und trainiert, manchmal sogar blutig, aber zu fair), James Bond (zwar blutig und unfair, aber zu angezogen) und einem echten Kriegsfilm (zwar blutig, aber viel zu traurig). Viele Jahre später kreiert Silvester Stallone selbst als Regisseur, Autor und Hauptdarsteller mit seinem 62jährigen Körper einen vierten Auf‐ guss, JOHN RAMBO (2008). Der sehr gut gewählte Titel kündigt an, dass es jetzt um John geht, den Menschen. Weniger um Rambo, die Ikone. Doch siehe da, der Film ist gewalttätig wie nie zuvor. Die schiere Menge und die Drastik der Tötung und Zerstückelung von Gegnern ist atemberaubend. Kritiker werfen ihm reine Gewaltpornografie vor. Das kann man so sehen. Aber JOHN RAMBO erzählt neben der tempo- und spannungsreichen Berserkergeschichte ein interessantes Moraldrama in den Nebenfiguren. Die Missionare/ Ärzte, die hier aus den Händen burmesischer Soldaten befreit werden, haben jeglicher Gewalt im Sinne ihres christlichen Glaubens abgeschworen. Sie wer‐ 9. Die Exploitative Geschichte 268 <?page no="269"?> den mit ungeheurer Gewalt konfrontiert und werden diesen Grundsatz brechen. Am Ende kämpfen und töten sie mit bloßen Händen. War das jetzt geile Action? Dieses berüchtigte finale Schlachtfest mit dem großkalibrigen Maschinengewehr? Die Gesichter, in die wir auf der Leinwand blicken, sagen etwas anderes. Die Missionare und die Söldner, die mit Rambo gemeinsam den Kampf gewonnen haben und gerade so mit dem Leben davongekommen sind, blicken sich und uns verzweifelt und erschüttert an, sie haben soeben die Hölle des Krieges erlebt und keine Action. „Are you not entertained? “ ruft Gladiator Maximus seinem Publikum zu, als er in wenigen Sekunden eine ganze Handvoll Gegner zur Strecke gebracht hat, das Schwert wegwirft und voller Abscheu für das Spektakel in der Arena auf den Boden spukt. Stallone und Rambo, die als Figuren nicht mehr zu trennen sind voneinander, sagen wortlos und mit stoischem Blick am Ende von JOHN RAMBO dem Publikum, das dafür Ohren hat: „Are you not entertained? “ Die Antwort auf diese Frage ist Ja und Nein, und genau diese Ambiguität beschäftigt uns in diesem Kapitel. Wenn wir uns dann noch klarmachen - und das meine ich ganz ernst - dass Silvester Stallone in JOHN RAMBO sein T-Shirt anbehält, drängt sich der Verdacht auf, dass wir es hier mit einem klugen, die eigene popkulturelle Ikonografie und die exploitativen Mechanismen bedienenden und gleichzeitig reflektierenden Film zu tun haben. Stallone ist zwar klug, aber nicht geschmackssicher und dazu skrupel‐ los, und daher hat er uns zwischen seinen harmlosen Retro-Actionfil‐ men wie THE EXPENDABLES (2010, 2012, 2014) den letzten (wer weiß? ) Teil mit dem unsäglichen RAMBO: LAST BLOOD (Regie: Adrian Grünberg, 2019) nicht erspart. Der Film verkürzt seine Ge‐ Ich will es sehen! - Ok, ich zeige es dir. 269 <?page no="270"?> wusst-Wie-Erzählung auf eine winzige Montagesequenz, in der Rambos Farm zur Festung mit allerhand Fallen ausgebaut wird für das Finale. Der Rest des Films und vor allem das Finale selbst sind langweiliges, weil rein redundant exploitatives Töten. Der Tiefpunkt der Reihe. Das Exploitative kann man narrativ nutzen. Man sollte es kennen und in den Genres Action und Horror ist es fast unverzichtbar. Aber man kann sich nicht darauf verlassen, dass es einen Film von 90 oder mehr Minuten trägt. Die Stoffideen der Exploitativen Geschichte Folgen Sie mir auf die Blümchenwiese. Ich will Ihnen etwas zeigen. Zuerst muss ich gestehen, dass nicht ich es bin, dem Sie folgen. Es ist ein kleiner Junge. Es gibt zwei Sorten von Menschen. Diejenigen, die das meiden, wovor sie sich fürchten, und die anderen. Dieser kleine Junge fürchtet sich vor Spinnen. Da er zu der zweiten Sorte gehört, sucht und beobachtet er also Spinnen. Er kennt und beobachtet Radnetzspinnen, Trichternetz‐ spinnen, Springspinnen, Jagdspinnen. Sie unterscheiden sich in Größe, Körperbau, Lebensweise und Jagdverhalten. Irgendwie hat er etwas übrig für Kategorien und Systematiken. Die Trichternetzspinnen, zu denen beispielsweise auch die gemeine Hausspinne gehört, sind die Furchterregendsten. Es hat nicht nur mit ihrem Körperbau zu tun, sondern mit ihrer Jagdtechnik, dem Lauern auf Beute, während sie, die Beine über dem Spinnenleib zusammengezogen, am Ende des Trichters in einer Röhre sitzen und warten. Der Junge ist wie alle Kinder eher von der ungeduldigen Art. 9. Die Exploitative Geschichte 270 <?page no="271"?> Grashüpfer sind die sympathischsten unter den Krabbelviechern auf der Blümchenwiese. Sie sind irgendwie tollpatschig. Sie können sich nie so richtig entscheiden, ob sie nun irgendwohin hüpfen oder irgendwohin fliegen sollen. Sie können nicht stechen oder beißen. Sie wollen gar nichts von uns, trotzdem landen sie bei ihrem planlosen Gehüpfe ständig auf unseren Beinen, die wir in der Sonne ausgestreckt haben. Der Junge muss nicht lange suchen. Er greift zu und hält Flip in seinen hohlen Händen, so als wolle er ihn beschützen. Doch er geht zu dem Busch, in dem die Spinne wohnt. Sein Puls steigt. Er linst in die Röhre. Das größte der vier Augenpaare von Tegenaria Silvestris reflektiert das wenige Sonnenlicht, das bis hierher durchdringt. Gleich werde ich sie sehen, denkt er. Er öffnet die Hände und der Film beginnt. Flip, der arglose Trottel, fällt und landet im Netz. Er strampelt mit seinen Sprungbeinen, er will nichts wie weg aus dem chaotischen Geflecht von Fäden. Was zappelst du auch so? Bleib still. Es nützt nichts. Die Schwingungen des Netzes verkünden: Fressen. SIE kommt mit unglaublich schnellen Bewegungen aus ihrer dunklen Höhle hinaus ins Sonnenlicht. Kurz vor ihrer Beute hält sie inne. Sie muss prüfen, was sie gefangen hat. Ist es zu groß? Ist es wehrhaft? Dann packt und beißt sie zu. Sie umwickelt den armen, leidenden Flip, der ahnt, was ihm bevorsteht, und schleppt ihn in die Höhle, wo ihr Mahl beginnt. Der Junge hat genau hingesehen. Er sagt sich, es war ein wissenschaft‐ liches Experiment. Doch tief in seinem Inneren weiß er es besser. Sie wissen jetzt alles, was es zu wissen gibt, über die Stoffideen der Exploitativen Geschichte. Ich will es sehen! - Ok, ich zeige es dir. 271 <?page no="272"?> Fazit: ▸ Das Erzählkonzept der Exploitativen Geschichte ist weit ver‐ breitet. Es dominiert nur in echten Exploitationfilmen, deren Narration weder in der Originalität noch in der künstlerischen Qualität hervorstechende Eigenschaften aufzuweisen hat. ▸ Die Exploitative Geschichte findet sich neben all den Spielar‐ ten des reinen Exploitationfilms in den Genres Action und Horror, aber auch in Musik-, Sport- und Abenteuerfilmen. ▸ Die Wirkweise des Exploitativen hat beim Film mit Schau‐ werten zu tun, auf die der Zuschauer affektiv reagiert. Das Erzählkonzept beinhaltet die dramaturgische Einbettung dieser Schauwerte im Sinne des Aufbaus von Erwartung und deren Einlösung. ▸ Die Exploitative Geschichte ist mit allen anderen Erzählkon‐ zepten kombinierbar. ▸ Die Wirkmächtigkeit des Erzählkonzepts auf andere Kon‐ zeptbereiche der filmischen Gestaltung ist nicht sehr groß. Die affektiven Wirkmechanismen funktionieren auch in inhomogenen Werken. Häufig und ausgesprochen deutlich finden sie sich daher auch in Compilationsfilmen, wie reiße‐ rischen Fake-Dokumentationen und Horror-Reihen, deren Dramaturgie an Nummernrevuen erinnern, wie SAW und FINAL DESTINATION . ▸ 8 Filme in der Top-25-Liste bei imdb.com ( DER HERR DER RINGE , GLADIATOR , ALIEN , ALIENS , DER ELE‐ FANTENMENSCH , JURASSIC PARK , DAS DING AUS EINER ANDEREN WELT , DER WEISSE HAI ) 9. Die Exploitative Geschichte 272 <?page no="273"?> 10. Filme mit übergeordnetem Zweck Kann man machen. - Oder lassen. „Filmemacher sollten bedenken, dass man ihnen am Tag des jüngsten Gerichts all ihre Filme wieder vorspielen wird.“ Charlie Chaplin Alle Filme, die jemals gemacht wurden und noch gemacht werden, nichts Geringeres, als das gesamte filmische Geschehen soll durch die 11 Erzählkonzepte abgebildet und erklärt werden. In allen anderen Kapiteln und den dortigen Erzählkonzepten und den zur Veranschau‐ lichung herangezogenen Filmbeispielen kann der Eindruck entstehen, es handele sich bei unserem Betrachtungsgegenstand immer um Spiel‐ filme und Serien. Das, was in den Fiction-Abteilungen der Sender und Medienunternehmen stattfindet. Die „großen“ Filme. Im Besonderen schauen wir am Ende eines jeden Kapitels immer auf die Top-250-Liste bei imdb.com, die zu 100 Prozent aus Kinospielfilmen besteht. Diese Systematik, die konsequent Filme in entweder Spielfilme oder Serien und in entweder Kinospielfilme oder TV-Movies einteilt, verändert sich gerade. Schuld sind die Streamingdienste, Pandemien und der damit verbundene Niedergang des Geschäftsmodells Kino. Das kann man beklagen oder Chancen darin erkennen. Es führt auch sicher zu umfangreichen Veränderungsprozessen und Konsolidierungen in der Branche, aber wie in der Einführung zu diesem Buch erwähnt, wird es relativ geringe Auswirkungen auf die fundamentalen Prinzipien und Mechanismen der Narration haben. Diese älteste aller Kunstformen <?page no="274"?> wird schon mal von Modewellen in die eine, dann in die andere Richtung gezogen, grundsätzlich aber sitzt sie unerschütterlich fest im Sattel seit ein paar tausend Jahren. Es ist durchaus sinnvoll, die guten, die bekannten, die gelungenen Filme, die etwas wagen und die Ausdruck von besonderem Talent und Kreativität sind, zu betrachten, wenn man die Wirkweise von Narration verstehen will. In der Exploitativen Geschichte haben wir uns auch ohne Scheu mit den Niederungen des Films auseinandergesetzt. Sogar dort haben wir Beispiele gefunden, die zu den besten Filmen aller Zeiten gehören. Doch Filme mit übergeordnetem Zweck findet man nicht auf diesen Besten-Listen. Wenn wir den Blick weiten auf all die Formate und Formen, die der Film annehmen kann, dann merken wir, dass wir einen Großteil dessen, was das tägliche Geschäft vieler „Filmemacher“ ausmacht, bisher ignoriert haben. Es sind all die Werbespots, die Imagefilme, die Produktfilme, die Dokumentationen, die Reportagen, die Beiträge, die Trailer, die Teaser, die Musikvideos. Wenn wir auch noch alle Clips, Tutorials und Videoblogs von Youtube und Instagram mitdenken, erfassen wir wirklich das gesamte visuelle Mediengeschehen. All das sind natürlich auch „Filme“, wenngleich man sie oft anderen Formaten und anderen Abteilungen und anderen Firmen und anderen Kreativen zuordnen kann. Aber auch diese medialen Einheiten mit Bewegtbildinhalten haben irgendeine Form von Narration, auch sie brauchen Dramaturgie. Auch sie brauchen ein oder mehrere Erzählkonzepte. Ihnen allen ist gemein, dass sie Filme mit übergeordnetem Zweck sind. Ihr Zweck ist nicht nur, ein möglichst guter und damit ein möglichst erfolgreicher Film zu sein. Ihr Zweck besteht darin, 10. Filme mit übergeordnetem Zweck 274 <?page no="275"?