Tourismus in Wirtschaft, Gesellschaft, Raum und Umwelt
Einführung
0713
2020
978-3-8385-5452-5
978-3-8252-5452-0
UTB
Andreas Kagermeier
Tourismus gilt als Leitökonomie des 21. Jahrhunderts. In vielen Ländern ist er zudem ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Das Lehrbuch beleuchtet die touristische Nachfrage und das Angebot aus der raum- und sozialwissenschaftlichen Perspektive. Es berücksichtigt neben dem Deutschlandtourismus auch ausgewählte Formen des internationalen Tourismus.
Lernziele zu Beginn der Kapitel helfen beim schnellen Einstieg. Zahlreiche Beispielboxen, Karten und Abbildungen illustrieren den Stoff. Zusammenfassungen und weiterführende Literaturtipps am Kapitelende vertiefen das Verständnis.
Diese 2., überarbeitete und erweiterte Auflage richtet sich an Studierende der Geowissenschaften und des Tourismus. Sie ist auch für Quereinsteiger und Praktiker aufschlussreich.
<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-cfefca! ISBN 978-3-8252-5452-0 Andreas Kagermeier Tourismus in Wirtschaft, Gesellschaft, Raum und Umwelt 2. Auflage Tourismus gilt als Leitökonomie des 21. Jahrhunderts. In vielen Ländern ist er zudem ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Das Lehrbuch beleuchtet die touristische Nachfrage und das Angebot aus der raum- und sozialwissenschaftlichen Perspektive. Es berücksichtigt neben dem Deutschlandtourismus auch ausgewählte Formen des internationalen Tourismus. Lernziele zu Beginn der Kapitel helfen beim schnellen Einstieg. Zahlreiche Beispielboxen, Karten und Abbildungen illustrieren den Stoff. Zusammenfassungen und weiterführende Literaturtipps am Kapitelende vertiefen das Verständnis. Diese 2., überarbeitete und erweiterte Auflage richtet sich an Studierende der Geowissenschaften und des Tourismus. Sie ist auch für Quereinsteiger und Praktiker aufschlussreich. Tourismus | Geowissenschaften Tourismus: Wirtschaft, Gesellschaft, Raum, Umwelt 2. A. Kagermeier Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 54520 Kagermeier_M-4421.indd 1 54520 Kagermeier_M-4421.indd 1 18.06.20 12: 46 18.06.20 12: 46 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 4421 <?page no="2"?> Prof. Dr. Andreas Kagermeier lehrt Freizeit- und Tourismusgeographie an der Universiät Trier. <?page no="3"?> Andreas Kagermeier Tourismus in Wirtschaft, Gesellschaft, Raum und Umwelt Einführung 2., überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlag · München <?page no="4"?> 1. Auflage 2016 unter dem Titel „Tourismusgeographie: Einführung“ 2. Auflage 2020 UVK Verlag ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Internet: www.uvk.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck UTB-Nr.: 4421 ISBN 978-3-8252-5452-0 (Print) ISBN 978-3-8385-5452-5 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5452-0 (ePub) Umschlagabbildung: © sArhange1 | iStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 9 1. 13 1.1 14 1.1.1 14 1.1.2 18 1.1.3 21 1.2 28 1.2.1 28 1.2.2 33 2 55 2.1 55 2.1.1 56 2.1.2 58 2.1.3 63 2.2 67 2.2.1 67 2.2.2 69 2.2.3 71 2.3 74 2.3.1 74 2.3.2 76 2.3.3 78 2.3.4 80 Inhalt Vorwort zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einordnung, Definitionen und Ansatzpunkte der geographischen Freizeit- und Tourismusforschung . . . . . . . . Tourismus als multidimensionales Phänomen . . . . . . . . Einordnung der tourismusgeographischen Herangehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte . Historische Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen Nachfrageseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantitative Entwicklung des Volumens und der Orientierungen auf der Nachfrageseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . Boomfaktoren des Reisens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationale Nachfragekenngrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationale Nachfragekenngrößen . . . . . . . . . . . . . . . Zunehmende Ausdifferenzierung der Nachfrageseite . . . . . . Reisemotive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wertewandel in der Phase der Postmoderne . . . . . . . . . Flexible und hybride Nachfragemuster . . . . . . . . . . . . . . Subjektive Rahmenbedingungen der Nachfrageseite und deren Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Reiseentscheidungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Einstellungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das GAP-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basis-, Leistungs- und Begeisterungsfaktoren . . . . . . . . <?page no="6"?> 3 89 3.1 89 3.1.1 91 3.1.2 95 3.1.3 100 3.1.4 110 3.2 119 3.2.1 119 3.2.2 122 3.2.3 132 3.2.4 140 4 149 4.1 149 4.2 153 4.3 160 4.3.1 162 4.3.2 165 4.4 167 4.4.1 168 4.4.2 170 4.4.3 177 5 183 5.1 186 5.2 190 5.3 200 6 207 6.1 208 6.2 217 6.3 224 6.3.1 225 Grundlagen Angebotsseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die touristische Leistungskette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reiseveranstalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übernachtungsbetriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkehrsträger am Beispiel des Luftverkehrsmarktes . . Reisevertrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marketing im Tourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen des Marketings im Tourismus . . . . . . . . . . . Grundsätzliche Herangehensweisen des (strategischen) Marketings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Social-Media-Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marketing und Management von Destinationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff „Destination“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundprinzipen des Destinationsmanagement . . . . . . . . . . . . Ansätze zur Steuerung von Destinationen . . . . . . . . . . . . . . . Vom Management zur Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . Leadership-Ansätze im Kontext der Destinationsnetzwerkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen im Destinationsmanagement . . . . . . . . . Größenzuschnitte von DMOs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flexible Formen der Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tourismus und Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der Nachhaltigkeitsdiskussion im Tourismus . . Klimawandel und Luftverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze für ein Nachhaltigkeitsmanagement im Tourismus . Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Räumliche Grundmuster der touristischen Nachfrage . . . . . . Akteure im Deutschlandtourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Städtetourismus - ein dynamisches Wachstumssegment . . . Städtetourismus: Versuch einer begrifflichen Fassung . 6 Inhalt 6 <?page no="7"?> 6.3.2 227 6.3.3 231 6.4 242 6.4.1 243 6.4.2 247 6.5 265 7 275 7.1 276 7.2 280 7.2.1 281 7.2.2 285 7.2.3 298 7.3 319 7.3.1 325 7.3.2 346 7.3.3 354 8 375 389 409 415 429 Quantitative Basisdaten zum Städtetourismus . . . . . . . . Dynamik von qualitativen Veränderungen im Städtetourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der neue Wanderer und die Redynamisierung des Wandertourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrradtourismus: Stagnation oder Diversifizierung . . Wellness-Tourismus: Hoffnungsträger und Wachstumsbringer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus . . . . . . . . . . . . . Grundlagen des internationalen Tourismus . . . . . . . . . . . . . . Tourismus im Mittelmeerraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundstrukturen des Tourismus im Mittelmeerraum . . Grenzen des Wachstums und Diversifizierungsansätze auf Mallorca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zypern als Beispiel für die Notwendigkeit neuer Steuerungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tourismus und Entwicklungsländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliche Aspekte des Entwicklungsländertourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Governance und Performance am Beispiel Kenia . . . . . Perspektiven und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 7 <?page no="9"?> Vorwort zur 2. Auflage Tourismus ist nicht nur auf dem Weg, eine der Leitökonomien des 21. Jahr‐ hunderts zu werden, sondern auch ein vielschichtiges Phänomen, das in den letzten Jahrzehnten zum Gegenstand unterschiedlichster Disziplinen ge‐ worden ist. Dieses Studienbuch widmet sich dem Tourismus als kultureller Praxis aus dem Blickwinkel der (Human-)Geographie. Damit wird ein An‐ satz verfolgt, der einerseits aus sozialwissenschaftlicher Sicht die handeln‐ den Akteure in den Mittelpunkt stellt, und andererseits die Tourismuswirt‐ schaft integriert in den übergeordneten Kontext der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen behandelt. Mit der raumwissenschaftli‐ chen Grundorientierung ist auch verbunden, dass der Blickwinkel stärker auf den Destinationskontext als auf einzelbetriebliche Aspekte gerichtet ist. Die tourismusgeographische Herangehensweise an das Phänomen Touris‐ mus als anwendungsorientierte Disziplin in kompakter und verständlicher Form darzustellen ist das Ziel dieses Studienbuches. Mit dem Ziel einer kompakten Darstellung verbunden ist, dass eine Viel‐ zahl von Facetten und Detailaspekte nur gestreift und angedeutet werden können. Damit will das Buch auch neugierig machen auf die darüberhi‐ nausgehende, vertiefende Einarbeitung in dieses Themenfeld. Der Fokus liegt weniger auf einer Vielzahl von tagesaktuellen - und damit auch bald wieder überholten - Zahlen; diese sind im Zeitalter des Internets dort besser abrufbar. Vielmehr ist die Intention, die Grundprinzipien und grundlegenden Entwicklungslinien kompakt und so verständlich darzustel‐ len, dass Studierende zu Beginn des Studiums die zentralen Konturen des Faches nachvollziehen können. Die - notgedrungen nur selektive - Er‐ wähnung von Beispielen dient weniger der idiographischen Vorstellung, sondern die Auswahl wurde immer auch vor dem Hintergrund getroffen, allgemeinere, grundsätzlichere Entwicklungen und Zusammenhängen an konkreten Einzelfällen fest zu machen. Die exemplarische Veranschauli‐ chung, nicht die umfassende kompilatorische Darstellung ist damit das zen‐ trale Leitmotiv. Bei einer zu treffenden Auswahl muss unvermeidlich vieles an Themenbereichen und regionalen Spezifika unberücksichtigt bleiben. Damit handelt es sich mit dem vorliegenden Band explizit nicht um eine „Reiseverkehrsgeographie“ mit systematischer länderkundlicher Darstel‐ <?page no="10"?> lung einzelner Destinationen. Der Band fokussiert auch nicht primär auf reine Standortfragen - wie z. B. derjenigen, wo in einer Stadt ein Hotel sinnvollerweise zu bauen wäre. Vielmehr wird ein geographischer Blick‐ winkel auf Akteure, Rahmenbedingungen und Strukturen gerichtet. Ent‐ sprechend dem humangeographischen Grundverständnis wird versucht, das Handeln der einzelnen Akteure eingebettet in übergeordnete Bezüge dar‐ zustellen. Die Abbildungen sollen dabei nicht nur der simplen Illustration und Ver‐ anschaulichung dienen. Sie sind oftmals auch für ergänzende Details und ein vertiefendes Verständnis gedacht, das teilweise über den kompakten Text hinausführt. Die Inhalte des Bandes stellen eine Erweiterung der Erstsemestervorle‐ sung für Bachelor „Einführung in die Tourismusgeographie“ an der Univer‐ sität Trier dar. Dementsprechend wendet sich der Band vor allem an Geo‐ graphiestudierende in der ersten Hälfte des Bachelorstudiums. Dabei besteht eine gewisse Zweiteilung. Der erste Teil ist mehr auf die Darstellung der Grundlagen des Tourismus aus tourismusgeographischer Perspektive gewidmet. Das Ziel ist es, die grundlegenden Begriffe und Elemente des Systems Tourismus sowie die zentralen Konzepte und Herangehensweisen der Tourismuswissenschaften für Geographiestudierende aus geographischem Blickwinkel aufzubereiten. Damit kann dieser erste Teil auch anderen, an den Grundprinzipien des Tourismus Interessierten einen kompakten Überblick bieten. Der zweite Teil ist dann stärker auf spezifische tourismusgeographische Herangehensweisen bei der Destinationsanalyse ausgerichtet. Dort finden vor allem auch diejenigen, die einen Einblick in die destinations- und ak‐ teursorientierten Ansätze und Herangehensweisen der Tourismusgeogra‐ phie gewinnen möchten, eine kompakte Darstellung mit exemplarischen Fallbeispielen. Beim Verfassen eines solchen Studienbuches besteht die Herausforderung in der Kunst des Weglassens, ohne dadurch die zentralen Argumentations‐ richtungen und Inhalte zu sehr zu verkürzen. Bei der Lektüre besteht dem‐ gegenüber die Herausforderung an die Leserinnen und Leser auch darin, trotz der kompakten, scheinbar runden Darstellung zu erkennen, dass es sich lediglich um einen ersten Einstieg in viele Themen handelt, die hier angerissen werden und sich dementsprechend auf die über eine Einführung hinausgehende Vertiefung der Themen mit ihren vielschichtigen Facetten einzulassen. Um das Einlassen auf eine vertiefende und differenziertere 10 Vorwort zur 2. Auflage 10 <?page no="11"?> Auseinandersetzung mit den Themen zu erleichtern, sind am Ende der ein‐ zelnen Kapitel jeweils weiterführende Literaturhinweise aufgeführt. Dabei wurde insbesondere auch versucht, auf leicht im Internet zugängliche Quel‐ len abzuheben, um die eigenständige weitergehende Auseinandersetzung mit den Einzelthemen zu ermöglichen. Neben Aktualisierungen von Daten und Abbildungen wurde vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion der Aspekt Luftverkehr und Klima‐ wandel etwas erweitert sowie das Overtourism-Phänomen neu aufgenom‐ men. Freising, im Frühjahr 2020 Andreas Kagermeier 11 Vorwort zur 2. Auflage 11 <?page no="13"?> 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld Lernziele In diesem Kapitel werden folgende Fragen beantwortet: ☐ Welche wechselseitigen Bezüge bestehen zwischen dem Freizeit- ☐ und Tourismusmarkt und anderen Feldern bzw. Wissenschaftsdis‐ ziplinen? ☐ Was zeichnet die spezifische Herangehensweise der Tourismusge‐ ☐ ographie aus? ☐ Wie kann der Begriff Tourist und der Freizeitbegriffs definitorisch ☐ gefasst werden? ☐ Welche prinzipielle Herangehensweise zeichnet die Anwendung ☐ grundlegender angebotsseitiger und nachfrageseitiger theoreti‐ scher Konzepte aus? Die Tourismuswirtschaft ist auf dem Weg, zu einer der Leitökonomien des 21. Jahrhunderts zu werden. Sowohl hinsichtlich der Wertschöpfung, d. h. dem Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt als auch der Beschäftigungswirkung hängt sowohl weltweit als auch in Deutschland größenordnungsmäßig etwa jeder zehnte Arbeitsplatz direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Die tou‐ ristischen Aktivitäten tragen in etwa gleichem Umfang auch zur Wert‐ schöpfung bei. Gleichzeitig ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phä‐ nomen Tourismus und Freizeit relativ jung und beginnt im Wesentlichen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Tourismuswissenschaft ist damit keine seit Jahrhunderten etablierte akademische Disziplin wie die Theologie, die Philosophie, die Medizin oder die Rechtswissenschaften. Die wissenschaft‐ liche Auseinandersetzung mit Tourismus und Freizeit wird aktuell gespeist aus unterschiedlichen Disziplinen, die jeweils spezifische Blickwinkel zu Analyse, Deutung und Gestaltung einbringen. <?page no="14"?> Die im ausgehenden 20. Jahrhundert stattgefundene intensivere wissen‐ schaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Tourismus und Freizeit re‐ sultiert wohl aus der zunehmenden Verbreitung dieses Phänomens und des‐ sen Bedeutung in unterschiedlichen Feldern. Gleichzeitig steht dahinter sicherlich auch die zunehmende Ausdifferenzierung der Nachfrage sowie die Tatsache, dass Tourismus Ende des 20. Jahrhunderts vom Anbietermarkt (die Nachfrage ist größer als das Angebot) zum Nachfragemarkt (das Ange‐ bot ist größer als die Nachfrage) geworden ist. Immer anspruchsvollere Kunden mit sich kontinuierlich ausdifferenzierenden Interessenslagen wer‐ den von einem zunehmenden Angebot umworben. Damit genügt es eben nicht mehr, dass Übernachtungsbetriebe „fließend kaltes und warmes Was‐ ser“ anbieten, wie dies Mitte des 20. Jahrhunderts als Qualitäts- und Allein‐ stellungsmerkmal oftmals an Übernachtungsbetrieben angepriesen worden ist, um Kunden anzusprechen. Das Wissen um die Bedürfnisse der potenti‐ ellen Kunden sowie die Fähigkeit zur Erarbeitung von Angeboten, die diese adressieren, sind inzwischen entscheidende Wettbewerbsmerkmale für den erfolgreichen Markteintritt bzw. die Positionierung in einem sich akzentu‐ ierenden Wettbewerb geworden. Damit werden eben auch zunehmend gut ausgebildete Beschäftigte im Tourismusgewerbe benötigt, die sich den wechselnden Herausforderungen erfolgreich stellen können. Mit der Entwicklung des Tourismus zum „Massen“-Phänomen verbunden sind aber auch negative Konsequenzen, wenn die Tragfähigkeit von Desti‐ nationen erreicht oder überschritten wird. Die „Grenzen des Wachstums“ betreffen dabei sowohl ökologische Aspekte als auch soziale Gegebenheiten. Vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeitsdiskussion besteht die Herausfor‐ derung darin, dass die (erwünschten) positiven ökonomischen Effekte nicht nur breit in den Destinationen streuen, sondern auch (unerwünschte) öko‐ logische und soziale Effekte möglichst geringgehalten werden. 1.1 Einordnung, Definitionen und Ansatzpunkte der geographischen Freizeit- und Tourismusforschung 1.1.1 Tourismus als multidimensionales Phänomen Die Vielzahl der Aspekte, die vom Tourismus berührt werden und von denen die touristische Entwicklung beeinflusst wird, hat F R E Y E R in sechs Dimen‐ sionen zusammengefasst (vgl. Abb. 1). 14 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 14 <?page no="15"?> An vorderster Stelle sind dabei sicherlich die wirtschaftlichen Gege‐ benheiten zu nennen. Das wirtschaftliche Niveau einer Gesellschaft (und auch die Art der Verteilung der ökonomischen Potentiale) ist eine zentrale Stellgröße für den Umfang und die Ausgabevolumina der touristischen Nachfrage. Aber auch das Niveau der Angebotsqualität und die Möglich‐ keiten zur Ausdifferenzierung des Angebotes werden von den ökonomi‐ schen Möglichkeiten in den Destinationen mit beeinflusst. In den hochin‐ dustrialisierten Ländern sind die Möglichkeiten der Aufbereitung von touristischen Potentialen im Allgemeinen deutlich größer als in den sog. Entwicklungsländern (vgl. Kap. 7). Gleichzeitig wird eine touristische In‐ wertsetzung - insbesondere in peripheren Räumen - oftmals als Möglichkeit gesehen, volkswirtschaftliche Impulse zu setzen und mangels anderer wirt‐ schaftlicher Aktivitäten durch den Tourismus positive Einkommenseffekte zu generieren. Abb.‐Nr.: -1 Abb.‐Titel: -Freizeit-und-Tourismus-als- interdependente-Phänomene-(Quelle: -Eigene- Darstellung-nach-F REYER 2011,-S.-46) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Gesellschaft Ökologie Raum Freizeit & Tourismus Ökonomie Individuum Politik Abb. 1: Freizeit und Tourismus als interdependente Phänomene (Quelle: eigene Darstellung nach F R E Y E R 2011a, S. 46) Die Rahmenbedingungen für Reisemöglichkeiten werden durch das Feld der Politik mit beeinflusst. Dies betrifft nicht nur die Frage von Reisebeschrän‐ kungen (z. B. durch eine entsprechende Visapolitik), sondern auch die Mög‐ lichkeiten zu grenzüberschreitenden Investitionen in Form von ausländi‐ schen Direktinvestitionen oder die Vergabe von Fördermitteln (wie z. B. die europäischen Interreg-Fördermittel) bzw. steuerliche Rahmenbedingungen 15 1.1 Einordnung, Definitionen und Ansatzpunkte 15 <?page no="16"?> (Mehrwertsteuersatz für touristische Leistungen, Kerosinsteuer) und Abga‐ ben (Luftverkehrsabgabe). Neben den übergeordneten politischen Zielen (z. B. Sicherheitsbedürfnis, Terrorismusabwehr) einer politischen Einheit sind die direkt auf den Tourismus bezogenen Zielsetzungen im Grundsatz einerseits darauf gerichtet, die Rolle des Tourismus als Wirtschaftsfaktor positiv zu begleiten und andererseits negative Auswirkungen des Tourismus zu vermeiden. Tourismuspolitik ist damit oftmals als ambivalent anzusehen. Der Blick auf das Individuum bedeutet, dass dessen soziale und psycho‐ logische Disponiertheit als relevant für Nachfragepräferenzen angesehen wird. Gleichzeitig spielen die subjektiven Aspekte aber auch auf der Ange‐ botsseite eine relevante Rolle, wie etwa die Einstellungen gegenüber überge‐ ordneten Nachhaltigkeitsaspekten oder der Grad der Risikobereitschaft bzw. die Innovationsbereitschaft oder Kreativität bei der Produktentwicklung. Mit der Dimension Raum wird einerseits der evidente Aspekt berührt, dass Tourismus immer auch mit Bewegungen im Raum verbunden ist, wenn sich Touristen aus den Quellmärkten in die Zielgebiete begeben. Die Frage nach Einzugsbereichen und der Bewältigung der Verkehrsströme sind damit offensichtlich relevant bei der Beschäftigung mit touristischen Phänome‐ nen. Da touristische Angebote aber im Allgemeinen nicht abgelöst von den Destinationen als „Foot Loose Industry“ geschaffen werden, sondern an ganz konkrete räumlich verortete Potentiale gebunden sind, können aus der (in‐ tendierten oder realisierten) touristischen Inwertsetzung oder Nutzung auch Raumnutzungskonflikte mit anderen Nutzungsansprüchen (z. B. Landwirt‐ schaft oder Wohnen) resultieren. Die kann die Ressource „Raum“ als Flä‐ cheninanspruchnahme genauso betreffen wie z. B. die Konkurrenz um die Ressource „Wasser“ (insbesondere in Gebieten mit prekären hydrologischen Regimen). Im positiven Sinne kann touristische Erschließung aber auch als Faktor der Regionalentwicklung gewünscht sein oder fungieren. Der Bezug zwischen der ökologischen Dimension und dem Tourismus besteht offensichtlich darin, dass die touristische Nutzung immer auch mit der Inanspruchnahme von Ressourcen bis hin zu deren Übernutzung ver‐ bunden ist. Die sog. Tragfähigkeitsgrenze (Carrying Capacity) kann damit auch einen limitierenden Faktor für die touristische Inwertsetzung darstel‐ len. Dies betrifft nicht dabei nicht nur z. B. Trittschäden in sensiblen Öko‐ systemen oder die negativen Auswirkungen der Erschließung von alpinen Regionen für den Skitourismus. In einem weiteren sozial-ökologischen Sinn kann hierunter auch eine von den Einwohnern als negativ empfundene Konzentration von Touristen im städtischen Raum subsummiert werden 16 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 16 <?page no="17"?> (Crowding bzw. Overtourism). Das Verhindern des Überschreitens von phy‐ sischen oder perzeptionellen Tragfähigkeitsgrenzen bzw. eine möglichst verträgliche Nutzung von natürlichen Ressourcen ist - im Wechselspiel mit der politischen Dimension - eines der Zielsetzungen von nachhaltigen Tou‐ rismuskonzepten. Gleichzeitig kann eine touristische Nutzung aber auch zum Schutz von Ökosystemen beitragen. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn in den sog. Ent‐ wicklungsländern die touristische Nachfrage nach (Foto-)Safaris dazu führt, dass die lokale Bevölkerung den Wert des Schutzes von Wildtieren indirekt dadurch erkennt, dass diese eine Erwerbsgrundlage darstellen, weil Besuche internationaler Touristen Einkommen generieren. Aber auch die Kulturland‐ schaft mit traditionellen ökologisch angepassten landwirtschaftlichen Prakti‐ ken (Streuobstwiesen, Wacholderheiden oder bestimmte andere Sukzessi‐ onsstadien) wird teilweise aufgrund der touristischen Nachfrage geschützt, da diese einen Attraktivitätsfaktor z. B. für den Wandertouristen darstellt. Dass die Normen einer Gesellschaft die Wertigkeit von Freizeit im Ver‐ hältnis zur Arbeitsethik mit beeinflussen, ist ebenfalls offensichtlich. Die Bezeichnung Deutschland als „kollektiver Freizeitpark“ durch den früheren Bundeskanzler Helmut Kohl bei seiner Regierungserklärung am 21. Oktober 1993 ist zum geflügelten Wort dafür geworden, dass aus seiner Sicht der Stellenwert der Freizeit in der Gesellschaft zu hoch sei und der Stellenwert der Erwerbsarbeit wieder gesteigert werden sollte. Fragen der Work-Life-Balance und der Stellenwert von freier Zeit schlagen sich nicht nur in konkreten Tarifvereinbarungen nieder, sondern beeinflussen auch den Umfang und die Art der Freizeitgestaltung. Gleichzeitig ist die gesell‐ schaftspolitische Diskussion, welchen Stellenwert wir dem Schutz der na‐ türlichen Umwelt oder Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu‐ messen, auch eine relevante Größe. Aber auch die Frage, wie eine Gesellschaft mit dem (materiellen und immateriellen) kulturellen Erbe um‐ geht, kann durch die touristische Nutzung beeinflusst werden, sei es da‐ durch, dass materielles kulturelles Erbe (auch) aufgrund der touristischen Nachfrage erhalten oder restauriert wird, oder dass bestimmte Praktiken und Riten wegen ihrer Anziehungskraft auf Touristen gepflegt werden. Um‐ gekehrt kann die touristische Nachfrage durch die Kommerzialisierung und Folklorisierung von gesellschaftlichen Praktiken aber auch zu deren Degra‐ dierung und Kommodifizierung beitragen. Gleiches gilt auch für soziale Normen und Verhaltensweisen. Insbesondere im Kontext des sog. „Entwick‐ lungsländertourismus“ wird die Frage nach den negativen Auswirkungen 17 1.1 Einordnung, Definitionen und Ansatzpunkte 17 <?page no="18"?> der touristischen Erschließung auf traditionelle Normensysteme intensiv diskutiert. Insgesamt gesehen handelt es sich beim Phänomen Tourismus um eine gesellschaftliche Praxis, die eine Vielzahl von Wechselbeziehungen mit un‐ terschiedlichsten Feldern aufweist (die untereinander ebenfalls in Bezug stehen). Dementsprechend verwundert es nicht, dass sich eine Vielzahl un‐ terschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen mit diesem Phänomen auseinan‐ dersetzen. Das Spektrum reicht dabei von Wirtschaftswissenschaften (mit dem betriebswirtschaftlichen und dem volkswirtschaftlichen Blickwinkel), der Soziologie und den Politikwissenschaften über die Pädagogik und Psy‐ chologie, die Ethnologie bzw. Kulturanthropologie bis hin zu Jura, Kunst‐ geschichte, Umweltwissenschaften und der Mobilitätsforschung. Dabei bringt jede (Mutter-)Disziplin ihre spezifischen Blickwinkel und Ansätze in die jeweilige Freizeitpädagogik oder Tourismussoziologie mit ein. Gleich‐ zeitig stehen die unterschiedlichen Teildisziplinen in einem intensiven Wechselspiel und Austausch. Tourismus wird von einem Tourismussozio‐ logen eben nicht nur aus rein soziologischer Sicht betrachtet und analysiert, sondern der tourismussoziologische Blickwinkel steht im Wechselspiel mit den spezifischen Analyseansätzen von Freizeitpädagogen, Tourismuspsy‐ chologen oder eben auch Tourismusgeographen. In der Tourismusforschung verschwimmen die traditionellen Disziplingrenzen, sodass von einem trans‐ disziplinären Feld gesprochen werden kann. Ob sich aus diesem Konglome‐ rat unterschiedlicher disziplinärer Ansätze der „Mutter-Disziplinen“, der aktuell mit dem Terminus „Tourismuswissenschaften“ beschrieben wird, mittelfristig eine eigenständige Disziplin, die Tourismuswissenschaft ent‐ wickeln oder ob das Phänomen Tourismus auch längerfristig als Gegenstand aus den „Mutter-Disziplinen“ heraus behandelt wird, ist eine offene Frage. 1.1.2 Einordnung der tourismusgeographischen Herangehensweise Die geographische Herangehensweise ist geprägt von der Orientierung auf das Wechselspiel von menschlichem Handeln und der räumlichen Umwelt. Je nachdem welche der beiden geographischen Hauptrichtungen, die Hu‐ mangeographie oder die Physischen Geographie im Mittelpunkt stehen, ist der Fokus mehr auf die Analyse der naturräumlichen Gegebenheiten oder Prozesse (Physische Geographie) oder das Handeln des Menschen im Raum (Humangeographie) ausgerichtet. Auch wenn tourismusgeographische As‐ 18 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 18 <?page no="19"?> pekte mit einem physisch-geographischen Analyseansatz behandelt werden (insbesondere die Umweltwirklungen von touristischen Phänomenen wie z. B. die Erosion von Skipisten oder die Analyse der klimarelevanten tou‐ rismusbedingten Emissionen), liegen die Wurzeln der tourismusgeographi‐ schen Beschäftigung stärker im Bereich der Humangeographie (bzw. der Wirtschafts- und Sozialgeographie). Das Handeln des Menschen im Raum steht damit im Mittelpunkt. Motive und Hintergründe für menschliches Handeln, deren Differenzierung aber auch Beeinflussung sind damit ge‐ nauso Gegenstand der Tourismusgeographie wie die Analyse der räumli‐ chen Effekte dieses Handeln und eine dem Nachhaltigkeitsparadigma ver‐ pflichtete Gestaltung. Charakteristikum der tourismusgeographischen Herangehensweise ist es damit, touristische Phänomene nicht nur isoliert aus dem Blickwinkel z. B. einer betriebswirtschaftlichen Optimierung oder einer sozialpsychologi‐ schen Deutung zu sehen. Vielmehr wird eine stärker integrative, übergrei‐ fende Perspektive angestrebt, die - auch in intensivem Austausch und mit Bezug auf die anderen „Tourismuswissenschaften“ - das Phänomen Touris‐ mus stärker holistisch versteht. Gleichzeitig versteht sich Tourismusgeo‐ graphie in weiten Teilen als anwendungsorientiert und gestaltungsbezogen. Nicht nur die in theoretisch-konzeptionellen Ansätzen wissenschaftlich fundierte Analyse, sondern auch der Anspruch, zur Lösung von Herausfor‐ derungen und der Optimierung von Gestaltungsansätzen beizutragen zeich‐ net tourismusgeographisches Arbeiten vielfach aus. Box 1 | Von der Fremdenverkehrsgeographie zur Tourismusgeo‐ graphie Die Tourismusgeographie ist keine statische wissenschaftliche Teildis‐ ziplin. Wie alle Wissenschaften hat sie im 20. Jahrhundert eine Reihe von Paradigmenwechseln erfahren, die einerseits den übergeordneten wissenschaftlichen und politischen Kontext spiegeln und andererseits von den Wandlungen in der (Human-)Geographie beeinflusst sind. Auch wenn es bereits frühere Ansätze zur Beschreibung des „Fremdenver‐ kehrs“ - wie das heute als Tourismus beschriebene Phänomen bis in die 1980er Jahre im deutschsprachigen Raum oftmals genannt worden ist - gegeben hat, gilt die Arbeit von P O S E R aus dem Jahr 1939 als für die weitere Entwicklung der konzeptionellen Ansätze prägend. In seinem Werk „Geographische Studie über den Fremdenverkehr im Riesenge‐ 19 1.1 Einordnung, Definitionen und Ansatzpunkte 19 <?page no="20"?> birge“ stehen - in der Tradition der damaligen Geographie - die phy‐ siognomisch wahrnehmbaren Veränderungen und Überprägungen in der Kulturlandschaft im Mittelpunkt. Die Fremdenverkehrsgeographie zielte auf die Beschreibung der als Fremdenverkehrslandschaften be‐ zeichneten Zielgebiete ab und fokussierte damit vor allem auf die räum‐ lichen Auswirkungen. Die Weiterentwicklung zur „Geographie der Freizeit und des Fremden‐ verkehrs“ wurde in den 1960er und 1970er Jahren geprägt von der „Münchner Schule der Sozialgeographie“ (vgl. R UP P E RT 1962, M AIE R 1970 oder R UP P E RT & M AIE R 1970). Deren Zielsetzung wird von K ULINAT & S TEINECKE rückblickend beschrieben als: „Analyse und Erklärung von Raumstrukturen …, die im Bereich des Freizeit- und Fremdenverkehrs durch sozialräumliche Verhaltensweisen und Umweltbewertungen, durch Standortbildung und (natur-)geographische Standortfaktoren, durch Wirkungen der Freizeit- und Standortbildung sowie durch pla‐ nerische Steuerung entstanden sind“ (1984, S. 4). Damit rückt das Indi‐ viduum als aktiver Faktor im Wechselspiel mit der Umwelt stärker in den Mittelpunkt und gleichzeitig wird die zielorientierte planerische Gestaltung des Raumes explizit thematisiert. In den späten 1980er Jahren setzt sich die Bezeichnung als „Geographie der Freizeit und des Tourismus“ oder „Freizeit- und Tourismusgeogra‐ phie“ durch. Die Ersetzung des Begriffes „Fremdenverkehr“ durch den des „Tourismus“ signalisiert dabei nicht nur einen simplen Begriffs‐ wechsel zu dem international gebräuchlichen Terminus, der auch in an‐ deren Kontexten vollzogen worden ist (so hat sich der ehemalige Deut‐ sche Fremdenverkehrsverband als Bundesverband der regionalen Tourismusorganisationen 1999 in Deutscher Tourismusverband umbe‐ nannt). Vielmehr ist damit - wie auch in anderen Bereichen der Hu‐ mangeographie - der Wandel von einer stärker deskriptiven Herange‐ hensweise an räumliche Phänomene zu einer analytisch-erklärenden Zielsetzung, bei der die handelnden Individuen und Systeme in ihrem Wechselspiel mit der Umwelt im Mittelpunkt stehen, verbunden. In diesem Band werden, dem weiten Verständnis von Tourismus (nicht nur auf mit Übernachtungen verbundene Aktivitäten) folgend (vgl. 1.1.3), die beiden Begriffe „Freizeit- und Tourismusgeographie“ sowie „Tourismusgeographie“ synonym verwendet. 20 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 20 <?page no="21"?> 1.1.3 Einige Begriffsklärungen An dieser Stelle soll kein umfassendes definitorisches Kompendium ersetzt werden. Diese sind in unterschiedlichen Lexika tourismuswissenschaftli‐ cher Begriffe verfügbar (vgl. z. B. K IE F L , B ACHLEITNE R & K AG ELMANN 2005; F UCHS , M UNDT & Z OLLONDZ 2008 oder die tourismusgeographischen Stich‐ wörter in B RUNOTTE et al. 2001). Gleichwohl erscheint es wichtig, einige grundlegende Begrifflichkeiten, die im Zusammenhang mit dem Tourismus oftmals eine lebensweltliche Verwendung finden, für den Kontext dieser Einführung aber auch für den fachwissenschaftlichen Gebrauch in der ge‐ botenen Kürze zu fassen. Was ist ein Tourist? Scheinbar trivial scheint die Frage, wer oder was ein Tourist ist, wird dieser Begriff doch im alltagssprachlichen Gebrauch von fast jedem verwendet, wobei allerdings auch unterschiedliche begriffliche Fassungen existieren. Eine der klassischen Annahmen ist, dass ein Tourist auch in seinem Zielge‐ biet übernachtet, d. h. nur der Übernachtungsreiseverkehr als Tourismus verstanden wird. In früheren Zeiten wurde auch versucht, über die zurück‐ gelegte Distanz zwischen Touristen und Naherholungssuchenden zu unter‐ scheiden, wobei manchmal - in Analogie zum Verkehrswesen - die Grenze bei 50 km gezogen wurde. In manchen Ländern der sog. Entwicklungsländer werden als Touristen nur Besucher aus dem Ausland verstanden. Die United Nations World Tourism Organisation (UNWTO) ist eine in‐ ternationale Organisation, die sich im Auftrag der UN neben der Bereitstel‐ lung von internationalen Tourismusstatistiken auch mit international rele‐ vanten Aspekten des Tourismus (z. B. Krisenmanagement, Biodiversität) beschäftigt. Diese hat 1993 - vor allem für die Angleichung der internatio‐ nalen Tourismusstatistiken einen Katalog von Begriffen unter dem Namen „Standard International Classification of Tourism Activities“ (SICTA) be‐ schlossen. Dort findet sich auch die inzwischen weltweit weitgehend ak‐ zeptierte Definition des Begriffes „Tourist“. 21 1.1 Einordnung, Definitionen und Ansatzpunkte 21 <?page no="22"?> Box 2 | UNWTO-Definition des Begriffes „Tourist“ „A visitor is a traveller taking a trip to a main destination outside his/ her usual environment, for less than a year, for any main purpose (business, leisure or other personal purpose) other than to be employed by a resident entity in the country or place visited. These trips taken by visitors qualify as tourism trips. Tourism refers to the activity of visitors” (UNWTO 2008, S. 10). In dieser Definition sind im Wesentlichen drei Aspekte enthalten: 1. Ortsveränderung: Ein Tourist ist eine Person, die sich im Raum von 1. einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt bewegt. Allerdings gibt es keine Mindestentfernung oder das Überschreiten von (seien es kom‐ munalen oder nationalen) Grenzen als Voraussetzung. 2. Zeitliche Befristung: Die Bewegung im Raum ist zeitlich befristet, 2. dauerhafte Migrationen (sei es durch einen freiwilligen Umzug oder eine Zwangsmigration durch Flucht oder Vertreibung) zählen damit nicht als touristische Aktivität. Gleichzeitig wird keine Mindestau‐ fenthaltsdauer, sondern nur ein Maximum von einem Jahr angegeben. 3. Zweck: Die Motive für die Raumveränderung können unterschiedli‐ 3. cher Art sein, wobei die UNWTO neben den Hauptzwecken von frei‐ zeitmotivierten und Geschäftsreisen, die möglichen anderen Motive nicht weiter eingrenzt. Eine religiös motivierte Pilgerfahrt (egal ob zur nahegelegenen Marienkapelle oder nach Mekka) zählt damit ebenso als touristische Aktivität wie der Aufenthalt zu einem Sprachkurs im Ausland. Ausgeschlossen sind lediglich Fahrten von Berufspendlern zum Hauptort der Berufsausübung (auch wenn diese über eine natio‐ nale Grenze hinweg erfolgt). Für die statistische Erfassung werden darüber hinaus noch ausgeklammert die Raumveränderung von Diplomaten und Angehörigen von Streitkräften, aber auch von Nomaden, Flüchtlingen und Transitreisenden. Die Differenzierung von Touristen primär für statistische Zwecke (vgl. Abb. 2) folgt weitgehend diesen Grundvorgaben des UNWTO. So wird ei‐ nerseits oftmals unterschieden zwischen freizeitorientierten Touristen und anderen Motiven (wobei hier dann vor allem der Geschäftsreiseverkehr er‐ 22 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 22 <?page no="23"?> fasst wird, während andere Motive nur sehr begrenzt statistisch fassbar sind). Von Freizeitaktivitäten werden aus touristischer Sicht nur diejenigen erfasst, die außerhalb der eigenen Wohnung stattfinden, während häusliche Freizeitbeschäftigungen nicht berücksichtigt sind. Sowohl beim freizeitori‐ entierten als auch beim Geschäftsreise-Tourismus werden die Besucher oft‐ mals unterschieden in Tagestouristen und Übernachtungstouristen. Da bei einer der wichtigsten sekundärstatistischen Quellen der Tourismusfor‐ schung, der sog. „Reiseanalyse“ (vgl. FUR div. Jg.) lange nur Reisen mit min‐ destens 4 Übernachtungen erfasst wurden, wird oftmals auch noch zwischen Kurzurlauben (1 bis 4 Tage) und Urlauben unterschieden. Motiv Über‐ nach‐ tung Ortsveränderung Übernachtung Dauer Abbildung-2 Freizeitkomponente als primäres Motiv andere Motive häusliche Freizeit Tagestourist 1-4 Tage Kurzurlaub > 4 Tage Urlaub z. B. Kur, Pilgerreise, Spracherwerb Tages- Geschäftsreiseverkehr MICE Geschäftsreiseverkehr MICE Abb. 2: Differenzierung von Tourismus für statistische Zwecke (Quelle: eigener Entwurf) Gleichzeitig ist in Abbildung 2 mit den grauen Pfeilen angedeutet, dass die vermeintlich klare statistische Erfassung der Motive der Realität oftmals nicht gerecht wird. Die grauen Pfeile im rechten Teil der Graphik sollen darauf hinweisen, dass auch Geschäftsreisen oder primär aus anderen, nicht freizeitbezogenen Motiven unternommene Reisen (wie z. B. Kuren, Pilger‐ reisen oder Sprachkursaufenthalte) zu gewissen Teilen auch freizeitorien‐ tierte Komponenten aufweisen können (genauso wie umgekehrt auch pri‐ mär freizeittouristische Aufenthalte natürlich auch partiell berufliche Aspekte inkludieren können). 23 1.1 Einordnung, Definitionen und Ansatzpunkte 23 <?page no="24"?> Für die weitere Differenzierung von Ausprägungen des Tourismus kann nach S TEING RUB E (2001) zwischen unterschiedlichen Tourismusformen un‐ terschieden werden. Die Festlegung von Tourismusformen „greift auf sicht‐ bare, äußere Erscheinungen oder auf nur zum Teil sichtbare Verhaltenswei‐ sen sowie auf die nicht sichtbare Reisemotivation zurück, um die Vielfalt der touristischen Nachfrage zu gliedern“ (2001, Band 3, S. 358f.). Wie anhand der Beispiele in Tabelle 1 sichtbar wird, erweist sich die Vielfalt von unter‐ schiedlichen Tourismusformen als offenes Konzept, bei dem je nach Be‐ trachtungswinkel und Interessenslage Teilbereiche der konkreten touristi‐ schen Praxis ausgegliedert werden können. Dabei sind die verwendeten Kriterien „frei wählbar, nicht immer überschneidungsfrei, sie müssen nicht die Gesamtheit aller Touristen erfassen und sie müssen einander nicht aus‐ schließen, sondern können auch miteinander kombiniert werden“ (S TEIN ‐ G R UB E 2001, Band 3, S. 359). Abgrenzungskriterien Beispiele möglicher Tourismusformen Motivation Urlaubs-, Geschäfts-, Bildungs-, Gesundheitstouris‐ mus Jahreszeit Sommer-, Wintertourismus regionale Herkunft Binnen-, Ausländer-, Incoming-Tourismus soziale Gruppe Frauen-, Jugend-, Seniorentourismus Einkommen Sozial-, Luxustourismus Beherbergung Hotel-, Campingtourismus Verkehrsmittel Fahrrad-, Auto-, Flugtourismus Landschaftsform maritimer, alpiner Tourismus Distanz Naherholung, Ferntourismus Dauer Ausflug, Kurzurlaub, Langzeittourismus Aktivität Ski-, Rad-, Golftourismus Tab. 1: Unterschiedliche Tourismusformen (Quelle: S T E I N G R U B E 2001, Band 3, S. 358) Bereits bei diesen ersten Schritten der Annäherung an touristische Begriff‐ lichkeiten wird deutlich, dass es sich um eine offene Disziplin handelt, bei der die Phänomene oftmals nicht einfach zu fassen sind. Gleichzeitig wird 24 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 24 <?page no="25"?> sichtbar, dass es ein dynamisches Feld ist, das nicht - wie z. B. das Set der chemischen Elemente - ein abgeschlossenes Konstrukt darstellt, sondern sich kontinuierlich weiterentwickelt. So werden unter dem Begriff des Dark Tourism in jüngerer Zeit entstehende Angebotsformen zusammengefasst, bei denen die „Faszination des Schreckens“ als Attraktor fungiert (Q UACK & S TEINECKE 2012). In den letzten Jahren sind unter dem Stichwort der „Ent‐ schleunigung“ neue Formen des sog. Slow Tourism entstanden (vgl. A NTZ , E ILZE R & E I S EN S TEIN 2011). Auch die Entdeckung von kulinarischen Ange‐ boten als Element der Positionierung von Destinationen (vgl. K AG E RMEIE R 2011b) steht für den permanenten Innovationsprozess im Tourismusmarkt, in dem die definitorische Fassung für die wissenschaftliche Analyse oftmals der konkreten Praxis hinterherhinkt. Die Entstehung neuer Formen wird ja nicht wie z. B. in der Pharmazie von Wissenschaftlern in Labors entwickelt, sondern entsteht im Wechselspiel zwischen Anbietern und Nachfragern in der konkreten touristischen Realität. Die Rolle der Tourismuswissenschaf‐ ten beschränkt sich nicht auf das analytische Nachvollziehen der konkreten touristischen Praxis. Es werden auch Grundlagen für Produktinnovationen über die Analyse von übergeordneten Trends, auf der Basis von Produkt-Le‐ benszyklen oder Markt- und Wettbewerbsanalysen, vorbereitet und beglei‐ tet - oftmals vom konkreten Handeln von Innovatoren auf der Angebots- und Nachfrageseite stimuliert. Freizeit - was ist das? Bei der Festlegung von Tourismusformen wurde bereits auf den Begriff der Freizeit als zentrales Motiv für viele Tourismusformen Bezug genommen. Dies geschah im Bewusstsein, dass es sich auch bei diesem Begriff um einen alltagssprachlich verwendeten Ausdruck handelt, dessen genauere inhaltli‐ che Fassung für die wissenschaftliche Verwendung ebenfalls nicht einfach ist. Alltagssprachlich wird „Freizeit“ als zumeist positiv besetzter Begriff verwendet. Als Realdefinition kann Freizeit umschrieben werden als „Zeit für Etwas“ (zum Faulenzen, Spielen, Basteln, Bummeln, Kochen, Beschäfti‐ gung mit Kindern, Ausschlafen). Dabei kann dieser subjektiv ganz unter‐ schiedlich gefasst werden. Für den Einen kann Kochen eine gerne und frei‐ willig ausgeübte Freizeitbeschäftigung sein, während für jemand anderen Kochen eine unangenehme Pflicht darstellt. F AS TENMEIE R , G S TALTE R und L EHNIG (2001) haben bei einer bundesweiten Befragung zum subjektiven Freizeitbegriff unter anderem geschlechtsspe‐ zifische Unterschiede in der Wahrnehmung dessen, was als Freizeitbeschäf‐ 25 1.1 Einordnung, Definitionen und Ansatzpunkte 25 <?page no="26"?> tigung angesehen wird, festgestellt. Zu mehreren Tätigkeiten sollten die Probanden auf einer Skala von 0 (= kein Freizeitcharakter) bis 10 (= hoher Freizeitcharakter) angeben, welchen Grad des Freizeitbezugs die entspre‐ chenden Tätigkeiten besitzen. Die sich dabei ergebenden Mediane sind in Tabelle 2 dargestellt. Tätigkeiten Median weiblich Median männlich Töpfern Friseurbesuch Einkauf im Baumarkt Fahrzeug reparieren Schaufensterbummel Textilien kaufen 861185 533463 Skala: 0 = kein Freizeitcharakter bis 10 = hoher Freizeitcharakter Tab. 2: Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Einschätzung des Freizeitbezugs von Tätigkeiten (Quelle: Fastenmeier, Gstalter & Lehnig 2001, S. 27) Plausibel und nachvollziehbar - und sicherlich auch manche klischeehaften Vorstellungen und Stereotype bedienend - ergab sich bei dieser Untersu‐ chung, dass z. B. ein Friseurbesuch oder ein Schaufensterbummel für weib‐ liche Befragte einen höheren Freizeitbezug aufweist, während männliche Befragte einer Fahrzeugreparatur oder dem Baumarktbesuch einen höheren Freizeitbezug zusprechen. In der wissenschaftlichen Fassung des Begriffes wurde lange Zeit ein sog. „negativer Freizeitbegriff“ verwendet. Dies bedeutet, dass Freizeit als „Rest‐ größe“ angesehen wurde, die sich ergibt, wenn von den 168 Stunden einer Woche die Arbeitszeit und täglich etwa 11 Stunden für die physiologische Regeneration (Schlafen, Körperhygiene) und hauswirtschaftliche Tätigkei‐ ten (Kochen, Putzen und alltägliche Einkäufe) abgezogen werden. Hinter‐ grund dieser Herangehensweise war, dass die Zunahme der „freien Zeit“ als Folge der Reduzierung von tariflich festgelegten Wochenarbeitszeiten quan‐ titativ gefasst werden konnte. Inzwischen wird in der Freizeit- und Tourismuswissenschaft weitgehend ein „positiver Freizeitbegriff“ verwendet, der versucht, die Freizeit entspre‐ chend dem lebensweltlichen Verständnis als frei verfügbare Zeit zu verste‐ hen. Dieses Verständnis geht zurück auf O PAS CHOWS KI (1990). Es vermeidet einerseits die allein auf die Arbeitszeit bezogene Sichtweise als „Restkate‐ 26 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 26 <?page no="27"?> gorie“. Andererseits wird darauf verzichtet, Freizeit intersubjektiv einheit‐ lich festlegen zu wollen. Es wird anerkannt, dass das Freizeitverständnis von jedem Individuum subjektiv unterschiedlich verstanden werden kann. O PAS CHOWS KI differenziert die Lebenszeit in drei Bereiche, die sich durch den Grad an Wahl-, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit unterscheiden (vgl. Abb. 3): 1. „der frei verfügbaren, einteilbaren und selbstbestimmbaren Disposi‐ 1. tionszeit (= ‚freie Zeit‘ - Hauptkennzeichen: Selbstbestimmung); 2. der verpflichtenden, bindenden und verbindlichen Obligationszeit 2. (= ‚gebundene Zeit‘ - Hauptkennzeichen: Zweckbestimmung); 3. der festgelegten, fremdbestimmten und abhängigen Determinati‐ 3. onszeit (= ‚abhängige Zeit‘ - Hauptkennzeichen: Fremdbestim‐ mung)“ (O PAS CHOWS KI 1990, S. 86). Abbildung-3 fremdbestimmte Zeit z.B. Arbeit, Schule, Krankheit zweckgebundene Zeit z.B. Essen, Schlafen, Hygiene freie, selbstbestimmte Zeit z.B. Baden, Konzertbesuch, Wandern Abb. 3: Unterschiedliche Freiheitsgrade bei Dispositions-, Obligations- und Determinationszeit (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an O P A S C H O W S K I 1990, S. 86) Ähnlich wie bei den touristischen Motiven ist es damit das Individuum mit seiner subjektiven Perzeption, das für sich entscheidet, welchen Grad an freier Entscheidung es wahrnimmt. Damit wird auch hier in der Tourismus‐ wissenschaft ein intersubjektiv nicht eindeutig festlegbares Begriffsver‐ ständnis akzeptiert. 27 1.1 Einordnung, Definitionen und Ansatzpunkte 27 <?page no="28"?> 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte Nicht nur die konkreten Ausprägungen des Phänomens Tourismus haben sich vor allem im 20. Jahrhundert grundlegend verändert, sondern auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen. Dementspre‐ chend werden im Folgenden ausgewählte Entwicklungslinien und Konzepte vorgestellt. 1.2.1 Historische Entwicklungslinien Ziel dieses Abschnitts kann es nicht sein, eine Geschichte des Tourismus zu ersetzen. Hierzu sei der Leser z. B. auf das Grundlagenwerk von S P ODE aus dem Jahr 1987 verwiesen. Anhand einiger weniger ausgewählter Blitzlichter sollen einerseits Grundprinzipien der Entwicklung dieses Phänomens be‐ leuchtet und andererseits gleichzeitig ein Verständnis für das Nachwirken von historischen Grundlagen in heutigen Entwicklungen geweckt werden. Freie, selbstbestimmte Dispositionszeit setzt voraus, dass das Individuum nicht nur mit der eigenen Subsistenz, d. h. der Sicherung des Lebensunter‐ haltes beschäftigt ist. Damit ist die Verfügbarkeit von freier Zeit auch mit der Entwicklung einer arbeitsteiligen, ausdifferenzierten Gesellschaft ver‐ bunden, bei der nicht wie auf der Entwicklungsstufe der Jäger und Sammler oder einer reinen Agrargesellschaft durch ein wirtschaftliches Produktions‐ system Überschüsse erwirtschaftet werden, die es einem Teil der Gesell‐ schaft ermöglichen, anderen Tätigkeiten nachzugehen. Damit wird der Be‐ ginn des Tourismus oftmals auf die (städtischen) Hochkulturen der griechischen und römischen Antike datiert, bei denen Reisen aus religiösen oder spirituellen Gründen und Motiven (z. B. Orakel von Delphi), aber auch zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit (z. B. Bäderkuren) dokumentiert sind. Bereits hier zeigt sich das enge Wechselspiel zwischen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung mit dem Phänomen Tourismus. Im Mittelalter sind es wiederum gesellschaftliche Rahmenbedingungen und auch bereits biographische Gegebenheiten, bei der die sog. Vaganten das Bild des Tourismus prägten. Zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert führte die Überproduktion von Theologen dazu, dass diese nicht alle sofort in Pfarrstellen unterkommen konnten. Demensprechend wurde das Studium - oder wie wir heute sagen würden, eine verlängerte Postadoleszenz - dazu 28 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 28 <?page no="29"?> genutzt, Studium und Wanderleben im mittelalterlichen Hochschulwesen zu verbinden. Bereits damals entstand der Nexus von Bildung und Reisen, aber auch die auf den persönlichen Genuss ausgerichtete - und bis heute wirksame - Konnotation von Tourismus. Box 3 | Zeit der fahrenden Schüler „Das subjektive Reiseerlebnis wird zu einem Kennzeichen der begin‐ nenden Neuzeit. Auf Reisen erlebt das eigene Ich seine Befreiung. Sess‐ haftigkeit und Stillstand werden verachtet, die Reiselust wird Teil einer neu erwachenden Lebenslust, die die sozialen und geistigen Fesseln des Mittelalters für immer sprengt“ (O PAS CHOWS KI 2002, S. 31). In der beginnenden Zeit der Renaissance, die nicht nur von der Wiederentde‐ ckung antiker Vorbilder, sondern auch von humanistischen und auf das Indi‐ viduum ausgerichteten Denkhaltungen geprägt ist, bestieg der italienische Dichter Francesco P ETRAR CA im April 1336 einer der westlichen Ausläufer der französischen Alpen, den über dem Rhonetal aufsteigenden Mont Ventoux: „Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, ‚den Windigen‘, nennt, habe ich am heutigen Tag bestiegen, allein vom Drang be‐ seelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen“ (P ETRAR CA 2014, S. 6). Damit wird Reisen dokumentiert, das keinen außerhalb des Individuums lie‐ genden Zweck oder Sachzwang (wie z. B. die Geschäftsreisen der Kaufleute) kennt, sondern allein dem individuellen Erlebnis verpflichtet ist. Gleichzeitig gilt Petrarca mit der auf das Naturerlebnis ausgerichteten Besteigung des Mont Ventoux als Vorläufer des modernen Alpinismus. Ebenfalls bis heute Nachwirkungen hat die sog. „Grand Tour“, als die Reisen von jungen Adeligen im 16. und 17. Jahrhundert bezeichnet wurden. Als Teil des adeligen Erziehungsprogramms, in Begleitung eines Mentors (quasi eine Art Vorläufer von modernen Reiseleitern) durchgeführt, war es das Ziel, vor der Übernahme der Positionen des Erwachsenenlebens auf diese vorzubereiten, dabei auch gesellschaftliche Kontakte zu pflegen, durch das Kennenlernen von Praktiken an anderen Adelshöfen den Horizont zu er‐ weitern und sich weiter zu bilden. In den heutigen Kultur- und Bildungs‐ reisen lassen sich viele dieser Motive noch immer identifizieren. Dabei wurde aber auch - wie bereits bei den Vaganten und bis heute nachwirkend - das Recht auf Lebensgenuss mit verbunden. Dabei bildeten sich für die 29 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 29 <?page no="30"?> Grand Tour (mit den wichtigen europäischen Residenzen als Ankerpunkten) klare Hauptreiserouten heraus, die - auf der Suche nach den materiellen kulturellen Relikten der Antike - vor allem in die mittelitalienischen Städte führte (genauer bei F R E Y E R 2011a, S. 11f.). Anhand des Weiterwirkens der Grand Tour wird ein Grundprinzip des modernen Tourismus deutlich: Die Ausbreitung einer kulturellen Praxis von Innovatoren und deren Adaption durch breitere Gruppen. Das Zeitalter der Aufklärung ist vom Streben nach Selbständigkeit, dem Aufstiegswillen des Bürgertums einem Fortschrittsoptimismus gekennzeichnet, bei dem Bildung als Auseinandersetzung mit der Umwelt verstanden wurde. Gleichzeitig markiert die Französische Revolution (1789) den Beginn des Sturzes des, bis dahin dominierenden Feudalsystems und das Erstarken des Bürgertums. Die „Italienische Reise“ oder der Entwicklungsroman Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre von Goethe stehen stellvertretend für die Adaption der Reiseziele der adeligen Grand Tour durch das gehobene Bürgertum. Bis heute wird - verkürzt ausgedrückt durch den Slogan „Reisen bildet“ - Reisen als Mittel der Erziehung und Charakterbildung angesehen. Und bis heute begeben sich alljährlich Millionen bewusst oder unbewusst „auf die Spuren Goethes“, wenn Sie die materiellen Relikte der Antike im Mittelmeer - sei es auf einer organisierten oder individuellen „Studienreise“, als Ergänzung zu einem Badeurlaub, im Rahmen eines Wochenend-Städtereisen-Trip oder am Rande einer Konferenzreise - aufsuchen. Gleichzeitig wird mit der Innovationsdiffusion bei den Kulturreisen deut‐ lich, dass im 19. Jahrhundert das lange Zeit auf Adelige beschränkte Privileg, Reisen zu können, auf breitere Bevölkerungsgruppen ausgedehnt worden ist. Mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung seit dem Ende des 19. Jahrhun‐ derts wird auch das „Recht auf Urlaub“ nicht mehr nur als Privileg von klei‐ neren Teilen der Gesellschaft, sondern als Recht für Jedermann angesehen und wurde im 20. Jahrhundert auch in den Tarifauseinandersetzungen über tägli‐ che Arbeitszeit und Urlaubstage entsprechend vertreten bzw. durchgesetzt. Box 4 | Das Recht auf Urlaub: Chemnitzer Handelskammer 1906 „Es geht viel zu weit, einen Erholungsurlaub für Leute einzuführen, die nur körperlich tätig sind und unter die Gesundheit nicht schädigenden Verhältnissen arbeiten. 30 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 30 <?page no="31"?> Für Beamte, die geistig tätig sind (und häufig Überstunden arbeiten müssen; die auch keine körperliche Ausarbeitung bei ihrer Tätigkeit ha‐ ben) erscheint die Erteilung von Erholungsurlaub gerechtfertigt. Für Arbeiter ist ein solcher Urlaub in der Regel nicht erforderlich. Die Beschäftigung dieser Person ist eine gesunde“ (aus: S P ODE 1987, S. 21). Die mit der verstärkten Nachfrage nach einzelnen Tourismusformen oder auch Destinationen verbundene Banalisierung führt als Push-Faktor oftmals dazu, dass privilegierte Gruppen oder Innovatoren (ähnlich wie beim Ver‐ schieben der Pioniergrenze im Zuge der europäischen Besiedelung in Nord‐ amerika) auf neue Produkte oder Reiseziele ausweichen. Parallel zur An‐ eignung der Kulturreisen im 19. Jahrhundert durch das gehobene Bürgertum erfolgte die Entdeckung von Badereisen durch den Adel. Um exklusiv und „unter Seinesgleichen“ zu sein, wurden einerseits im Binnenland Kurorte entwickelt und frequentiert. Andererseits entstanden an den Küsten (von der englischen Südküste bis zur Ostseeküste) Badeorte (wie z. B. die sog. „Kaiserbäder“ auf Usedom). Auch hier waren die zentralen Motive sowohl gesundheitliche Aspekte (als Vorläufer des heutigen Wellness-Tourismus; vgl. Kap. 6.5) und Geselligkeit sowie des repräsentativen Konsums (soziale Motive, die ebenfalls bis heute nachwirken). Die Kurorte fungierten als Bühnen des Adels und in der Nachfolge des (gehobenen) Bürgertums, bis sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu von den Sozialkassen finan‐ zierten Kurorten für „Jedermann“ wurden. Die Erweiterung der Reisemöglichkeiten für breitere Bevölkerungsgrup‐ pen in der zweiten Hälfte des 19. und dem 20. Jahrhundert wurde neben den gesellschaftlichen Entwicklungen auch von der technischen Entwicklung mit erleichtert. Mit der Erfindung der Eisenbahn, des Pkws und des Flug‐ zeugs wurde Reisen nicht nur leichter und weniger zeitaufwändig, sondern auch erschwinglicher. Der durch den technischen Fortschritt im Zuge der industriellen Revolution mögliche Ausbau der Kapazitäten ging einher mit einer Verteilung des Wohlstands auf breitere Bevölkerungsgruppen. Das Wechselspiel von technischer Entwicklung und wirtschaftspolitischen Ver‐ änderungen führte dazu, dass Urlaub in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun‐ derts sich vom Privileg kleinerer Gruppen zu einer sozialen Praxis des größ‐ ten Teils der Bevölkerung in den hochindustrialisierten Ländern gewandelt hat. 31 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 31 <?page no="32"?> Mit der Ausweitung des Volumens einher ging auch ein Wandel der Or‐ ganisationsformen. Als Begründer der modernen Pauschalreise gilt - auch wenn M UNDT (2014) aufgezeigt hat, dass dessen Rolle ggf. etwas überinter‐ pretiert wird - bis heute oftmals Thomas Cook. Ursprünglich ein britischer Baptistenprediger organisierte er 1841 eine Eisenbahnreise von Leicester nach Loughborough, bei der auch Verpflegung enthalten war. Ziel der Reise war die Teilnahme an einer Abstinenzlerveranstaltung. Auch wenn es sich bei dieser ersten Fahrt also um kein klassisches touristisches Motiv handelt und das Ziel des Veranstalters auch nicht im Gewinnerzielen lag, wird bis heute in den Tourismuswissenschaften als eine Art Mythos diese Fahrt als der Beginn der Pauschalreise angesehen. Diese Interpretation ist sicherlich davon geprägt, dass von Thomas Cook in der Folge ein - 2019 in die Insol‐ venz gegangenes - Reiseunternehmen gegründet wurde, das als Innovator im Bereich der Pauschalreisen gilt. Es bot Reisen aufs europäische Festland, in die USA oder nach Ägypten bis hin zu einer Weltreise als Komplettpaket für relativ günstige Preise an - ein Image, das der den Namen bis heute weiterführende Reisekonzern immer noch pflegt (vgl. Kap. 3.1.1). Als ein Beispiel für den Ansatz, das Privileg von Urlaubsreisen - zumin‐ dest in der offiziellen Propaganda - auch für weitere Kreise der Arbeiter‐ schaft zu öffnen, soll die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) ge‐ nannt werden. Mit dem Ziel der Bindung der „Volksgemeinschaft“ an das NS-Regime wurde nicht nur der KdF-Wagen als Pkw für breite Schichten der Bevölke‐ rung proklamiert (der dann während des 2. Weltkrieges als Kübelwagen an unterschiedlichsten Kriegsschauplätzen eingesetzt wurde und nach dem Weltkrieg als VW Käfer seinen Beitrag zu einer breiten Motorisierung der Bevölkerung leistete), sondern von KdF auch Ferienreisen organisiert. Ne‐ ben dem Bau von Kreuzfahrtschiffen (unter anderem der „Wilhelm Gustloff “, die dann während des 2. Weltkriegs als Lazarettschiff eingesetzt und 1945 während der Evakuierung Ostpreußens versenkt wurde) wurde auf Rügen zwischen Binz und Sassnitz mit dem Bau des Seebades Prora begonnen. Mit der geplanten Kapazität von 20.000 Betten und der kompakten Bauweise entlang der Strandlinie kann das Tourismus-Resort Prora bis zu einem ge‐ wissen Grad als Vorläufer der späteren Erschließung der italienischen und spanischen Mittelmeerküste angesehen werden. Gleichzeitig ist KdF ein ex‐ tremes Beispiel für die ideologische Instrumentalisierung des Tourismus. 32 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 32 <?page no="33"?> Box 5 | Kraft durch Freude (KdF) als Wegbereiter des Massentou‐ rismus und die politische Instrumentalisierung des Tourismus Ideologische Zielsetzung der NS-Organisation „Alles das, was wir tun, dieses Kraft durch Freude, alles, alles, alles dient nur dem einen, unser Volk stark zu machen, damit wir diese brennendste Frage, dass wir zu wenig Land haben, lösen können. Wir fahren nicht in die Welt hinaus zum Spaße, ich habe nicht einen Reiseverein gegründet, das lehne ich ab (…) nein, damit sie Nerven bekommen, damit sie Kraft haben, dass, wenn der Führer einmal diese letzte Frage lösen wird, dann 80 Millionen in höchster Kraft hintreten vor ihn“ (Robert Ley, der Leiter der NS-Organisation „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF) auf einem KdF-Schiff im Sommer 1938). Seebad Prora auch als verdeckte Kriegsvorbereitung „Die Idee des Seebades ist vom Führer selbst. Er sagte mir eines Tages, dass man nach seiner Meinung ein Riesenseebad bauen müsse, das Ge‐ waltigste und Größte von allem bisher Dagewesenen … Es ist der Wunsch des Führers, dass in der Mitte ein großes Festhaus entsteht … Der Führer gab gleichzeitig an, dass das Bad 20.000 Betten haben müsse. Alles soll so eingerichtet sein, dass man das Ganze im Falle eines Krieges auch als Lazarett verwenden kann“ (Robert Ley 1935). Textquelle: Dokumentationszentrum Prora (2010, Mappe C, Q68) Während dem sog. „Kalten Kriegs“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahr‐ hunderts, der vom Wettstreit zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen System geprägt war, wurden Reisen auch als Erfolgsin‐ dikator für die Überlegenheit der jeweiligen Systeme mit angesehen und insbesondere in den sozialistischen Ländern bewusst auch als Instru‐ ment zur Belohnung systemtreuer Personen eingesetzt. 1.2.2 Theoretische Konzepte Die Tourismuswissenschaften als relativ junge Disziplinen, die sich aus ihren „Mutter“-Disziplinen heraus entwickelt haben und entwickeln, sind hinsicht‐ lich der analytischen Konzepte einerseits noch stark von den „Mutter“-Diszi‐ plinen geprägt und andererseits in einem intensiven Austausch und Wech‐ selspiel untereinander. Dementsprechend werden in der Tourismusforschung 33 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 33 <?page no="34"?> auch methodische und konzeptionelle Ansätze aus unterschiedlichen anderen Disziplinen adaptiert und umgesetzt. Vollkommen eigenständige theoretische Konzepte sind bislang in den Tourismuswissenschaften erst begrenzt entwi‐ ckelt worden. Im Folgenden werden exemplarisch einige theoretische Konzepte vorge‐ stellt, die die Grundprinzipien in der tourismusgeographischen Herange‐ hensweise veranschaulichen. Der britische Geograph Peter H AGG ETT (1983) beginnt seine Einführung in die Geographie mit dem bekannten Kapitel „On the beach“. Am Beispiel eines Strandabschnitts werden ausgehend von den naturräumlichen Grund‐ lagen (feiner Sand, sumpfige Areale) und den Zugangsmöglichkeiten die Verteilung der Menschen in diesem Raumabschnitt und die dafür wirksamen Aspekte entwickelt. Mit der zeitlichen Perspektive auf den Tagesverlauf wird deutlich, dass zunächst günstig gelegene Strandabschnitte belegt wer‐ den und erst wenn diese weitgehend gefüllt sind, auch weniger günstig ge‐ legene Abschnitte von den Badegästen aufgesucht werden. Die Überlegungen von H AGG ETT können ergänzt werden um weitere sub‐ jektive Aspekte. So wird ein Liebespaar, das möglichst ungestört sein möchte, sicherlich andere Bereiche des Strandes aufsuchen als z. B. eine Familie mit Kindern, für die die Nähe zum nächsten Eisstand ein mögliches Entscheidungskriterium sein könnte. Aber auch die Frage wo eine zweite Strandbar - möglichst nahe an der ersten, um Agglomerationsvorteile zu nutzen oder möglichst exzentrisch zu dieser - angesiedelt wird, lassen sich anhand dieses simplen Beispiels entwickeln und so die zentralen Paradig‐ men der (Tourismus-)Geographie aufzeigen: die Analyse der durch das Han‐ deln der Menschen im Raum entstehenden räumlichen Muster, die Beein‐ flussung des Handelns durch Rahmenbedingungen, und die Gestaltung der Rahmenbedingungen. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Blickwinkel auf das Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage ausgerichtet ist. 1.2.2.1 Standort-/ Destinationsbezogene Konzepte Stellvertretend für auf die Standorte bzw. die Destinationen bezogene Kon‐ zepte werden in diesem Abschnitt drei Ansätze vorgestellt: 1. Die Theorie der Zentralen Orte von C HRI S TALLE R als Beispiel für 1. die Verteilung von Angebotsstandorten. 2. Das Polarization Reversal-Konzept als Beispiel für die geplante In‐ 2. tervention in Raumstrukturen. 34 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 34 <?page no="35"?> 3. Der Destinationslebenszyklus von B UTLE R als Beispiel für die Ad‐ 3. aption grundlegender ökonomischer Ansätze in der Tourismusgeo‐ graphie. Theorie der Zentralen Orte von Christaller Die ursprüngliche Zielsetzung der Arbeit von Walter C HRI S TALLE R (1933/ 1968) war, eine systematische Erklärung für die unterschiedlichen Größen von Städten zu finden. Als zentrale Schlüsselgröße identifizierte er die Verteilung von Dienstleistungen. Für die Nachfrage nach Dienstleistun‐ gen sah er den Raumüberwindungsaufwand (aufgefasst als Zeit-Kos‐ ten-Mühe-Relation) als zentrale Größe an. Je weiter entfernt ein Angebot von den potentiellen Nachfragern ist, desto weniger häufig wird dieses nachgefragt (vgl. Abb. 4). Abb.‐Nr.: -4 Abb.‐Titel: -Idealschema-einer-Nachfragekurve-(Quelle: - Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Anzahl jährlicher Besuche / Potentialausschöpfung Kosten für Distanzüberwindung Abb. 4: Idealschema einer Nachfragekurve (Quelle: eigener Entwurf) Die Bereitschaft zur Raumüberwindung hängt dabei auch von der Wertigkeit der nachgefragten Dienstleistungen ab. Für eine des Öfteren nachgefragte Leistung, wie z. B. den Besuch eines Freibades oder eine Wanderung am Wochenende ist die Distanzüberwindungsbereitschaft geringer als z. B. für den Besuch einer Wellness-Therme oder eine mehrwöchige Trekking-Tour. Gleichzeitig gibt es Dienstleitungen, die von breiten Teilen einer Bevölke‐ rung nachgefragt werden (z. B. Kinovorführung), und solche, die nur von Wenigen nachgefragt werden (z. B. Ballettaufführung). Grundprämisse von C HRI S TALLE R ist, dass sich Angebote so im Raum verteilen, dass möglichst 35 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 35 <?page no="36"?> wenig Konkurrenz besteht. Aus der Nachfragekurve (vgl. Abb. 4) ergeben sich kreisförmige Einzugsbereiche. Damit keine unterversorgten Gebiete von nebeneinander liegenden kreisförmigen Einzugsbereichen zurückblei‐ ben, wird von C HRI S TALLE R ein hexagonales Wabenschema als sowohl An‐ bieter als auch Nachfrager zufrieden stellendes Verteilungsmuster von Ein‐ zugsbereichen entwickelt (vgl. Abb. 5). Abb.‐Nr.: -5 Abb.‐Titel: -Idealschema-des-Systems-der-Zentralen- Orte-(Quelle: -Eigener-Entwurf-nach-C HRISTALLER 1968) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Zentraler Ort 1. Stufe Zentraler Ort 2. Stufe Zentraler Ort 3. Stufe Zentraler Ort 4. Stufe Abb. 5: Idealschema des Systems der Zentralen Orte (Quelle: eigener Entwurf nach C H R I S T A L L E R 1968) Unmittelbar einsichtig ist bei diesem Konzept auch, dass die technische Ent‐ wicklung von Verkehrsmitteln und deren Verfügbarkeit einen direkten Ein‐ fluss auf die Nachfrageorientierung besitzt. Jede technische Innovation, von der Eisenbahn über den privaten Pkw bis hin zum Flugzeug hat die Reich‐ weite für Freizeitaktivitäten erhöht. Mit der weiten Verbreitung von privaten Pkws wurden die Aktionsradien genauso erweitert wie durch die Preisre‐ duzierungen im Luftverkehr durch die sog. Low Cost Carrier (vgl. Kap. 3.1.3) in den 1990er Jahren. Der Einzugsbereich eines (freizeit-)touristischen An‐ gebots ist damit keine feste kilometrische Größe sondern hängt auch von der für die Raumüberwindung aufzuwendenden Zeit, der damit verbunde‐ nen Mühe und den aufzubringenden Kosten ab. Als Faustformel wird z. B. 36 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 36 <?page no="37"?> bei Angeboten für Tagesausflüge davon ausgegangen, dass das Einzugsge‐ biet sich auf den Quellraum erstreckt, von dem aus das Angebot (z. B. ein Freizeitpark) innerhalb von zwei Stunden zu erreichen ist. Während vor der Verfügbarkeit von motorisierten Verkehrsmitteln für einen Tagesausflug nur wenige Kilometer zurückgelegt worden sind, ist es mit den Low Cost Carriern prinzipiell möglich für einen Tagesausflug auch nach Mallorca oder in eine der europäischen Metropolen zu fliegen. Das ursprünglich als reines Analysekonzept entwickelte Zentrale Orte-Schema wurde seit den 1970er Jahren dann auch normativ gewendet und intensiv in der räumlichen Planung eingesetzt. Insbesondere im Bereich der Freizeitstättenplanung wurde von der öffentlichen Hand das Prinzip der Daseinsvorsorge auf den Grundlagen von Christaller umgesetzt. Aber auch bei privatwirtschaftlichen Investitionen (z. B. in Musical-Theater) wird auf die Überlegungen zu den Einzugsbereichen und der Mitbewerberanalyse zurückgegriffen. Polarization Reversal Ansatz von Richardson Das Konzept des Polarization Reversal von R ICHARD S ON (1980) versucht re‐ gionale Wachstumstheorien und Polarisationstheoretische Ansätze zu ver‐ knüpfen. Ursprünglich am Beispiel der sog. Entwicklungsländer formuliert, geht die grundsätzliche Beobachtung davon aus, dass zu Beginn eines Ent‐ wicklungszyklus zunächst Konzentrationsprozesse stattfinden mit der räumlichen Konzentration auf wenige Standorte. Erst wenn Agglomerati‐ onsnachteile (z. B. durch eine zu große Nachfrage in Destinationen) auftre‐ ten, werden zentrifugale Kräfte wirksam und bislang periphere Standorte von der Entwicklungsdynamik erfasst, bis sich am Ende ein ausgeglichenes Raumgefüge einstellt (vgl. Abb. 129 in Kap. 7.3). Die Zielsetzung von R ICHARD S ON war, aufzuzeigen, dass dieser Prozess des Ausgleichs von Polaritäten durch gezieltes staatliches Handeln beein‐ flusst werden kann. Damit wurde er zu einem der wichtigen Ansätze für den staatlichen Anspruch des Ausgleichs von Disparitäten und der Entwicklung von peripheren Räumen. Mangels anderer ökonomischer Potentiale wird für periphere ländliche Räume oftmals die touristische Inwertsetzung als Op‐ tion zur Stimulierung der Regionalökonomie angesehen. Das Grundprinzip der Entwicklung peripherer Regionen durch touristi‐ sche Investitionen wurde vom V O RLAU F E R 1996 veranschaulicht (vgl. Abb. 6). In der Anfangsphase (gedacht als erste Hotelinvestition) kommt der Großteil der benötigten Ressourcen für den Bau und Betrieb (von den Lebensmitteln 37 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 37 <?page no="38"?> bis hin zu Klimaanlagen und deren Wartung) von außerhalb der Destination (je nach nationalem Entwicklungsstand auch von außerhalb des Landes). Die zunehmende Nachfrage (gedacht als Ausbau der Hotelkapazitäten) führt dazu, dass sich nach und nach Zulieferbetriebe - zunächst für einfachere Leistungen, wie z. B. Lebensmittel und sukzessive auch für höherwertige Bedarfe - in der Destination ansiedeln. In der Folge entsteht eine eigen‐ ständige, sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung von ehemaligen Peripherregionen. Abb.‐Nr.: -6 Abb.‐Titel: -Schema-der-Ausbildung-von-Linkage Effekten-bei-der-touristischen-Erschließung-von- Peripherregionen-(Quelle: -Eigene-Darstellung-nach- V ORLAUFER 1996,-S. 166) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Kernregion Peripherregion IMPORTE Ausländische Lieferanten Initialphase Kernregion Peripherregion IMPORTE Ausländische Lieferanten Konsolidierungsphase Kernregion Peripherregion IMPORTE Ausländische Lieferanten Wachstumsphase einfach mittel gehoben Zulieferbeziehungen (unterschiedliche Niveaus) Hotels Zulieferer Abb. 6: Schema der Ausbildung von Linkage-Effekten bei der touristischen Erschließung von Peripherregionen (Quelle: eigene Darstellung nach V O R L A U F E R 1996, S. 166) Auch wenn es sich hier um ein idealtypisches Schema für den Entwick‐ lungsländertourismus handelt (genauer in Kap. 7.3) das in der Realität auch von weiteren Rahmenbedingungen abhängt, folgen diesen Grundüberle‐ 38 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 38 <?page no="39"?> gungen auch viele Ansätze zur Förderung des Tourismus im ländlichen Raum der Industriestaaten (vgl. z. B. R EIN & S CHULE R 2012). Destinationslebenszyklusmodell von Butler Der britische Tourismusgeograph Richard B UTLE R übertrug 1980 ein vorher im Bereich der Industriegüter verwendetes Modell zum Produkt-Lebenszy‐ klus auf die Entwicklung von Destinationen. Ausgangshypothese ist hierbei, dass touristische Regionen - ähnlich wie Industrieprodukte auch - einem regelhaft verlaufenden Innovations-Reife-Niedergang-Zyklus unterliegen. Dabei werden folgende Stufen unterschieden (vgl. auch Abb. 7). Abb.‐Nr.: 7 Abb.‐Titel: -Grundprinzip-des-Destinations‐ Lebenszyklus-(Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-B UTLER 1980) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE zeitlicher Verlauf Zahl der Touristen 1: Erkundung 5: Stagnation 4: Konsolidierung 3: Entwicklung 2: Erschließung 6a: Erneuerung ? ? ? 6b: Niedergang ? ? ? Abb. 7: Grundprinzip des Destinationslebenszyklus (Quelle: eigene Darstellung nach B U T L E R 1980) 1. Erkundung: In einer ersten Phase wird eine Region nur von einer ge‐ 1. ringen Zahl von Touristen besucht, die eine Art Pionierfunktion über‐ nehmen und das Gebiet wegen bestimmter Anziehungspunkte aufsu‐ chen. In dieser ersten Phase verfügt das Zielgebiet nur über eine unzureichende, lediglich gering ausgebildete touristische Infrastruktur. 2. Erschließung: In einer zweiten Phase werden (oftmals motiviert 2. durch die bereits vorhandene Nachfrage) mit der systematischen Schaffung touristischer Infrastruktur die Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung verbessert. 39 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 39 <?page no="40"?> 3. Entwicklung: Vergleichbar einer Phase des Take Off, setzt nun eine 3. boomartige Entwicklung ein, die auch von einem verstärkten Engage‐ ment externer Investoren gekennzeichnet sein kann. Dabei machen sich gelegentlich auch Anzeichen einer Übernutzung der Ressourcen be‐ merkbar. 4. Konsolidierung: Geringer werdende Zuwachsraten, d. h. eine rück‐ 4. läufige Entwicklungsdynamik und wenig neue Impulse, kennzeich‐ nen die Konsolidierung. 5. Stagnation: Sind trotz kleinerer Oszillationen der Nachfrage keine 5. generellen Zuwächse mehr zu verzeichnen, ist die Tourismusregion in die Phase der Stagnation eingetreten. Häufig treten ökologische und soziale Probleme der touristischen Inwertsetzung jetzt stärker in den Vordergrund. 6. Erneuerung oder Niedergang: Während die Phasen 1 bis 5 empirisch 6. an einer Reihe von Fallbeispielen nachvollzogen werden können, ist bislang noch relativ unklar, welche weitere Entwicklung touristisch intensiv erschlossene Regionen nunmehr nehmen können. Abgesehen von der prinzipiell denkbaren Stagnation auf hohem Niveau, ist eine weitere mögliche Option die Annahme eines Niedergangs und damit des Endes eines Entwicklungszyklus. Als weiteres Szenario sind aber auch die Antizipation des Niedergangs und ein aktives Gegensteuern hin zu einer Erneuerung (Rejuvenation), d. h. dem Einstieg in einen neuen Produkt-Lebenszyklus ohne vorherigen Niedergang, denkbar. Der wirtschaftliche Ertrag nimmt idealtypisch von Phase 1 bis 4 kontinuierlich zu und bleibt auch in der Phase der Stagnation und sogar des Niedergangs noch auf hohem Niveau. Angesichts einer zufriedenstellenden Ertragslage werden Diversifizierungsanstrengungen zur Einleitung einer Produkterneuerung oft‐ mals erst sehr spät (möglicherweise zu spät) eingeleitet. Das Destinationslebenszyklusmodell von B UTLE R hat gleichzeitig auch die Überlegungen zur Tragfähigkeit von Destinationen befördert. Wenn die (natürlichen) Grundlagen bzw. die Tragfähigkeit einer Destination als Y-Achse gedacht werden, kann anhand dieser Überlegungen - um zu ver‐ meiden, dass durch ein Überschreiten der Tragfähigkeitsgrenze bzw. eine Übernutzung der Ressourcen eine Degradation (= Niedergang) ausgelöst wird - auch die Entwicklung entsprechend gesteuert werden. Gleichzeitig wird die Position eines Produkts oder einer Destination im Lebenszyklus auch als relevante Basis für die Stimulierung von Innovatio‐ 40 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 40 <?page no="41"?> nen zum Antizipieren von Stagnation oder dem Relaunch als Analysemodell eingesetzt (vgl. hierzu auch das Portfoliomodell in Kap 3.2.2). Abb.‐Nr.: 8 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Zahl-der-Multiplexkinos-in- Deutschland-von-1990-bis-2005-(Quelle: -Eigene- Darstellung-nach-FFA-div.-Jg.) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 25 50 75 100 125 150 Abb. 8: Entwicklung der Zahl der Multiplexkinos in Deutschland von 1990 bis 2005 (Quelle: eigene Darstellung nach FFA div. Jg.) Fast idealtypisch dem Lebenszyklusmodell folgt die Entwicklung der Mul‐ tiplexkinos in den 1990er Jahren (vgl. Abb. 8). Nachdem 1990 vom amerika‐ nischen Kinokonzern UCI in Hürth bei Köln das erste Multiplexkino Deutschlands eröffnet worden war, ist die zweite Hälfte der 1990er Jahre von einem regelrechten Boom gekennzeichnet, bei dem knapp 150 Multi‐ plexkinos eröffnet worden sind. Bereits nach fünf Boomjahren ist allerdings seit 2000 eine deutliche Marktsättigung zu erkennen, sodass die Zahl der Multiplexe bis heute auf diesem Niveau stagniert (genauer bei F R EITAG & K AG E RMEIE R 2002). Grenzen des Modells des Destinationslebenszyklus liegen - wie am Bei‐ spiel der Multiplexkinos deutlich wird - darin, dass sich in der Anfangsphase weder die Höhe der, sich in der Reifephase einstellenden Nachfrage noch die Zeitspanne ableiten lassen. Ob ein Produkt in einer Destination nur einen kurzen touristischen Hype erfährt und dann nach kurzer Zeit wieder ver‐ schwindet, lässt sich mit diesem simplen Modell nicht prognostizieren. Hierzu sind differenzierte Ansätze, auch unter Einbeziehung von nachfrageseitigen Aspekten notwendig, wie sie im nächsten Abschnitt behandelt werden. 41 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 41 <?page no="42"?> 1.2.2.2 Nachfragebezogene Konzepte Entsprechend dem Blickwinkel der Tourismusgeographie sowohl auf die Angebotsseite und deren räumliche Aspekte als auch die, mit den Angeboten im Wechselspiel stehende Nachfrageseite ist dieser Abschnitt einigen aus‐ gewählten Konzepten und Ansätzen zur Analyse der Nachfrageseite gewid‐ met. Dabei werden behandelt 1. die Bedürfnispyramide nach M AS LOW , 1. 2. das Konzept der Lebensstile und 2. 3. die Ansätze zur Erlebnisorientierung. 3. Die Bedürfnispyramide nach Maslow Ausgangspunkt des sozialpsychologischen Konzepts der Bedürfnispyramide von M AS LOW (1943) ist, dass Bedürfnisse der Ausgangspunkt menschlichen Handelns sind. Dabei gibt es eine klare hierarchische Abfolge von (physio‐ logischen) Grundbedürfnissen, Sicherheitsbedürfnissen, sozialen Bedürfnis‐ sen, Wertschätzungsbedürfnissen und Selbstverwirklichungsbedürfnisse (vgl. Abb. 9). Priorität haben die grundlegenden Bedürfnisse. Erst wenn die Subsistenz gesichert ist, wird versucht, höhere Bedürfnisse zu befriedigen. Abbildung-9 Selbstverwirklichung Wertschätzung Prestige, Anerkennung Soziale Bedürfnisse Liebe, Freundschaft, Solidarität Sicherheitsbedürfnisse Zukunftsvorsorge, Versicherungen Grundbedürfnisse Essen, Trinken, Schlafen, Wohnen, Sexualität Reisen zur Persönlichkeitsentwicklung Reisen als Prestige und gesellschaftliche Anerkennung Private und gesellschaftliche Besucherreisen Reisen zur Sicherung des Grundeinkommens Reisen zur unmittelbaren Deckung des Grundbedarfs Abb. 9: Bedürfnispyramide nach M A S L O W und Entsprechungen im Tourismus (Quelle: eigene Darstellung nach M A S L O W 1943 & F R E Y E R 2011a, S. 72) 42 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 42 <?page no="43"?> Bei der Übertragung des Konzepts der Bedürfnispyramide auf den Touris‐ mus ist es zwar prinzipiell möglich, auch Reisen zur Befriedigung von Grundbedürfnissen (z. B. Handelsreisen) oder zur Sicherstellung der Sicher‐ heitsbedürfnisse (z. B. Kuraufenthalte zur Wiederherstellung bzw. Erhaltung der Arbeitskraft) anzusprechen. Größere Bedeutung erhält das Konzept aber bei den drei oberen Bedürfnisebenen. Grundprinzip von freizeittouristi‐ schen Aktivitäten ist, dass diese erst dann - sei es mit Blick auf die (ökono‐ mische) Entwicklung der Gesellschaft oder der Situation eines Individuums - als Bedürfnisse realisiert werden, wenn die Grund- und Sicherheitsbe‐ dürfnisse befriedigt sind. Dabei können die drei oberen Stufen einerseits als Entwicklungspfad von gesellschaftlich verankerten Werten aber auch als individuelle Stufen verstanden werden. Das Reisen zum Pflegen von sozialen Kontakten (sei es zusammen mit anderen oder zum Besuch von Bezugsper‐ sonen) ist offensichtlich ein relevantes Reisemotiv. Da Reisen lange Zeit als Privileg von kleineren Gruppen galt und nur für einen - wenn auch im Zeitverlauf zunehmenden - Teil der Bevölkerung erschwinglich war, spielte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das über Reisen vermittelte Re‐ nommee oftmals eine Rolle bei der Auswahl von Reisezielen. Reisen in De‐ stinationen mit einem hochwertigen Image als eine Form des demonstrati‐ ven Konsums, der dann in der Folge - sei es über den Versand von Postkarten oder das Zeigen von Urlaubsdias im Bekanntenkreis - auch entsprechend kommuniziert wurde, kann als Handeln zum Erlangen von Prestige oder Anerkennung interpretiert werden. Solche Verhaltensmuster spielen wohl auch heute noch eine Rolle beim Posten von Fotos auf Social-Media-Platt‐ formen oder entsprechenden digitalen Reiseberichten. Ende des 20. Jahrhunderts rückt dann das (aktuell) höchste Bedürfnis stärker auch in den Fokus von (freizeit-)touristischen Aktivitäten. Reisen, das nicht mehr primär außenorientierte Motive und Zwecke aufweist, son‐ dern stark auf die Selbstverwirklichung des Individuums orientiert ist, ge‐ winnt in den letzten Jahren mehr und mehr an Bedeutung. Die Angebote von inszenierten Freizeitwelten in den 1990er Jahren können als Antwort auf die Bedürfnisse der als „Spaßgesellschaft“ apostrophierten Phase von touristischen Trends angesehen werden (vgl. R OMEI SS -S TRACKE 2003). Seit der Jahrtausendwende ist zu beobachten, dass mehr und mehr auf die Per‐ sönlichkeit des Reisenden ausgerichtete Angebote an Bedeutung gewinnen (vgl. L EDE R 2007). Dieser Trend bedeutet gleichzeitig, dass nicht nur andere Tourismusformen, in denen das persönliche Erlebnis eine neue Bedeutung bekommt (von Wellness- und Wandertourismus bis hin zum Klosterurlaub) 43 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 43 <?page no="44"?> an Bedeutung gewinnen. Mit dem Slogan „Destination Ich“ wird ausge‐ drückt, dass sich auch der Stellenwert der Destinationen verändert. Das frü‐ her wichtigere Renommee und Image eines Urlaubsortes oder einer Ur‐ laubsregion zur Vermittlung von Prestige tritt gegenüber den auf die Persönlichkeit des Touristen ausgerichteten Urlaubserlebnissen in den Hin‐ tergrund. Damit ergeben sich unter dem Blickwinkel des Destinationsma‐ nagements (vgl. Kap. 4) auch neue Perspektiven für Regionen, die bislang eher als nachrangig eingestuft wurden, wenn es ihnen gelingt, die auf die persönliche Selbstverwirklichung ausgerichteten Bedürfnisse anzuspre‐ chen. Lebensstilansatz zur Zielgruppensegmentierung Im Zuge der Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der (touristischen) Bedürfnisse kommt auch der Zielgruppensegmentierung zur adäquaten ziel‐ gruppenspezifischen Adressierung eine zunehmende Bedeutung zu. So lange touristische Orientierungen Teil eines relativ fest gefügten sozialen Kontext waren, bzw. das durch die Reisen vermittelte Prestige eine große Rolle spielte, konnten die Orientierungen relativ leicht aus der sozialen Stel‐ lung der potentiellen Reisenden abgeleitet werden. Der Besuch von be‐ stimmten Destinationen hat sich stark danach ausgerichtet, ob sich jemand „etwas leisten konnte“ bzw. welche Destinationen innerhalb der Peer-Group als „In“ und „Chic“ galten. Mit der zunehmenden Individualisierung der Ge‐ sellschaft und dem Zunehmen von auf die Selbstverwirklichung ausgerich‐ teten Reisemotiven hat die Unterscheidungskraft des bis in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts in den Sozialwissenschaften verwendeten sog. Schich‐ tenmodells (mit der Haupteinteilung in Grund-, Mittel- und Oberschicht) abgenommen. Während der fordistischen Moderne galt die Zugehörigkeit zu sozialen Klassen oder Schichten als prägendes Moment für die Orientierung von Verhaltensweisen. Mit der zunehmenden Inhomogenität und Auflösung tra‐ ditioneller Klassen im Übergang zur Postmoderne verlieren diese Kon‐ strukte ihre prägende Funktion für das (Freizeit- und Tourismus-)Verhalten. Analytisch wird versucht, die Heterogenisierung und Individualisierung der Lebens- und Konsummuster mittels sog. Lebensstilgruppen abzubilden. Der Soziologe H RADIL definiert: „Ein Lebensstil ist […] der regelmäßig wiederkehrende Gesamtzusammenhang der Verhaltensweisen, Interaktio‐ nen, Meinungen, Wissensbestände und bewertenden Einstellungen eines Menschen“ (H RADIL 2005, S. 46). Nach B OURDIEU sind Lebensstile Ausdruck 44 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 44 <?page no="45"?> einer strukturellen Vielfalt (B OURDIEU 1987), wobei sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Aspekte teilweise entkoppelt sind. Dabei wird zwischen ökonomischem, kulturellem (z. B. Bildung, Wissenskompetenz) und sozia‐ lem (z. B. Kommunikationsfähigkeit, Zugehörigkeit) Kapital (B OU RDIEU 1983) unterschieden. Allerdings sind Lebensstile nicht ganz unabhängig von der materiellen Basis, sondern mit dieser in der Weise rückgekoppelt, dass sie bestimmte Verhaltensdispositionen begünstigt. Lebensstile können als Grundhaltungen aufgefasst werden, die sich in bestimmten Präferenzen (z. B. konsum- oder freizeitbezogen) niederschla‐ gen. Lebensstile können von anderen abgrenzen oder mit diesen verbinden. Dabei kann ein Lebensstil Ausdruck einer politisch-weltanschaulichen Ein‐ stellung sein oder starke Bezüge zu bestimmten Konsummustern aufweisen. Der starke symbolische Gehalt von Lebensstilen hat Rückwirkungen auf die Art der Konsumentenansprache im Rahmen des Marketings, das zielgrup‐ penspezifisch Elemente der Lebensstile aufgreift. Auch im Urlaub wird nicht mehr quasi automatisch das nachgefragt und konsumiert, was man sich leisten kann. Vielmehr treten individuelle Grund‐ haltungen als Hintergrundmotive für Konsumpraktiken in den Vorder‐ grund. Dementsprechend gewinnt die Identifizierung von sog. Lebensstilen für die Konsumforschung und auch die Tourismuswissenschaften an Rele‐ vanz, um entsprechend konditionierte Angebote entwickeln zu können. Eine der im deutschsprachigen Raum bekanntesten Einteilungen in Le‐ bensstilgruppen ist die vom Markt- und Sozialforschungsinstitut Sinus ent‐ wickelte Einteilung in die sog. „Sinus-Milieus“. Auch wenn die traditionelle Schichtendifferenzierung (und damit auch die Kaufkraftunterschiede) in das Lebensstilmodel mit einfließen werden drei Grundorientierungen zur Aus‐ differenzierung von sog. „Milieus“ unterschieden: 1. Tradition (mit den Milieus der „Traditionellen“ und der „Konserva‐ 1. tiv-Etablierten“) 2. Modernisierung/ Individualisierung (mit den Milieus der „Prekären“, 2. der „Bürgerlichen Mitte“, dem „Sozial-ökologischen“ und dem „Libe‐ ral-Intellektuellen“ Milieu sowie 3. Neuorientierung (mit den „Hedonisten“, den „Adaptiv-Pragmati‐ 3. schen“, den „Expeditiven“ und den „Performern“; Reihenfolge der Mi‐ lieus jeweils in der Reihenfolge zunehmender Kaufkraft; vgl. Sinus 2014, siehe auch Abb. 131 in Kap. 7.3.1). 45 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 45 <?page no="46"?> Grundprinzip der von Sinus nicht genau offen gelegten Vorgehensweise ist bei allen Einteilungen in Lebensstilgruppen auch eine Berücksichtigung von sog. „Stated Preferences“, d. h. Aussagen der Individuen über Präferenzen hinsichtlich von Werthaltungen oder Verhaltensmustern. Die Erfassung er‐ folgt meist mit sog. Likert-Skalen, bei denen zu einzelnen Items positiv oder negative formulierte Aussagen zu Konsum- und Freizeitverhaltensmustern bzw. -präferenzen abgefragt werden. Dabei können die Probanden ihre Zu‐ stimmung oder Ablehnung in mehreren, vorgegebenen Abstufungen - z. B. von „stimme voll zu“ bis „stimme überhaupt nicht zu“ - angeben. Auf der Basis der Einzelaussagen werden dann mit einer Clusteranalyse Teilstich‐ proben relativ ähnlicher Merkmalsausprägungen zu einstellungs- und ver‐ haltensähnlichen Gruppen abgegrenzt. Die Bezeichnung der Cluster erfolgt anschließend anhand der typischen Merkmalsausprägungen innerhalb der Cluster. Diese Verfahrensweise erklärt auch, warum die Festlegung von Lebens‐ stilgruppen je nach einbezogenen Variablen und den Parametern der Clus‐ teranalyse so gut wie nie zu identischen Gruppierungen führt. Es zirkuliert daher eine Vielzahl von - oftmals zwar ähnlichen, aber im Detail dann doch etwas unterschiedlichen - Zuordnungen (und auch die von Sinus festgeleg‐ ten Milieus haben sich im Laufe der Jahre verändert). Die Relevanz der Einteilung in Milieus oder Lebensstile soll anhand des nachfolgenden Beispiels kurz veranschaulicht werden. Bei einer Befragung zur Freizeitmobilität wurden Freizeitstilgruppen über ein breites Spektrum von Aussagen zu Präferenzmustern der Freizeitgestaltung gebildet (genauer bei G R ONAU & K AG E RMEIE R 2007). Bei einer Gegenüberstellung der unter‐ schiedlichen Freizeitstilgruppen mit der diese bei der Wahl des Verkehrs‐ mittels auf funktionale Aspekte (Sicherheit, Zuverlässigkeit, Preiswürdig‐ keit) oder spaß-orientierte Aspekte (Freude am Fahren, Autofahren als Selbstzweck) Wert legen, zeigt sich deutlich, dass unterschiedliche Freizeit‐ stilgruppen den funktionalen und den spaß-orientierten Aspekten verschie‐ den großes Gewicht beimessen (vgl. Abb. 10). 46 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 46 <?page no="47"?> Abb.‐Nr.: -10 Abb.‐Titel: -Spaß‐ und-Funktionsorientierung-bei- Verkehrsmittelwahl-in-der-Freizeit-(Quelle: -Eigene- Darstellung-nach-G RONAU &-K AGERMEIER 2007,-S.129) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0,25 1 0,75 1 0,5 0,5 0,75 0,25 0 Bedeutung Funktion Preissensible Bequeme Sportlich Umweltbewusste Vielseitige Familienmenschen Ruhige Genießer Spaßorientierte Autofreunde Außenorientierte Sportler Eilige Individualisten Bedeutung Spass Abb. 10: Spaß- und Funktionsorientierung bei Verkehrsmittelwahl in der Freizeit für unterschiedliche Freizeitstilgruppen (Quelle: eigene Darstellung nach G R O N A U & K A G E R - M E I E R 2007, S. 129) Dementsprechend weisen sie auch eine unterschiedliche Affinität zur Inan‐ spruchnahme von relativ umweltverträglichen Verkehrsmittelalternativen auf. Eine solche Analyse im Vorfeld der Einführung von z. B. ÖPNV-Ange‐ boten zur Erschließung einer Freizeiteinrichtung kann mit dazu beitragen, das konkrete Potential genauer einzugrenzen. Vereinfacht ausgedrückt ist es schwieriger, „spaß-orientierte Autofreunde“ für den Besuch einer Motor‐ sportveranstaltung durch ein entsprechendes Zubringerbusangebot anzu‐ sprechen als z. B. familienorientierte Besucher eines Freizeitparks. Die Segmentierung der Lebens- und Konsumstile weist dabei eine gewisse Beliebigkeit auf. Je nachdem, welche Ausgangsparameter in die Clusteran‐ alysen eingespeist und mit welchen Vorgaben diese durchgeführt werden, entstehen teilweise voneinander abweichende Gruppen ähnlicher Ausprä‐ gungen, die dann anhand ihrer Gemeinsamkeiten mit schlagkräftigen Be‐ zeichnungen versehen werden. Teilweise entsteht dabei der Eindruck, dass manchmal mehr Kreativität und Energie in die Generierung von Begriffen verwendet wird als in die methodisch sauberere Ermittlung. Ähnlich ist es auch bei der stark umworbenen Gruppe der sog. 50plus-Generation, die als mit so schillernden Metaphern wie Silver Consumer, Best Ager, Generation 47 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 47 <?page no="48"?> Gold, Golden Ager oder Master Consumer bezeichnet wird, ohne dass da‐ hinter eine große analytische Substanz steht. Erlebnisorientierung Im Zusammenhang mit der nachfrageorientierten Gestaltung von touristi‐ schen Angeboten wird in den letzten Jahren dem Besuchererlebnis ein wachsendes Augenmerk gewidmet. Auch wenn retrospektiv seit der Zeit der Vaganten (vgl. Kap. 1.2.1) das persönliche Erlebnis als relevantes Motiv an‐ gesehen wird, ist dessen Operationalisierung, Erfassung und genauere Ana‐ lyse erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den Fokus der sozialwissen‐ schaftlichen Analyse gerückt. Dies hängt damit zusammen, dass in den letzten Jahrzehnten (vgl. auch die Ausführungen zu M AS LOWS Bedürfnispy‐ ramide in diesem Kapitel) die individuelle Selbstverwirklichung und damit auch das individuelle Erlebnis an Bedeutung für die Individuen zugenom‐ men haben. Die zunehmende Bedeutung des individuellen Erlebnisses wurde von S CHULZE (1992) in seinem Buch über die Erlebnisgesellschaft auf einen Wan‐ del der Lebensauffassungen zurückgeführt. Lange Zeit galt für den Großteil der Gesellschaft eine sog. außenorientierten Lebensauffassung, die in einer klar sozial strukturierten und geschichteten Gesellschaft externe Vorgabe von Zielen und Normen für das Individuum (z. B. Reproduktion der Ar‐ beitskraft, Beschaffung von lebensnotwendigen Ressourcen, Aneignung von Qualifikationen, Altersvorsorge) bedeutete. Diese ist abgelöst worden von einer stärker innenorientierten Lebensauffassung, bei der die Gestaltungs‐ idee eines „schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Le‐ bens“ (S CHULZE 2005, S. 37) in den Vordergrund trat. Die damit verbundene Betonung des subjektiven Erlebnisses in weiten Teilen der Gesellschaft führt zu einer Ästhetisierung des Alltagslebens und einer Höherbewertung der Selbstverwirklichung. Die Freizeit- und Erlebniswelten des ausgehenden 20. Jahrhunderts (vgl. z. B. S TEINECKE 2000) haben genau diese subjektive Erlebnisorientierung an‐ gesprochen, indem Sie dem Individuum ein positives Erlebnis versprachen. Damit war dieses Versprechen von unverwechselbaren, einmaligen Erleb‐ nissen als der zentrale Erfolgsfaktor für den im letzten Kapitel thematisierten Boom der Freizeit- und Erlebniswelten in den 1990er Jahren anzusehen. K AG ELMANN hat die Erfolgsfaktoren der Freizeit- und Erlebniswelten der 1990er Jahre wie folgt zusammengefasst: 48 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 48 <?page no="49"?> 1. die Tatsache, dass die Besucher in eine Kontrastwelt zur Alltagswelt 1. eintauchen können, 2. eine größere Zahl von Erlebnissen auf hohem und verlässlichem Ni‐ 2. veau vermittelt werden, 3. immer wieder neue Angebote mit wechselnden Attraktionen und 3. Events geboten werden, 4. die professionelle Organisation auf einen perfekten ungestörten (Kon‐ 4. sum-) Genuss ausgerichtet ist, 5. multifunktionale Angebote den multioptionalen Ansprüchen der 5. Nachfrager entsprechen, 6. ein thematisches Leitmotiv, das idealerweise dem Grundprinzip des 6. Storytellings folgt, und ein unverwechselbares Erlebnis verspricht (nach K AG ELMANN 1998, S. 79ff.). Dabei zeigte sich aber, dass der Erfolg von auf oberflächliches Erlebnis aus‐ gerichteten Angeboten oftmals nur kurzfristig war. Ein einmal gemachtes Erlebnis kann bei der Wiederholung als nur noch begrenzt attraktiv emp‐ funden werden. Diesem Abnutzungseffekt wurde lange Zeit über eine In‐ tensivierung bzw. Erneuerung der gebotenen Effekte entgegengewirkt. O PAS CHOWS KI (2000) prägte dabei den Begriff der „Erlebnisspirale“, bei der immer ausgefeiltere Angebote nachgefragt werden. Das kontinuierliche „Nachrüsten“ in den Freizeitparks und Konsumwelten der 1990er Jahre kann als Anzeichen dafür angesehen, dass in Teilen des Marktes auch heute noch dem Leitbild des „schneller, höher, weiter“ gefolgt wird. Auch wenn die 1990er Jahre von einer intensiven Beschäftigung mit den sog. Erlebniswelten geprägt waren, sind bis heute unsere Kenntnisse über die Erlebnisse induzierende und auslösende Aspekte sowie die unterschiedlichen Arten von Erlebnissen relativ überschaubar. Viele Ansätze beziehen sich auf die von P INE & G ILMO R E identifizierten Dimensionen der Besucheransprache. P INE & G ILMO R E (1999) versuchen, bei der von ihnen ausgerufenen sog. „Erlebnisökonomie“ neue Wege zur Ansprache der Kunden zu finden. Bei diesem in sich recht stimmigen und auch intensiv rezipierten Definitionsver‐ such wird die soziale Dimension der Interaktion nicht aufgeführt. P INE & G ILMO R E unterscheiden dabei zwei Dimensionen des Erlebnisses, die durch die beiden Achsen Passive-Aktive Teilnahme (Passive-Active Participation) und Aufnahme-Eintauchen (Absorption-Immersion) gekennzeichnet sind (vgl. Abb. 11). Traditionelle touristische Angebote sind stark auf die Auf‐ nahme/ Rezeption ausgerichtet. Im Bereich der klassischen Kultur- und Bil‐ 49 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 49 <?page no="50"?> dungsreise erfolgt diese durch eine aktive Beteiligung, während im Bereich der Freizeitparks eher passive Beteiligung dominiert. Als Zwischenform kann der Edutainment-Ansatz angesehen werden (teils aktiv, teils passiv). Abb.‐Nr.: -11 Abb.‐Titel: -Dimensionen-der-erlebnisorientierten- Besucheransprache-nach-Pine-&-Gilmore-(Quelle: - Eigene-Darstellung-nach-P INE &-G ILMORE 1999,-S.-32) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Aktive Beteiligung Aufnahme Passive Beteiligung Eintauchen Bildung Ästhetik Escapist Entertainment EDUTAINMENT Abb. 11: Dimensionen der erlebnisorientierten Besucheransprache nach P I N E & G I L - M O R E (Quelle: eigene Darstellung nach P I N E & G I L M O R E 1999, S. 32) Mit den sich abzeichnenden Abnutzungs- und Ermüdungserscheinungen bei den klassischen Angeboten rückt der vierte von P INE & G ILMO R E formulierte Quadrant zur Generierung von Erlebnissen in den Fokus, der „Escapist“. Die‐ ser zielt auf die aktive Einbeziehung und das Eintauchen in das Erlebnissetting ab. Neben den sportlichen Angeboten, bei denen dieser Aspekt schon immer eine wichtige Rolle spielte, wird nun versucht, die Aufbereitung von kulturel‐ len Angeboten nicht nur durch eine aktive Einbeziehung der Besucher attrak‐ tiver zu gestalten, sondern auch auf das Eintauchen in das spezifische Setting ausgerichtete Inszenierungansätze zu verfolgen (genauer z. B. bei A RLETH & K AG E RMEIE R 2009). Auch G ÜNTHE R (2006, S. 57) betont die aktive Rolle des Be‐ suchers bei der Aneignung von angebotenen Erlebnis-Settings und propagiert den Rollenwechsel vom Erlebnis-Konsumenten zum Erlebnis-Produzenten. Eine theoretische Basis für die Rolle der Aktivierung im Zuge von Erleb‐ nis-Settings bietet das Flow-Konzept von C S IK S ZENTMIHALYI (1990 & 1991). Als Flow wird ein mentaler Zustand verstanden, in dem die Person vollstän‐ dig in die Aktivität eintaucht und in einer Tätigkeit aufgeht, die klare Ziele aufweist und dem Individuum eine unmittelbare Rückmeldung vermittelt. 50 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 50 <?page no="51"?> Zielsetzung touristischer Erlebnisinszenierungen ist daher oftmals die Erzeu‐ gung eines Flow-Gefühls bei den Gästen. Das als positiv empfundene Flow-Erlebnis stellt sich dann ein, wenn die gestellten Anforderungen in Ein‐ klang mit den Möglichkeiten des Individuums stehen, d. h. weder Übernoch Unterforderung besteht (vgl. Abb. 12). Traditionelle Urlaubsangebote zielten lange Zeit auf reine Entspannung (= Relaxation) ab. Demgegenüber war Kennzeichen der für das ausgehende 20. Jahrhunderts charakteristischen Freizeit- und Erlebniswelten die Generierung von Erlebnissen, die vor Allem einen kurzzeitigen „Nervenkitzel“ oder „Kick“ (= Arousal) erzeugten. Unter dem Blickwinkel des Flow-Konzepts (vgl. Abb. 12) bedeutet dies, dass beim typischen Entspannungsurlaub, wie dem Badeurlaub, nur relativ geringe Anforderungen an die Urlauber gestellt werden. Für viele Angebote der „Erlebnis 1.0-Phase“ ist typisch, dass auf den Arousal-Effekt, d. h. Stimuli gesetzt wurde, die das Individuum stark fordern (egal ob mit dem sog. Rol‐ ler-Coaster-Effekt, überwältigenden Sinneseindrücken in thematisierten Er‐ lebniswelten bis hin zu den großen physischen oder psychischen Heraus‐ forderungen bei Extremsportarten). Grundprinzip des Flow-Ansatzes ist eine Ausgewogenheit zwischen den Fähigkeiten des Individuums und den durch die externen Stimuli gegebenen Heraus- und Anforderungen. Nicht Über- und nicht Unterforderung ist damit das Ziel. Weder Langeweile noch extreme Adrenalinkicks scheinen die Erlebnisangebote der 2. Generation zu Beginn des 21. Jahrhundert zu markieren (genauer bei K AG E RMEIE R 2013). Abb.‐Nr.: -12-(Original-in-CDR) Abb.‐Titel: -Flow-als-Ausgewogenheit-von- Anforderungen-und-Fähigkeiten-(Quelle: -Eigene- Darstellung-in-Anlehnung-an-C SIKSZENTMIHALYI 1997,-S.- 31) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE niedrig hoch Arousal Anxiety Flow Worry Apathy Control Relaxation Boredom Anforderung Fähigkeit Abb. 12: Flow als Ausgewogenheit von Anforderungen und Fähigkeiten (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an C S I K S Z E N T M I H A L Y I 1997, S. 31) 51 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 51 <?page no="52"?> Allerdings können Erlebnisse aufgrund ihrer Individualität nicht wirklich produziert werden. Anbieter von touristischen Angeboten können lediglich versuchen, in Form eines spezifischen Settings günstige äußere Rahmenbe‐ dingungen zu schaffen. Letztendlich beschränken sich die von der Angebots‐ seite konzipierten Settings auf eine Kontextsteuerung, welche das Entstehen von Erlebnissen begünstigt und damit „Mood Management“ betreibt. In die‐ sem Sinne stellt die Entsprechung von angebotsseitigen Rahmenbedingungen und den individuellen Erwartungen der Besucher eine Herausforderung dar, welche für den Erfolg von Erlebnisangeboten ausschlaggebend ist. Zur Konstruktion touristischer Erlebnisse sind bislang kaum empirisch validierte Konzepte vorhanden. Ein - bislang noch nicht vollständig empi‐ risch umgesetzter - umfassender Ansatz zur Erfassung der unterschiedli‐ chen Erlebnisdimensionen im Sinne einer Synthese der vorliegenden kon‐ zeptionellen Komponenten zur Entstehung von Vorstellungsbildern über touristische Erlebnisse, der insbesondere der Wirkung erlebnisvermitteln‐ der Settings nachspürt, müsste die in Abbildung 13 dargestellten Dimensio‐ nen beinhalten: 1. Kognitionskomponente: mit aktiver (Bildungsaspekt) und passiver 1. Rezeption (Entertainmentaspekt) 2. Emotionskomponente: sensorisch oder ästhetisierend induziert 2. 3. Explorative Komponente: kognitiv oder konativ ausgerichtet 3. 4. Soziale Interaktion zwischen Anbietern und Nachfragern bzw. so‐ 4. ziales Miteinander unter den Nachfragern. Die Qualität des Angebotes sowie der Grad der Nichtinszenierung (= Au‐ thentizität) bzw. Inszenierung (wobei das oberste Ziel der Inszenierung letztendlich die Generierung einer „Staged Authenticity“ darstellt) beein‐ flussen als Rahmenbedingungen des Settings die Art und die Ausprägung der jeweiligen Erlebniskomponenten. Diese werden bei der Perzeption durch die subjektive (situative) Disponiertheit und den Erfahrungshinter‐ grund der Nachfrager, ebenso wie die daraus resultierenden Erwartungen und Images quasi „gefiltert“, sodass identische Stimuli und Settings zu indi‐ viduell unterschiedlichen Erlebnissen führen (vgl. auch Kap. 2.3.2). Insgesamt gesehen stehen die unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Ansätze zu Annäherung an das Konstrukt „Erlebnis“ aber trotz langjähriger Auseinandersetzung mit dem Phänomen immer noch in einem Stadium des nur sehr partiellen Verständnisses von Erlebnisgenerierung, auch im tou‐ ristischen Kontext. Hier bestehen noch deutliche Forschungsdefizite. 52 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 52 <?page no="53"?> Abbildung-13 INSZENIERUNG HOHE QUALITÄT G E R I N G E Q U A L I T Ä T AUTHENZITÄT SUBJEKTIVE DISPOSITION ERFAHRUNGSHINTERGRUND E R W A R T U N G IMAGES ERLEBNIS Kognition Soziale Interaktion Emotion/ Affekt Exploration aktive-Rezeption passive-Rezeption---- Nachfrage Angebot sensorisch ästhetisierend kognitiv konativ Abb. 13: Synopse der zentralen Dimensionen von Erlebnisgenerierung im touristischen Kontext (Quelle: eigener Entwurf) Zusammenfassung ☐ In diesem Kapitel wurde Tourismus als Phänomen eingeführt, das ☐ unterschiedliche Dimensionen berührt und daher von unterschied‐ lichen Disziplinen, die aktuell unter dem Überbegriff „Tourismus‐ wissenschaften“ zusammengefasst werden, aus einer Vielzahl von Blickwinkeln analysiert wird. Die disziplinübergreifende, transdis‐ ziplinäre Herangehensweise ist eines der zentralen Charakteristika in diesem Arbeits- und Forschungsfeld. ☐ Grundparadigma der tourismusgeographischen Herangehensweise ☐ ist eine integrative, übergeordnete Perspektive auf das Handeln der Menschen im Raum. Damit stellen die sozialwissenschaftlichen An‐ sätze zur Analyse und Deutung von menschlichem Handeln sowie das Wechselspiel desselben mit der räumlichen Umwelt die beiden Säulen der Tourismusgeographie dar. ☐ Der Begriff Tourismus beschreibt ein Phänomen, zu dessen Grund‐ ☐ charakteristika Ortsveränderung, zeitliche Befristung und ein brei‐ 53 1.2 Historische Entwicklungslinien und theoretische Konzepte 53 <?page no="54"?> tes Spektrum an Zwecken/ Motiven gehört. Die Motive für Reisen sind stark subjektiv geprägt und einem steten Wandel unterworfen. ☐ Auch der Freizeitbegriff, verstanden als freie Dispositionszeit ist ☐ nicht vollständig intersubjektiv fassbar, sondern ebenfalls stark von subjektiven Perzeptionen der Individuen geprägt. ☐ Die touristische Nachfrage kann als Resultat von gesellschaftlichen ☐ und wirtschaftlichen Entwicklungen angesehen werden. Dement‐ sprechend handelt es sich um kein statisches Phänomen. Vielmehr ist die touristische Nachfrage in einem steten Wandel begriffen, so‐ dass die Angebotsgestaltung einem permanenten Adaptions- und Innovationsdruck ausgesetzt ist, um die Nachfrage adäquat zu adressieren. ☐ Für die Analyse der nachfrageseitigen Dispositionen wird auf eine ☐ Reihe von sozialwissenschaftlichen Ansätzen, wie der Bedürfnis‐ pyramide von Maslow, dem Lebensstilkonzept zur Zielgruppenseg‐ mentierung oder den unterschiedlichen Ansätzen zur Deutung der Erlebnisorientierung zurückgegriffen. Weiterführende Lesetipps S TEINECKE , Albrecht (2010): Populäre Irrtümer über Reisen und Tou‐ rismus. München Einführung in den Tourismus der etwas anderen Art. Anhand von Ste‐ reotypen und Klischees über den Tourismusmarkt und deren Dekon‐ struktion wird scheinbar nebenbei und mehr indirekt eine Vielzahl an Grundlagen vermittelt. Gleichzeitig steht das Lesevergnügen im Mittel‐ punkt. M UNDT , Jörn W. (2014): Thomas Cook - Pionier des Tourismus. Kon‐ stanz & München Nicht nur eine Biographie eines der Pioniere des modernen Tourismus, sondern auch eine kritische Auseinandersetzung mit einer Legende, die dann 2019 Insolvenz anmelden musste und von der aktuell nur mehr die Marke erhalten ist und von anderen Investoren weitergeführt wird. 54 1. Freizeit und Tourismus als transdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld 54 <?page no="55"?> 2 Grundlagen Nachfrageseite Lernziele In diesem Kapitel werden folgende Fragen beantwortet: ☐ Welche Faktoren beeinflussten den Reiseboom in der zweiten Hälfte ☐ des 20. Jahrhunderts? ☐ Wie haben sich die quantitativen Kenngrößen der touristischen ☐ Nachfrage entwickelt? ☐ Welche Motive beeinflussen die Nachfrage nach touristischen An‐ ☐ gaben? ☐ Welche Tendenzen auf der Nachfrageseite lassen sich für die künf‐ ☐ tige Entwicklung erkennen? ☐ Wie können subjektive Dispositionen auf der Nachfrageseite erfasst ☐ werden? 