> etwas Übergeordnetes zu verkaufen. Auch ein Social Spot und ein Musikvideo verkaufen etwas. Ein Produkt, eine Marke, eine Firma, einen Politiker, seine Message oder - ganz selbstlos und rein - Informationen. Sie unterscheiden sich von den Filmen, die in den anderen 10 Kapiteln beschrieben werden, da diese nur sich selbst verkaufen wollen, sich selbst als Film, als Produkt. Dem Dokumentarfilm werden wir in vielen Fällen mit dieser Sicht‐ weise nicht gerecht. An dieser Stelle muss der Satz, dass die Übergänge fließend sind und Ausnahmen die Regel bestätigen zum wiederholten Male stehen. Die meisten Dokumentarfilme erfüllen tatsächlich eher die Kriterien, die wir für den Historischen Film aufgestellt haben: Ein Handlungsgerüst, das sich an recherchierbaren und recherchierten Fakten orientiert. Das Bild- und Tonmaterial, aus dem der Dokumen‐ tarfilm hergestellt wird, besteht im Gegensatz zum Spielfilm in der Regel selbst sogar aus diesen recherchierten Fakten. Die Quelle selbst, sei es ein Talking Head, ein abgefilmtes Ereignis, ein museales Doku‐ ment oder eine Visualisierung von kausalen Zusammenhängen, sind dargestellter Teil des Filmwerkes bei Dokumentationen. Motivationen des Filmemachens Der Film mit übergeordnetem Zweck wird in aller Regel bestellt. Jemand braucht einen Film. Er oder sie geht also zu einer Person, deren Beruf es ist, Filme zu machen, und spricht mit ihr über seinen Bedarf, möglicherweise hat er oder sie bereits ein Konzept in irgendeiner Ausbaustufe dabei. Sie sind Filmemacher? Wunderbar, man kommt also zu Ihnen. All die Zwischenschritte im Kreativen, Wirtschaftlichen und Juristischen und all die Instanzen wie Agenturen und Produzenten und Berater lassen Kann man machen. - Oder lassen. 275 <?page no="276"?> wir gedanklich beiseite. Und tun so, als gäbe es nur Sie alleine als den Realisator des Unternehmens: Herstellung des bestellten Films. Ihre Motivation ist also in erster Hinsicht eine wirtschaftliche. Sie wollen Geld verdienen. Dennoch kann bei diesem Geschäft, Film gegen Geld, auch etwas entstehen, das über die reine Zweckehe von Auftraggeber und Auf‐ tragnehmer hinausgeht. Werbespots, Musikvideos und all die anderen Formate können eine eigene Kunstform sein. Sie können Kurzfilme sein, die weit hinaus über ihre eigentliche Bestimmung, für etwas zu werben, Strahlkraft, Schönheit und Gehalt entwickeln. Der ursprüng‐ liche Zweck verblasst und wird zur scheinbaren Nebensache. Diese Filme werden freiwillig und immer wieder angesehen. Sie gehen viral. Bereits seit Jahrzehnten und damit lange bevor es das Internet gab, ist diese Abkopplung vom eigentlichen Werbeobjekt zum konzeptionellen Standard in vielen Formen des Marketings geworden beim Kampf um die Aufmerksamkeit des Konsumenten. Hey, ich zeige dir etwas Schönes, ich rühre an deine Gefühle, ich erzähle dir eine Geschichte. Das Produkt, das Label, das Logo wird nonchalant am Ende kurz eingeblendet. Der herausragende Studentenwerbespot DEAR BROTHER (Regie: Dorian Lebherz, Daniel Titz, 2015) erzählt von zwei Brüdern, die miteinander durch die karge, menschenleere Landschaft der Highlands wandern. Sie albern rum, necken sich, bei einer kurzen Pause in einer Ruine trinken sie ein Glas Whisky. Als sie an einer hohen Klippe ankommen, erkennen wir, dass einer der Brüder nur eine Imagination war. Er ist tot, seine Asche wird ins Meer gestreut. Das eigens für den Werbeclip geschriebene Gedicht, der Soundtrack, die Kamera und die Inszenierung sind so geglückt und bewegend, dass dieser Clip als Minifilm von 90 Sekunden ein Filmwerk für die Ewigkeit geworden 10. Filme mit übergeordnetem Zweck 276 <?page no="277"?> ist. Die emotionale Wirkung eines Langfilms in einem Sechzigstel der Zeit zu erzielen, ist eine phänomenale Leistung, die den beiden Regisseuren mit all den Clips, die sie nach ihrem Studium im wahren Berufsleben mit echten Auftraggebern gemacht haben, bisher nicht wieder gelungen ist. Das diesem Clip für die Whiskymarke Johnny Walker zugrundeliegende Erzählkonzept ist die Synthetische Narration. Es handelt sich um eine klassische Umsetzung des „unzuverlässigen (beziehungsweise unsicheren) Erzählers“. Toby Dyes Heineken Spot WORLDS APART (2017) wurde trotz vier‐ einhalb Minuten Länge 150 Millionen mal geklickt. Die Idee besteht in der nüchternen Dokumentation eines psychologischen Experiments. Sechs Menschen, die sich nicht kennen, treffen jeweils zu zweit in einer Lagerhalle aufeinander und bekommen per Lautsprecher die simple Aufgabe gestellt: Möbel zusammenschrauben. Dabei entsteht - Sie erinnern sich an die Was-Wäre-Wenn-Prämisse und die Basisoppositi‐ onen - Bonding. Nach getaner Arbeit wird den beiden Protagonisten gemeinsam eröffnet, was wir Zuschauer bereits im Vorfeld erfahren haben: Es gibt einen maximalen Meinungskonflikt der beiden in einer brisanten politischen Frage. Einmal Klimawandel, einmal Feminismus, und beim dritten Paar das Thema Transgender. Dann stellt die Stimme aus dem Lautsprecher die beiden Laborratten vor die Wahl, entweder zu gehen, oder sich an die soeben selbst zusammengeschraubte Bar zu setzen, ein kühles Bier miteinander zu trinken und die Sache zu bequatschen. Dreimal dürfen Sie raten, was in allen drei Fällen passiert. Was in der Beschreibung wie ein von Gutmenschigkeit triefendes Erziehungsfilmchen anmutet, ist einer der besten Werbespots aller Zeiten. Die ohne Zweifel dick aufgetragene Message war aber 2017 und ist es heute um so mehr wirklich die einzige berechtigte Botschaft, die man der Menschheit akut in ihrem sich schrill steigernden politischen Kann man machen. - Oder lassen. 277 <?page no="278"?> Rigorismus ins Ohr säuseln will: Cool down. Setzt euch zusammen und trinkt ein Bier. Wir können recht sicher sein, dass Toby Dye beim Erstellen des Films nicht immer den Gedanken im Hinterkopf hatte: „Heineken schmeckt gut. Heineken ist das beste Bier der Welt.“ Sondern er wollte unter den besonderen Bedingungen des übergeordneten Zwecks den bestmöglichen Film machen. Die beiden skizzierten Werbespots machen deutlich, dass der überge‐ ordnete Zweck als Erzählkonzept alleine nie ausreicht. Der übergeord‐ nete Zweck hat nicht mit Kreativität, mit Ideen und dem Erzählen selber zu tun. Wie kann es dann ein Erzählkonzept sein? Das Erzähl‐ konzept ist keine Bauanleitung, sondern steht wie ein Berater stets neben Ihnen, wenn Sie einen Film machen. Im Zweifel, wenn es darum geht zu entscheiden, was wichtig und was unwichtig ist, erinnert es Sie daran, dass Sie einen Spot für Bier machen. Und wissen Sie, was an diesem so banal anmutenden übergeordneten Zweck im Falle dieses kleinen, abgefilmten Experiments mit Menschen, Möbeln und Bier das Erstaunlichste ist? Der Film wird größer, ehrlicher und besser dadurch, dass er ein Werbespot für den zweitgrößten Braue‐ reikonzern der Welt ist. Stünde dort auf dem Tresen irgendein Getränk ohne Namen und wäre der Zweck also der reine Erkenntnisgewinn über menschliches Verhalten, hätte ich nicht, hätten 150 Millionen Menschen den Film nicht angeschaut. Es gibt tausende Youtube-Clips mit ähnlichem Inhalt und rein wissenschaftlichem Hintergrund. Ihre Klickzahlen sind 2-, 3-, 4-stellig. Der zwar nicht überraschende aber wirklich finale Plotpoint sowohl bei DEAR BROTHER als auch bei WORLDS APART ist nicht das Ende der jeweiligen Erzählung: „Der Bruder ist tot, dies ist seine Beerdigung.“ 10. Filme mit übergeordnetem Zweck 278 <?page no="279"?> oder „Ja, sie trinken! “. Der wirklich finale Plotpoint ist die Einblendung des Logos. „Ja, ich habe einen Werbespot für Whisky gesehen. Ja, das war ein Spot für Bier. Und ich bin fein damit.“ Sagt sich der Zuschauer. Dieses psychologisch komplexe Phänomen offenbart uns, dass es keine Enttäuschung sein muss, Zielobjekt von Marketingfachleuten zu sein, sondern eine erhebende Erfahrung sein kann. Es ist nicht nur allein, dass diese Filme handwerklich so verdammt gut gemacht sind. Es ist der Zweckkontext. Film- und Fernsehwirklichkeit in Deutschland Bevor wieder ein falscher Eindruck entstehen könnte, dass hier etwa ausgesagt werden soll, ein übergeordneter Zweck veredle einen jeden Film und gebe ihm Gehalt und Bedeutung, stelle ich klar, dass für Spielfilme, Serien und auch Dokumentationen in der Regel genau das Gegenteil gilt. Ich rufe an dieser Stelle in Erinnerung, was wir über den schwierigen Begriff „Genrefilm“ in der Einführung gesagt haben. Der Genrefilm ist ein FilmFilm, ein Film, der sich als Film genug ist. Er hat somit gerade keinen übergeordneten Zweck. Wir befinden uns nicht in einer sauberen Welt, in der es auf der einen Seite die Gebrauchsfilme gibt (Werbung, Imagefilm et cetera), hergestellt von Berufs-Regisseuren, die lediglich Aufträge annehmen, irgendwann später einen Film abliefern und dafür ein Honorar bekom‐ men - und auf der anderen Seite stehen die Autorenfilmer, die von künstlerischen Ideen gepeinigt, nicht eher ruhen, bis sie ihren Film, ihre Vision, ihr Drehbuch verwirklicht auf der großen Leinwand sehen. Es gibt diese beiden Pole, doch die quantitativ überwiegende Wirklich‐ keit der Genese von Filmen liegt irgendwo im Graubereich dazwischen. Kann man machen. - Oder lassen. 279 <?page no="280"?> Der übergeordnete Zweck, dass nämlich das nächste Spielfilmprojekt dem Regisseur und natürlich auch dem Autor und dem Produzenten und allen Crewmitgliedern und Schauspielern ein finanzielles Aus‐ kommen sichern soll, ist immer vorhanden. Dennoch gibt es die exklu‐ sive Gruppe derer, die für die Inhalte eines Filmprojekts verantwortlich sind: Produzent, Autor, Redakteur, Regisseur ( Je nachdem, welches Format bedient wird, denn es gibt allerhand TV-Formate, bei denen Regisseure zum Inhaltlichen wenig bis nichts zu sagen haben). Deutschland als Filmstandort spielt bei dieser Betrachtung eine beson‐ dere Rolle. Die Ambitionslosigkeit, die man so manchem Filmprojekt unterstellen muss, spiegelt sich in den Filmografien vieler TV-Redak‐ teure und auch vieler erfolgreicher Produzenten wider: 15 bis 20 Filme pro Jahr und das nicht als Chef, der nur delegiert, abnickt und unterschreibt, sondern als Jemand, der Inhalte initiiert, begleitet und mitgestaltet - wie soll das gehen, wenn nicht zu Lasten der Originalität, der Qualität und unter der Inkaufnahme von Redundanz und Belanglosigkeit? Deutschland ist das einzige Land, das durch seinen finanziell ausgespro‐ chen üppig ausgestatteten öffentlich-rechtlichen Rundfunk seit Jahr‐ zehnten mehr Fernsehfilme als Kinofilme produziert. Die Spitzenorga‐ nisation der Filmwirtschaft (SPIO) veröffentlicht jährlich Zahlen zu dem Output des deutschen Filmproduktions- und Sendegeschehens. Dieses statistische Gefüge kommt durch das Auftauchen der Streamingdienste zwar ins Rutschen, dennoch lässt sich festhalten: Kontinuierlich wurden in den vergangenen 10 Jahren fast 300 Fernsehfilme pro Jahr produziert und gesendet. Dem stehen im Mittel 146 Kinofilme gegenüber, mit steigender Tendenz, was von manchen Branchenfunktionären zwar gerne als positive Entwicklung verlautbart wird, aber auch zunehmend kritisch gesehen wird, weil es für die meisten Filme in dieser Konkur‐ 10. Filme mit übergeordnetem Zweck 280 <?page no="281"?> renzsituation nie die Chance auf eine funktionierende Refinanzierung durch Vertriebserlöse gibt. In den USA gab es in den 70er Jahren in der Hochphase des Fernsehens einen kleinen Boom von Fernsehfilmen, doch im Vergleich zum Output an amerikanischen Kinospielfilmen (ca. 800 pro Jahr) waren und sind das immer nur Peanuts. Diese 300 deutschen Fernsehfilme sind vom Sender bestellt worden, nicht etwa vom Publikum. Sie werden trotzdem angeschaut. Die Sende‐ plätze sind nun mal da, jede Woche, sie müssen wieder und wieder befüllt werden. Also läuft in bundesdeutschen Haushalten nebenbei und aus Gewohnheit Programm ab. Die fiktionalen Filme dieses Programms sind Filme mit übergeordnetem Zweck, der darin besteht, eine Branche am Leben und den Zuschauer besänftigt zu halten. Unter den amerikanischen TV-Movies gibt es herausragende Filme, man denke an Steven Spielbergs Debüt DUELL von 1971, THE DAY AFTER von Nicholas Meyer aus dem Jahre 1983 oder die erste Verfilmung von Stephen Kings Roman ES. Filme für ein Publikum, dem es egal sein kann, unter welchen Produktions- und Finanzierungsbedingungen sie hergestellt wurden. Natürlich gibt es auch beim deutschen TV-Film diese Perlen. Sogar unter oder vielleicht gerade wegen den starken inhaltlichen Formatierungsbedingungen der zahlreichen Krimireihen wie TATORT oder POLIREIRUF 110 gelingen einer Handvoll talentierter Filmemacher jenseits aller Routinen hier Filme, die in ihrer Narration herausragend sind, wie die TATORTE: WEIL SIE BÖSE SIND und IM SCHMERZ GEBOREN (Regie: Florian Schwarz, 2010 und 2014) und der POLIZEIRUF 110: DER ORT, VON DEM DIE WOLKEN KOMMEN (Regie: Florian Schwarz, 2019). Das Kreativduo aus Autor Michael Proehl und Regisseur Florian Schwarz hat sich mit Talent und Geschick die Freiheit erarbeitet, in dieser formatierten Welt erzählkonzeptionell Neuland zu betreten. Kann man machen. - Oder lassen. 281 <?page no="282"?> Sie lieferten nicht wie von den obersten Senderhierarchieebenen ge‐ fordert ein bisschen Krimi mit viel Zeitgeistverpackung, sondern - ohne, dass es sich direkt um Genrefilme handelt - jeweils einen Film‐ Film. Gewagte, gekonnte Stücke, die im Falle des ersten sogenannten „Meta-Tatorts“ IM SCHMERZ GEBOREN das Format total auseinan‐ dernehmen und auf wundervollste Weise zerstören. Eigentlich für immer. Es wäre für die ARD folgerichtig gewesen, die Reihe mit diesem Film zu beerdigen. Doch die in der deutschen Befindlichkeit anzutreffende sonderbare Mischung aus Treue und Bequemlichkeit verhindert leider solch konsequente Schritte. Werte und Wertschöpfung Da in Deutschland auf kreativer und wirtschaftlicher Seite meist dieselben Institutionen und Personen in der Filmförderung und in den Sendern hinter den Filmprojekten im Fernsehen wie im Kino stecken, lässt sich eben kein pauschaler Niveau- und Qualitätsunterschied zwischen Fernsehen und Kino feststellen. Ambitions- und Belanglo‐ sigkeit sind somit im deutschen Kino genauso häufig zu finden. Doch Produzent, Regisseur oder Drehbuchautor wird man nur, wenn man eine ausgesprochen ambitionierte und ehrgeizige Persönlichkeit hat. Ausnahmslos. Da ist also eine Herde von Rennpferden, die sich Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr für lockere Ausfahrten vor Kutschen spannen lässt. Verrückt. Die interessanten Ausnahmefilme findet man in den letzten Jahren eher im TV und erstaunlicherweise sogar eher dort, wo Redaktionen das Produzieren selbst in die Hand nehmen. Dies ist vor allem auf die Abwesenheit von wirtschaftlichem Risiko für den Produzenten zurückzuführen. Produzenten machen jeden Film, den sie finanziert bekommen, nicht etwa den Film, an den sie glauben. Öffentlich würden Produzenten das natürlich aufs Heftigste bestreiten. Doch 10. Filme mit übergeordnetem Zweck 282 <?page no="283"?> das Geschäftsmodell ist das Produzieren selbst, keine Wertschöpfung. Denn die ist im Mittel und strukturell negativ für den deutschen Film. Die Filme kosten in der Herstellung mehr, als sie am Ende wert sind. Die Rückführungsquoten der Filmförderungen sind seit Jahrzehnten ein unter den Teppich gekehrtes Debakel im einstelligen Prozentbe‐ reich. Ex post betrachtet ist Filmförderung eher eine Kompensation für das sichere Worst Case Szenario. Daher gibt es auch kein einzi‐ ges Filmfinanzierungswerkzeug durch Banken oder Fonds für den deutschen Film. Nicht eins, im ganzen Land. Der Schaden in Höhe von hunderten Millionen Euro Jahr für Jahr wird komplett auf den Steuerzahler abgewälzt, der - weil es ziemlich kompliziert ist - das nicht richtig mitkriegt und schweigt. Die Haltung “Filme sind nun mal unwirtschaftlich“ ist nicht etwa ein Naturgesetz, sondern reine Bequemlichkeit. Dies zu beweisen, sind unter anderem Netflix und Amazon angetreten. Doch die Realität für deutsche Produzenten sieht noch so aus, dass der Auswertungsmiss‐ erfolg die Regel ist, nicht die Ausnahme. Dass diese offensichtliche Tatsache niederschmetternd und nicht akzeptabel ist, wird in Deutsch‐ land von der gesamten Branche munter verdrängt und nach wie vor werden auf oftmals hocheffiziente Weise die falschen Filme und zu viele Filme gemacht. Solange dies geschieht, werden in Büchern wie diesem die Filmbeispiele für bemerkenswerte Narration überwiegend nichtdeutsche Filme sein. Fazit: ▸ Filme mit übergeordnetem Zweck sind Gebrauchsfilme, die jemand herstellt oder herstellen lässt, weil er damit einen Zweck verfolgt, der außerhalb der künstlerischen, hand‐ werklichen und narrativen Funktion des Filmwerks liegt. Kann man machen. - Oder lassen. 283 <?page no="284"?> ▸ Dieses Filme können alle Gestalten, Längen und Formate annehmen, im Fiktionalen Bereich können sie theoretisch auch in allen Genres zu finden sein. Doch in aller Regel handelt es sich dabei um die Genres Drama, Liebesfilm, Komödie und den „Themenfilm“, der meist im Gewand des ernsten Dramas oder des Krimis ein gesellschaftlich oder politisch als relevant angesehenes Thema bearbeitet. ▸ Propagandafilme sind per Definition Filme mit übergeordne‐ tem Zweck. Diese können, vor allem unter filmgeschichtli‐ cher Perspektive, weitere Genres bedienen, wie den Kriegs‐ film, den Actionfilm und den Katastrophenfilm. ▸ Das Erzählkonzept Film mit übergeordnetem Zweck muss in der Stoffentwicklung mit anderen Erzählkonzepten kombi‐ niert werden, um überhaupt als Konzept in Erscheinung zu treten und damit in Relation zu Plot und Dramaturgie zu treten. Es handelt sich dennoch um ein Erzählkonzept, da die erzählerische Substanz zum Teil in dem übergeordneten Zweck steckt. ▸ Es gibt keine dem Erzählkonzept direkt zuweisbaren Stoff‐ ideen. Aus jedem Stoff und jeder Idee können sowohl Filme mit und ohne übergeordneten Zweck entstehen. ▸ keine Filme in der Top-250-Liste bei imdb.com. 10. Filme mit übergeordnetem Zweck 284 <?page no="285"?> 11. Synthetische Narration Los hier ist Hölle zur was? - Oh! „Regeln zu brechen ist nicht interessant. Neue Regeln zu erfinden, das macht die Sache aufregend.“ Christopher Nolan Zu Anfang muss ich meine Verwunderung darüber ausdrücken, dass der Begriff Synthetische Narration unter den Narratologen nicht längst Verwendung findet. Es gibt auch keinen anderen Sammelbegriff für das, was wir in diesem Kapitel untersuchen wollen. Dabei werden die hier beschriebenen Phänomene des Erzählens von vielen Wissen‐ schaftlern und vielen Dramaturgen, Storydoktoren und Drehbuchgu‐ rus mal mehr mal weniger umfassend identifiziert und analysiert. Es steht hier nicht zum ersten Mal, doch zum ersten Mal bekommt das Kind einen Namen. Es ist ein Erzählkonzept. Sein Name ist Synthetische Narration. Natürlich versus Synthetisch Wir fragen mal wieder Menschen auf der Straße. „Was ist das Gegenteil von Synthetisch? “ Die Antwort wird in den allermeisten Fällen sein: „Natürlich, naturbelassen“. Mancher wird auch etwas unpräziser „Gewachsen“ oder „Echt“ sagen. Sie alle haben im Grunde recht. Wenn Jemand dabei ist, der „Analytisch“ sagt, wow, dann haben Sie ein besonders schlaues Kerlchen vor sich, das schon mal Kant <?page no="286"?> oder zumindest etwas über Kant gelesen hat. Tatsächlich ist in der Philosophie das Begriffspaar Synthetisch/ Analytisch entscheidend, um Sätze kategorial unterscheiden zu können. Ein analytischer Satz enthält eine Aussage, deren Wahrheitsgehalt aus sich selbst heraus feststellbar ist. „Alle Junggesellen sind unverheiratet.“ Das stimmt. Der Begriff Junggeselle wird durch die Aussage des Satzes definiert. Wenn einer der Junggesellen doch verheiratet ist, ist er kein Junggeselle mehr. Der Satz ist immer noch richtig. Banal? Ja. Die analytischen Sätze sind die uninteressanten, können wir hier flapsig festhalten. Synthetische Sätze hingegen machen Aussagen, die man erst mal prüfen und verifizieren muss. „Alle Raben sind schwarz.“ Das stimmt zunächst nach unserer Anschauung. Es kann aber auch irgendwo auf der Welt einen Raben geben, der weiß ist. Dieses Tier ist immer noch ein Rabe. Doch der Satz ist dann falsch, er macht - wenn wir der Wahrheit verpflichtet bleiben wollen - Korrekturen, Einschränkungen, Erklärungen notwendig. Hier wird es interessant, allerdings nur für Philosophen, die sich mit Erkenntnis‐ theorie befassen. In diesem Buch betrachten und verwenden wir das Wort „synthetisch“ im alltäglichen und damit im eher naturwissenschaftlichen Sprachge‐ brauch, im Sinne von künstlich, im Sinne von nicht-natürlich. Da hat also einer was zusammengeschraubt. Dr. Frankenstein baut seinen synthetischen Menschen. Im meist popkulturellen Kontext wird das englische Verb „to frankenstein“ benutzt, wenn aus scheinbar nicht zusammenpassenden Teilen eine Collage gebastelt wird, sei es Bild, Ton, Text. Die Filme, denen Synthetische Narration zugrunde liegt, sind somit Geschöpfe, die keine Geburt, gefolgt von Kindheit und Pubertät erleben. Sie sind Homunkuli, die von wahnsinnigen, getriebenen, 11. Synthetische Narration 286 <?page no="287"?