2.1 Quantitative Entwicklung des Volumens und der Orientierungen auf der Nachfrageseite Angesichts der volkswirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus erscheint es auf den ersten Blick etwas verwunderlich, dass insgesamt gesehen über tou‐ ristische Aktivitäten nur relativ wenig flächendeckende und längere Zeit‐ spannen abdeckende offizielle Zahlengrundlagen vorliegen. Von der amtli‐ chen Statistik werden im Wesentlichen auf der Angebotsseite Daten erhoben, insbesondere die Übernachtungszahlen in gewerblichen Unter‐ künften (vgl. Kap. 3). Zur Nachfrageseite finden sich in der amtlichen Sta‐ tistik vor allem Zahlen zu den Grenzübertritten, sprich den Einreisen von Ausländern. Diese werden von der UNWTO weltweit nach ähnlichen Kri‐ terien zusammengestellt. Allerdings basieren auch diese Zahlen - vor allem bei Grenzübertritten ohne Visumspflicht und damit keiner zentralen Regis‐ trierung von grenzüberschreitenden Reisen, wie dies z. B. innerhalb der Eu‐ ropäischen Union der Fall ist - oftmals auf Schätzungen. Damit ist insgesamt <?page no="56"?> gesehen, die statistische Erfassung im Bereich der Tourismuswirtschaft deutlich ungenauer als in anderen Wirtschaftsbereichen. 2.1.1 Boomfaktoren des Reisens Die zentralen Driving Forces für die dynamische Entwicklung des Reisens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind übergeordnete gesamtge‐ sellschaftliche Entwicklungstendenzen. An erster Stelle sind die ökonomi‐ sche Entwicklung und die Wohlstandvermehrung in breiten Teilen der Be‐ völkerung sowie die technische Entwicklung - insbesondere im Transportwesen zu nennen. Die bundesrepublikanische Gesellschaft war - wie auch diejenige der meisten sog. Industrieländer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer Zunahme der verfügbaren Einkommen in allen Teilen der Bevölkerung gekennzeichnet (vgl. Abb. 14). Der Soziologe B E CK (1986, S. 122) bezeichnete dieses Phänomen der Wohlstandszunahme der gesamten Gesellschaft als „Fahrstuhleffekt“, sprich allen Teilen der Bevölkerung geht es besser, auch wenn die Unterschiede bestehen bleiben. Abb.‐Nr.: -14 Abb.‐Titel: -Index-der-Reallohnentwicklung-in-der- Bundesrepublik-Deutschland-seit-1950--(Quelle: - Eigene-Darstellung-auf-der-Basis-von-Statistisches- Bundesamt-div.-Jahrgänge) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 100 200 300 400 500 600 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 Abb. 14: Reallohnentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Statistisches Bundesamt div. Jg.) In den letzten Jahren zeichnet sich allerdings ein Einpendeln bzw. eine Sta‐ gnation auf einem hohen Wohlstandsniveau ab. Gleichzeitig lassen sich An‐ 56 2 Grundlagen Nachfrageseite 56 <?page no="57"?> zeichen für eine zunehmende innergesellschaftliche Polarisierung und teil‐ weise Marginalisierung von Bevölkerungsteilen in prekären Lebenssituationen finden. Allerdings gilt nach wie vor, dass insgesamt gesehen, ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland und den übrigen Industrielän‐ dern über Einkommen verfügt, die deutlich über dem Subsistenzniveau lie‐ gen und damit Ausgaben für nicht lebensnotwendige Güter und Dienstleis‐ tungen ermöglicht. Im Zusammenhang mit dem steigenden Wohlstandsniveau der Bevölke‐ rung, aber auch der technischen Entwicklung steht die Verfügbarkeit von Transportmitteln. Neben der Eisenbahn als wichtigstes Transportmittel in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das private Automobil eine weite Verbreitung, sodass heute in etwa auf 2 Einwohner rechnerisch 1 Pkw kommt (vgl. Abb. 15). Abb.‐Nr.: -15 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Zahl-der-zugelassenen- PKW-in-der-Bundesrepublik-Deutschland-seit-1950-- (Quelle: -Statistisches-Bundesamt-div.-Jahrgänge) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 10 20 30 40 50 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 in M io. ab 2008 nur noch angemeldete Fahrzeuge ohne vorübergehende Stilllegungen Abb. 15: Entwicklung der Zahl der zugelassenen PKW in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Statistisches Bundesamt div. Jg.) In den letzten Jahren hat dann die technische Entwicklung im Flugzeugbau sowie seit den 1990er Jahren das Aufkommen von Low Cost Carriern (vgl. Kap. 3.1.3) dazu geführt, dass dieser Verkehrsträger zunehmend an Bedeu‐ tung für Reisen gewonnen hat und sich damit auch die Reisereichweiten auf 57 2.1 Quantitative Entwicklung 57 <?page no="58"?> inzwischen 1.600 km pro Urlaubsreise signifikant erhöht haben (vgl. FUR 2014, S. 64). In den letzten Jahren hat auch die Verbreitung des Internets zu einer Er‐ leichterung der Reisebuchung geführt und kann damit als weiterer Facilita‐ tor für die touristische Nachfrageentwicklung angesehen werden (vgl. Kap. 3.1.4). 2.1.2 Nationale Nachfragekenngrößen In der Bundesrepublik Deutschland stellt - mangels vergleichbarer, offizi‐ eller statistischer Informationen - die inzwischen von der Forschungsge‐ meinschaft Urlaub und Reisen (FUR) jährlich durchgeführte Reiseanalyse (RA) eine der wichtigsten Quellen für die Fassung des Reiseverhaltens der Bundesbürger dar. Box 6 | Die Reiseanalyse (RA) der Forschungsgemeinschaft Ur‐ laub und Reisen (FUR) Die Reiseanalyse der FUR stellt aktuell sicherlich eine der wichtigsten Quellen für die Fassung von nachfrageseitigen Informationen zum Rei‐ sen der Bundesbürger dar. Der zentrale Vorteil dieser ursprünglich vom Studienkreis für Tourismus in Starnberg durchgeführten Erhebung liegt darin, dass für manche Pa‐ rameter Zeitreihen bereits seit 1954 vorhanden sind, und seit 1970 die Erhebung weitgehend nach dem gleichen Design durchgeführt werden, sodass viele Zeitreihen zumindest bis zu diesem Datum zurück reichen. Zusätzlich werden immer wieder ergänzende Aspekte (wie z. B. seit 2000 hinsichtlich der reisebezogenen Internetnutzung) in die Erhebung auf‐ genommen. Die RA basiert seit 1970 auf Face-to-Face-Befragungen (inzwischen auch ergänzt durch Online-Befragungen) an einer für die Wohnbevölkerung in Deutschland repräsentativen Zufallsstichprobe von 7.000 bis 8.000 Personen (ab 14 Jahre, deutschsprachig). Unabhängig von manchen me‐ thodischen Fragen, wie z. B. der Abgrenzung von „deutschsprachiger“ Wohnbevölkerung bietet sie, da Fragenthemen und -formulierungen weitgehend stabil geblieben sind, umfassende Analysemöglichkeiten. Die Erfassung der Reisetätigkeit des zurückliegenden Jahres wird je‐ weils im Januar/ Februar des Folgejahres erhoben. Dabei wurden ur‐ 58 2 Grundlagen Nachfrageseite 58 <?page no="59"?> sprünglich nur Urlaubsreisen mit mindestens 4 Übernachtungen (= 5 Reisetage) erfasst. Seit einigen Jahren werden darüber hinaus auch Kurzreisen unter 5 Tagen sowie Geschäftsreisen miterfasst. Auch wenn sich bei dieser retrospektiven Erfassung für ein ganzes Jahr möglicherweise - z. B. im Vergleich zu einer monatlichen oder quar‐ talsweisen Erhebung - systematische Unterschätzungen der erinnerten und dann bei der Befragung genannten (Kurz-)Reisen vermuten lassen, stellt die RA zwar eine sicherlich nicht 100-prozentig genaue, aber eben die beste vorhandene Quelle für die Analyse der Nachfrageseite dar. Reiseintensität Anhand der Ergebnisse der Reiseanalyse lässt sich die Zunahme der Reise‐ intensität (bezogen auf Urlaubsreisen von mindestens 5 Tagen) für die letz‐ ten 5 Jahrzehnte auf einer relativ einheitlichen Datenbasis nachzeichnen (vgl. Abb. 16). Hatten Mitte der 1950er Jahre erst ein Viertel der bundesre‐ publikanischen Bevölkerung eine Urlaubsreise unternommen, ist der Anteil inzwischen auf knapp 80 % angestiegen. Die positive Entwicklung der Rei‐ seintensität war dabei bis Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend kontinu‐ ierlich, auch wenn sich ökonomische Krisen bzw. wirtschaftlich weniger dynamische Phasen (wie z. B. Rezession des Jahres 1967, 1. Ölkrise 1974 als Folge des Jom-Kippur-Krieges in Israel, 2. Ölkrise 1979/ 1980 als Folge des ersten Golfkriegs zwischen dem Iran und dem Irak) in einem kurzfristigen Rückgang der Reiseintensität durchpausen. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich ein Einpendeln der Urlaubs‐ reiseintensität ab. Die These einer Sättigung und nicht einer extern bedingten Stagnation wird dadurch gestützt, dass auch in Volkswirtschaften mit einem höheren Wohlstandsniveau als in Deutschland (Skandinavien, Luxemburg, Schweiz) die Reiseintensität nicht merklich höher liegt. Auch wenn ein Teil der Bevölkerung aus ökonomischen Gründen keine Reisen unternimmt, gibt es immer einen Teil der Bevölkerung, der - sei es aus gesundheitlichen oder Altersgründen, sei es aus biographischen Motiven (Familiengründungs‐ phase, Prüfungen, berufliches Engagement) bis hin zu Strafvollzugsmaßnah‐ men - in einem Jahr keine (längeren) Urlaubsreisen unternimmt. Die nach wie vor zunehmende Nachfrage nach Reisen resultiert damit in Deutschland nicht mehr aus einer Zunahme der Reiseintensität (sprich der reisenden Per‐ sonen), sondern einer Zunahme von zweiten oder weiteren Urlaubsreisen, bzw. vor allem auch aus der Zunahme von Kurzurlaubsreisen. 59 2.1 Quantitative Entwicklung 59 <?page no="60"?> Abb.‐Nr.: -16 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Reiseintensität-in-der- Bundesrepublik-Deutschland-seit-1955--(Quelle: -FUR- div.-Jahrgänge) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 Abb. 16: Entwicklung der Reiseintensität in der Bundesrepublik Deutschland seit 1955 (Quelle: eigene Darstellung nach FUR div. Jahrgänge) Anteil Binnenreisen Nicht nur das Volumen der Reisen hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen, sondern auch die Reiseziele haben sich merklich verändert. In Abbildung 17 ist als ein Indikator für dieses Phänomen der Anteil der (längeren) Urlaubsreisen im Inland und ins Ausland dargestellt. Während - sowohl beeinflusst von den ökonomischen Möglichkeiten als auch dem technischen Stand und der Verbreitung von Verkehrsträgern - Mitte der 1950er Jahre noch vier von fünf Urlaubsreisen im Inland stattfan‐ den, ist dieser Anteil bis zur Jahrtausendwende auf etwa ein Drittel gesun‐ ken. Auch hier zeichnet sich inzwischen eine Stabilisierung ab. Allerdings ist dies wohl weniger als bei der Reiseintensität durch nachfrageinterne Faktoren (Präferenz von Deutschland als Reiseziel bei manchen Zielgrup‐ pen) bedingt. Vielmehr kann dieses Einpendeln einerseits als Hinweis darauf angesehen werden, dass spätestens seit den 1990er Jahren deutsche Desti‐ nationen mehr und mehr versuchen, sich professioneller und offensiver zu positionieren. Einnahmen aus dem Tourismus werden - insbesondere in ländlichen Gebieten mit wenigen anderen wirtschaftlichen Optionen - oft‐ mals als Möglichkeit der Regionalentwicklung angesehen und dementspre‐ 60 2 Grundlagen Nachfrageseite 60 <?page no="61"?> chend auch ein aktives Destinationsmanagement betrieben. Gleichzeitig er‐ möglicht auch die Orientierung der Nachfrage auf andere Tourismusformen als den (stark auf ausländische Destinationen ausgerichteten) Badetouris‐ mus, wie z. B. die in den letzten Jahren zunehmende Nachfrage nach Wan‐ der-, Fahrrad- oder Wellness-Tourismus, aber auch Tendenzen hin zu ent‐ schleunigten Formen des Slow Tourismus, dass sich inländische Destinationen hier erfolgreich gegenüber den ausländischen Destinationen positionieren können. Allerdings sind diese Marktanteile daran gebunden, dass sich deutsche Destinationen gegenüber den Mitbewerbern durch at‐ traktive Produkte, hohe Qualität und ein angemessenes Preis-Leistungs-Ver‐ hältnis behaupten. Angesichts preisgünstiger und weit verbreiteter Flug‐ verbindungen in den Mittelmeerraum ist eine Reise dorthin nicht automatisch teurer als eine Reise innerhalb von Deutschland. Wander-, Fahrrad- oder Wellness-Touristen finden eben auf Mallorca ebenso Mög‐ lichkeiten für ihren Urlaub wie in Deutschland. Abb.‐Nr.: -17 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Anteile-von-Reisen-im- Inland-und-ins-Ausland-in-der-Bundesrepublik- Deutschland-seit-1955--(Quelle: -FUR-div.-Jahrgänge) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1955196019651970197519801985199019952000200520102015 Inland Ausland Abb. 17: Entwicklung der Anteile von Reisen im Inland und ins Ausland in der Bundesrepublik Deutschland seit 1955 (Quelle: eigene Darstellung nach FUR div. Jahrgänge) 61 2.1 Quantitative Entwicklung 61 <?page no="62"?> Gleichzeitig lässt sich der Parameter „Anteil von Binnenreisen“ internatio‐ nal nicht so einfach vergleichen wie z. B. die Reiseintensität. Der Binnen‐ tourismusanteil wird nicht nur vom Wohlstandsniveau stark beeinflusst, sondern auch von der Größe des Landes (z. B. sehr groß bei kleinen Ländern wie Luxemburg). Auch wird dieser von der Vielfalt der touristischen Desti‐ nationen im jeweiligen Land mit geprägt. So weist z. B. Frankreich von me‐ diterranen Badedestinationen über hochalpine Reisegebiete bis hin zu at‐ traktiven Metropolen eine Vielfalt von Destinationstypen für unterschiedlichste Tourismusformen auf. Dementsprechend ist der Binnen‐ tourismusanteil in Frankreich traditionell deutlich höher als in den deutsch‐ sprachigen Ländern. Verkehrsmittelnutzung In Abbildung 18 ist die in der RA dokumentierte Benutzung von Verkehrs‐ mitteln für die Urlaubsreisen (ab 5 Tagen) dargestellt. Während in den 1950er Jahren noch die Benutzung der Bahn (sowie des Reisebusses) dominierte, hat der private Pkw bis Ende der 1980er Jahre diese als Haupturlaubsreise‐ mittel abgelöst. Damit verbunden ist auch eine verstärkte Orientierung auf ausländische Urlaubsgebiete - insbesondere das nördliche Mittelmeer. Seit den 1990er Jahren ist das Flugzeug deutlich auf dem Vormarsch und wird inzwischen bereits bei knapp 40 % der Urlaubsreisen benutzt. Damit ver‐ bunden ist auch eine intensivere Nachfrage nach Destinationen im südlichen Mittelmeerraum sowie interkontinentalen Urlaubszielen. Die weitere Entwicklung der Verkehrsmittelnutzung ist dabei, wie bereits die Entwicklung in der Vergangenheit nicht unabhängig von gesamtgesell‐ schaftlichen Rahmenbedingungen. Eine Verknappung von fossilen Energie‐ trägern oder eine politisch gewollte Verteuerung durch fiskalische Maß‐ nahmen als Folge des Klimawandels können die künftige Rolle des Flugzeuges für Urlaubsreisen genauso beeinflussen wie die politische Ent‐ wicklung in außereuropäischen Zielgebieten. 62 2 Grundlagen Nachfrageseite 62 <?page no="63"?> Abb.‐Nr.: -18 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Verkehrsmittel-bei- Urlaubsreisen-seit-1954--(Quelle: -FUR-div.-Jahrgänge) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 1954 1964 1974 1984 1994 2004 2014 Pkw Flugzeug Bus Bahn Sonstige Abb. 18: Entwicklung der Verkehrsmittel bei Urlaubsreisen seit 1954 (Quelle: eigene Darstellung nach FUR div. Jahrgänge) 2.1.3 Internationale Nachfragekenngrößen Die zentrale Quelle für den internationalen Reiseverkehr stellen die Publi‐ kationen der United Nations World Tourism Organisation (UNWTO) dar. Von dieser werden seit 1950 weltweit die internationalen Touristenankünfte erfasst. Die Entwicklung der von der UNWTO veröffentlichten Daten ist in Abbildung 19 dargestellt. Auch mit diesen Daten, die ja nur einen Teil der touristischen Nachfrage, nämlich den grenzüberschreitenden Tourismus spiegeln, wird eindrucksvoll das Wachstum der touristischen Nachfrage in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet. Internationale Touristenankünfte sind seit Anfang der 1950er Jahre weltweit von 25 Millionen auf inzwischen 1,4 Mil‐ liarden angestiegen. Auch bei diesem Indikator pausen sich - wie bereits bei der bundesrepublikanischen Nachfrage - politische oder wirtschaftliche Er‐ eignisse (wie z. B. der Anschlag auf das World Trade Center am 11. Septem‐ ber 2001 oder die Bankenkrise 2007/ 2008) als kurzfristige Rückgänge der Nachfrage durch, ohne dass bislang Anzeichen für eine strukturell bedingte Nachfragesättigung erkennbar sind. Von der UNWTO wird dementspre‐ chend für das Jahr 2030 eine Zunahme auf 1,8 Milliarden internationale Touristenankünfte prognostiziert (UNWTO 2014, S. 14). 63 2.1 Quantitative Entwicklung 63 <?page no="64"?> Abb.‐Nr.: -19 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-internationalen-Ankünfte- seit-1950--(Quelle: -UNWTO-div.-Jahrgänge) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 200 400 600 800 1.000 1.200 1.400 19501955 1960196519701975 1980 1985199019952000 200520102015 Europa Afrika Mittlerer Osten Amerika Asien und Pazifik Abb. 19: Entwicklung der internationalen Ankünfte seit 1950 nach UNWTO-Reisegebieten (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO div. Jahrgänge) Dabei entfällt auf den innereuropäischen Reiseverkehr (der Binnentourismus in den USA wird bei diesen Daten ja nicht erfasst) der Hauptanteil der inter‐ nationalen Reisen. Zwar ist der relative Anteil der Ankünfte in europäischen Ländern seit 1950 von etwa zwei Dritteln auf inzwischen gut die Hälfte der weltweiten internationalen Ankünfte zurückgegangen. Gleichzeitig stellen europäische Reisende aber auch heute noch knapp die Hälfte der internatio‐ nalen Touristen (vgl. Abb. 20). Dabei finden nach wie vor mehr als drei Vier‐ tel der internationalen Reisen innerhalb der von der UNWTO ausgewiesenen Reisegebiete statt, sind also innerkontinental (UNWTO 2019, S. 16). Die wirtschaftliche Entwicklung in den asiatischen Ländern paust sich auch in deren Zunahme der relativen Anteile an den internationalen Tou‐ ristenankünften auf inzwischen mehr als ein Viertel der internationalen Ankünfte durch, wobei der asiatische Quellmarkt in etwa gleicher Höhe auch zur touristischen Nachfrage beiträgt. Der Anteil Afrikas an den inter‐ nationalen Touristenankünften liegt - trotz der Ausweitung von Fernreisen - nur bei etwa 5 %. Und auch die spektakulären touristischen Entwicklungs‐ projekte der letzten beiden Jahrzehnte in den Golfstaaten machen sich im weltweiten Maßstab nur begrenzt bemerkbar. Gleichzeitig kann - in Ana‐ logie zu den Entwicklungen in Deutschland und Europa in der zweiten 64 2 Grundlagen Nachfrageseite 64 <?page no="65"?> Hälfte des 20. Jahrhunderts - für die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts un‐ terstellt werden, dass die Wachstumsdynamik im Tourismus in den kom‐ menden Jahrzehnten - sofern sich die politischen und ökonomischen Grundkonstellationen nicht grundlegend ändern - stark vom asiatischen Markt (sowohl als Quellals auch als Zielmarkt) geprägt wird. Abb.‐Nr.: -20 Abb.‐Titel: -Quellmärkte-im-internationalen-Tourismus- 2013-(Quelle: -UNWTO-2019,-S.-15) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Europa 48% Afrika 3% Mittlerer Osten 3% Amerika 17% Asien und Pazifik 26% Herkunft nicht angegeben 3% Abb. 20: Quellmärkte im internationalen Tourismus 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO 2019, S. 15) Diese Entwicklung kann an einem Indikator veranschaulicht werden. Lange Zeit galten die Deutschen als „Reiseweltmeister“. Dieser Slogan bezog sich nicht auf die Reiseintensität, die Länge von Urlaubsreisen oder die Ausgaben pro Kopf der Bevölkerung, sondern auf die Summe der bei internationalen Reisen getätigten Ausgaben. Eine hohe Auslandsreiseintensität (höher als z. B. in Frankreich oder den USA) verbunden mit der - im Vergleich z. B. zu kleineren Ländern wie Dänemark oder Luxemburg - hohen Bevölkerungs‐ zahl resultierte in der Tatsache, dass die Deutschen die lange Zeit die höchs‐ ten absoluten Ausgaben im internationalen Reiseverkehr tätigten. Seit 2012 hat China diese Position des Landes mit der höchsten Ausgabesumme im internationalen Tourismus inne. Auch wenn dies bei zwar noch deutlich niedrigerer Auslandsreiseintensität und Ausgaben pro Kopf der Bevölke‐ rung stark durch die reine Bevölkerungszahl mit beeinflusst wird, stellt es 65 2.1 Quantitative Entwicklung 65 <?page no="66"?> doch einen Hinweis auf die hohe Wachstumsdynamik und eine sich mittel‐ fristig verändernde Konstellation der internationalen Quellmärkte dar. Eine der Kenngrößen, die von der UNWTO mit publiziert wird, sind die Reisezwecke im internationalen Tourismus (vgl. Abb. 21). Da nicht von je‐ dem Reisenden, der eine Grenze überschreitet auch wirklich der Reisezweck erfasst wird, handelt es sich dabei selbstverständlich um eine grobe Ab‐ schätzung, die aber mangels anderer zuverlässigerer Angaben ungeachtet möglicher methodischer Unzulänglichkeiten zumindest einen groben Ein‐ druck des touristischen Nachfragemarkts vermittelt. Nach diesen Angaben entfällt nur gut die Hälfte der internationalen An‐ künfte auf Reisen, die gemeinhin im lebensweltlichen Verständnis als genuin „touristisch“ angesehen werden, nämlich diejenigen mit dem expliziten Rei‐ sezweck „Freizeit und Erholung“. Etwa jede siebte internationale Reise wird dem Geschäftsreisetourismus zugeordnet. Als weiterer - in sich allerdings nicht mehr ausdifferenzierter Reisezweck wird das VFR-Segment (Visit Friends and Relatives, d. h. der Besuch von Bekannten und Verwandten), Gesundheit und Religion ausgewiesen. Wird unterstellt das religiöse moti‐ vierte Reisen, wie z. B. die Pilgerreise von Mohammedanern nach Mekka (Haddsch) oder von Christen nach Lourdes maximal 1 % der internationalen Ankünfte ausmacht und der Tatsache, dass z. B. in Deutschland der primäre Reisezweck „Gesundheit“ nur 2 % der Reisen ausmacht (FUR 2014, S. 48), entfällt etwa ein Viertel der internationalen Reisen auf den Reisezweck des Besuchs von Freunden und Bekannten. Abb.‐Nr.: -21 Abb.‐Titel: -Reisezwecke-im-internationalen-Tourismus- 2013-(Quelle: -UNWTO-2019,-S.-7) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Freizeit & Erholung 56% VFR, Gesundheit, Religion, sonstige 27% Geschäftsreisen 13% nicht angegeben 4% Abb. 21: Reisezwecke im internationalen Tourismus 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO 2019, S. 7) 66 2 Grundlagen Nachfrageseite 66 <?page no="67"?> Für deutsche Großstädte gehen Schätzungen sogar davon aus, dass die Zahl der Übernachtungen von VFR-Reisenden mindestens genauso groß ist wie die Zahl der Übernachtungen im gewerblichen Übernachtungswesen. So wird für München angegeben, dass den 5,9 Mio. Gästen in gewerblichen Betrieben etwa 5 Mio. Besucher bei Freunden und Verwandten gegenüber‐ stehen (Landeshauptstadt München 2012, S. 9). Dies soll als weiterer Hinweis darauf verstanden werden, dass selbst die wenigen (und methodisch nicht immer voll belastbaren) statistischen Basiszahlen im Tourismus nur einen Teil der touristischen Aktivitäten darstellen. Neben dem privaten VFR-Tou‐ rismus ist insbesondere auch der Tagestourismus ein Bereich, der sich nur begrenzt statistisch genau fassen lässt, sodass unterschiedliche Abschätzun‐ gen an die Stelle von konkret gemessenen Daten treten. 2.2 Zunehmende Ausdifferenzierung der Nachfrageseite Reisen als gesellschaftliche Praxis ist immer auch ein Spiegelbild der gesell‐ schaftlichen Entwicklung. Lange Zeit wurde die gesellschaftliche Struktur über ein sog. Schichtenmodell (Unter-, Mittel-, Oberschicht) angemessen beschrieben und die Zugehörigkeit zu einer Schicht hatte starken Einfluss auf das konkrete Reiseverhalten (hinsichtlich der präferierten Ziele und der Tourismusformen; vgl. Kap. 1.2.1). Operationalisiert wurde die Schichten‐ zugehörigkeit oft über die Parameter Bildungsniveau und Einkommensni‐ veau. Diese Parameter haben gegen Ende des 20. Jahrhunderts an diskrimi‐ natorischer Bedeutung verloren. Gleiches gilt z. B. auch für den Indikator Alter, dessen Relevanz für die Reiseintensität abgenommen hat (vgl. Z AHL , L OHMANN & M EINKEN 2006). 2.2.1 Reisemotive Parallel zum Verlust an Erklärungskraft einfacher Deutungsansätze zum Reiseverhaltens, ist die Motivstruktur von Reisen deutlich ausdifferenzierter geworden. Während früher eine grobe Unterscheidung zwischen Push- oder den sog. „Weg-von“-Motiven (weg aus der Alltagswelt) und Pull- oder den sog. „Hin-zu“-Motiven (hin zu den Aspekten des Urlaubs) als Erklärungs‐ ansatz für die Nachfrage nach Urlaub erfolgte (F R E Y E R 2011a, S. 73f.), sind in den letzten Jahren die Anstrengungen zur Aufdeckung der Motivstrukturen deutlich intensiviert worden. 67 2.2 Zunehmende Ausdifferenzierung der Nachfrageseite 67 <?page no="68"?> In der Reiseanalyse werden aktuell 29 Items mit möglichen Motiven für Reisen abgefragt, die über eine Faktorenanalyse zu sieben Gruppen von Motiven (mit absteigender Bedeutung) zusammengefasst werden (FUR 2014, S. 82f.): 1. Entspannen, erholen, frei sein (keinen Stress haben, Abstand zum 1. Alltag gewinnen, frische Kraft sammeln, ausruhen) 2. Sonne, Spaß, Menschen, Genuss (sich verwöhnen lassen, sich was 2. gönnen, genießen, Flirt/ Erotik) 3. Neues erleben (neue Eindrücke gewinnen, viel Abwechslung haben, 3. andere Länder erleben, etwas für Kultur und Bildung tun) 4. Natur und Gesundheit (Natur erleben, etwas für die Gesundheit tun, 4. aus der verschmutzten Umwelt herauskommen) 5. Familie (Zeit füreinander haben [Partner, Familie, Kinder, Freunde], 5. mit den Kindern spielen/ zusammen sein) 6. Begegnen (Wiedersehen, Kontakt zu Einheimischen) 6. 7. Risiko-Aktiv (aktiv Sport treiben, auf Entdeckung gehen, ein Risiko 7. auf sich nehmen, Außergewöhnlichem begegnen). Unabhängig von den möglichen methodischen Bedenken beim standardi‐ sierten Abfragen einer so langen Item-Batterie dominieren bei den Motiven das Entspannen und der Genuss. Die im Zusammenhang von Tourismust‐ rends oftmals betonten Aspekte „Gesundheit“, „Kulturerlebnis“, „Sport“ oder „Risiko erleben“ erreichen demgegenüber deutlich niedrigeren Bedeutungs‐ gewichte. Auch wird bei den Kategorien deutlich, dass vor allem selbstbezogene Ur‐ laubsmotive wichtig sind. Die auf die konkreten Eigenschaften von Destina‐ tionen bezogenen Motive rangieren auf weiter hinter liegenden Plätzen. Wäh‐ rend früher die Destinationen oftmals durch soziale Konventionen, das von den Destinationen vermittelte Prestige oder ganz einfach durch Aspekte der Erreichbarkeit mitbestimmt worden sind, ist inzwischen eine gewisse Belie‐ bigkeit und Austauschbarkeit von Destinationen zu konstatieren. Da auch die Motive nur partiell auf konkrete Destinationen abzielen, gleichzeitig sich aber das Spektrum möglicher Destinationen deutlich erweitert hat, resultiert dar‐ aus auch eine klare Akzentuierung der Wettbewerbskonstellation. Damit reicht es heute nicht mehr aus, nur ein prestigeträchtiges Image aufzubauen, um die Nachfrage auf sich zu ziehen. Vielmehr deutet vieles darauf hin, dass das konkrete Angebot für Urlaubsaktivitäten und Urlaubs‐ erlebnisse stärker in den Vordergrund rückt. 68 2 Grundlagen Nachfrageseite 68 <?page no="69"?> Gleichzeitig wird bei den Motiven auch deutlich, dass von den Akteuren der Tourismuswirtschaft letztendlich nur ein Rahmen für das Urlaubserleb‐ nis geschaffen werden kann. Insbesondere die in der Reiseanalyse ausge‐ gliederte Motivkategorie „Familie“, aber auch alle anderen auf soziale Kon‐ takte abzielenden Motive lassen sich ja nicht direkt von den touristischen Leistungsträgern generieren. Die touristischen Leistungsträger entlang der gesamten touristischen Servicekette (vgl. Kap. 3.1) können damit letztend‐ lich nur den Rahmen schaffen, innerhalb dessen dann das konkrete Ur‐ laubserlebnis in Interaktion zwischen den Angeboten und den Reisenden entsteht (vgl. auch Merkmale touristischer Dienstleistungen in Kap. 3.2.1). 2.2.2 Wertewandel in der Phase der Postmoderne Nachdem die lange Zeit relevanten sozio-demographischen Aspekte zur Analyse und Prognose der Reisemuster an Relevanz verloren haben und auch der Blick auf standardisiert erfasste Motive von Reisenden allein keinen ausreichenden Deutungsgehalt für die konkrete Gestaltung von Urlaubsan‐ geboten besitzt, wird in den Tourismuswissenschaften in jüngerer Zeit ver‐ stärkt auf soziologische und sozialpsychologische Ansätze zurückgegriffen, die versuchen, den gesellschaftlichen und sozialen Wandel zu fassen. Reisen als kulturelle Praxis verstehen bedeutet gleichzeitig auch, dass die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen in Wechselbezie‐ hungen mit dem konkreten touristischen Handeln stehen. Dementspre‐ chend manifestiert sich der, Ende des 20. Jahrhunderts identifizierte Wechsel von der fordistisch geprägten Moderne hin zur Postmoderne auch im Be‐ reich der Freizeit und des Tourismus. Die Postmoderne zeichnet sich durch eine verstärkte Betonung des Diskurses kultureller Praktiken aus (vgl. L ANZ 1999, S. 74), wobei Pluralisierung, Fragmentierung und Relationalität zen‐ trale Motive darstellen. Während die Moderne von Metaerzählungen ge‐ prägt war, die gesellschaftliche Institutionen, politische Praktiken, Denk‐ weisen und Ideologien legitimierten, geht in der Postmoderne dieser Konsens verloren. Es gibt damit keinen einheitlichen, in sich geschlossenen postmodernen Ansatz, sondern gerade die von Eklektizismus und Indivi‐ dualismus gekennzeichnete Postmoderne zeichnet sich durch eine Montage unterschiedlichster parallel existierender Ansätze aus (genauer bei H ARVE Y 1989, S 340f. und H ELB R ECHT 1994, S. 32). Die von H AB E RMAS (1985) vor dem Hintergrund der Krise des Sozialstaates und der Erschütterung der Sozial‐ utopien des 19. und 20. Jahrhunderts formulierte „Neue Unübersichtlichkeit“ 69 2.2 Zunehmende Ausdifferenzierung der Nachfrageseite 69 <?page no="70"?> kann als Leitmotiv der Postmoderne angesehen werden. Frühere Ansätze und Leitideen werden teilweise ironisierend als Hommage in Form einer Pastiche aufgenommen und als sich kontinuierlich verändernde Heteroto‐ pien (F OUCAULT 2005) verstanden. Diese gesellschaftliche Fragmentierung und Aufsplitterung als Folge ei‐ nes Verlustes an gesamtgesellschaftlichen Konsens und dem Bedeutungs‐ verlust von weltanschaulichen Ideologien (bzw. Sozialutopien) gegen Ende des 20. Jahrhunderts spiegelt sich auch in der Heterogenität und Vielfalt von unterschiedlichen Lebensentwürfen. Mit dem Verlust an klaren Orientie‐ rungsrastern und Normen verbunden ist die Herausforderung an das Indi‐ viduum, seine eigene Identität „Jenseits von Stand und Klasse“ (B E CK 1994) zu definieren und den gewagten, risikobehafteten Versuch zu unternehmen, im eigenen Erleben glücklich zu werden. Die „protestantische Arbeitsethik“ (W E B E R 2004), die in der Phase des For‐ dismus mit dem Primat der Orientierung auf das Arbeitsleben als zentralem Lebensinhalt einen wichtigen Leitwert darstellt, hat gegen Ende des 20. Jahr‐ hunderts an Prägekraft verloren. Neue, nichtmaterielle Leitwerte prägen die Gesellschaft im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Von den verschiedenen Ansätzen der Kategorisierung der gesellschaftlichen Entwicklung und den daraus resultierenden Phasen der touristischen Nachfrageausdifferenzierung ist in Abbildung 22 eine an Q UACK (2011) angelehnte dargestellt. Abbildung-22 Überlebensgesellschaft (50er Jahre) Wirtschaftswundergesellschaft (60er Jahre) Postmaterialistische Gesellschaft (70er und Anfang 80er Jahre) „Vergnügungs“-Erlebnisgesellschaft (Ende 1980er und 90er Jahre) Sinngesellschaft (Erlebnis 2.0) Beginn des 21. Jahrhunderts nach-Quack-2001,-S.-20ff. Abb. 22: Entwicklung der gesellschaftlichen Leitwerte (Quelle: eigener Entwurf, Phase 1 bis 4 nach Q U A C K 2011) 70 2 Grundlagen Nachfrageseite 70 <?page no="71"?> 2.2.3 Flexible und hybride Nachfragemuster Mit der Ausdifferenzierung von Nachfragemustern verbunden ist die Tat‐ sache, dass klassische Ansätze des Massenmarketings, die lange Zeit auf den sog. „Otto Normalverbraucher“ setzten, sich mit individualisierten und mul‐ tioptionalen Konsumenten konfrontiert sehen, dem sog. „Markus Möglich“. Damit kommt der Identifizierung von zumindest partiell die Konsummuster auf einer Aggregatsebene deutenden und für ein differenziertes zielgrup‐ penspezifisches Marketing zugänglich machenden Clustern ein hoher Stel‐ lenwert zu. Die Heterogenität der Lebensentwürfe wird dabei in den Wirt‐ schafts- und Sozialwissenschaften in den letzten Jahren oftmals mit dem Konzept der Lebensstile (vgl. Kap. 1.2.2.2) zu fassen versucht. Viele Ansätze zur Charakterisierung des heutigen Touristen (vgl. z. B. F R E Y E R 2011b, S. 195) gehen auf die fünf, von P OON (1993, S. 115) identifi‐ zierten folgenden Kategorien zurück: ☐ Größere Kompetenz: größere Reiseerfahrung, höheres Qualitätsbe‐ ☐ wusstsein, höhere Lernfähigkeit, Vielfalt von Interessen ☐ Neue Wertvorstellungen und Lebensstile: vom Besitz zum Genie‐ ☐ ßen, Erlebnisorientierung, hohe Emotionalität, Wunsch nach Authen‐ tizität, Gesundheits- und Umweltbewusstsein ☐ Veränderte sozio-demographische Voraussetzungen: flexible ☐ Arbeitszeiten, mehr Freizeit, demographischer Wandel, kleinere Haushalte, mehr Singles oder Paare ohne Kinder, neue Konsumen‐ tengruppen ☐ Verändertes Konsumverhalten: hybrider, multioptionaler Konsu‐ ☐ ment, offen für neue Technologien und Vertriebskanäle ☐ Suche nach Individualität: Risikoorientierung, Wunsch nach Indi‐ ☐ vidualisierung, Bedürfnis nach Wahl- und Handlungsfreiheit, feh‐ lende Markentreue. Aus dem Blickwinkel der Postmoderne ist dabei darauf hinzuweisen, dass die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Lebenskonzeptionen inzwischen möglicherweise ein konstituierendes Element der postmodernen Gesell‐ schaften darstellt. Damit bleiben eben auch in postmodern geprägten Ge‐ sellschaften Elemente traditioneller Gesellschaften erhalten (wenn auch oft in räumlichen oder gesellschaftlichen Rückzugsräumen). Für den Tourismus bedeutet dies, dass zwar einerseits neue Produkte, wie z. B. Wander- oder Fahrradtourismus nachgefragt werden, die auf eine Aktivierung der Besu‐ 71 2.2 Zunehmende Ausdifferenzierung der Nachfrageseite 71 <?page no="72"?> cher und die Generierung von Flow-Erlebnissen (vgl. Kap. 1.2.2.2) abzielen. Gleichzeitig ist nicht davon auszugehen, dass passivere Urlaubsformen, wie z. B. der klassische Badetourismus verschwinden würden. Abgesehen davon, dass Teile der Bevölkerung nach wie vor klassische fordistische Angebots‐ formen nachfragen, ist auch zu beobachten, dass gerade der Wechsel zwi‐ schen unterschiedlichen Tourismusangeboten auf der Individualebene ein konstituierendes Element der aktuellen touristischen Nachfrage darstellt. Dies bedeutet, dass jemand, der beim letzten Urlaub z. B. einen Wanderur‐ laub mit einfachen Übernachtungsoptionen unternommen hat, beim nächs‐ ten Urlaub eine städtetouristische Destination aufsucht, um dort das Kul‐ turangebot nachzufragen und sich dabei im Hochpreissegment bewegt. Der übernächste Urlaub kann dann einer Trendsportart wie dem Kite-Surfen gewidmet sein, das in einer außereuropäischen Destination praktiziert wird. In sehr viel geringerem Maße als früher sind Touristen damit als auf be‐ stimmte Destinationstypen oder bestimmte Urlaubsaktivitäten fixiert anzu‐ sprechen. Die Tatsache, dass ein und derselbe Reisende unterschiedliche Urlaubsformen in unterschiedlichen Destinationstypen nachfrägt, wird ak‐ tuell oftmals versucht mit dem Begriff „Hybrider Tourist“ zu fassen. Für die Anbieter in den Destinationen bedeuten diese veränderten Nach‐ fragemuster, dass in sehr viel geringerem Maß als in früheren Zeiten treue Wiederholungsbesucher oder Stammkunden die Nachfrage charakterisie‐ ren. Dementsprechend hat die Notwendigkeit, durch Marktkommunikati‐ onsmaßnahmen auf sich aufmerksam zu machen und sich durch Produkt‐ innovationen im Markt zu positionieren, bzw. von den Mitbewerbern abzuheben, deutlich an Bedeutung gewonnen. Im Kontext sich verändernder Nachfragemuster ist auch zu berücksich‐ tigen, dass sich im Zuge des sog. Demographischen Wandels auch die Al‐ tersstruktur der Bevölkerung verändert (vgl. Abb. 23). 72 2 Grundlagen Nachfrageseite 72 <?page no="73"?> Abb.‐Nr.: -23 Abb.‐Titel: -Bevölkerungspyramide-Deutschland-2010- und-2050-(Quelle: -Eigener-Entwurf-auf-der-Basis-der- 12.-koordinierte-Bevölkerungsvorausberechnung-des- Statistischen-Bundesamtes; -destatis.de) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 3.500 2.500 1.500 500 500 1.500 2.500 3.500 0 - 5 5 - 10 10 - 15 15 - 20 20 - 25 25 - 30 30 - 35 35 - 40 40 - 45 45 - 50 50 - 55 55 - 60 60 - 65 65 - 70 70 - 75 75 - 80 80 - 85 85 - 90 90 - 95 95 u. älter 3.500 2.500 1.500 500 500 1.500 2.500 3.500 0 - 5 5 - 10 10 - 15 15 - 20 20 - 25 25 - 30 30 - 35 35 - 40 40 - 45 45 - 50 50 - 55 55 - 60 60 - 65 65 - 70 70 - 75 75 - 80 80 - 85 85 - 90 90 - 95 95 u. älter 2010 2050 Männer Männer Frauen Frauen Abb. 23: Bevölkerungspyramide Deutschland 2010 und 2050 (Quelle: eigene Darstellung auf der Basis der 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes; destatis.de) Während aktuell die Nachfrage von mittleren Altersgruppen dominiert wird, werden in den nächsten Jahrzehnten zunehmend Reisende im Ren‐ tenalter auf dem Markt präsent sein. Volumen und Art der Nachfrage von älteren Reisenden werden künftig einerseits von den gesamtgesellschaftli‐ chen Rahmenbedingungen, wie Renteneintrittsalter, Höhe der Altersbezüge oder gesundheitliche Situation abhängen. Aktuell wird die Generation 60plus, die teilweise bereits vor der gesetzlichen Altersgrenze mit oftmals soliden Altersbezügen in den Ruhestand geht und damit in der aktiven Phase zwischen 60 und 75 Jahren als potente Nachfrager auf dem Reisemarkt auf‐ treten, von vielen Anbietern und Destinationen als gern gesehene Ziel‐ gruppe umworben. Wenn sich absehbar die Zeitpunkte des Eintritts in den Ruhestand nach hinten verschieben und auch Alterskohorten in den Ruhe‐ stand eintreten, die nicht mehr mehrheitlich kontinuierliche Arbeitsbiogra‐ phien mit guten Altersbezügen aufweisen, ist teilweise offen, welche Nach‐ fragemuster realisiert werden. Einerseits ist denkbar, dass ältere Nachfrager zwar aufgrund des späteren Eintritts in den Ruhestand nicht mehr in dem Maß als aktive (Früh-) Ruheständler adressiert werden können, wie die ak‐ 73 2.2 Zunehmende Ausdifferenzierung der Nachfrageseite 73 <?page no="74"?> tuell der Fall ist. Gleichzeitig ist aber auch zu erwarten, dass angesichts spä‐ terer Ruhestandseintrittsalter die Nachfrage nach, die Arbeitskraft erhal‐ tenden bzw. wiederherstellenden gesundheitstouristischen Angeboten zunehmen wird. Eine bislang noch nicht gemeisterte Herausforderung wird in den kommenden Jahrzehnten sicherlich auch die Schaffung von ange‐ messenen Angeboten für Hochbetagte (über 75 Jahre) darstellen, deren An‐ teil an der Bevölkerung sich deutlich erhöhen wird. Insgesamt gesehen ist unter Berücksichtigung der nachfrageseitigen Rah‐ menbedingungen und Tendenzen auch für die nächsten Jahrzehnte davon auszugehen, dass die touristische Angebotsgestaltung weiterhin vor wach‐ senden Herausforderungen steht, der touristischen Nachfrage angemessen zu begegnen. 2.3 Subjektive Rahmenbedingungen der Nachfrageseite und deren Messung Vor dem Hintergrund der sich ausdifferenzierenden und zunehmend auch volatiler werdenden Nachfrage kommt der Identifizierung der nachfrage‐ seitigen Erwartungshaltungen und Dispositionen als Voraussetzung für eine marktadäquate und damit auch ökonomisch erfolgreiche Angebotsgestal‐ tung eine zunehmende Bedeutung zu. Dementsprechend ist der folgende Abschnitt den Ansätzen zur Erfassung der subjektiven Rahmenbedingungen auf der Nachfrageseite gewidmet. Ausgangspunkt der Analyse von nachfrageseitigen Dispositionen ist im‐ mer die Einbeziehung der gesellschaftlichen Gesamtkonstellation. Damit stellen Wertediskussionen genauso wie Einkommensniveaus oder Wohn‐ verhältnisse, aber auch persönliche Lebensumstände oder die mediale Kom‐ munikation relevante Aspekte dar, die als Rahmenbedingungen und Vor‐ aussetzungen für die Analyse der individuellen Bedürfnisse und Erwartungen mit zu berücksichtigen sind. 2.3.1 Der Reiseentscheidungsprozess Eine der Grundvoraussetzungen für die Analyse der subjektiven Disposi‐ tionen ist ein Grundverständnis von den Abläufen im Reiseentschei‐ dungsprozess. In der Sozialpsychologie werden unterschiedliche Phasen 74 2 Grundlagen Nachfrageseite 74 <?page no="75"?> von Entscheidungsprozessen unterschieden, die übertragen auf den Rei‐ seentscheidungsprozess in Abbildung 24 dargestellt sind. Die einzelnen Phasen zeichnen sich durch eine zunehmende Konkretheit aus. Während ein Reisewunsch noch relativ diffus sein kann, werden in der Präferenzphase unter Einbeziehung zusätzlicher Informationen (aber auch der früher gemachten Erfahrungen) Urlaubsformen und mögliche Zielge‐ biete ins Auge gefasst. Diese werden idealtypisch vergleichend bewertet, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Abbildung-24 Auftreten und Bewusstwerden eines Bedarfs (Reisewunsch) Entwicklung von Präferenzen für einzelne Ziele Vergleich der räumlichen Alternativen und Bewertung (z.B. Nutzungsansprüche) Entscheidung Raumwahrnehmung Korrektur oder Stabilisierung eines Images Bewertung beeinflusst künftige Reiseentscheidungen I.-Motivationale-Phase II.-Präferenzphase III.-Bewertungsphase IV.-Entscheidungsphase Abb. 24: Phasen des Reiseentscheidungsprozesses (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an H E C K H A U S E N & G O L L W I T Z E R 1987) Übersetzt in die Marktkommunikation wird diese Unterteilung meist als AIDA-Model bezeichnet (vgl. z. B. F R E Y E R 2011b, S. 207f.). Unter dem Akro‐ nym werden die vier Begriffe: ☐ A: Attention ☐ ☐ I: Interest ☐ ☐ D: Decision ☐ ☐ A: Action ☐ verstanden, die ebenfalls an die sozialpsychologischen Entscheidungspha‐ sen angelehnt sind, aber den Marketingblickwinkel auf die Art und Inhalte der Ansprache potentieller Reisender richten. 75 2.3 Subjektive Rahmenbedingungen der Nachfrageseite und deren Messung 75 <?page no="76"?> Während der Phase der Aufmerksamkeitsgenerierung (= Attention) sind es meist Informationen, die passiv von den potentiellen Reisenden aufge‐ nommen werden. Abgesehen von Relevanz der Mund-zu-Mund-Propaganda durch Bekannte und Freunde (= Word of Mouth), die in Zeiten von Social Media auch über entsprechende Internetplattformen erfolgt, auf denen Rei‐ seerfahrungen geteilt werden (= Word of Mouse), bedeutet dies für die An‐ bieter, dass die Information aktiv an die potentiellen Kunden herangetragen werden müssen (= Push-Marketing). Gleichzeitig liegt der Schwerpunkt der Marktkommunikation auf relativ allgemeinen Darstellungen, die insbeson‐ dere auch emotionale Komponenten enthalten und auf das Image einer De‐ stination abzielen. In der Phase des Interesses (= Interest) und der Entscheidung (= Decision) werden demgegenüber vom potentiellen Reisenden verstärkt aktiv Infor‐ mationen über in Frage kommende Destinationen und die dortigen Ange‐ bote für Übernachtungen und Aktivitäten gesucht (= Pull-Marketing). Diese sollen auch einen höheren Grad an Konkretisierung aufweisen, um konkrete Vergleiche zu ermöglichen. Aber auch in diesen Phasen spielt die (in den Tourismuswissenschaften bislang nur sehr partiell analysierte) „Word of Mouth“- oder „Word of Mouse“-Information eine wichtige Rolle. Die Herausforderung für die touristischen Leistungsträger besteht darin, einerseits intensiv und zielgruppenadäquat ein Interesse an einem touristi‐ schen Angebot durch - auch emotional geprägte - allgemeine Darstellungen zu wecken und andererseits leicht zugänglich auch konkrete Detailinfor‐ mationen abrufbar zu halten. Gleichzeitig ist evident, dass es für kleinere und weniger bekannte Destinationen oftmals schwierig ist, die Wahrneh‐ mungsschwelle zu überschreiten. Dementsprechend kommen dem Zusam‐ menschluss und der Kooperation in größeren Einheiten, die leichter ein be‐ stimmtes Maß an Bekanntheit erreichen können, im Tourismus eine entscheidende Rolle zu (vgl. Kap. 4). 2.3.2 Das Einstellungsmodell Die Erfassung des Images einer Destination bzw. der Zufriedenheit mit ei‐ nem touristischen Angebot folgt meist den psychologischen Ansätzen der neobehavioristischen Schule. Dort wird ganz grundsätzlich das menschliche Handeln als Reaktion des Organismus auf externe Stimuli verstanden, wes‐ halb dieser Ansatz oftmals auch als S-O-R-Modell bezeichnet wird. Grund‐ überlegung ist, dass das Individuum externe Stimuli intern verarbeitet und 76 2 Grundlagen Nachfrageseite 76 <?page no="77"?> dementsprechend dann darauf reagiert. Während in der Frühphase dieses Ansatzes der Informationsverarbeitungsprozess im Individuum oftmals als Black Box angesehen wurde, richten sich in den letzten Jahrzehnten die An‐ strengungen vor allem darauf, eben genau diese Prozesse nachvollziehbar zu machen, um sie nicht nur zu verstehen, sondern ggf. auch beeinflussen zu können. Dabei kommt dem Einstellungsmodell eine zentrale Rolle zu. Die im We‐ sentlichen auf F I S HB EIN & A J ZEN (1975) zurückgehende Einstellungsfor‐ schung teilt das Konstrukt Einstellung in zwei bzw. drei Teilkomponenten auf und wird oftmals auch als Adequacy-Importance-Ansatz bezeichnet. Als erste Komponente der Einstellung wird das Maß, in dem Merkmale eines bestimmten Angebots die individuellen Bedürfnisse erfüllen (= Adequacy), angesehen. Die subjektive Beurteilung der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ein‐ stellungsgegenstand eine bestimmte Eigenschaft aufweist, wird auch als kognitive Komponente bezeichnet. Die zweite emotionale oder motivati‐ onale Komponente besteht in der Wichtigkeit, die einem Merkmal zuge‐ messen wird (= Importance). Das Produkt aus beiden Komponenten wird als Einstellung im engeren Sinn verstanden (vgl. Abb. 25). Da meist mehrere Attribute/ Eigenschaften von Angeboten berücksichtigt werden, wird als Einstellung die Summe der Produkte aus den einzelnen Teilattributen ver‐ standen. Dementsprechend wird auch von mehrdimensionalen oder multi‐ attributiven Einstellungskonzepten gesprochen. Abb.‐Nr.: -25 Abb.‐Titel: -Das-neo‐behavoristische-Konstrukt- Einstellung--(Quelle: -Eigener-Entwurf-in-Anlehnung-an- F ISHBEIN &-A JZEN (1975)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Einstellung im weiteren Sinn Bed rfnisse ü Motive Kognitionen Einstellung im engeren Sinn Verhaltensabsicht Reaktion/ Verhalten Umwelt Stimuli Antizipierbare Situationsvariablen (z.B. sozio-demographische Situation) Nicht antizipierbare Situationsvariablen (z.B. Stimmungen) Abb. 25: Das neobehavoristische Konstrukt Einstellung (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an F I S H B E I N & A J Z E N 1975) 77 2.3 Subjektive Rahmenbedingungen der Nachfrageseite und deren Messung 77 <?page no="78"?> Neben der kognitiven und der emotionalen Komponente wird für die Ein‐ stellung im weiteren Sinn als dritte Komponente noch eine Verhaltensin‐ tention (konative Komponente) mit aufgenommen. Eine Reaktion auf Sti‐ muli bzw. ein konkretes Verhalten (z. B. Reiseentscheidung) wird neben der Einstellung auch noch von weiteren antizipierbaren und nicht antizipierba‐ ren Einflussgrößen mit beeinflusst. Bei der Analyse von Reiseentscheidun‐ gen sind damit neben der Einstellung auch weitere Einflussgrößen mit zu berücksichtigen. Der Begriff Einstellung wird meist synonym mit den Begriffen Image oder (Kunden-)Zufriedenheit verwendet. B AMB E R G & S CHMIDT (1993) haben das Einstellungsmodell noch um die Komponenten „normative Überzeugung“ und „Kontrollüberzeugung“ er‐ weitert, mit denen Werte und Normen des Individuums sowie die in der Peer-Gruppe relevanten Normen und Wertvorstellungen bezeichnet wer‐ den. Normative und Kontrollüberzeugung werden (wie antizipierbare Situ‐ ationsvariablen) als ebenfalls verhaltensrelevant angesehen. Insbesondere unter dem Blickwinkel auf dem Nachhaltigkeitsparadigma verpflichteten Reiseaktivitäten kommt den Wertvorstellungen des Individuums bzw. den unterstellten Reaktionen des Umfeldes auf ein konkretes Reiseverhalten des Individuums (z. B. interkontinentale Flugreise; vgl. Kap. 5.2) eine analytische Relevanz zu. Das Gesamtkonstrukt wird als „Theory of Planned Behavior“ (Theorie des geplanten Verhaltens) bezeichnet. 2.3.3 Das GAP-Modell Mit dem Einstellungsmodell lässt sich die Kundenzufriedenheit als Verhält‐ nis zwischen erwartetem und erlebtem Service abbilden. Daran anknüpfend versucht das auf P ARAS URAMAN , Z EITHAMEL & B E R R Y (1985) zurückgehende GAP-Modell zu identifizieren, an welchen Stellen im Erstellungsprozess ei‐ ner Dienstleistung (Reise) Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit (als Gap zwi‐ schen erwartetem und erlebtem Service) entstehen kann (vgl. Abb. 26, „GAP“ = Lücke, Diskrepanz). Mit diesem Modell werden, aufbauend auf dem Ein‐ stellungsmodell, Grundlagen für eine Problemanalyse bzw. Optimierungs‐ ansätze geschaffen mit dem Ziel, die Kundenzufriedenheit zu optimieren. 78 2 Grundlagen Nachfrageseite 78 <?page no="79"?> Abb.‐Nr.: -26 Abb.‐Titel: -Das-GAP‐Modell (Quelle: -Eigener-Entwurf- nach-P ARASURAMAN ,-Z EITHAMEL &-B ERRY 1985)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Mündliche Empfehlungen Persönliche Bedürfnisse Bisherige Erfahrungen Erwarteter Service Erlebter Service Geleisteter Service Normen für Servicequalität Vorstellungen des Managements von Kundenerwartungen Dienstleister- Kommunikation Nach aussen (Versprochener Service) Abb. 26: Das GAP-Modell (Quelle: eigener Entwurf nach P A R A S U R A M A N , Z E I T H A M E L & B E R R Y 1985) Ausgangspunkt ist ☐ GAP 5: Der Unterschied zwischen dem erwarteten Service und dem ☐ erlebten Service auf der Kundenseite. Eine solche Differenz kann (un‐ abhängig davon, ob die Kundenerwartungen überhaupt angemessen sind) angebotsseitig entstehen durch ☐ GAP 1: wenn das Management keine adäquaten Vorstellungen von ☐ den Kundenbedürfnissen besitzt; 79 2.3 Subjektive Rahmenbedingungen der Nachfrageseite und deren Messung 79 <?page no="80"?> ☐ GAP 2: die Vorstellungen von den Kundenerwartungen nicht ent‐ ☐ sprechend innerhalb des Unternehmens (oder der touristischen Ser‐ vicekette) an das Personal im Kundenkontakt kommuniziert werden; ☐ GAP 3: die unternehmensseitig formulierten Normen für die Service‐ ☐ qualität nicht entsprechend umgesetzt werden; ☐ GAP 4: in der Marktkommunikation der versprochene Service nicht ☐ dem realiter dann auch geleisteten Service entspricht. Von P ARAS URAMAN , Z EITHAMEL & B E R R Y (1988) wurden die einzelnen As‐ pekte der Servicequalität (in Anlehnung an das multiattributive Einstel‐ lungsmodell) weiter unterschieden. Sie formulierten fünf Hauptdimensionen, die noch heute in vielen Ana‐ lysen Verwendung finden und die als SERVQUAL-Ansatz bezeichnet wer‐ den, der die relevanten Dimensionen der Servicequalität zu erfassen sucht: ☐ Reliability: zuverlässige und korrekte Erbringung der Dienstleistung ☐ (Zuverlässigkeit) ☐ Assurance: höfliches, kompetentes und sicheres Auftreten (Leis‐ ☐ tungs- und Fachkompetenz) ☐ Tangibles: äußeres Erscheinungsbild (materielles Umfeld) ☐ ☐ Empathy: Einfühlungsvermögen der Mitarbeiter ☐ ☐ Responsiveness: schnelle, aktive und kompetente Reaktion dem ☐ Kunden gegenüber (Entgegenkommen). 2.3.4 Basis-, Leistungs- und Begeisterungsfaktoren Das GAP-Modell und der SERVQUAL-Ansatz wurden aufbauend auf dem Einstellungsmodell entwickelt, um die Aspekte zu identifizieren, die zu Kundenzufriedenheit führen können. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie relevant die einzelnen Aspekte sind. Für die Kunden können (Stichwort Anspruchsinflation) letztendlich sehr viele Elemente der Servicequalität wünschenswert sein. Aus Unternehmenssicht gilt es, unter dem Blickwinkel einer möglichst effizienten Generierung von Kundenzufriedenheit, diejeni‐ gen Aspekte zu identifizieren, die in besonderem Maß hierzu beitragen. Von K ANO (1995) wurde mit dieser Zielsetzung das sog. Kano-Modell entwickelt, das (ähnlich wie bei der M AS LOW ’schen Bedürfnispyramide; vgl. Kap. 1.2.2.2) zwischen Basis-, Leistungs- und Begeisterungsfaktoren unter‐ scheidet (vgl. Abb. 27). 80 2 Grundlagen Nachfrageseite 80 <?page no="81"?> ☐ Basisfaktoren stellen dabei einen implizit vorausgesetzten Basis‐ ☐ nutzen voraus. Dies kann z. B. die Tatsache sein, dass ein reserviertes Hotelzimmer bei Anreise dann auch wirklich verfügbar ist. Basisfak‐ toren stellen eine Art Markteintrittsschwelle dar. Ihr Vorhandensein bzw. ihre Erfüllung führt nicht zu Kundenzufriedenheit, da die Erfül‐ lung eben vorausgesetzt wird. Umgekehrt resultiert die Nichterfül‐ lung bzw. das Fehlen von solchen Basisfaktoren in Unzufriedenheit. ☐ Leistungsfaktoren sind erwartete oder erwünschte Nutzen oder ☐ Leistungen. In einem Hotel kann dies z. B. eine gute Erreichbarkeit oder ein umfangreiches Frühstücksbuffet sein. Eine gute Servicequa‐ lität führt hier auch zu einer Zunahme der Kundenzufriedenheit, ge‐ nauso wie das Fehlen wiederum zu Unzufriedenheit führt. ☐ Begeisterungsfaktoren werden vom Kunden normalerweise nicht ☐ erwartet. Zu unerwarteten Leistungen kann z. B. zählen, wenn auf dem Hotelzimmer ein Früchtekorb oder ein Bademantel zur Benut‐ zung durch den Hotelgast offeriert wird. Fehlt eine solche Leistung, führt dies - da sie ja nicht erwartet wird - nicht zu Unzufriedenheit. Umgekehrt wird das Vorhandensein mit Zufriedenheit honoriert (vgl. Abb. 27). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass sich das Kon‐ strukt Kundenzufriedenheit durch zeitliche Dynamik und individuelle Nut‐ zenerwartung der Kunden auszeichnet. Hier spielen neben gesellschaftli‐ chen Wandlungsprozessen vor allem der Erfahrungszuwachs und die dadurch veränderten individuellen Erwartungshaltungen eine Rolle (vgl. Kap. 2.2). So können im Laufe der Zeit Begeisterungsfaktoren zu Leistungs- und später auch zu Basisfaktoren „degradieren“. Illustriert sei dies nochmals am Beispiel eines umfassenden Frühstücksbuffets. Wurde dieses vor einigen Jahrzehnten noch nicht erwartet und stellte somit bei Vorhandensein einen Begeisterungsfaktor dar, gehört es inzwischen zum Standard, und Kunden‐ zufriedenheit kann nur durch ein möglichst umfassendes und differenziertes Buffet mit hochwertigen Produkten generiert werden. Denkbar ist, dass es künftig irgendwann dann zum Basisfaktor wird, mit dem keine zusätzliche Kundenzufriedenheit mehr geschaffen werden kann. 81 2.3 Subjektive Rahmenbedingungen der Nachfrageseite und deren Messung 81 <?page no="82"?> Abb.‐Nr.: -27 Abb.‐Titel: -Basis‐ Leistungs‐ und- Begeisterungsfaktoren- (Quelle: -Eigener-Entwurf-nach- P ECHLANER ,-S MERAL &-M ATZLER 2002,-S.-19)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Indifferenzzone Erwartungen 0 übertroffen A: Kundenzufriedenheit bei Basisfaktoren Zufriedenheit Unzufriedenheit + + + - - nicht erfüllt Erwartungen Indifferenzzone Erwartungen 0 nicht erfüllt übertroffen Erwartungen B: Kundenzufriedenheit bei Leistungsfaktoren Zufriedenheit Unzufriedenheit + + + - - - Indifferenzzone Erwartungen 0 übertroffen C: Kundenzufriedenheit bei Begeisterungsfaktoren Zufriedenheit Unzufriedenheit + + + - - nicht erfüllt Erwartungen Abb. 27: Basis- Leistungs- und Begeisterungsfaktoren und deren Einfluss auf die Kundenzufriedenheit (Quelle: eigener Entwurf nach P E C H L A N E R , S M E R A L & M A T Z L E R 2002, S. 19) Operationalisiert wird die Zugehörigkeit zu Basis-, Leistungs- und Begeis‐ terungsfaktoren zumeist durch den Vergleich der explizit abgefragten Wich‐ tigkeit (= emotionale Komponente der Einstellung) mit der impliziten Wich‐ tigkeit. Implizite Wichtigkeit wird als Beitrag des entsprechenden Items zur Gesamtzufriedenheit verstanden, die üblicherweise mittels einer Regressi‐ onsanalyse berechnet wird (genau z. B. bei K AG E RMEIE R 2006). Für die Darstellung wird häufig das sog. Importance Grid gewählt. Bei diesem werden die Bezüge zwischen expliziter und impliziter Wichtigkeit für die einzelnen Items in vier Quadranten dargestellt (vgl. Abb. 28). Für die Analyse werden die Ergebnisse für die einzelnen Items in die Quadranten 82 2 Grundlagen Nachfrageseite 82 <?page no="83"?> eingetragen. Dabei bilden die beiden Mittelwerte aller Itemmittelwerte meist die Achsenschnittpunkte. Abb.‐Nr.: -28 Abb.‐Titel: -Importance‐Grid (Quelle: -Eigener-Entwurf- nach-M ATZLER 2000,-S.-301)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE I. Begeisterungsfaktoren II. Leistungsfaktoren (wichtig) III. Leistungsfaktoren (unwichtig) IV. Basisfaktoren Niedrig Hoch Implizite Wichtigkeit Explizite Wichtigkeit Niedrig Hoch Abb. 28: Importance Grid (Quelle: eigener Entwurf nach M A T Z L E R 2000, S. 301) Eine beispielhafte Darstellung findet sich in Abbildung 29. Die dargestellten Werte stammen aus einer Erhebung in einer industriekulturtouristischen Einrichtung (Zeche Zollern in Dortmund). Festzuhalten ist an diesem Fall‐ beispiel, dass zum einen keine klaren Begeisterungsfaktoren identifiziert werden konnten. Die Leistungsfaktoren werden stark von der Art der mu‐ seumsdidaktischen Aufbereitung („Architektur“, „übersichtliche Anord‐ nung der Objekte“, „stimmige Atmosphäre“ und „in Vergangenheit zurück‐ versetzen“) geprägt. Nicht weiter eingegangen werden soll an dieser Stelle auf den nächsten Analyseschritt, der in einer ähnlichen Darstellungsweise wie das Impor‐ tance Grid die beiden Wertebereiche für die Zufriedenheit und die explizite Wichtigkeit darstellt und als „Handlungsrelevanzmatrix“ bezeichnet wird. Niedrige Zufriedenheiten und hohe Wichtigkeiten signalisieren bei dieser Darstellungsform die Aspekte mit hohem Handlungsbedarf (vgl. Abb. 107 in Kap. 6.4). 83 2.3 Subjektive Rahmenbedingungen der Nachfrageseite und deren Messung 83 <?page no="84"?> Abb.‐Nr.: -29 Abb.‐Titel: -Beispiel-für-das-Ergebnis-eines-Importance‐ Grid (Quelle: -K AGERMEIER 2006,-S.-146)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Leistungsfaktoren (unwichtig) Begeisterungsfaktoren Leistungsfaktoren (wichtig) Basisfaktoren explizite Wichtigkeit implizite Wichtigkeit niedrig hoch hoch niedrig Freundlichkeit Personal Orientierung Erreichbarkeit Architektur Sanitäranlagen stimmige Atmosphäre in Vergangenheit zurückversetzen Vielfalt von Objekten Museumsshop Vorabinformationen Restaurant Öffnungszeiten übersichtliche Anordnung Objekte Abb. 29: Beispiel für das Ergebnis eines Importance Grid (Quelle: K A G E R M E I E R 2006, S. 301) Neben den ausführlich dargestellten multiattributiven Verfahren zur Mes‐ sung von Kundenzufriedenheit existieren eine Reihe weiterer Verfahren. Diese sind überblicksartig in Abbildung 30 wiedergegeben. Dabei wird grund‐ sätzlich unterschieden zwischen den sog. „objektiven Messansätzen“, bei denen aus „Expertensicht“ - und damit vermeintlich objektiv - versucht wird, die Servicequalität zu erfassen. Neben strukturierten Beobachtungen kommt dabei oftmals auch das „Silent Shopping“ oder „Mystery Guest“ genannte Verfahren zum Einsatz. Bei diesem durchläuft ein Testbesucher den gesam‐ ten Kundenpfad und dokumentiert strukturiert Stärken und Schwächen an den einzelnen Kundenkontaktpunkten. Dieses Verfahren kommt auch bei Qualitätsmanagementansätzen zu Einsatz. So wird es (ab Stufe II) bei der In‐ itiative „ServiceQualität Deutschland“ des Deutschen Tourismusverband (DTV 2015) eingesetzt, bei der im Zuge der Zertifizierung von touristischen Angeboten die dortige Servicequalität gemessen wird (vgl. Abb. 91 in Kap 6.2). Das in Deutschland eingesetzte Verfahren lehnt sich stark an das früher entwickelte „Qualitätsgütesiegel für den Schweizer Tourismus“ an, das vom „Schweizer Tourismusverband“ (STV/ FST 2015) getragen wird. Hinsichtlich der Zahl der unterschiedlichen Verfahren und auch der Ver‐ breitung bei der Analyse von Kundenzufriedenheit dominieren eindeutig die 84 2 Grundlagen Nachfrageseite 84 <?page no="85"?> sog. „subjektiven Messansätze“. Diese setzen beim Kunden und dessen subjektiver Sichtweise an. Der hier ausführlicher behandelte und bei weitem am weitesten verbreitete Ansatz entspricht in der Systematik den „multiatt‐ ributiven Modellen“ in der Rubrik „merkmalsorientierte Verfahren“ der „subjektiven Messansätze“. Weitere subjektive Messansätze sind insbeson‐ dere die „ereignisorientierten Verfahren“, bei denen der Fokus nicht auf einzelnen Eigenschaften (Items) der Servicequalität liegt, sondern im Wesent‐ lichen dem Kundenpfad, d. h. den einzelnen Kontaktpunkten folgt. Dabei werden neben quantitativen Verfahren wie der (stark an den multiattributi‐ ven Modellen angelehnte, aber eben am Kundenpfad orientierten) „sequenti‐ ellen Ereignismethode“ oftmals qualitative Verfahren wie „Story Telling“ oder auch die „Critical Incident Technique“ eingesetzt. Bei diesen werden entwe‐ der frei die Erfahrungen sequentiell berichtet oder es wird gezielt auch nach Problemen und Schwachstellen gefragt. Ähnlich gehen die „problemorien‐ tierten Verfahren“ vor, bei denen meist die Beschwerdeanalyse (sei es ein‐ gegangene Beschwerden oder auch aktiv abgerufene potentielle Beschwer‐ deanlässe) eingesetzt wird (genauer bei K AG E RMEIE R 2006). Abb.‐Nr.: -30 Abb.‐Titel: -Kundenorientierte-Ansätze-zur-Messung- von-Zufriedenheit-(Quelle: -Eigener-Entwurf-nach- KAISER-2002,-S.-106)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Objektive Messansätze Subjektive Messansätze Merkmalorientierte Verfahren Ereignisorientierte Verfahren Problemorientierte Verfahren - Multiattributive Modelle - Dekompositionelle Verfahren - Vignette-Methode - Willigness-to-pay- Ansatz - Penalty-Reward- Faktoren-Ansatz - Beobachtung - Silent Shopper - Story-Telling - Critical Incident Technique - Sequentielle Ereignismethode - Problem-Detecting-Methode - Frequenz- Relevanz- Analyse (FRAP) - Lob- und Beschwerdeanalyse Abb. 30: Kundenorientierte Ansätze zur Messung von Zufriedenheit (Quelle: eigener Entwurf nach K A I S E R 2002, S. 106) 85 2.3 Subjektive Rahmenbedingungen der Nachfrageseite und deren Messung 85 <?page no="86"?> Die Ansätze zur Erfassung der Kundenzufriedenheit sind insgesamt dadurch gekennzeichnet, dass diese nicht einfach oder direkt zu messen ist. Daher versuchen alle Ansätze, sich dem Konstrukt „Kundenzufriedenheit“ indirekt zu nähern. Insgesamt gesehen hat die Kundenzufriedenheitsforschung im Tourismus in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen, da sie eine zentrale Grundvoraussetzung für darauf aufbauende Qualitätsmana‐ gementansätze darstellt. Vor dem Hintergrund der steigenden und sich per‐ manent verändernden Bedürfnisse der Reisenden sowie angesichts sich ak‐ zentuierender Wettbewerbskonstellationen wird deren Bedeutung sicherlich auch künftig noch zunehmen. Bis Ende des 20. Jahrhunderts kamen dabei vor allem multiattributive Modelle zum Einsatz. Da diese aber bezüg‐ lich der Möglichkeiten zur Erfassung der Detailliertheit und Differenziert‐ heit von Kundenerfahrungen klare Grenzen aufweisen und oftmals nur stark generalisierte Befunde liefern, zeichnet sich inzwischen ab, dass künftig ne‐ ben den sog. objektiven Messansätzen auch stärker ereignisorientierte und problemorientierte Verfahren zum Einsatz kommen werden, auch wenn diese oftmals zu keinen so klar standardisierten und quantifizierbaren Be‐ funden führen. Zusammenfassung ☐ In diesem Kapitel wurde zunächst die quantitative Entwicklung der ☐ touristischen Nachfrage vorgestellt und die dafür relevanten Hin‐ tergrunddimensionen angesprochen. ☐ Gleichzeitig sollte ein Verständnis dafür geweckt werden, dass sich ☐ die touristische Nachfrage kontinuierlich ausdifferenziert und kom‐ plexer wird. Damit besteht für die Anbieterseite die Herausforde‐ rung darin, die Kundenwünsche nicht nur zu erfassen, sondern auch entsprechende Trends frühzeitig zu antizipieren. ☐ Entsprechend der Relevanz der Erfassung von Kundenzufriedenheit ☐ wurde im dritten Abschnitt des Kapitels auf Ansätze zur Messung von Kundenzufriedenheit eingegangen. Diese wurde als sozialpsy‐ chologisches Konstrukt eingeführt und exemplarisch die multiatt‐ ributiven Ansätze zur Messung von Kundenzufriedenheit beim Sub‐ jekt des Kunden genauer besprochen. 86 2 Grundlagen Nachfrageseite 86 <?page no="87"?> Weiterführende Lesetipps K AI S E R , Marc-Oliver (2002): Erfolgsfaktor Kundenzufriedenheit. Di‐ mensionen und Messmöglichkeiten. Berlin Eine umfassende Einführung in die unterschiedlichen Konzepte und An‐ sätze zur Erfassung und Messung der Kundenzufriedenheit. Wichtige Datenquellen für grundlegende quantitative Anga‐ ben zur touristischen Nachfrage: FUR (= Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen): Reiseanalyse. Kiel Jährlich erscheinende Publikation mit Basisinformationen zur Struktur und Entwicklung des deutschen Urlaubsreisemarktes auf der Basis einer als repräsentativ geltenden Befragung bei der deutschen Wohnbevölke‐ rung. Wichtigste Quelle für länger zurückreichende Zeitreihen zur tou‐ ristischen Nachfrage. Erhebung zu Jahresbeginn retrospektiv für das zu‐ rückliegende Jahr. Erscheint im Herbst mit den Daten für das zurückliegende Jahr. Vorstellung erster Ergebnisse im März auf der In‐ ternationalen Tourismusbörse in Berlin (ITB) bzw. auf anderen Touris‐ musbörsen. www.fur.de UNWTO (United Nations World Tourism Organization): Yearbook of Tourism Statistics. Madrid Jahrbuch mit Angaben zu Einreisen und Übernachtungen weltweit und differenziert nach jedem Land. www.unwto.org Statistisches Bundesamt: Tourismus. Wiesbaden Angaben zu Ankünften und Übernachtungen im gewerblichen Beher‐ bergungswesen der Bundesrepublik Deutschland differenziert nach un‐ terschiedlichen Parametern. www.destatis.de Europäische Kommission, Eurostat: Tourismus. Luxembourg Neben Angaben zu Ankünften und Übernachtungen im gewerblichen Beherbergungswesen der EU-Länder (auch weiter regional differenziert) werden auch Angaben über die Reiseteilnahme von EU-Bürgern veröf‐ fentlicht. Dabei auch eine Vielzahl von kartographischen Darstellungen auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen verfügbar. ec.europa.eu/ euros‐ tat/ de 87 2.3 Subjektive Rahmenbedingungen der Nachfrageseite und deren Messung 87 <?page no="89"?> 3 Grundlagen Angebotsseite Auch wenn die Schwerpunkte tourismusgeographischer Ansätze nicht so sehr im Bereich der touristischen Unternehmen (= Touristik) liegen, sondern stärker auf die sozialwissenschaftlichen Aspekte der Nachfrageseite und die Perspektive auf das Destinationsmanagement ausgerichtet sind, soll im Rah‐ men dieser Einführung in die Tourismusgeographie doch auch in kompakter Form auf ausgewählte Aspekte der privaten touristischen Leistungsträger entlang der touristischen Leistungskette eingegangen werden. Detailliertere Ausführungen zu diesem Aspekt finden sich in stärker betriebswirtschaft‐ lich ausgerichteten Einführungen in den Tourismus, wie z. B. F R E Y E R 2011a. Lernziele In diesem Kapitel werden folgende Fragen beantwortet: ☐ Welche Entwicklungstendenzen kennzeichnen die zentralen Glie‐ ☐ der der touristischen Leistungskette? ☐ Welche Rolle kommt den spezifischen Eigenschaften von touristi‐ ☐ schen Produkten im Hinblick auf das Marketing zu? ☐ Welche Grundprinzipien des Marketings sind im Tourismus rele‐ ☐ vant? ☐ Welche Funktion haben Marken im Tourismus? ☐ ☐ Welche Herausforderungen stellen sich durch die Entwicklungen ☐ im Social Web? 3.1 Die touristische Leistungskette Ein zentrales Grundprinzip von touristischen Dienstleistungen (vgl. auch Merkmale von Dienstleistungen in Kap. 3.2.1) ist, dass es sich um ver‐ gleichsweise komplexe Dienstleistungen handelt. Von der Potentialphase, d. h. der Vorbereitung der eigentlichen Dienstleistungsinanspruchnahme mit der Information und der Buchung (vgl. Abb. 31), über die konkrete Reise mit Transport, Aufenthalt vor Ort bis hin zur Nachbetreuung zerfällt eine <?page no="90"?> touristische Dienstleistung üblicherweise in mehr Einzelschritte als z. B. ein Friseurbesuch oder auch eine medizinische Behandlung beim Hausarzt. Die Komplexität wird insbesondere dadurch gesteigert, dass die Dienstleistung an einem anderen Standort als dem Wohnstandort (bzw. auch an wechseln‐ den Standorten) nachgefragt wird. Abbildung-31 Potenzialphase Prozessphase Ergebnisphase Reise‐ mittler Reise‐ veran‐ stalter Trans‐ port Beher‐ ber‐ gung Ver‐ pfle‐ gung Sonstige- DL Trans‐ port Nach‐ betreu‐ ung Abb. 31: Die touristische Leistungskette (Quelle: eigener Entwurf nach F R E Y E R 2011b, S. 83) Damit sind sowohl im Quellgebiet (z. B. Reisebüro oder Reiseveranstalter) als auch im Zielgebiet (Beherbergungseinrichtungen oder Anbieter von touristi‐ schen Aktivitäten) touristische Leistungsträger involviert. Darüber hinaus werden auch beim Transport zwischen Quell- und Zielgebiet zusätzliche Leis‐ tungen nachgefragt. Zwar versuchen integrierte Tourismuskonzerne wie z. B. die TUI teilweise, eine Vielzahl von Teilleistungen - vom Vertrieb in eigenen Reisebüros über den Transport mit eigenen Airlines und die Unterbringung in eigenen Hotels bis hin zur Betreuung durch eigene Incoming-Agenturen -, das Produkt „Reise“ möglichst aus einer Hand anzubieten. Üblicherweise sind es aber mehrere touristische Leistungsträger, die am Produkt „Reise“ be‐ teiligt sind. Insbesondere in den Destinationen handelt es sich dabei oftmals auch um kleinere Unternehmen, sodass die Tourismusbranche insgesamt von einer Vielzahl klein- und mittelständischer Unternehmen (KMU) geprägt ist. 90 3 Grundlagen Angebotsseite 90 <?page no="91"?> 3.1.1 Reiseveranstalter Innerhalb der touristischen Leistungsbzw. Servicekette übernehmen die Reiseveranstalter eine zentrale Rolle. Von ihnen wird üblicherweise das „Pa‐ ket“ Reise geschnürt aus den Angeboten mehrerer anderer Dienstleister - insbesondere in den Zielgebieten -dem Endkunden angeboten. Der Reiseveranstaltermarkt zeigt damit ein im Tourismus auch in anderen Bereichen typisches Merkmal: einerseits ein hohes Maß an Konzentration und andererseits eine Vielzahl von sehr kleinteiligen Veranstaltern. Etwas vereinfachend kann gesagt werden, dass das standardisierte Volumenge‐ schäft von wenigen großen Veranstaltern abgewickelt wird, während eine Vielzahl von kleineren Anbietern insbesondere Spezial- und Nischenange‐ bote anbietet. Als die drei traditionellen großen deutschen Reiseveranstalter sind anzu‐ sprechen: 1. Die TUI (Touristik Union International), die 1968 aus einem Zusam‐ 1. menschluss von mehreren unabhängigen Veranstaltern (Touropa, Scharnow-Reisen, Hummel-Reisen und Dr. Tigges-Fahrten) gegrün‐ det worden ist. Das Unternehmen mit Sitz in Hannover ist damit der klassische Vertreter des Konzentrationsprozesses in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und war lange auch eindeutig die Nummer 1 im deutschen Markt mit einer klaren Ein-Marken-Strategie. Die TUI kann als hochgradig vertikal integrierter Reisekonzern angesprochen werden, der über eigene Reisebüros, eine eigene Fluglinie, eigene Ho‐ tels und Incoming-Agenturen sowie sogar eine eigene Kreuzfahrt‐ tochter verfügt. Gleichzeitig ist die TUI mit einer Reihe von Tochter‐ firmen in unterschiedlichsten Ländern nicht nur in Europa, sondern global tätig. 2. Der Reiseveranstalter Neckermann übernahm nach mehreren an‐ 2. deren Unternehmen 2001 auch den traditionellen englischen Reise‐ veranstalter Thomas Cook (vgl. Kap. 1.2.1). Seit der Fusionierung werden beide Namen (als klassische Zwei-Marken-Strategie) geführt (neben den Marken anderer kleinerer ebenfalls übernommener Un‐ ternehmen wie z. B. Öger Tours). Auch Thomas Cook/ Neckermann kann bis zur Insolvenz 2019 als weitgehend integrierter Reiseveran‐ stalter angesprochen werden. 3. Die REWE als eigentlich klassisches Einzelhandelsunternehmen hat 3. sich durch Aufkäufe - zuletzt im Jahr 2015 durch Kauf des Schweizer 91 3.1 Die touristische Leistungskette 91 <?page no="92"?> Reiseveranstalters Kuoni - zum drittgrößten Reiseveranstalter Deutschlands entwickelt. Dass die Tourismusunternehmen zum Kon‐ zernumsatz etwa 10 % beitragen ist deshalb oftmals nicht bewusst, da die ursprünglichen Reiseveranstalter (u. a. IST, Jahn Reisen, Tjaere‐ borg, DERTOUR, Meiers Weltreisen, ADAC Reisen) lange Zeit in einer Mehrmarkenstrategie separat geführt wurden. 2013 wurde allerdings damit begonnen, die einzelnen Veranstalter unter der Dachmarke bzw. Gruppenmarke der „DER Touristik“ zusammenzufassen. Auch die REWE-Gruppe verfügt über eigene Hotelmarken und teilweise ei‐ gene Incoming-Agenturen in den ausländischen Destinationen. Bezogen auf den Umsatz (vgl. Abb. 32) vereinigen diese drei Reiseveranstal‐ ter zusammen mit dem vierten Unternehmen, der FTI Group etwa die Hälfte des Umsatzes der deutschen Reiseveranstalter in Höhe von etwa 36 Mrd. € im Jahr 2018 (fvw 2019, S. 7). Damit dokumentieren sie den hohen Grad an Konzentration in der Branche. Gleichzeitig ist der relative Anteil (bei ins‐ gesamt steigenden Umsätzen) in den letzten Jahren - trotz mehreren Zu‐ käufen - gesunken. 2005 konnten die beiden Veranstalter TUI und Necker‐ mann noch fast die Hälfte des Veranstalterumsatzes auf sich vereinigen. Dies bedeutet, dass die kleineren - oftmals stärker spezialisierten Veranstalter - insgesamt gesehen eine höhere Wachstumsdynamik aufwiesen als die gro‐ ßen Pauschalreiseveranstalter. Und dies trotz deren Bemühen, neben den klassischen Pauschalreisen (mit einem Schwerpunkt beim Badetourismus) eine Diversifizierungsstrategie zu verfolgen und auch verstärkt mit Spezi‐ alangeboten (Wellness, Studienreisen etc.) und bei sog. Bausteinreisen tätig zu werden. Letztendlich spiegelt sich damit auch im Reiseveranstaltermarkt die Parallelität von fordistisch geprägten, den sog. „Economies of Scale“ (= Skalenvorteile) folgenden Produktionsweisen und den tendenziell eher post-fordistischen „Economies of Scope“ (= Verbundvorteile), d. h. einer Produktionsweise, bei der die zentralen Wettbewerbsvorteile in den Inter‐ aktionen zwischen kleinen flexiblen Unternehmen gesehen werden. Für diese These spricht auch der Marktaustritt von Thomas Cook/ Neckermann im Jahr 2019. 92 3 Grundlagen Angebotsseite 92 <?page no="93"?> Abb.‐Nr.: -32 Abb.‐Titel: -Der-deutsche-Veranstaltermarkt: - Umsatzanteile-2018 (Quelle: -Eigene-Darstellung-nach- DRV--2019,-S.-14)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE TUI Deutschland 17,8% Thomas Cook 9,7% Rewe Touristik 8,3% FTI Group 7,0% Aida Cruises 4,5% Alltours 3,5% Schauinsland 3,3% Sonstige 45,9% Abb. 32: Der deutsche Veranstaltermarkt: Umsatzanteile 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten DRV 2019, S. 14) Entsprechend dem klassischen Lebenszyklusansatz (vgl. Kap. 1.2.2.1) erlau‐ ben innovative, spezialisierte Produkte höhere Erträge als in der Reifephase befindliche - und damit stärker standardisierte Produkte. Auch wenn die Erträge der Unternehmen pro Pax (Reisegast) nicht verfügbar sind, erlauben zumindest die Umsätze je verkaufter Reise einen Hinweis auf unterschied‐ lich hohe Deckungsbeiträge. Während eine durchschnittliche Reise bei hochpreisigen Spezialreiseveranstaltern zwischen 2.000 und 5.000 € kostet (fvw 2019, S. 12ff.), liegen klassische Pauschalreiseveranstalter eher im Be‐ reich 400 bis 800 € pro verkaufter Reise. Die genaue Zahl der über Reiseveranstalter gebuchten Reise ist - auf‐ grund der diversen Internetplattformen und -portale und damit einer Flexi‐ bilisierung des Buchungsverhaltens - nicht mehr exakt anzugeben. Die Er‐ gebnisse der Reiseanalyse, das von Deutschen ca. 40 % der (längeren Urlaubs-) Reisen als Pauschal- oder Bausteinreise gebucht werden (FUR 2019, S 39) spiegelt gleichwohl in etwa die Bedeutung der Veranstalter im Reisemarkt. Die Entwicklung des Verhältnisses von Pauschalreisen (erst ab 2005 wer‐ den auch Bausteinreisen bei einem Anbieter mit erfasst) und individuell or‐ ganisierten Reisen wird in der Reiseanalyse seit 1970 (allerdings nur für längere Urlaubsreisen und nicht für Kurzurlaubsreisen) erfasst (vgl. Abb. 33). 93 3.1 Die touristische Leistungskette 93 <?page no="94"?> Während früher die selbst organisierte Reise (oftmals mit Pkw-Anreise und direkter Buchung eines Quartiers in der Destination) dominierte, hat Ende des 20. Jahrhunderts der Anteil von bei Reiseveranstalter gebuchten Reisen deutlich zugenommen. Verbunden ist dies auch mit der Zunahme von Flug‐ reisen in weiter entfernt liegende Destinationen (vgl. Kap. 2.1.2). Seit der Jahrtausendwende stagniert der (relative) Anteil von Pauschalreisen bzw. ist leicht rückläufig (auch wenn die absolute Zahl der bei Reiseveranstalter ge‐ buchten Reisen nach wie vor ansteigt, wobei dies wohl auch auf die zuneh‐ mende Zahl der über Reiseveranstalter gebuchten Kurzreisen zurückzufüh‐ ren ist). Damit zeigen sich auch hier die im Tourismusmarkt immer wieder auftretenden Veränderungen und Herausforderungen für die Anbieter. Einer der zentralen Hintergründe für die (relative) Abnahme von Veranstalterrei‐ sen ist die Tatsache, dass in den letzten Jahren der direkte Vertrieb über das Internet deutlich an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Kap. 3.1.4) Abb.‐Nr.: -33 Abb.‐Titel: -Entwicklung-des-Anteils-organisierter- Urlaubsreisen-und-von-Individualreisen-seit-1970-- (Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-FUR-div.-Jahrgänge) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 Pauschalreise Individualreise Abb. 33: Entwicklung des Anteils organisierter Urlaubsreisen und von Individualreisen seit 1970 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten FUR div. Jahrgänge) Über das Internet werden zwar auch nach wie vor Veranstalterreisen ge‐ bucht. Gleichzeitig ist aber der direkte Zugriff auf Flüge oder Übernach‐ tungsmöglichkeiten über die entsprechenden Plattformen für den Endkun‐ den deutlich einfacher geworden. Damit wird die Einschaltung von 94 3 Grundlagen Angebotsseite 94 <?page no="95"?> zwischengeschalteten Reiseveranstaltern (und auch Reisemittlern), die dem Kunden entsprechende Pauschalpakete schnüren, weniger notwendig. Eine weitere Rolle mag auch die Flexibilisierung und Individualisierung der Nachfrageseite spielen (vgl. Kap. 2.2.3). Das Gefühl, sich individuell einen Urlaub (im Internet) zusammenzustellen, statt eine vorgefertigtes standar‐ disiertes Reiseprodukt „von der Stange“ zu konsumieren, ist für einen Teil der Reisenden ebenfalls ein relevantes Motiv. Die Reiseveranstalter stehen damit nicht nur im Spannungsfeld zwischen dem Trend zur Konzentration und der Spezialisierung auf klar identifizierte spezifische Teilsegmente. Gleichzeitig stellen neben dem Multi-Chan‐ nel-Vertrieb auch eine klare Kundenorientierung (vgl. Kap. 2.3) und eine Konzentration auf spezielle unverwechselbare Angebotsbündel eine der zentralen Herausforderungen für die Branche dar. 3.1.2 Übernachtungsbetriebe Auch die Entwicklung bei den Übernachtungsbetrieben weist eine Entwick‐ lungsdynamik auf, die vom Wechselspiel zwischen Konzentrationstenden‐ zen und Spezialisierung geprägt ist. Damit verbunden sind auch das Span‐ nungsverhältnis von Convenience und Standardisierung versus Individualisierung und Erlebnisorientierung. Abb.‐Nr.: -34 Abb.‐Titel: -Betriebsarten-im-Beherbergungswesen- (Quelle: -Eigener-Entwurf-in-Anlehnung-an-Freyer- 2011a,-S. 145)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Beherbergungswesen Klassische Hotellerie Parahotelerie Hotel (Kur-Hotel/ Motel/ Aparthotel) Pension Hotel garni Gasthof Ferienwohnung, -Häuser Camping Caravaning Sanatorien Kurkliniken Jugend- Herbergen / Hostel Ferienlager Vereinsheime Ferienzentren Privatzimmer Abb. 34: Betriebsarten im Beherbergungswesen (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an F R E Y E R 2011a, S. 145) 95 3.1 Die touristische Leistungskette 95 <?page no="96"?> Betriebe Betten Auslastung Insgesamt 50.685 3.702.882 39,8 % Klassische Hotellerie 31.727 1 846 611 45,3 % Hotels (ohne Hotels garnis) 12.924 1.154.629 47,3 % Hotels garnis 7.105 402.202 48,7 % Gasthöfe 6.603 168.613 30,7 % Pensionen 5.095 121.167 35,4 % Parahotellerie (inkl. Ferienzentren, ohne Camping) 14.252 732.459 34,8 % Ferienzentren 1.602 124.071 33,9 % Erholungs- und Ferienheime 115 64.700 48,7 % Ferienhäuser und Ferienwohnungen 10.657 381.528 31,8 % Jugendherbergen und Hütten 1.878 162.160 37,1 % Campingplätze 2.979 894.560 14,7 % Sonst. tourismusrelevante Unterkünfte 1.727 229.252 70,1 5 Vorsorge- und Rehabilitations‐ kliniken 866 153.374 85,8 5 Schulungsheime 861 75.878 38,3 5 Tab. 3: Beherbergungsbetriebe, Betten und Auslastung in Deutschland 2018 (Quelle: Statistisches Bundesamt 2019) Das gewerbliche Beherbergungswesen kann grob unterteilt werden in den Bereich der klassischen Hotellerie und die sog. Parahotellerie (vgl. Abb. 34). Ferienzentren stehen als eine Art Zwischenkategorie zwischen den beiden Hauptformen. Innerhalb der Hotellerie wird zwischen den Betriebsformen Hotel, Hotel garni (ohne Restaurant), Pension und Gasthof unterschieden. Auch wenn es keine definitorischen Größenordnungen für die einzelnen Betriebsformen gibt, sind Pensionen, Gasthöfe und Hotel garnis eher von kleineren Betriebsgrößen geprägt, während Hotels im Durchschnitt über 96 3 Grundlagen Angebotsseite 96 <?page no="97"?> mehr Betten verfügen. Die Vielfalt der touristisch relevanten Übernach‐ tungsangebote zeigt sich insbesondere im Bereich der Parahotellerie, bei der unterschiedlichste Größenklassen (von der einzelnen Ferienwohnungen und Privatzimmern bis zu großen Kurkliniken), ein breites Spektrum an Preisklassen und auch die Ausrichtung an unterschiedlichsten Zielgruppen und Tourismusformen deutlich wird. Insgesamt werden in der Bundesrepublik (2018) von gut 50.000 Betrieben etwa 3,7 Mio. Betten angeboten (vgl. Tab. 3; ein Stellplatz auf einem Cam‐ pingplatz zählt dabei wie 4 Betten). Auf die klassische Hotellerie entfallen dabei nur 57 % der Betten und auf die Hotels i. e. S. nur gut ein Drittel. Damit wird deutlich, dass die Vielfalt der Übernachtungsangebote auch stark von den der Parahotellerie zugerechneten Betriebsformen mit geprägt werden, die oftmals in der Diskussion nur begrenzt wahrgenommen werden. Ein Blick auf die Auslastungsquoten dokumentiert eine breite Streuung, wobei insbesondere auch die kleineren Betriebe (Gasthöfe, Pensionen, Fe‐ rienwohnungen; Privatzimmervermietung unter 9 Betten wird in der amt‐ lichen Statistik nicht erfasst) mit den - offiziell gemeldeten - Auslastungs‐ quoten von weniger als einem Drittel unterhalb des Bereichs liegen der als Faustformel für den Break Even, d. h. das Erreichen der Gewinnschwelle notwendig ist. Dementsprechend ist bei diesen Betriebsformen in den letzten Jahren auch eine deutliche Abnahme der Anbieter zu verzeichnen, während gleich‐ zeitig das Bettenangebot insgesamt steigt. Der Konzentrationsprozess im Beherbergungswesen weist damit ähnliche Merkmale auf, wie z. B. der Strukturwandel im Einzelhandel. Bei traditionellen Betriebsformen, die nur noch partiell die Rentabilitätsschwelle überschreiten, werden - oftmals im Zuge des Generationenübergangs - Betriebe aufgegeben, während andere Angebotstypen an Bedeutung zunehmen. Im Beherbergungswesen sind da‐ bei - wie auch bei anderen Gliedern der touristischen Leistungskette - wie‐ derum zwei teilweise gegenläufige Entwicklungen zu konstatieren. 1. Eine Zunahme im Bereich der standardisierten Kettenhotellerie. Hier 1. werden Wettbewerbsvorteile entsprechend der fordistischen Produk‐ tionsweise über Standardisierung, relativ große Betriebe und eine hohe Marktpräsenz generiert. Die überproportionale Größe von Ket‐ tenhotels dokumentiert sich darin, dass diese etwa 12 % der Hotelbe‐ triebe aber etwa 40 % der Hotelbetten stellen. Die von den Kettenhotels realisierte überdurchschnittliche Auslastung kann daraus abgeleitet 97 3.1 Die touristische Leistungskette 97 <?page no="98"?> werden, dass auf diese geschätzte 50 % des Umsatzes im Hotelgewerbe entfallen (Quelle: IHA 2015, S. 226). In eine ähnliche Richtung, d. h. Realisierung von Kostenvorteilen und Synergieeffekten beim Einkauf und der Vermarktung zielen auch Hotelkooperationen (wie z. B. Best Western) ab. 2. Den Weg der Spezialisierung und des Abhebens vom Massenmarkt 2. schlagen demgegenüber (zumeist inhabergeführte) Hotels ein, die mit Thematisierung oder der Ausrichtung als Designhotels versuchen, sich eine entsprechende Nachfragenische zu schaffen. Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass insbesondere die individuelle Kundenansprache und die nichtstandardisierte Atmosphäre ein Positionierungsmerk‐ mal von inhabergeführten Hotels sein kann. In eine ähnliche Richtung zielen z. B. auch die Angebote im ruralen Tourismus (wie die Fincas auf Mallorca) oder auch sog. „Hôtel de charme“ bzw. „Gîtes“ in Nord‐ afrika ab (vgl. K AG E RMEIE R 2015, siehe auch Kap. 7.2.2 und 7.2.4). Box 7 | Die Hotelkette Accor als Beispiel für eine klar differen‐ zierte Markenstrategie Als exemplarisch für eine klare Markenpositionierung im Bereich der Kettenhotellerie kann die Unternehmensgruppe Accor genannt werden. Diese deckt mit ihren insgesamt 15 Marken systematisch vom hoch‐ preisigen Luxussegment (Sofitel, MGallery, Pullman), über das mittlere (Novotel & Mercure, Mercure Suite) bis hin zum Economy-Segment ab. Das Economy-Segment wurde früher von den Marken Ibis, Etap, For‐ mule 1 und All Seasons, gebildet, die inzwischen unter der Ibis-Dach‐ marke (mit Ibis, Ibis budget und Ibis styles) zusammengefasst worden sind. Mit der Adressierung unterschiedlicher Zielgruppen und einer syste‐ matischen Positionierung in unterschiedlichen Destinationen zählt der Konzern 2019, der weltweit über 4.900 Hotels mit 720.000 Zimmern ver‐ fügt, zu den führenden Hotelunternehmen weltweit. In Deutschland verfügt Accor über etwa 360 Hotels mit gut 45.000 Zimmern (zur Web‐ site: www.accor.com). 98 3 Grundlagen Angebotsseite 98 <?page no="99"?> Als jüngste Herausforderung für das Übernachtungsgewerbe werden ak‐ tuell die in den letzten Jahren boomenden Angebote im Bereich der Share Economy angesehen. Mit Internetplattformen wie Couchsurfing oder Airbnb ist das tra-ditionelle VFR-Segment (Visit Friends and Relatives; vgl. 2.1.3) um eine neue Dimension erweitert worden. Der Match-Making-Pro‐ zess über die Internetplattformen erlaubt es nicht mehr, nur im direkten Bekanntenkreis zu übernachten, sondern ermöglicht das Zueinanderfinden von Personen, die über ungenutzte Übernachtungsmöglichkeiten verfügen und Gästen, die Unterkünfte - insbesondere in Städten - suchen. Insbesondere in Berlin werden die Auswirkungen dieser Share Economy-Angebote intensiv diskutiert (vgl. auch Kap. 6.3.3). Allerdings er‐ scheint die Diskussion - auch wenn in einzelnen Quartieren Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt durchaus vorhanden sind - mehr als ein Sturm im Wasserglas, wenn die aktuellen Verhältnisse genauer betrachtet werden. Da Sharing ja kein neues Phänomen ist, sondern lediglich über die Internet‐ plattformen eine zusätzliche Dynamik erfahren haben, nehmen sich die ca. 10.000 bei Airbnb 2014 registrierten Anbieter mit insgesamt ca. 250.000 Gäs‐ ten (vgl. K AG E RMEIE R , K ÖLLE R & S TO R S 2015) aber eher gering aus im Ver‐ gleich zu den 26,2 Mio. Übernachtungen im traditionellen VFR-Segment (Tourismus & Kongress GmbH, 2012, S. 6) und den im Jahr 2017 in gewerb‐ lichen Übernachtungseinrichtungen registrierten gut 31 Mio. Nächtigungen (Statistisches Bundesamt 2018). Auch wenn sicherlich in manchen Vierteln das Phänomen konzentrierter ist, erscheint die Diskussion symptomatisch für viele Diskussionen im Tourismus. Statt sich der Herausforderung von Marktinnovationen offensiv zu stellen und insbesondere die Motive der Airbnb-Gäste nach individuellen und auf ihre spezifischen Bedürfnisse aus‐ gerichteten Übernachtungsmöglichkeiten (genauer bei K AG E RMEIE R , K ÖLLE R & S TO R S 2015) proaktiv zu reagieren, werden - ähnlich wie bei der Betten‐ steuer (vgl. Kap. 4.4.2) - fast reflexartig abwehrende Schutzmechanismen aktiviert, die auf eine Erhaltung des Status quo abzielen. Teilweise erinnert die protektionistische Grundhaltung an die Konkurrenz reduzierende Stän‐ deordnung früherer Jahrhunderte. Den Herausforderungen und der Dyna‐ mik im Tourismusmarkt wird nach wie vor von vielen Akteuren oftmals noch nicht positiv und proaktiv begegnet. 99 3.1 Die touristische Leistungskette 99 <?page no="100"?> 3.1.3 Verkehrsträger am Beispiel des Luftverkehrsmarktes Auch im Bereich der Verkehrsträger spiegelt sich die für den gesamten Tou‐ rismusmarkt charakteristische Dynamik, die einerseits von den individuel‐ len Bedürfnissen der Nachfrageseite und andererseits von den gesamtge‐ sellschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt ist. Ohne an dieser Stelle spezielle Einführungen in den Verkehrsträgermarkt (siehe hierfür z. B. G R O S S 2011) ersetzen zu wollen, sollen aus tourismusgeographischer Per‐ spektive, d. h. mit dem Blickwinkel auf die angebotsseitigen Triebkräfte und die relevanten Rahmenbedingungen ausgewählte Tendenzen charakterisiert werden. Die Benutzung von Verkehrsträgern im Kontext von Freizeit- und Tou‐ rismus als Teil der Reisekette zeichnet sich überwiegend durch eine relativ klare funktionale Motivstruktur der Nutzer aus. Lediglich bei Sonderformen, wie dem Kreuzfahrttourismus, der erlebnisorientierten Pkw-Nutzung bei Ausflugsfahrten oder z. B. dem Fahrradtourismus sowie dem erstmaligen Fliegen ist das „Unterwegs-sein“ als Solches zentraler Teil des Reiseerleb‐ nisses. Abb.‐Nr.: -35 Abb.‐Titel: -Wichtigkeit-von-Aspekten-bei-der- Verkehrsmittelwahl-in-der-Freizeit- (Quelle: -Eigene-Berechnungen-und-eigener-Entwurf- auf-der-Basis-von-Erhebung-durch-G RONAU &- K AGERMEIER ; -N-=-2.175)- Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE sehr nicht wichtig wichtig Preis Komfort Schnelligkeit Spaß Entspannung Umweltfreundlichkeit Flexibilität Abb. 35: Wichtigkeit von Aspekten bei der Verkehrsmittelwahl in der Freizeit (Quelle: eigene Berechnungen und eigener Entwurf auf der Basis von Erhebung durch G R O N A U & K A G E R M E I E R ; N = 2.175) 100 3 Grundlagen Angebotsseite 100 <?page no="101"?> Aus einer Untersuchung zur Freizeitmobilität (genauer vgl. G R ONAU 2005 und G R ONAU & K AG E RMEIE R 2007), d. h. nicht explizit auf längere Urlaubsreisen, sondern auf alle Fahrten im Freizeitkontext bezogen, liegen Angaben zu den Motiven der Verkehrsmittelwahl vor (vgl. Abb. 35). Zentrale Rollen spielen dabei neben dem Preis und dem Komfort auch die Flexibilität des Verkehrs‐ mittels - ein Aspekt der in besonderem Maße vom privaten Pkw als Freizeit‐ verkehrsmittel erfüllt wird. Spaß - sprich ein besonderes Fahrerlebnis - oder Entspannung sind demgegenüber bei der Wahl nicht ganz so relevant. Hin‐ gewiesen sei auch darauf, dass nach den Aussagen der Probanden die Um‐ weltfreundlichkeit ebenfalls ein wichtiges Kriterium für die Wahl des Ver‐ kehrsmittels sei (vgl. hierzu auch Kap. 5.2). Dementsprechend sind die Entwicklungen im Verkehrsträgermarkt abgesehen von den technischen Ent‐ wicklungen und der Verfügbarkeit einzelner Verkehrsträger (vgl. Kap. 2.1.2) stark vom Preisniveau und dem Komfort der Verkehrsmittel geprägt. Grundprinzipien des Luftverkehrsmarktes Am Beispiel der sog. Low Cost Carrier (LCC) soll exemplarisch auf dynami‐ sche Entwicklungen bei den Verkehrsträgern eingegangen werden. Das Ent‐ stehen von Low Cost Carriern ist ein idealtypisches Beispiel, wie die Markt‐ gegebenheiten auch durch von der Politik gesetzte gesetzliche Rahmenbedingungen beeinflusst werden. Seit dem Beginn der Verkehrsluft‐ fahrt zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Luftverkehrsmarkt von zumeist (halb-)staatlichen Fluggesellschaften geprägt. Beinahe jedes Land der Welt verfügte über einen sog. „Flagship Carrier“. Diese hatten (je nach Größe des Landes) die Aufgabe der internen verkehrlichen Erschließung des Landes so‐ wie der Verbindung mit anderen Ländern. Dabei wurde oftmals nach dem sog. „Hub and Spoke“-Prinzip vorgegangen, d. h. ein Flughafen des Landes (wie z. B. Frankfurt) wurde als zentraler Hub konzipiert, zu dem entspre‐ chende (nationale) Zubringerflüge von den sekundären Flughäfen des Landes (Spokes) die Fluggäste für den Weiterflug zu internationalen (und insbeson‐ dere transkontinentalen) Zielen zuführten, um diese entsprechend zu bün‐ deln (vgl. Abb. 36). Die möglichst umfassende Abdeckung der nationalen und internationalen Verbindungen drückt sich auch in der Bezeichnung „Network Carrier“ oder „Full Service Carrier“ (FSC) aus. Mit der Zunahme der Fluggäste wurden zwar auch von Sekundärflughäfen mehr und mehr internationale Direkt‐ flüge angeboten. Gleichwohl charakterisierten die - natürlich auch mit Kos‐ ten und teilweisen Reibungsverlusten verbundenen - Umsteigebeziehungen 101 3.1 Die touristische Leistungskette 101 <?page no="102"?> über den zentralen nationalen Flughafen (sei es London-Heathrow oder Pa‐ ris-Charles de Gaulle) das Basisnetz der Network Carrier. Neben diesen wurde die Luftverkehrsnachfrage im Tourismus vor allen von Charter‐ fluggesellschaften bedient, die nicht nach festen Flugplänen das ganze Jahr, sondern nur zu ausgewählten Terminen während der Saison ausge‐ wählte Reiseziele anflogen. Für den Geschäftsreiseverkehr gab es darüber hinaus auch eine Reihe von privaten (oftmals regionalen) Fluglinien. Ins‐ gesamt lag - vor allem bei den Network Carriern und den regionalen Flug‐ linien - das Preisniveau relativ hoch. Abb.‐Nr.: -36 Abb.‐Titel: -Grundprinzip-von-„Hub-and-Spoke“-sowie- „Point-to Point“-Verbindungen-(Quelle: -Eigener- Entwurf)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE „Point to Point“ (Direktverbindungen) „Hub and Spoke“ (Umsteigebeziehungen) Abb. 36: Grundprinzip von „Hub and Spoke“ sowie „Point to Point“ Verbindungen (Quelle: eigener Entwurf) Entsprechend der Typologie der Geschäftsmodelle von Airlines bestand da‐ mit eine gewisse Angebotslücke für preissensitive Privat- und Geschäfts‐ reisende insbesondere auf der Kurz- und Mittelstrecke (vgl. Abb. 37). Gleich‐ zeitig beschränkten die gesetzlichen Rahmenbedingungen das Anbieten von Flügen auf im Land registrierte Airlines. Grenzüberschreitende Flüge konn‐ ten wechselseitig von in den jeweiligen Ländern registrierten Airlines in das jeweils andere Land angeboten werden (z. B. Lufthansa von Deutschland nach Frankreich und Air France von Frankreich nach Deutschland). Diese limitierenden Marktrahmenbedingungen wurden zwischen 1987 und 1992 innerhalb der Europäischen Union sukzessive gelockert. Damit wurde es auch für ausländische Airlines möglich, in beliebigen europäischen Ländern zu operieren (zu den sog. „Freiheiten der Lüfte“ und dem Prozess der Liberalisierung des europäischen Luftverkehrsmarktes genauer z. B. bei G R O S S 2011, S. 170ff.). Mit einigen der EU benachbarten Ländern (wie z. B. Marokko; vgl. Kap. 7.2.4) wurden in der Folge ebenfalls entsprechende Ver‐ träge geschlossen. 102 3 Grundlagen Angebotsseite 102 <?page no="103"?> Abb.‐Nr.: -37 Abb.‐Titel: -Typologie-der-Geschäftsmodelle-von- Airlines-(Quelle: -Eigener-Entwurf-in-Anlehnung-an- G ROSS 2011,-S.-201)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Privatreisende Langstrecke Kurzstrecke Qualitätsorientierte Geschäftsreisende Preisorientierte Geschäftsreisende Network Carrier Regionale Airlines Charter Airlines Low Cost Carrier Abb. 37: Typologie der Zielgruppen von Airlines (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an G R O S S 2011, S. 201) Damit bestand die Möglichkeit, dass sich - neben den National Carriern - auch andere Fluggesellschaften im europäischen Luftverkehrsmarkt bestä‐ tigten. Kennzeichen dieser neuen Fluggesellschaften ist, dass sie kein um‐ fassendes, möglichst flächendeckendes Netz an Linien anboten, da es für sie ja keinen staatlichen Auftrag der Versorgung eines Landes gab. Dement‐ sprechend operieren Sie auch (idealtypisch) nicht nach dem Hub-and-Spoke-Prinzip mit den aufwändigen Umsteigebeziehungen, son‐ dern beschränken sich auf lukrativ erscheinende Punkt-zu-Punkt-Verbin‐ dungen (vgl. Abb. 36). Das Geschäftsmodell der Low Cost Carrier Grundprinzip der meisten seit den 1990er Jahren in Europa operierenden neuen Airlines ist, dass sie versuchen - im Vergleich zu den Network Car‐ riern - möglichst günstig zu produzieren und Kostenvorteile zu realisieren. Dementsprechend werden sie auch meist als „Low Cost Carrier“ bezeichnet. Da sie auf eine Vielzahl von Leistungen klassischer Airlines verzichten und sich auf die Kernleistung des Transports von A nach B konzentrieren, wer‐ den sie auch oftmals als „No Frills Airlines“ (wörtlich: schnörkellos, ohne Schnickschnack) bezeichnet. Anders als dieser Name suggeriert, ist es bezogen auf die Kosten nicht pri‐ mär der Verzicht auf Nebenleistungen - wie z. B. die Bordverpflegung - mit 103 3.1 Die touristische Leistungskette 103 <?page no="104"?> denen die Kostenvorteile geschaffen werden. Der Verzicht auf diese ist für den Endkunden jedoch direkt sichtbar und prägt dementsprechend das Bild der LCC. Die Realisierung von Kostenvorteilen betrifft das gesamte Geschäftsmo‐ dell und wurde von G R O S S & S CHRÖDE R (2005, vgl. Abb. 38) in die drei Berei‐ che Beschaffung, Prozessmanagement und Marketing aufgegliedert. Im Bereich der Beschaffung wird versucht, mit einer möglichst einheit‐ lichen Flotte zu operieren (möglich, da ja weder kleinere Zubringerflugzeuge benötigt noch transkontinentale Linien bedient werden). Damit können Ra‐ batte bei der Beschaffung realisiert, aber auch die Vorhaltekosten für die Wartung und das Training des Personals niedrig gehalten werden. Darüber hinaus ist ein Charakteristikum von LCC, dass sie sich auf kleinere Flughä‐ fen (z. B. Frankfurt-Hahn, Düsseldorf-Weeze) konzentrieren, an denen die Start- und Landegebühren niedrig liegen. Abb.‐Nr.: -38 Abb.‐Titel: -Das-Geschäftsmodell-der-Low-Cost-Airlines- (Quelle: -Eigener-Entwurf-nach-G ROSS &-S CHRÖDER 2005,-S.46)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Lean Management, d. h. schlanke und kostengünstige Unternehmens-führung (Konzentration auf Kernkompetenzen und Outsourcing). Ausrichtung aller Prozesse und Aktivitäten auf Kostenoptimierung und -senkung mit der Restriktion der Sicherheit Beschaffung/ Lieferanten Flugzeuge (Finanzierung, einheitl. Flotte) Flughäfen Outsourcing (Passagierabfertigung/ Wartung/ Reparatur/ Bodendienste) Catering, Treibstoff, Entsorgung/ Reinigung Prozessmanagement Strategische Flugplanung (Kapazitäten, Flugrouten, Umlaufoptimierung) Personalpolitik (geringer Overhead) Marketing Preispolitik/ Yield Management Produktpolitik (Flugrouten, Markenpolitik, Kundenbindung) Distributionspolitik Kommunikationspolitik Kostenvorteile bis zur 50 % gegenüber den etablierten Airlines bei direkten und indirekten Kosten Abb. 38: Das Geschäftsmodell der Low Cost Airlines (Quelle: eigener Entwurf nach G R O S S & S C H R Ö D E R 2005, S. 46) 104 3 Grundlagen Angebotsseite 104 <?page no="105"?> Im Bereich des Prozessmanagements ist es einerseits die Konzentration auf möglichst nachfragestarke Direktverbindungen, die Kostenvorteile ge‐ neriert. Darüber hinaus werden die Umlaufzeiten so optimiert, dass mög‐ lichst wenig Stillstandszeiten entstehen und die Maschinen abends meist zum Heimatflughafen zurückkehren (möglich, da im Wesentlichen euro‐ päische Flugziele angesteuert werden und diese frei kombinierbar sind, so‐ dass z. B. nachts auf Flugziele ohne Nachtflugverbot ausgewichen werden kann). Aber auch geringere Sitzplatzabstände oder möglichst niedrige Ta‐ riflöhne sind hier zu nennen. Während FSC klassischerweise über unterschiedlichste Reisemittler und Plattformen zu buchen sind, zeichnet sich die Distributionspolitik im Bereich Marketing bei den LCC durch eine Fokussierung auf den Direktvertrieb aus, sodass keine Provisionen für Mittler anfallen. Das Yield (Ertrags-)Ma‐ nagement setzt auf eine intensive Koppelung der aktuellen Preise an die konkrete Nachfrage auf dem jeweiligen Flug (üblicherweise mit stark stei‐ genden Preisen je näher der Abflugstermin rückt wenn die Maschine bereits gut gebucht ist). Auch im Bereich der Marktkommunikation wird meist auf aufwändige Werbekampagnen verzichtet und stark auf internetgestütztes Direktmarketing bei früheren Kunden gesetzt. Insgesamt gelingt es den LCC damit etwa um die Hälfte günstiger zu produzieren als klassische Network Carrier. Mit dem zentralen Fokus auf den Preis sind die LCC seit Ende der 1990er Jahre zu einem relevanten Faktor im Luftverkehrsmarkt geworden und haben eine äußerst dynami‐ sche Entwicklung zu verzeichnen So nahmen die LCC-Verbindungen von/ nach deutschen Flughäfen zwischen 2003 auf 2018 von etwa 100 auf knapp 800 zu (DLR 2019, S. 13). Folgen der LCCs auf dem Luftverkehrsmarkt Von den gut 240 Mio. Passagieren auf den 22 internationalen und regionalen Verkehrsflughäfen in Deutschland im Jahr 2018 (ADV 2019, S. 12) konnte etwa ein Drittel dem Angebotssegment der LCC zugerechnet werden (DLR 2019, S. 16). Dabei variiert der LCC-Anteil stark und ist - abgesehen von den reinen Charter-Flughäfen Erfurt und Rostock-Lage - mit rund 5 % am ge‐ ringsten am Hubflughafen Frankfurt (knapp 70 Mio. Passagiere). Auch am zweitgrößten Flughafen in Deutschland, in München (ca. 46 Mio. Passagiere) liegt er nur etwas über 10 % (beides Flughäfen mit hohen Start- und Lande‐ gebühren). Manche Sekundär- und Tertiärflughäfen, von denen einige erst nach 1990 als Konversion aus ehemaligen Militärflughäfen entstanden sind, 105 3.1 Die touristische Leistungskette 105 <?page no="106"?> werden demgegenüber fast ausschließlich von LLC bedient (Hahn, Weeze, Memmingen, Karlsruhe/ Baden-Baden, Dortmund). Auch die Flughäfen von Köln/ Bonn und Berlin-Schönefeld sind zu einem hohen Anteil durch Low Cost Angebote geprägt (vgl. Abb. 39). Abb.‐Nr.: -39 Abb.‐Titel: -Passagiere-auf-deutschen-Flughäfen-2014- und-LCC‐Anteil-(Quelle: -eigener-Entwurf-nach-Daten- DLR-2019,-S. 16) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Bodens ee Berlin- Schönefeld Berlin- Tegel Bremen Dortmund Dresden Düsseldorf Erfurt Frankfurt Friedrichshafen Hahn Hamburg Hannover Karlsruhe/ Baden-Baden Köln/ Bonn Leipzig/ Halle Memmingen München Münster/ Osnabrück Nürnberg Paderborn/ Lippstadt Rostock Saarbrücken Stuttgart Weeze über 75 % 50 bis 75 % 25 bis 50 % unter 25 % Anteil LCC-Passagiere Passagiere 500.000 2.000.000 10.000.000 30.000.000 Abb. 39: Passagiere auf deutschen Flughäfen 2018 und LCC-Anteil (Quelle: eigener Entwurf nach Daten DLR 2019, S. 16) 106 3 Grundlagen Angebotsseite 106 <?page no="107"?> Aus Passagiersicht ist mit der Ausbreitung von LCC eine deutliche Ver‐ dichtung des Flugnetzes verbunden. Von dem Angebot an relativ preisgüns‐ tigen Verbindungen zwischen (vor allem) europäischen Städten hat insbe‐ sondere der Kurzreise- und Städtetourismus (vgl. Kap 6.3) profitiert. Deutsche Städte im Umfeld von LCC-geprägten Flughäfen konnten in den letzten Jahren klar eine steigende Zahl vom ausländischen Incoming-Tou‐ risten aus anderen europäischen Ländern verbuchen (neben den Metropolen wie z. B. Berlin auch kleinere städtetouristische Destinationen wie z. B. Trier, das ca. 70 km vom Flughafen Hahn entfernt liegt). Aber auch z. B. in Ma‐ rokko, in dem 2007 das sog. Open Sky-Abkommen mit der EU in Kraft ge‐ treten ist, hat seither der Städtetourismus entsprechende positive Impulse in den von europäischen LCC bedienten Städtedestinationen ausgelöst (ins‐ besondere in Marrakesch, vgl. K AG E RMEIE R 2015, S. 151, siehe auch Kap. 7.2.4) Die Herausforderung durch die LCC löste eine Reihe von Reaktionen der FSC aus. Abgesehen von Kundenbindungsprogrammen (Vielflieger‐ programme wie Miles & More) sind es vor allem Ansätze, die versuchen, die Kosten zu reduzieren. Neben - dem Vorbild der LCC folgenden - direkten Einsparungen im operativen Betrieb ist ein Element hierbei z. B. auch sog. Code-Share-Abkommen zwischen Fluggesellschaft (insbesondere innerhalb von Allianzen). So werden z. B. von der Lufthansa (als Mitglied der Fluggesellschaftsalli‐ anz „Star Alliance“) Flüge nicht nur unter der eigenen LH-Flugnummer an‐ geboten, sondern auch unter der von anderen Mitgliedern der Star Alliance. Damit sind diese als Anschlussflüge von den Passagieren der anderen Air‐ lines unproblematisch buchbar, d. h. das Angebot an verfügbaren Verbin‐ dungen für den Passagier einer Airline wird dadurch erweitert. Gleichzeitig werden teilweise Parallelbedienungen von Relationen vermieden, um Kos‐ ten zu sparen, bzw. den Sitzladefaktor (= Auslastungsquote) der einzelnen Flüge zu erhöhen. So werden z. B. die Verbindungen von Luxembourg nach Berlin, München und Frankfurt (auch als Zubringerflüge zum Hub Frank‐ furt) ausschließlich im Code-Sharing zwischen Lufthansa und Luxair ange‐ boten und operativ weitgehend von Luxair durchgeführt. Lufthansa spart damit ein eigenes konkurrierendes Verbindungsangebot. Auch die Stärkung des Eigenvertriebs (über das Internet) zählt zu den Maßnahmen, die auf eine Reduzierung von Kosten bzw. eine Verbesserung der Ertragssituation ab‐ zielen. Mit der stärkeren Differenzierung von Preisen und Sondertarifen wird im Rahmen des Yield-Managements inzwischen von den FSC inzwi‐ schen auch darauf abgezielt, einerseits preisbewusste Passagiere mit Son‐ 107 3.1 Die touristische Leistungskette 107 <?page no="108"?> dertarifen anzusprechen und andererseits die Zahlungsbereitschaft von Pas‐ sagieren abzuschöpfen, die kurzfristig bzw. mit flexiblen Umbuchungsmöglichkeiten reisen möchten/ müssen. Als weitere Reaktion kann auch die Übernahme bzw. Gründung von ei‐ genen LCC-Töchtern, z. B Germanwings/ Eurowings durch die Lufthansa angesehen werden. Aber es gibt auch umgekehrte Ansätze, wie z. B. die Versuche der irischen LCC-Fluggesellschaft Ryanair den irischen FSC Air Lingus zu übernehmen. Insgesamt ist der Luftverkehrsmarkt durch das Auf‐ treten der LCC in den Jahren nach der Marktliberalisierung innerhalb der EU damit stark in Bewegung geraten. Aus Sicht der Passagiere hat sich das Angebot an Verbindungen zu insgesamt gesehen günstigen Preisen deutlich erhöht, sodass die Nachfrage in den letzten zehn Jahren um mehr als ein Drittel zugenommen hat. Gleichzeitig ist die Zunahme des Luftverkehrs in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion - insbesondere im Kontext der Diskussion über den Klimawandel - nicht unumstritten (vgl. Kap. 5.2). Die Entwicklung im Zuge der „Innovation“ Low Cost Carrier ist gleich‐ zeitig wiederum ein fast idealtypisches Beispiel für eine klassische Lebens‐ zyklusentwicklung (vgl. Kap. 1.2.2.2). Nach einer Boomphase ist diese in‐ zwischen in eine Reifephase mit geringeren Zuwachsquoten bzw. ersten Anzeichen für eine Stagnation eingetreten. Die Reifephase ist dabei auch davon gekennzeichnet, dass Übernahmen und Zusammenschlüsse von Flug‐ gesellschaften zunehmen, erste Marktaustritte erfolgen und sich der Wett‐ bewerb in dem zeitweiligen boomenden Marktsegment verschärft. Der Wettbewerb wird dabei in der Reifephase idealtypisch nicht nur zwischen den inzwischen zahlreichen LCC stärker. Nachdem die ursprünglichen kom‐ parativen Vorteile der Innovatoren LCC durch entsprechende Adaptionen der etablierten Mitbewerber FSC geringer geworden sind, wird auch der Wettbewerb zwischen den etablierten Network Carriern und den „Newco‐ mern“ wieder stärker. Dementsprechend versuchen sich aktuell die Airlines entsprechend zu positionieren. Im Spannungsfeld zwischen dem Premiumsegment und dem reinen „No Frills“-Segment haben sich auch die etablierten Airlines teilweise Richtung Budgetsegment hin entwickelt (vgl. Abb. 40). 108 3 Grundlagen Angebotsseite 108 <?page no="109"?> 8 Abbildung-40 Basic no frills Standard economy class many frills Premium business class extensive frills Budget few frills Low Cost Carrier Full Service Carrier Zone des wachsenden Wettbewerbs Entwicklungstrend einzelner Fluggesellschaften Ryanair Germanwings Lufthansa Air Lingus Abb. 40: Wettbewerbsstrukturen im europäischen Luftverkehrsmarkt (Quelle: eigener Entwurf nach F R E Y T A G 2009, S. 22) Ehemalige idealtypische LCC weichen teilweise inzwischen demgegenüber von der reinen „No Frills“-Strategie ab und führen unterschiedliche Beför‐ derungsklassen mit teilweise inkludierten Zusatzleistungen (Frills) ein, ma‐ chen ihre Angebote über externe globalen Buchungsplattformen buchbar und weichen damit vom reinen Direktvertrieb ab, und führen (insbesondere für Geschäftsreisende) mehr und mehr auch flexible Umbuchungsmöglich‐ keiten ein. Damit ist aktuell insbesondere im mittleren Bereich zwischen Budget und Standard (vgl. Abb. 40) ein wachsender Wettbewerb zwischen den etablierten und den Newcomer-Airlines zu beobachten. Die Frage nach der künftigen Positionierung der einzelnen Gesellschaften - möglicherweise auch mit einer künftig wieder stärkeren Orientierung auf das Premiumseg‐ ment von einzelnen Network Carriern - ist aktuell offen. Unter dem Blick‐ winkel der Markenstrategie (vgl. Kap. 3.2.3) könnte es demgegenüber sinn‐ voll sein, eine klare Position außerhalb der Zone des starken Wettbewerbs anzustreben. 