> experimentierfreudigen Alchemisten, Wissenschaftlern, Pionieren in der Gestalt von Autoren und Regisseuren ersonnen und geschaffen werden. In den 90er Jahren gab es den Ausdruck Rubber Reality für Filme, deren Realität gezogen und verformt werden kann wie Gummi. Filmen wie MATRIX , DARK CITY , FIGHT CLUB und eXistenZ wollte man mit diesem Begriff irgendwie beikommen. Heute wird für Filme, die die Synapsen des Zuschauers zum Glühen bringen, von Mindfuck gesprochen. Beides trifft. Bei Mindfuck-Filmen findet man die Plausi‐ bilisierung und die Synthetische Narration, oft in Kombination. Natürliche Narration Erinnern wir uns an den Anfang des Buches, als es um das Erzählen ganz allgemein ging, und die kleine, harmlose Anekdote des Mannes, der nach seinem Arbeitstag nach Hause kommt und seiner Frau erzählt, was er erlebt hat: …Ein Kollege steht im Büro eines weiteren Kollegen und lästert über den gemeinsamen Chef. Schimpfworte, Beschwerden, Häme, alles dabei. Der Chef steht plötzlich in der Tür. Ups. Hat er etwa alles mitbekommen? … Obwohl wir festgestellt haben, dass der Mann beim Erzählen Drama‐ turgieskills benutzt - nur dadurch wird das, was er macht, Erzählen - erzählt er natürlich. Er erzählt linear und chronologisch. Je nachdem, wann er von dem Chef in der Tür erzählt, haben wir es entweder mit Surprise (wir erfahren von der Anwesenheit des Chefs nach der Lästerei) oder Suspense (wir wissen von der Anwesenheit des Chefs bereits vor der Lästerei) zu tun. Mystery als dritte Art der Spannungserzeugung funktioniert in dieser Situation und dieser Kürze nicht. Los hier ist Hölle zur was? - Oh! 287 <?page no="288"?> Ob das Erzählte hier spannend, witzig oder eher traurig ist, sei dahin‐ gestellt, es ist in jedem Fall natürlich. Auch ein Plotpoint, der uns im Nachhinein eine Information gibt (Chef steht in der Tür), die bereits vorher passiert ist und für die Geschichte ungemein relevant sein mag, ändert nichts an der natürlichen Narration. Plotpoints, auch die in der Plausibilisierung so wichtigen Twists, sind ein normaler Wesenszug aller Narration, auch der natürlichen, die den Großteil aller Geschichten ausmacht. Der Mann, der seiner Frau diese Anekdote von seinem Arbeitstag erzählt, hat nicht extra ein Konzept ersonnen, um seine Story loszuwerden, er erzählt frei, so wie es sich in seiner Erinnerung heute zugetragen hat. Wir wissen längst, was Narration ist, jetzt wissen wir auch, was „Synthetisch“ bedeutet. Doch warum ist Synthetische Narration ein Erzählkonzept, was macht das Erzählkonzept aus? Synthetische Narration unterscheidet sich von allen anderen Er‐ zählkonzepten durch ihren nicht-natürlichen Charakter. Inner‐ halb eines selbst auferlegten Regelwerks entsteht dieser Charakter durch einen freien Umgang mit den Parametern Zeit und Perspek‐ tive. Bei der Synthetischen Narration wird nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern es wird auch immer - offen oder versteckt - über das Erzählen selbst erzählt. Es entsteht so die eigentliche Wahrnehmungsebene, die auf die abstrakte Situation zwischen Er‐ zähler, erzähltem Gegenstand und Zuschauer abzielt. Es entsteht eine besondere Form der Reflexivität. 11. Synthetische Narration 288 <?page no="289"?> Spielarten Es gibt eine Reihe recht unterschiedlicher Methoden und Mechaniken, die konstitutiv für diese Art der Narration sind und in einer beson‐ deren - oft als verschachtelt wahrgenommenen - dramaturgischen Struktur Ausdruck finden. Die Selbstbezüglichkeit (Reflexivität) der Synthetischen Narration wird oft sogar im Titel angedeutet: DIE UNENDLICHE GESCHICHTE , IRREVERSIBLE , TENET , PULP FICTION , STRANGER THAN FIC‐ TION , THE PRESTIGE 1. Hyperlink Struktur Ein Ereignis oder ein Motiv verbindet verschiedene Ebenen, Handlungs‐ stränge und Figuren. Ergebnis ist meist ein Ensemblefilm oder ein Episo‐ denfilm. Beispiele: MAGNOLIA , BABEL , CRASH , CLOUD ATLAS , MYSTERY TRAIN 2. Multiple Zeitlinien Mehrere Sequenzen oder Akte mit jeweils chronologischer Handlung, die sich zeitlich überlappen können, werden nebeneinander und in‐ einander montiert. Beispiele: INTOLERANZ , CLOUD ATLAS , DER PATE II , THE FOUNTAIN 3. Umgekehrte Chronologie Alle Sequenzen oder Akte eines chronologischen Handlungsablaufs werden in umgekehrter Reihenfolge montiert. Beispiele: MEMENTO , IRREVERSIBLE 4. Nonlineare Struktur Diese Spielart ist tatsächlich eine Kombination der Hyperlink Struktur, der Multiplen Zeitlinien und der (teilweisen) Umgekehrten Chronolo‐ Los hier ist Hölle zur was? - Oh! 289 <?page no="290"?> gie. In PULP FICTION (Regie: Quentin Tarantino, 1994) werden die einzelnen Episoden durch Titeleinblendungen getrennt, in DUNKIRK (Regie: Christopher Nolan, 2017) wird sogar noch zusätzlich der Zeit‐ rahmen der drei Episoden angegeben: an Land eine Woche, auf See ein Tag, in der Luft eine Stunde. Das Konzept wird vor dem Zuschauer offen ausgebreitet. 5. Perspektivwechsel mit Dopplung der Zeit Die Filmhandlung wird ganz oder teilweise wiederholt mit anderer Erzähl- und Wahrnehmungsperspektive. Auch hier tritt das Konzept offen zutage, meist mit Titeleinblendungen. Beispiele: RASHOMON , THE AFFAIR , TENET 6. Perspektivwechsel ohne Dopplung der Zeit Die Chronologie der Handlung wird nicht unterbrochen, doch ein bewusster Wechsel der etablierten Erzähl- und Identifikationsperspek‐ tive führt zu einer kalkulierten Irritation und kann zu neuer Identi‐ fikation mit einer neuen Hauptfigur führen. Beispiele: DIE VERUR‐ TEILTEN , THE PRESTIGE , NO COUNTRY FOR OLD MEN , THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI , SUCKER PUNCH 7. Der unzuverlässige/ unsichere Erzähler Ereignisse der Filmhandlung oder Figuren stellen sich als falsch oder nicht existierend heraus. Der in der Filmhandlung selber agierende Erzähler hat dabei bewusst oder unbewusst eine Täuschung provoziert. Beispiele: FIGHT CLUB , A BEAUTIFUL MIND , ABBITTE , A TALE OF TWO SISTERS , DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN 11. Synthetische Narration 290 <?page no="291"?> 8. Metafiktion Figuren der Handlung erkennen in dieser Art Synthetischer Narra‐ tion, dass sie Teil einer Geschichte sind, die erzählt wird. Das muss nicht immer für alle Figuren gleichzeitig geschehen. Wie in den drei verschiedenen Mechaniken der Spannungserzeugung (Suspense, Surprise, Mystery) kann das Wissen um die Meta-Beschaffenheit der Filmwelt ungleich zwischen den einzelnen Figuren und dem Zuschauer verteilt sein. Beispiele: MATRIX , DIE UNENDLICHE GESCHICHTE , STRANGER THAN FICTION , VERGISS MEIN NICHT , THE PUR‐ PLE ROSE OF CAIRO , SUCKER PUNCH , SCHNEEFLÖCKCHEN Eine besondere Form der Metafiktion entsteht durch das sogenannte Durchbrechen der vierten Wand. Der Ausdruck hat seinen Ursprung im Theater, wo die Bühne von drei Seiten eingerahmt ist und die vierte - fiktive - Wand zwischen Bühne und Publikum steht. Dreht sich ein Schauspieler zum Publikum und spricht es an, durchbricht er die vierte Wand. Dieses Stilmittel wird auch im Film verwendet und ist natürlich ganz und gar synthetisch. Dennoch macht es die Geschichte eines Films nicht automatisch zu Synthetischer Narration. Es kommt auf die Quantität an. Beispiele: HOUSE OF CARDS , FUNNY GAMES , DEADPOOL 9. Zirkuläre Struktur Das Motiv der Zeitreise in die Vergangenheit erschafft die Zirkuläre Struktur unmittelbar. Dabei entstehen physikalische Paradoxien, die immer unlogisch und inkonsistent bleiben. Mit diesen Paradoxien kann auf unterschiedliche Weise erzählerisch umgegangen werden: Los hier ist Hölle zur was? - Oh! 291 <?page no="292"?> 1. Paradoxien zu Plotpoints und zum Plot selbst machen, wie in PRIMER (Regie: Shane Carruth, 2004) oder INTERSTELLAR (Regie Christopher Nolan, 2014) was ungemein komplizierte und oft sperrige Handlung zur Folge haben kann. 2. Paradoxien durch Erzählung verstecken (Beispiele: TENET , BACK TO THE FUTURE , DIE TÜR , DARK , AVENGERS: END‐ GAME ). 3. Paradoxien in der Erzählung ignorieren (Beispiele: TERMINA‐ TOR , LOOPER , 12 MONKEYS , DIE ZEITMASCHINE ). Alle drei Möglichkeiten sind narrativ sehr herausfordernd, keine ist pauschal als weniger anspruchsvoll zu werten. Doch erfordern sie mit abnehmender Reihenfolge immer weniger die Bereitschaft, sich mit den physikalischen Implikationen von Zeit, Raum und Entropie auseinanderzusetzen. Gleichzeitig spielt Synthetische Narration immer weniger eine Rolle. In TERMINATOR und DIE ZEITMASCHINE wird von Zeitreisen auch in die Vergangenheit erzählt, ohne dass sich die Autoren mit Synthetischer Narration rumschlagen mussten. Die Zeitschleife ist eine Variante der zirkulären Struktur. Der besondere erzählerische Reiz hat eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Filme in unterschiedlichen Genres hervorgebracht, die alle ganz und gar zum Erzählkonzept der Synthetischen Narration gehören. Beispiele: UND TÄGLICH GRÜẞT DAS MURMELTIER , TATORT: MUROT UND DAS MURMELTIER , EDGE OF TOMORROW ARRIVAL (Regie: Dennis Villeneuve, 2016) darf an diese Stelle nicht unerwähnt bleiben, gerade weil es in diesem Film nicht um Zeitreisen in die Vergangenheit geht. Der Film bietet uns Analysten des Erzählens eine einzigartige Sicht und einen einzigartigen Zugang zum Thema „Zirkuläre Struktur“. Nicht nur wird das eigentlich sehr unfilmische 11. Synthetische Narration 292 <?page no="293"?> Motiv des mühsamen Erlernens einer zirkulären(! ) Fremdsprache vi‐ suell beeindruckend und konsumierbar für ein Mainstreampublikum dargeboten, sondern es wird das bekannte, etablierte und geschätzte Erzähl-Vehikel des Flashbacks auf den Kopf gestellt: Die Flashbacks der Hauptfigur, in denen sie ihr krankes Kind pflegt und später dessen Tod beweint, sind gar keine. Es sind Flashforwards, merken wir gemeinsam am Ende. Die „Bürde der Seherin“, die „Bürde des Orakels“, das die Zukunft kennt und daran leidet, wird in Person der Hauptfigur erfahrbar gemacht für den Zuschauer. Das, und nicht das Verhindern des militärischen Konflikts, ist der Höhepunkt des Films. Es handelt sich nicht um ein Gimmick oder gar Betrug am Zuschauer, es handelt sich um eine neue und wahrscheinlich nicht wiederholbare Technik der Synthetischen Narration. 10. Zeitdehnung/ Zeitraffung Zeitdehnung und Zeitraffung sind in der Literatur seit Anbeginn des Erzählens und des Schreibens essenziell. Eine Sekunde füllt hun‐ dert Seiten, Hundert Jahre vergehen in einem Satz. In James Joyce Roman „Ulysses“ wird ein einziger Tag auf 1000 Seiten beschrieben, Sekunden im Leben der Hauptfigur Leopold Bloom erstrecken sich über zig Seiten. In der berühmten Kalendergeschichte „Unverhofftes Wiedersehen“ von Johann Peter Hebel wird ein halbes Jahrhundert Menschheitsgeschichte in 10 Zeilen durchflogen. Das ist keine Ellipse, das ist Zeitraffung. Sten Nadolnys Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ vollbringt ebenso das Kunstwerk der narrativen Implementierung unterschied‐ licher Tempi der Zeit, indem er einen Charakter schafft, der aus physiologischen Gründen langsamer ist, als die Welt um ihn herum. Dieser gefährliche Nachteil wird dem Polarforscher John Franklin zum Los hier ist Hölle zur was? - Oh! 293 <?page no="294"?> Vorteil, wenn es darum geht, lange Zeit im Packeis auszuharren. Eine erzählerische Jahrhundertidee. Beim Film sind Zeitlupen und Zeitraffer gängige visuelle Stilmittel, eine Frage der Kameratechnik. Doch bei Zeitdehnung und -raffung in der filmischen Narration geht es um etwas Anderes. Für die narrative Zeitraffung braucht man eine technologische Speku‐ lation, die die Relativität der Zeit durch eine Reise in die Zukunft erfahrbar macht, eine Zeitmaschine, meist ein Raumschiff (Beispiele: INTERSTELLAR , PLANET DER AFFEN ). Eine andere Möglichkeit ist die zeitliche Makroperspektive (soge‐ nannte „Big History“ wie sie von den Historikern Juval Noah Harari oder David Christian betrieben wird). Dabei blicken wir aus großer Distanz auf „Geschehnisse“. Von Film-“Handlung“, also Ereignissen, die auf das Handeln von Charakteren zurückzuführen sind, kann man hier nur eingeschränkt bzw. nur in einzelnen Akten sprechen (Beispiele: 2001: SPACE ODYSSEY , TREE OF LIFE ). Das einzige Beispiel, dass Zeitraffung erzählkonzeptionell voll aus‐ schöpft, ist der Animationskurzfilm DAS RAD (Regie: Arvid Uibel, Chris Stenner, Heidi Wittlinger, 2001) Hier wird die Geschichte von zwei Steinwesen erzählt, die miteinander interagieren, sprechen, sich bewegen. Das wird allerdings erst dann sichtbar und hörbar, wenn die Zeit extrem beschleunigt wird. Diese Beschleunigung wird akustisch und visuell dargestellt, Idee und Konzept treten offen zutage. Erst rast die Sonne um die Erde, heller Tag und dunkle Nacht wechseln wie in einem Shuttereffekt. Nach weiterer Beschleunigung stellt sich ein homogener Dauerzustand des Dahinrasens der Jahre, Jahrhunderte und Jahrtausende ein. Die Steine „erwachen“ zum Leben. DAS RAD ist eine Big History Reflexion, bevor Big History in der öffentlichen 11. Synthetische Narration 294 <?page no="295"?> Wahrnehmung überhaupt existierte, und er ist ein kleiner, erzähleri‐ scher Geniestreich. Für die Zeitdehnung gibt es nur ein einziges Beispiel: INCEPTION (Regie Christopher Nolan, 2010). Die zwar wissenschaftlich widerlegte aber subjektiv empfundene Spekulation über die gedehnte Traumzeit gebiert hier eine unnachahmliche Narration ohne Vorbilder und Refe‐ renzen. Eine genuine Filmerzählung. Die X-Men Superheldenfigur Quicksilver und die DC Superheldenfigur The Flash befinden sich durch das immens hohe Tempo ihrer Aktionen zwar immer wieder in ihrer eigenen gedehnten „Zeitwelt“, was visuell spektakulär ist, aber erzählerisch wurde das in keiner der Filmreihen bisher genutzt. Auch die Zeitlupendroge in DREDD (Regie: Pete Travis, 2012) ist zwar ein wichtiges Element des Plots und des visuellen Kon‐ zepts, erzählkonzeptionell hat sie auf den Film aber keinen Einfluss. DREDD ist kein bisschen synthetisch, sondern ein Paradebeispiel für die Hermetische Welt. Die gespaltene Persönlichkeit der Synthetischen Narration Ein Wesenszug der Synthetischen Narration ist eine deutlich zu Tage tretende Spaltung. Diese Spaltung ist immer identifizierbar in allen Geschichten. Doch nur in der Synthetischen Narration tritt sie in den konzeptionellen Vordergrund und wird zur erzählerischen Substanz. ▸ Fabel und Sujet ▸ Story und Plot ▸ histoire und discours ▸ linear narrative und nonlinear narrative Es gibt keine hundertprozentigen Synonyme. Daher bezeichnen diese Begriffspaare, die in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Los hier ist Hölle zur was? - Oh! 295 <?page no="296"?> Geschichten verwendet werden, auch nicht genau dasselbe Phänomen, aber sie alle kreisen um diese beiden Ebenen der Narration, die in der Synthetischen Narration bewusst und für das Publikum wahrnehmbar auseinanderdriften. Fabel, Story, histoire ist dabei die lineare, chronologische, kausal verknüpfte Kette aus Ereignissen und handelnden Figuren. Sujet, Plot, discours ist die nonlineare Präsentation der Ereignisse im zeitlichen Verlauf der Erzählung, also ihre Auswahl und Anordnung. Die Fabel, Story, histoire wird verfremdet zu Sujet, Plot, discours. Wenn man die gesamten Handlungsbögen mit Anfang, Mitte und Ende von natürlicher Narration betrachtet, kann es zwar Flashbacks, Flash‐ forewards, Ellipsen, Perspektivwechsel und Rahmenhandlungen ge‐ ben, aber der Storykern bleibt eine chronologisch erzählte Geschichte. Einen Film, der auf natürlicher Narration basiert, können Sie, nachdem Sie ihn gesehen haben, einer anderen Person nacherzählen. Und zwar so, dass wenn Sie es auf gute Art und Weise tun, also die Plotpoints richtig platzieren und nichts Wesentliches vergessen, diese andere Person ein nahezu ähnliches Rezeptionsvergnügen haben kann, wie Sie im Kino oder am Bildschirm zuvor. Bei Synthetischer Narration geht das nicht. Konzeptfilme Vielleicht haben Sie sich gewundert, dass in den Beispielen für die Synthetische Narration einer der größten Filmemacher bisher keine Erwähnung fand: David Lynch. Haben Sie? Hier kommt die Begrün‐ dung. Es handelt sich bei dem, was ich hier schlicht und ergreifend Konzeptfilm nennen will, nicht einfach um eine weitere Spielart der Synthetischen Narration. 11. Synthetische Narration 296 <?page no="297"?> Konzeptfilme sind auch kein 12. Erzählkonzept. Sie haben in den meisten Fällen einen stark synthetischen Charakter, daher stehen sie in diesem Kapitel an der richtigen Stelle. 2001: SPACE ODYSSEY , NOCTURNAL ANIMALS , KOMM UND SIEH’ , GRAND BUDAPEST HOTEL , KILL BILL , PERSONA , TREE OF LIFE , MOTHER! , NOTHING . Diese Filme sind Konzeptfilme. Dazu kommen die meisten Filme von Lars von Trier, fast alle von David Lynch. Und viele weitere. Diese Filme und die Menschen, die sie gemacht haben, verwehren sich unserer Analyse, ganz entkommen können sie uns nicht. Auch der erste Found Footage Film BLAIR WITCH PROJECT , über den wir im Kapitel der Plausibilisierung ausführlicher sprachen, war zu seiner Entstehung ein Konzeptfilm. Doch dieses Konzept hat viele Nachahmer gefunden. Wäre er der einzige geblieben, stünde er in der Reihe der Konzeptfilme oben. So hat er über die Bedeutung des einzelnen Werks hinausgehende Wirkung entfaltet: einen neuen Weg, filmisch zu erzählen. Einen Weg, den man wählen kann, ohne ihn erst mit der Machete in den Dschungel hauen zu müssen. Das haben Daniel Myrick und Eduardo Sanchez für uns getan im Jahre 1999. Nicht jeder Weg, der in den Dschungel gehauen wurde, wird weiter beschritten. Manche sind zu dunkel, zu gruselig, zu verschlungen. Sie wuchern wieder zu, die Filme bleiben. Diesen Filmen ist in ihrer Narration gemein, dass sie einen einzigar‐ tigen (das hat man natürlich im Nachhinein nicht unter Kontrolle, siehe Found Footage), ungewöhnlichen Weg gehen, ihre Geschichte zu erzählen. Es gibt hier natürlich einen fließenden Übergang zum Experimentalfilm. Zu Filmen, die rein assoziativ sein wollen und meist Los hier ist Hölle zur was? - Oh! 297 <?page no="298"?> auch sind. Filme, wie zum Beispiel die von Matthew Barney mit seinem Cremaster Zyklus. David Lynchs Filme, denen man natürlich Gewalt antut, wenn man sie wie hier in einem kurzen Satz analysieren will, bieten ganz viel Narration. Sie erzählen Geschichten mit Wendungen, Plotpoints, Ak‐ ten, Charakterentwicklungen, Twists und Spannung. Aber die meisten von ihnen entbehren einer logischen Konsistenz. Ihre Konsistenz ist assoziativ, surreal und streng konzipiert. Es sind Konzeptfilme, Filme in denen uns einer zeigt, dass der Dschungel, so dicht er auch scheint, nicht aus Bäumen, sondern aus Wegen besteht. Christopher Nolan Ich will mich hier nicht verbeugen, aber auch nicht um den heißen Brei herumreden. Ich verehre Christoper Nolan und halte ihn für den größten lebenden Filmemacher. Und dass, obwohl er mir ganz viel von dem, was ich bei Filmen gut und wichtig finde, nicht geben will. Von Explosionen abgesehen interessiert er sich nicht für das Exploitative. Er interessiert sich für Gesichter, aber nicht für Körper. Er interessiert sich nicht für die Schönheit der Natur. Er erzählt keine Liebesgeschichten. Die Emotionen seiner Figuren haben ausschließlich einen narrativen Kontext. Ich mag seine spezielle Art von Film-Action nicht. Er ist nicht wie andere Genies Rebell oder Revoluzzer, nicht mal als Attitüde. Kein AC/ DC, dafür Streichquartett. Er ist in seinen Filmen ein moralischer Spießer, ein Streber und ein Nerd. Er ist der Michael Schumacher unter den Regisseuren. Dennoch ist er mit Bild, Dialog, Musik und Plot der größte von all den Zauberkünstlern auf der Bühne. Seine Geschichten sind ernst und erwachsen und immer - auch seine als Spielereien abgetanen Stoffe wie THE PRESTIGE , die Batman Filme, INCEPTION und jüngst 11. Synthetische Narration 298 <?page no="299"?