109 3.1 Die touristische Leistungskette 109 <?page no="110"?> Ähnliche Entwicklungen wie im Bereich des Flugverkehrs finden - auch hier im Wesentlichen durch das Fallen von Monopolen und eine Marktlibe‐ ralisierung aufgrund geänderter gesetzlicher Rahmenbedingungen - bei an‐ deren Verkehrsträgern statt, wenn auch in geringerem Maß bzw. in früheren Phasen. Prinzipiell besteht auch im Bahnverkehr seit Mitte der 1990er Jahre die Option, dass im Fernverkehr andere Marktteilnehmer als das bisherige staatliche Monopolunternehmen Verbindungen anbieten. Hier sind aller‐ dings bislang in den meisten europäischen Ländern nur wenige Ansätze vorhanden. Mit Beginn des Jahres 2013 wurde in der Bundesrepublik Deutschland auch der - vorher zugunsten des staatlichen Bahnmonopolunternehmens stark restriktive - Fernbusmarkt liberalisiert. Analog zu den Entwicklungen im LCC-Bereich lief in den folgenden Jahren eine Entwicklung nach ähnli‐ chem Muster ab. Nach einer Anfangsphase mit einer Vielzahl unterschied‐ licher Anbieter erfolgten nicht nur Reaktionen des konkurrenzierten Bahn‐ unternehmens, sondern auch die zu erwartenden Konzentrations-, Marktbereinigungs- und Konsolidierungsprozesse. Wie in diesem Abschnitt aufgezeigt werden sollte, werden die Rahmen‐ bedingungen für den Markt der einzelnen Verkehrsträger im Tourismus - für den Raumüberwindung ein konstituierendes Grundmerkmal darstellt - stark von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst. Denkbar ist, dass die Nachhaltigkeitskeitsdiskussion hier künftig an Relevanz für die Ge‐ staltung der Rahmenbedingungen gewinnt (vgl. Kap. 5). 3.1.4 Reisevertrieb Als letztes Glied der touristischen Dienstleistungskette soll der Reisevertrieb behandelt werden. Auch in diesem Bereich sind in den letzten Jahren dyna‐ mische Veränderungen zu beobachten, die im Wesentlichen von der tech‐ nischen Innovation des Internets geprägt sind. Wie in vielen anderen Bereichen des Tourismus ist auch die definitorische Fassung im Reisevertrieb nicht ganz einfach und nicht immer eindeutig. Insbesondere die Abgrenzung von Reiseveranstaltern und Reisemittlern ist davon geprägt, dass es neben den „reinen“ Idealtypen eine Vielzahl von Übergangs- und Mischformen gibt (vgl. Abb. 41). Dabei sind es insbesondere die großen Reiseveranstalter, die auch entsprechende eigene Reisebüros be‐ treiben, bzw. mit Reisebüros Franchise-Verträge abschließen. Aber auch viele kleinere Reisebüros werden gelegentlich als Veranstalter tätig. 110 3 Grundlagen Angebotsseite 110 <?page no="111"?> Abb.‐Nr.: -41 Abb.‐Titel: -Mischformen-zwischen-Reiseveranstaltern- und-Reisemittlern-(Quelle: -Eigener-Entwurf-nach- F REYER 2011,-S. 244) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE „reiner“ Reiseveranstalter (Idealtypus) Veranstalter vermittelt „seine“ Reisen auch selbst Veranstalter vermittelt auch „fremde“ Reisen Vermittler mit eigenem Veranstaltungsschwerpunkt (Spezial- oder Regionalveranstalter) Vermittler veranstaltet kleinere Reisen selbst (Gelegenheitsveranstalter) „reiner“ Reise-Mittler (Idealtypus) Abb. 41: Mischformen zwischen Reiseveranstaltern und Reisemittlern (Quelle: eigener Entwurf nach Freyer 2011, S. 244) Struktur und Volumen des Reisevermittlermarktes Bei der Abgrenzung der Reisebüros spielt der Begriff der IATA-Lizenz eine Rolle. Die IATA (= International Air Transport Association) als globaler Dachverband der Fluggesellschaften regelt nicht nur die Vergabe der Codes für Flughäfen und Airlines. Über ihn läuft auch die globale Buchung von Flügen durch Reisebüros, die über eine entsprechende Lizenz verfügen. Vom Dachverband der Reiseveranstalter und Reisemittler in Deutschland, dem Deutschen Reiseverband (DRV; siehe auch Kap. 6.2) werden z. B. drei Typen von Reisebüros unterschieden (DRV 2015, S. 19): 1. klassisches Reisebüro: Reisebüro mit mindestens einer Veranstal‐ 1. ter- und mindestens einer Verkehrsträgerlizenz (DB- oder IATA-Li‐ zenz) 2. Business Travel: Reisebüro/ Dienstleister/ Betriebsstelle eines Fir‐ 2. menreisedienstes, die überwiegend Dienstreise- und Geschäftsreise‐ kunden bedienen 111 3.1 Die touristische Leistungskette 111 <?page no="112"?> 3. touristisches Reisebüro: Reisebüro mit mindestens zwei Veranstal‐ 3. terlizenzen, ohne DB- oder IATA-Lizenz. 2018 gab es in Deutschland gut 11.000 stationäre Reisebüros, davon etwa ein Viertel „Klassische Reisebüros“ und knapp 10 % „Business Travel“ (von de‐ nen der überwiegende Teil sowohl DB-Agenturen als auch IATA-Agenturen waren). (DRV 2019, S. 17). Die Entwicklung der Zahl der Reisebüros war in der 2. Hälfte des 20. Jahr‐ hunderts geprägt von der Zunahme nach touristischen Angeboten. So stieg die Zahl der Reisebüros zwischen 1970 und 2000 von etwa 3.000 auf knapp 20.000 (F R E Y E R 2011, S. 249). Gleichzeitig markiert die Jahrtausendwende auch den Hochpunkt der Reisebüros, deren Zahlen seither auf etwa die Hälfte zurückgegangen ist. Da der Umsatz pro Reisebüro relativ kontinu‐ ierlich angestiegen ist, haben insbesondere kleinere Reisebüros aufgegeben. Insgesamt wurden in den Reisevertriebsstellen 2018 27 Mrd. € Umsatz generiert, davon knapp drei Viertel im Privatkundengeschäft und ein Viertel im Geschäftsreisebereich (DRV 2019, S. 16). Auch wenn der Umsatz ebenfalls einen Höhepunkt im Jahr 2000 aufwies, ging dieser bis 2010 weniger stark zurück als die Zahl der Reisebüros. In den letzten Jahren haben die Reise‐ büros ihre Umsätze wieder sukzessive steigern können (DRV 2019, S. 16). Parallel dazu hat bei den Reisebüros in den letzten Jahrzehnten ein er‐ heblicher Strukturwandel stattgefunden, der in viel stärkerem Maß als bei den Reiseveranstaltern und den Beherbergungsbetrieben zu einer extremen Konzentration geführt hat. Waren 1990 noch etwa 80 % der Reisebüros als Einzelunternehmen noch sog. „ungebundene Reisebüros“ ist deren Anteil inzwischen auf wenige Prozent zurückgegangen (F R E Y E R 2011, S. 251). Neben den veranstaltereigenen und den über Franchise-Verträge an diese gebun‐ denen Reisebüros, die aktuell ein gutes Drittel des Marktes ausmachen, sind es vor allem Kooperationen, zu denen sich die Reisebüros angeschlossen haben. Dabei dominieren neben den drei großen Reiseveranstaltern mit ih‐ ren Vertriebssystemen wenige große Kooperationen wie RTK (= Raiffei‐ sen-Tours RT-Reisen) oder TSS (= Touristik Service System GmbH) den Markt. Internet als konkurrierender Vertriebsweg Der Strukturwandel beim stationären Reisevertrieb ist im Wesentlichen dar‐ auf zurückzuführen, dass seit 2000 das Internet mehr und mehr als Distri‐ 112 3 Grundlagen Angebotsseite 112 <?page no="113"?> butionsweg an Bedeutung gewinnt. Grundvoraussetzung hier war der - in‐ zwischen fast durchgängige - Onlinezugang der Bevölkerung (vgl. Abb. 42). Abb.‐Nr.: -42 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Onlinenutzung-in- Deutschland-1978-bis-2019 (Quelle: -Eigene- Darstellung-nach-Daten-ARD/ ZDF‐Medienkommission div.-Jg.) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 -in % -Zuwachs in % Unterwegs Abb. 42: Entwicklung der Onlinenutzung in Deutschland 1997 bis 2019 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten ARD/ ZDF-Medienkommission div. Jg.) Während in der Anfangsphase der Internetnutzung dieses noch selektiv überproportional von jüngeren und männlichen Teilen der Bevölkerung ge‐ nutzt wurde, haben sich inzwischen die geschlechts- und altersspezifischen Unterschiede weitgehend nivelliert. Lediglich bei den Hochbetagten sind aktuell noch unterdurchschnittliche Partizipationsraten zu konstatieren. Durch den Alterskohorteneffekt (ein in jüngeren Jahren sozialisiertes Ver‐ halten wird auch beim Altern beibehalten) dürfte in einigen Jahren auch bei den Hochbetagten die Onlinenutzung weitgehend verbreitet sein. In Abbildung 42 ist auch die rasante Verbreitung der mobilen Internet‐ nutzung in den letzten Jahren mit dargestellt. Die Verfügbarkeit von ent‐ sprechenden mobilen Endgeräten wird sicherlich in den nächsten Jahren noch weitere Konsequenzen - wohl weniger auf das Buchungsverhalten, aber auf das konkrete Verhalten am Reiseziel - nach sich ziehen (vgl. hierzu auch Kap. 3.2.4). 113 3.1 Die touristische Leistungskette 113 <?page no="114"?> Das Internet wird dabei nicht nur in zunehmendem Maße für die Vorab‐ information vor (und mit den mobilen Endgeräten inzwischen auch zuneh‐ mend während) der Reise sowie mehr und mehr auch für Buchungen genutzt (vgl. Abb. 43). Inzwischen informieren sich etwa zwei Drittel der Reisenden im Internet über die Reise (bezogen auf die bei der Reiseanalyse erfassten Urlaubsreisen). Da ein Teil der Reisen in bereits bekannte Destinationen geht, bzw. teilweise auch spontan Last-Minute gebucht wird, kann unter‐ stellt werden, dass gar nicht für alle Reisen Informationen eingeholt werden, sodass der faktische Anteil an den Reisen mit Vorinformation im Internet wohl noch höher liegt. Abb.‐Nr.: -43 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Internetnutzung-für- Information-über-und-Buchung-von-Reisen-(Quelle: - Eigene-Darstellung-nach-Daten-FUR-2019,-S.-47f.) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% Information Buchung Abb. 43: Entwicklung der Internetnutzung für Information über und Buchung von Reisen (Quelle: eigene Darstellung nach Daten FUR 2019, S. 47f.) Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass der Anteil der Buchungen im Internet ansteigt. Damit nimmt auch das Verhältnis zwischen Informationssuche und Buchung zu. Waren es 2000 erst 40 % derer, die sich im Internet informieren, die dort auch konkret buchen, so ist dieser Anteil inzwischen auf zwei Drittel angestiegen. Zwar gibt es sicherlich einen Teil der Reisen, bei denen z. B. die Anreise mit einem Individualverkehrsmittel (Pkw, Fahrrad oder beim Wan‐ derurlaub zu Fuß) erfolgt und vor Ort spontan Unterkunft gebucht wird. Auch können sich bei der gemeinsamen Reise von mehreren Personen meh‐ rere informieren, während die Buchung von einem für die übrigen Personen übernommen wird. Dementsprechend wird der Anteil der Buchungen im Internet strukturell immer niedriger liegen als derjenige der Information. Ein Teil der Diskrepanz zwischen den Anteilen von Information und Bu‐ 114 3 Grundlagen Angebotsseite 114 <?page no="115"?> chung wird aber auf das sog. ROPO-Phänomen zurückgeführt. Mit dem Ausdruck „Research Online, Purchase Offline“ wird verbalisiert, dass ein Teil der Kunden sich zwar im Internet informiert, dann aber letztendlich Offline bucht (z. B. Information über Optionen für Hotels im Internet und Buchung per Telefon oder Fax, bzw. auch spontan vor Ort). Abb.‐Nr.: -44 Abb.‐Titel: -Anteil-der-Buchungen-über-digitale-Kanäle- nach-Reiseorganisation-(Quelle: -Eigene-Darstellung- nach-Daten-VIR-2019,-S.-50) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% Unterkunft Fahrschein Pauschalreise Bausteinreise Andere Bestandteile 2013 2018 Abb. 44: Anteil der Buchungen über digitale Kanäle nach Reiseorganisation (Quelle: eigene Darstellung nach Daten VIR 2019, S. 50) Die Conversion Rate, d. h. der Anteil von Internetbuchungen an denjenigen, die sich über eine touristische Leistung im Internet informiert haben, ist dabei insbesondere bei standardisierten Angeboten überproportional hoch (vgl. Abb. 44). Tickets und Unterkunft zählen mit zu den Elementen der tou‐ ristischen Leistungskette, die von etwa zwei Drittel, die sich vorab im In‐ ternet informieren, auch dort gebucht werden. Demgegenüber sind die An‐ teile bei Pauschalreisen noch deutlich niedriger, auch wenn sich die Abstände in den letzten Jahren hier ebenfalls verringert haben, und liegen bei etwa einem Drittel. Ein Hinweis darauf, dass die Internetbuchungseignung umso höher ist, je standardisierter ein touristisches Produkt ist und je geringer dessen Kom‐ plexität und Erklärungsbedürftigkeit, findet sich bei einer Differenzierung nach unterschiedlichen Urlaubsarten (vgl. Abb. 45). Aktiv- und Familienur‐ laub sowie Städtereisen werden am meisten im Internet gebucht, während der Anteil bei Kreuzfahrt- und Gesundheitsreisen deutlich geringer ist. 115 3.1 Die touristische Leistungskette 115 <?page no="116"?> Abb.‐Nr.: -45 Abb.‐Titel: -Onlinebuchungsanteil-nach-Urlaubsart- (Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-Daten-VIR-2019,-S.- 52) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% Aktivurlaub Familienurlaub Städtereise Rundreise Erholungsreise Bade-/ Strandurlaub Erlebnisreise Natururlaub Kreuzfahrt Gesundheitsurlaub Abb. 45: Onlinebuchungsanteil nach Urlaubsart (Quelle: eigene Darstellung nach Daten VIR 2019, S. 52) Nicht ganz eindeutig sind die Zahlen zu den Umsätzen im Onlinemarkt. Diese werden einerseits nicht über die amtliche Statistik erfasst, und ande‐ rerseits generieren nicht nur ausschließlich über das Internet vertreibende Unternehmen (wie z. B. Internetvermittlungsportale oder manche Low Cost Carrier) Onlineumsätze. Auch über im stationären Vertrieb tätige Reise‐ mittler bzw. im Direktvertrieb über Leistungsträger, die sowohl Onals auch Offline-Distribution praktizieren (z. B. Hotels mit mehreren Buchungsmög‐ lichkeiten) werden Onlineumsätze erzeugt. Aus unterschiedlichen Interpo‐ lationen verschiedener Institutionen (wobei es von keiner Institution durch‐ gängige längere Zeitreihen gibt) lässt sich grob abschätzen, dass der Anteil des Onlineumsatzes von unter 10 % vor 10 Jahren auf inzwischen über 40 % angestiegen ist (vgl. VIR div. Jg.). Da auch die Angaben zum Gesamtumsatz im (Übernachtungs-)Tourismus je nach Quelle unterschiedlich sind, kann nur größenordnungsmäßig abgeschätzt werden, dass der im Internet reali‐ sierte tourismusbezogene Umsatz in Deutschland sich inzwischen zwischen 20 und 30 Mrd. € bewegt. Der Großteil der im Internet gebuchten touristischen Leistungen bezieht sich auf standardisierte Elemente der Reisekette. Insbesondere Flüge und Hotelbuchungen machen einen Großteil der Buchungen aus. Auch wenn ein erheblicher Teil direkt bei den Leistungsträgern gebucht wird, ist bei den Onlinereisemittlern ebenfalls eine sehr starke Konzentration auf wenige Reiseportale (wie Expedia oder Opodo) zu beobachten. 116 3 Grundlagen Angebotsseite 116 <?page no="117"?> 2007 hatte der VIR als Exklusivfrage bei der Reiseanalyse der FUR die Gründe für und gegen die Buchung im Internet ermitteln lassen. Damals wurde neben der Schnelligkeit insbesondere die (sofortige) Übersicht über das Angebot und die Bequemlichkeit angeführt (vgl. Abb. 46). Auf einen mehr subjektiven Aspekt zielt wohl die Nennung der Antwortkategorie „Reise selbst zusammenstellen“ ab. Teilweise kann dies so interpretiert wer‐ den, dass im Reisebüro möglicherweise ein gewisser Druck empfunden wird, die von den dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorgeschlagenen Angebote dann auch direkt zu buchen. Abb.‐Nr.: -46 Abb.‐Titel: -Gründe-für-Online‐Buchung-im-Internet-im- Internet-(Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-Daten-VIR- 2007,-S.-14) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% schnell und einfach große Übersicht sofort sehen, was buchbar sehr bequem Reise selbst zusammenstellen umfangreicheres Angebot als RB mit Kreditkarte zahlen Angebot nur im Internet keine Zeit für RB-Besuch kompetente Ansprechpartner Abb. 46: Gründe für Onlinebuchung im Internet im Internet (Quelle: eigene Darstellung nach Daten VIR 2007, S. 14) Bei den angeführten Gründen gegen das Buchen im Internet steht an erster Stelle die Unpersönlichkeit des Prozesses (vgl. Abb. 47). Datenschutz und möglicher Datenmissbrauch, auch im Zusammenhang mit dem Bezahlvor‐ gang stehen ebenfalls relativ weit vorne bei den Hinderungsgründen. Die Innovation „Internet“ hat grundlegende Veränderungen im Distribu‐ tionsmarkt ausgelöst und zu einem deutlichen Strukturwandel im stationä‐ ren Reisevertrieb geführt. Die bereits abgelaufenen Umstrukturierungspro‐ zesse waren gekennzeichnet von der Orientierung auf leistungsfähige Reiseveranstalter oder Reisebürokooperation als Partner für eine Professio‐ nalisierung im Reisevertrieb. 117 3.1 Die touristische Leistungskette 117 <?page no="118"?> Abb.‐Nr.: -47 Abb.‐Titel: -Gründe-gegen-Online‐Buchung-im-Internet- im-Internet-(Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-Daten- VIR-2007,-S.-14) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% zu unpersönlich Unsicherheit wegen Zahlung Angst vor Daten-Missbrauch will Kreditkarte nicht nutzen keine persönl. Fragen Buchung zu kompliziert Wunschangebot nicht gefunden Angebot zu unübersichtlich dauert zu lange techn. Schwierigkeiten Abb. 47: Gründe gegen Onlinebuchung im Internet im Internet (Quelle: eigene Darstellung nach Daten VIR 2007, S. 14) Ähnlich wie bei den Network Carriern (vgl. Kap. 3.1.3) reicht es allerdings nicht aus, nur die strukturellen Merkmale der Produktionsweise durch Be‐ teiligung an Kooperationen und die Integration von Internetvertriebsopti‐ onen zu optimieren. Die Herausforderung für die stationären Reisebüros besteht künftig insbesondere auch darin, die Schwächen und Nachteile des Internets durch eine verstärkte Orientierung auf kompetente Beratung und das Eingehen auf individuelle Wünsche für sich in Vorteile umzuwandeln. Dazu gehört, dass für komplexe beratungsintensive Reisewünsche durch eine bedürfnisgerechte und kompetente Beratung ein Vertrauensverhältnis zu den Kunden aufgebaut wird, ohne einen, die Verkaufsatmosphäre negativ beeinflussenden Buchungs- und Entscheidungsdruck entstehen zu lassen. Aber auch bei einem Ansatz, der darauf abzielt, im stationären Reisebüro das zu bieten, was das Internet nicht bietet/ bieten kann, ist abzusehen, dass der klassische Reisebüromarkt auch künftig mehr und mehr spezifische Ni‐ schen der Nachfrage bedienen wird und das standardisierte Volumenge‐ schäft mehr und mehr über das Internet gebucht werden wird. Eine Renais‐ sance des klassischen Reisebüros des 20. Jahrhunderts ist keinesfalls in Sicht. 118 3 Grundlagen Angebotsseite 118 <?page no="119"?> 3.2 Marketing im Tourismus Marketing wird alltagssprachlich oftmals gleichgesetzt mit Werbung. Fach‐ wissenschaftlich gesehen werden darunter aber alle Prozesse verstanden, die von der Konzeption und Erstellung eines Produktes bis hin zu Distribu‐ tion reichen. Als Grundprinzip des Marketings kann die stringente Orien‐ tierung des gesamten Unternehmens an die Bedürfnisse des Marktes ange‐ sehen werden (eine fundierte Einführung zum Marketing allgemein findet sich z. B. bei K OTLE R et al. 2007). 3.2.1 Grundlagen des Marketings im Tourismus Der touristische Markt konnte lange Zeit als sog. „Anbietermarkt“ angesehen werden, d. h. das Angebot war kleiner als die Nachfrage, sodass es für die Anbieter relativ unproblematisch gewesen ist, ihre Leistungen abzusetzen. Heute ist der touristische Markt als sog. „Nachfragermarkt“ zu charakterisie‐ ren. Dies bedeutet, dass das Angebot größer ist als die Nachfrage. Die Pro‐ duktion insbesondere von hochwertigen Industriegütern ist global an eine begrenzte Anzahl von Standorten, die entsprechende Standortfaktoren auf‐ weisen, gebunden. Hochwertige medizinische, biotechnologische oder Infor‐ mations- und Kommunikationsdienstleistungen stellen hohe Anforderungen an den Standort und insbesondere die Humanressourcen, sodass sie global ebenfalls konzentriert lokalisiert sind. Demgegenüber ist es das Charakteris‐ tikum von touristischen Dienstleistungen, dass quasi jeder Ort auf der Welt als Destination fungieren kann. Darüber hinaus sind die Einstiegsschwellen für die Teilnahme am touristischen Markt als operativer Leistungsträger am Kundenkontaktpunkt relativ gering. Mit oftmals nur minimalen Vorausset‐ zungen kann auch in einem wirtschaftlich wenig entwickelten Land der glo‐ balen Peripherie eine einfache Übernachtungsmöglichkeit, Verpflegung oder eine touristische Aktivität angeboten werden (vgl. Kap. 7.3). Folglich gilt der Tourismus auch als wettbewerbsintensiver Wirtschaftssektor, bei der welt‐ weit prinzipiell jede Destination mit der anderen im Wettbewerb steht. Um sich in diesem Umfeld erfolgreich zu beteiligen, zu positionieren und zu behaupten, müssen in wettbewerbsintensiven Nachfragermärkten die Bedürfnisse der Nachfrager ins Zentrum der Unternehmensführung gestellt werden. Damit kann Marketing auch als unternehmerische Aufgabe und Denkhaltung gesehen werden, bei der die zentrale Herausforderung darin besteht, Marktveränderungen zu erkennen und Tendenzen der Bedürfnis‐ 119 3.2 Marketing im Tourismus 119 <?page no="120"?> entwicklung der Nachfragen zu berücksichtigen, um sich entsprechende Vorteile gegenüber den Mitbewerbern zu sichern. Dementsprechend war in Kapitel 2.3 auch ein Augenmerk auf die subjektiven Aspekte der Nachfra‐ geseite gerichtet worden. Der klassische Marketingmix Marketing ist ein Bündel von auf den Markt ausgerichteten Maßnahmen, mit denen absatzpolitische Ziele eines Unternehmens erreicht werden sol‐ len. Für die Kategorisierung der einzelnen Maßnahmen und deren Integra‐ tion in das Handeln der Unternehmer wird zumeist auf den sog. Marketing‐ mix zurückgegriffen. Traditionellerweise zählen zum Marketingmix vier Bereiche, die wegen der Anfangsbuchstaben in der englischen Sprache als die 4 Ps bezeichnet werden: 1. Product (Produkt- oder Leistungspolitik): Hierzu zählen alle Entschei‐ 1. dungen, von denen die Gestaltung des Leistungsprogramms eines Un‐ ternehmens berührt wird. Damit fallen in den Bereich nicht nur die auf Produktgestaltung und Serviceleistungen ausgerichtete vorbereitende Analyse, detaillierte Planung und konkrete Umsetzung. Auch die Mar‐ kenpolitik kann als Teil der Produktpolitik verstanden werden. 2. Price (Preispolitik): Darunter wird die Festlegung der Konditionen 2. verstanden, zu denen Produkte und Leistungen angeboten werden. 3. Promotion (Kommunikationspolitik): Dieser Aspekt des Marketing‐ 3. mix wird in der alltagssprachlichen Verwendung oftmals als Marke‐ ting bezeichnet, beinhaltet aber nur die Marktkommunikation, nach‐ dem das Produkt gestaltet und die Preisfestlegung erfolgt ist. Zur Marktkommunikationspolitik zählen alle Maßnahmen der Kommu‐ nikation zwischen Unternehmen und den bereits gewonnenen sowie den potentiellen, noch zu adressierenden Kunden. Als Kommunika‐ tionsinstrumente wird ein Mix aus klassischer Werbung über unter‐ schiedliche Medien, aber auch Direktmarketing, Sponsoring, Public Relations (PR) sowie die Beteiligung an Messen oder die Veranstaltung von Events eingesetzt. 4. Place (Vertriebs- oder Distributionspolitik): Dies beinhaltet die Ge‐ 4. staltung des Absatzkanalsystems, mit dem die räumliche und zeitliche Distanz zwischen dem Unternehmen und den Kunden überwunden wird. Dies kann im Direktvertrieb oder durch die Einschaltung von Absatzmittlern erfolgen (indirekter Vertrieb; vgl. Kap. 3.1.4). 120 3 Grundlagen Angebotsseite 120 <?page no="121"?> Neben diesen klassischen 4 Ps des Marketingmix werden im Zuge einer Weiterentwicklung der strategischen Unternehmensführung in der wirt‐ schaftswissenschaftlichen Literatur von unterschiedlichen Autoren auch weitere, dem Schema folgend mit dem Buchstaben P beginnende Aspekte, wie z. B. Participants (Personalpolitik), Physical Evidence (Ausstattungspo‐ litik) oder Process (Prozessorientierung) eingeführt, die hier allerdings nicht weiter behandelt werden (genauer z. B. bei F R E Y E R 2011b, S. 425ff.). Der Fokus liegt aufgrund der Relevanz im Tourismus auf der Produktgestaltung als Teil des strategischen Marketings und einem ausgewählten Aspekt der Kom‐ munikationspolitik (Social-Media-Marketing). Merkmale von touristischen Dienstleistungen als Grundlage der Marketingorientierung Nicht nur die Wettbewerbsrahmenbedingungen und die klare Ausprägung als Nachfragermarkt bedingen, dass die Anforderungen an das Marketing im Tourismus hoch sind. Auch die Tatsache, dass es sich um Dienstleistun‐ gen handelt, erhöht die Relevanz der Marketingorientierung. Für Freizeit- und Tourismusangebote gelten einerseits die drei klassischen Merkmale von Dienstleistungen: 1. Immaterialität der Dienstleistung: Angebote in Freizeit und Tou‐ 1. rismus sind normalerweise nicht lagerbar und nur selten übertragbar. Die Angebote (Hotelbett, Platz in einem Flugzeug, Kinoplatz) stellen ein Leistungspotenzial des Anbieters dar, für das bei der Buchung ein Dienstleistungsversprechen erworben wird. Bei Nichtinanspruch‐ nahme des Leistungspotenzials verfällt dieses. 2. Uno-Actu Prinzip: Bereitstellung und Nutzung des Dienstleistungs‐ 2. angebotes fallen zeitlich zusammen. 3. Integration des externen Faktors: Die Erbringung einer Dienst‐ 3. leistung findet in Interaktion zwischen dem Dienstleistungserbringer und dem Kunden statt. Ohne Beteiligung des Reisenden (externer Faktor) kann die Dienstleistung nicht erbracht werden. Darüber hinaus gilt für Dienstleistungen in Freizeit und Tourismus, dass sie - anders als z. B. die Dienstleistung eines Friseurs - zumeist nicht nur von einem Anbieter erbracht werden. Damit ist ein weiteres Charakteristikum von touristischen Dienstleistungen, dass sie 121 3.2 Marketing im Tourismus 121 <?page no="122"?> 4. ein (Dienst-)Leistungsbündel darstellen. An einer Reisekette sind 4. zumeist mehrere unterschiedliche Dienstleister beteiligt (vgl. Kap. 3.1). Erst in deren Zusammenwirken entsteht eine komplette Leistungserstellung. Anders als bei der Bereitstellung einfacher Dienstleistungen stellt das notwendige Zusammenwirken unter‐ schiedlicher Leistungsträger außerhalb und innerhalb des Reisege‐ bietes spezifische Anforderung an deren Kooperation und Interaktion. Dadurch dass Reisen und Freizeit emotional hoch besetzte Lebensbereiche des als „externen Faktor“ verstandenen Kunden/ Reisenden darstellen, steht das (a priori aus rein unternehmerischem Kalkül) geschaffene Dienstleis‐ tungsangebot immer auch in besonderem Maß im Wechselspiel mit den Er‐ wartungen der Nachfrager. Der hohe Grad an Involvement bei den Nach‐ fragern bedingt - über die Eigenschaft als „normales“ Konsumgut hinaus -, dass sich das Leistungsversprechen auch immer an den Erlebniserwartun‐ gen der Reisenden (vgl. Kap. 1.2.2.2 und 2.3) mit ihrer „Sehnsucht nach dem Paradies“ messen muss. Das Renditekalkül der „Produzenten“ bei der Pro‐ duktentwicklung orientiert sich damit einerseits an den Erwartungshaltun‐ gen und Deutungsmustern der Nachfrage, antizipiert und stimuliert aber auch dessen Weiterentwicklung. Aus dem vierten Merkmal von touristischen Dienstleistungen, der Tatsa‐ che, dass es sich um ein Dienstleistungsbündel unterschiedlicher Anbieter handelt, das nur in der Kooperation und Interaktion zwischen diesen reali‐ siert werden kann, resultieren spezifische Organisationsstrukturen. Die An‐ forderungen an die Leistungsträger innerhalb des Reisegebietes werden da‐ bei durch die spezifischen Strukturen des Destinationsmanagements (vgl. Kap. 4) als übergeordnete Steuerungsebene mit bestimmt, das damit eben‐ falls Regeln für die Marktbeteiligung einzelner Akteure (Hotels, Verkehrs‐ unternehmen, sonst. Dienstleistungsanbieter) kooperativ mit diesen entwi‐ ckelt und implementiert. 3.2.2 Grundsätzliche Herangehensweisen des (strategischen) Marketings Die strategische Herangehensweise im Marketing hat drei zentrale Haupt‐ komponenten zu berücksichtigen, den Kunden, das eigene Unternehmen und die Mitbewerber (vgl. Abb. 48). An erster Stelle steht der Kunde (bereits gewonnen oder potentiell), dessen Bedürfnisse es prioritär zu erkennen gilt. 122 3 Grundlagen Angebotsseite 122 <?page no="123"?> Wie in Kap. 2.3.4 am Beispiel der Basis-, Leistungs- und Begeisterungsfak‐ toren deutlich gemacht wurde (vgl. auch Kap. 2.2), sind Bedürfnisse der Kunden quasi permanent in Bewegung und im Wandel. An zweiter Stelle ist immer auch zu berücksichtigen, welche Kundenbedürfnisse wie von den Mitbewerbern abgedeckt werden, und zu versuchen, sich von den Mitbe‐ werbern positiv abzuheben. Am Beispiel der Entwicklungen im Reisebüro‐ bereich (Kap. 3.1.4) konnte aufgezeigt werden, dass Veränderungen bei den Mitbewerbern zu gravierenden Folgen führen können, wenn diesen nicht entsprechend proaktiv begegnet wird. Zusätzliche Erfolgspotentiale können dadurch realisiert werden, dass Potentiale, die bislang weder von den Mit‐ bewerbern noch vom eigenen Unternehmen angesprochen werden, in die Produktentwicklung mit einbezogen werden. Abb.‐Nr.: -48 Abb.‐Titel: - Ausgangssituation strategisches Marketing (Quelle: -Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Erfolgspotentiale KUNDE UNTER- NEHMEN MIT- BEWERBER Möglichkeiten/ Bedürfnisse erkennen Wettbewerbsvorteile suchen Potentiale erkennen Abb. 48: Ausgangssituation strategisches Marketing (Quelle: eigener Entwurf) Ideal aller strategischer Marketingansätze ist die Erreichung einer sog. USP (= Unique Selling Proposition), d. h. der Bereithaltung eines Angebotes bzw. eines Service, das/ der von keinem Mitbewerber angeboten wird. Auch wenn dieses Ideal im Tourismus prinzipiell auch als Leitmotiv dient, ist eine echte USP kaum zu realisieren. Anders als bei Industriegütern oder informations‐ technischen Angeboten erfolgt im Tourismus die Erstellung des Service zu‐ meist im Moment der Konsumtion und damit vor den Augen des Kunden, bzw. sind die Produktionsprinzipien oder die Gestaltung des Produkts zu‐ meist nicht geheim zu halten. Damit sind z. B. höchstens einmal in einem Freizeitpark bestimmte technische Animationsangebote als echte USP an‐ zusehen, die nicht ohne weiteres kopiert werden können. Umgekehrt bein‐ haltet dies auch den Vorteil, dass Innovationen relativ schnell diffundieren könnten. 123 3.2 Marketing im Tourismus 123 <?page no="124"?> Abb.‐Nr.: -49 Abb.‐Titel: - Grundsätzliche Ansätze zur Strategieentwicklung im strategischen Marketing (Quelle: -Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Marktorientierter Strategie-Ansatz Erfolgsschlüsselfaktoren externe Bedingungen wettbewerbsrelevante Ressourcen Ressourcenorientierter Strategie-Ansatz interne Bedingungen Strategieentwicklung Abb. 49: Grundsätzliche Ansätze zur Strategieentwicklung im strategischen Marketing (Quelle: eigener Entwurf) Die Entwicklung von Produkten im strategischen Marketing erfolgt damit nicht intuitiv, sondern ist von einer Reihe von Grundprinzipien geprägt. An erster Stelle steht dabei eine Reihe von analytischen Komponenten. Als Basis kann die Orientierung an den eigenen Ressourcen und den Marktbedingun‐ gen angesehen werden. Idealtypisch wird demensprechend zwischen dem ressourcenorientierten Ansatz und dem marktorientierten Ansatz unterschie‐ den (vgl. Abb. 49). Beim ressourcenorientierten Ansatz wird der Blick nach innen gerichtet und die marktrelevanten Voraussetzungen des Unterneh‐ mens bzw. der Destination betrachtet. Der Fokus liegt damit primär auf den eigenen Stärken und Möglichkeiten, an denen für die Produktentwicklung angesetzt wird. Die gegensätzliche Herangehensweise stellt der marktori‐ entierte Ansatz dar, der stärker an den externen Bedingungen bei den Nach‐ fragern und den Mitbewerbern ausgerichtet ist. Ziel ist es, solche Angebote zu entwickeln, für die eine entsprechende Nachfrage zu unterstellen ist, bzw. diese von den Mitbewerbern nicht adäquat befriedigt wird. In der Realität werden meist Mischformen aus ressourcen- und marktori‐ entierten Ansätzen verfolgt. Die Entwicklung von Produkten, die zwar den eigenen Stärken entsprechen, aber entweder keine ausreichende Nachfrage generieren, bzw. vollständig im Wettbewerb zu Mitbewerbern stehen, die möglicherweise deutlich bessere Voraussetzungen aufweisen, kann ebenso scheitern wie der umgekehrte Fall einer reinen Marktorientierung ohne Be‐ 124 3 Grundlagen Angebotsseite 124 <?page no="125"?> rücksichtigung der eigenen Grenzen. Auch mit dem feinsten Sandstrand (als eigene Stärke) ist es für eine Destination am Polarkreis normalerweise nicht ratsam, auf Badetourismus zu setzen, da sich kaum Kunden finden werden, die sich bei niedrigen Temperaturen voll bekleidet am Strand aufhalten bzw. im Neoprenanzug baden. Hier gibt es andere Destinationen, die deutlich günstigere Klimabedingungen als wettbewerbsrelevante Ressourcen aufwei‐ sen. Gleichzeitig kann an diesem Beispiel verdeutlicht werden, dass es z. B. durchaus eine Nischenstrategie sein kann, in einer solchen Destination mit für normale Angebote ungünstiger Voraussetzung, entsprechende Nischen zu suchen. Im angesprochenen Beispiel eines Küstenstandortes im Polarbereich wären z. B. prinzipiell Angebote für Extremsportler denkbar, die gerade die normalerweise als ungünstig angesehenen Rahmenbedingungen als Heraus‐ forderung ansehen. Ähnliches gilt z. B. für Destinationen mit starkem Relief, die den Standard-Genuss-Radfahrer nicht ansprechen können, da dieser Rou‐ ten mit starken Steigungen als zu anstrengend empfindet. Die starken Stei‐ gungen können aber für extreme Mountainbike Fahrer gerade den gesuchten Kick und die gewünschte Herausforderung darstellen. Die Mischung aus dem Blick nach innen auf die internen Bedingungen und nach außen auf die externen Bedingungen wird häufig in Form einer sog. SWOT-Analyse dargestellt. Das Akronym SWOT steht dabei für Strong‐ ness-Weakness-Options-Threats (Stärken-Schwächen-Chancen-Risiken). Die Analyse von Stärken und Schwächen ist auf die internen Faktoren aus‐ gerichtet. Mit Chancen und Risiken werden die externen Aspekte einbezo‐ gen. Die Darstellung erfolgt neben einer textlichen Aufbereitung zusam‐ menfassend meist in Form einer 4-Felder-Tabelle. Eine solche ist exemplarisch - wobei fiktiv eine fahrradtouristische Destination unterstellt wurde - in Abbildung 50 dargestellt. Nach der SWOT-Abschätzung für einzelne möglicherweise neu oder wei‐ terzu entwickelnde Angebote kann ein Vergleich der unterschiedlichen, in Frage kommenden Produkte über die ursprünglich von Boston Consulting entwickelte sog. Portfoliomethode erfolgen (vgl. Abb. 51). Die Portfoliodar‐ stellung entspricht der Vorstellung des Lebenszyklus (vgl. Kap. 1.2.2.1). Wie der Name Portfolio ausdrückt, werden die Produkte eines Unternehmens oder die Tourismusangebote einer Destination entsprechend der Stellung im Lebenszyklus eingeordnet. Ziel ist es dabei, ursprünglich für ein Spektrum von verschiedenen Angeboten eines Unternehmens (oder auch einer Desti‐ nation) zu überprüfen, ob alle Phasen angemessen abgedeckt sind (genauer z. B. bei F R E Y E R 2011b, S. 334ff.). 125 3.2 Marketing im Tourismus 125 <?page no="126"?> Abb.‐Nr.: -50 Abb.‐Titel: -Muster-einer-SWOT‐Darstellung-(Quelle: - Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Stärken Schwächen Landschaftliche Vielfalt Kulturhistorische Highlights Einzigartige Naturdenkmale Starke Konkurrenzsituation Defizite Informationsangebot wenig Events Chancen Risiken Wachsende Nachfrage nach Radreisen Trend zu Kurzreisen 50plus Generation Zunehmender Wettbewerbsdruck Preissensibilität Aktivitäten von Konkurrenzregionen Abb. 50: Muster einer SWOT-Darstellung (Quelle: eigener Entwurf) Abb.‐Nr.: -51 Abb.‐Titel: -Klassische-Portfolio‐Matrix-(Quelle: - Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Marktanteil Marktwachstum I Question Marks Fragezeichen II Stars Sterne III Cash Cows Melkkühe IV Poor Dogs Arme Hunde Abb. 51: Klassische Portfoliomatrix (Quelle: eigener Entwurf) Die Darstellung erfolgt in vier Quadranten, die den vier Phasen eines Le‐ benszyklus entsprechen. Zur Zuordnung eines Produktes werden die beiden 126 3 Grundlagen Angebotsseite 126 <?page no="127"?> Parameter Marktanteil und Marktwachstum verwendet, die X- und Y-Achse bilden. Der Schnittpunkt der beiden Achsen entspricht dem Mittelwert der beiden Größen. Überdurchschnittliche Marktanteile werden auf der X-Achse rechts vom Achsenschnittpunkt aufgetragen, unterdurchschnittli‐ che (aber gleichzeitig nicht notwendigerweise negative) Wachstumsraten werden unterhalb des Schnittpunkts aufgetragen. Produkte im ersten Quadranten am Anfang des Lebenszyklus zeichnen dementsprechend durch (noch) unterdurchschnittliche Marktanteile und Marktwachstum aus. Sie werden als „Question Marks“ bezeichnet. Damit wird ausgedrückt, dass nicht jede Innovation am Markt dann auch erfolg‐ reich positioniert werden kann und sich ein neu auf den Markt gebrachtes Angebot nicht automatisch idealtypisch weiterentwickeln und die anderen drei Quadranten durchlaufen muss. Als Beispiel kann hier z. B. das Inline‐ skaten angeführten werden, das um 2000 als mögliche künftige Trendsport‐ art angesehen wurde. Manche Destinationen wie z. B. der Fläming südwest‐ lich von Berlin haben stark auf dieses sporttouristische Angebot gesetzt, erhebliche Investitionen in die Infrastruktur getätigt und das Produkt „Flä‐ ming-Skate“ entwickelt (www.flaeming-skate.de). Nach einem kurzen Hype ist aber Inlineskaten wieder weitgehend vom Markt verschwunden und hat sich - anders als z. B. Wandern oder Radfahren - nicht zu einem stark nach‐ gefragten touristischen Produkt entwickelt. Wandern und Radfahren konnten in den letzten 10 Jahren auch als „Stars“ bei der Portfolioanalyse eingestuft werden. Sie verfügten über überdurch‐ schnittliche Wachstumsraten und auch bereits Marktanteile. Für den in der Portfoliodarstellung nicht berücksichtigten Parameter „Erträge“ gilt, dass - in der Entwicklungs- und Markteinführungsphase von Question Marks die Anfangsinvestitionen hoch sind und nicht von den Erträgen gedeckt wer‐ den. In der Phase eines Stars nehmen üblicherweise die Investitionskosten deutlich ab und die erzielbaren Preise und Erträge pro Kunden erreichen ihren Höhepunkt. Produkte in der dritten Phase des Lebenszyklus werden als „Cash Cows“ bezeichnet. Dies bezeichnet eine Situation in der ein Angebot immer noch überdurchschnittliche Marktanteile, aber bereits - im Vergleich zu al‐ len anderen Angeboten - unterdurchschnittliche (teilweise aber noch posi‐ tive) Wachstumsraten aufweist. In dieser Phase wird üblicherweise nicht mehr intensiv in ein Produkt investiert, die Produktionskosten pro Kunden erreichen oftmals durch die Ausnutzung von Skaleneffekten ein Minimum. Auch wenn die Erträge pro Kunden üblicherweise in dieser Phase sinken, 127 3.2 Marketing im Tourismus 127 <?page no="128"?> handelt es sich um Produkte, die aufgrund des Volumens der Nachfrage er‐ hebliche Gewinne ermöglichen. Am Ende des Lebenszyklus befindliche Produkte sind typisch für den als „Poor Dogs“ bezeichneten vierten Quadranten. Sie erreichen nur noch un‐ terdurchschnittliche (oftmals bereits negative) Wachstumsraten. Auch die Marktanteile liegen unter dem Durchschnitt und sinken oftmals weiter. Dementsprechend sind auch die aus diesen Angeboten erzielbaren Gewinne rückläufig. Anders als das Destinationslebenszyklusmodell, das bewusst auch die Option einer Erneuerung vorsieht (vgl. Kap. 1.2.2.1), wird beim Portfoliomodell implizit ein Marktaustritt unterstellt. Gleichwohl ist prin‐ zipiell denkbar, dass durch erneute Investitionen, sei es eine Verlängerung des Lebenszyklus, sei es aber ggf. durch eine Anpassung des Produktes eine Positionsveränderung im Quadrantensystem und damit das Zurückwech‐ seln in eine andere Kategorie möglich ist. Wie das Destinationslebenszyklusmodell erlaubt auch das Portfoliomo‐ dell keine verlässliche Prognose über die künftige Entwicklung von Pro‐ dukten. Diese müssen nicht dem idealtypischen Kreisverlauf zwischen den 4 Quadranten folgen, bzw. auch die Zeitspannen des Verbleibs in den ein‐ zelnen Quadranten können höchst unterschiedlich ausfallen. Das Portfoli‐ omodell findet als Darstellungsweise zur Förderung des strategieorientier‐ ten Blicks und das Verständnis für die Struktur des Angebotes, aber auch wegen der eingängigen Visualisierung der Situation nach wie vor eine weite Verbreitung. Dabei stellt es insbesondere für Unternehmen oder Destinationen, die ei‐ nen hohen Anteil an Cash Cows im Portfolio aufweisen einen wichtigen Hinweis dar. Trotz aktuell guter Ertragslage und hoher Marktdurchdringung besteht bei dieser Konstellation mittelfristig die Gefahr der Degradierung der aktuellen Cash Cows, sodass das Modell oftmals auch als Appell zum verstärkten Engagement in (wenn auch risikoreichere) Innovationen ein‐ gesetzt wird. Auch innerhalb von Destinationen wird das Modell des Öfteren in der Kommunikation mit den Leistungsträgern und den politischen Ak‐ teuren eingesetzt. Damit kann ein Verständnis für die strategische Positio‐ nierung der Gesamtdestination gefördert werden, das über die partikulare Sichtweise der Leistungsträger auf ihr Glied der touristischen Servicekette hinausgeht. Bei politisch Verantwortlichen kann damit prinzipiell ein Ver‐ ständnis für die mit Innovationen verbundenen - oftmals von der öffentli‐ chen Hand zu tragenden - Anfangsinvestitionen in die Angebotsinfrastruk‐ tur gefördert werden. 128 3 Grundlagen Angebotsseite 128 <?page no="129"?> Ein weiteres Model für die Marktanalyse wurde von P O RTE R (1980) ein‐ geführt, die „Five Forces Analyse“ (Branchenstrukturanalyse nach P O RTE R ). Grundannahme ist, dass die Attraktivität einer Branche im Wesentlichen von fünf Wettbewerbskräften beeinflusst wird: 1. Competitive Rivalry within an Industry: brancheninterner Wettbe‐ 1. werb zwischen den vorhandenen Wettbewerbern 2. Threat of New Entrants: Bedrohung durch neu auf dem Markt auf‐ 2. tretende Anbieter 3. Bargaining Power of Suppliers: Verhandlungsstärke der Lieferanten 3. 4. Bargaining Power of Customers: Verhandlungsstärke der Kunden 4. 5. Threat of Substitute Products: Bedrohung durch neue Ersatzprodukte 5. Ziel ist es, diejenigen Branchen (z. B. Tourismusformen) zu identifizieren, bei denen die Wettbewerbskräfte möglichst gering sind. Durch das Engage‐ ment in Bereiche mit relativ günstigen Wettbewerbskonstellationen soll versucht werden, Wettbewerbsvorteile zu erziehen. Die Branchenstruktur‐ analyse kann auch im Destinationsvergleich eingesetzt werden. Angesichts der im Tourismus, der so gut wie keine echten und dauerhaf‐ ten USPs kennt, nie zu vermeidenden Konkurrenz, sind die ebenfalls von P O RTE R (1985) formulierten grundsätzlichen Optionen für Wettbewerbsvor‐ teile hier besonders relevant (vgl. Abb. 52). Abb.‐Nr.: -52 Abb.‐Titel: -Wettbewerbsbezogene Grundstrategien nach Porter-(Quelle: -Eigener-Entwurf-in-Anlehnung-an- F REYER 2011b,-S.-398) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Leistungsvorteile Kostenvorteile Gesamtmarkt Qualitätsführerschaft Kostenführerschaft Teilmarkt Nischenstrategie Niedrigpreisstrategie Abb. 52: Wettbewerbsbezogene Grundstrategien nach P O R T E R (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an F R E Y E R 2011b, S. 398) 129 3.2 Marketing im Tourismus 129 <?page no="130"?> Grundüberlegung ist hier, dass der Fokus bei der Entwicklung von Ange‐ boten einerseits entweder auf den Gesamtmarkt oder einen Teilmarkt ab‐ zielen kann und andererseits entweder auf Leistungsvorteile oder eine Kos‐ tenführerschaft abgezielt wird. Leistungsvorteile auf dem Gesamtmarkt werden als Qualitätsführerschaft bezeichnet. Diese Option ist mit am schwierigsten zu realisieren. Kostenführerschaft bedeutet Kostenvorteile auf dem Gesamtmarkt zu suchen. Klassische Beispiele hierfür sind z. B. die Lebensmitteldiscounter oder auch die LCC (vgl. Kap 3.1.3). Aber auch auf Last Minute spezialisierte Reisemittler setzen im Wesentlichen auf die Preis‐ komponente und wenden sich an den gesamten Markt. Von besonderer Re‐ levanz im Tourismus ist die Fokussierung auf einen Teilmarkt mit dem Ver‐ such Leistungsvorteile zu realisieren. Angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung der Nachfrage entstehen immer wieder neue Teil‐ märkte/ Nischenmärkte, die noch nicht intensiv von Mitbewerbern abge‐ deckt werden. Diese Nischenstrategie setzt im Tourismus aber oftmals auch darauf, dass innovative Spezialsegmente sich möglicherweise zu Trends entwickeln können (vgl. z. B. Wellness-Tourismus in Kap. 6.5). Re‐ lativ geringe Bedeutung weist im Tourismus die Niedrigpreisstrategie mit der Fokussierung auf Teilmärkte auf. Teilweise werden Grundstrategien auch auf drei generische Wettbewerbsstrategien beschränkt, die Differen‐ zierung oder Qualitätsführerschaft, die Kostenführerschaft sowie die Seg‐ mentierung, unter der die Teilmarktausrichtung ohne Differenzierung von Leistung oder Kosten zusammengefasst wird. Mehr auf die Kunden ausgerichtet ist die sich an die Branchenstruktur‐ analyse und die wettbewerbsbezogenen Grundstrategien logisch anschlie‐ ßende sog. Produkt-Markt-Matrix die nach ihrem Erfinder, der als der Vater des strategischen Marketings gilt, auch Ansoff-Matrix (vgl. A N S O F F 1957) genannt wird. Auch hier handelte es sich um eine 4-Felder-Matrix, bei der die beiden Achsen vom Kunden und den Produkten gebildet werden. Bezo‐ gen auf einen Anbieter wird dabei zwischen bereits bedienten bzw. nicht bedienten, potentiellen neuen Kunden sowie den gegenwärtigen und neuen Produkten unterschieden (vgl. Abb. 53). 130 3 Grundlagen Angebotsseite 130 <?page no="131"?> Abb.‐Nr.: -53 Abb.‐Titel: -Produkt‐Markt‐Matrix-nach Ansoff (Quelle: -Eigener-Entwurf-in-Anlehnung-an-F REYER 2011b,-S.-386) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE gegenwärtige Produkte neue Produkte gegenwärtige Märkte Marktdurchdringung Produktentwicklung neue Märkte Marktentwicklung Diversifiziertes Wachstum Abb. 53: Produkt-Markt-Matrix nach A N S O F F (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an F R E Y E R 2011b, S. 386) Relativ wenig innovative Kraft im Bereich der Produktgestaltung erfordert dabei die auf gegenwärtige Kunden und gegenwärtige Produkte setzende Marktdurchdringung. Hier sind aus dem Marketingmix stärker Distribu‐ tions-, Marktkommunikations- oder Preismaßnahmen erforderlich. Die ge‐ genwärtigen Märkte mit neuen Produkten anzusprechen (Produktent‐ wicklung) bzw. neue Märkte mit gegenwärtigen Produkten zu erreichen (Marktentwicklung) ist demgegenüber bereits inhaltlich anspruchsvoller, da es entweder Produktgestaltung oder die Identifizierung neuer Kunden‐ potentiale beinhaltet. Im Tourismus bedeuten neue Kunden nicht nur andere inhaltlich ausgerichtete Zielgruppen, sondern bezieht sich oftmals auf die Ansprache neuer ausländischer Märkte. Am anspruchsvollsten stellt sich die Wachstumsstrategie im rechten un‐ teren Feld dar. Das Diversifizierte Wachstum versucht mit neuen Pro‐ dukten auch neue Zielgruppen anzusprechen. Gleichzeitig ist die Diversifi‐ zierung eine klassische Herausforderung für Destinationen mit Produkten in der Reifephase. Beispiele hierfür sind z. B. traditionelle Kurorte, die mit der Umstellung auf Wellness-Angebote neue Produkte entwickeln und damit auch eine andere Klientel ansprechen wollen (vgl. Kap. 6.5). Auch die me‐ diterranen badetouristischen Destinationen stehen vor der Herausforde‐ rung einer Diversifizierung (vgl. Kap. 7.2). Der grundsätzliche Ablauf im strategischen Marketing wird üblicher‐ weise als Kreislaufmodell mit 5 Phasen formuliert (ausführlicher z. B. bei F R E Y E R 2011b, S. 112). Nach der an dieser Stelle mit unterschiedlichen An‐ 131 3.2 Marketing im Tourismus 131 <?page no="132"?> sätzen ausführlicher behandelten Analysephase und Strategiephase fol‐ gen die Gestaltungsphase (mit der konkreten Konzeption der Produkte) und die Realisierungsphase. Wichtig ist die Kontrollphase, die in der kon‐ kreten touristischen Praxis - insbesondere im Destinationskontext - oftmals vernachlässigt wird. Erst die Evaluierung kann Aufschluss darüber geben, ob die angestrebten und gesetzten Ziele auch erreicht wurden. Entsprechend dem stellt die Kontrollphase immer auch den Beginn eines neuen Umlaufs mit darauffolgender erneuter Analysephase zur nächsten Runde der Opti‐ mierung dar. Auch dieser Grundgedanke des strategischen Marketings wird im Tourismus oftmals nicht klar genug gesehen. Oftmals - insbesondere in den Destinationen - wird die Meinung vertreten, dass nach einer entspre‐ chenden Positionierungsrunde ein entsprechend auf dem Markt etabliertes Produkt nun vor weiteren Herausforderungen bewahren würde. Wie im bisherigen Teil des Buches aber immer wieder betont, sind die Marktgege‐ benheiten im Tourismus als ständig in Bewegung befindlich anzusehen. De‐ mensprechend ist auch das strategische Marketing eine permanente Auf‐ gabe, die zum Grundverständnis der tourismuswirtschaftlich handelnden Akteure zählen müsste. Im Zuge der auf die Analyse und Strategiephase mit der Formulierung von Zielen und Marketingstrategien folgenden Gestaltungsphase kommt im Rahmen der konkreten Produktgestaltung auch der Markenbildung eine zentrale Rolle zu. In der Realisierungsphase kommt der Marktkommunika‐ tion als Teil des Marketingmix eine wichtige Rolle zu. Demensprechend werden diese beiden Bereiche in den zwei folgenden Abschnitten behandelt. 3.2.3 Markenbildung Neben den konkreten Eigenschaften einer Leistung ist insbesondere auch das Vorstellungsbild/ Image, dass der (potentielle) Kunde davon hat, für die Realisierung der Nachfrage relevant, wie in Kapitel 2.3.2 bei der Behandlung des Einstellungsmodells verdeutlicht wurde. Insbesondere aufgrund der Im‐ materialität von touristischen Dienstleistungen (vgl. Kap. 3.2.1) kommt der Schaffung eines positiven Images eine noch größere Rolle als im Konsum‐ güterbereich zu. Um Produkte und Serviceleistungen im Bewusstsein der Nachfrager zu verankern, erfolgt eine Markierung über sog. „Marken“. Eine Marke kann ein Name oder Begriff, ein graphisches Zeichen oder Symbol sowie eine Kombination aus diesen Bestandteilen (Wort-Bild-Marke) sein, mit dem 132 3 Grundlagen Angebotsseite 132 <?page no="133"?> Produkte oder Dienstleistungen gekennzeichnet und repräsentiert werden. Sie dient dazu, sich im Bewusstsein der Nachfrager auch von Konkurrenz‐ angeboten abzuheben. Marken können entsprechend geschützt werden, so‐ dass nur der Inhaber diese verwenden kann. Aus Sicht der Nachfrage (vgl. Abb. 54) erlauben Marken die Identifizie‐ rung mit der Marke. Oftmals wird auch ein gewisses Prestige mit der In‐ anspruchnahme von hochwertigen Marken verbunden. Abb.‐Nr.: -54 Abb.‐Titel: -Funktionen-von-Marken-(Quelle: -Eigener- Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Identifizierung Prestige Vertrauen Sicherheit Orientierung Risikoreduzierung Differenzierung Positionierung Mehrwert Kundenbindung / -gewinnung Nachfrager Anbieter Abb. 54: Funktionen von Marken (Quelle: eigener Entwurf) In einer als hochwertige Marke positionierten Destination seinen Urlaub zu verbringen, kann - entsprechend dem Wertschätzungsbedürfnis von M AS ‐ LOW (1943, vgl. Kap. 1.2.2.2) - auch mit dem Wunsch nach einem entspre‐ chenden Prestige verbunden sein. Angesichts der Vielfalt der touristischen Angebote und der teilweisen Unübersichtlichkeit über den Markt können Marken für den Nachfrager aber auch eine Orientierung bedeuten. Die unterstellte Qualität von etablierten Marken trägt damit auch zur Risiko‐ reduzierung bei. So können z. B. die Marken von Hotelketten mit einem bestimmten Leistungsversprechen assoziiert werden, die ein bekanntes Ni‐ veau einhalten. Dadurch kann der Nachfrager letztendlich ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens aufbauen, das ihm die Suche nach Reise‐ angeboten erleichtert. 133 3.2 Marketing im Tourismus 133 <?page no="134"?> Umgekehrt bieten Marken den Anbietern die Möglichkeit einer Positio‐ nierung mit dem Ziel der Kundenbindung bzw. -gewinnung und damit eine Differenzierung von Mitbewerbern. Die Marke steht stellvertretend als Symbol für das Produkt und soll in kompakter Form nicht nur die Eigenschaften des Produkts und dessen Nut‐ zen, sondern auch ein positives Image kommunizieren und damit positive Emotionen wecken. A D J OURI & B ÜTTNE R (2008, S. 118) sprechen als vierte Komponente auch noch von Faszination als Bestandteil des von ihnen ent‐ wickelten Konzepts der kognitive Markenlandkarten. Angestrebt wird dabei auch eine Identifizierung der Nutzer mit der Marke, wobei neben der Kun‐ denbindung oftmals auch die Generierung einer entsprechenden Zahlungs‐ bereitschaft verbunden ist. Durch diese sollen sich die Investitionen in den Aufbau der Marke wieder amortisieren. Insbesondere für die quasi ubiquitären touristischen Produkte ist ange‐ sichts des intensiven Wettbewerbs der Leistungsträger, aber auch für ge‐ samte Destinationen eine konsequente Markenpolitik ein zentrales Element im strategischen Marketing. Marken können als Einzelmarken oder Markenfamilien (ähnliche Marken mit Bezug zur übergeordneten Hauptmarke) bzw. Dachmarken (eine iden‐ tische Marke für mehrere Produkte) geführt werden (vgl. Box 8 „Einzel‐ marke versus Dachmarke“). Im Tourismus führen nicht nur die einzelnen Unternehmen der touristischen Servicekette oftmals Marken. Auch Desti‐ nationen werden vielfach als Marken positioniert. Darüber hinaus können auch einzelne Produkte in den Destinationen bzw. destinationsübergreifend als eigenständige Marken geführt werden. Ein Beispiel hierfür ist z. B. die Vielzahl von unterschiedlichen Einzelmarken für Wanderwege (Rothaar‐ steig, Eifelsteig, Moselsteig; vgl. auch Kap. 6.4). Bei den Destinationsmarken ist in Österreich (z. B. mit der Marke Tirol) oder in der Schweiz (z. B. mit der Marke St. Moritz; vgl. S TEINECKE 2013, S. 77) bereits seit längerem eine intensive Fokussierung auf eine klare Mar‐ kenpolitik (auch mit der markenschutzrechtlichen formalen Eintragung der Destinationsmarken) verbunden. Von gesamtstaatlicher Seite bzw. den ös‐ terreichischen Landesmarketingorganisation oder den Schweizer Kantonen wird darüber hinaus auch eine klare Politik einer Art „Markenflurbereini‐ gung“ verfolgt. Explizites Ziel ist dort, die frühere extreme Vielzahl von kleinen Orts- und Talmarken, die oftmals wenig professionell geführt wur‐ den und auf dem Markt auch nur eine geringe Bekanntheit erzielten, unter Dachmarken für größere Destinationen zu vereinigen. 134 3 Grundlagen Angebotsseite 134 <?page no="135"?> Box 8 | Einzelmarke versus Dachmarke ☐ Einzelmarke: Bei einer Einzelmarke wird jedes Produkt unter einer ☐ eigenen Marke geführt, auch wenn ein Anbieter mehrere Produkte im Angebotsportfolio hat. Damit soll eine unverwechselbare Mar‐ kenpersönlichkeit geschaffen werden. Als Vorteile werden die mar‐ kenstrategische Beweglichkeit und eine klare Profilierung angese‐ hen. Auch kann von nicht erfolgreichen Produkteinführungen kein negativer Ausstrahlungseffekt auf andere Produkte des Unterneh‐ mens erfolgen. Dem geringen Koordinationsaufwand steht ein ho‐ her Kostenaufwand bei der Neueinführung von Einzelmarken ge‐ genüber. Die Hotelkette Accor (vgl. Kap. 3.1.2) nutzt gezielt eine Mehrmarkenstrategie, mit einer klaren Differenzierung nach Niveau der Hotelangebote, um die verschiedenen Zahlungsbereitschaften unterschiedlichen Zielgruppen gezielt anzuspre-chen. Klassisches Beispiel bei den Reiseveranstaltern war bislang der Reiseveranstalter REWE mit seinen vielen Einzelmarken Aber auch Thomas Cook ver‐ folgte eine klare Zwei-Marken-Strategie mit Thomas Cook (für das etwas gehobene Segment) und Neckermann (eher dem Budgetseg‐ ment zuzuordnen (vgl. Kap. 3.1.1). ☐ Dachmarke: Bei der Nutzung von Dachmarken (gilt auch für Mar‐ ☐ kenfamilien) wird auf die Nutzung von Synergien abgezielt. Dies be‐ trifft bei bestehenden Produkten die größere Bekanntheit beim Ver‐ braucher, in der Hoffnung, dass dieser nach der Nutzung eines Angebotes (z. B. einer Badeurlaubsreise) auch andere Angebote der gleichen Dachmarke (z. B. Städte- oder Wellness-Reise) beim gleichen Unternehmen/ Veranstalter bucht oder eben in einer Destination meh‐ rere Angebote nachfrägt. Bei der Neueinführung von Angeboten soll das bereits durch bestehende Angebote aufgebaute Vertrauen bzw. die Bekanntheit genutzt werden. Damit wird eine schnellere Durchset‐ zung beim Nachfrager unterstellt. Auch die Positionierung in den Dis‐ tributionskanälen kann durch den Bezug auf die bereits bestehende Dachmarkenprodukte erleichtert werden. Allerdings besteht die Ge‐ fahr negativer Ausstrahlung auf die gesamte Angebotspalette, wenn ein neues Angebot entsprechend negativ aufgenommen wird. Klassi‐ sches Beispiel für ein klare Dachmarkenstrategie im Tourismus ist der Reiseveranstalter TUI (vgl. Kap. 3.1.1). 135 3.2 Marketing im Tourismus 135 <?page no="136"?> Demgegenüber steht Deutschland hinsichtlich der Schaffung von klaren - und damit auch beim Kunden wirksamen - Markenstrukturen noch in einer Frühphase. In Abbildung 55 ist die Heterogenität der 16 LMOs (Landesmar‐ ketingorganisationen) zusammen mit der Wortbildmarke der DZT (Deut‐ sche Zentrale für Tourismus) dargestellt. Abb.‐Nr.: -55 Abb.‐Titel: -Marken-deutscher-Landesmarketing‐ organisationen-(Quelle: -Eigener-Entwurf-unter- Verwendung-der-Wortbildmarken-der-LMOs) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Abb. 55: Marken deutscher Landesmarketingorganisationen (Quelle: eigener Entwurf unter Verwendung der Wortbildmarken der LMOs und der DZT) 136 3 Grundlagen Angebotsseite 136 <?page no="137"?> Dabei nimmt einerseits keines der Wortbildmarken der Bundesländer Ele‐ mente der nationalen Marke auf. Andererseits ist auch keinerlei Ansatz für ähnliche Schriftarten, Farbgebung oder Symbolverwendung zu erkennen. Die beiden Wortbildmarken von Hessen und Sachsen-Anhalt spielen mit den Wappen noch stark auf einen hoheitlichen Duktus ab, ohne überhaupt eine erkennbare touristische Konnotation auszulösen. Eher neutral gestaltet und damit ebenfalls nur begrenzt touristisch ausgerichtet sind die Wortbildmar‐ ken von NRW und Sachsen. Ebenfalls noch relativ neutral aber mit der of‐ fiziellen Bezeichnung der Organisation und damit zumindest dem Namen nach das Wort Tourismus mit enthaltend stellen sich Hamburg, Schles‐ wig-Holstein und Niedersachen dem Endkunden vor (wobei bei Hamburg mit der Silhouette sogar noch eine auf den kulturorientierten Städtetouris‐ mus ausgerichtete Konnotation verbunden werden kann). Ähnlich, aber gleichzeitig den starken touristischen Claim „Wir sind Süden“ proklamie‐ rend, positioniert sich Baden-Württemberg, möglicherweise auch mit der Zielsetzung, sich vom Mitbewerber Bayern abzuheben, der selbstbewusst auf die Stärke der Farbkombination Weiß-Blau setzt. Das Saarland verfolgt einen eher unterschwelligen Ansatz mit den Sternen, die auf die Qualität der saarländischen Angebote abzielen. Teilweise wird das Sternelogo, wie z. B. bei der kulinarischen touristischen Produktlinie „Sterneküche“ auch wieder aufgenommen. Bei sechs LMOs wird zumindest textlich (teilweise auch durch die eingesetzten graphischen Elemente) eine klar touristisch ausge‐ richtete Nachricht mit vermittelt (visit, entdecken, erleben, tut gut, Gast‐ landschaften; Das Weite liegt so nah; Urlaub). Angesichts der föderalen Grundstruktur Deutschlands ist Tourismus, der weitgehend als Teil der regionalen Wirtschaftsförderung angesehen wird, damit prioritär Aufgabe der Bundesländer (F R E Y E R 2011a, S. 383). Aber selbst in einem Bundesland wie Rheinland-Pfalz, das hinsichtlich des Zuschnitts seiner regionalen Destinationen als deutscher Benchmark gelten kann und auch eine relativ stringente Tourismusmarketingpolitik verfolgt, zeigt sich bei den Wortbildmarken der offiziell festgelegten Reisegebiete die gleiche Heterogenität (vgl. Abb. 56). Die Entwicklung einer stringenten Markenpolitik stellt damit eine der künftigen Herausforderung für die Destinationen dar. Allerdings kann sich ein solcher Prozess nicht auf die Entwicklung von Wortbildmarken und Lo‐ gos beschränken, sondern muss eben auch in eine kohärente Produktpolitik integriert sein. Angesichts der Vielfalt des Angebotes in den meisten Desti‐ 137 3.2 Marketing im Tourismus 137 <?page no="138"?> nationen stellt sich damit auch die Herausforderung, diese entsprechend in der Produktgestaltung und der Markenbildung konsequent umzusetzen. Als ein positives Beispiel mit dem konsequent die einzelnen Produkte in den Vordergrund gestellt werden, kann die Tourismusstrategie 2015 des Landes Rheinland-Pfalz genannt werden. Unter weitgehender Ausblendung anderer Produkte wurde dort vier Themenfelder identifiziert, die eine er‐ folgversprechende Positionierung ermöglichen: Fahrradtourismus, Wan‐ dertourismus, Weintourismus und Gesundheitstourismus (MWVLW-RLP 2008). Abb.‐Nr.: -56 Abb.‐Titel: -Wortbildmarken-der-Tourismusregionen-in- Rheinland‐Pfalz-sowie-des-Lahntals (Quelle: -Eigener- Entwurf-unter-Verwendung-der-Wortbildmarken-der- regionalen-DMOs) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Abb. 56: Wortbildmarken der Tourismusregionen in Rheinland-Pfalz sowie des Lahntals (Quelle: eigener Entwurf unter Verwendung der Wortbildmarken der regionalen DMOs) Für diese drei Tourismusformen wurden unter dem Slogan „Radhelden“, „Wanderwunder“, „Weinreich“ und „Ich-Zeit“ klare Markenprofile geschaf‐ fen (vgl. Abb. 57). Es wird versucht, die Marken auch in eine klare Produkt‐ 138 3 Grundlagen Angebotsseite 138 <?page no="139"?> politik umzusetzen und dabei die Teilregionen des Landes sowie die Leis‐ tungsträger entsprechend einzubeziehen. Abb.‐Nr.: -57 Abb.‐Titel: -Wortbildmarken-der-4-zentralen- touristischen-Handlungsfelder-in-Rheinland‐Pfalz-nach- der-Tourismusstrategie-2015-(Quelle: - www.gastlandschaften.de) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Abb. 57: Wortbildmarken der 4 zentralen touristischen Handlungsfelder in Rheinland-Pfalz nach der Tourismusstrategie 2015 (Quelle: www.gastlandschaften.de) Während bei der rheinland-pfälzischen Landesstrategie die einzelnen tou‐ ristischen Produkte im Vordergrund stehen und der Bezug zum gesamten Bundesland und seinem Angebotsportfolio etwas ins Hintertreffen gerät, wird mit den sog. „Regionalmarken“ oder „Regionalen Dachmarken“ der Weg gegangen, die Destination in den Mittelpunkt zu stellen. Ein Beispiel für eine erfolgreiche regionale Dachmarke stellt die Regio‐ nalmarke Eifel dar (vgl. S CHAAL & L ICHTE R 2010). Mit einer Wortbildmarke, die in dunkelgelb ein „e“ vor grünem Hintergrund mit einer runden blauen Füllung darstellt (vgl. Eifel-Logo in Abb. 56) sollen zentrale Elemente dieses waldreichen Mittelgebirges in Rheinland-Pfalz aufgenommen werden. Die blaue Füllung des „e“ repräsentiert dabei die USP der Eifel, die sog. Ei‐ fel-Maare, mit Wasser gefüllte Krater von erloschenen Vulkanen. Die Far‐ bigkeit wird in den meisten Marktkommunikationsinstrumenten der Eifel Tourismus Gesellschaft (vgl. www.eifel.info) und auch der kommunalen Tou‐ rismusorganisationen relativ stringent übernommen. Ebenso wird das Logo jeweils prominent platziert. Die Produktlinien Radtouren, Wandern, Natur‐ erlebnis und als ergänzenden vierte Säule die „Gastlichkeit“ genannte kuli‐ narische Komponente sind klar der Orientierung auf die Region unterge‐ ordnet. Regionalmarken beschränken sich dabei idealtypisch nicht nur auf den Tourismus. Auch bei der Regionalmarke Eifel sind regionale Produzen‐ ten von Nahrungs- und Genussmitteln sowie lokale Handwerksbetriebe mit unter einem Dach verbunden (www.regionalmarke-eifel.de). Damit ergeben sich auch Synergien mit dem Themenfeld Kulinarik und regionale Produkte (vgl. K AG E RMEIE R 2011b) und es werden regionale Wirtschaftskreisläufe ge‐ stärkt. Gleichzeitig ist die Regionalmarke klar qualitätsorientiert. Für die Eifel-Gastgeber gilt, dass diese mit der Aufnahme gleichzeitig auch die Qua‐ 139 3.2 Marketing im Tourismus 139 <?page no="140"?> litätskriterien der Stufe I von „ServiceQualität Deutschland“ des Deutschen Tourismusverband (DTV 2015) erfüllen müssen (vgl. Kap. 6.2).) Auch wenn die Markenbildung in Destinationen sicherlich noch einen langen Weg vor sich hat, sind damit inzwischen auch in Deutschland erste Ansätze zu einer klareren Markenbildung zu erkennen. Eine der Gründe für das zögerliche Agieren ist die Tatsache, dass die für eine solche regionale Markenbildung zuständigen Destinationsmanagementorganisationen (DMOs) - anders als „normale“ Unternehmen eben keinen direkten Gewinn aus einer erfolgreichen Markenetablierung ziehen. Die Umsatzzuwächse kommen ja vornehmlich den lokalen und regionalen Leistungsträgern zu. Diese sind umgekehrt - auch wegen der Langfristigkeit und Komplexität des Prozesses - oftmals nur begrenzt gewillt, sich an der Markenentwick‐ lung finanziell zu beteiligen. Damit verbleiben die Kosten der Markenpolitik bei den DMOs und damit in vielen Fällen der öffentlichen Hand, quasi als infrastrukturelle Vorleistung (eine vertiefende Behandlung des Destinati‐ onsmanagements findet sich in Kap. 4). 3.2.4 Social-Media-Marketing Im Zuge des Marketingmix kommt nach der Produktgestaltung - einschließ‐ lich der Markenpolitik - der Marktkommunikation ein zentraler Stellenwert zu. Wie bei der Behandlung der Markenbildung in vorhergehenden Ab‐ schnitt bereits angesprochen, ist nicht nur die Markierung, sondern auch die Marktkommunikation bei touristischen Dienstleistungen aufgrund ihres immateriellen Charakters von besonderer Relevanz. Neben den klassischen Formen von Marktkommunikation über Printme‐ dien, Radio- und TV-Kanäle sowie durch Sponsoring, die Ausrichtung von Event oder klassische Public Relation kommt in den letzten Jahren dem In‐ ternet nicht nur im Reisevertrieb (vgl. Kap. 3.1.4) eine zunehmende Bedeu‐ tung zu, sondern auch in der Marktkommunikation. Bereits das klassische Internet (sog. Web 1.0) ermöglichte den Anbietern eine in eine Richtung gehende Kommunikation B2C (= Business-to-Consumer) mit den Nachfra‐ gern. Für die Nachfrager wurden einerseits zur Informationssuche und Bu‐ chung entsprechende Informationsangebote und Buchungsmöglichkeiten im Internet zur Verfügung gestellt. Diese konnten dann aktiv von den Nach‐ fragern abgerufen oder genutzt werden. Darüber hinaus war auch Direkt‐ marketing dadurch möglich, dass an Kunden sog. Newsletter verschickt wurden (= Push-Marketing, vgl. Abb. 58). 140 3 Grundlagen Angebotsseite 140 <?page no="141"?> Abb.‐Nr.: -58 Abb.‐Titel: -Push‐ und-Pull‐Marketing-(Quelle: -Eigener- Entwurf-nach-B OGNER 2006,-S.-28) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Kunde (reagiert) Kunde (agiert) Werbung Promotion aktiver Zugriff aktive Auswahl aktive Kommunikation Absatzmittler Anbieter Absatzmittler Anbieter Push-Marketing Pull-Marketing Kontakt, um Informationen zu promoten oder zu erhalten (Primärinformationen) Sekundärinformationen über Angebote/ Produkte Abb. 58: Push- und Pull-Marketing (Quelle: eigener Entwurf nach B O G N E R 2006, S. 28) Mit der Weiterentwicklung zum sog. Web 2.0 oder auch Social Web ist in den letzten 15 Jahren die Internetnutzung in eine neue Phase eingetreten. Diese ist stark vom User Generated Content geprägt und ermöglicht damit auch andere Rollenverteilungen in der touristischen Kommunikation. Das Internet, das ursprünglich vor allem als B2C-Kommunikation fungierte, wird immer stärker als Medium zum Austausch zwischen einzelnen Kon‐ sumenten, also im Bereich C2C (= Consumer-to-Consumer) genutzt. Das sogenannte Word-of-Mouth (WOM)-Empfehlungsmarketing gewinnt an Bedeutung. Empfehlungen zu bestimmten touristischen Produkten werden nicht mehr nur wie bisher an Freunde und Bekannte weitergegeben, sondern können über Blogs, Social Sharing, Bewertungsportale und Reisecommuni‐ tys sehr viel breiter gestreut werden. Damit verbunden ist auch ein Rollenwechsel bei den Reisenden vom rein passiven Rezipienten hin zum aktiv Mitgestaltenden im Kommunikations‐ prozess. Dies wird oft mit der hybriden Konnotation des Prosumers (Wort‐ schöpfung, die aus „Pro“-ducer und Con-„sumer“ zusammengesetzt wurde; 141 3.2 Marketing im Tourismus 141 <?page no="142"?> vgl. S URHONE , T IMPLEDON & M AR S EKEN 2010) ausgedrückt. Über seine ins Internet bereit gestellten Informationen wird der Nachfrager zum Mit-Pro‐ duzenten von touristischen (Informations-)Angeboten und fungiert aktiv als Co-Konstrukteur touristischer Erwartungen. Aus dem Blickwinkel des Mar‐ ketings erfolgt die Informationssuche im Web 2.0 stärker nach dem Prinzip des Pull-Marketings (vgl. Abb. 58). Der Interessent an touristischen Ange‐ boten sucht sich seine Informationen jetzt stärker aktiv - und eben nicht nur beim Anbieter der touristischen Leistungen, sondern er informiert sich auch über die Informationen die andere Nachfrager im Web 2.0, sei es auf Bewertungsplattformern, sei es in Blogs oder auf Foto- und Video-Sha‐ ring-Plattformen (genauer z. B. bei H INTE RHOLZE R & J OO S S 2013 oder A ME R S ‐ DO R F E R et al. 2010) Auf einen weiteren wichtigen Aspekt der durch das Internetmarketing induzierten Veränderungen im Markt weisen die Überlegungen von A NDE R ‐ S ON (2006) zum Long Tail hin. Während sich klassische Werbung aufgrund der damit verbundenen Kosten vor allem an die Mehrheit der Verbraucher richtete und damit insbesondere auf das Volumengeschäft abzielte (sog. „Short Head“, vgl. Abb. 59), ermöglicht es das Internet - insbesondere auch mit den Social-Media-Optionen - dass nun Angebote, die nur wenige Ver‐ braucher, bzw. sehr spezifische Zielgruppen ansprechen, leichter promotet werden können. Abb.‐Nr.: -59 Abb.‐Titel: -Short-Head-und-Long-Tail (Quelle: -Eigener- Entwurf-nach-A NDERSON 2004) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Long Tail Short Head Produkte Zahl der Verkäufe Abb. 59: Short Head und Long Tail (Quelle: eigener Entwurf nach A N D E R S O N 2006) 142 3 Grundlagen Angebotsseite 142 <?page no="143"?> Die Vielzahl von ausdifferenzierten Produkten, die als Nischenmärkte nur wenige Nachfrager ansprechen, wird als „Long Tail“ bezeichnet. Durch das Internet wird der Match-Making-Prozess, d. h. das Zusammenfinden von (potentiellen) Interessenten an Spezialsegmenten und den Anbietern von Nischenprodukten deutlich erleichtert. Damit stärkt die internetgestützte Marktkommunikation die weitere Ausdifferenzierung des Angebots und der Nachfrage im Long Tail. Ein erheblicher Teil der Aktivitäten von Social-Media-Nutzern bezieht sich auch Freizeitaktivitäten und Reisen, für die gepostet wird und Bilder oder Stream-Dateien eingestellt werden. Dem Social-Media-Marketing kommt damit im Tourismus eine wachsende und künftig möglicherweise zentrale Rolle zu. Urlaubsinformationen im Netz werden dabei zu unterschiedlichsten The‐ menfeldern gesucht (vgl. Abb. 60). Es dominieren Informationen über das Reiseziel, die oftmals auch für die Informationssuche im Vorfeld der Reise‐ entscheidungen fungieren. Folglich stellt eine entsprechende Präsenz im In‐ ternet und insbesondere in den sozialen Netzwerken eine der Herausforde‐ rungen für die Destinationen dar, um entsprechend gefunden und wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig ist in diesem Bereich die Präsenz von User Generated Content stark ausgeprägt. Abb.‐Nr.: -60 Abb.‐Titel: -Themenbereich-für-Urlaubsinformationen- im-Internet-(Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-Daten- VIR-2007,-S.-12,-2019,-S.-37) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% Reiseziel Preisvergleich Unterkunft Pauschal-/ Bausteinreisen Flug Veranstaltungen vor Ort Mietwagen Bahn 2005 2018 Abb. 60: Themenbereich für Urlaubsinformationen im Internet (Quelle: eigene Darstellung nach Daten VIR 2007, S. 12, 2019, S. 37) 143 3.2 Marketing im Tourismus 143 <?page no="144"?> Darüber hinaus sind es oftmals ganz konkrete Informationen, die im Internet in einer späteren Phase des Reiseentscheidungsprozesses (vgl. Kap. 2.3.1) gesucht werden. Dies betrifft vor allem Preisvergleiche, aber auch Informa‐ tionen über Unterkünfte und Veranstalterangebote. Insbesondere für Un‐ terkünfte nimmt auch in diesem Bereich die Rolle von nachfragergenerierten Evaluierungen über entsprechende Bewertungsplattformen (wie z. B. Holi‐ daycheck) zu. In Abbildung 61 findet sich eine Aufgliederung der Nutzung nach unter‐ schiedlichen Social-Media-Angebotstypen, wobei diese allerdings keine klare Ausdifferenzierung von freizeittouristischen Zwecken erlaubt. Neben den Videoportalen, bei denen sicherlich nichtfreizeittouristische Zwecke überwiegen, sind es insbesondere die sozialen Netzwerke (wie Facebook) oder die privaten Netzwerke (wie z. B. WhatsApp), die von etwa der Hälfte der deutschen Onlinenutzer frequentiert werden. Aber auch Fotocommuni‐ tys (wie z. B. Flickr oder Instagram) werden von jedem achten Onliner be‐ sucht. Während die Nutzung aller anderen Typen in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, sind die Nutzungsquoten bei Fotocommunitys leicht rückläufig - nachdem es zwischen 2009 und 2012 noch einen (in der Abbildung nicht dargestellten) kurzen Peak mit knapp einem Viertel Parti‐ zipationsquote erreichte. Dies ist sicherlich auch eine Folge von neuen, an‐ deren privaten Communitys bzw. den erweiterten Möglichkeiten des Ein‐ stellens von Fotos in sozialen und privaten Netzwerken. Während YouTube von den meistens nur passiv genutzt werden, ist die Quote derjenigen, die sich aktiv in Netzwerken und Communities beteiligen, deutlich höher (vgl. z. B. K AG E RMEIE R 2011c, S. 62). Damit wird auf diesen Plattformen der Rollenwechsel vom passiven Rezipienten zum aktiven Pro‐ duzenten, dem sog. „Prosumer“ auf breiter Front vollzogen. Web 2.0 stellt damit ein klassisches Beispiel dar, wie technologische Optionen in Wech‐ selbeziehung mit dem konkreten Handeln der Nutzer stehen. Damit könnte das Social Web auch für nicht mit einem direkten kommerziellen Verwer‐ tungsinteresse zu verbindenden Gestaltungsoptionen der Aufenthalte, die bislang in der kommerziellen Marktkommunikation der kommerziellen An‐ bieter keine wichtige Rolle einnahmen, eine wichtige Rolle spielen. Die Rei‐ senden generieren - weitgehend unabhängig von kommerziellen Verwer‐ tungsinteressen - untereinander Informationen für die Reisen. Damit beeinflussen sie dann auch ganz konkret das Besucherverhalten - insbe‐ sondere Richtung Long Tail Aktivitäten (vgl. z. B. K AG E RMEIE R 2011c; vgl. auch Kap. 6.3). 144 3 Grundlagen Angebotsseite 144 <?page no="145"?> Abb.‐Nr.: -61 Abb.‐Titel: -Genutzte-Typen-von-Social-Media- Angeboten-2007-und-2013/ 14-(Quelle: -Eigene- Darstellung-nach-Daten-ARD/ ZDF‐Medienkommission- 2015) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% Videoportale (z.B. YouTube) soziale Netzwerke & Communitys private Netzwerke & Communitys Fotocommunitys, -sammlungen Weblogs Twitter 2007 2013/ 2014 Abb. 61: Genutzte Typen von Social-Media-Angeboten 2007 und 2013/ 14 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten ARD/ ZDF-Medienkommission 2015) Mit dem Boom im Bereich des Social-Media-Marketings hat das Empfeh‐ lungsmarketing stark an Bedeutung gewonnen. Empfehlungen zu bestimm‐ ten touristischen Produkten können über Blogs, Social Sharing, Bewer‐ tungsportale und Reisecommunitys sehr viel breiter gestreut werden. Bei der Nutzung von Social-Media-Ansätzen ist allerdings in vielen Bereichen des Tourismusmarketings und insbesondere des Destinationsmarketings zu konstatieren, dass sich viele Akteure erst spät und dann oftmals auch wenig strategisch ausgerichtet in diesem Feld engagieren. Anhand von ausgewähl‐ ten Beispielen aus dem Bereich Weintourismus hatten K AG E RMEIE R & H ARMS (2013) aufgezeigt, dass dort Chancen für eine Stärkung der Synergie der beiden Bereiche Wein und Tourismus bislang noch nicht optimal genutzt werden. Bei großen Unterschieden zwischen den einzelnen Weinbauregio‐ nen bzw. Bundesländern ist der größte Schwachpunkt - neben der unzurei‐ chenden Pflege der vorhandenen, sich aber zumeist auf Facebook beschrän‐ kenden Profile - die mangelnde Vernetzung der verschiedenen Präsenzen unterschiedlichster Akteure (kommunale und regionale Tourismusorgani‐ sationen, sowie von der Seite der Weinproduzenten und der Beherbergungs‐ betriebe). Festzuhalten ist, dass Social-Media-Marketing kein Selbstläufer ist, bei dem die Prosumer ohne Anstöße durch die Anbieter die traditionelle Mund-zu-Mund-Werbung (englisch Word-of-Mouth) in eine Word-of- 145 3.2 Marketing im Tourismus 145 <?page no="146"?> Mouse-Werbung konvertieren. Die Hoffnung auf eine sich selbst tragende C2C-Kommunikation, die nur der entsprechenden technischen Plattformen bedarf, erfüllt sich allerdings nicht. Social-Media-Marketing setzt damit auch weiterhin eine gezielte Initiierung und systematische Stimulierung durch die Anbieter voraus. Erst bei kontinuierlichen Aktivitäten von Seiten der Anbieter kann sich ein Schneeballeffekt und damit eine Kostenersparnis im Vergleich zur traditionellen B2C-Marktkommunikation einstellen. Wichtig erscheint dabei auch festzuhalten, dass die gewählten Inhalte - wie bei der klassischen Marktkommunikation - nicht zu direkt auf das Verkaufsziel ausgerichtet sein dürfen. Subtiles und indirektes Verführen zum Konsum durch die Weckung von „Sehnsüchten“ ist auch im Bereich von Social Media essentiell für einen entsprechenden Marketingerfolg. Unter diesem Blick‐ winkel haben die Destinationen in Deutschland noch einen weiten Weg vor sich. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Social Web große Relevanz für die Marktkommunikation im Tourismus aufweist, da das Thema Reisen einen idealen Inhalt für das Social Web darstellt. Durch das Social Web dürfte die traditionelle Mund-zu-Mund-Werbung in den nächsten Jahren eine neue Dimension annehmen. Von vielen Reisenden werden die Angaben aus der Peer-Group als vertrauenswürdiger eingestuft als die Angaben von profes‐ sionellen Organisationen und Unternehmen. Damit werden die Reisenden zu Mitkonstrukteuren touristischer Räume. Wie beim Web 1.0 spricht aber vieles dafür, dass kein plötzlicher Systembruch, sondern eine mehr evolu‐ tionäre Entwicklung stattfindet, bei der bisherige Inhalte weiterhin beibe‐ halten, aber eben doch durch neue Optionen ergänzt werden. Die Einbezie‐ hung dieses Empfehlungsmarketings in die Strategien der Leistungsträger, Tourismusorganisationen und Veranstalter stellt für diese in den nächsten Jahren sicherlich eine relevante Herausforderung dar. Zusammenfassung ☐ In diesem Kapitel wurden zunächst ausgewählte Aspekte der An‐ ☐ gebotsseite nach dem Gliederungsprinzip der touristischen Leis‐ tungskette vorgestellt. ☐ Bei den Reiseveranstaltern sind im Volumengeschäft klare Kon‐ ☐ zentrationstendenzen zu erkennen. Demgegenüber werden Ni‐ schensegmente stark von innovativen kleinteiligen Strukturen 146 3 Grundlagen Angebotsseite 146 <?page no="147"?> charakterisiert. Ähnliche Tendenzen lassen sich auch im Übernach‐ tungsgewerbe erkennen. ☐ Im Verkehrsträgermarkt stellen die Low Cost Carrier ein Beispiel ☐ für die Rolle von externen rechtlichen Rahmenbedingungen dar, durch die der Markt stark verändert wird und etablierte Anbieter entsprechenden Adaptionsstrategien entwickeln müssen. ☐ Der Strukturwandel im Reisevertrieb wird stark von den techni‐ ☐ schen Entwicklungen in der Informationstechnologie geprägt. ☐ Die informationstechnologischen Innovationen - insbesondere ☐ auch der Social-Media-Bereich - stellen auch für die Marktkom‐ munikation als Teil des Marketingmix eine relevante Herausforde‐ rung dar. ☐ Darüber hinaus bestehen - insbesondere in den Destinationen - ☐ noch erhebliche Optimierungsmöglichkeiten in der Markenpolitik. Weiterführende Lesetipps DLR (= Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt): Low Cost Mo‐ nitor. Der aktuelle Markt der Low Cost Angebote von Fluggesellschaf‐ ten im deutschen Luftverkehr. Köln Halbjährlich erscheinende Marktanalyse zur Entwicklung des Markts der Low Cost Carrier. www.dlr.de DRV (= Deutscher Reiseverband): Fakten und Zahlen zum deutschen Reisemarkt. Berlin Jährliche erscheinende Sammlung von grundlegenden Zahlen zur Ent‐ wicklung touristischer Leistungsträger. www.drv.de VIR (= Verband Internet Reisevertrieb): Daten und Fakten zum On‐ linereisemarkt. Unterhaching Jährliche erscheinende Zusammenstellung von Basisinformationen zu unterschiedlichen Aspekten des Onlinereisemarktes. Kompakte Zusam‐ menstellung aus verschiedenen Studien anderer Unternehmen und Or‐ ganisationen. www.v-i-r.de F R E Y E R , Walter (2011): Tourismus-Marketing. Marktorientiertes Ma‐ nagement im Mikro- und Makrobereich der Tourismuswirtschaft. 7. Auflage, München Umfassende und ausführliche Darstellung von vielen Aspekten des Mar‐ ketings im Tourismus, die in diesem Band nur kursorisch und mit aus‐ gewählten Aspekten gestreift werden konnten. Zur Vertiefung für eine 147 3.2 Marketing im Tourismus 147 <?page no="148"?> ausführlichere Beschäftigung mit dem Themenfeld eine zentrale Grund‐ lage. A D J OURI , Nicholas & Tobias B ÜTTNE R (2008): Marken auf Reisen. Er‐ folgsstrategien für Marken im Tourismus. Wiesbaden Gut lesbares und fundiertes Grundlagenwerk zu Marken, das zahlreiche Fallbeispiele von der analytischen Phase im Vorfeld der Markenbildung bis hin zu konkreten Fallbeispielen der Markenschaffung beinhaltet. A ME R S DO R F F E R , Daniel et al. (Hrsg.; 2010): Social Web im Tourismus. Strategien - Konzepte - Einsatzfelder. Heidelberg Der „Klassiker“ zum Social-Media-Marketing im Tourismus. Neben all‐ gemeinen Einführungen und theoretischen Deutungsansätzen wird so‐ wohl aus betriebswirtschaftlicher Sicht die Implikationen für die Touris‐ tikindustrie als auch die psychologische Dimension von Reiseentscheidungen behandelt. Aber auch Fragen nach der Vertrauenswürdig‐ keit von Bewertungsplattformen oder juristische Aspekte werden behan‐ delt. 148 3 Grundlagen Angebotsseite 148 <?page no="149"?> 4 Marketing und Management von Destinationen Wie bereits in den Ausführungen zum Marketing im vorangegangenen Ka‐ pitel deutlich zum Ausdruck gebracht wurde, ist der tourismusgeographi‐ sche Fokus stark auf die Destinationen ausgerichtet. Dementsprechend ent‐ hält der Band auch zwei regional ausgerichtete, auf die Destinationsanalyse und das Destinationsmanagement von ausgewählten Destinationstypen ab‐ zielende Kapitel 6 und 7. Lernziele In diesem Kapitel werden folgende Fragen beantwortet: ☐ Was bedeutet der Begriff „Destination“? ☐ ☐ Welche Aufgaben sind mit dem Marketing und dem Management ☐ von Destinationen verbunden? ☐ Welche Ansätze werden zur Bewältigung der Aufgaben angewandt? ☐ ☐ Welche grundsätzlichen Herausforderungen stellen sich im Marke‐ ☐ ting und Management von Destinationen? 4.1 Der Begriff „Destination“ Während - auch in der fachwissenschaftlichen Diskussion lange Zeit von Reisegebieten oder Fremdenverkehrsregionen (vgl. Kap. 1.1.2) gesprochen wurde, hat sich seit den 1990er Jahren der Begriff Destination durchgesetzt, wenn der Blickwinkel auf die zielgerichtete und systematische Analyse und Gestaltung eines touristischen Zielgebiets gerichtet wird. Mit seiner bereits früher geprägten und im Box 9 „Was ist eine Destination? “ nur nach dem aktuellen Werk zitierten Definition hat B IE G E R eine Reihe von neuen Blick‐ winkeln in die tourismuswissenschaftliche Diskussion und auch in die tou‐ ristische Praxis eingeführt: <?page no="150"?> Box 9 | Was ist eine Destination? Die fast schon als klassisch anzusehende Definition einer Destination von B IE G E R lautet: „Geographischer Raum (Ort, Region, Weiler), den der jeweilige Gast (oder ein Gästesegment) als Reiseziel auswählt. Sie enthält sämtliche für einen Aufenthalt notwendigen Einrichtungen für Beherbergung, Ver‐ pflegung, Unterhaltung/ Beschäftigung. Sie ist damit die Wettbewerbs‐ einheit im Incoming Tourismus, die als strategische Geschäftseinheit geführt werden muss“ (zitiert nach B IE G E R & B E RITELLI 2013, S. 54). Diese Definition wird ergänzt um die folgende Präzisierung: „Die Destination ist ☐ eine Wettbewerbseinheit, ☐ ☐ die Leistungen für Dritte ☐ ☐ mit Hilfe von Personen und Technologien (soziotechnisches Sys‐ ☐ tem) ☐ gegen Entgelt erbringt“ (B IE G E R & B E RITELLI 2013, S. 62). ☐ 1. Ausgangspunkt ist, dass der Besucher in den Mittelpunkt gestellt 1. wird. Der Tourist entscheidet, was für ihn - entsprechend seiner spe‐ zifischen Reiseinteressen - die Destination darstellt. Der gleiche Raum kann zum Beispiel bei unterschiedlichen Interessen ganz andere re‐ levante Elemente enthalten. Für einen Tagungsreisenden in eine Stadt sind andere Ausstattungselemente relevant als für jemanden, der diese Stadt als Partyreisender oder als Kulturtourist besucht. Nicht die An‐ bieter entscheiden, was eine Destination ausmacht und was der Be‐ sucher nachzufragen hat, sondern der Besucher. 2. Der zweite von B IE G E R pointiert in die Diskussion eingebrachte Blick‐ 2. winkel ist, dass eine Destination im Wettbewerb steht. Mit dem Blickwinkel auf das Destinationsmanagement ist nicht die Konkur‐ renz zwischen den einzelnen Leistungsträgern (wie z. B. Übernach‐ tungsbetriebe) innerhalb einer Destination die zentrale Herausforde‐ rung, sondern der Wettbewerb zwischen den Destinationen. Angesichts der Entwicklungen auf dem Verkehrsträgermarkt - ins‐ 150 4 Marketing und Management von Destinationen 150 <?page no="151"?> besondere mit den LCC (vgl. Kap. 3.1.3) - steht inzwischen eine auf den Wandertourismus ausgerichtete Mittelgebirgsregion, wie die Eifel oder der Bayerische Wald nicht mehr nur im Wettbewerb mit anderen deutschen Mittelgebirgen und Wanderregionen. Für den Touristen ist unter zeitlichen und finanziellen Gesichtspunkten z. B. die Wander‐ region Tramuntana auf Mallorca oder der Hohe Atlas in Marokko (vgl. Kap. 7) genauso gut erreichbar. 3. Mit dem Blickwinkel auf die Destination als Wettbewerbseinheit kann 3. laut B IE G E R & B E RITELLI (2013, S. 62), diese wie ein Unternehmen betrachtet werden. Dementsprechend wären im Destinationsmanage‐ ment grundsätzlich auch viele Prinzipien der Unternehmensführung anzuwenden. Entsprechend der Definition von Bieger kann der Raumumgriff einer De‐ stination ganz unterschiedliche Größenordnungen (Ort, Region, Weiler) umfassen. Dabei unterstellt Bieger, dass mit der Zunahme der Reisedistanz auch der Umgriff der vom Touristen als Destination angesehenen Raumein‐ heit größer wird. Für jemanden, der in ein anderes Land reist, würde dem‐ entsprechend das gesamte Land die Destination darstellen (vgl. Abb. 62). Abb.‐Nr.: -62 Abb.‐Titel: -Destinationsdefinition-in-Abhängigkeit-der- Reisedistanz-(Quelle: -Eigener-Entwurf-nach-Bieger-&- Beritelli-2013,-S.-57) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Ort Kontinent Land Region Abb. 62: Destinationsdefinition in Abhängigkeit der Reisedistanz (Quelle: eigener Entwurf nach B I E G E R & B E R I T E L L I 2013, S. 57) Dieses Verständnis entspricht allerdings einer traditionellen Sichtweise und kann so wohl heute nicht mehr ganz vertreten werden. Zwar wird nach wie vor - z. B. im klassischen Rundreisetourismus nach Marokko - bei einer Anreise aus Europa aus Touristensicht das gesamte Land als Destination 151 4.1 Der Begriff „Destination“ 151 <?page no="152"?> angesehen, das die für ihn relevanten Angebote bereithält. Für einen Surf‐ touristen, der mit einem Billigflieger in drei Stunden für möglicherweise weniger als 100 € nach Agadir fliegt, um in dem 20 km entfernten Weiler Taghazout, der als guter Surfspot gilt, zu surfen, kann es eben genau dieser Weiler sein, der die Destination für ihn darstellt. Damit hängt es in hohem Maße auch von der Tourismusform ab, welcher räumliche Umgriff die für den Touristen relevanten Angebote bereithält. Gleichzeitig ist mit der hierarchischen Abfolge von unterschiedlichen räumlichen Umgriffen aber ein wichtiger Aspekt für die Organisation von räumlich ausgerichteten Managementorganisationen verbunden. Ein Ort kann sich selbst als Destination positionieren und vermarkten. Er ist aber gleichzeitig Teil einer regionalen Destination, die ebenfalls auf dem Markt auftritt. Jede Region ist Teil eines (Bundes-)Landes, die wiederum als eigen‐ ständige Wettbewerbseinheit geführt werden. Und auch ein Kontinent kann sich letztendlich auf dem Markt als Destination präsentieren. So positioniert sich der „Ort“ Trier als kulturorientierte städtetouristische Destination mit einem speziellen Fokus auf das römerzeitliche Erbe (www.trier-info.de; vgl. z. B. auch A RLETH & K AG E RMEIE R 2009). Trier ist gleichzeitig Teil des rheinland-pfälzischen Reisegebietes Mosel-Saar (vgl. Abb. 56 in Kap. 3.2.3), dessen Angebote sich auf Wein & Kulinarik, Radfahren & Wandern sowie Kultur & Veranstaltungen konzentrieren (www.mosel‐ landtouristik.de). Die regionale Organisation Mosellandtouristik ist gleich‐ zeitig Mitglied der Regionalmarke „Mosel: WeinKulturLand“. Über den Mo‐ selradweg, die dortigen Weinberge und weinverarbeitenden Betriebe, sowie durch Trier verlaufende Wanderwege ist damit ein Teil des Profils auch von der Zugehörigkeit zur regionalen Destination Mosel geprägt. Ähnliches gilt für die Zugehörigkeit zum Land Rheinland-Pfalz (www.gastlandschaften.de). Im Ausland wird Trier als Teil von Deutschland über die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT; www.germany.travel) als Teil der „Historic Highlights of Germany“ vermarket (vgl. entsprechende Box 12 in Kap. 4.4.3). Seit 2012 gibt es auch auf europäischer Ebene Ansätze der European Travel Commis‐ sion (ETC) als Dachorganisationen der EU-Staaten, die Destination Europa zu vermarkten und als Marke zu branden (www.visiteuro pe.com und www.etc-corporate.org). Üblicherweise sind dabei die regionalen Tourismus‐ marketingorganisationen der niedrigeren Mitglieder der nächsthöheren Stufe (z. B. die DZT Mitglied bei der ETC; vgl. auch die Ausführungen zu „hybriden Destinationen“ in Kap. 4.4.3 und zu den Akteuren im Deutsch‐ landtourismus in Kap. 6.2). 152 4 Marketing und Management von Destinationen 152 <?page no="153"?> 4.2 Grundprinzipen des Destinationsmanagement Auch wenn es zum Themenfeld Destinationsmanagement ausführliche spe‐ zifische Einführungen gibt, sei es aus eher volkswirtschaftlicher Perspektive wie die von B IE G E R & B E RITELLI (2013) oder stärker vom geographischen Blickwinkel geprägt, wie bei S TEINECKE (2013), ist der Blickwinkel auf die Destination ein zentraler Ansatzpunkt der Tourismusgeographie und folg‐ lich - wenn auch in kompakter Form - integraler Bestandteil einer Einfüh‐ rung in die Tourismusgeographie. Das Handeln der für das Marketing und das Management einer als Wett‐ bewerbseinheit verstandenen Destination verantwortlichen Akteure in ei‐ ner Destinationsmanagementorganisation (DMO) ist damit einerseits klar auf den Markt und insbesondere auch die Kundenbedürfnisse ausgerichtet (vgl. Abb. 63). Gleichzeitig wird - anders als in einem klassischen Unter‐ nehmen - die Serviceleistung nicht von der Destinationsmanagementorga‐ nisation (DMO) selbst erbracht, sondern von den lokalen und regionalen Leistungsträgern. Mit dem Blickwinkel auf eine Destination als Unterneh‐ men kann diese als eine Art virtuelles Unternehmen angesehen werden, in dem je nach Bedürfnissen der Destinationsbesucher unterschiedliche Leis‐ tungsträger an der Produktion des Leistungsbündels Reise beteiligt sind. Abb.‐Nr.: -63 Abb.‐Titel: -Bezugsrahmen-des-Handelns-für- Destinationen-(Quelle: -Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Destination Produkte Produzenten Standort (-faktoren) Markt Kundenbedürfnisse Abb. 63: Bezugsrahmen des Handelns für Destinationen (Quelle: eigener Entwurf) Dementsprechend kann auch die Produktentwicklung nur im Wechselspiel mit den Leistungsträgern erfolgen. Wenn eine DMO Defizite z. B. in einem spezifischen Übernachtungssegment konstatiert, ist es eben - anders als bei 153 4.2 Grundprinzipen des Destinationsmanagement 153 <?page no="154"?> einem „normalen“ Unternehmen - nicht möglich, dass die DMO selbst als Investor und Betreiber eines Hotels oder eines Hostels tätig wird. Im Zuge der Koordination kann lediglich versucht werden, das Gespräch mit lokalen Hoteliers oder Hotelkonzernen zu suchen und diese zu einem entsprechen‐ den Engagement zu bewegen. Im Zuge der Suche nach einem geeigneten Standort für ein neues Hotel kann die DMO dann zum Beispiel auch mit der kommunalen Verwaltung bzw. den kommunalen Entscheidungsträgern als Moderator auftreten, damit eine geeignete Fläche bereitgestellt, bzw. mit dem entsprechenden Baurecht ausgestattet wird. Ähnliches gilt z. B. für die Umsetzung von als angemessen angesehen Qualitätsstandards, bzw. die Schaffung von Angeboten für als vielversprechend angesehene Zielgruppen. Auch hier wird eine DMO üblicherweise nur koordinierend oder moderie‐ rend tätig, um die Produktentwicklung in einer Destination entsprechend zu befördern. Nur in wenigen Fällen wird eine DMO auch selbst unterneh‐ merisch tätig, wenn sie etwa Stadtführungen anbietet, bzw. in manchen Fäl‐ len auch Infrastrukturelemente - wie z. B. einen Wanderweg oder ein Be‐ sucherleitsystem - selbst realisiert. Der Tourismus nutzt als zentralen Ausgangspunkt für seine Produkte die natürlichen und vom Menschen geschaffenen Elemente einer Destination, wie z. B. die Verkehrsinfrastruktur oder das materielle kulturelle Erbe. Gleichzeitig bewegen sich Touristen - insbesondere im Städtetourismus - auch vielfach in den gleichen Räumen wie die lokale Bevölkerung. Dem‐ entsprechend ist der Standort von deutlich größerer Relevanz als bei Indus‐ trieunternehmen oder anderen Dienstleistungen. Auch bei der Produktion von Industriegütern oder anderen Dienstleistung muss Ver- und Entsorgung bzw. Erreichbarkeit gesichert sein, und Immissionsaspekte respektiert wer‐ den. Der Bezug auf den konkreten Lebensraum der Anwohner ist aber beim Tourismus ungleich direkter und intensiver, und drückt sich z. B. auch in der Overtourism-Diskussion aus (vgl. Box 17 in Kap. 6.3.3). Gleichzeitig ist die gesamte touristische Reisekette (vgl. Abb. 64) als Auf‐ gabenbereich des Destinationsmanagements anzusprechen. Die kundenori‐ entierten Aufgaben beginnen damit in der Vorbereitungsphase mit der Mar‐ kenbzw. Branding-Politik für die Destination (vgl. Kap. 3.2.3), um diese entsprechend im Bewusstsein des Kunden zu verankern. Wichtige Aufgabe ist auch das entsprechende Marketing für die Destinationen zu betreiben, d. h. z. B. auf Endkundenmessen - wie der jährlich im März in Berlin statt‐ findenden Internationalen Tourismusbörse (ITB; www.itb-berlin.de) zu ver‐ treten, klassische Offline- und eine angemessene Online-Marktkommuni‐ 154 4 Marketing und Management von Destinationen 154 <?page no="155"?> kation zu betreiben (vgl. Kap. 3.2.4). Zur Marktkommunikation zählt auch die Bereitstellung der Informationen vor Ort. Dies kann im persönlichen Kontakt durch den Betrieb einer Tourist-Info geschehen (wobei diese Funk‐ tion in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals gleichsetzt mit dem einzigen Aufgabenbereich einer DMO). Angesichts der zunehmenden Bedeutung von mobilen Internetanwendungen kann dies aber bis zur Bereitstellung einer entsprechende Städte-App (z. B. Going Local Berlin) reichen. Teilweise fun‐ gieren DMOs auch als Buchungsstelle (sei es für Pauschalen, Unterkünfte oder auch Aktivitäten vor Ort). Abb.‐Nr.: -64 Abb.‐Titel: -Die-gesamte-touristische-Reisekette-als- Aufgabe-des-Destinationsmanagements-(Quelle: - Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Einkaufen Organisation (Vorbereiten, Informieren, Buchen) Ausflüge in die Umgebung Service vor Ort sportliche Aktivitäten kulturelle Aktivitäten / Besichtigungen Verpflegung vor Ort (Gastronomie) Unterkunft vor Ort Fortbewegung vor Ort Ankommen und Orientieren An- und Abreise Abb. 64: Die gesamte touristische Reisekette als Aufgabe des Destinationsmanagements (Quelle: eigener Entwurf) Die touristischen Leistungsträger vor Ort zu koordinieren, damit die von Touristen nachgefragten Produkte als abgestimmtes und kohärentes Leis‐ tungsbündel angeboten werden, ist einer der zentralen Aufgabenbereiche zur Gewährleistung eines aus Kundensicht stimmigen Angebotes. Da Tou‐ risten auch Dienstleistungen nutzen, die nicht prioritär auf diese ausgerich‐ tet sind (Service vor Ort), wie z. B. lokale Mobilitätsdienstleistungen oder 155 4.2 Grundprinzipen des Destinationsmanagement 155 <?page no="156"?> auch eine Post oder eine Apotheke aufsuchen, kann es auch zu den Aufgaben gehören, bei den lokalen Dienstleistern für eine entsprechen touristen‐ freundliche Serviceorientierung zu werben. Aber auch die lokale Bevölke‐ rung kann mit einzubeziehen sein. Damit das touristische Kundenerlebnis nicht durch negative Erfahrungen beeinträchtigt wird, kann auch eine, den auswärtigen Besuchern gegenüber positive Haltung der lokalen Bevölke‐ rung zweckdienlich sein (vgl. Box 17 „Overtourism“ in Kap. 6.3.3). Wenn beim direkten Kontakt zwischen den Touristen und der lokalen Bevölke‐ rung, z. B. bei Fragen nach dem Weg oder bestimmten lokalen Angeboten eine empathische Grundhaltung vermittelt wird und damit beim Touristen ein sog. „You are welcome“-Gefühl entsteht, trägt dies ebenso zum positiven Urlaubserlebnis bei, wie eine freundliche Begrüßung am Hotelcounter. Abb.‐Nr.: -65 Abb.‐Titel: -Zentrale-Funktionen-des- Destinationsmanagements-(Quelle: -Eigener-Entwurf- nach-Bieger-&-Beritelli-2013,-S.-69) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Politics Place Planning Promotion Process Product Price People Abb. 65: Zentrale Funktionen des Destinationsmanagements (Quelle: eigener Entwurf nach B I E G E R & B E R I T E L L I 2013, S. 69) Damit fallen einer DMO eine Vielzahl von Aufgaben zu, die über diejenigen von normalen Unternehmen hinausgehen. Von B IE G E R & B E R RITELLI (2013, S. 69; siehe Abb. 65) wurden diese - kooperative Aufgaben genannten - entsprechend der P-Systematik des klassischen Marketingmix (vgl. Kap. 3.2.1) zusammengefasst. Neben der für Unternehmen üblichen Bear‐ 156 4 Marketing und Management von Destinationen 156 <?page no="157"?> beitung von Product, Price, Promotion und Place kommen demzufolge bei DMOs noch hinzu: 1. die Übernahme der strategischen Planungsfunktion für die gesamte 1. Destination, die von den einzelnen Leistungsträgern nicht erbracht wird, 2. die Steuerung und Gestaltung des Prozesses der Destinationsent‐ 2. wicklung als Teil der Angebotskoordination im Wechselspiel mit den Leistungsträgern, 3. die politische Interessensvertretung für touristische Belange und 3. der Kontakt mit den politischen Entscheidungsträgern zur Erreichung von für die Destinationsentwicklung förderlichen Rahmenbedingun‐ gen; hierzu zählt auch die Beachtung von ökologischen Tragfähig‐ keitsgrenzen, 4. die Einbeziehung der lokalen Bevölkerung als Teil des Binnenmar‐ 4. ketings mit dem Ziel, Verständnis für die Belange des Tourismus zu wecken, aber auch deren Befindlichkeiten in die Destinationsent‐ wicklung einzubeziehen (z. B. die soziale Akzeptanz überschreitende Entwicklungen zu vermeiden). Diese zusätzlichen Aufgaben sind - ebenso wie die Marktkommunikations‐ aufgaben oder die Beteiligung an der Angebotsgestaltung durch Infrastruk‐ turelemente (Ausschilderung, Wegebau) sog. „unrentierliche“ Aufgaben. Die Aufgaben werden als für die DMO unrentierlich bezeichnet, da die daraus resultierenden zusätzlichen positiven wirtschaftlichen Effekte, wenn die Zahl der Touristen gesteigert werden kann, bzw. deren Ausgaben steigen, bei den privaten Leistungsträgern in der Destination und nicht bei der DMO vereinnahmt werden. Damit weisen DMOs eine Doppelrolle auf, die fast als „Januskopfcharakter“ bezeichnet werden kann. Einerseits agieren sie wie normale Unternehmen, andererseits sind sie - im Interesse und Dienste des virtuellen Unternehmens Destination - mit Aufgaben betraut, von denen sie selbst nur partiell profitieren. Die einzelnen Schritte im Management- und Marketingprozess von De‐ stinationen sind in Abbildung 66 dargestellt. 157 4.2 Grundprinzipen des Destinationsmanagement 157 <?page no="158"?> Abb.‐Nr.: -66 Abb.‐Titel: -Schritte-im-Management‐ und- Marketingprozess-von-Destinationen-(Quelle: -Eigener- Entwurf-nach-Steinecke-2013,-S.-60) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Informationsbezogene-Perspektive Analyse-der-Marktsituation Umfeld Wettbewerb Nachfrage Kooperationspartner Strategische-Perspektive Bestimmung-von-Zielen-und-Strategien Ziele Übergeordnete Ziele: Organisationszweck (Mission), Leitbild Handlungsziele im Marketing Operative-Perspektive Auswahl-und-Einsatz-der-Marketinginstrumente Produkt Distribution Preis Kommunikation Implementierungsbezogene-Perspektive Interne-Bedingungen-und-Rückkopplung Organisation Evaluierung Koordination Abb. 66: Schritte im Management- und Marketingprozess von Destinationen (Quelle: eigener Entwurf nach S T E I N E C K E 2013, S. 60) 158 4 Marketing und Management von Destinationen 158 <?page no="159"?> Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die DMOs eine Reihe von Aufgaben übernehmen, die ihren spezifischen Charakter begründen: ☐ Koordination/ Abstimmung der Teilleistungen der touristischen Ser‐ ☐ vicekette ☐ Gewährleistung unrentierlicher Angebote (Information, Infrastruktur) ☐ ☐ übergreifende Vermarktung des „Produktes“ Destination ☐ ☐ Dienstleistungskettenübergreifende strategische Planung ☐ ☐ Berücksichtigung externer (gesellschaftlicher und politischer) Ef‐ ☐ fekte. Angesichts der unterschiedlichen Typen von Aufgaben, die sich grob in eher betriebswirtschaftlich ausgerichtete Marketingaufgaben und die Wahrneh‐ mung von unrentierlichen Grundlagenaufgaben aufteilen lassen, weisen die Organisationsformen ein breites Spektrum auf, das sich zwischen der voll‐ ständigen Integration in die kommunale Verwaltung bzw. kommunale Ei‐ genbetriebe über die Rechtsform der GmbH oder des eingetragenen Vereins (mit unterschiedlichen Graden der kommunalen Beteiligung) bis hin zu rein privatwirtschaftlichen Strukturen reicht (vgl. Abb. 67). Während in Zen‐ traleuropa die öffentliche Hand zumeist zumindest zum Teil an DMOs be‐ teiligt ist, finden sich rein privatwirtschaftlich organisierte DMOs eher in Nordamerika. Abb.‐Nr.: -67 Abb.‐Titel: -Organisationsform-der-TMO-in-deutschen- Städten-(Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-DTV-2006,-S.- 85) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE städtisches Amt 21 % Eigenbetrieb 7 % GmbH 100 % kommunal 18 % GmbH > 50 % kommunal 24 % GmbH >50 % privat 6 % e. V. 16 % Sonstige 8 % Abb. 67: Organisationsform der DMOs in deutschen Städten (Quelle: eigene Darstellung nach DTV 2006, S. 85) 159 4.2 Grundprinzipen des Destinationsmanagement 159 <?page no="160"?> Die Vorteile der Nähe zur bzw. der Integration in die öffentliche Verwaltung werden in der Einbeziehung in politische Entscheidungsprozesse gesehen. Insbesondere Infrastrukturaspekte können damit verwaltungsintern von den DMO-Vertretern „auf Augenhöhe“ mit den anderen Fachabteilungen behandelt werden. Gleichzeitig gilt die Einbeziehung in die öffentliche Ver‐ waltung als relativ unflexibel hinsichtlich des Budgets und auch der Perso‐ nalpolitik. Kurzfristige Reaktionen sind hier nur begrenzt möglich. Diese Schwachpunkte sollen bei stärker privatwirtschaftlich ausgerichteten Or‐ ganisationsformen abgemildert werden. Dabei agieren DMOs auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen. Das Spektrum beginnt mit kommunalen Tourismusorganisationen und Touris‐ musorganisationen auf der Ebene von Kreisen, Regionen oder Reisegebieten. Bei entsprechenden föderalen Strukturen folgt darauf die Ebene von Bun‐ desländern oder Kantonen. Auch auf der gesamtstaatlichen Ebene (bzw. teilweise auch noch derjenigen von Zusammenschlüssen einzelner Staaten, wie z. B. den baltischen Staaten oder der EU) wird Destinationsmarketing und -management betrieben. Im Idealfall erfolgt die Wahrnehmung der spe‐ zifischen Aufgaben auf den unterschiedlich umfassenden räumlichen Kon‐ texten abgestimmt und bezogen auf den jeweiligen Wirkungsbereich. Über‐ geordnete Aufgaben der Strategie- und Leitbildentwicklung, aber auch z. B. strategische Implementationen des Qualitätsmanagements werden für einen größeren räumlichen Kontext (Staat, Bundesland) im Wechselspiel mit den regionalen DMOs entwickelt und umgesetzt (vgl. auch Kap. 6.2). 4.3 Ansätze zur Steuerung von Destinationen Grundparadigma des Destinationsmanagements ist, dass durch die frag‐ mentierte Leistungserstellung in kleinstrukturierten touristischen Zielge‐ bieten oftmals erst Leistungsbündel ein vermarktbares und konsumierbares Produkt ergeben. Nicht die einzelnen Teilleistungen der Leistungsträger sondern die Destinationen sind als Reiseziele aufzufassen. Dementspre‐ chend wurde eine übergreifende „koordinierende Steuerung der gesamten Destination durch zentrale Institutionen … zum Idealfall erklärt“ (P E CHLA‐ NE R , P ICHLE R & V OLGG E R 2013, S. 63). Damit bildeten in den 1990er Jahren die Produktentwicklung, die Qualitätssicherung und die Markenbildung den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit dem Destinationsmanagement. Für das Management der Koordination und Vermarktung standen dabei im 160 4 Marketing und Management von Destinationen 160 <?page no="161"?> Wesentlichen „zwei Varianten zur Diskussion: zentrale Steuerung durch entsprechend einflussreiche Tourismusorganisationen (DMOs) oder orga‐ nisatorische Integration der Dienstleistungskette und ihre Führung als Re‐ sort“ (P ECHLANE R , P ICHLE R & V OLGG E R 2013, S. 63). Damit verbunden war gleichzeitig die Frage nach dem Beitrag der öffentlichen und der privatwirt‐ schaftlichen Seite. Als Vorstufe zum Governance-Ansatz kann dabei der Beitrag von F LAG E ‐ S TAD & H O P E (2001) angesehen werden. Diese unterscheiden (am Beispiel von Ski-Destinationen) das sog. „Community Model“ mit einem großen Ein‐ fluss der öffentlichen Verwaltung und das „Corporate Model“ mit einer pri‐ vatwirtschaftlichen Dominanz (vgl. Abb. 68). Implizit werden dabei hierar‐ chische Steuerungsmuster unterstellt. Als Folge der Berücksichtigung institutionenökonomischer und politikwissenschaftlicher Diskussionen in der Tourismusforschung wurde diese Form der hierarchischen Steuerung seit der Jahrhundertwende in Frage gestellt und neue Ansätze mit stärker heterarchischer Struktur in die Diskussion eingebracht (vgl. z. B. R AICH 2006). Abb.‐Nr.: -68 Abb.‐Titel: -Idealtypische-Organisationstrukturen-im- Destinationsmanagement: -Community-Model-und- Corporate-Model-(Quelle: -Eigener-Entwurf-nach- F LAGESTAD &-H OPE 2001,-S.-452) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Ski corporation COMMUNITY MODEL CORPORATE MODEL Independent operator Local Tourist Board Local government Abb. 68: Idealtypische Organisationstrukturen im Destinationsmanagement: Community Model und Corporate Model (Quelle: eigener Entwurf nach F L A G E S T A D & H O P E 2001, S. 452) 161 4.3 Ansätze zur Steuerung von Destinationen 161 <?page no="162"?> 4.3.1 Vom Management zur Governance Seit Ende der 1990er Jahre liegt der Fokus auf die Kooperation im Mittel‐ punkt der destinationsorientierten Tourismusforschung. Mit dem Schwer‐ punkt der Netzwerkbildung als Erfolgsfaktor der Destinationsentwicklung ging auch eine zunehmende Thematisierung unterschiedlichen Formen der Steuerung im Destinationsmanagement einher. Dabei werden z. B. von B IE G E R & B E RITELLI (2013) aber auch z. B. W ÖH ‐ LE R (2013) oder S CHULE R (2013) der Governance-Ansatz in den Vordergrund der Diskussion gestellt. Nach B IE G E R & B E RITELLI (2013) umschreibt der Be‐ griff der Destination Governance „ein System von Rechten, Prozessen und Kontrollen, welche intern und extern eingerichtet werden, um die Führung einer Geschäftseinheit mit der Berücksichtigung des Interessenschutzes al‐ ler Stakeholder sicherzustellen“ (2013, S. 85). Dabei spielen auch die impli‐ ziten Regeln und Normen der einzelnen Gemeinschaften eine wichtige Rolle. So stellt Governance in seiner engen Begriffsfassung als nicht hierarchische Steuerung auf die Einbeziehung aller am System „Destination“ beteiligten Akteure ab. Statt Zwang und Kontrolle rücken Dialog und Konsens in den Mittelpunkt der Steuerungsbemühungen. Das Paradigma der Destination Governance fordert folglich, in einem demokratischen, partizipativen An‐ satz möglichst alle Akteure innerhalb einer Destination unter der Führung respektive der Beteiligung einer zentralen Destinationsmanagementorga‐ nisation (DMO) in die Destinationsentwicklung mit einzubeziehen. „Kon‐ stitutiv für den Destination-Governance-Ansatz ist die Konzeption der De‐ stination als ein Netzwerk von teilautonomen Akteuren. Auch wenn dadurch die relative Bedeutung der hierarchischen Komponenten abnimmt, so bedeutet Destination Governance dennoch nicht, dass hierarchische Len‐ kung durch private Selbststeuerung ersetzt wird. Vielmehr werden die bei‐ den als Extrempunkte eines Kontinuums möglicher Steuerungsmedien be‐ trachtet“ (P ECHLANE R , P ICHLE R & V OLGG E R 2013, S. 68). Entsprechend der Organisationsbzw. Institutionsstruktur von Destina‐ tionen lassen sich Governance-Strukturen je nach Betonung der poli‐ tisch-administrativen oder der unternehmerischen Komponente dem Com‐ munity Model oder dem Corporate Model zuordnen (vgl. Abb. 68). Am Beispiel eines Ski-Ressorts haben F LAG E S TADE & H O P E die beiden idealty‐ pischen Modelle gegenübergestellt. Während beim Corporate Modell ein großer privatwirtschaftlicher Akteur die zentrale Rolle einnimmt und mög‐ lichst viele Leistungen in einem Resort unternehmensintern anbietet, ist für 162 4 Marketing und Management von Destinationen 162 <?page no="163"?