> TENET - thematisch vielschichtig und bedeutsam. Nolan ist mehr Denker als Künstler oder gar Entertainer. Vor allem in Kombination mit seinem nicht minderbegabten Bruder Jo‐ nathan bringt er in der Kreation von Narration im Film Dinge zustande, die kein anderer zustande bringen kann. Und das seit 20 Jahren, mit sehr unterschiedlichen Filmen und Stoffen, die alle überraschend und neu sind, und dennoch eine ganz klare Handschrift erkennen lassen. TENET (2020) besitzt ein einzigartiges Gesamtkonzept, das mehrere Spielarten der Synthetischen Narration inkludiert. Da ist der Perspek‐ tivwechsel mit Dopplung der Zeit, die Zirkuläre Struktur und die Zeitdehnung (die Agenten im Film können die Zeit vorwärts und rück‐ wärts durchschreiten und sie somit mehrmals nutzen, also „dehnen“). Die Zeitinversion ist - auch wenn aus Marketinggründen anderes verlautbart wurde - eine neue Variante von der Zeitreise in die Vergangenheit, inklusive all der damit einhergehenden Paradoxien und Unauflösbarkeiten der Handlung. Man bekommt das am Ende nie konsistent, kein Deckel passt, es geht nicht. Das weiß Nolan natürlich am allerbesten, daher hat er seinem Film auch eine Gebrauchsanwei‐ sung mitgegeben: Fühlen, nicht verstehen. TENET ist der einzige Film von Nolan bislang, der am Ende mehr Fragen aufwirft, als er im Laufe seiner Handlung beantwortet. Auch das muss kein Makel sein. In Nolans Filmen stürzt ein Mann in ein Schwarzes Loch und landet hinter dem Bücherregal seiner Tochter. In Nolans Filmen ist eine Frau, ohne es zu merken, mit zwei Männern verheiratet. In Nolans Filmen sprechen Menschen rückwärts. Und all das ist nicht lächerlich! Das ist ein eindeutiges Indiz für seine umfassende narrative Kompetenz. Der Hochspringer Christopher Nolan ist längst der Letzte im Stadion. Und er legt die Latte höher und höher. Los hier ist Hölle zur was? - Oh! 299 <?page no="300"?> Der beste Film aller Zeiten „Spannung, Spiel und Schokolade? Gleich drei Wünsche auf einmal? Das geht nun wirklich nicht! “ Falls Sie alt genug sind, wissen Sie, was ich hier zitiere. Falls nicht: Es waren legendäre Werbespots für Kinderüberraschungseier aus den 90er Jahren. Auch DIE VERURTEILTEN - THE SHAWSHANK REDEMPTION (Regie/ Drehbuch: Frank Darabont, 1994) nach einer Novelle von Ste‐ phen King schafft eine dreifache Befriedigung. Laut imdb.com handelt es sich seit 2008 um den besten Film aller Zeiten. Das ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und erfreulich. Der Film war bei Erscheinen weder besonders beliebt beim Publikum noch bei den Kritikern. Aber die kreative Höchstleitung des filmischen Erzählens wirkte über die Jahre auch ohne Marketing und Hype unverdrossen und eroberte Stück für Stück die Herzen und Hirne der Zuschauer. Andy Dufresne (Tim Robbins) wird unschuldig zu lebenslanger Haft verurteilt und landet in den 40er Jahren im berüchtigten Shawshank Gefängnis, wo er sich mit dem von Morgan Freeman gespielten Red anfreundet. Nach Jahren des Leids und der Prügel durch korrupte Wärter und Mitgefangene kann Andy sich durch Geschick, Intelligenz und Mut in eine Position bringen, in der er gewisse Privilegien genießt. Doch dafür muss er als ehemaliger Banker für eine Clique von Wär‐ tern und vor allem für den skrupellosen Direktor Norton allerhand schmutzige Steuer- und Bankangelegenheiten bearbeiten. Als zufällig ein Entlastungszeuge für Andys Unschuld auftaucht und Norton diesen ermorden lässt, damit sein Regime und seine Geschäfte weiterlaufen können, setzt Andy einen lange Jahre vorbereiteten, spektakulären Fluchtplan in die Tat um. 11. Synthetische Narration 300 <?page no="301"?> DIE VERURTEILTEN schafft die dreifache Befriedigung für seine Hauptfigur Andy Dufresne. Er vollbringt den unmöglichen Ausbruch aus dem Gefängnis, er bekommt seine Rache an den Bösewichtern und er geht auch noch mit einem stattlichen Vermögen in sein neues Leben in Freiheit. Wir erleben hier also eine Gefängnisausbruchsgeschichte, eine Rachegeschichte und einen Heist, einen Clou, einen Trick. „Ok.“ sagen Sie sich. „Das ist eine schöne, dichte, emotionale, span‐ nende, dramaturgisch perfekt gebaute Story mit einem Happy End, aber warum steht der Film hier im Kapitel über Synthetische Narra‐ tion? “ Perspektivwechsel (ohne Dopplung der Zeit) ist zusammen mit der Hyperlink Struktur die am natürlichsten erscheinende Synthetische Narration. Und daher ist sie - trotz vergleichsweise einfacher Mecha‐ nik - vielleicht die Spielart, die am ehesten erklärungsbedürftig für die Synthetische Narration ist. Der Perspektivwechsel ist ja nicht nur Effekt und Wirkung. Er drückt eine bestimmte Haltung als Zielpunkt allen Erzählens aus, die trivial erscheint, es aber mitnichten ist: Jede Figur ist Hauptfigur ihrer Geschichte. Diesen Gedanken wirklich zu verstehen, kann nicht nur tolle Narration hervorbringen, sondern auch die aller Erkenntnis im Wege stehende Egozentrik dieses unvollkommenen Wesens, das wir Menschen sind, erschüttern. Der berühmte Twist in DIE VERURTEILTEN wird unglaubliche 10 Minuten lang gedehnt und ausgekostet. Der gesamte Film ist ohne Zweifel in vielen Disziplinen herausragend: Inszenierung, Schauspiel, Kamera, Musik, all das hat ihm auch sieben Oscarnominierungen eingebracht. Ob DIE VERURTEILTEN wirklich der beste Film aller Zeiten ist, entscheide jeder für sich. Doch sicher ist, dass diese 10 Mi‐ Los hier ist Hölle zur was? - Oh! 301 <?page no="302"?> nuten die kurzweiligsten, dichtesten und kunstfertigsten 10 Minuten Filmnarration der gesamten über 120jährigen Filmgeschichte sind. Denn die drei Geschichten - der Gefängnisausbruch, die Rache und der Geldtrick - all das passiert ohne Hektik und Schnittgewitter in diesen 10 Minuten. Der Rest des Films, also die ersten 110 Minuten und die letzten 15 Minuten, sind ein langsam und intensiv erzähltes Drama um Gewalt und Ohnmacht, Freundschaft und Hoffnung, und die Schicksale von Männern in diesem besonderen Mikrokosmos Gefängnis. Außerhalb dieser Sequenz geht es nicht um Flucht, nicht um Rache und auch nicht um einen Geldklau (denn das ist es, auch wenn es ergaunertes Geld vom bösen Direktor ist, und es Andy moralisch zusteht). Diese Montagesequenz besteht zum größten Teil aus Rückblenden. In denen sehen wir, wie Andy den Ausbruch vorbereitet und durchführt, und wie er in einer Bank Geld abhebt und davongeht. Sie endet mit der Verhaftung des brutalen Aufsehers Hadley und dem Selbstmord des Gefängnisdirektors Norton, der sich in den Kopf schießt. Diese Sequenz ist ein Scharnier zwischen Andys Geschichte und Reds Geschichte. Sie macht den synthetischen Charakter des Films aus. Der letzte Akt ist Reds Geschichte, das Scharnier ist ein Perspektiv‐ wechsel. Zwar ist Red von Anfang bis Ende des Films der Erzähler mit einer Menge Text als Voice Over, aber Andy ist im ersten Teil die klare Hauptfigur, seine Geschichte wird erzählt. Wenn er zur Überraschung aller eines Morgens fehlt, seine Zelle leer ist, weil er durch einen Tunnel geflohen ist, ist seine lineare Geschichte aus. Es folgt die Montagesequenz und der letzte kurze Akt, in dem Red nach 40 Jahren Haft auf Bewährung entlassen wird und sich nach langem Zaudern auf den Weg zu Andy nach Mexico macht. Dieser Akt ist wiederum ein wunderbar ausgedehntes, poetisches Happy End. 11. Synthetische Narration 302 <?page no="303"?> Multiperspektivisches Erzählen ist nicht außergewöhnlich, in Serien wird es fast immer praktiziert, doch ein einmaliger Wechsel in der Erzählperspektive, der mit dem Wechsel der Hauptfigur einhergeht, das ist selten und synthetisch. Auch klassische Kinofilme wie THE KILLING FIELDS - SCHREIENDES LAND (Regie: Roland Joffé, 1984), NO COUNTRY FOR OLD MEN (Regie: Ethan und Joel Coen, 2007) und THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI (Regie: Martin McDonagh, 2017) wagen diesen krassen Schritt im Laufe der Handlung. Der Perspektiv- und Hauptfigurenwechsel in DIE VERURTEILTEN in Verbindung mit der Montagesequenz ist aber so wirkmächtig und konzeptionell bestimmend, dass man die Synthetische Narration sogar als dominierendes Erzählkonzept zu Grunde legen kann. In THE KILLING FIELDS dominiert der Historische Film, in NO COUNTRY FOR OLD MEN und THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI die Was-Wäre-Wenn-Prämisse mit jeweils einer großen Prise Gewusst-Wie-Geschichte. Jede Figur ist Hauptfigur ihrer Geschichte. Gier ist eine Form der Selbstsucht. Nortons Gier nach Macht und Geld war so groß, dass seine Selbstsucht ihm den Blick auf die Geschichten der Menschen um ihn herum versperrte. Andy sagt das Norton sogar einmal ins Gesicht: „Wie kann man nur so borniert sein? “ Er muss das mit vielen Wochen Einzelhaft bezahlen. Norton ist ein Bösewicht, wie er im Buche steht, der perfekte Bösewicht dieser Geschichte, und damit Andy Dufresnes Antagonist. Weil er nicht sehen wollte, dass Andy die Hauptfigur seiner eigenen Geschichte ist. Er hielt sich selbst für die Hauptfigur. Doch die Geschichte, in der Norton die Hauptfigur ist, erzählt vielleicht mal ein anderer Film. Los hier ist Hölle zur was? - Oh! 303 <?page no="304"?> Am Ende dieser Laudatio muss ich noch einen wichtigen Gedanken bei Ihnen einwerfen. DIE VERURTEILTEN , der beste Film aller Zei‐ ten nach Meinung der Mehrheit aller Filmenthusiasten auf dieser Welt, ist einer dieser Filme, deren Figurenensemble ausschließlich aus Männern besteht. Und davon gibt es gar nicht so wenige: MAS‐ TER AND COMMANDER , DAS DING AUS EINER ANDEREN WELT , GESPRENGTE KETTEN , RAMBO - FIRST BLOOD , DIE 12 GESCHWORENEN , LAWRENCE VON ARABIEN , um nur die bekanntesten zu nennen. Skandal? Nein. Es gibt einfach keine Rolle für eine Frau in der Welt dieser Filme und in diesen Geschichten. Das ist alles. Wenn wir uns klarmachen, dass die Geschichte von Freundschaft, Hoffnung und Menschlichkeit in DIE VERURTEILTEN heutzutage in der Finanzierung durch Filmförderungen ein großes Problem bekäme und so ein Film neuerdings durch die Academy von einer Oscarnomi‐ nierung ausgeschlossen werden müsste, wird die Implementierung von Quoten und Gender Equality- und Diversity-Tests als das entlarvt, was sie ist: ein schädlicher, fataler Irrweg. Die Stoffideen der Synthetischen Narration Wir haben ganze zehn verschiedene Spielarten betrachtet, vielleicht gibt es sogar noch welche, die wir übersehen haben. Daher fällt es schwer, eine bestimmte thematische oder motivische Denkrichtung einzuschlagen bei der Suche nach den Stoffen für die Synthetische Narration. Natürlich ist es für die Zeitreisethematik heute unabdingbar, sich mit Physik zu beschäftigen. Quantenphysik und Entropie an der äußersten Oberfläche zu verstehen, ist gar nicht so schwierig, das gelingt ohne 11. Synthetische Narration 304 <?page no="305"?> Formeln und ohne vorheriges Studium, es geht im Wesentlichen um Rührei oder Milchkaffee. Dabei ist es gar nicht so entscheidend, sich Erkenntnisse anzueignen, sondern eher einen Eindruck davon zu bekommen, was die Physiker heutzutage alles noch nicht wissen, woran sie schon eine ganze Weile knabbern. Drei Stunden aufmerksame Lebenszeit, mehr brauchen Sie nicht. Auf diese Weise kann man beispielsweise zu dem sehr anregenden Gedanken kommen, dass es zu den grundlegenden Tatsachen unseres Lebens gehört, dass die Zukunft anders aussieht als die Vergangenheit. Die Zeit läuft nur in eine Richtung, wodurch wir uns an die Vergan‐ genheit erinnern können, aber nicht an die Zukunft. Doch gleichzeitig ist unter kosmologischer Perspektive diese Asymmetrie nur ein lokales Phänomen. ARRIVAL und TENET sind somit kein Quatsch, auch wenn es die Apparate zur Inversion der Zeit, in die man hineinsteigen kann, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf diesem Planeten in ab‐ sehbarer Zeit nicht geben wird, und damit auch solch eine Geschichte wie TENET in Wirklichkeit nie passieren kann. „In absehbarer Zeit“ - wenn aber in ferner Zukunft jemand diese Technologie beherrscht und zurück zu uns kommt …? Schon wieder beißt sich die Katze in den Schwanz. Aahhrrg! Entweder, sowas macht Ihnen Spass, oder nicht. Wenn nicht, lassen Sie es. Vielleicht interessieren Sie sich nicht für Physik. Vielleicht lesen Sie aber dieses Buch hier mit Freude und Gewinn und interessieren sich für die abstrakten Zusammenhänge des Erzählens. Für Zeit und Perspektive. Wenn ja, dann wage ich eine Fernanalyse: Sie stehen auch auf Synthetische Narration. Stimmt’s? Also haben Sie schon alle Filme Los hier ist Hölle zur was? - Oh! 305 <?page no="306"?> gesehen, die in diesem Kapitel genannt wurden, und noch mehr. Sie wissen jetzt, wie das Kind heißt und wie es aussieht und können danach Ausschau halten. Also, ab auf die Blümchenwiese! Doch was machen wir dort? Um im Bild zu bleiben: Wir sollten vielleicht die Wiese als Ganzes betrachten, als Kosmos im Malstrom der Zeit. Vielleicht betrachten wir nicht die Tiere und Pflanzen, sondern nur ihre Schatten. Vielleicht betrachten wir besser uns selbst, wie wir die Schatten von vergänglichen Dingen betrachten. Vielleicht stellen wir uns auf den Kopf, um einen Perspektivwechsel oder gar eine andere Physik herzustellen. Vielleicht dösen wir nur und träumen von Quantengravitation. Bei all der Analyse und den bereits gefundenen Spielarten der Syntheti‐ schen Narration könnte man von dem Gedanken heimgesucht werden, dass in diesem Erzählkonzept schon alle Ideen ausprobiert wurden. Man kann lediglich noch eine der bekannten Spielarten wählen und sie mit neuen Figuren und Konflikten befüllen. Aber geht es nicht gerade hier um die Innovation, das Erfinden eines Konzepts, wie man Geschichten sonst noch erzählen kann, unkonventionell, gewagt, neu? Ja, doch dieser deprimierende Gedanke kann sich nach 120 Jahren Film und 5000 Jahren Geschichtenerzählen für jedes Erzählkonzept einschleichen. Trotzdem frisch ans Werk zu gehen, ist die große Herausforderung der vom medialen Überfluss Erschlagenen. An dieser Stelle wollte ich Ihnen zum Trost eigentlich eine konkrete Stoffidee schenken. Eine Stoffidee, die die Erzählerische Substanz für einen Film ganz und gar enthält. Doch im Schreiben erfahre ich per Zufall, dass die Idee bereits in sehr guten Händen ist und bald ein Film das Licht der Welt erblicken wird. Der Regisseur ist Andrés Muschietti, verantwortlich für MAMA (2013), ES (2017) und ES KAPITEL 2 (2019), 11. Synthetische Narration 306 <?page no="307"?> als Produzent ist Brad Pitt an Bord. Muschietti ist ein Stephen King Spezialist, daher ist die Personalie nicht verwunderlich. Denn die Idee stammt nicht von mir, sondern schlummerte 40 Jahre millionenfach gedruckt zwischen Buchdeckeln. In meinem Kopf führt sie ein reges Eigenleben, seit ich diese kleine, ungewöhnliche Kurzge‐ schichte, die King „The Jaunt“ genannt hat, vor etwa drei Jahrzehnten gelesen hatte. Wenn man sich klarmacht, dass so ziemlich jeder dünne Mist, den der arbeitswütige King eben auch geschrieben hat, zigmal verfilmt wurde, und sogar ein ideentechnisches Abfallprodukt von „The Jaunt“ ( LANGOLIERS , Regie: Tom Holland, 1995) im Orkus des Filmtrashs herumgeistert, ist es beschämend und wunderbar zugleich, dass für diese Perle so lange Anlauf genommen werden musste. Ich spare mir hier jeden Hinweis auf den Inhalt dieser Science Fiction Kurzgeschichte, aber wage eine Prophezeiung: Da vom Drehbuch bisher nichts an die Öffentlichkeit gedrungen ist, kann ich nicht sagen, ob der Film unweigerlich Synthetische Narration beinhalten wird. Aber er wird uns eine neue, im Film nie dagewesene Art des Gruselns über die Mysterien der Zeit bieten. Er hat das Zeug zum Klassiker. Wir dürfen - nein, wir müssen - sehr gespannt sein. Fazit: ▸ Das Erzählkonzept der Synthetischen Narration kommt durch die Vielzahl der Synthetischen Erzählmechaniken in allen Genres vor. ▸ Die Parameter Zeit und Perspektive, die wir in allen Erzähl‐ konzepten in ihren jeweiligen konstitutiven Funktionen betrachten, treten in der Synthetischen Narration besonders deutlich hervor. Los hier ist Hölle zur was? - Oh! 307 <?page no="308"?> ▸ Auch wenn Synthetische Narration grundsätzlich mit allen anderen Erzählkonzepten kombinierbar ist, gibt es Kombi‐ nationen, die konzeptionell eher gegeneinander arbeiten und somit existieren nur wenige Beispiele, positiv wie negativ. ▸ Diese Kombinationen sind: ▸ Synthetische Narration mit dem Historischen Film (po‐ sitives Beispiel DUNKIRK) ▸ Synthetische Narration mit der Gewusst-Wie-Geschichte (negatives Beispiel DIE FARBE DES HORIZONTS) ▸ Synthetische Narration mit der Exploitativen Geschichte ▸ Synthetische Narration mit Whodunit ▸ Synthetische Narration geht häufig sehr feste Verbindun‐ gen ein mit der Plausibilisierung (Beispiele: MATRIX , ME‐ MENTO , THE PRESTIGE , FIGHT CLUB ) ▸ Synthetische Narration erfordert - genau wie die Plausibili‐ sierung - einen willigen und engagierten Zuschauer. Der Zuschauer wird gefordert. Nebenher bügeln oder die zweite Hälfte morgen weitergucken ist bei Strafe verboten. ▸ Es gibt so gut wie keine Fortsetzungen von Filmen, die auf Synthetischer Narration basieren. BACK TO THE FUTURE ist eines der wenigen Gegenbeispiele. ▸ Autoren und Regisseure, die mit Synthetischer Narration umgehen können, sind Wiederholungstäter. In ihren Filmo‐ grafien finden sich immer mehrere Filme mit Synthetischer Narration. ▸ 12 Filme in der Top-250-Liste bei imdb.com 11. Synthetische Narration 308 <?page no="309"?> Zum Schluss Der Zauber des Anfangs Zwei Filmemacher unterhalten sich: Ich habe eine Idee für einen Film! Naja, erst mal für eine Figur! Ok, schieß los. „Schieß los“ ist gut. Genau darum geht es. Also, da ist ein junger Mann, ein Soldat, der sehr gut schießen kann. Er weiß das, sein Vorgesetzter weiß das. Und es ist Krieg. Seine Kompanie hat Gefangene gemacht. Gleichzeitig kriegen sie von der Generalität den Befehl zu einer Offensive. Sie können die Gefangenen nicht mehr bewachen. Er bekommt also den Befehl von seinem Offizier, die Gefangenen zu erschießen. Morgen früh. Er findet es falsch, er ringt mit sich, schläft die ganze Nacht nicht. Am nächsten Morgen aber steht er mit dem Gewehr vor den Gefangenen, legt an und erschießt sie, einen nach dem Anderen. Er sagt sich, wenn ich es nicht tue, tut es einer meiner Kameraden, die nicht so gut schießen wie ich. Vielleicht trifft der Kamerad nicht so gut, ein Gefangener stirbt nicht sofort, ein zweiter Schuss ist nötig. Diese Grausamkeit dem Gefangenen und dem Kameraden gegenüber will er vermeiden. So nimmt er die Bürde des Kriegsverbrechens auf sich. Er schleppt sie ein Leben lang mit sich rum. Wow, er opfert sich, tolle Heldenfigur. Den Film will ich sehen… Zwei andere Filmemacher unterhalten sich: Ich habe eine Idee für einen Film! Naja, erst mal für eine Figur! Ok, schieß los. <?page no="310"?> „Schieß los“ ist gut. Genau darum geht es. Also, da ist ein junger Mann, ein Soldat, der sehr gut schießen kann. Er weiß das, sein Vorgesetzter weiß das. Und es ist Krieg. Seine Kompanie hat Gefangene gemacht. Gleichzeitig kriegen sie von der Generalität den Befehl zu einer Offensive. Sie können die Gefangenen nicht mehr bewachen. Er bekommt also den Befehl von seinem Offizier, die Gefangenen zu erschießen. Morgen früh. Er findet es falsch, er ringt mit sich, schläft die ganze Nacht nicht. Am nächsten Morgen aber steht er mit dem Gewehr vor den Gefangenen. Der Offizier sagt: Feuer! Doch unser junger Soldat lässt das Gewehr sinken. Nein. Ich tue das nicht. Ich weigere mich. - Verräter! Feigling! sagt der Offizier und lässt ihn einsperren. Ein anderer Soldat erschießt die Gefangenen. Er kommt vor ein Kriegsgericht und wird hingerichtet. Wow, er opfert sich, tolle Heldenfigur. Den Film will ich sehen… Der junge Soldat kann in beiden Fällen ein Held sein. Er kann aber auch ein Feigling sein. Die schlichte Wahrheit ist, wir wissen es nicht - noch nicht. Es wird sich im Laufe der Geschichte, die eventuell auch die Vorgeschichte zu dieser Szene ist, herausstellen. Es ist in dieser frühen Phase der Kreation auch noch nicht erkennbar, was genau die erzählerische Substanz sein könnte. Da ist etwas, was den Filmemacher beschäftigt. Er weiß, dass es eine starke Szene ist. Es geht um Fragen von Leben und Tod, von Mut und Feigheit. Auch sein Freund, der andere Filmemacher spürt das. Er ermutigt ihn, weiterzumachen. Keiner der vier Filmemacher hier ist bescheuert. Das ist die Einsicht. Wenn aber die erzählerische Substanz nicht erkennbar ist, sagt uns das, dass es sich hier noch nicht um eine Idee für eine Geschichte oder einen Film handelt. Es handelt sich um ein Fragment. Von dem aus man weitergehen kann in unterschiedlichste Richtungen. Zum Schluss 310 <?page no="311"?> Zutaten, Zustände und 11 Schubladen IM HERZEN DER SEE (Regie Ron Howard, 2015) und WENN TRÄUME FLIEGEN LERNEN (Regie: Marc Forster, 2004) haben, so unterschiedlich diese beiden Filme auch sind, etwas gemeinsam. Sie handeln davon, wie ein Autor seinen Stoff findet, um daraus später große Literatur zu machen. Im einen Fall geht es um Herman Melvilles Moby Dick, im anderen um James Mathew Berries Peter Pan. Nicht die Entstehung der beiden Bücher wird uns in diesen Filmen erzählt. Da sitzt immer jemand Wochen lang gebeugt am Schreibtisch und möchte nicht gestört werden. Das ist kein Film. Aber die Vorgeschichte, die Zutaten und Zustände, die nötig sind, um inspiriert und gerüstet zu sein, das ist fast so groß und schön wie die Liebe oder eine Heldentat oder ein Goldschatz im Garten. Auch wenn wir hier hunderte fertige Filme betrachtet und ein paar davon sehr genau unter die Lupe genommen haben, ging es immer um diese Zutaten und die Zustände der Flüchtigkeit von Inspiration und Phantasie und Gedanken. Doch die wollen wir beherrschen lernen. Dazu haben wir jetzt 11 Schubladen mit 11 Namen drauf. Was wir hineinpacken, kann auch wieder raus, sie sind nicht verschlossen. Ästhetik und Geschmack Egal, welches Erzählkonzept wir betrachten, ob wir gute oder schlechte Filme zur Veranschaulichung von Gelingen oder Misslingen heran‐ ziehen, ob wir Abgrenzungen vornehmen oder Gemeinsamkeiten destillieren, wir sind auf der Suche nach der Antwort auf die Frage nach der Güte von filmischer Narration. Welcher Film ist gut, was an ihm ist gut und warum? Ist der Plot gut, oder sind es die Charaktere, oder beides? Und bedingt sich das nicht? Zum Schluss 311 <?page no="312"?