> das Community Modell eine Vielzahl kleinerer privatwirtschaftlicher Ak‐ teure charakteristisch. Dementsprechend ist bei diesem die Rolle der lokalen DMO von größerer Bedeutung. In Zentraleuropa herrschen meist Struktu‐ ren vor, die mehr dem Community Modell entsprechen. Ergänzend dazu hat H ALL (2011, siehe Abb. 69, linke Seite) als weitere Dimension der Struktur von Governance-Mustern den Steuerungsmodus in die Diskussion eingeführt. Neben der Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Akteuren wird beim Steering Mode unterschieden zwischen hierarchisch und nichthierarchisch. Bei der Darstellung in einer 4-Fel‐ der-Matrix werden allerdings die im Tourismus insbesondere relevanten Mischdimensionen mit Kombination von privaten und öffentlichen Akteu‐ ren, sowie partiell hierarchischen Strukturen nicht adäquat dargestellt. Eine weitere 2-dimensionale Fassung von Governance-Strukturen wird von B ODE GA , C IOCCAR ELLI & D ENICOLAI (2004) in die Diskussion eingebracht (vgl. Abb. 69, rechte Seite). Neben der Zentralisierung (die mit dem Hierar‐ chiegrad bei H ALL 2011 gleichgesetzt werden kann) wird die Intensität der Interaktionen als relevant für die Governance-Strukturen angesehen. Auch bei diesem Konzept wird eine binäre Ausprägung der Merkmale nahegelegt und Mischbzw. Zwischenformen sind nicht explizit vorgesehen. Basierend auf den bestehenden zweidimensionalen Destinationsmodellen und den bestehenden inhaltlich überlappenden Dimensionen können diese durch die Erweiterung einer dritten Dimension verschmolzen werden. An‐ knüpfend an die beschriebenen Konzepte von F LAG E S TAD & H O P E (2001): Community vs. Corporate (private vs. public actors), H ALL (2011): Hierarchie vs. Heterarchie und B ODE GA , C IOCCAR ELLI & D ENICOLAI (2004): Hohe vs. nied‐ rige Interaktionsdichte können diese als dreidimensionales Modell dargestellt werden (vgl. Abb. 70), das alle drei Ansätze miteinander verbindet. Entspre‐ chend den im Destinationskontext häufig vertretenen Mischformen wurde eine 3er-Skala verwendet. Mit dem Model lassen sich die drei Dimensionen von Governance-Strukturen gemeinsam darstellen. Eine systematische Umsetzung dieses dreidimensionalen Ansatzes in em‐ pirischen Untersuchungen und insbesondere die Überprüfung der Relevanz der einzelnen Dimensionen für die Destination-Performance - auch unter Einbeziehung dynamischer Aspekte im Destinationslebenszyklus - fehlt al‐ lerdings bislang. 163 4.3 Ansätze zur Steuerung von Destinationen 163 <?page no="164"?> Abb.‐Nr.-69 Abb.‐Titel: -Typologie-von-Governance‐Strukturen- nach-Steuerungs‐Modus-und-Akteurszugehörigkeit nach-H ALL sowie-Matrix-der-organisatorischen- Positionierung-nach-Zentralisierung-und- Beziehungsdichte-nach-B ODEGA ,-C IOCCARELLI &- D ENICOLAI (Quelle: -Eigener-Entwurf-nach-H ALL 2011,-S.- 443-und-B ODEGA ,-C IOCCARELLI &-D ENICOLAI 2004,-S.-17) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Low High High Low Constellation Model Governed Model Community Model Corporative Model CENTRALIZATION DENSITY Zentralisierung und Beziehungsdichte (B ODEGA , C IOCCARELLI & D ENICOLAI ) Nonhierarchical Hierarchical Private actors Public actors HIERARCHIES COMMUNITIES NETWORKS MARKETS ACTORS STEERING MODE Steuerungs-Modus und Akteurszugehörigkeit (HALL) Abb. 69: Typologie von Governance-Strukturen nach Steuerungsmodus und Akteurszugehörigkeit von H A L L (links) sowie Matrix der organisatorischen Positionierung nach Zentralisierung und Beziehungsdichte von B O D E G A , C I O C C A R E L L I & D E N I C O L A I (rechts) (Quelle: eigener Entwurf nach H A L L 2011, S. 443 und B O D E G A , C I O C C A R E L L I & D E N I C O L A I 2004, S. 17) Hinweis. Die Verwendung des Begriffes „communities“ bei Hall weist eine andere Konnotation auf als in der übrigen Diskussion. 164 4 Marketing und Management von Destinationen 164 <?page no="165"?> Abb.‐Nr.: -70 Abb.‐Titel: -Dreidimensionales-Modell-der- Governance‐Dimensionen-in-Destinationen (Quelle: -Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Nichthierarchisch Hierarchisch Private Akteure Öffentliche Akteure Akteure Steuerungmodus Abb. 70: Dreidimensionales Modell der Governance-Dimensionen in Destinationen (Quelle: eigener Entwurf) 4.3.2 Leadership-Ansätze im Kontext der Destinationsnetzwerkanalyse Bislang unabhängig von den Governance-Ansätzen wird seit einigen Jahren in der Tourismuswissenschaft ein Fokus auf das Konzept der sogenannten „Leadership“ innerhalb der Destinationsentwicklung gelegt und dieses inzwi‐ schen gegenüber dem Governance-Ansatz teilweise favorisiert. Nach H IN ‐ TE RHUB E R (2013, S. 93) bedeutet Leadership beispielsweise „neue Möglichkei‐ ten entdecken und nutzen sowie die Veränderungsprozesse so gestalten, dass in erster Linie die Kunden zufriedengestellt, aber auch Werte für alle anderen ‚Stakeholder‘ geschaffen werden“. In einem derartigen Ansatz wird gerade die Rolle eines zentralen Leader bzw. einer Leader-Institution betont. Somit steht weniger der partizipative Ansatz im Zentrum der Betrachtung, der zu einem Konsens in der Destinationsentwicklung führt, sondern die Führungskraft eines Einzelnen oder einer Institution, die durch die Eigenheiten des spezifi‐ 165 4.3 Ansätze zur Steuerung von Destinationen 165 <?page no="166"?> schen Leader eben jenen Konsens generiert, der zur Destinationsweiterent‐ wicklung benötigt wird. Entsprechend der unterschiedlichen Konzepte der „Governance“ beziehungsweise des „Leadership“ lassen sich auch unter‐ schiedliche Abläufe identifizieren. Während im „Governance“ die Rolle der einzelnen Akteursgruppen betont wird und somit der Schwerpunkt des Des‐ tinationsmanagement in einer stetigen Vermittlung zwischen den einzelnen Akteursgruppen gesehen wird, steht in einem Leadership-Ansatz, eher das prozessorientierte Identifizieren von themenspezifischen Allianzen einzelner Akteure im Vordergrund. Diese werden eben nicht auf ihre Rolle als Mitglied einer Akteursgruppe sowie dazugehöriger Interessen reduziert, sondern ihre Rolle des akteursspezifischen Eigeninteresses betont. Genau dieser Identifi‐ kationsprozess in Verbindung mit einer über alle Gruppen ausbalancierten Akteursstruktur in den einzelnen Themenfeldern, ersetzt in gewissem Sinne die zentrale breite Konsensfindung eines Governance-Ansatzes zu Gunsten fallspezifischer Akteurskonstellationen. Eng verknüpft mit der Frage nach der Rolle und Wichtigkeit von Leadern in Destinationsnetzwerken ist auch die Identifikation und Analyse des jewei‐ ligen Verflechtungssystems. Gerade zur Rolle und Identifikation derartiger Leader innerhalb eines Destinationskontextes werden in jüngster Zeit vor al‐ lem unterschiedliche Ansätze der Netzwerkanalyse genutzt. Netzwerkanaly‐ sen können die individuellen Handlungskontexte der Akteure, bestimmte Teilsysteme des Netzes oder aber das Gesamtsystem analysieren. Sowohl die Analyse wie auch die Darstellung derartiger Netzwerke ist bis heute wenig standardisiert. Es lassen sich allerdings grundsätzlich Ansätze etwa in der Vi‐ sualisierung in Form von gerichteten, ungerichteten oder auch gewichteten Kanten zwischen den üblichen Netzwerkknoten unterscheiden. Derartige Ansätze sind im Kontext der Tourismuswissenschaften bisher nur sehr be‐ grenzt aufgegriffen worden. Und wenn, dann beschränkt man sich aktuell oftmals noch auf eine sehr vereinfachte und mechanistische Analyse der Strukturen der Netzwerke, ohne die Qualität oder die Intensität der Interak‐ tionen zu berücksichtigen (vgl. z. B. B AGGIO 2011). Bereits einen Schritt wei‐ ter gehen P E CHLANE R & V OLGG E R (2012), die beispielsweise die GABEK-Soft‐ ware zur Analyse der Hotellerie nutzen und dabei eine Messung der Intensität der Interaktionen zwischen den Akteuren durchführen. Eine inhaltliche Dif‐ ferenzierung der Beziehungen im Sinne einer Unterscheidung zwischen in‐ haltlich unterschiedlich ausgeprägten (z. B. finanziellen, funktionalen oder emotional geprägten) Beziehungen fehlt bisher weitgehend. B UTLE R & W EI ‐ 166 4 Marketing und Management von Destinationen 166 <?page no="167"?> DENF ELD (2012) versuchen zumindest zwischen Kooperationen und Wettbe‐ werb im Verlauf des Destinationslebenszyklus zu unterscheiden. Einen ersten Versuch zur Berücksichtigung von Intensität und Qualität der Netzwerkbeziehungen haben B IE G E R & B E RITELLI (2014) unternommen. Sie analysierten den Einfluss unterschiedlicher Dimensionen auf die Wich‐ tigkeit spezifischer „Knoten“ respektive Akteure. Dabei verwenden sie als zentrale Dimensionen ihrer Analyse eines Destinationsnetzwerkes die bei‐ den innerhalb des Leadership-Kontextes als relevant geltenden Aspekte „Trust“ und „Effective Communication“. Damit haben sie die Grundlage für eine künftige differenziertere Analyse von Netzwerkbeziehungen im Des‐ tinationskontext gelegt. Für zukünftige Analysen im Destinationskontext gilt damit, dass nicht nur die Intensität, sondern auch die Struktur und in‐ haltliche Ausgestaltung von Beziehungsqualitäten unumgänglich ist (vgl. auch Box 17 „Overtourism“ in Kap. 6.3.3). Durch eine zeitliche Dynamisie‐ rung wäre es unter Umständen auch möglich, die Rolle unterschiedlicher Beziehungstypen über den gesamten Destinationsentwicklungsprozess zu verfolgen und damit ihre jeweilige Relevanz in den Stadien der Destinati‐ onsentwicklung zu erforschen. Vor dem Hintergrund der Marktrahmenbe‐ dingungen mit sich akzentuierenden Wettbewerbskonstellationen und den sich wandelnden Bedürfnissen der Reisenden dürfte den Leadership-Ansät‐ zen im Kontext von Innovationsmanagement künftig eine zunehmende Rolle zukommen. 4.4 Herausforderungen im Destinationsmanagement Neben der aktuell laufenden Diskussion über Governance und Leader‐ ship-Ansätze im Destinationsmanagement sind es insbesondere drei Berei‐ che, die als zentrale Herausforderungen angesprochen werden können: 1. Vor dem Hintergrund zunehmend anspruchsvollerer und komplexe‐ 1. rer Aufgaben von DMOs ist die Diskussion über die angemessene Größe des räumlichen Zuschnitts und damit verbunden der perso‐ nellen Kapazitäten relevant. 2. Ebenfalls stark mit den zunehmenden Aufgaben verbunden ist die 2. Diskussion über die Finanzierung der DMOs. 3. Angesichts der Notwendigkeit der Schaffung von Synergieeffekten 3. und der Bündelung von Marketingaktivitäten zur Effizienzsteigerung, 167 4.4 Herausforderungen im Destinationsmanagement 167 <?page no="168"?> aber auch vor dem Hintergrund sich weiter ausdifferenzierender Nachfragemuster, denen nicht immer idealtypisch in statischen räum‐ lichen Zuschnitten entsprochen werden kann, stellt die Entwicklung von flexiblen Kooperationsmustern eine weitere zentrale Heraus‐ forderung dar. 4.4.1 Größenzuschnitte von DMOs Insgesamt gesehen ist die Organisation von regionalen Tourismusaufgaben in Deutschland von einer extremen Aufsplitterung der Zuständigkeiten ge‐ kennzeichnet. Im Rahmen einer umfassenden Recherche konnten von M U S ‐ KAT (2007, S. 129) mehr als 5.000 für den Tourismus auf räumlicher Ebene zuständige Organisationen identifiziert werden. Von diesen ist der weitaus überwiegende Teil nur für das Gebiet einer einzelnen Gemeinde zuständig. Bei einer als repräsentativ anzusehenden Erhebung bei diesen Tourismus‐ organisationen ergab sich, dass mehr als Viertel nur über einen einzigen Beschäftigten verfügen und weitere gut 40 % nur zwischen zwei und vier Mitarbeiter beschäftigen (vgl. Abb. 71). Damit handelt es sich bei vielen für den Tourismus zuständigen Organi‐ sationen um unabhängig auf der Gemeindeebene agierende Einheiten, die im Wesentlichen die Funktion von Tourismusinformationsstellen vor Ort erfüllen können. Übergeordnete strategische Aufgaben der innovativen Pro‐ duktentwicklung, des Qualitätsmanagements, der Marktpositionierung oder den neuen Formen der Marktkommunikation (vgl. Kap. 3.2.4) werden an‐ gesichts der insuffizienten Personalressourcen oftmals nicht oder nur sehr partiell angegangen. Abb.‐Nr.: -71 Abb.‐Titel: -Anzahl-der-Beschäftigten-in-deutschen- Tourismusorganisationen (Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-Muskat-2007,-S.-130) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% 45% genau 1 2 bis 4 5 bis 9 10 bis 19 20 und mehr Abb. 71: Anzahl der Beschäftigten in deutschen Tourismusorganisationen (Quelle: eigene Darstellung nach M U S K A T 2007, S. 130) 168 4 Marketing und Management von Destinationen 168 <?page no="169"?> Entsprechend der Kleinteiligkeit der Tourismusorganisationen kann auch nur etwa jede Vierte mehr als 150.000 Gästeübernachtungen in ihrem Wir‐ kungsbereich verbuchen (M U S KAT 2007, S. 133). Aber nicht nur in der per‐ sonellen, sondern auch bei der finanziellen Ausstattung drückt sich deutlich aus, dass diese angesichts der vielfältigen Aufgaben im Destinationsmarke‐ ting nur sehr begrenzt ausreichend ist. Von M U S KAT (2007, S. 137) wurde ermittelt, dass nur etwa jede siebte Tourismusorganisation über ein Budget von mehr als 500.000 € verfügt. Bei einem Median von gut 100.000 € muss gleichzeitig ein Teil der Tourismusorganisationen mit einem Budget von unter 10.000 € auskommen - ein Betrag, der oftmals bereits mit der Finan‐ zierung einer Teilzeitkraft fast vollständig verbraucht wird. Unabhängig von den notwendigen Ressourcen zur adäquaten Erfüllung der Aufgaben im Destinationsmanagement und -marketing ist noch darauf hinzuweisen, dass auch unter dem Blickwinkel der Markenbildung und der Wahrnehmung durch die potentiellen Besucher (vgl. Kap. 3.2.3) die Zer‐ splitterung als deutlich suboptimal anzusprechen ist. Während der Prozess der Schaffung von leistungsfähigen DMOs in Deutschland nur zögernd an‐ gegangen wird, wurde in der Schweiz bereits Mitte der 1990er Jahre als Leitgröße für leistungsfähige DMOs eine Mindestanzahl von 1 Mio. Über‐ nachtungen und freie Marketingmitteln von 1 Mio. CHF festgelegt (B IE G E R & B E RITELLI 2013, S. 257). Mit der sog. „3. Generation“ von DMOs wird dort inzwischen der nächste Schritt angegangen (vgl. Box 10 „Good Practise Bei‐ spiel: Die Schweizer DMOs der 3. Generation“). Box 10 | Good Practise Beispiel: Die Schweizer DMOs der 3. Ge‐ neration Die Schweiz kann unter dem Blickwinkel der Organisation von DMOs sicherlich als zentraleuropäisches Good Practise Beispiel angesprochen werden. Nach den 1995 und 2005 eingeführten und weitgehend umge‐ setzten DMOs der sog. 1. und 2. Generation wird im Jahr 2015 die sog. „3. Generation“ angegangen. Tourismusorganisationen der dritten Ge‐ neration verfügen nach B IE G E R , L AE S S E R & B E RITELLI (2013, S. 22) idea‐ lerweise über folgende Voraussetzungen: 1. Budget von mindestens 2 Mio. CHF 1. 2. Produktmanager zur Koordinierung der Leistungsträger 2. 3. Fokus der Marktkommunikation auf digitale Kanäle 3. 169 4.4 Herausforderungen im Destinationsmanagement 169 <?page no="170"?> 4. Erschließung neuer Märkte mittels zusätzlicher Ressourcen und 4. Partner 5. Finanzierung zu weniger als 80 % durch lokale Tourismusabgaben 5. (Kurtaxen) und Erschließung eines breiten Mix an unterschiedli‐ chen Quellen 6. Loslösung vom strengen Territorialprinzip und damit Ermögli‐ 6. chung von flexiblen Raumumgriffen bei den Zuständigkeiten 7. Vertreter verfolgen keine Partikularinteressen, sondern stellen die 7. Gesamtentwicklung der Destination in den Vordergrund. Destinationsstrukturen der Zukunft sollen laut B IE G E R , L AE S S E R & B E ‐ RITELLI (2013, S. 16f.) durch folgende Entwicklungsrichtungen geprägt werden: ☐ Stärkere Orientierung an Transformationsrichtungen über die Op‐ ☐ timierung der Destinationsstrukturen hinaus. Damit verbunden auch eine insgesamt stärkere Prozessorientierung. ☐ Stärkere Orientierung an Aufgaben und Produkten, verbunden mit ☐ einer Reduzierung der reinen Territorialitätsorientierung. Damit verbunden Intensivierung der Abstimmungs- und Kooperations‐ prozesse zwischen den unterschiedlichen Ebenen. ☐ Stärkere Orientierung auf Märkte und Marketingprozesse verbun‐ ☐ den mit einer partiellen Reduzierung des Fokus auf die Budgetori‐ entierung. 4.4.2 Finanzierung Die Bereitstellung der für die Erfüllung der Aufgaben im Destinationsma‐ nagement und -marketing notwendigen finanziellen Ressourcen ist einer‐ seits mit dem Größenzuschnitt des Zuständigkeitsbereiches der Tourismus‐ organisationen verbunden. Unabhängig von der Größenstruktur wurde aber die Bereitstellung der nichtrentierlichen Aufgaben lange Zeit als Aufgabe der öffentlichen Hand angesehen. Gleichzeitig profitiert diese von den po‐ sitiven ökonomischen Effekten nur indirekt (z. B. über ein höheres Steuer‐ aufkommen). In den letzten Jahren findet - auch angesichts der knapper werdenden Mittel der öffentlichen Hand - eine zunehmende Diskussion über die Finanzierung der DMOs statt. 170 4 Marketing und Management von Destinationen 170 <?page no="171"?> Grundrichtung der Diskussion ist, dass diejenigen Unternehmen, die von den kooperativen Aufgaben profitieren, sich auch stärker an deren Finan‐ zierung beteiligen sollen. Dabei sind es nicht nur die touristischen Unter‐ nehmen i. e. S., die von den Kaufkraftzuflüssen der Touristen profitieren (vgl. Tab. 4). Aufgaben Vorteilsnehmer Marketingfunktion Alle touristischen Anbieter i. e. S. (Hotels, Tourismusattraktionen) und i. w. S: (Einzel‐ handel etc.), aber auch der Standort als Gan‐ zes im Wettbewerb um Ressourcen (Kapital, Einwohner, Unternehmertum) Angebotsfunktion Gäste und auch Einheimische (soweit sie in ihrer Freizeit die Angebote wahrnehmen) Interessenvertretungs funktion Tourismusbranche Leitbild-/ Planungsfunktion Gesamte Destination (primär touristische Leistungsträger, aber sekundär auch alle an einer Orts- und Regionalplanung Interes‐ sierten) Tab. 4: Kooperative Aufgaben im Destinationsmanagement und Vorteilsnehmer (Quelle: modifiziert nach B I E G E R & B E R I T E L L I 2013, S. 267) Alle Unternehmen in den Destinationen profitieren zu einem gewissen An‐ teil von den Umsätzen im Tourismus. Dies kann einerseits direkt erfolgen, wenn Touristen im - nicht primär auf den Tourismus ausgerichteten - lo‐ kalen Einzelhandel Umsätze tätigen (sei es Lebensmittel einkaufen oder auch als Shopping-Touristen Waren des periodischen Bedarfs kaufen) oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen (z. B. Besuch eines Friseurs während des Urlaubs). Aber zur Wertschöpfung im Tourismus (vgl. Abb. 72) zählen auch die indirekten Wirkungen. Dazu gehören die sog. Vorleistungen, wie z. B. der Verkauf von regionalen Agrarprodukten für den Konsum in Hotels oder Gaststätten, aber auch die Handwerksleistung, die für die Bereitstellung der touristischen Infrastruktur, wie beispielweise die Heizungsanlage in ei‐ nem Hotel, erbracht werden. Zu den indirekten Sekundärwirkungen können aber auch die von den Beschäftigten im Tourismus mit den dort verdienten Einkommen in der Destination getätigten Umsätze gezählt werden (wenn 171 4.4 Herausforderungen im Destinationsmanagement 171 <?page no="172"?> also ein Hotelangestellter von seinem Lohn in der Destination einkauft oder Dienstleistungen nachfragt). Abb.‐Nr.: -72 Abb.‐Titel: - Grundprinzip der Wertschöpfungsberechnung im Tourismus (Quelle: -Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Ausgaben für: • Unterkunft • Verpflegung (LM und Gastronomie) • Einzelhandel • Dienstleistung abzgl. Umsatzsteuer = Nettoprimärumsatz abzgl. Vorleistungen = Wertschöpfung 1. Umsatzstufe (EW 1) abzgl. Vorleistungen = Wertschöpfung 2. Umsatzstufe (EW 2) Arbeitsplatzäquivalente = Bruttoprimärumsatz = Wertschöpfung insgesamt (Nettoumsatz, der zu Gewinnen, Löhnen und Gehältern wird) Abb. 72: Grundprinzip der Wertschöpfungsberechnung im Tourismus (Quelle: eigener Entwurf) In Deutschland werden - auch wenn die Regelungen von Bundesland zu Bundesland etwas unterschiedlich sind - direkte Abgaben aus dem Über‐ nachtungstourismus nur in Form von Kurtaxen oder Übernachtungsausga‐ ben in formal ausgewiesenen Kur- und Erholungsorten erhoben. Diese Lage spiegelt ein historisches Verständnis von „Fremdenverkehr“, der als räum‐ lich klar abgegrenzt und als in definierten Urlaubsorten stattfindend ver‐ standen wurde und gleichzeitig mit Übernachtungen verbunden ist. Einer‐ seits wird dabei die Wertschöpfung durch den Tagestourismus nicht berücksichtigt. Andererseits wird hier z. B. auch der Städtetourismus aus‐ 172 4 Marketing und Management von Destinationen 172 <?page no="173"?> geblendet, der in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Kap. 6.3). In den letzten Jahren wurde insbesondere von Städten, die eben nicht als Erholungsorte anerkannt sind, Ansätze unternommen, durch eine sog. „Bet‐ tensteuer“ Deckungsbeiträge für die Bereitstellung der von Touristen (mit-)genutzten Infrastruktur (kulturelle Einrichtungen, aber auch z. B. an‐ dere von der öffentlichen Hand subventionierte Freizeit- und Mobilitätsan‐ gebote) zu generieren. Die meisten dieser Ansätze sind aufgrund des Bundesverwaltungsge‐ richtsurteils von 2012, dass solche Abgaben nur auf privat motivierte Über‐ nachtungen (d. h. Geschäftsreisen ausgeschlossen wurden) erhoben werden können (OSV 2013, S. 22f.), sowie eine Reihe anderer Gerichtsverfahren mehrheitlich wieder aufgehoben worden. Auch wenn die aktuelle Situation also nicht ganz klar ist, zeichnet sich doch ab, dass die Diskussion um die Finanzierung der Bereitstellung der touristisch relevanten Infrastruktur und die Finanzierung des Destinationsmanagements in den nächsten Jahren si‐ cherlich weiter gehen wird. Als Schwachpunkte der sog. „Bettensteuer“ sind anzusprechen, dass diese einerseits vor dem Hintergrund knapper kommunaler Kassen als Instrument zur Generierung zusätzlicher Einnahmen für die Kommunen angelegt wa‐ ren. Mit der Erhebung der Abgabe war einerseits oftmals keine Zweckbin‐ dung für touristisch relevante Aufgaben verbunden, sondern es sollte der Globalhaushalt der Kommunen entlastet werden. Andererseits wurden keine zusätzlichen für die abgabepflichtigen Beherbergungsbetriebe er‐ kennbaren Leistungen in Aussicht gestellt und - sicherlich auch ein wich‐ tiger Punkt - die touristischen Leistungsträger nicht an der Entscheidung über die Verwendung der generierten Mittel einbezogen. Einen gangbaren Weg zu einer soliden Finanzierung der nichtrentierli‐ chen Ausgaben in Destinationen zeigt das Vorgehen in Österreich auf (vgl. Box 11 „Good Practise Beispiel: Die Tiroler Tourismusfinanzierung“). Dort wurden einerseits durch Ländergesetze flächendeckend sog. „Aufenthalts‐ abgaben“ eingeführt, die direkt von den Tourismusverbänden erhoben wer‐ den. Darüber hinaus werden einerseits die direkten Einnahmen aus dem Tagestourismus sowie die indirekten Wertschöpfungseffekte dadurch be‐ rücksichtigt, dass ein - von Destination zu Destination und in Abhängigkeit des aus dem Tourismus gezogenen Nutzens unterschiedlicher - Promille‐ anteils des Umsatzes als zweckgebundener Beitrag an die Landesregierung abgeführt werden muss. Diese Beiträge werden nach einem transparenten 173 4.4 Herausforderungen im Destinationsmanagement 173 <?page no="174"?> Verteilungsschlüssel zum überwiegenden Teil ebenfalls an die regionalen Tourismusverbände weitergeleitet. Ein kleinerer Teil fließt an die entspre‐ chenden LMO (= Landesmarketingorganisation) bzw. in entsprechende Tou‐ rismusförderfonds. Relevant ist auch, dass die zur Finanzierung herangezo‐ genen Unternehmen auch in entsprechenden Gremien repräsentiert sind, die über die Ausgabenverteilung der generierten Mittel entscheiden. Box 11 | Good Practise Beispiel: Die Tiroler Tourismusfinanzie‐ rung „In dem stark vom Tourismus geprägten österreichischen Bundesland Tirol begann im Jahr 1997 ein einzigartiger Tourismusreformprozess. Der damals zunehmende internationale Wettbewerb führte zu konstan‐ ten Rückgängen bei den Übernachtungen, weshalb beschlossen wurde, die zahlreichen kleinen Tourist-Informationen zu leistungsfähigen re‐ gionalen Einheiten zu fusionieren. Seit 1997 sank die Anzahl der Tou‐ rismusverbände von 247 auf zuletzt 34. Mittelbis langfristig werden zehn Destinationsverbände als ausreichend erachtet. Die Finanzierung der 34 Regionalverbände respektive des Tourismus erfolgt, anders als in Deutschland, nicht auf freiwilliger Basis, sondern ist im Tiroler Touris‐ musgesetz genau geregelt. Sie beruht grundsätzlich auf zwei Säulen: ☐ Die Aufenthaltsabgabe, die zwischen 0,55 Euro und 3,00 Euro liegen ☐ kann, wird direkt von den Beherbergungsbetrieben eingenommen und an die Tourismusverbände abgeführt. Anders als die Kur- und Fremdenverkehrsabgabe in Deutschland wird diese flächendeckend erhoben und ist verpflichtend. ☐ Neben der Aufenthaltsabgabe wird von den Unternehmen fast aller ☐ Branchen ein von mehreren Faktoren abhängiger Beitrag erhoben. Es wird zwischen drei verschiedenen Ortsklassen (Tourismusinten‐ sität) sowie sieben verschiedenen Beitragsgruppen (Profit durch Tourismus) unterschieden. Beispielsweise befinden sich Metaller‐ zeuger in der Beitragsgruppe VII (geringste Beiträge) und der Ein‐ zelhandel je nach Standort und Schwerpunkt in Gruppe II bis IV. Erhoben werden die Beiträge von einer zentralen Stelle des Landes Tirol. Der Großteil der Mittel fließt zurück an die Tourismusver‐ bände und ein kleinerer Teil in einen Tourismusförderfonds, der für 174 4 Marketing und Management von Destinationen 174 <?page no="175"?> die Finanzierung der Dachmarke ‚Tirol Werbung‘ und für Infra‐ strukturmaßnahmen geschaffen wurde. ☐ Der Vorteil des Finanzierungsmodells in Tirol liegt auf der Hand: ☐ Alle Branchen werden an der Tourismusfinanzierung beteiligt, ein kostenloses Trittbrettfahren ist damit nicht möglich. Gleicherma‐ ßen besteht ein relativ ‚krisensicheres Budget‘. Kritisch wird vor allem der Top-Down-Ansatz gesehen, der nur wenig Spielraum für Input von ‚unten‘ lässt. Bezogen auf die Tourismusstrukturen in Deutschland ist eine Übertragbarkeit des Tiroler Modells aufgrund der hohen Interventionen von übergeordneter Stelle nur sehr ein‐ geschränkt möglich“ (OSV 2013, Anhang 5, S. 4). Gleichzeitig war die Einführung einer stabilen und kalkulierbaren Finan‐ zierung der tourismusrelevanten Aufgaben in den Destinationen auch mit einer Umstrukturierung des Destinationszuschnitts und der Reduzierung der Vielzahl von kommunalen Tourismusorganisationen verbunden. Mit diesem Ansatz werden z. B. in Tirol pro Jahr etwa 100 Mio. € an Einnahmen generiert, die für die Aufgaben im Destinationsmanagement und -marketing zur Verfügung stehen. Nur etwas mehr als ein Drittel des Volumens wird über die Aufenthaltsabgabe (berücksichtigt direkte Effekte des Übernach‐ tungstourismus) erzielt. Der weitaus größere Anteil entfällt auf die umsatz‐ abhängigen Beiträge (mit denen indirekte Effekte und der Tagestourismus berücksichtigt werden; OSV 2013, Anhang 5, S. 4). Ähnliche Ansätze sind auch in Südtirol implementiert. Dort wird ebenfalls eine sog. „Gemeindeaufenthaltsabgabe“ erhoben, die nach dem Übernach‐ tungspreis gestaffelt ist. Darüber hinaus kann eine sog. „Landestourismus‐ abgabe“ erhoben werden, die in Abhängigkeit vom Umsatz und gestaffelt nach der Relevanz des Tourismus für das Unternehmen erhoben wird. Die Einnahmen werden dort ebenfalls zweckgebunden für Maßnahmen mit tou‐ ristischer Relevanz verwendet (OSV 2013, Anhang 5, S. 6). Auch in der Schweiz sind Anzeichen erkennbar, dass zur Finanzierung der nichtrentierlichen tourismusbezogenen Ausgaben ähnliche Wege ge‐ gangen werden. Demgegenüber steht die Diskussion in Deutschland erst am Anfang. Gleichzeitig wird das Thema der Finanzierung im Destinationsma‐ nagement in den nächsten Jahren sicherlich noch an Bedeutung gewinnen. Ein weiterer vielversprechender Ansatz zum Umgang mit der Tatsache, dass die Aufgaben im Destinationsmanagement und -marketing einerseits 175 4.4 Herausforderungen im Destinationsmanagement 175 <?page no="176"?> gemeinwirtschaftlichen und andererseits mehr privatwirtschaftlichen Cha‐ rakter aufweisen, wurde in der Destination Lüneburger Heide gegangen. Entsprechend dem Public-Private-Partnership (PPP) Grundprinzip legte das beauftragte Consulting-Unternehmen einen Vorschlags vor, der vorsah, dass die eher übergeordneten (nicht direktrentierlichen) Aufgaben wie die Be‐ reitstellung von zentralen Diensten, der Marktforschung sowie allgemeinen Imagekampagnen und zentralen Unternehmensabläufe in der DMO von der öffentlichen Hand finanziert und verantwortet werden. Die stärker an pri‐ vatwirtschaftlichem Handeln orientierten konkreten Ansätze der Markt‐ kommunikation, aber auch der Produktentwicklung und des Vertriebs dem‐ gegenüber privatwirtschaftlich organisiert und auch finanziert werden (vgl. Abb. 73). Abbildung-73 Geschäftsführung Backoffice/ Zentrale Unternehmensabläufe Controlling, Kostenmanagement Personalwesen Zentrale Dienste Marktforschung EDV/ CRS Bereitstellung von Marktdaten Studien und Projekte Messe, Kataloge Marketing/ PR/ Image PR-Öffentlichkeitsarbeit Internet Marketingkonzept (übergreifend) Imagewirkung Destinations- und Themenmarketing Konzeptionelle Entwicklung Produktentwicklung Marketingstrategie Planung Vertrieb Destinationsmanager Lüneburger Heide Destinationsmanager Aller-Leine-Tal Thema 1: Rad/ Wandern Reiten Aktivurlaub Thema 2: Kultur Wellness Gesundheit öffentlich privatwirtschaftlich Abb. 73: Aufgabenverteilung für öffentliche und private DMO-Aufgaben in der Lüneburger Heide (Quelle: eigener Entwurf modifiziert nach ETI 2007, S. 169) Hinter diesem Ansatz steht die Tatsache, dass ein Zusammenschluss der privaten touristischen Leistungsträger einerseits bereit war, einen signifi‐ kanten Deckungsbeitrag zur Finanzierung der DMO aufzubringen. Ande‐ rerseits sollte er als gleichberechtigter Partner neben den Gebietskörper‐ schaften an der Destinationsmanagementagentur beteiligt werden. 176 4 Marketing und Management von Destinationen 176 <?page no="177"?> Festzuhalten bleibt aber auch, dass Tourismus - anders als die Bereitstel‐ lung von sozialer Infrastruktur oder dem ÖPNV - nicht zu den Pflichtauf‐ gaben der Gebietskörperschaften zählt, sondern als sog. freiwillige Aufgabe eingestuft ist. In Zeiten knapper Kassen in den öffentlichen Haushalten ste‐ hen damit oftmals diese freiwilligen Aufgaben zur Disposition. Unabhängig von der Notwendigkeit, die Unternehmen, die direkt oder indirekt vom Tou‐ rismus profitieren an der Finanzierung von kooperativen Aufgaben zu be‐ teiligen, sei abschließend auch darauf hingewiesen, dass auch die Kommu‐ nen und Bundesländer über die Anteile an der Lohn- und Einkommenssteuer sowie der Umsatzsteuer an der touristischen Wertschöpfung partizipieren. Dementsprechend ist in der Diskussion auch zu berücksichtigen, dass aus diesen Einnahmen auch künftig touristisch relevante Infrastrukturmaßnah‐ men gefördert werden sollte, ohne dass immer auch eine entsprechende Ge‐ genfinanzierung durch wie auch immer geartete Tourismusabgaben vorlie‐ gen muss. Tourismusförderung ist Teil der regionalen Wirtschaftsförderung, in die ebenfalls oftmals Mittel fließen, die nicht direkt gegenfinanziert wer‐ den. Gleichzeitig ist noch nicht bei allen privatwirtschaftlichen Akteuren der touristischen Leistungskette das Bewusstsein vorhanden, dass die über‐ geordneten DMO-Aktivitäten letztendlich ihnen zugutekommen und dem‐ entsprechend auch eine Bereitschaft zur Beteiligung an der Finanzierung notwendig ist. 4.4.3 Flexible Formen der Kooperation Mit bedingt durch die enge Verzahnung von Destinationsmanagement und dem räumlichen Zuschnitt von Gebietskörperschaften lehnt sich die Orga‐ nisation von DMOs oftmals stark an die Gebietszuschnitte von Gebietskör‐ perschaften an. Neben der Gemeindeebene und der Landesebene waren DMOs früher oftmals auf Kreise oder Bezirke bezogen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Destinationen sich aus Sicht der Reisenden eben nicht an administrativen Grenzen orientieren - teilweise auch nationale Grenzen überschreiten - werden regionale DMOs inzwischen mehr und mehr an den konkreten Reisegebieten orientiert. Als ein Good Practise Beispiel kann hier das Bundesland Rheinland-Pfalz angesprochen werden. Dort werden bereits seit den 1960er Jahren die Ab‐ grenzungen der statistischen Reisegebiete nicht auf der Ebene von Kreisen, sondern nach den landschaftlichen Schwerpunkten vorgenommen (vgl. auch Abb. 56 in Kap. 3.2.3). Die in der Folge geschaffenen regionalen DMOs 177 4.4 Herausforderungen im Destinationsmanagement 177 <?page no="178"?> weisen dabei auch Bundesländergrenzen überschreitende Zuschnitte auf. So werden der rheinland-pfälzische und der nordrhein-westfälische Teil der Eifel von einer gemeinsamen DMO vermarktet. Und auch der (hessische) Oberlauf des Lahntals wird von der Rheinland-Pfalz Tourismus GmbH mit vermarktet (vgl. Abb. 56 in Kap. 3.2.3). Gleichzeitig steht auch hinter diesem, an konkreten Reisegebieten orien‐ tierten Zuschnitt des Zuständigkeitsbereiches von regionalen DMOs ein statisches, hierarchisches und territorial orientiertes Verständnis von De‐ stinationen. Dementsprechend ist eine Kommune wie Trier einerseits eine eigenständige städtetouristische Destination, gleichzeitig aber auch Teil des sich entsprechend vermarktenden Landkreises. Sie ist auf der regionalen Ebene Teil des Reisegebiets Mosel und wird auf der Landesebene von der LMO Rheinland-Pfalz Tourismus mit vermarktet, bzw. auf der Bundesebene von der Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT) mit vertreten (vgl. Abb. 74). Abbildung-74 Trier Deutschland R L P Mosel Trier Land Großregion Luxembourg Römisches Trier Mosel Straße der Römer Saar-Hunsrück-Steig Eifel Eifelsteig Historic Highlight of Germany (HHoG) Traditionelles statisches und territoriales Verständnis der Zugehörigkeit im Destinationsmanagement Loslösung von der reinen Territorialorientierung und Flexibilisierung der Interaktionen (hybride Destinationen) Abb. 74: Vom statischen Destinationsverständnis zur hybriden Destinationsauffassung (Quelle: eigener Entwurf) Dieses statische, klar territorial und auch hierarchisch systematisch abge‐ stufte Verständnis von Destinationen berücksichtigt aber die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen der Touristen nicht optimal. Trier mit seinem römerzeitlichen kulturellen Erbe kann von kulturinteressierten Touristen als eigenständige städtetouristische Destination aufgefasst werden und ist 178 4 Marketing und Management von Destinationen 178 <?page no="179"?> dementsprechend natürlich eigenständig zu vermarkten. Gleichzeitig finden sich (auch außerhalb des Landkreises Trier-Saarburg) Relikte des römer‐ zeitlichen kulturellen Erbes. Teile davon liegen auch jenseits der Grenze zu Luxembourg in Echternach. Darüber hinaus ist Trier Teil der sog. „Straße der Römer“, mit der in Rheinland-Pfalz das römerzeitliche Erbe als Dach‐ marke vermarktet wird. Trier ist gleichzeitig Start- und Zielpunkt der Fern‐ wanderwege „Eifelsteig“ und „Saar-Hunsrück-Steig“, liegt am Moselradweg, bzw. den Radwegen von in die Mosel mündenden Nebenflüssen. Im Zuge der grenzüberschreitenden Kooperation zwischen dem Saarland und Rheinland-Pfalz auf deutscher Seite, sowie der Lorraine auf französi‐ scher Seite, der Wallonie auf belgischer Seite und Luxembourg ist Trier Teil der sog. „Großregion (Grande Région). Da Trier alleine in den internatio‐ nalen (insbesondere außereuropäischen) Quellmärkten die Wahrnehmungs‐ schwelle nicht überschreiten kann, ist die Stadt gleichzeitig für diese Ziel‐ gruppe auch Mitglied der Vermarktungskooperation „Historic Highlights of Germany“ (HHoG; vgl. hierzu auch den Box 12 „Die Vermarktungskoope‐ ration ‚Historic Highlights of Germany‘“). Box 12 | Die Vermarktungskooperation „Historic Highlights of Germany“ Große Metropolen wie Berlin, München oder Hamburg sind quasi als „Selbstläufer“ im Destinationsmarketing anzusehen. Sie verfügen einer‐ seits über eine genügend hohe Bekanntheit in den ausländischen Quell‐ märkten, d. h. sind fest in der Wahrnehmung der Nachfrager verankert. Andererseits weisen sie ein so großes Spektrum an Aktivitätsmöglich‐ keiten auf, dass sie oftmals für sich alleine als städtetouristische Desti‐ nation aufgesucht werden. Gleichzeitig werden die 10 wichtigsten städ‐ tetouristischen Destinationen von der DZT als „Magic Cities“ international vermarktet, bzw. unterhalten selbst Vertretungen in den relevanten Quellmärkten. Um der Herausforderung für die städtetouristischen Destinationen der „2. Liga“ zu begegnen, auf den Auslandsmärkten wahrgenommen zu werden, haben sich 14 Städte 1992 zur Vermarktungskooperation in den sog. „Historic Highlights of Germany“ zusammengeschlossen (Augs‐ burg, Erfurt, Freiburg, Heidelberg, Koblenz, Mainz, Münster, Osnabrück, Potsdam, Regensburg, Rostock, Trier, Wiesbaden, Würzburg; www.his‐ toric germany.travel). 179 4.4 Herausforderungen im Destinationsmanagement 179 <?page no="180"?> Über diese Vermarktungskooperation können sich damit auch kleinere städtetouristische Destinationen den Zugang zu internationalen Quell‐ märkten erschließen. Da die Attraktivität einzelner kleinerer städtetou‐ ristischer Destinationen - anders als z. B. im Fall von München oder Berlin - allein für sich nicht ausreicht, um Besucher von außerhalb Eu‐ ropas anzuziehen, wurden Routen konzipiert, mit denen versucht wird, die Besucher in mehrere der Kooperationsstädte zu ziehen. Diese Rund‐ reisen sind jeweils thematisch fokussiert, zu Themenfelder wie Wein, Römer, Romantik oder Reformation und fassen jeweils mehrere Stand‐ orte der HHoG zu einem Paket zusammen. Wichtig ist bei dieser Mar‐ ketingkooperation auch, dass nicht nur Imagekampagnen betrieben und die Informationen über die unterschiedlichen Marktkommunikations‐ kanäle angeboten werden, sondern auch für den Endkunden direkt buchbare Produkte als Bausteinreisen verfügbar sind (genauer bei K A‐ G E RMEIE R 2009). Eine solche Form der Marketingkooperation zur Generierung von Syn‐ ergieeffekten und der Erschließung neuer Märkte - auch mit entspre‐ chend klar markierten Produkten - stellt sicherlich einen Ansatz dar, der sich vom klassischen, statisch-territorialen Verständnis des Desti‐ nationsmarketing löst und Wege in Richtung auf flexible Kooperationen entsprechend einem hybriden Destinationsverständnis weist. Insbesondere für thematisch ausgerichtete und auf spezielle Marktsegmente zugeschnittene Produktlinien entsprechen die klassischen Destinations‐ grenzen oftmals nicht den von den Reisenden nachgefragten räumlichen Umgriffen. Gleichzeitig konzentriert sich das klassische Destinationsmar‐ keting oftmals auf die zentralen Stärken der jeweiligen Destination, z. B. im Fall von Trier der Fokussierung auf das römerzeitliche kulturelle Erbe (A R ‐ LETH & K AG E RMEIE R 2009). Um auch die Nischenpotentiale entsprechend ei‐ genständig in Wert zu setzen, sind flexible Kooperationen gefragt (in Trier z. B. für den Wander- und Fahrrad-, aber auch den Weintourismus).). Um die vielfältigen Bedürfnisse der Reisenden zu charakterisieren, wird oftmals vom sog. „hybriden Konsumenten“ gesprochen (S TEINECKE 2013, S. 38). Dementsprechend kann in Analogie dazu zur Befriedigung der viel‐ fältigen Bedürfnisse auch von „hybriden Destinationen“ gesprochen wer‐ den, die eben nicht mehr nur klassisch auf ein Hauptprodukt und eine 180 4 Marketing und Management von Destinationen 180 <?page no="181"?> Hauptzielgruppe ausgerichtet sind, sondern spezielle Teilsegmente in flexi‐ blen Kooperationen bedienen. Damit ergeben sich allerdings zusätzliche Anforderungen an die Organi‐ sation und die Steuerung dieser Kooperationen als künftige Herausforde‐ rung an das Destinationsmanagement. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Destinationsmanagement sich in den letzten Jahrzehnten angesichts der vielfältigen und zunehmend komplexeren Aufgaben und Herausforderungen deutlich weiterentwickelt hat. Das klassische Klischee von einer lokalen, ehrenamtlich organisierten Fremdenverkehrsinformationsstelle, die lediglich ein paar Broschüren be‐ reithält, ist längst passé. Die Anforderungen an das Marketing und Manage‐ ment von Destinationen haben damit auch zu einer kontinuierlichen Ver‐ änderung des Berufsbilds der von der örtlichen bis zur nationalen Ebene mit diesen Aufgaben betrauten Tourismus-Praktiker geführt. Zusammenfassung ☐ In diesem Kapitel wurden zunächst grundlegende Aspekte des Be‐ ☐ griffes Destination vorgestellt. ☐ Das Destinationsmanagement zeichnet sich durch einen dualen ☐ Charakter aus, das sowohl betriebswirtschaftliche als auch überge‐ ordnete, dem Gemeinwohl verpflichtete Belange zu berücksichti‐ gen sind. ☐ Die organisationalen und strukturellen Bereiche des Destinations‐ ☐ managements befinden sich in einer offenen Diskussion. Eines der zentralen Fragen ist die nach den Steuerungsformen im Zuge des Destination Governance. Hier ist der Findungsprozess von entspre‐ chenden organisationalen Formen noch voll im Gange. ☐ Aber auch grundlegende Aspekte wie die der Größenzuschnitte ☐ oder der Finanzierung der nicht direkt rentierlichen Aufgaben sind nach wie vor noch nicht abschließend geklärt. ☐ Darüber hinaus stellt die Flexibilisierung von gewachsenen hierar‐ ☐ chisch geprägten Strukturen eine der wichtigen Herausforderun‐ gen für eine Optimierung der Marktpräsenz dar. 181 4.4 Herausforderungen im Destinationsmanagement 181 <?page no="182"?> Weiterführende Lesetipps S TEINECKE , Albrecht (2013): Destinationsmanagement. Konstanz/ München Ausführliche Darstellung der Aufgaben im Destinationsmanagement wobei insbesondere auch die Aspekte des Qualitätsmanagements und des Binnenmarketings sowie die Marktrahmenbedingungen intensiver be‐ handelt werden. S AR ETZKI , Anja & Karl-Heinz W ÖHLE R (Hrsg.; 2013): Governance von Destinationen. Neue Ansätze für die erfolgreiche Steuerung touristi‐ scher Zielgebiete. Berlin Zusammenstellung von Beiträgen, mit denen eine vertiefende Beleuch‐ tung unterschiedlichen Facetten aus der Diskussion über Destination Go‐ vernance erfolgt. 182 4 Marketing und Management von Destinationen 182 <?page no="183"?> 5 Tourismus und Nachhaltigkeit Die Nachhaltigkeitsthematik ist eng mit dem Grundansatz des Destinati‐ onsmanagements verbunden. Dieses ist einerseits auf das Austarieren der Ansprüche der Touristen zur Generierung regionalökonomischer Wert‐ schöpfung ausgerichtet. Anderseits ist im Destinationsmanagement aber eben auch die Berücksichtigung der ökologischen und sozialen Rahmenbe‐ dingungen zur Sicherung einer dauerhaften touristischen Nutzung impli‐ ziert, sodass die ökologischen und sozialen Tragfähigkeitsgrenzen einer De‐ stination nicht überschritten werden (vgl. Box 17 „Overtourism“ in Kap 6.3.3). Der Nachhaltigkeitsaspekt zählt gleichzeitig zu einem der konstitu‐ ierenden Bereiche der tourismusgeographischen Herangehensweise, die sich eben gerade dadurch auszeichnet, dass die ökonomischen Aspekte des Tourismus immer integriert in einen größeren gesellschaftlichen, politi‐ schen und auch ökologischen Kontext gesehen werden. Lernziele In diesem Kapitel werden folgende Fragen beantwortet: ☐ Welche Aspekte der Nachhaltigkeitsdiskussion sind im Tourismus ☐ besonders relevant? ☐ Welche Rolle spielt der Tourismus für den Klimawandel und was ☐ bedeutet der Klimawandel im Tourismus? ☐ Welche Ansätze gibt es, Nachhaltigkeitsaspekte stärker im Touris‐ ☐ mus zu berücksichtigen. Die Diskussion über die ökologischen Implikationen des Tourismus entwi‐ ckelte sich parallel zu dessen Verbreitung in weiten Teilen der Bevölkerung in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einerseits kann die Diskussion natür‐ lich als Reaktion auf die damit verbundenen negativen Effekte, der intensi‐ ven Nutzung und Übernutzung natürlicher Ressourcen, aber auch der kul‐ turellen Überprägung angesehen werden. Andererseits fußt ein Teil der Auseinandersetzung auch in der bildungsbürgerlich geprägten Tourismus‐ kritik, die letztendlich in den meisten von uns auch noch verankert ist nach <?page no="184"?> dem Motto: „Die Touristen sind immer die anderen“. Man selbst versteht sich als Reisender, der sich von der touristischen „Masse“ unterscheidet. Der 1958 publizierte Essay von Magnus E NZEN S B E R G E R „Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus“ wird oftmals als Beginn der touris‐ muskritischen Strömung angesehen. In einer Auseinandersetzung mit dem Konzept der Pauschalreise wird diese auf die drei Grundprinzipien, „Nor‐ mung“, „Montage“ und „Serienfertigung“ zurückgeführt. Dabei wird - ent‐ sprechend dem fordistischen Paradigma - ein Leistungsbündel zusammen‐ gestellt (montiert), das als zentrales Element für die weite Verbreitung den Preisvorteil aufweist, da das Angebot nicht mehr wie in den Zeiten der Grand Tour für einzelne Adelige zusammengestellt wird, sondern gleich‐ zeitig für eine größere Zahl von Kunden/ Reisenden konzipiert ist. Mit der als Degenerierung angesehenen Kommodifizierung des Reisens verbunden ist implizit die romantische Sehnsucht nach dem einzigartigen Glückserleb‐ nis, dem „Tourist Gaze“ von U R R Y (1990) mit der Illusion eines exklusiven und authentischen Erlebnisses. Dem entspricht die vielfach zitierte und ebenfalls E NZEN S B E R G E R zugeschriebene Aussage: „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet“. Die Tourismuskritik und die weitere Diskussion wurden - noch weit im Vorfeld der Nachhaltigkeitsdiskussion der 1990er Jahre stark von den Pu‐ blikationen K RIP P ENDO R F s: „Die Landschaftsfresser“ (1982) und „Die Ferien‐ menschen“ (1984) sowie einem Beitrag von Robert J UNGK (1980) beeinflusst, in dem er in seinem „Plädoyer für sanftes Reisen“ dem sog. „harten“ Tou‐ rismus einen Gegenentwurf des sog. „sanften“ Tourismus entgegenstellt (vgl. Tab. 5). „hartes“ Reisen „sanftes“ Reisen ■ Massentourismus ■■ wenig Zeit ■■ schnelle Verkehrsmittel ■■ festes Programm ■■ außengelenkt ■■ importierter Lebensstil ■■ „Sehenswürdigkeiten“ ■■ bequem und passiv ■■ wenig oder keine geistige Vorbe‐ ■ reitung ■ keine Fremdsprache ■■ Überlegenheitsgefühl ■■ Einkaufen („Shopping“) ■ ■ Einzel-, Familien- und Freundes‐ ■ reisen ■ viel Zeit ■■ angemessene (auch langsame) ■ Verkehrsmittel ■ spontane Entscheidungen ■■ innengelenkt ■■ landesüblicher Lebensstil ■■ Erlebnisse ■■ anstrengend und aktiv ■■ vorhergehende Beschäftigung mit ■ dem Urlaubsland ■ Sprachen lernen ■■ Lernfreude ■ 184 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 184 <?page no="185"?> „hartes“ Reisen „sanftes“ Reisen ■ Souvenirs ■■ Knipsen und Ansichtskarten ■■ Neugier ■■ laut ■ ■ Geschenke bringen ■■ Erinnerungen, Aufzeichnungen, ■ neue Erkenntnis Tab. 5: Hartes vs. sanftes Reisen (Quelle: modifiziert nach J U N G K 1980, S. 156) Hinter dieser Diskussion steht zwar sicherlich eben auch ein bestimmtes Elitedenken, das letztendlich auf eine Limitierung hinauslaufen würde, bei der man sich des Reisens als würdig erweisen muss und damit eben nicht jedermann reisen kann. Gleichzeitig ist aber auch anzuerkennen, dass diese tourismuskritische Diskussion der 1980er Jahre das gesellschaftspolitische Bewusstsein für Fehlentwicklungen geschärft hat, und als Vorläufer des am Nachhaltigkeitsparadigma orientierten Tourismus angesehen werden kann. Sanfter Tourismus wird auch heute noch oftmals mit nachhaltigem Touris‐ mus gleichgesetzt. Er soll: ☐ umweltfreundlich sein und ein Interesse an einer möglichst intakten ☐ und wenig beeinträchtigten Landschaft haben, ☐ sozialverträglich sein und dabei die lokale Kultur berücksichtigen, ☐ ☐ zu einer eigenständigen Regionalentwicklung beitragen, ☐ ☐ die Potentiale der einheimischen Kultur fördern. ☐ Dabei ist die Diskussion über sanftes Reisen insbesondere auch vor der Aus‐ einandersetzung mit dem sog. Entwicklungsländertourismus zu sehen, der in den 1970er und 1980er Jahren ebenfalls an Bedeutung zunahm, so dass dessen negative Wirkungen deutlicher hervortraten (vgl. Kap. 7.3). Gleichzeitig ist in der Diskussion - gemäß dem englischen Sprichwort: „You can't make an omelette without breaking eggs“ - immer auch zu be‐ rücksichtigen, dass eben jede (wirtschaftliche) Aktivität des Menschen auch mit ungewollten Konsequenzen verbunden ist. Zwar besteht unbestritten eine der zentralen Herausforderungen im Tourismus sowohl in den Indus‐ trieals auch den Entwicklungsländern darin, die Balance zwischen den in‐ tendierten positiven ökonomischen Effekten und den möglichst zu mini‐ mierenden negativen ökologischen und sozialen Effekte zu finden. Gleichwohl wird in der gesellschaftlichen Diskussion - möglicherweise als Nachwirkung der elitären bildungsbürgerlichen Tourismuskritik der 1980er Jahre -relativ eng auf die negativen Wirkungen abgestellt. 185 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 185 <?page no="186"?> 5.1 Grundlagen der Nachhaltigkeitsdiskussion im Tourismus Trotz einer Reihe von Vorläuferinitiativen in den 1970er und 1980er Jahren - insbesondere zu den ökologischen Problemen - wird der Beginn der ak‐ tuellen Nachhaltigkeitsdiskussion zumeist mit dem sog. „Brundtland-Be‐ richt“ mit dem Titel „Our Common Future“ verbunden, der unter dem Vorsitz der norwegischen Ministerpräsidentin Brundtland 1987 von der United Na‐ tions World Commission on Environment and Development (WCED; = Brundtland-Kommission) veröffentlicht wurde. Die dort vorgelegte Defi‐ nition des Begriffes Sustainable Development bzw. Nachhaltige Entwick‐ lung gilt nach wie vor als das zentrale Leitmotiv der Nachhaltigkeitsdiskus‐ sion: Sustainable development „meets the needs of the present without com‐ promising the ability of future generations to meet their own needs“ (WCED 1987, S. 24). Die Nachhaltigkeitsdiskussion wurde in der Folge dann insbesondere von der 1992 in Rio de Janeiro stattgefundenen „UN Conference on Environment and Development“ (UNCED) weiter befördert. Hingewiesen sei in diesem Kontext auch auf einen Aspekt, der in der Diskussion in den Industrieländern oftmals etwas in den Hintergrund gerät. Die Diskussion entstand im Kontext des Dialogs mit den sog. Entwicklungs‐ ländern. Ziel war es zwar einerseits, das Recht der nachfolgenden Genera‐ tionen auf möglichst intakte Umwelt- und Lebensbedingungen zu sichern. Dieser Aspekt, den materiellen Wohlstand mit der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen in Einklang zu bringen, wurde in der Folge in den Indus‐ trieländern oftmals in den Vordergrund gestellt. Andererseits wird auch das Recht der heutigen Generation - insbesondere derjenigen, die noch in mar‐ ginalisierten, prekären Verhältnissen in den sog. Entwicklungsländern leben - als legitim anerkannt, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, die Armut zu über‐ winden und verbesserte Lebensverhältnisse anzustreben. Dass damit auch wirtschaftliches Wachstum in den sog. Entwicklungsländern verbunden ist, wird in der Diskussion in den Industriestaaten oftmals vernachlässigt. Dabei dürfen aber die globalen ökologischen Tragfähigkeitsgrenzen nicht ge‐ sprengt werden. Mit dem Nachhaltigkeitskonzept wurde ein integrierter Ansatz verfolgt, der vorher oftmals isolierte Diskussionsstränge wie Um‐ weltverschmutzung, Rüstungswettlauf, Verschuldung der sog. 3. Welt, de‐ mographische Entwicklung oder Desertifikation in einen Gesamtzusam‐ 186 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 186 <?page no="187"?> menhang stellt. Da davon ausgegangen wird, dass die aktuellen Konsum- und Lebensweisen in den Industrieländern nicht auf die derzeitige und künftige Weltbevölkerung übertragbar sind, ist eine Änderung der Produk‐ tions- und Konsumptionsmuster unerlässlich, um unannehmbare negative Konsequenzen zu vermeiden. Damit steckt im Begriff Nachhaltigkeit von Anfang an ein Spannungs‐ verhältnis zwischen Wachstum für die sog. Entwicklungsländer und der Re‐ duzierung der ökologischen Belastung vor allem in den Industrieländern. Es wird eben kein „goldenes Zeitalter“ der Nachhaltigkeit in Aussicht gestellt, sondern ein schweres Ringen um Kompromisse zwischen unterschiedlichen Zielsystemen (vgl. Abb. 75). Das Austarieren zwischen den klassischen drei Dimensionen der Nach‐ haltigkeit: Ökonomie, Ökologie und soziale Gerechtigkeit ist grundsätzlich konfliktbehaftet. Damit stellt der Prozess des Austarierens eine große Her‐ ausforderung dar, bei der eben nicht alle Ziele idealtypisch umgesetzt wer‐ den können und entsprechende Zugeständnisse von allen Akteursgruppen mit ihren jeweiligen Zielsetzungen zu machen sind. Nur unter den jeweili‐ gen Partikularblickwinkeln als suboptimal angesehene Lösungen führen zu einer möglichst ausgewogenen Berücksichtigung aller Dimensionen. Abb.‐Nr.: -75 Abb.‐Titel: -Konfliktlinien-zwischen-den-klassischen- drei-Dimensionen-der-Nachhaltigkeit (Quelle: -Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Konflikt bezüglich der Eigentumsrechte Konflikt bezüglich der Entwicklungsmöglichkeiten Ökologisch, ökonomisch und sozial austarierte Entwicklung Soziale Gerechtikeit, wirtschaftliche Entfaltung, gerechte Entlohnung Wirtschafltiches Wachstum Schutz der Umwelt Konflikt bezüglich des Erhalts der natürlichen Rssourcen Abb. 75: Konfliktlinien zwischen den klassischen drei Dimensionen der Nachhaltigkeit (Quelle: eigener Entwurf) 187 5.1 Grundlagen der Nachhaltigkeitsdiskussion im Tourismus 187 <?page no="188"?> Wie in vielen anderen Bereichen hat die Nachhaltigkeitsdiskussion in den Folgejahren auch im Tourismus Eingang gefunden. Die klassische Definition von nachhaltigem Tourismus der UNWTO lautet: „Tourism that takes full account of its current and future economic, social and environmental im‐ pacts, addressing the needs of visitors, the industry, the environment and host communities” (UNEP & UNWTO 2005, S. 12). Damit wird einerseits die klassische Triade der ökonomischen, ökologischen und sozio-kulturellen Dimensionen aufgenommen, gleichzeitig werden die Bedürfnisse von drei Akteursgruppen als gleichwertig nebeneinander gestellt, diejenigen der Be‐ sucher, der Tourismuswirtschaft und der lokalen Bevölkerung. Deren Be‐ dürfnisse sind nicht nur untereinander auszutarieren, sondern gleichzeitig auch unter Berücksichtigung der ökologischen Rahmenbedingungen zu ge‐ stalten. Die Tatsache, dass mit der Differenzierung nach den involvierten Ak‐ teursgruppen statt der klassischen Triade im Tourismus komplexere Wech‐ selbeziehungen bestehen, wird in der Darstellung in Abbildung 76 zum Aus‐ druck gebracht. Gleichzeitig wird auch versucht, die zeitliche Dimension - d. h. die Bedürfnisse künftiger Generationen - mit einzubeziehen. Mögli‐ cherweise auch als Folge der Tourismuskritik der 1980er Jahre wird dabei nachhaltiger Tourismus oftmals verstanden als kleinteiliger naturorientier‐ ter Tourismus. In diesem Zusammenhang werden nachhaltiger Tourismus oftmals als „Ökotourismus“ verstanden und beide Begriffe gleichgesetzt. Es ist das Verdienst von S TRAS DAS , hier eine definitorische Klarheit herbeige‐ führt zu haben. S TRAS DAS (2001) versteht unter Ökotourismus einen natur‐ orientierten Tourismus, der gleichzeitig auch die Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt (= Schnittmenge in Abbildung 77; ähnlich auch: S IE G RI S T , G E S S NE R & K ETTE R E R B ONNELAME 2015, S. 20). Damit wird implizit auch deutlich, dass Naturtourismus nicht immer als nachhaltigkeitsorientiert angesprochen werden kann. Wenn Naturtouris‐ mus weder die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung noch die verursachten ökologischen Schäden berücksichtigt, kann er genauso unnachhaltig sein, wie andere Formen des Tourismus. Implizit wird mit der Darstellung damit auch deutlich, dass es eben keine a priori nachhaltigen Tourismusformen gibt. Letztendlich geht es darum, die unterschiedlichen Tourismusformen möglichst entsprechend den Nachhal‐ tigkeitsprinzipien zu gestalten, bzw. diesen möglichst gut zu entsprechen. Umgekehrt bedeutet dies, dass es eben keine vollständige Erfüllung aller Kriterien der Nachhaltigkeit geben kann, es also keinen Zielzustand im Tou‐ 188 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 188 <?page no="189"?> rismus geben kann, der als 100-prozentig nachhaltig anzusprechen ist. Dies wurde bereits von der UNWTO konzediert: „Moreover, sustainable tourism should not be taken to imply a finite state of tourism. In fact, it is often argued that tourism may never be totally sustainable - sustainable development of tourism is a continuous process of improvement” (UNEP & UNWTO 2005, S. 12). Letztendlich ist es damit möglicherweise auch irreführend, von ei‐ nem “Nachhaltigen Tourismus” zu sprechen. Sprachlich korrekter wäre wohl eine Bezeichnung als „an Nachhaltigkeitskriterien orientiertem“ oder „dem Nachhaltigkeitsparadigma“ folgenden Tourismus. Da sich der - teil‐ weise wohl etwas irreführende, da einen idealen Zielzustand versprechen‐ den - Begriff des nachhaltigen Tourismus aber allgemein durchgesetzt hat, soll er auch im weiteren Verwendung finden, dabei aber im Sinne der gerade formulierten inhaltlichen Bedeutung als Prozess und eben nicht als ein fixer teleologisch aufgefasster Endzustand verstanden werden. Abb.‐Nr.: -76 Abb.‐Titel: -Zielsystem-für-einen-nachhaltigen- Tourismus-(Quelle: -Eigener-Entwurf-nach-R EVERMANN &-P ETERMANN 2003,-S.139) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Gestaltungsrecht zukünftiger Generationen wirtschaftlicher Wohlstand Subjektive Wohlbefinden der Einheimischen, Mitarbeiter Optimale Befriedigung der Gästewünsche intakte Natur / Ressourcenschutz intakte Kultur Abb. 76: Zielsystem für einen nachhaltigen Tourismus (Quelle: eigener Entwurf nach R E V E R M A N N & P E T E R M A N N 2003, S. 139) 189 5.1 Grundlagen der Nachhaltigkeitsdiskussion im Tourismus 189 <?page no="190"?> Abbildung-77 Nachhaltiger Tourismus Strandtourismus Kulturtourismus Geschäftsreisen Naturtourismus Ökotourismus Abb. 77: Formen eines nachhaltigen Tourismus (Quelle: eigener Entwurf nach S T R A S D A S 2001, S. 8) 5.2 Klimawandel und Luftverkehr Spätestens seit der Jahrtausendwende ist der Aspekt des Klimawandels in der Nachhaltigkeitsdiskussion in den Vordergrund gerückt bzw. hat andere Aspekte teilweise deutlich in den Hintergrund treten lassen. Dabei nehmen die negativen Konsequenzen des energieintensiven und damit auch in gro‐ ßem Umfang Treibhausgase emittierenden Luftverkehrs einen großen Raum ein. Da der Luftverkehr im Wesentlichen touristisch motiviert ist, rückt da‐ mit auch der Tourismus verstärkt in den Blickwinkel der Diskussion. Tourismus als Quelle der CO2-Emission Wie in Kapitel 2.1.2 bereits angesprochen hat die Bedeutung des Flugzeugs als Reiseverkehrsmittel in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen und dementsprechend sind auch die zur Erreichung der Reiseziele zurück gelegten Entfernungen angestiegen. Gleichzeitig ist der Luftverkehr - auch vor dem Hintergrund neuer Geschäftsmodelle von LCC (vgl. 3.1.3) - insge‐ samt überproportional gewachsen. Der tourismusbedingte Energieverbrauch beläuft sich auf etwa 5 % der weltweiten CO 2 -Emissionen. Gleichzeitig steuert der Tourismus aber welt‐ weit größenordnungsmäßig 10 % zum Bruttoinlandsprodukt bei und schafft global Arbeitsplätze in gleicher Größenordnung. Der Tourismus kann damit insgesamt gesehen - etwa im Vergleich zur Landwirtschaft als energie- und CO 2 -effizienter Wirtschaftssektor eingestuft werden. Allerdings entfielen 190 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 190 <?page no="191"?> bereits im Jahr 2005 gut 40 % der tourismusbedingten CO 2 -Emissionen auf den Flugverkehr (vgl. Abb. 78). Abb.‐Nr.: -78 Abb.‐Titel: -CO 2 ‐Emissionen-des-Tourismussektors im Jahr 2005-und-Prognose 2035-(Quelle: -Eigene- Darstellung-nach-UNWTO-2007,-S.-18) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 500 1.000 1.500 2.000 2.500 3.000 2005 2035 Mio. t CO 2. Aktivitäten Unterkunft Andere Transportmittel Pkw-Verkehr Flugverkehr Abb. 78: CO2-Emissionen des Tourismussektors im Jahr 2005 und Prognose 2035 (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO 2007, S. 18) Bei einem Status-quo-Szenario, d. h. unveränderten Tendenzen bei der pro‐ gnostizierten Zunahme des Reiseverkehrs und einer weiterhin zunehmen‐ den Anteil des Luftverkehrs, würde einerseits der Tourismus nicht zu einer Reduzierung der CO 2 -Emission betragen und sich andererseits der Anteil des Luftverkehrs an den touristisch bedingten CO 2 -Emissionen auf mehr als die Hälfte belaufen. Vom WWF wurde 2008 eine Vergleichsberechnung unterschiedlicher Ur‐ laubsreisen vorgelegt (vgl. Abb. 79). Dort wird anschaulich aufgezeigt, in welchen Maß interkontinentale Fernreisen zum CO 2 -Ausstoß beitragen. Aber auch die Flugreisen in den Mittelmeerraum (Mallorca bzw. Anreise zu Kreuzfahrt mit dem Flugzeug) schlagen mit gut 1.200 kg CO 2 deutlich stärker zu Buche als Reisen in Zentraleuropa (zwischen 200 und 400 kg CO 2 als ökologischer Fußabdruck). 191 5.2 Klimawandel und Luftverkehr 191 <?page no="192"?> Abb.‐Nr.: -79 Abb.‐Titel: -Treibhausgas‐Emissionen-pro-Person-und Reise-(CO 2 ‐Equivalänte) (Quelle: -Eigene-Darstellung- nach-WWF,-2008,-S.-14) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 2.000 4.000 6.000 8.000 Strandurlaub Mallorca Kultururlaub Norditalien All-Inclusive-Urlaub Mexiko Familienurlaub Rügen Gesundheitsurlaub Allgäu Skiurlaub Österreich Mittelmeer-Kreuzfahrt in kg CO 2 An- und Abreise Unterkunft Verpflegung Aktivitäten Abb. 79: Treibhausgasemissionen pro Person und Reise (CO 2 -Äquivalänte) (Quelle: eigene Darstellung nach WWF, 2008, S. 14) Dabei unterscheiden sich die CO 2 -Emissionen von Flugzeugen pro Sitzplatz‐ kilometer kaum von denen eines mit zwei oder drei Personen besetzten Pkws. Damit ist es vor allem der Faktor Entfernung, der als entscheidender Einfluss‐ faktor für die CO 2 -Emissionen anzusprechen ist. Umgekehrt bedeutet dies, dass eine Stärkung des Binnentourismus indirekt als Ansatz zur Reduzierung der CO 2 -Emissionen anzusprechen ist. Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass bei Reisen innerhalb von Zentraleuropa die Wahl des Verkehrs‐ mittels unter dem Klimaaspekt nur von sekundärer Bedeutung ist. Eine Pkw-Anreise in ein Urlaubsziel in Zentraleuropa ist immer weniger klimare‐ levant als eine Reise in weiter entfernt liegende Urlaubsziele, d. h. die Desti‐ nationsentscheidung spielt eine größere Rolle als die Verkehrsmittelwahl. Von Seiten der Luftfahrtindustrie und der Reiseveranstalter wird zwar in‐ zwischen auf die Diskussion eingegangen. Dabei beschränken sich die inten‐ dierten Maßnahmen aber meist auf Effizienzsteigerungen durch technische Innovationen, die auf einen energieverbrauchsoptimierten Betrieb abzielen oder Maßnahmen in den Zielgebieten. Die grundsätzliche Problematik von langen Distanzen und dem hohen Flugverkehrsanteil wird demgegenüber kaum thematisiert. Offen ist auch die Frage, ob längerfristig eine Umstellung auf (aus regenerativ erzeugtem Strom) Wasserstoff als Antriebsmittel eine 192 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 192 <?page no="193"?> CO 2 -neutrale Alternative darstellen könnte. Prinzipiell bietet der Luftverkehr hierfür durchaus systembezogene Vorteile gegenüber dem viel heterogener organisierten Autoverkehr (vgl. Box 13 „CO 2 -Neutralität als Herausforderung im Luftverkehr“). Auch auf der Seite der Reisenden besteht hinsichtlich des Klimawandels ein deutliches Gap zwischen dem Bewusstsein und der Bereitschaft sein ei‐ genes Handeln entsprechend zu verändern. E I J G ELAAR (2011) konnte anhand der Synopse der Ergebnisse von drei verschiedenen Studien aus unter‐ schiedlichen europäischen Ländern aufzeigen (vgl. Abb. 80), dass sich zwar der größte Teil der Bevölkerung der Problematik des Klimawandels bewusst ist und ein erheblicher Teil Klimakompensationsmaßnahmen kennt. Auch wird von einem Teil der Bevölkerung die prinzipielle Bereitschaft bekundet, für Klimakompensationsmaßnahmen eigene finanzielle Beiträge zu leisten. Abb.‐Nr.: -80 Abb.‐Titel: -Wahrnehmung-der-Klimarelevanz-des- Flugreisens-und-Handlungsbereitschaft-(Quelle: - Eigene-Darstellung-nach-E IJGELAAR 2011,-S.-287) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 20% 40% 60% 80% 100% Bewusstsein Klimawandel Kenntnis Klimakompensation Kenntnis Flug-Klimakompensation Kenntnis Auswirkungen Reiseverkehr Bereitschaft Kompensation zu zahlen Bereitschaft Flugreisen zu reduzieren Veränderte Reisemuster Kompensationsmaßnahmen gebucht Eijgelaar Hooper Gössling Abb. 80: Wahrnehmung der Klimarelevanz des Flugreisens und Handlungsbereitschaft (Quelle: eigene Darstellung nach E I J G E L A A R 2011, S. 287) Gleichzeitig besteht aber ein großer Unterschied zwischen der Äußerung ei‐ ner prinzipiellen Bereitschaft zum Handeln und dem konkreten gleichzeiti‐ gen Buchen von Klimakompensationsmaßnahmen bei der Flugbuchung. Diese Option wird von einer Reihe von Fluggesellschaften direkt im Bu‐ 193 5.2 Klimawandel und Luftverkehr 193 <?page no="194"?> chungsmenü mit angeboten, kann aber auch bei Umweltorganisationen wie z. B. atmosfair (www. atmosfair.de) separat gebucht werden. Auch die Bereit‐ schaft, seine Reisemuster zu verändern, wird nur von einem geringen Teil der Bevölkerung signalisiert und noch weniger haben bereits aufgrund der Dis‐ kussion über den Klimawandel ihr konkreten Reiseverhalten geändert. Im Zuge der Diskussion über den Klimawandel wurden im Jahr 2007 auch einige entsprechende Fragen in die Reiseanalyse der FUR aufgenommen. Dabei ergibt sich ein weitgehend ähnliches Bild. Während durchaus Bereit‐ schaft besteht, das alltägliche Verhalten entsprechen anzupassen (Strom sparen, weniger Auto fahren, in der Nähe einkaufen), ist die Bereitschaft, das Reiseverhalten zu ändern deutlich niedriger ausgeprägt (FUR 2007, S. 2). Dabei hat sich insbesondere auch herausgestellt, dass gerade diejenigen Reisenden, die viel reisen, in weiter entfernt liegende Destinationen reisen und das Flugzeug nutzen, deutlich unterproportionale Bereitschaft zeigen, diese Reisemuster zu verändern (vgl. Tab. 6). Verhaltensoptionen Zielgruppe aus Reiseverhalten 2006 mache ich schon habe ich in Zukunft vor auch nicht in Zukunft weniger Urlaubs‐ reisen eine Urlaubsreise 27 % 13 % 39 % Mehrfachreisende 20 % 12 % 61 % eine „lange“ statt mehrere „kurze“ Mehrfachkurzreisende 19 % 13 % 48 % Ziel in der Nähe Mittelmeerreisende 11 % 10 % 59 % Bahn statt Auto/ Flug Autoreisende 16 % 14 % 49 % Flugreisende 8 % 15 % 58 % auf Flugreisen verzichten Flugreisende 0 % 7 % 67 % freiwillige Abgabe bei Flug Flugreisende 5 % 22 % 50 % Tab. 6: Akzeptanz von touristischen Verhaltensoptionen nach Zielgruppen (Quelle: FUR 2007, S. 3) 194 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 194 <?page no="195"?> Abb.‐Nr.: -81 Abb.‐Titel: -Auswirkungen-des-Klimawandels-im- Tourismus--(Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-UNWTO- 2009,-S.-5) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 1. Direct climatic impacts ● Warmer Summer ● Warmer winters ● Precipitation change (water supply) ● Increased extreme events 2. Indirect environmental change impacts ● Biodiversity loss (terrestrial and marine) ● Sea Level Rise ● Disease 3. Impact of mitigation policies on tourist mobility ● Travel costs and destination choice (less long haul? / less plane? ) 4. Indirect societal change impacts ● Global/ regional economic impacts ● Increase security risks (social/ governance disruption) Changes in tourism demand patterns Water shortage and diminished quality Damage to tourism infrastructure and tourism use areas (e.g. beaches) Loss of attractiveness of natural areas and tourism sites Health risks for tourists and locals Secondary and knock-off effects in tourism-related sectors Abb. 81: Auswirkungen des Klimawandels im Tourismus (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO 2009, S. 5) Box 13 | CO2-Neutralität als Herausforderung im Luftverkehr Vor dem Hintergrund der Diskussionen über den Klimawandel und die Notwendigkeit einer Dekarbonisierung ist auch der Tourismus gefor‐ dert. Angesichts der aktuell hohen tourismusbedingten Treibhausgas‐ emissionen des Luftverkehrs sind insbesondere hier Lösungen notwen‐ dig. Dabei scheinen freiwillige Ansätze auf der Seite der Reisenden zu weniger Flugreisen bzw. zu einer freiwilligen Kompensation der ver‐ sursachten CO 2 -Emissionen nur begrenzt tragfähig. Auch wenn erste Fluggesellschaften inzwischen bereits Kompensationen in den Flugpreis inkludieren, kann die Lösung nicht dauerhaft in einer Kompensation liegen, da dies bedeuten würde, dass in anderen Regionen (vor allem des globalen Südens) bzw. anderen Wirtschaftsbereichen entsprechende CO 2 -Einsparungen realisiert werden müssten und damit Ungleichge‐ wichte zwischen dem Tourismus und anderen Bereichen entstehen wür‐ den. Angesichts zunehmenden Wohlstands in den bevölkerungsreichen 195 5.2 Klimawandel und Luftverkehr 195 <?page no="196"?> Staaten Asiens erscheint es auch nicht realistisch, von einer Abnahme des Luftverkehrs insgesamt auszugehen. Nachdem die Autoren viele Jahre Überlegungen zu einer Reduzierung des Luftverkehrs verfolgt hatten, legten S COTT et al. 2016 Berechnungen vor, die akzeptieren, dass mittelfristig von einer Zunahme des Luftver‐ kehrs auszugehen ist. Unter dieser Prämisse wurden Modellberechnun‐ gen über die Kosten einer Dekarbonisierung, sprich Umstellung auf CO 2 -neutrale Treibstoffe entwickelt. Die Kosten einer Reduzierung der CO 2 -Emissionen um 50 % bis zum Jahr 2050 werden dabei auf 2.135 Mrd. US$ geschätzt. Dies erscheint zunächst eine unvorstellbar große Summe. Herunter gebrochen auf die für 2030 prognostizierten 1,8 Mrd. interna‐ tionale Reisen würde dies allerdings „nur“ eine Verteuerung jeder Reise um 38 US$ bedeuten (S COTT et al. 2016, S. 65). Damit ist die Politik ge‐ fordert, entsprechende Rahmenbedingungen zu setzen, dass einerseits entsprechende finanzielle Instrumente zur Bepreisung der CO2-Emis‐ sionen des Flugverkehrs implementiert werden. Andererseits wären die Einnahmen dann in die Entwicklung von CO 2 -freien Alternativen zu investieren. Da batterieelektrische Lösungen im Luftverkehr aus Ge‐ wichtsgründen weitgehend entfallen, bietet sich kurzfristig die Erzeu‐ gung von synthetischem Kerosin (über Power-to-Liquid aus regenerativ erzeugtem Strom, vgl. UBA 2016) an, das bereits heute dem normalen Kerosin beigemischt werden könnte. Längerfristig könnte auch eine Umstellung auf das energetisch effizientere Power-to-Gas-Verfahren mit Wasserstoffantrieben angestrebt werden (genauer z. B. in: FVV 2016). Nicht gelöst werden damit allerdings die Nicht-CO 2 -Effekte des Luftverkehrs (z. B. Treibhausrelevanz von Kondensstreifen). Tourismus als Betroffener des Klimawandels Ohne dies an dieser Stelle vertiefend behandeln zu können, sei kurz darauf hingewiesen, dass der Tourismus nicht nur als ein bedeutender CO 2 -Emit‐ tent anzusehen ist. Von den Folgen des Klimawandels können auch manche Destinationen betroffen werden. Von der UNWTO (2008, vgl. Abb. 81) wur‐ den die möglichen Auswirkungen dem Klimawandels in vier Hauptkatego‐ rien zusammengefasst. Dabei werden einerseits die direkten Auswirkungen der Erwärmung (heißere Sommer bzw. wärmere Winter) und die damit ver‐ bundenen meteorologischen Effekte (veränderte Niederschlagsvolumina bzw. Zunahme von Extremereignissen wie Starkregen oder Stürme) ge‐ 196 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 196 <?page no="197"?> nannt. Andererseits sind es indirekte natürliche Auswirkungen der Klima‐ veränderung (Verlust an Biodiversität und damit an Anziehungskraft von naturorientierten Destinationen, der Anstieg des Meeresspiegels oder die verstärkte Ausbreitung von Krankheiten). Neben den natürlichen Konsequenzen ist durchaus auch denkbar, das ge‐ sellschaftspolitische Reaktionen auf den Klimawandel dann wiederum Rückwirkungen auf den Tourismus aufweisen. Hier könnte insbesondere eine politisch gewollte Verteuerung von fossilen Brennstoffen (z. B. durch eine Kerosinabgabe) zu veränderten Nachfragemustern im Flugverkehr füh‐ ren. Während die direkten und indirekten natürlichen Konsequenzen noch grundsätzlich abzusehen sind und auch eine politisch gewollte Verteuerung von fossilen Brennstoffen - zumindest in den Industrieländern - mittelfris‐ tig wohl zu erwarten sein dürfte, sind die darüber hinausgehenden wirt‐ schaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Effekte des Klimawandels (von den Veränderungen der landwirtschaftlichen Produktionsregime über Klimaflüchtlinge oder Abschottungsmechanismen) nur mit einem hohen Unsicherheitsgrad prognostizierbar. Dementsprechend sind auch die daraus resultierenden Effekte auf den Tourismus aktuell nicht mit hoher Progno‐ sesicherheit abzusehen. In Zentraleuropa wird aktuell davon ausgegangen, dass gravierende Fol‐ gen insbesondere im Skitourismus eintreten werden. Eine Faustformel für die Rentabilität von Skiliften ist, dass diese an mindestens 100 Tagen im Jahre (100-Tage-Regel) betrieben werden müssen, um rentabel zu sein (vgl. A B E GG et al. 2007, S. 29). Diese Grenze liegt aktuell bei etwa 1.200 Höhenmetern. Eine durchschnittliche Temperaturerhöhung um 2 Grad in den nächsten 30 bis 50 Jahren würde diese Grenze auf 1.500 m und eine Temperaturerhöhung um 3 Grad sogar auf 1.800 m ansteigen lassen. Im letzteren Fall würden zwei Drittel der heutigen Skigebiete in den Alpen die 100-Tage-Regel nicht mehr erfüllen (A B E GG et al. 2007, S. 32). Auch wenn inzwischen eine Reihe von Analysen und Handlungsempfehlungen vorliegen, die auf Adaptions- und Mitigationsstrategien - wie z. B. eine stärkere Fokussierung auf den Ganz‐ jahrestourismus - abzielen (vgl. z. B. M ÜLLE R & W E B E R 2008), steckt die Auseinandersetzung mit den Folgen des Klimawandels im Tourismus noch „in den Kinderschuhen“. Von den Akteuren vor Ort wird nach wie vor eine Art „Vogel-Strauß-Politik“ verfolgt, wobei dies im Falle der Wintersportorte bedeutet, dass immer noch das „Nachrüsten“ mit Schneekanonen als Hand‐ lungsleitbild fungiert. 197 5.2 Klimawandel und Luftverkehr 197 <?page no="198"?> Negative Auswirkungen des Klimawandels sind außerhalb von Zentral‐ europa insbesondere in den Mittelmeer-Anrainerstaaten sowie generell in den sog. Entwicklungsländern der Subtropen und Tropen zu erwarten. Hö‐ here Temperaturen, Wassermangel und Desertifikationsprozesse drohen gerade in den Ländern, die große Hoffnungen in den Tourismus als wirt‐ schaftlichen Entwicklungsmotor setzen, die Basis zu gefährden (genauer z. B. bei Deutsche Bank Research 2008). Destinationen in den gemäßigten Breiten (Nordwest-Europa, Zentraleu‐ ropa und Skandinavien) könnten demgegenüber teilweise von einer Erhö‐ hung der Durchschnittstemperatur im Zuge des Klimawandels profitieren, auch wenn z. B. zunehmende extreme Niederschlagsereignisse oder die Zu‐ nahme von Stürmen für manche naturorientierten Tourismusformen (Wan‐ der- und Radtourismus) möglicherweise dämpfend wirken. Allerdings lie‐ gen hierzu kaum belastbare Befunde und Prognosen vor (genauer z. B. bei R EIN & S TRAS DAS 2015, S. 50ff.). Der Herausforderung des Klimawandels im Tourismus und der Notwen‐ digkeit von entsprechenden Adaptions- und Mitigationsstrategien wird bis‐ lang global gesehen erst partiell entsprochen. Von der WTO wird konstatiert, dass von den Destinationsgruppen, die die eine besonders hohe Vulnerabi‐ lität hinsichtlich der Auswirkungen des Klimawandels im Tourismus auf‐ weisen (vgl. Abb. 82) in Südamerika, Afrika, dem Mittleren Osten sowie Süd- und Ostasien ein „Knowledge Gap“ zu konstatieren ist. Das Bewusstsein um die Folgen und die Einsicht in die Notwendigkeit von entsprechenden Maß‐ nahmen ist aber auch bei den wirtschaftlichen und politischen Akteuren in den anderen „Hot Spots“, vom Mittelmeerraum über die Karibik, Australien bis hin zu Pazifischen und Indischen Ozean (insbesondere mit seinen Insel‐ staaten) nur mäßig vorhanden (UNWTO 2008, S. 101). Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass die Folgen des Klimawan‐ dels im Tourismus weder in Zentraleuropa noch global bislang in angemes‐ sener Weise wahrgenommen werden und damit auch entsprechende Auf‐ fangstrategien als eine der zentralen Herausforderungen - insbesondere auch im Destinationsmanagement - anzusehen sind. 198 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 198 <?page no="199"?> 12 Abbildung-82 Nordamerika WS, WW, EE, W, LB, MSA Nordeuropa WS, WW, LB, MSA, S Regional Knowledge Gaps Hotspot WS = Warme Sommer WW = Warme Winter EE = Zunahme Extremer Ereignisse MSA = Meeresspiegelanstieg LB = Land Biodiversität MB = Marine Biodiversität W = Wasserknappheit PD = Politische Destabilisierung S = Ausbrechen von Seuchen RKA = Anstieg der Reisekosten durch politische Migrationsmaßnahmen Karibik WS, EE, W, MB, MSA, S, RKA Afrika WS, W, LB, MB, PD, RKA Mittlerer Osten WS, W, PD Süd-/ Ost- Asien EE, MB, MSA. PD, S Pazifischer Ozean EE, W, LB, MB, MSA, RKA Südamerika EE, LB, MB, RKA Mittelmeer WS, W, LB, MB, S Indischer Ozean EE, W, LB, MB, MSA, RKA Australien WS, WW, EE, W, MB, MSA, S, RKA Abb. 82: Geographische Verteilung von Hauptwirkungen des Klimawandels in Destinationsgruppen (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO 2008, S. 101) 199 5.2 Klimawandel und Luftverkehr 199 <?page no="200"?> 5.3 Ansätze für ein Nachhaltigkeitsmanagement im Tourismus Einleitend wurde bereits konstatiert, dass eine an den Nachhaltigkeitsprin‐ zipien orientierte Strategie eben nicht bedeutet, sich auf kleine Nischen für spezielle Zielgruppen zu beschränken und nur kleinteilige Anbieterstruk‐ turen zu favorisieren. Auch wenn dies - teilweise eben auch in der Tradition der Tourismuskritik der 1980er Jahre - immer noch bei manchen Beiträgen zur Thematik durchschimmert. Damit stellt sich die Herausforderung, auch im Volumengeschäft für breite Zielgruppen die Prinzipien der Nachhaltig‐ keit stärker zu verfolgen. Unter dem Blickwinkel auf die Gesamtwirkung des Tourismus ist es eben effektiver, wenn auch der Volumenmarkt etwas mehr an den Nachhaltigkeitskriterien orientiert ist, als wenn versucht wird, sich auf eine kleine Nische zu beschränken und diese möglichst umfassend entsprechend den Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zu gestalten. Trotz einer inzwischen seit 20 Jahren laufenden Diskussion über das Pa‐ radigma der Nachhaltigkeit sind nur wenige Anzeichen erkennbar, dass sich Reisende und die touristischen Leistungsträger freiwillig in ihrem Handeln an diesem Leitmotiv orientieren. Von der FUR wurden im Auftrag des Bun‐ desministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) in der Reiseanalyse 2014 Spezialfragen zum Themenbereich aufge‐ nommen und in einem entsprechenden Bericht vorgelegt (FUR 2014). Dabei wurde deutlich, dass nur ein kleinerer Teil der Bevölkerung von sich angibt, auf Nachhaltigkeitsaspekte bei Urlaubsreisen zu achten (vgl. Abb. 83). Al‐ lerdings kann nicht überprüft werden, inwieweit diese Selbsteinschätzung Nachhaltigkeitskriterien erfüllen würde. Abb.‐Nr.: -83 Abb.‐Titel: -Bedeutung-von-Nachhaltigkeitsaspekten- bei-Urlaubsreisen-(Quelle: -Eigene-Darstellung-nach- FUR-2014,-S. 8) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 22% 61% 15% 24% 4,5 5 5,5 Achte bei meinen Urlaubsreisen immer sehr auf Nachhaltigkeit Würde meine Urlaubsreise gerne nachhaltig gestalten Nachhaltigkeit bei Urlaubsreisen ist mir persönlich nicht wichtig Stimme keiner dieser Aussagen zu Abb. 83: Bedeutung von Nachhaltigkeitsaspekten bei Urlaubsreisen (Quelle: eigene Darstellung nach FUR 2014, S. 8) 200 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 200 <?page no="201"?> Abgesehen von einem Teil der Bevölkerung, der offen ausspricht, dass Nachhaltigkeitsaspekte für ihn bei Urlaubsreisen keine Bedeutung haben, gab die Mehrheit der Befragten eine prinzipielle Bereitschaft an, Urlaubs‐ reisen nachhaltiger zu gestalten. Dabei kann vermutet werden, dass vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeitsdiskussion diese Antwortoption mögli‐ cherweise auch durch Vorstellungen sozialer Erwünschtheit beeinflusst worden ist. Einen Hinweis auf die Belastbarkeit der prinzipiellen Bereit‐ schaft können die genannten Hinderungsgründe für nachhaltigkeitsorien‐ tierte Reiseverhaltensmustern liefern (vgl. Tab. 7). Ich würde meine Urlaubsreisen gerne nachhaltig gestalten, dabei wäre es mir eine Hilfe, wenn: damit keine zusätzlichen Kosten verbunden wären 55 % meine Urlaubswünsche auch dann erfüllt werden 49 % ich mehr Information dazu bekäme 43 % es für Nachhaltigkeit ein klares Siegel/ Gütezeichen gäbe 42 % auch die Mobilität vor Ort gesichert wäre 31 % die Suche nach Angeboten nicht so mühsam wäre 30 % ich eine Beratung (im Reisebüro) bekäme 22 % es genau so etwas für meine Vorstellung des Reisens gäbe 21 % Tab. 7: Hürden für nachhaltiges Reiseverhalten (Quelle: FUR 2014, S. 10) Dabei wird deutlich, dass einer der zentralen Gründe für einen verstärkte Nachhaltigkeitsorientierung die (vermuteten) zusätzlichen Kosten darstel‐ len. Wie bereits beim Flugverkehr angesprochen (vgl. Abb. 80 in Kap. 5.2), ist die Bereitschaft, Kompensationszahlungen für Ressourcenverbrauch zu leisten, gering. Gleiches gilt aber auch hinsichtlich der Zahlungsbereitschaft („willingness to pay“) für Produkte, die unter dem Nachhaltigkeitsprinzip folgenden Gesichtspunkten produziert worden sind. B R OHLBUR G & G R ONAU konnten anhand einer Befragung bei Urlaubsgästen auf Zypern aufzeigen, dass je nach Zielgruppe nur ein Siebtel bis ein Drittel der Gäste bereit wäre, einen Aufschlag für die Erfüllung von Nachhaltigkeitskriterien zu bezahlen, wobei mehrheitlich dann ein nur relativ geringer Aufschlag von ein bis fünf Prozent akzeptiert würde (B R OHLBUR G & G R ONAU 2011, S. 148¸ähnlich R EIN 201 5.3 Ansätze für ein Nachhaltigkeitsmanagement im Tourismus 201 <?page no="202"?> & S TRAS DAS 2015, S. 170). Das sog. „Value-Action-Gap“, d. h. die Diskrepanz bzw. Inkonsistenz zwischen den Einstellungen und dem Verhalten erweitert sich mit zunehmenden Opportunitätskosten. Ökologische und soziale Im‐ plikationen des Reiseverhaltens werden zwar als relevant, aber zumeist eben nicht als Kernnutzen angesehen, für den Einschränkungen in Kauf genom‐ men oder zusätzliche Kosten akzeptiert werden. Ähnliches gilt auch für die Anbieterseite. Diese ist am ehesten bereit sol‐ che Aspekte der Nachhaltigkeit zu implementieren, bei denen ein direkter ökonomischer Nutzen durch reduzierte Kosten unmittelbar sichtbar wird (Wassersparmaßnahmen, Reduzierung des Energieeinsatzes; vgl. z. B. Green Capital & CSR Sydney 2008, S. 11). Angesichts der allerdings heute noch relativ niedrigen Faktorkosten, in denen die ökologischen Konsequenzen der Ressourceninanspruchnahme nur sehr partiell eingepreist sind, werden selbst hier noch nicht alle Möglichkeiten ausgenutzt. Insbesondere Einspar‐ möglichkeiten, die sich nur über einen mittelfristigen Zeitraum amortisie‐ ren, werden nur zögerlich von den Betrieben angegangen. Ein weiterer Aspekt, der auch bei der o. g. FUR-Studie (vgl. Tab. 7) als mög‐ licherweise relevant identifiziert worden ist, ist eine an Nachhaltigkeitskrite‐ rien orientierte Zertifizierung. Dabei gibt es wohl nicht zu wenig Umwelt- oder Nachhaltigkeits-Gütesiegel und Zertifizierungen. Vielmehr ist es angesichts der Vielfalt für den Reisenden oft gar nicht so einfach, sich ent‐ sprechend zu orientieren. Von der Agentur ECOTRANS werden weltweit 150 an Nachhaltigkeitsaspekten orientierte Labels und Zertifizierungen gezählt (2014; www.destinet. eu). Die Reisenden - aber auch die Leistungsträger - stehen damit einer fast „Dschungel“ zu nennenden Vielfalt von Gütezeichen gegenüber. Die Funktion der Gütezeichen, die ähnlich wie bei einer Marke (vgl. Abb. 54 in Kap. 3.2.2) dem Reisenden Orientierung und den touristischen Leistungsträgern ein Distinktionsmerkmal bieten sollen, ist damit nicht ein‐ deutig gegeben. Gleichzeitig erwarten sich die Leistungsträger von der Inves‐ tition in die Zertifizierung vor allem ökonomische Vorteile (Verbesserung der Marktchancen und des Images, Wettbewerbsvorteile; vgl. Abb. 84). Die intrinsische Motivation, etwas zum Schutz der Umwelt beizutragen, ist demgegenüber weniger stark ausgeprägt. Als Gründe, die gegen eine Nutzung von an Nachhaltigkeitskriterien orientierten Zertifizierungen sprechen, werden neben den damit verbundenen Kosten (bzw. dem Auf‐ wand) vor allem auch Fragen nach dem realen Nutzen, d. h. der Schaffung von Wettbewerbsvorteilen bzw. der Honorierung durch den Kunden, ange‐ geben (vgl. z. B. Green Capital & CSR Sydney 2008, S. 19). Auch die Vielzahl 202 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 202 <?page no="203"?> der unterschiedlichen Zertifizierungsansätze führt sowohl bei den Betrieben als auch den Kunden zur Verunsicherung, sodass aktuell (ohne dass die Zahl genau angegeben werden kann) von R EIN & S TRAS DAS (2017, S. 276) ge‐ schätzt wird, dass nur zwischen 1 % und 5 % der touristischen Unternehmen in Europa zertifiziert sind. Auch der 2001 gestartete Ansatz des Bundesum‐ weltministerium (BMU) und des Umweltbundesamtes (UBA), mit der Um‐ weltdachmarke „Viabono“ die Vielfalt der Zertifizierungsansätze in Deutschland zu vereinheitlichen, hat - trotz der Einbeziehung einer Vielzahl von tourismusrelevanten Organisationen - bislang noch nicht den „Durch‐ bruch“ gebracht (www.viabono.de). Von den ca. 85.000 touristischen Unter‐ nehmen in Deutschland sind nur wenige hundert Lizenznehmer von Via‐ bono, sodass die kritische Wahrnehmungsschwelle bei den potentiellen Kunden nicht überschritten wird. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass mit Vi‐ abono der Weg gegangen worden ist, klar den Kundennutzen in den Vor‐ dergrund zu stellen. Die Marktkommunikation an den Endkunden stellt nicht primär auf die Nachhaltigkeitsaspekte ab, sondern betont die Genuss- und Erlebnisaspekte. Die Betonung der Nähe und von Tourismusangeboten in Deutschland könnte dabei indirekt zu einer Reduzierung der unnachhal‐ tigen Implikationen des Tourismus beitragen. Abb.‐Nr.: -84 Abb.‐Titel: -Gründe-für-die-Nutzung-des- Umweltzeichens-Blauer-Engel-(Quelle: -Eigene- Darstellung-nach-Daten-UBA-1998,-S.-16) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 20% 40% auf Wettbewerber reagieren Anforderungen des Handels genügen das Image verbessern Wettbewerbsvorteile ausnutzen zum Schutz der Umwelt beitragen Kundenerwartungen erfüllen Marktchancen der Produkte verbessern Abb. 84: Gründe für die Nutzung des Umweltzeichens Blauer Engel (Quelle: eigene Darstellung nach Daten UBA 1998, S. 16) Angesichts der Herausforderung, an Nachhaltigkeitsaspekten orientierte Tourismusangebote aus der „Ökonische“ heraus zu bringen, hat das Kon‐ 203 5.3 Ansätze für ein Nachhaltigkeitsmanagement im Tourismus 203 <?page no="204"?> sortium „Verbundpartner INVENT“ im Auftrag des Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) eine Segmentierung der deutschen Nach‐ frageseite unter dem Blickwinkel der Ansprechbarkeit für Aspekte der Nachhaltigkeit vorgenommen (vgl. Abb. 85). Abb.‐Nr.: -85 Abb.‐Titel: -INVENT‐Zielgruppen-für-einen- nachhaltigen-Tourismus-(Quelle: -Eigene-Darstellung- nach-Verbundpartner-INVENT-2005,-S. 8) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Traditionelle Gewohnheitsurlauber 16% Kinder- und Familien- Orientierte 14% Sonne-, Strand-, Pauschal- Urlauber 20% Junge Fun- und Action-Urlauber 11% Unkonventionelle Entdecker 10% Anspruchsvolle Kulturreisende 15% Natur- und Outdoor- Urlauber 14% Abb. 85: INVENT-Zielgruppen für einen nachhaltigen Tourismus (Quelle: eigene Darstellung nach Verbundpartner INVENT 2005, S. 8) Ziel des INVENT-Verbunds war es, „INnovative VErmarktungskonzepte Nachhaltiger Tourismusangebote für den Massenmarkt“ zu entwickeln. Auf der Basis der Zielgruppensegmentierung wurde für die jeweiligen Zielgrup‐ pen versucht, Handlungsansätze zu entwickeln, sowie diese für an einzelnen Aspekten der Nachhaltigkeit orientierte Angebotselemente sensibilisiert und adressiert werden können. Grundprinzip war dabei, am Nutzen für den Touristen anzusetzen und damit indirekt Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Bei Kinder- und Familien‐ orientierten sollte z. B. die Sauberkeit der Strände betont werden. Gleich‐ zeitig konnten aber auch mit diesem Ansatz keine überzeugenden Konzepte vorgelegt werden, „Junge Fun- und Actionurlauber“ oder „Sonne-, Strand-, Pauschalurlauber“ zu adressieren, sodass die Wirkung des Projektes letzt‐ endlich gering blieb. Insgesamt ist zu konzedieren, dass trotz der bereits seit mehr als einem Vierteljahrhundert laufenden Nachhaltigkeitsdiskussion Ansätze, durch 204 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 204 <?page no="205"?> Zertifizierungen oder durch eine entsprechende Zielgruppenansprache, eine klarere Orientierung an Nachhaltigkeitsaspekten auf breiter Ebene zu er‐ reichen, als nur begrenzt erfolgreich anzusehen ist. Während auf der An‐ bieterseite im Wesentlichen die ökonomischen Aspekte im Vordergrund des Handelns stehen, dominiert auf der Nachfrageseite der hedonistische Aspekt des persönlichen Urlaubsgenusses. Nachhaltigkeitsaspekte sind für beide Akteursgruppen eher sekundär. Auch wenn die in den letzten Jahren in manchen Bereichen erzielten Erfolge nicht in Abrede gestellt werden sollen, stellt damit dieser Bereich eine der zentralen Herausforderungen für das - eben auch den Gemeinwohlaspekten verpflichteten - Destinationsmanage‐ ment dar. Gleichzeitig kann die Nachhaltigkeitsdiskussion im Tourismus nicht un‐ abhängig von den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen gesehen werden (vertiefend z. B. bei R EIN & S TRAS DAS 2015, S. 162ff.). Energieauf‐ wändige Flugreisen gehören aktuell genauso selbstverständlich zu den Kon‐ summustern wie ganzjährig frisches Obst und Gemüse zu konsumieren, wobei dann saisonabhängig die Kiwis aus Neuseeland, die Trauben aus Süd‐ afrika und die Birnen aus Argentinien stammen. Auch Wein aus Chile oder Australien ist für den Konsumenten - unabhängig von Nachhaltigkeitsge‐ sichtspunkten - eine Selbstverständlichkeit. Hier sind sicherlich auch die politischen Akteure gefordert, die „wahren Kosten“ nicht nur im Verkehrs‐ bereich, sondern eben auch beim Konsum anderer Ressourcen (Wasser, Landschaft) in den Endverbraucherpreisen durchzusetzen. Gleichzeitig sind die politischen Akteure gefordert, durch entsprechende gesetzliche Vorgaben die Rahmenbedingungen für eine stärkere Nachhal‐ tigkeitsorientierung zu schaffen, auch indem Unternehmen verpflichtet werden, entsprechende Zertifizierungen oder Nachhaltigkeitsberichte vor‐ zulegen (genauer z. B. zum verpflichtenden CSR Reporting bei R EIN & S TRAS DAS 2015, S. 258). Zusammenfassung ☐ Die Nachhaltigkeitsdiskussion im Tourismus nimmt tourismuskri‐ ☐ tische Diskurse über negative Folgen aus früheren Jahrzehnten wieder auf. ☐ Die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsbelangen steht im Span‐ ☐ nungsfeld, einerseits die Bedürfnisse der Reisenden und anderer‐ 205 5.3 Ansätze für ein Nachhaltigkeitsmanagement im Tourismus 205 <?page no="206"?> seits die Bedürfnisse der Bewohner in den Destinationen einzube‐ ziehen. ☐ Gleichzeitig wurde am Beispiel der Diskussion über den Klimawan‐ ☐ del deutlich, dass Tourismus, der auf intakte soziale und ökologische Rahmenbedingen in den Destinationen angewiesen ist, sowohl Ver‐ ursacher von Problemen als auch Betroffener der daraus resultie‐ renden Konsequenzen sein kann. ☐ Sowohl auf der Seite der tourismuswirtschaftlichen Akteure als ☐ auch auf Seiten der Reisenden ist nur partiell Bereitschaft vorhan‐ den, Nachhaltigkeitsgesichtspunkte freiwillig beim eigenen Han‐ deln umzusetzen. ☐ Damit sind einerseits insbesondere die Akteure im Destinations‐ ☐ management gefordert, den Nachhaltigkeitsgesichtspunkten Rech‐ nung zu tragen. Andererseits kann Nachhaltigkeit im Tourismus nicht unabhängig von den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedin‐ gungen gesehen werden, sodass hier auch auf die übergeordneten politischen Konstellationen zu verweisen ist. Weiterführende Lesetipps R EIN , Hartmut & Wolfgang S TRAS DAS (Hrsg.; 2017): Nachhaltiger Tou‐ rismus. Einführung. 2. Auflage, Konstanz/ München Über die in diesem Buch aus Platzgründen nur kursorisch behandelten Nachhaltigkeitsaspekte deutlich hinausgehende, differenzierte Einfüh‐ rung in das Themenfeld. Klimawandel, Biodiversität und Tourismus werden ebenso vertiefend aufbereitet, wie Fragen des nachhaltigen Konsums und nachhaltiges Tourismusmanagement. Deutsche Bank Research (2008): Klimawandel und Tourismus: Wohin geht die Reise? Frankfurt (www.dbresearch.de) Gute Einführung in die Grundlagen der Diskussion zum Klimawandel im Tourismus mit räumlich differenzierter weltweiter Darstellung von Folgen des Klimawandels. 206 5 Tourismus und Nachhaltigkeit 206 <?page no="207"?> 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung Die wirtschaftliche Basis Deutschlands ist stark von der Industriegüterpro‐ duktion geprägt. Durch den Industriegüterexport werden Devisen generiert, die einerseits im Gegenzug den Import von Waren aus anderen Ländern ermöglichen. Andererseits werden diese Devisen auch bei Urlaubsreisen ins Ausland ausgegeben. Aufgrund der hohen Handelsbilanzüberschüsse galt Deutschland lange Zeit als „Exportweltmeister“ und aufgrund der hohen Ausgabevolumina bei Outgoing-Reisen gleichzeitig als „Reiseweltmeister“. Dementsprechend hat in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts der Anteil der Auslandsreisen zugenommen (vgl. Kap. 2.1.2). Gleichzeitig spielte der Inco‐ ming-Tourismus lange Zeit keine große Rolle in seiner Funktion als Devi‐ senbringer. Die politische Bedeutung des Tourismus wurde - wenn über‐ haupt - vor allem darin gesehen, in peripheren ländlichen Gebieten mit wenig anderen wirtschaftlichen Potentialen Einkommenseffekte und Ar‐ beitsplätze zu genieren. Neben der regionalökonomischen und regionalent‐ wicklungspolitischen Relevanz des Tourismus zeichnet sich aber ab, dass die Rolle des Tourismus für die gesamte Volkswirtschaft an Bedeutung gewin‐ nen dürfte. Auch wenn Deutschland nach wie vor hohe Handelsbilanzüber‐ schüsse erwirtschaftet, sind doch inzwischen klare Deindustrialisierungs‐ tendenzen zu konstatieren. Viele früher im Land produzierte Konsumgüter werden inzwischen aus anderen Ländern mit niedrigerem Lohnniveau, sei es aus asiatischen Staaten oder Osteuropa importiert. Es ist absehbar, dass sich - ähnlich wie in den letzten Jahren im Konsumgüterbereich - auch im Investitionsgüterbereich, der zurzeit noch als Domäne der deutschen Ex‐ portwirtschaft angesehen wird, andere Staaten erfolgreich als Mitbewerber auf den globalisierten Märkten positionieren werden. Mittelfristig ist davon auszugehen, dass die Position der deutschen Exportwirtschaft zumindest nicht einfacher wird. Damit stellt sich die Herausforderung, mittelfristig auch andere Quellen zur Generierung von Devisen zu erschließen. Hier kann dem bislang kaum beachteten Incoming-Tourismus künftig eine erhöhte Relevanz als eine Op‐ tion zur Kompensation des Imports von Industriegütern zukommen. Gleich‐ <?page no="208"?> zeitig ist zu konstatieren, dass der Incoming-Sektor in Deutschland nur schwach ausgeprägt ist. Nur etwa 18 % der Übernachtungen entfallen auf Ausländer. Insgesamt wurden in ganz Deutschland im Jahr 2019 mit knapp 90 Mio. Übernachtungen von Ausländern (Statistisches Bundesamt 2020) z. B. weniger Übernachtungen realisiert als allein auf Mallorca. Da ein er‐ heblicher - wenn auch nicht genau zu quantifizierender - Teil der Über‐ nachtungen von Ausländern in Deutschland gleichzeitig als Geschäftsrei‐ setourismus anzusprechen ist, ist der rein freizeitorientierte internationale Übernachtungstourismus in Deutschland noch deutlich schwächer ausge‐ prägt als dies die Globalzahlen suggerieren. Gleichzeitig wurde bei der Behandlung von Nachhaltigkeitsaspekten im Tourismus in Kapitel 5 deutlich, dass die Betonung der Nähe im Tourismus aufgrund des geringeren Distanzüberwindungsaufwandes und der damit verbundenen niedrigeren CO 2 -Emissionen prinzipiell die Nachhaltigkeits‐ orientierung fördert. Die Behandlung des Deutschlandtourismus in diesem Kapitel steht damit einerseits vor dem Hintergrund der ökonomischen Re‐ levanz dieses Wirtschaftssektors und kann andererseits indirekt als am Nachhaltigkeitsparadigma orientiert angesehen werden. Lernziele In diesem Kapitel werden folgende Fragen beantwortet: ☐ Welche volkswirtschaftliche Rolle spielt der Tourismus in Deutsch‐ ☐ land? ☐ Welche Typen von Hauptreisegebieten gibt es? ☐ ☐ Welches sind die organisationalen Grundmuster im Deutschland‐ ☐ tourismus? ☐ Welche wichtigen Produktlinien bestimmen den Deutschlandtou‐ ☐ rismus und wie ist deren Entwicklungstendenz. 6.1 Räumliche Grundmuster der touristischen Nachfrage Während nur ein knappes Drittel der 70 Mio. Urlaubsreisen der Deutschen (über 5 Tage) auch eine deutsche Destination als Ziel hat (vgl. Abb. 17 in Kap. 2.1.2), führen die gut 90 Mio. Kurzurlaubsreisen (2-4 Tage, ohne Ta‐ 208 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 208 <?page no="209"?> gestouristen) nach den Ergebnissen der Reiseanalyse zu zwei Drittel in deutsche Destinationen (vgl. Abb. 86). Dabei weisen die Bundesländer Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vor‐ pommern und Niedersachsen aufgrund des Badetourismus an der Nord- und Ostseeküste erhebliche Anteile an den längeren Urlaubsreisen auf. Auch in Bayern mit seinem Anteil an den Alpen und dem Alpenvorland entfällt noch ein knappes Viertel der Urlaubsreisen auf längere Urlaube. Große Teile der bundesdeutschen Destinationen sind aber als eindeutige Kurzurlaubsziele zu charakterisieren. Besonders deutlich wird dies bei den Stadtstaaten Ber‐ lin, Hamburg und Bremen. Abb.‐Nr.: -86 Abb.‐Titel: -Anteile-der-Urlaubsreisen-in-inländische- Urlaubsländer-(Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-Daten- FUR-2019,-S. 35) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 2 4 6 8 10 12 14 Mecklenburg-Vorpommern Bayern Schleswig-Holstein Niedersachsen Baden-Württemberg Nordrhein-Westfalen Brandenburg Berlin Sachsen Thüringen Rheinland-Pfalz/ Saarland Hessen Sachsen-Anhalt Hamburg Bremen in Mio. Reisen > 5 Tage 2 bis 4 Tage Abb. 86: Anteile der Urlaubsreisen in inländische Urlaubsländer (Quelle: eigene Darstellung nach Daten FUR 2019, S. 35) 209 6.1 Räumliche Grundmuster der touristischen Nachfrage 209 <?page no="210"?> Box 14 | Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Tourismus Der Anteil der von Touristen in der Bundesrepublik Deutschland nach‐ gefragten Güter und Dienstleistungen in Höhe von 97 Mrd. € trug im Jahr 2010 direkt mit 4,4 % zur gesamten Bruttowertschöpfung der Volks‐ wirtschaft bei. Bei Einbeziehung der indirekten Effekte errechnen sich 9,7 % der Bruttowertschöpfung. Davon entfallen etwa 80 % auf den freizeit‐ orientierten Tourismus (Privatreisen), während der Geschäftsreisetouris‐ mus nur ca. 20 % ausmacht. Bei den Privatreisen im Binnentourismus entfallen drei Fünftel auf Tagesreisen. Die Ausgaben von ausländischen Touristen belaufen sich auf lediglich 13 %. Etwa ein Viertel der Wert‐ schöpfung wird in Bereichen erwirtschaftet, die nicht primär auf den Tourismus ausgerichtet sind (Einzelhandel, sonst. Dienstleistungen). Die direkte Beschäftigungswirkung der 2,9 Mio. dem Tourismus zu‐ zuordnenden Beschäftigen entspricht einem Anteil von 7,0 % der Er‐ werbstätigen in Deutschland. Mit den induzierten Beschäftigungswir‐ kungen ergibt sich ein Anteil von 12,0 %. Damit liegt der Beitrag des Wirtschaftsfaktors Tourismus an der Brut‐ towertschöpfung über derjenigen der Automobilindustrie, des Bauge‐ werbes oder des Erziehungs- und Unterrichtswesens (Zahlen nach BMWi & BTW 2012, S. 4). Aber auch Bundesländer mit einem hohen Anteil an Mittelgebirgsdestina‐ tionen wie Sachsen oder Rheinland-Pfalz werden vor allem für Kurzurlaube besucht. Die einzelnen Bundesländer, weisen deutlich unterschiedliche Rei‐ sevolumina auf. Die höchste Zahl von Nennungen entfällt auf Bayern, ge‐ folgt von Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. Von den Flächen‐ bundesländern entfallen die wenigsten Nennungen auf Thüringen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Allerdings sind bei diesen Angaben zum freizeitorientierten Binnentourismus weder Reisen von Ausländern noch Geschäftsreisen (die allerdings auch in der amtlichen Statistik nicht ausge‐ wiesen sind) erfasst. Seit einigen Jahren wird vom statistischen Bundesamt die Raumkategorie „Reisegebiete“ in der amtlichen Übernachtungsstatistik geführt. Diese orien‐ tieren sich in manchen Bundesländern, wie z. B. Rheinland-Pfalz oder Meck‐ lenburg-Vorpommern, in denen flächendeckende Reisegebiete offiziell aus‐ 210 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 210 <?page no="211"?> gewiesen sind, an den Landes-DMO-Strukturen und sind dort auch stabil. In anderen Bundesländern, wie z. B. Bayern gibt es nur eine partielle Überein‐ stimmung mit den landesspezifischen Abgrenzungen und diese haben sich auch seit der Einführung teilweise verändert. Für die kartographische Dar‐ stellung wird die Abgrenzung von 2017 verwendet. Die Reisegebiete entspre‐ chen mehr dem Destinationsbegriff als die sonst üblichen administrativen Einheiten (z. B. Kreise) und wurden deshalb für die Darstellung gewählt. In Abbildung 87 sind die Übernachtungen in den Reisegebieten differen‐ ziert nach Übernachtungen von Inländern und Ausländern dargestellt. Dabei lassen sich relativ klar vier unterschiedliche Typen von Hauptdestinationen in Deutschland unterscheiden: 1. Küsten an Nord- und Ostsee 1. 2. Städte 2. 3. Mittelgebirge 3. 4. Alpen und Alpenvorland. 4. Deutlich wird die Konzentration der Übernachtungen in den drei nördlichen Flächenbundesländern auf die Nord- und Ostseeküste. Auch die großen Städte pausen sich klar als touristische Magnete heraus. Die südlich der Norddeutschen Tiefebene von der Eifel bis zur Sächsischen Schweiz quer durch Deutschland verlaufende Mittelgebirgsschwelle ist ebenfalls als mar‐ kantes Band von Konzentrationen des Übernachtungstourismus zu erken‐ nen. Eifel, Sauerland, Harz, aber auch die Rhön, der Thüringer Wald, das Erzgebirge und die Sächsische Schweiz sind klare Schwerpunkte des Über‐ nachtungstourismus. Gleiches gilt auch für den Schwarzwald und den Baye‐ rischen Wald, sowie das Alpenvorland. Abgesehen vom küstenorientierten Tourismus, der zwar im Sommer zum Teil als Badetourismus zu charakterisieren ist, darüber hinaus aber eben auch das Naturerlebnis beim Spazierengehen, Wandern oder Radfahren bzw. die Gesundheitskomponente enthält, dominieren in Deutschland zwei Des‐ tinationskategorien. Einerseits die Städte mit ihrem kulturhistorischen Po‐ tential und den vielfältigen Möglichen von kulturellen Aktivitäten (im wei‐ teren Sinn). Andererseits der ländliche Raum mit einem Schwerpunkt in den Mittelgebirgen, dem Alpenvorland und an der Küste mit einem anziehenden abwechslungsreichen landschaftlichen Potential. Hier sind es insbesondere die Tourismusformen des Wander- und Radfahrtourismus sowie des ge‐ sundheitsorientierten Tourismus, die das Angebotsprofil prägen. Dement‐ sprechend wird im Folgenden auch der Fokus auf diese drei Tourismusfor‐ 211 6.1 Räumliche Grundmuster der touristischen Nachfrage 211 <?page no="212"?> men gelegt - im Bewusstsein, dass damit im Rahmen des Studienbuches auch eine Vielzahl von Nischensegmenten ausgeblendet wird. Abb.‐Nr.: -87 Abb.‐Titel: -Übernachtungen-von-Inländern-und- Ausländern-im-Jahr-2017 nach-Reisegebieten-(Quelle: - Eigener-Entwurf-nach-Daten-Statistisches-Bundesamt- 2018) Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Prignitz Ruppiner Land Uckermark Barnimer Land Seenland Oder- Spree Dahme- Seenland Spreewald Niederlausitz Elbe Elster Land Fläming Havelland Potsdam Lausitzer Seenland Rügen/ Hiddensee Vorpommern Mecklenburgische Ostseeküste Westmecklenburg Mecklenburgische Schweiz und Seenplatte Dresden Chemnitz Leipzig Oberlausitz/ Niederschlesien Sächsische Schweiz Sächsisches Elbland Erzgebirge Sächsisches Burgen- und Heideland Vogtland Harz und Harzvorland Halle, Saale, Unstrut Anhalt-Wittenberg Magdeburg, Elbe- Börde- Heide Altmark Eichsfeld Hainich Kyffhäuser Saaleland Städte Eisenach, Erfurt, Jena, Weimar Südharz Thüringer Rhön Thüringer Vogtland Thüringer Wald Übriges Thüringen Nordsee Ostsee Holsteinische Schweiz Übrig. Schleswig- Holstein Ostfriesische Inseln Nordseeküste Ostfriesland Unterelbe- Unterweser Oldenburger Land Oldenburger Münsterland Grafschaft Bentheim- Emsland- Osnabrücker Land Mittelweser Lüneburger Heide Weserbergland Hannover- Hildesheim Braunschweiger Land Harz Eifel und Region Aachen Niederrhein Münsterland Teutoburger Wald Sauerland Siegerland- Wittgenstein Bergisches Land Bonn und Rhein- Sieg- Kreis Köln und Rhein- Erft- Kreis Düsseldorf und Kreis Mettmann Ruhrgebiet Bergisches Städtedreieck Kassel- Land Waldecker Land Werra- Meissner Land Kurhessisches Bergland Waldhessen Marburg- Biedenkopf Lahn-Dill Westerwald- Lahn- Taunus Vogelsberg und Wetterau Rhön Spessart- Kinzigtal- Vogelsberg Main und Taunus Rheingau- Taunus Odenwald- Bergstrasse- Neckartal Ahr Eifel Hunsrück Mosel- Saar Naheland Pfalz Rheinhessen Rheintal Westerwald- Lahn Nordsaarland Bliesgau Übriges Saarland Nördlicher Schwarzwald Mittlerer Schwarzwald Südlicher Schwarzwald Nördliches Baden-Württemberg Region Stuttgart Schwäbische Alb Württembergisches Allgäu Bodensee Hegau Naturpark Altmühltal Fichtelgebirge Fränkische Schweiz Fränkisches Seenland Fränkisches Weinland Frankenalb Frankenwald Haßberge Rhön Romantisches Franken Spessart- Mainland Städteregion Nürnberg Steigerwald Bayerischer ald Oberpfälzer Wald Ostbayerische Städte Allgäu Bayerisch- Schwaben München Münchener Umland Oberbayerns Städte Ammersee- Lech Starnberger Fünf- Seen- Land Pfaffenwinkel Zugspitz- Region Tölzer Land Tegernsee- Schliersee Ebersberger Land Inn-Salzach Berchtesgadener Land Chiemsee Chiemgau Bayerischer Jura Bayerisches Golf- und Thermenland Obermain. Jura Coburg Rennsteig Berlin Bremen Hamburg Inländer Ausländer 20 Mio. 10 Mio. Übernachtungen 1 Mio. 5 Mio. Abb. 87: Übernachtungen von Inländern und Ausländern im Jahr 2017 nach Reisegebieten (Quelle: eigener Entwurf nach Daten Statistisches Bundesamt 2018) 212 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 212 <?page no="213"?> Gleichzeitig zeigt sich in Abbildung 87 auch deutlich, dass der Anteil von ausländischen Gästen in den städtischen Destinationen besonders ausge‐ prägt ist. Demgegenüber können viele der ländlichen geprägten Destinatio‐ nen - insbesondere in den östlichen Bundesländern, sowie beim küstenori‐ entierten Tourismus an Nord- und Ostsee - nur relativ wenige ausländische Touristen ansprechen. Abgesehen davon, dass ein Teil der ausländischen Übernachtungen zwar auf den Geschäftsreisetourismus zurückzuführen ist, gilt verkürzt der Grundsatz: Incoming Tourismus in Deutschland ist zum großen Teil Städtetourismus. Tourismus im ländlichen Raum zieht in Deutschland vorwiegend deutsche Gäste an. Eine für ländliche geprägte Destinationen überdurchschnittliche Anziehungskraft auf ausländische Gäste üben die Eifel, die Mosel und der Rhein in Rheinland-Pfalz, das Sau‐ erland in NRW, der Schwarzwald in Baden-Württemberg sowie partiell auch der Alpenvorraum aus. Die Destinationen in Rheinland-Pfalz und im Sau‐ erland profitieren von der Nähe zum niederländischen und belgischen Quell‐ markt und ziehen vornehmlich ausländische Gäste aus diesen Ländern an. Der Schwarzwald wird insbesondere von ausländischen Touristen aus der benachbarten Schweiz, den Niederlanden und auch Frankreich frequentiert, wobei im Schwarzwald sogar etwa die Hälfte der ausländischen Übernach‐ tungen in Baden-Württemberg generiert werden. Auch wenn der Anteil des Incoming-Tourismus in Deutschland aufgrund der früher stark im Vordergrund stehenden Orientierung auf den sekundä‐ ren Sektor relativ niedrig ist, hat er sich doch in den letzten Jahren deutlich erhöht. Der Anteil von Übernachtungen ausländischer Gäste konnte seit 1992 von 12 % 1992 auf 18 % im Jahr 2019 gesteigert werden (Statistisches Bundesamt 2020). Dies ist ein Hinweis, dass sich Deutschland in den letzten Jahrzehnten erfolgreich im touristischen Wettbewerb positionieren konnte und die Anstrengungen zur Produktgestaltung und Qualitätssteigerung ih‐ ren Niederschlag finden. Dabei haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten sowohl die Ankünfte als auch die Übernachtungen positiv entwickelt (vgl. Abb. 88). Die Grund‐ tendenz wird dabei nur von kleineren konjunkturbedingten Dellen, wie z. B. der Bankenkrise 2009 beeinflusst. Dass die Ankünfte seit 1992 um etwa 110 % angestiegen sind, während die Übernachtungszahlen nur halb so stark (um 55 %) zugenommen haben, ist ein klarer Hinweis auf die deutliche Zunahme von Kurzreisen (insbesondere in die Städte; vgl. Kap. 6.3). Dabei wuchsen seit 1992 die Übernachtungen von Ausländern überproportional und haben 213 6.1 Räumliche Grundmuster der touristischen Nachfrage 213 <?page no="214"?> sich mehr als verdoppelt, während die Übernachtungen im Binnentourismus nur um etwa 40 % zugenommen haben. Abb.‐Nr.: -88 Abb.‐Titel: -Entwicklungen-der-Ankünfte-und- Übernachtungen-von-1992-bis-2019 (Quelle: -Eigener- Entwurf-nach-Daten-Statistisches-Bundesamt-2020) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 50 100 150 200 250 300 350 400 450 500 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 In. Mio. Übernachtungen Deutsche Übernachtungen Ausländer Ankünfte Abb. 88: Entwicklungen der Ankünfte und Übernachtungen von 1992 bis 2019 (Quelle: eigener Entwurf nach Daten Statistisches Bundesamt 2020) Von den insgesamt knapp 90 Mio. im Jahr 2019 in gewerblichen Übernach‐ tungseinrichtungen registrierten Übernachtungen von Ausländern entfällt der überwiegende Teil auf europäische Quellmärkte (vgl. Abb. 89). Von den zwölf Hauptquellmärkten sind - mit Ausnahme der USA und Chinas - zehn europäische Nachbarländer. Diese generieren mehr als die Hälfte der Über‐ nachtungen von Ausländern in Deutschland. Dabei fällt der niederländische Quellmarkt mit allein knapp einem Siebtel besonders ins Gewicht. Für die Funktion des Tourismus regionalökonomischer Faktor sind aber nicht nur die absoluten Werte von Touristen und Übernachtungen, sondern auch die Relation zur Bevölkerung in den Raumeinheiten von Relevanz. In Abbildung 90 sind daher die Übernachtungen bezogen auf die Bevölkerung dargestellt. Mit knapp 500 Mio. Übernachtungen pro Jahr und etwa 80 Mio. Einwohnern liegt der Mittelwert in Deutschland bei etwa 600 Übernach‐ 214 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 214 <?page no="215"?> tungen pro 100 Einwohner. Diese Relation wird auch als Tourismusintensität bezeichnet. Abb.‐Nr.: -89 Abb.‐Titel: -Top-12‐Quellmärkte-für Deutschland-nach Übernachtungen 2018 (Quelle: -Eigener-Entwurf-nach- Daten-DZT-2019,-S.-10) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 13,0% 7,9% 7,6% 6,7% 4,8% 4,6% 4,2% 3,8% 3,8% 3,5% 3,4% 3,4% 0% 5% 10% 15% Niederlande Schweiz USA Großbritannien Österreich Italien Frankreich Dänemark Polen Belgien Spanien China/ Hongkong Abb. 89: Top 12-Quellmärkte für Deutschland nach Übernachtungen 2018 (Quelle: eigener Entwurf nach Daten DZT 2019, S. 10) Mit Blick auf die Tourismusintensität relativiert sich - angesichts der großen Mantelbevölkerung, die stellvertretend für die vielen anderen wirtschaftli‐ chen Aktivitäten in größeren Städten hier herangezogen wird - die Rolle des Tourismus in den Städten teilweise. Zwar weisen diese meist noch über dem Durchschnitt liegende Werte auf. Die höchsten Werte der Tourismu‐ sintensität - als Indikator auch für die regionalwirtschaftliche Relevanz - ergeben sich einerseits an den Küsten und im Alpenvorland sowie anderer‐ 215 6.1 Räumliche Grundmuster der touristischen Nachfrage 215 <?page no="216"?> seits in den Mittelgebirgen vom Schwarzwald über die Eifel, das Sauerland und den Harz bis hin zum Bayerischen Wald. Abb.‐Nr.: -90 Abb.‐Titel: -Tourismusintensität-nach-Reisegebieten-im- Jahr-2017 (Quelle: -Eigener-Entwurf-nach-Daten- Statistisches-Bundesamt-2018)- Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Prignitz Ruppiner Land Uckermark Barnimer Land Seenland Oder- Spree Dahme- Seenland Spreewal d Niederlausitz Elbe Elster Land Fläming Havelland Potsdam Lausitzer Seenland Rügen/ Hiddensee Vorpommer n Mecklenburgische Ostseeküste Westmecklenbur g Mecklenburgische Schweiz und Seenplatte Dresden Chemnitz Leipzig Oberlausitz/ Niederschlesien Sächsische Schwei z Sächsisches Elbland Erzgebirge Sächsisches Burgen- und Heideland Vogtland Harz und Harzvorland Halle, Saale, Unstrut Anhalt-Wittenber g Magdeburg, Elbe- Börde- Heide Altmark Eichsfeld Hainich Kyffhäuser Saaleland Städte Eisenach, Erfurt, Jena, Weimar Südharz Thüringer Rhön Thüringer Vogtland Thüringer Wal d Übriges Thüringen Nordsee Ostsee Holsteinische Schwei z Übrig. Schleswig- Holstein Ostfriesische InselnNordseeküste Ostfriesland Unterelbe- Unterweser Oldenburger Land Oldenburger Münsterland Grafschaf t Bentheim- Emsland- Osnabrücker Land Mittelweser Lüneburger Heide Weserbergland Hannover - Hildeshei m Braunschweiger Land Harz Eifel und Region Aachen Niederrhei n Münsterland Teutoburger Wald Sauerland Siegerland- Wittgenstein Bergisches Land Bonn und Rhein- Sieg- Kreis Köln und Rhein- Erft- Kreis Düsseldorf und Kreis Mettmann Ruhrgebiet Bergisches Städtedreieck Kassel- Land Waldecker Land Werra- Meissner Land Kurhessisches Bergland Waldhessen Marburg- Biedenkopf Lahn-Dill Westerwald- Lahn- Taunus Vogelsber g und Wetterau Rhön Spessart- Kinzigtal- Vogelsber g Main und Taunus Rheingau- Taunus Odenwald- Bergstrasse- Neckartal Ahr Eifel Hunsrück Mosel- Saar Naheland Pfalz Rheinhessen Rheintal Westerwald- Lahn Nordsaarland Bliesgau Übriges Saarland Nördlicher Schwarzwal d Mittlerer Schwarzwal d Südlicher Schwarzwal d Nördliches Baden-Württember g Region Stuttgart Schwäbische Alb Württembergisches Allgäu Bodensee Hegau Naturpark Altmühltal Fichtelgebirge Fränkische Schwei z Fränkisches Seenland Fränkisches Weinland Frankenal b Frankenwal d Haßberge Rhön Romantisches Franken Spessart- Mainland Städteregion Nürnberg Steigerwal d Bayerischer ald Oberpfälzer Wald Ostbayerische Städt e Allgäu Bayerisch- Schwaben München Münchener Umland Oberbayerns Städte Ammersee- Lech Starnberger Fünf- Seen- Land Pfaffenwinkel Zugspitz- Region Tölzer Land Tegernsee- Schliersee Ebersberger Land Inn-Salzach Berchtesgadener Land Chiemsee Chiemgau Bayerischer Jura Bayerisches Golf- und Thermenland Obermain. Jura Coburg Rennsteig Berlin Bremen Hamburg unter 200 200 bis unter 500 500 bis unter 1.000 1.000 und mehr Übernachtungen pro 100 Einwohner Abb. 90: Tourismusintensität nach Reisegebieten im Jahr 2017 (Quelle: Eigener Entwurf nach Daten Statistisches Bundesamt 2018) 216 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 216 <?page no="217"?> 6.2 Akteure im Deutschlandtourismus Bevor in Kapitel 6.3 bis 6.5 die in Deutschland relevanten Segmente des Tourismus anstehen, werden im Folgenden kurz die Grundprinzipien der organisationalen Struktur im Deutschlandtourismus vorgestellt. Eine Reihe von für die Aufgaben und die Struktur der kommunalen und regionalen DMOs relevanten Aspekte des Größenzuschnitts, der Finanzierung und der Notwendigkeit flexibler Kooperationsmuster wurden bereits in Kapitel 4 unter dem Blickwinkel des Destinationsmanagements behandelt. In diesem Abschnitt wird daher im Wesentlichen auf die Bundesebene und die hier relevanten Akteure abgestellt. Akteure der Tourismuspolitik Wie bereits in Kap. 3.2.3 erwähnt, ist Tourismus angesichts der föderalen politischen Struktur der Bundesrepublik Deutschland (ähnlich auch in Ös‐ terreich und der Schweiz) prioritär Aufgabe der Bundesländer (bzw. Kan‐ tone). Er wird als Teil der regionalen Wirtschaftsförderung angesehen. Ein wesentlicher Teil der politischen Steuerung im Tourismus erfolgt dement‐ sprechend sowohl bei den kommunalen und regionalen Gebietskörper‐ schaften sowie den jeweiligen Bundesländern. Dort ist die Tourismuspolitik meist in den Wirtschaftsministerien angesiedelt. Eigenständige Tourismusministerien, wie diese teilweise in Ländern mit einer größeren Bedeutung des Incoming-Tourismus bestehen (z. B. Ma‐ rokko, Tunesien), gibt es in Deutschland nicht. In manchen Bundesländern mit hoher Bedeutung des Tourismus ist der Begriff als Teil der Bezeichnung der jeweiligen Ministerien markiert (z. B. Ministerium für Wirtschaft, Bau und Tourismus des Landes Mecklenburg-Vorpommern). Ähnlich wird auf die Bedeutung des Tourismus auch in manchen anderen Ländern verwiesen (z. B. Kultur und Tourismus in der Türkei oder Ministry of Energy, Com‐ merce, Industry and Tourism in Zypern). Auf Bundesebene wird die Tourismusförderung als Querschnittsaufgabe angesehen. Die Federführung liegt beim Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi) und wird dort auf der politischen Ebene von einer parlamentari‐ schen Staatssekretärsstelle in der Funktion des Tourismusbeauftragten ver‐ treten. Auf der ministerialen Verwaltungsebene besteht in der Abteilung Mittelstandspolitik, Unterabteilung Dienstleistung auch ein Referat Touris‐ muspolitik. Die Aufgaben des Bundes in der Tourismuspolitik konzentrieren sich auf die Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine wettbewerbs‐ 217 6.2 Akteure im Deutschlandtourismus 217 <?page no="218"?> fähige Tourismuswirtschaft. Hierzu zählt z. B. auch die Finanzierung von Grundlagenstudien (teilweise in Kooperation mit dem DTV; s. u.), die För‐ derung von übergreifenden Spezialthemen, wie z. B. den barrierefreien Tou‐ rismus (BMWi 2008) oder die Einrichtung eines sog. Kompetenzzentrums Tourismus (www.kompetenzzentrum-tourismus.de). Gleichzeitig berührt Tourismuspolitik als Querschnittsaufgabe Zustän‐ digkeitsbereiche vieler weiterer Ressorts, angefangen vom Auswärtigen Amt (Reisehinweise und Reisewarnungen, diplomatische Aspekte), über Fi‐ nanzen und Verkehr (insbesondere Finanzierung von Infrastrukturmaßnah‐ men und Gewährleistung der Erreichbarkeit der Destinationen) bis hin zu Bildung, Arbeit, Soziales, Umwelt und Verbraucherschutz (vgl. BMWi 2017). Die Abstimmung zwischen dem Bund und den tourismusrelevanten Akti‐ vitäten der Bundesländer erfolgt unter dem Vorsitz des BMWi im „Bund-Länder-Ausschuss Tourismus“. Auf parlamentarischer Ebene besteht ein „Ausschuss für Tourismus“ in dem die Belange des Tourismus behandelt werden (vgl. www.bundestag.de/ tourismus). Für die Förderung von tourismusrelevanten Maßnahmen (insbesondere Infrastruktur) sind auf Bundesebene keine spezifischen Instrumente imple‐ mentiert. Diese erfolgt über allgemeine Instrumente der Förderkulisse, wie z. B. die „Gemeinschaftsaufgabe Förderung der regionalen Wirtschafts‐ struktur“ oder den „Europäischen Fond für Regionale Entwicklung“ (EFRE). Mit diesen werden insbesondere infrastrukturelle Maßnahmen gefördert - von der Anlage und Ausschilderung von Fahrrad- und Wanderwegen, über Umstrukturierungen in Kurorten bis hin zu Angebotselementen im Kultur- und Naturtourismus. Deutsche Spitzenverbände auf Bundesebene Neben der politischen und Verwaltungsseite werden die unterschiedlichen Interessen und Anliegen der Akteure in der Tourismuswirtschaft von einer Vielzahl von nationalen Spitzenorganisationen vertreten. Die wichtigsten werden nachfolgend kurz charakterisiert. ☐ Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT): Offiziell als e. V. organi‐ ☐ siert nimmt die DZT eine Art Zwitterstellung zwischen der Bundes‐ politik und den touristischen Verbänden ein. Zwar sind alle Landes‐ marketingorganisationen (LMOs), viele andere Verbände (wie ADFC, BTW, DEHOGA, DRV, DTV; s. u.) sowie eine Reihe von Unternehmen (wie Accor, Deutsche Bahn, Lufthansa, Sixt, TUI, aber auch Flughafen 218 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 218 <?page no="219"?> München und Frankfurt) Mitglieder der DZT. Der Großteil des Bud‐ gets der DZT wird aber von Zuwendungen des BMWi gebildet. Diese belaufen sich lediglich auf gut 30 Mio. €. (DZT 2019, S. 119). Angesichts der zunehmenden Relevanz des Incoming-Tourismus für die Generie‐ rung von Devisen und den aktuell 36 Mrd. Ausgaben von ausländi‐ schen Touristen in Deutschland (BMWI & BTW 2012, S. 86) ist dieser Betrag damit sicherlich nicht als üppig zu bezeichnen. Die Hauptaufgabe der DZT liegt im Auslandsmarketing der Destina‐ tion Deutschland. Sie vertritt die Destination Deutschland im Auftrag des BMWi. Zur Funktion der nationalen Marketingorganisation zäh‐ len neben der direkten Marktkommunikation (auch auf Messen im Ausland) insbesondere die Öffentlichkeitsarbeit und die Imagebil‐ dung. Darüber hinaus werden Länderprofile für relevante Quell‐ märkte erstellt (genauer in DZT 2019 bzw. www.germany.travel). Bei der Vermarktung im Ausland kooperiert die DZT auch mit anderen Organisationen. Für die Vermarktung im Städtetourismus wird z. B. mit der Städteallianz „Magic Cities Germany“, in der die größten deut‐ schen Städtedestinationen vereinigt sind, zusammengearbeitet (vgl. auch Abb. 96 in Kap. 6.3). Der Zusammenschluss von kleineren städ‐ tetouristischen Destinationen zur Marketingkooperation unter der Marke „Historic Highlight of Germany“ ist inzwischen ebenfalls Ko‐ operationspartner der DZT (vgl. Box 12 „Die Vermarktungskoopera‐ tion ‚Historic Highlights of Germany‘“ in Kap. 4.4.3). ☐ Deutscher Tourismusverband (DTV): Der DTV stellt den Spitzen‐ ☐ verband der LMOs dar. Neben diesen sind auch einige kommunale und regionale DMOs sowie kommunale Spitzenverbände Mitglieder des DTV. Das Ziel des DTV ist die Förderung des Tourismus in den deut‐ schen Destinationen. Hierzu wird er einerseits als Interessensverband tätig, der die Anliegen der tourismuswirtschaftlichen Akteure und der DMOs auf politischer Ebene vertritt. Andererseits stehen die Innova‐ tionsorientierung und die Betonung des Qualitätstourismus zur För‐ derung der Wettbewerbsfähigkeit des Deutschlandtourismus im Mit‐ telpunkt (www.deutschertourismusverband.de). Dabei werden vom DTV sog. Grundlagenuntersuchungen zu spezifi‐ schen Produkten, in Auftrag gegeben. So gab der DTV z. B. die „Grund‐ lagenuntersuchung Städte- und Kulturtourismus in Deutschland“ in Auftrag (mit Förderung durch das BMWi; DTV 2006; vgl. Kap. 6.3) und war an der „Grundlagenuntersuchung Fahrradtourismus in Deutsch‐ 219 6.2 Akteure im Deutschlandtourismus 219 <?page no="220"?> land“ (BMWi 2009; vgl. Kap. 6.4) beteiligt. Aber auch die Förderung des barrierefreien Tourismus zählt mit zu den Anliegen des DTV. In den letzten Jahren wurde sich die Qualitätsorientierung als Schwer‐ punkt deutlich intensiviert. So werden durch DTV (über die lokalen DMOs) Ferienwohnungen und Privatzimmer, die von der Hotelklas‐ sifizierung der DEHOGA (s. u.) nicht erfasst werden, nach einem Sterneschema klassifiziert und zertifiziert. Darüber betreut der DTV die Initiative ServiceQualität Deutschland (vgl. Box 15 „Die Initiative Servicequalität Deutschland“). Box 15 | Die Initiative Servicequalität Deutschland Der zunehmende Wettbewerb im Tourismus bedeutet, dass die Service‐ qualität mehr und mehr zur Markteintrittsschwelle (vgl. Kap. 2.3.4) wird. Anknüpfend an ein 1997 in der Schweiz eingeführtes dreistufiges Qua‐ litätssiegel wurde dieses, beginnend 2001 in Baden-Württemberg adap‐ tiert und sukzessive bis 2010 von allen Bundesländern übernommen. Mit der vom DTV betreuten Dachorganisation Initiative ServiceQualität Deutschland wurde 2013 eine einheitliche Basis für die Qualitätsorien‐ tierung und Qualitätszertifizierung geschaffen (www.q-deutschland.de). Das Q-Siegel wird in drei Stufen vergeben: ☐ In der ersten Stufe wird insbesondere Wert auf die betriebsinterne ☐ Sensibilisierung durch die Schulung eines Qualitätscoach gelegt. Die Einstufung erfolgt im Wesentlichen durch Selbstauskunft. Es sollen selbstgewählte Schritte zur schrittweisen Verbesserung der Qualität begonnen werden. ☐ In der zweiten Stufe stehen die Messung der Kundenzufriedenheit ☐ durch Befragungen der Kunden und einen „Silent Shopper“ (vgl. Kap. 2.3.4) im Mittelpunkt. ☐ Die dritte Stufe beinhaltet ein umfassendes Qualitätsmanagement‐ ☐ system, angelehnt an EFQM (= European Foundation for Quality Management (www.efqm.org) oder ähnliche Systeme. 220 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 220 <?page no="221"?> Abb.‐Nr.: 91 Abb.‐Titel: -ServiceQ‐Betriebe-nach-Bundesländern- und-Verhältnis-zu-gewerblichen- Übernachtungsbetrieben (Quelle: -Eigener-Entwurf nach-Daten-DTV-2015-und-Statistisches-Bundesamt 2014,-C‐3.5) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Schleswig Holstein Hamburg Niedersachsen Bremen Nordrhein- Westfalen Hessen Rheinland- Pfalz Baden- Württemberg Bayern Saarland Berlin Mecklenburg- Vorpommern Brandenburg Sachsen- Anhalt Sachsen Thüringen Stufe III Stufe I 300 100 50 Stufe II Zahl der Betriebe Q-Stufen Verhältnis Q-Betriebe zu Übernachtungsbetrieben 2 bis 4,99 5 bis 9,99 10 bis 14,99 15 und mehr Fl ä c h e n f a r b e n : u n te r 5 5 b i s u n t e r 1 0 1 0 b i s u n t e r 1 5 1 5 u n d h ö h e r Sy m b o lg r ö ße : M i n . : 3 3 Ma x . : 4 1 4 4 5 0 1 0 0 3 0 0 Abb. 91: ServiceQ-Betriebe nach Bundesländern und Verhältnis zu gewerblichen Übernachtungsbetrieben (Quelle: eigener Entwurf nach Daten DTV 2015 und Statistisches Bundesamt 2014, C-3.5) Trotz der beachtlichen Erfolge der Initiative ServiceQualität Deutsch‐ land ist doch zu berücksichtigen, dass sich die Resonanz bei den touris‐ tischen Leistungsträgern im überschaubaren Rahmen hält. ServiceQ richtet sich nicht nur an Übernachtungsbetriebe, sondern auch an an‐ dere touristische Unternehmen (von Gaststätten über Freizeiteinrich‐ 221 6.2 Akteure im Deutschlandtourismus 221 <?page no="222"?> tungen bis hin zu den Tourist-Informationen). Bei allein über 50.000 ge‐ werblichen Übernachtungsbetrieben in Deutschland (vgl. Kap. 3.1.2) erfassen die knapp 4.000 inzwischen zertifizierten Betriebe nur einen kleinen Teil der touristisch relevanten Leistungsträger. In Abbildung 91 sind die zertifizierten Betriebe nach Bundesländern dargestellt. Dabei wird einerseits deutlich, dass die Beteiligung in den einzelnen Bundes‐ ländern - auch abhängig vom Engagement der regionalen DMOs und der LMOs - große Unterschiede aufweist. Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass mehr als 90 % der Betriebe nur auf Stufe I zertifiziert sind. Hier bestehen noch deutliche Intensivierungspotenziale. ☐ Deutscher Hotel- und Gaststätten-Verband (DEHOGA): Zentra‐ ☐ les Anliegen dieses sektoral ausgerichteten nationalen Spitzenver‐ bandes (mit seinen Landesverbänden) ist, die Interessen seiner Klien‐ tel entsprechend zur Geltung zu bringen. Beispiel hierfür ist z. B. die Frage der Behandlung touristisch relevanter Leistungen bei der Um‐ satzsteuer, die teilweise in anderen Ländern größere Steuervorteile genießen. Aber auch zur sog. „Bettensteuer“ (vgl. Kap. 4.4.2) bezieht der DEHOGA klar Position im Namen seiner Mitglieder. In vielen Ländern (z. B. Frankreich) ist die Klassifizierung von Hotels obligatorisch und wird von staatlichen Stellen durchgeführt. Da dies in Deutschland nicht der Fall ist, hat der DEHOGA 1996 diese Aufgabe übernommen (G ARDINI 2010, S. 14). Auch werden Bestrebungen un‐ ternommen, die Hotelklassifizierung auf europäischer Ebene zu ver‐ einheitlichen und über die physischen Elemente hinaus stärker As‐ pekte der Dienstleistungsqualität mit einzubeziehen. ☐ Deutscher Reiseverband (DRV): Der DRV ist ein Zusammenschluss ☐ von Reiseveranstaltern und Reisebüros sowie anderer touristischer Leis‐ tungsträger. Neben den großen Veranstaltern sind dort auch eine Viel‐ zahl kleinerer Anbieter Mitglied. Der DRV vertritt damit vor allem die Interessen der Touristikunternehmen. Darüber hinaus ist er auch im Bereich der Fortbildung tätig. Der DRV bietet seinen Mitgliedern auch die Möglichkeit der Auszeichnung mit einem Qualitätssiegel „Ausge‐ zeichnete Veranstalterreise“, wenn bestimmte Qualitätskriterien, die über gesetzliche Vorgaben hinausgehen anerkannt werden. In Anerken‐ nung seiner sozialen Verantwortung hat der DRV im Namen seiner Mitglieder auch den sog. „Code of Conduct“ gegen den sexuellen Miss‐ 222 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 222 <?page no="223"?> brauch von Kindern unterzeichnet (vgl. Box 16 „Code of Conduct“). Da‐ mit spricht sich die deutsche Reiseveranstalterbranche offiziell gegen sextouristisch ausgerichtete Angebote aus und verpflichtet sich, das in ihrem Wirkungsbereich Mögliche dagegen zu unternehmen. ☐ Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft BTW: ☐ Während die anderen Organisationen auch gelegentlich in den Me‐ dien in Erscheinung treten und damit vielen Menschen - nicht nur denen, die im Tourismus tätig sind, ein Begriff sind - wird der BTW in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Er ist der Zusammen‐ schluss der tourismusbezogener Spitzenverbände, der drei großen Reiseveranstalter sowie einiger weiterer Touristikunternehmen und größerer Unternehmen (z. B. Deutsche Bahn) und Organisationen (wie z. B. dem ADAC) mit Tourismusbezug. Auch eine private Hoch‐ schule mit Tourismusstudiengängen ist dort Mitglied, nicht jedoch öffentliche Hochschulen. Der BTW agiert zum Teil auch „hinter den Kulissen“ und betreibt Lobbyarbeit für die Belange der Tourismus‐ wirtschaft. Er hat zusammen mit dem BMWi 2012 die Studie „Wirt‐ schaftsfaktor Tourismus Deutschland“ herausgegeben, die sicherlich auch als Teil der Öffentlichkeitsarbeit mit dem Ziel der Bewusstma‐ chung der Relevanz dieses Wirtschaftssektors gesehen werden kann. Box 16 | Code of Conduct: Verhaltenskodex zum Schutz der Kin‐ der vor sexueller Ausbeutung im Tourismus „Im Rahmen des Tourismusgipfels 2005 hat der BTW den „Verhaltens‐ kodex zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung im Tourismus“ unterschrieben. Der Code of Conduct war 2000 in einer gemeinsamen Kampagne von ECPAT Deutschland (Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung), UNICEF, der WTO und der Eu‐ ropäischen Kommission formuliert worden. Ein Jahr später unterzeich‐ nete auch der Deutsche ReiseVerband (DRV) den Kodex, der folgende Maßnahmen vorsieht: ☐ Einführung einer Firmenphilosohie (Leitbild), welche sich eindeutig ☐ gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern aus‐ spricht. ☐ Sensibilisierung und Ausbildung der Mitarbeiter im Herkunftsland ☐ und im Zielland. Aufnahme von Klauseln in die Verträge mit Leis‐ 223 6.2 Akteure im Deutschlandtourismus 223 <?page no="224"?> tungsträgern, welche die gemeinsame Ablehnung von kommerzi‐ eller sexueller Ausbeutung von Kindern deutlich machen. ☐ Informationsvermittlung an die Kunden zur Sensibilisierung der ☐ Reisenden für die Thematik“ (BTW 2015) Im Zuge des Engagements werden zusammen mit der deutschen Sektion von ECPAT (= ursprünglich End Child Prostitution in Asian Tourism; www.ecpat.de) auch Sensibilisierungsmaßnahmen bei den Touristen durchgeführt (Flyer und Inflight-Spots). Die Vielfalt der touristischen Anbieter und Akteure spiegelt sich damit auch in den unterschiedlichen Interessensvertretungen. Gleichzeitig wird deut‐ lich, dass die föderale Grundstruktur der Bundesrepublik im Tourismus - ähnlich wie in der Kultur- und Bildungspolitik - stark von den föderalen Mustern und einem nicht immer einfachen Austarieren zwischen Bundes- und Landesinteressen geprägt ist. 6.3 Städtetourismus - ein dynamisches Wachstumssegment Der Städtetourismus zählt seit den 1990er Jahren zu einem besonders dy‐ namischen touristischen Marktsegment. Insbesondere die Großstädte kön‐ nen deutlich wachsende Besucherzahlen verzeichnen. Dabei ist die aktuelle Dynamik einerseits Ausdruck eines veränderten Reiseverhaltens der Kon‐ sumenten, die sich immer häufiger für Kurz- und Erlebnisreisen entscheiden. Der Städtetourismus hat in besonderem Maß vom Trend zu mehr (kürzeren) Zweit- und Drittreisen profitieren können. Hinter diesem Trend stehen als Rahmenbedingungen sozio-demographische Entwicklungen, die sich durch höhere Anteile von Ein- und Zweipersonenhaushalte ohne Kinder, absolute und relative Zunahme der 50plus-Generation sowie hohe verfügbare Ein‐ kommen bei einem Teil der Bevölkerung charakterisieren lassen. Andererseits ist eine erhebliche Ausweitung und Ausdifferenzierung des Angebotes als begünstigender Faktor für diesen Trend anzusprechen. Das städtetouristisch relevante Angebotsportfolio vieler Städte ist seit den 1990er Jahren durch attraktive Kultur-, Event-, Unterhaltungs- und Shop‐ pingangebote erheblich erweitert und ausdifferenziert worden. Aber auch die in den 1990er Jahren in vielen Städten etablierten Musical Theater haben 224 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 224 <?page no="225"?> eine Vielzahl von Kurzzeittouristen angezogen (vgl. S CHMUDE 2003). Auch wenn diese Innovation inzwischen ihren Höhepunkt deutlich überschritten hat und sich die Laufzeiten in den letzten Jahren merklich reduziert haben, üben sie insbesondere in Hamburg, Stuttgart, Berlin und Köln immer noch erhebliche Anziehungskraft aus. Begünstigt wird diese Entwicklung durch Innovationen im Transportwesen - insbesondere den Low Cost Carriern (vgl. Kap. 3.1.3). 6.3.1 Städtetourismus: Versuch einer begrifflichen Fassung Städtetourismus ist keine einfach begrifflich zu fassende Tourismusform, da sich hier die in der Freizeit- und Tourismusforschung bestehenden Schwie‐ rigkeiten der klaren Zuordnung nach Dauer und Motiven in besonderer Weise stellen. Die Einbeziehung von Tagesausflügen in den Tourismus verschärft ins‐ besondere im Städtetourismus die Abgrenzungsproblematik. Während bei eintägigen Besuchen eines Wandergebietes oder einem Fahrradausflug die Motive zumeist relativ eindeutig als freizeitorientiert zu identifizieren sind (auch wenn z. B. hier das Motiv „Gesundheit“ ebenfalls eine Rolle spielen kann), stellt sich die Situation im Städtetourismus insofern schwieriger dar, als Städte als zentrale Orte Ziel von Besuchen aus ganz unterschied‐ lichen Motiven sind (vgl. Abb. 5 in Kap. 1.2.2.1). Aufgrund des Koppe‐ lungspotentials von Städten können dabei unterschiedlichste Aktivitäten miteinander kombiniert werden. Der Einkauf eines Gebrauchsgegenstan‐ des (z. B. Elektrogerät) mag durchaus kombiniert werden mit dem Besuch eines Cafés, dem Besuch einer Ausstellung oder einer abendlichen Kul‐ turveranstaltung. Aber auch die Veränderungen der Perzeption von Ein‐ kaufsaktivitäten, denen - auch unter dem Stichwort Erlebniseinkauf - immer mehr Freizeitcharakter zugemessen wird, lassen die früher klare Grenze verschwimmen. Städte sind gleichzeitig auch wichtige Zielgebiete von Geschäftsreisen. Neben dem (B2B oder B2C) Geschäftsbesuchen bieten Städte insbeson‐ dere auch für Messen, Tagungen und Kongresse nicht nur wegen der gu‐ ten Erreichbarkeit und der Übernachtungsinfrastruktur, sondern auch wegen der vielfältigen Freizeitoptionen attraktive Möglichkeiten für den MICE-Tourismus (Meetings, Incentive, Conventions, Exhibitions), auch mit entsprechenden Freizeitkomponenten (vgl. Abb. 2 in Kap. 1.1.3). Städ‐ 225 6.3 Städtetourismus - ein dynamisches Wachstumssegment 225 <?page no="226"?> tetourismus ist - da keine einheitlichen Motivbündel bestehen - folglich keine Tourismusform, sondern eine spezielle Tourismusart, die sich klar nur hinsichtlich des regionalen - eben städtischen Zielgebietes (ohne an dieser Stelle auf die Schwierigkeiten der Fassung des Stadtbegriffes ein‐ zugehen) fassen lässt. Hinsichtlich der Motive handelt es sich um eine ausgeprägte Mischform mit unterschiedlichen Anforderungen der Besu‐ cher an die Destination. Dabei sind die unterschiedlichen Besuchsmotive eben nicht ganz so klar unterscheidbar, wie dies in der Darstellung von A NTON & Q UACK (2005; vgl. Tab. 8) suggeriert wird. Der klassische Städtetourist ist vielmehr ein stark von hybriden Besuchsmotiven gekennzeichneter Besucher, wobei sich Urlaubs- und Vergnügungsmotive mit Kultur- und Bildungsmotiven, aber auch unterschiedlichen geschäftlichen und dienstlichen Motiven ver‐ mischen. Übernachtungstourismus Tagestourismus beruflich bedingt privat bedingt beruflich bedingt privat bedingt Geschäfts- / Dienstreisever‐ kehr und Ge‐ schäftstourismus Städtebesuchs-/ Städtereisever‐ kehr und Städte‐ tourismus Tagesgeschäftsreiseverkehr Tagesausflugs‐ verkehr und Sightseeingtourismus Tagungs- und Kongresstouris‐ mus Verwandten- und Bekanntenbesuche Tagungs- und Kongressbesuche Tagesveranstal‐ tungsverkehr Ausstellungs- und Messetourismus Ausstellungs- und Messebesuche Einkaufsreisever‐ kehr und Shop‐ pingtourismus Incentivetourismus Abendbesuchs‐ verkehr Tab. 8: Formen des Städtetourismus nach Besuchsmotiven (Quelle: A N T O N & Q U A C K 2005, S. 10) Dieser Motivgemengelage versucht der DTV (2006; vgl. Abb. 92) durch die Unterscheidung zwischen primärem Städtetourismus und sekundärem Städ‐ tetourismus zu entsprechen. Unter „primärem“ Städtetourismus wird nach diesem Verständnis der kulturorientierte Städtetourismus verstanden, da 226 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 226 <?page no="227"?> dieser als Hauptmotiv auf das originäre Angebot von Städten als Standort von Baukultur und kulturellen Einrichtungen abzielt (hier schimmert im‐ plizit die traditionelle Unterscheidung nach dem „ursprünglichen“ Angebot von Destinationen im Gegensatz zum „abgeleiteten“ Angebot durch). Der sekundäre Städtetourismus ist in seinen Hauptmotivlagen nicht eo ipso auf die die Stadt selbst, sondern auf die dort verorteten Funktionen (Betriebs‐ standorte, Einkaufsstandorte, Veranstaltungen etc.). Die Stadt ist damit letzt‐ endlich nur die konkrete räumliche Folie, vor deren Hintergrund die Funk‐ tionen lokalisiert sind. Abb.‐Nr.: -92 Abb.‐Titel: -Motive-von-Urlaubsreisen-der-Europäer- nach-Deutschland-2014-(Quelle: -Eigener-Entwurf-nach- Daten-DZT-2015,-S.-16)-FALSCHER-TITEL-? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Städtetourismus mit anderen Motiven („sekundärer“ Städtetourismus) Kulturorientierter Städtetourismus („primärer“ Städtetourismus) • Größe der Stadt • Multifunktionalität • Hauptmotive - Stadterlebnis - Stadtbesichtigung - Kunst-/ Kultureinrichtungen • Nebenmotive z. B. Shopping, Kulinarik • Hauptmotive z.B. - Berufliche Gründe - Shopping - Verw.-, Bek.-besuche - Essen & Trinken - Veranstaltungen • Stadterlebnis/ -besichtigung i. e. S sind Nebenmotiv Abb. 92: Abgrenzung zwischen kulturorientiertem und anders motiviertem Städtetourismus (Quelle: eigene Darstellung nach DTV 2006, S. 8) 6.3.2 Quantitative Basisdaten zum Städtetourismus Die dynamische Entwicklung im Städtetourismus wurde bereits in der DTV-Grundlagenstudie von 2006 klar differenziert. Von dem Wachstum ha‐ ben insbesondere die „Top 12“ (entspricht im Wesentlichen den „Magic Ci‐ ties“; vgl. Kap. 6.2) profitiert. Aber auch kleinere, im Kulturtourismus klar profilierte Städte zeigten eine deutliche Zunahme der Übernachtungszahlen (vgl. Abb. 93). 227 6.3 Städtetourismus - ein dynamisches Wachstumssegment 227 <?page no="228"?> Abb.‐Nr.: -93 Abb.‐Titel: -FALSCHER-TITEL-STÄDTE--DTV-„=Motive- von-Urlaubsreisen-der-Europäer-nach-Deutschland- 2014-(Quelle: -Eigener-Entwurf-nach-Daten-DZT-2015,- S.-16) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Alle Städte 40,2 % Deutschland 11,5 % Abb. 93: Typisierung der Destinationen des Städtetourismus und Entwicklung der Übernachtungszahlen zwischen 1993 und 2005 (Quelle: eigene Darstellung nach DTV 2006, S. 23) In den 10 Jahren seit der DTV-Grundlagenstudie sind die Besucherzahlen im Städtetourismus (abgesehen von der kleinen konjunkturellen Delle 2009 als Folge der Bankenkrise) weiter relativ kontinuierlich angestiegen (vgl. Abb. 94). Im Vergleich zu 1993 haben die Übernachtungszahlen in Groß‐ städten von gut 50 Mio. auf knapp 140 Mio. um 160 % zugenommen - ge‐ genüber einer Steigerung von „nur“ einem Drittel für die gesamte Bundes‐ republik. Dabei hat sich an dem Grundprinzip, dass insbesondere die größeren Metropolen von diesem Trendprofitieren, nichts Grundlegendes geändert. Unter den drei größten städtetouristischen Destinationen war das Wachstum besonders ausgeprägt in Berlin, das in diesen 25 Jahren eine Stei‐ gerung um mehr als das Dreifache verzeichnete und damit eine fast als dis‐ ruptiv zu charakterisierende Entwicklung erfuhr. Auch in Hamburg waren die Zuwächse (um das 2,5-fache) noch deutlich höher als im Mittel der Großstädte. Demgegenüber verlief das Wachstum in München „organi‐ scher“ und lag mit einem Zuwachs um das 1,5-fache in etwa in der Größen‐ ordnung aller Großstädte (vgl. Abb. 94; siehe auch Box 17 „Overtourism“ in Kap. 6.3.3). 228 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 228 <?page no="229"?> Gleichzeitig ist Städtetourismus mit einem Drittel der Nennungen das Hauptmotiv für den Incoming-Tourismus (vgl. Abb. 95). Werden auch die Besuchsmotive Rundreisen und Eventreisen mit hinzugezählt, die ja auch zu einem großen Teil in Städte gerichtet sind, erhöht sich die Relevanz der Städte noch weiter. Dabei finden deutlich mehr als die Hälfte der Ausländerübernachtungen in Großstädten (mit über 100.000 Einwohnern) statt. Allein die zehn größten städtetouristischen Destinationen in Deutschland (vgl. Abb. 96) kommen auf einen Marktanteil von rund 44 % an allen Ausländerübernachtungen (Sta‐ tistisches Bundesamt 2018). Aber auch von den vom DWIF geschätzten knapp 3 Mrd. Tagesreisen der Deutschen gehen knapp die Hälfte in Städte über 100.000 (DWIF 2013, S. 74). Abb.‐Nr.: -94 Abb.‐Titel: -Indexentwicklung-der-Übernachtungszahlen-in- Deutschland,-deutschen-Großstädten-und-den-drei-wichtigsten- deutschen-städtetouristischen-Destinationen-(Berlin,-München,- Hamburg)-(Quellen: -Statistisches-Bundesamt-2018,-Amt-für- Statistik-Berlin‐Brandenburg-2018,-Statistisches-Amt-für- Hamburg-und-Schleswig‐Holstein-2004-&-2018,-München- Tourismus-2018) Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 75 100 125 150 175 200 225 250 275 300 325 350 375 400 425 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Deutschland Großstädte Berlin München Hamburg Abb. 94: Indexentwicklung der Übernachtungszahlen in Deutschland, deutschen Großstädten und den drei wichtigsten deutschen städtetouristischen Destinationen (Berlin, München, Hamburg) (Quellen: Statistisches Bundesamt 2018, Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2018, Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2004 & 2018, München Tourismus 2018) 229 6.3 Städtetourismus - ein dynamisches Wachstumssegment 229 <?page no="230"?> Abb.‐Nr.: -95 Abb.‐Titel: -Motive-von-Urlaubsreisen-der-Europäer- nach-Deutschland-2014-(Quelle: -Eigener-Entwurf-nach- Daten-DZT-2015,-S.-16) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 10 20 30 40 Urlaub am Meer Erholung auf dem Land Erholung in den Bergen Rundreisen Gesundheit Wintersport Sporturlaub Kreuzfahrt Eventreisen Städtereisen Freizeitpark privater Anlass sonstige Abb. 95: Motive von Urlaubsreisen der Europäer nach Deutschland 2014 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten DZT 2015, S. 16) Abb.‐Nr.: -96 Abb.‐Titel: -Übernachtungen-und-Anteil-Ausländer-in- den-deutschen-„Top-10“-Städtedestinationen-2017 (Quelle: -Eigener-Entwurf-nach-Daten-Statistisches- Bundesamt-2018) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 0 5 10 15 20 25 30 35 Mio. Übernachtungen Übernachtungen Anteil Ausländer Abb. 96: Übernachtungen und Anteil Ausländer in den deutschen „Top 10“ Städtedestinationen (Quelle: Eigener Entwurf nach Daten Statistisches Bundesamt 2018) 230 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 230 <?page no="231"?> 6.3.3 Dynamik von qualitativen Veränderungen im Städtetourismus Abgesehen von der rein quantitativen Dynamik im Städtetourismus stellen städtische Destinationen auch einen der Fokuspunkte für qualitative Ver‐ änderungen und Trends dar. Die Analyse von A NDE R S ON (2006) hat die Dis‐ kussion auf die, durch das Internet eröffneten Chancen von Nischenange‐ boten im sogenannten „Long Tail“ gerichtet (vgl. Abb. 59 in Kap. 3.2.4). Auch das analoge „Word of Mouth“-Empfehlungsmarketing hat durch die Bewer‐ tungsplattformen im Internet („Word of Mouse“) eine bislang nicht bekannte Reichweitenerhöhung erfahren (vgl. Kap. 2.3.1). Durch das Social Web wer‐ den die Möglichkeiten der Weitergabe von Erfahrungen und damit der Ge‐ nerierung von Erwartungen zwar nicht prinzipiell neu geschaffen, aber deutlich erleichtert und erweitert. Darüber hinaus wird auch das konkrete Verhalten vor Ort durch die neuen Medien (insbesondere GPS-Positionie‐ rungen nutzende sog. Location Based Services) beeinflusst. Veränderungen der Raumaneignung im Städtetourismus Eine der Implikationen ist, dass sich durch die quasi ubiquitäre Verfügbarkeit von Informationen die Verhaltensmuster vor Ort verändern. Spontane Ent‐ scheidungen werden aufgrund der ortsbezogenen (oftmals Echtzeit-)Informa‐ tionen einfacher. Darüber hinaus begünstigt die Vielfalt von Onlineinforma‐ tionsmöglichkeiten das Verlassen der sog. „Tourist-Bubble“ und das Erkunden von Möglichkeiten „Off the Beaten Track“ (J UDD 1999, S. 36; vgl. auch M AI ‐ TLAND & N EWMAN 2009, U R R Y 1990, S. 8), sprich des engeren, speziell für Touristen aufbereiteten Teils der besuchten Destinationen und damit eine Aufweitung von aktionsräumlichen Aktivitäten in den Destinationen. Nach dem Tourismussoziologen U R R Y (1990) stellt das Erlebnis von (oft‐ mals nur vermeintlich) Authentischem eines der wichtigen Motive von Tou‐ risten dar. Und der Insider- oder Geheimtipp aus der Peer-Gruppe verspricht ja gerade unverwechselbare authentische Erlebnisse abseits der ausgetrete‐ nen Pfade. Durch das Social Web werden die Möglichkeiten der Weitergabe von Erfahrungen und damit der Generierung von Erwartungen deutlich er‐ weitert. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob dies nur einfach zur Multipli‐ kation und Reproduktion des bisherigen Settings führt oder ob zumindest eine partielle Neufokussierung der Destinationsimages und damit der tou‐ ristischen Nutzung von Destinationen stattfindet. 231 6.3 Städtetourismus - ein dynamisches Wachstumssegment 231 <?page no="232"?> Einen der klassischen Topoi der Tourismuswissenschaften stellt der auf eine Publikation von K EUL & K ÜHB E R G E R aus dem Jahr 1996 zurück gehende Ausdruck von der „Straße der Ameisen“ dar. Damit wird die räumliche Ka‐ nalisierung der klassischen touristischen Verhaltensweise auf klar definierte Abfolgen von zu absolvierenden Highlights - den „Places to be and Places to see“ - bezeichnet. Auch wenn durch die Vielzahl von Informationen im Social Web das bisherige Vorstellungsbild von Destinationen so wie es von den Destinationsmarketingorganisationen, den Reiseveranstaltern und den Autoren von Reiseliteratur konstruiert worden ist, zum großen Teil einfach nur reproduziert wird, ist doch zu erkennen, dass auch zusätzliche Elemente und Aspekte hinzu gefügt werden und sich somit das Bild der Destination modifiziert. Neue kommunikative Netze brechen dabei hegemoniale und autoritative Stellung traditioneller Mediatoren wie touristischer Unterneh‐ men und Organisationen aber auch Reisejournalisten etc. auf. Es kommt zu einer interaktiven Co-Konstruktion touristischer Räume. In Analogie zum „User Generated Content” kann damit die These von “User Generated Tou‐ rist Spaces“ aufgestellt werden. Die Vermutung von der Veränderung der Aneignung touristischer Räume konnte anhand konkreter empirischer Be‐ funde zum aktionsräumlichen Verhalten in der städtetouristischen Destina‐ tion Riga nachgewiesen werden. Es hat sich gezeigt, dass die Informationen zum Social-Media-Empfehlungsmarketing - insbesondere bei Wiederho‐ lungsbesuchern - zur Erschließung von Standorten und Aktivitäten „Off the Beaten Track“ führen (K AG E RMEIE R 2011c). Bei einer vertiefenden Analyse des Besucherverhaltens in Kopenhagen mit einem speziellen Fokus auf die Hot Spots der städtetouristischen At‐ traktionen sowie die gründerzeitlichen Altstadtquartiere abseits der ausge‐ tretenen Pfade, konnte zwar einerseits der „traditionelle Städtetourist“ nach‐ gewiesen werden, der klar innerhalb der Grenzen der Tourist Bubble bleibt. Andererseits ließen sich - entsprechend den von C OHEN (1972, S. 169ff.) analysierten Milieus - als Explorer oder Drifter zu charakterisierende Städ‐ tetouristen identifizieren, die bewusst als Pioniere neue Wege abseits der ausgetretenen Pfade gehen und dann durch die Social-Media-Kommunika‐ tion eben als Wegbereiter und Multiplikatoren für andere Touristen fungie‐ ren. Der Großteil der Besucher wies aber ein klar hybrides Verhalten auf, d. h. er bewegte sich sowohl innerhalb der touristischen Hauptattraktionen, verlässt diese aber auch gerne (genauer bei: S TO R S & K AG E RMEIE R 2013). 232 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 232 <?page no="233"?> Städtetourismus und die Share Economy Aber nicht nur die besuchten Quartiere und die städtetouristischen Aktivi‐ täten sind aktuell einem Wandel unterworfen. Auch bei der Form des Über‐ nachtens zeichnen sich durch die sog. Share Economy Wandlungen ab, die insbesondere in Städten zu beobachten sind. Auch beim kollaborativen Kon‐ sum spielt das Internet eine zentrale Rolle als Enabler und Facilitator für den Match-Making-Prozess der gemeinsam zu nutzenden Güter und Dienstleis‐ tungen zwischen Anbietern und Nachfragern (vgl. L INNE 2014, S. 9). Sharing Plattformen wie couchsurfing.org oder airbnb.com erleichtern das Zusam‐ menfinden von potentiellen Gästen und Gastgebern. Neben den technolo‐ gischen Veränderungen tragen auch solche im Wertgefüge der Nachfrager - vor allem in trendsensitiven und -responsiven Milieus - zum Boom bei. Der seit Jahrzehnten ablaufende Wertewandel hin zu stärker postmaterial‐ istischen Positionen spielt dabei eine ähnliche Rolle wie die Sensibilisierung für Nachhaltigkeitsthematiken. Dass dabei die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten im hy‐ briden „Prosumer“ (S URHONE , T IMPLEDON & M AR S EKEN 2010) verwischen, ist kein grundsätzlich neues Phänomen der Share Economy und wird insbe‐ sondere im Tourismus bereits seit längerem als Teil der Analyse von tou‐ ristischen Erlebnissen beobachtet (vgl. G ÜNTHE R 2006, S. 57; K AG E RMEIE R 2011b, S. 57f.; P AP PALE P O R E , M AITLAND & S MITH 2013, S. 234f.). Auch im Tourismus sind analoge Formen dieser neuerdings als Sharing interpretier‐ ten Handlungsweisen schon lange bekannt. Insbesondere im Städtetouris‐ mus ist das Übernachten bei Freunden und Bekannten ein gängiges Phäno‐ men. Das sogenannte VFR-Segment (Visit Friends and Relatives) nimmt in vielen Großstädten einen ähnlich großen Umfang ein, wie Übernachtungen in gewerblichen Übernachtungseinrichtungen. Für die Verbreitung der Share Economy im Tourismus spielen ähnliche Triebkräfte wie bei der Ausweitung der touristischen Aktionsräume eine zentrale Rolle. Sharing-Websites wie couchsurfing.org oder airbnb.com bie‐ ten nicht nur kostenlose bzw. kostengünstige Übernachtungsangebote, son‐ dern versprechen auch ein neues, authentisches Erlebnis für den Besucher von vor allem städtischen Destinationen. Als eine zentrale Triebkraft für die Nutzung von Sharing-Angeboten im Tourismus kann auch hier die Suche nach authentischen Reiseerfahrungen und Erlebnissen vermutet werden (G ILMO R E & P INE 2007; vgl. Abb. 11 in Kap. 1.2.2.2), die von Besuchern „Off the beaten track“ und außerhalb der „Tourist Bubble“ gesucht werden. Auch wenn sich die traditionellen Backpacker und die aktuellen Couchsurfer in 233 6.3 Städtetourismus - ein dynamisches Wachstumssegment 233 <?page no="234"?> ihren Interessenslagen teilweise unterscheiden, liegen die Wurzeln der ak‐ tuell diskutierten Trends nach authentischen Reiseerfahrungen sicherlich in dem bereits von C OHEN (1972) analysierten Milieu der Explorer und Drifter. Damit sind die Entwicklungen der Share Economy im Bereich des Tou‐ rismus weniger als grundsätzlicher Paradigmenwandel, sondern mehr als eine evolutionäre Weiterentwicklung bereits bestehender Ansätze zu ver‐ stehen. Auch diese werden durch den bereits mehrfach angesprochenen, mehrdimensionale Wertewandel weiter forciert. Gleichzeitig hat sie durch die Möglichkeiten des Internets und insbesondere durch die vielfältigen So‐ cial-Media-Optionen deutlich an Dynamik gewonnen. Bei einer empirischen Erhebung zu den Motiven der Nutzung von Analyse von Share Economy-Affinen und Airbnb-Gästen in Berlin (K AG E RMEIE R , K ÖLLE R & S TO R S 2015; vgl. Abb. 97) wurde deutlich, dass die ökonomische Motivation („Geld sparen“, „Urlaubsorte besuchen, die sonst zu teuer wä‐ ren“) erwartungsgemäß eine gewisse Rolle spielt, jedoch nicht als alleinige und zentrale Motivgruppe zu charakterisieren ist. Die auf das Besucherer‐ lebnis abzielenden Erwartungen, unter anderem „Direkter Kontakt mit Ein‐ heimischen“, „Insidertipps vom Gastgeber“ und „Urlaubsort aus der Per‐ spektive der Bewohner kennenlernen“ spielen eine mindestens ebenso große Rolle. Dabei ergaben sich auch keine merklichen Unterschiede zwi‐ schen Couchsurfern und Airbnb-Gästen. Auch bei vertiefenden Gesprächen mit den Gästen und den Gastgebern spielten die Interaktion zwischen Gast und Gastgeber als Teil des Besuchererlebnisses sowie die Individualität der Ausstattung und Gestaltung der Unterkunft eine wichtige Rolle (genauer bei K AG E RMEIE R , K ÖLLE R & S TO R S 2015). Allerdings gelangen mit dieser veränderten Raumnutzung und Rauman‐ eignung und dem Verlassen der „Tourist Bubble“ die Touristen auch in Be‐ reiche der Städte, die bislang weitgehend von der lokalen Bevölkerung ge‐ nutzt worden sind. Zumeist sind es Gebiete, die parallel von einer Gentrifizierung erfasst werden und sich in einem Transformationsprozess befinden. Die Explorer-Touristen und die Gentrifier weisen ähnliche Präfe‐ renzen und Affinitäten auf. Beide frequentieren stylische Cafés und Restau‐ rant, Second Hand Stores oder Kunsthandwerkläden bzw. auch Night‐ life-Angebote. Einerseits ergänzen sich damit die Interessen der Bewohner und Besucher in vielen Quartieren. Durch die zusätzliche Nachfrage von Touristen wird für manche Angebote die Tragfähigkeitsschwelle überschrit‐ ten, sodass sich auch für die Bewohner das Dienstleistungsangebot erwei‐ tert. Gleichzeitig kann aber auch die soziale Tragfähigkeit überschritten 234 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 234 <?page no="235"?> werden, wenn sich die Bewohner durch die Touristen gestört fühlen und diese nicht als positives Element in ihrem Wohnumfeld wahrnehmen. Diese Situation ist z. B. in Berlin eingetreten (vgl. auch Box 17 „Overtourism“ in Kap. 6.3.3). Abb.‐Nr.: -97 Abb.‐Titel: -Abb.-97: Motive-der-Nutzer-von-Sharing‐ Übernachtungsangeboten-und-Differenzierung-der- Nutzer-von-Airbnb-und-Couchsurfing-(Quelle: -eigene- Erhebung) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE ganz sehr unwichtig wichtig AirBnB Couchsurfing 1 2 3 4 5 Geld sparen Neue Leute kennenlernen Direkter Kontakt mit Einheimischen Insidertipps vom Gastgeber Perspektive Bewohner Urlaubsorte, die sonst zu teuer Gutes Gefühl Horizont erweitern Probiere gerne neue Dinge aus Freunde haben mir davon erzählt Abb. 97: Motive der Nutzer von Sharing-Übernachtungsangeboten und Differenzierung der Nutzer von Airbnb und Couchsurfing (Quelle: eigene Erhebung) Touristifizierung: Fallbeispiel Berlin Die Situation in Berlin war während der Teilung Deutschlands bis 1990 durch spezifische Rahmenbedingungen geprägt, die als eine Art „geschütz‐ tes Milieu“ angesprochen werden kann. Sowohl im Ostteil als Bestandteil der DDR als auch - bedingt durch die Insellage - im Westteil der Stadt haben die in vielen anderen Städten Westdeutschlands ablaufenden Transformati‐ onsprozesse nur in sehr begrenztem Umfang stattgefunden. Diese Art „Glo‐ cke“ hat verhindert, dass angefangen von der Verdrängung der Wohnbevöl‐ kerung aus zentralen Quartieren durch andere - vornehmlich tertiäre - Nutzungen über den Anstieg der Immobilien- und Mietpreise durch die zu‐ nehmende Nachfrage bis hin zur zunehmenden Präsenz von Städtetouristen 235 6.3 Städtetourismus - ein dynamisches Wachstumssegment 235 <?page no="236"?> Prozesse in gleicher Weise abgelaufen sind, wie in anderen Städten West‐ europas. Mit der Wiedervereinigung wurde diese „Glocke“ entfernt und der Transformationsprozess begann wie in vielen anderen Städten Osteuropas, sicherlich aber auch durch die Verlagerung der Hauptstadtfunktion noch akzentuiert. Von der lokalen Bevölkerung wird dieser Transformationspro‐ zess als teilweise bedrohlich angesehen. Dabei konzentriert sich die Diskus‐ sion vor allem auf die - leicht wahrnehmbare - Anwesenheit von Städte‐ touristen in den ehemals vor allem als Wohngebiete genutzten Quartieren. Andere Prozesse, wie die Umwidmung von Wohnin Büroflächen werden demgegenüber oftmals weniger gesehen. Auch wird nur partiell wahrge‐ nommen, dass in Berlin in Form einer nachholenden Entwicklung eben teil‐ weise eine Angleichung an Verhältnisse wie in anderen westeuropäischen Städten erfolgt. Ohne diese Entwicklungen unter sog. marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen als uneingeschränkt positiv werten zu wollen, ist doch auch darauf hinzuweisen, dass der Widerstand gegen Touristifizierung, d. h. die touristische Überprägung von Quartieren oftmals von den Gentrifiern getragen wird, die als Teil des Transformationsprozesses die Aufwertung und Umstrukturierung mit geprägt haben. Im Jahr 2014 hat sich die Diskussion stark auf die Sharing-Plattform Airbnb konzentriert, über die Übernachtungsmöglichkeiten von Privatper‐ sonen angeboten werden. Auch wenn die Abschätzung nicht ganz einfach ist, kann von etwa 10.000 Airbnb-Übernachtungsangeboten und ca. 250.000 Gästen ausgegangen werden (vgl. L AUB E et al. 2014, S. 85 und S TÜB E R 2014). Angesichts von geschätzten 26,2 Millionen Übernachtungen im traditionel‐ len VFR-Segment (Berlin Tourismus & Kongress GmbH, 2012, S. 6) und den im Jahr 2017 in gewerblichen Übernachtungseinrichtungen registrierten gut 31 Mio. registrierten Nächtigungen (Statistisches Bundesamt 2018; vgl. Kap. 3.1.2) relativiert sich die besonders in Berlin intensiv geführte Diskus‐ sion über die vermuteten negativen Auswirkungen der über Sharing-Platt‐ formen wie Airbnb vermittelten Übernachtungsangebote. Ein Blick auf die räumliche Verteilung der Airbnb-Angebote zeigt, dass einerseits ein Großteil Kieze in Berlin nur sehr wenig vom Phänomen Airbnb beeinflusst sind. Von den 447 von der Senatsverwaltung für Stadtentwick‐ lung und Umwelt ausgewiesenen „Lebensweltlich orientierten Räumen“ (LOR; umgangssprachlich Kieze), ist im Frühjahr 2015 in 100 kein einziges Airbnb-Angebot identifiziert worden und in weiteren 169 Kiezen war es nur bis zu einem Airbnb-Angebot pro 1.000 Einwohner. Umgekehrt zeigt sich aber die Konzentration des Phänomens auf wenige Kieze. In neun LORs be‐ 236 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 236 <?page no="237"?> läuft sich die Dichte auf mehr als 20 Airbnb-Angebote pro 1.000 Einwohner. Die Konzentration auf Teile der Bezirke Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Pankow (Prenzlauer Berg) ist klar sichtbar. Auch wenn es sich um einen Überformungsprozess handelt, der z. B. mit der Umnutzung von Wohnraum in Büroflächen in vielen westeuropäischen Innenstädten verglichen werden kann, ist unter dem Blickwinkel der sozialen Tragfähigkeit sicherlich zu überlegen, ob in manchen Kiezen hier mit Umnutzungsverordnungen eine Limitierung angestrebt wird. Abb.‐Nr.: -98 Abb.‐Titel: -Airbnb-in-Berlin-(Quelle: -Eigener-Entwurf- nach-Daten-S KOWRONNEK ,-V OGEL &-P ARNOW 2015-sowie- Land-Berlin-2015) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Airbnb Angebote pro 1.000 Einw. unter 1 1 bis unter 5 5 bis unter 20 20 und mehr 0 200 75 25 5 Anzahl Airbnb Angebote Mitte Friedrichshain- Kreuzberg Pankow Charlottenburg- Wilmersdorf Spandau Steglitz- Zehlendorf Tempelhof- Schöneberg Neukölln Treptow- Köpenick Marzahn- Hellersdorf Lichtenberg Reinickendorf Abb. 98: Airbnb in Berlin nach LOR (Quelle: eigener Entwurf nach Daten S K O W R O N N E K , V O G E L & P A R N O W 2015 sowie Land Berlin 2015) Gleichzeitig ist aber festzuhalten, dass die Preissteigerungen auf dem Im‐ mobilienmarkt wohl stärker von den anderen Treibern der Transformati‐ onsprozesse (Hauptstadtfunktion, Ansiedlung von neuen Start-ups der Creative Industries etc.) geprägt sind, als von dem insgesamt gesehen zwar offensichtlichen Phänomen der Share Economy im Tourismus. 237 6.3 Städtetourismus - ein dynamisches Wachstumssegment 237 <?page no="238"?> Auch das Argument, dass über Airbnb eine Vielzahl von Anbietern quasi gewerbsmäßig unter Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen zur Bedro‐ hung für das lokale Übernachtungsgewerbe würde, lässt sich nur begrenzt halten. Von den 9.322 Airbnb-Anbietern, die S KOWR ONNEK , V OG EL & P AR ‐ NOW (2015) im Frühjahr 2015 im Netz identifizieren konnten, würden insge‐ samt Schlafmöglichkeiten für 25.687 Personen angeboten. Wird die Größen‐ ordnung von 245.000 Gästen (S TÜB E R 2014) als realistisch angesehen, dann ergäben sich etwa 10 Gäste pro angebotenem Bett und Jahr - ein Durch‐ schnittswert, der sicherlich nicht auf eine durchgängig gewerbsmäßige Pra‐ xis hindeutet. Gleichzeitig werden von mehr als der Hälfte der Anbieter nur 1 oder 2 Schlafplätze angeboten. 98,8 % der Airbnb-Hosts bieten bis zu 6 Schlafplätze an (ohne dass genauer bekannt wäre, ob es sich hier um ein gro‐ ßes Appartement oder um zwei kleinere handelt) und stellen damit 96,3 % des Bettenangebotes. Erhebungen bei den Anbietern (vgl. K AG E RMEIE R , K ÖLLE R & S TO R S 2015) haben dabei auch gezeigt, dass nicht alle Airbnb-Hosts auch neu auf dem Markt sind. Teilweise handelt es sich um Personen, die bereits traditionell eine Ferienwohnung vermietet haben und Airbnb als zusätzliche Vermarktungsplattform nutzen. In Berlin, wie auch in anderen Städten sind inzwischen sogar Hotels dazu übergegangen, ihre Betten über Airbnb anzu‐ bieten, diese Plattform also als zusätzlichen Vertriebskanal zu nutzen. Abb.‐Nr.: -99 Abb.‐Titel: -Anteile-von-Airbnb‐Anbietern-und- angebotenen-Betten-in-Berlin-(Quelle: -Eigener- Entwurf-nach-Daten-S KOWRONNEK ,-V OGEL &-P ARNOW 2015) Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% 45% 50% 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 über 10 Anzahl Betten Anbieter Betten Abb. 99: Anteile von Airbnb-Anbietern und angebotenen Betten in Berlin (Quelle: eigene Darstellung nach Daten S K O W R O N N E K , V O G E L & P A R N O W 2015) 238 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 238 <?page no="239"?> Dies bedeutet, dass nur ein verschwindend kleiner Teil der Airbnb-Hosts er‐ kennbar einen gewerbsmäßigen Charakter vermuten lässt. Diese „Schwarzen Schafe“ entsprechend zu identifizieren und sicher zu stellen, dass die gesetz‐ lichen und steuerlichen Rahmenbedingungen eingehalten werden, ist ein le‐ gitimes Anliegen. Umgekehrt bewegt sich vieles unterhalb der Schwelle von 10 Betten, die ja auch im traditionellen Übernachtungswesen als Grenze für den gewerbsmäßigen Betrieb angesehen wird und dann auch dementspre‐ chend steuerlich behandelt wird. In Berlin waren es im Frühjahr 2015 nur 12 Airbnb-Anbieter mit 154 Schlafplätzen, die diese Schwelle überschritten ha‐ ben. Letztendlich ist das Phänomen eine klassische Innovation im Übernach‐ tungsmarkt. Die entsprechenden Regularien müssen sich erst an mit dieser Innovation entstandenen Gegebenheiten anpassen und die aktuelle Diskus‐ sion ist damit als ein klassisches Transitionsphänomen anzusehen. In einer vom BMWi (2018) in Auftrag gegebenen Studie wurde versucht, die anstehenden Managementoptionen aufzubereiten. Während als erste Re‐ aktion auf die Implikationen der Sharing Economy im Städtetourismus die betroffenen Städte versuchten, individuelle Maßnahmen zu ergreifen, zu de‐ nen auch der Versuch von Vereinbarungen mit der Vermittlungsplattform Airbnb zählte, wird dort deutlich gemacht, dass es zielführender ist, wenn auf nationaler Ebene - besser noch auf gesamteuropäischer Ebene - entspre‐ chende Handlungsansätze verfolgt werden. Dabei werden - auf der Basis ei‐ nes systematischen Monitorings - folgende Managementansätze empfohlen: Einheitliche Durchsetzung der Steuererhebung sowie der Meldepflicht (ein‐ schließlich der Abführung von ggf. erhobenen lokalen Tourismusabgaben), klare Regeln für zeitliche Begrenzungen (um die dauerhafte Zweckentfrem‐ dung zu vermeiden, aber die Nutzung von temporär freiem Wohnraum zu ermöglichen) sowie ggf. die lokale Festlegung von räumlichen Begrenzungen (BMWi 2018, S. 86ff.). Nur auf der Basis eines einheitlichen europaweiten Vorgehens besteht Aussicht, dass die Vermittlungsplattform auch zu entspre‐ chenden Kooperationen bezüglich des Datenaustausches und der direkten Einziehung von entsprechenden Abgaben bereit ist. Zusammenfassend ist für den Städtetourismus festzuhalten, dass er einer der Hauptwachstumsträger des Tourismus - nicht nur in Deutschland ist. Der bisherige Fokus im Destinationsmanagement lag dabei vor allem auf den traditionellen kulturell ausgerichteten Angebotselementen, sei es der Präsentation des materiellen kulturellen Erbes oder von hochkulturell aus‐ gerichteten Veranstaltungen. Damit wird die primäre Zielgruppe im Städ‐ tetourismus von den zuständigen Organisationen oftmals im gehobenen 239 6.3 Städtetourismus - ein dynamisches Wachstumssegment 239 <?page no="240"?> Einkommenssegment bei mittleren und höheren Altersgruppen in etablier‐ ter gesellschaftlicher Position gesehen. Box 17 | Overtourismus als Governance-Herausforderung Teilweise befördert von der Diskussion um Airbnb manifestiert sich seit dem Jahr 2017 eine dem Städtetourismus ablehnend gegenüberstehende Haltung in einigen sehr stark frequentierten städtetouristischen Desti‐ nationen. Befördert durch eine intensive Medienberichterstattung über Besucherdruck und dadurch ausgelöste negative Effekte erfährt der Be‐ griff „Overtourism“ inzwischen eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Die Diskussion war dabei ursprünglich vor allem von den drei Kreuz‐ fahrtdestinationen Barcelona, Dubrovnik und Venedig geprägt. Kreuz‐ fahrtgruppen sind aufgrund ihres massiven Auftretens besonders wahr‐ nehmbar und führen in engen historischen Altstädten zu massiv spürbaren physischen Überlastungen. Gleichzeitig generiert der Kreuz‐ fahrtourismus nur vergleichsweise geringe regionale Wertschöpfung. Kritische Stimmen zum Städtetourismus manifestieren sich aber inzwi‐ schen auch in Städten, in denen die physischen Grenzen (Crowding) nicht eindeutig erreicht sind. Auch ist zu konstatieren, dass bei ver‐ gleichbarer Tourismusintensität (Besucher pro Einwohner) die subjek‐ tive Tragfähigkeit oftmals unterschiedlich eingestuft wird. So weisen die drei größten deutschen städtetouristischen Destinationen (Berlin, Hamburg, München) eine vergleichbare Tourismusintensität von etwa 10 Übernachtungen pro Einwohner auf (K AG E RMEIE R & E RDMENG E R 2019, S. 69). Während allerdings in Berlin bereits 2011 erste aversive Artikulationen erfolgten, ist bislang in München (und auch in Hamburg nur sehr eingeschränkt; vgl. P O S TMA & S CHMÜCKE R 2017) die Wahrneh‐ mung eines „zu viel“ an Touristen zu registrieren. Die subjektive „Carrying Capacity“, d. h. die Grenze der Tragfähigkeit an Touristen, die von der lokalen Bevölkerung akzeptiert wird, ist ein multidimensionales Konstrukt, das nicht leicht zu fassen ist. Untersu‐ chungen in München (K AG E RMEIE R & E RDMENG E R 2019) legen nahe, dass es neben der Art der Touristen auch die Geschwindigkeit der Verände‐ rung ist, die sich auf die subjektive Wahrnehmung auswirkt. So werden Partytouristen - welche in Berlin stark vertreten sind - als irritierender empfunden als kulturorientierte Städtetouristen in München, da das Le‐ bensstil-Gap zwischen den Besuchern und Bewohnern geringer ist. 240 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 240 <?page no="241"?> Während Berlin nach der Wiedervereinigung und der wiedererlangten Hauptstadtfunktion für die Bundesrepublik einen sprunghaften Anstieg der Besucherzahlen zu verzeichnen hatte, war München in den letzten Jahrzehnten relativ kontinuierlich als städtetouristische Destination ge‐ wachsen, so dass wohl auch ein gewisser Lernbzw. Gewöhnungseffekt (gepaart mit einem ausgeprägten Lokalstolz) zu konstatieren ist. Aber auch die Befindlichkeit der Stadtgesellschaft (in sich ruhend und relativ stabil bzw. von Spannungen und Friktionen gekennzeichnet) sowie der gesamte gesellschaftspolitische Diskurs scheinen eine wichtige Rolle zu spielen. Gleichzeitig scheint auch der Erhalt von Rückzugsräumen für die lokale Bevölkerung (insbesondere in den Wohnquartieren) eine wichtige Rolle für die Entwicklung einer Resilienz gegenüber größeren Besucherzahlen zu spielen. Insbesondere dieser Aspekt wurde durch die Übernachtungsangebote von Airbnb berührt, wenn eben die Touristen der Wohnbevölkerung nicht mehr nur im öffentlichen innerstädtischen Raum, sondern im privaten Wohnumfeld begegnen und damit - neben manchen konkreten Lärm-Belästigungen - auch Irritationen der sub‐ jektiven Befindlichkeit hervor rufen. Damit dürften die in den letzten Jahren zu beobachtenden - etwas kurz‐ atmig und hektisch anmutenden - konkreten Limitierungsansätze (vgl. z. B. UNWTO 2018) nur begrenzt zielführend sein, eine dauerhafte Stabi‐ lisierung der Akzeptanz von Besuchern bei der lokalen Bevölkerung zu induzieren. Es spricht vielmehr dafür, dass eine intensive Fokussierung auf die Partizipation der Bevölkerung sowie ein Ernstnehmen von ersten subjektiven Unwohlgefühlen notwendig ist, um proaktiv ein Umkippen der Stimmung in der Stadtgesellschaft zu vermeiden zu versuchen. Damit dürfte die Rolle der DMOs in den nächsten Jahren einen Bedeu‐ tungswandel erfahren. Bislang hatten sich diese als vor allem als dem quantitativen Wachstum verpflichtete Akteure verstanden, deren Fokus auf die Zielgruppe Besucher ausgerichtet war. Zukünftig wird es in mindestens gleichem Maß auch darauf ankommen, stärker als Mediator mit dem Blickwinkel auf die lokalen Akteure zu agieren. Dies stellt si‐ cherlich eine zentrale Herausforderung für die grundlegende Umorien‐ tierung von touristischer Governance voraus. Gleichzeitig kann es durchaus sein, dass die Overtourism-Diskussion auch einen prinzipiel‐ leren Paradigmenwechsel im Tourismus einleitet, der bislang stets wachstumsorientiert gewesen ist. 241 6.3 Städtetourismus - ein dynamisches Wachstumssegment 241 <?page no="242"?> Die Zielgruppe der mehr an populärkulturellen oder auch subkulturellen Angeboten Interessierten - vor allem jüngeren - Besucher wird demgegen‐ über bislang vom offiziellen Tourismusmarketing nur begrenzt wahrge‐ nommen. Gleichzeitig wurde am Beispiel von Berlin aber auch deutlich ge‐ macht, dass eine verstärkte Anziehungskraft gerade für diese Zielgruppen auch zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung führen und eine mangelnde Akzeptanz dann die Überschreitung der sozialen Tragfähigkeitsgrenze be‐ deuten kann. Hier entsprechend als Mediator aufzutreten, ist sicherlich eine Aufgabe, welche die städtischen DMOs bislang nur sehr partiell wahrneh‐ men. Insbesondere die Betonung der wirtschaftlichen Effekte des Städte‐ tourismus erscheint hier genauso wichtig, wie das Ernstnehmen der Be‐ fürchtungen der lokalen Bevölkerung und die Suche nach Kompromissen, die für alle Beteiligten tragbar sind - im Sinne einer als sozial nachhaltig verstandenen Tourismuspolitik. 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit Auch wenn ein Großteil des touristischen Aufkommens in Deutschland in die Städte gerichtet ist und damit die absoluten Volumina im ländlichen Raum nicht die gleiche Höhe erreichen, stellt der Wirtschaftsfaktor Tourismus - mangels anderer tragfähiger ökonomischer Aktivitäten - dort oftmals relativ gesehen, ein wichtiges Standbein der Regionalökonomie dar. Der Anteil der Tagesbesucher im ländlichen Raum beträgt immerhin ein Viertel (DWIF 2013, S. 74). Auch das Statistische Bundesamt (2018, 2-5) gliedert eine Raumkate‐ gorie „Ländliche Gebiete“ aus (ohne vollkommen identisch mit der DWIF-Ab‐ grenzung sein zu müssen). In dieser werden ebenfalls ein Viertel der An‐ künfte und sogar - aufgrund der geringeren durchschnittlichen Aufenthaltsdauern im Städtetourismus - ein Drittel der Übernachtungen rea‐ lisiert. Gleichzeitig zielen die touristischen Potentiale im ländlichen Raum oft‐ mals auf das Naturerlebnis und damit meist die Entschleunigung betonende Tourismusformen ab. Von den Tourismusformen im ländlichen Raum sind insbesondere der Wander- und Fahrradtourismus prägend. Auch haben diese in den letzten beiden Jahrzehnten deutliche strukturelle Entwicklun‐ gen erfahren und werden deshalb an dieser Stelle als Tourismusformen im ländlichen Raum im Kontrast zum Städtetourismus behandelt. 242 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 242 <?page no="243"?> Formen der aktiven Urlaubsgestaltung sind in den letzten Jahren eindeutig auf dem Vormarsch. Das klassische eher passiv ausgerichtete reine „Sun&Beach“-Segment wird zwar auch weiterhin noch große Marktanteile an sich binden können. Aber die Bedürfnisse - insbesondere von Nachfra‐ gern mit höherem Bildungsniveau - an die Freizeit- und Urlaubsgestaltung gehen eindeutig weg vom reinen Strandurlaub mit dem Primärziel der Kör‐ perbräune und dem passiven Erholen. Demgegenüber konnten Urlaubsfor‐ men, wie Wander- und Fahrradtourismus sowie Sporttourismus, die eine ak‐ tive Beteiligung der Urlauber in den Mittelpunkt stellen und auf holistische Erfahrungen abzielen, an Bedeutung gewinnen. Gleichwohl werden die auf Entschleunigung und eine neue Langsamkeit, als Gegenentwürfe zu den teil‐ weise schrillen Kicks der 1990er Jahre entwickelten Angebote weiterhin mit den traditionellen Erlebnisversprechen vermarktet. Dabei ist zu unterstellen, dass sich subkutan bereits neue, bislang in ihrer vollen Konsequenz noch nicht vollständig absehbare Angebots- und Nachfragemuster ankündigen. Bei dem Versuch, diese künftigen Entwicklungslinien zu fassen, hat R O ‐ MEI SS -S TRACKE (2003) postuliert, dass wir uns auf dem Weg von der Erlebniszur Sinngesellschaft befinden. Damit könnte sich ein neues Paradigma ab‐ zeichnen, bei dem die Neuorientierung an sinnstiftenden Verhaltensweisen einen erneuten Wertewandel ankündigt. Gleichzeitig ist in der aktuellen Umbruchssituation festzuhalten, dass in einer Art Gleichzeitigkeit des Un‐ gleichzeitigen die unterschiedlichen Angebotsformen parallel nebeneinan‐ der bestehen, d. h. nicht die Nachfrage von kurzfristigen Erlebnissen eines Nervenkitzels abgelöst wird von der nach entschleunigten Freizeit- und Ur‐ laubsangeboten. Kennzeichen der Postmoderne ist gerade die Vielfalt des Angebotes und die Multioptionalität der einzelnen hybriden Nachfrager. Die Behandlung des Wander- und Fahrradtourismus in diesem Kapitel steht da‐ mit auch stellvertretend für Tourismussegmente, die symptomatisch für die aktuelle Umbruchsituationen am Beginn des 21. Jahrhunderts sind. 6.4.1 Der neue Wanderer und die Redynamisierung des Wandertourismus Der Wandertourismus hat seit Beginn des 21. Jahrhunderts eine merkliche Redynamisierung erfahren. Lange Zeit wurde Wandern bzw. Wandertou‐ rismus als rückläufiges Marktsegment angesehen, deren Nachfragerzahl im Abnehmen begriffen sei. Dabei wurde der klassische Wanderer klischeehaft imaginiert als konservativ eingestellter älterer Mann, ausgestattet mit Hut, 243 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit 243 <?page no="244"?> Wanderstock, Kniebundhosen und rotkariertem Wanderhemd, der Volks- und Wanderlieder singend in organisierten Gruppenwanderungen unter‐ wegs ist (vgl. L EDE R 2003, S. 320). Dieses Bild eines - insbesondere im Vergleich zu den Freizeit- und Erleb‐ niswelten der 1990er Jahren - wenig attraktiven Segments hat sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt. Wandern ist inzwischen für Zielgruppen attraktiv geworden, die deutlich jünger sind, moderne und multifunktionale Outdoorkleidung bevorzugen und auch weltanschaulich nicht mehr als kon‐ servativ zu bezeichnen sind. Dabei zeichnen sich die „neuen Wanderer“ auch dadurch aus, dass sie das Wandern zu zweit oder in kleinen Gruppen be‐ vorzugen (vgl. L EDE R 2003, S. 328). Damit ist Wandern (wie auch andere aktuell sich dynamisch entwickelnde Urlaubsformen) klar auf die soziale Interaktion ausgerichtet. Das Zusammensein oder „Being with others“ (A N ‐ DE R S ON C EDE RHOLM 2009) nimmt als Urlaubsmotiv eine zunehmende Rolle ein (vgl. Kap. 2.2.1). Zwar war bei der Wanderstudie 2008 des Deutschen Wanderinstituts das Hauptmotiv des Wanderns mit 88 % nach wie vor der Wunsch, Natur und Landschaft zu genießen, gefolgt von der Absicht, etwas für die Gesundheit zu tun (70 %). Bereits an dritter Stelle rangierte mit 62 % das Unterwegs-sein mit dem Partner bzw. Freunden, d. h. die Erwartung eines schönes sozialen Er‐ lebnisses (Deutsches Wanderinstitut 2008, S. 13), ein Motiv, das in den letzten Jahren eine deutlichen Bedeutungsgewinn erfahren hat (Steigerung um 8 % zwischen 2003 und 2008; ähnlich BMWI 2010, S. 34). Dabei werden Klein‐ gruppen mit intensiven Kontakten im kleinen Kreis bevorzugt. Ein gutes Drittel der Wanderer sind mit dem Partner unterwegs und gut 40 % mit zwei bis fünf Freunden und Bekannten, während nur 3 % in Gruppen von 20 Per‐ sonen und mehr unterwegs waren (Deutsches Wanderinstitut 2008, S. 16). Das Klischee von großen Wandertrupps, die mit einem Lied auf den Lippen durch deutsche Wälder stapfen ist also überholt. Bei der vom BMWi finanzierten Grundlagenstudie Wandern konnte auch aufgezeigt werden, dass Abstand vom Alltag gewinnen und „eine Auszeit nehmen“ in der - oftmals von star‐ ker beruflicher Anspannung gekennzeichneten Lebensmitte (Altersgruppen zwischen 35 und 54 Jahre) - besonders ausgeprägt ist. Wandern kommt da‐ mit auch die Funktion der Prävention für Burnoutsyndrome zu. Das in der Paarbeziehung oder kleineren informellen Freundesgruppen erfahrene gemeinsame Durchstreifen einer als positiver Stimulus empfun‐ denen Natur zeigt, dass individuelle Wohlfühlaspekte im Motivspektrum der Wanderer einen hohen Stellenwert einnehmen. Dabei ist der moderne Wan‐ 244 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 244 <?page no="245"?> derer nicht mehr primär an der Zurücklegung großer Kilometerzahlen (oder dem Erreichen hoher Gipfel) interessiert. Vielmehr kann er durchaus als Genusswanderer im Wellness-Stil angesehen werden. Die Genussorientierung des modernen Wanderers impliziert gleichzeitig, dass er hohe Anforderungen an die Angebotsgestaltung stellt. Dazu gehört die Kombination mit kulinarischen Genüssen ebenso wie die Anforderungen an ansprechende Wegeführung und Ausschilderung der Wege. Damit stellen sich für Wanderdestinationen auch eine Reihe von neuen Herausforderun‐ gen an die Marktkommunikation, mit der die Zielgruppen klar angespro‐ chen werden müssen, denen ein konkretes Urlaubsversprechen gemacht wird, das dann vor Ort auch von allen Leistungsträgern entsprechend ein‐ gelöst werden muss. Nicht nur die emotionale, konsistente Kundenanspra‐ che, sondern auch die Gewährleistung von in sich stimmigen Teilleistungen des Leistungsbündels Wanderaufenthalt (von der Markenbildung und die Informationsmaterialien über die Anreise, die konkrete Wanderinfrastruk‐ tur bis hin zu den gastronomischen und Übernachtungsangeboten) stellen damit erhebliche Anforderungen an die Destinationsmanagementorganisa‐ tionen (genauer z. B. zu den Qualitätszeichen für Wandergastgeber D R E Y E R , M ENZEL & E NDR E SS 2010, S. 223ff.) Den gestiegenen Anforderungen der neuen Wanderer entspricht das Aus‐ weisen von Qualitätsbzw. und Premiumwegen durch den Deutschen Wan‐ derverband (2006) und das Deutsche Wanderinstitut (2009). Entsprechend den Bedürfnissen der Wanderer wird bei diesen Prädikaten neben der Beschaf‐ fenheit des Weges und der Qualität der Ausschilderung insbesondere auch darauf geachtet, dass positive Stimuli des Natur- und Kulturraums ebenso er‐ fahrbar sind, wie kulinarische Angebote. Diese veränderten Nachfragestruk‐ turen korrespondieren auch mit neuen Wegen in der Marktkommunikation. Neben den Fernwanderwegen, die sich z. B. mit einem klaren Markenverspre‐ chen unter der Marke „Top Trails of Germany“ (www.top-trails-of-germany.de) positionieren, werden auch kleinere Wandersteige mit einem klaren, auf Na‐ tur- und Landschaftsgenuss in harmonischem Kleingruppenkontext ausge‐ richteten Produktversprechen positioniert, wie z. B. die „Traumpfade“ in Rheinland-Pfalz, die mit dem Slogan „… zum Wandern verführen“ werben (www.traumpfade.info). Auch der Erfolg des Rothaarsteigs, der als „Weg der Sinne“ (www.rothaarsteig.de; siehe auch: D R E Y E R , M ENZEL & E NDR E SS 2010, S. 198ff.) vermarktet wird, ist sicherlich auf diese konsequente Ausrichtung der Marktkommunikation zurückzuführen. 245 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit 245 <?page no="246"?> Der Wandertourismus in Deutschland kann damit als gelungene „Reju‐ venation“ im Sinne von B UTLE R ’s Lebenszyklusmodel (vgl. Kap. 1.2.2.1) an‐ gesehen werden, bzw. in der Terminologie der Boston Consulting Group als „Poor Dog“, der den erneuten Sprung zur Star geschafft hat (Kap. 3.2.2). Einerseits ist dies sicherlich auf die in den letzten Jahren unternommenen Anstrengungen im Bereich der Servicequalität und die Produktinnovation von Fernwanderwegen zurückzuführen. Gleichzeitig zeigt der Wandertou‐ rismus auch die Grenzen der Prognosefähigkeit der Lebenszyklusmodelle, die eben keine Berücksichtigung der Nachfrageseite vorsehen. Das phönix‐ artige Wiedererstehen des Wandertourismus ist eben nicht nur von Desti‐ nations- und Produktmanagern gemacht, sondern wurde erst durch verän‐ derte Präferenz- und Wertemuster der potentiellen Nachfrager möglich. Box 18 | KONUS: Nachhaltigkeitsorientierung beim Wandertou‐ rismus durch öffentliche Mobilitätsangebote Im Zusammenhang mit dem Wandertourismus (gilt aber auch partiell für den Fahrradtourismus) sei auf Ansätze in manchen Wanderdestina‐ tionen hingewiesen, durch entsprechende Mobilitätsangebote, bzw. Mo‐ bilitätsmanagementkonzepte eine am Nachhaltigkeitsgedanken orien‐ tierte Reduzierung der privaten Pkw-Nutzung zu erzielen. Wander- und Radtouristen eignen sich deshalb auch als Zielgruppe für auf diese ab‐ gestimmte Mobilitätsangebote, weil die Benutzung des ÖPNV den Zu‐ satznutzen vermittelt, Streckenwanderungen bzw. -fahrten zu unter‐ nehmen, da nicht zum Ausgangspunkt (= Parkplatz des Pkws) zurückgekehrt werden muss. Als bundesweites Best Practise Beispiel kann hier das KONUS-Konzept in der Destination Schwarzwald gelten. KONUS steht für „KOstenlose NUtzung des öffentlichen Nahverkehrs für Schwarzwaldurlauber“. Das Konzept von KONUS ermöglicht es den Übernachtungsgästen im ge‐ samten Schwarzwald, ohne zusätzliche Kosten alle öffentlichen Ver‐ kehrsmittel im Schwarzwald zu nutzen. Es ist das Ergebnis einer Ko‐ operation zwischen den DMOs und den lokalen Verkehrsunternehmen, gestützt von der lokalen Politik und damit auch ein Good Practise Bei‐ spiel für Kooperationen im Destinationsmanagement (vgl. Kap. 4.4.3). Die beteiligten Akteure haben sich darauf verständigt, dass pro Über‐ nachtung 30 Cent an die regionalen Verkehrsunternehmen abgeführt werden. Im Gegenzug erhalten alle Gäste die KONUS-Karte, mit der Sie 246 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 246 <?page no="247"?> im gesamten Schwarzwald den ÖPNV nutzen können. Verbunden mit der Einführung der KONUS-Karte war eine unter Einbeziehung aller Beteiligten erfolgte Fahrplan- und Linienoptimierung. Im Jahr 2020 konnten in etwa 150 Schwarzwaldgemeinden etwa 9.000 Übernachtungsbetriebe ihren Gästen dieses Mobilitätsangebot unter‐ breiten. Die Transportunternehmen erhielten im Gegenzug etwa 4 Mio. € zur Aufstockung ihres Angebotes (das auch der lokalen Bevöl‐ kerung zu Gute kommt). Mit zum Erfolg von KONUS trägt bei, dass sowohl die DMOs und die Verkehrsunternehmen als auch die privaten Leistungsträger in der Marktkommunikation das Angebot offensiv mit vertreten (genauer z. B. bei K AG E RMEIE R & G R ONAU 2015). Ähnlich auch der Igelbus im Nationalpark Bayerischer Wald, der zusätzlich auch mit P&R-Angeboten und partiellen Befahrungsverboten operiert (vgl. z. B. K AG E RMEIE R 2007). Weitere Good Practise Beispiele finden sich auch in der Grundlagenstudie Wandern (BMWI 2010, S. 94ff.). 6.4.2 Fahrradtourismus: Stagnation oder Diversifizierung Fahrradtouristische Angebote haben in den letzten Jahren ebenfalls einen deutlichen Boom erfahren und die Angebotsausweitung führte auch zu merklichen Nachfrageerhöhungen. Mit verantwortlich für die Zunahme der Nachfrage sind hier wiederum sicherlich die demographischen Verände‐ rungen, der verstärkte Fokus auf aktivorientierte Urlaubsformen sowie wachsende neue Bedürfnisse einer an holistischen Urlaubserlebnissen in Gemeinschaft mit anderen orientierten Freizeitgestaltung. Gleichzeitig ist absehbar, dass der fahrradtouristische Markt langsam in eine Reifephase kommt. Damit verbunden ist eine Erhöhung der Anforde‐ rungen an die Produktgestaltung. Um weiterhin erfolgreich auf dem Markt bestehen zu können, werden sich die Anbieter neben einer intensiveren Ausrichtung an Qualitätsstandards in den kommenden Jahren auch den Herausforderungen zur Ausdifferenzierung der bisherigen Basisprodukte stellen müssen. Bei einer repräsentativen, nur auf den Sommerurlaub bezogenen Befra‐ gung des Europäischen Tourismusinstitutes (ETI) wurde Fahrradfahren von 59 % der Befragten als (auch) ausgeübte Tätigkeit bezeichnet (vgl. H ALLE R ‐ BACH 2009, S. 46). Für gut jeden zehnten Sommerurlauber ist Radfahren eine der drei wichtigsten Aktivitäten während des Sommerurlaubs, sodass ins‐ 247 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit 247 <?page no="248"?> gesamt von ca. 3 Millionen Radreisen (mit Übernachtungen) ausgegangen werden kann (vgl. H ALLE R BACH 2009, S. 41). Das Deutsche wirtschaftswis‐ senschaftliche Institut für Fremdenverkehr (DWIF) geht sogar von ca. 22 Millionen Übernachtungen durch Fahrradtouristen und weiteren 153 Mil‐ lionen Fahrradtagesreisen aus (vgl. BMWi 2009, S. 23 und 25). Damit scheint auf dem ersten Blick Fahrradtourismus auf der Welle des Erfolgs zu schwim‐ men und manche Leistungsträger sind versucht, bei diesem vermeintlich nachfragegetriebenen Segment zu unterstellen, dass es sich hier quasi um einen Selbstläufer handeln würde. Schon alleine ein Vergegenwärtigen des Grundprinzips der Marktent‐ wicklung macht klar, dass der Fahrradtourismus in den letzten 10 Jahren (angesichts hoher Wachstumsraten) wohl als „Star“ im touristischen Port‐ folio anzusprechen ist und sich aktuell auf dem Weg zur „Cash Cow“ befindet (vgl. Kap. 3.2.2). Im Rahmen des Produkt-Lebenszyklus sind damit ohne weitere Aktivitäten der anbietenden Akteure tendenziell abnehmende Wachstumsraten zu prognostizieren. Ein genauerer Blick in die Nachfrage‐ struktur und die Wettbewerbskonstellationen im Fahrradtourismus zeigt darüber hinaus umso deutlicher, dass eine Vernachlässigung der Anstren‐ gungen bei der Produktentwicklungspolitik auch im Fahrradtourismus mit‐ telfristig die im dynamischen Tourismusmarkt üblichen Konsequenzen ei‐ nes Zurückfallens gegenüber den Mitbewerbern bzw. eines absehbaren Marktaustrittes zu Folge haben dürfte. Starke Fokussierung auf Genussradler und Flussradwege Bei einer Typisierung der Nachfrager im Fahrradtourismus wird deutlich, dass der Schwerpunkt klar bei den Radwanderern bzw. den sog. „Genuss‐ radfahrern“ liegt. 77 % der Fahrradtouristen können der Kategorie „Rad‐ wanderer/ Trekkingradler“ zugeordnet werden. Demgegenüber machen „Mountainbiker“ und sportorientierte „Rennradfahrer“ bei der aktuellen Fassung der Grundlagenstudie nur 13 bzw. 10 % der Nachfrage in Deutsch‐ land aus (BMWI 2009, S. 124). Entsprechend der Dominanz der sog. „Genussradfahrer“ sind unter den Fahrradtouristen die über 45-Jährigen überproportional vertreten (vgl. Tab. 9), wobei insbesondere die 60 bis 65-Jährigen als Hauptzielgruppe im Fahrradtourismus auftreten. Die 50plus-Generation der jüngeren, noch ak‐ tiven Alten zählt aber gleichzeitig auch zu den stark umworbenen Zielgrup‐ pen in anderen touristischen Segmenten. Damit bewegen sich fahrradtou‐ ristische Angebote bei einer Fokussierung auf diese Zielgruppe in einem 248 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 248 <?page no="249"?> angebotsseitig stark besetzten Markt. Gleichzeitig wird deutlich, dass jün‐ gere, noch stärker sportlich orientierte Zielgruppen nur begrenzt vom bis‐ herigen Angebot angesprochen werden. Altersklassen Anteil Fahrradfahrer bis 24 Jahre 4,7 % 25 bis 45 Jahre 9,8 % 45 bis 60 Jahre 13,8 % 60 bis 65 Jahre 16,0 % 65 Jahre und älter 14,3 % total 11,5 % Tab. 9: Anteile der Nennungen von Radfahren als eine der drei wichtigsten Urlaubsaktivitäten nach Altersgruppen (Quelle: H A L L E R B A C H 2009, S. 43) Die Ansprüche und Bedürfnisse von genussorientierten Radwanderern und den stärker sportlich motivierten Mountainbike- und Rennradfahrern an das konkrete fahrradtouristische Angebot unterscheiden sich deutlich (vgl. Tab. 10). Abgesehen von fahrradfreundlichen Übernachtungseinrichtungen oder auf die Bedürfnisse von an Radfahrern ausgerichteten gastronomischen Angeboten lassen sich damit nur begrenzt Synergieoptionen aus einer an den Radwanderern ausgerichteten fahrradtouristischen Infrastruktur gene‐ rieren. Trekkingradreise/ -ausflug Moutainbikereise/ -ausflug Rennradreise/ -ausflug Reisemoti‐ vation aktives Erleben und Kennenlernen von Land und Leuten sportliche Aktivität (Geschicklichkeit) sportliche Aktivität (Geschwindigkeit) Streckenbe‐ schaffenheit überwiegend befes‐ tigte, verkehrsarme Radwege mit touris‐ tischer Beschilde‐ rung und Infra‐ struktur unbefestigte Wege, zum Teil auch Off-road asphaltierte Rad‐ wege und verkehrs‐ arme Straßen für Hochgeschwindig‐ keitsfahrten 249 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit 249 <?page no="250"?> Trekkingradreise/ -ausflug Moutainbikereise/ -ausflug Rennradreise/ -ausflug Topografie der Destina‐ tion reliefarme, kulturell interessante Land‐ schaft; geringe Stei‐ gungen; beliebt: z. B. Flusstäler zumeist bergige Landschaft; hügeli‐ ges bis sogar steiles Gebiet abwechslungsrei‐ che Landschaft (flach bis bergig) Zielgruppe Genussradler jeden Alters von Familie mit Kind bis Senior; Interesse an Kultur, Kulinarik, Land‐ schaft sportlich ambitio‐ nierte und trainierte Radfahrer sportlich ambitio‐ nierte und trainierte Radfahrer; Interesse an Natur und Aus‐ sicht Tagesetappen ca. 40-60 km je nach Terrain un‐ terschiedlich, bis zu 50 km, 500 bis 1.500 Höhenmeter Tagesetappen von bis zu über 100 km Tab. 10: Typologie Fahrradurlauber (Quelle: BMWi 2009, S. 38) Gleichzeitig limitiert die in den letzten Jahren in Deutschland klar ausge‐ prägte Fokussierung auf den genussorientierten Radwanderer die weiteren Entwicklungsoptionen. Da dieser stark auf reliefarme Routen in einer an‐ sprechenden Landschaft ausgerichtet ist, konzentrierte sich die fahrradtou‐ ristische Erschließung in den letzten Jahren klar auf die Flussradfernwege. Unter den Top Ten der von Fahrradtouristen befahrenen Radwege rangieren acht Flussradwege. Und auch die beiden anderen (Ostsee und Bodensee) führen ebenfalls entlang von Gewässerrändern (vgl. Abb. 100). Neben den „Highlights“ der bekannten und bereits seit vielen Jahren eingeführten Rad‐ wanderwegen entlang der - zumeist schiffbaren und damit über entspre‐ chende begleitende Wirtschaftswege verfügenden größeren - Flüsse, folgen auch auf den (hier nicht separat dargestellten, weiteren 20 Rängen 14 Fluss‐ radwege sowie der Nordsee-Radweg). Flusstäler als historische Leitlinien der Siedlungsentwicklung und der Verkehrserschließung verfügen auch bei kleineren, nicht schiffbaren Flüs‐ sen zumeist über ein sich am Flussverlauf orientierendes Wege- und Stra‐ ßennetz. Diese nicht nur relativ steigungsarme, sondern auch klar identifi‐ zierbare Routenführung ist sicherlich einer der Vorteile von Flussradwegen und hat wohl mit dazu beigetragen, dass diese in der ersten Phase der fahr‐ radtouristischen Entwicklung in Wert gesetzt worden sind. Abgesehen da‐ 250 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 250 <?page no="251"?> von, dass einige Flusstäler (wie z. B. die Mosel oder der Rhein) bereits vorher als touristische Destination bestanden und sich an Flusstälern auch viele Städte mit historischem Ambiente als Etappenorte aufreihen, haben Fluss‐ radwege den konkreten Marketingvorteil, dass der Flussname als Brand quasi vorgegeben ist, und auch - unabhängig von touristischer Markenbil‐ dung - eine gewisse Bekanntheit garantiert. Abb.‐Nr.: -100 Abb.‐Titel: -Top-Ten der-befahrenen-Radfernwege-in- Deutschland-(Quelle: -F REITAG ,-K AGERMEIER &-R OGGE 2007) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 2% 4% 6% 8% 10% 12% 14% 16% Elberadweg Weser-Radweg (Deutscher) Donauradweg Mosel-Radweg Main-Radweg Rheinradweg Altmühltal-Radweg Ostseeküsten-Radweg Oder-Neiße-Radweg (Deutscher) Bodensee-Radweg Abb. 100: Top Ten der befahrenen Radfernwege in Deutschland (Quelle: F R E I T A G , K A - G E R M E I E R & R O G G E 2007, S. 26; N = 1.661) Werden alle genannten Fahrradrouten und -gebiete nach Bundesländern zusammengefasst, zeigt sich, dass der Schwerpunkte des Fahrradtourismus in Süddeutschland liegt (vgl. Abb. 101). Auf Bayern und Baden-Württemberg entfällt ein gutes Drittel der Nennungen. Neben den Flussradwegen an Main, Donau und Altmühl kommt in Bayern dem Allgäu noch eine wichtige Rolle zu. In Baden-Württemberg trägt neben dem Bodensee-Radweg vor allem der Neckarradweg zu diesem Ergebnis bei. Bei einer Differenzierung nach dem Landschaftstyp der von Fahrradtou‐ risten befahrenen Radfernwege in Deutschland dominierend dementspre‐ chend diejenigen mit Wasserbezug entlang von Flüssen, Seen und Meeren (vgl. Abb. 102). Vier von fünf befahrenen Radwegen können dieser Kategorie zugeordnet werden. Radfernwege im Flachland, die ja ebenfalls über ein wenig anspruchsvolles Relief verfügen - wie z. B. die „Deutsche Fehnroute“, der „Gurkenradweg“ im Spreewald oder „Berlin-Usedom“ - sind demge‐ genüber deutlich weniger stark vertreten. Und dies, obwohl das reine Flä‐ 251 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit 251 <?page no="252"?> chenpotential an Flachlandrouten insbesondere in Norddeutschland erheb‐ lich wäre. Abb.‐Nr.: -101 Abb.‐Titel-Top-Ten Bundesländer-mit-genannten- beliebtesten-fahrradtouristischen-Destinationen- (Quelle: -F REITAG ,-K AGERMEIER &-R OGGE 2007,-S. 34; - N = 1.535) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 5% 10% 15% 20% 25% Bayern Baden-Württemberg Mecklenburg-Vorpommern Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Niedersachsen Brandenburg/ Berlin Hessen Sachsen Schleswig-Holstein Abb. 101: Top Ten Bundesländer mit genannten beliebtesten fahrradtouristischen Destinationen (Quelle: F R E I T A G , K A G E R M E I E R & R O G G E 2007, S. 34; N = 1.535) Abb.‐Nr.: -102 Abb.‐Titel: -Landschaftstyp-der-befahrenen-Radwege-in- Deutschland-(Quelle: -F REITAG ,-K AGERMEIER &-R OGGE 2007) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 79% 11% 8% 2% Radfernwege mit Wasserbezug entlang von Flüssen, Seen, Meere Radfernwege im Flachland Radfernwege in Mittelgebirgslandschaft Radfernwege in alpiner Landschaft Abb. 102: Landschaftstyp der befahrenen Radwege in Deutschland (Quelle: F R E I T A G , K A G E R M E I E R & R O G G E 2007, S. 27; N = 3.076) 252 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 252 <?page no="253"?> Schon an den gewählten Beispielen wird deutlich, dass - unabhängig von der Qualität des begleitenden touristischen Angebotes bei Flachlandrouten - die klare Abgrenzung und damit auch Markierung in der Marktkommu‐ nikation deutlich schwieriger ist. Ebenfalls über eine entsprechende unge‐ stützte Bekanntheit verfügen - abgesehen von den Flusstälern - in vielen Fällen die Mittelgebirgslandschaften Deutschlands sowie das Voralpenland, die allerdings bislang fahrradtouristisch nur sehr begrenzt in Erscheinung treten. Hoher Grad der Konzentration der Nachfrage Dementsprechend sind in den letzten 20 Jahren auch vor allem neue Fahr‐ radrouten entlang von Flüssen entstanden. Das leicht erschließbare Poten‐ tial und die Erwartung, dass eine solche Route quasi ein Selbstläufer sei, haben viele Tourismusorganisationen dazu bewogen, auch noch das „letzte kleine Rinnsal“ quasi als „Trittbrettfahrer“ der Entwicklungsdynamik als Radwanderweg auszuweisen. Sicherlich auch deshalb, weil dabei oft die Ba‐ sisanforderungen der potentiellen Fahrradtouristen wie breite und sicher zu befahrende Radfernwege, glatte asphaltierte Oberfläche, eindeutige und durchgängige Wegweisung, möglichst verkehrsarme Streckenführung so‐ wie an ein auf Fahrradfahrer ausgerichtetes Angebot bei Gastronomie und Unterkünften (vgl. Abb. 103) nicht immer optimal bedient werden, hält sich die Nachfrage bei vielen neu auf den Markt gekommenen Radwegen in überschaubarem Rahmen. Einen Hinweis darauf, dass die Qualitätsanforderungen der Fahrradtou‐ risten bei den in den letzten Jahren auf den Markt gekommenen und weniger stark nachgefragten Radfernwegen nicht idealtypisch bedient werden, gibt Abbildung 104. Bei der zugrunde liegenden Untersuchung wurden 3.021 Be‐ wertungen der Nutzer von 199 Radfernwegen in Deutschland berücksich‐ tigt. Es wird zwar einerseits deutlich, dass selbst die „Top 10“ durchaus einen gewissen Anteil von Bewertungen mit „befriedigend“ oder schlechter er‐ halten. Der Anteil unzufriedener Fahrradtouristen steigt aber bei den we‐ niger häufig frequentierten Radfernwegen ab Rangplatz 50 signifikant an. 253 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit 253 <?page no="254"?> Abb.‐Nr.: -103 Abb.‐Titel: -Bedeutung-verschiedener-Anforderungen- an-einen-Radfernweg-(Quelle: -F REITAG ,-K AGERMEIER &- R OGGE 2007) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 20% 40% 60% 80% 100% breite und sicher zu befahrende Radfernwege glatte asphaltierte Oberfläche eindeutige und durchgängige Wegweisung verkehrsfreie Strecke Unterkunft und Gastronomieangebote kulturelles Angebot Landschaftserlebnis sehr wichtig wichtig weniger wichtig unwichtig Abb. 103: Bedeutung verschiedener Anforderungen an einen Radfernweg (Quelle: F R E I - T A G , K A G E R M E I E R & R O G G E 2007, S. 39; N = 1.967) Abb.‐Nr.: -104 Abb.‐Titel: -Bewertung-von-deutschen-Radfernwegen (Quelle: -eigene-Berechnungen-auf-der-Basis-von- F REITAG ,-K AGERMEIER &-R OGGE 2007; -N = 3.021) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Top 10 11-20 21-50 51 bis 199 sehr gut gut befriedigend ausreichend mangelhaft ungenügend Abb. 104: Bewertung von deutschen Radfernwegen (Quelle: eigene Berechnungen auf der Basis von F R E I T A G , K A G E R M E I E R & R O G G E 2007; N = 3.021) Aus der Erhebung der frequentierten Radfernwege lässt sich ein klarer In‐ dikator für die Konzentration der fahrradtouristischen Nachfrage auf die 254 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 254 <?page no="255"?> Spitzenreiter aufzeigen. In Abbildung 105 sind die Häufigkeiten der genutz‐ ten Radfernwege in der Stichprobe als Lorenzkurve dargestellt. Bei einem Gini-Koeffizienten von 0,74, der diese hohe Konzentration klar ausdrückt, entfallen auf die ersten vier Radfernwege ein Viertel und auf die ersten zwölf Radfernwege die Hälfte der Nennungen. Die Radfernwege auf den Plätzen 100 bis 199 können demgegenüber nur fünf Prozent der Nennungen auf sich vereinigen (weniger als der Spitzenreiter mit acht Prozent). Abb.‐Nr.: -105 Abb.‐Titel: -Lorenzkurve-der-Nutzung-von-199- deutschen-Radfernwegen-(Quelle: -eigene- Berechnungen-auf-der-Basis-von-F REITAG ,-K AGERMEIER &- R OGGE 2007; -N-=-3.021) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 500 1.000 1.500 2.000 2.500 3.000 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200 Abb. 105: Lorenzkurve der Nutzung von 199 deutschen Radfernwegen (Quelle: eigene Berechnungen auf der Basis von F R E I T A G , K A G E R M E I E R & R O G G E 2007; N = 3.021) Dies bedeutet, dass das fahrradtouristische Segment kein „Selbstläufer“ ist, bei dem lediglich ein Radfernweg ausgeschildert werden muss, um dann die Cash Cow „melken“ zu können. Vielmehr sprechen bereits die wenigen hier skiz‐ zierten Aspekte dafür, dass sich im Fahrradtourismus auch der klassische Wandel vom Verkäuferzum Käufermarkt vollzieht und der Markt eindeutig - trotz nach wie vor steigender Nachfrage - nicht mehr nachfragegetrieben ist. Blendet man die wenigen „Highlights“ aus, dann ist das Angebot deutlich stärker gestiegen als die Nachfrage, bzw. die Nachfrage (und deren Zu‐ nahme) reicht nicht aus, für alle Angebote auch eine zufriedenstellende Aus‐ lastung mit der intendierten regionalökonomischen Wertschöpfung zu gene‐ rieren. Damit ist wohl auch im Fahrradtourismus in den kommenden Jahren ein verstärktes Augenmerk, auf entsprechend tragfähige Management- und 255 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit 255 <?page no="256"?> Marketingkonzepte zu richten, wenn Destinationen angesichts des sich ak‐ zentuierenden Wettbewerbs ihren Marktanteil halten bzw. erhöhen wollen. Diversifizierungsnotwendigkeit im Fahrradtourismus Hinweise für die Richtung, in die Marketinganstrengungen zur Positionie‐ rung von radtouristischen Angeboten gehen könnten, lassen sich aus den Motivstrukturen der Fahrradtouristen ableiten (vgl. Abb. 106). Abb.‐Nr.: -106 Abb.‐Titel: -Differenzierte-Motivstruktur-für-Radurlaub- (Quelle: -BMWi 2009,-S.-58) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 20% 40% 60% 80% 100% in der Natur sein aktiv/ sportlich sein erholen/ entspannen Spaß/ Vergnügen einfach genießen Zeit mit der Familie/ Freunden neue Leute kennen lernen romantische Stunden Kunst & Kultur erleben sich verwöhnen lassen Erinnerungen an früher lernen/ sich bilden Außergewöhnliches sehen Abb. 106: Differenzierte Motivstruktur für Radurlaub (Quelle: BMWi 2009, S. 58) Neben den klassischen - Fahrradtouristen üblicherweise zu unterstellenden - Motiven, wie sich beim aktiven Betätigen in der Natur entspannen und mit Spaß an der Bewegung diese genießen, tauchen bei den Motiven auch Aspekte auf, die im Rahmen des Marketings sicherlich mehr Beachtung ver‐ dienen würden: 1. Der Wunsch nach „Zeit mit Freunden oder der Familie zu verbringen“, 1. könnte z. B. im Rahmen von Packages durch spezielle Gelegenheiten für die Interaktion - insbesondere in den Übernachtungseinrichtun‐ gen aber auch bei Zwischenstopps tagsüber - aufgegriffen werden. 256 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 256 <?page no="257"?> 2. Der Wunsch nach „romantischen Stunden“ legt auch nahe, hier ein 2. besonderes Augenmerk auf die Schaffung eines entsprechenden Am‐ biente durch die Wahl der Übernachtungsstandorte, zusätzliche An‐ gebotsoptionen im Rahmen der Übernachtungen oder auch im Laufe des Tagesprogramms zu legen. 3. „Neue Leute“ kennen lernen mag auch dafür sprechen, intensiver als 3. bisher mit Gruppenreiseveranstaltern zu kooperieren bzw. als Fahr‐ raddestination ggf. selbst im Gruppengeschäft tätig zu werden, um dadurch zusätzliche Kunden anzusprechen. 4. Das Motiv „Kunst & Kultur zu erleben“ ist zwar teilweise bereits im‐ 4. plizit in der Routenführung von Radfernwegen enthalten. Aber auch hier sind Intensivierungen und Optimierungen denkbar. 5. Sich verwöhnen lassen kann für Kombinationen von Fahrradtouris‐ 5. mus mit Wellness oder Kulinarik sprechen. Abb.‐Nr.: -107 Abb.‐Titel: -Handlungsrelevanzmatrix für-den- Weserradweg (Quelle: -eigene-Darstellung-nach-THIELE-2011,-S.-86) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 1,9 2,0 2,1 2,2 2,3 2,4 2,5 2,6 0,30 0,35 0,40 0,45 0,50 0,55 0,60 Implizite Wichtigkeit (Korrelationskoeffizient ) kritische Elemente - Änderungsbedarf unkritische Elemente Kulturelles Angebot Unterkunft/ Gastronomie Fahrradfreundlichkeit Oberflächenbeschaffenheit Befahrbarkeit Beschilderung Rastplätze/ Abstellmöglichkeiten Internetauftritt Informationen Verkehrsbelastung Routenführung Zufriedenheit (1 = „sehr gut“ bis 6 = „ungenügend“) Gesamtzufriedenheit Ø Abb. 107: Handlungsrelevanzmatrix für den Weserradweg (Quelle: eigene Darstellung nach T H I E L E 2011, S. 86) In den letzten 10 Jahren wurde insbesondere den Aspekten der fahrradtou‐ ristischen Infrastruktur ein besonderes Augenmerk zugemessen. Dement‐ sprechend fokussiert z. B. die Zertifizierung durch den ADFC auf die As‐ pekte: Befahrbarkeit, Oberfläche, Wegweisung, Routenführung, Verkehrs- 257 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit 257 <?page no="258"?> belastung, Touristische Infrastruktur und Anbindung Bahn/ Bus. Auch für die Fahrradtouristen stellen diese Aspekte aktuell noch relevante Aspekte dar. Bei der Analyse in einer Handlungsrelevanzmatrix (vgl. Kap. 2.3.4) be‐ steht Handlungsbedarf für die infrastrukturellen Elemente, die als wichtig eingestuft werden und eine unterdurchschnittliche Zufriedenheit aufweisen (kritische Elemente im rechten oberen Quadranten, in Abb. 107). Gleichzei‐ tig ist die Infrastruktur zwar aktuell noch als sog. „Leistungsfaktoren“ an‐ zusprechen. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Rolle der konkreten fahrradinfrastrukturellen Gegebenheiten mehr und mehr zum „Basisfaktor“ und damit einer Markteintrittsbarriere „degeneriert“, mit der zwar bei Er‐ fülltheit keine Fahrradtouristen mehr gewonnen, deren Fehlen aber zu einer Abwanderung führt. Damit ist festzuhalten, dass künftig eine gute Fahrradinfrastruktur zwar eine Grundvoraussetzung und damit eine notwendige, aber nicht hinrei‐ chende Bedingung für künftigen Markterfolg darstellt. Damit werden z. B. die Anstrengungen des ADFC, mit „Bett+Bike“ (vgl. Box 19 „Bett+Bike Qua‐ litätssiegel“), eine einheitliche Marke und Standards für fahrradfreundliche Übernachtungsgelegenheiten zu schaffen, keineswegs obsolet. Die abseh‐ bare weitere Entwicklung hin zu einem reifen Markt bedeutet nur, dass sol‐ che Angebote eben als mehr und mehr selbstverständlich angesehen und damit keine signifikanten Wettbewerbsvorteile bei der Ansprache der Fahr‐ radtouristen mehr bringen. Dementsprechend sind neue Diversifizierungs‐ optionen zu identifizieren und zu entwickeln um sich im Markt entspre‐ chend zu positionieren. Diversifizierungsoptionen im Fahrradtourismus Für alle Diversifizierungsoptionen gilt, dass sie sich jeweils an spezifische Zielgruppen richten und damit keine „One fits All“-Lösungen für einen un‐ differenzierten Volumenmarkt aller Fahrradtouristen darstellen. Die Diver‐ sifizierungsoptionen können grob in fünf Gruppen eingeteilt werden: 1. Ausdifferenzierung des Basisprodukts mit verstärkter Zielgruppen‐ 1. orientierung 2. (Hybride) Produktkombinationen 2. 3. Thematisierungsansätze 3. 4. E-Mobility-Optionen 4. 5. Vermarktungsaktivitäten. 5. 258 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 258 <?page no="259"?> 1. Ausdifferenzierung des Basisprodukts Eine der zentralen Herausforderungen an bestehende Radreisedestinationen stellt wohl die Weiterentwicklung des bislang relativ undifferenzierten Ba‐ sisproduktes (oftmals Flussradwege) dar. Hierzu werden eine verstärkte Zielgruppenorientierung, die Kombination des radtouristischen Angebotes mit anderen touristischen Produktlinien sowie ggf. auch Ansätze zu einer stärkeren Thematisierung als grundsätzliche Handlungsoptionen gesehen. Box 19 | Bett+Bike-Qualitätssiegel Das Qualitätssiegel Bett+Bike wurde 1995 vom ADFC (= Allgemeiner Deutscher Fahrrad Club) gegründet, um fahrradfreundliche Übernach‐ tungsbetriebe auszuzeichnen und das entsprechende Angebot zu stimu‐ lieren. Um das Bett+Bike-Qualitätssiegel zu erhalten, müssen die Be‐ triebe: ☐ Fahrradtouristen auch für nur eine Nacht aufnehmen ☐ ☐ einen abschließbaren Raum zur Aufbewahrung der Fahrräder vor‐ ☐ halten ☐ über einen Raum zum Trocknen von Kleidung/ Ausrüstung verfü‐ ☐ gen ☐ ein vitamin- und kohlehydratreiches Frühstück anbieten ☐ ☐ regionale Radwanderkarten bzw. -führer, Bahn- und Busfahrpläne ☐ etc. aushängen, verleihen oder verkaufen ☐ ein Fahrradreparaturset bereitstellen ☐ ☐ über Fahrradreparaturwerkstätten informieren ☐ ☐ sowie zwei weitere Kriterien aus einer Auswahlliste (Beratung um‐ ☐ weltfreundliche An- und Abreise, Hol- und Bringdienste, Leihan‐ gebote, Tagesradtouren, Gepäcktransfer, Bereitstellung Ersatzteile, Informationen über fahrradfreundliche Betriebe, Lunchpaket, Gäs‐ tebuch) erfüllen (genauer bei: www.bettundbike.de). Die Zahl der ausgezeichneten Betriebe ist bis 2010 relativ zügig gestie‐ gen. Allerdings ist mit inzwischen über 5.800 zertifizierten Betrieben möglicherweise ein Level erreicht, in dem der Großteil der in fahrrad‐ touristisch relevanten Destinationen liegenden Betriebe und immerhin gut ein Zehntel aller Übernachtungsbetriebe Deutschlands ausgezeich‐ net sind. Damit hat das ADFC-Qualitätssiegel einen deutlich höheren Verbreitungsgrad als das vom DTV vergebene ServiceQ (vgl. Kap. 6.2). 259 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit 259 <?page no="260"?> Abb.‐Nr.: 108 Abb.‐Titel: -Entwicklung der-Bett+Bike ausgezeichneten-Betriebe-in-Deutschland-(Quelle: - eigene-Darstellung nach-Daten-ADFC,-div. Jg.) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 1.000 2.000 3.000 4.000 5.000 6.000 Abb. 108: Entwicklung der Bett+Bike ausgezeichneten Betriebe in Deutschland (Quelle: eigene Darstellung nach Daten ADFC, div. Jg.) Bislang dominiert eine relativ unspezifische Ansprache von Fahrradtouris‐ ten. Dabei wird implizit in starkem Maß auf die 50plus-Generation der Ge‐ nussradfahrer abgezielt. Die künftigen Herausforderungen liegen damit auch darin, einerseits neue Zielgruppen (Familien mit Kindern, junge Er‐ wachsene als Paare oder Gruppen, sportlich ambitioniertere Radtouristen etc.) anzusprechen, bzw. die bestehende Hauptzielgruppe klarer zu fassen. Hier auch klarer in der Gesamtbevölkerung die Affinität bei bislang nur wenig angesprochenen weiteren Zielgruppen für fahrradtouristische An‐ gebote zu identifizieren und dem dann offensiv entsprechend in die Pro‐ duktenwicklungspolitik einzusteigen, ist bislang im Fahrradtourismus noch nicht systematisch erfolgt. 2. (Hybride) Produktkombinationen Auch wenn bereits seit längerer Zeit in der Tourismusforschung vom sog. „hybriden Kunden“ gesprochen wird, sind die multioptionalen Ansprüche bislang zumeist so interpretiert worden, dass diese im zeitlichen Verlauf un‐ terschiedliche Produktlinien nachfragen. Nun zeichnet sich aber - auch vor dem Hintergrund der Veränderungen an Urlaubserlebnisse (genauer z. B. bei K AG E RMEIE R 2011b) - eine künftig sicherlich an Bedeutung gewinnende Tendenz zu holistischen Produkten ab. Dies bedeutet, dass die traditionelle Produktpolitik im Fahrradtourismus, die sich im Wesentlichen auf fahrrad‐ 260 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 260 <?page no="261"?> touristische Infrastruktur konzentrierte, künftig nur noch begrenzt die Er‐ wartungen der Nachfrager trifft. Dass Fahrradtouristen eben auch Kultur‐ angebote nachfragen oder sich abends mit Wellness-Angeboten verwöhnen lassen möchten, erscheint evident. Gleichwohl wurde dies bislang noch nicht systematisch in entsprechende integrierte Produktbündel umgesetzt, bzw. in letzter Konsequenz zu Ende gedacht, dass die klassischen isolierten monosektoralen Angebote im Übergang zur Postmoderne nicht mehr ad‐ äquat für die Nachfrageorientierungen sein könnten (vgl. Abb. 109). Abb.‐Nr.: -109 Abb.‐Titel: -Hybride-Produktkombinationen-statt- isolierter-Einzelprodukte-(Quelle: -Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Kultur Wellness Kulinarik Sport Radfahren Wandern Traditionelle isolierte Produkte Hybride Produktkombinationen Kultur Radfahren Sport Kulinarik Wellness Wandern Abb. 109: Von traditionellen isolierten zu hybriden Produktkombinationen (Quelle: eigener Entwurf) Bei der Konzeption von Produktkombinationen - die letztendlich ja die Multifunktionalität der Konsum- und Erlebniswelten aus den 1990er Jahren wieder aufnehmen (vgl. Erlebnisorientierung in Kap. 1.2.2.2) - ist dabei auf die sich abzeichnenden Tendenzen der Nachfrage nach neuen Erlebnisan‐ geboten Bezug zu nehmen. Diese sind einerseits von Entschleunigung und Selbstfindung (vgl. L EDE R 2007), andererseits aber auch von neuen Formen des Genießens bzw. der aktiven Teilhabe geprägt. Damit kann z. B. der Ku‐ linarikkomponente in Zukunft eine relativ hohe Bedeutung bei der Kon‐ zeption von Angeboten zukommen (vgl. K AG E RMEIE R 2011b). Gleichzeitig wird wohl die Berücksichtigung der sozialen Dimensionen - egal ob im bi‐ lateralen oder im Gruppenkontext - eine zunehmende Bedeutung bei der Schaffung von begünstigenden Rahmenbedingungen und Gelegenheiten für soziale Interaktion spielen. 261 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit 261 <?page no="262"?> 3. Thematisierungsansätze Zum Teil in Zusammenhang mit einer klaren Zielgruppenorientierung und -ansprache bzw. hybriden Produkten steht ein weiterer Aspekt, der ebenfalls Bezugspunkte zu den Erfolgskonzepten der konsumorientierten Freizeit- und Erlebniswelten der 1990er Jahre aufweist (vgl. S TEINECKE 2000). Dabei handelt es sich aber nicht um ein simples Kopieren von deren - teilweise recht platten - Konzepten. Vielmehr ist als Impuls aufzunehmen, dass sich durch die Erlebniswelten die Erwartungen an touristische Angebote deut‐ lich erhöht haben, d. h. die Erwartungen der künftigen Kunden durch die Erfahrungen im perfekt durchkonzipierten Ambiente von Erlebniswelten gewachsen sind. Thematisierung, „Story Telling“ und Personifizierung wa‐ ren zentrale Erfolgsfaktoren der Freizeit- und Erlebniswelten. In Anlehnung an diese „salient factors“ kann unterstellt werden, dass auch im Fahrrad‐ tourismus deren Einsatz bei der zielgruppengerechten und integrierten Pro‐ duktentwicklung als Motiv für das Abheben gegenüber den Mitbewerbern oder die Schaffung einer Marke eingesetzt werden kann. Allerdings ist klar festzuhalten, dass eine Thematisierung nicht beliebig erfolgen kann. Einerseits gilt es, tragfähige Thematisierungsansätze zu iden‐ tifizieren, die auch in einem abgestimmten Wechselspiel mit Zielgruppen‐ orientierung und Produktgestaltung stehen. Andererseits ist auch ein stim‐ miger Bezug zur jeweiligen Destination und der Markenbildung notwendig (genauer z. B. bei K AG E RMEIE R 2011a, S. 70ff.). 4. E-Mobility als Option zur Erweiterung des Angebotsspektrums und der Zielgruppenerschließung Sowohl für die etablierten Flusstäler mit ihrer bisherigen Ausrichtung auf die Genuss-Touren-Radler als auch für stärker reliefierte Mittelgebirgsre‐ gionen bietet der aktuell zu beobachtende Trend zum verstärkten Einsatz von E-Bikes oder Pedelecs sowohl eine Erweiterung der für Fahrradtouristen erschließbaren Gebiete als auch der Zielgruppen. Während sowohl die Tal‐ schultern entlang von Flüssen und die (oftmals) angrenzenden Mittelge‐ birgslandschaften bislang nur für die kleine Zielgruppe sportlich ambitio‐ nierter Radtouristen nutzbar gewesen sind, ergeben sich mit der elektromobilen Variante hier in den nächsten Jahren sicherlich noch erheb‐ liche Erweiterungspotentiale. Pedelecs sind inzwischen aus der ursprünglichen „Nische“ von Senioren‐ fahrrädern herausgetreten und werden teilweise als Unterstützung in stär‐ ker reliefiertem Gelände oder häufigem Gegenwind (an den Küsten) auch 262 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 262 <?page no="263"?> von jüngeren und teilweise auch sportlich ambitionierteren Fahrradtouris‐ ten geschätzt. Auch ganz einfach zur Erweiterung des Aktionsradius bei Radtouren kommt die E-Unterstützung zum Tragen. Ob als Leihrad oder als eigenes Rad werden damit Pedelecs in den nächsten Jahren zusätzliche Op‐ tionen für den Fahrradtourismus schaffen. Diese gilt es sowohl entlang der Flusstäler als auch in den Mittelgebirgsregionen und den Küstengebieten entsprechend zu nutzen und Routenkonzepte sowie Pauschalen unter Ein‐ beziehung der neuen von den Pedelecs ermöglichten Optionen zu entwi‐ ckeln. Gleichzeitig sind einerseits entsprechende Verleihangebote - in des‐ tinationsweiter Kooperation (auch für One-Way-Ausleihen) - sowie Lademöglichkeiten zu schaffen (genauer z. B. bei M IGLBAUE R 2012). 5. Vermarktungsaktivitäten Das zentrale Informationsmedium von Fahrradtouristen ist mit fast zwei Drittel - und damit weit vor allen anderen Informationskanälen - mittler‐ weile das Internet (vgl. BMWi 2009, S. 52). Dementsprechend ist diesem Marktkommunikationskanal - insbesondere dann, wenn in Zukunft ver‐ stärkt jüngere Zielgruppen angesprochen werden sollen - ein zentrales Au‐ genmerk zu widmen. Aber auch bei den Herausforderungen für die inter‐ netgestützten Marketingaktivitäten ist zu beachten, dass die technische Performance lediglich einen (wenn auch unverzichtbarer) Basisfaktor dar‐ stellt. Dabei ist auch in der Marktkommunikation eine klare Differenzierung der Ansprache von unterschiedlichen Zielgruppen (zumindest nach den Schwerpunkten Mountainbike, Rennrad und Genussradfahrer) notwendig. T HIELE (2011, S. 93) konnte nachweisen, dass ein positiver Zusammenhang zwischen der Qualität und Intensität der Marketingaktivitäten und dem Marktwachstum besteht. Auch beim Fahrradtourismus (wie auch beim Wan‐ dertourismus) sind vor allem die DMOs bzw. die regionalen Vermarktungs‐ kooperationen gefordert, die entsprechenden Leistungsbündel zusammen‐ zustellen und zu vermarkten. Grundprinzip eines typischen Fahrradurlaubs ist, dass dieser eben nicht stationär an einem bestimmten Standort verbracht wird, sondern dass unterschiedliche private Leistungsträger in verschiede‐ nen Orten das Leistungsbündel darstellen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das fahrradtouristische Marktseg‐ ment nur auf den ersten Blick eine relativ sichere und verlässliche Nachfrage verspricht. Die sich abzeichnende Situation der Marktreife trägt ebenso wie die nachfrageseitigen Veränderungen und technische Innovationen dazu 263 6.4 Wander- und Fahrradtourismus - Die Wiederentdeckung der aktiven Langsamkeit 263 <?page no="264"?> bei, dass die Anforderungen für einen erfolgreichen Markteintritt bzw. Marktverbleib in den nächsten Jahren deutlich ansteigen werden. Kreative und innovative Konzepte für dieses nur scheinbar so stabile Marktsegment stellen eine klare Herausforderung für Destinationsmanagementorganisa‐ tionen und Leistungsträger dar. T HIELE (2011) hat die konkreten, hierarchisch aufeinander aufbauenden Schritte einer umfassenden Produktpolitik im Fahrradtourismus in Form ei‐ ner Pyramide dargestellt (vgl. Abb. 110). Dieses grundsätzliche Schema gilt im Tourismus bzw. im Destinationsmanagement ganz grundsätzlich. Wäh‐ rend lange Zeit primär das ursprüngliche Angebotspotential genutzt wurde, lag der Fokus Ende des 20. Jahrhunderts auf der entsprechenden Infrastruk‐ turentwicklung und deren Qualität. Aktuell nimmt die Marktsegmentierung und Zielgruppenorientierung einen zunehmenden Stellenwert ein. Dabei ist absehbar, dass künftig die erlebnisorientierte und auf atmosphärische As‐ pekte ausgerichtete Weiterentwicklung der Produkte noch stärker zu be‐ rücksichtigen sein wird. Abb.‐Nr.: -110 Abb.‐Titel: -Schematischer-Aufbau-der-Produktpolitik- im-Fahrradtourismus-(Quelle: -eigene-Darstellung-nach- T HIELE 2011,-S. 100) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Erlebnis Atmosphäre Zielgruppenorientierte Servicequalität Qualität der Basisinfrastruktur Ursprüngliches Angebotspotential Abb. 110: Schematischer Aufbau der Produktpolitik im Fahrradtourismus (Quelle: eigene Darstellung nach T H I E L E 2011, S. 100) 264 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 264 <?page no="265"?> 6.5 Wellness-Tourismus: Hoffnungsträger und Wachstumsbringer? Nach Vorläuferformen bereits in der Antike wurde der Kur- und Bädertou‐ rismus im Zeitalter des Absolutismus als elitäre Urlaubsformen für den Adel kultiviert. Heilbäder wurden zu Reisezielen und Residenzen der Adeligen und in deren Folge im 19. Jahrhundert auch für das gehobene Bürgertum. Damit war ein Kuraufenthalt zwar gesundheitlich motiviert, gleichzeitig aber auch eine vergnügungsorientierte kulturelle Praxis. Die „Bäderarchi‐ tektur“ der in dieser Zeit entstandenen Badekomplexe und Residenzen - von Meran bis zu den Kaiserbädern auf Usedom - prägt auch heute noch das Bild vieler Heilbäder. Wie bei vielen anderen Urlaubsformen (vgl. Kap. 1.2.1) wurde im 20. Jahr‐ hundert auch diese Domäne der Eliten für breite Bevölkerungsschichten er‐ schlossen. Im Fall des Gesundheits- oder Kurtourismus stellten die Rah‐ menbedingungen der Sozialgesetzgebung nach dem Zweiten Weltkrieg den entscheidenden Einflussfaktor dar. Mit der Neuregelung der Rentenversi‐ cherung im Jahr 1957 wurden Kuraufenthalte zu einem Teil der sozialen Versorgung in der Bundesrepublik (ähnlich auch in der DDR). In der Folge wurde von den Rentenversicherungsträgern erhebliche Investitionen in Kurkliniken getätigt und die Zahl von sog. Sozialkurgästen stieg kontinu‐ ierlich an. Die räumlichen Schwerpunkte der Heilbäder und Kurorte liegen an den Küsten, im Voralpenraum und in den Mittelgebirgen (vgl. B RITTNE R 2000, S. 33) Im Zuge der Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitswesen wur‐ den die Leistungen seit Ende der 1970er Jahre sukzessive reduziert (genauer z. B. bei F E R G EN 2006, S. 54ff. oder B RITTNE R et al. 1999, S. 8ff). Nach der Wiedervereinigung wirkte besonders einschneidend die sog. dritte Stufe der Gesundheitsreform 1997. Dies führte zu einem Nachfragerückgang bei So‐ zialkuren von etwa einem Drittel in den klassischen Kurorten (F E R G EN 2006, S. 60) und auch einem entsprechenden Verlust an Arbeitsplätzen. Innerhalb weniger Jahre befanden sich die klassischen Kur- und Bäderorte - insbe‐ sondere diejenigen, die stark auf den von den öffentlichen Gesundheitskas‐ sen finanzierten Kurtourismus gesetzt hatten - in einer ausgeprägten Struk‐ turkrise. Es wurde deutlich, dass der vom Staat geförderte und organisierte Kurtourismus mit seinen großen Kurkliniken keine adäquate zeitgemäße Struktur für einen wettbewerbsorientierten Käufermarkt aufwies. 265 6.5 Wellness-Tourismus: Hoffnungsträger und Wachstumsbringer? 265 <?page no="266"?> Parallel zur Krise der klassischen Kurorte Ende der 1990er Jahre verbrei‐ tete sich die Idee von Wellness-Angeboten als touristische Form. Auch wenn der Begriff Wellness heute stark mit konkreten touristischen Angeboten konnotiert wird, wurde er nicht als Kunstwort von Marketingstrategen ent‐ wickelt, sondern findet sich wohl erstmals bereits im 17. Jahrhundert in der altenglischen Sprache (wealnesse), um den Zustand von Wohlbefinden und Gesundheit zu beschreiben. Ende der 1950er Jahre wurde der Begriff dann von dem amerikanischen Arzt D UNN (1959) aufgegriffen, wobei im weiteren Verlauf dann die Konnotation mit „Well-being“ und „Fitness“ hinzukam. In Erweiterung des traditionellen Gesundheitsbegriffes sollte damit ein Zu‐ stand von hohem menschlichem Wohlbefinden beschrieben werden, in dem eine Harmonie zwischen den physischen, mentalen und spirituellen Dimen‐ sionen der menschlichen Existenz und seiner Umwelt besteht (D UNN 1959, S. 789). Dieser Dreiklang von Körper, Geist und Seele des Menschen und seiner Umwelt ist bis heute das Grundprinzip des Wellness-Ansatzes geblie‐ ben (vgl. DTV 2002, S. 5). Das auf Ganzheitlichkeit basierende Wellness-Kon‐ zept wurde in der Folgezeit noch um die Komponenten Eigenverantwortung, Ernährungsbewusstsein, körperliche Fitness, Stressmanagement und Um‐ weltsensibilität ergänzt, wobei Wellness als Zustand verstanden wird, der einen nicht statischen Prozess und eine Lebensauffassung beziehungsweise Einstellung darstellt. Wellness ist also ein selbstverantwortlicher, kontinuierlicher und dyna‐ mischer Prozess mit dem Ziel, Gesundheit und Wohlbefinden im Sinne von Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele unter den Rahmenbedingungen der sozialen und ökologischen Umwelt sowie des Arbeitsumfeldes herzu‐ stellen. Ziel ist dabei die körperliche Fitness, die geistige Beweglichkeit und die seelische Belastbarkeit. Diese sollen durch Körperpflege, gesunde Er‐ nährung, physische und psychische Entspannung sowie geistige Aktivität erreicht werden. Dabei ist allerdings festzustellen, dass der (nicht geschützte und auch nicht klar umrissene) Begriff Wellness aufgrund des Nachfragebooms in‐ zwischen fast inflationär verwendet wird. Neben der Verwendung des Be‐ griffes bei Freizeiteinrichtungen und Übernachtungsbetrieben, die nur Teile eines zu einem integrierten Wellness-Angebot zählenden Angebotes auf‐ weisen, wird der Begriff auch durch Anfügen der Präfixes Wellness an x-be‐ liebige Produkte (Wellness-Kekse, Wellness-Butter, Wellness-Handschuhe) banalisiert. Gleichzeitig signalisieren die Befunde der Nachfrageseite, dass dort durchaus ein integriertes umfassendes Verständnis eines Wellness-„Er‐ 266 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 266 <?page no="267"?> lebnisses“ gewachsen ist, bei dem nicht mehr nur einzelne Behandlungen oder Anwendungen, sondern ein ganzheitliches Angebot gesucht wird. Die Qualitätssicherung und Sicherstellung eines Mindestniveaus hat sich z. B. der Deutsche Wellness Verband mit seiner Zertifizierung zum Ziel ge‐ setzt. Für eine Zertifizierung als Wellness-Hotel wird nicht nur das Angebot an Wellness-Anwendungen in den Bade- und Saunabereichen berücksich‐ tigt, sondern der gesamte Blueprint an Kundenkontaktpunkten (von der Re‐ zeption und den Zimmern bis hin zum Restaurant und Barbereich) berück‐ sichtigt. Dabei werden ☐ Wellness-Ambiente, Wohlfühlatmosphäre ☐ ☐ umweltbewusste Betriebsführung ☐ ☐ Hygiene, Pflege, Sicherheit ☐ ☐ genussbezogenenes und auf gesundheitlichen Wert orientiertes Spei‐ ☐ senangebot ☐ Breite des Angebotes an Wellness-Anwendungen ☐ ☐ Wellness-Angebote auch zu den Bereichen Bewegung, aktive Ent‐ ☐ spannung und Stressmanagement, Ernährungswissen ☐ Wellness-Fachkompetenz ☐ ☐ Kundenorientierung ☐ in die Bewertung mit einbezogen (Deutscher Wellness Verband 2009) und damit weit mehr als nur der engere Bereich von wellnessorientierten An‐ wendungen überprüft. Der generelle Trend zur Gesundheitsorientierung wird einerseits von den zunehmenden belastenden Momenten im Berufs- und Privatleben gefördert. Da die Gesundheitsorientierung und das Gesundheitsbewusstsein mit zu‐ nehmendem Alter zunimmt (Identitiy Foundation 2001, S. 9) trägt der de‐ mographische Wandel andererseits ebenfalls mit zu einer verstärkten Well‐ ness-Orientierung bei. Dabei nehmen Frauen eine gewisse Pionierrolle bei der Wellness-Nutzung ein. Die intensivere Nachfrage von Frauen nach Well‐ ness-Angeboten ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass das Well‐ ness-Konzept traditionell eher weibliche Rollenelemente aufgreift, die ne‐ ben der größeren Bedeutung des äußerlichen Erscheinungsbild auch auf die mit traditionellen Rollenverständnissen verbundenen tendenziell stärkere Orientierung auf Spannungsreduktion, Harmonie und Ausgeglichenheit zu‐ rückgeführt werden kann. Die unterschiedlichen Zugänge zu Wellness-Angeboten paust sich auch bei der Angabe der Relevanz einzelner Motive für deren Nutzung durch. 267 6.5 Wellness-Tourismus: Hoffnungsträger und Wachstumsbringer? 267 <?page no="268"?> Während Frauen der Pflege des eigenen Körpers, dem sich verwöhnen lassen und etwas genießen einen höheren Stellenwert als Männer zuweisen, steht bei Männern der Stressabbau, das „Energie tanken“ und die körperlich Fit‐ ness eher im Vordergrund (Vgl. Abb. 111). Auch wenn das Interesse an Wellness-Reisen seit 1999 (als diese Urlaubs‐ form in die Abfrage bei der Reiseanalyse aufgenommen worden ist), von 5 % in den ersten Jahren angestiegen ist, hat es sich seit 2007 bei etwa 20 % eingependelt (FUR div. Jg.). Der Anstieg ist sicherlich auch ein Ausdruck davon, dass der Begriff erst sukzessive im Bewusstsein der Bevölkerung „ankam“. Gleichzeitig wurde auch erst seit Ende der 1990er Jahre ein ent‐ sprechendes Angebot ausgebaut, bzw. gesundheitstouristische Angebote als Wellness-Produkte vermarktet. Abb.‐Nr.: -111 Abb.‐Titel: -Bedeutung-von-einzelnen-Motiven-für-die- Nutzung-von-Wellnessangeboten-nach-Geschlecht- (durchschnittliche-Bedeutung-=-100%)- (Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-Burda-Community- Network-2007) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 60% 70% 80% 90% 100% 110% 120% 130% 140% Den eigenen Körper erfahren Gesünder leben Stress abbauen Energie tanken für Beruf und Alltag Sich etwas gönnen, sich verwöhnen Den Körper trainieren und fit halten Sich geistig anregen lassen Sich mit Pflegeprodukten verwöhnen Etwas für sich allein genießen Seinen Körper pflegen Den Kopf frei bekommen Endlich Zeit für sich selbst haben Einmal frei sein von äußeren Zwängen Männlich Weiblich Abb. 111: Bedeutung von einzelnen Motiven für die Nutzung von Wellness-Angeboten nach Geschlecht (durchschnittliche Bedeutung = 100 %) (Quelle: eigene Darstellung nach Burda Community Network 2007) Allerdings bleibt die konkrete touristische Praxis deutlich hinter diesem ge‐ nerellen Interesse zurück. Nur etwa 5 % der bundesdeutschen Bevölkerung gaben bei der Reiseanalyse an, in den letzten drei 3 Jahren einen Well‐ ness-Urlaub gemacht zu haben (vgl. Abb. 112). Zwar ist der Marktanteil von 268 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 268 <?page no="269"?> Wellness-Urlaub in den letzten Jahren noch leicht gewachsen. Dem stehen allerdings deutliche Rückgänge bei den Angaben von klassischen Kurauf‐ enthalten und Gesundheitsurlauben gegenüber. Abb.‐Nr.: -112 Abb.‐Titel: -Erfahrung-mit-gesundheitstouristischen- Urlaubsformen-2003-bis-2014-(Quelle.-Eigene- Darstellung-nach-Lohmann-&-Schmücker-2015,-S. 14) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Urlaubsform „in den letzten drei Jahren gemacht“ 0% 5% 10% 15% 20% 25% 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 Kur im Urlaub bis 59 Jahre ab 60 Jahre 0% 5% 10% 15% 20% 25% 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 Gesundheitsurlaub 0% 5% 10% 15% 20% 25% 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 Wellnessurlaub linearer Trend 2003-2014 Abb. 112: Erfahrung mit gesundheitstouristischen Urlaubsformen 2003 bis 2014 (Quelle: eigene Darstellung nach L O H M A N N & S C H M Ü C K E R 2015, S. 14) Zwar wurde in den letzten Jahren immer wieder von einem Megatrend Ge‐ sundheit gesprochen, sodass die in die Krise geratenen traditionellen Kur- und Badeorte große Hoffnung in den Wellness-Boom gesetzt haben. Auch das BMWi hat 2011 einen Leitfaden für innovativen Gesundheitstourismus herausgegeben. Allerdings pendeln die konkreten Übernachtungszahlen in den offiziell ausgewiesenen Heilbädern (Mineral- und Moorbäder, Heilkli‐ matischen Kurorte und Kneippkurorte zusammengenommen) in den letzten 10 Jahren relativ stabil um den Wert von etwa 70 Mio. herum (Statistisches Bundesamt 2019). damit entfallen in etwa immer noch ein Sechstel der Über‐ nachtungen in Deutschland auf Heilbäder. Allerdings sinkt ihr relativer An‐ teil - angesichts des Wachstums in anderen Destinationen, allen voran den größeren Städten (vgl. Kap. 6.3.2) - langsam. Anfang der 1990er Jahre betrug ihr Anteil noch mehr als ein Fünftel. Damit ist es dem Anfang des 20. Jahr‐ hunderts lauthals propagierten Wellness-Boom nicht gelungen, den men‐ 269 6.5 Wellness-Tourismus: Hoffnungsträger und Wachstumsbringer? 269 <?page no="270"?> genmäßigen Rückgang in den Kurorten zu kompensieren. Gleichzeitig wäre dieser sicherlich noch gravierender ausgefallen, wenn eben nicht mit dem Wellness-Segment, innovative und marktfähige Angebote entwickelt wor‐ den wären, die auch neue Zielgruppen für dieses holistisch ausgerichtete Angebot gewinnen können. Gleichzeitig sind aber eben die Motive der Übernachtungsgäste in den offiziell als Heilbädern ausgewiesenen Orten nicht bekannt. Da viele in Destinationen liegen, die in den letzten Jahren neben dem Wellness-Angebot auch offensiv im Bereich Wander- und Fahr‐ radtourismus agiert haben (vgl. Kap. 6.4), kann unterstellt werden, dass die Stabilität der Übernachtungszahlen in den Heilbädern zum nicht geringen Teil auch durch diese Produktdiversifizierung erreicht worden ist. Lediglich die (in der o. g. Übernachtungszahlen nicht enthaltenen) Seebäder an Nord- und Ostsee konnten in den letzten Jahren ihre Übernachtungszahlen (auf gut 40 Millionen) deutlich steigern. Allerdings sind eben auch hier nicht nur die Wellness-Angebote für diese Entwicklung verantwortlich. Auch wenn der Deutsche Heilbäderverband auf seiner Internetpräsenz mit positiven Meldungen über die Entwicklung im Gesundheitstourismus (www.deutscher-heilbaederverband.de) versucht, ein positives Bild zu zeich‐ nen, ist festzuhalten, dass der Wellness-Tourismus die in ihn gesetzte Hoff‐ nung, die traditionellen Kurorte aus der Krise zu führen, nur partiell erfüllt hat. Die konkrete Nachfrage nach Wellness-Angeboten bleibt hinter den ur‐ sprünglich prognostizierten Entwicklungen zurück. Gleichzeitig hat der durch eine Veränderung der Marktrahmenbedingungen ausgelöste Struk‐ turwandel positive Veränderungen in vielen Kurorten angestoßen. Verkrus‐ tete und letztendlich nur aufgrund der öffentlichen Finanzierung noch am Markt befindliche Angebotsstrukturen waren durch einen oftmals schmerz‐ haften Umstrukturierungsprozess gezwungen, sich entsprechend marktfä‐ hig neu zu positionieren. Dabei ist allerdings auch klar zu sehen, dass eben nicht jeder ehemalige Kurort inzwischen zur Wellness-Oase mutiert ist. Der Strukturwandel hat auch in diesem Fall dazu geführt, dass eine Konzentra‐ tion auf leistungsfähige Standorte erfolgt ist und damit auch einige frühere kleinere Kurorte ohne spezifisches Profil inzwischen vom Markt verschwun‐ den sind (teilweise auch den Namenszusatz „Bad“ nicht mehr im offiziellen Gemeindenamen führen). Diese Marktbereinigung erscheint noch nicht ab‐ geschlossen, sodass auch in den nächsten Jahren noch ein weiterer Rück‐ gang der Zahl der Kurorte zu erwarten sein dürfte. Auch aus dem volkswirtschaftlichen Blickwinkel stellt sich damit - nicht nur für den Gesundheitstourismus, sondern wohl für alle anderen Touris‐ 270 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 270 <?page no="271"?> musformen auch - die grundsätzliche Frage, wie in der Tourismusförder‐ politik künftig vorgegangen werden soll. Bislang wurde - vor allem aus der föderalen regionalentwicklungspolitischen Perspektive - weitgehend nach dem Gießkannenprinzip auch Nischenstandorte mit zu entwickeln versucht. Unter dem Blickwinkel der internationalen Konkurrenzfähigkeit und der Förderung des Incoming-Tourismus könnte es ggf. auch sinnvoll sein, sich bei der Tourismusförderung künftig stärker räumlich auf die Standorte mit dem besten Potential zu konzentrieren. Zusammenfassung ☐ In diesem Kapitel wurden ausgewählte Aspekte der Grundstruktu‐ ☐ ren und Entwicklung in Deutschlandtourismus behandelt. Dabei wurde herausgestellt, dass Tourismus ein wichtiges Segment der Volkswirtschaft darstellt. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass insbesondere der - angesichts einer starken Industrie- und Export‐ orientierung - lange Zeit vernachlässigte Incoming-Tourism ein besonderes Augenmerk verdient. ☐ Die touristischen Destinationen in Deutschland sind - abgesehen ☐ von den Alpen und den Küstenstreifen - von einer klaren Konzen‐ tration auf die Städte und die als landschaftlich reizvoll wahrge‐ nommenen Mittelgebirge konzentriert. ☐ Der Städtetourismus wurde als dynamisches Wachstumssegment ☐ charakterisiert, das unterschiedliche Zielgruppen anspricht. ☐ Mit einem klaren räumlichen Bezug zu den Mittelgebirgen ist die ☐ Wiederentdeckung des Wandertourismus zu sehen. Dabei wurde auch herausgearbeitet, dass die klassischen Lebenszyklusmodelle teilweise zu kurz greifen, weil Veränderungen der Präferenzen und Werthaltungen auf der Nachfrageseite ausgeblendet werden. Der Wandertourismus hat eine klare Verjüngung (Rejuvenation) erfah‐ ren. Hintergrund war eine verstärkte Orientierung auf entschleu‐ nigte und aktivitätsorientierte Urlaubsformen. Entsprechend der Redynamisierung und den veränderten Ansprüchen der neuen Ziel‐ gruppen ist auch im Bereich der Produktgestaltung eine klare Aus‐ weitung und Qualitätsorientierung des Angebotes gefolgt. ☐ Am Beispiel des Fahrradtourismus wurde herausgearbeitet, dass ☐ nach einem gewissen Boom in den letzten 20 Jahren inzwischen 271 6.5 Wellness-Tourismus: Hoffnungsträger und Wachstumsbringer? 271 <?page no="272"?> Stagnationstendenzen erkennbar sind. Diesen gilt es mit mit einer systematischen Diversifizierungs- und Differenzierungsstrategie zu begegnen. ☐ Der klassische Kur- und Gesundheitstourismus ist durch veränderte ☐ finanzielle Rahmenbedingungen in eine Krise geraten. Die ur‐ sprüngliche Hoffnung, dass ein einfaches Umstellen auf Well‐ ness-Tourismus möglich wäre und ein weiteres Wachstum er‐ möglichen würde, scheinen sich nur begrenzt zu erfüllen. Weiterführende Lesetipps DZT (= Deutsche Zentrale für Tourismus e. V.; 2019): Incoming-Tou‐ rismus Deutschland. Zahlen, Daten, Fakten 2018. Frankfurt (www.ger‐ many.travel) Jährlich erscheinende Broschüre der für das deutsche Auslandsmarketing zuständigen Organisation. Enthält eine Vielzahl an Basisinformationen zum Stellenwert von Deutschland als Incoming-Reiseziel und den Quell‐ märkten. Frei im Internet erhältlich. BMWi (= Bundesministerium für Wirtschaft und Energie; 2017): Tou‐ rismuspolitischer Bericht der Bundesregierung. 18. Legislaturperiode. Berlin (www.bmwi.de/ Redaktion/ DE/ Publikationen/ Tourismus/ touris‐ muspolitischer-bericht.html) Zusammenstellung der Aufgaben und Aktivitäten zur Tourismuspolitik auf Bundesebene. Gleichzeitig aber auch relevante Quelle zur wirtschaft‐ lichen Bedeutung des Tourismus und den vielfältigen Wechselbeziehun‐ gen zwischen den unterschiedlichen Akteuren. DTV (= Deutscher Tourismusverband; 2006): Grundlagenuntersu‐ chung Städte- und Kulturtourismus in Deutschland. Langfassung. Bonn (www.deutschertourismusverband.de/ service/ touristische-studien/ dtv-studien.html) Wenn auch bereits einige Jahre alt, stellt die vom DTV in Auftrag gege‐ bene Grundlagenstudie immer noch eine wichtige Quelle zur Nachfra‐ gestruktur und der Typisierung von städtetouristischen Destinationen dar. Darüber hinaus ist sie frei im Internet verfügbar. BMWi (= Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie; Hrsg.; 2009): Grundlagenuntersuchung Fahrradtourismus in Deutschland. Langfassung. Berlin (www.deutschertourismusverband.de/ service/ to uristische-studiendtv-studien.html) 272 6 Deutschlandtourismus: Marktsegmente, Akteure und Produktentwicklung 272 <?page no="273"?> Ähnlich wie die Grundlagenstudie zum Städtetourismus stellt auch die‐ jenige zum Fahrradtourismus eine zentrale Grundlage für dieses touris‐ tische Segment dar. Die Studie ist ebenfalls über die Seite des DTV frei im Internet verfügbar. BMWi (= Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie; Hrsg.; 2009): Grundlagenuntersuchung Freizeit und Urlaubsmarkt Wandern. Langfassung. Berlin (= Forschungsbericht des BMWi, 591) (www.bmwi.de/ DE/ Mediathek/ publikationen,did=362296.html) Die dritte Grundlagenuntersuchung zu einer für den Deutschlandtouris‐ mus relevanten Tourismusform bereitet eine Vielzahl von Informationen zu den Zielgruppen, den Angeboten, aber auch zum Marketing des Wan‐ dertourismus auf. Die Studie ist ebenfalls frei im Internet verfügbar. BMWi (= Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie; Hrsg.; 2011): Innovativer Gesundheitstourismus in Deutschland. Leitfaden. Berlin (www.innovativer-gesundheitstourismus.de/ leitfaden-und-branchen‐ reports. html) In dieser Studie werden die aktuellen Entwicklungslinien im Gesund‐ heitstourismus detailliert nachgezeichnet. Gleichzeitig ist ein großer Teil der Publikation auch guten Beispielen für das Herangehen an die Her‐ ausforderung des Strukturwandels in klassischen gesundheitstouristi‐ schen Destinationen gewidmet. Auch diese Studie ist frei im Internet ver‐ fügbar. 273 6.5 Wellness-Tourismus: Hoffnungsträger und Wachstumsbringer? 273 <?page no="275"?> 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus Auch wenn Tourismus ein globales Phänomen darstellt, ist nicht nur die Bedeutung der unterschiedlichen Quellmärkte - als Spiegel der ökonomi‐ schen Verhältnisse - räumlich ungleich verteilt bzw. weist eine starke Konzentration auf sog. hoch entwickelte Staaten auf (vgl. Abb. 20 in Kap. 2.1.3). Auch die Ströme der Touristen in Destinationen sind räumlich höchst ungleich ausgeprägt. Daraus resultieren in unterschiedlichen Des‐ tinationstypen ganz unterschiedliche Herausforderungen. Manche Desti‐ nationen sind bereits an die Tragfähigkeitsgrenze gelangt, bzw. drohen diese zu überschreiten, wie im Folgenden am Beispiel Mallorca aufgezeigt wird. Für andere Destinationen - insbesondere in den sog. Entwicklungs‐ ländern - stellt der Zugang zum Markt eine zentrale Herausforderung dar, um von den positiven regionalwirtschaftlichen Effekten zu profitieren. Dieser Aspekt wird exemplarisch am Beispiel von Kenia thematisiert. Viele etablierte Destinationen stehen vor der Herausforderung, am Ende des Lebenszyklus angelangte Produktlinien durch neue Tourismusformen und teilweise neue Zielgebiete zu ergänzen. Dies gilt insbesondere für die mediterranen Destinationen und wird am Beispiel von Zypern und Ma‐ rokko - auch unter dem Blickwinkel der Destination Governance (vgl. Kap. 4.3) - behandelt. Lernziele In diesem Kapitel werden folgende Fragen beantwortet: ☐ Wie stellen sich die räumlichen Grundmuster der internationalen ☐ touristischen Nachfrage dar? ☐ Welche Ansätze zum Umgang mit ökologischen und sozialen Trag‐ ☐ fähigkeitsgrenzen werden ergriffen? ☐ Welche Herausforderungen stellen sich bei der Erschließung neuer ☐ Produktlinien für neue Zielgruppen und der räumlichen Auswei‐ tung des Angebotes in etablierten Destinationen? <?page no="276"?> ☐ Welche besonderen Bedingungen bestehen im sog. Entwicklungs‐ ☐ ländertourismus? ☐ Welche Barrieren erschweren den Marktzugang in sich neu entwi‐ ☐ ckelnden Destinationen der sog. Entwicklungsländer. 7.1 Grundlagen des internationalen Tourismus Die ungleiche Verteilung der touristischen Nachfrage und der hohe Grad der Konzentration auf relativ wenige Destinationen werden in Abbildung 113 deutlich. Da global keine verlässlichen und vergleichbaren Angaben über den Binnentourismus vorhanden sind, wird dieser in der Darstellung aller‐ dings ausgeblendet. Abb.‐Nr.: -113 Abb.‐Titel: -Internationale-Touristenankünfte-2018 nach-UNWTO‐Regionen-(Quelle: -Eigener-Entwurf-nach- Daten-UNWTO-2019,-S.-6) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Europa 51% Afrika 5% Mittlerer Osten 4% Amerika 15% Asien und Pazifik 25% Abb. 113: Internationale Touristenankünfte 2018 nach UNWTO-Regionen (Quelle: eigener Entwurf nach Daten UNWTO 2019, S. 6) Mehr als die Hälfte der weltweiten gut 1,4 Mrd. internationalen Ankünfte von (Übernachtungs-)Touristen - und auch eine in der gleichen Größen‐ ordnung liegende Wertschöpfung (vgl. UNWTO 2014, S. 5) entfällt auf eu‐ ropäische Destinationen. Innerhalb Europas verzeichnet der Mittelmeer‐ raum mit etwa zwei Fünftel der Ankünfte den höchsten Anteil. Innerhalb 276 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 276 <?page no="277"?> Amerikas entfallen zwei Drittel der Ankünfte auf Nordamerika. Mit einem Zwanzigstel der weltweiten internationalen Ankünfte ist Afrika deutlich unterdurchschnittlich vertreten. Dieser geringe Partizipationsgrad der afri‐ kanischen Länder am internationalen Tourismus - und damit insbesondere auch den Einnahmen aus diesem - wird nochmals verschärft durch eine stark ungleiche Verteilung innerhalb des afrikanischen Kontinents. Von den internationalen Ankünften in Afrika entfallen mehr als ein Drittel auf die nordafrikanischen Länder (insbesondere Marokko und Tunesien) an der südlichen Mittelmehrküste. Ein weiteres knappes Fünftel der internationa‐ len Ankünfte fließt in das Land Südafrika. Die übrigen Länder des subsaha‐ rischen Afrikas können damit nur zu einen sehr geringen Teil von interna‐ tionalen Touristenströmen profitieren - und auch hier konzentriert sich ein Großteil des schon relativ geringen Volumens vor allem auf wenige Länder des südlichen Afrikas (Namibia und Botswana) sowie in Ostafrika (Kenia und Tansania). Bezogen auf einzelne Länder führt Frankreich die Liste der Top Ten-Län‐ der hinsichtlich der Ankünfte internationaler (Übernachtungs-)Touristen an, gefolgt von Spanien und den USA. Damit paust sich die Vielfalt der tou‐ ristischen Zielgebiete in diesen Ländern für die unterschiedlichen Touris‐ musformen (vom Städtetourismus über den Badetourismus und unter‐ schiedlichsten Formen des naturorientierten Tourismus) klar durch. Der Bedeutung des Mittelmeerraums mit etwa einem Fünftel aller weltweiten Ankünfte entsprechend, sind neben Frankreich (das nur teilweise als medi‐ terrane Destination anzusprechen ist) noch drei weitere Mittelmeerländer (Spanien, Italien und die Türkei) unter den zehn aufkommensstärksten Rei‐ seländern. Dabei hat die Türkei in den letzten zehn Jahren ein sehr dyna‐ misches Wachstum erfahren und 2006 auch erstmals höhere Ankunftszahlen als Deutschland erzielt. Auch China hat seine Position als Ziel des interna‐ tionalen Reiseverkehrs in den letzten Jahren deutlich ausbauen können. Der deutsche Outgoing-Tourismus ist ebenfalls stark auf mediterrane De‐ stinationen ausgerichtet. Nach den Ergebnissen der Reiseanalyse führten 2018 mehr als die Hälfte aller Auslandsurlaubsreisen der Deutschen in me‐ diterrane Destinationen (davon gut drei Viertel in europäische Mittelmeer‐ länder). Spanien steht seit langem mit weitem Abstand an erster Stelle der Liste der beliebtesten Auslandsreiseländer, gefolgt von Italien und der Tür‐ kei (vgl. Abb. 115). 277 7.1 Grundlagen des internationalen Tourismus 277 <?page no="278"?> Abb.‐Nr.: -114 Abb.‐Titel: -Top-Ten der-internationalen- Touristenankünfte-2018 (Quelle: -Eigener-Entwurf- nach-Daten-UNWTO-2019,-S.-9) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 20 40 60 80 100 Frankreich Spanien USA China Italien Türkei Mexiko Deutschland Thailand Großbritannien in Mio. Ankünfte Abb. 114: Top Ten der internationalen Touristenankünfte 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten UNWTO 2019, S. 9) Abb.‐Nr.: -115 Abb.‐Titel: -Top-Ten der-Auslandsreiseziele-der- Deutschen-(Quelle: -Eigene-Darstellung-nach-Daten- FUR-2019,-S. 30) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 2 4 6 8 10 Spanien Italien Türkei Österreich Griechenland Kroatien Frankreich Niederlande Polen Ägypten in Mio. Reisen Abb. 115: Top Ten der Auslandsreiseziele der Deutschen 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten FUR 2019, S. 30) Die Darstellung der Übernachtungen von nationalen und internationalen Gästen in den Ländern der EU (sowie die in der europäischen Statistik mit geführten Ländern Island, Norwegen, Schweiz sowie Serbien, Montenegro und Türkei) ist in Abbildung 116 auf der Ebene der NUTS2-Regionen dar‐ gestellt (NUTS = Nomenclature des Unités Territoriales Statistiques; die NUTS2-Ebene entspricht in Deutschland den Regierungsbezirken in den Bundesländern, in manchen Bundesländern ohne Regierungsbezirke auch den gesamten Bundesländern). 278 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 278 <?page no="279"?> Auch bei diesem Bezug paust sich die herausragende Rolle des Mittelmeer‐ raums deutlich durch. Spitzenreiter sind - auch aufgrund des Ganzjahrestou‐ rismus - die Kanarischen Inseln mit etwa 100 Mio. Übernachtungen. Unter den zehn aufkommensstärksten NUTS2-Regionen finden sich - neben dem Großraum Paris (Ile de France) und London (formal 2 Regionen) - sieben Mittelmeerküstenregionen. Drei von diesen, Katalonien (Großraum Barce‐ lona und Costa Brava mit gut 80 Mio.), die Balearen und Andalusien (mit je etwa 70 Mio.) liegen in Spanien. Die ersten zentraleuropäischen Flächendes‐ tinationen in der Rangfolge mit jeweils knapp 40 Mio. Übernachtungen sind Oberbayern (München und Alpenvorland) sowie Tirol auf Platz 16 und 18. Abb.‐Nr.: -116 Abb.‐Titel: -Übernachtungen-in-den-Ländern-der-EU- 2018 (nach-NUTS2‐Regionen)-(Quelle: -Eigener- Entwurf-nach-Daten-Eurostat 2019a und-b) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Zahl der Übernachtungen 1 5 10 25 50 Mio. Madeira Kanarische Inseln Abb. 116: Übernachtungen in den Ländern der EU 2018 (nach NUTS2-Regionen) (Quelle: eigener Entwurf nach Daten Eurostat 2019a und b) 279 7.1 Grundlagen des internationalen Tourismus 279 <?page no="280"?> Eine gewisse Konzentration lässt sich auch entlang der englischen Südküste der Nordseeküste von Belgien und den Niederlanden sowie der französi‐ schen und portugiesischen Atlantikküste erkennen. Darüber hinaus sind es insbesondere die Metropolen, die in der kartographischen Darstellung etwas herausstechen. Dass der Tourismus in Osteuropa nach wie vor noch nicht das Niveau von westeuropäischen Destinationen erreicht hat, wird auch darin sichtbar, dass unter den Top Ten-Städtedestinationen nur Prag als ost‐ europäische Stadt gelistet ist (vgl. Abb. 117). Abb.‐Nr.: -117 Abb.‐Titel: -Top-Ten der-Übernachtungen-in- europäischen-Städten-im-Jahr-2018 (Quelle: -Eigene- Darstellung-nach-Daten-DTV-2019,-S.-9) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 10 20 30 40 50 60 London Paris Berlin Rom Barcelona Madrid Prag Wien München Hamburg in Mio. Reisen Abb. 117: Top Ten der Übernachtungen in europäischen Städten im Jahr 2018 (Quelle: Eigene Darstellung nach Daten DTV 2019, S. 9) 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum Aufgrund der globalen Bedeutung des Mittelmeerraums wird ihm im Rah‐ men dieses Kapitels ein entsprechender Fokus gewidmet. Gleichzeitig be‐ deutet die lange Entwicklungsgeschichte des mediterranen Tourismus, dass sich dort Phänomene und Herausforderungen, die in ähnlicher Weise auch für andere Destinationstypen gelten, in exemplarischer und pointierter Weise darstellen lassen. Der Mittelmeerraum wurde früher oftmals als „Badewanne Europas“ be‐ zeichnet. Dieser Begriff drückt aus, dass das Mittelmeer bzw. die Länder des Mittelmeerraums einerseits das Hauptzielgebiet des europäischen Touris‐ mus darstellen und andererseits lange Zeit der Badetourismus unangefoch‐ ten die zentrale Rolle einnahm. In einigen Destinationen, wie z. B. im Fall 280 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 280 <?page no="281"?> von Mallorca, ist die Überprägung durch den Tourismus so stark, dass diese Insel ironisch auch schon als „17. Bundesland“ Deutschlands bezeichnet wurde. In diesem Abschnitt werden nach einer kurzen Einführung in die Grundstrukturen anhand von drei Beispielen unterschiedliche Aspekte der touristischen Entwicklung exemplarisch aufbereitet: 1. Mallorca, mit dem Fokus auf Grenzen des Wachstums und Diversifi‐ 1. zierungsansätze 2. Zypern als Beispiel für die Notwendigkeit neuer Steuerungsansätze 2. 3. Marokko und die dortige Erschließung neuer Destinationen in einem 3. Schwellenland an der mediterranen Südküste. 7.2.1 Grundstrukturen des Tourismus im Mittelmeerraum Der Mittelmeerraum kann grob gesprochen etwa ein Fünftel des globalen touristischen Volumens (sei es ausgedrückt in Ankünften, Übernachtungen oder Wertschöpfung) an sich binden (vgl. UNWTO 2019, S. 17). Dabei kann das Mittelmeer als „ökonomischer Nutznießer“ (S TEINECKE 2014, S. 117) des in der Folge der industriellen Revolution in Zentraleuropa steigenden Wohl‐ stands bei weiten Teilen der Bevölkerung angesehen werden. Die Nähe zum Quellmarkt Zentraleuropa und die klimatischen Unterschiede zwischen den nördlicheren europäischen Ländern und den Mittelmeerländern stellen ne‐ ben dem endogenen touristischen Potential die relevanten Voraussetzungen für diesen Umfang der touristischen Aktivitäten dar. Neben der Küste bzw. dem Meer bilden auch das, von der Antike bis in die Neuzeit reichende, materielle kulturelle Erbe der Vergangenheit sowie die natur- und kultur‐ landschaftlichen Elemente wichtige Anziehungspunkte. Historische Entwicklungslinien Zwar reichen die ersten Ansatzpunkte eines küstenorientierten Tourismus im Mittelmeerraum bis in die Antike zurück. Als Ausgangspunkt der heu‐ tigen touristischen Entwicklung werden vor allem die Winteraufenthalte von wohlhabenden Briten an der italienischen Riviera und französischen Côte d‘Azur, aber auch an der spanischen Costa del Sol im 19. Jahrhundert gesehen (K ULINAT 1991, S. 432). Die zahlenmäßig bedeutsame Zunahme der Besucher zu einer wahrhaften Phase des Massentourismus erfolgte aller‐ dings erst nach dem Zweiten Weltkrieg und war im Wesentlichen verbunden mit der Zunahme der verfügbaren Einkommen in den westeuropäischen In‐ 281 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 281 <?page no="282"?> dustriestaaten, die es erlaubten, dass große Teile der Bevölkerung einen Auslandsurlaub unternehmen können (vgl. Kap. 2.1.1). Dabei lassen sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei Phasen der touristischen Erschließung festmachen: 1. In den drei „traditionellen“ Ländern des mediterranen Küstentouris‐ 1. mus - Italien, Frankreich und Spanien - fand der Hauptausbau zwi‐ schen Mitte der 1950er Jahre und Mitte der 1970er Jahre statt. Be‐ günstigt durch die Nähe zu den Hauptquellgebieten, den bevölkerungsreichen westeuropäischen Industriestaaten, wurde zu‐ nächst das mit dem Auto gut erreichbare nördliche Italien (v. a. Adria) für den Tourismus erschlossen. Anfang der 1960er Jahre folgte dann etwas zeitversetzt Spanien. Die Mittelmeerküste Frankreichs stellt bis zu einem gewissen Grad eine Ausnahme dar. Neben der dezentral ab‐ laufenden Entwicklung an der französischen Côte d‘Azur wurde die Erschließung des westlichen Mittelmeerküstenabschnitts im Langue‐ doc-Roussillon zentral seit Mitte der 1960er auf der Basis eines Mas‐ terplans geplant. 2. In den weiter von Westeuropa entfernt liegenden Staaten des östli‐ 2. chen Mittelmeerraums und der nordafrikanischen Gegenküste er‐ folgte die Erschließung vor allem seit Mitte der 1970er Jahre, wobei die Anbindung im Wesentlichen über das Flugzeug erfolgt. Auch hier gilt, dass die Grundtendenz durch nationale politische Verhältnisse und das Agieren der nationalen Regierungen akzentuiert wurde. So förderte die tunesische Regierung die touristische Erschließung be‐ reits ab Beginn der 1970er Jahre offensiv (K AS SAH 1997), während die libysche Küste bis heute so gut wie gar nicht für den internationalen Badetourismus in Wert gesetzt wurde. Die Phase der intensiven In‐ wertsetzung für den Badetourismus setzte in Ägypten Anfang der 1980er Jahre (M E Y E R 1996) und in der Türkei Mitte der 1980er Jahre ein (H ÖF EL S 1990). Der historische Entwicklungsvorsprung der drei klassischen Mittelmeerur‐ laubsländer Italien, Frankreich und Spanien paust sich aber auch heute noch durch. Auf diese Länder entfallen immer noch knapp die Hälfte der im Jahr 2012 im Mittelmeerraum registrierten knapp 1,5 Mrd. Übernachtungen (vgl. Abb. 118). 282 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 282 <?page no="283"?> Abb.‐Nr.: -118 Abb.‐Titel: -Übernachtungen-in-den- Mittelmeeranrainerstaaten-und-Anteil-des- internationalen-Tourismus-am-BIP--(Quelle: -Eigener- Entwurf-nach-Daten-UNWTO 2019-und République- Française-2019,-S.-39) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 10ł W 0ł 10ł O 20ł O 30ł O 40ł 30ł 30ł O 20ł O 10ł O 0ł 30ł 40ł Rhône Donau Nil 0 100 200 300 400 500km Anteil des internationalen Tourismus am BIP unter 1 % 1 bis 3,99 % über 15 % 4 bis 7,99 % 8 bis 14,99 % Portugal Spanien Italien Slowenien Kroatien Bosnien & Herzegovina Serbien Rumänien Bulgarien Albanien Nord- Mazedonien Griechenland Türkei Syrien Libanon Israel Ägypten Tunesien Algerien Marokko Zypern Malta Montenegro Palästina Monaco Mediterranes Frankreich Jordanien Übernachtungen (in Hotels) im Jahr 2018* Inländer 5 Ausländer 20 50 250 Mio. Übernachtungen * Albanien 2016, Frankreich 2017, Syrien 2011, Türkei 2017 100 Andorra Abb. 118: Übernachtungen in den Mittelmeeranrainerstaaten und Anteil des internationalen Tourismus am BIP (Quelle: eigener Entwurf nach Daten UNWTO 2019 und République Française 2019, S. 39) 283 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 283 <?page no="284"?> Zwar ist der relative Anteil des Mittelmeerraums am internationalen Tou‐ rismus in den letzten Jahrzehnten - bei, nach wie vor vorhandenem abso‐ luten Wachstum - etwas zurückgegangen. Er sank von etwa einem Drittel Ende der 1980er Jahre über ein gutes Viertel Ende der 1990er Jahre (vgl. K AG E RMEIE R 2002, S. 28) auf inzwischen nur noch ein Fünftel. Die Prognosen gehen aber - trotz teilweise dynamischerem Wachstum in den sog. „Emer‐ ging Destinations“ - von den Golfstaaten über Südostasien bis hin zu China - davon aus, dass der Mittelmeerraum bis weit in das 21. Jahrhundert hinein die weltweit wichtigste Großdestination bleiben wird. Neben dem Erstarken von Mitbewerberdestinationen ist es auch das wirtschaftliche Wachstum in aufstrebenden Volkswirtschaften - allen voran in den fünf sog. BRICS-Staa‐ ten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und in Südostasien. Dieses führt dazu, dass diese Quellmärkte ansprechende Ziele ein überpro‐ portionales Wachstum verzeichnen. Der Mittelmeerraum ist aber gleichzei‐ tig von einem stark auf das Volumensegment ausgerichteten Badetourismus geprägt. Die Veränderungen auf der Nachfrageseite und die sich ausdiffe‐ renzierenden Nachfragemotive (vgl. Kap. 2.2), die z. B. zum Boom im Wan‐ der- und Fahrradtourismus geführt haben (vgl. Kap. 6.4), bedeuten dement‐ sprechend auch, dass der Mittelmeerraum vor der Herausforderung steht, auf die sich verändernden Bedürfnisse der Reisenden zu reagieren. Räumliche Verteilung In Abbildung 118 ist die Verteilung der Übernachtungen im Jahr 2018 dar‐ gestellt. Dabei wurden für Frankreich nur die Übernachtungszahlen der me‐ diterranen NUTS-Regionen berücksichtigt. Ebenso sind nur Übernachtun‐ gen in Hotels nicht aber in Ferienwohnungen und auf Campingplätzen erfasst, da diese nicht für alle Länder verfügbar sind. In den EU NUTS2-Re‐ gionen beträgt der Anteil von Übernachtungen in Ferienwohnungen und Campingplätzen in manchen Regionen fast die Hälfte, macht sogar unter speziellen Konstellationen wie im Languedoc-Roussillon fast drei Viertel der Übernachtungen aus (vgl. Eurostat 2014, S. 193). Gleichzeitig ist der Bin‐ nentourismusanteil gerade bei diesen Übernachtungsformen in vielen Fällen überproportional hoch, sodass in der Darstellung der Binnentourismus ten‐ denziell unterrepräsentiert dargestellt wird. Bezogen auf das Volumen der Übernachtungen paust sich der bereits er‐ wähnte Entwicklungsvorsprung der etablierten Destinationen in Italien, Frankreich und Spanien - aber auch der Erreichbarkeitsvorteil - nach wie vor klar durch. Gleichzeitig weisen insbesondere Frankreich und Italien, 284 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 284 <?page no="285"?> aber auch Spanien überdurchschnittliche Binnentourismusanteile auf - si‐ cherlich auch ein Spiegel der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwick‐ lungsstände in den Mittelmeeranrainerstaaten. Abgesehen von Algerien und Libyen, in denen (aufgrund der politischen Verhältnisse bzw. der Einnahmen aus der Erdölproduktion) der Anteil des internationalen Tourismus unter einem Prozent liegt, stellen die Devisen‐ einnahmen aus dem Tourismus für die Volkswirtschaften vieler Mittelmee‐ ranrainerstaaten eine wichtige Quelle dar. Spitzenreiter ist Montenegro mit einem Anteil der Deviseneinnahmen aus dem internationalen Tourismus von einem Fünftel am gesamten BIP (= Bruttoinlandsprodukt) des Landes. Damit sind nur die direkten Wertschöpfungseffekte berücksichtigt, nicht jedoch die indirekten Wirkungen. Ähnlich bedeutsam ist der internationale Tourismus auch in Kroatien, Albanien, Jordanien und dem Libanon, wo er jeweils noch mindestens 15 % ausmacht. Aber auch in Marokko, Malta, Por‐ tugal und Zypern trägt er mit etwa einem Zehntel zum BIP bei. In der Mit‐ telgruppe finden sich Bosnien, Bulgarien, die Türkei, Spanien, Tunesien, Slowenien und Griechenland (mit BIP-Anteilen zwischen 4 % und 8 %). Demgegenüber trägt der Incoming-Tourismus in Italien und Frankreich - einerseits aufgrund der hohen Binnentourismusanteile, andererseits we‐ gen der vielfältigen anderen wirtschaftlichen Aktivitäten - trotz der hohen absoluten Übernachtungszahlen weniger als 4 % zum BIP bei (der entspre‐ chende Vergleichswert für Deutschland liegt - ebenfalls aus den gleichen Gründen - nur bei 1,5 %). 7.2.2 Grenzen des Wachstums und Diversifizierungsansätze auf Mallorca Die Balearen (Mallorca, Menorca und Ibiza) mit ihren 70 Mio. Übernach‐ tungen sind zwar nicht die NUTS2-Region in Europa mit der höchsten ab‐ soluten Zahl von Touristen und Übernachtungen. Allerdings führen sie die Liste der Übernachtungen bezogen auf die Zahl der Einwohner mit dem Spitzenwert von 60 Übernachtungen pro Einwohner klar an (Eurostat 2014, S. 200). Bei einem EU-Mittelwert von etwa 5 Übernachtungen pro Einwoh‐ ner weist diese Region damit eine zwölfmal so hohe Tourismusintensität auf wie der EU-Durchschnitt. Etwa vier Fünftel der touristischen Aktivität der Balearen entfällt auf Mal‐ lorca, das damit auch fast zum Synonym für die intensive touristische Nut‐ zung und manche damit verbundenen Exzesse geworden ist. Die besondere 285 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 285 <?page no="286"?> Intensität, aber gleichzeitig auch die Begrenztheit der Insellage, aufgrund de‐ ren eben auch die Ressourcennutzung an klare Grenzen stößt, machen Mal‐ lorca wie keine andere Destination im Mittelmeerraum geeignet, an diesem Beispiel auch die Grenzen des Wachstums mit zu thematisieren. Die starke Abhängigkeit der Insel vom Tourismus bedeutet aber gleichzeitig, dass dort auch die Ansätze zu einer Erhaltung der Attraktivität für die Touristen exem‐ plarisch für viele andere Mittelmeerdestinationen beleuchtet werden können. Historische Entwicklung Wie viele andere heutige Mittelmeerdestinationen wurde auch Mallorca im 19. Jahrhundert zum zeitweiligen Aufenthalt von einigen Adeligen und Künstlern aufgesucht. Auch wenn an manchen Stellen auf der Insel an diese Frühphase noch erinnert wird, beginnt wie in vielen spanischen Destina‐ tionen die Erschließung zu Beginn der 1960er Jahre, nachdem das Franco-Re‐ gime seit 1959 im Zuge von Wirtschaftsreformen das Land bewusst für den internationalen Tourismus geöffnet hatte. Ausgehend von etwa 360.000 Touristenankünften im Jahr 1960 erreichen diese inzwischen fast 12 Mio. (vgl. Abb. 119). Damit wird auf einer Fläche, die nur wenig größer als das Saarland ist, eine Tourismusdichte pro Flä‐ cheneinheit erreicht, die der von Großstädten (wie z. B. Hamburg; Eurostat 2014, S. 200) entspricht. Abb.‐Nr.: -119 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Zahl-der-Ankünfte-auf- Mallorca-zwischen-1960-und-2018 (Quelle: -Eigener- Entwurf-nach-Daten-Govern de-les-Illes Balears div.- Jg.) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 2.000.000 4.000.000 6.000.000 8.000.000 10.000.000 12.000.000 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 Abb. 119: Entwicklung der Ankünfte auf Mallorca zwischen 1960 und 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Govern de les Illes Balears div. Jg.) 286 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 286 <?page no="287"?> Der Verlauf der Touristenankünfte verlief dabei nicht kontinuierlich, son‐ dern lässt - teilweise auch in anderen mediterranen Destinationen beob‐ achtbare - unterschiedliche Phasen erkennen: 1. In den Jahren zwischen 1960 und 1973, d. h. bis zur ersten Ölkrise nach 1. dem Jom-Kippur-Krieg erfolgte ein erster Boom, der vor allem von der Erschließung der Bucht von Palma de Mallorca - mit dem westlich gelegenen Magalluf und der östlichen Playa de Palma - geprägt war (vgl. auch Abb. 122). In dieser Phase entstanden wie in vielen anderen Küstendestinationen auch vielgeschossige Hotelbauten meist in un‐ mittelbarer Strandnähe. 2. Bis Mitte der 1980er Jahre (einschließlich der zweiten Ölkrise Ende 2. der 1970er Jahre) ist ein klares Stagnieren der Entwicklung erkennbar. 3. Erst nach dem EU-Beitritt Spaniens 1986 erfolgt ein zweiter Boom. Die‐ 3. ser ist aber auch davon geprägt, dass preiswertere Apartmentbauten für eine weniger zahlungskräftige Klientel mit erstellt wurden. Das erneute Wachstum wurde also teilweise mit eine geringeren Wertschöpfung pro Tourist erzielt. Gleichzeitig wurden erste Hotelbauten der frühen Phase in Wohngebäude für Einheimische umgewandelt, gleichzeitig aber auch der Grundstein für Altersruhesitze von Europäern aus den nördlich ge‐ legenen Ländern gelegt. Die touristische Erschließung umfasste in stär‐ kerem Maß auch die Bucht von Alcudia im Norden und den östlichen Küstenstreifen zwischen Cala Ratjada und Cala Figuera (vgl. Abb. 122). 4. Ende der 1980er Jahre wurde bereits die Reifephase der Insel pro‐ 4. gnostiziert, als mehrere Jahre lang die Touristenzahlen stagnierten bzw. rückläufig waren. Bereits damals erfolgten erste Überlegungen zu einer stärker an ökologischen und Qualitätsaspekten ausgerichte‐ ten Orientierung des Tourismus auf Mallorca (vgl. I S ENB E R G 1992). 5. Diese Überlegungen verloren jedoch wieder an Resonanz, als Anfang 5. der 1990er Jahre ein dritter Boom einsetzte. Für das erneute Anstei‐ gen der Touristenzahlen war einerseits die Öffnung Osteuropas, durch die Touristen mit begrenzten Ansprüchen wegbleibende anspruchs‐ vollere westeuropäische Besucher substituierten. Andererseits fällt auch die Entwicklung mancher Teilgebiete - insbesondere der Playa de Palma mit dem berühmt-berüchtigten Balneario 6 (Ballermann 6) - für den Partytourismus in diese Phase. Wieder wurde Volumen‐ wachstum mit einer gewissen Banalisierung und Degradation des Angebotes erreicht. Teilweise hatte Mallorca in dieser Zeit auch das 287 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 287 <?page no="288"?> Image einer „Putzfraueninsel“, sprich anspruchsvollere Touristen mieden die Insel teilweise aus Imagegründen. 6. Bereits vor der Jahrtausendwende (und damit auch dem für die Tou‐ 6. rismuswirtschaft relevanten Einschnitt nach den Anschlägen des 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York) waren abermals stagnative Tendenzen sichtbar geworden. In den Jahren nach der Jahrtausendwende erfolgte eine intensive Erschließung von diversifizierten Formen des Qualitätstourismus. Gleichzeitig wurden auch einige ökologische Problembereiche angegangen. 7. Auch wenn von mehreren Seiten bereits zum wiederholten Male das 7. Ende des Lebenszyklus proklamiert worden war (S CHMITT & B LÁZ ‐ QUEZ -S ALOM 2003), gelang es Mallorca auch dieses Mal - fast wie der sprichwörtliche Phönix aus der Asche - wieder an einen Wachstums‐ pfad anzuknüpfen und Mitte des letzten Jahrzehnts eine erneute vierte Boomphase zu erleben. Dabei profitierte Mallorca auch von den Low Cost Carriern (vgl. Kap. 3.1.3), durch welche die Flugkosten deutlich sanken. Dies ermöglichte auch die extremen Formen des Partytouris‐ mus, teilweise ohne Hotelübernachtung als Partynacht. Gleichzeitig war diese Phase auch davon geprägt, dass mit teilweise spekulativ ho‐ hen Preisen hochwertige Zweitwohnsitze (insbesondere an der Süd‐ westküste um Santa Posa und Andraitx; vgl. Abb. 122) entstanden sind. 8. Mit der Bankenkrise 2008/ 2009 und dem Platzen der Immobilienspe‐ 8. kulationsblase verbunden war - wie in anderen mediterranen Desti‐ nationen mit einem ähnlichen Profil - ein erneuter Rückgang der Gästezahlen. Besonders betroffen war davon der britische Markt, der in früheren Zeiten eine ähnlich große Bedeutung wie der deutsche Quellmarkt aufwies. Der Hauptquellmarkt Mallorca ist mit inzwischen knapp 40 % ganz klar Deutschland, während der Anteil Großbritanniens auf inzwischen etwa 20 % zurückgegangen ist. Die anderen zentral- und nordeuropäischen Länder (vgl. Abb. 120) nehmen demgegenüber nur eine geringere Stellung ein. Der Binnentourismus ist mit etwas mehr als einem Zehntel nur unterdurch‐ schnittlich ausgeprägt, da für Festlandsspanier - und insbesondere auch Katalonier - andere Küstenstandorte leichter erreichbar sind. Ausländische Nachfrageschwankungen werden damit kaum durch die Binnennachfrage abgepuffert. Ein Großteil der Diversifizierungsansätze im Qualitätstouris‐ mus ist dementsprechend auch auf den deutschen Quellmarkt ausgerichtet. 288 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 288 <?page no="289"?> Abb.‐Nr.: -120 Abb.‐Titel: -Quellmärkte-Mallorcas-2018 (Quelle: - Eigener-Entwurf-nach-Daten-Govern de-les-Illes Balears 2019,-S.-32) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Spanien Deutschland Großbritannien Skandinavien Benelux Frankreich Italien Andere Abb. 120: Quellmärkte Mallorcas 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Govern de les Illes Balears 2019; S. 32) Wie in vielen anderen Mittelmeerländern auch, wird mit den Diversifizie‐ rungsansätzen gleichzeitig auch versucht, die ausgeprägte Saisonalität des Nachfrageverlaufs (vgl. Abb. 121) im Jahresgang zu reduzieren. Es werden Tourismusformen gefördert, die in den Lastschultern der Nebensaison Nach‐ frage generieren. Abb.‐Nr.: -121am-Flughafen-Palma-di- Abb.‐Titel: -Saisonalität der-touristischen-Ankünfte-am- Flughafen-Palma-de-auf-Mallorca-2018 (Quelle: - Eigener-Entwurf-nach-Daten-Govern de-les-Illes Balears 2019,-S.-14) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 500.000 1.000.000 1.500.000 2.000.000 2.500.000 Abb. 121: Saisonalität der touristischen Ankünfte am Flughafen Palma de auf Mallorca 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Govern de les Illes Balears 2019, S. 14) 289 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 289 <?page no="290"?> Diversifizierungsansätze und Qualitätstourismus Die bereits seit Ende der 1980er Jahre virulente Diskussion über eine Pro‐ duktdiversifizierung verlor dann angesichts des - auch mit durch die Öff‐ nung des osteuropäischen Marktes bedingten - dritten Booms in den 1990er Jahren wieder an Bedeutung. Letztendlich war es aber lediglich nur ein kur‐ zer Aufschub, sich der Herausforderung der grundsätzlichen strukturellen Probleme des Tourismus auf Mallorca zu stellen. Um der Abwärtsspirale des Niveaus zu begegnen wurden - neben umfassenden Programmen zur Er‐ neuerung der Küstenstreifen - vor allem neue Produktlinien forciert, die auf einen Qualitätstourismus abzielten: 1. Eine der auch in vielen anderen mediterranen (aber auch zentraleu‐ 1. ropäischen) Destinationen seit der Jahrtausendwende als Diversifi‐ zierungsoption angesehene Tourismusform, der Golftourismus, wurde in Mallorca ebenfalls deutlich ausgebaut. Mit mittlerweile 22 Golfplätzen (vgl. Abb. 122) weist Mallorca eine Golfplatzdichte wie kaum eine andere Destination auf. Dabei liegen die Golfplätze im We‐ sentlichen im Umfeld der klassischen küstenorientierten Standorte um die Bucht von Alcudia, die Ostküste sowie insbesondere westlich von Palma (in dem Bereich, in dem der Zweitwohnsitzbau besonders ausgeprägt ist). Aufgrund der guten verkehrlichen Infrastruktur und der geringen Größe der Insel kann der Golfer von den meisten Orten alle Plätze in maximal einer Stunde erreichen. Damit können auch etwas hochwer‐ tigerere Strandhotels versuchen, im Frühjahr und Herbst, wenn in Zentraleuropa die Spielmöglichkeiten witterungsbedingt einge‐ schränkt sind, Golftouristen anzusprechen. Ein weiterer Vorteil für den Golftourismus - wie auch für die anderen zur Produktdiversifi‐ zierung und Ergänzung des Portfolios genutzten Tourismusformen ist, dass Mallorca - auch aufgrund der LCC mit ihrer Ausrichtung auf Sekundärflughäfen - von den meisten europäischen Regionalflughä‐ fen aus erreichbar ist. Der Erreichbarkeitsvorteil gegenüber anderen, weniger gut angebundenen Destinationen ist damit ein klares Plus für die Diversifizierungsansätze. Auch wenn die Zahl der Golftouristen nur etwa 100.000 beträgt (B U SWELL 2011, S. 160), geht davon ein klarer Imagegewinn für die Destination aus. Mit der Orientierung auf Golf‐ tourismus war auch verbunden, dass im Anschluss an die Plätze auch Baurecht für Hotels und Feriensiedlungen geschaffen worden ist. 290 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 290 <?page no="291"?> Abb.‐Nr.: -122 Abb.‐Titel: -Golfplätze-auf-Mallorca-2018 (Quelle: - Eigener-Entwurf-nach-Angaben-Govern de-les-Illes Balears 2019,-S.-77) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Palma Andraitx Inca Puerto Pollensa Cala Ratjada Artá Manacor Porto Colom Felantix Santangi Campos Llucmajor Santa Ponsa 0 5 10 20 km Alcúdia Serra de Tramuntana Cala Figuera Golfplatz Cala Minor El Arenal Playa de Palma Magalluf Schwerpunkte der badetouristischen Erschließung Abb. 122: Golfplätze auf Mallorca 2018 (Quelle: eigener Entwurf nach Angaben Govern de les Illes Balears 2019, S. 77) 2. Neben den Ferienanlagen im Umfeld der Golfplätze wurde zusätzlich 2. bewusst auch der sog. Residenzialtourismus, d. h. der Bau von Zweitwohnungen gefördert. Während in früheren Jahrzehnten die Zweitwohnungen - ähnlich wie die Hotels - zum erheblichen Teil als Apartments küstenorientiert in mehrgeschossigen Anlagen realisiert wurden, war mit der Orientierung auf den sog. Qualitätstourismus verbunden, dass zunehmend auch villenartige Einzelanlagen und Res‐ orts entstanden. Als Folge des Residenzialtourismus schätzen H O F & B LÁZQUEZ -S ALOM (2013, S. 266ff.) die Zahl der Swimmingpools auf Mallorca auf inzwischen etwa 200.000. Vor diesem Hintergrund titelte der Landschaftsökologe und Biogeograph S CHMITT 2007 etwas pro‐ vokativ: „Ballermann war besser“. Damit zielte er darauf ab, dass der Wasser- und Landschaftsverbrauch dieser neuen Tourismusform deutlich höher liegt als der von traditionellen Hotelanlagen an der Küste. Darüber hinaus eignet sich diese Unterbringungsform auf‐ 291 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 291 <?page no="292"?> grund der diffusen räumlichen Struktur von vielen Ferienhäusern mit eigenen Pools weniger gut für Umweltmanagementansätze als kon‐ zentrierte Siedlungen an der Küste. Der Wasserverbrauch der Golfplätze von etwa 2.000 m 3 pro Tag ent‐ spricht dem einer Kleinstadt mit etwa 8.000 Einwohnern (S CHMITT & B LÁZQUEZ -S ALOM 2003, S. 514). Obwohl die Golfplätze auf Mallorca inzwischen verpflichtet sind, auch aufbereitetes Brauchwasser zu verwenden, ist es bislang - mit bedingt durch die teilweise insuffizi‐ ente Reinigungsleistung der Kläranlagen - noch nicht gelungen, diese auf eine ausschließliche Bewässerung mit geklärtem Wasser umzu‐ stellen. Letztendlich wäre es, wie Beispiele in anderen Mittelmeerlän‐ dern zeigen, auf Mallorca - auch wegen der Nähe der Golfplätze zu den küstentouristischen Schwerpunkten - bei vorhandenem politi‐ schem Willen möglich, die Golfplätze ohne Nutzung des Grundwas‐ servorkommen zu betreiben. Gleichzeitig bleibt Wasser die zentrale limitierende Ressource für diese Tourismusform - auch in anderen mediterranen Destinationen. 3. Insbesondere auch mit Zielrichtung auf den deutschen Quellmarkt 3. wurde eine Form des Turisme Rural bzw. Agroturisme gefördert. Darunter wird kein Urlaub in aktiven Bauernhöfen verstanden, son‐ dern im Wesentlichen eine wohl besser als „Fincatourismus“ zu be‐ zeichnende Rekonstruktion von ehemaligen ländlichen Gehöften (teilweise aber auch mit fließendem Übergang zum Neubau von Zweitwohnsitzen in historischer Fassade). Diese Form des ländlichen Tourismus ist inzwischen im Hinterland weit verbreitet, auch wenn die absolute Zahl mit einigen Hundert kein mengenmäßiges Gegen‐ gewicht zum küstenständigen Übernachtungsangebot darstellt. Aber auch hier sind wie beim Golftourismus die Wertschöpfung pro Gast, die Frequentierung in der Vor- und Nachsaison und auch der Image‐ aspekt von Bedeutung. 4. Teilweise in Beziehung zum Agrotourismus, der sich an kultur- und 4. naturorientierte Gäste wendet, steht, dass der Wandertourismus auf Mallorca entwickelt werden soll. Neben einem Schwerpunkt in der Serra de Tramuntana (vgl. Abb. 122), ist es auch das Ziel, einen Küs‐ tenrundweg um die gesamte Insel zu erschließen. Spezifische eigen‐ tumsrechtliche Rahmenbedingungen hinsichtlich der Querung von Privatbesitz erschweren allerdings die Wegeführung (genauer B LÁZ ‐ QUEZ -S ALOM 2013, S. 30ff.). Auch sind die in Deutschland inzwischen 292 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 292 <?page no="293"?> weitgehend umgesetzten Qualitätskriterien hinsichtlich Ausschilde‐ rung und Begehbarkeit der Wege erst partiell erreicht. 5. Auf den klimatischen Vorteil im Vergleich zu Zentraleuropa setzt auch 5. der Fahrradtourismus. Dessen Volumen wird ähnlich wie das des Golftourismus mit etwa 100.000 veranschlagt (H ÜRTEN 2008, S. 189). Auch in diesem Fall ist es die gute Flugerreichbarkeit der Insel, die einen wichtigen Wettbewerbsvorteil darstellt, sowie die Dichte und Qualität des Straßenverkehrsnetzes. Anders als z. B. im Deutschland‐ tourismus (vgl. Kap. 6.4.2) ist auf Mallorca der Rennradsportler im Trainingslager weit verbreitet. Aber auch unterschiedlichste Formen von etwas sportlicher orientierten Fahrradtouristen sind hier anzu‐ treffen. Dabei werden im Wesentlichen tägliche Sternfahrten von ei‐ nem Übernachtungsstandort aus unternommen. Angesichts der nicht notwendigerweise auf luxuriöse Unterkünfte ausgerichteten sportli‐ chen Fahrradtouristen haben sich inzwischen auch eine Reihe von 3-Sterne Hotels auf diese Klientel eingestellt. Neben den Fahrradtou‐ risten finden sich in solchen Hotels aber auch andere Sportgruppen (Fußball, Tennis), die dort im Spätwinter oder Spätherbst ins Trai‐ ningslager gehen. 6. Ebenfalls unter dem Blickwinkel der Imageverbesserung ist die För‐ 6. derung des sog. Nautischen Tourismus auf Mallorca im Zuge der Produktdiversifizierung zu sehen. Darunter wird insbesondere der Ausbau von Marinas im Umfeld bisheriger touristischer Küstenstan‐ dorte verstanden. Auch wenn dadurch sicherlich die lokale Bauin‐ dustrie profitiert hat, sind die direkten Auswirkungen auf den inter‐ nationalen Markt begrenzt. Mallorca als Insel ist von anderen Mittelmeerjachthäfen nur mit einer längeren Transferfahrt zu errei‐ chen und eigene Jachten können nicht - wie z. B. nach Kroatien - mit dem Autoanhänger antransportiert werden. Auch ist die Zahl der Hä‐ fen sowie das Ambiente in den Hafenorten auf dem Festland oftmals attraktiver. Ursprünglich nur begrenzt intendiert hat sich Mallorca inzwischen aber als Hub für Kreuzfahrten im westlichen Mittelmeer entwickelt. Auch in diesem Fall spielt die gute Erreichbarkeit der Insel eine zen‐ trale Rolle dafür, dass Kreuzfahrtschiffe dort nicht nur anlegen, son‐ dern in vielen Fällen Kreuzfahrten dort starten und enden. 7. Der Vollständigkeit halber erwähnt werden soll, dass Mallorca - wie 7. viele andere Destinationen auch - offiziell auf den MICE-Tourismus 293 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 293 <?page no="294"?> setzt. Nach mehr als 10 Jahren Bauzeit Bauzeit wurde das Konferenz‐ zentrums in Palma 2017 eröffnet. Gleichwohl wird die Insel inzwi‐ schen - sicherlich im Zusammenhang mit der Flugerreichbarkeit, aber auch ein Zeichen des gelungenen Imagewandels - von einer Vielzahl von Unternehmen für Produktpräsentationen oder Incentive-Veran‐ staltungen genutzt. Auch wenn nicht alle Ansätze vollständig erfolgreich waren, haben die Di‐ versifizierungsanstrengungen zu sichtbaren Resultaten geführt. Dabei wird aber gleichzeitig deutlich, dass - und dies dürfte auch für viele andere De‐ stinationen gelten - die Dominanz einer Hauptproduktsäule in der Reife‐ phase eben nicht von einer einzigen anderen neuen dominanten Touris‐ musform abgelöst wird. Das Produktionsmodell des Postfordismus zeichnet sich durch eine Vielzahl kleinerer Tourismusformen und -nischen aus. Auseinandersetzung mit Tragfähigkeitsgrenzen Damit ist die Bewältigung der ökologischen Herausforderungen noch lange nicht abgeschlossen. Spätestens Anfang der 1980er Jahre wurden die nega‐ tiven Folgen der schnellen und kaum reglementierten touristischen Er‐ schließung und damit die Grenzen des quantitativen Wachstums sichtbar. Das Schlagwort von der „Balearisierung“ ist inzwischen fast zu einem Syn‐ onym für Formen exzessiver Bebauung der Küstenstreifen geworden. Dabei sind in den letzten Jahren erste Anzeichen für eine intensivere Auseinan‐ dersetzung mit den negativen ökologischen Folgen des Tourismus erkenn‐ bar. Eine wichtige Rolle spielt dabei eine kritische Öffentlichkeit der Insel‐ bewohner. Insbesondere die 1973 gegründete Umweltgruppe GOB (ursprünglicher Name: „Grup Ornitològic de Balears“; aktuell „Grup Balear d'Ornitologia i Defensa de la Naturalesa“; www.gobmallorca.com) engagiert sich intensiv in der Diskussion über die negativen Auswirkungen. Wie in vielen anderen - nicht nur mediterranen - Destinationen stellen die Berei‐ che Wasser, Abwasser, Abfall, Zersiedelung und Landschaftsinanspruch‐ nahme, Energie und Verkehr die zentralen Handlungsfelder dar. 1. Der touristische bedingte Wasserverbrauch auf Mallorca wird auf 1. etwa 40 Mio. m 3 geschätzt und stellt damit etwa ein Drittel des ver‐ brauchten Trinkwassers dar. Dabei ist allerdings der Anteil der Be‐ wässerungslandwirtschaft nicht genau ermittelbar und es wird ge‐ schätzt, dass deren Verbrauch - trotz deutlich geringerer Wertschöpfung - noch über dem des Tourismus liegt (B U SWELL 2011, 294 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 294 <?page no="295"?> S. 108 sowie S CHMITT & B LÁZQUEZ -S ALOM 2003, S. 514). Bei etwa 90 Mio. Übernachtungen (einschließlich Übernachtungen in Ferien‐ wohnungen; Govern de les Illes Balears 2019) entspricht dies einem Wasserverbrauch von ca. 500 l pro Übernachtung. Beispiele aus an‐ deren mediterranen Destinationen zeigen, dass der Wasserverbrauch durch ein systematisches Wassermanagement mit der Ausnutzung von technischen Einsparmöglichkeiten und einer Brauchwasserre‐ cycling auf fast die Hälfte reduziert werden kann (K AG E RMEIE R 2001, S. 62). Der Wasserverbrauch führt auf Mallorca - wie auch in vielen anderen mediterranen Destinationen - zu einem gravierenden Absinken des Grundwasserspiegels. Dies hat insbesondere im Raum Palma auf‐ grund der Nähe der Brunnen zum Meer und der intensiven Wasser‐ entnahme zu einer deutlichen Versalzung des Grundwassers geführt (genauer bei S CHMITT & B LÁZQUEZ -S ALOM 2003, S. 514ff.). Nachdem Mitte der 1990er Jahre angesichts der Wasserknappheit und des auf‐ grund der Saisonalität besonders ausgeprägten Peaks im Wasserver‐ brauch in den Sommermonaten Tankschiffe mit Ebrowasser für die Aufstockung des Trinkwassers eingesetzt worden sind (PSIRU 2005, S. 25f.), wird seither verstärkt auf Meerwasserentsalzung gesetzt. So wird im Großraum Palma inzwischen etwa ein Viertel des Trinkwas‐ sers aus Meerwasser oder brackigem Grundwasser gewonnen (PSIRU 2005, S. 6). Dies bedeutet allerdings hohe Kosten (1 € pro m 3 im Ver‐ gleich zu ca. 0,15 € für die Grundwasserförderung; vgl. B U SWELL 2011, S. 109). Allerdings scheint sich abzuzeichnen, dass der Wasserverbrauch ten‐ denziell nicht mehr so intensiv zunimmt wie in früheren Jahrzehnten, sprich die ergriffenen Maßnahmen zum Einsparen von Trinkwasser bzw. die ersten Ansätze zur Brauchwasserverwendung für Golfplätze langsam Früchte tragen (N EU S et al. 2003, S. 66). Allerdings ist Mallorca noch weit davon entfernt, hier alle Möglichkeiten systematisch aus‐ zuschöpfen und seinen Wasserverbrauch an die verfügbaren Ressour‐ cen anzupassen. Bei einer Grundwasserneubildungsrate von ca. 200 Mio. m 3 pro Jahr könnte es bei einem haushälterischen Umgang, trotz der hohen Tourismusintensität, gelingen, einen Gleichgewichts‐ zustand herzustellen. 2. Abgesehen von der Meeresverschmutzung steht die Abwasserauf‐ 2. bereitung mit dem Wasserverbrauch im Zusammenhang, wenn das 295 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 295 <?page no="296"?> aufbereitete Brauchwasser einer erneuten Nutzung zugeführt werden soll. Bis in die 1970er Jahre floss der größte Teil der Abwässer unge‐ klärt in das Mittelmeer. Allein in den 1990er Jahren stieg das Abwas‐ seraufkommen um das Vierfache - von 7,3 Mio. m 3 auf 28,6 Mio. m 3 (S CHMITT & B LÁZQUEZ -S ALOM 2003, S. 515), wobei sich darin wohl auch ein zunehmender Anschlussgrad der Siedlungen spiegelt. Aller‐ dings wird nur ein Teil der Abwässer umfassend gereinigt, sodass er für Recycling genutzt werden kann. Für den Großraum Palma wurde im Jahr 2005 die Recyclingrate mit etwa einem Sechstel des behan‐ delten Abwassers angegeben (PSIRU 2005, S. 6). Gleichzeitig sind die Anlagen oftmals an der Kapazitätsgrenze, sodass insbesondere in den Sommermonaten teilweise ungeklärte Abwässer ins Meer gelangen. 3. Ähnlich wie bei den flüssigen Abwässern ist auch im Bereich der fes‐ 3. ten Abfälle die Aufbereitung noch nicht umfassend. Es wird ge‐ schätzt, dass etwa ein Drittel des Abfallaufkommens der Insel durch den Tourismus verursacht wird (B U SWELL 2011, S. 109). Dabei wird inzwischen ein erheblicher Teil des Abfallaufkommens verbrannt und nicht mehr unbehandelt in Deponien verbracht. Nach großen Zu‐ wächsen in früheren Jahren zeichnet sich allerdings ein langsames Einpendeln auf hohem Niveau ab (N EU S et al. 2003, S. 66). Die ergrif‐ fenen Ansätze zum Recycling zeigen zunehmend Wirkung, auch wenn sicherlich noch weitere Maßnahmen zu ergreifen sind. 4. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Residentialtourismus steht 4. die zunehmende Zersiedelung und die Landschaftsinanspruch‐ nahme für touristische Zwecke. Die intensive Umwandlung von agrarischen Nutzflächen, aber auch der Garrigue und Machie sowie von Kiefernwäldern findet besonders im Südwesten der Insel, aber auch entlang der Ostküste statt (S CHMITT & B LÁZQUEZ -S ALOM 2003, S. 510). Bislang ist hier noch kein Ende der touristisch bedingten Bau‐ tätigkeit erkennbar (vgl. N EU S et al. 2003, S. 67f). Auch wenn inzwi‐ schen ein Großteil der Naturlandschaft unter Schutz gestellt worden ist, kommt es aufgrund von wirtschaftlichen Interessen gelegentlich dazu, dass Gebiete aus dem Schutzstatus herausgenommen und für die Besiedlung freigegeben werden. Gleichzeitig finden sich aber auch positive Beispiele, wie der Sandstrand Es Trenc im Südosten der Insel, in dem das Bauverbot konsequent umgesetzt und die Schutzzone er‐ weitert worden ist (www.es-trenc.com). 296 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 296 <?page no="297"?> 5. Ähnlich wie im Bereich Wasser, Abwasser und Abfall ist auch der 5. Verbrauch an Energie auf Mallorca zum erheblichen Teil durch die touristische Nutzung bedingt. Dabei werden zwar inzwischen in grö‐ ßerem Umfang Solaranlagen zur Brauchwassererwärmung einge‐ setzt. Die Erzeugung von Strom aus Photovoltaikanlagen ist allerdings noch nicht weit verbreitet. So wird er zur Jahrtausendwende mit 1 % am Gesamtenergieverbrauch angegeben (S CHMITT & B LÁZQUEZ -S A‐ LOM 2003, S. 510) dürfte aktuell bei etwa 2 % liegen. Fast vernachläs‐ sigbar ist der Anteil der Windenergie, wobei hier - wie auch in Deutschland - von Seiten der Tourismusvertreter landschaftsästheti‐ sche Einwände vorgebracht werden. 6. Auch der tourismusbedingte Verkehr führt auf Mallorca zu entspre‐ 6. chenden Belastungen. Nachdem lange Zeit große Straßenprojekte realisiert wurden, um die einzelnen Küstenorte entsprechend anzu‐ binden, regt sich gegen diese Form der Landschaftsinanspruchnahme und Versiegelung inzwischen bei Teilen der Bevölkerung Widerstand. In den letzten Jahren wurden aber auch flächendeckende ÖPNV-An‐ gebote geschaffen. Eine geplante Mietwagensteuer sowie der Bau ei‐ ner Stadtbahn zum Flughafen und entlang der Playa de Palma sind allerdings aufgrund von Widerständen wieder auf Eis gelegt. Insgesamt gesehen wird deutlich, dass auf Mallorca die Grenzen der physi‐ schen Tragfähigkeit - insbesondere bei der Nutzung der Wasserressourcen - deutlich überschritten werden. Auch in anderen Bereichen findet eine in‐ tensive Inanspruchnahme der Ressourcen bzw. eine merkliche Belastung des natürlichen Umfeldes statt. Obwohl erste Anzeichen zu einem Umsteuern erkennbar sind, bleibt festzuhalten, dass oftmals wirtschaftliche Interessen vor Nachhaltigkeitsaspekte gestellt werden. Umweltschutz und Nachhaltig‐ keit werden oftmals von Vertretern der lokalen Tourismuswirtschaft als Lippenbekenntnis bzw. im Sinne eines Greenwashing zwar zu Marketing‐ zwecken eingesetzt. Dabei werden vorwiegend technisch orientierte End-of-the-Pipe-Ansätze verfolgt. Auch wenn diese ansatzweise zumindest zu einer Reduzierung des Zuwachses negativer Effekte führen, bzw. in man‐ chen Bereichen ein Einpendeln auf hohem Belastungsniveau erkennbar ist, fehlt bislang ein umfassendes an Nachhaltigkeitsgesichtspunkten orientier‐ tes Handeln sowohl bei den Vertretern der Tourismuswirtschaft als auch der Politik. 297 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 297 <?page no="298"?> 7.2.3 Zypern als Beispiel für die Notwendigkeit neuer Steuerungsansätze Das touristische Angebot in Zypern (worunter im Folgenden nur Südzypern behandelt wird) ist - wie das vieler anderer Mittelmeerdestinationen auch - bislang stark von der Orientierung auf das traditionelle Sun&Beach-Seg‐ ment ausgerichtet gewesen (genauer z. B. bei S HAR PLE Y 2001). Zunächst wurde nach der Unabhängigkeit 1960 an der Ostküste bei Famagusta der Standort Varosha entwickelt. Nachdem dieser seit der Teilung in der UN-Puf‐ ferzone liegt (genauer bei H ARMS & K AG E RMEIE R 2013), wurden ab 1974 im Süden mit den vier Badedestinationen Agia Napa, Larnaca, Limassol und Paphos (vgl. Abb. 124) Übernachtungskapazitäten von gut 80.000 Betten ge‐ schaffen, in denen der Großteil der etwa 4 Mio. Touristen übernachten (Re‐ public of Cyprus 2019). Als klassische mediterrane Badedestination konnte das Land (mit einer starken Ausrichtung auf den englischen und deutschen Quellmarkt) bis zum Jahr 2000 respektable Wachstumsraten generieren (vgl. Abb. 123). Die Hotelanlagen und Ressorts konzentrieren sich entlang der Südküste um die vier Städte Paphos, Limassol, Larnaca und Agia Napa/ Paralimni herum (vgl. Abb. 124). Abb.‐Nr.: -123 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Touristenankünfte-in- Zypern-1980-bis-2018 (Quelle: -Eigener-Entwurf-nach- Daten-Republic-of-Cyprus,-Ministry-of-Finance,- Statistical-Service-2019) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 500.000 1.000.000 1.500.000 2.000.000 2.500.000 3.000.000 3.500.000 4.000.000 Abb. 123: Entwicklung der Touristenankünfte in Zypern 1980 bis 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Republic of Cyprus, Ministry of Finance, Statistical Service 2019) 298 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 298 <?page no="299"?> Abb.‐Nr.: -124 Abb.‐Titel: -Karte-der-touristischen-Regionen-Zyperns- (Quelle: -Eigene-Bearbeitung-unter-Verwendung-einer- Vorlage-von-www.mapsfordesign.com) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Nicosia Limassol Agia Napa Morphou U. K. Sovereign Base Area U. K. Sovereign Base Area United Nations Pufferzone United Nations Pufferzone Paphos Polis Akrotiri PAPHOS LIMASSOL LARNACA KYRENIA Mittelmeer Mittelmeer NICOSIA FAMAGUSTA Kyrenla Paralimni Famagusta Larnaca 0 10 20 km Troodos Gebirge r r r Mesaoria 9 9 9 9 9 Salamis Choirokoitia Kourion St. Hillarion Buffavento Kantara Varosha _ _ _ _ _ _ Abb. 124: Karte der touristischen Regionen Zyperns (Quelle: eigene Bearbeitung unter Verwendung einer Vorlage von www.mapsfordesign.com) Trotz vielfältiger Anstrengungen zur Produktanreicherung im Küstenbe‐ reich (Golf, Wellness) und einem intensiven Auslandsmarketing ist aller‐ dings seit der Jahrtausendwende eine Stagnation der Nachfragezahlen zu konstatieren. Wie in anderen Mittelmeerdestinationen sollen daher im Zuge einer Produktdiversifizierung neben dem in der Reifephase angekommenen Sun&Sea-Segment auch die touristischen Potentiale im Hinterland der Insel in Wert gesetzt werden, die bislang eher ein Schattendasein geführt hatten (S HAR PLE Y 2003). Ansätze zur Regionalisierung und der Erschließung des Hinterlands Zur intensiveren Erschließung des Hinterlands für den Tourismus wurden im Hinterland von Larnaca und Limassol, auf der Laona und im Raum Aka‐ mas/ Polis (Hinterland von Paphos) sowie im Troodos-Gebirge (vgl. Abb. 124) Initiativen zur Förderung des Agrotourismus ergriffen. Übernach‐ tungsangebote in authentischem Ambiente werden durch Restaurierung von traditionellen (zumeist aufgegebenen bzw. im Zuge der Teilung der Insel verlassenen) Gebäuden und Siedlungen geschaffen (S HAR PLE Y 2002). Dar‐ über hinaus wird - wie in vielen anderen mediterranen Destinationen auch 299 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 299 <?page no="300"?> - versucht, den Weintourismus sowie den naturorientierten Wander- und Fahrradtourismus zu stimulieren. Parallel zu den Ansätzen der Produktdiversifizierung, die im „Strategic Plan for Tourism 2000-2010“ explizit formuliert wurden, markiert dieser auch einen Turnaround bezüglich der Governance-Strukturen. Zum ersten Mal ist dort explizit verankert, dass regionale Tourismusansätze im Zuge der Repositionierung von Zypern als touristisches Zielgebiet verfolgt werden sollen: „Within the framework of Cyprus re-positioning strategy each region will be called upon to prepare its own Regional Strategy” (CTO 2000, S. 7). Im Zuge der Diversifizierung des Angebotes wurden als Folge der Tourism Strategy 2000-2010 Teilräume der Insel als regionale (Sub-)Destinationen ausgegliedert und regionale Gremien gegründet. Die sechs ausgewiesenen Tourismusregionen lehnen sich stark an die administrative Gliederung der Distrikte an (vgl. Abb. 124). Lediglich der Nicosia-Distrikt wurde in das Troodos-Gebiet und die Hauptstadt selbst aufgeteilt. Damit sind das Hin‐ terland von Larnaca, Limassol und Paphos (mit der Laona und Akamas/ Polis) formal Teil der entsprechenden regionalen Destination. Dabei sollen natur- und kulturorientierte Angebote in den nächsten Jahren verstärkt als Teil eines ländlichen Tourismus entwickelt werden. Jede Subdestination soll spezifische Zielgruppen mit regional differenzierten Produkten ansprechen und eine eigene Identität sowie eine eigene Marke schaffen: „As part of the strategic re-positioning of Cyprus each region will be asked to prepare its own regional vision and create its own regional brand to serve the market segments which it targets“ (CTO 2000, S. 56.). Da die regionalen Gremien über keine eigenständige Finanzierungsbasis verfügen, werden jedem von der CTO jährlich wenige Tausend Euro zur partiellen Deckung von Sach- und Personalkosten zugewiesen. Die Zu‐ schüsse sollen aber sukzessive zurückgefahren werden und die regionalen Gremien eine eigenständige Finanzierungsgrundlage durch Mitgliederbei‐ träge, Akquise von anderen Drittmitteln oder Werbung generieren. Eine ei‐ genständige Finanzierung durch Umwidmung von zentral verfügbaren Mit‐ teln ist demgegenüber nicht vorgesehen. Damit ist als Zwischenresümee festzuhalten, dass bei der Abgrenzung von regionalen Tourismusregionen in Zypern in den meisten Fällen keine räum‐ lichen Bezüge gewählt worden sind, die auch als Destinationen aus Besu‐ chersicht anzusprechen wären. Abgesehen von der Mittelgebirgsdestination Troodos und der städtetouristischen Destination Nikosia wäre es wohl sinn‐ voll gewesen, die badetouristisch ausgerichteten Küstenstandorte (zumin‐ 300 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 300 <?page no="301"?> dest Larnaca und Agia Napa, ggf. auch Limassol und Paphos) als regionale Subdestinationen auszuweisen und das Hinterland der Distrikte dann als eigenständige Einheiten zu fassen. Dem Ziel der Entwicklung von spezifi‐ schen Produkten, aber auch einem regional stringenten Image und damit auch der Möglichkeit einer konsistenten Markenbildung wäre dies sicher‐ lich dienlicher gewesen. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die stark zentra‐ lisierte organisationale Struktur mit der Schaffung von regionalen Gremien nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden ist. Insbesondere die Tatsache, dass die regionalen Gremien über keine eigenständige Finanzierungsgrund‐ lage verfügen, die regionalen Tourist-Infos Außenstellen der CTO geblieben sind (und eben nicht den regionalen Gremien zugeordnet) und dass das re‐ gional ausgerichtete Marketing nach wie vor über die CTO läuft und von dieser finanziert wird, bedeutet, dass de facto bislang keine strategisch und operativ eigenständigen DMOs geschaffen wurden, die diesen Namen auch verdienen würden. Eines der Effekte der angestrebten Regionalisierung ist die Tatsache, dass in der amtlichen Statistik seit 2000 auch die Touristenzahlen nach touristi‐ schen Regionen differenziert ausgewiesen werden (vgl. Abb. 125). Abb.‐Nr.: -125 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Anteile-touristischer- Ankünfte-nach-touristischen-Regionen-(2001‐2017)- (Quelle: -Eigener-Entwurf-nach-Daten-Republic-of- Cyprus,-Ministry-of-Finance,-Statistical-Service-2019) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 Troodos Nicosia Paphos & Polis Limassol Larnaka Agia Napa Paralimni Abb. 125: Entwicklung der Ankünfte in Zypern nach touristischen Regionen (2000- 2017) (Quelle: eigener Entwurf nach Daten Republic of Cyprus, Ministry of Finance, Statistical Service 2019) Dabei wird deutlich, dass auf die beiden wichtigsten badetouristisch ge‐ prägten Regionen Paphos und Agia Napa/ Paralimni unverändert der größte Teil der Ankünfte entfällt, wobei Paphos seinen Anteil im dargestellten Zeitraum von 30 auf 37 % steigern konnte - allerdings ohne dass eben zu 301 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 301 <?page no="302"?> differenzieren wäre, ob davon ein signifikanter Anteil auf das Hinterland entfällt. Die Tatsache, dass der Anteil der Ankünfte in den übrigen Gebieten (d. h. im Wesentlichen im Troodos-Gebirge) im gleichen Zeitraum bei etwa drei Prozent im Wesentlichen konstant blieb, spricht dafür, dass das Hin‐ terland von Paphos (und auch der anderen Südküstendistrikte) sich men‐ genmäßig in den letzten 10 Jahren nicht signifikant anders entwickelt hat. Die Hauptstadt Nikosia mit ihren etwa fünf Prozent der Ankünfte (von de‐ nen ein großer Teil sicherlich auch durch Geschäftsreiseverkehr bedingt ist) hat sich ebenfalls noch nicht als städtetouristische Destination positionieren können. Rein mengenmäßig ist damit die Regionalisierungsstrategie noch nicht im Hinterland der Küste angekommen. Auch bei der Bildung von re‐ gionalen Dachmarken (vgl. Kap. 3.2.3) und der Ausrichtung dieser auf die neuen Produktlinien sind klare Defizite zu konstatieren (vgl. K AG E RMEIE R & G R ONAU 2013, S. 110ff.). Gleichzeitig ist das Image Zyperns noch stark vom klassischen Badetourismus geprägt (vgl. H ARMS & K AG E RMEIE R 2013, S. 25f.) Defizite der Destination Governance auf Zypern Wie in anderen mediterranen Destinationen lag der Schwerpunkt in Zypern auf einem standardisierten Produkt, das - wie auch im Veranstaltermarkt (vgl. Kap. 3.1.1) - entsprechend den fordistischen „Economies of Scale“ mit großen Volumina zur Kostendegression entwickelt worden ist. Der Bade‐ tourismus am Mittelmeer stellt damit eine Art Prototyp der fordistischen Produktionsweise dar. Badetourismus ist ein relativ simples und standardi‐ siertes Produkt, bei dem einzelne Akteure bzw. Hotelketten und Reisever‐ anstalter einen großen Teil der touristischen Servicekette alleine abdecken können. Der mediterrane Badetourismus war daher nur in sehr begrenztem Maß auf Kooperation zwischen mehreren gleichberechtigten Gliedern der touristischen Servicekette ausgerichtet. Auch die Rolle der nationalen (und regionalen) Vermarktungsorganisationen war in dieser Phase limitiert und erstreckte sich vor allem auf allgemein gehaltene Marktkommunikation und Imagekampagnen. Eine operative oder strategische Beteiligung an der Pro‐ duktgestaltung war kaum ausgeprägt bzw. beschränkte sich auf die Über‐ wachung der Einhaltung von gesetzlichen Standards oder Qualitätsstan‐ dards (genauer bei K AG E RMEIE R 2014). Mit der Entwicklung von kleinteiligen, qualitätsorientierten Tourismu‐ sprodukten wie dem Wander- und Fahrradtourismus, dem Weintourismus oder kulinarischen touristischen Angeboten kann im Tourismus auch eine Wende in Richtung post-fordistische Produktionsweisen konstatiert wer‐ 302 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 302 <?page no="303"?> den. Bei diesen sind es die sog. „Economies of Scope“, d. h. Netzwerk- und Fühlungsvorteile, die Wettbewerbsvorteile schaffen. Komplexe Produkte, die nicht mehr nur im Wesentlichen von einem einzelnen Akteur produziert werden können, erfordern eine intensive Interaktion zwischen den Akteu‐ ren entlang der touristischen Servicekette. In der Vergangenheit waren die Destinations-Governance-Strukturen (vgl. Kap. 4.3) in Zypern von einem klaren Top-Down-Ansatz gekennzeich‐ net, der relative schwache horizontale Bezüge innerhalb der regionalen De‐ stinationen beinhaltete. Die nationale Cyprus Tourism Organisation (CTO) verstand ihre Rolle mehr als ein nationaler Promotor der Destination im Sinne der deutschen DZT. Die konkrete Produktgestaltung beim einfachen standardisierten Produkt der Badepauschalreise lag in der Hand der Reise‐ veranstalter und der Hotels. Die schwache Performance der zypriotischen Tourismuswirtschaft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts - und damit auch im Wechsel zwi‐ schen fordistischer und post-fordistischer Produktionsweisen - wirft Fragen nach den Governance-Strukturen und den Leadership-Strategien auf. Der „Strategic Plan for Tourism 2000-2010“ sollte eigentlich eine Abkehr vom fordistischen Top-Down-Ansatz markieren. Gleichwohl scheint der Wechsel in Zypern deutlich weniger gut zu gelingen als dies in Mallorca der Fall ist. Hintergrund hierfür sind sicherlich die ungünstigen Zuschnitte der re‐ gionalen Destinationen, die eben dem Grundprinzip von B IE G E R (vgl. Kap. 4.1) nicht entsprechen, dass sie aus Sicht der Touristen abzugrenzen sind. Abgesehen von der Troodos-Region perpetuiert sich die Abhängigkeit des Hinterlands von den etablierten Küstenstandorten. Die traditionelle Ausrichtung reduziert das Hinterland zu einem reinen Ergänzungsgebiet für (Tages-)Ausflüge von der Küste. Gleichzeitig wurden z. B. die weintouristi‐ schen Routen zentral von der CTO (ebenfalls als reine Tagesausflüge von den Küstenorten aus) entwickelt und werden auch von dieser vermarktet. Damit sprechen sie keine Weintouristen im engeren Sinn mit einem echten eigenständigen Produkt an, sondern stellen lediglich ein Anhängsel für an der Küste untergebrachte Touristen dar. Der Großteil der Wertschöpfung wird nach wie vor an den Küstenstandorten monopolisiert. Darüber hinaus erhalten die regionalen DMOs auch keine substantielle finanzielle Ausstattung, um ihre Aufgaben adäquat zu erfüllen. Weder sind lokale Tourismussteuern (wie in Deutschland) möglich, noch werden signi‐ fikante Anteile des touristischen Abgabenaufkommens von der CTO mit den regionalen DMOs geteilt. Die geringe Finanzausstattung ist insbesondere 303 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 303 <?page no="304"?> auch in der - ja eigentlich als regionale Destination im B IE G E R schen Sinn zu verstehenden - Troodos-Region dafür verantwortlich, dass kaum struktu‐ rierte Aktivitäten zu einer Erschließung des naturtouristischen Potentials unternommen werden. Die geringe Erfahrung der Akteure im Hinterland mit den touristischen Produkten Tourismus und das Fehlen von entsprechenden Capacity-Buil‐ ding-Maßnahmen führen dazu, dass dort zwar eine Reihe von lokalen In‐ itiativen ergriffen werden. Diese sind jedoch oftmals als relativ unprofes‐ sionell und damit nur begrenzt marktfähig einzustufen. Damit sind im Hinterland Zyperns Probleme erkennbar, die ansonsten als typisch für ein Entwicklungsland anzusehen sind (vgl. Kap. 7.3.4). Angesichts der von den küstenständigen Akteuren und der CTO monopolisierten Struktur sowie der mangelnden Professionalität von Neueinsteigern im Hinterland ziehen es innovative Akteure, denen eine positive und wirksame Leadership-Funktion zukommen könnte, oftmals vor, isoliert und unabhängig von den anderen Akteuren zu agieren (genauer bei K AG E RMEIE R 2014). 7.2.4 Erschließung neuer Destinationen in Marokko Als drittes mediterranes Fallbeispiel wurde ein Land an der südlichen Mit‐ telmeerküste gewählt, das früher klar als Entwicklungsland anzusprechen war und inzwischen als Schwellenland bezeichnet werden kann. Wie in vie‐ len sog. Entwicklungsländern (vgl. Kap. 7.3) begann auch in Marokko die touristische Entwicklung während der kolonialen Phase, deren Erbe sich bis heute noch durchpaust. Gleichzeitig soll es auch als Beispiel dafür dienen, welche Herausforderungen bestehen, wenn - nicht bereits während der ko‐ lonialen Phase vorgeprägte - neue Destinationen erschlossen werden sollen. Die Inwertsetzung Marokkos als Destination für den Tourismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts basierte lange Zeit auf drei etablierten Produktsäulen. Angesichts sich abzeichnender Stagnationstendenzen und dem politischen Willen, die Rolle des Tourismus als Devisenbringer und Ar‐ beitsplatzanbieter deutlich zu verstärken, sind seit der Jahrtausendwende eine Reihe von Ansätzen zur Produktdiversifizierung propagiert und auch teilweise implementiert worden. Im Rahmen der jüngeren Tourismusoffen‐ siven wird erstmals auch dem ländlichen Raum in größerem Maß eine wich‐ tige Rolle für die Regionalentwicklung zugemessen. Gleichzeitig sind die Governance-Ansätze noch weitgehend dem traditionellen Schema des 20. Jahrhunderts verhaftet geblieben. Damit der Tourismus im ländlichen Raum 304 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 304 <?page no="305"?> seine Rolle als ökonomischer Faktor spielen kann, muss aber eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein. Tourismusentwicklung in Marokko im 20. Jahrhundert Wie in vielen mediterranen Destinationen setzte auch in Marokko in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts eine intensive Erschließung für den Tourismus ein. Dabei war Marokko - anders als Tunesien (vgl. K AG E RMEIE R 2004) - nie prioritär als Badetourismusdestination ausgerichtet. Der Tourismus in Ma‐ rokko stand traditionell seit seinem Beginn auf drei relativ gleichwertigen Säulen: 1. Badetourismus (vor allem im Raum Agadir) 1. 2. kulturorientiertem Städtetourismus (vor allem in den sog. Königs‐ 2. städten) 3. Rundreisetourismus (im präsaharischen Süden des Landes entlang der 3. sog. „Straße der Kasbahs“ zwischen Ouarzazate und Errachidia). Der Ausbau des Badetourismus in Marokko begann - nach ersten protek‐ toratszeitlichen Ansätzen von küstenorientierten Feriensiedlungen der fran‐ zösischen Colons - im Wesentlichen nach der Unabhängigkeit des Landes 1956. Der zentrale Pol des Badetourismus wurde Agadir. Als nach dem Erd‐ beben in Agadir 1960 die Stadt wieder aufgebaut werden sollte, wurde über eine klare Zonierung der Küstenstreifen für den Badetourismus vorgesehen und ein Reißbrettresort entstand - vergleichbar vielen Standorten auf der nördlichen Mittelmeerküste. Anfang der 1970er Jahre waren bereits 4.000 Betten realisiert und damit konzentrierte Agadir 10 % der nationalen Be‐ herbergungskapazität. Bis zur Jahrtausendwende stieg diese auf gut 20.000 Betten an und erreichte damit ein Fünftel der marokkanischen (klassifizier‐ ten) Beherbergungskapazität. Abgesehen von Agadir waren in den 1960er und 1970er Jahren noch kleinere badetouristische Ansätze an der Mittel‐ meerküste (v. a. zwischen Tanger und Tetouan) unternommen worden, die jedoch nur partiell erfolgreich waren. Der Beginn des kulturorientierten Städtetourismus in Marokko datiert ebenfalls auf die französische Protektoratszeit. Bereits in den 1920er und 1930 Jahren wurden die Königsstädte Fès, Meknès, Marrakesch und Rabat von europäischen Touristen (teilweise auch im Rahmen von organisierten Pauschalreisen) besucht. Das materielle kulturelle Erbe Marokkos mit seinen prachtvollen Moscheen, Merdersen (religiöse Bildungseinrichtungen), aber auch dem orientalischen Flair der Souks (Märkte) und Handwerkerviertel 305 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 305 <?page no="306"?> übt bis heute eine ungebrochene Anziehungskraft auf Besucher aus aller Welt aus. Gleiches gilt für die Lehmbauarchitektur im präsaharischen Süden des Landes südlich des Hohen Atlas. Entlang der Flussoasen waren zur Siche‐ rung der Herrschaft und als Relaisstationen für die Karawanenwege an stra‐ tegischen Punkten sog. Kasbahs (Burg- oder Festungsanlage) in den ländli‐ chen Siedlungen angelegt worden. Die spezifische Architektur in Kombination mit dem Oasencharakter wurde unter dem Marketingbegriff „Straße der Kasbahs“ (Route/ Circuits des Casbahs) bereits kurz nach der Befriedung des präsaharischen Südens in den 1930er Jahren für (vor allem französische) Touristen erschlossen (genauer bei K AG E RMEIE R 2012). Auch diese Produktlinie wurde vom marokkanischen Staat in den 1960er und 1970er Jahren zunächst mit staatlichen und halbstaatlichen Hotelbauten erweitert, bevor dann im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verstärkt auch auf die Ansiedlung von privaten marokkanischen und europäischen Hotel‐ ketten gesetzt wurde. Zum Ende des 20. Jahrhunderts verfügte damit der ländliche Raum Marokkos südlich des Hohen Atlas über ein respektables Angebot von etwa 6.000 Betten, das zwar eine starke Konzentration in den Provinzhauptstädten Ouarzazate und Errachidia aufwies, aber gleichzeitig ein relativ flächenhaftes Grundgerüst der touristischen Erschließung in die‐ sem Landesteil darstellte (vgl. K AG E RMEIE R 2012). Gleichzeitig konzentrierte sich der überwiegende Teil der touristischen Aktivitäten in den größeren Städten des Landes (Königsstädte, Agadir und Casablanca). Und auch in dem Teil des ländlichen Raums südlich des hohen Atlas, in dem eine intensivere touristische Inwertsetzung erfolgt war, dominierten größere regionsexterne Hotelinvestoren. Die Vision 2010 Die traditionelle - im Wesentlichen bereits in der Protektoratszeit angelegte - touristische Grundausrichtung Marokkos bescherte dem Land in den ers‐ ten beiden Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit ein (bis auf kleinere kon‐ junkturelle Dellen) relativ konstantes Wachstum (vgl. Abb. 126). In den 1980er Jahren verlangsamte sich das Wachstum allerdings merklich, bzw. es waren (abgesehen vom kurzfristigen Einbruch in der Folge des ersten Irak-Krieges 1990/ 91) klar stagnative Tendenzen zu konstatieren. Vor diesem Hintergrund wurde - angesichts der Bedeutung des Tourismus als wichtiger Devisenlieferant und Arbeitsplatzfaktor (vgl. K AG E RMEIE R 2004, S. 286f.) - 306 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 306 <?page no="307"?> Ende der 1990er Jahre von staatlicher Seite eine Redynamisierung des Aus‐ baus des Tourismus angestoßen. Abb.‐Nr.: -126 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Touristenankünfte-in- Marokko1960-bis-2019 (ohne-Algerien; -Quelle: - Eigener-Entwurf-nach-Daten-Royaume-du-Maroc- 2020) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 1 2 3 4 5 6 7 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 in Mio. Abb. 126: Entwicklung der Touristenankünfte in Marokko 1960 bis 2019 (ohne Algerien; Quelle: eigener Entwurf nach Daten Royaume du Maroc 2020) Mit einem Vertrag zwischen dem Königreich Marokko - vertreten durch König Mohamed VI - und Vertretern der Privatwirtschaft wurden diese An‐ sätze fixiert, die unter der Bezeichnung „Vision 2010“ die Tourismuspolitik Marokkos im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts dominierten. Es wurden (in absteigender Bedeutung) vier Ansätze der touristischen Weiter‐ entwicklung formuliert: 1. Plan Azur (azur = blau im Französischen) 1. 2. Plan Mada’In (madinat = Stadt im Arabischen) 2. 3. Plan Biladi (bled = Land im Arabischen) 3. 4. Plan Niche & Rural. 4. Dabei wurde - wie auch bereits in den 1980er und 1990er Jahren - im We‐ sentlichen von Großinvestoren ausgegangen. Die Erschließung größerer Resorts sollte von Generalunternehmern übernommen werden, die nach der Erschließung und dem Bau von Gemeinschaftseinrichtungen (z. B. Golf‐ plätzen) dann entsprechende Parzellen an Bauunternehmen oder Hotelin‐ vestoren zur Bebauung weiterverkaufen sollten. Diese sollten dann die grö‐ 307 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 307 <?page no="308"?> ßeren Hoteleinheiten oder auch Apartmentanlagen bzw. Ferienvillen realisieren. Der Hauptfokus lag auf der baulichen Umsetzung von Über‐ nachtungsmöglichkeiten, sodass teilweise der Eindruck entstand, es handele sich mehr um ein Immobilienentwicklungsdenn ein touristisches Erschlie‐ ßungsprojekt. Der inhaltliche Schwerpunkt des „Accord Cadre“, dessen Umsetzung bis 2010 vorgesehen war, lag auf dem (bereits im Vorfeld entwickelten) sog. „Plan Azur“. Die Hotelkapazität sollte mit den bis 2010 zu erstellenden 80.000 neuen Hotelbetten fast verdoppelt werden. Von diesen waren 65.000 Betten, d. h. mehr als vier Fünftel, in sechs neu ausgewiesenen Tourismus‐ ressorts an der Küste vorgesehen (vgl. K AG E RMEIE R 2015): 1. Saîdia an der Mittelmeerküste 1. und - von Norden nach Süden - an der Atlantikküste 2. Khemis Sahel (Larache) 2. 3. Haouzia / Mazagan (El Jadida) 3. 4. Mogador (Essaouira) 4. 5. Taghazout (nördlich von Agadir) 5. 6. Plage Blanche (Guelmim; vgl. Abb. 127). 6. Allerdings ist zu konstatieren, dass die ursprünglich anvisierten Ausbauziele in den Resorts - wenn auch in unterschiedlichem Grad - nur partiell um‐ gesetzt worden sind. Bei der teilweise schleppenden Umsetzung mit wech‐ selnden Investoren, wobei teilweise auch Kapital aus den Golfstaaten im politisch als relativ stabil anzusehenden Marokko „geparkt“ wird, schimmert oft der Charakter von Immobilienspekulationsobjekten durch. Die Entwick‐ lung von innovativen touristischen Angeboten tritt demgegenüber - abge‐ sehen von den obligaten Golfplätzen in den Resorts - stark in den Hinter‐ grund. Insbesondere die nördlich gelegenen Resorts verfügen dabei - anders als das prinzipiell für einen Ganzjahrestourismus geeignete Agadir - nur begrenzt über komparative Vorteile gegenüber den Destinationen auf der Nordseite des Mittelmeers. Bislang hat keines der Resorts sein Ausbauziel erreicht. Insgesamt zielte Marokko mit der Vision 2010 darauf ab, die Zahl der ausländischen Touristen von 2,5 Mio. im Jahr 2000 auf 10 Mio. im Jahr 2010 zu vervierfachen. Letztendlich wurde das Ziel zwar deutlich verfehlt, aber es gelang immerhin eine respektable Verdoppelung der ausländischen Tou‐ ristenankünfte auf ca. 5 Mio. bis 2010 (vgl. Abb. 126). Neben dem Plan Azur hat an der Zunahme die ursprünglich eher nachrangige und erst nachträg‐ 308 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 308 <?page no="309"?> lich aufgenommene zweite Säule, der sog. „Plan Mada’In“ für den kultur‐ orientierten Städtetourismus, einen wichtigen Anteil. In dessen Rahmen sollten 15.000 der insgesamt anvisierten 80.000 Betten in den größeren Städ‐ ten, vor allem in den „Königsstädten“ Marrakech, Fès, Meknès, Rabat sowie in Ouarzazate, Tanger und Casablanca entstehen. Haouzia (El Jadida) Khemis Sahel (Larache) Saidia Mogador (Essaouira] Plage Blanche (Guelmim) 1.000 5.000 10.000 25.000 50.000 2002 2010 Casablanca Rabat Fes Meknes Tanger Oudja Tétouan Kénitra Beni Mellal Taza Settat Marrakesch Nador Khemisset Agadir Safi Al Hoceima Tantan Khénifra Taroudannt Errachidia Ben Slimane Chefchaouen Tiznit Ouarzazate Erfoud 0 100 200km Pays d'Accueil Touristique 2010 Hoher Atlas Anti Atlas Rif Atlantischer Ozean Mittelmeer Chtouka-Aït Baha Haut-Atlas central Zagora Imouzer Ida-Outanane Ifrane Mittlerer Atlas Tata Layoune Azilal Khouribga - Abb. 127: Kapazität der Hotelbetten im Jahr 2002 und geplante Entwicklung bis zum Jahr 2010 nach Regionen sowie PATs im Jahr 2010 (Quelle: eigener Entwurf auf der Basis von K A G E R M E I E R 2015, S. 150ff.) Sicherlich auch mitbedingt durch die Verbesserung der Flugerreichbar‐ keit und die günstigeren Tarife durch die Low Cost Carrier (vgl. Kap. 3.1.3) hat der Städtetourismus - insbesondere in Marrakesch - in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Seit 2007 gilt zwischen der EU und Marokko in vollem Umfang das sog. Open Sky-Abkommen, mit dem die Liberalisierung im Luftverkehrsmarkt in mehreren Stufen realisiert 309 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 309 <?page no="310"?> wurde, sodass seit diesem Zeitpunkt auch Low Cost Carrier aus Europa den marokkanischen Markt mit erschließen. Hiervon konnte insbeson‐ dere der Flughafen von Marrakesch profitiert. An diesem hat sich die Zahl der einreisenden Ausländer auf inzwischen etwa 2,6 Mio. seit 2000 mehr als vervierfacht und seit 2010 immerhin noch verdoppelt (Observatoire du Tourisme 2020, S. 6). Allein auf Marrakesch entfallen inzwischen etwa ein Drittel der Ankünfte von ausländischen Touristen. Dort hat sich seit 2000 auch die Bettenkapazität von knapp 20.000 auf inzwischen über 75.000 fast vervierfacht, während diese landesweit in den letzten 20 Jahren nur et‐ was mehr als verdoppelt worden ist. Der Städtetourismus hat damit - im Vergleich zu den Zielsetzungen - deutlich überproportional zum Wachs‐ tum der Beherbergungskapazitäten beigetragen, sodass das quantitative Ausbauziel bezogen auf die Hotelkapazitäten insgesamt gesehen erreicht worden ist. Neben dem Bau von exklusiven klassischen Hotels am Stadt‐ rand haben dabei - insbesondere in Marrakesch, aber auch in anderen Städten wie Fès, Meknès oder Essaouira - auch die Umgestaltung von re‐ präsentativen historischen Stadthäusern, sog. Riads, in exklusive Touris‐ tenunterkünfte mit beigetragen (vgl. E S CHE R & P ETE RMANN 2004). Mit die‐ sem Angebot - wobei entweder ein ganzer Riad gemietet werden kann oder diese in kleine sog. „Hôtel de Charme“ transformiert und einzelne Hotelzimmer vermietet werden - entstand ein Angebot, das sich von klas‐ sischen touristischen Angeboten abhebt. Damit wird ein spezifisches An‐ gebot geschaffen, das die Destination Marokko aus der Beliebigkeit und Austauschbarkeit globaler touristischer Übernachtungsangebote heraus‐ hebt und damit etwas schafft, das im Tourismus oftmals angestrebt, aber nur selten erreicht wird: eine Art USP (Unique Selling Proposition). Die Riads als vermeintlich authentisches Angebot sprechen mit der Kombina‐ tion unterschiedlicher Elemente - von der spezifischen Architektur über die individuelle Ausgestaltung und die persönliche Atmosphäre bis hin zu den kulinarischen Aspekten - die hybriden Bedürfnisse vieler Zielgrup‐ pen an. Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass diese - auch für das Image Marokkos wichtige - Entwicklung letztendlich nicht in dieser Form im Plan Mada’In enthalten war. Dieser zielte auf die klassischen Luxus‐ hotels ab, während die Inwertsetzung der Riads vor allem von privaten (oftmals ausländischen) Initiativen getragen worden ist. Während sich die beiden ersten Ansätze auf die touristischen Aktivitäten in den größeren Städten und an der Küste konzentrierten, sind der Plan Biladi und der Plan Rural räumlich breiter gestreut. Mit dem Plan Biladi 310 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 310 <?page no="311"?> sollte der Anteil der Marokkaner am formellen Übernachtungsmarkt von ein auf zwei Millionen gesteigert werden. Darüber hinaus sind (sowohl an der Küste als auch im ländlichen Binnenland) im Rahmen des Plans Biladi inzwischen eine Reihe von Ferienhaussiedlungen als Zweitwohnsitze ent‐ standen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Tourismusentwicklungspolitik Ma‐ rokkos wurde mit der Vision 2010 im Plan Rural auch eine flächendeckende touristische Entwicklung im ländlichen Raum formuliert. Während aller‐ dings für den Küstentourismus und den kulturorientierten Städtetourismus klare mengenmäßige Ausbauziele formuliert worden sind und für den Bin‐ nentourismus eine Angabe über die Steigerung der Nachfrage gemacht wird, bleiben die Zielsetzungen für den ländlichen Raum relativ vage und enthal‐ ten keine Mengenangaben (die insgesamt angepeilten 80.000 zusätzlichen Betten sind ja bereits durch die angestrebten Ausbaumaßnahmen an der Küste und in den Städten abgedeckt). Insgesamt ist der Plan Rural zur Ent‐ wicklung des Tourismus im ländlichen Raum auch relativ vage gehalten und im Kontext der Vision 2010 mehr als nachträglich angefügter Appendix denn als gleichberechtigter Strategiebaustein zu verstehen. Festzuhalten ist, dass es mit der Vision 2010 gelungen ist, eine Redyna‐ misierung des Tourismus in Marokko zu induzieren, bei dem nicht nur die Zahl der einreisenden Ausländer (vgl. Abb. 126), sondern auch die Devisen‐ einnahmen aus dem Tourismus (vgl. Abb. 128) entsprechend erhöht werden konnten. Da die Zahl der Touristen nicht die angepeilten 10 Mio. erreichte, sind auch die Deviseneinnahmen, deren Zielgröße bei etwa 8 Mrd. Euro lag, in absoluten Zahlen nicht erreicht worden. Anders als viele Mittelmeerdes‐ tinationen und insbesondere Tunesien hat Marokko aber weitgehend ver‐ meiden können, zum Billigreiseland zu degradieren. Das Abzielen auf ein hochwertiges Segment und insbesondere auch der Städtetourismus haben dazu beigetragen, dass die Einnahmen stärker anstiegen als die Zahl der Touristen. 311 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 311 <?page no="312"?> Abb.‐Nr.: -128 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Deviseneinnahmen-aus- dem-Tourismus-zwischen-1990-und-2018 (Quelle: - Eigener-Entwurf-nach-Daten-Royaume-du-Maroc.- Haut‐Commissariat au-Plan-div.-Jg.) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 1.000 2.000 3.000 4.000 5.000 6.000 7.000 in Mio. Euro Abb. 128: Entwicklung der Deviseneinnahmen in Marokko aus dem Tourismus zwischen 1990 und 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Royaume du Maroc. Haut-Commissariat au Plan div. Jg.) Gleichzeitig ist aber auch zu konstatieren, dass die gesamtstaatliche positive Bilanz im Wesentlichen von den traditionellen Produktlinien des küsten‐ ständigen Erholungstourismus und des kulturorientierten Städtetourismus getragen wird. Dementsprechend konzentriert sich die Entwicklung auf wenige Küstenstädte und die traditionellen Königsstädte. Eine umfassende Produktinnovation ist nur partiell gelungen, wobei diese in den Städten vor allem von privaten Kleininvestoren - oftmals ausländischer Herkunft - ge‐ tragen wird, die mit dem Riad-Tourismus insbesondere in Marrakesch eine neue kaufkraftstarke Klientel ansprechen. Unter dem regionalentwicklungspolitischen Blickwinkel bleibt die Bilanz gespalten. Die bereits in der Protektoratszeit und den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit entstandene Konzentration auf wenige Standorte wurde - abgesehen von den neu entstandenen Küstenstationen - weitgehend per‐ petuiert. Dabei ist es nur in sehr bedingtem Maß gelungen, Tourismus auch im ländlichen Raum des Binnenlands als relevante regionalökonomische Größe zu etablieren. Insbesondere die Abhängigkeit von regionsexternen Großinvestoren reduziert mit ihren monetären Abflüssen die in der Region verbleibenden Einkommen. Gleichzeitig bleibt die marokkanische Touris‐ 312 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 312 <?page no="313"?> muspolitik mit ihrer auf das reine Volumen von auf „Economies of Scale“ ausgerichteten Übernachtungseinrichtungen der fordistischen Produkt‐ weise des ausgehenden 20. Jahrhunderts verhaftet. Die stärker auf Netz‐ werke und die „Economies of Scope“ ausgerichteten Steuerungsmuster für kleinteilige und mehr auf Produktinnovationen orientierten Ansätze sind demgegenüber - wie auch in Zypern - unterrepräsentiert. Gerade diese Ansätze scheinen aber angemessen und notwendig für eine Tourismusent‐ wicklung im ländlichen Raum. Im nächsten Abschnitt sollen daher die Ent‐ wicklungen des Tourisme Rural nochmals genauer beleuchtet werden. Entwicklungen des Tourisme Rural im ländlichen Raum In der Vision 2010 war dem Tourisme Rural, d. h. dem Tourismus im länd‐ lichen Raum, keine vorrangige Bedeutung beigemessen worden. Vielmehr besteht der Eindruck, dass dieser nachträglich mit einer gewissen Feigenb‐ lattfunktion aufgenommen wurde, um zu kaschieren, dass vor allem eta‐ blierte Destinationen bevorzugt werden. Entsprechend der relativ vage ge‐ haltenen Aussagen in der Vision 2010 waren in den Folgejahren für diesen Bereich auch noch eine Konkretisierung und Präzisierung notwendig. Im Rahmen eines von der World Tourism Organisation (UNWTO) geleiteten Projekts wurde für den Tourismus im ländlichen Raum Marokkos 2002 eine Studie vorgelegt (Royaume du Maroc 2002), in der für die unterschiedlichen Landesteile die Potentiale und Optionen analysiert wurden. Dabei wurde als zentrales Steuerungsinstrument der Aufbau von Desti‐ nationsmanagementorganisationen (DMO) als sinnvoll angesehen. In An‐ lehnung an das französische Modell wurden sog. „Pays d’Accueil Touris‐ tique“ (PAT) vorgeschlagen (Royaume du Maroc 2002, S. 144ff.; vgl. Abb. 127). Hintergrund des Ansatzes ist die Tatsache, dass im ländlichen Raum die einzelnen Attraktionen meist nicht genügend Einzelattraktivität aufweisen, um insbesondere internationale Touristen auf sich aufmerksam zu machen. Ähnlich wie z. B. auch in Deutschland ist es daher im ländlichen Raum Marokkos wichtig, dass sich größere Gebietseinheiten in einer ge‐ meinsamen Produktentwicklungs- und Vermarktungsplattform zusammen‐ schließen. Konstituierend für eine regionale DMO ist, dass im Rahmen des Binnenmarketings alle relevanten Akteure eingebunden werden, sodass so‐ wohl die privaten touristischen Leistungsträger als auch die relevanten öf‐ fentlichen Institutionen (z. B. Natur- oder Nationalparkverwaltung), aber auch die politischen Akteure und die Bevölkerung die Entwicklung des Tou‐ rismus auf der Basis eines abgestimmten Zielkatalogs gemeinsam tragen. 313 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 313 <?page no="314"?> Dabei wurden in der Studie die relevanten Tätigkeitsfelder einer DMO: ☐ Entwicklung entsprechender Produktlinien für den Aktivtourismus ☐ mit Schaffung der relevanten touristischen Infrastruktur (z. B. Wan‐ derwege, Ausschilderung) ☐ Initiierung von entsprechenden Gastronomie- und Beherbergungsan‐ ☐ geboten ☐ Qualitätssicherung bzw. Zertifizierung ☐ ☐ Übernahme der destinationsbezogenen Marktkommunikation (inkl. ☐ der Ansprache von Reiseveranstaltern) skizziert (Royaume du Maroc 2002, S. 148ff.). Als zentraler Nucleus für die ländlichen Destinationen sollte jeweils ein sog. „Maison de Pays“ geschaffen werden. Dieses sollte einerseits - ähnlich wie ein Nationalparkzentrum - als Anlaufstelle und Informationsmöglichkeit für die Besucher fungieren, andererseits aber auch ein Schaufenster der Region und der regionalen Pro‐ dukte darstellen (Royaume du Maroc 2002, S. 148ff.). Darüber hinaus wurde für die nationale Ebene auch die Notwendigkeit des „Capacity Building“ zur Schaffung des notwendigen tourismusspezifi‐ schen Know-hows bei der Regionsbevölkerung klar heraus gestellt (Roya‐ ume du Maroc 2002, S. 185ff.) sowie eine stärkere institutionelle Veranke‐ rung mit einer eigenen, dem Ministerium unterstellten Agentur vorgeschlagen (Royaume du Maroc 2002, S. 175ff.). Auch die Notwendigkeit der Bereitstellung von entsprechenden Finanzmitteln wurde angemahnt (Royaume du Maroc 2002, S. 192ff.). Diese sollten neben der direkten För‐ derung nicht direkt rentabler Infrastrukturmaßnahmen insbesondere auch zur Vergabe von Krediten an Kleininvestoren verwendet werden, da diese - anders als Hotelgroßinvestoren - nur begrenzt über Zugänge zu den klas‐ sischen Kapitalmarktquellen verfügen. Eine besondere Rolle sollte den DMOs der PATs auch bei der Schaffung von Marken für die Destinationen zukommen. Während die Königsstädte und die Baderesorts bereits entweder als Marke im internationalen Markt präsent sind und die großen (internationalen) Hotelketten auch über den entsprechenden Marktzugang verfügen, sind die kleineren Destinationen im ländlichen Raum zumeist nicht auf den internationalen Märkten präsent. Die dort agierenden kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) haben oft‐ mals auch nur begrenzt Zugang zu den internationalen Märkten - sowohl über Reiseveranstalter als auch zur direkten Ansprache der Endkunden¸ (vgl. Kap. 7.3.4). Ähnlich wie auch in Zentraleuropa sind die Attraktivität 314 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 314 <?page no="315"?> der Einzelorte oder Attraktionen in ländlichen Raum selbst alleine nicht ausreichend, um entsprechend auf dem Markt wahrgenommen zu werden. Mit dem regionalen Zusammenschluss soll eine kritische Wahrnehmungs‐ schwelle überschritten werden, um eine entsprechende Marktresonanz zu erreichen. Fünfzehn Jahre nach dem Start der ersten drei Modell-PATs fällt das Re‐ sultat nicht nur hinsichtlich der Flächenabdeckung etwas ernüchternd aus. Der an der Studie für das Pilotprojekt Chaouen verantwortlich beteiligte Geograph und Tourismusexperte Mohamed B E R RIANE zieht in seiner Bilanz die Schlussfolgerung, dass nach der Aufbruchsstimmung nach 2000 die kon‐ kreten Resultate sehr überschaubar geblieben sind. Weder die Sichtbarkeit nach außen noch die konkreten Ergebnisse von dauerhaft etablierten Struk‐ turen können überzeugen. Es wird davon gesprochen, dass das „Fieber“ und der „Hype“ um den Tourisme Rural in eine „Anarchie“ umgeschlagen ist (B E R RIANE & A DE R GHAL 2012, S. 65). Ein Anzeichen für die amorphen Ver‐ hältnisse ist sicherlich auch die Tatsache, dass es keine verlässlichen Infor‐ mationen gibt, wie viele Einrichtungen in welchen Gebieten entstanden sind. Als Ursache werden vollkommen ungeeignete oder falsche Gover‐ nance-Strukturen angesehen. Wie bei den klassischen Tourismusgroßpro‐ jekten wurde von einer Top-Down-Steuerung ausgegangen, die nur die konkreten Rahmenbedingungen vorgibt und den weiteren Prozess dann in den Händen der (Groß-)Investoren belässt. Diese Herangehensweise wird für den ländlichen Raum mit den dort bestehenden Akteurskonstellationen aber auch der Produktpalette als nicht adäquat eingestuft. Lediglich im PAT Ifrane/ Moyen Atlas ist aufgrund der spezifischen privilegierten Situation als Sommerfrische seit der Protektoratszeit - eine Tradition, die nach der Un‐ abhängigkeit von den marokkanischen städtischen Eliten weitergeführt worden ist - ein gewisser Erfolg zu konstatieren. Hier sorgt - da es sich gleichzeitig auch um einen Nationalpark handelt - einerseits die National‐ parkverwaltung für die entsprechenden Infrastrukturen. Andererseits ist die Mehrzahl der 14 Übernachtungsmöglichkeiten von regionsexternen Vertre‐ tern der städtischen Eliten geschaffen worden, die über ein gewisses Min‐ destmaß an Know-how bezüglich der Besucherbedürfnisse verfügen. Ohne dass öffentliche und private Akteure intensiver kooperieren würden, ist da‐ mit ein Angebot entstanden, das - insbesondere im Binnentourismus - auch auf eine intensive Nachfrage stößt (B E R RIANE & A DE R GHAL 2012, S. 51ff.). In den anderen PATs konnten zwar ebenfalls eine Reihe von Aktivitäten - insbesondere auch mit der Unterstützung von internationalen Organisa‐ 315 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 315 <?page no="316"?> tionen - initiiert werden. Diese Projekte besitzen allerdings meist nur eine kurze Halbwertszeit. Ziehen sich die internationalen Organisationen nach Abschluss der zeitlichen und finanziell befristeten Projekte zurück, sind keine dauerhaften Strukturen vor Ort vorhanden, die diese weiterführen könnten. Damit weist Marokko, das in vielerlei Hinsicht als Schwellenland bezeichnet werden kann, nach wie vor klassische Züge eines sog. „Entwick‐ lungslandes“ auf. Aber auch unklare Zuständigkeiten und Kompetenzstrei‐ tigkeiten zwischen den unterschiedlichen öffentlichen Institutionen und privaten Akteuren können dazu führen, dass sich diese gegenseitig blockie‐ ren. Beim Unterhalt von unterschiedlichen Attraktionspunkten macht sich bemerkbar, dass die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten nicht klar verteilt sind. Die zentralstaatliche Ebene kümmert sich zwar teilweise um die Schaffung solcher Attraktionspunkte, fühlt sich aber nicht für deren Be‐ trieb und Unterhalt zuständig. Insgesamt gesehen ist damit das Wechselspiel zwischen den unterschied‐ lichen Akteuren als sehr diffus und unabgestimmt zu charakterisieren. Ins‐ besondere das Zusammenspiel von Vertretern der Zentralregierung und ih‐ rer regionalen Repräsentanten, die nach wie vor dem klassischen Top-Down-Ansatz verpflichtet sind, und den lokalen und regionalen Ak‐ teuren in den Destinationen, die mehr einen Bottom-Up-Ansatz verfolgen, führt zu Friktionen und suboptimalen Ergebnissen. Neben mehr oder we‐ niger gescheiterten Projekten von Privatpersonen oder NGOs (Non-Go‐ vernmental Groups), kann aber auch eine Reihe von durchaus erfolgreichen Einzelinitiativen identifiziert werden (genauer bei K AG E RMEIE R 2015), bei denen versucht wird, das Fehlen von offiziellen Governance-Strukturen durch informelle Netzwerke zu kompensieren, bzw. ähnlich wie in Zypern isolierte Einzelakteure als Good Practise Beispiele, die aber oftmals nur mit begrenztem Bezug zu den regionalen Netzwerken agieren. Das Fehlen einer leistungsfähigen DMO zur Ermöglichung des Marktzu‐ gangs wird auch nur teilweise durch die internetgestützte Marktkommuni‐ kation, insbesondere Social-Media-Aktivitäten kompensiert. Auch wenn prinzipiell aufgrund der informations- und kommunikationstechnischen Möglichkeiten inzwischen bei vielen Nischenangeboten des sog. „Long Tail“ (vgl. Kap. 3.4.2) ein direkter Marktzugang möglich wäre, ist die Vorausset‐ zung für den effektiven Einsatz der Sozialen Medien aber wiederum ein be‐ stimmtes Level an Know-how. Dieses ist bei privaten kleineren Anbietern aber oftmals eben nicht vorhanden, sodass sie Schwierigkeiten haben, das 316 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 316 <?page no="317"?> Fehlen von destinationsbezogenen Vermarktungsaktivitäten zumindest par‐ tiell zu kompensieren. Es ist festzuhalten, dass sich im ländlichen Raum Marokkos durchaus Ansätze für eine erfolgreiche Etablierung innovativer und zielgruppenori‐ entierter touristischer Angebote finden lassen. Gemeinsam ist diesen, dass es sich um (relativ) isolierte Einzelaktivitäten handelt, bei denen es aufgrund der spezifischen Kompetenzen und Ressourcen der Eigentümer geschafft wird, das Fehlen von destinationsbezogenen übergreifenden Kooperationen bei der Produktentwicklung, der Vermarktung und der Qualitätsorientie‐ rung zumindest partiell auszugleichen. Oftmals handelt es sich um region‐ sexterne Impulse, bei denen auch entsprechende monetäre Ressourcen aus anderen wirtschaftlichen Aktivitäten verfügbar waren. Umgekehrt ist zu formulieren, dass eben die Mehrzahl der an einer Beteiligung am Tourismus im ländlichen Raum interessierten lokalen Akteure genau diese Vorausset‐ zung für eine Kompensation übergeordneter Governance- und Leader‐ ship-Strukturen nicht erfüllen und damit entweder nur sehr partiell ökono‐ misch erfolgreich agieren, scheitern oder eben gar nicht bis zum Markteintritt gelangen. Auch die aktuelle Weiterentwicklung zur Vision 2020 bringt für diese strukturellen Defizite keine Lösung, sondern stellt eher einen Rückschritt dar (genauer bei K AG E RMEIE R 2015). Auch wenn mit der Vision 2010 nur etwas halbherzig versucht worden ist, den ländlichen Raum relativ flächendeckend entsprechend seinen touristi‐ schen Potentialen in Wert zu setzen, markiert dies doch eine klare Gegenpo‐ sition zur den küstenorientierten Großprojekten. Allerdings wurde dabei nicht in genügendem Maß berücksichtigt, dass sich dort die Gegebenheiten grund‐ sätzlich von denen des Badetourismus und des großmaßstäbigen Städtetou‐ rismus unterscheiden. Ein touristisches Leistungsbündel im Badetourismus ist relativ standardisiert und überschaubar. Damit kann es von einem einzelnen Anbieter in einem Resort, in dem sich der Tourist die meiste Zeit aufhält, auch im Wesentlichen autonom erstellt werden (ggf. mit Zulieferung von kleine‐ ren Agenturen z. B. für Wassersportangebote). Im Städtetourismus stellt das in der Stadt vorhandene dichte kulturelle Angebot sowie das städtische Flair und die wirtschaftlichen Aktivitäten ein gegebenes Setting für die Aktivitäten der Touristen dar. Damit können dort ebenfalls Hotelunternehmen mit ihren Übernachtungsangeboten relativ autonom agieren, da die Gestaltung des Aufenthaltes von den Touristen ebenfalls relativ eigenständig erfolgt. Der ländliche Raum weist einerseits eine geringere Dichte von Attraktionspunk‐ ten und Gelegenheiten für Aktivitäten auf. Diese sind darüber hinaus oftmals 317 7.2 Tourismus im Mittelmeerraum 317 <?page no="318"?> nicht „ready to use“, sondern bedürfen einer Aufbereitung für die Nutzung durch die Touristen. Gleichzeitig sind - anders als im Badetourismus - rela‐ tiv viele unterschiedliche Angebotselemente zu einem Leistungsbündel zu kombinieren. Damit folgt der Tourismus im ländlichen Raum eher dem post-fordistischen Prinzip der „Economies of Scope“ mit einer hohen Interak‐ tionsdichte zwischen den Akteuren in einem Netzwerk. Angesichts der Do‐ minanz von KMUs im ländlichen Raum und der oftmals geringen tourismus‐ spezifischen Kompetenzen bzw. auch einer nur geringen Eigenkapitaldecke und Schwierigkeiten beim Zugang zu Fremdkapital wäre für eine erfolgrei‐ che Implementation von touristischen Ansätzen im ländlichen Raum Marok‐ kos den DMOs eine zentrale Rolle für die (zielgruppenorientierte) Produkt‐ entwicklung und -gestaltung, die Marktkommunikation und die Setzung von Qualitätsstandards zugekommen. Das - trotz vieler erkennbarer Ansätze und Bemühungen in Richtung auf Dezentralisierung und Regionalisierung - nach wie vor relativ stark hier‐ archisch geprägte Handeln des marokkanischen Zentralstaates mit seinem Top-Down-Ansatz ist als einer der zentralen Schwachpunkte einer touris‐ tischen Entwicklung im ländlichen Raum Marokkos zu identifizieren. Für eine erfolgversprechende Umsetzung solcher Ansätze müssten noch stärker eine Kompetenz- und auch eigenständige Ressourcenzuordnung auf die lo‐ kale und regionale Ebene erfolgen. Zwar zielte die Schaffung von 16 Regio‐ nen (und die Zahl ist wohl mehr als zufälligerweise identisch mit derjenigen der deutschen Bundesländer) letztendlich auf eine Initiierung föderaler Strukturen in Marokko ab. Allerdings wird von zentralstaatlicher Seite das Prinzip der Subsidiarität noch nicht in dem Maße umgesetzt, dass die Re‐ gionen und Kommunen in nennenswertem Umfang eigene monetäre Res‐ sourcen generieren und auch eigenständige Planungskonzepte verfolgen können. Nach wie vor werden Entscheidungen und Mittel relativ zentralis‐ tisch gefasst und verteilt. Damit wurden in den einzelnen Destinationen keine dauerhaften Struktu‐ ren geschaffen, die den kleinen Akteuren vor Ort die notwendige Unterstüt‐ zung für die Etablierung marktfähiger und wirtschaftlich rentabler Tourismu‐ sangebote bieten würden. Die Projekte von internationalen NGOs oder im Rahmen der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) können die insuf‐ fiziente Rolle der öffentlichen Hand nicht dauerhaft kompensieren. Notwen‐ dig wären aus den Destinationen heraus entstehende und von diesen getra‐ gene Strukturen, welche die Rolle von leistungsfähigen DMOs von der Koordination der Entwicklung bis zur Kooperation der Akteure übernehmen 318 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 318 <?page no="319"?> könnten. Dabei die Innovatoren mit einbinden und gleichzeitig die schwäche‐ ren Akteure nicht vernachlässigen wären klassische Aufgaben des Destinati‐ onsmanagements (genauer bei: K AG E RMEIE R , A MZIL & E L FAS S KAOUI (2019). Tourismus im Mittelmeerraum zu Beginn des 21. Jahrhunderts Trotz anderer, sich teilweise dynamischer entwickelnden Destinationen und Produktlinien ist der Mittelmeerraum immer noch die Nummer Eins der Großdestinationen des globalen Tourismus. Auch vor dem Hintergrund sich ausdifferenzierender Nachfragemuster ist allerdings klar zu konstatieren, dass die zentrale Cash Cow des mediterranen Tourismus, der Badetourismus, sei‐ nen Zenit klar überschritten hat. Die fast ausschließliche Ausrichtung auf den Badetourismus hat dem Mittelmeerraum in der zweiten Hälfte des 20. Jahr‐ hundert eine lange Phase relativ stabilen und kontinuierlichen Wachstums beschert. Gleichzeitig ist der Badetourismus als klassisches Produkt der for‐ distischen Produktionsweise zu charakterisieren. Zu Beginn des 21. Jahrhun‐ derts wird klar erkennbar, dass die mediterranen Destinationen nicht nur in‐ tensiv an Produktdiversifizierungen herangehen, wobei es eben kein Hauptprodukt zur Ablösung der ehemaligen Cash Cow geben wird, sondern ein breites Spektrum von kleinteiligen Nischenangeboten mit postfordisti‐ schen Produktionsregimes. Dementsprechend müssen neue Formen der De‐ stination Governance für diese Produktlinien gefunden werden müssen. 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer Die Diskussion um den Themenkomplex „Tourismus und Entwicklungslän‐ der“ kann nicht losgelöst von den übergeordneten politischen Rahmenbe‐ dingungen gesehen werden. Die Behandlung versucht deshalb zunächst, diesen entwicklungspolitischen Rahmen kurz aufzuspannen. Gleichzeitig ist der sog. Entwicklungsländertourismus in den letzten Jahrzenten aus unter‐ schiedlichen Blickwinkeln vielfach Gegenstand der gesellschaftspolitischen Diskussion gewesen. Dementsprechend gilt es, die Grundmuster dieser Aus‐ einandersetzung zu skizzieren. Als regionales Fallbeispiel wird Kenia be‐ handelt, an dem sich eine Reihe von für viele sog. Entwicklungsländer gel‐ tende Grundmuster darstellen lassen. 319 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 319 <?page no="320"?> Weltpolitische Grundkonstellationen als Hintergrund des Entwicklungsländertourismus Die Phase der Entkolonialisierung in den 1960er Jahren fällt zeitlich zusam‐ men mit dem mengenmäßigen Wachstum der touristischen Nachfrage in den sog. Industrieländern (vgl. Kap. 2.1). Die Suche nach Möglichkeiten für eine ökonomische Entwicklung der in die Unabhängigkeit entlassenen ehe‐ maligen Kolonien folgte der damals im politischen Kontext dominierenden sog. Modernisierungstheorie. Dieser auf Walt Whitman R O S TOW , den au‐ ßenpolitischen Sicherheitsberater des US-Präsidenten John F. Kennedy, zu‐ rückgehende Ansatz wurde, wie auch der Untertitel des ursprünglichen Werkes „The Stages of Economic Growth: A Non-Communist Manifesto“ (R O S TOW 1960) andeutet, mit der politischen Zielsetzung formuliert, ange‐ sichts des Systemwettbewerbs zwischen dem sog. „kapitalistischen Westen“ und dem sozialistischen bzw. kommunistischen Block unter der UdSSR-He‐ gemonie, den in die Unabhängigkeit entlassenen afrikanischen und asiati‐ schen sowie den südamerikanischen Ländern eine Alternative zur Orien‐ tierung am politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leitbild der UdSSR zu bieten. Grundprinzip der Modernisierungstheorie ist, dass Mas‐ senkonsum nach amerikanischem Vorbild quasi als „Heilsversprechen“ auch für die in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten ein realistischer Pfad sei. Der Begriff „Entwicklung“ wird damit teleologisch verstanden als auf eine Phase des Massenkonsums ausgerichteter Prozess, der quasi gesetzmäßig in fünf Phasen abläuft (traditional societies, pre-conditions to take-off, take-off, drive to maturity, age of high mass consumption). Daraus abgeleitet wurde der Begriff „Entwicklungsländer“ so verstanden, dass diese sich auf einem Wachstumspfad befinden, auf dem sie die seit dem 19. Jahrhundert in den sog. „entwickelten“ Industrieländern abgelaufenen Stadien der Industriali‐ sierung im Sinne einer „Nachholenden Entwicklung“ wiederholen. Der oft‐ mals synonym für Entwicklungsländer verwendete Begriff „3. Welt-Län‐ der“ geht demgegenüber auf die vom jugoslawischen Präsidenten Tito 1961 ins Leben gerufene Bewegung der sog. „Blockfreien Staaten“ als dritter „Block“ neben dem Block der westlichen Industriestaaten (1. Welt) und dem der sozialistischen Staaten (2. Welt). Aufgrund der politischen Konnotatio‐ nen wurde teilweise auch versucht, neutralere Begriffe wie „Nicht-OECD-Staaten“ oder „Länder des Südens“ zu etablieren, die sich al‐ lerdings bislang nicht durchgesetzt haben, sodass auch in diesem Buch der Begriff Entwicklungsländer trotz gewisser Vorbehalte gegenüber den damit implizit kommunizierten Konnotationen aus pragmatischer Sicht verwendet 320 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 320 <?page no="321"?> wird. Eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem modernisierungs‐ theoretischen Ansatz findet sich z. B. bei N OHLEN & N U S CHELE R (1993). Während die westlichen Industriestaaten die Phase des Take-Off im We‐ sentlichen auf der Basis von Kohle- und Stahlindustrie während der Phase der Industrialisierung im 19. Jahrhundert durchliefen, wurde der Tourismus für die sog. nachholende Entwicklung als eine der Leitindustrien ausgerufen. Zur Abgrenzung von der traditionellen Industriebasis wird seit dieser Zeit der Tourismus auch als sog. „Weiße Industrie“ bezeichnet. Im Zuge der - von Südamerika ausgehenden - dependenztheoretischen Diskussion der 1970er und 1980er Jahre wurden strukturelle Abhängigkei‐ ten (Dependenzen) zwischen Industrie- (= Metropolen) und Entwicklungs‐ ländern (= Peripherien) konstatiert. Diese strukturellen, neokolonialen Ab‐ hängigkeiten würden die Entwicklungsmöglichkeiten der Dritten Welt einschränken (genauer bei N OHLEN & N U S CHELE R 1993). Die dependenzthe‐ oretische Diskussion fällt zusammen mit der Phase der bürgerlichen Tou‐ rismuskritik (vgl. Kap. 5). Zwei ganz unterschiedliche Grundströmungen führten dazu, dass in den 1970er und 1980er Jahren der sog. Entwicklungs‐ ländertourismus heftig als Perpetuierung einer neokolonialen Ausbeutung kritisiert worden ist. Unterentwicklung wird in der Dependenztheorie als strukturell bedingtes Ergebnis der Abhängigkeit von den Industrieländern angesehen. Dementsprechend wird die Position vertreten, dass Unterent‐ wicklung nur durch eine Abkoppelung der Volkswirtschaften in den unter‐ entwickelten Ländern und eine sog. autozentrierte, von den Industrielän‐ dern unabhängige Entwicklung erreicht werden könne. Eine der Implikationen dieser Position der autozentrierten Entwicklung ist auch, dass die Touristenströme aus den Industrieländern in die Entwicklungsländer als Teil dieser neokolonialen strukturellen Dependenz zu kappen sind. Eine Reihe von Staaten wie z. B. Tansania haben dementsprechend auch diesem Ansatz folgend in den 1970er und 1980er Jahren den internationalen Tou‐ rismus weitgehend unterbunden. Box 20 | Was versteht man unter Entwicklungsländern? Der Begriff „Entwicklungsländer“ wird im Sinne einer Negativdefinition als Sammelbegriff für diejenigen Länder, die nicht zu den hochentwi‐ ckelten Industriestaaten zählen verwendet. Letztendlich unterstellt er aus eurozentristischer Sicht, dass diese Staaten auf einem Entwick‐ 321 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 321 <?page no="322"?> lungspfad sind, der dem der Industrieländer in der Vergangenheit ent‐ spricht. Es gibt keine einheitliche verbindliche Definition eines Entwicklungs‐ landes. Zumeist wird versucht, über Indikatoren, von denen angenom‐ men wird, dass sie den Entwicklungsstand eines Landes spiegeln eine entsprechende Zuordnung zu treffen. Lange Zeit wurde hierzu das Brut‐ toinlandsprodukt (BIP) herangezogen. Allerdings greift der - auch heute von der Weltbank noch verwendete Indikator Pro-Kopf-Einkommen - insofern zu kurz als er nur rein ökonomische Aspekte berücksichtigt. Gleichzeitig erfolgt ein erheblicher Teil der Wertschöpfung in Entwick‐ lungsländern im sog. „Informellen Sektor“, d. h. wird nicht in der offi‐ ziellen Statistik berücksichtigt. Charakteristika von Entwicklungsländern sind, dass viele der Bewohner einen niedrigeren Lebensstandard aufweisen. Daraus resultieren Pro‐ blembereiche wie Armut, Unterernährung und Hunger. Auch ein niedri‐ ges Niveau der Gesundheitsversorgung, hohe Kindersterblichkeitsraten oder eine geringe Lebenserwartung sowie hohe Analphabetenquoten zählen zu den Merkmalen. Oftmals sind die Geburtenraten in Entwick‐ lungsländern hoch und der demographische Druck verschärft die Pro‐ bleme weiter. Von der UN wurde in den 70er Jahre eine Unterscheidung nach Less Developed Countries (LDC) und Least Developed Countries (LLDC) vorgenommen. Dabei wurden neben ökonomischen Indikatoren auch Aspekte des Lebensstandards mit einbezogen. In den 90er Jahren wurde der Versuch unternommen, mit dem Human Development Index (HDI) eine differenziertere Einteilung vorzunehmen. Dabei werden Lebenser‐ wartung, Schulbildung, Bildungsquoten und das Nationaleinkommen berücksichtigt (vgl. Tab. 9). Neben dem Begriff Entwicklungsländer wird oftmals auch der Begriff „Schwellenländer“ genannt. Auch hier handelt es sich um eine nicht ganz eindeutige Zuordnung, die Länder zusammenfasst, welche auf dem Weg der Industrialisierung bereits vorangeschritten sind. Sie weisen meist hohe wirtschaftliche Wachstumsraten auf und verfügen über ein Spektrum an verarbeitender Industrie. Dabei spielen staatliche Investi‐ tionen in die materielle und soziale Infrastruktur, insbesondere auch in die Ausbildung eine wichtige Rolle (vertiefend z. B. bei N U S CHELE R 2004). 322 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 322 <?page no="323"?> Als Reaktion auf die Kritik der dependenztheoretischen Richtung wurde aus neoliberaler Sicht die Position des Polarization-Reversals formuliert (vgl. Kap. 1.2.2.1). Mit dieser werden zwar die Polarisierung sowie die Existenz der Konzepte von Zentrum und Peripherie übernommen. Dabei wird auch differenziert zwischen der Peripherie in den Zentren, d. h. strukturschwa‐ chen Räumen in den Industrieländern und den Zentren in der Peripherie, d. h. relativ dynamischen bzw. prosperierenden und stark mit den Indus‐ trieländern im Austausch stehenden Räumen in den Entwicklungsländern (vgl. Abb. 129). Die neoliberale Position sieht die Phase der (von der Depen‐ denztheorie als strukturell bedingt und sich daher nicht ohne Veränderung der Abhängigkeitsverhältnisse auflösende) Polarisierung zwischen Zen‐ trum und Peripherie als Übergangsstadium an. Der Phase der Polarisierung, d. h. der räumlichen Konzentration der Wachstumsimpulse im Zentrum der Peripherie folgt dieser Position zufolge eine 2. Phase der innerregionalen Dekonzentration bzw. Dezentralisierung, bevor in einer dritten und vierten Phase die Wachstumsimpulse dann auch in der „Peripherie der Peripherie“ zum Tragen kommen und sich letztendlich ein ausgeglichenes stabiles System einstellt. Dieses raum-zeitliche Entwick‐ lungsschema wurde von V O RLAU F E R (1996, S. 198) auch als Grundmuster für die Destinationsentwicklung in Entwicklungsländer angesehen. Während in der Anfangsphase des internationalen Tourismus sich dieser auf wenige Zentren konzentriert, entstehen im weiteren Verlauf dann weitere regionale Subdestinationen, bis am Ende alle touristischen Potentiale erschlossen sind. Nach der - stark von ideologischen Grundpositionen geprägten - Aus‐ einandersetzung mit dem Phänomen Tourismus in Entwicklungsländern (vgl. Box 21 „Klar negative Position zum Entwicklungsländertourismus“) hat sich - sicherlich auch vor dem Hintergrund des Endes der weltpolitischen Systemdiskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - in den letzten Jahren eine mehr pragmatische Sichtweise durchgesetzt. Diese versucht die beiden früheren Extrempositionen zu vermeiden und damit weder die Mög‐ lichkeiten der Tourismuswirtschaft als Wachstumsfaktor zu überschätzen noch den Tourismus grundsätzlich und a priori als negativ anzusehen. 323 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 323 <?page no="324"?> Abb.‐Nr.: -129 Abb.‐Titel: -Stadien-des-Polarization‐Reversal‐ Prozesses-als-für-Grundprinzip--der- Destinationsentwicklung--(Quelle: -Eigener-Entwurf-in- Anlehnung-an-RICHARDSON-1990-und-SCHÄTZL-1992) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE ADI ADI ADI ADI 1. Phase: Räumliche Konzentration 4. Phase: Sub-Intraregionale Dezentralisation 5. Phase: Stabiles urbanes Hierarchiesystem 3. Phase: Interregionale Dezentralisation 2. Phase: Intraregionale Dezentralisation Siedlungen urbanindustrielles Zentrum Hinterland Peripherie mobile Produktionsfaktoren ausländische Direktinvestitionen ADI Abb. 129: Stadien des Polarization-Reversal-Prozesses als für Grundprinzip der Destinationsentwicklung (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an R I C H A R D S O N 1990 und S C H Ä T Z L 1992) 324 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 324 <?page no="325"?> Box 21 | Klar negative Position zum Entwicklungsländertouris‐ mus Dr. Koson S RI SANG hat in seiner Funktion als Executive Secretary der Ecumenical Coalition on Third World Tourism, einer großen NGO, 1992 folgende drastische Position zum Entwicklungsländertourismus formu‐ liert. “Tourism, especially Third World tourism, as it is practised today, does not benefit the majority of people. Instead it exploits them, pollutes the environment, destroys the ecosystem, bastardises the culture, robs peo‐ ple of their traditional values and ways of life and subjugates women and children in the abject slavery of prostitution. In other words, tourism epitomises the present unjust world economic order where the few who control wealth and power dictate the terms. As such, tourism is little different from colonialism” (S RI SANG 1992, S. 3). 7.3.1 Grundsätzliche Aspekte des Entwicklungsländertourismus “Tourism is like a fire; you can use it to cook your soup, but it can also burn down your house”. Mit dieser, oftmals als asiatisches Sprichwort apostrophierten Aussage (S EIF E RT -G RANZIN & J E S UPATHAM 1999, S. 25) ist die Ambivalenz des Touris‐ mus in Entwicklungsländern prägnant auf den Punkt gebracht. Nach der Phase der Euphorie in den 1960er Jahren, der tendenziellen Ablehnung des Entwicklungsländertourismus in den 1970er und 1980er Jahren ist nach dem Scheitern der großen Ideologien und Theorien als dritte Phase seit den 1990er Jahren eine mehr und mehr pragmatische Herangehensweise fest‐ zustellen (vgl. z. B. V O R LAU F E R 1996, S. 5), mit der versucht wird, zwischen den beiden Polen zu vermitteln. In der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) wird dabei - im Sinne der Umsetzung des Nachhaltigkeitsprinzips (vgl. Kap. 5) - einerseits versucht, die Wertschöpfung aus dem Tourismus als positives regional- und volkswirtschaftlichen Element möglichst gut zu nut‐ zen und andererseits die ökologischen und sozialen negativen Effekte mög‐ lichst gering zu halten. 325 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 325 <?page no="326"?> Volumen und Bedeutung des Tourismus in Entwicklungsländern Zwar findet global gesehen der größte Teil des internationalen Tourismus in Destinationen der Industrieländer statt, und nur ein kleinerer Teil ist in Destinationen der Entwicklungs- und Schwellenländer lokalisiert (vgl. Kap. 7.1). Wenn auch vor dem Hintergrund geringer absoluter Volumina, so konnten die Entwicklungs- und Schwellenländer ihren Anteil an den inter‐ nationalen Ankünften in den letzten Jahrzehnten doch deutlich steigern. 1990 entfielen von den gut 450 Mio. internationalen Ankünften nur knapp 10 % auf diese Ländergruppe, während deren Anteil 2011 an den knapp 1 Mrd. Ankünften bereits gut 16 % betrug (vgl. A DE RHOLD et al. 2013, S. 7). In Tabelle 9 sind für ausgewählte Entwicklungs- und Schwellenländer einige Indikatoren zur wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus aufge‐ führt. Bei der Interpretation ist zu beachten, dass die auf der Basis von Un‐ terlagen des WTTC (= World Travel & Tourism Council) von der GIZ (= Ge‐ sellschaft für Internationale Zusammenarbeit) zusammengetragenen Indikatoren nur die direkten Effekte des Tourismus am BIP einbeziehen. Diese werden weltweit mit knapp 3 % angegeben. Bei Einbeziehung auch indirekter Effekte ermittelt der WTTC einen Beitrag des Tourismus am glo‐ balen BIP von 9,8 % (vgl. WTTC 2015, S. 8). Der Vergleichswert für Deutsch‐ land beträgt 2014 3,8 % für die direkten und 8,9 % für die indirekten Wert‐ schöpfungseffekte (wobei in den Hochrechnungen der Tagestourismus nur partiell berücksichtigt ist; WTTC 2015, S. 8). Der HDI (vgl. Box 20 „Was versteht man unter Entwicklungsländern? “) der meisten Länder liegt dabei über dem weltweiten Durchschnitt. Dies be‐ deutet, dass es eben gerade nicht die LLDC sind, die in nennenswertem Um‐ fang Touristen anziehen. Die infrastrukturellen Voraussetzungen in den LLDC, aber auch die Tatsache, dass diese oftmals von instabilen Verhältnis‐ sen, politischen Spannungen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen ge‐ prägt sind (sog. Failed States) bedeutet, dass ein gewisses Entwicklungsni‐ veau als Voraussetzung für die touristische Erschließung angesehen werden kann. 326 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 326 <?page no="327"?> HDI internationale Ankünfte 2012 (in 1.000) Anteil direkte Effekte am BIP 2012 davon internationaler Tourismus Anteil int. Tourismuseinnahmen am Export 2012 Türkei 0,722 35.698 4,1 47,9 13,7 Ägypten 0,662 11.196 6,9 46,2 21,7 Jordanien 0,700 4.162 5,9 88,8 31,9 Thailand 0,690 22.354 7,3 68,0 12,1 Philippinen 0,654 4.273 2,0 41,7 5,8 Sri Lanka 0,715 1.006 3,8 42,4 10,3 Malediven 0,688 958 22,4 94,4 60,3 Nepal 0,463 736 4,3 34,3 24,0 Marokko 0,591 9.375 8,7 68,4 24,4 Südafrika 0,629 9.188 3,2 42,4 10,1 Tunesien 0,712 5.950 7,3 58,3 12,8 Simbabwe 0,397 1.794 5,2 62,4 8,9 Kenia 0,519 1.750 5,0 54,4 19,1 Tansania 0,476 1.043 4,8 70,6 24,8 Namibia 0,608 1.027 3,0 49,1 8,8 Seychellen 0,806 208 24,7 91,2 40,6 Gambia 0,439 106 8,2 75,5 79,4 Mexiko 0,775 23.403 5,8 12,4 3,3 Peru 0,741 2.846 3,4 28,5 7,4 Costa Rica 0,773 2.343 4,8 61,1 15,3 Kolumbien 0,719 2.175 1,7 24,6 4,9 Guatemala 0,581 1.305 3,2 44,0 10,9 Nicaragua 0,599 1.180 4,8 44,9 11,5 Bolivien 0,675 946 2,9 39,9 4,6 327 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 327 <?page no="328"?> HDI internationale Ankünfte 2012 (in 1.000) Anteil direkte Effekte am BIP 2012 davon internationaler Tourismus Anteil int. Tourismuseinnahmen am Export 2012 Dom. Repu‐ blik 0,702 4.563 4,7 73,3 33,2 Kuba 0,780 2.688 2,7 55,7 19,0 Jamaika 0,730 1.986 8,4 76,4 48,9 Bahamas 0,794 1.419 22,0 82,3 64,3 weltweit 0,561 1.035.000 2,9 29,3 5,4 Tab. 11: Tourismus als Wirtschaftsfaktor ausgewählter Entwicklungs- und Schwellenländer (Quelle: GIZ 2014, S. 15) In vielen Entwicklungsländern liegt der Anteil der direkten Effekte des Tou‐ rismus am BIP - trotz absolut geringer Volumina - über dem globalen Durchschnitt. Dies dokumentiert, dass eben viele dieser Länder nur be‐ grenzte alternative wirtschaftliche Optionen besitzen. Abgesehen von eini‐ gen kleinen Inselstaaten (Seychellen, Malediven), in denen - einschließlich der indirekten Effekte - mehr als die Hälfte der Volkswirtschaft vom Tou‐ rismus getragen wird, machen Länder mit hohen Touristenzahlen (Türkei, Ägypten, Marokko, Tunesien, Südafrika, Mexiko) deutlich, dass der Touris‐ mus zwar eine relevante Dimension für die Volkswirtschaft einnehmen kann, aber nicht geeignet ist, als alleiniger Entwicklungsmotor zu fungieren. Darüber hinaus weisen diese Länder den Charakter von Schwellenländern auf. Im Umkehrschluss kann auch formuliert werden, dass ein gewisses Entwicklungsniveau (hinsichtlich Infrastruktur, Humankapital bzw. Bil‐ dungsniveau oder auch Hygienestandards) eine notwendige Voraussetzung für und eben nicht die Folge von touristischer Erschließung ist. Aufgrund der in Entwicklungs- und - teilweise auch - Schwellenländern niedrigen Bedeutung des Binnentourismus ist der Tourismus in diesen Län‐ dern überproportional auf den internationalen Tourismus ausgerichtet. Der hohe Anteil ausländischer Touristen und die oftmals geringe Wettbewerbs‐ fähigkeit der nationalen Industrieproduktion bedeutet, dass der Tourismus für Entwicklungsländer nicht nur eine gewisse Relevanz für das Volksein‐ kommen besitzt. Oftmals ist er - neben dem Export von Rohstoffen und Agrarprodukten - eine der zentralen Devisenquellen der Länder und er‐ 328 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 328 <?page no="329"?> möglicht damit den Import von Industriegütern bzw. einen Ausgleich der Handelsbilanz. In Deutschland mit seiner Exportstärke bei Industriegütern, aber auch anderen Dienstleistungen, belief sich der Anteil des Tourismus an der gesamten Exportleistung des Landes im Jahr 2014 demgegenüber nur auf 2,9 % (WTTC 2015, S. 8). Nachfragecharakteristika im Entwicklungsländertourismus Die Tatsache, dass ein Großteil der internationalen Touristen in Entwick‐ lungsländern aus den Industriestaaten kommt und damit interkontinentale Fernreisen unternimmt, bedeutet aber umgekehrt auch, dass es in den Quell‐ märkten insbesondere kaufkraftstärkere Gruppen sind, die sich überpro‐ portional am Entwicklungsländertourismus beteiligen. Zwar sind die Flug‐ preise - insbesondere durch die LCC innerhalb Europas, Amerikas und auch Asiens (vgl. Kap. 3.1.3) - in den letzten Jahrzehnten bezogen auf die Kauf‐ kraftentwicklung gesunken. Gleichwohl stellen die Kosten nach wie vor eine relevante Schwelle für Fernreisen dar. Bei einer Differenzierung der Reiseerfahrung mit Fernreisen in Entwick‐ lungsländer in den fünf Jahren von 2009 bis 2013 nach dem Lebensstilindi‐ kator Zugehörigkeit zu SINUS-Milieus (vgl. Kap. 1.2.2.2) ergeben sich klare Unterschiede (vgl. Abb. 130). Angehörige der relativ kaufkraftschwachen Milieus der Traditionellen und der Prekären weisen deutlich unterpropor‐ tionale Beteiligungsquoten auf. Demgegenüber werden von Angehörigen der kaufkraftstärkeren Milieus der Konservativ-Etablierten und der Bürger‐ lichen Mitte Entwicklungsländererfahrungen gemacht, die in etwa ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprechen. Dass aber nicht nur die Kaufkraft entscheidend ist für die Reiseorientie‐ rung in Entwicklungsländer, zeigt der deutlich überproportionale Anteil der Angehörigen in den Milieus der Liberal-Intellektuellen, der Performer und der Expeditiven im Vergleich zu den Konservativ-Etablierten. Dies bedeutet, dass auch subjektive Einstellungen und Werthaltungen eine Affinität zu Reisen in Entwicklungsländer mit beeinflussen. Dabei bevorzugen aus den vier sozial gehobenen Milieus Konservativ-Etablierte und Liberal-Intellek‐ tuelle Ziele im Subsaharischen Afrika, während Performer stärker auf Rei‐ seziele in Asien orientiert sind und Expeditive überproportional häufig nach Mittel- und Südamerika reisen. 329 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 329 <?page no="330"?> Abb.‐Nr.: -130 Abb.‐Titel: -Entwicklungsländer‐Reiseerfahrung-2009-- 2013--nach-SINUS‐Milieus-(Quelle: -Eigener-Entwurf- nach-A DERHOLD et-al.-2012,-S.-57-und-75) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 1 Oberschicht/ Obere Mittelschicht 2 Mittlere Mittelschicht 3 Untere Mittelschicht/ Unterschicht Soziale Lage Grund- Orientierung Traditionelle Werte Pflichterfüllung, Ordnung Modernisierung Individualisierung, Selbstverwirklichung, Genuss Neuorientierung Multi-Optionalität, Experimentierfreude, Leben in Paradoxien LEGENDE: Bezeichnung des Milieus (Anteil an der Bevölkerung in %) EL: Entwicklungsländerreiseerfahrung 2009 bis 2011 Konservativ- Etablierte (10 %) EL: 12 % Performer (7 %) EL: 18 % Hedonistische (15 %) EL: 13 % Liberal- Intellektuelle (7 %) EL: 12 % Adaptiv- Pragmatische (9 %) EL: 9 % Expeditive (7 %) EL: 11 % Prekäre (9 %) EL: 3 % Traditionelle (14 %) EL: 4 % Bürgerliche Mitte (14 %) EL: 11 % Sozialökologische (7 %) EL: 9 % Abb. 130: Entwicklungsländerreiseerfahrung 2009-2013 nach SINUS-Milieus (Quelle: eigener Entwurf nach A D E R H O L D et al. 2013, S. 57 und 75) Umgekehrt ist gerade bei diesen Bevölkerungsgruppen mit einer hohen Af‐ finität zu Reisen in Entwicklungsländern eine gewisse Offenheit gegenüber Fragen der sozialen Ungleichheit (genauer bei A DE RHOLD et. al. 2013, S. 77ff.) bzw. der Sensibilisierung für ökologische Aspekte zu vermuten. In Abbil‐ dung 131 sind die prozentualen Abweichungen vom Mittelwert der Befrag‐ ten mit Entwicklungsländerreiseerfahrung bei der Zustimmung zur Frage „Mein Urlaub soll möglichst ökologisch verträglich, ressourcenschonend und umweltfreundlich sein“ dargestellt. Insgesamt hatten bei der Reiseana‐ lyse 2012 (vgl. Kap. 2.1.2) 30 % der befragten Deutschen, die in den Jahren 2009 bis 2011 eine Fernreise (d. h. ohne Türkei und Nordafrika) in Entwick‐ lungsländer unternommen hatten (= Entwicklungsländerreiseerfahrung), angegeben, dass ihnen ökologische Aspekte wichtig seien. Von den Prekären mit Entwicklungsländerreiseerfahrung sind es nur 20 %, sodass dement‐ sprechend in Abbildung 131 eine negative Abweichung vom Mittelwert von 10 % aufgetragen ist. Eine klar unterdurchschnittliche ökologische Orien‐ tierung ergibt sich ebenfalls für das Traditionelle Milieu, aber auch für die 330 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 330 <?page no="331"?> Hedonisten. Dass wohl auch Expeditive bei der Wahl des Urlaubs von stark von hedonistischen Motiven beeinflusst werden, legt die ebenfalls unter‐ durchschnittliche ökologische Orientierung in diesem Milieu nahe. Abb.‐Nr.: -131 Abb.‐Titel: -Hohe-Bedeutung-einer- Umweltfreundlichen-Urlaubsgestaltung: -Differenz- zum-Bevölkerungsmittelwert-nach-SINUS‐Milieus- (Quelle: -Eigener-Entwurf-nach-A DERHOLD et-al.-2012,- S.-120) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE -10% -5% 0% 5% 10% Liberal-Intellektuelle Performer Expeditive Konservativ-Etablierte Adaptiv-Pragmatische Sozialökologische Bürgerliche Mitte Hedonistische Traditionelle Prekäre Abb. 131: Hohe Bedeutung einer umweltfreundlichen Urlaubsgestaltung: Differenz zum Bevölkerungsmittelwert nach SINUS-Milieus (Quelle: eigener Entwurf nach A D E R H O L D et al. 2013, S. 120) Demgegenüber sind gerade im Milieu der Performer mit dem höchsten An‐ teil von Entwicklungsländerreiseerfahrungen ökologische Orientierungen klar überproportional ausgeprägt. Damit ergeben sich - im Vergleich zum klassischen Badetourismus, bei dem ein größerer Teil der Touristen nur be‐ grenzt für ökologische Aspekte sensibilisiert ist (vgl. Kap. 5.3) -, prinzipiell etwas günstigere nachfrageseitige Voraussetzungen für Ansätze zu einer Reduzierung der negativen Effekte des Entwicklungsländertourismus. Gleichzeitig sollte - wie das Value-Action-Gap zwischen dem Bewusstsein und der Bereitschaft, auch dementsprechend zu handeln (vgl. Abb. 80 in Kap. 5.2 und Tab. 7 in Kap. 5.3) gezeigt hat - eine vorhandene Sensibilität nicht überbewertet werden. Wirkungen des Entwicklungsländertourismus Ausgehend von der kritischen Auseinandersetzung mit den Wirkungen des Tourismus seit der dependenztheoretischen Diskussion der 1970er Jahre werden diese bis heute teilweise nach wie vor kontrovers diskutiert (vgl. z. B. S TOCK 1997). Dabei wird üblicherweise - entsprechend der klassischen Triade der Nachhaltigkeit - zwischen ökonomischen, sozio-kulturellen und 331 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 331 <?page no="332"?> ökologischen Wirkungen unterschieden. Bei der Einordnung und Bewer‐ tung der unterschiedlichen Effekte werden häufig aus einer eurozentristi‐ schen Perspektive die Gegebenheiten im Entwicklungsländertourismus mit der in den Industriestaaten verglichen. Damit verglichen lassen sich sicher‐ lich manche negativen Effekte drastischer darstellen. Gleichzeitig wird oft‐ mals vernachlässigt, wie sich ein Vergleich mit anderen wirtschaftlichen Bereichen in Entwicklungsländern darstellen würde. Ökonomische Wirkungen Wie die o. s. Ausführungen zum Volumen der Nachfrage im Entwicklungs‐ ländertourismus gezeigt haben, kann dieser in Entwicklungsländern ein re‐ levanter wirtschaftlicher Faktor sein, sei es für die Generierung von Devisen, die Wertschöpfung oder die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die erhofften positiven wirtschaftlichen Effekte sind daher oftmals der Grund für eine Orientierung der politischen Akteure in Entwicklungsländern auf den in‐ ternationalen Tourismus. Umgekehrt gibt es über den Umfang der wirtschaftlichen Effekte auch intensive Diskussionen. Hinsichtlich der Deviseneffekte wird immer wieder ins Feld geführt, dass der Entwicklungsländertourismus zum erheblichen Teil in der Hand von privatwirtschaftlichen Akteuren ist, sei es als Eigen‐ tümer von Übernachtungsangeboten, Inhaber von Incoming-Agenturen oder Reiseveranstalter. Damit wird ein Teil von den Touristen getätigten Ausgaben gar nicht im Zielland wirksam, sondern verbleibt bei den Reise‐ veranstaltern und Fluggesellschaften in den Quellmärkten. Auch entstehen direkte Abflüsse, wenn in der Destination operierende Unternehmen nicht aus dieser stammen und die Gewinne dann von diesen transferiert werden. Am Beispiel des Trekking-Tourismus in Marokko haben L E S SMEI S TE R & P O P P 2004 empirisch die Wertschöpfungskette (Value Chain) nachvollzogen. Dabei wurde klar belegt, dass (bei Benutzung einer nichtnationalen Flugge‐ sellschaft) etwa 60 % des von den Touristen für die Reise bezahlten Preises in den europäischen Quellmärkten bleiben (vgl. Tab. 10). Gleichzeitig konnte in diesem, dem Tourisme Rural in Marokko zuzuordnenden Beispiel (vgl. Kap. 7.2.4) auch aufgezeigt werden, dass auch von den Anteilen, die in Ma‐ rokko wirksam werden, eben nur ein Teil dann auch in der Region verbleibt. Ein erheblicher Teil wird in diesem Fallbeispiel von den Agenturen und Transportunternehmen in Marrakesch vereinnahmt, sodass es am Ende nur knapp 10 % des Reisepreises sind, der dann auch wirklich in der Region ankommt. 332 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 332 <?page no="333"?> Kostenverteilung pro Tour (8 Pers., 7 Übern.) Endpreis für Tourist: 800 € kumulierte Werte 1280 € intern. Reiseveranstalter: 160 € 800 € 2800 € intern. Fluggesellschaft: 350 € 640 € 1200 € marokkanische Reiseagentur 150 € 290 € 320 € Kfz-Transport: 40 € 140 € 200 € Hotel in Marrakesch: 25 € 100 € 104 € Bergführer (Guide): 13 € 75 € 192 € 4 Maultiere (Muletiers): 24 € 62 € 24 € Privatpension (Gîte d’étape): 3 € 38 € 280 € Verpflegung: 35 € 35 € Tab. 12: Anteile am Gesamtreisepreis nach Akteursgruppen im marokkanischen Gebirgstourismus (Quelle: modifiziert nach L E S S M E I S T E R & P O P P 2004, S. 405) Zu ergänzen ist, dass bei diesem Rechenbeispiel einer Value Chain keine in‐ ternationalen Eigentümer der Unterkünfte unterstellt wurden und auch nicht der Anteil von Investitionskosten für Transportmittel, Unterkünfte oder der Landwirtschaft, der auf Importgüter entfällt, einbezogen worden ist. Ebenso wurde beim Konsum von (vorwiegend in der Region produzierten) Lebens‐ mitteln auch kein Anteil für z. B. importierten Alkohol angesetzt (wobei in den Gîtes in Marokko normalerweise auch kein Alkohol ausgeschenkt wird). Die Abflüsse aus den tourismusbedingten Einnahmen der Entwicklungs‐ länder werden oftmals auch als Sickerrate bezeichnet. Dabei gilt prinzipiell, dass je entwickelter eine Volkswirtschaft ist, jene umso geringer ist, da ein größerer Anteil der Vorleistungen (Industriegüter aber auch Dienstleistun‐ gen) im Land produziert werden kann. Damit ist die Sickerrate in einem Land wie der Türkei grundsätzlich niedriger als z. B. in Burkina Faso. Die Breite des im Land produzierten Spektrums hängt dabei ganz generell auch von der Größe des Landes ab. Auch in Luxemburg wird ein höherer Teil der im Land konsumierten Güter importiert als z. B. in Deutschland. In Box 22 „Das (scheinbare) Problem der Sickerraten (Leakages)“ wird von Seiten der GIZ, der staatlichen Entwicklungszusammenarbeitsorganisation der Bundesrepublik Deutschland (inzwischen) eine klare Position zu diesem Aspekt bezogen. 333 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 333 <?page no="334"?> Box 22 | Das (scheinbare) Problem der Sickerraten (Leakages) „Das Auftreten sogenannter Sickerraten gehört zu den Argumenten, die ganz oben auf der Liste stehen, wenn es in der internationalen Debatte um Kritik am Ferntourismus und die Darstellung negativer Effekte durch den Tourismus in Entwicklungsländer geht. Aber hat dieses Ar‐ gument wirklich seine Berechtigung? Zunächst ist festzuhalten: Es gibt keine allgemeingültige oder einheitliche Definition für den Begriff „Si‐ ckerraten“. Als Grundkonsens beschreiben Sickerraten den Anteil der durch den Tourismus erzielten Deviseneinnahmen, der nicht in der be‐ treffenden Tourismusdestination verbleibt - einerseits aufgrund von Ausgaben für tourismusrelevante Importe von Gütern und Dienstleis‐ tungen, andererseits aufgrund der Rückführung von Profiten, die durch ausländische Unternehmen vor Ort erwirtschaftet wurden. … Die Kritik, dass bei der Buchung bestimmter (vor allem massentouristi‐ scher) Produkte der Großteil der Reiseausgaben nicht den Tourismus‐ destinationen zukommt, ist zwar faktisch richtig, berücksichtigt aber nicht, dass dies lediglich die strukturellen Rahmenbedingungen einer globalisierten touristischen Wertschöpfungskette widerspiegelt … Wenn Reiseausgaben von Touristen nicht unmittelbar in die Touris‐ musdestinationen fließen, kann daraus nicht einfach im Umkehrschluss gefolgert werden, dass durch den Vertrieb derartiger Tourismuspro‐ dukte keine oder nur geringe ökonomische Effekte vor Ort erzielt wer‐ den. Im Gegenteil belegen zahlreiche Untersuchungen, dass gerade mas‐ sentouristisch geprägte Küstenregionen in Entwicklungsländern in hohem Maße sowohl direkt als auch indirekt von großen Hotelanlagen und Resorts profitieren, wenn der Arbeitskräftebedarf lokal gedeckt werden kann und entsprechende Produktionsmöglichkeiten für die Zu‐ lieferung (z. B. von Agrarprodukten) bestehen … Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang mit der Diskussion um Si‐ ckerraten nicht vernachlässigt werden darf, ist, dass der Tourismus selbst bei hohen Sickerraten in Form von Devisenabflüssen im Vergleich zu al‐ ternativen Einkommensquellen vor Ort dennoch größere Einkommens‐ effekte für die lokale Bevölkerung erzielen kann. … Auch [werden] … die makroökonomischen Rahmenbedingungen … selten mit in Betracht ge‐ zogen. … So liegt es beispielsweise in der Natur der Sache, dass kleine Inseldestinationen (z. B. die Malediven oder kleine Karibikinseln) im Un‐ terschied zu Festlanddestinationen grundsätzlich auf recht umfangreiche 334 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 334 <?page no="335"?> Importe angewiesen sind … Ziel sollte es immer sein, die Devisenabflüsse von Tourismusdestinationen so gering wie möglich zu halten, um ein Maximum an lokaler Wertschöpfung zu erzielen“ (GIZ 2014, S. 26). Gleichwohl ist es - entsprechend der Terminologie der Dependenztheorie - so, dass von den internationalen Touristenströmen nur ein Teil aus den In‐ dustrieländern (Zentrum) in die Entwicklungsländer (Peripherie) gerichtet sind. Diese sind überwiegend in die „Peripherie der Peripherie“, d. h. Küs‐ tenresorts und naturräumlich attraktive Gebiete in den Entwicklungslän‐ dern außerhalb der dortigen Metropolen gerichtet (vgl. Abb. 132). Die Ab‐ hängigkeitsstrukturen bedeuten, dass von den Erträgen aber ein erheblicher Teil im „Zentrum des Zentrums“ verbleibt und die „Zentren der Peripherie“ aufgrund der Brückenkopffunktion mit den dort verorteten Unternehmen und Einrichtungen (z. B. internationale Flughäfen als Einreise-Hubs) eben‐ falls ihren Anteil an sich binden. In den (oftmals ländlichen) Zielgebieten der Entwicklungsländer wird dementsprechend nur ein relativ geringer Teil der Erträge wirksam. Abb.‐Nr.: -132 Abb.‐Titel: -Modellhafte-Darstellung-der- Touristenströme-im-internationalen-Tourismus-und- der-Erträge-im-Nord‐Süd‐Tourismus- (Quelle: -Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Peripherie Zentrum Zentrum der Peripherie Zentrum des Zentrums Peripherie Int. Touristenströme Ertragsflüsse (Nord-Süd) Ertragsrückflüsse (Süd-Nord) Abb. 132: Modellhafte Darstellung der Touristenströme im internationalen Tourismus und der Erträge im Nord-Süd-Tourismus (Quelle: eigener Entwurf) 335 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 335 <?page no="336"?> Ansätze zur Reduzierung der Armut insbesondere in den marginalisierten peripheren Räumen der Entwicklungsländer (Pro-Poor-Tourism) zielen dementsprechend darauf ab, dass ein möglichst großer Anteil der touristi‐ schen Ausgaben in den regionalen Destinationen wirksam wird. Als beson‐ ders geeignet für möglichst hohe Wertschöpfungsanteile in den Zielregio‐ nen werden vor allem Angebote, die tendenziell den Grundprinzipien des Sanften Tourismus entsprechen (vgl. Kap. 5) angesehen. Dementsprechend galten kleinteilige Formen des Tourismus als zielführend für möglichst hohe wirtschaftliche Effekte in den Zielgebieten. Umgekehrt ist insbesondere das „All Inclusive“-Modell in den letzten Jah‐ ren unter dem Blickwinkel der regionalen Wertschöpfung in die Kritik gera‐ ten. Da die Urlauber bei dieser Form des Reisens die Ferienresorts nur relativ selten verlassen, sind die Verdienstmöglichkeiten für kleinere Gewerbetrei‐ bende in der Destination, die gastronomische Einrichtungen betreiben, Sou‐ venirs verkaufen oder andere touristische Dienstleistungen anbieten, gerin‐ ger als bei anderen Formen des Tourismus. Insbesondere dann, wenn in bestehenden badetouristischen Destinationen - wie dies z. B. in Tunesien oder der Türkei in der Vergangenheit der Fall war - Hotels oder Resorts vom Halbpensionsmodell auf All Inclusive (AI) umstellen, verlieren kleinere Ge‐ werbetreibende einen Teil der ökonomischen Basis und müssen oftmals ihr Geschäft schließen. Gleichzeitig wird inzwischen auch von Seiten der GIZ aber auf der Basis von eigenen Untersuchungen in der Dominikanischen Re‐ publik klar heraus gestellt, dass bei allen Nachteilen des AI-Modells und aller berechtigter Skepsis und Kritik daran, dieses nicht pauschal verurteilt werden kann, da eben doch insbesondere über die Arbeitsplatzeffekte noch eine Reihe von positiven Implikationen vorhanden sind (siehe Box 23 „All Inclusive in Entwicklungsländern“). Gleichzeitig relativiert sich die negative Sicht, wenn die Arbeitsbedingungen und Löhne in anderen Sparten in den jeweiligen Ländern mit in Betracht gezogen werden. Ganz klar zu sehen ist, dass ein nicht unerheblicher Teil der im Tourismus in Entwicklungsländern Beschäftigten nur Arbeitsverträge für die jeweilige Saison erhalten. Sofern eine Destination eine ausgeprägte Saisonalität mit klaren Schwachlastzeiten aufweist, bedeutet dies, dass die Beschäftigten dann jedes Jahr auch einige Monate formal arbeitslos sind. Bei eigenen em‐ pirischen Erhebungen des Autors in Nordafrika wurde von denjenigen Be‐ schäftigten, die damit rechnen konnten, in der nächsten Saison sicher wieder einen Arbeitsvertrag zu erhalten, ausgesagt, dass nach einer anstrengenden Saison ein quasi verlängerter, unbezahlter Urlaub für sie sogar wünschens‐ 336 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 336 <?page no="337"?> wert sei. Auch vor dem Hintergrund der in vielen Entwicklungsländern recht komplexen Familienökonomien werden solche Phasen dann genutzt, um in dieser Zeit Familienangehörige z. B. in der Landwirtschaft zu unter‐ stützen. Die Einnahmen aus der Beschäftigung im Tourismus (einschließlich der Trinkgelder) werden dabei meist als ausreichend angesehen, um die Ne‐ bensaison zu überbrücken. Auch wenn es natürlich wünschenswert wäre, dass - z. B. mit jahresbezogenen Arbeitszeitkonten - von den Hotels oder anderen touristischen Einrichtungen durchgängige und dauerhafte Arbeits‐ verträge geschlossen würden - stellt die saisonale Beschäftigung bei diffe‐ renzierter Betrachtung kein so generelles Problem dar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Gleichwohl stellen die Arbeitsbedingungen sicherlich eine große Herausforderung im Entwicklungsländertourismus dar. Box 23 | All Inclusive in Entwicklungsländern Angesichts der weit verbreiteten Kritik an All Inclusive Anlagen, ins‐ besondere in Entwicklungsländern hat die GIZ 2003 eine umfassende Untersuchung in der Dominikanischen Republik durchgeführt. Klaus L ENG E F ELD , inzwischen Leiter des Sektorvorhabens „Nachhaltige Ent‐ wicklung durch Tourismus“ bei der GIZ fasste die Befunde 2004 in einem internen Papier wie folgt zusammen: „[1] Tourismus schafft Arbeitsplätze - nicht nur für Zimmer‐ mädchen, Kellner und Prostituierte Bis auf wenige Ausnahmen im obersten Management und bei der Ani‐ mation mit Spezialkenntnissen (z. B. Tauchlehrer) werden bei den un‐ tersuchten Anlagen alle Jobs von Einheimischen eingenommen. Außer‐ dem gibt es eine sehr diversifizierte Hierarchie mit guten Aufstiegsmöglichkeiten und Einkommensperspektiven für die zunächst meist nur angelernten einfachen Mitarbeiter im Servicebereich (Zucker‐ rohrschneider verdienen nur 1 US$/ Tag; in einem zentralamerikani‐ schen Land verdienen selbst einfache All-Inclusive-Angestellte deutlich mehr als ein Grundschullehrer…) [2] Tourismus verteilt mehr Geld im Land als die meisten ande‐ ren devisenbringenden Wirtschaftszweige Wenn Sie für eine All-Inclusive-Reise 1000 US$ bezahlen, werden davon ca. 300 US$ für die Dienstleistungen im Gastland bezahlt. Selbst wenn das Hotel von einer internationalen Kette betrieben wird, die davon 100 $ 337 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 337 <?page no="338"?> als Gewinn wieder ausführt, verbleiben 200 $ oder 20 % des Endver‐ braucherpreises, die sich über Lohnsummen, sonst. Dienstleistungen, Wareneinkäufe in der lokalen Wirtschaft verteilen (90 % der Agrarpro‐ dukte wurden von dem untersuchten Resort aus nationaler Produktion in der Dominikan. Republik gekauft). Wenn Sie in Deutschland für 1000 US$ Kaffee konsumieren, gelangen ca. 140 $ ins Erzeugerland, von denen im günstigen Falle 100 US$ oder 10 % in der Kasse der Kaffeebauern klingeln. Selbst wenn sie den Erzeu‐ gerpreis durch Fair Trade um 20 oder 30 % erhöhen, sind das dann 12 oder 13 % des Endverbraucherpreises. Wenn Sie für 1000 US$ Nike-Schuhe kaufen, verbleiben davon als Lohn‐ summe bei den Arbeiterinnen in der Nähfabrik in El Salvador 10 US$ oder 1 %. [3] Tourismus fördert die Regionalentwicklung und Dezentrali‐ sierung Tourismus entwickelt sich in der Regel genau dort in „unver‐ brauchten“ Regionen, wo nicht schon andere bedeutende Wirtschafts‐ zweige die Landschaft „geprägt“ haben und die Ressourcen beanspruchen. Also dort wo Bergbau, Energiewirtschaft, Erdölindustrie oder Großplantagen sich bereits niedergelassen haben, wird der Tou‐ rismus sich nicht in nennenswertem Masse entwickeln. Damit ist der Tourismus für viele Regionen und z.T. ganze Entwicklungsländer eine der wenigen, wenn nicht gar die einzige wirtschaftliche Entwicklungs‐ möglichkeit. … [4] Tourismus ist eine der interessantesten „Pro-Poor-Growth“ Branchen und fördert die Diversifizierung der lokalen Wirt‐ schaft … 2 große jamaicanische Hotelketten oder ein touristischer Retortenort mit 18.000 Hotelzimmern in der Dominikanischen Republik [können] möglicherweise mehr und nachhaltiger zur Armutsminderung beitra‐ gen als viele Geberprogramme. … [5] Tourismus verbraucht einen kleinen Teil der Umwelt und kann damit den größeren Teil schützen helfen Wo große Ferienanlagen gebaut werden, kommt es zu massiven Ein‐ griffen in die Natur und Umwelt. Von daher ist kein Tourismus immer besser als jegliche Art von Tourismus. Das gilt aber generell für jede Form der wirtschaftlichen Tätigkeit: keine Landwirtschaft ist immer 338 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 338 <?page no="339"?> besser als noch der ausgefeilteste Öko-Landbau, denn selbst dieser bringt immer Eingriffe in die Natur und Umwelt mit sich. Von daher ist die Frage, ob Tourismus oder nicht, falsch gestellt. Sie muss heißen: Wenn ein Land sich nicht den Luxus leisten kann, gar keine signifikante devisenbringende Wirtschaftstätigkeit zu haben, muss es entscheiden, ob (Export-)Landwirtschaft, Bergbau, Erdöl/ Energiein‐ dustrie, Lohnveredelung/ Assembling für Großkonzerne, oder eben Tou‐ rismus mehr oder weniger Umwelt verbrauchen gemessen an dem, wie viele Arbeitsplätze und Einkommen sie schaffen, wieviel Armut sie da‐ mit mindern, wie viele Frauen dadurch in Arbeit und Brot kommen etc. Auf dieser Grundlage erst lässt sich ein sinnvoller Mix devisenbringen‐ der Branchen bestimmen, und dabei kommt dem Tourismus für viele Länder eine Schlüsselrolle zu. Mit solchen Fragen hat sich die Entwicklungspolitik leider bisher zu wenig und v. a. zu nicht systematisch und strategisch befasst, obwohl das eine der zentralen Fragen für nachhaltige Armutsminderung und lokale Wirtschaftsentwicklung ist“ (L ENG E F ELD 2004, S. 1ff.). Sozio-kulturelle Wirkungen Ein weiterer in der Diskussion über Entwicklungsländertourismus intensiv thematisierter Themenkomplex sind die sozio-kulturellen Überprägungen, die durch das Reisen internationaler Touristen in Destinationen mit anderen kulturellen Kontexten verursacht werden (genauer z. B. bei L ÜEM 1985). Teilweise steckt hinter dieser Diskussion auch das auf die Zeit der Ro‐ mantik und insbesondere den Philosophen Jean-Jacques Rousseau zurück‐ gehende Stereotyp der Vorstellung eines sog. „Edlen Wilden“, der ohne ver‐ derbliche Einflüsse der Zivilisation im Einklang mit der autochthonen Gesellschaft und der Natur lebt. Auch wenn diese Vorstellung inzwischen längst überholt ist, schimmert sie bei manchen Urlaubsbildern durch, bei denen sog. Ureinwohner für die Touristen posieren. Wenn es dann noch Bilder von Mitgliedern des Himba-Stammes in Namibia sind (vgl. R OTHF U SS 2004), bei dem sich die Frauen traditionellerweise mit entblößtem Oberkör‐ per bewegen, dann liegen Assoziationen zu den negativen, dunklen Seiten des Tourismus mehr als nahe. Sextourismus stellt ganz klar ein Problem dar (genauer z. B. bei O’G RADY 1997) und die - insbesondere von ECPAT - ge‐ tragenen Anstrengungen gegen Prostitution insbesondere von Kindern und Jugendlichen (vgl. Box 16 „Code of Conduct: Verhaltenskodex zum Schutz 339 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 339 <?page no="340"?> der Kinder vor sexueller Ausbeutung im Tourismus“ in Kap. 6.2) erfahren nach wie vor noch nicht die ihnen gebührende Resonanz. Aber Prostitution und sexuelle Ausbeutung sind ein generelles Problem von großen Wohl‐ standsgefällen und die Anstrengungen von ECPAT scheitern oftmals auch an der in den Destinationen herrschenden Korruption und der Beteiligung offizieller lokaler Stellen. Gleichzeitig ist es eben inzwischen so, dass es in unserer globalisierten Welt so gut wie keine sog. „unberührten „Naturvölker“ mehr gibt. Mehrere Jahrhunderte Kolonisierung haben viele traditionelle Stammesgesellschaf‐ ten stark transformiert und überprägt. Auch die internationale Arbeitsmi‐ gration und die Medien - einschließlich des Internets - stellen oftmals in den Augen der Bewohner in den Destinationen größere Einflussfaktoren dar als der Tourismus. Bei Befragungen in zwei erst in jüngerer Zeit intensiver für den interna‐ tionalen Tourismus erschlossenen Destinationen, im tunesischen Tabarka (Küstenstandort) und im marokkanischen Ouarzazate (Standort des binnen‐ orientierten Rundreise- und Naturtourismus) wurden die Einwohner nach ihrer Einschätzung der Effekte des internationalen Tourismus gefragt. Die Ergebnisse sind in Abbildung 133 differenziert nach Befragten mit Touris‐ musbezug (= persönliche ökonomische Vorteile) und ohne Tourismusbezug (= keine Tätigkeit, die vom Tourismus direkt berührt wird) dargestellt. Dabei zeigen sich kaum Unterschiede zwischen den beiden Teilstichproben. Die wirtschaftlichen Effekte und der Einfluss auf den Arbeitsmarkt wer‐ den durchgängig als positiv eingeschätzt. Es wird aber auch gesehen, dass durch die touristische Inwertsetzung von staatlicher Seite Investitionen in die infrastrukturelle Erschließung getätigt wurden, die auch der lokalen Be‐ völkerung zu Gute kommen. Die ökologischen Auswirkungen werden - trotz signifikanter Eingriffe in Tabarka (vgl. J ÄGGI & S TAU F F E R 1990) - als gering eingestuft. Teilweise wird betont, dass mit Blickwinkel auf die Tou‐ risten Abfallentsorgungssysteme aufgebaut worden sind, bzw. in Tabarka - zur Bewässerung des Golfplatzes, der in die Küstendünenvegetation hinein gebaut worden ist - die gesamte Stadt an das kommunale Abwassernetz angeschlossen worden ist. 340 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 340 <?page no="341"?> Abb.‐Nr.: -133 Abb.‐Titel: -Einschätzung von-Auswirkungen der touristischen Erschließung in-Tabarka (Tunesien)--und- Ouarzazate-(Marokko)- (Quelle: -Eigener-Entwurf-und- eigene-Berechnungen-auf-der-Basis-von-K AGERMEIER 1999,-S.-106; -N = 641) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Ja Ein wenig Nein Ja (Fast) Keiner Tourismusbezug Verbesserung des Lebensstandards Wichtige Einkommensquelle Wichtiger Arbeitsmarktfaktor Regionalökonomische Basis Verbesserung der Infrastruktur Konflikte zw. Einh. und Touristen Zunahme der Umweltzerstörung Zunahme der Prostitution Verfall von Traditionen Abb. 133: Einschätzung von Auswirkungen der touristischen Erschließung in Tabarka (Tunesien) und Ouarzazate (Marokko) (Quelle: eigene Darstellung und eigene Berechnungen auf der Basis von K A G E R M E I E R 1999, S. 106; N = 641) Bei den negativen sozio-kulturellen Auswirkungen wird zwar eine geringe Zunahme der Prostitution und auch ein partieller Verfall von Traditionen konzediert. Insbesondere in Marokko ist dabei bei den Befragten wohl ein weitgefasster Prostitutionsbegriff vorhanden, weil teilweise auch junge Frauen, die unverschleiert und im direkten Kontakt mit Touristen arbeiten, schon in die Nähe von Prostituierten gerückt werden. Beide Destinationen liegen im ländlichen Raum weitab der nationalen Metropolen und damit in noch stark von den regionalen Traditionen geprägten Gebieten. Gleichwohl wurde immer wieder betont, dass die in beiden Regionen stark ausgeprägte nationale und internationale Arbeitsmigration einen größeren Einfluss habe. Auch wurden Arbeitsplätze im Tourismus positiv gesehen, da sie die Notwendigkeit zur temporären Arbeitsmigration reduzieren. Gleichwohl übt der internationale Tourismus einen signifikanten Einfluss auf die Sozialstruktur und das Wertesystem aus. Er verstärkt „Modernisie‐ rungs“-Prozesse und Akkulturationsphänomene, insbesondere auch durch den sog. Demonstrationseffekt. Dabei treten auch Verwerfungen hinsicht‐ 341 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 341 <?page no="342"?> lich der traditionellen Sozialstrukturen auf. Oftmals sind die etablierten, konservativen Eliten der touristischen Erschließung gegenüber reserviert, da sie sich in einer relativ stabilen wirtschaftlichen und sozialen Situation befinden. Marginalisierte Bevölkerungsgruppen in prekären Lebensverhält‐ nissen sehen im Tourismus demgegenüber oftmals eine Chance auf Verbes‐ serung ihrer Situation. So sind z. B. in Südmarokko durch die touristische Entwicklung deutliche Umwälzungsprozesse zu konstatieren. Früher hatten traditionelle (religiöse) Eliten, die ihre Abstammung auf den Propheten Mo‐ hamed zurückführenden sog. Chorfa die Meinungsführerschaft in den Dör‐ fern inne und besaßen Schlüsselstellungen in der traditionellen agrarisch geprägten lokalen Ökonomie. Die ehemals oftmals landlosen sog. Haratin, als Nachkommen von in historischer Zeit aus dem subsaharischen Afrika „importierten“, zumeist schwarzen Sklaven, waren aufgrund ihrer prekären wirtschaftlichen Situation im 20. Jahrhundert bereits intensiv an der natio‐ nalen und internationalen Arbeitsmigration beteiligt. In einigen dieser Ha‐ ratin-Familien wurden die Einkommen aus der Arbeitsmigration von der nächsten Generation dann zum Aufbau von touristisch ausgerichteten Un‐ ternehmen genutzt. Damit nehmen sie inzwischen eine wichtige Rolle in der lokalen Ökonomie ein und reklamieren dementsprechend auch soziale und politische Beteiligung, während die ehemaligen Eliten tendenziell margina‐ lisiert werden. Durch den Tourismus werden definitiv teilweise traditionelle Werte zer‐ stört. Auch die Kommerzialisierung und Profanisierung des materiellen und immateriellen kulturellen Erbes ist teilweise mit gravierenden negativen Effekten verbunden. Umgekehrt kann der Tourismus auch dazu beitragen, dass die lokale Bevölkerung durch die Wertschätzung, die von den Touristen dem Kultur- und Naturerbe entgegengebracht wird, deren Wert erkennt bzw. zumindest aufgrund der damit generierbaren Einkommen die Erhal‐ tenswürdigkeit sieht. Zwar wird durch die Kommodifizierung von traditio‐ nellen materiellen und insbesondere auch immateriellen (Riten, Gebräuche, kulturelle Handlungen) Elementen des kulturellen Erbes möglicherweise nur noch die äußere Hülle erhalten. Umgekehrt sind solche Riten nicht not‐ wendigerweise ein Wert an sich. Auch in Oberbayern sind viele Traditionen inzwischen zur Folklore degeneriert und keine wirklich gelebte kulturelle Praxis mehr. Und in den Entwicklungsländern wird oftmals mit traditionel‐ len Tänzen und Gesängen für die Touristen das Bild einer heilen authenti‐ schen indigenen Kultur suggeriert, während die Protagonisten im Alltags‐ 342 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 342 <?page no="343"?> leben längst im 21. Jahrhundert angekommen sind (genauer z. B. bei A DE RHOLD et al. 2013, S. 31ff.). Umgekehrt darf der Entwicklungsländertourismus auch nicht idealisie‐ rend reduziert werden auf den sog. Kontakt zwischen den Kulturen. Die interkulturelle Begegnung findet nur sehr partiell und mit deutlich unter‐ schiedlichen Zielsetzungen bei den Beteiligten statt. In den Destinationen ist Tourismus zumeist eine Quelle von Einkommen und Gegenstand der Er‐ werbstätigkeit. Damit stehen - trotz mancher sicherlich vorhandener zwi‐ schenmenschlichen Zwischentöne in der Interaktion - die geschäftsmäßi‐ gen Handlungsmuster im Vordergrund. Auf Seiten der Touristen steht wohl - trotz des immer wieder artikulierten (möglicherweise auch teilweise be‐ wusst oder unbewusst geheuchelten) Interesses - zumeist das eigene Erleb‐ nis primär im Vordergrund. Damit ist auch nur in den seltensten Fällen ein tiefer gehendes und länger andauerndes Interesse für die Belange der lokalen autochthonen Bevölkerung und der Kultur vorhanden. Gleichwohl dürfen die durch den Kontakt zwischen relativ reichen Tou‐ risten und oftmals relativ armen Menschen in den Destinationen entste‐ henden sozialen Probleme, die sich in Frustration, Kriminalität bis hin zu Fremdenfeindlichkeit äußern, nicht bagatellisiert werden. Sie stellen defi‐ nitiv eine große und bislang nur sehr rudimentär angegangene Herausfor‐ derung einerseits für die nationalen Regierungen dar, die eben nicht nur auf die positiven ökonomischen Effekte „schielen“ dürfen, sondern sich auch den negativen Implikationen noch offensiver stellen müssen. Andererseits sind hier auch die internationalen Veranstalter noch mehr als bisher gefor‐ dert, ihren Beitrag zu einem verantwortungsbewussten Tourismus zu leis‐ ten. Die entsprechenden Rahmenbedingungen hierfür zu schaffen ist auch die Aufgabe der internationalen Politik, und letztendlich sind es sicherlich auch die Touristen selbst, die nicht ganz aus der Verantwortung entlassen werden können. Ökologische Wirkungen Wie jede andere wirtschaftliche Aktivität ist auch der Tourismus der Nut‐ zung von Ressourcen und Eingriffen in die Ökosysteme verbunden. In Ka‐ pitel 5.2 wurde bereits deutlich, dass Tourismus zwar einen klimarelevanten Faktor darstellt. Gleichzeitig wurde auch darauf hingewiesen, dass eben be‐ zogen auf Wertschöpfung und Arbeitsplatzeffekte Tourismus im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen als relativ CO 2 -effizient anzusprechen ist. 343 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 343 <?page no="344"?> Die Anwesenheit von internationalen Touristen in Entwicklungsländern führt zu den bekannten Implikationen im Bereich der Infrastrukturerstel‐ lung, der Verursachung von Abwasser und Abfall, und dem Wasser- und Energieverbrauch (vgl. auch Kap. 7.2.2). Insbesondere die Übernutzung der endlichen Ressourcen Boden und Wasser stehen oftmals im Mittelpunkt. Auch bei der Diskussion ökologischer Risiken und Schadwirkungen der touristischen Erschließung scheint die Sensibilität hinsichtlich Über- oder Fehlnutzungen von Ressourcen durch das Tourismusgewerbe höher zu sein als in anderen Bereichen. Unbestritten ist, dass mit der touristischen Erschließung ein sehr hoher Wasserverbrauch verbunden ist, und die Ressource Wasser in vielen - oft‐ mals in semi-ariden oder ariden Klimagebieten liegenden - Entwicklungs‐ ländern knapp und nur begrenzt erneuerbar ist. Bei je nach Tourismusart stark schwankenden Werten kann im Mittel von einem durchschnittlichen Wasserverbrauch von ca. 500 Liter pro Tourist und Tag ausgegangen werden (vgl. auch Kap 7.2.2). Trotz dieses auf den ersten Blick sehr hoch scheinenden absoluten Wertes des touristisch bedingten Wasserverbrauchs stellt dieser gesamtstaatlich gesehen allerdings nur eine marginale Größe dar, die sich oftmals auf wenige Prozent des Gesamtwasserverbrauchs in den entspre‐ chenden Staaten beläuft (genauer z. B. bei K AG E RMEIE R 1997, S. 381ff.). Al‐ lerdings wird auf der gesamtstaatlichen Ebene verschleiert, dass die lokalen und regionalen Auswirkungen sehr stark voneinander abweichen können. Während in manchen Destinationen aufgrund hoher Niederschläge im Hin‐ terland der Wasserverbrauch des Tourismusprojektes relativ unproblema‐ tisch erscheint, kann sich die Situation insbesondere in semi-ariden Gebieten ganz anders darstellen. Ein besonders problematisches Tourismusprojekt wurde von J ÄGGI (1994) aufgedeckt. Im Rahmen der Diversifizierung des Tourismus wollte der tunesische Staat Ende der 1980er Jahre auch den Wüs‐ tentourismus verstärkt entwickeln. Diese Entscheidung fiel zusammen mit der Tatsache, dass sich - aufgrund der politischen Probleme in Algerien - die Nachfrage nach dem Produkt „Wüste“ in dieser Zeit verstärkt nach Ma‐ rokko und Tunesien orientierte. J ÄGGI zeigt am Fallbeispiel der in der saha‐ rischen Entwicklungszone gelegenen Oase Douz in Südtunesien auf, dass dort eine erhebliche Nutzungskonkurrenz zwischen den Wasserbedürfnis‐ sen der Oasenwirtschaft und den neu erstellten Touristenhotels besteht. Die Trinkwasserentnahme hat dabei teilweise dazu geführt, dass Brunnen für Bewässerungszwecke inzwischen versiegt sind (vgl. J ÄGGI 1994, S. 128). 344 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 344 <?page no="345"?> Betrachtet man das Verhältnis zwischen touristisch und landwirtschaft‐ lich bedingtem Wasserverbrauch, relativiert sich die Problematik teilweise. Mit den ca. 18.000 m 3 Wasser, die zur Bewässerung eines Palmenhains pro Jahr benötigt werden, kann ein Hotel mit etwa 200 Hotelbetten versorgt werden. Währen von einem Hektar Palmenhain eine oder zwei Familien leben, kann ein Hotel mit 200 Betten zwischen 60 und 100 Arbeitsplätze schaffen (genauer bei K AG E RMEIE R 1997, S. 381f.). J ÄGGI weist allerdings zu Recht darauf hin, dass ein erheblicher Teil der im Tourismusbereich in Douz geschaffenen Arbeitsplätze nicht von der lo‐ kalen Bevölkerung besetzt wird (1994, S. 163), d. h. die Oasenbauern zum Teil Nachteile durch die touristische Erschließung erfahren, ohne im Gegenzug von den außeragrarischen Beschäftigungsmöglichkeiten zu profitieren. Die‐ ses Problem ist allerdings nicht der touristischen Erschließung als solcher anzulasten, sondern verweist auf die staatliche Seite, die es versäumt hat, bei der Umsetzung der Tourismusprojekte die Partizipation der lokalen Be‐ völkerung entsprechend zu gewährleisten. Ähnlich ist die Situation auch bei anderen negativen ökologischen Fol‐ gewirkungen der touristischen Erschließung, die dieser angelastet werden. Belastungen durch Abfälle und Abwässer ließen sich durch entsprechende Rahmenvorgaben und ein entsprechendes Engagement der öffentlichen Hand deutlich reduzieren. Nutzungskonkurrenzen könnten stärker regu‐ liert, oder sozial besser abgepuffert bzw. kompensiert werden. Die heute mit dem Tourismus verbundenen negativen Folgewirkungen sind damit wohl weniger ein prinzipielles Problem dieses Wirtschaftszweiges, sondern ver‐ weisen vielmehr auf Defizite bei der Planung und Umsetzung, d. h. unzu‐ reichenden Rahmenbedingungen bzw. regulierenden Eingriffen der staatli‐ chen Seite. Hinsichtlich der im letzten Viertel des 20. Jahrhundert intensiv - auch unter ideologischen Gesichtspunkten - diskutierten Folgen des dabei oft‐ mals scharf kritisierten internationalen Tourismus in Entwicklungsländern konstatiert S TRAS DAS , dass die Wirkungen dieser Auseinandersetzung ins‐ gesamt gesehen gering geblieben sind: „Die Kritik am Dritte-Welt-Tourismus blieb politisch und in der touristi‐ schen Praxis weitgehend bedeutungslos, da sie nur von kleinen Gruppen in den IL und den EL getragen wurde. Der von ihnen häufig zitierte ‚Aufstand der Bereisten‘ beschränkte sich in organisierter Form bisher auf wenige Fälle und wird vor allem von denjenigen verkörpert, die selbst nicht am Touris‐ mus beteiligt sind. Es wurde verkannt, dass die Einheimischen hier unter‐ 345 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 345 <?page no="346"?> schiedliche Interessen haben: Die im Tourismus tätigen Personen profitieren von ihm, d. h. sie haben zwar ein Interesse an einer Verbesserung ihrer Ar‐ beitssituation (z. B. in Form von gewerkschaftlicher Organisierung), nicht aber an einer grundsätzlichen Eindämmung des Tourismus. Dennoch ist die Kritik grundsätzlich berechtigt, da große Teile der lokalen Bevölkerung tat‐ sächlich nicht vom Tourismus profitieren bzw. durch ihn sogar benachteiligt werden - dies allerdings am deutlichsten in ökonomischer Weise, wohin‐ gegen die kulturellen Auswirkungen schwieriger zu beurteilen sind“ (S TRAS ‐ DAS 2001, S. 90). Gleichwohl darf dies nicht bedeuten, dass - entsprechend dem Nachhal‐ tigkeitsprinzip - die Anstrengungen zur Minimierung von negativen Folgen bei gleichzeitig breit gestreuter Partizipation an den positiven wirtschaftli‐ chen Effekten nachlassen dürften. 7.3.2 Lösungsansätze Viele der aus dem Tourismus resultierenden Probleme sind in Entwick‐ lungsländern grundsätzlich ähnlicher Natur wie in Industrieländern. Aller‐ dings stellen sie sich oftmals in sehr viel schärferer Form. Die Deutlichkeit und Klarheit der Problemlagen ist sicherlich mit ein Grund dafür, dass sich Entwicklungsländertourismus aus didaktischen Gründen gut für die Be‐ handlung der Schattenseiten des Tourismus sowohl in der Schule, aber auch in der Hochschulausbildung eignet. Die sozialen Probleme stellen sich sehr viel gravierender, da die Unter‐ schiede zwischen den Kulturen und Gesellschaften der Quellmärkte und der Destinationen größer sind als im Tourismus in den Industrieländern. Auch der große durchschnittliche Unterschied der Einkommensniveaus trägt zu einer Verschärfung von Problemdimensionen (Kriminalität, Minderwertig‐ keitsgefühle, Frustration, Aversion) bei. Die ökologischen Probleme sind oftmals deshalb besonders ausgeprägt, da es sich vielfach um fragile Öko‐ systeme mit einer hohen Vulnerabilität handelt. Verschärft werden die Pro‐ bleme auch dadurch, dass die politischen und gesellschaftlichen Gover‐ nance-Strukturen in Entwicklungsländern oftmals defizitär sind, bzw. machtorientierte Eliten prioritär ihr eigenes ökonomisches Interesse ver‐ folgen und dabei einen großen Teil der Bevölkerung marginalisieren und exkludieren. Die Deutlichkeit von aus dem Entwicklungsländertourismus resultieren‐ den sozialen und ökologischen Probleme, aber auch die soziale Ungerech‐ 346 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 346 <?page no="347"?> tigkeit der Beteiligung an den wirtschaftlichen Effekten sowie die Unfähig‐ keit der nationalen Selbstregulierung führt dazu, dass sich Politik und Gesellschaft der Quellmärkte in die Suche nach Lösungsansätzen intensiv beteiligen. Dabei sind es insbesondere die staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, die hier eine wichtige Rolle spielen bzw. spielen möchten. Aufklärung und Sensibilisierung als traditioneller Lösungsansatz Mit dem Beginn der Diskussion über die negativen Wirkungen des Ent‐ wicklungsländertourismus setzte auch die Suche nach Ansätzen zu einer Reduzierung der negativen Auswirkungen ein. Die aus der bildungsbürgerlichen Tourismuskritik der 1970er Jahre (vgl. Kap. 5) resultierende Auseinandersetzung mit den negativen Folgen des Entwicklungsländertourismus setzte zunächst - dem aufklärerischen Im‐ petus folgend - auf eine Sensibilisierung der Touristen. Entsprechend dem damals herrschenden Optimismus durch Information und Schaffung von Awareness das Handeln beeinflussen zu können, wurde der Tourist in den Mittelpunkt gestellt. Exemplarisch für diesen Ansatz steht der (Starnberger) Studienkreis für Tourismus und Entwicklung (www.studienkreis.org), der sich seit Jahrzehn‐ ten mit entwicklungsbezogener Informations- und Bildungsarbeit im Tou‐ rismus beschäftigt. Eine wichtige Rolle nehmen dabei die seit 1974 heraus‐ gegebenen sog. „Sympathie Magazine“ ein (www.sympathiemagazine.de). Mit diesen sollen die Endkunden für die sozio-kulturellen Gegebenheiten in ihren Urlaubszielen sensibilisiert und zu einem verantwortungsbewussten und respektvollen Umgang mit der Bevölkerung in den Destinationen mo‐ tiviert werden (vgl. H ARTMANN 1974). Das Engagement des Studienkreises soll nicht geschmälert werden und ist durchaus anzuerkennen. Auch gibt es die SympathieMagazine nach wie vor, und diese werden auch von manchen Studienreiseveranstaltern an ihre Kunden weitergegeben werden. Aller‐ dings ist zu konstatieren, dass der aufklärerische Ansatz letztendlich keine großen Effekte gezeitigt hat. Die prioritären hedonistischen Motive der Rei‐ senden stellen - ähnlich wie auch im gesamten Bereich des nachhaltigen Tourismus (vgl. Kap. 5.3) - wirksame Gegenkräfte dar, die einem verant‐ wortungsbewussteren Handeln entgegenstehen. Damit muss letztendlich der rein aufklärerische Ansatz als gescheitert angesehen werden. 347 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 347 <?page no="348"?> CBT als Hoffnungsträger Die asymmetrischen Machtverhältnisse im Entwicklungsländertourismus sowohl zwischen den Akteuren in den Industrie- und Entwicklungsländern als auch innerhalb denjenigen in den Entwicklungsländern führen dazu, dass die regionale Bevölkerung in suboptimaler Weise von den positiven wirt‐ schaftlichen Effekten profitiert. In den 1990er Jahren wurden deshalb von staatlichen, halbstaatlichen und privaten Organisationen Ansätze entwi‐ ckelt, die darauf abzielen, dass nicht nur die Wertschöpfung, sondern ein möglichst großer Teil der Angebote entlang der touristischen Leistungskette in den Destinationen selbstverantwortlich generiert wird. Eine zentrale Rolle spielte dabei die lokale Gemeinschaft (Community) als gemeinschaft‐ licher Träger der Tourismusprojekte. Entsprechend dem Fokus auf die lokale Gemeinschaft wird diese Form als „Community Based Tourism“ (CBT) be‐ zeichnet. Grundidee ist, dass die touristischen Angebote gemeinschaftlich von den lokalen Communities geschaffen werden. Die Erträge aus dem Betrieb von (einfachen) Übernachtungsangeboten sollen dann im Gegenzug (neben ei‐ ner Entlohnung der in den Projekten auch direkt tätigen Gemeinschafts‐ mitgliedern) in Projekte der Community fließen und damit allen Mitgliedern zugute kommen. Dabei waren z. B. Projekte der Trinkwasserversorgung oder Schulen bevorzugte Ansatzpunkte für die Verwendung der Erträge. Die Förderung von CBT als klassischer Bottom-Up-Ansatz fokussierte vor allem darauf, die Eigeninitiative zu stimulieren (genauer bei: P ALM 2000, S. 16 ff.). Spätestens seit der Jahrtausendwende macht sich aber eine gewisse Er‐ nüchterung bezüglich der Erfolge von CBT-Projekten breit. Am Beispiel von Namibia hat P ALM 2000 im Auftrag der damaligen GTZ (= Gesellschaft für technische Zusammenarbeit; 2011 in die heutige GIZ integriert) versucht, eine Bilanz der dortigen Ansätze zu ziehen. Aufgrund der historischen Be‐ züge zwischen Deutschland und Namibia waren dort zur Initiierung von CBT-Projekten in den 1990er Jahren auch einige politische Stiftungen tätig gewesen. Dabei wurde deutlich, dass die in die CBT-Projekte gesetzten Erwartun‐ gen bei weitem nicht erfüllt worden sind. Abgesehen von Problemen (Kor‐ ruption, Nepotismus und Inkompetenz) bei der nationalen Dachorganisa‐ tion NACOBTA (= Namibia Community Based Tourism Association) stellte sich heraus, dass viele Projekte nach dem Rückzug der internationalen Or‐ ganisationen entweder eingestellt oder in ihrem Charakter deutlich verän‐ dert wurden. Grundproblem vieler CBT-Projekte ist, dass das Engagement 348 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 348 <?page no="349"?> und die Verantwortlichkeit der einzelnen in den Projekten Tätigen nicht den Erwartungen entsprachen. Nach eigenen Vor-Ort-Erfahrungen des Autors sind diejenigen Projekte mittelfristig aus betriebswirtschaftlicher Sicht ren‐ tabel und prosperierend, bei denen einer der zentralen Akteure einer Dorf‐ gemeinschaft (teilweise aber auch Externe) die Projektstruktur quasi usur‐ piert haben. Zwar profitieren diese quasi illegitimen Pseudo-Eigentümer dann überproportional von den Erträgen, gleichzeitig stellen sie aber zen‐ trale „Kümmerer“ mit einem vitalen Interesse an der betriebswirtschaftli‐ chen Prosperität dar. Dabei wird der ursprüngliche Ansatz einer Nutzung der Erträge für Gemeinschaftsprojekte manchmal noch als Deckmäntelchen formal aufrechterhalten. Auch im Fallbeispiel North Rift Valley (vgl. Kap. 7.3.4) sind Akteure tätig, die in der Außendarstellung den Anspruch erheben, Community based zu agieren. In manchen Fällen wird damit aber nur - in der Hoffnung auf ein Anziehen von Besuchern - der Erwartungs‐ haltung europäischer Touristen entsprochen, ohne dass ein gemeinschaft‐ licher Ansatz wirklich existiert. Als weiterer Schwachpunkt der CBT-Projekte hat sich aber auch eine in‐ suffiziente Berücksichtigung der Bedürfnisse der Nachfrager herauskristal‐ lisiert. Angesichts der ungenügenden Kenntnisse des Nachfragemarktes werden - vor dem Hintergrund der eigenen Lebensverhältnisse - oftmals Angebote geschaffen, die eben nicht marktfähig sind. In Kap. 7.3.4 wird am Beispiel von Kenia noch vertiefend ausgeführt, dass eine erfolgreiche Posi‐ tionierung auf dem Markt auch am Marktzugang und der fehlenden bzw. unwirksamen Marktkommunikation liegt. Letztendlich muss damit wohl auch der CBT-Ansatz als von einer gewissen Sozialromantik getragener Versuch bewertet werden, der letztendlich keine flächendeckende Lösung für den Entwicklungsländertourismus darstellt, auch wenn sich vereinzelt Projekte entgegen dem Trend gehalten haben und mit einem gewissen Er‐ folg auf dem Markt operieren. Der Beitrag der Entwicklungszusammenarbeit Die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) zwischen staatlichen und halbstaat‐ lichen Organisationen der (zumeist) Industrieländer und den Entwicklungs‐ ländern war in der modernisierungstheoretisch geprägten Phase von der Orientierung auf Großprojekte der staatlichen Infrastruktur gekennzeich‐ net. Der Bau des Assuan-Staudamms in Ägypten ist wohl das bekannteste Beispiel aus dieser Zeit. Er steht stellvertretend für den Versuch, durch die Schaffung von Infrastruktur die Entwicklung zu forcieren. Bewässerungs‐ 349 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 349 <?page no="350"?> großprojekte oder die Ansiedlung von Industrien zur Verarbeitung der Roh‐ stoffe sollten eine nachholende Industrialisierung nach dem Vorbild der In‐ dustriestaaten ermöglichen. Der Tourismus spielte dementsprechend lange Zeit nur eine marginale Rolle in der EZ. Es wurde angenommen, dass die Erschließung für den Tou‐ rismus im Wesentlichen von privaten Investitionen - insbesondere auslän‐ dischen Direktinvestitionen - getragen würde. Das Scheitern der großen entwicklungspolitischen Utopien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat seit etwa 1990 auch in der EZ mehr und mehr den Tourismus als Hoff‐ nungsträger in den Vordergrund rücken lassen. Dabei lag der Fokus zunächst auf den kleinteiligen CBT-Projekten. Spätestens seit der Jahrtausendwende wird erkennbar, dass die Rolle des Tourismus insbesondere auch für die Re‐ gionalentwicklung in peripheren Regionen mehr und mehr wahrgenommen wird. Die im Auftrag der GTZ erstellte Studie von S TECK , S TRAS DAS & G U S TEDT (1999) markiert bis zu einem gewissen Grad diese Wendung, einerseits Rich‐ tung Tourismus und andererseits in Richtung auf eine pragmatischere Her‐ angehensweise und auf kleinteilige Projekte. Bemerkenswert ist dabei - und eben ein Hinweis, dass nicht mehr so sehr das Wunschdenken im Vorder‐ grund steht, sondern die Rolle der Marktrahmenbedingungen anerkannt wird -, dass von den Autoren als Voraussetzung für ein weiteres Engage‐ ment im Rahmen eines EZ-Projektes zunächst die prinzipielle Marktfähig‐ keit des Angebotes einer möglichen Destination im Rahmen eines sog. Rapid Appraisal überprüft wird (S TECK , S TRAS DAS & G U S TEDT 1999, S. 41ff.). Gleichzeitig wird in der Studie auch explizit gemacht, dass sich in poten‐ tiellen Destinationen unterschiedliche - oftmals divergierende - Interessen begegnen. In Abbildung 134 sind exemplarisch die Positionen der wichtigs‐ ten Akteursgruppen am Beispiel eines Großschutzgebietes veranschaulicht. Damit wird in der EZ anerkannt, dass eine der zentralen Herausforderungen - wie auch im Destinationsmanagement in den Industrieländern (vgl. Kap. 4.3) - darin liegt, zwischen den beteiligten Akteuren zu vermitteln und zu moderieren. Eine Vielzahl von Beispielen für diesen Approach finden sich z. B. in GIZ (2014, S. 69ff.). Bei der Sichtung dieser Beispiele wird aber auch deutlich, dass im Rahmen der EZ zwar eine Vielzahl von konkreten Projek‐ ten und Maßnahmen gefördert und begleitet werden. Gleichzeitig konzen‐ triert sich die Tätigkeit auf die Produktpolitik des klassischen Marketingmix (vgl. Kap. 3.2.1). Die Marktkommunikation wird dabei aber oftmals nicht in angemessener Weise berücksichtigt. 350 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 350 <?page no="351"?> Abb.‐Nr.: -134 Abb.‐Titel: -Akteure-und-Interessen-im- Entwickungsländertourismus am-Beispiel-eines- Großschutzgebietes-(Quelle: -Eigene-Darstellung-nach- S TECK ,-S TRASDAS &-G USTEDT 1999,-S. 65) Buchtitel: Tourismusgeographie 2 Aufl 2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Tourismus im Schutzgebiet Anrainerbevölkerung Ausgleich für die eingeschränkte Waldnutzung; bessere Bezahlung für die Arbeit im Park; neue Verdienstmöglichkeiten für Frau und Männer; bessere Schulbildung und Berufsausbildung Naturschutz-NGO Naturschutzziele im Park u.U. gefährdet; braucht Finanzmittel für Grundlagenstudien, Öffentlichkeitsarbeit; Umweltbildung, etc. Internationale Reiseveranstalter Interessantes Ziel für anspruchsvolle Kunden; gute und gleichbleibende Qualitätsstandards bei Service und Einrichtungen Lokale Reiseveranstalter Verbesserte Infrastruktur im Park, damit er für unsere Kunden attraktiver wird; weniger Eintrittsgebühren Parkverwaltung Mehr Einnahmen für Personal und für die Unterhaltungsarbeiten, Fahrzeuge usw. Lokale Gemeindeverwaltung Verbesserungen im Straßenausbau; Trinkwasserversorgung für alle Bewohner; erhöhte Steuereinnahmen Abb. 134: Akteure und Interessen im Entwickungsländertourismus am Beispiel eines Großschutzgebietes (Quelle: eigene Darstellung nach S T E C K , S T R A S D A S & G U S T E D T 1999, S. 65) Implizit steht hinter dieser Position nach wie vor der Gedanke, dass die Ver‐ marktung von touristischen Produkten über die (oftmals internationalen) Reiseveranstalter erfolgen würde. Da es sich in vielen Fällen um Nischen‐ segmente handelt, sind es - wenn überhaupt - kleinere Spezialreiseveran‐ stalter, die als Mittler für eine Vermarktung in Frage kommen. Gerade vor dem Hintergrund der durch das Internet möglichen direkten Ansprache von potentiellen Besuchern im Long Tail (vgl. Kap. 3.4.2) bestehen aber auch Möglichkeiten, die Value Chain deutlich zu verkürzen und größere Anteile der Umsätze auch in der Region wirksam werden zu lassen (vgl. z. B. P O P P & E L F AS S KAOUI 2013). Gleichwohl muss es als Verdienst der deutschen Entwicklungszusam‐ menarbeit gelten, dass mit der Zielsetzung der Armutsreduzierung (Pro-Poor-Tourism) eine Vielzahl von Projekten initiiert worden ist, bei de‐ nen die EZ-Vertreter zwischen den unterschiedlichen Interessen vor Ort zu vermitteln versuchen und die Interessen von wenig artikulationskräftigen Gruppen mit in den offiziellen Diskurs einbringen. Neben dem Gover‐ nance-Aspekt wird dabei sicherlich auch die Kompromissfähigkeit im Sinne 351 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 351 <?page no="352"?> der Nachhaltigkeit (vgl. Kap. 5.1) mit befördert sowie insbesondere auch der Einsatz erneuerbarer Energie stimuliert. CSR als Lösung? Nachdem die erhofften „großen Lösungen“ im Entwicklungsländertouris‐ mus bislang die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt haben und die offizielle EZ sich inzwischen stark in kleinteiligen Projekten engagiert, wird in den letzten Jahren vermehrt die sog. Corporate Social Responsibility (CSR) als möglicher Ansatz diskutiert, die Dilemmata des Entwicklungslän‐ dertourismus wenn schon nicht aufzulösen, dann zumindest abzumildern. Der Nachhaltigkeitsansatz siedelt im Kern einen großen Teil der Steuer‐ ungsverantwortung letztendlich auf der staatlichen Seite an. Es ist deren Aufgabe, durch entsprechende gesetzliche Vorgaben und die Schaffung von Rahmenbedingungen den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen sowie die Kontamination der Umweltmedien auf ein (wie auch immer operatio‐ nalisiertes) akzeptables Niveau zu reduzieren bzw. durch entsprechende So‐ zialgesetzgebung die Beteiligung breiter Bevölkerungsgruppen an der wirt‐ schaftlichen Prosperität sicherzustellen. Demgegenüber setzt der CSR-Ansatz bei der gesellschaftlichen Verant‐ wortung der Unternehmen an. Ein wichtiges Prinzip ist damit die Freiwil‐ ligkeit eines über das Renditeinteresse hinausgehenden sozialen Engage‐ ments. Letztendlich liegen die Wurzeln des CSR in den philanthropischen Bewegungen früherer Jahrhunderte, gehen aber deutlich über diese hinaus. Zwar wird die unternehmerische Verantwortung von der WTTC (= World Travel & Tourism Council) als globaler Interessensvertretung der Touris‐ muswirtschaft anerkannt (WTTC 2002, S. 2). Gleichzeitig erfolgen die kon‐ kret erkennbaren Engagements in diese Richtung nicht systematisch und auf breiter Linie. Noch sind es nur einzelne Unternehmen, die sich intensiver zu CSR-Ansätzen bekennen und diese auch relativ stringent und konsequent umsetzen, wie z. B. die Hotelkette Accor (2014; vgl. Kap. 3.1.2; www.accor‐ hotels-group.com) oder der Schweizer Reiseveranstalter Kuoni (www. kuoni.com). CSR wird von der Europäischen Kommission wie folgt begrifflich gefasst: “Most definitions of corporate social responsibility describe it as a concept whereby companies integrate social and environmental concerns in their business operations and in their interaction with their stakeholders on a voluntary basis” (Commission of the European Communities 2001, S. 6). 352 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 352 <?page no="353"?> Damit wird auch von dieser Seite die Freiwilligkeit bei der Berücksichti‐ gung sozialer und ökologischer Belange im unternehmerischen Handeln betont. Für Reiseveranstalter bedeutet das Anerkennen der CSR, dass ihre Ver‐ antwortung sich insbesondere auch im internationalen Tourismus über die von ihnen eingekauften Bausteine anderer Leistungsträger inkludiert, die in Reiseangebote aufgenommen werden. Der Zusammenschluss von ca. 150 kleineren Reiseunternehmen, die sich explizit zur Verpflichtung gegenüber dem Nachhaltigkeitsparadigma be‐ kennen, das sog. „forum anders reisen“ hat gemeinsam mit KATE (= Kon‐ taktstelle für Umwelt und Entwicklung Stuttgart) und EED (= Evangelischer Entwicklungsdienst) Kriterien zur CSR-Berichterstattung im Tourismus ent‐ wickelt. Eine der zentralen Herausforderungen stellt dabei - neben den un‐ ternehmensinternen Aspekten - insbesondere die Einbeziehung der touris‐ tischen Leistungsträger in den Entwicklungsländern dar. 2006 wurde allerdings von KATE konstatiert, dass den Worten nur be‐ grenzt entsprechende Taten gefolgt sind: „Als Ergebnis zeigt sich erheblicher Entwicklungs- und Verbesserungs‐ bedarf: Die in den letzten Jahren entstandenen internationalen Verhaltens‐ kodizes, Sozialstandards und CSR-Leitbilder werden im betrieblichen Alltag der Tourismuswirtschaft noch kaum umgesetzt. So wurden zwar in einer international besetzten Arbeitsgruppe mit Tourismusunternehmen in Zu‐ sammenarbeit mit der TourOperator Initiative (TOI) und der Global Repor‐ ting Initiative (GRI) spezielle Berichtsstandards für Nachhaltigkeitsberichte in der Tourismuswirtschaft vereinbart, in der Unternehmensrealität aber nirgendwo - auch nicht in den in der Arbeitsgruppe beteiligten Tourismus‐ unternehmen - eingesetzt (KATE 2006, S. 3). Dementsprechend wurde die CSR-Zertifizierung von der Mehrheit der Mitglieder des ‚forum anders reisen‘ als Pflicht beschlossen. Diese wird von TOURCERT (2010), einer gemeinsam von KATE und dem EED getragenen neutralen Zertifizierungseinrichtung, durchgeführt. Die Einstufung der Partnerbetriebe in den Entwicklungsländern basiert dabei auf von den Rei‐ seleitern qualitativ nach dem Augenschein auszufüllende Checklisten sowie allgemeine Selbstauskünfte der touristischen Leistungsträger (KATE 2007, S. 23f.). Auch wenn damit von den Mitgliedern von ‚forum anders reisen‘ eine gewisse Orientierung auf CSR auch in den Entwicklungsländern ankommt, reicht dieser kleine Tropfen wohl auch mittelfristig nicht, um auf freiwilliger 353 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 353 <?page no="354"?> Basis substantielle Veränderungen herbeizuführen. Die Verantwortung bei den Reiseveranstaltern ist sicherlich ein wichtiges Moment, um sozial und ökologisch verantwortliches Reisen zu fördern. Gleichwohl liegt es sicher‐ lich auch mit in der Verantwortung der politischen Akteure in den Quell‐ märkten, hier auf die Entwicklungsländer einzuwirken, dass soziale und ökologische Standards umgesetzt werden: „In countries where such regula‐ tions do not exist, efforts should focus on putting the proper regulatory or legislative framework in place in order to define a level playing field on the basis of which socially responsible practices can be developed“ (Commission of the European Communities 2001, S. 7). 7.3.3 Governance und Performance am Beispiel Kenia In dem als exemplarisches Beispiel für ein Entwicklungsland behandelten Kenia ist das touristische Angebot einerseits von reifen Destinationen und andererseits von Gebieten mit embryonalen touristischen Ansätzen geprägt. Im Zuge der nationalen Entwicklungsstrategie „Vision 2030“ sollen letztere zu eigenständigen Subdestinationen entwickelt werden. Im Mittelpunkt die‐ ses Kapitels steht die Analyse des Gaps zwischen einer relativ unspezifischen und insbesondere nur sehr partiell die regionalen Differenzierungen einbe‐ ziehenden staatlichen Steuerung der touristischen Entwicklung sowie dem unkoordinierten und stark von Partikularansätzen geprägten Handeln der Leistungsträger in den Destinationen. Dabei werden die Notwendigkeiten zu stärker destinationsspezifischen Steuerungsansätzen - insbesondere die Etablierung bzw. funktionale Stärkung von DMOs - zur Stimulierung, In‐ itiierung und Begleitung kooperativer Positionierungsstrategien herausge‐ stellt. Auf der Basis von ersten Initiativen relativer Good-Practise-Beispiele, die - vom Bottom-Up-Gedanken geprägt - bislang nur begrenzt Resonanz auf der nationalen Ebene gefunden haben, wird ein dem Gegenstromprinzip verpflichteter Ansatz zur nationalen Tourismuspolitik entwickelt. Kurzcharakteristik der Destination Kenia Kenia zählt - auch aufgrund der relativ stabilen politischen Verhältnisse - seit der Unabhängigkeit 1963 zu einem der Länder Afrikas, das eine intensive touristische Inwertsetzung erfahren hat. Anknüpfend an Ansätze aus der britischen Kolonialzeit wurden dabei im Wesentlichen zwei Teilregionen des Landes mit zwei Produktlinien entwickelt (vgl. Abb. 135). 354 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 354 <?page no="355"?> 1. Die Küstenregion um Mombasa mit dem klassischen Sun&Beach-Seg‐ 1. ment am Indischen Ozean und den Vorteilen einer Ganzjahresbade‐ destination. 2. Der Safaritourismus in den Nationalparks und Schutzgebieten mit 2. klassischer Savannentierwelt (Tsavo, Massai Mara und Amboseli; teil‐ weise auch grenzüberschreitend mit Tansania am Kilimandscharo und der Serengeti). Abb.‐Nr.: -135 Abb.‐Titel: -Zentrale-touristische-Anziehungspunkte- und-Lage-des-North-Rift-Valleys-in-Kenia--(Quelle: - Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Mombasa Nairobi Kisumu Nakuru TSAVO AMBOSELI MAASAI MARA Lake Turkana Lake Victoria Eldoret 0 100 200 300 km Somalia Äthiopien Sudan Uganda Tansania Lake Bogoria Lake Baringo North Rift Valley Indischer Ozean Äquator Mogotio Marigat Serengeti Kilimandscharo Mount Kenya Iten Kabarnet Abb. 135: Zentrale touristische Anziehungspunkte und Lage des North Rift Valleys in Kenia (Quelle: eigener Entwurf) 355 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 355 <?page no="356"?> Auf die Küste konzentriert sich auch heute noch etwa die Hälfte der etwa 6 Mio. Übernachtungen in Kenia. Zusammen mit einem weiteren Viertel der Übernachtungen in der Hauptstadtregion Nairobi und etwa 10 bis 15 % im (in den Tourismusstatistiken nicht ganz klar abzugrenzenden) Hauptgebiet des - von den sog. Big Five (Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard) geprägten - Safaritourismus. Die Ankunftszahlen haben sich in den drei Jahrzehnten nach der Unab‐ hängigkeit von einer Ausgangsbasis von etwa 100.000 im Jahr etwa ver‐ zehnfacht. Nach einem ersten Anstieg bis Anfang der 1970er Jahre und ei‐ nem daran anschließenden etwas konstanten Plateau hat in den 1980er Jahren - insbesondere aufgrund der sinkenden Flugpreise und des mengen‐ mäßigen Ausbaus der Kapazitäten für den Badetourismus in den Küstenab‐ schnitten nördlich und südlich der Stadt Mombasa ein erneuter Wachs‐ tumsschub eingesetzt. Im Anschluss an eine Plafondierungsphase Ende der 1990er Jahre konnte nach der Jahrtausendwende durch eine Orientierung auf etwas hochpreisigere und qualitätsorientierte Angebote in den etablier‐ teren Produktlinien ein erneuter Aufschwung erzielt werden (vgl. Abb. 136). Typische Angebotsbeispiele dieser qualitativ hochwertigeren Phase sind z. B. bei den Lodges für den Safaritourismus das Basecamp in der Maasai Mara (in dem auch der US-amerikanische Präsident mit kenianischen Wur‐ zeln, Barak Obama schon zu Gast war (basecampexplorer.com/ kenya) oder in den Küstenresorts die Severin Sea Lodge des deutschen mittelständischen Elektrounternehmens (www.severinsealodge.com). Als typisch für ein Ent‐ wicklungsland kann dabei angesehen werden, dass die Entwicklung insbe‐ sondere im oberen Preis- und Qualitätsniveau stark von internationalen In‐ vestoren und Betreibern geprägt ist. Auch die Adressierung des indischen Marktes hat dem kenianischen Tourismus in dieser Phase zusätzliche Im‐ pulse verliehen. Am Beispiel von Kenia kann aber auch die Rolle von internen und exter‐ nen Einflüssen politischer Krisen exemplarisch veranschaulicht werden. Nach Präsidentschaftswahlen - die in Kenia auch von tribalen Aspekten mitgeprägt sind - kam es an der Jahreswende 2007/ 2008 zu den sog. „Post Election Violences“, bei denen zwischen unterschiedlichen Stämmen ge‐ walttätige, bürgerkriegsartige Unruhen, auch mit größeren Vertreibungen von Stammesangehörigen in gemischt besiedelten Gebieten, kam. In der Folge sind die Touristenzahlen - auch aufgrund der Medienberichterstat‐ tung - deutlich zurückgegangen, auch wenn in den Touristenhauptgebieten nur begrenzt Auswirkungen der Unruhen zu verspüren waren. Ähnlich war 356 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 356 <?page no="357"?> die Situation nach 2012. Auch wenn in der Region Mombasa oder den Schwerpunkten des Safaritourismus im Süden des Landes kaum konkrete Gefahren bestehen, verursachten Medienberichte über Anschläge der isla‐ mistischen Al Shabaab-Milizen, die aus dem benachbarten Somalia in den Nordosten Kenias eindringen und dort mehrere Anschläge verübt haben, einen deutlichen Rückgang der Touristenzahlen, die sich nur langsam wie‐ der erholen. Abb.‐Nr.: -136 Abb.‐Titel: -Entwicklung-der-Touristenankünfte-in- Kenia-1963 bis-2018 (Quelle: -Eigener-Entwurf-nach- Daten-UNWTO-div.-Jg.) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 200 400 600 800 1.000 1.200 1.400 1.600 1.800 2.000 in 1.000 Abb. 136: Entwicklung der Touristenankünfte in Kenia 1963 bis 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten UNWTO div. Jg.) Die nationale Politik des Tourismusministeriums und die nationale Ver‐ marktungsstrategie des Kenya Tourism Board (KTB) sind dabei von starken Persistenzmomenten und einer Ausrichtung auf die bisherigen traditionel‐ len Produktlinien und Cash-Cow-Destinationen (Mombasa Coast, Amboseli National Parc, nördliche Serengeti) geprägt. Gleichzeitig ist absehbar, dass diese eben auch in eine Reifephase gelangt sind und - nach dem erfolgrei‐ chen Upgrade des Standards - an ihre Grenzen stoßen. Dabei stellt der Tou‐ rismus nach der Landwirtschaft und dem Blumenanbau mit knapp 14 % An‐ teil am BIP und 12 % der im formellen Sektor Beschäftigten (Government of Kenya 2013, S. 11) den drittgrößten Wirtschaftssektor in Kenia dar. 357 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 357 <?page no="358"?> Dementsprechend setzt Kenia - wie viele Länder und Regionen mit man‐ gelnden anderen wirtschaftlichen Ressourcen - in starkem Maß auf das Wachstum des touristischen Segments. Im Rahmen der sog. Vision 2030 wird eine klare touristische Ausbaupolitik angekündigt. Zu den deklarierten Flaggschiffprojekten zählt - neben der Entwicklung von sog. Resort Cities (Schwerpunkt im Norden des Landes) - die sog. „Underutilised Parks In‐ itiative“, mit der bislang kaum frequentierte Schutzgebiete gefördert werden sollen. Dabei ist die Entwicklung von Nischenprodukten in den Bereichen Kultur, Eco-Sport und Wasser angestrebt (Government of Kenya 2007, S. X). Abgesehen davon, dass sicherlich auch die Entwicklung von Resort-Stand‐ orten diskutierbar ist, soll im Folgenden insbesondere auf die Entwicklung von Nischenprodukten abseits der beiden aktuellen Haupttourismusregio‐ nen abgestellt werden. Auch wenn in der Vision 2030 keine klaren quantifizierbaren Ziele für 2030 angegeben werden, soll Kenia in die Top 10 der Langstreckendestina‐ tionen aufsteigen. Damit möchte es größenordnungsmäßig etwa 10 Mio. Touristen anziehen. In der Tourismusstrategie 2013-2018 wird als Ziel für 2022 bereits eine Steigerung des Beitrags am BIP durch Einkünfte aus dem Tourismus um 50 % angegeben. Auch für Kenia kann die Schaffung neuer Arbeitsplätze und von Einkommen für die kenianische Bevölkerung als hin‐ ter der Zielsetzung stehendes zentrales Motiv identifiziert werden. Damit ist sicherlich ein erheblicher Teil der proklamierten Ziele als „Wishful Thin‐ king“ zu bezeichnen, das nur begrenzt auf die realen Potentiale und Gege‐ benheiten im Land Bezug nimmt. So finden sich in der aktuellen Touris‐ musstrategie (Government of Kenya 2013) auch keinerlei genauere Angaben, wie denn konkret die in den nächsten 15 Jahren angestrebte Ver‐ fünffachung der Touristenzahlen erreicht werden soll. Da die Safarigebiete teilweise - insbesondere in der Maasai Mara - an bzw. wohl schon leicht über der Tragfähigkeitsgrenze sind und auch die geeigneten Küstenab‐ schnitte am Indischen Ozean schon zu einem erheblichen Teil erschlossen sind, ist eine Erschließung neuer regionaler Subdestinationen - ähnlich wie in Zypern oder Marokko (vgl. Kap. 7.2.3 und 7.2.4) - eine Möglichkeit, die Kapazität zu erhöhen. Hingewiesen sei an dieser Stelle, dass die starke Fokussierung auf Tou‐ ristenzahlen in der Diskussion zu kurz greift. Letztendlich relevant sind die Wertschöpfung und der Arbeitsplatzeffekt. Und diese können eben im Qua‐ litätstourismus pro Touristen deutlich höher liegen als im preiswerten Pau‐ 358 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 358 <?page no="359"?> schaltourismus. So ist der Deviseneffekt in Marokko (mit seinem Schwer‐ punkt im mittleren und gehobenen kulturorientierten Städte- und Rundreisetourismus sowie den kleinteiligen Formen des naturorientierten Tou‐ rismus) und Tunesien (mit einem klaren Schwerpunkt im fordistischen preisorientierten Pauschal-Badeurlaub) etwa gleich hoch. Tunesien muss aber etwa doppelt so viele Touristen anziehen, um die gleichen Devisenef‐ fekte zu generieren (vgl. K AG E RMEIE R 2004, S. 285). Auch für Kenia wäre daher denkbar, noch intensiver z. B. dem Vorbild Botswana zu folgen. Dort wird der Safaritourismus fast ausschließlich hochpreisig, aber auch auf ho‐ hem Qualitätsniveau angeboten. Da die Tragfähigkeitsgrenze bezogen auf die Zahl der vertretbaren Besucher in den Nationalparks weitgehend er‐ reicht ist, könnte Kenia durchaus die Wertschöpfung durch eine noch kon‐ sequentere Forcierung des Upgrading-Prozesses steigern, ohne deswegen eine größere Zahl von Touristen anziehen zu müssen. Allerdings werden die Safariausflüge auch als ergänzendes Ausflugsangebot von der Küste mit‐ vermarktet. Ähnlich wie in Zypern haben die Hotelkonzerne an der Küste nur wenig Interesse, dass sich z. B. im Tsavo-Nationalpark noch mehr hoch‐ wertige Lodges ansiedeln und dort ein eigenständiges Tourismusangebot bilden, weil dies umgekehrt die Kapazität für Tagesausflügler von der Küste reduzieren würde. Trotz dieser Konstellation stellt in Kenia die Entwicklung neuer regionaler Subdestinationen die zentrale Option zu einer Erhöhung der Touristenzahlen dar. Positionierung neuer Destinationen im Tourismusmarkt Weltweit versuchen etablierte Destinationen durch Diversifizierung und Erhöhung der Produktqualität ihren Anteil am Tourismusmarkt zu steigern, und in vielen sog. Entwicklungsländern wird versucht, durch die touristi‐ sche Inwertsetzung benachteiligter ländlicher Räume zusätzliche Angebote zu schaffen (vgl. z. B. K AG E RMEIE R 2003). Damit wird es für sich neu entwi‐ ckelnde Destinationen schwieriger, sich erfolgreich auf dem Markt zu eta‐ blieren. Der zunehmende Wettbewerbsdruck wird verursacht durch: 1. Professionalisierung etablierter Destinationen & Produkte 1. 2. Neueintritte von Destinationen 2. 3. steigende Ansprüche der Nachfrager. 3. Damit verbunden sind steigende Ansprüche - insbesondere für sich neu zu positionieren versuchende Destinationen - an: 359 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 359 <?page no="360"?> ☐ die Qualität der Humanressourcen, ☐ ☐ die Innovationsfähigkeit und ☐ ☐ das Entrepreneurship. ☐ Gleichzeitig ist im Tourismus die Dominanz von klein- und mittelständi‐ schen touristischen Unternehmen (KMTUs) ausgeprägt. Im Falle von Ent‐ wicklungsländern kommen auch oftmals noch eine Vielzahl von Commu‐ nity Based Initiativen, die von nationalen und internationalen NGOs gefördert werden, hinzu. Die Kleinteiligkeit stellt eine besondere Heraus‐ forderung an koordinierende Instanzen auf der Destinationsebene dar. Da‐ mit kommt den DMOs eine zentrale Rolle auch für die Induzierung einer Innovationskultur in Destinationen zu. Angesichts der Dominanz von KMTUs besteht die Herausforderung für die DMOs 1. intern: 1. ■ in der Zusammenstellung der Leistungsbündel aus den kleintei‐ ■ ligen Partialproduktelementen zu einem vermarktbaren und marktfähigen Produkt, ■ dem Qualitätsmanagement und ■ ■ der Generierung eines entsprechenden Commitments bei den ■ einzelnen Beteiligten und Leistungsträgern. 2. extern: 2. ■ im Branding der bislang unbekannten, sich neu auf dem Touris‐ ■ musmarkt präsentierenden Destinationen, ■ in der Schaffung und Gewährleistung des Marktzugangs (insbe‐ ■ sondere für die KMTUs, deren eigene Ressourcen hierfür insuf‐ fizient sind), ■ der Marktkommunikation, um eine entsprechende Awareness im ■ Markt zu generieren sowie ■ (insbesondere in der Startphase) der Distribution angesichts der ■ nur partiellen Integration in etablierte Vertriebskanäle. Damit kommt den regionalen DMOs in Entwicklungsländern eine noch größere Bedeutung zu als in etablierten OECD-Destinationen, um die Per‐ formance der Destination zu stimulieren und zu unterstützen. F I S CHE R (2009) hat die zentralen kompetenzbezogenen Entwicklungsfaktoren von Destina‐ tionen analysiert. Dabei hat sie die DMO als zentralen Player identifiziert, der die einzelnen Angebotselemente aus den Bereich Natur, Kultur und In‐ frastruktur mit den unterstützenden Dimensionen Investitionskapital, 360 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 360 <?page no="361"?> Knowledge und Human Resources zusammenbringen und damit die Ent‐ wicklung von wettbewerbsfähigen und buchbaren Produkten gewährleisten kann. Die netzwerkspezifische Rolle zum Wissenstransfer und zum Capacity Building als auch als zur Gewährleistung eines marktfähigen Qualitätslevels wird auch von L EMMETYINEN (2010, S. 56ff.) betont. Sie stellt insbesondere die Rolle als Informationsvermittler, Moderator, Unterstützer sowie als Ka‐ talysator für Kooperationen heraus. Die Akteurskonstellationen der privaten Leistungsträger auf der Desti‐ nationsebene weisen klare Schwächen bei Innovationsstärke, Investitions‐ kraft, Marktzugangsmöglichkeiten, sowie Qualitätsorientierung und Pro‐ duktivität auf. Im Falle der traditionellen Destinationen ist die insuffiziente Innovationsorientierung durch eine gewisse Saturiertheit aufgrund aktuell noch ausreichender Nachfrage bedingt. Bei den Emerging Destinations sind es vor allem die Kleinteiligkeit und Unprofessionalität der Leistungsträger, die in einer suboptimalen Performance resultiert. Auch vor dem Hintergrund zunehmender Anforderungen nicht nur an die Qualität der touristischen Angebote, sondern auch an der Einzigartigkeit und Authentizität (vgl. Kap. 2) kommt der Zusammenarbeit unterschiedli‐ cher Akteure auf Destinationsniveau auch künftig eine wachsende Bedeu‐ tung zu. Destination Governance wird dabei als Weg angesehen, mit dazu beizutragen, die Entwicklung der individuellen Akteure positiv zu beein‐ flussen (vgl. Kap. 4.3.1). Die bereits große Bedeutung von Kooperationen im Tourismus gewinnt im Kontext von neu entstehenden Destinationen in Ent‐ wicklungsländern nochmals an Stellenwert. Das Wechselspiel der einzelnen Akteure sowie die Governance-Ansätze sollen im Folgenden anhand des Fallbeispiels North Rift Valley auf der Basis von empirischen Primärbefun‐ den beleuchtet werden. Die am Beispiel von Kenia dargestellten Aspekte können dabei bis zu einem gewissen Grad auch als stellvertretend für viele andere sich neu entwickelnde Destinationen in Entwicklungsländern ange‐ sehen werden. Das North Rift Valley in etablierten Vertriebs- und Vermarktungskanälen Die oben formulierte Hypothese, dass den DMOs eine besondere Rolle bei der Platzierung von sich neu entwickelnden Destinationen zukommt, un‐ terstellt, dass diese im Vergleich zu etablierten Destinationen in den beste‐ henden Vertriebs- und Vermarktungskanälen nicht adäquat repräsentiert werden und damit eine Art zusätzliche „Starthilfe“ über die DMOs notwen‐ 361 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 361 <?page no="362"?> dig ist. Bevor das North Rift Valley betrachtet wird, soll zunächst überprüft werden, inwieweit die in der Vision 2030 angesprochenen Nischensegmente in den etablierten Marketingkanälen repräsentiert sind. Ein Blick in die Kataloge deutschsprachiger Reiseveranstalter zeigt, dass die Allrounder unter den Reiseveranstaltern - abgesehen von den unter‐ schiedlichsten Hotelanlagen an der Küste - eine Reihe von Rundreisen durch Kenia anbieten, die teilweise auch klar nach unterschiedlichen Zielgruppen und teilweise auch hinsichtlich der Preisniveaus differenziert sind. Dabei wird für Rundreisen oftmals explizit mit den klassischen „Big Five“ gewor‐ ben. Insgesamt stellen die Angebote fast ausschließlich auf die klassischen Safarizielgebiete ab (genauer bei K AG E RMEIE R & K OB S 2013, S. 153). Damit wird zwar innerhalb des Produktes klar differenziert, aber letztendlich be‐ zogen auf das mögliche Angebotsspektrum im Land doch nur ein sehr limi‐ tierter Ausschnitt angeboten. Auch bei umfassenderen oder hochwertigen Angeboten sind es letztendlich nur spezifische Darbietungsformen (exklu‐ sive Lodges, Fly-in bzw. Ballonfahrten oder ergänzende genussorientierte exklusive Angebotsbausteine) an den etablierten Standorten und Parks. Auch ein Blick in das Angebot von Spezialreiseveranstaltern zeigt, dass dort im Kern letztendlich weitgehend vergleichbare Angebote bereitgehal‐ ten werden. Es werden klar nach Reiselänge, Kosten und Zahlungsbereit‐ schaft der Zielgruppen differenzierte Paletten von Rundreisen nach Kenia angeboten, aber auch von den Spezialreiseveranstaltern im Wesentlichen die klassischen Safarizielgebiete angesteuert. Nur in seltenen Fällen werden am Rande neben den „Big Five“-Safariregionen auch ein oder zwei Tage am Lake Baringo (wg. Flusspferden) und Lake Bogoria (wg. Geysiren) im North Rift Valley verbracht (genauer bei K AG E RMEIE R & K OB S 2013, S. 154). Insgesamt ist festzuhalten, dass von Seiten der Reiseveranstalter im Wesentlichen die etablierten, marktgängigen Subdestinationen mit den klassischen Groß‐ wildsafarioptionen angesteuert werden. Es erscheint nachvollziehbar, dass die internationalen Reiseveranstalter sich mit ihren Angeboten im Wesentlichen an etablierten Produktangeboten und Images orientieren und aus deren Sicht weniger bekannte und damit aus betriebswirtschaftlicher Sicht risikobehaftete Angebotsoptionen kaum von sich aus erkunden und promoten. Aber auch die offizielle nationale touristische Vermarktungsagentur KTB stellt relativ stark sowohl auf den küstenorientierten Tourismus als auch den klassischen Safaritourismus ab (genauer bei K AG E RMEIE R & K OB S 2013, S. 154f.). Den Diversifizierungsstra‐ 362 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 362 <?page no="363"?> tegien mit neuen regionalen Subdestinationen wird auch dort nur eine rand‐ liche Stellung zugemessen. Governance-Strukturen in einer sich neu etablierenden regionalen Subdestinationen: das Beispiel des North Rift Valley Am Beispiel des North Rift Valley werden vor dem Hintergrund, dass weder die etablierten internationalen Reiseveranstalter noch das KTB eine inten‐ sive Vermarktung dieser sich in jüngerer Zeit zu etablieren versuchenden regionalen Subdestination übernehmen, Governance-Strukturen und die Performance der touristischen Angebote betrachtet. Das North Rift Valley (vgl. Abb. 135) als Fallbeispiel für eine regionale Subdestination abseits der traditionellen Safari- und Stranddestinationen bietet relativ günstige Voraussetzungen. Es kann als eine der Sekundärdes‐ tinationen in Kenia angesehen werden, die am ehesten von der Diversifi‐ zierungsstrategie profitieren könnten bzw. sich relativ leicht entwickeln lassen. 1. Das North Rift Valley ist nur etwa 200 km von Nairobi entfernt und 1. durchgängig mit geteerten Straßen angebunden, sodass die Erreich‐ barkeit sowohl für den nationalen als auch den internationalen Markt gewährleistet ist. 2. Mit dem Lake Bogoria (heiße Quellen und signifikante Flamingo-Po‐ 2. pulation) und dem Lake Baringo (Krokodile und Nilpferde) verfügt es über zwei Attraktionen, die bereits traditionell eine - wenn auch überschaubare - touristische Klientel anziehen. 3. Darüber hinaus sind in den letzten Jahren im Raum Iten/ Kabarnet 3. (Tugen Hills) an der Abbruchkante des Afrikanischen Grabenbruchs mit seinen einmaligen Thermikgegebenheiten Angebote für Paragli‐ der entstanden. 4. Es liegt eine von der EU mitfinanzierte Potentialstudie vor (Tourism 4. Trust Fund 2008), in der eine Vielzahl von Ansatzpunkten für die wei‐ tere touristische Entwicklung identifiziert wurden. 5. Auch mit Unterstützung von NGOs der internationalen Entwick‐ 5. lungszusammenarbeit wurde ein lokales Akteursnetzwerk aufgebaut. 6. Als erster Nucleus für eine DMO wurde mit EU-Hilfe 2009 ein Infor‐ 6. mationszentrum in Mogotio installiert, das direkt am Äquator gelegen als eine Art Eingangstor zur Region verstanden werden kann. 363 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 363 <?page no="364"?> Damit besitzt das North Rift Valley unter den möglichen neu zu entwickeln‐ den Regionaldestinationen eine relativ herausgehobene und günstige Posi‐ tion. Insgesamt konnten bei einer 2012 durchgeführten Analyse gut 20 ge‐ werbliche Unterkunftsangebote identifiziert werden. Die hochwertigeren Angebote sind dabei durchgängig in der Hand von regionsexternen Eigen‐ tümern. Trotz klarer Potentiale für die Ansprache von nationalen und in‐ ternationalen Touristen wurden relativ durchgängig unzureichender Un‐ terhalt, fehlende Reinvestitionen, Schwächen in der Servicequalität, Qualitätsdefizite und suboptimale Marktkommunikation festgestellt (ge‐ nauer bei K AG E RMEIE R & K OB S 2013, S. 156). Angebote für Aktivitäten in der Region zur Gestaltung des Aufenthalts können im Kontext von Entwicklungsländern als niedrigschwellige Ein‐ stiegsoption in den Tourismus gesehen werden. Diese erfordern nur be‐ grenzten Kapitaleinsatz bieten damit insbesondere auch für Community-ba‐ sierte Ansätze sowie zu - teilweise noch dem informellen Sektor zuzuordnenden - Aktivitäten von Einzelpersonen Gelegenheit. Die ange‐ botenen Dorfbesuche zur Präsentation der lokalen Kultur, Bootstouren auf den Seen, Vogel- und Naturwanderungen, volkskundliche und naturorien‐ tierte Ausstellungen sind relativ durchgängig von einer mediokren Pro‐ duktqualität, wenig Kreativität (Kopieren bereits vorhandener Angebote) und teilweise auch insuffizienten Kenntnissen der Ansprechpartner ge‐ kennzeichnet. Zwar versuchen sich viele private und kollektivorganisierte Akteure als Anbieter touristischer Aktivitäten. In vielen Fällen wurde die Startphase von internationalen NGOs (Non Governmental Organisation) gefördert. Allerdings setzt - sobald sich diese nach Projektende wieder zu‐ rückziehen - zumeist eine klare Degradation ein, es also kaum gelingt, sich selbst tragende Angebote zu stimulieren. Auch bei den auf den Marktzugang ausgerichteten Indikatoren lässt sich eine Reihe von Schwachpunkten identifizieren. Abgesehen davon, dass manche Angebote abseits der bereits vorhandenen touristischen Attraktio‐ nen in relativ schlecht zugänglichen Teilen der Region liegen (= physischer Marktzugang), sind die mangelnde Kooperation (teilweise sogar extreme Konkurrenzkämpfe mit konkreten heftigen Konflikten) sowie der Markt‐ kommunikation (keine Websites, fehlende Schilder oder Informationsange‐ bote vor Ort; = operativer Marktzugang) die zentralen Schwachpunkte. Dar‐ über hinaus ist das gänzliche Fehlen von Reinvestitionen bzw. mangelhafte Business-Skills zu konstatieren (= ressourcenbasierte Marktcharakteristika). Wie für viele marginale Aktivitäten des informellen Sektors typisch, werden 364 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 364 <?page no="365"?> zwar Einkünfte zur Unterstützung der Subsistenzsicherung generiert, aber keinerlei Kapitalakkumulation zur Weiterentwicklung der Unternehmun‐ gen (genauer bei K AG E RMEIE R & K OB S 2013, S. 156ff.). Abb.‐Nr.: -137 Abb.‐Titel: -Akteurskonstellationen-im-Tourismus-der- North-Rift-Region-(Quelle: -Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Acc Acc Acc Acc SP SP SP SP DMO-Rift KTB (NMO) & Ministry of Tourism International Market (International) Tour Operators NMO: Nationale Marketing Organisation SP: Service Provider DMO: Destination Management Organisation Acc Accomodation Abb. 137: Akteurskonstellationen im Tourismus der North Rift Region (Quelle: eigener Entwurf) Die Akteurskonstellationen sind in Abbildung 137 zusammenfassend dar‐ gestellt: 1. Weder die internationalen Reiseveranstalter noch die Nationale Mar‐ 1. ketingagentur KTB ermöglichen der Region in signifikantem Umfang einen Zugang zu den internationalen Märkten. Damit verfügen die Anbieter in der Region (bis auf einzelne Ausnahmen mit meist inter‐ nationalen Eigentümern) über einen nur rudimentären Marktzugang. 2. Auch die regionale DMO (Infocenter Mogotio) kann aktuell diese 2. Marktzugangsbarriere nur sehr begrenzt überwinden bzw. aufwei‐ chen helfen. 3. Gleichzeitig bestehen sowohl innerhalb der beiden Gruppen, der An‐ 3. bieter von Übernachtungsmöglichkeiten und denjenigen von Aktivi‐ 365 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 365 <?page no="366"?> tätsangeboten klare Separationstendenzen ohne jegliche Kooperati‐ onsansätze. Und auch zwischen den Gruppen wurden so gut wie keine Ansätze zu einer Zusammenarbeit festgestellt, wobei die etwas per‐ formanteren größeren Beherbergungsbetriebe dazu tendieren, die Ak‐ tivitätsangebote betriebsintern zu inkludieren und damit die externen kleineren Anbieter zusätzlich zu konkurrenzieren. Damit besteht für einen erfolgreichen Markteintritt der exemplarisch be‐ trachteten regionalen Subdestination die zentrale Notwendigkeit, einerseits des Capacity Buildings einschließlich der Stimulierung von kreativen, in‐ novativen Ansätzen zur Produktentwicklung im Bereich der Aktivitäten; andererseits ist auch die Generierung von zusätzlichem investivem Kapital (öffentlich und privat, aus regionalen, nationalen und internationalen Quel‐ len) eine unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung einer performanten Angebotspalette. Implikationen für tragfähige Governance-Strukturen Am Beispiel von Kenia wurde - ähnlich wie bereits in Kap. 7.2.4 - aufgezeigt, dass in den sog. Entwicklungs- und Schwellenländern auf nationaler Seite zwar oftmals verbal die Entwicklung von neuen Destinationen proklamiert wird. Diese Zielsetzung findet jedoch noch keinen entsprechenden Nieder‐ schlag in einer konkreten Unterstützung und Begleitung der neu entste‐ henden Destinationen. Angesichts der klar persistenten, d. h. auf risikoarme etablierte Produkte orientierten internationalen Reiseveranstalter sind da‐ mit sich neu entwickelnde Destinationen stark auf sich selbst verwiesen. Das Beispiel des North Rift Valley zeigt, dass - trotz relativ günstiger Ausgangsbedingungen für die Entwicklung einer regionalen Subdestination - die konkrete Performance meist deutlich suboptimal ist. Produktgestal‐ tung und Produktqualität stellen zentrale Schwachpunkte dar, wobei gleich‐ zeitig auch die Marktzugangsmöglichkeiten in vielen Fällen einen wichtigen Constraint darstellten. Die mangelnde Kooperation zwischen den privaten Stakeholdern und die unter Marktgesichtspunkten nur begrenzt performan‐ ten - oftmals im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit von interna‐ tionalen NGOs geförderten - CBT-Ansätze konnten als weitere Schwach‐ punkte identifiziert werden. Trotz vielfältiger Versuche der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, Bottom-Up-Ansätze zu etablieren, ist es bis‐ lang nur in den seltensten Fällen gelungen, eine leistungsfähige DMO-Struk‐ 366 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 366 <?page no="367"?> tur aufzubauen, die den Schwächen der privatwirtschaftlichen Akteure in der Region begegnen könnte. Um das auf nationaler Ebene oftmals proklamierte Ziel einer Dekonzent‐ ration der touristischen Entwicklung mit einer weiteren räumlichen Streu‐ ung der damit verbundenen positiven volkswirtschaftlichen Effekte zu er‐ reichen, sind im ländlichen Raum Kenias - und wohl auch in vielen anderen Ländern des subsaharischen Afrikas - keine ausreichenden Human- und Kapitalressourcen vorhanden. In noch stärkerem Maß als im zentraleuro‐ päischen Kontext ist damit ein Agieren der öffentlichen Hand notwendig, damit sich ein selbsttragender Entwicklungsprozess einstellen kann. Abb.‐Nr.: -138 Abb.‐Titel: -Modell-zur-Entwicklung-einer-Destination- Mid-Rift-Valley-(Quelle: -Eigener-Entwurf) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE International Competition National Competition Regional Competition Innovation Change Management B R A N D I N G N E T W O R K I N G G O V E R N A N C E National Regional Current Product Future Product Human Resources Product Quality Product Development Market Access NMO DMO Abb. 138: Modell zur Entwicklung einer Destination Mid Rift Valley (Quelle: eigener Entwurf) Soll angesichts der sich akzentuierenden Wettbewerbskonstellationen auf der internationalen und nationalen Ebene die Wettbewerbsfähigkeit des touristischen Angebotes von sich neu entwickelnden Angeboten wie im North Rift Valley erreicht werden, wären zunächst die Anforderungen an die Produktqualität und die Entwicklung neuer wettbewerbsfähiger Pro‐ dukte zu erfüllen (vgl. Abb. 138). Dies würde ein konzertiertes Agieren von nationaler und regionaler Ebene entsprechend dem Gegenstromprinzip er‐ 367 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 367 <?page no="368"?> fordern. Nur mit dem Aufbau einer leistungsfähigen DMO-Struktur, die als Mediator und Moderator die Entwicklung initiiert und begleitet, dabei auch aktiv Akquise von externem Know-how und Kapital betreibt, erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen Analyseergebnisse ein erfolgreicher Markt‐ eintritt möglich. Erst auf der Basis von marktfähigen Produkten kann dann in einem zwei‐ ten Schritt ein regionales Branding und eine Vernetzung der Angebote als Teil eines regionalen Governance-Ansatzes erfolgreich gestartet werden. Die - nicht nur in Kenia - gemachten Erfahrungen mit Projekten der inter‐ nationalen Entwicklungszusammenarbeit und (inter-)nationalen Investoren legen es gleichzeitig nahe, dass auch diese beiden Akteursgruppen in ein solches Destination-Governance-Konzept einzubeziehen sind, um einerseits zu vermeiden, dass NGO-Projekte isoliert und oftmals dann eben nicht dau‐ erhaft durchgeführt werden und andererseits zwar den berechtigten Kapi‐ talverwertungsinteressen (inter-)nationaler Investoren Rechnung getragen wird, aber gleichzeitig auch die Interessen der Region entsprechend berück‐ sichtigt werden. Zu einem solchen integrierten Konzept, bei dem sowohl die regionalen privaten als auch öffentlichen Akteure mit den nationalen inter‐ nationalen Akteuren im Gegenstromprinzip zum Wohle einer Destination interagieren, erscheint es aber noch ein weiter Weg. Herausforderungen im Entwicklungsländertourismus Implizit wird damit aber auch deutlich, dass das vereinfachende, dem Pola‐ rization-Reversal-Ansatz folgende raum-zeitliche Entwicklungsschema von V O RLAU F E R (1996, S. 198; vgl. Abb. 129) zu mechanistisch und idealistisch ist. Letztendlich unterstellt es das Ablaufen ähnlicher Entwicklungspfade wie in den Industrieländern, ohne die spezifischen Rahmenbedingungen in den sog. Entwicklungsländern ausreichend mit einzubeziehen. Inzwischen ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, seit die Aus‐ einandersetzung mit dem Tourismus in Entwicklungsländern in den 1960er Jahren begonnen hat, ohne dass die intensive Diskussion zu abschließend tragfähigen Lösungen geführt hätte. Nach dem Scheitern der „großen“ Lösungen, die in den fortschrittsgläu‐ bigen 1960er und 1970er Jahren vor dem Hintergrund von globalen Ideolo‐ gien propagiert worden sind, der enttäuschten Hoffnung, dass kleinteilige, partizipative CBT-Strukturen einen Lösungsansatz darstellen könnten, und der Tatsache, dass wohl auch CSR nur eine Partiallösung bietet, ist es mög‐ licherweise Zeit, sich von der Hoffnung auf eine endgültige „Lösung“ dieses 368 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 368 <?page no="369"?> Syndromkomplexes zu verabschieden. Die an dieser Stelle nur ansatzweise skizzierte Vielfältigkeit der unterschiedlichen Positionen, Problemdimensi‐ onen, aber auch die Heterogenität der Konstellationen und den jeweiligen Ländern erlauben möglicherweise eben keine One-Fits-All-Lösungen. Gleichzeitig wurde deutlich, dass eine Akteursgruppe alleine nicht den Schlüssel für die Lösung der Herausforderungen des Entwicklungsländer‐ tourismus in den Händen hält. Weder die Touristen noch die Reiseveran‐ stalter noch die kleinteiligen Leistungsträger in den Destinationen konnten als alleine tragfähiger Ansatzpunkt für eine Lösung der Herausforderungen im Entwicklungsländertourismus identifiziert werden. Wie beim Nachhal‐ tigkeitsansatz ist auch im Entwicklungsländertourismus ein integrierter Ansatz notwendig, der alle Akteursgruppen einbezieht. Analog zum CSR-Ansatz, bei dem die Reiseveranstalter in den Industrieländern Verant‐ wortung mitübernehmen für das Agieren der Leistungsträger in den Desti‐ nationen, ist damit sicherlich auch die Politik in den Industrieländern ge‐ fordert, sich intensiver im Bereich der Entwicklungspolitik zu engagieren. Dabei ist - neben einer Intensivierung des Engagements mit den klassischen Elementen der EZ - sicherlich auch gefordert, die Weiterentwicklung von Zivilgesellschaften in den Entwicklungsländern intensiv zu begleiten. Auch wenn es nach einer Perpetuierung von oftmals kritisierten neokolonialen Strukturen und den Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Nord und Süd klingen mag, scheint es in der Dekolonialisierungsphase nicht gelungen zu sein, in allen ehemaligen Kolonien stabile Staatsgebilde entstehen zu lassen. Insbesondere in Afrika sind die unterschiedlichsten Konflikte nach wie vor virulent und ist die Zahl der der als Failed States einzustufenden Konstrukte erheblich. Der Tourismus kann sicherlich seinen Teil zu einer ökonomischen Stabi‐ lisierung von Staaten leisten und damit indirekt auch zu einer politischen Stabilisierung beitragen. Trotz aller Kritik an den Auswirkungen des Tou‐ rismus stellt er oftmals eine akzeptable Alternative zu anderen Wirtschafts‐ sektoren dar. Die Alternativen zum Tourismus lautet ja oft, entweder land‐ wirtschaftliche Monokulturen (sei es durch den Soja-Anbau für die Viehwirtschaft in den Industrieländern in Südamerika oder Blumenzucht für Europa in Kenia), umweltbelastende Schwerindustrie, das Recycling von Elektronikschrott, Niedriglohnproduktion von Textilien oder eben Arbeits‐ losigkeit, bzw. in letzter Konsequenz dann auch manchmal sogar Flucht und Asylantrag in Europa - sofern die Überquerung des Mittelmeers gelingt. Es ist den sog. Entwicklungsländern nicht gelungen, sich in signifikantem Um‐ 369 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 369 <?page no="370"?> fang aus der Abhängigkeit von den Industriestaaten zu befreien. Die Glo‐ balisierung perpetuiert Dependenzstrukturen oder schafft neue. Gleichzeitig muss aber auch klar gesehen werden, dass das Setzen auf den Tourismus zwar Arbeitsplätze und Deviseneinnahmen schaffen kann. Gleichzeitig ist es aber bislang nur in sehr partiellen Umfang gelungen, auf der Basis der touristischen Erschließung dann ausgeprägte Forward- und Backward-Linkages aufzubauen. Tourismus ist damit wohl nur sehr be‐ grenzt geeignet, im Sinne von P E R R OUX (1955) als Wachstumspol zu fungie‐ ren, der nicht nur wirtschaftliches Wachstum, sondern auch wirkliche Ent‐ wicklung im umfassenden Sinn durch umfassende Spin-Off-Effekte in andere Wirtschaftsbereiche induziert. Wachstum ja, Entwicklung nur be‐ grenzt, so könnte man die Wirkung der touristischen Entwicklung in peri‐ pheren Regionen holzschnittartig auf den Punkt bringen. Gleichzeitig stellt der Entwicklungsländertourismus - eben weil es keine einfachen abschließenden Lösungen gibt und die Problemdimensionen sehr komplex und herausfordernd sind - einen Gegenstand dar, der immer noch Tourismuswissenschaftler, Tourismus-Praktiker aber auch Experten der EZ anzieht und fasziniert: „In seiner Ambivalenz liegt die „unangenehme At‐ traktivität des Tourismus“ (S TECK , S TRAS DAS & G U S TEDT 1999, S. 9). Zusammenfassung ☐ Zu den Grundstrukturen des internationalen Tourismus zählt eine ☐ starke Konzentration auf die sog. Industrieländer - nicht nur als Quellmärkte, sondern auch als Zielgebiete. ☐ Innerhalb dieser nimmt der Mittelmeerraum eine herausragende ☐ Stellung ein. In dieser weltweit wichtigsten Großdestination lassen sich viele Entwicklungen und Herausforderungen, die auch für an‐ dere Destinationen gelten, besonders prägnant darstellen. ☐ Am Beispiel Mallorcas wurde verdeutlicht, dass eine Produktdiver‐ ☐ sifizierung von in der Reifephase befindlichen Destinationen mit einem Turn Around und einem Image-Upgrade gelingen kann. Gleichzeitig wurden auch die sich an der Tragfähigkeitsgrenze be‐ findlichen Destinationen thematisiert. ☐ Die Herausforderungen bei der Umsteuerung von der fordistisch ☐ geprägten badetouristischen Produktionsweise hin zu den Econo‐ mies of Scope verpflichteten Ansätzen wurde am Beispiel Zyperns 370 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 370 <?page no="371"?> beleuchtet. Dabei wurde auch bereits auf regionale Abhängigkeits‐ prinzipien eingegangen. ☐ Die Schwierigkeiten der Entwicklung neuer touristischer Angebote ☐ und Destinationen im ländlichen Raum wurden am Beispiel von Marokko aufgezeigt. Auch dabei ist die Bedeutung der politischen Rahmenbedingungen und Steuerungsansätze klar gemacht worden. ☐ Der Tourismus in Entwicklungsländern wurde lange Zeit vor dem ☐ Hintergrund ideologisch geprägter Grundpositionen intensiv dis‐ kutiert. Zumeist wurde die touristische Erschließung in Entwick‐ lungsländern vor dem Hintergrund der erhofften positiven ökono‐ mischen Effekte begonnen. Auch wenn sich diese nicht im ursprünglich erhofften Umfang eingestellt haben, stellt der Touris‐ mus doch eine relevante Größe als Devisenbringer und bei der Schaffung von Arbeitsplätzen dar. ☐ Die negativen sozio-kulturellen und ökologischen Probleme des ☐ Tourismus in Entwicklungsländern unterscheiden sich nicht grund‐ sätzlich von denjenigen in anderen Destinationen. Allerdings sind die Ausprägungen der sozio-kulturellen Effekte aufgrund des grö‐ ßeren Unterschieds zwischen den Touristen und der Destinations‐ bevölkerung deutlich akzentuierter. Die ökologischen Probleme sind ebenfalls oftmals gravierender, da es sich in vielen Fällen um fragile Ökosysteme mit einer hohen Vulnerabilität handelt. Gleich‐ zeitig sind die nationalen und regionalen Governance-Strukturen zum Umgang mit den Problemdimensionen in Entwicklungslän‐ dern oftmals weniger effizient. ☐ Am Fallbeispiel von Kenia konnte aufgezeigt werden, dass sich - ☐ abgesehen von politischen Rahmenbedingungen und Konflikten - dependenzartige Strukturen auf der nationalen und internationalen Ebene bei der Entwicklung neuer Destinationen als inhibierende Momente darstellen. ☐ Gleichzeitig ist festzuhalten, dass selbst nach einem halben Jahr‐ ☐ hundert der teilweise intensiven Auseinandersetzung mit Fragen des Tourismus in Entwicklungsländern sich immer noch keine all‐ gemeingültigen tragfähigen Lösungen abzeichnen. Damit stellt die‐ ses Themenfeld auch künftig eine der zentralen Herausforderungen für insbesondere auch Tourismusgeographen dar. 371 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 371 <?page no="372"?> Weiterführende Lesetipps S TEINECKE , Albrecht (2014): Internationaler Tourismus. Konstanz/ München Eine ausführlichere Einführung in zentrale Aspekte des internationalen Tourismus liefert dieser Band. Der Autor greift dabei sowohl auf seine jahrzehntelangen Erfahrungen als ausgewiesener Tourismuswissen‐ schaftler als auch ein breites Spektrum von Primärerfahrungen in un‐ terschiedlichsten internationalen Destinationstypen zurück. Auch an die‐ ser Stelle aus Platzgründen nicht behandelte Destinationen, wie Dubai, China oder Indien werden dort berücksichtigt. B U SWELL , Richard J. (2011): Mallorca and tourism. History, Economy and Environment. Bristol Eine umfassende Monographie zur Entwicklung des Tourismus auf Mal‐ lorca sowie den aktuellen Produktdiversifizierungsansätzen und ökolo‐ gischen Herausforderungen. V O RLAU F E R , Karl (1996): Tourismus in Entwicklungsländern. Möglich‐ keiten und Grenzen einer nachhaltigen Entwicklung durch Fremden‐ verkehr. Darmstadt 1996 Wenn auch bereits etwas älter, stellt dieses Buch doch nach wie vor eine konzise Einführung in die Thematik des Entwicklungsländertourismus aus der Sicht eines Geographen und intimen Kenner vieler - insbesondere auch der ostafrikanischen Länder - dar. Leider besteht angesichts des Alters des Autors keine Aussicht auf eine Neuauflage. GIZ (= Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit; 2014): Hand‐ buch Tourismusplanung in der Entwicklungszusammenarbeit. Her‐ ausforderungen - Beratungsansätze - Praxisbeispiele - Instrumente. Eschborn www.giz.de/ fachexpertise/ downloads/ giz2014-de-tourismus-handbuch.pdf Von der GIZ, der staatlichen Entwicklungszusammenarbeitsorganisation der Bundesrepublik Deutschland, im Auftrag des Bundesministeriums für wirt‐ schaftliche Zusammenarbeit (BMZ) herausgegebenes Handbuch. Darin sind einerseits eine Reihe von Grundlagen zum Tourismus in Entwicklungs- und Schwellenländern enthalten. Andererseits wird auch auf die entwicklungs‐ politische Rolle des Tourismus und touristische Projekte im Rahmen der Ent‐ wicklungszusammenarbeit (EZ) eingegangen. Dabei werden eine Vielzahl von Beispielen aus der Projekttätigkeit der GIZ vorgestellt, wobei allerdings eine relativ positive Sicht der Dinge hinsichtlich der damit erzielten Wirkun‐ gen verbunden ist. Gleichwohl aber eine umfassende, lesenswerte - und auch 372 7 Ausgewählte Aspekte des internationalen Tourismus 372 <?page no="373"?> frei im Internet verfügbare - Quelle für all diejenigen, die sich intensiver mit Entwicklungsländertourismus beschäftigen möchten. M OWF O RTH , Martin & Ian M UNT (2003): Tourism and Sustainability. New tourism in the Third World. London, New York www.academia.edu/ 613154/ Tourism_and_sustainability_Develop‐ ment_globalisation_and_new_tourism_in_the_Third_World Einer der „Klassiker“ in der englischsprachigen Literatur zum Themen‐ feld Tourismus und Entwicklungsländern. Nicht die neueste Auflage, aber auf academia.edu, einer Internetplattform und gute Quelle für frei im Netz verfügbare Literatur eben kostenfrei zum Herunterladen ist die hier angegebene Ausgabe von 2003. Die Autoren ordnen den Entwicklungsländertourismus einerseits in den übergeordneten Rahmen der Nachhaltigkeitsorientierung ein. Anderer‐ seits wird aber auch ein klarer Fokus auf die entwicklungstheoretische Diskussion der letzten Jahrzehnte gelegt und dabei die Rolle von Macht‐ konstellationen ebenso berücksichtigt wie die Frage nach Gover‐ nance-Optionen. Aus einer kritischen Perspektive werden hegemoniale Strukturen im Tourismus - oftmals illustriert an Beispielen aus Mittel- und Südamerika - vor dem Hintergrund der Globalisierung reflektiert. S TOCK , Christian (Hrsg.; 1997): Trouble in paradise. Tourismus in die Dritte Welt. Düsseldorf Eine Sammlung von kritischen Auseinandersetzungen mit den Effekten des Entwicklungsländertourismus. Der Sammelband ist im Verlag Infor‐ mationszentrum Dritte Welt (www.iz3w.org) mit Unterstützung des Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) erschienen. Neben den klas‐ sischen Bereichen Umwelt und interkulturelle Begegnung werden auch die politischen Dimensionen beleuchtet sowie Reflexionen vorgestellt, ob bzw. inwieweit alternative Formen des Tourismus möglicherweise eine Chance darstellen könnten. O’ G RADY , Ron (1997): Die Vergewaltigung der Wehrlosen. Sextouris‐ mus und Kinderprostitution. Unkel/ Rhein und Bad Honnef Dieser von Tourism Watch (www.tourism-watch.de), einer im Wesentli‐ chen vom Evangelische Entwicklungsdienst (EED) getragenen NGO, so‐ wie ECPAT-Deutschland (www.ecpat.de), der Arbeitsgemeinschaft zum Schutz von Kindern gegen sexuelle Ausbeutung gemeinsam herausgege‐ bene Band beleuchtet offen und deutlich die dunklen Seiten des (Ent‐ wicklungsländer-)Tourismus. Es ist die deutsche Ausgabe der englisch‐ sprachigen Originalversion: „The rape of the innocent“. 373 7.3 Tourismus und Entwicklungsländer 373 <?page no="375"?> 8 Perspektiven und Ausblick Zum Abschluss der Einführung der Tourismusgeographie soll noch ein kur‐ zer Ausblick in drei Richtungen unternommen werden: 1. Welche Entwicklungstendenzen zeichnen sich auf der Nachfrageseite 1. ab? 2. Welche Herausforderungen sind für die Angebotsseite festzuhalten? 2. 3. Welche Implikationen ergeben sich daraus für die Tourismusausbil‐ 3. dung und insbesondere die Tourismusgeographie? Ergänzend folgt noch ein Blick auf den Arbeitsmarkt für Tourismusgeogra‐ phen. Hypothesen zu Tendenzen auf der Nachfrageseite Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, um umfassend Trends im Tourismus abzuhandeln. Allzu oft werden im Tourismus von - oftmals auch selbster‐ nannten - Trend-„Gurus“ Megatrends ausgerufen, die dann bald wieder in der Versenkung verschwinden. Manchmal drängt sich einem der Eindruck auf, dass es mehr um die Generierung von Aufmerksamkeit geht, wenn im Jahresrhythmus neue Trends postuliert und mit wohlklingenden Namen marktschreierisch ausgerufen werden. Gleichwohl befinden wir uns aktuell in einer Umbruchphase von der Mo‐ derne zur Postmoderne und diese gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedin‐ gungen werden auch einen Einfluss darauf haben, wie wir Freizeit und Tou‐ rismus verstehen und als kulturelle Praxis umsetzen. Dabei wird eine Reihe von sozialen Triebkräften als Rahmenbedingungen die Entwicklung der Nachfrage mit beeinflussen, sei es der demographische Wandel, die zuneh‐ mende Individualisierung oder möglicherweise auch eine verstärkte Wer‐ teorientierung. Darüber hinaus wirken sich auch die ökonomischen Para‐ meter auf die künftige Entwicklung des Tourismus aus. Hier spielen die Frage nach dem Renteneintrittsalter bzw. der Höhe von Alterseinkommen oder auch die Frage nach der Rolle der industriellen Produktion in den heu‐ tigen Industrieländern und damit die nach den Wohlstandsniveaus in den Quellmärkten des internationalen Tourismus sicherlich eine wichtige Rolle. Neben den sozialen und ökonomischen Triebkräften wird sicherlich auch <?page no="376"?> die technologische Entwicklung Einflüsse auf das Reiseverhalten ausüben. Die aktuell virulenten Entwicklungen im Bereich von mobilen Diensten sind noch nicht in voller Konsequenz absehbar, dürften aber das Handeln insbe‐ sondere während der Aufenthalte in den Destinationen verändern und gleichzeitig die C2C-Kommunikation weiter an Bedeutung gewinnen lassen. Bei einer weiteren Ausdifferenzierung der Nachfrage dürften gleichzeitig die Ansprüche der Touristen an die Qualität der Angebote weiterhin zu‐ nehmen. Möglicherweise wird dabei auch eine noch stärkere Aufspaltung in Low Budget und hochwertige Angebote stattfinden, aber auch unter dem Stichwort „Cheap & Chic“ designorientierte Ansätze im Niedrigpreisseg‐ ment an Bedeutung gewinnen. Vom exklusiven Luxustourismus in Verwöh‐ noasen über banale Formen des Discount-Partytourismus wird sich das Spektrum der nachgefragten Urlaubsformen wohl auch weiterhin ausdiffe‐ renzieren. Gleichzeitig dürfte die soziale Komponente der Erlebnisse in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen. Angesichts des verstärkten Sehnens nach Sicherheit, einem Rückzug ins Vertraute und der Besinnung auf das eigene Ich bzw. dessen holistisch verstandenes Wohlbefinden kommt bei den ex‐ ternen Stimuli auch der sozialen Interaktion eine wichtige Rolle zu. Noch mehr als bisher sind die touristischen Anbieter als Dienstleister auf die In‐ tegration des externen Faktors „Kunde“ bei der Leistungserstellung ange‐ wiesen und damit einen für die Kundenzufriedenheit relevanten Aspekt, der eben nur begrenzt gesteuert werden kann. Trotz - oder vielleicht gerade angesichts - der Tatsache, dass letztendlich nur der äußere Rahmen vorge‐ halten werden kann, der dann vom Kunden im Augenblick der Konsumption mit „Leben gefüllt“ wird, d. h. die eigentlichen Erlebnisse nur begrenzt be‐ einflusst und gesteuert werden können, werden die äußeren Rahmenbedin‐ gungen der Angebotsseite als relevante Voraussetzung für eine von der Er‐ lebnisökonomie des 20. Jahrhunderts geprägten Erwartungshaltung angesehen. Der beruflich und privat oftmals unter Druck stehende und das eigene Leben als anstrengend und fordernd ansehende Kunde erwartet - mehr als jemals zuvor - für die „kostbarsten Tage des Jahres“ ein perfekt inszeniertes und abgestimmtes Setting innerhalb dessen er dann, in eine andere Welt eintauchen und das Leben genießen kann. Die Grundmotive des „Weg von“ bzw. „Hin zu“ als zentrale Driving Forces des Tourismus werden sich damit nicht prinzipiell verändern. Angesichts sich weiter ausdifferenzierender und 376 8 Perspektiven und Ausblick 376 <?page no="377"?> komplexerer Erwartungshaltungen werden allerdings die Anforderungen an die inhaltliche Erfüllung der Kundenwünsche auch weiterhin steigen. Die multioptionalen Ansprüche der auch als „hybrid“ bezeichneten Nach‐ frager wurden bislang so interpretiert, dass diese im zeitlichen Verlauf un‐ terschiedliche Produktlinien nachfragen. Vor dem Hintergrund einer stär‐ keren Ausrichtung auf holistische Angebote zeichnet sich nun ab, dass gerade diese traditionelle Produktpolitik, die auf isolierte einzelne Produkt‐ linien ausgerichtet war, die Erwartungen der Nachfrager möglicherweise zu sehr reduziert. Gleichwohl wurde dies bislang noch nicht systematisch in entsprechende integrierte Produktbündel umgesetzt, bzw. in letzter Konse‐ quenz zu Ende gedacht, dass die klassischen isolierten monostrukturierten Angebote im Übergang zur Postmoderne nicht mehr adäquat für die Nach‐ frageorientierungen sein könnten. Herausforderungen auf der Angebotsseite Nicht nur die sich ausdifferenzierenden und steigenden Ansprüche der Tou‐ risten stellen die Anbieter im Tourismusmarkt vor weiterhin zunehmende Herausforderungen. Tourismus ist zwar nach wie vor ein klarer Wachs‐ tumsmarkt. Gleichzeitig gilt, dass eben immer mehr Angebote und auch zu‐ nehmend qualitativ hochwertige Angebote geschaffen werden. Etablierte Destinationen gehen den Weg der Produktdiversifizierung und neue Desti‐ nationen versuchen den Markteintritt. Tourismusförderung als Mittel zur Schaffung einer regionalökonomischen Basis wird dabei insbesondere in den peripheren (ländlichen) Regionen der Industrie- und Entwicklungslän‐ der verfolgt. Aber auch in den Städten oder ehemals altindustrialisierten Regionen wird weltweit im Zuge des industriestrukturellen Wandels die touristische Ausrichtung als ein Element zur Bewältigung des Strukturwan‐ dels eingesetzt. Von den deutschen Mittelgebirgen bis in die Namib-Wüste, vom szenetouristischen Angebot in Berlin-Friedrichshain und die Ruinen‐ kneipen in Budapest über den Industriekulturtourismus im Ruhrgebiet bis hin zur architekturtouristischen Redevelopment der Waterfront in Chicago sind in den letzten Jahren eine Vielzahl neuer touristische Angebote ge‐ schaffen worden, ohne dass ein Ende absehbar wäre. Trotz des Wachstums der Nachfrage wird sich damit der Wettbewerb zwischen den Destinationen auch künftig weiterhin verschärfen. Darüber hinaus stellen ökologische Herausforderungen, wie die bislang erst partiell erfolgte Orientierung auf das Paradigma der Nachhaltigkeit so‐ wie die noch nicht vollständig absehbaren Konsequenzen des Klimawandels 377 8 Perspektiven und Ausblick 377 <?page no="378"?> - insbesondere für die Destinationen zwischen den mediterranen Subtropen und den Tropen - weiter Ansprüche an die Akteure in den Destinationen. Offen bleibt die Frage, inwieweit politische Instabilitäten, möglicherweise sogar ein „Clash of Cultures“ mit interkulturell motivierten Konflikten sich weiter akzentuiert und in welchem Umfang und welcher Form sich dies auch im Tourismus auswirkt. Damit werden auch in Zukunft die Anforderungen an die einzelnen Leis‐ tungsträger, insbesondere aber auch für die Steuerung der Leistungsbündel in den Destinationen weiter zunehmen. Im Kontext des Destinationsmana‐ gements wird es nicht nur darum gehen, die Leistungsträger bei der Bewäl‐ tigung der Aufgaben zu begleiten und zu unterstützen. Auch ein „Mitschlep‐ pen“ von Leistungsträgern, die den künftigen Herausforderungen nicht gewachsen sein dürften, scheint auf Dauer nicht möglich. Neben dem klas‐ sischen pädagogischen Grundprinzip des „Fördern und Fordern“ erscheint eine verstärkte Konzentration auf entwicklungsfähige privatwirtschaftliche Anbieter in den Destinationen notwendig. Dies gilt aber auch für die ge‐ samtstaatliche Ebene. Bislang wurde Tourismusförderung als Teil der re‐ gionalen Wirtschaftsförderung weitgehend flächenhaft in Regionen mit Strukturproblemen nach dem Gießkannenprinzip eingesetzt. Auch hier er‐ scheint - unter dem Blickwinkel einer optimierten Ressourcenallokation im globalen Wettbewerb - eine Konzentration auf die Destinationen mit einem ausreichenden Marktpositionierungspotential sinnvoll. Im Bewusstsein, dass dies teilweise im Gegensatz zum staatlichen Ausgleichsziel steht, spricht vieles dafür, Fördermittel im Tourismus stärker auf die Destinationen zu konzentrieren, in denen das Verhältnis zwischen staatlicher Förderung und der generierten Wertschöpfung einen möglichst hohen Wert annimmt. Auch wenn dies nicht umfassend empirisch zu belegen ist, drängt sich bei manchen touristischen Förderprojekten der Eindruck auf, dass mit großem Aufwand an öffentlichen Mitteln letztendlich kaum Wertschöpfung gene‐ riert wird. Die zentrale Herausforderung besteht aber darin, den „Tourismus als Traumfabrik“ neu zu denken, in der Servicequalität alleine nicht mehr aus‐ reicht für ein erfolgreiches Bestehen am Markt. Der Tourist von morgen wird sicherlich neue Dimensionen von Flow-Erlebnissen erwarten. Und, um diesen Anforderungen zu entsprechen, müssen die bestehenden Angebote immer wieder neu entdeckt oder wiedererfunden werden. Die Steigerung der Innovationsfähigkeit und der Kreativität sind damit sicherlich relevante künftige Handlungsfelder. Die Produkte müssen aber nicht nur entwickelt 378 8 Perspektiven und Ausblick 378 <?page no="379"?> werden. Es gilt auch die Destinationen als Marken-Ikonen mit einem inte‐ grierten holistischen Erlebnisversprechen auf dem Markt zu positionieren. Und um die neuen Erlebnisdimensionen entsprechend zu bedienen hat der Tourismus sicherlich noch einen weiten Weg vor sich. Gleichzeitig ist angesichts der seit 2017 laufenden Overtourism-Diskus‐ sion deutlich geworden, dass die Akzeptanz bei der Bevölkerung vor dem Hintergrund der eindeutigen quantitativen Wachstumsorientierung im Tou‐ rismus lange Zeit sträflich vernachlässigt worden ist. Möglicherweise läuten die sich manifestierenden Unbehaglichkeitsgefühle und Widerstände in den (vor allem städtetouristischen) Destinationen auch einen Paradigmenwech‐ sel hin zu einer stärker auf Partizipation und Verträglichkeit ausgerichteten Kurs ein. Implikationen für die Tourismus- und tourismusgeographische Ausbildung Die sich ausdifferenzierenden und gleichzeitig zunehmenden Ansprüche und Erwartungen der Nachfrager sowie die weiteren ökologischen, gesell‐ schaftlichen, technischen und politischen Herausforderungen implizieren, dass die Anforderungen an die Ausbildung im Tourismus weiterhin steigen werden. Längst reicht es eben nicht mehr, das gelegentlich immer noch in Destinationen zu findende Schild: „Fließend kalt und warm Wasser“ an einer Unterkunft anzubringen oder zu wissen, ob ein Schnitzel von links oder von rechts serviert wird. Der Tourismusmarkt hat in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Professionalisierung erfahren. Das alte Sprichwort „Wer nichts wird, wird Wirt“ gilt schon lange nicht mehr für ein erfolgreiches Agieren auf dem Markt. Und auch das Klischee vom „Fräulein im Fremdenverkehrsamt“, das, mit einem Lächeln auf den scheuen Lippen, Montag bis Freitag zwischen 10 und 16 Uhr den „Fremden“ eine Broschüre in die Hand drückt, ist weit ent‐ fernt von der Realität in den meisten Destinationsmarketingorganisationen. Zwar ist nach wie vor ein erheblicher Teil der Arbeiten operativ und oftmals in direktem Kundenkontakt. Dieser erfolgt aber eben oftmals mehr über Facebook-Posts zur Stimulierung der Social-Media-Kommunikation als über den direkten Kontakt am Schalter. Neben dem konkreten operativen Kun‐ denkontakt nimmt aber der Anteil von konzeptionellen und strategischen Aufgaben deutlich zu. Entsprechend dem sich wandelnden Aufgabenprofil hat in den letzten drei Jahrzehnten eine deutliche Akademisierung der Tourismusausbildung statt‐ 379 8 Perspektiven und Ausblick 379 <?page no="380"?> gefunden. Dabei wurde insbesondere an den (Fach-)Hochschulen das be‐ rufsfeldorientierte Ausbildungsangebot deutlich ausgebaut. Allerdings ist auch zu konstatieren, dass die Tourismuswissenschaften innerhalb des akademischen Kontextes nur begrenzt als seriöse Wissen‐ schaft eingeschätzt werden. Wenn ein Studiengang „Leisure and Tourism Management“ (LTM) kalauerhaft innerhalb der Hochschule von Vertretern anderer Disziplinen aufgrund des Akronyms als „Lachen, Tanzen, Musizie‐ ren“ bezeichnet wird, spricht dies nicht unbedingt für eine Wertschätzung bzw. ein Zugestehen von Seriosität der Auseinandersetzung mit dem Tou‐ rismus. Sich wissenschaftlich mit einem Feld zu beschäftigen, das von vielen eben mit den eigenen lebensweltlichen Urlaubserfahrungen konnotiert wird, rückt die Tourismuswissenschaften in den Augen mancher (und nicht nur im akademischen Umfeld) leicht in die Nähe von „hedonistischen Dünn‐ brettbohrern“. Die Vorstellung, dass auf einer tourismusgeographischen Ex‐ kursion in eine mediterrane Destination bei Expertengesprächen in einer Clubanlage eben auch intensive intellektuelle Arbeit geleistet werden kann, ist für Wissenschaftler, deren empirische Arbeit in z. B. in ökotoxikologi‐ schem Pipettieren oder der Erosionssimulation mit im Gelände aufgestellten Duschen besteht, oftmals nur schwer vorstellbar. Das Ambiente eines Labors oder des Forschungsfelds in einer vegetationsarmen, zerklüfteten Land‐ schaft entspricht eben mehr dem gängigen Image von seriöser Forschung. Gleichzeitig ist zu konzedieren, dass die Tourismuswissenschaften eben eine relativ junge Wissenschaft darstellen. Damit sind in der Frühphase si‐ cherlich auch manche akademischen Vertreter in dieses Feld „hineinge‐ rutscht“, bzw. haben eine sich öffnende Nische nach tourismusspezifischer Ausbildungskapazität genutzt, die möglicherweise nicht zum Spitzenfeld der akademischen Welt zählen. Fast im Sinne einer „Self-fulfilling Prophecy“ gelingt es den Tourismuswissenschaften beim akademischen „War for Ta‐ lents“ aufgrund ihres nur teilweise als begrenzt wissenschaftlich seriös ein‐ gestuften Images, auch nur partiell hochkarätige Nachwuchswissenschaftler anzusprechen. Ohne „Nestbeschmutzung“ betreiben zu wollen, muss doch klar gesehen werden, dass - wie sicherlich auch in den meisten anderen Disziplinen - in den Tourismuswissenschaften ein breites Spektrum an aka‐ demischen Qualitäten vorzufinden ist. Auch bei Studieninteressenten wirkt das Image der Tourismuswissenschaf‐ ten nach. Dass der Job als Qualitätsmanager eines deutschen Reiseveranstal‐ ters für die Hotels in einer mediterranen Destination eben nicht bedeutet, entspannt wie die Touristen mit einem Cocktail am Pool zu sitzen, sondern 380 8 Perspektiven und Ausblick 380 <?page no="381"?> sowohl die Hotelinfrastruktur (bis hin zur Abwasserbehandlung) als auch die Performance des Personal (vom House-Keeping bis hin zur Abendanimation) zu prüfen und mit den Geschäftsführern teilweise harte Verhandlungen über Optimierungsnotwendigkeiten zu führen, ist vielen am Tourismusstudium Interessierten nicht klar. Auch hier paust sich das Bild von „Arbeiten, wo an‐ dere Urlaub machen“ noch in den Köpfen durch - und führten dann bei einer Konfrontation mit der Realität auch gelegentlich zu Studienabbrüchen. Das Arbeitsfeld Tourismus stellt - neben den fachwissenschaftlichen Kompetenzen - auch hohe Anforderungen an klassische Soft-Skills. Krea‐ tivität, Leistungsorientierung und Risikobereitschaft sind genauso gefordert wie Engagement, Beharrlichkeit und Überzeugungskraft oder Selbstsicher‐ heit. Die Fähigkeit zum Suchen von Marktchancen und dem Setzen von Zie‐ len gehören genauso hierzu wie zur systematischen Planung und Kontrolle. Neben diesen klassischen Persönlichkeitsmerkmalen kommt dem Verständ‐ nis als Dienstleister am Kunden und dem Managen von Emotionen im in‐ terkulturellen Umfeld eine zunehmende Rolle zu. Damit werden die Anfor‐ derungen an im Tourismus Tätige - und insbesondere diejenigen in Leitungsfunktionen - in den nächsten Jahren sicherlich noch weiter steigen. Dies bedeutet gleichzeitig, dass die Nachfrage nach akademischer Ausbil‐ dungskapazität weiterhin auf hohem Niveau bleiben wird. Neben Betriebs‐ wirten und Vertretern anderer „Mutter“-Disziplinen haben insbesondere Tou‐ rismusgeographen im inter- und transdisziplinären Feld der Tourismuswissenschaften bereits heute einen erheblichen Anteil am akademischen Personal der Hochschulen und Universitäten. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass - und die oben skizzierte Wahrnehmung der Tourismuswissenschaften innerhalb der akademischen Welt dürfte hierbei mit eine Rolle spielen - der Tourismus an den Universitäten eher zurück gedrängt wird. Während die (Fach-)Hochschulen in den letzten Jahren tourismusbezogene Studiengänge offensiv ausgebaut haben, ist an den Universitäten, sei es in der BWL, der Geographie oder anderen Disziplinen, eher das Gegenteil zu beobachten. Solange die Promotionsmöglichkeiten nur an Universitäten vorhanden sind, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass es künftig schwieriger werden dürfte, promovierte und qualifizierte Tourismuswissenschaftler für das künftig be‐ nötigte Lehrpersonal zu finden. Wenn - wie in den Anfängen der akademi‐ schen tourismuswissenschaftlichen Auseinandersetzung - damit auch in Zukunft immer wieder nur Quereinsteiger von außen als akademisches Lehrpersonal gewonnen werden müssen, bedeutet dies letztendlich, dass das Rad immer wieder von neuem erfunden wird und damit auch die konzep‐ 381 8 Perspektiven und Ausblick 381 <?page no="382"?> tionelle und theoretische Weiterentwicklung der Tourismuswissenschaft (auch mit geographischer Perspektive) nicht gewährleistet ist. Anmerkungen zum Arbeitsmarkt für Tourismusgeographen Ein großer Teil der akademischen Tourismusausbildung ist stark vom öko‐ nomischen Fokus geprägt. Dieser stellt auch eine wichtige Säule in der Tou‐ rismuswirtschaft dar und kann als die Basis jeglichen Agierens im Touris‐ musmarkt angesehen werden. Die zunehmende Ausdifferenzierung und der stärker werdende post-fordistische Charakter der touristischen Angebote, ebenso wie die zunehmende Bedeutung der ethischen Verantwortung und der Ökologieorientierung, aber auch die interkulturellen Aspekte des inter‐ nationalen Tourismus bedeuten, dass mehr und mehr auch die inter- und transdisziplinäre Dimension an Bedeutung gewinnt. Tourismus braucht zwar auch, aber eben nicht nur Experten für eine rein ökonomische Opti‐ mierung, sondern mehr und mehr auch ganzheitlich ausgerichtete Fach‐ leute. Damit gewinnt der Ausbildungsansatz der Tourismusgeographie mit einem stärker umfassend und gesamtgesellschaftlichen Blickwinkel an Be‐ deutung. Gleichzeitig spielt die ökonomische Komponente im Tourismus immer eine gewisse Rolle. Die ökonomische Tragfähigkeit eines Produktes oder eines Konzepts stellt eben in jedem Fall den „Moment of Truth“ dar. Und jede noch so sozialpsychologische ausgefeilte oder pädagogisch „wert‐ volle“ Erlebnisinszenierung bzw. zur Biodiversität und der Nachhaltigkeits‐ orientierung beitragende Gestaltungsansätze müssen letztendlich, wenn auch nicht immer im streng betriebswirtschaftlichen Sinn, aber doch aus volkswirtschaftlicher Sicht „rentabel“ sein. Aufgrund des klaren Bezugs des Tourismus als kulturelle Praxis zu kon‐ kreten räumlichen Kontexten besitzt die Tourismusgeographie eine lange Tradition der Beschäftigung mit dem Phänomen und insbesondere seinen räumlichen Komponenten. Die Auseinandersetzung erfolgte - entsprechend der Tradition des Faches - lange Zeit unter dem stark deskriptiv ausgerich‐ teten, länderkundlich-ideographischen Blickwinkel. Die 1968 reklamierte Ausrichtung des Faches an der gesellschaftlichen Relevanz und das „Verlas‐ sen des Elfenbeinturmes“ führten dazu, dass sich auch die Tourismusgeo‐ graphie stärker anwendungsorientierten Fragenstellungen zuwandte. Dass sich die Geographie zu Beginn des 21. Jahrhunderts wohl fast schon wieder - zumindest tendenziell - eher auf dem Weg zurück in den Elfenbeinturm befindet und „Angewandte Geographie“ manchmal schon eher wie ein Schimpfwort verwendet wird, steht auf einem anderen Blatt. 382 8 Perspektiven und Ausblick 382 <?page no="383"?> Lange Zeit stellten Aspekte des „Fremdenverkehrs“ eben nur eines von mehreren Betätigungsfeldern von Hochschulgeographen dar, die primär zu‐ künftige Lehrer ausbildeten, für die wiederum Tourismus nur eines von vie‐ len Unterrichtsthemen bedeutete. Erst mit der Einführung von anwendungs‐ orientierten Diplomstudiengängen in der Geographie seit den späten 1960er, aber vor allem in den 1970er Jahren erfolgte eine verstärkte Orientierung auf andere Berufsfelder. Primär mit dem Blickwinkel auf die mögliche regional‐ ökonomische Rolle des Tourismus in peripheren ländlichen Räumen wurden damit seit Mitte der 1970er Jahre auch spezielle Professuren und Studienrich‐ tungen für Tourismusgeographie geschaffen. Ziel der Ausbildung war es da‐ mit ursprünglich vor allem, regionale Fachleute für den Tourismus in ländli‐ chen Destinationen als Wirtschaftsstrukturförderung auszubilden. Diese Orientierung auf den ländlichen Raum paust sich auch in den Aus‐ bildungsstandorten durch. Im ersten Quartal 2006 wurde zum ersten - und bislang auch letzten - Mal eine bundesweite internetgestützte Befragung von Geographieabsolventen mit Tourismusorientierung unternommen. Bei den Angaben zum Studienort bilden drei Universitäten im ländlichen Raum den klaren Schwerpunkt (vgl. Abb. 139). Gleichzeitig war zum Befragungs‐ zeitpunkt an all diesen Standorten die tourismusgeographische Ausrichtung mit mindestens einer Professur institutionell verankert. Abb.‐Nr.: -139 Abb.‐Titel: -Studienstandorte-von- Tourismusgeographen-(Quelle: -Eigene-Erhebung; -N-=- 283) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE 0 20 40 60 80 100 Trier Paderborn Eichstätt Greifswald Göttingen München Münster Regensburg sonstige Abb. 139: Studienstandorte von Tourismusgeographen (Quelle: eigene Erhebung; N = 283) Greifswald mit seiner Bedeutung als Ausbildungsstandort der sog. „Rekrea‐ tionsgeographie“ während DDR-Zeiten stellt einen Sonderfall dar. Die Stich‐ 383 8 Perspektiven und Ausblick 383 <?page no="384"?> probengenerierung lief zum großen Teil über entsprechende Netzwerke und Verbände, aber auch die Kollegen und Kolleginnen an den jeweiligen Stand‐ orten und ihre Alumni-Verteiler. Aufgrund des mit der Wiedervereinigung verbundenen Bruches konnten die Absolventen und Absolventinnen aus der DDR-Zeit nur sehr partiell erfasst werden. Dieses Ergebnis ist sicherlich auch deswegen nicht repräsentativ, da die Universitäten mit institutionali‐ sierten tourismusgeographischen Studienrichtungen wohl auch einen hö‐ heren Grad an Formalisierung ihres Alumni-Netzwerkes besitzen. Wenn auch nicht notwendigerweise die genaue numerische Relation, so dürfte doch die Grundtendenz richtig gespiegelt sein. Auch wenn die universitäre Ausbildung im Bereich Tourismusgeographie ursprünglich stark auf die regionalen Tourismusorganisationen und damit das Destinationsmanagement ausgerichtet war, verteilen sich die Absolven‐ ten grob gesprochen zu je einem Viertel auf Reiseveranstalter, touristische Leistungsträger, Tourismusorganisationen und den Bereich Consulting/ Ausbildung. Damit finden Tourismusgeographen neben dem quasi „natür‐ lichen“ Arbeitsmarkt in den DMOs zum erheblichen Teil auch in anderen Bereichen Beschäftigung. Bei den Reiseveranstaltern dominieren kleine Spezialreiseveranstalter - oftmals auch mit Reiseangeboten in Fernreise‐ ziele. Hinter den touristischen Leistungsträgern steht ein breites Spektrum, das vom Anbieter von Ferienwohnungen und Betreibern von Ferienparks über kulturelle und Freizeiteinrichtungen bis hin zu Incoming-Agenturen und auch manchen Fluggesellschaften reicht. Kaum vertreten sind Hotels - hier gibt es spezialisierte spezifische Ausbildungs- und Studienangebote und gleichzeitig ist dieses Arbeitsmarktsegment prioritär stärker auf andere Stu‐ dienschwerpunkte als die der Tourismusgeographie ausgerichtet. Gleichzeitig sind es zumeist spezifische Arbeitsfelder, die bei Reiseveran‐ staltern und Leistungsträgern besetzt werden. Einen großen Teil nehmen das Marketing, aber auch die Produktentwicklung und der Vertrieb ein. Während sich Tourismusgeographen kaum in „harten“ Kern-BWL Berei‐ chen wie z. B. dem Controlling finden, scheinen sie ihre spezifischen Kom‐ petenzen auch bei den Reiseveranstaltern und den anderen touristischen Leistungsträgern - dort selbstverständlich auch im Wettbewerb mit Absol‐ venten von stärker betriebswirtschaftlich ausgerichteten (touristischen) Studiengängen - Anklang zu finden. Tourismusgeographen sind auch nur in den seltensten Fällen als Art „akademische Reiseleiter“ tätig. Wenn doch (N = 1 in der Stichprobe), dann meist nur als (durchaus sinnvolle) Einstieg‐ soption, bevor sie dann in das Produktmanagement oder das Marketing bei 384 8 Perspektiven und Ausblick 384 <?page no="385"?> einem Studienreiseveranstalter wechseln, sich als Spezialreiseveranstalter selbständig machen, eine Incoming-Agentur oder auch eine Auslandsreprä‐ sentanz einer Fernreisedestination für den deutschen Markt gründen. Bei der Befragung der Tourismusgeographieabsolventen erfolgte auch eine Erkundigung nach der Relevanz von im Studium vermittelten Kompe‐ tenzen. Ein großer Stellenwert kommt dabei erwartungsgemäß der fachli‐ chen Kompetenz zu (vgl. Abb. 140). Dabei wurden bei den fachlichen Kom‐ petenzen insbesondere Kenntnisse zum Destinationsmanagement, zu Zielgruppen und Marktsegmenten sowie dem Tourismusmanagement als relevante inhaltliche Felder genannt. Neben den fachlichen Kompetenzen paust sich aber klar durch, dass den methodischen Fertigkeiten, der Fähig‐ keit zur Präsentation, Moderation und auch Mediation, sowie ganz allge‐ mein den Soft-Skills eine hohe Bedeutung zumessen wird. Im Umkehr‐ schluss kann gefolgert werden, dass es gerade auch diese Fähigkeiten sind, die in den Augen von potentiellen Arbeitgebern - zusätzlich zu den rein fachlichen Kenntnissen - für Tourismusgeographen einen Wettbewerbs‐ vorteil darstellen. Gerade diese Fähigkeiten, zu denen sicher auch eine ge‐ wisse Flexibilität zählt, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen, mag mit eine Erklärung auch für den relativ hohen Anteil von Tourismusgeographen im Bereich Consulting sein. Abb.‐Nr.: -140 Abb.‐Titel: -Bedeutung-von-Ausbildungsinhalten-für- Berufseinstieg-(Quelle: -Eigene-Erhebung; -N-=-283) Buchtitel: -Tourismusgeographie,-2.-Aufl.-2020 Autoren/ Buchtitel: - Kagermeier--/ -TOURISMUSGEOGRAPHIE Sehr Ganz wichtig unwichtig Fachliche Kompetenz Methodische Fertigkeiten Präsentation, Moderation Praktikum Sprachkenntnisse Auslandserfahrung Zusatzqualifikationen Soft Skills Abschlussarbeit Thema Abschlussarbeit Methodik Berufsausbildung Abb. 140: Bedeutung von Ausbildungsinhalten für Berufseinstieg (Quelle: eigene Erhebung; N = 283) 385 8 Perspektiven und Ausblick 385 <?page no="386"?> Tourismusgeographen weisen - die entsprechenden Voraussetzungen selbstverständlich vorausgesetzt eine respektable Erfolgsquote bei der Inte‐ gration in den Arbeitsmarkt auf. Bei der Befragung im Jahr 2006 gab etwa die Hälfte der Tourismusgeographen (ohne Abschluss im Jahr 2005) an, di‐ rekt im Anschluss an das Studium eine Beschäftigung gefunden zu haben. Bei etwa einem Fünftel dauerte dies bis zu drei und bei jedem Siebten bis zu sechs Monaten. Bis zu einem Jahr war nur etwa ein Zehntel auf Arbeitssuche. Die Tourismusgeographie eröffnet damit für Geographen ein spannendes Arbeits- und Betätigungsfeld mit guten Entwicklungsperspektiven in einem relevanten Arbeitsmarktsegment. Die Kontakte zu den Arbeitgebern ent‐ stehen dabei oft über ein Praktikum oder die Abschlussarbeit. Allerdings bedeutet aber: „Arbeiten, wo andere Urlaub machen“ gleichzei‐ tig oftmals - auch in den konzeptionell-strategischen Tätigkeitsbereichen - dass man teilweise zu Zeiten arbeitet, wenn andere Urlaub machen! Und, um einem weiteren Klischee vorzubeugen, das Studieninteressenten der Touris‐ musgeographie manchmal zur Immatrikulation bewegt. Wer gerne Fernrei‐ sen unternimmt, und meint, mit der Tourismusgeographie seine privaten Neigungen auf einfache Weise mit dem Beruf verbinden zu können, soll sich vergegenwärtigen, dass zum zwölften Mal im Jahr z. B. als Hoteleinkäufer für einen Reiseveranstalter in eine karibische Destination zu fahren eben nicht nur Vergnügen darstellt. Gleichzeitig bedeutet es auch Verantwortung dafür, dass die Gegebenheiten vor Ort mit der Zielgruppenorientierung des Unter‐ nehmens kongruent sind und die ausgehandelten Raten auch mit den unter‐ nehmensinternen Kalkulationsvorgaben übereinstimmen. Und die Reisezeit wird zumeist auch nicht in der klimatisch günstigen Hochsaison liegen. Be‐ reitschaft zu räumlicher Mobilität ist damit zwar in manchen Bereichen des touristischen Arbeitsmarktes eine notwendige Voraussetzung. Wer aber zum eigenen Vergnügen viel in exotische Reiseziele reisen möchte, sollte sich wohl besser ein gut dotiertes anderes Arbeitsfeld suchen und sein Einkommen dann in private Reisen investieren. Damit soll an dieser Stelle auch etwas „Wasser in den Wein gegossen“ werden. Wie viele Dienstleistungsbereiche sind auch die Löhne - aber auch die Gewinnmargen von Unternehmen - deutlich niedriger als in vielen Be‐ reichen der Industrie oder auch im Finanzwesen. Etwas holzschnittartig formuliere ich in der Erstsemestervorlesung: „Wer meint, auf seine Dritt-Jacht in Monaco und seine Fünft-Wohnung auf den Seychellen nicht verzichten zu können, soll wahrscheinlich besser in ein anderes Studienfach wechseln … oder darauf spekulieren, den Sohn/ die Tochter des TUI-CEO 386 8 Perspektiven und Ausblick 386 <?page no="387"?> heiraten zu können“. Die Verdienstmöglichkeiten im Tourismus resultieren - abgesehen von den harten Wettbewerbsbedingungen - teilweise auch daraus, dass eben erst seit wenigen Jahrzehnten mehr und mehr akademisch ausgebildete Arbeitskräfte in diesem Bereich eingestellt werden. Traditio‐ nell war es auch bei großen Reiseveranstaltern oftmals so, dass das Füh‐ rungspersonal als Reiseverkehrskaufmannslehrlinge angefangen und damit „von der Pike auf “ ihren Weg ins Management gemacht haben. Auch im öffentlichen Bereich werden Tourismusfachleute mit Hochschulabschluss oftmals auf Stellen eingesetzt, die früher von Angestellten mit mittleren Bil‐ dungsabschlüssen eingenommen wurden. Die Aufgabenprofile werden da‐ bei zwar anspruchsvoller, gleichzeitig bleibt aber die Lohngruppe unverän‐ dert. Zwar ist zu erwarten, dass mit dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel auch im Tourismus beim sog. „War for Talents” das Ent‐ lohnungsniveau ansteigen wird. Allerdings dürfte es auch mittelfristig unter dem in manchen Industriebereichen gezahlten Level bleiben. Das (Tourismus-)Geographiestudium scheint Studierende anzuziehen, die einerseits die Fähigkeit zu Visionen und ein gewisses Maß an Kreativität mit Pragmatismus und Bodenhaftung kombinieren. Wenn im Studium neben den fachlichen Inhalten auch Leadership- und andere soziale Kompetenzen wie die Netzwerk- und Mediationsfähigkeit gefördert werden, kann der geographische Approach als tendenziell holistischer Ansatz dazu beitragen, dass Tourismusgeographen auch künftig eine wichtige Rolle im Tourismus spielen. Auch vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden zunehmenden Be‐ deutung, die die Einbeziehung der lokalen Bevölkerung vor dem Hinter‐ grund der Overtourism-Diskussion künftig zukommen dürfte, dürften die Chancen von Tourismusgeograph*innen auf dem Arbeitsmarkt tendenziell eher zunehmen. Tourismusgeograph*innen sind nicht nur primär am wirt‐ schaftlichen Erfolg orientierten, sondern sie berücksichtigen eben auch die vielfältigen räumlichen, gesellschaftlichen und umweltbezogenen Facetten des Tourismus. Dieser holistische Blickwinkel wird sicherlich an Bedeutung zunehmen. Das Buch schließt mit dem Satz der letzten Folie der Erstsemestervorle‐ sung für Studierende der Tourismusgeographie: „Sie sind im Begriff, sich auf ein faszinierendes, facettenreiches, spannendes, sich gleichzeitig permanent veränderndes und herausforderndes Berufsfeld vorzubereiten.“ 387 8 Perspektiven und Ausblick 387 <?page no="389"?> Literaturverzeichnis A B E G G Bruno et al. (2007): Climate change impacts and adaptation in winter tourism. In: Shardul Agrawala / OECD (= Organisation for Economic Co-operation and Development; Hrsg.; 2007): Climate Change in the European Alps. Adapting win‐ ter tourism and natural hazards. Paris, S. 25-60 ACCOR (2014): Accor Ethics and Corporate Social Responsibility Charter. Paris A D E R H O LD , Peter et a. (2013): Tourismus in Entwicklungs- und Schwellenländer. 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Welt-Länder 320 Abfallaufkommen 296 Abfälle 296 Abwässer 296 Abwasseraufbereitung 295 Accor 98 Agadir 305 Agroturisme 292 AIDA 75 AIDA-Model 75 Airbnb 234 All Inclusive 336, 337 Alterskohorteneffekt 113 Altersruhesitze 287 Analysephase 132 Angebotsseite 89 Arbeitsmarkt für Tourismusgeographen 382 Arbeitsplätze 337 Assurance 80 Aufenthaltsabgabe 175 Ausdifferenzierung des Basisprodukts 259 Badetourismus 305 Badewanne Europas 280 Balearen 285 Balearisierung 294 Basisfaktoren 81 Bedürfnispyramide nach Maslow 42 Begegnen 68 Begeisterungsfaktoren 81 Beherbergungswesen 96 Beschaffung 104 Beschäftigungswirkung 210 Besucher 150 Besuch von Bekannten und Verwandten 66 Bett+Bike 259 Binnenreisen 62 Brauchwasseraufbereitung 296 BRICS-Staaten 284 Bruttowertschöpfung 210 BTW 223 Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft 223 Business Travel 111 Capacity Building 314 Cash Cows 127 CBT (Community Based Tourism) 348 Charterfluggesellschaften 102 Cittaslow 239 CO2-Neutralität 195 Code of Conduct 222, 223 Community Based Tourism“ 360 Community Based Tourism (CBT) 348 Community Model 162 Cook, Thomas 32 Corporate Model 162 Corporate Social Responsibility (CSR) 352 CSR (Corporate Social Responsibility) 352 Dachmarke 134, 135 DEHOGA 222 Demographischer Wandel 72 Dependenztheorie 321 <?page no="410"?> DER Touristik 92 Destination 149, 150 Destination Governance 162 Destinationslebenszyklus 35 Destinationslebenszyklusmodell 40 Destinationsmanagement 154 Determinationszeit 27 Deutscher Hotel- und Gaststätten-Verband 222 Deutscher Reiseverband 222 Deutscher Tourismusverband 219 Deutsche Zentrale für Tourismus 218 Deutschlandtourismus 207 Dezentralisierung 338 (Dienst-)Leistungsbündel 122 differenzierte Markenstrategie 98 direkte Effekte des Tourismus 326 Dispositionszeit 27, 28 diversifiziertes Wachstum 131 dritter Boom 287 DTV 219 DZT 218 Economies of Scale 92 Economies of Scope 92 ECPAT 222 Einstellungsmodell 77 Einzelmarke 134, 135 E-Mobility 262 emotionale Komponente 77 Emotionen 134 Emotionskomponente 52 Empathy 80 Energie 297 entspannen 68 Entwicklung 40 Entwicklungsländer 15, 321, 337 Entwicklungsländertourismus 319, 325 ereignisorientierte Verfahren 85 erholen 68 Erkundung 39 Erlebnisökonomie 49 Erlebnisorientierung 48 Erlebnisspirale 49 Erneuerung 40 Erschließung 39 erster Boom 287 Erweiterung des Angebotsspektrums 262 explorative Komponente 52 Fahrradtourismus 242, 271 Fahrradtourismus auf Mallorca 293 Fahrstuhleffekt 56 Familie 68 Faszination 134 Finanzierung 167 Fincatourismus 292 Fitness 266 flexible Kooperationsmuster 168 Flow-Konzept 50 Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen 58 frei sein 68 Freizeit 25 Freizeitbegriff, negativer 26 Freizeitbegriff, positiver 26 Freizeitbegriff, subjektiver 25 Freizeitstilgruppen 47 Freizeit- und Erlebniswelten 48 Freizeit- und Tourismusforschung 14 Fremdenverkehrsgeographie 19 Full Service Carrier 101 FUR 58 GAP 1 79 GAP 2 80 GAP3 80 GAP4 80 410 Register 410 <?page no="411"?> GAP 5 79 GAP-Modell 78 Genuss 68 Geographie der Freizeit und des Fremdenverkehrs 20 Gesellschaft 17 Gestaltungsphase 132 Gesundheit 68 Golftourismus 290 Good Practise Beispiel 169, 174 Governance-Herausforderung 240 Grand Tour 29 Greenwashing 297 Größe 167 größere Kompetenz 71 Grundwasserspiegel 295 Grup Ornitològic de Balears 294 Handlungsrelevanzmatrix 83 Herausforderung im Luftverkehr 195 Historic Highlights of Germany 179 (Hybride) Produktkombinationen 260 hybride Destinationsauffassung 178 hybride Produkte 262 Hybrider Tourist 72 Identifizierung 133 Igelbus 247 Image 76 Immaterialität der Dienstleistung 121 Importance Grid 82 Incoming Tourismus 213 Incoming-Tourismus 207, 213 Individualität 71 Individuum 16 Initiative Servicequalität 220 Initiative ServiceQualität Deutschland 220 Integration des externen Faktors 121 Internetnutzung 113 INVENT 204 Kano-Modell 80 Kenia“ 354 klassisches Reisebüro 111 Klimawandel 190, 195 KMTU (klein- und mittelständischen touristischen Unternehmen)“ 360 Kognitionskomponente 52 kognitive Komponente 77 Königsstädte 305 Konsolidierung 40 Konsumverhalten 71 KONUS-Konzept 246 Kostenführerschaft 130 Kraft durch Freude (KdF) 32 Kundenzufriedenheit 76 Kurkrise 266 Landschaftsinanspruchnahme 294, 296 LCC 101 Leadership-Ansätze 165 Leakages 334 Lebensstilansatz 44 Lebensstile 71 Lebenszyklusmodel 246 Lebenszyklusmodell 41 Leistungsfaktoren 81 Linkage Effekte 38 LMO (= Landesmarketingorganisation) 136 lokale Bevölkerung 157 Low Cost Carrier 57, 101 Luftverkehr 195 Luftverkehrsmarkt 100 Marken 133 Markenstrategie 99 Marketing 105 Marketing im Tourismus 119 Marketingmix 120 411 Register 411 <?page no="412"?> Marktdurchdringung 131 Marktentwicklung 131 marktorientierter Ansatz 124 Marrakesch 305, 310 Massentourismus 33 Meerwasserentsalzung 295 Menschen 68 MICE-Tourismus 294 Mittelmeerdestinationen 286 Mittelmeerraum 280 Modernisierungstheorie 320 Mombasa“ 355 motivationale Komponente 77 Motive 23 Motive von Reisen 67 multiattributive Einstellungskonzepte 77 multiattributive Modelle 85 Multiplexkinos 41 Nachfragekurve 35 Nachfragemuster 71 Nachfrageseite 55 Nachhaltige Entwicklung 186 nachhaltiges Reiseverhalten 201 Nachhaltigkeit 17 Nachhaltigkeitsorientierung 246 Natur 68 Nautischer Tourismus 293 Neckermann 91 Neobehaviorismus 76 Network Carrier 101 Neues erleben 68 Niedergang 40 Niedrigpreisstrategie 130 Nischenstrategie 130 North Rift Valley (Kenia)“ 362 Nutzen 134 objektive Messansätze 84 Obligationszeit 27 öffentliche Mobilitätsangebote 246 Off the Beaten Track 232 Ökologie 16 Ökotourismus 188 Organisationsform der DMOs 159 Orientierung 133 Ortsveränderung 22 Overtourism 228, 235, 240 Overtourismus 240 Partytourismus 288 Pauschalreisen 93 Pays d’Accueil Touristique (PAT) 313 Peripherregion 38 Place 120 Plan Azur 308 Plan Biladi 310 Plan Mada’In 309 Plan Rural 311 Planungsfunktion 157 Polarization Reversal 34 Polarization-Reversal 323 Polarization Reversal Ansatz 37 Politik 15 politische Instrumentalisierung des Tourismus 33 politische Interessensvertretung 157 Poor Dogs 128 Portfolioanalyse 127 Postmoderne 69 Prestige 133 Price 120 problemorientiere Verfahren 85 Product 120 Produktdiversifizierung 299 Produktentwicklung 131 Produkt-Lebenszyklen 25 Promotion 120 412 Register 412 <?page no="413"?> Pro-Poor-Growth-Branche 338 Prozesses der Destinationsentwicklung 157 Prozessmanagement 105 Qualitätsführerschaft 130 Qualitätsmanagement 86 Qualitätstourismus 290 Quellmärkte 65 Quellmärkte Mallorcas 289 Question Marks 127 Raum 16 Reaktionen der FSC 107 Realisierungsphase 132 Recht auf Urlaub 30 (regionale) Fluglinien 102 Regionalentwicklung 338 Regionalisierung 301 Reiseanalyse 58, 93 Reiseentscheidungsprozess 74 Reiseintensität 59 Reisemittler 111 Reisemotive 68 Reiseveranstalter 91 Reiseveranstaltermarkt 92 Reisezwecke 66 Reliability 80 Residenzialtourismus 291 Responsiveness 80 ressourcenorientierter Ansatz 124 REWE-Gruppe 92 Riad-Tourismus 312 Risiko-Aktiv 68 Risikoreduzierung 133 Rundreisetourismus 305 Safaritourismus“ 355 Saisonalität 289 sanfter Tourismus 184 Share Economy 233 Sicherheit 133 Sickerrate 333, 335 Sickerraten 334 SICTA (Standard International Classification of Tourism Activities) 21 Sinus-Milieus 45 SINUS-Milieus 330 Slow Tourism 25 Social Media Empfehlungsmarketing 232 Social Media Marketing 140 Sonne 68 S-O-R-Modell 76 soziale Interaktion 52 sozio-demographische Voraussetzungen 71 Spaß 68 Städtetourismus 213, 224, 271, 305 Stagnation 40 Standard International Classification of Tourism Activities (SICTA) 21 Stars 127 stationärer Reisevertrieb 112 Straße der Ameisen 232 Straße der Kasbahs 305, 306 Strategiephase 132 subjektive Messansätze 85 subjektive Rahmenbedingungen 74 subjektives Reiseerlebnis 29 Sustainable Development 186 SWOT-Analyse 125 Symbol 134 Tagestourismus 225 Tangibles 80 Thematisierungsansätze 262 Theorie der Zentralen Orte 34, 35 Theory of Planned Behavior 78 Thomas Cook 91 413 Register 413 <?page no="414"?> Tourisme Rural (Marokko) 313 Tourismusdichte 286 Tourismusformen 24 Tourismusgeographie 19 Tourismus im ländlichen Raum 39 Tourismusintensität 285 Tourismuskritik 184 Tourismuspolitik 217 Tourismuswissenschaften 18 Tourist 22 Tourist Bubble 232 Touristifizierung 235 touristische Leistungskette 89 touristische Reisekette 155 touristisches Reisebüro 112 Tragfähigkeitsgrenze 16 Tragfähigkeitsgrenzen 294 TUI 91 Turisme Rural 292 Übernachtungsbetriebe 95 Übernutzung 16 Umwelt 338 United Nations World Tourism Organisation 21, 63 Uno-Actu Prinzip 121 Unternehmen 151 UNWTO 21, 63 Urlaubserlebnis 69 Urlaubsreiseintensität 59 Urlaubsreisen im Inland 60 USP (Unique Selling Proposition) 123 Vaganten 28 Value-action-gap 202 Value-Action-Gap 331 Value Chain 332 Verhaltenskodex 223 Verkehr 297 Verkehrsmittelnutzung 62 Vermarktungsaktivitäten 263 Vermarktungskooperation 179 Vertrauen 133 Viabono 203 vierte Boomphase 288 Visit Friends and Relatives 66 volkswirtschaftliche Bedeutung des Tourismus 210 Wandertourismus 242, 246, 271 Wandertourismus auf Mallorca 292 Wasserverbrauch 294, 295 Well-being 266 Wellness 266 Wellness-Tourismus 272 Wertewandel 69 Wertschöpfung 209 Wertschöpfung Mittelmeerraum 285 Wertschöpfungsberechnung 172 Wertschöpfungskette 332 Wertvorstellungen 71 Wettbewerb 150 wirtschaftliche Gegebenheiten 15 Wohlstandsniveau 57 Wortbildmarken 139 Zeit der fahrenden Schüler 29 Zeitliche Befristung 22 Zentrale Orte (Theorie) 35 Zersiedelung 296 Zertifizierung 202 Zielgruppenerschließung 262 Zielgruppensegmentierung 44 Zweck 22 zweiter Boom 287 414 Register 414 <?page no="415"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Freizeit und Tourismus als interdependente Phänomene (Quelle: eigene Darstellung nach F R E Y E R 2011a, S. 46) . 15 Abb. 2: Differenzierung von Tourismus für statistische Zwecke (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Abb. 3: Unterschiedliche Freiheitsgrade bei Dispositions-, Obligations- und Determinationszeit (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an O PAS CHOWS KI 1990, S. 86) . . 27 Abb. 4: Idealschema einer Nachfragekurve (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Abb. 5: Idealschema des Systems der Zentralen Orte (Quelle: eigener Entwurf nach C HRI S TALLE R 1968) . . . . . . . . . . . 36 Abb. 6: Schema der Ausbildung von Linkage-Effekten bei der touristischen Erschließung von Peripherregionen (Quelle: eigene Darstellung nach V O RLAU F E R 1996, S. 166) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Abb. 7: Grundprinzip des Destinationslebenszyklus (Quelle: eigene Darstellung nach B UTLE R 1980) . . . . . . . . . . . . . . 39 Abb. 8: Entwicklung der Zahl der Multiplexkinos in Deutschland von 1990 bis 2005 (Quelle: eigene Darstellung nach FFA div. Jg.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Abb. 9: Bedürfnispyramide nach M AS LOW und Entsprechungen im Tourismus (Quelle: eigene Darstellung nach M AS LOW 1943 & F R E Y E R 2011a, S. 72) . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Abb. 10: Spaß- und Funktionsorientierung bei Verkehrsmittelwahl in der Freizeit für unterschiedliche Freizeitstilgruppen (Quelle: eigene Darstellung nach G R ONAU & K AG E RMEIE R 2007, S. 129) . . . . . . . . . . . . . . . . 47 <?page no="416"?> Abb. 11: Dimensionen der erlebnisorientierten Besucheransprache nach P INE & G ILMO R E (Quelle: eigene Darstellung nach P INE & G ILMO R E 1999, S. 32) . 50 Abb. 12: Flow als Ausgewogenheit von Anforderungen und Fähigkeiten (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an C S IK S ZENTMIHALYI 1997, S. 31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Abb. 13: Synopse der zentralen Dimensionen von Erlebnisgenerierung im touristischen Kontext (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Abb. 14: Reallohnentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Statistisches Bundesamt div. Jg.) . . . . . . . . . . . . . 56 Abb. 15: Entwicklung der Zahl der zugelassenen PKW in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Statistisches Bundesamt div. Jg.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Abb. 16: Entwicklung der Reiseintensität in der Bundesrepublik Deutschland seit 1955 (Quelle: eigene Darstellung nach FUR div. Jahrgänge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Abb. 17: Entwicklung der Anteile von Reisen im Inland und ins Ausland in der Bundesrepublik Deutschland seit 1955 (Quelle: eigene Darstellung nach FUR div. Jahrgänge) . 61 Abb. 18: Entwicklung der Verkehrsmittel bei Urlaubsreisen seit 1954 (Quelle: eigene Darstellung nach FUR div. Jahrgänge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Abb. 19: Entwicklung der internationalen Ankünfte seit 1950 nach UNWTO-Reisegebieten (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO div. Jahrgänge) . . . . . . . . . . 64 Abb. 20: Quellmärkte im internationalen Tourismus 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO 2019, S. 15) 65 Abb. 21: Reisezwecke im internationalen Tourismus 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO 2019, S. 7) . 66 Abb. 22: Entwicklung der gesellschaftlichen Leitwerte (Quelle: eigener Entwurf, Phase 1 bis 4 nach Q UACK 2011) . . . . 70 416 Abbildungsverzeichnis 416 <?page no="417"?> Abb. 23: Bevölkerungspyramide Deutschland 2010 und 2050 (Quelle: eigene Darstellung auf der Basis der 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes; destatis.de) . . . . . . . . . . . . . 73 Abb. 24: Phasen des Reiseentscheidungsprozesses (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an H ECKHAU S EN & G OLLWITZE R 1987) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Abb. 25: Das neobehavoristische Konstrukt Einstellung (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an F I S HB EIN & A J ZEN 1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Abb. 26: Das GAP-Modell (Quelle: eigener Entwurf nach P ARAS URAMAN , Z EITHAMEL & B E R R Y 1985) . . . . . . . . . . . 79 Abb. 27: Basis- Leistungs- und Begeisterungsfaktoren und deren Einfluss auf die Kundenzufriedenheit (Quelle: eigener Entwurf nach P ECHLANE R , S ME RAL & M ATZLE R 2002, S. 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Abb. 28: Importance Grid (Quelle: eigener Entwurf nach M ATZLE R 2000, S. 301) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Abb. 29: Beispiel für das Ergebnis eines Importance Grid (Quelle: K AG E RMEIE R 2006, S. 301) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Abb. 30: Kundenorientierte Ansätze zur Messung von Zufriedenheit (Quelle: eigener Entwurf nach K AI S E R 2002, S. 106) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Abb. 31: Die touristische Leistungskette (Quelle: eigener Entwurf nach F R E Y E R 2011b, S. 83) . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Abb. 32: Der deutsche Veranstaltermarkt: Umsatzanteile 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten DRV 2019, S. 14) 93 Abb. 33: Entwicklung des Anteils organisierter Urlaubsreisen und von Individualreisen seit 1970 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten FUR div. Jahrgänge) . . . . . . . . 94 Abb. 34: Betriebsarten im Beherbergungswesen (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an F R E Y E R 2011a, S. 145) . . . . . . 95 417 Abbildungsverzeichnis 417 <?page no="418"?> Abb. 35: Wichtigkeit von Aspekten bei der Verkehrsmittelwahl in der Freizeit (Quelle: eigene Berechnungen und eigener Entwurf auf der Basis von Erhebung durch G R ONAU & K AG E RMEIE R ; N = 2.175) . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Abb. 36: Grundprinzip von „Hub and Spoke“ sowie „Point to Point“ Verbindungen (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . 102 Abb. 37: Typologie der Zielgruppen von Airlines (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an G R O S S 2011, S. 201) . 103 Abb. 38: Das Geschäftsmodell der Low Cost Airlines (Quelle: eigener Entwurf nach G R O S S & S CHRÖDE R 2005, S. 46) . 104 Abb. 39: Passagiere auf deutschen Flughäfen 2018 und LCC-Anteil (Quelle: eigener Entwurf nach Daten DLR 2019, S. 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Abb. 40: Wettbewerbsstrukturen im europäischen Luftverkehrsmarkt (Quelle: eigener Entwurf nach F R E YTAG 2009, S. 22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Abb. 41: Mischformen zwischen Reiseveranstaltern und Reisemittlern (Quelle: eigener Entwurf nach Freyer 2011, S. 244) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Abb. 42: Entwicklung der Onlinenutzung in Deutschland 1997 bis 2019 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten ARD/ ZDF-Medienkommission div. Jg.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Abb. 43: Entwicklung der Internetnutzung für Information über und Buchung von Reisen (Quelle: eigene Darstellung nach Daten FUR 2019, S. 47f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Abb. 44: Anteil der Buchungen über digitale Kanäle nach Reiseorganisation (Quelle: eigene Darstellung nach Daten VIR 2019, S. 50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Abb. 45: Onlinebuchungsanteil nach Urlaubsart (Quelle: eigene Darstellung nach Daten VIR 2019, S. 52) . . . . . . . . . . . . 116 Abb. 46: Gründe für Onlinebuchung im Internet im Internet (Quelle: eigene Darstellung nach Daten VIR 2007, S. 14) 117 418 Abbildungsverzeichnis 418 <?page no="419"?> Abb. 47: Gründe gegen Onlinebuchung im Internet im Internet (Quelle: eigene Darstellung nach Daten VIR 2007, S. 14) 118 Abb. 48: Ausgangssituation strategisches Marketing (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Abb. 49: Grundsätzliche Ansätze zur Strategieentwicklung im strategischen Marketing (Quelle: eigener Entwurf) . . . 124 Abb. 50: Muster einer SWOT-Darstellung (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Abb. 51: Klassische Portfoliomatrix (Quelle: eigener Entwurf) . 126 Abb. 52: Wettbewerbsbezogene Grundstrategien nach P O RTE R (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an F R E Y E R 2011b, S. 398) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Abb. 53: Produkt-Markt-Matrix nach A N S O F F (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an F R E Y E R 2011b, S. 386) . . . . . . 131 Abb. 54: Funktionen von Marken (Quelle: eigener Entwurf) . . . 133 Abb. 55: Marken deutscher Landesmarketingorganisationen (Quelle: eigener Entwurf unter Verwendung der Wortbildmarken der LMOs und der DZT) . . . . . . . . . . . 136 Abb. 56: Wortbildmarken der Tourismusregionen in Rheinland-Pfalz sowie des Lahntals (Quelle: eigener Entwurf unter Verwendung der Wortbildmarken der regionalen DMOs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Abb. 57: Wortbildmarken der 4 zentralen touristischen Handlungsfelder in Rheinland-Pfalz nach der Tourismusstrategie 2015 (Quelle: www.gastlandschaften.de) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Abb. 58: Push- und Pull-Marketing (Quelle: eigener Entwurf nach B OGNE R 2006, S. 28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Abb. 59: Short Head und Long Tail (Quelle: eigener Entwurf nach A NDE R S ON 2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Abb. 60: Themenbereich für Urlaubsinformationen im Internet (Quelle: eigene Darstellung nach Daten VIR 2007, S. 12, 2019, S. 37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 419 Abbildungsverzeichnis 419 <?page no="420"?> Abb. 61: Genutzte Typen von Social-Media-Angeboten 2007 und 2013/ 14 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten ARD/ ZDF-Medienkommission 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Abb. 62: Destinationsdefinition in Abhängigkeit der Reisedistanz (Quelle: eigener Entwurf nach B IE G E R & B E RITELLI 2013, S. 57) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Abb. 63: Bezugsrahmen des Handelns für Destinationen (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Abb. 64: Die gesamte touristische Reisekette als Aufgabe des Destinationsmanagements (Quelle: eigener Entwurf) . 155 Abb. 65: Zentrale Funktionen des Destinationsmanagements (Quelle: eigener Entwurf nach B IE G E R & B E RITELLI 2013, S. 69) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Abb. 66: Schritte im Management- und Marketingprozess von Destinationen (Quelle: eigener Entwurf nach S TEINECKE 2013, S. 60) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Abb. 67: Organisationsform der DMOs in deutschen Städten (Quelle: eigene Darstellung nach DTV 2006, S. 85) . . . . 159 Abb. 68: Idealtypische Organisationstrukturen im Destinationsmanagement: Community Model und Corporate Model (Quelle: eigener Entwurf nach F LAG E S TAD & H O P E 2001, S. 452) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Abb. 69: Typologie von Governance-Strukturen nach Steuerungsmodus und Akteurszugehörigkeit von H ALL (links) sowie Matrix der organisatorischen Positionierung nach Zentralisierung und Beziehungsdichte von B ODE GA , C IOCCAR ELLI & D ENICOLAI (rechts) (Quelle: eigener Entwurf nach H ALL 2011, S. 443 und B ODE GA , C IOCCAR ELLI & D ENICOLAI 2004, S. 17) Hinweis. Die Verwendung des Begriffes „communities“ bei Hall weist eine andere Konnotation auf als in der übrigen Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 420 Abbildungsverzeichnis 420 <?page no="421"?> Abb. 70: Dreidimensionales Modell der Governance-Dimensionen in Destinationen (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Abb. 71: Anzahl der Beschäftigten in deutschen Tourismusorganisationen (Quelle: eigene Darstellung nach M U S KAT 2007, S. 130) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Abb. 72: Grundprinzip der Wertschöpfungsberechnung im Tourismus (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . 172 Abb. 73: Aufgabenverteilung für öffentliche und private DMO-Aufgaben in der Lüneburger Heide (Quelle: eigener Entwurf modifiziert nach ETI 2007, S. 169) . . . 176 Abb. 74: Vom statischen Destinationsverständnis zur hybriden Destinationsauffassung (Quelle: eigener Entwurf) . . . . 178 Abb. 75: Konfliktlinien zwischen den klassischen drei Dimensionen der Nachhaltigkeit (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Abb. 76: Zielsystem für einen nachhaltigen Tourismus (Quelle: eigener Entwurf nach R EVE RMANN & P ETE RMANN 2003, S. 139) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Abb. 77: Formen eines nachhaltigen Tourismus (Quelle: eigener Entwurf nach S TRAS DAS 2001, S. 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Abb. 78: CO2-Emissionen des Tourismussektors im Jahr 2005 und Prognose 2035 (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO 2007, S. 18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Abb. 79: Treibhausgasemissionen pro Person und Reise (CO 2 -Äquivalänte) (Quelle: eigene Darstellung nach WWF, 2008, S. 14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Abb. 80: Wahrnehmung der Klimarelevanz des Flugreisens und Handlungsbereitschaft (Quelle: eigene Darstellung nach E I J G ELAAR 2011, S. 287) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Abb. 81: Auswirkungen des Klimawandels im Tourismus (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO 2009, S. 5) . 195 421 Abbildungsverzeichnis 421 <?page no="422"?> Abb. 82: Geographische Verteilung von Hauptwirkungen des Klimawandels in Destinationsgruppen (Quelle: eigene Darstellung nach UNWTO 2008, S. 101) . . . . . . . . . . . . . 199 Abb. 83: Bedeutung von Nachhaltigkeitsaspekten bei Urlaubsreisen (Quelle: eigene Darstellung nach FUR 2014, S. 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Abb. 84: Gründe für die Nutzung des Umweltzeichens Blauer Engel (Quelle: eigene Darstellung nach Daten UBA 1998, S. 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Abb. 85: INVENT-Zielgruppen für einen nachhaltigen Tourismus (Quelle: eigene Darstellung nach Verbundpartner INVENT 2005, S. 8) . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Abb. 86: Anteile der Urlaubsreisen in inländische Urlaubsländer (Quelle: eigene Darstellung nach Daten FUR 2019, S. 35) 209 Abb. 87: Übernachtungen von Inländern und Ausländern im Jahr 2017 nach Reisegebieten (Quelle: eigener Entwurf nach Daten Statistisches Bundesamt 2018) . . . . . . . . . . . . . . . 212 Abb. 88: Entwicklungen der Ankünfte und Übernachtungen von 1992 bis 2019 (Quelle: eigener Entwurf nach Daten Statistisches Bundesamt 2020) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Abb. 89: Top 12-Quellmärkte für Deutschland nach Übernachtungen 2018 (Quelle: eigener Entwurf nach Daten DZT 2019, S. 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Abb. 90: Tourismusintensität nach Reisegebieten im Jahr 2017 (Quelle: Eigener Entwurf nach Daten Statistisches Bundesamt 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Abb. 91: ServiceQ-Betriebe nach Bundesländern und Verhältnis zu gewerblichen Übernachtungsbetrieben (Quelle: eigener Entwurf nach Daten DTV 2015 und Statistisches Bundesamt 2014, C-3.5) . . . . . . . . . . . . . . . 221 Abb. 92: Abgrenzung zwischen kulturorientiertem und anders motiviertem Städtetourismus (Quelle: eigene Darstellung nach DTV 2006, S. 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 422 Abbildungsverzeichnis 422 <?page no="423"?> Abb. 93: Typisierung der Destinationen des Städtetourismus und Entwicklung der Übernachtungszahlen zwischen 1993 und 2005 (Quelle: eigene Darstellung nach DTV 2006, S. 23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Abb. 94: Indexentwicklung der Übernachtungszahlen in Deutschland, deutschen Großstädten und den drei wichtigsten deutschen städtetouristischen Destinationen (Berlin, München, Hamburg) (Quellen: Statistisches Bundesamt 2018, Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2018, Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2004 & 2018, München Tourismus 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Abb. 95: Motive von Urlaubsreisen der Europäer nach Deutschland 2014 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten DZT 2015, S. 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Abb. 96: Übernachtungen und Anteil Ausländer in den deutschen „Top 10“ Städtedestinationen (Quelle: Eigener Entwurf nach Daten Statistisches Bundesamt 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Abb. 97: Motive der Nutzer von Sharing-Übernachtungsangeboten und Differenzierung der Nutzer von Airbnb und Couchsurfing (Quelle: eigene Erhebung) . . . . . . . . . . . . 235 Abb. 98: Airbnb in Berlin nach LOR (Quelle: eigener Entwurf nach Daten S KOWR ONNEK , V OG EL & P ARNOW 2015 sowie Land Berlin 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Abb. 99: Anteile von Airbnb-Anbietern und angebotenen Betten in Berlin (Quelle: eigene Darstellung nach Daten S KOWR ONNEK , V OG EL & P ARNOW 2015) . . . . . . . . . . . . . . 238 Abb. 100: Top Ten der befahrenen Radfernwege in Deutschland (Quelle: F R EITAG , K AG E RMEIE R & R OGG E 2007, S. 26; N = 1.661) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Abb. 101: Top Ten Bundesländer mit genannten beliebtesten fahrradtouristischen Destinationen (Quelle: F R EITAG , K AG E RMEIE R & R OGG E 2007, S. 34; N = 1.535) . . . . . . . . . 252 423 Abbildungsverzeichnis 423 <?page no="424"?> Abb. 102: Landschaftstyp der befahrenen Radwege in Deutschland (Quelle: F R EITAG , K AG E RMEIE R & R OGG E 2007, S. 27; N = 3.076) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Abb. 103: Bedeutung verschiedener Anforderungen an einen Radfernweg (Quelle: F R EITAG , K AG E RMEIE R & R OGG E 2007, S. 39; N = 1.967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Abb. 104: Bewertung von deutschen Radfernwegen (Quelle: eigene Berechnungen auf der Basis von F R EITAG , K AG E RMEIE R & R OGG E 2007; N = 3.021) . . . . . . . . . . . . . . 254 Abb. 105: Lorenzkurve der Nutzung von 199 deutschen Radfernwegen (Quelle: eigene Berechnungen auf der Basis von F R EITAG , K AG E RMEIE R & R OGG E 2007; N = 3.021) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Abb. 106: Differenzierte Motivstruktur für Radurlaub (Quelle: BMWi 2009, S. 58) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Abb. 107: Handlungsrelevanzmatrix für den Weserradweg (Quelle: eigene Darstellung nach T HIELE 2011, S. 86) . . 257 Abb. 108: Entwicklung der Bett+Bike ausgezeichneten Betriebe in Deutschland (Quelle: eigene Darstellung nach Daten ADFC, div. Jg.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Abb. 109: Von traditionellen isolierten zu hybriden Produktkombinationen (Quelle: eigener Entwurf) . . . . 261 Abb. 110: Schematischer Aufbau der Produktpolitik im Fahrradtourismus (Quelle: eigene Darstellung nach T HIELE 2011, S. 100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Abb. 111: Bedeutung von einzelnen Motiven für die Nutzung von Wellness-Angeboten nach Geschlecht (durchschnittliche Bedeutung = 100 %) (Quelle: eigene Darstellung nach Burda Community Network 2007) . . 268 Abb. 112: Erfahrung mit gesundheitstouristischen Urlaubsformen 2003 bis 2014 (Quelle: eigene Darstellung nach L OHMANN & S CHMÜCKE R 2015, S. 14) 269 424 Abbildungsverzeichnis 424 <?page no="425"?> Abb. 113: Internationale Touristenankünfte 2018 nach UNWTO-Regionen (Quelle: eigener Entwurf nach Daten UNWTO 2019, S. 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Abb. 114: Top Ten der internationalen Touristenankünfte 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten UNWTO 2019, S. 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Abb. 115: Top Ten der Auslandsreiseziele der Deutschen 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten FUR 2019, S. 30) 278 Abb. 116: Übernachtungen in den Ländern der EU 2018 (nach NUTS2-Regionen) (Quelle: eigener Entwurf nach Daten Eurostat 2019a und b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Abb. 117: Top Ten der Übernachtungen in europäischen Städten im Jahr 2018 (Quelle: Eigene Darstellung nach Daten DTV 2019, S. 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Abb. 118: Übernachtungen in den Mittelmeeranrainerstaaten und Anteil des internationalen Tourismus am BIP (Quelle: eigener Entwurf nach Daten UNWTO 2019 und République Française 2019, S. 39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Abb. 119: Entwicklung der Ankünfte auf Mallorca zwischen 1960 und 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Govern de les Illes Balears div. Jg.) . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Abb. 120: Quellmärkte Mallorcas 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Govern de les Illes Balears 2019; S. 32) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Abb. 121: Saisonalität der touristischen Ankünfte am Flughafen Palma de auf Mallorca 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Govern de les Illes Balears 2019, S. 14) . . . 289 Abb. 122: Golfplätze auf Mallorca 2018 (Quelle: eigener Entwurf nach Angaben Govern de les Illes Balears 2019, S. 77) . 291 Abb. 123: Entwicklung der Touristenankünfte in Zypern 1980 bis 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Republic of Cyprus, Ministry of Finance, Statistical Service 2019) 298 425 Abbildungsverzeichnis 425 <?page no="426"?> Abb. 124: Karte der touristischen Regionen Zyperns (Quelle: eigene Bearbeitung unter Verwendung einer Vorlage von www.mapsfordesign.com) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Abb. 125: Entwicklung der Ankünfte in Zypern nach touristischen Regionen (2000-2017) (Quelle: eigener Entwurf nach Daten Republic of Cyprus, Ministry of Finance, Statistical Service 2019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Abb. 126: Entwicklung der Touristenankünfte in Marokko 1960 bis 2019 (ohne Algerien; Quelle: eigener Entwurf nach Daten Royaume du Maroc 2020) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Abb. 127: Kapazität der Hotelbetten im Jahr 2002 und geplante Entwicklung bis zum Jahr 2010 nach Regionen sowie PATs im Jahr 2010 (Quelle: eigener Entwurf auf der Basis von K AG E RMEIE R 2015, S. 150ff.) . . . . . . . . . . . . . . . 309 Abb. 128: Entwicklung der Deviseneinnahmen in Marokko aus dem Tourismus zwischen 1990 und 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten Royaume du Maroc. Haut-Commissariat au Plan div. Jg.) . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Abb. 129: Stadien des Polarization-Reversal-Prozesses als für Grundprinzip der Destinationsentwicklung (Quelle: eigener Entwurf in Anlehnung an R ICHARD S ON 1990 und S CHÄTZL 1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Abb. 130: Entwicklungsländerreiseerfahrung 2009-2013 nach SINUS-Milieus (Quelle: eigener Entwurf nach A DE RHOLD et al. 2013, S. 57 und 75) . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Abb. 131: Hohe Bedeutung einer umweltfreundlichen Urlaubsgestaltung: Differenz zum Bevölkerungsmittelwert nach SINUS-Milieus (Quelle: eigener Entwurf nach A DE RHOLD et al. 2013, S. 120) . . . 331 Abb. 132: Modellhafte Darstellung der Touristenströme im internationalen Tourismus und der Erträge im Nord-Süd-Tourismus (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . 335 Abb. 133: Einschätzung von Auswirkungen der touristischen Erschließung in Tabarka (Tunesien) und Ouarzazate 341 426 Abbildungsverzeichnis 426 <?page no="427"?> (Marokko) (Quelle: eigene Darstellung und eigene Berechnungen auf der Basis von K AG E RMEIE R 1999, S. 106; N = 641) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 134: Akteure und Interessen im Entwickungsländertourismus am Beispiel eines Großschutzgebietes (Quelle: eigene Darstellung nach S TE CK , S TRAS DAS & G U S TEDT 1999, S. 65) . . . . . . . . . . . . 351 Abb. 135: Zentrale touristische Anziehungspunkte und Lage des North Rift Valleys in Kenia (Quelle: eigener Entwurf) . 355 Abb. 136: Entwicklung der Touristenankünfte in Kenia 1963 bis 2018 (Quelle: eigene Darstellung nach Daten UNWTO div. Jg.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Abb. 137: Akteurskonstellationen im Tourismus der North Rift Region (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Abb. 138: Modell zur Entwicklung einer Destination Mid Rift Valley (Quelle: eigener Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Abb. 139: Studienstandorte von Tourismusgeographen (Quelle: eigene Erhebung; N = 283) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Abb. 140: Bedeutung von Ausbildungsinhalten für Berufseinstieg (Quelle: eigene Erhebung; N = 283) . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 427 Abbildungsverzeichnis 427 <?page no="429"?> Tabellenverzeichnis Tab. 1: Unterschiedliche Tourismusformen (Quelle: S TEING RUB E 2001, Band 3, S. 358) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Tab. 2: Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Einschätzung des Freizeitbezugs von Tätigkeiten (Quelle: Fastenmeier, Gstalter & Lehnig 2001, S. 27) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Tab. 3: Beherbergungsbetriebe, Betten und Auslastung in Deutschland 2018 (Quelle: Statistisches Bundesamt 2019) 96 Tab. 4: Kooperative Aufgaben im Destinationsmanagement und Vorteilsnehmer (Quelle: modifiziert nach B IE G E R & B E RITELLI 2013, S. 267) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Tab. 5: Hartes vs. sanftes Reisen (Quelle: modifiziert nach J UNGK 1980, S. 156) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Tab. 6: Akzeptanz von touristischen Verhaltensoptionen nach Zielgruppen (Quelle: FUR 2007, S. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Tab. 7: Hürden für nachhaltiges Reiseverhalten (Quelle: FUR 2014, S. 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Tab. 8: Formen des Städtetourismus nach Besuchsmotiven (Quelle: A NTON & Q UACK 2005, S. 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Tab. 9: Anteile der Nennungen von Radfahren als eine der drei wichtigsten Urlaubsaktivitäten nach Altersgruppen (Quelle: H ALLE R BACH 2009, S. 43) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Tab. 10: Typologie Fahrradurlauber (Quelle: BMWi 2009, S. 38) . . . 249 Tab. 11: Tourismus als Wirtschaftsfaktor ausgewählter Entwicklungs- und Schwellenländer (Quelle: GIZ 2014, S. 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Tab. 12: Anteile am Gesamtreisepreis nach Akteursgruppen im marokkanischen Gebirgstourismus (Quelle: modifiziert nach L E S SMEI S TE R & P O P P 2004, S. 405) . . . . . . . . . . . . . . . . 333 <?page no="430"?> ,! 7ID8C5-cfefca! ISBN 978-3-8252-5452-0 Andreas Kagermeier Tourismus in Wirtschaft, Gesellschaft, Raum und Umwelt 2. Auflage Tourismus gilt als Leitökonomie des 21. Jahrhunderts. In vielen Ländern ist er zudem ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Das Lehrbuch beleuchtet die touristische Nachfrage und das Angebot aus der raum- und sozialwissenschaftlichen Perspektive. Es berücksichtigt neben dem Deutschlandtourismus auch ausgewählte Formen des internationalen Tourismus. Lernziele zu Beginn der Kapitel helfen beim schnellen Einstieg. Zahlreiche Beispielboxen, Karten und Abbildungen illustrieren den Stoff. Zusammenfassungen und weiterführende Literaturtipps am Kapitelende vertiefen das Verständnis. Diese 2., überarbeitete und erweiterte Auflage richtet sich an Studierende der Geowissenschaften und des Tourismus. Sie ist auch für Quereinsteiger und Praktiker aufschlussreich. Tourismus | Geowissenschaften Tourismus: Wirtschaft, Gesellschaft, Raum, Umwelt 2. A. Kagermeier Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 54520 Kagermeier_M-4421.indd 1 54520 Kagermeier_M-4421.indd 1 18.06.20 12: 46 18.06.20 12: 46