> Wir betrachten das filmische Geschehen also gleichzeitig aus der Nähe und aus der Distanz, wir versuchen uns in Köpfe von Krea‐ tiven hineinzudenken, ihre Probleme und ihre Lösungsideen, die Schöpfungsprozesse, die Development Hell, und machen uns dabei auch mancher Unterstellung schuldig. Dann wieder betrachten wir deren fertige Filme, manche haben wir zigfach gesehen, andere nur halb, nebenbei, aus großer zeitlicher Distanz, Jahre und Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen und dann setzen wir sie unserem Urteil aus. Sie mögen es uns verzeihen, all die Autoren, all die Regisseure, die lebenden und die toten. Dabei fallen nur wenige apodiktische Urteile. Der Satz „Guter Stil ist die Abwesenheit von schlechtem Stil“ steht im Zusammenhang mit Alan Parker als dem Regisseur eines der besten Filme aller Zeiten im Kapitel der Plausibilisierung. In diesem banal erscheinenden kleinen Gedanken steckt eine ganze ästhetische Weltanschauung. Ich habe noch einen zweiten für Sie: „Die Kunst, wahre Kunst zu schaf‐ fen, besteht darin, gleichzeitig Nähe und Distanz zu erzeugen.“ Es gab berühmte Ausstellungen noch berühmterer Maler, die den Titel “Nähe und Distanz“ trugen, es gibt kunsttheoretische Abhandlungen zu diesen Begriffen. Die Erkenntnis ist also nicht neu. Ich bete aber nichts von all dem nach, dazu müsste ich mich mit diesen Arbeiten intensiv auseinandersetzen, was ich nicht vorhabe. Ich biete Ihnen die Worte als meine eigenen an. Schaffen Sie das Wunder, den dreifachen Salto mit Doppelschraube, die Quadratur des Kreises: schaffen Sie gleichzeitig Nähe und Distanz zu ihren Figuren. Nähe zu den Bösewichtern, Distanz zu den Helden. Und umgekehrt. Diese Nähe kann darin bestehen, emotionale Anteilnahme zu erzeu‐ gen. Diese Distanz kann darin bestehen, Ehrfurcht vor der Größe des erzählten Gegenstands (einem Charakter, einer Heldentat, einem Zum Schluss 312 <?page no="313"?> Leidensweg, einem tragischen Ereignis) zu bewahren und ihn damit unversehrt zu lassen, obwohl der Gegenstand durch das Erzählen entblößt wird. Hier ist die Rede von dem Erhabenen. Ein Ding, das in der unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet ungeheuer kom‐ plizierten Welt von heute in Verruf und Vergessenheit gerät. Es gibt einen einfachen Weg, den der Oberfläche. Die lässt weder Nähe, noch Distanz zu. Auf den gelangweilten oder rastlosen ersten Blick erkennen wir nichts, nur dass da etwas ist. Was, das bleibt im Vagen, im Ungefähren. Die Nähe, die das Durchdringen verschiedener Schichten erfordert, wird durch die Oberfläche verhindert. Sie ist glatt und jemand hat an ihr allerhand Zettel mit Adjektiven angebracht. Das ist ihr Wesenszug. Sie ist ein Schutz gegen die Neugierde an der Komplexität der Welt. Wenn wir hier nicht bohren, ist das Ergebnis Kitsch. Aber wir Menschen reagieren stark auf Oberflächen. Wir sind Augenti‐ ere und mit den Augen sehen wir nichts als Oberflächen. Wir reagieren affektiv, doch wir sind als Filmemacher und auch als Zuschauer in der Lage, die Lust auf das affektive Reagieren zu steuern, es zu verzögern. Diese Lust kann aufgebaut und schließlich bedient werden. Da beginnt die Wirkweise des Exploitativen. Es kennt keinen Geschmack, weder den guten noch den schlechten, also prallt auch der Vorwurf des Kitsches an ihm ab. Figur und Identität In guten Geschichten handeln immer einzelne Menschen mit oder gegen andere einzelne Menschen. Wir brauchen Figuren, keine Herden oder anonymen Massen zur Identifikation. Was wäre, wenn die Menschheit erkennt, dass der Planet Erde in naher Zukunft unbewohnbar sein wird? Die Antwort geben INTERSTELLAR (Regie: Christopher Nolan, 2014) und DIE WANDERNDE ERDE (Re‐ Zum Schluss 313 <?page no="314"?> gie: Frant Gwo, 2019), der bis dato teuerste und erfolgreichste Science Fiction-Film Chinas. Wenn ich es wagen darf, anhand dieser beiden Ant‐ worten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, nicht nur zwei Filme, sondern auch all die Bedingungen und noch mehr die Bedingtheiten ihres Entstehens miteinander in Beziehung zu setzen, dann graut mir vor dem allmählichen Rückzug der amerikanisch-westlich-angelsächsisch geprägten Popkultur zugunsten der chinesischen beinah mehr, als vor dem Untergang des Planeten, wie er in diesen Filmen beschworen wird. In der einen Geschichte wird die ganze Erde in einer abstrusen Form von Geo-Engineering in einen mit monströsen Düsenkraftwerken gespickten toten Klumpen verwandelt, der als Raumschiff für einen kleinen Menschheitsrest dienen soll, der damit durch den interstellaren Raum fliegt auf der Suche nach einem neuen Sonnensystem zum Andocken. Das ist großes Spektakel, eine große Vision, eine große Was-Wäre-Wenn-Prämisse. Aber die erzählte Geschichte von allerhand opferbereiten Soldaten ist ein konzeptionelles, dramaturgisches und emotionales Armutszeugnis voller Redundanzen und Langeweile. Und dennoch höchst erfolgreich - in China. Die andere Geschichte erzählt von einem Mann, der enorme Risiken eingeht und immense Opfer bringt, um die geschundene Erde nicht noch weiter zu schinden. Es braucht dazu Kompetenzen, Mut, Erkennt‐ nis, Kommunikation und die bedingungslose Liebe eines Vaters zu seiner Tochter. Wir haben in den kommenden Jahrzehnten viel zu verlieren. An China nicht nur die Hoheit über unsere Telekommunikationsnetze. Auch die Kraft und Schönheit des Erzählens unserer Geschichten und damit ein wesentlicher Teil unserer Identität stehen auf dem Spiel. Für jeden von uns als Teil eines vage beschreibbaren Kulturkreises, den man mal „den Westen“ nannte, als Europäer und vor allem als Individuen. Zum Schluss 314 <?page no="315"?> Literatur A R I S T O T E L E S : Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann (1996). Stuttgart. A R N H E I M , R U D O L F : Film als Kunst (1974). München. B E R A U E R , W I L F R I E D : Filmstatistisches Jahrbuch 2018/ 19. Wiesbaden. C I V A S C H I , M A T T E O und M I L E S I , G I A N M A R C O : Der ganze Film in 5 Sekunden (2014). Frankfurt am Main. C A M P B E L L , J O S E P H : Der Heros in tausend Gestalten (1999). Frankfurt am Main. F R I E D M A N N , J O A C H I M : Storytelling, Einführung in Theorie und Praxis nar‐ rativer Gestaltung (2018). München. 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Literatur 316 <?page no="317"?> uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik schaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Stat te \ te \ \ M \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschicht tik \ tik \ Spra Spra acherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidakt mus mus DaF DaF F \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourism tik \ tik \ \ VW \ VW WL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanist haft haft Theo Theo ologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissensc aft \ aft \ \ Li \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha nik \ nik \ Hist Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn sen sen Mat Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss -aft \ aft \ scha scha aft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha nik \ nik \ Hist Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn sen sen Mat Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss -esen esen scha scha aft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwe istik istik \ Fr \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinav gie \ gie \ \ BW \ BW WL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilolog Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ \ \ \ g \ \ g \ \ \ p \ p rt \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosoph ien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc ien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc d Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturw BUCHTIPP Joachim Friedmann Storytelling Einführung in Theorie und Praxis narrativer Gestaltung 2019, 208 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-5237-3 e ISBN 978-3-8385-5237-8 Der Begriff „Storytelling“ erlebt sowohl im akademischen Diskurs als auch in anwendungsbezogenen Bereichen eine immer höhere Aufmerksamkeit. Narrative Techniken erlauben eine besonders wirkungsvolle und nachhaltige Kommunikation. Das vorliegende Buch führt in die Strategien des Storytelling ein und berücksichtigt wissenschaftliche Grundlagentexte ebenso wie dramaturgische Ratgeber und praktische Beispiele. Der Drehbuch- Comic- und Gameautor Joachim Friedmann schafft so eine theoretisch fundierte wie praktisch anwendbare Toolbox für die Analyse und Gestaltung von Erzählungen in verschiedenen Medien, nicht nur für Studierende, sondern für alle, die verstehen wollen, wie Geschichten kreiert werden. BUCHTIPP UVK Verlag. Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 9797 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="318"?> ,! 7ID8C5-cfeeja! ISBN 978-3-8252-5449-0 Die 11 Erzählkonzepte sind neben Genre und Masterplot ein neuartiges System zur Kategorisierung von Filmen. Dazu wird die einer jeden filmischen Erzählung innewohnende narrative Substanz betrachtet. Damit individuelle Kreativität zu Ideen und Geschichten führen kann, braucht man in jeder Phase der Stoffentwicklung neben dem Handwerk des Storytelling die Fähigkeit zur Analyse, Abgrenzung und Erkenntnis und den Mut zum fundierten Werturteil. Dieses Lehr- und Anwendungsbuch richtet sich an alle Filmstudierenden, alle Profis, die in der Filmbranche inhaltlich arbeiten, und an alle Filminteressierten, die schon immer wissen wollten, warum es gute und schlechte Filme gibt. Filmwissenschaft Kulturwissenschaft Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel