Sprachliche Höflichkeit
0607
2021
978-3-8385-5541-6
978-3-8252-5541-1
UTB
Claus Ehrhardt
Eva Neuland
Höflichkeit ist ein wichtiges Thema laienlinguistischer Überlegungen zu Sprache und Kommunikation. Seit einiger Zeit hat es sich auch zu einem zentralen Gegenstand linguistischer Ansätze entwickelt. Der Band gibt einen Überblick über die wichtigsten sprachwissenschaftlichen Ansätze zur Höflichkeit und stellt diese in ihrer interdisziplinären Verflechtung mit Nachbardisziplinen dar. Die AutorInnen entwickeln einen theoretisch fundierten und empirisch angemessenen Blick auf Höflichkeit. Sie gehen davon aus, dass Höflichkeit kommuniziert wird, d.h. einen vom Sprecher intendierten Effekt einer Äußerung darstellt. Sprachliche Höflichkeit kann daher im Rahmen eines pragmatischen Kommunikationsmodells behandelt werden, das auf handlungsleitenden Prinzipien und Maximen aufbaut. Sprachliche Höflichkeit wird dabei als zentrales Element der Beziehungskommunikation erklärt.
<?page no="0"?> Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de ,! 7ID8C5-cffebb! ISBN 978-3-8252-5541-1 Claus Ehrhardt | Eva Neuland Sprachliche Höflichkeit Höflichkeit ist ein wichtiges Thema laienlinguistischer Überlegungen zu Sprache und Kommunikation. Seit einiger Zeit hat es sich auch zu einem zentralen Gegenstand linguistischer Forschungsansätze entwickelt. Der Band stellt die wichtigsten sprachwissenschaftlichen Theorien zur Höflichkeit vor und zeigt ihre Verflechtung mit Nachbardisziplinen auf. Es handelt sich um die erste deutschsprachige Publikation, die einen aktuellen Überblick über das Forschungsgebiet samt Anwendungsfeldern bietet. Sprachwissenschaft | Germanistik Ehrhardt | Neuland Sprachliche Höflichkeit QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 55411 Ehrhardt_M-5541.indd 1 55411 Ehrhardt_M-5541.indd 1 28.04.21 10: 34 28.04.21 10: 34 <?page no="1"?> utb 5541 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Claus Ehrhardt lehrt Deutsche Sprache und Sprachwissenschaft an der Universität Urbino, Arbeitsschwerpunkte: Sprachliche Höflichkeit, linguistische Pragmatik, Phraseologie. Prof. Dr. Eva Neuland ist Universitätsprofessorin i.R. für Germanistik/ Didaktik an der Bergischen Universität Wuppertal, Arbeitsschwerpunkte: Soziolinguistik, Gesprächs- und Textlinguistik, interkulturelle Kommunikation. <?page no="3"?> Claus Ehrhardt, Eva Neuland Sprachliche Höflichkeit Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5541 ISBN 978-3-8252-5541-1 (Print) ISBN 978-3-8385-5541-6 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5541-1 (ePub) Umschlagabbildung: © jpgon - stock.adobe.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 1 9 2 13 2.1 13 2.2 15 2.3 20 2.4 25 2.5 31 2.5.1 32 2.5.2 34 2.6 43 2.6.1 43 2.6.2 51 3 59 3.1 59 3.1.1 59 3.1.2 60 3.1.3 61 3.2 62 3.2.1 62 3.2.2 65 3.2.3 68 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit im Alltagsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit in Wörterbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit in der Ratgeberliteratur: Knigge als „Säulenheiliger“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konjunktur der Höflichkeit als Pressethema . . . . . . . . . . . Höflichkeit auf dem kulturkritischen Büchermarkt . . . . . (Un)Höflichkeit im Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frequenzanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kookkurrenzanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der sprachwissenschaftliche Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Beispiel: Talkshows als Forum von Unhöflichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Ebenen der Diskussion: Höflichkeit 1 und Höflichkeit 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit in der Kulturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückblicke auf Höflichkeit in der europäischen Kulturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit und gesellschaftlicher Wandel in der Vormoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höfische Höflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Salonkonversationelle Höflichkeit . . . . . . . . . . . . . Entwicklung und Bedeutung der bürgerlichen Höflichkeit in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bürgerliche Natürlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knigge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeitserziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 3.3 70 3.4 71 3.4.1 72 3.4.2 75 4 77 4.1 77 4.2 80 4.2.1 80 4.2.2 86 4.2.3 96 4.3 101 4.3.1 101 4.3.2 103 4.3.3 108 4.4 113 4.4.1 113 4.4.2 120 4.5 121 5 125 5.1 125 5.2 128 5.2.1 128 5.2.2 130 5.2.3 133 5.2.4 138 5.2.5 142 5.3 146 5.4 156 5.5 162 Antibürgerliche Höflichkeitskritik im 20. Jahrhundert . . Ausblicke auf Prozesse kulturellen Wandels in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tendenzen der Informalisierung . . . . . . . . . . . . . . . Generationelle Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen . . . . . . . . . . . Höflichkeit und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen . . . . . . . . . . . Thematisierungen von Höflichkeit . . . . . . . . . . . . Pronominale Anredeformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modalität, Konjunktiv Präteritum . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeitsformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit zwischen Grammatik und Phraseologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Routineformeln und Höflichkeitsformeln . . . . . . . Kommunikative und rituelle Leistungen von Höflichkeitsformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pragmatik der Höflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeitsformeln als pragmatische Prägungen Höflichkeit als Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit und Kommunikation: (Sprach-)wissenschaftliche Grundlagen der Höflichkeitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehung und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktionssoziologisches Intermezzo: Goffman und das face . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Beziehungsgestaltung . . . . . . . . . . . . . Watzlawick/ Beavin/ Jackson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Organon-Modell und Jakobson . . . . . . . . . . . . Schulz von Thun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation, Kooperation und Höflichkeit . . . . . . . . . Kooperation und Höflichkeit: Ein Blick in die Evolution . Kommunikative Ziele, Maximen und Höflichkeit . . . . . . . Inhalt 6 <?page no="7"?> 5.6 173 5.7 184 6 187 6.1 187 6.2 187 6.3 194 6.4 202 6.4.1 202 6.4.2 205 6.4.3 210 6.4.4 212 6.4.5 215 6.4.6 220 6.5 220 6.5.1 220 6.5.2 222 6.5.3 229 6.5.4 234 6.6 238 6.6.1 238 6.6.2 241 6.6.3 243 7 247 7.1 247 7.2 253 7.2.1 253 7.2.2 256 7.2.3 260 7.2.4 262 Ein Beispiel: Bundestagsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufiges Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Pionierphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik an Brown/ Levinson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konsolidierungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fraser/ Nolan und der Konversationsvertrag . . . . . Leech: Höflichkeit als „kommunikativer Altruismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arndt/ Janney und die emotive communication . . . Was kommuniziert man, wenn man höflich ist? Der relevanztheoretische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . Beiträge aus dem nicht-anglofonen Bereich . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die diskursive Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit: Der Gegenstand der Reflexion . . . . . . Höflich - unhöflich und x? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Face und Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit als soziale Praxis: Ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Un)Höflichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit in den sozialen Medien: Zwischen Hatespeech und Wohlfühlkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastive Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem des tertium comparationis . . . . . . . . . Sprechhandlungen kontrastiv . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit in ausgewählten Ländern . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 7.3 268 7.3.1 268 7.3.2 271 7.3.3 274 7.4 280 7.4.1 280 7.4.2 281 7.4.3 285 7.5 290 7.5.1 290 7.5.2 292 7.5.3 295 8 303 8.1 303 8.2 304 8.2.1 304 8.2.2 306 8.3 306 9 311 337 342 345 Höflichkeit als Schlüsselkompetenz in der interkulturellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik der „Kulturstandards“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit und interkulturelle Kompetenz . . . . . . Höflichkeit in interkulturellen Trainingsprogrammen . . Diversität der Zielgruppen versus Universalität der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vielzahl von Übungstypen und wenig Sprachliches Höflichkeit in critical incidents . . . . . . . . . . . . . . . . Lässt sich Höflichkeit erlernen? Sprachdidaktische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeit als Lernziel in der Sprachdidaktik . . . Muttersprachlicher Deutschunterricht . . . . . . . . . . Höflichkeit im DaF-Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie und Empirie der Höflichkeitsforschung . . . . . . . . Höflichkeit und soziolinguistische Differenzen . . . . . . . . Geschlecht, Alter und Bildungsstand . . . . . . . . . . . Kontext und Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="9"?> 1 Einleitung Seit den 1990er Jahren ist sprachliche Höflichkeit im deutschsprachigen Bereich ein wichtiges Thema der sprachwissenschaftlichen Pragmatik, der Soziolinguistik, der Gesprächslinguistik und anderer wissenschaftlicher Disziplinen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und Sprachgebrauch sowie mit der Interdependenz von individuellen, kommu‐ nikativen Wahlhandlungen auf der einen und sozialen Gegebenheiten auf der anderen Seite auseinandersetzen. Die linguistische Forschung zu diesem Themenkomplex hat sich als ausgesprochen fruchtbar erwiesen und sich kontinuierlich weiterentwickelt, sodass es heute fast schon unmöglich ist, sich einen Überblick zu verschaffen (vgl. Neuland 2018b). Einführungen in die Theorie der sprachlichen Höflichkeit beginnen inzwischen regelmäßig mit der Bemerkung, dass es sich um ein unüberschaubares Feld handelt. Die Erforschung von sprachlicher Höflichkeit kann und muss - neben der linguistischen Tradition - auch noch an die reiche und wechselvolle Kulturgeschichte der Höflichkeit und der Höflichkeitskonzepte anknüpfen, in der sich höfische, bürgerliche und antiautoritäre Annäherungsweisen und verschiedene Kombinationen zwischen diesen abwechseln. Natürlich handelt es sich auch um ein Thema von großer gesellschaftli‐ cher Relevanz, das immer wieder zum Thema öffentlicher Debatten wird - über den Sinn und Unsinn von Höflichkeitsvorschriften, ein angemessenes Verhältnis zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Kon‐ ventionen oder die Rolle der Erziehung, um nur einige Gegenstandsfelder zu nennen. All dies und noch viele andere Aspekte müssen in der wissenschaftlichen Diskussion berücksichtigt werden. Häufig wird aus guten Gründen aber nicht das Gesamtbild thematisiert, sondern einzelne Aspekte vertieft, wie Komplimente, Beleidigungen, Anredeformen u.ä. Wesentliche Impulse sind durch die frühen Beiträge der US-amerika‐ nischen bzw. britischen Klassiker Brown/ Levinson (1987), Lakoff (1973) und Leech (1983) ausgelöst worden. Die frühen sprechaktbezogenen Ar‐ beiten der kulturkontrastiven Pragmatik (CCSAR-Projekt vgl. Blum-Kulka/ Olshtain 1984 oder Blum-Kulka/ House/ Kasper 1989) in den 1970er und 1980er Jahren haben zugleich mit der Kritik am Universalitätsanspruch der genannten Pioniere neue Aufmerksamkeit in der Forschung bewirkt, wie <?page no="10"?> die Dokumentation der einschlägigen Sektion der IVG-Tagung Politeness in Language. Studies in its History, Theory and Practice (Watts/ Ide/ Ehlich 1992/ 2005) belegt. Nach einer gewissen „Flaute“ in der internationalen Forschungsentwick‐ lung in den 1990er Jahren wurde das Thema der Höflichkeit nach der Jahrtausendwende wieder belebt. Der genannte IVG-Band erfuhr 2005 eine Neuauflage, und 2011 erschienen die Ergebnisse der Sektion Sprachliche Höf‐ lichkeit zwischen Etikette und kommunikativer Kompetenz (Ehrhardt/ Neu‐ land/ Yamashita) der IVG-Tagung in Warschau 2010. Seitdem ist die sprachliche Höflichkeit immer wieder Thema interna‐ tionaler wissenschaftlicher Konferenzen (z. B. Sprachliche Höflichkeit: His‐ torische, aktuelle und künftige Perspektiven, Ehrhardt/ Neuland 2017), wis‐ senschaftlicher Publikationen und auch kontroverser Diskussionen in der Öffentlichkeit (vgl. dazu Kapitel 2). Schließlich ist die Auseinandersetzung mit Höflichkeit auch ein beliebtes Thema in der universitären Lehre im Rahmen der linguistischen Pragmatik, Soziolinguistik und Kommunikationsforschung im Bereich der Germanistik und der Fremdsprachenphilologien. Für das vertiefte Studium möchte der vorliegende Band den Versuch unternehmen, trotz der Unübersichtlichkeit einige Entwicklungslinien der wissenschaftlichen Diskussion zu beschreiben und damit eine Grundlage zu schaffen, die es Studierenden ermöglicht, sich ein Bild von der inter‐ nationalen Forschung (mit Schwerpunkt auf der deutschsprachigen) zum Thema Höflichkeit zu machen, wichtige Forscher und Forschungsansätze kennenzulernen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Überlegungen zu identifizieren und zu bewerten, und auch zu erkennen, an welchen Punkten noch Forschungsbedarf besteht. Idealerweise sollten LeserInnen mit den Grundbegriffen der linguisti‐ schen Pragmatik vertraut sein, wie sie in Einführungskursen vermittelt werden. Das Buch beginnt mit einer Annäherung an das Thema aus alltagssprach‐ licher Perspektive. In Kapitel 2 soll beschrieben werden, was Sprecher des Deutschen meinen, wenn sie von Höflichkeit reden. Dazu werden Wörterbuchdefinitionen herangezogen, die den Gebrauch der Wörter Höf‐ lichkeit und höflich illustrieren, aber auch kleine Einblicke in kontrovers diskutierte Fragestellungen angesprochen, die in öffentlichen Debatten eine Rolle spielen. 1 Einleitung 10 <?page no="11"?> Kapitel 3 bietet einen kurzen kulturhistorischen Überblick über verschie‐ dene Entwicklungen und Tendenzen von Diskussionen über Höflichkeit. Dabei soll deutlich gemacht werden, dass das Nachdenken über Höflichkeit eine Konstante in der Kulturgeschichte ist und eine wichtige Funktion im Rahmen der Selbstverständigung von Gesellschaften und Kulturen erfüllt. In Kapitel 4 geht es um sprachliche Formen des Deutschen, die im Allgemeinen angeführt werden, wenn der Zusammenhang von Sprache und Höflichkeit beleuchtet werden soll. In diesem Kapitel wird vor allem darauf hingewiesen, dass die Verwendung bestimmter sprachlicher Strukturen (Anredeformen, Konjunktiv Präteritum usw.) zwar ein zentraler Gegenstand von linguistischen Überlegungen zur Höflichkeit sein muss, dass die Ver‐ wendung dieser Formen aber weder notwendig noch hinreichend ist, um eine Äußerung zu produzieren, die als höflich eingeschätzt wird. Höflichkeit ist damit eine Funktion von Äußerungen und nicht von Wörtern oder Sätzen. Diese Annahme bietet den Ausgangspunkt der Über‐ legungen in Kapitel 5, in dem skizziert werden soll, wie die Behandlung von Höflichkeit in einen umfassenderen Ansatz eingeordnet werden kann, der das Ziel verfolgt zu analysieren und zu erklären, unter welchen Bedingungen Kommunikation zustande kommt und effizient sein kann. Die zentrale Frage dieses Kapitels betrifft demnach die kommunikativen Funktionen und die Relevanz von Höflichkeit. Als Ergebnis dieser Betrachtungen wird ein Begriff von Höflichkeit vorgeschlagen, der geeignet sein könnte, das Phänomen theoretisch angemessen einzuordnen. Kapitel 6 gibt dann einen Überblick über die Geschichte der Höflich‐ keitsforschung im engeren Sinne. Hier werden wichtige Ansätze aus dem deutschsprachigen und internationalen Bereich vorgestellt und im Hinblick auf den Begriffsvorschlag aus Kapitel 5 diskutiert. Insgesamt ergibt sich hier ein Panorama der Forschungssituation, wichtiger Themen und Ansätze. In Kapitel 7 werden einzelne anwendungsbezogene Themen herausge‐ griffen und vertiefend diskutiert. Hier geht es vor allem um Höflichkeit in der computervermittelten Kommunikation, um interkulturelle Kommunika‐ tion, kontrastive Ansätze und um Höflichkeit in der Didaktik des Deutschen als Muttersprache und Fremdsprache. Kapitel 8 bildet schließlich den Abschluss des Bandes, in dem ein Aus‐ blick auf mögliche Themen weiterer Forschung gegeben und die Befunde der Diskussionen noch einmal zusammenfassend auf den Punkt gebracht werden sollen. 1 Einleitung 11 <?page no="12"?> Insgesamt stellt der Band also einen Vorschlag zur Begriffsbestimmung dar, aber auch und vor allem einen Überblick über das Forschungsfeld „sprachliche Höflichkeit“. Er bietet eine geeignete Gundlagenlektüre für Vorlesungen und Seminare und gibt Interessierten eine Orientierung in einem komplexen und facettenreichen Bereich. Es geht dabei um linguisti‐ sche Fragestellungen, um die Rolle von Höflichkeit als Teil der kommunika‐ tiven und interkulturellen Kompetenz. Wer praktische Orientierung sucht, wann er wen duzen darf, wie eine angemessene Entschuldigung formuliert sein sollte oder wie man eine höfliche Mail formuliert, der wird nicht auf seine Kosten kommen. Nach langen Überlegungen haben die Autorin und der Autor sich ent‐ schlossen, eine Version der gendergerechten Sprache zu wählen, die eben gendergerecht ist, aber den Lesefluss nicht stört und stilistisch unauffällig ist. Diese Lösung besteht aus der Verwendung des Binnen-I und beider Artikel (maskulin und feminin) im Singular: Mit „der/ die LeserIn“ sind also Personen jeglichen Geschlechts gemeint. Häufig wird auch der Plural verwendet oder, wenn es sich im jeweiligen Kontext anbietet, auch andere Formen, die gendergerecht und leser(innen)freundlich sind oder mit denen das zumindest angestrebt wird. Urbino und Wuppertal, im April 2021 1 Einleitung 12 <?page no="13"?> 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis Über Höflichkeit denkt man im Alltag normalerweise nicht nach; vielmehr wird uns das Phänomen erst dann bewusst, wenn wir Verstöße dagegen empfinden: ein Dank, der ausbleibt, ein Gruß, der kaum erwidert wird, eine Anrede, die wir als unangemessen empfinden. Höflichkeit im Alltag zu definieren, fällt daher schwer und erfolgt zumeist durch Ersatzbegriffe, etwa Benehmen, Respekt, Anstand, guter Ton. Ein Blick in allgemeine Wör‐ terbücher sollte weiterhelfen, um zu einem ersten Eindruck zu gelangen, was Höflichkeit im Alltagsverständnis ist. 2.1 Höflichkeit in Wörterbüchern Mittlerweile greifen die meisten Ratsuchenden zu digitalen Wörterbüchern, z. B. zum Online-Duden. Dort findet man als Bedeutungsübersicht: 1. Höfliches, gesittetes Benehmen; Zuvorkommenheit. 2. In höfliche, jemanden schmeichelnde Worte gekleidete, freund‐ lich-unverbindliche Liebenswürdigkeit, die jemand einem anderen sagt. (Duden online) Hinzugefügt werden ganze siebenundzwanzig Synonyme zu Höflichkeit, darunter: eine gute Kinderstube, Ritterlichkeit, Schliff, Zartgefühl, bildungs‐ sprachlich auch: Konzilianz, Zivilität und veraltend: Courtoisie, Artigkeit, Politesse. Aus der Aufzählung der Synonyme lässt sich schließen, dass Höflichkeit anscheinend etwas mit Bildung und Erziehung zu tun hat. Ausführlicher erläutert die freie Enzyklopädie Wikipedia: Die Höflichkeit oder Zivilisiertheit ist eine Tugend, deren Folge eine rücksichts‐ volle Verhaltensweise ist, die den Respekt vor dem Gegenüber zum Ausdruck bringen soll. Ihr Gegenteil ist die Grobheit oder Barbarei. Sozial gehört sie zu den Sitten, soziologisch zu den sozialen Normen. Das Wort hat sich aus dem Begriff ‚höfisch‘ entwickelt, das die Lebensart am frühneuzeitlichen Hof bezeichnete. (Wikipedia: „Höflichkeit“) <?page no="14"?> Hier wird Höflichkeit mit Zivilisiertheit gleichgesetzt und darüber hinaus als eine Tugend klassifiziert. Als Gegenteil wird Grobheit oder Barbarei genannt. Zu der im Alltag so viel auffälligeren Unhöflichkeit geben Wörterbücher vergleichsweise wenig Aufschluss. Der Online-Duden vermittelt quasi tau‐ tologisch als Bedeutungsübersicht: 1. Das Unhöflichsein 2. Unhöfliche Handlungen, Äußerungen. (Duden online) Die freie Enzyklopädie Wikipedia hält als Bedeutungen fest: „ungesittetes, beleidigendes oder unangebrachtes Verhalten“ (Wiktionary: „Unhöflich‐ keit“). Die Befragung von allgemeinen Wörterbüchern hat uns nicht sonder‐ lich weit gebracht: Zivilisation, Erziehung und Bildung sowie kulturelle Verständnisweisen umfassen ein weitgespanntes und vages Bedeutungsfeld, das überdies stark vom subjektiven Ermessen abhängig zu sein scheint. Anscheinend fällt es den meisten Menschen leichter, Höflichkeit als Attribut mit bestimmten Verhaltensweisen zu verbinden und dafür Beispiele anzu‐ geben wie: ▸ sich bei jemandem zu bedanken, der einem einen Gefallen getan hat, ▸ jemanden, den man trifft, zu grüßen, ▸ beim Essen die Gabel in der linken und das Messer in der rechten Hand zu halten, ▸ während eines wichtigen Gesprächs keine Telefonanrufe entgegen‐ zunehmen. Es geht dabei also immer um sprachliche oder nicht-sprachliche Handlungen oder Unterlassungen. Eine der Gemeinsamkeiten der betreffenden Hand‐ lungen liegt darin, dass sie nicht unbedingt als natürliche, angeborene Verhaltensdispositionen der Menschen angesehen werden können, sondern als erlernt, als Produkte von Kultur, Zivilisation und Erziehung. Sie werden dem Individuum durch gesellschaftliche Regeln oder Zwänge beigebracht (oder aufgezwungen? ). Viele Menschen denken hierbei sofort an Handbü‐ cher, Regelwerke oder Ratgeber, in denen solche Vorschriften aufgelistet und erklärt werden, in denen die sog. Etikette expliziert wird. 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 14 <?page no="15"?> 2.2 Höflichkeit in der Ratgeberliteratur: Knigge als „Säulenheiliger“? Ein Blick in die Kataloge deutschsprachiger Verlage und in die Regale von Buchhandlungen macht schnell klar, dass Höflichkeit, im alltagsprachlichen Sinne als Verhaltenskodex verstanden, wieder ein Thema von hoher gesell‐ schaftlicher Bedeutung geworden ist. BücherproduzentInnen in Deutsch‐ land machen offenbar einen gestiegenen Beratungsbedarf in Bezug auf Höflichkeit und Benehmen aus. Auch der Dudenverlag hat einen Deutsch-Knigge veröffentlicht, in dem man - laut Untertitel - erfährt, wie man sicher formuliert, sicher kommuni‐ ziert und sicher auftritt. Viele Titelformulierungen enthalten darüber hinaus Erfolgsversprechen für gesellschaftliche Problemsituationen. Einige Beispiele aus den letzten Jahren sollen verdeutlichen, dass Bücher wie diese offensichtlich mit einer regen Nachfrage rechnen können und was sie eigentlich behandeln: ▸ Der Deutsch-Knigge (Duden 2008) ▸ Der neue große Knigge: Gutes Benehmen und richtige Umgangs‐ formen (Schneider-Flaig 2008) ▸ Der China-Knigge: Eine Gebrauchsanweisung für das Reich der Mitte (Häring-Kuang/ Kuan 2012) ▸ Knigge im Job. So machen Sie immer eine gute Figur (Wolff 2006) ▸ Business-Knigge - Die 100 wichtigsten Benimmregeln (Quitt‐ schau/ Tabernig 2019) ▸ Der große GU-Knigge (Bonneau 2008) ▸ Über den Umgang mit E-Mails: Der Scholz & Friends E-Mail-Knigge (Scholz & Friends 2009) ▸ Knigge, Kleider und Karriere: Sicher auftreten mit Stil und Etikette (Nagiller 2004) ▸ Ess- und Tisch-Knigge: Nie wieder peinlich! (Witt 2004) ▸ Business Knigge international: Der Schnellkurs (Oppel 2015) ▸ Das Benimm-ABC: Knigge für junge Leute von heute (Griesbeck 2010) ▸ Sex-Knigge für Frauen: Ein Mann verrät, wie Sie die perfekte Liebha‐ berin werden (van Amstel 2004) ▸ Knigge für Dummies (Gillmann 2015) 2.2 Höflichkeit in der Ratgeberliteratur: Knigge als „Säulenheiliger“? 15 <?page no="16"?> ▸ Jugend-Knigge 2100: Knigge für junge Leute und Berufseinsteiger (Hanisch 2020) Schon ein kurzer Blick auf die Titel zeigt, worum es hier geht: Das Verhalten in Gesellschaft anderer (z. B. beim Essen und in der Liebe), das Verhalten in beruflichen Situationen, den Sprachgebrauch in Briefen und anderen Texten, das Verhalten im Ausland. In diesen Bereichen kommen Menschen immer wieder in Situationen, in denen sie den Eindruck haben, dass sie nicht tun und lassen können, was sie wollen, sondern dass sie sich an vorgegebene Verhaltensstandards halten sollten, wenn sie die Situation erfolgreich meistern wollen. Wenn man etwas falsch macht, dann wird es peinlich, man gefährdet die eigene Reputation und den kommunikativen Erfolg im jeweiligen Kontext. Hier besteht also Orientierungsbedarf. Die Gesellschaft vermittelt über solche Bücher (oder analoge Angebote im Internet), was sie von ihren Mitgliedern erwartet und was Mitmenschen von jedem Individuum erwarten können. Höflichkeit wird in solcher Rat‐ geberliteratur mit der Beachtung der aufgestellten Regeln identifiziert und so auf ein Inventar rezeptologischer Handlungsanweisungen reduziert: z. B. „Straßenwörter“ zu vermeiden und die „Zauberwörter“ bitte und danke zu nutzen (nach Hanisch 2020). Es entsteht der Eindruck, dass diese Art Ratgeberliteratur gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten (wieder) populär geworden ist. Vieles deutet darauf hin, dass ungefähr seit der Jahrtausendwende das „korrekte“, also regelkonforme Verhalten wieder geschätzt wird und dass man sich in vielen sozialen Gruppen unmöglich macht, wenn man nicht weiß, was der Knigge von einem erwarten würde. Man will wieder eine gute Figur machen und greift dafür auf altbewährte Vorgaben zurück. Woher kommt die Autorität der Etikettebücher? Wer schreibt sie auf‐ grund welcher Qualifikation oder in wessen Namen? Wer definiert eigent‐ lich die Regeln für den Umgang mit anderen Menschen? Hier liegt immer der Verdacht nahe, dass bestimmte soziale Gruppen, die die kulturelle He‐ gemonie in einer Gesellschaft für sich beanspruchen, anderen Gruppen ihre Verhaltensstandards mit mehr oder weniger subtilen Mitteln aufzwingen. Das kann hier nicht vertieft werden. Es scheint klar zu sein, dass AutorInnen der Etikette von heute die Etikette von gestern übernehmen und eventuell an neue Gegebenheiten anpassen. Ohne (wenigstens impliziten) Bezug auf 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 16 <?page no="17"?> Vorgängerwerke könnte ein Etikettebuch keinen Anspruch auf Allgemein‐ gültigkeit erheben. Als „Säulenheiliger“ der Etikette und letzte Instanz in Benimmfragen gilt in Deutschland Adolph Freiherr Knigge (1752 - 1796) - das zeigt sich schon in den Titeln der zitierten Werke. Sein Buch Über den Umgang mit Menschen (Knigge 1788/ 1977 oder Knigge 1788/ 2010) wird immer wieder als Urtext der Etikette, als erstes Benimmbuch gelesen. Ein Blick in das Werk erweist aber sehr schnell, dass der Urvater der Etikette etwas ganz anderes im Sinn hatte, dass er unter Höflichkeit etwas ganz anderes verstanden hat als sozial angepasstes, regelorientiertes Verhalten. Seit 2010 ist sein Gesamtwerk in einer vierbändigen Ausgabe zugänglich, und nach und nach werden auch zusätzliche Dokumente - etwa Briefwechsel - veröffentlicht. Und siehe da: Es handelte sich um einen prominenten Vertreter der deut‐ schen Aufklärung, der zahlreiche Erzählungen, Reiseberichte, aber auch protosoziologische Texte verfasst hat und der in Deutschland als Anhänger der Französischen Revolution verfolgt wurde. Benimmbücher hat er aber sicher nicht geschrieben; auch Über den Umgang mit Menschen passt nicht in eine solche Tradition. Ein Rezensent der Zeit bringt es auf den Punkt: Noch einmal und noch einmal und noch einmal ganz langsam zum Mitschreiben, auch für die Medienkollegen: Adolph Freiherr Knigge war kein Benimm-Onkel. Fischbesteck und Dresscodes haben ihn null interessiert. Sein Buch ‚Über den Umgang mit Menschen‘ von 1788 wurde im 19. Jahrhundert von irgendwelchen Stehkragen-Spießern zu einer Etikettefibel zugrunde gefälscht. Nicht um Um‐ gangsformen ging es Knigge, sondern um Lebensformen und Weltklugheit. (Erenz 2016) Knigges Buch kann als Vorläufer soziologischer, sozialpsychologischer, philosophischer oder ethnologischer Überlegungen angesehen werden, si‐ cher aber nicht als Ratgeber für formvollendetes, höfisches Verhalten. Das Werk ist in drei Teile aufgeteilt. Der erste trägt die Überschrift Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den Umgang mit Menschen, der zweite behandelt den Umgang mit besonderen Gruppen von Menschen (Eltern, Kinder und Blutsverwandte, Eheleute, Verliebte, Hauswirte, Nachbarn, Wirt und Gast usw.), der dritte Teil schließlich widmet sich dem Umgang mit Menschen von verschiedenen Ständen und Verhältnissen. Modern ausgedrückt ist der Umgang mit Diversität ein zentrales Thema, also die Frage, wie man in einer Gesellschaft friedlich zusammenleben kann, in der Kontakte mit sehr unterschiedlichen sozialen Gruppen immer wichtiger werden. 2.2 Höflichkeit in der Ratgeberliteratur: Knigge als „Säulenheiliger“? 17 <?page no="18"?> Der Autor selbst bringt die Ziele des Buches in der Einleitung zur dritten Auflage auf den Punkt, indem er die Überschrift paraphrasiert: „Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können“ (Knigge 1788/ 1977, o. Pag.). Der vermeintliche Ahnherr der Etikettebücher macht deutlich, dass es im Umgang mit Mitmenschen gerade nicht auf eine Samm‐ lung allgemeiner Verhaltensanweisungen ankommt und dass die Regeln des Umgangs miteinander eine große Bedeutung für die Organisation des so‐ zialen Lebens haben. Wenn man beschreiben und analysieren will, was eine Gesellschaft zusammenhält und wie sich ihre Mitglieder in ihrem Verhalten organisieren bzw. woran sie sich orientieren, dann sollte man demnach auch den Begriff der Höflichkeit jenseits der puren Konventionalität vertiefen und genauer ergründen, was Menschen voneinander erwarten können bzw. welche Pflichten und Rechte sie im Umgang mit anderen haben. Abb. II.1: Knigge, Ausgabe im Insel Verlag (2008) © Suhrkamp Verlag 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 18 <?page no="19"?> Eine moderne Version der Ideen Knigges schlägt die Deutsche Knigge-Ge‐ sellschaft vor. Schon durch die Namensgebung erhebt der Verein den Anspruch, in einer Linie mit den Ideen des Freiherrn zu stehen und die au‐ thentische Interpretation seiner Gedanken wiederzugeben. In diesem Sinne werden z. B. Beratungen für Unternehmen und Institutionen angeboten oder Trainings für verschiedene Gruppen von Interessierten (u. a. über die „Knigge-Akademie“). Auf der Homepage der Gesellschaft wird an die Ideen von Knigge angeknüpft. Unter der Überschrift „Etikette alleine reicht nicht“ heißt es etwa: „Man darf allerdings auch hier nicht übertreiben. Gutes Benehmen ist nicht alles. Zum Stil gehört auch geistige Größe und Bildung (übrigens auch die des Herzens). ‚Nur geistige Kultivierung verfeinert‘, meint dazu Thomas Mann“ (Knigge-Gesellschaft). Es geht nicht um gutes Benehmen, sondern vor allem um Stil. Auch das ist eine Ebene, auf der Ausführungen über Höflichkeit angesiedelt werden können. Das Credo der modernen Knigge-Version wird auf der Homepage in sieben Punkten zusammengefasst: ▸ Zurück zu den Wurzeln von Knigge: Aufklärung & Humanismus. ▸ Locker bleiben! ▸ Auch wenn ein Esel einen goldenen Sattel trägt, bleibt er dennoch ein Esel. ▸ Trainiert nicht Euer Lächeln, trainiert Eure Herzen! ▸ Nur geistige Kultivierung verfeinert. Purer Formalismus ist dumm. ▸ Ehrlichkeit, Disziplin, soziale Einstellung, ethisch einwand‐ freies Verhalten statt formalem Perfektionismus, Ellbogen, und Raffer-Mentalität, die über Leichen geht. ▸ Schluss mit den Auswüchsen steifer Etikette-Vorschriften! Wer will, soll ruhig „Guten Appetit“ und „Gesundheit“ sagen und diese albernen Übertreibungen zurückfahren (das setzt sich sowieso nicht durch). Natürlichkeit und Authentizität haben Priorität. (Knigge-Gesellschaft) Halten wir hier erst einmal fest: Höflichkeit ist nicht so leicht zu fassen, sie ist vielschichtig und umstritten. Man kann sie als Etikette, als Verhal‐ tensnorm verstehen. Dann spricht man von festen Vorschriften, die in manchen sozialen Kontexten befolgt werden und deren Nicht-Befolgung sozial sanktioniert werden kann. Man sagt damit aber wenig darüber aus, 2.2 Höflichkeit in der Ratgeberliteratur: Knigge als „Säulenheiliger“? 19 <?page no="20"?> was für das menschliche Zusammenleben wirklich wichtig ist - man wird ja kaum annehmen wollen, dass unser Verhalten in erwähnenswertem Maß von Etiketteregeln konditioniert wird. Man kann Höflichkeit aber auch als Verhaltensdisposition, als Einstellung beschreiben, die der Fähigkeit, mit anderen Menschen zu kooperieren, zugrunde liegt. Und hier wird es auch wissenschaftlich interessant; Höflichkeit ist dann ein Begriff, der deskriptiv verwendet werden kann, also nicht mehr, um zu sagen, was man in bestimmten Situationen tun sollte, sondern um zu beschreiben, was Menschen in bestimmten kommunikativen Kontexten tun und warum sie es tun bzw. welche sozialen Funktionen und Effekte dieses Verhalten hat. Darum sollte es bei einer linguistischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen gehen. 2.3 Konjunktur der Höflichkeit als Pressethema Eine weitere Ebene des Wissens über Höflichkeit kann man durch die Analyse der in der Presse dokumentierten Diskurse erfassen. Um einen Eindruck zu bekommen, werfen wir einen kurzen Blick auf ziemlich will‐ kürlich ausgewählte Zeitungsartikel, in denen über Höflichkeit geschrieben wird und im anschließenden Kapitel auf einige Buchpublikationen, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Die Auswahl sollte geeignet sein, öffentliches Sprechen über Höflichkeit exemplarisch zu dokumentieren und diskursanalytisch zu fragen, welche Ideen sich dahinter verbergen. Die Frage, auf die wir hier eine Antwort suchen, lautet also: „Worüber spricht man genau, wenn man außerhalb von Etikettetexten über Höflichkeit spricht? “ Zunächst stößt man dabei wieder auf Knigge und die Knigge-Gesellschaft. Im Jahr 2013 wurde Über den Umgang mit Menschen 225 Jahre alt. Die Zeit widmete diesem Jahrestag einen Artikel, in dem differenziert über das Lebenswerk des Freiherrn berichtet wird und in dem unterstrichen wird, dass Knigge mit Anstandsregeln nichts zu tun hatte. „Knigge war kein Freund von Anstandsregeln“ lautet die Überschrift des Textes von Hellmuth Vensky (2013). Darin wird auch über die Aktivitäten der Knigge-Gesell‐ schaft berichtet. Auf journalistisches Interesse stoßen insbesondere die angebotenen Benimmkurse, in denen Lernziele wie Benehmen bei Tisch, Begrüßungsrituale oder Dresscodes verfolgt werden. Sie gelten als Soft Skills, die in vielen Bereichen der Gesellschaft, u. a. im Berufsleben, eine 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 20 <?page no="21"?> immer wichtigere Rolle spielen. Betont wird, dass die Nachfrage nach Benimmkursen in den letzten Jahren zugenommen hat und dass dies auch daran liegt, dass sich die Verhaltensstandards geändert haben. Das wiederum führt zu Unsicherheit und dann zu Beratungsbedarf. Ganz im Sinne der Vorgaben der Knigge-Gesellschaft wird darauf verwiesen, dass es nicht um eine Reglementierung des Verhaltens gehen kann, dass vielmehr das Bauchgefühl in vielen Fällen eine gute Orientierungshilfe ist: „Oft gibt der gesunde Menschenverstand schon die richtige Benimm-Marschrichtung vor“ so ein Trainer (Schleufe 2012). In manchen (wohl eher vornehmen) Stadtvierteln werden Benimmkurse auch für Kinder angeboten. So lautet beispielsweise die Überschrift eines Artikels in der SZ: „Benimm dich! Grüßen, essen, richtig sitzen: Im feinen Münchner Süden soll Kursleiterin Sophie von Seydlitz Achtjährige Manieren lehren“ (Lutz 2015). Es geht um Kinder, die schon viel darüber wissen, was anständiges Benehmen ist. Sie sollen in dem Kurs aber lernen, dass es um mehr geht als die richtige Handhabung der Gabel: „Gutes Benehmen bedeutet Respekt: Respekt vor anderen zeigen und selber respektvoll auf‐ treten.“ Das Beispiel zeigt, dass Höflichkeit und alles, was mit ihr zusam‐ menhängt, ein Ziel von Erziehung ist. Ist es nötig oder wünschenswert, Kinder auf die Befolgung von Regeln „abzurichten“, oder sollte Erziehung zur Höflichkeit mehr leisten? Die Antwort auf diese Frage verweist auch auf das Weltbild der Erziehungsberechtigten. Die Ziele der Eltern werden so charakterisiert: „Seine Tochter soll das Rüstzeug bekommen, um in einer Welt zu bestehen, in der Manieren einen hohen Stellenwert haben. Das sollen die Kinder schon früh lernen“ (Lutz 2015). Solche Aussagen zeigen deutlich, wie zeit- und gruppenabhängig die Einstellung zu Höflichkeit und Manieren ist. Was auch immer die hehren Ziele solcher Kurse sein mögen, am Ende geht es darum, dass die Kinder einen Tisch richtig decken und gemeinsam essen, ohne zu schlürfen. Die Kursleiterin korrigiert Körperhaltung und den Umgang mit Messer und Gabel. Auch der als unzureichend empfundene Umgang mit Höflichkeit in Schulen bietet immer wieder Anlass für die Berichterstattung: „Kein Platz für Schimpfwörter“ - eine katholische Grundschule in Nordrhein-Westfalen erklärte sich zur „schimpfwortfreien Zone“ (Aprin 2014). Die Schule löste damit kontroverse Reaktionen aus. Selbst Vorschriften über angemessene Grußformeln stießen auf mediale Aufmerksamkeit: „Passauer Schulleiterin verbannt ‚Tschüs‘“ (so Spiegel online auf der Grundlage einer dpa-Nachricht): „Sie erklärt ihre Schule zur ‚Tschüs- und Hallo-freien Zone‘“ und fordert 2.3 Konjunktur der Höflichkeit als Pressethema 21 <?page no="22"?> stattdessen: „In Bayern heißt das ‚Grüß Gott! ‘“ Der Präsident des Bayeri‐ schen Lehrerverbands BLLV schließt sich an: „Die Schüler müssen den richtigen Ton finden“ (Cornelius 2012). In vielen Bereichen des Alltags- und des Berufslebens spielt Höflichkeit, wie Zeitungsartikel widerspiegeln, eine große Rolle. In der Presse finden sich Verweise auf den Digital-Knigge der Telekom, in dem Regeln für das digitale Benehmen formuliert werden (SZ.de 2010a) sowie auf verschiedene Bereiche des studentischen Lebens: In Zeit online (Kutter 2012) wird über Höflichkeit in studentischen Mails an Professoren reflektiert. Unter der Überschrift: „Hallöchen Herr Professor. Warum schreiben Studenten so unhöfliche E-Mails? Weil sie es nicht besser wissen“, wird die (Un)Angemessenheit von Anredeformen im akademischen und medialen Kontext erörtert. Besonders intensiv wird Höflichkeit im Bereich des Einzelhandels dis‐ kutiert. Dabei offenbart sich auch die Ambivalenz und Komplexität des Phänomens. Ein Artikel trägt diese Überschrift: „Der neue Zwang zur Freundlichkeit. Einzelhändler verfolgen eine neue Strategie: Sie zwingen ihre Mitarbeiter zu Höflichkeitsfloskeln und Nettigkeit. Die leiden unter dem Diktat“ (Schimansky 2012). Das Problem, um das es hier geht, kann man einfach zusammenfassen: EinzelhändlerInnen in Deutschland haben festgestellt, dass ihre KundInnen zufriedener sind, wenn sie im Geschäft höflich oder freundlich behandelt werden. Und wenn KundInnen zufrieden sind, dann laufen auch die Geschäfte gut. Also wurden die MitarbeiterInnen dazu aufgefordert, die KundInnen freundlich anzulächeln, sich zu bedanken und natürlich immer zu grüßen. Mit anderen Worten: höflich zu sein. Es stellt sich aber sehr schnell heraus, dass das leichter gesagt als getan ist. Oft merken die KundInnen, dass es sich um aufgesetztes Verhalten einer professionellen Höflichkeit handelt und fühlen sich auf den Arm genommen - das ist noch schlimmer als unhöflich behandelt zu werden. Eine Einzelhandels-Mitarbeiterin, die im Artikel zitiert wird, erzählt, […] wie sehr sie sich manchmal zusammenreißen müsse, um die freundlichen Sätze über die Lippen zu bekommen. ‚Das ist schwierig, denn viele Kunden werden persönlich.‘ Oft merkten die Kunden, dass die Mitarbeiterin nur Floskeln aufsage, statt sich ernsthaft um sie zu kümmern. ‚Viele werden wütend, wenn man sie mit 08-15-Sätzen abspeisen will.‘ Ihr fällt es schwer, sich zu entschuldigen, wenn sie es nicht so meint. Oft beißt sie dann auf die Zähne und lächelt. (Schimansky 2012) 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 22 <?page no="23"?> Höflichkeit ist auch eine Frage des richtigen Ausmaßes und vor allem der Glaubwürdigkeit. Es ist sehr fraglich, ob man sich oder jemandem Höflichkeit antrainieren und dabei „echt“, authentisch und aufrichtig wirken kann. Der Einzelhandel ist in Sachen Höflichkeit aber nicht nur wegen sol‐ cher Vorschriften bekannt. Hier gibt es auch das Phänomen des „Verkäufe‐ rinnen-Du“, also eine seltsame Mischung aus förmlicher und informeller Anrede: „Frau Müller, kannst du mir mal 20 Euro wechseln? “ Darauf verweist ein weiterer Artikel, in dem Höflichkeit zum Thema gemacht wird: „‚Du, Frau Müller‘: Die richtige Begrüßung erfordert viel Fingerspit‐ zengefühl. Was zwischen ‚Du‘ und ‚Sie‘ alles schieflaufen kann, ergründet die Anredeforschung“ (Straßmann 2013). In diesem Text geht es um die Anrede und um die Frage, welche der verschiedenen möglichen Formen jeweils passend ist. Der Autor verweist auf die Tatsache, dass es im Deutschen eine vertrauliche Anredevariante und eine Höflichkeitsform gibt. Er beschreibt die Tendenz, in immer mehr Kontexten das Du zu verwenden und damit das nachzuvollziehen, was sich in skandinavischen Ländern schon verändert hat: „In den skandinavischen Ländern ist bereits jede spezielle Höflichkeitsform dem demokratischen ‚Du‘ gewichen.“ Dem liegt offenbar die Annahme zugrunde, dass erstens Höflichkeit darin liegt, Distanz zu den GesprächspartnerInnen zu wahren (und nicht durch das Du Vertrautheit zu signalisieren). Und zweitens, dass Höflichkeit eher der aristokratischen Sphäre angehört, das Du eher dem demokratischen Diskurs. Eine weitverbreitete Annahme, die aus der Perspektive der linguistischen Höflichkeitsforschung noch zu diskutieren sein wird. Gerade im Tourismus stoßen unterschiedliche Höflichkeitstraditionen und unterschiedliche Formen der Realisierung von Höflichkeit aufeinander. So zeigt sich sehr schnell, dass in unterschiedlichen Regionen und erst recht in unterschiedlichen Ländern bzw. Kulturen auch sehr unterschiedliche Formen des Umgangs miteinander existieren. Diese Unterschiede können leicht zu Konflikten oder zumindest zur Unzufriedenheit von Gästen führen. So wird in einem Artikel (SZ.de 2010b) über eine Höflichkeitsstudie in Frankreich berichtet. Der Erhebung zufolge sind die Französinnen und Franzosen gegenüber TouristInnen nicht nett genug: „Besucher aus dem Ausland empfänden die Franzosen oft als ‚arrogant, sogar verächtlich‘, sagt die Tourismusberaterin […].“ Solche Eindrücke ergeben sich durchaus auch dann, wenn keine größeren Sprach- oder Kulturbarrieren vorhanden sind. Klagen von deutschen Besu‐ 2.3 Konjunktur der Höflichkeit als Pressethema 23 <?page no="24"?> cherInnen, z. B. über die Unhöflichkeit von Berliner TaxifahrerInnen, sind fast schon an der Tagesordnung. Auch in der Kommunikation zwischen Deutschen und SchweizerInnen erschweren Unterschiede in den Umgangs‐ formen die Verständigung. Als Beispiel sei hier eine Passage aus einem Artikel aus Zeit online zitiert: Der Schweizer ist in der Regel viel höflicher im Umgang mit seinen Mitmenschen. Das wird schon in der Tram (die hier ‚das Tram‘ heißt) deutlich, wo man an den Endhaltestellen täglich höflich begrüßt und auch verabschiedet wird vom Fahrer. Ein ähnliches Bild zeigt sich im Supermarkt: Höflichkeitsfloskeln wie ‚Merci‘, ‚Danke‘, ‚Bitte‘ werden wohl in keinem anderen Land so oft verwendet wie hier. (Bertram 2014) Der Artikel beschreibt die Unterschiede im Kommunikationsverhalten als unterschiedliche Grade von Höflichkeit, die das eine oder das andere Land auszeichnen. Auch das hört und liest man oft. Briten sind höflicher als Deutsche, Franzosen sind höflicher als Spanier usw. Wir werden in Kapitel 7.2 noch ausführlicher darauf zurückkommen. Hier mag der Hin‐ weis genügen, dass der weit verbreitete Eindruck, manche Kulturen oder Sprachen seien höflicher als andere im Wesentlichen auf unzulässigen Verallgemeinerungen und einem diskussionswürdigen Verständnis von Höflichkeit beruht. Was uns hier interessiert, ist der Höflichkeitsbegriff, der sich in solchen Behauptungen manifestiert: Er ist sehr stark am Begriff der Etikette orientiert, er identifiziert Höflichkeit mit der Realisierung von für die jeweilige Situation vorgeschriebenen Sprechhandlungen und wertet ein Ausbleiben der jeweiligen Handlung als Unhöflichkeit. Also: Wer immer schön und sehr oft bitte und danke sagt, der (oder die) ist höflich, wer das nicht tut, ist unhöflich. Das ist aus der Perspektive einer linguistischen Höflichkeitsauffassung sehr verallgemeinernd und vor allem abstrahiert es von den Äußerungskontexten. Unstrittig ist allerdings, dass sich Kulturen auch in den Höflichkeitskonventionen qualitativ voneinander unterscheiden und dass diese Unterschiede die interkulturelle Kommunika‐ tion erheblich erschweren können. Interessanterweise wird vereinzelt auch auf problematische Aspekte der Höflichkeit hingewiesen. In einem Artikel (Blawat 2011) geht es um Kommunikationspannen. Die Überschrift lautet: „Die dunkle Seite der Höflichkeit. Manche Menschen riskieren ihr Leben, weil sie nicht unhöflich sein wollen. Die vermeintliche Tugend kann irritieren, zu Miss‐ verständnissen führen und manchmal sogar tödlich sein.“ Das klingt dra‐ 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 24 <?page no="25"?> matisch. Höflichkeit wird hier als „Schmiermittel der Kommunikation“ im Alltag dargestellt, das jedoch in Extremsituationen unerwünschte Effekte haben kann, etwa bei gefährlichen Situationen in Flugzeugen oder bei Arztgesprächen: Nach einer zitierten Studie „[… ] spielte es in drei Viertel aller Unfälle von US-Zivilflugzeugen in den Jahren 1978 bis 1990 eine Rolle, dass ein Crewmitglied seine KollegInnen allzu zurückhaltend, taktvoll und indirekt auf Fehler und Probleme hingewiesen hatte. Dies erschwerte dem Rest der Mannschaft, die Gefahr richtig einzuordnen und schnell genug zu reagieren.“ Ein anderer problematischer Aspekt ist die Nähe von Höflichkeit und Lüge. Lügt man, wenn man höflich ist? Und wenn ja, ist das verwerflich? Im Magazin der SZ (Heft 12/ 2016) heißt es in der Überschrift eines Artikels: „Loben, lügen oder schweigen. Eine Bekannte betätigt sich als Künstlerin. Darf man ihr sagen, dass einem ihr Schaffen nicht gefällt? “ (Erlinger 2016b) Anknüpfen lassen sich viele weitere Fragen nach der Begründung einer Absage, nach dem Verhalten bei einer Essenseinladung, bei der es nicht geschmeckt hat usw. Das berührt den Bereich, der in der Linguistik als „pro‐ social lies“ (Meibauer 2014, 152 ff.) analysiert wird. Auch in diesen Beispielen wird deutlich, dass unter Höflichkeit ein Verhalten subsumiert wird, das vor allem in der Befolgung von Vorgaben für bestimmte Situationen besteht. Auch hier wird der Kontext ausgeklammert: Es scheint in jeder Situation erwartbar zu sein, dass man indirekt kommuniziert und bitte und danke sagt, wenn man nicht als unhöflich angesehen werden möchte. 2.4 Höflichkeit auf dem kulturkritischen Büchermarkt In Buchpublikationen auf dem nicht-wissenschaftlichen Sektor überwiegen Töne, die sich zwischen Skepsis und Katastrophismus bewegen, wenn es um Höflichkeit, ihre Akzeptanz in der Gesellschaft und ihre Zukunft geht. Titel wie Benehmt euch! Ein Pamphlet (Gärtner/ Roth 2013) oder Scheiss drauf. Die Kultur der Unhöflichkeit (Mießgang 2013) sprechen für sich. Hier werden in der Gesellschaft weit verbreitete Klagen über den Verfall der Höflichkeit und vielleicht sogar der Kultur im Allgemeinen gebündelt, dargestellt und gefördert. 2.4 Höflichkeit auf dem kulturkritischen Büchermarkt 25 <?page no="26"?> Abb. II.2: Titelbild Gärtner/ Roth (2013). Stefan Gärtner & Jürgen Roth: Benehmt Euch! Ein Pamphlet. DuMont Buchverlag, Köln 2013, ISBN: 978-3-8321-9726-1 Die Autoren solcher Texte nehmen für sich in Anspruch, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und dabei nicht in Kulturpessimismus oder sonstige voreingenommene Positionen zu verfallen. Im Klappentext von Mießgang (2013) wird dies explizit reklamiert: „Dieses Buch ist weder ein Ratgeber für das Überleben in unhöflichen Zeiten noch ein neues kulturpessimistisches Lamento.“ Ein Blick in das Buch zeigt aber sehr schnell, dass eine gewisse Nähe zu Diskursen über den Verfall wichtiger kultureller Errungenschaften durchaus gegeben ist. Ein Schlüsselbegriff des Buches wird ebenfalls im Klappentext erwähnt: Der Autor beschreibt eine Form des Umgangs miteinander, die er als „strategischen Grobianismus“ etikettiert. Gemeint ist damit der bewusste Einsatz von Unhöflichkeiten, der als zeittypisch aufgefasst wird. Dem kann eine Art Kosten-Nutzen-Kalkül zugrunde liegen: Wenn ich ohne die Verwendung von höflichen Umwegen direkt zur Sache komme, dann geht alles schneller; wenn ich jemanden dazu zwingen kann, das zu tun, was ich will, dann muss ich ihn nicht erst lange bitten. In einer durchökonomisierten Gesellschaft mag das erst mal ein Vorteil sein. Ein Effekt dieser Dynamik ist aber der Verfall der Umgangsformen. Andererseits hat das aber auch ein emanzipatorisches 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 26 <?page no="27"?> Potential: „Ein derbes Wort oder die gezielte Verletzung gewisser Regeln schafft - bisweilen - Emanzipation und enttarnt den Unsinn manch leerer Konvention.“ Und nicht zuletzt scheint dem aktuellen Grobianismus ein neues Prestige zuzuwachsen: Wer sich so rüde äußert und sich nicht um Konventionen schert, dem ist oft (falscher? ) Beifall sicher. Insgesamt überwiegt in solchen Büchern aber der pessimistische, fast schon apokalyptische Blick auf neuere Entwicklungen im Bereich der Umgangsformen. Die Kapitel von Gärtner/ Roth (2013) sind etwa mit Verro‐ hung, Verblödung, Verkindung und Verderben überschrieben. Es geht um Phänomene wie die „Rüpel-Republik“, die „antisoziale Seuche“ (11), die „Ver‐ rottung aller Lebensumstände“ (12) oder „die spätkapitalistische Verrohung der Sitten und Depravation der Gemüter“ (14). Da werden also schwere Geschütze aufgefahren. Was beklagen die Autoren eigentlich genau? Sie legen Wert darauf, ihre Ur‐ teile in Alltagserfahrungen aus allen möglichen Lebensbereichen zu verankern. Immer wieder wird auf den Verfall der Diskussionskultur in online-Medien ver‐ wiesen, auf den Sprachgebrauch auch in klassischen Medien, auf das Verhalten im Straßenverkehr (Fußgänger gegen Radfahrer, Radfahrer gegen Autofahrer) und in öffentlichen Verkehrsmitteln (z.B. bei Flugreisen), auf das Verhalten am Arbeitsplatz (z.B. Mobbing), auf den Verfall der Kleidungskonventionen, den Niedergang der politischen Diskussionskultur, den Umgang mit Smartphones oder den Umgang der Generationen miteinander. Solche Diagnosen laufen darauf hinaus, dass Höflichkeit eine Ausnahme‐ erscheinung und Unhöflichkeit der Normalfall ist. Das lässt dann auch den emanzipatorischen Impetus des strategischen Grobianismus in sich zusam‐ menfallen: Wenn man mit Unhöflichkeiten niemanden mehr erschrecken kann, dann bringt man auch niemanden zum Nachdenken über den Sinn oder Unsinn von Konventionen. Dann bleibt nur noch die Tatsache, dass der gesellschaftliche Umgangston rauer und rücksichtsloser geworden ist. Mießgang fasst seinen Befund so zusammen: Das heißt nun allerdings nicht, dass sich die Unhöflichkeit klammheimlich aus der Weltgeschichte verabschieden würde. Im Gegenteil: Sie wird geradezu endemisch und infiziert wie ein fatales Virus die unterschiedlichsten Segmente des gesellschaft‐ lichen Alltags. […] Die Schleusen sind geöffnet, wir steuern auf ein Zeitalter der gesamtgesellschaftlichen Manierenanarchie zu. Ziellos, begriffslos und bar jeden Trostes über die Welt, wie sie sich nun einmal darstellt. In diesem Sinne: Proleten aller Länder vereinigt euch und schreit laut: ‚Fick dich! ‘ (Mießgang 2013, 23f.) 2.4 Höflichkeit auf dem kulturkritischen Büchermarkt 27 <?page no="28"?> Das zeigt zunächst einmal, dass Höflichkeit (oder ihr Gegenteil) im Zentrum der gesellschaftlichen Diskurse angekommen ist: Das Nachdenken über Höflichkeit hängt eng zusammen mit dem Nachdenken über den Umgang miteinander und dies wiederum verweist auf die Frage, wie eine Gesellschaft organisiert ist und sein sollte. Diskussionsbeiträge wie die hier angespro‐ chenen repräsentieren eine wichtige Strömung des Diskurses und ein weit verbreitetes Unbehagen an der Entwicklung der Gesellschaft. Aus wissenschaftlicher, insbesondere sprachwissenschaftlicher Sicht sind solche Beiträge zuerst einmal deswegen interessant, weil sie ein weiteres Element einer Rekonstruktion alltagssprachlicher Höflichkeitsbegriffe dar‐ stellen. Sie sind aber aus vielen Gründen auch diskussionswürdig: ▸ Zunächst kann man sich natürlich darüber streiten, ob solche Be‐ obachtungen in irgendeiner Weise und für irgendetwas repräsen‐ tativ sind. Analysen der gesellschaftlichen Realität in Deutschland kommen in einigen Fällen eben auch zu ganz anderen Einschät‐ zungen. Gerade in öffentlichen Verkehrsmitteln kann man durchaus auch erleben, dass die Menschen sehr viel aufmerksamer und rück‐ sichtsvoller miteinander umgehen als noch vor 25 Jahren. Die Dia‐ gnose von Mießgang und anderen ist zumindest sehr selektiv und subjektiv. Die empirische Grundlage für pessimistische Lamenti be‐ steht wohl eher aus unsystematisch zusammengestellten Anekdoten. ▸ Diese Erzählungen müssen darüber hinaus in ihrem Kontext gelesen werden: Die Epoche, um die es in den Büchern geht, zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass Gesellschaften in vielerlei Hinsicht komplexer geworden sind und dass das Alltagsleben der Individuen in einem viel höheren Maße mit dem von anderen Menschen verwoben ist als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Die Anzahl der zwischenmenschlichen Kontakte mit Unbekannten im alltäglichen Leben hat sich erhöht. Das führt naturgemäß zu mehr Spannungen, Problemen und Krisen. Wo der Radverkehr zunimmt, entstehen bei‐ spielsweise Konkurrenzsituationen zwischen RadfahrerInnen und AutofahrerInnen bzw. FußgängerInnen. Diese entladen sich dann manchmal in Konflikten, die auch auf unhöfliche Weise ausgetragen werden. Es ist aber sicher übertrieben, daraus abzuleiten, dass wir einer Art Epidemie der Unhöflichkeit beiwohnen. ▸ Klagen über den Verfall der Umgangsformen lassen sich soziologisch ziemlich genau verorten und entspringen dem Interesse bestimmter 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 28 <?page no="29"?> gesellschaftlicher Gruppen sowie deren Anspruch auf kulturelle Hege‐ monie. Gärtner/ Roth (2013, 23) zitieren zustimmend die Bemerkung des Journalisten Andreas Altmann: „Bisweilen überkommt mich das Gefühl, daß der Prolo die Weltherrschaft übernommen hat.“ Ähnlich kommt im obigen Zitat Mießgangs Verweis auf die Proleten aller Länder daher. Höflichkeit und Unhöflichkeit werden also als vorherrschende Verhaltensdispositionen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen vor‐ gestellt: Unhöflichkeit ist proletarisch, Höflichkeit bürgerlich (auch wenn das nicht explizit gesagt wird). Diese Argumentation legt den Verdacht nahe, dass gutbürgerliche Autoren die Umgangsformen der eigenen sozialen Gruppe zur einzig richtigen und sinnvollen Version erklären und alles, was davon abweicht, diskreditieren. Die Debatte um Höflichkeit wird zu einem Mittel in der innergesellschaftlichen Ausein‐ andersetzung um Normen und Standards. Dieser Zusammenhang muss noch vertiefend diskutiert werden. ▸ Die von solchen Autoren beschriebenen und in Zusammenhang mit der Kultur der Unhöflichkeit gestellten Phänomene sind sehr heterogen. Es geht, um nur einige Stichworte zu nennen, um Be‐ reiche wie Kommunikation in Massenmedien (Unhöflichkeiten in Talkshows, Castingshows, Shitstorms im Internet und „digital rude‐ ness“), Straßenverkehr (aggressive AutofahrerInnen usw.), Politik (rüde Umgangsformen bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen in Parlamenten), Mode ( Jeans und Turnschuhe werden in immer mehr Kontexten getragen), Erziehung (Respektlosigkeit in Schule und Universität) oder Organisation von Arbeit und Konkurrenz in der Wirtschaft („Ellenbogengesellschaft“, Mobbing, Formen der Aus‐ tragung von Konflikten in Unternehmen). Kann man wirklich sagen, dass das alles mit (Un)Höflichkeit zu tun hat und dass der angebliche Verfall der Höflichkeit das geheime Zentrum all der hier angedeuteten negativen Entwicklungen in der Gesellschaft ist? Vielleicht liegt hier auch eine Überbewertung von Höflichkeit vor. Es mag durchaus plau‐ sibel sein, dass durch das Ausbleiben oder Wegfallen von Höflichkeit gesellschaftliche Konflikte verstärkt werden; es ist aber zweifelhaft, ob solche Entwicklungen allein auf veränderte Kommunikationsge‐ wohnheiten heruntergebrochen werden können. ▸ Solche Argumentationen immunisieren sich gegen Einwände, indem sie Momente, in denen sich traditionelle Höflichkeit tatsächlich weiter durchzusetzen scheint, auch wieder in einem negativen Licht präsen‐ 2.4 Höflichkeit auf dem kulturkritischen Büchermarkt 29 <?page no="30"?> tieren: Mießgang beschreibt auch das Phänomen, dass KundInnen in Geschäften in den letzten Jahren immer freundlicher begrüßt und be‐ dient werden, dass die MitarbeiterInnen von Einzelhandelsbetrieben durchschnittlich höflicher sind als noch vor wenigen Jahren. Auch das wird aber kritisch als Gespenst der guten Laune klassifiziert, das in der Arbeitswelt umgeht, als „Wellnessvirus“ oder als „Lächelmaske“ (vgl. Mießgang 2013, 105), die wiederum Teil der Konstruktion einer Fassade sind: „Die auf den ersten Blick erfreuliche Anhebung des Höflichkeitsniveaus in jenen gesellschaftlichen Kontaktzonen, wo Verkäufer und Konsument aufeinandertreffen, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als besonders perfide Form der Missachtung des Gegenübers“ (Mießgang 2013, 106). Den KundInnen wird etwas vorgespielt, was in Wirklichkeit nicht existiert. Höflichkeit wird zu einer Art Lüge, die zu verurteilen ist und die dann in einer folgenden Passage auch explizit in die Nähe von Prostitution gerückt wird. Zwar können in der populärwissenschaftlichen Debatte keine begrifflichen Differenzierungen erwartet werden. Doch leidet aus sprachwissenschaftli‐ cher Sicht die Diskussion auch darunter, dass Höflichkeit ganz offensichtlich mit verschiedenen Facetten von (z. B.) Respekt, Anstand, Freundlichkeit, Rücksichtnahme, Umgangsformen identifiziert wird. Der Höflichkeitsbe‐ griff bleibt deswegen schwammig und beliebig. Es muss eine Aufgabe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen sein, den Begriff besser zu konturieren, in einen wissenschaftlichen Zusammenhang zu rücken und genauer zu sagen, wovon eigentlich die Rede ist. Eine diffe‐ renziertere Darstellung zur Höflichkeit ist von Rainer Erlinger vorgelegt worden (2016a). In Abgrenzung zum Begriff der Etikette wird der Wert einer wertlosen Tugend von seinen „Rändern“ her (u. a. Mode, Beruf, Internet, Religion) in seiner gesellschaftlichen Bedeutung eingekreist. Insgesamt zeigen die öffentlichen und vorwissenschaftlichen Ausfüh‐ rungen über Höflichkeit, die hier exemplarisch betrachtet wurden, dass es sich um ein gesellschaftlich virulentes Thema handelt, welches einiges an Streitpotential mit sich bringt. Höflichkeit ist umstritten: Man kann darüber diskutieren, welche Verhaltensweisen höflich sind und welche nicht, man kann aber auch über die Funktion bzw. den Stellenwert von Höflichkeit in der sozialen Interaktion streiten. Nicht zuletzt sind Tendenzen in der Entwicklung von Höflichkeit Gegenstand von Debatten. Es handelt sich um 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 30 <?page no="31"?> ein Thema, das für Individuen geeignet ist, um sich zu positionieren und von anderen abzugrenzen. Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich aber kein klarer Begriff von Höflichkeit. Als höflich wird es bezeichnet, wenn man jemandem die Tür aufhält, PartnerInnen nicht unterbricht, grüßt, lächelt, freundlich ist, sich entschuldigt, sich richtig anzieht, die richtige Anrede wählt, Kommandoton vermeidet und vieles andere mehr. Der alltagssprachliche Höflichkeitsbe‐ griff ist sehr stark an einer Idee von Etikette, von „To-do-Anweisungen“ orientiert, also an Normen und Regeln. Es gibt nur einige wenige Versuche, Höflichkeit als darüber hinaus gehendes Organisationsprinzip des gesell‐ schaftlichen Zusammenlebens und grundlegendere Verhaltensdisposition aufzufassen. Aber: auch da, wo (wie in den Publikationen der Knigge-Ge‐ sellschaft) betont wird, dass Höflichkeit viel mehr ist als das Befolgen von vorgegebenen Prozeduren für die Bewältigung bestimmter Situationen, bleibt immer unklar, was mit diesem Mehr genau gemeint ist. 2.5 (Un)Höflichkeit im Gebrauch Wenn man herausfinden will, was Sprecher des Deutschen unter ‚Höflich‐ keit‘ verstehen, dann kann man sich auf seine Intuition als kompetenter Sprecher verlassen und zusammentragen, was man selbst über das Phä‐ nomen weiß und was man über die diesbezüglichen Vorstellungen seiner Mitmenschen in Erfahrung bringen kann. Vor allem bei Letzterem kann man sich natürlich nur auf das konzentrieren, was diese Mitmenschen sagen und schreiben. Einen direkten Zugang zu ihren Gedanken oder sonst einen Weg in ihren Kopf findet man nicht. Mit einem solchen Vorgehen kann man zu guten Ergebnissen kommen. Es birgt aber auch die Gefahr, unnötig selektiv und subjektiv zu sein: Man erfasst nur, was einem schon bekannt ist und riskiert, wesentliche Aspekte, die einem in einem bestimmten Moment nicht besonders präsent sind, zu ignorieren. Die Instrumente und Techniken der Korpusanalyse bieten hier die Mög‐ lichkeit, auf der Grundlage einer verlässlichen Datenbasis fundiertere und objektivere Aussagen zu machen und damit dem zu untersuchenden Begriff auf die Spur zu kommen - oder zumindest eine erste Spur zu identifizieren: „[…] corpus analysis offers a firm ontological basis for understanding ‚politeness‘ across languages and relational networks“ (Kádár/ Haugh 2013, 192). Die Ausgangshypothese für ein solches Vorgehen ist die Idee, dass sich 2.5 (Un)Höflichkeit im Gebrauch 31 <?page no="32"?> die Bedeutung von Wörtern wie höflich und Höflichkeit aus dem Sprachge‐ brauch ergibt, dass ein genauer Blick darauf, wie wir die Wörter verwenden, eine gut begründete Hypothese darüber zulässt, was wir darunter verstehen. Mit Blick auf die englische Sprache verweist auch Watts auf die Relevanz eines alltagssprachlichen Begriffes von Höflichkeit, indem er betont „[…] polite and politeness are lexemes in the English language whose meanings are open to negotiation by those interacting in English. Their meaning are reproduced and renegotiated whenever and wherever they are used in verbal interaction, which of course means that related terms such as rude, rudeness (dis)courteous, impolite, impoliteness etc. are also struggled over“ (Watts 2003, 13). Die Angaben zum Gebrauch von Wörtern können also kein ein für alle Mal gültiges Bild der Gebrauchsregeln und der Bedeutungsnuancen ergeben, sie stellen vielmehr eine Momentaufnahme dar, eine Fotografie des im gegenwärtigen Sprachstadium in Form von Gebrauchspräferenzen niedergeschlagenen kollektiven Wissens einer Sprachgemeinschaft. 2.5.1 Frequenzanalysen Moderne Korpora bieten die Möglichkeit, mit einfachen Mitteln auf um‐ fangreiche Textsammlungen zuzugreifen und darin nach verschiedensten Kriterien wiederkehrende Muster in der Sprachverwendung zu suchen (vgl. z.B.Perkuhn/ Keibel/ Kupietz 2012). Wer, wo, wann, in welchem Kontext die hier diskutierten Wörter verwendet und welcher Höflichkeitsbegriff diesen Verwendungen zugrunde liegen könnte, lässt sich in den Korpora des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (hier: COSMAS II) und im DWDS (Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache) gut nachvollziehen. Wir möchten hier keine eingehende Korpusanalyse vornehmen, aber doch einige Daten aus den beiden Korpora präsentieren, die die Be‐ schreibung des alltagssprachlichen Höflichkeitsbegriffs bereichern können. Neben Frequenzübersichten werden dabei vor allem die Gebrauchsumge‐ bungen relevant, also die Frage, mit welchen anderen Lexemen die Höf‐ lichkeitswörter signifikant häufig zusammen gebraucht werden und mit welchen sie charakteristische Komposita bilden. Eine semantische Analyse solcher Verbindungen (die hier oberflächlich bleiben muss) wird Hinweise darauf ergeben können, was Sprecher meinen, wenn sie von Höflichkeit oder Unhöflichkeit sprechen. Sie bildet das in Gebrauchstendenzen sedi‐ mentierte Wissen der Sprachgemeinschaft ab, das jedem Sprachbenutzer präsent ist - was nicht heißt, dass es sich um explizit abrufbares Wissen 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 32 <?page no="33"?> handelt. Im Gegenteil: In vielen Fällen sind Sprecher sich nicht darüber bewusst, dass sie bestimmte Lexemverbindungen bevorzugt verwenden und andere Möglichkeiten zwar zur Verfügung stehen, in den meisten Fällen aber nicht aktiviert werden. In Cosmas II findet sich zunächst die Möglichkeit, im Deutschen Referenz‐ korpus (DeReKo) und anderen Textsammlungen die Frequenz der Lexeme und ihre historische Entwicklung zu verfolgen. Das Cosmas II-Korpus umfasst diverse Einzelkorpora mit Zeitungstexten, Protokollen von Parla‐ mentsdebatten, literarische Texte und vielen weiteren Textsorten aus den letzten Jahrhunderten. Insgesamt sind nach Angaben des IdS ca. 9 Mrd. Wortformen erfasst. Die Suche nach allen Wortformen von höflich, unhöf‐ lich, Höflichkeit und Unhöflichkeit in allen öffentlich zugänglichen Korpora ergibt folgendes Bild: Abb. II.3: Gebrauchsfrequenzen im COSMAS II-Korpus, Stand 18.9.2020 Die Kurven zeigen einen auffälligen Anstieg ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Frequenzwerte für höflich für die 50er, 60er und 70er Jahre lagen bei 771, 1328 und 1126, um dann in den 80ern auf 1533, in den 90ern auf 9597 und schließlich im neuen Jahrtausend auf den Wert von 25735 zu steigen. Für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind fast 30000 Okkurrenzen erfasst. Fast parallel, wenn auch auf niedrigerem Niveau, verläuft die Kurve für das Substantiv. Auch hier beginnt in den 80er Jahren eine signifikante Entwicklung: vorher (70er Jahre) lag die Gebrauchsfrequenz bei 660, in den 80ern selbst bei 689, in den 90ern bereits bei 3945. Weniger häufig, aber ebenfalls mit ansteigender Tendenz, werden die beiden abgeleiteten Lexeme mit Negationspräfix verwendet. Auch hier sind für das Adjektiv höhere Werte zu verzeichnen als für das Substantiv. Die Unterschiede zwischen Adjektiven und Substantiven lassen sich als Hinweis darauf interpretieren, dass die Lexeme in der Alltagskommunikation typischerweise dazu verwendet werden, Verhalten zu klassifizieren, zu werten und mit einem entsprechenden Etikett oder Label (vgl. Culpeper 2011, 76ff.) zu versehen. Die Verwendung der Adjektive wäre damit Teil einer Art metasprachlichen Aktivität: Wer sie verwendet, der spricht über das sprachliche (und auch nichtsprachliche) Verhalten anderer Menschen und bewertet dieses. Die Substantive treten seltener auf; das lässt sich mit der Hypothese erklären, dass abstraktere Begriffe in der nicht-wissenschaftlichen Kommunikation keine so große Rolle spielen, aber doch bemerkenswert präsent sind - vor allem in den Jahren nach 1980. Die zeitliche Entwicklung kann insgesamt sicher nicht nur damit erklärt werden, dass für die letzten Jahrzehnte mehr Texte erfasst worden sind. Sie deuten vielmehr darauf hin, dass Höflichkeit und Unhöflichkeit in immer weiter steigendem Ausmaß zum Gegenstand von Diskussionen und Reflexionen werden. Die statistischen Angaben bestätigen eindeutig den Eindruck, den auch viele Beobachter des deutschen Buchmarktes haben: Werke über Höflichkeit, Ratgeber, Benimmbücher, Etikette-Leitfäden und Ähnliches haben in den letzten Jahren Hochkonjunktur. Ganz offensichtlich gibt es in der Gesellschaft um die Jahrtausendwende ein starkes Bedürfnis, über angemessenes und unangemessenes Verhalten nachzudenken und zu diskutieren. Das bedarf sicher einer vertiefenden höflich; 29807 unhöflich; 4487 Höflichkeit; 11388 Unhöflichkeit; 771 0 5000 10000 15000 20000 25000 30000 35000 1770-1779 1780-1789 1790-1799 1800-1809 1810-1819 1820-1829 1830-1839 1840-1849 1850-1859 1860-1869 1870-1879 1880-1889 1890-1899 1900-1909 1910-1919 1920-1929 1930-1939 1940-1949 1950-1959 1960-1969 1970-1979 1980-1989 1990-1999 2000-2009 2010-2019 Okkurrenzen höflich unhöflich Höflichkeit Unhöflichkeit Abb. II.3: Gebrauchsfrequenzen im COSMAS II-Korpus, Stand: 18.9.2020 Die Kurven zeigen einen auffälligen Anstieg ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Frequenzwerte für höflich für die 50er, 60er und 70er Jahre lagen bei 771, 1328 und 1126, um dann in den 80ern auf 1533, in den 90ern auf 9597 und schließlich im neuen Jahrtausend auf den Wert von 25735 zu steigen. Für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind fast 30000 Okkurrenzen erfasst. Fast parallel, wenn auch auf niedrigerem Niveau, verläuft die Kurve für das Substantiv. Auch hier beginnt in den 80er Jahren eine signifikante Entwicklung: Vorher (70er Jahre) lag die Gebrauchsfrequenz bei 660, in den 80ern selbst bei 689, in den 90ern bereits 2.5 (Un)Höflichkeit im Gebrauch 33 <?page no="34"?> bei 3945. Weniger häufig, aber ebenfalls mit ansteigender Tendenz, werden die beiden abgeleiteten Lexeme mit Negationspräfix verwendet. Auch hier sind für das Adjektiv höhere Werte zu verzeichnen als für das Substantiv. Die Unterschiede zwischen Adjektiven und Substantiven lassen sich als Hinweis darauf interpretieren, dass die Lexeme in der Alltagskommunika‐ tion typischerweise dazu verwendet werden, Verhalten zu klassifizieren, zu werten und mit einem entsprechenden Etikett oder Label (vgl. Culpeper 2011, 76 ff.) zu versehen. Die Verwendung der Adjektive wäre damit Teil einer Art metasprachlichen Aktivität: Wer sie verwendet, der spricht über das sprachliche (und auch nicht-sprachliche) Verhalten anderer Menschen und bewertet dieses. Die Substantive treten seltener auf; das lässt sich mit der Hypothese erklären, dass abstraktere Begriffe in der nicht-wis‐ senschaftlichen Kommunikation keine so große Rolle spielen, aber doch bemerkenswert präsent sind - vor allem in den Jahren nach 1980. Die zeitliche Entwicklung kann insgesamt sicher nicht nur damit erklärt werden, dass für die letzten Jahrzehnte mehr Texte erfasst worden sind. Sie deuten vielmehr darauf hin, dass Höflichkeit und Unhöflichkeit in immer weiter steigendem Ausmaß zum Gegenstand von Diskussionen und Reflexionen werden. Die statistischen Angaben bestätigen eindeutig den Eindruck, den auch viele Beobachter des deutschen Buchmarktes haben: Werke über Höflichkeit, Ratgeber, Benimmbücher, Etikette-Leitfäden und Ähnliches haben in den letzten Jahren Hochkonjunktur. Ganz offensichtlich gibt es in der Gesellschaft um die Jahrtausendwende ein starkes Bedürfnis, über angemessenes und unangemessenes Verhalten nachzudenken und zu diskutieren. Das bedarf sicher einer vertiefenden Analyse im Zusammen‐ hang mit der Beschreibung allgemeinerer gesellschaftlicher Tendenzen. Wir werden das Thema wieder aufgreifen. Hier sei noch einmal darauf hinge‐ wiesen, dass die Angaben aus der Frequenzanalyse auch nicht überbewertet werden sollten; es handelt sich immer nur um absolute Zahlen, nicht um relative Frequenzen. Eine im Vergleich zu früheren Zeiten höhere Anzahl erfasster Texte aus den letzten Jahrzehnten verfälscht das Bild. 2.5.2 Kookkurrenzanalysen Die Korpusanalyse ergibt nicht nur rein quantitative Angaben über Gebrauchs‐ frequenzen, sondern ermöglicht auch einen Einstieg in eine qualitative Ausein‐ andersetzung mit der Frage, was Sprecher unter ‚Höflichkeit‘ verstehen. Einen ersten Eindruck davon kann man sich verschaffen, wenn man untersucht, mit 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 34 <?page no="35"?> welchen Lexemen Höflichkeit häufig kombiniert wird, mit welchen Wörtern es in Komposita verwendet wird, welche Wortbildungsformen besonders häufig auftreten oder aus anderen Gründen auffällig sind. Die Kookkurrenzdatenbank (Belica 2001 ff.) erlaubt es zunächst, die häu‐ figsten Kookkurrenzpartner der hier zur Diskussion stehenden Lexeme zu identifizieren und damit die Grundlage für ein Gebrauchsprofil zu schaffen, das wiederum wichtige Hinweise darauf geben kann, was SprecherInnen unter dem jeweiligen Begriff verstehen. Typische Verwendungsmuster werden damit als Verweis auf charakteristische Denkmuster aufgefasst. Die Datengrundlage für diesen Ansatz ist ein virtuelles Korpus, das auf dem DeReKo basiert und einen Umfang von ca. 2,2 Milliarden laufenden Textwörtern aufweist. Die Ergebnisse der Recherche werden hier als wordle dargestellt (www.wordle.net). Für Höflichkeit ist die Liste der relevanten Kookkurrenzpartner lang. Eine Beschränkung auf die ca. 20 im Umfeld des Wortes am häufigsten auftretenden Lexeme ergibt sich folgendes Bild: absolute Zahlen, nicht um relative Frequenzen. Eine im Vergleich zu früheren Zeiten höhere Anzahl erfasster Texte aus den letzten Jahrzehnten verfälscht das Bild. 2.5.2 Kookkurrenzanalysen Die Korpusanalyse ergibt nicht nur rein quantitative Angaben über Gebrauchsfrequenzen, sondern ermöglicht auch einen Einstieg in eine qualitative Auseinandersetzung mit der Frage, was Sprecher unter ‚Höflichkeit‘ verstehen. Einen ersten Eindruck davon kann man sich verschaffen, wenn man untersucht, mit welchen Lexemen Höflichkeit häufig kombiniert wird, mit welchen Wörtern es in Komposita verwendet wird, welche Wortbildungsformen besonders häufig auftreten oder aus anderen Gründen auffällig sind. Die Kookkurrenzdatenbank (Belica 2001 ff.) erlaubt es zunächst, die häufigsten Kookkurrenzpartner der hier zur Diskussion stehenden Lexeme zu identifizieren und damit die Grundlage für ein Gebrauchsprofil zu schaffen, das wiederum wichtige Hinweise darauf geben können, was SprecherInnen unter dem jeweiligen Begriff verstehen. Typische Verwendungsmuster werden damit als Verweis auf charakteristische Denkmuster aufgefasst. Die Datengrundlage für diesen Ansatz ist ein virtuelles Korpus, das auf dem DeReKo basiert und einen Umfang von ca. 2,2 Milliarden laufenden Textwörtern aufweist. Die Ergebnisse der Recherche werden hier als wordle dargestellt (www.wordle.net). Für Höflichkeit ist die Liste der relevanten Kookkurrenzpartner lang. Eine Beschränkung auf die ca. 20 im Umfeld des Wortes am häufigsten auftretenden Lexeme ergibt sich folgendes Bild: Abb. II.4: Kookkurrenzprofil von Höflichkeit. wordle-Darstellung, Datengrundlage Belica 2001 ff., Stand: Mai 2017 Gezeigt wird, wie häufig die angegebenen Wörter zusammen (im Abstand von höchstens 5 Lexemen vor und nach dem Referenzwort) mit Höflichkeit verwendet werden. Die Schriftgröße spiegelt die Frequenz der gemeinsamen Verwendung wider. Der häufigste Kookkurrenzpartner ist also ausgesucht - ein Attribut, mit dem unterstrichen wird, dass höfliches Verhalten in verschiedenen Abstufungen auftreten kann: Es unterscheidet sich zuerst einmal von ganz normalem, nicht-höflichem Verhalten und kann dann auch noch einmal verfeinert werden zu besonders elaborierten Formen. Ein Beispiel (wie alle anderen Beispiele in diesem Abschnitt aus dem COSMAS-Korpus. Die dort angegebenen Quellenverweise werden übernommen.): (1) Selbst sehr viel jüngeren Kollegen schreibt er mit ausgesuchter Höflichkeit (NZZ14/ MAR.02438). Der Höflichkeit wird hier eine Eigenschaft zugeordnet, die wiederum auf ihren Ausnahmestatus verweist: Das Verhalten, das so qualifiziert wird, kann als eine Option unter vielen anderen angesehen werden. Die Wahl dieser Option durch den Handelnden ist das Ergebnis von Reflexion und Selektion. Sie wird von einem Beobachter, der dieses Adjektiv wählt, ausgesprochen positiv bewertet. Offensichtlich geht der Autor dieser Passage davon aus, dass es für den Umgang mit Abb. II.4: Kookkurrenzprofil von Höflichkeit. wordle-Darstellung, Datengrundlage Belica 2001 ff., Stand: Mai 2017 Gezeigt wird, wie häufig die angegebenen Wörter zusammen (im Abstand von höchstens 5 Lexemen vor und nach dem Referenzwort) mit Höflichkeit verwendet werden. Die Schriftgröße spiegelt die Frequenz der gemeinsamen Verwendung wider. Der häufigste Kookkurrenzpartner ist also ausgesucht - ein Attribut, mit dem unterstrichen wird, dass höfliches Verhalten in ver‐ schiedenen Abstufungen auftreten kann: Es unterscheidet sich zuerst einmal 2.5 (Un)Höflichkeit im Gebrauch 35 <?page no="36"?> von ganz normalem, nicht-höflichem Verhalten und kann dann auch noch einmal verfeinert werden zu besonders elaborierten Formen. Ein Beispiel (wie alle anderen Beispiele in diesem Abschnitt aus dem COSMAS-Korpus. Die dort angegebenen Quellenverweise werden übernommen.): (1) Selbst sehr viel jüngeren Kollegen schreibt er mit ausgesuchter Höf‐ lichkeit (NZZ14/ MAR.02438). Der Höflichkeit wird hier eine Eigenschaft zugeordnet, die wiederum auf ihren Ausnahmestatus verweist: Das Verhalten, das so qualifiziert wird, kann als eine Option unter vielen anderen angesehen werden. Die Wahl dieser Option durch den Handelnden ist das Ergebnis von Reflexion und Selektion. Sie wird von einem Beobachter oder einer Beobachterin, der/ die dieses Adjektiv wählt, ausgesprochen positiv bewertet. Offensichtlich geht der Autor/ die Autorin dieser Passage davon aus, dass es für den Umgang mit jüngeren Kollegen ein angemessenes Maß von Höflichkeit gibt, dass die betreffende Person dieses Maß aber regelmäßig überschreitet. Das scheint bemerkenswert zu sein. Weitere Attribute zu Höflichkeit, die häufig auftreten, sind diplomatisch, vollendet und übertrieben. Das erste assoziiert Höflichkeit mit einem Bereich, in dem der Umgang mit anderen Personen als extrem delikat, aber auch wichtig empfunden wird und in dem alle Beteiligten sehr genau abwägen, was sie wie zum Ausdruck bringen. Ein/ e DiplomatIn spricht nicht so, wie ihm/ ihr der Schnabel gewachsen ist und sagt nicht, was er oder sie wirklich denkt - so ist es wohl auch mit der Höflichkeit. Die beiden anderen Adjektive verweisen darauf, dass es offensichtlich ein ziemlich genau bestimmbares Maß an Höflichkeit gibt, das in einer bestimmten Situation aufgewendet werden sollte. Trifft jemand dieses Maß genau, dann verhält er sich vollendet; es besteht aber auch die Gefahr, es zu überschreiten, dann ist man übertrieben höflich. Wörter wie Gebot, gebieten oder Regel als Kookkurrenzpartner weisen darüber hinaus darauf hin, dass es in den Augen vieler SprecherInnen eine Art Verpflichtung gibt, die es vorschreibt, in bestimmten Situationen ein bestimmtes (nämlich höfliches) Verhalten an den Tag zu legen. Die Art dieser Verpflichtung oder ihrer Grundlage bleibt jedoch zunächst unspezifiziert. Ansonsten zeigt die Abbildung eine große Zahl von Substantiven, die in der unmittelbaren Nachbarschaft von Höflichkeit signifikant häufig gebraucht werden. Hier wäre es wünschenswert, anhand von Beispielen jeweils vertiefen zu können, ob Substantive in einer additiven, alternativen 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 36 <?page no="37"?> oder adversativen Verbindung auftreten. Die Korpusdaten würden das ermöglichen; wir begnügen uns hier aber mit einem etwas oberflächlichen Eindruck. Der ergibt, dass sich zwei größere Gruppen von Substantiven herauskristallisieren: zum einen solche, die sich auf Teilaspekte von Höf‐ lichkeit beziehen, zum anderen Lexeme, die alternativ, fast synonym zum Referenzwort verwendet werden können, also eng verwandte Begriffe be‐ zeichnen. Zur ersten Gruppe gehören z. B. Pünktlichkeit (besonders wichtig), Freundlichkeit, Respekt, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme oder Bescheiden‐ heit. Wer sich durch solche Eigenschaften auszeichnet, hat (jedenfalls im deutschsprachigen Kontext) gute Chancen, von seinen Mitmenschen als höflich eingestuft zu werden. Der gemeinsame Nenner dieser Eigenschaften liegt wohl in der Aufmerksamkeit, die einem Interaktionspartner entgegen‐ gebracht wird sowie in der Einbeziehung der Interessen und Bedürfnisse des Partners in die eigenen Handlungen. Die zweite Gruppe besteht aus drei Substantiven: Umgangsform, Anstand, Manieren. Auch damit werden Formen des Eingehens auf Mitmenschen bezeichnet. Es wird interessant sein zu fragen, wie zwischen diesen Sub‐ stantiven und Höflichkeit differenziert werden kann, ob es sich tatsächlich um Quasi-Synonyme handelt oder ob sich im Gebrauch Unterschiede her‐ ausstellen. Etwas überraschend ist der Bezug auf einen Kontinent: das Adjektiv asiatisch gehört zu den 20 am häufigsten verwendeten Kookkurrenzpartnern von Höflichkeit. Offensichtlich werden die Umgangsformen von Menschen, die aus asiatischen Ländern stammen, als prototypische Formen von Höf‐ lichkeit empfunden. Der erste Blick auf die Verwendung von Höflichkeit hat sicher keine großen Überraschungen ergeben. Erstaunlich ist höchstens, was hier nicht auftaucht: Wörter wie Etikette oder Knigge sind offensichtlich als Kookur‐ renzpartner nicht so wichtig wie die anderen - das kann als erster Hinweis darauf interpretiert werden, dass die kodifizierte Version von Höflichkeit für den alltagssprachlichen Begriff gar nicht die große Rolle spielt, die ein Beobachter erwarten könnte. Was ebenfalls fehlt, sind Hinweise auf kritische oder gar negative Einstellungen gegenüber der Höflichkeit, die etwa in der Verbindung mit Lüge oder Unaufrichtigkeit zum Ausdruck kommen könnten. Die Daten verweisen erst einmal darauf, dass diese Aspekte quantitativ nicht besonders relevant sind. Für das Adjektiv ergeben sich diese Kookkurrenzen: 2.5 (Un)Höflichkeit im Gebrauch 37 <?page no="38"?> Abb. II.5: Kookkurrenzprofil von höflich. wordle-Darstellung, Datengrundlage Belica 2001 ff. Stand: Mai 2017 Auffällig ist zunächst, dass die Liste kein einziges Substantiv enthält, sondern vor allem Verben und das eine oder andere attributiv gebrauchte Partizip. Offensichtlich wird das Attribut höflich weniger Personen oder Objekten zugeschrieben, sondern hauptsächlich Handlungen. Die Übersicht ist also keine Antwort auf die Frage, wer oder was häufig als höflich angesehen wird, sondern auf die, was man signifikant häufig höflich tut. Hier fällt auf, dass sehr viele Kookkurrenzpartner Verben sind, die kommunikative Handlungen oder Sprechakte beschreiben. Das ist der Fall bei formulieren, ausdrücken, bedanken, grüßen, antworten oder bitten. Das bestätigt die Intuition, dass es bei Höflichkeit in vielen Fällen um eine Begleiterscheinung kommunikativer Handlungen geht. Man ist also normalerweise nicht einfach nur höflich, sondern vollzieht eine andere sprachliche Aktivität und modelliert sie so, dass sie nicht nur ihr primäres kommunikatives Ziel erreicht (etwas formulieren, um etwas bitten usw.), sondern noch einen zusätzlichen Effekt hat: Die Handelnden werden von ihre Umgebung auch noch als höflich angesehen. Der Grund dafür ist eine Art „subsidiäre Zusatzhandlung“ (Lüger 2014, 43), die der Haupthandlung einen besonderen Akzent verleiht. Die potentiell höflich vollzogenen Sprechhandlungen sind zum Teil solche, die in der Interaktion delikat sein können, für deren Vollzug kommunikatives Fingerspitzengefühl und diplomatisches Geschick notwendig sind. Jemanden um etwas bitten stellt beispielsweise einen Eingriff in die Handlungsfreiheit der Adressaten dar. Diese können nach einer Bitte nicht einfach das tun oder lassen, was sie getan hätten, wenn sie nicht freundlich dazu aufgefordert worden wären, etwa jemandem sein Fahrrad zu leihen. Sie müssen sich zumindest mit der Bitte auseinandersetzen und eine geeignete Antwort darauf finden. Sprechhandlungen wie Bitten werden deswegen in der Höflichkeitstheorie als gesichtsbedrohende Handlungen (face threatening acts) bezeichnet. Diese Eigenschaft von Sprechhandlungen wird im Kapitel über wissenschaftliche Höflichkeitsbegriffe und entsprechende Theorien eine wichtige Rolle spielen. Vorerst mag der Hinweis darauf reichen, dass Bitten oder auch Grußaktivitäten sensible Momente in der Kommunikation sind, die für SprecherInnen immer das Risiko mit sich bringen, die HörerInnen zu verletzen oder - um es salopp auszudrücken - ihnen auf den Schlips zu treten. Auf den ersten Blick verhält es sich mit den anderen genannten Verben allerdings anders. Formulieren und ausdrücken bezeichnen keine besonders delikaten Sprechhandlungen und wenn man sich bei jemandem bedankt, geht man kaum das Risiko ein, das z.B. mit einer Bitte, einer Aufforderung oder auch einem Kompliment verbunden ist. Hier wird es sich lohnen, mithilfe einiger Beispiele etwas genauer hinzuschauen: (2) Das Mädchen aus Brisbane hatte ihr Anliegen in einem Brief höflich formuliert: „Allerliebster Wissenschaftler“, leitete sie ihr Schreiben ein (NUN14/ JAN.00937 Nürnberger Nachrichten, 11.01.2014, 28). Abb. II.5: Kookkurrenzprofil von höflich. wordle-Darstellung, Datengrundlage Belica 2001 ff., Stand: Mai 2017 Auffällig ist zunächst, dass die Liste kein einziges Substantiv enthält, sondern vor allem Verben und das eine oder andere attributiv gebrauchte Partizip. Offensichtlich wird das Attribut höflich weniger Personen oder Objekten zugeschrieben, sondern hauptsächlich Handlungen. Die Übersicht ist also keine Antwort auf die Frage, wer oder was häufig als höflich angesehen wird, sondern auf die, was man signifikant häufig höflich tut. Hier fällt auf, dass sehr viele Kookkurrenzpartner Verben sind, die kommunikative Handlungen oder Sprechakte beschreiben. Das ist der Fall bei formulieren, ausdrücken, bedanken, grüßen, antworten oder bitten. Das bestätigt die Intuition, dass es bei Höflichkeit in vielen Fällen um eine Begleiterscheinung kommunikativer Handlungen geht. Man ist also normalerweise nicht einfach nur höflich, sondern vollzieht eine andere sprachliche Aktivität und modelliert sie so, dass sie nicht nur ihr primäres kommunikatives Ziel erreicht (etwas formulieren, um etwas bitten usw.), sondern noch einen zusätzlichen Effekt hat: Die Handelnden werden von ihre Umgebung auch noch als höflich angesehen. Der Grund dafür ist eine Art „subsidiäre Zusatzhandlung“ (Lüger 2014, 43), die der Haupthandlung einen besonderen Akzent verleiht. Die potentiell höflich vollzogenen Sprechhandlungen sind zum Teil solche, die in der Interaktion delikat sein können, für deren Vollzug kom‐ munikatives Fingerspitzengefühl und diplomatisches Geschick notwendig sind. Jemanden um etwas bitten stellt beispielsweise einen Eingriff in die Handlungsfreiheit der Adressaten dar. Diese können nach einer Bitte nicht einfach das tun oder lassen, was sie getan hätten, wenn sie nicht 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 38 <?page no="39"?> freundlich dazu aufgefordert worden wären, etwa jemandem sein Fahrrad zu leihen. Sie müssen sich zumindest mit der Bitte auseinandersetzen und eine geeignete Antwort darauf finden. Sprechhandlungen wie Bitten werden deswegen in der Höflichkeitstheorie als gesichtsbedrohende Handlungen (face threatening acts) bezeichnet. Diese Eigenschaft von Sprechhandlungen wird im Kapitel über wissenschaftliche Höflichkeitsbegriffe und entspre‐ chende Theorien eine wichtige Rolle spielen. Vorerst mag der Hinweis darauf reichen, dass Bitten oder auch Grußaktivitäten sensible Momente in der Kommunikation sind, die für SprecherInnen immer das Risiko mit sich bringen, die HörerInnen zu verletzen oder - um es salopp auszudrücken - ihnen auf den Schlips zu treten. Auf den ersten Blick verhält es sich mit den anderen genannten Verben allerdings anders. Formulieren und ausdrücken bezeichnen keine besonders delikaten Sprechhandlungen und wenn man sich bei jemandem bedankt, geht man kaum das Risiko ein, das z. B. mit einer Bitte, einer Aufforderung oder auch einem Kompliment verbunden ist. Hier wird es sich lohnen, mithilfe einiger Beispiele etwas genauer hinzuschauen: (2) Das Mädchen aus Brisbane hatte ihr Anliegen in einem Brief höflich formuliert: „Allerliebster Wissenschaftler“, leitete sie ihr Schreiben ein (NUN14/ JAN.00937 Nürnberger Nachrichten, 11.01.2014, 28). (3) Amnesty International betrachtet Mohamed Abdullah al-Roken als gewaltlosen politischen Gefangenen, der nur aufgrund der friedli‐ chen Wahrnehmung seiner Rechte und seiner Arbeit als Verteidiger inhaftiert ist. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate und fordern Sie ihn auf, Mohamed Abdullah al-Roken unverzüglich und bedingungslos freizulassen und das gegen ihn verhängte Urteil aufzuheben (NUN14/ APR.01348 Nürnberger Nachrichten, 11.04.2014, 27). (4) Umso lustiger wirkt die Behauptung der Anwälte der Gefeuerten, die Banker könnten weiter beschäftigt werden, weil das Vertrauen zu ihrem Arbeitgeber nicht gestört sei. Damit das so bleibe, habe man sich bemüht, die Schriftsätze besonders höflich zu formulieren. Nur wegen des Wunsches ihrer Mandanten, weiterbeschäftigt zu werden, so die Juristen, ‚sollen hier deutlichere Worte zu dem Vorgehen der Beklagten […]‘ (Z13/ DEZ.00258 Die Zeit online, 19.12.2013). Formulieren ist ein transitives Verb. Man formuliert immer etwas: ein An‐ liegen, einen Brief oder einen Schriftsatz. Die Beispiele zeigen, dass die Kom‐ 2.5 (Un)Höflichkeit im Gebrauch 39 <?page no="40"?> bination von formulieren und dem Adverb höflich so gut wie immer darauf verweist, dass das Objekt der Formulierung im soeben angesprochenen Sinn eine gesichtsbedrohende Handlung darstellt. Ein Anliegen (Beispiel 2) hat viele Ähnlichkeiten mit einer Bitte. Der Brief, um den es im Beispiel (3) geht, ist eine Aufforderung, noch dazu an einen Repräsentanten eines fremden Staates gerichtet und in (4) geht es um rechtliche Aktionen von Mitarbeitern gegen ihren Arbeitgeber, also um Handlungen, die nicht nur, aber auch das Gesicht des Adressaten bedrohen. Höflich formuliert wird also vorzugsweise dann verwendet, wenn eine einfache Formulierung zu Problemen auf der Beziehungsebene führen könnte. Wenn jemand sagt, der Autor habe, höflich gesagt, Unsinn geschrieben, dann gibt er damit deutlich zu verstehen, dass er eigentlich der Meinung ist, eine stärkere Formulierung wäre angemessener, diese aber nicht wählt, um niemandem zu nahezutreten. Höflichkeit ist hier also eine Art prophylaktische Einschränkung oder Abschwächung einer Handlung, die ohne diesen Zusatzaspekt das kommunikative Gleichgewicht zwischen den handelnden Personen gefährden würde. Etwas anders verhält es sich mit danken: (5) Dieser Studio-Auftritt war sehr überschaubar: Nadine Schellenberger durfte im ZDF-Jahresrückblick bei Moderator Hape Kerkeling am Sonntagabend einen Blumenstrauß entgegen nehmen und einmal höflich „Danke“ sagen. Das war es dann auch schon (M11/ DEZ.04221 Mannheimer Morgen, 13.12.2011, 25). (6) Kekilli: Vielleicht. Vielleicht ist deutsch, auf die Bühne zu gehen, höflich zu sein, allen zu danken, keinen zu vergessen. Ich war froh, dass ich meine Agentin nicht vergessen habe (U10/ OKT.03753 Süddeutsche Zeitung, 23.10.2010, 23). In diesen Beispielen wird keine Sprechhandlung beschrieben, die im vor‐ liegenden Fall höflich vollzogen wurde, sondern eine, die als solche, als Sprechakt, mit dem Attribut höflich versehen wird. Es geht um Personen des öffentlichen (Medien-)Lebens, die etwas bekommen, Blumen oder einen Preis, und sich dafür bedanken. Das wird als höflich eingestuft. Die Höflich‐ keit ist hier also nicht ein Aspekt, eine Begleiterscheinung einer anderen Handlung, sondern eine Qualität der Handlung selbst oder die primäre Handlung. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass es hier in der Tat nicht um potentiell gesichtsbedrohende Handlungen geht, die durch Höflichkeit abgemildert würden. Sicher wäre es ein Affront, sich nicht zu bedanken, 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 40 <?page no="41"?> wenn man Blumen bekommt. Trotzdem hat Höflichkeit in diesen Fällen nicht den Charakter einer sekundären, begleitenden, abmildernden oder subsidiären Zusatzhandlung. Zusätzlich sind in der Liste der Kookkurrenzen auch nicht-sprachliche Handlungen vertreten. Auch diese sind offensichtlich nicht in Analogie zu gesichtsbedrohenden Handlungen wie Bitten zu sehen: Man kann eine Bitte mehr oder weniger höflich oder auch unhöflich formulieren; man kann aber kaum mehr oder weniger höflich oder gar unhöflich lächeln oder applaudieren. Auch diese Handlungen sind als solche höflich und enthalten Höflichkeit nicht als zusätzlichen Aspekt. Es geht also auch in diesen Fällen nicht um die Abmilderung von gesichtsbedrohenden Handlungen. Wenn man von einem Publikum sagt, es applaudiere höflich, dann verweist das eher darauf, dass der Applaus unter Umständen nicht aufrichtig gemeint ist, dass er nur deswegen gespendet wurde, weil das in der Situation eben so Usus ist und deswegen erwartet wird. Höflich wäre hier in etwa gleichbedeutend mit konventionell vollzogen. Wagen wir eine erste Zusammenfassung der Befunde: Höflich und unhöflich werden offenbar weniger als Attribute von Personen verstanden denn als Qualifizierung von Verhaltensweisen und Handlungen, insbesondere solchen, die eine potentielle Gefahr für das Gesicht der Gesprächspartner darstellen. Es gibt hier aber signifikante Ausnahmen. Ein besonders wichtiger Aspekt scheint darin zu liegen, dass Höflichkeit kein Bestandteil des normalen Ablaufs von Kommunikation ist, dass sie nicht unbedingt erwartbar ist. Sehr präsent ist auch ein Verweis auf Regeln oder Konventionen, die der Höflichkeit zugrunde liegen. Wenn diese Regeln respektiert werden, dann wird das Verhalten der betreffenden Personen als sozial angemessen eingestuft, nicht aber unbedingt als ehrlich oder aufrichtig. Insgesamt kommt der Höflichkeit aber eine deutlich positive Bewertung zu, sie wird assoziiert mit Aufmerksamkeit, Wertschät‐ zung und in Verbindung mit der Ehre gesehen. Darüber hinaus verweisen die Kookkurrenzen auf zahlreiche Teilaspekte der Höflichkeit und spiegeln damit die Komplexität des Themas wider. Man könnte die Analyse der Korpusdaten beliebig vertiefen. Wir haben versucht, einen kleinen Einblick in das Wissen über Höflichkeit zu geben, das sich im Wortschatz der deutschen Sprache und in den Tendenzen seiner Verwendung in alltäglichen Kontexten manifestiert. Dabei hat sich zuerst einmal gezeigt, dass das Reden über Höflichkeit ganz offensichtlich einer diachronischen Entwicklung unterliegt: Es gibt historische Momente oder Epochen, in denen dies besonders häufig praktiziert wird, und es gibt Epochen, 2.5 (Un)Höflichkeit im Gebrauch 41 <?page no="42"?> in denen das Thema keine oder eine untergeordnete Rolle spielt. Wir leben aktuell in einer Welt, in der vergleichsweise intensiv über dieses Thema gesprochen wird. Dieses Datum kann man unterschiedlich deuten: Man kann davon ausgehen, dass es auf eine besondere Bedeutung des Themas verweist, dass Menschen also besonderen Wert darauf legen, auf eine Weise miteinander umzugehen, die sie als höflich einstufen. Oder man kann darin ein Kompensationsphänomen sehen: Weil der Umgang miteinander in der Realität alles andere als höflich ist, wird besonders intensiv darüber nachge‐ dacht und geredet, was Höflichkeit ist und sein kann. Eine Deutung schließt die andere dabei nicht aus, es ist auch möglich, beide zu kombinieren. Wichtig ist es, hier noch darauf hinzuweisen, dass aus dem kurzen Überblick hervorgeht, wie stark Höflichkeit in ein komplexes und in sich heterogenes Netzwerk von anderen Wörtern und Begriffen eingewebt ist. SprecherInnen, die diese Lexeme verwenden, wissen sehr genau, dass es etwas mit Pünkt‐ lichkeit, Anstand, Toleranz oder Freundlichkeit zu tun hat, um nur einige Beispiele zu nennen. Im Gebrauch kann jeder kompetente Sprecher und jede kompetente Sprecherin auch unterscheiden, welches der Wörter in einem bestimmten Kontext angemessen ist. Schwieriger würde es sicherlich, wenn man SprecherInnen bitten würde, genau zu definieren und damit explizit zu machen, was sie unter ‚Höflichkeit‘ verstehen. Aber das ist auch nicht die Aufgabe eines noch so kompetenten Sprechers oder einer kompetenten Sprecherin. Um Definitionen hat sich die Wissenschaft zu kümmern. Die Bewertung von Höflichkeit scheint im Allgemeinen sehr positiv zu sein. Sie wird wohl als notwendige und wünschenswerte Eigenschaft von sprachlichen und kommunikativen Aktivitäten angesehen und auch auf verschiedenen Ebenen (Handlung, Formen) verortet. Der Verdacht der Unaufrichtigkeit höflicher Handlungen oder, genauer gesagt, eine negative Bewertung aufgrund der Unaufrichtigkeit ist zwar erkennbar, scheint aber auf dieser Ebene kein zentrales Element zu sein. Zur Bewertung gehört auch die Tatsache, dass im Sprachgebrauch durchaus zwischen Höflichkeit und Etikette unterschieden wird. Die beiden Substantive weisen ein sehr unterschiedliches Kookkurrenzprofil auf; das deutet darauf hin, dass Spre‐ cher ziemlich genau wissen, was das eine und was das andere ist. Ganz offensichtlich betrachten sie Höflichkeit als eine Verhaltensdisposition, die mehr ist als das Befolgen von Regeln, die in irgendeinem normativen Dokument von mehr oder weniger obskuren und mehr oder weniger klar autorisierten Autoritäten vorgeschrieben werden. 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 42 <?page no="43"?> 1 Ausschnitt aus der ARD-Sendung „Anne Will“ vom 16.3.2016 abgedruckt mit freundli‐ cher Genehmigung von Studio Hamburg Enterprises GmbH. 2.6 Der sprachwissenschaftliche Blick 2.6.1 Ein Beispiel: Talkshows als Forum von Unhöflichkeit? Einige der Schwierigkeiten des alltagssprachlichen Höflichkeitsbegriffes resultieren aus der Tatsache, dass er ziemlich abstrakt ist und eher auf Beschreibungen von typisierten Situationen basiert, die ohne Kontext und ohne genauere Analyse derjenigen Faktoren präsentiert werden, die das Verhalten der Beteiligten beeinflussen oder sogar determinieren könnten. Zur Annäherung an einen sprachwissenschaftlich fundierten Begriff von Höflichkeit ist es unerlässlich, sich genauer anzuschauen, was Sprecher- Innen in konkreten Interaktionen tun, wie sie sich aufeinander beziehen, welche Konsequenzen das hat, welche Rolle Höflichkeit dabei spielt und welche interaktive Funktion sie hat. Wir versuchen, einen ersten Eindruck von dieser Dynamik an einem Beispiel aus einer Talkshow-Diskussion zu vermitteln. Der folgende Dialog ist ein Ausschnitt aus der ARD-Sendung „Anne Will“ vom 16.3.2016. Das Thema dieser Ausgabe der Talkshow ist die Flüchtlingspolitik in Europa. Unter der Überschrift „Flüchtlingsdrama vor dem Gipfel. Ist Europa noch zu retten? “ diskutierten Sebastian Kurz, der damalige Außenminister der Republik Österreich (FPÖ), Heiko Maas, der (zu diesem Zeitpunkt) deutsche Bundesjustizminister (SPD), Katrin Göring-Eckardt, die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen im Deutschen Bundestag, Richard Sulík, ein slowakischer Europaabgeordneter und Katja Kipping, damals die Vor‐ sitzende der Partei Die Linke mit der Gastgeberin Anne Will. Im Ausschnitt, den wir hier in einer sehr ungenauen, dafür aber hoffent‐ lich leicht lesbaren Transkription präsentieren, diskutieren Katrin Göring Eckhardt und Sebastian Kurz über Strategien zur Flüchtlingspolitik und über das Vorgehen der österreichischen Regierung. Diese hatte kurz vorher Grenzkontrollen eingeführt und erklärt, nur noch eine begrenzte Zahl von Flüchtlingen ins Land zu lassen. Gegen Ende des Ausschnittes wird dann Höflichkeit (genauer gesagt Unhöflichkeit) explizit thematisiert: 1 2.6 Der sprachwissenschaftliche Blick 43 <?page no="44"?> GE: Was nicht geht, ist zu sagen, ich will eine europäische Lösung und das zwanzigmal zu sagen und gleichzeitig zu sagen, es geht nicht mehr um eine Politik des Durchwinkens, aber nicht darüber zu reden, wie es denn gehen soll. K: Das [kann ich Ihnen sagen]. GE: [Und gehen wird es] nicht äh, darf ich vielleicht einen Vorschlag machen, [Herr Kurz] K: [ja] GE: und gehen wird es nicht, wenn man sagt, jeder legt seine eigene Obergrenze fest, gehen wird es übrigens auch nicht, wenn man sagt, Durchwinken geht nicht mehr, aber die Alternative, nämlich Kontingente einzuführen, dafür zu sorgen, dass Menschen nach Europa kommen können und die europäischen Länder ja sagen zu ihnen. Ich halte übrigens auch nichts davon, jemanden mit Zwang in das eine oder andere Land zu schicken, sondern mal danach zu gucken, wo ist eigentlich schon eine Familie, wo sind eigentlich schon Freunde, dann werden die nämlich auch integriert werden können. Und wir sollten auch nicht so tun, als ob wir hier überflutet werden, also wir reden mal über die Zahlen, um die es da geht. Wenn man sich das anschaut, was im letzten Jahr war, wenn man sich anschaut, um welche Zahlen es jetzt geht, das ist für Europa natürlich machbar, aber es muss geordnet sein und dann muss jedes Land sagen, wir sind bereit für Kontingente, wir sind bereit, unsere Verpflichtung [auch zu erfüllen] K: [Aber Entschuldigung, kennen Sie] GE: [Sie haben das im letzten Jahr] K: [kennen Sie die österreichischen] GE: [Ich kenne die Zahlen, ja ich kenne die Zahlen] K: [Wir haben neunzig, wir haben neunzigtausend Menschen aufgenommen] GE: [Sie haben das im letzten Jahr gemacht. Sie haben das im letzten Jahr gemacht, Herr Kurz] K: [Die zweithöchsten Zahlen nach Deutschäh nach Schweden] GE: [Ich weiß] K: Und ich habe Ihnen nie widersprochen, dass es sinnvoll ist, auch Menschen aufzunehmen. Ich sage nur, im Moment gibt es das Recht des Stärkeren [und dessen], GE: [Nein, gilt nicht] K: der sich den Schlepper leisten kann und [das ist der falscheste] GE: [was im Moment, was im Moment gilt] Ist, dass Sie dichtgemacht haben. Und das ist das [Problem] K: [Wir nehmen auch in diesem Jahr siebenund] GE: [Sie haben dichtgemacht], statt auf der anderen Seite, statt auf der anderen Seite zu sagen wir setzen uns jetzt dafür ein, dass es wirklich Kontingente gibt. K: Wann haben wir uns dagegen ausgesprochen [als Österreich]. GE: [Im Moment, im Moment, wo Sie] K: [Wir haben letztes Jahr] neunzigtausend Menschen] GE: [wo Sie erzählen] K: aufgenommen und wir nehmen dieses Jahr siebenunddreißigtausendfünfhundert Menschen auf. GE: Dass Sie so unhöflich sind, wusste ich gar nicht. K: Das ist nicht unhöflich, ich versuche nur, die Zahlen ins rechte Licht zu rücken. Wir nehmen siebenunddreißigtausend Menschen heuer noch auf TV-Talkshows sind sehr spezielle Gesprächsformate (vgl. z. B. Burger 2001). Das heißt auch, dass Höflichkeit und Unhöflichkeit hier unter ganz anderen Umständen ausgehandelt werden als in Alltagsgesprächen und dass andere Verhaltensweisen erwünscht und akzeptabel sind. Die kleine Auseinander‐ 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 44 <?page no="45"?> setzung über Unhöflichkeit wird erst dann wirklich verständlich, wenn man auch fragt, welche Rolle sie in diesem speziellen Kontext spielt, wie sie mit der Dynamik der Situation verbunden ist, welche Funktion sie hat und wie sie in diesem Rahmen/ von diesen Beteiligten bearbeitet wird. Talkshows sind mediale Inszenierungen, rhetorische Schaukämpfe zwi‐ schen Medienprofis, die versuchen, ihre Position oder die ihrer Gruppe im öffentlichen Diskurs voranzubringen oder durchzusetzen. Viele Beobachte‐ rInnen sehen in dieser Form von Pseudo-Diskussion ein Symptom für den Verfall der öffentlichen Diskussionskultur oder sogar der demokratischen Meinungs- und Willensbildung. Unter anderem wird beklagt, dass in solchen Gesprächen die Regeln und Konventionen für den konsensorientierten Dialog außer Kraft gesetzt werden und dass es oft nicht um das bessere Argument geht, sondern darum, wer lauter schreit, wer unverschämter auftritt oder wer seine PartnerInnen am überzeugendsten diskreditieren kann. Die Beteiligten spielen jeweils eine oftmals vom Format vorgegebene Rolle; sie treten als notorische QuerulantInnen, als linke SpinnerInnen, als konservative HardlinerInnen, als VertreterInnen der Kirche usw. auf und nicht nur als Individuen. Die ganze Gesprächssituation ist wesentlich komplexer als die in einem prototypischen Dialog mit SprecherInnen und HörerInnen, die mehr oder weniger höflich zueinander sein können. Für Gespräche in Massenmedien unterscheidet Burger (2001, 1493) zunächst einen inneren und einen äußeren Kreis von Beteiligten: Den inneren Kreis bilden die Gesprächsteilnehme‐ rInnen im engeren Sinne, also die DiskutantInnen und die Moderatorin. Zum äußeren Kreis zählen u. a. die FernsehzuschauerInnen, die nicht in das Gespräch eingreifen können. Dazwischen gibt es auch noch das Publikum im Studio, das zumindest indirekt (durch Zurufe oder Applaus) intervenieren und das Diskussionsgeschehen beeinflussen kann. Die Kreise überlagern sich ständig; so entsteht das, was Burger „Mehrfachadressierung“ nennt: Wenn die Moderatorin spricht, wendet sie sich an ihre Gesprächspartne‐ rInnen, aber auch an die ZuschauerInnen. Goffman (1981, 131 ff.) schlägt eine weitere Differenzierung der Ge‐ sprächsrollen vor, die nützlich sein kann, um Vereinfachungen zu vermeiden (vgl. Adamzik 2002). Er unterscheidet zunächst zwischen ratifizierten und nicht-ratifizierten TeilnehmerInnen. Ratifiziert sind diejenigen, die in der jeweiligen Interaktion einen offiziell anerkannten Status haben, nicht-rati‐ fiziert also alle, die zwar zuhören können, aber nicht das Recht haben einzugreifen. In normalen Konversationssituation sind alle Personen, die 2.6 Der sprachwissenschaftliche Blick 45 <?page no="46"?> eingreifen können, ratifizierte TeilnehmerInnen. Das heißt aber nicht un‐ bedingt, dass sie auch die AdressatInnen aller Beiträge sind. Vor allem in Gesprächen mit mehr als zwei TeilnehmerInnen gibt es immer Momente, in denen TeilnehmerIn A mit B spricht und sich nur sekundär an die anderen wendet. Man kann und muss also weiter unterscheiden zwischen adressierten und nicht adressierten ratifizierten TeilnehmerInnen, also AdressatIn und HörerIn. Auch nicht-ratifizierte TeilnehmerInnen können sich im Hinblick auf den Grad ihrer Beteiligung unterscheiden. In den meisten Fällen können SprecherInnen die Anwesenheit der ver‐ schiedenen Arten von ZuhörerInnen wahrnehmen und bei der Planung ihrer Beiträge berücksichtigen. In Mediengesprächen ist das geradezu ein kon‐ stitutioneller Bestandteil der Gesprächssituation. Die Sendungen werden ja für ein Publikum, also mehr oder weniger aufmerksame ZuhörerInnen gemacht - einige davon als Saalpublikum anwesend, andere zu Hause vor dem Fernsehgerät. Im Idealfall verfolgen die ZuschauerInnen die Sendung aufmerksam, oft haben sie auch die Möglichkeit, über Telefonanrufe, Mails oder Einträgen in sozialen Netzwerken in die Diskussion einzugreifen, werden also zu ratifizierten TeilnehmerInnen. Höflichkeit spielt sich damit auf jeden Fall in verschiedenen Bereichen ab: Im vorliegenden Gesprächsausschnitt sind GE und K mehr oder weniger höflich gegenüber den jeweils adressierten TeilnehmerInnen, aber auch ge‐ genüber den anderen HörerInnen, dem Publikum im Saal, dem TV-Publikum usw. Schließlich handelt es sich bei einer solchen Talkshow um ein Diskussi‐ onsformat. Die einzelnen TeilnehmerInnen können und müssen einander also widersprechen, um eine Diskussion in Gang zu bringen. Dissens ist mehr als erwünscht. In anderen Kontexten mag es also als unhöflich angesehen werden, wenn SprecherInnen einander widersprechen, hier wäre es geradezu unhöflich gegenüber der Moderatorin, der Redaktion und dem Publikum, wenn die TeilnehmerInnen einander ständig recht geben würden. Die Bedingungen für die Einschätzung von Höflichkeit sind also anders als in vielen anderen Gesprächsformen (vgl. Ehrhardt 2011). Der kleine Streit, der hier dokumentiert wurde und der in dem Vorwurf gipfelt, unhöflich zu sein, findet auf mindestens zwei Ebenen statt: Es geht inhaltlich um die richtigen Maßnahmen der Flüchtlingspolitik und formal um das Rederecht. GE ist von der Moderatorin eingeladen worden, ihre Position darzulegen und setzt zu einem längeren Statement an. Gleich am Anfang wird sie dabei von K unterbrochen, lässt sich dadurch aber 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 46 <?page no="47"?> nicht davon abhalten, weiter zu sprechen. Nach wenigen Sätzen wird sie erneut von K unterbrochen, und an dieser Stelle beginnt eine etwas unübersichtliche Phase, in der die beiden Politiker sich ständig gegenseitig unterbrechen und synchron (übereinander) reden. Es entsteht eine lebhafte Diskussion zwischen den beiden, die sich immer weiter steigert. Die Phase wird dadurch beendet, dass GE ihrem Partner in einem etwas resignierten Tonfall vorwirft, unhöflich zu sein. Aller Wahrscheinlichkeit bezieht sie sich damit auf die Tatsache, dass sie in der Entwicklung ihres Gedankens mehrmals durch Unterbrechungen gestört wird. K verletzt also die Regel, dass man in einem Gespräch die anderen ausreden lassen sollte. Das gehört zu den formalen, kodifizierten Höflichkeitskonventionen - und zu den Konventionen, deren Gültigkeit und Sinnhaftigkeit kaum bestritten, aber in der Praxis ständig verletzt werden. Auch in diesem Punkt ist K aber nicht einverstanden. Er widerspricht explizit und behauptet, es handele sich nicht um eine Unhöflichkeit, weil er ja nur versuche, die Zahlen korrekt widerzugeben. Es ist nicht ganz klar, worauf sich sein Widerspruch bezieht: Hält er es für nicht unhöflich, eine Gesprächspartnerin zu unterbrechen oder Statistiken richtig zu interpre‐ tieren? Er changiert hier wohl zwischen der inhaltlichen und der formalen Ebene des Gesprächs. Höflichkeit und Unhöflichkeit werden in diesem Gespräch also im Sinne der Etikette aufgegriffen. Wenn man versuchen möchte, den zugrunde liegenden Höflichkeitsbegriff herauszuarbeiten, dann muss man auf die bereits beschriebene alltägliche Auffassung zurückkommen: Höflich sein heißt, sich an die in der Gesellschaft anerkannten Regeln und Konventionen zu halten und den Partner nicht zu unterbrechen. Einmal mehr wird auch erkennbar, dass dieser Begriff zu kurz greift und in der Realität der Kommunikation schwer anwendbar ist. Unterbrechungen sind einfach unvermeidlich - schon in ganz alltäglichen Interaktionen, viel mehr noch in Mediengesprächen. Wenn die TeilnehmerInnen sich nicht ab und zu unterbrechen, wird der Dialog schnell leblos. Das gehört offensichtlich auch zum Wissen aller SprecherInnen und HörerInnen; Unterbrechungen werden deswegen durchaus nicht immer als Unhöflichkeit aufgefasst. Die Etiketteregel ist also viel zu allgemein. Der Unhöflichkeitsvorwurf zeigt aber Wirkung. Die Überlappungen von Beiträgen hören an dieser Stelle auf, der Adressat des Vorwurfs verteidigt sich; er kann oder will es sich nicht leisten, diesen Vorwurf auf sich sitzen zu lassen. Man kann hier verallgemeinernd die Hypothese ableiten, dass aus der Perspektive der 2.6 Der sprachwissenschaftliche Blick 47 <?page no="48"?> Beteiligten Höflichkeit in der Interaktion eine wichtige Rolle spielt; es wiegt schwer, wenn jemandem das Interesse an Höflichkeit oder die Fähigkeit, höflich zu sein, abgesprochen wird. Das Beispiel zeigt auch, dass es im Einzelfall durchaus nicht leicht ist, einzuschätzen, ob eine Äußerung höflich ist oder nicht. Für GE sind die Unterbrechungen im konkreten Fall unhöflich; ihr Gesprächspartner (ein distinguierter und wohlerzogener Mensch) ist da anderer Meinung. Die BeobachterInnen werden diesbezüglich eine weitere Auffassung vertreten und wiederum untereinander ebenfalls kaum einen Konsens finden. Wessen Urteil gilt? Kann man das objektivieren? Sollte man sich für ein Urteil über den Grad von Höflichkeit einer Äußerung auf die Intention der Spreche‐ rInnen beziehen? Auf die Auffassung der AdressatInnen? Oder auf Urteile von HörerInnen oder BeobachterInnen? Es bleibt zumindest der Verdacht, dass der Höflichkeitsgrad einer Äußerung nicht nur vom Gesprächskontext abhängt, sondern auch davon, aus welcher Perspektive man sie betrachtet. Als wissenschaftliche/ r BeobachterIn könnte man annehmen, dass das Verhalten von K als höflich eingestuft werden kann, wenn es die weitere Interaktion nicht störend beeinflusst. Ganz deutlich zeigt sich, dass Höflichkeit in Gesprächssituationen um‐ stritten sein kann. In Gesprächen geht es nicht nur um Inhalte, sondern eben auch darum, wie man miteinander umgehen kann und soll. Wenn darüber keine Einigkeit besteht, bzw. wenn sich diese Uneinigkeit durch (aus der Perspektive eines Beteiligten) abweichendes Verhalten manifestiert, dann kann es zu Aushandlungsprozessen kommen, die darauf abzielen, einen gemeinsamen Standard zu etablieren, wer auf welche Weise was sagen kann. Höflichkeit ist in der Praxis der Kommunikation also durchaus dynamisch und das Ergebnis von mehr oder weniger expliziten metasprachlich ausge‐ richteten Handlungen, in denen es um die Aushandlung der „richtigen“ oder angemessenen Umgangsformen für die konkrete Gesprächskonstellation geht. Dies wiederum kann durchaus kontrovers sein - in Bezug auf den Höf‐ lichkeitsgrad einzelner Formulierungen, die Angemessenheit sprachlicher und nicht-sprachlicher Verhaltensweisen (z. B. jemanden unterbrechen) usw. Vor allem in solchen Mediengesprächen ist es zudem schwierig ein‐ zuschätzen, inwieweit Höflichkeit oder Thematisierungen von (Un)Höf‐ lichkeit strategisch eingesetzt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass GesprächsteilnehmerInnen genau dann auf eine Beziehungsebene auswei‐ chen und angeblich unhöfliches Verhalten anderer thematisieren, wenn 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 48 <?page no="49"?> sie inhaltlich in die Bredouille kommen. Oder dass Unhöflichkeiten gezielt eingesetzt werden, um das Gegenüber zu provozieren und aus dem Konzept zu bringen. Solche Äußerungen hätten dann eher inhaltliche Ziele und Motivationen als beziehungsbezogene. Die Verhaltensmanifestationen, die hier als unhöflich klassifiziert werden, treten darüber hinaus nicht isoliert auf. Während des Gesprächs präsentiert sich K durchaus als charmanter, zugewandter und verbindlicher Gesprächspartner. Und auch im Laufe des abgedruckten Ausschnittes ist er durchaus nicht nur und nicht durchgängig unhöflich: Er entschuldigt sich auch prophylaktisch für eine Unterbrechung, er betont Übereinstimmung mit GE und räumt am Anfang ein, dass GE das Rederecht hat. Das ist alles eher höflich im Sinne der Etikette. Höflichkeit oder Unhöflichkeit ist also auch eine Facette eines umfassenderen Bildes. GE scheint sich nur auf die Unterbrechungen zu beziehen und damit den Vorwurf zu belegen, dass K ein unhöflicher Mensch ist. Sie wundert sich darüber, wohl weil auch sie ihn sonst anders wahrnimmt, kommt aber nicht auf die Idee, von der Ver‐ allgemeinerung (wer unterbricht, ist ein unhöflicher Gesprächspartner) ab‐ zusehen und ihr Urteil etwas differenzierter zu formulieren. Es ist durchaus diskussionswürdig, ob man Höflichkeit (oder Unhöflichkeit) einem Men‐ schen zuschreiben sollte, einer Äußerung bzw. einer nicht-sprachlichen Handlung oder der gesamten Verhaltensorientierung einer Person in einem bestimmten Gespräch. Für die Beurteilung einer einzelnen Äußerung ist es sicher nicht ganz unerheblich, wie sich die betreffende Person im übrigen Gespräch verhalten hat. Einem im Allgemeinen höflichen Menschen wie K wird man eine unhöfliche Unterbrechung sicher eher verzeihen und dem Engagement für die Sache zuschreiben als einem notorischen Störer. Ein Blick auf die real existierende Kommunikation zeigt also sehr schnell, dass Höflichkeit für die Gesprächsorganisation objektiv und subjektiv aus der Sicht der TeilnehmerInnen bedeutsam ist und dass man in der Beschreibung und Analyse von Konversationen nicht sehr weit kommt, wenn man Höflichkeit mit der Befolgung von Etiketteregeln identifiziert. Die Wirklichkeit ist sehr viel komplexer als das, was Höflichkeitsnormen abbilden können. Offensichtlich kennen GesprächsteilnehmerInnen die Eti‐ kette, orientieren sich in manchen Situationen (vor allem bei der Beurteilung des Verhaltens anderer) auch daran, aber darüber hinaus geschieht noch viel mehr: Sie streiten über Höflichkeit, sie nutzen (Un)Höflichkeit strategisch, sie beurteilen das Verhalten anderer in Kategorien der Höflichkeit, sie 2.6 Der sprachwissenschaftliche Blick 49 <?page no="50"?> verstoßen mehr oder weniger bewusst gegen alle Höflichkeitsregeln, und sie entwickeln situationsspezifische Höflichkeitsbegriffe. Halten wir an dieser Stelle fest: Eine sprachwissenschaftliche Auseinan‐ dersetzung mit dem Phänomen Höflichkeit in einer konkreten Interakti‐ onssituation muss viele verschiedene Aspekte und Faktoren aufgreifen, beispielsweise: ▸ Es geht um verbale oder nonverbale Handlungen, also um soziale Praxis in der Interaktion. ▸ Man sollte die Hörerperspektive im Auge behalten, also fragen, wie direkte AdressatInnen eine Handlung beurteilen, ob sie sie als höflich empfinden oder nicht. ▸ Dabei geht es immer auch um eine Bewertung durch die Adressa‐ tInnen, die diese auf der Grundlage bestimmter Kriterien vornehmen, die wiederum aufgedeckt werden sollten. ▸ Relevant sind aber auch die Intentionen der SenderInnen, also die Frage, warum/ mit welcher Motivation SprecherInnen ihren Beitrag so gestaltet haben, wie sie es getan haben. Wollte der/ die SprecherIn höflich sein? Was wollte er/ sie darüber hinaus? ▸ Auch die SprecherInnen bewerten ihre Äußerungen mehr oder we‐ niger explizit. ▸ Zu berücksichtigen sind die vortheoretischen Höflichkeitsbegriffe, die InteraktionsteilnehmerInnen ihren Handlungen und Bewer‐ tungen zugrunde legen. ▸ Das Verhalten, das als höflich klassifiziert wird, basiert auf sozialen Regeln und Konventionen. ▸ Wissenschaftliche oder auch andere BeobachterInnen mögen ihren Analysen andere Bewertungsgrundlagen zugrunde legen als die Beteiligten. Auch die BeobachterInnenperspektive muss hinterfragt werden. ▸ In Aussagen über Höflichkeit stecken immer Werturteile wie der Zusammenhang mit Solidarität, Kooperation, Konsensorientierung, Konfliktvermeidung, allgemeines Menschenbild usw. Der Höflichkeitsbegriff der TeilnehmerInnen unterscheidet sich notwendi‐ gerweise stark von dem der WissenschaftlerInnen. Unter anderem liegt das an der Fragestellung, unter der beide jeweils das Geschehen beobachten: Die TeilnehmerInnen können sich damit begnügen festzustellen, ob Ge‐ sprächspartnerInnen sich höflich verhalten haben oder nicht; sie werden 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 50 <?page no="51"?> eventuell noch fragen, warum (nicht). WissenschaftlerInnen suchen nach weiteren Erklärungen und versuchen, ihre Beobachtungen und Analysen in ein umfassenderes Begriffssystem einzuordnen und aus diesem heraus zu erklären (vgl. dazu Haferland/ Paul 1996, 7 f.). Zentral für jedes wissenschaftliche (also auch sprachwissenschaftliche) Anliegen ist der vorrangig deskriptive Charakter im Unterschied zum normativen Ansatz der Etikette. Letztere ist vor allem darauf ausgerichtet, den RezipientInnen zu sagen, wie sie sich in bestimmen Situationen ver‐ halten sollen, wenn sie gesellschaftlichen Erfolg haben und effizient kom‐ munizieren wollen. LinguistInnen sind vor allem daran interessiert, zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären, was in der Kommunikation passiert, wie GesprächsteilnehmerInnen sich verhalten, welche Ziele sie verfolgen und was sie tun, um diese Ziele zu erreichen. 2.6.2 Zwei Ebenen der Diskussion: Höflichkeit 1 und Höflichkeit 2 In einer sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Höflichkeit muss es auch darum gehen, diese Diskussionen über sprachliche Höflichkeit in einen breiteren wissenschaftlichen Zusammenhang zu stellen; das heißt, dass Begriffe und Methoden der Höflichkeitsforschung auch unter der Fragestellung betrachtet werden, ob sie mit dem Stand der Forschung in der linguistischen Pragmatik, der Soziolinguistik und anderer linguistischer Teildisziplinen kompatibel sind, und ob sich aus einer stärkeren Integration der verschiedenen Ansätze eventuell neue Möglichkeiten ergeben könnten, das infrage stehende Phänomen angemessen zu erklären. Die sprachwissenschaftliche Thematisierung von Höflichkeit kann aber nicht auf einer rein theoretischen Ebene stattfinden. Es wäre kaum zu rechtfertigen, wenn man die bereits angesprochenen alltagssprachlichen Höflichkeitsbegriffe einfach ignorieren würde - sie sind schließlich ein wichtiger Teil der Sprachkompetenz und des Sprachbewusstseins von Spre‐ cherInnen. Damit werden sie zu einem wichtigen Gegenstand für eine Wissenschaft, die versucht, die menschliche Sprachfähigkeit und auch Formen der Sprachreflexion zu beschreiben und zu erklären. Das Verhältnis zwischen einem wissenschaftlichen Höflichkeitsbegriff und dem Alltagsverständnis ist dabei keineswegs geklärt - und es ist keineswegs banal. Wie man dieses Verhältnis modelliert, davon hängt letztlich auch ab, was man unter ‚Höflichkeit‘ versteht. Eine Möglichkeit besteht darin anzunehmen, dass Begriff und Wort im Wesentlichen den 2.6 Der sprachwissenschaftliche Blick 51 <?page no="52"?> gleichen Ursprung haben, dass es ‚Höflichkeit‘ also erst gibt, seitdem man darüber nachdenkt und redet. Schon etymologisch bietet sich sofort der Verweis auf höfisches Verhalten an und die Identifizierung von höflichem Auftreten mit bestimmten gesellschaftlichen Klassen. Höflichkeit stände dann in der Tradition des Adels und der Höfe. Höflich sein hieße, sich funktional analog zu Höflingen zu verhalten. Wenn Höflichkeit dagegen als Begriff verstanden wird, der auch vor der Entstehung von Höfen und bevor das Wort Höflichkeit gebräuchlich wurde, eine gewisse Gültigkeit hatte, dann könnte man davon ausgehen, dass Menschen so etwas wie höfliches Verhalten an den Tag gelegt haben, bevor es Höfe als Institutionen gab und dass weiterhin auch außerhalb adliger Kreise sprachliche und außersprachliche Handlungen verbreitet waren und sind, die man sinnvol‐ lerweise unter den Begriff ‚Höflichkeit‘ subsumieren sollte. Das würde bedeuten, dass es eine sehr enge Verbindung zwischen Höflichkeit und der Möglichkeit von Kommunikation im Allgemeinen gibt. Die Entscheidung für die eine oder andere Variante kann weitreichende Konsequenzen für die Höflichkeitstheorie haben. Darauf werden wir zurückkommen. In den sprachwissenschaftlichen Diskussionen über Höflichkeit legen die meisten AutorInnen großen Wert darauf, dass die verschiedenen Ebenen und Herangehensweisen genau unterschieden und getrennt werden, um begriffliche Konfusion zu vermeiden. Es sollte also zunächst einmal klar sein, ob man von Höflichkeit im normativen, alltagssprachlichen Sinne spricht und damit die Teilnehmerperspektive einnimmt oder ob man Höf‐ lichkeit als deskriptiven, sprachwissenschaftlichen Begriff verwendet, der zwangsläufig aus einer BeobachterInnenperspektive entwickelt werden muss. Viele AutorInnen beziehen sich auf die Unterscheidung von Höflichkeit 1 (oder first-order politeness) und Höflichkeit 2 (oder second-order politeness), die von Watts et al. vorgeschlagen wurde: We shall argue in this introduction that distinction needs to be made between first-order and second-order politeness. We take first-order politeness to corre‐ spond to the various ways in which polite behavior is perceived and talked about by members of socio-cultural groups. It encompasses, in other words, commonsense notions of politeness. Second-order politeness, on the other hand, is a theoretical construct, a term within a theory of social behavior and language usage. (Watts et al. 2005, 3) 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 52 <?page no="53"?> Höflichkeit 1 ist ein common-sense-Begriff; er umfasst die Begriffe, die von Interaktionsteilnehmern aktiviert und ihren Bewertungen zugrunde gelegt werden. Sie spiegelt sich beispielsweise in den Tendenzen der Verwendung des Wortes Höflichkeit wider oder in der Thematisierung von (Un)Höflich‐ keit in einem Gespräch wie dem Ausschnitt aus der Talkshow. ‚Höflichkeit 1‘ als Begriff ist also stark an die Etikette angelehnt und weist Überschneidungen mit andern Konzepten wie ‚Respekt‘, ‚Pünktlichkeit‘, ‚Freundlichkeit‘ usw. auf, ist aber von diesen nicht eindeutig zu trennen. Wie viele alltagssprachliche Begriffe ist dieser also recht vage - für den alltäglichen Sprachgebrauch ist das kein Problem, in wissenschaftlichen Diskussionen sollten Begriffe aber klar definiert und konturiert sein. Damit sind schon einige der Anforderungen an ‚Höflichkeit 2‘ genannt: Hier kommt es auf Klarheit, Erklärungskraft und Abgrenzbarkeit an. Dar‐ über hinaus sollte jeder wissenschaftliche Begriff in einem umfassenderen theoretischen Ansatz verankert sein und damit eine Einordnung in ein begriffliches System ermöglichen, aus dem heraus sich die untersuchten Phänomene in ihrer inneren Logik und in ihrer Funktionalität erklären lassen. Im Falle der Höflichkeit sollte es etwa möglich sein, zu fragen, wel‐ chen kommunikativen oder sozialen Zielen die Bewertung von Handlungen dient. Es sollte darüber hinaus z. B. ermöglicht werden, ‚Höflichkeit‘ in Verbindung zu setzen mit Fachbegriffen wie ‚Sprechhandlung‘ oder ‚Koope‐ ration‘, also auf Fragen zu antworten wie: Ist Höflichkeit eine Eigenschaft von Wörtern, Sprechhandlungen oder Äußerungen? Ist Höflichkeit eine Form von Kooperation, oder fällt sie vielleicht sogar mit dem zusammen, was in der linguistischen Diskussion als ‚Kooperation‘ bezeichnet wird? Ist Höflichkeit ein mitgemeinter Bedeutungsaspekt etwa im Sinn einer Implikatur? Welche Bedeutung hat Höflichkeit für die Kommunikation? Handelt es sich um ein notwendiges Element, um eine Verzierung oder um eine fakultative Zusatzinformation? Solche und viele andere Fragen können nur dann zufriedenstellend beant‐ wortet werden, wenn eindeutig ist, wovon man spricht und keine Verwechs‐ lungen mit Knigge-Vorschriften oder verwandten Begriffen auftreten. Watts et al. betonen deswegen, dass es besser wäre, auf der Ebene der theoretischen Diskussion den durch die Alltagsthematisierungen „kontaminierten“ Begriff ganz zu vermeiden: As we have seen, in examining linguistic politeness we are dealing with a lay first-order concept which has been elevated to the status of a second-order 2.6 Der sprachwissenschaftliche Blick 53 <?page no="54"?> concept within the framework of some more or less adequate theory of language usage. This being so, it is crucially important to state in what ways the two concepts differ, and this is, as we have also seen, rarely if ever done. Unless the theoretical second-order concept is clearly defined and given some other name, we shall constantly vacillate between the way in which politeness is understood as a commonsense term that we all use and think we understand in everyday social interaction and a more technical notion that can only have a value within an overall theory of social interaction. (Watts et al. 2005, 4 f.) Andererseits stellt es aber, wie erwähnt, auch einen Vorteil dar, wenn sich Theorie nicht allzu weit von der Kommunikationspraxis entfernt und dies auch durch die Verwendung von Begriffen deutlich macht, die aus Alltagsdiskursen kommen und dann im wissenschaftlichen Diskurs vor dem jeweiligen theoretischen Hintergrund genauer gefasst und zu Termini werden. Die Relevanz von Wissenschaft bemisst sich u. a. daran, ob sie in der Lage ist, eine Erklärung für im Alltag selbstverständliche Prozesse zu finden. Warum sollte sie dann Begriffe verwenden, die den Bezug zur alltäglichen Praxis eher verstecken als unterstreichen? Wie die Praxis sind auch die Ebenen der first-order und der second-order politeness eng aufeinander bezogen und im Zweifelsfall kaum voneinander abgrenzbar. Es ist beispielsweise zweifelhaft, ob die Ausführungen von Autoren wie Mießgang, Gärtner/ Roth oder Erlinger dem einen oder dem anderen Bereich zuzuordnen sind. Die Autoren populärwissenschaftlicher Klagen über den Verfall von Höflichkeit können durchaus einen wissen‐ schaftlichen Hintergrund haben. Verwenden sie common-sense-Begriffe, wenn sie versuchen, die Zusammenhänge so darzustellen, dass ein möglichst breites Publikum angesprochen werden kann? Wo ist die Grenze zwischen der verständlichen Darstellung wissenschaftlicher Inhalte und der Thema‐ tisierung in bestimmten soziokulturellen Gruppen, wie es bei Watts et al. heißt? Aber auch wenn es nicht immer leicht ist, bleibt es wichtig, sich die Unterscheidung immer wieder bewusst zu machen und die Ebenen zu trennen, um Verwirrung zu vermeiden. Wenn man beispielsweise über den Wandel von Höflichkeit spricht oder schreibt, sollte man genau sagen, ob man von veränderten Umgangsformen, von lexikalischem Wandel oder von Veränderungen in der Konzeptualisierung von Höflichkeit spricht. Das Gleiche gilt für Sprach- und Kulturvergleiche: Hier stellt sich immer die Frage des tertium comparationis. Kann man beispielsweise sagen, dass 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 54 <?page no="55"?> politeness, cortesia oder politesse das Gleiche sind wie Höflichkeit? Auf wel‐ cher Ebene liegen Unterschiede zwischen dem Deutschen, dem Englischen, dem Italienischen und dem Französischen? Auf der Ebene der Wörter, der Verhaltensweisen oder der Begriffe? Oder sind die Unterschiede gar auf der Ebene der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Phänomenen angesiedelt? Ganz genau hinschauen sollte man auch bei den bereits ange‐ sprochenen, weit verbreiteten Klagen über den Verfall von Höflichkeit. Wenn jemand behauptet, die Schüler haben heute keinen Respekt mehr vor den Lehrern und der Institution Schule, wovon redet er dann? Da sollte man zuerst einmal prüfen, ob es stimmt, dass - wie oft behauptet wird - immer weniger Schüler ihre Lehrer „ordentlich“ grüßen. Und wenn es tatsächlich eine Veränderung auf der Ebene der Verhaltensweisen gegeben haben sollte: Kann man sagen, dass die Schüler heute unhöflicher sind als früher, oder haben sie einfach einen anderen Begriff von Höflichkeit und bewerten Handlungen anders? Wenn man genau hinschaut, ist das Feld, das die Höflichkeitsforschung zu bearbeiten hat, sehr heterogen und unübersichtlich und stellt hohe Anforderungen an die methodische und begriffliche Herangehensweise in der Sprachwissenschaft oder in anderen Wissenschaften. Es gibt zwei bedenkenswerte Argumente, die darauf hinauslaufen, Höflichkeit gar nicht oder ganz anders zu thematisieren als das bisher gemacht wurde. Erstens: Watts hatte in der oben zitierten Passage schon vorgeschlagen, Höflichkeit als wissenschaftlichen Terminus gar nicht zu verwenden und den Begriff anders zu fassen. Ähnlich argumentiert Bublitz: Der Verzicht auf ‚Höflichkeit‘ als Beschreibungskonstrukt befreit uns zum einen von einem unerträglich überfrachteten und höchst vagen Begriff und verbietet zum anderen die unhaltbare Unterscheidung zwischen höflichen und unhöflichen Sprachen mit dem kausalen Rückschluss auf höfliche und unhöfliche Sprachge‐ meinschaften. (Bublitz 2009, 275) Auch Bublitz erinnert also daran, dass die Vagheit des Höflichkeitsbegriffes ein Hindernis für die linguistische Diskussion darstellt. Im Folgenden werden wir trotzdem daran festhalten. Der wichtigste Grund dafür wurde bereits angesprochen: Wir halten Höflichkeit für einen Gegenstand, der zum einen im Rahmen von sprachtheoretischen Überlegungen dazu beitragen kann, das kommunikative Geschehen besser zu erklären als dies ohne ihn möglich wäre. Zum anderen macht der Begriff deutlich, dass sich die Sprach‐ theorie mit Gegenständen auseinandersetzt, die auch für den alltäglichen 2.6 Der sprachwissenschaftliche Blick 55 <?page no="56"?> Sprachgebrauch und für die Laienreflexion darüber relevant sind. Wir ver‐ stehen Bublitz’ Hinweis allerdings als Aufforderung, einen möglichst klaren und eindeutigen Begriff von Höflichkeit 2 zu entwickeln, mit dessen Hilfe erstens die kommunikative Praxis in deren eigener Begrifflichkeit analysiert werden kann und der zweitens dazu beitragen kann, dass diese Praxis im Rahmen von wissenschaftlichen Kommunikationsmodellen erklärbar wird. Dann sollte es auch möglich sein, sprachwissenschaftlich über Höflichkeit nachzudenken, ohne unhaltbare Unterscheidungen zu treffen - ohne also (z. B.) zu behaupten, das Französische sei höflicher als das Englische. Das zweite Argument, das gegen ein solches Vorhaben spricht, findet sich in der Einleitung der Höflichkeitsmonographie von Watts: The present book, however, should be seen as a radical rejection of politeness 2 as a concept which has been lifted out of the realm of lay conceptualizations of what constitutes polite and impolite behavior and how that behavior should be evaluated. (Watts 2003, 11) Watts lehnt es also generell ab, eine Theorie der Höflichkeit zu entwerfen. Sein Augenmerk gilt dem, was auf dem Niveau von Höflichkeit 1 passiert; er will also untersuchen, wie Höflichkeit in der sozialen Interaktion eingesetzt, kommentiert und diskutiert wird und welche Funktionen diese Thematisie‐ rungen jeweils haben. Er betont dabei sehr stark den evaluativen Charakter von Höflichkeit und hält diesen für unüberwindbar. Wenn sich also die Sprachwissenschaft mit Höflichkeit beschäftigt, dann übernimmt sie einen Gegenstand, zu dessen konstitutiven Eigenschaften es zählt, dass er von InteraktionsteilnehmerInnen verwendet wird, um (subjektiv) zu bewerten, was andere InteraktionspartnerInnen machen. Dabei bleibt auch der norma‐ tive Charakter zwangsläufig immer erhalten. Wissenschaft sollte aber nicht subjektiv und normativ sein. Folglich ist es für Watts ausgeschlossen, dass es eine sinnvolle wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Höflichkeit geben kann. Letztlich spricht aus den Bemerkungen Watts’ eine tiefe Skepsis gegen‐ über jeder Form von Sprachtheorie. Er sieht hier das Problem, das eine Theorie ein Modell entwickelt, im Falle der Sprache aber dazu genau den Ge‐ genstand heranziehen muss, den sie behandelt. Eine Sprachtheorie spricht darüber, wie wir Sprache verwenden - und verwendet dafür natürlich Sprache. Sie kann also nicht wirklich von ihrem Gegenstand abstrahieren und übernimmt seine (in der Wissenschaft störenden) Eigenschaften: „Its very essence is prescriptive and normative“ (Watts 2003, 48). 2 Höflichkeit im Alltagsverständnis 56 <?page no="57"?> Darüber könnte man lange diskutieren. Wir beharren in diesem Buch darauf, dass eine Metasprache möglich ist, die sich der gleichen Wörter bedient wie die Objektsprache, diese Wörter aber auf klarere und theorie‐ konforme Begriffe verweisen. So wie man über Freiheit, Traum, Netzwerk, Gesellschaft, Demokratie und vieles andere mehr sowohl alltäglich als auch wissenschaftlich anspruchsvoll diskutieren kann, so sollte das auch für Höflichkeit möglich sein. Wir werden also den Versuch unternehmen, empirisch zu beschreiben und theoretisch zu erklären, was SprecherInnen tun und denken, wenn sie höflich sind, welche kommunikative Funktion dies hat und welche interaktiven Effekte es bewirkt. Die Unterscheidung zwischen Höflichkeit 1 und Höflichkeit 2 wird in der Höflichkeitstheorie nach der sog. diskursiven Wende eine gewisse theoretische Brisanz erhalten. Wir werden deswegen in Kapitel 6.5.1 darauf zurückkommen. 2.6 Der sprachwissenschaftliche Blick 57 <?page no="59"?> 1 Auf antike (vor allem Cicero) und vormoderne Traditionen (vor allem Erasmus von Rotterdam) kann hier nur verwiesen werden, vgl. dazu z. B. Schumacher (2001). 3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte Der folgende Rückblick kann nur äußerst kursorisch auf die reiche Tradi‐ tion der Geschichte der Höflichkeit im Deutschen eingehen. Wesentlich erscheint vor allem: ▸ dass die Auseinandersetzung mit Höflichkeit inhaltlich ausgedehnt war auf den Bereich des menschlichen Umgangs überhaupt (conver‐ satio) und speziell des Gesprächs, ▸ dass diese Thematisierungen oft präskriptiv waren, ▸ dass sie noch vor Beginn der modernen, fachlich gebundenen Wis‐ senschaften erfolgten und ▸ dass sie nationale Grenzen überschritten und auf die europäischen Höfe konzentriert waren. Von dort erklärt sich auch das deutsche Wort höflich (mhd. hovelich). 3.1 Rückblicke auf Höflichkeit in der europäischen Kulturgeschichte 3.1.1 Höflichkeit und gesellschaftlicher Wandel in der Vormoderne Vom ausgehenden Mittelalter und der Vormoderne 1 bis zur heutigen Zeit folgen die kulturellen Vorstellungen von Höflichkeit den sozialen Gesell‐ schaftsformationen und ihrem Wandel (vgl. dazu auch Elias 1939/ 1976). Schon im Mittelalter diente ein komplexes System von Verhaltensnormen oder -richtlinien einerseits der Selbstdarstellung und andererseits der Ab‐ grenzung gegenüber der Außenwelt sowie der öffentlichen Inszenierung sozialer Zughörigkeit (vgl. Watts 2003). Dies steigerte sich in der Barockzeit durch die Ausbildung von Etiketten und Zeremoniellen als gesellschaftliche Standesrituale. Neben der Betonung des gefälligen Wohlverhaltens spielt auch der taktische Aspekt der „Klugheit“ im Sinne des Eigennutzens für den Aufstieg in der höfischen Gesellschaft eine Rolle. Erst im 17. Jahrhundert, der <?page no="60"?> 2 Dies dokumentiert Claudia Schmölders’ eindrucksvolle Textsammlung über die „Kunst des Gesprächs“ (1986). eigentlichen Epoche der gepflegten Konversation, 2 erfährt dieses Konzept eine Bedeutungsverengung: War Konversation früher auf den gesellschaft‐ lichen Umgang allgemein bezogen - bei Hofe, später in den Salons -, so wird sie nun auf den geselligen Umgang im vertrauten, zwanglosen Gespräch eingegrenzt. Als besonderes Ideal galt dieser höfischen Epoche die Zwanglosigkeit, die sich gleichwohl gerade erst im Rahmen strenger Sprachreglementierungen konstituieren sollte. Diese Reglementierungen bezogen sich auf Form, Inhalt sowie Modalität des sprachlichen Umgangs. So führte bereits Gracián aus: Die Kunst der Unterhaltung besitzen […], ist es, in der ein ganzer Mann sich produziert. Keine Beschäftigung im Leben erfordert größere Aufmerksamkeit: Denn gerade weil sie die Gewöhnlichste ist, wird man durch sie sich heben oder stürzen. (zit. nach Schmölders 1986, 157) Wesentliche Entwicklungen in der europäischen Reflexion über Umgangs‐ formen und Höflichkeit wurden in der Renaissance durch drei Texte ange‐ stoßen: ▸ Baldassare Castiglione: Il Libro del Cortegiano (1528/ 1987) in Italien, Deutsch: Der Hofmann (1528/ 1999) oder auch Das Buch vom Hofmann (1528/ 1986), (vgl. dazu auch Lindorfer 2009), ▸ Baltasar Gracián: Orácolo manual y arte de prudencia, (1647) in Spa‐ nien, Deutsch: Handorakel und Kunst der Weltklugheit (2020), ▸ Madame de Scudéry: Konversation über die Konversation (1686/ 1986), das erstmals 1680 in Frankreich publiziert wurde. Diese Bücher haben dann eine Wirkung entfaltet, die weit über ihren kulturellen Ursprungskontext hinausreichte. 3.1.2 Höfische Höflichkeit Im Barock wird der Hof zur Bühne für das Theater der Höflichkeit (und der Höfling zum Schauspieler im gesellschaftlich inszenierten Drama). Aufwendige adlige Höflichkeitsrituale zeigen sich zumal im ausgeprägten, der Beziehungspflege dienenden Komplimentierwesen (vgl. Beetz 1990), aber auch in einer hochdifferenzierten Körperkultur (vgl. Linke 1996b). Die 3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte 60 <?page no="61"?> höfisch-politische Verhaltensstilisierung gipfelte in der ars conversationis als Teil kunstvoller Beziehungsgestaltung (vgl. Göttert 1988). Beetz stellt die damaligen Decorumsvorschriften für mündliche wie für schriftliche Texte des galanten Höflichkeitsdiskurses in seiner Studie anhand zeitgenössischer Dokumente anschaulich dar (1990). Sie reichen von Vorgaben zur Schriftgröße und Absatzgestaltung bis zu ▸ Sozialsemantik (u.a. elaborierte Ehrerbietung und Selbstbescheidenheit), ▸ Courtoisiewörtern in rangentsprechend abgestufter Verwendung (z. B. von gnädig bis allergnädigst, von essen bis Tafel halten), ▸ Sozialsyntax (ich-Tilgung, Distanzgraduierung, Indirektheit, Kon‐ junktiv und Konditionalis), ▸ rangentsprechender Stilwahl mit Aufwertung der AdressatInnen und Selbstdegradierung sowie Bagatellisierung eigener Leistungen, Refe‐ rentenverschiebung bei als kritisch empfundenen Äußerungen. Einige dieser Merkmale weisen die folgenden Beispiele für Komplimente auf: Als Dank an eine Dame nach dem Tanz: (1) Mademoiselle, Ich bin zum höchsten verbunden vor der Ehre, so sie mir dadurch erwiesen, daß sie mit meiner Wenigkeit tantzen wollen, doch bitte gehorsamst mit einem schlechten Tantz═Compagnon gütigst vor lieb zu nehmen, und die vorgegangenen Fehler zu übersehen (Beetz 1990, 215). Ein „Bitt-Compliment an ein Frauen=Zimmer/ sie nach Hause zu begleiten“: (2) So ich wüßte/ daß Mademoisellen nicht beschwerlich wäre/ wann ich mich zu dero Begleiter angäbe/ würden sie mich höchlich obligieren, wann ich die Ehre haben könnte/ sie nach Hause zu führen (Beetz 1990, 228). 3.1.3 Salonkonversationelle Höflichkeit Die höfische Etikette der Konversation und ihre zeremonielle Erstarrung im 17. Jahrhundert wurde abgelöst durch die salonkonversationelle Höflichkeit der Gemeinschaft der Gebildeten. Das Ideal der „galanten“ Konversation mit Geist und Anmut wurde dabei vom paradox anmutenden „Zwang zur Zwanglosigkeit“ dominiert. In ihrer Abhandlung Konversation über die Konversation führt Madame de Scudéry aus: 3.1 Rückblicke auf Höflichkeit in der europäischen Kulturgeschichte 61 <?page no="62"?> Die Konversation ist das gesellschaftliche Band aller Menschen, das größte Vergnügen der Leute von Anstand und das geläufigste Mittel, nicht nur die Höflichkeit in die Welt einzuführen, sondern auch die reinste Moral, die Liebe zum Ruhm und zur Tugend. (de Scudéry zit. nach Schmölders 1986, 166) Mit der Aufforderung, zwanglos zu erscheinen, wird zugleich die Beachtung einer Fülle von Regeln mit höchsten stilistischen und intellektuellen Anfor‐ derungen verbunden, die die vermeintliche Spontaneität der Konversation geradezu unmöglich macht. Als Hauptregel gilt: „Sage niemals etwas, das gegen den Takt verstößt“: Um also vernünftig zu reden, kann man ganz offen sagen, daß sich in der Konversation alles sagen läßt, gesetzt, man hat Geist und Takt und bedenkt gut, wo man ist, mit wem man redet und wer man selber ist. Und obwohl der Takt absolut unentbehrlich ist, um niemals etwas Deplaziertes zu sagen, muss die Konversation dennoch so frei aussehen, als ob sie auch nicht den geringsten Gedanken zurückweise, als ob man alles sage, was einem die Phantasie eingibt […]. (de Scudéry zit. nach Schmölders 1986, 175) Schmölders schreibt der galanten Konversation ein affektives, erotisch-ko‐ kettierendes Moment zu, das konversationelle Thema wird relativiert und der wahre Gesellschafter gegen den Typus des gelehrten Pedanten gesetzt (1979, 31 f.). Die folgende Entwicklung der bürgerlichen Konversation wird wieder andere Akzente im Hinblick auf Anstand und Moral setzen. 3.2 Entwicklung und Bedeutung der bürgerlichen Höflichkeit in Deutschland 3.2.1 Bürgerliche Natürlichkeit Wesentliches Moment in der Entwicklungsgeschichte des 19. Jahrhunderts bildet der Aufstieg des Bürgertums. Die personenorientierte Geselligkeit tritt zugunsten einer sachlichen Objektivierung des Zusammenlebens in den Hintergrund; ein komplexeres Sozialgefüge ist an die Stelle der adligen Ständegesellschaft getreten und hat mit der Notwendigkeit sozialer Neuori‐ entierung auch den Bedarf an Ratgeberliteratur gesteigert. Mit der Emanzipation des Bürgertums und dem grundlegenden Struktur‐ wandel der Öffentlichkeit und dem Wandel sozialer Werte (vgl. Habermas 3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte 62 <?page no="63"?> 1962/ 1971) ist auch eine andere Form von Höflichkeit verbunden, die den Kontrast von Adel und Bürgertum zum Ausdruck bringt. Die bürgerliche Natürlichkeit wird der höfisch-zeremoniellen Etikette entgegengesetzt, die als künstlich und übertrieben empfunden wird; mit der „Afectation“ kontras‐ tiert eine „Höflichkeit des Herzens“, die zugleich eine egalitäre Höflichkeit und innere Sittlichkeit unter Seinesgleichen ist. Abb. III.1: Daniel Nikolaus Chodowiecki (1779): Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens In den höfischen und salonkonversationellen Geselligkeitsvorstellungen des 17. Jahrhunderts dominierte das Idealbild der geistreichen und galanten Konversation als Heilmittel gegen den ennui. Demgegenüber legten die Anstands- und Konversationslehren der bürgerlichen Öffentlichkeit im Deutschland des 18. Jahrhunderts besonderes Gewicht auf schlichtere Formen natürlicher, „wahrerer“ Höflichkeit der gesitteten Lebensart und des guten Tons in allen Lebenslagen. In diese Zeit fällt, wie Besch schildert, auch der Wandel der Höflichkeits‐ pronomina im Deutschen, und zwar von einer „Sozialrang-Anrede“ zu einer 3.2 Entwicklung und Bedeutung der bürgerlichen Höflichkeit in Deutschland 63 <?page no="64"?> „Anrede, die Beziehungsverhältnisse markiert“ (Besch 2000, 2615). Als An‐ redepronomina fungieren nun Du und Sie und zum Teil auch Ihr, während es noch längere Zeit dauerte, bis die ursprünglich herrschaftlichen nominalen Anreden Herr, Frau, Fräulein gesamtgesellschaftlich üblich wurden. Die moralisch-aufklärerischen Lebenslehren des 18. Jahrhunderts fanden ihren publizistischen Niederschlag in „moralischen Wochenschriften“ sowie in einer großen Anzahl von Konversationslehren, nach Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprechspiele (1968-69/ 1644) u. a., Christian Thomasius’ Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit und Von der Klugheit, sich in alltäglicher Conversation wohl aufzuführen (1971/ 1710). Abb. III.2: Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprechspiele (1644) Daneben trugen die Erfindung der Konversationslexika (Brockhaus 1796 - 1808) sowie die ansteigende Zahl von Unterhaltungsspielen zur Normie‐ rung, Kodifizierung und Institutionalisierung der konversationellen Praxis bei (Schmölders 1986, 59 ff.). Anstandsbücher und Konversationslehren des 19. Jahrhunderts erfüllen einerseits neben ihrer vordergründigen Funktion der praktisch-handwerk‐ lichen Nutzbarkeit die weitergehenden Funktionen einer Selbstvergewis‐ serungslektüre über Geselligkeitsformen. Andererseits fungieren sie als Aufstiegshilfe (so Linke 1996b, 88), und zwar durch die Einübung in öf‐ fentliche und private Formen bürgerlicher Geselligkeit, deren symbolische Ordnung sie durch die Modellierung der konversationellen Umgangsformen 3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte 64 <?page no="65"?> gleichsam mitkonstituieren halfen. Bürgerliche Höflichkeit wird so zum symbolischen Medium der Selbstverständigung und der Identitätsstiftung. Diverse Beispiele dafür werden in Linke (1996a) angeführt, darunter etwa Martin Schmeizel: Die Klugheit zu leben und zu conversiren, zu Hause, auf Universitäten und auf Reisen (1737). „Cautelen, die man fleißig zu practicieren“ habe, werden über den Ablauf und die Topik von Gesprächen aufgelistet (z.B.: das liebe Wetter, neue Sachen, Staats- und geistliche Sachen, Nachfragen nach des anderen Zustand und schließlich bei hoffärtigen Frauenzimmern: ihr Kleid loben und davon reden). Die Internalisierung von Höflichkeit ist Aufgabe einer gesellschaftlichen Bildung. Der Höflichkeitserziehung kommt daher nach bürgerlichen Vor‐ stellungen ein besonderer Stellenwert zu. 3.2.2 Knigge Eingeleitet durch die beiden in diesem Sektor wichtigsten deutschen Texte Über den Umgang mit Menschen (1788) von Adolf Freiherr Knigge sowie Das ideale Gespräch (1797) von Christian Garve ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland ein bedeutender Anstieg der Anstandsliteratur zu verzeichnen. Hier liegen also die Ursprünge einer bestimmten Form der Thematisierung von Höflichkeit, die bis heute wirkmächtig ist, wie wir in Kapitel. 2.2 gesehen haben. Das Werk von Knigge unterscheidet sich allerdings grundlegend von frü‐ heren sowie späteren Anstandslehren; es stellt eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Höflichkeit dar, gerade weil es keine Benimmfibel sein will. Auch findet sich keine vergleichbare Entwicklung im zeitgenössischen Europa, zumal nicht in Frankreich, das damit auch seine Vorbildfunktion für höfliches Verhalten einbüßte. Die Entstehung des Werkes ist eng verbunden mit der sozialen Diffe‐ renzierung der bürgerlichen Gesellschaft, die anstelle der Modellfigur des Hofmannes verschiedene gesellschaftliche Stände unterschied und den Kaufmann zur neuen Modellfigur erhob. Es ist das Verdienst Knigges, diese Pluralität von sozialen Positionen und Interaktionsanforderungen mit einer Differenzierung von Höflichkeitsstilen in Verbindung zu bringen. Sein Anliegen zielt aber nicht auf Unterscheidung im Sinne von Ausgrenzung, sondern gerade umgekehrt auf soziale Integration. Diese soziale Differen‐ zierung zeigt sich deutlich in der Gliederung des Werkes: 3.2 Entwicklung und Bedeutung der bürgerlichen Höflichkeit in Deutschland 65 <?page no="66"?> Abb. III.3: Über den Umgang mit Menschen. Inhaltsverzeichnis der 18. Originalaus‐ gabe, Hannover und Leipzig (1908, XIII/ XIV) Die „Lebenslehre“ Knigges als Angehöriger des Adelsstandes verdankt sich so‐ wohl der Reflexion höfischer als auch bürgerlicher Gesellschaftserfahrungen. Sein Werk stellt ein bürgerliches Gesellschaftsprojekt dar, „das die Erziehung 3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte 66 <?page no="67"?> der Person zu größerer sozialer Integrations- und kommunikativer Interakti‐ onsfähigkeit ins Zentrum stellt“ (Pittrof 1991, 165). „Wichtig ist“, so Montandon in seiner Einleitung (1991b, 15), „dass der neue Umgang eine allgemeine Kommunikation ermöglicht, die sich weit mehr auf universelle Werte der Integrierung gründet als auf Prinzipien des Ausschlusses.“ Als ein besonderes Gesellschaftsritual galt im gehobenen Bürgertum ex‐ emplarisch die Visite, der „Anstandsbesuch“, für den ein ganzer Verhaltens‐ kodex im Hinblick auf Anlässe, Zeitdauer, Sitzordnung, Gesprächsablauf, Redeverteilung, Themenwahl, Begrüßungs- und Verabschiedungsfloskeln verabredet wurde. Die Pädagogin und Frauenrechtlerin Marie Calm schreibt dazu in ihrem 1886 erschienenen Werk Die Sitten der guten Gesellschaft: „Der Anstandsbesuch oder die ‚Visite‘, wie man früher sagte, um diesen kurzen Besuch von anderen längeren zu unterscheiden, hat den Zweck, die Beziehungen zwischen Personen, die gesellig miteinander verkehren, aufrecht zu erhalten und bei besonderen Gelegenheiten sich gegenseitig seine Teilnahme auszusprechen.“ Anlässe (z. B. freudige, traurige, Zuzug in fremde Umgebung), Zeitpunkte (zwischen 12.30 und 13 Uhr) und Dauer (20 bis 30 Minuten) und Besuchs‐ toilette (kurzes Kleid mit passendem Umhang, Hut und Handschuhe, bei Herren dunkler Oberrock und dunkle - nicht schwarze - Handschuhe, Überzieher, Stock und Schirm sind nicht salonfähig …usw.) sind genau vor‐ geschrieben. Um den zeitgenössischen Höflichkeitsnormen zu entsprechen, musste man sich daran halten. Abb. III.4: Die Sitten der guten Gesellschaft. Aus: Calm 1886 (Wikipedia zeno/ org) [12.08.2020] 3.2 Entwicklung und Bedeutung der bürgerlichen Höflichkeit in Deutschland 67 <?page no="68"?> 3.2.3 Höflichkeitserziehung Die Normvorstellungen der Kunst der guten Unterhaltung bezogen neben den detaillierten Vorschriften zu Sprechstil und Wortwahl auch para- und nonverbales Gesprächsverhalten ein (z. B. Wohlklang der Stimme, Laut‐ stärke und Sprechgeschwindigkeit). In Konstanze von Frankens Katechismus des guten Tones und der feinen Sitten, 1890 in 16. Aufl. erschienen, ergehen z. B. eindeutige Ermahnungen an die jungen Damen und Herren, im gesellschaftlichen Gespräch emotional gefärbte Wörter (z. B. feudal, famos, sündhaft, infam, patent, pyramidal, sup‐ erbe, phänomenal sowie kolossal) sowie politische und religiöse Gesprächs‐ themen zu vermeiden. Sie führten zu leidenschaftlicher Erregung und feindseligen Spannungen, die jeder angenehmen Unterhaltung ein Ende machen. Trotz dieser engmaschigen sprachreglementierenden Vorschriften galt auch das bildungsbürgerliche Ideal nach wie vor dem „leichten“, von kon‐ kreten Handlungszwecken losgelösten Gespräch. Die geistreiche Konversa‐ tion diente, als weitgehend selbstzweckhafter Zeitvertreib, einer sozialen Abgrenzung (nach unten) und der bildungsbürgerlichen Selbstvergewisse‐ rung (vgl. Linke 1996b). Einen Überblick über die große Anzahl von Anstands- und Manierenbü‐ chern in der Zeit von 1870 bis 1970 vermittelt die Studie von Krumrey (1984). Sie veranschaulicht den Wandel ungeschriebener Verhaltensnormen als Stationen des Zivilisationsprozesses, den Elias (1939/ 1976) beschrieben hat. Die Entwicklungsstufen werden in sechs zentrale Beziehungstypen strukturiert, darunter: Beziehungen zu sich selbst (u. a. Sprachgebrauch, Gestik, Mimik, Körperhaltungen) und zu anderen Personen (je nach Alter, Geschlecht, Status, Vertrautheit) bis hin zum Gebrauch des Taschentuchs „als Gerät zur normgerechten, standardisierten Regulierung spezifischer körperlicher Äußerungen“ (Krumrey 1984, 233). Aus dem Abschnitt über Verhaltensstandards zur Äußerung von Affekten, Gefühlen und Empfindungen seien die folgenden drei Zitate aus verschie‐ denen Epochen präsentiert: Vermeide in deiner Rede alles Affektirte und Gezierte […] Sprich weder zu langsam, noch zu geschwind; weder zu laut noch zu leise, und bediene dich keiner gemeinen und zweideutigen Worte […]. Dein Vortrag gebe Zeugnis von einer gründlichen Kenntnis der Sprache und sei durchaus grammatisch richtig. (Höflinger 1885, zit. nach Krumrey 1984, 275) 3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte 68 <?page no="69"?> 3 Die Suspension von Zwängen zweckrationalen Handelns erinnert an den Habermasschen Diskursbegriff, von dem die Autorin sich allerdings abgrenzt. Rein, korrekt, gesittet, fließend, bündig, verständlich und angenehm sind die Ei‐ genschaften, die man beim Sprechen sich zur Gewohnheit machen soll. Rein: also dialektfrei […]. Gesittet: Ordinäre Redewendungen der Gasse sind zu vermeiden. (Adelsfeld 1899, zit. nach Krumrey 1984, 269) Die Zugehörigkeit zur guten Gesellschaft legt auch Verpflichtungen im Gebrauch der Sprache und in der Unterhaltung auf. Sehr wichtig ist es, daß man den Personen, mit denen man spricht, frei und offen ins Auge blickt. (Bodanius 1957, zit. nach Krumrey 1984, 273) Die schon erwähnten Tendenzen der Normierung, Kodifizierung und In‐ stitutionalisierung der konversationellen Praxis setzten sich im 19. Jahr‐ hundert verstärkt fort. Sie führen zu einer Verstärkung der technischen Momente in der Anweisungsliteratur und einer Entwicklung „von der Kunst der Konversation zur Technik der Gesprächsführung“ (Neuland 1998). Hervorzuheben ist dagegen aber auch das einsetzende theoretische Inter‐ esse am Gespräch (vor allem durch v. Humboldt) sowie die zunehmende Verwissenschaftlichung der Konversationstheorie, vor allem bei Freud und Simmel. Letzterer hat in seiner Eröffnungsrede zum ersten deutschen Soziologentag 1910 über Soziologie der Geselligkeit als Spielform der Verge‐ sellschaftung das Gespräch als den „breitesten Träger aller menschlichen Gemeinsamkeit“ (2001, 187) bezeichnet und dabei die Rolle des „Taktgefühls“ (180) hervorgehoben. Mit der gesprächshaften Wechselwirkung tritt der „Doppelsinn des Sich-Unterhaltens“ in seine Rechte - ohne ein Eigenge‐ wicht des Inhalts. Sobald die Diskussion sachlich wird und es um die Eruierung einer Wahrheit geht, verliert sie nach Simmel ihren „Charakter als gesellige Unterhaltung“ (188). Den Gedanken vom „Glück der Konversation“ hat Schlieben-Lange in einem Beitrag von 1983 im Rückgriff auf Konversationsethiken des 17. Jahr‐ hunderts entfaltet. Dass das Miteinanderreden als eine besonders glückhafte Form menschlichen Zusammenlebens empfunden wird, führt sie auf die These vom „Gespräch als Ort der Synthesebildung“ zurück, losgelöst von der Bewältigung der Alltagsnotwendigkeiten und praktischer Finalitäten. 3 Versteht man das Gespräch als „Ort der zeitweiligen Vereinigung unverein‐ barer Identitäten“ (Schlieben-Lange 1983, 141 f.), liegt das Glück im Gespräch in der Objektivierung und Bewusstwerdung durch die Versprachlichung 3.2 Entwicklung und Bedeutung der bürgerlichen Höflichkeit in Deutschland 69 <?page no="70"?> 4 Gegen eine zu oberflächliche Auffassung von Territoriums- und Gesichtsverletzung in der modernen Höflichkeitstheorie wendet die Autorin ein, dass diese die prinzipielle Verschiedenheit der Individualitäten nicht außer Kraft setze. einschließlich der Erfahrung von Identität und Differenz 4 sowie in der Mög‐ lichkeit der intersubjektiven Verständigung, zumal in Zeiten schwindender Gemeinsamkeiten von Wissensbeständen und Verhaltensnormen in der Moderne. 3.3 Antibürgerliche Höflichkeitskritik im 20. Jahrhundert Mit dem Abbau der Standessschranken und ständischen Bildungsprivilegien im 19. Jahrhundert (vgl. v. Polenz 1999, 70) verblasst auch die soziale Verbindlichkeit von Höflichkeitsnormen zugunsten größerer individueller Handlungsfreiheit (vgl. Beetz 1990, 7). Elias deutet den Abbau von Verhal‐ tensstandards und Erhöhung des gesellschaftlichen Drucks zur Selbstregu‐ lierung als Informalisierungs- und Individualisierungsschub (1989/ 2005, 60 ff.). Die Verschiebung im Spektrum höflicher Ausdrucksweisen lässt sich am besten am veränderten Gebrauch der Anredepronomina im Deutschen veranschaulichen: die Anredeformen Du und Sie indizieren nicht länger Standesunterschiede; vielmehr markieren sie situative Unterschiede von Vertrautheit und sozialer Nähe bzw. Distanz (vgl. Besch 1998, 86). Radikale Kritik erfuhren Höflichkeitserziehung und formales Höflich‐ keitsverhalten durch die antiautoritären Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts. Höflichkeitsnormen galten als aufoktroyierte Autorität; ein „Ende der Höflichkeit“ wurde propagiert (Kerbs/ Müller 1970); bildungsbürgerliche Konventionen sollten in ihrer herrschaftssta‐ bilisierenden und -verschleiernden Funktion entlarvt werden. Das An‐ redepronomen Sie wurde als den Vorstellungen egalitärer Beziehungen unangemessen empfunden; Titel wurden auch im akademischen Bereich weggelassen; ein allgemeines Duzen wurde - versuchsweise - auch gegen‐ über Gruppen außerhalb der Studentenschaft erprobt. SoziologInnen diagnostizieren: Alle sagen Du, als sei das damit Gemeinte schon gegeben (vgl. z. B. Jaeggi 1978 mit interessanten Analysen zur Stu‐ dentenszene im Bochum der 1960er Jahre). Zwar hat sich diese Praktik nicht 3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte 70 <?page no="71"?> durchgesetzt, wohl aber das vergleichsweise konsequente Weglassen von Titeln im bundesdeutschen Sprachraum, und zwar bis heute. Aus den antiautoritären politischen Protestbewegungen des Jahres 1968 folgt auch eine sprachliche Umbruchsituation. Stötzel/ Wengeler stellten 1995 die These von 1968 als sprachgeschichtliche Zäsur zur Diskussion; ei‐ nige Jahre später wurde diese in einem Sammelband von Kämper, Scharloth und Wengeler (2012) fortgeführt und vertieft. Der veränderte Sprachgebrauch nahm seinen Ursprung bei linken Stu‐ dierendengruppen und setzte sich fort in der Außerparlamentarischen Opposition verschiedener sozialer Gruppierungen bis hin zu parteipoli‐ tischen Programmen. Das allgemeine Du lebt bis heute in kulturellen „Gesinnungsgenossenschaften“ fort, sei es in der Sozialdemokratie, in öko‐ logischen Gruppierungen oder Freizeitgesellschaften, z. B. bei Mitgliedern eines Sportstudios. Allerdings zeigen aktuelle Umfragen auch die bleibende Wertschätzung des Sie, besonders in beruflichen Kontexten (vgl. z. B. appinio 2019: „Siezen gehört immer noch zum guten Ton“). Der Höflichkeitswandel im deutschsprachigen Raum kann mit Anken‐ brand als Wandel von einer Distanzin eine Nähehöflichkeit beschrieben werden, als allmählicher Übergang von der traditionellen, etikettehaften Distanzhöflichkeit zu einer Höflichkeit der Nähe und Vertrautheit bzw. von ihrer Simulation (Ankenbrand 2013, 90). In ihrer empirischen Studie zum Wandel von Geschäftskorrespondenz kommt die Autorin zur Unterschei‐ dung einer aktuellen Variante von Höflichkeit, für die sie die Bezeichnung „professionelle Freundlichkeit“ als angemessener als „Nähehöflichkeit“ hält. Sprachliche Umgangsformen aus dem Kommunikationsbereich von Nähe und Vertrautheit werden in den Kommunikationsbereich der Distanz transferiert, um beim Empfänger das Gefühl individueller Wertschätzung auszulösen und kommerzielle Vorteile zu erlangen - ein taktischer Gebrauch von Camaraderie. Diese Entwicklung zeigt sich heute in einer zunehmenden Tendenz der Informalität. 3.4 Ausblicke auf Prozesse kulturellen Wandels in der Gegenwart Die im Folgenden behandelten Tendenzen der Informalisierung und der generationellen Einflüsse hängen eng zusammen, da gerade die jüngeren 3.4 Ausblicke auf Prozesse kulturellen Wandels in der Gegenwart 71 <?page no="72"?> Generationen stets als eine Quelle kulturellen und sprachlichen Wandels in Form von Informalisierungen wirkten. 3.4.1 Tendenzen der Informalisierung Indizien für eine Informalisierung finden sich heute in vielen Lebensberei‐ chen. Insbesondere kann hier auf eine Auflösung der Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zugunsten der Ausdehnung eines ehedem Privaten verwiesen werden, die mit einer Ent-Distanzierung persönlicher Beziehungen verbunden ist. Diese lässt sich vor allem am Wandel von Gruß- und Anredeformen einschließlich der Gestik und Körpersprache veranschaulichen. Knicks und Diener sind auch für Kinder schon lange unüblich geworden; Hüte, die man lüften könnte, sind aus der Mode gekommen, von der Verbeugung ist in der BRD allenfalls ein leichtes Kopfneigen übriggeblieben. Wie neuere Studien belegen, nimmt die im Deutschen übliche tageszeitliche Differenzierung (Guten Morgen, Guten Tag, Guten Abend etc.) zugunsten von Kurzformen (Morgen, Tag etc.), vor allem aber zugunsten von Hallo als Passe-partout-Formel ab. Auch die nonverbalen Bestandteile des Grüßens haben sich verändert: Der Wangenkuss hat stark zugenommen, das Hände‐ schütteln dagegen eher abgenommen (vgl. Neuland 2015). Ein offensichtlicher Prozess des Wandels von Begrüßungskonventionen lässt sich in den Zeiten des Coronoavirus gut beobachten: Wenn man davon ausgehen muss, dass eine Person, mit der man in eine Interaktion eintreten möchte, ein gewisses Interesse daran hat, Abstand zu halten und Berührungen zu vermeiden, dann kann und muss man neue Ausdrucks‐ formen finden, um zu kommunizieren, dass man ein friedliches Gespräch beginnen möchte und die Gesprächspartner respektiert. Die Menschen werden hier sehr kreativ; diskutiert und/ oder praktiziert werden etwa ver‐ schiedene Formen von aus asiatischen Kulturen inspirierten Verbeugungen, das „Ebola-Greeting“, bei dem man die Hüften seitlich zusammenstößt, der „Wuhan-Shake“, bei dem sich die Füße berühren, der „Fist Bump“, bei dem man die Fäuste gegeneinander stößt, und vor allem die Berührung mit den Ellenbogen. Diese scheint sich durchzusetzen und in kürzester Zeit zum von den Umgangsformen gebotenen sowie von der Etikette akzeptierten, wenn nicht sogar vorgeschriebenen Ersatz für das zuvor in formelleren Situationen obligatorische Händeschütteln zu werden. 3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte 72 <?page no="73"?> Abb. III.5: So ändert das Coronavirus unsere Etikette: Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher beim Ellenbogen-Gruß (t-on‐ line v.1.9.2020) (c) picture alliance/ dpa / Bernd von Jutrczenka) Dies und anderes mag als Verlust konventioneller Umgangsformen ge‐ deutet werden; die veränderten Ausdrucksweisen können aber auch Folgen einer Internationalisierung und Globalisierung und einer Angleichung an anglo-amerikanische Umgangsformen darstellen. In seinem Text „Von der Informalität zum doing buddy“ deutet Scharloth (2012, 41 ff.) die Verän‐ derung dieses Kommunikationsstils und veranschaulicht diesen Wandel mit linguistischen Analysen von Texten der 1968er-Bewegung im öffentli‐ chen Raum einer Fernsehdiskussion im Kontrast zu Auflagen des Benimm‐ buchs des Fachausschusses für Umgangsformen in den 1970er und 1980er Jahren. Dabei belegt er eine Zunahme von Informalitätsindikatoren (z. B. Kontraktionen (auf ’m), Reduktionen (nix), Elisionen (ner, en), von substan‐ dardsprachlicher, z. T. jugendsprachlicher Lexik (scheiße, verflucht, volle Pulle) und von emotionalen Ausdrücken und Befindlichkeitsäußerungen (Empfindungen von Ärger, Empörung, Ekel…) bei Diskussionsteilnehmern aus dem linksalternativen Milieu im Unterschied zu Mitdiskutanten aus dem konservativen Lager (vgl. auch Scharloth 2011 und 2015). 3.4 Ausblicke auf Prozesse kulturellen Wandels in der Gegenwart 73 <?page no="74"?> 5 Die Übersetzungsversuche mit: Verkumpelung, Kumpanei oder Kameraderie impli‐ zieren negative Konnotationen, doch bleibt ein: „so tun als ob“ implizit auch beim doing buddy enthalten. Zugleich wandeln sich auch die Verhaltensvorschriften für Begrüßungen und Verabschiedungen, Anrede- und Abschlussformeln sowie Titelgebrauch im Hinblick auf eine Vergrößerung des Repertoires zum Ausdruck von Vertrautheit und eine Ausweitung ihrer Gebrauchsdomänen. So wird die briefliche Anredeform Sehr verehrte, gnädige Frau [Familienname] seit der Auflage von 1988 des Benimmbuchs vom Fachausschuss für Umgangs‐ formen nicht mehr empfohlen; stattdessen Sehr verehrte, liebe Frau [Famili‐ enname], wobei sich nur der letzte Bestandteil dieser Form bis heute erhalten hat. Ähnliches gilt für die noch in der Auflage von 1970/ 75 empfohlene Abschiedsformulierung Hochachtungsvoll, die seit 1988 der informelleren Formulierung Mit herzlichen/ freundlichen Grüßen gewichen ist. Schließlich musste das Benimmbuch nach 1996 sein Erscheinen ganz einstellen. Schar‐ loth schlussfolgert: „Die Dynamik der Verhaltensstandards von 1964 bis 1996 kann demnach insgesamt beschrieben werden als ein Abbau formeller und distanzierter Praktiken zugunsten eines Ausbaus von Praktiken der Vertrautheit und ihres Gebrauchs in traditionell von formalen Praktiken geprägten Domänen“ (Scharloth 2012, 50). Für diesen Kommunikationsstil als neuen Verhaltensstandard prägt der Autor die Bezeichnung doing buddy mit Vertrautheit als dominantem Beziehungsmodus, verbunden mit einer Nivellierung geschlechts-, alters- und statusspezifischer Unterschiede. 5 Allerdings dauerte es, so Scharloth (2015, 217), bis in die 1980er Jahre, bis der Kommunikationsstil des Alternativmilieus seinen Einfluss auf den Sprachgebrauch der Mehrheitsgesellschaft entfaltete. Dazu trug der Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 zweifellos bei, ebenso die Übernahme von Elementen des alternativen Sprachstils in Presseorganen wie der TAZ (vgl. Schwitalla/ Betz 2006 zu den verstärkten Ausgleichsprozessen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in öffentlichen Textsorten). Ein weiterer Bereich, in dem sich die genannten Tendenzen zeigen, sind Anzeigentexte. Wie Linke (2000) sowie Stein (2015) nachweisen, haben sich die Textsortenstile selbst im Rahmen einer Distanzkommunikation in den letzten Jahrzehnten deutlich zugunsten informellerer und persönlicherer Formulierungen, einschließlich der Kundgabe von Emotionen, verändert. Während noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Familienvater - oft unter Angabe seines Berufsstandes - die Geburt eines Kindes anzeigte, wird 3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte 74 <?page no="75"?> dies im 20. Jahrhundert zunehmend gemeinsam von den gleichberechtigten Eltern und zuletzt durch das Neugeborene selbst bekannt gegeben: Die am 26sten d. M. erfolgte glückliche Entbindung meiner Frau von einem gesunden Sohne, habe ich die Ehre, hierdurch meinen Freunden anzuzeigen. Stettin den 28sten Januar 1800. Friedrich Koch, Direktor des Lyceums. (nach Linke 2009, 47) Heute sehen Geburtsanzeigen natürlich ganz anders aus. Man findet bei‐ spielsweise Texte, in denen neugeborene Kinder sich mit Worten wie „Hallo, hier bin ich“ selbst in die Welt einführen, in denen umgangssprachliche Aus‐ drücke oder lustige Bilder verwendet werden und ähnliche Ausprägungen. Aus Gründen des Datenschutzes können wir das hier nicht dokumentieren, aber ein Blick in eine beliebige Tageszeitung reicht, um eine ganze Reihe von Unterschieden zu Texten wie dem hier zitierten zu realisieren. Als letztes Beispiel sei hier auf den Internetgebrauch verwiesen, bei dem eine Verschiebung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit zu erkennen ist. Elektronische Post wird heute bewusst informell, konzeptio‐ nell mündlich formuliert. Die Anrede Guten Morgen! und der Abschiedsgruß Liebe Grüße ist in heutigen studentischen Mails an ihre ProfessorInnen üblich geworden, auch wenn diese Personen gerade nicht miteinander vertraut sind. 3.4.2 Generationelle Einflüsse Jugendliche galten zu allen Zeiten als „Noch-Nicht-Erwachsene“, als noch nicht angepasste Objekte von Sozialisation und Erziehung. Erst mit der Entdeckung von Kindheit und Jugend als eigenständige Entwicklungs‐ phasen wurde der Blick auf das abweichende, auch deviante Verhalten von Kindern und Jugendlichen gewechselt und die neuen und innovativen Entwicklungen in Verhalten und Habitus in den Blick genommen. Dieser Perspektivwechsel auf Jugendliche als „Neuerer“ und als „Akteure im kulturellen Prozess“ (vgl. Zinnecker 1981, Neuland 2011) hat in den letzten Jahrzehnten zu einer bedeutsamen Aufwertung der Jugend und einem besonderen Sozialprestige des Phänomens Jugendlichkeit geführt. 3.4 Ausblicke auf Prozesse kulturellen Wandels in der Gegenwart 75 <?page no="76"?> Dies betrifft auch den Sprachgebrauch von Jugendlichen, der von einem Objekt bloßer Sprachkritik zu einem Objekt öffentlichen Interesses wurde, wie der hohe Absatz von Jugend- und Szenewörterbüchern zeigte (vgl. Neuland 2018a). Der unkonventionelle, lockere Charakter jugendlicher Ausdrucksweisen fand mit dem Schwinden der Generationsdifferenzen vermehrt Eingang in den Sprachgebrauch von Erwachsenen und trug damit zum ständigen Wandel von Jugendsprache bei. Wie aktuelle Studien vom Umgang Jugendlicher mit sprachlicher Höflich‐ keit zeigen, bevorzugen Jugendliche informellere Formen des sprachlichen Umgangs und jugendtypische Ausdrucksformen von Höflichkeit jenseits von Konventionen und Etikette, was später noch genauer ausgeführt wird (vgl. Kapitel 8, Ausblick). Es steht zu erwarten, dass solche generationellen Einflüsse die angesprochenen Informalisierungstendenzen im öffentlichen Sprachgebrauch verstärken werden, wie es sich im Wandel von Gruß- und Abschiedsformaten schon ankündigt. 3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte 76 <?page no="77"?> 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 4.1 Höflichkeit und Sprache Höflichkeit wird in vielen Fällen auch oder vor allem sprachlich realisiert. Man kann wortlos einer Dame die Tür aufhalten, sich wortlos vor jemandem verbeugen oder jemandem im Bus Platz machen und ihn oder sie dabei anlächeln. Das alles ist sicherlich höflich. In sehr vielen prototypischen Beispielen für Höflichkeit gehört aber eine sprachliche Äußerung dazu; eine Begrüßung wird normalerweise verbal vollzogen, ein Dank oder eine Entschuldigung sind ohne die Verwendung einer rituellen Formel oder eines performativen Verbs zumindest umständlich und vielleicht mehrdeutig. Hier stellt sich die Frage, wie die Höflichkeit einer bestimmten Äuße‐ rung mit den von den SprecherInnen verwendeten Wörtern, Phrasemen, grammatischen Strukturen, Satztypen, Betonungen oder sonstigen sprach‐ lichen Mitteln zusammenhängt. Konkreter gefragt: Muss man, wenn man GesprächspartnerInnen höflich kritisieren möchte, eine Formel wie mit Verlaub verwenden? Muss man eine Bitte in einen Fragesatz verpacken, die höfliche Anrede wählen, den Konjunktiv verwenden oder Lexeme wie bitte, wenn man höflich sein möchte? Es ist keineswegs klar, ob diese und an‐ dere sprachlichen Strukturen einen notwendigen oder sogar hinreichenden Grund dafür darstellen, dass eine Äußerung als höflich angesehen werden kann. So gut wie alle neueren Beiträge über Höflichkeit verweisen auf die Ein‐ sicht „[…] no linguistic structure can be taken to be inherently polite“ (Watts 2003, 168); sie gehen davon aus, dass Höflichkeit nicht eine Eigenschaft von Wörtern und Sätzen, sondern von Ausdrücken und Äußerungen, also Wörtern und Sätzen im Kontext, ist. Ähnlich formulieren es Kádár/ Haugh: „[…] politeness does not reside in particular behaviours or linguistic forms, but rather in evaluations of behaviours and linguistic forms“ (Kádár/ Haugh 2013, 57). Die Verwendung des Konjunktivs in einer Bitte (Könntest du mir die Zeitung vorlesen? ) wäre damit weder notwendig noch hinreichend, um diese Sprechhandlung als höflich zu qualifizieren. Die Höflichkeit oder der <?page no="78"?> Grad an Höflichkeit hängt vielmehr entscheidend davon ab, wer wo wann zu wem so etwas in welcher Umgebung sagt und wie die Äußerung von den AdressatInnen oder auch von BeobachterInnen bewertet wird. Das ist einleuchtend, sollte aber nicht dazu führen, dass der sprachliche Aspekt unterschätzt wird. Die Annahme, dass die Höflichkeit einer Äu‐ ßerung auch davon abhängt, ob bestimmte sprachliche (grammatische, lexikalische, phraseologische usw., aber auch phonetische/ prosodische) Strukturen verwendet wurden, ist gut begründet. „Zum Ausdruck der Höf‐ lichkeit gibt es viele sprachliche und außersprachliche Formen“ (Weinrich 1993, 102). Schon Kindern wird beigebracht, dass die Verwendung von Wörtern wie bitte oder danke in vielen Situationen einen entscheidenden Unterschied ausmacht. Es gibt im Deutschen wie in allen anderen Sprachen ganz offensichtlich sprachliche Formen, die auch oder vor allem die Funktion haben, eine Äußerung so zu konturieren, dass die AdressatInnen eine Botschaft auf der Beziehungsebene rezipieren, die dann dazu führen kann, dass sie die SprecherInnen oder zumindest deren Äußerungen als höflich klassifizieren. Leech bringt diese Intuition in die Form einer Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Typen von Höflichkeit. In einer älteren Arbeit (Leech 1983) spricht er von absoluter versus relativer Höflichkeit, in einem späteren Werk (Leech 2014, 15 ff.) von pragmalinguistischer versus soziopragmati‐ scher Höflichkeit. Mit dem ersten Teil der Begriffspaare ist gemeint, dass manche Sätze auch ohne Kenntnis des Kontexts als höflich angesehen werden können: „Pragmalinguistic politeness is assessed on the basis of the meaning of the utterance out of context […]“ (Leech 2014, 16). In diesem Sinne kann eine Äußerung mehr oder weniger höflich sein, das Gegenteil von höflich wäre nicht-höflich. Vielen Dank wirkt in der Regel höflicher als Danke, die Abwesenheit jeglicher Dankesformel in Kontexten, in denen sie erwartbar wäre, betrachtet Leech als nicht-höflich. Der zweite Terminus der Begriffspaare bezieht sich dann auf die kontextsensitiven Formen von Höflichkeit, in denen die sprachliche Form nicht als wichtigste Erklä‐ rungsgrundlage für die Evaluation der Äußerung herangezogen werden kann: „[…] social judgements of politeness depend not just on the words used and their meanings but also on the context in which they are used […]“ (Leech 2014, 17). In diesem Sinne gibt es ein situationsangemessenes Ausmaß an Höflichkeit und - als Alternative - ein höheres oder ein zu niedriges Ausmaß. Wenn SprecherInnen höflicher sind als es in der Situation erforderlich ist, werden sie als höflich empfunden, tun sie weniger, 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 78 <?page no="79"?> dann sind sie nicht nicht-höflich, sondern unhöflich. Die Unterscheidung mag im Einzelnen schwer nachvollziehbar und diskussionswürdig sein - angefangen bei der Frage, ob es sinnvoll ist, von Äußerungen ohne Kontext zu sprechen. Wir übergehen hier solche Diskussionen und beschränken uns auf den Hinweis, dass bei so gut wie allen Äußerungen, die aus dem einen oder anderen Grund als höflich angesehen werden, die sprachliche Form eine gewisse Rolle spielt. In diesem Kapitel werden wir der Frage nachgehen, wie der Grad an Höflichkeit einer Äußerung mit ihrer sprachlichen Realisierung zusammen‐ hängt. Dabei beziehen wir uns vor allem auf das Deutsche. Nach einem Blick auf die Thematisierung von Höflichkeit in ausgewählten Grammatiken werden wir einige Phänomene näher betrachten, vor allem die pronominale Anrede, den Konjunktiv Präteritum als Höflichkeitsform, Routineformeln und schließlich Höflichkeit als Stil. Diese kleinen Fallstudien repräsentieren auch die verschiedenen Ebenen der sprachlichen Formen: die morphosyn‐ taktische, die lexikalische, die phraseologische Struktur von Sätzen bzw. Äußerungen sowie die pragmatische Ebene von Sprechhandlungen als kommunikative Einheiten. Die Einteilung dient auch dazu herauszufinden, auf welcher Ebene der sprachlichen Organisation Höflichkeit angesiedelt werden muss und ob und in welcher Hinsicht man davon ausgehen kann, dass Höflichkeit im Deutschen und in anderen Sprachen sprachlich enko‐ diert ist. Dabei können wir leider nicht auf die phonetische/ prosodische Struktur von Äußerungen eingehen; wir können hier nur auf die Bedeutung dieser Ebene hinweisen. Die zentrale Frage wird dabei immer sein, inwieweit das jeweilige Phä‐ nomen notwendig und/ oder hinreichend ist, um eine Äußerung höflich zu machen, welchen Beitrag die „Höflichkeitsform“ für die Erklärung von Höflichkeit geben kann, ob Höflichkeit ein Bestandteil der Bedeutung von Wörtern, Mehrwortlexemen oder morphosyntaktischen Formen ist und wie man erklären kann, dass gerade diese Formen als höflich angesehen werden können. Mit anderen Worten: Wie ist der Zusammenhang zwischen dem Grad an Höflichkeit einer Äußerung auf der einen und der Form ihrer sprachlichen Realisierung auf der anderen Seite darstellbar? 4.1 Höflichkeit und Sprache 79 <?page no="80"?> 4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen 4.2.1 Thematisierungen von Höflichkeit Höflichkeit ist kein genuin grammatisches Thema, steht aber doch in einem engen Zusammenhang mit sprachlichen, auch grammatischen, Strukturen. Die Grammatiken des Deutschen berücksichtigen dies in sehr unterschiedlicher Weise. Das kann man schon an der Häufigkeit der Verweise ablesen. Wir haben einen kleinen Überblick auf der Grundlage einiger der am meisten rezipierten und wissenschaftlich fundiertesten Grammatiken erstellt. Dabei wäre natürlich zu beachten, dass jede Grammatik auf einem bestimmten wissenschaftlichen Ansatz aufbaut und teilweise auch eine spezielle Terminologie entwickelt. Wir können auf theoretische Unterschiede hier nicht eingehen und haben versucht, eine einheitliche Terminologie zu verwenden. Die folgende Tabelle zeigt, wie oft und in welchen Kapiteln Höflichkeit thematisiert wird. Sie beruht nur auf der Auswertung der Register und der Inhaltsverzeichnisse. Einige Nennungen wurden zusammengefasst - beispielsweise wird Höflichkeit in den Kapi‐ teln verwendet, die verschiedenen Modalverben gewidmet sind; in der Tabelle fallen diese alle unter die Kategorie „Modalverben“. Fälle, in denen Höflichkeit nur als Beispiel vorkommt, wurden nicht erfasst. Auf den ersten Blick ergibt sich ein Unterschied zwischen der Grammatik der deut‐ schen Sprache (GdS, Zifonun et al. 1997) und allen anderen herangezogenen Texten: Die GdS enthält ein Kapitel, das mit „Sprecher-Hörer-Relation, personale Bezugnahme und Beziehungskonstitution“ überschrieben ist und jeweils ein Unterkapitel zu „Höflichkeit und Höflichkeitsformen“ bzw. „Selbstdarstellung, Partnerdarstellung, Beziehungskonstitution“ enthält. Höflichkeit wird hier vergleichsweise ausführlich diskutiert. In der Tabelle wird das zunächst nicht deutlich. 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 80 <?page no="81"?> 1 2 3 4 5 6 gesamt pronominale Anrede + + + + + + 6 Konjunktiv Präteritum + - - + - + 3 Höflichkeitsformeln - - - + - + 2 Modalverben - - - + - + 2 Infinitiv - - - + - - 1 Possessivartikel - - - + - + 2 Rhematische Pronominalisierung - - - + - - 1 Superlativ - - - + - - 1 Präpositionen - - - + - - 1 Konjunktionen - - - + - - 1 Partikel - - - + - - 1 Satzarten - - - + + + 3 Imperativ - - - - + - 1 Gesamt 2 1 1 12 3 6 Abb. IV.1: Thematisierung von Höflichkeit in ausgewählten Grammatiken des Deut‐ schen. 1. Dudengrammatik, 2. Eisenberg 2006b, 3. Hentschel/ Weydt 2013, 4. Wein‐ rich 1993, 5. Helbig/ Buscha 2017, 6. Zifonun et al. 1997 Die zur Höflichkeit mit Abstand ausführlichsten Grammatiken sind Wein‐ rich (1993) und GdS. In allen anderen spielt das Thema nur eine marginale Rolle. Ein Schwerpunkt liegt dabei im Bereich der pronominalen Anrede und der Verwendung von Possessivartikeln (dein Buch vs. Ihr Buch). Diese werden von allen Grammatiken mit Höflichkeit in Verbindung gebracht. Das zweite Phänomen, dessen Regularitäten häufig mit einem Verweis auf Höf‐ lichkeit erklärt wird, ist der Gebrauch des Konjunktivs Präteritum. Auf diese beiden Strukturen werden wir später etwas genauer eingehen. Die anderen Zeilen der Tabelle zeigen, dass viele AutorInnen von Grammatiken Höflich‐ keit als morphosyntaktisch nicht besonders relevantes Thema ansehen - es wird dann wohl eher dem Zuständigkeitsgebiet der Pragmatik zugewiesen. Dennoch scheint es nicht ganz abwegig zu sein, auch grammatische Phä‐ nomene mit Verweisen auf deren Beitrag zur höflichen Beziehungsarbeit 4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen 81 <?page no="82"?> zu analysieren. Wenn man sich entscheidet, das zu tun, dann können sehr unterschiedliche Themen und Bereiche der Grammatik einbezogen werden - von der Wortbildung über die Personaldeixis (pronominale Anrede) und Konjunktionen bis hin zu Satzarten. Die AutorInnen der GdS geben eine explizite Definition von Höflichkeit: Höflich sind Formen sprachlichen Handelns, in denen Belange des Adressaten (Selbstbild, Bedürfnisse usw.) qua Ausdruckswahl in einer Weise berücksichtigt sind, die das Erreichen des Handlungszwecks besonders befördert. (Zifonun et al. 1997, 934) Höflichkeit wird hier dargestellt als die sprachliche Realisierung der Rück‐ sichtnahme auf den/ die HörerIn. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass die AutorInnen davon ausgehen, dass man sich Höflichkeit nicht als Selbstzweck vorstellen sollte, sondern als Mittel, das einem Zweck dient: Wer höflich ist, erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass das eigentliche Ziel seiner Handlung (vielleicht jemanden von etwas überzeugen, einen Sachverhalt schildern etc.) erreicht wird. Sprachen beinhalten verschiedene, mehr oder weniger standardisierte Möglichkeiten, anderen zu signalisieren, dass man ihre Bedürfnisse, Interessen oder ihr Selbstbild respektiert. Einige dieser Möglichkeiten ergeben sich aus der obigen Tabelle. Die GdS führt dann eine Unterscheidung ein, die an diejenige von Leech erinnert, indem sie die Kontextabhängigkeit des Höflichkeitseffektes als Kriterium heranzieht: Höflichkeitsformen im weiteren Sinne sind Ausdrucksformen, die nur im grö‐ ßeren situativen Rahmen in ihrer Funktion verstehbar sind. Höflichkeitsformen im engeren Sinne sind Ausdrucksformen, die relativ autonom, abgelöst von ihrer situativen Verwendung, in ihrer Funktion verstanden werden können. (Zifonun et al. 1997, 935) Höflichkeitsformen im engeren Sinne sind sprachliche Strukturen, die als Höflichkeitsmarker standardisiert und quasi universell einsetzbar sind. Ein Beispiel wäre der Konjunktiv Präteritum einiger Modalverben oder die würde-Umschreibung bei anderen Verbtypen: (1) Könnten Sie bitte diese Mail beantworten? (2) Würden Sie das bitte dem Geschäftsführer sagen? Die Verwendung solcher Formen führt in so gut wie jedem Kontext dazu, dass HörerInnen die SprecherInnen und ihre Äußerungen als höflich emp‐ finden. Die Formulierung der GdS ist aus guten Gründen zurückhaltend, es 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 82 <?page no="83"?> wird von „relativ autonom“ gesprochen; die Verwendung dieser Verbform nähert sich dem Status einer hinreichenden Bedingung für Höflichkeit zumindest an. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass in allen Beispielen gleich mehrere Höflichkeitsmarker verwendet werden: Neben dem Kon‐ junktiv das Modalverb, der Satztyp (Fragesatz, um eine Aufforderung zu realisieren) und bitte. Welchen Anteil die jeweilige Form am höflichen Gesamteindruck hat, bleibt unklar. Viele andere Beispiele aus der Tabelle sind weniger spezifisch, beispiels‐ weise beim Gebrauch von Partikeln wie mal: (3) Sag, was du vorhast. (3‘) Sag mal, was du vorhast. (3‘) ist demnach tendenziell etwas höflicher. Dabei wird sehr deutlich, dass - wie in vielen anderen Fällen - Höflichkeit nicht als Bestandteil der Bedeutung der jeweiligen Form beschrieben, sondern als eine Art sekundärer Effekt. Laut Weinrich (1993, 855) hat mal das semantische Merkmal „Unauffälligkeit“, ein Sachverhalt, der im Zusammenhang mit mal steht, verliert seine scharfen Konturen und nimmt eine vage Bedeutung an. Das wiederum ist dazu geeignet, einen Zusammenhang indirekt und damit höflicher anzusprechen. Höflich wäre demnach nicht direkt die Verwendung von mal, sondern die Signalisierung der Annahme unscharfer Konturen. Ähnlich verhält es sich wohl mit der Negation eines Adjektivs mit dem Präfix -un. Im Gegensatz zum lexikalischen Antonym des Adjektivs schleift es die Konturen der Negation, nimmt der Verneinung die Schärfe und kann deswegen höflicher klingen. Mit einer doppelten Negation ist eine weitere Abschwächung möglich (vgl. dazu Neuhaus 2016): (4) eine kluge Bemerkung (4‘) keine unkluge Bemerkung (oder eine nicht unkluge Bemerkung) (4‘‘) eine unkluge Bemerkung (4‘‘‘) eine dumme Bemerkung Wenn man jemandem vorwirft, eine dumme Bemerkung gemacht zu haben, dann klingt das härter als die Version (4‘‘), auch wenn es streng genommen keinen Unterschied zwischen beiden gibt. Der gleiche Effekt kann dadurch erzielt werden, dass Imperativsätze abgeschwächt werden, etwa durch die Verwendung von Infinitivformen, 4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen 83 <?page no="84"?> wie es in Kochrezepten üblich ist (vgl. Weinrich 1993, 281) oder dass sie ganz vermieden werden, indem Aufforderungen als Fragesatz formuliert werden. Etwas anders verhält es sich mit dem Modalverb dürfen: „Man gibt mit dem Gebrauch dieses Modalverbs zu erkennen, dass man die Normen der Höflichkeit kennt und respektiert“ (Weinrich 1993, 303). Die Semantik von dürfen verweist auf Zwänge, Gebote oder Hindernisse: (5) Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Hose schmutzig ist? In diesem Beispiel bringt die sprechende Person zum Ausdruck, dass sie sich der Tatsache bewusst ist, dass es sich hier um einen unter Umständen unangebrachten, delikaten Übergriff in die Privatsphäre der hörenden Person handelt. S bittet H um Erlaubnis, das Gebot der Nichteinmischung unter diesen bestimmten Bedingungen verletzen zu dürfen und bestätigt gleichzeitig, dass er/ sie das, was er/ sie gerade tut, keineswegs für eine jederzeit problemlos realisierbare Handlung hält. Wie paradox das ist, kann man sich klarmachen, indem man sich eine negative Antwort vorstellt. Die sprechende Person tut etwas, wovon sie weiß, dass es unhöflich ist, signa‐ lisiert aber gleichzeitig, dass sie sich dessen bewusst ist. Insgesamt kann die Verwendung von Modalverben die kommunikativen Effekte mancher Äußerungen abmildern: „Das Modalverb macht z. B. aus Äußerungen, mit denen man Bitten realisieren kann, Äußerungen, mit denen man indirekte und somit konventionellerweise höfliche Bitten realisiert“ (Topszewska 2011, 107). Neben der Abschwächung potentiell unangemessener Handlungen und der Betonung der Geltung von Höflichkeitsregeln wird als weiterer Effekt in diesem Zusammenhang der Ausdruck von Zuwendung angesprochen. Auch das bezeichnet Weinrich (2013, 505) als höflich. So weist er darauf hin, dass der Norm-Superlativ (beste Grüße, liebste Mutter) in der „Sprache der herzlichen und höflichen Zuwendung […] sehr gebräuchlich […]“ ist. Hier ist auch eine Entwicklung zum formelhaften Gebrauch deutlich zu er‐ kennen. Wir befinden uns hier im Grenzbereich zwischen der Beschreibung der Verwendung grammatischer Formen und der Analyse idiomatischer Wendungen wie der Höflichkeitsformeln, auf die wir unten zurückkommen. Der Blick in die Grammatiken (vor allem die von Weinrich) zeigt erst einmal, dass das Repertoire an Formen, die u. a. dazu verwendet werden, höflich zu sein, relativ groß und unspezifisch ist: Alle angesprochenen Strukturen haben eine einfachere „Grundbedeutung“ (z. B. Ausdruck von Möglichkeit, Unauffälligkeit, Negation usw.) und als mehr oder weniger 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 84 <?page no="85"?> standardisierte, institutionalisierte indirekte „Zusatzbedeutung“ den Aus‐ druck von Höflichkeit. Dabei ist nicht der Konjunktiv direkt höflich, sondern es ist höflich, etwas als Möglichkeit anzusprechen und das wird nun mal meistens durch den Konjunktiv ausgedrückt. Höflich ist es also nicht, eine Form zu verwenden, sondern Aussagen zu nuancieren, abzuschwächen, den PartnerInnen einen Entscheidungsspielraum einzuräumen, nicht aufdring‐ lich zu sein oder Zuwendung zum Ausdruck zu bringen. Es ist nicht immer klar, was zu den Höflichkeitsformen im engeren Sinne zu zählen ist und was nur im weiteren Sinne als Höflichkeitsform fungiert. Die Autoren der GdS sprechen daher auch von einem Kontinuum. Es reicht von Formen, die fast schon den Status einer hinreichenden Bedingung für die Realisierung von Höflichkeit haben bis hin zu solchen, die nur in speziellen Kontexten im Dienste der Höflichkeit stehen. Anders ausgedrückt: Es gibt verschiedene Grade der Grammatikalisierung oder Idiomatisierung von Höflichkeit. Leech spricht hier von „pragmaticalization“ (vgl. dazu auch Watts 2003, 176 ff.) und betont auch den diachronischen Aspekt des Zusam‐ menhanges zwischen sprachlicher Form und Höflichkeitspotentialen: Like grammaticalization, pragmaticalization is a process that takes place gradu‐ ally over time, sometimes over centuries, sometimes over decades, leading to an expression’s idiomatization and eventual formal/ phonetic reduction to a brief, often invariant or semi-invariant formula. (Leech 2014, 75) Nach dieser Darstellung gibt es so etwas wie in Sprache geronnene Höf‐ lichkeit. Eine genauere Analyse solcher Strukturen ergibt also nicht nur einen Einblick in den Zusammenhang von sprachlicher Form und kommu‐ nikativer Funktion, sondern auch ein besseres Verständnis von Höflichkeit: Wenn man beschreiben kann, was genau und in welcher Weise grammatika‐ lisiert, idiomatisiert oder pragmatikalisiert wurde, dann hat man zumindest eine tragfähige Hypothese über sprachlich und sprachwissenschaftlich relevante Eigenschaften von Höflichkeit. Die Diskussion von konventionalisierten Formen sprachlicher Höflich‐ keit bietet einerseits ein theoretisches Potential und stellt andererseits eine empirische Herausforderung dar. Diese liegt in der Vielfalt und der Heterogenität des Untersuchungsgegenstandes. Schon die oben abgedruckte Tabelle zeigt deutlich, dass sehr unterschiedliche Phänomene auf den ver‐ schiedenen Ebenen der sprachlichen Organisation in den Blick genommen werden müssen. Auch Leech weist darauf hin: „The values of politeness are encoded linguistically mainly through the differing morphological, 4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen 85 <?page no="86"?> syntactic, and lexical resources of languages“ (Leech 2014, 105). Die Liste an Beispielen, die er hier anfügt, erinnert in weiten Teilen an die Tabelle oben: Honorifika, Modalverben, Personendeixis, Gebrauch (oder Nichtgebrauch) von Selbstbezeichnungen, Diminuitiv. Hier deutet sich darüber hinaus auch schon an, dass sich unterschiedliche Sprachen im Hinblick auf diese und an‐ dere Formen der Realisierung sprachlicher Höflichkeit stark unterscheiden können. 4.2.2 Pronominale Anredeformen Die Thematisierung der pronominalen Anrede ist das einzige Kapitel, in dem in allen hier betrachteten Grammatiken auf Höflichkeit verwiesen wird. Das zeigt, dass es sich hier um einen der Bereiche handelt, in dem die Grammatikalisierung von Höflichkeit am weitesten fortgeschritten ist. Einige AutorInnen nehmen sogar an, dass die Grammatik neben Numerus, Tempus, Modus etc. für Verben auch eine Kategorie ‚Respekt‘ vorsehen sollte und bringen dies mit dem Ausdruck von Höflichkeit in Verbindung (vgl. Haase 1994 und Simon 2003). Höflichkeit ist hier in irgendeiner Form in die Sprache enkodiert, sprachliche Strukturen spiegeln soziale Strukturen und Ausdrucksbedürfnisse wider. Haase (1994, 14 f.) führt aus, dass gram‐ matische Strukturen in vielen Fällen am Ende einer Entwicklung stehen, die von der Ebene Text/ Diskurs über Syntagmen (Phraseme, idiomatische Ausdrücke) bis hin zur Grammatik verläuft. Formen der pronominalen An‐ rede sind nach Haase als Strukturen zu verstehen, die im Übergangsbereich zwischen Lexikalisierung oder Idiomatisierung und Grammatikalisierung anzusiedeln sind - je nach Sprache mehr oder weniger weit grammatikali‐ siert: Das Grammatikalisierungsmodell hat den Vorteil, keine scharfen Grenzen zwi‐ schen Grammatischem, Lexikalischem und Pragmatischem zu ziehen, vielmehr sind Übergänge zugelassen. Hinsichtlich höflicher und familiärer Bezugnahme kann ein Übergang zwischen grammatischem und lexikalischem Bereich festge‐ stellt werden […]. (Haase 1994, 15) Der Ursprung von sprachlichen Strukturen wie dem Anredesystem liegt also in der Besonderheit von Redekonstellationen, in Sprechsituationen oder Sprecherintentionen, die systematisch wiederkehren und sich daher in Form von lexikalischen, phraseologischen oder eben morphosyntaktischen Phä‐ nomenen niederschlagen. Im Falle der Anrede ist es unmittelbar einleuch‐ 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 86 <?page no="87"?> tend, dass die Kommunikationsteilnehmer und ihr Verhältnis zueinander einerseits abgebildet werden: Mit der Anrede charakterisieren Kommunikationsteilnehmer explizit das Ver‐ hältnis, in dem sie zueinander stehen. Dabei reflektieren gerade die Anredekon‐ ventionen als grammatikalisiertes pragmatisches Phänomen gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Veränderungen […] und werden daher häufig in ihrer Funktion als Indikator für soziale Verhältnisse, Wandelprozesse […] und auf ihre kulturelle Motiviertheit untersucht […]. (Schlund 2009, 59) Andererseits konstituiert die Verwendung bestimmter Ausdrücke das Ver‐ hältnis der Interaktionsteilnehmer auch erst. Um es mit den Worten der GdS-AutorInnen zu sagen: „Kommunikatives Handeln ist immer auch Handeln in sozialen Beziehungsgeflechten. Diesen Beziehungen hat der sprachliche Ausdruck Rechnung zu tragen und gestaltet sie mit“ (Zifonun et al. 1997, 913). Anredepronomen gelten deshalb auch als Schnittstelle zwischen Pragmatik, Semantik und Syntax. Sie werden in der Pragmatik als personaldeiktische Ausdrücke beschrieben (vgl. z. B. Ehrhardt/ Heringer 2011, 21 f. oder Meibauer 2008, 13). Damit wird darauf verwiesen, dass Personalpronomen Funktionswörter sind, deren Bedeutung in einer Äuße‐ rung erst dann festgelegt werden kann, wenn der Kontext bekannt ist. Ein Beispiel: (6) Ich bin Fußball-Weltmeister. Der Wahrheitsgehalt des Satzes kann nur dann ermittelt werden, wenn man weiß, wer ihn ausgesprochen hat. Erst wenn diese Information, die nichts mit grammatischem Wissen zu tun hat, sondern nur in der betreffenden Sprechsituation ermittelt werden kann, gegeben ist, und man dann weiß, ob der/ die SprecherIn berechtigt ist, so etwas zu behaupten, kann man sagen, ob das stimmt oder nicht. Entsprechendes gilt für die zweite Person: (7) Du bist ein Idiot. Auch hier kann man nur dann wissen, wer da so charakterisiert wird, wenn man die Gesprächssituation kennt und die angesprochene Person identifizieren kann. Grammatisches Wissen reicht nicht. Die Personalpronomen konstituieren eine prototypische Sprechsituation, indem sie SprecherInnen, HörerInnen und Gegenstand der Unterhaltung (1., 2. und 3. Person) identifizieren, darstellen und von anderen möglichen Personen und Objekten abheben. Mithilfe der Personaldeixis wird das 4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen 87 <?page no="88"?> Sprechen sozial situiert, ohne SprecherInnen, AdressatInnen und Thema gäbe es keine Kommunikation. Die Anrede (wie auch der Selbstbezug des Sprechers oder der Sprecherin) ist also von fundamentaler Bedeutung für das Zustandekommen von Kommunikation. Im Zusammenhang mit Überlegungen zur Höflichkeit geht es in erster Linie um die Auszeichnung der Angesprochenen, also um Ausdrücke, die deutlich machen, an wen die Botschaft gerichtet ist. Hier stehen Sprecher- Innen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Zunächst kann zwischen nominaler (Herr Müller, Frau Oberstudienrätin) und pronominaler Anrede (du, Sie) unterschieden werden. Die SprecherInnen haben die Wahl zwischen verschiedenen Optionen; ihre Wahl hat auch Auswirkungen auf die soziale Konturierung der Interaktion: Ein Gespräch, das mit Genosse Hoffmann begonnen wird, wird aller Wahrscheinlichkeit auf der Beziehungsebene anders verlaufen als eines, in dem der Sprecher seinen Partner mit Herr Dr. Hoffmann adressiert. Wir werden im Folgenden die nominalen Formen der Anrede nicht weiterverfolgen und uns vielmehr auf die pronominale Anrede konzentrieren. Diese ist Gegenstand von vielen Arbeiten (z. B. Kohz 1982, Brown/ Gilman 1960, Besch 2000, Braun et al. 1986, Simon 2003, Kretzenba‐ cher 2010), deren Ergebnisse von den AutorInnen der Grammatiken mehr oder weniger explizit rezipiert wurden. Die AutorInnen der GdS greifen den Unterschied zwischen nominaler und pronominaler Anrede auf und führen dann ihre Terminologie für Letztere ein: Anredeformen gibt es viele […], aber es gibt im Deutschen nur zwei Anredemodi: den Du-Modus und den Sie-Modus. Die Hörer(gruppen)deixis du, ihr (samt den Flexionsformen) kennzeichnet (als ‚Balanceform‘) den Du-Modus, die nicht numerusdistinkte Hörerdeixis Sie (,Distanzform‘) den Sie-Modus. (Zifonun et al. 1997, 915) Was hier „Du-Modus“ oder „Balanceform“ genannt wird, heißt bei Weinrich (1993) „Vertrautheitsform“; die „Distanzform (Sie-Modus)“ nennt Weinrich ebenfalls „Distanzform“, viele andere Grammatiken (Duden, Eisenberg, Hentschel/ Weydt, Helbig/ Buscha) sprechen von der „Höflichkeitsform“ und machen damit den Zusammenhang zwischen Anrede und Höflichkeit ex‐ plizit. Die Tatsache, dass teilweise auch andere Termini verwendet werden, ist aber ein klarer Hinweis darauf, dass eine zu einfache Identifizierung von bestimmten Formen mit Höflichkeit nicht angemessen ist. Weinrich weist darauf hin, dass die Höflichkeit einer Äußerung nicht vorwiegend durch die 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 88 <?page no="89"?> Distanzform realisiert wird und dass die Bedeutung der Anrede mit Sie nicht vorwiegend darin liegt, Höflichkeit zu denotieren, sondern eher darin, eine soziale Distanz zwischen SprecherInnen und HörerInnen zum Ausdruck zu bringen und zu schaffen. Das erst wird unter Umständen als höflich empfunden: „Eine elementare Form der Höflichkeit, die auf Distanz beruht […], kann […] mit Pronomina zum Ausdruck gebracht werden, vorwiegend in der Hörerrolle“ (Weinrich 1993, 102). Höflichkeit ist also eine Funktion der Distanzierung und kein unmittel‐ barer Effekt der Verwendung von Pronomen. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass es sich bei der „Höflichkeitsform“ grammatisch um die 3. Person Plural handelt, und: „Mit der 3. Person schafft man Distanz (man schaut dem Gegenüber quasi nicht in die Augen) […]“ (Dudengrammatik, 267). Man verwendet den Plural, obwohl nur eine Person angesprochen wird. Das wird von einigen Autoren als „sozusagen semantisch abweichend“ (Eisenberg 2006b, 173) bezeichnet. Neben der Schaffung von Distanz hat das auch einen weiteren Effekt: „[…] man schreibt seinem Gegenüber Größe und Bedeutsamkeit zu […]“ (Dudengrammatik, 267) und erweist ihm „Respekt“ (Hentschel/ Weydt 2013, 216). Die Regeln für die Verwendung der Anredeformen sind dementsprechend vage: Weinrich weist darauf hin, dass Sie verwendet wird, „wenn kein spe‐ zifisches Sozialverhältnis besteht, das Vertrautheit rechtfertigt“ (Weinrich 1993, 104). Beim Du wird es noch unübersichtlicher: Die Vertrautheitsform wird im Gebet gegenüber Gott verwendet, gegenüber Kindern, manchmal (in Unternehmen wie Ikea) innerhalb von Institutionen oder Organisationen („Genossen-Du“), gegenüber Freunden, Verwandten, in der Internet-Kom‐ munikation usw. (vgl. Heringer 2009, 68). Darüber hinaus gibt es noch interessante Mischformen wie das „Hamburger Sie“ (Vorname und Sie) oder das „Münchener Du“ (Familienname und Du). Kohz fasst die Funktionen der Anrede zusammen: 1. Anredeformen bezeichnen jemanden. 2. Sie machen den Bezeichneten auto‐ matisch zum Angeredeten. […] 3. Sie ermöglichen es dem Sprecher, zwischen sich und dem Anzuredenden eine Relation herzustellen und für beide bestimmte Rollenzuweisungen vorzunehmen. (Kohz 1982, 21) Die Aufzählung macht deutlich, dass alles, was mit Höflichkeit zu tun hat, nicht die einzige und auch nicht die wichtigste Funktion der Verwendung von Anredepronomen darstellt. Nur die dritte Funktion in dieser Aufzählung ist relevant, wenn gefragt wird, welchen Beitrag die Verwendung von 4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen 89 <?page no="90"?> bestimmten Anredeformen zur Einschätzung des Höflichkeitsgrades einer Äußerung leistet. Durch die Wahl des Pronomens bringen die SprecherInnen u. a. zum Ausdruck, wie sie das Verhältnis zu HörerInnen sehen oder gestalten möchten - oder, besser gesagt, einige Aspekte dieses Verhältnisses, denn natürlich kann die Komplexität sozialer Beziehungen nicht auf eine Wahl zwischen zwei Anredepronomen reduziert werden. Darüber hinaus spiegelt die Regelhaftigkeit des Gebrauchs natürlich auch gesellschaftliche Strukturen wider, etwa in (sprach- und kulturspezifischen) Präferenzen und Regularitäten für die symmetrische vs. asymmetrische Verwendung der Anredeformen (vgl. Lüger 1992, 70 ff.). Als asymmetrisch werden Situationen beschrieben, in denen eine Person die andere duzt, von dieser aber erwarten kann, dass sie mit Sie antwortet. Die GdS präzisiert noch weiter und spricht von vollreziprok, teilreziprok und nicht-reziprok: Vollreziprok heißt, dass alle Beteiligten die gleichen Anredepronomen verwenden. Von teilreziprok wird gesprochen, wenn teilweise identische Formen verwendet werden, etwa in Familien; hier ist es im deutschspra‐ chigen Raum normal, dass Eltern und Kinder sich duzen, darüber hinaus die Eltern die Kinder mit Vornamen anreden, die Kinder aber den Vornamen der Eltern vermeiden - sie sagen Mama oder Papa. Nicht-reziprok wären die Anredekonventionen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen unter ca. 15/ 16 Jahren: Die LehrerInnen duzen, die SchülerInnen sagen Sie. Auch hier ist die Realität natürlich wesentlich komplexer als die sprachsystematisch vorgesehenen Möglichkeiten des Ausdrucks. Die Wahlmöglichkeit zwischen du und Sie bzw. ihr und Sie ist ein Beispiel für sozial fundierte Ausdrucksdifferenzierung. Die Hörerdeixis ist allerdings kein verläßlicher Indikator für die Beziehung zwischen den Redepartnern. Das Du ist nicht per se ‚vertraulich-familiär‘ und das Sie nicht ‚distanziert‘ oder ‚höflich‘. Die Dubzw. Sie-Relation kann auf vielfaltige Weise zustande kommen […] und umfaßt eine Vielzahl institutioneller und gruppenspezifischer Besonderheiten. Die Dichotomie du - Sie ist viel zu grob, als daß sie die vielgestaltigen interper‐ sonellen Beziehungen allein ausdrücken könnte. Dennoch markieren du und Sie jeweils eine gewisse Bandbreite interpersonaler Rollen und Statusverhältnisse. (Zifonun et al. 1997, 926) Die Verwendung einer pronominalen Anredeform kann natürlich nur ein Indikator unter vielen anderen dafür sein, wie das Verhältnis von Spreche‐ rInnen und HörerInnen konzipiert wird - und wie höflich die Äußerung ausfällt. Sie kann aber keinesfalls mit der Höflichkeit oder Unhöflichkeit 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 90 <?page no="91"?> gleichgesetzt werden. Für eine präzisere Unterscheidung spricht allein schon die Tatsache, dass es Sprachen wie das Englische gibt, in dem die Differenzierung grammatisch nicht mehr gebräuchlich ist. Trotzdem können auch SprecherInnen des Englischen zum Ausdruck bringen, wie sie das SprecherInnen-HörerInnen-Verhältnis einschätzen und sie können auch sehr höflich sein. Außerdem ist die kommunikative Realität in allen Sprachen reich an Varianten und Möglichkeiten. Auch im Deutschen haben SprecherInnen zahlreiche Möglichkeiten, den sozialen Kontext ihrer kommunikativen Handlungen sprachlich zu repräsentieren, zu gestalten und zu verändern. Genaue Beobachtungen und Analysen von Gesprächen, wie sie in der Gesprächsanalyse üblich sind, zeigen sehr schnell, dass eine große Zahl und verschiedene Typen von sprachlichen Aktivitäten verwendet werden, um die Konversation sozial zu situieren. Das kann an dieser Stelle leider nicht anhand von Beispielen vertieft werden. Festzuhalten bleibt, dass Höflichkeit sehr viel mehr ist als die Wahl eines Anredepronomens: Wenn man das Ganze wirklich kommunikativ betrachtet, wird es noch komplexer. Die direkte Verbindung mit Höflichkeit ist kurzsichtig und unkommunikativ gedacht. Sie statt du oder ihr zu sagen, das ist nicht ohne weiteres Nachdenken schon als Zeichen von Höflichkeit anzusehen, es kann sogar im Gegenteil unhöflich sein. (Heringer 2009, 67) Höflich ist es nicht, das eine oder das andere Pronomen zu verwenden, sondern diese und andere sprachliche Formen so zu verwenden, dass damit die Einnahme einer bestimmten Distanz zum Ausdruck gebracht und dem Anderen Wertschätzung, Zuneigung und Respekt bezeugt werden. Unter anderem deswegen ist Höflichkeit vor allem ein Thema der linguistischen Pragmatik und nicht so sehr der Grammatik. Die Methoden und Begriffe der Pragmatik bieten die Möglichkeit, in der Analyse auch die zahlreichen Kontextfaktoren zu berücksichtigen, die einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass eine Äußerung höflich wird. Was sich in Form der Anredepronomen und der Regularitäten ihrer Verwendung in der Sprache niedergeschlagen hat, sind also gar nicht Höf‐ lichkeitskonventionen, sondern - allgemeiner - Formen der Beziehungsge‐ staltung oder des Beziehungsmanagements. Grammatikalisiert ist das Be‐ dürfnis, PartnerInnen anzusprechen und ihnen wenigstens vage Hinweise darauf zu geben, wie man sich als sprechende Person das Verhältnis zu diesen HörerInnen vorstellt, welche Distanz man zwischen den Beteiligten 4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen 91 <?page no="92"?> sieht oder sehen möchte und welche Bedeutung man dem Gegenüber zuschreibt. Ob diese Konzeption der Beziehung höflich ist oder nicht, das ist eine weitere Frage: Es hängt wohl letztlich davon ab, ob die Konzeption der Situation angemessen ist oder nicht - ob HörerInnen und BeobachterInnen die Distanz und die ausgedrückte Bedeutungszuschreibung als korrekt empfinden oder nicht. Höflichkeit ist eine Form von Beziehungsgestaltung - vielleicht sogar das zentrale Prinzip, das InteraktantInnen bei der Bezie‐ hungsgestaltung leitet. Höflich sein heißt dann, die Beziehung zu den PartnerInnen so gestalten, dass diese mit der Definition übereinstimmen können. Eine Beziehung zwischen Personen herstellen heißt auch, diese mitein‐ ander vergleichen, Distanzen zwischen ihnen feststellen und sie in eine Hierarchie oder ein anderes Verhältnis bringen. Genau das, ein Verhältnis herstellen, macht man auch, wenn man mit jemandem in ein Interaktions‐ verhältnis eintritt: Man schätzt ein, wer das ist, welchen Status er oder sie hat, wie nahe man sich ihm/ ihr fühlen kann, welche hierarchische Position er/ sie im Verhältnis zur eigenen Person einnimmt. Und der Abschätzung entsprechend entscheidet man sich für eine Kommunikationsstrategie; die fängt mit der Wahl des Anredepronomens an, beinhaltet dann aber auch zahlreiche andere Entscheidungen in Bezug auf verbale und nonver‐ bale Kommunikation. Einige Beispiele: Regelung der körperlichen Distanz, Körperhaltung, Wahl bestimmter Lexeme (Sage ich gut, cool oder geil? ), Themenwahl, Wahl der Varietät ( Jugendsprache, Dialekt etc.), Modalität des Sprecherwechsels (Kann ich die andere Person unterbrechen? ) usw. Auch hier wird deutlich, dass das System der Anredepronomen eine Schnittstelle von morphosyntaktischen und pragmatischen Prozessen und Regularitäten darstellt. Für die Höflichkeitsforschung sind sie u. a. auch deswegen relevant und interessant, weil hier das Zusammenspiel unter‐ schiedlicher sprachlicher Ebenen deutlich wird: Man kann untersuchen, welche Kontextfaktoren die Entwicklung des Sprachsystems beeinflussen und welche Tendenzen und Strategien der Ausdrucksselektion die Höflich‐ keit einer Äußerung ausmachen. Insbesondere die Tendenz der Distanz‐ nahme durch die Wahl der dritten Person für die Hörerdeixis und die Pluralisierung des Adressaten stellen sich dabei als Konstanten dar, die auch in der Geschichte des Anredesystems immer wieder zur Anwendung kommen und die andauernde Dynamik dieses Feldes ausmachen. Verschiedene Grammatiken vertiefen ihre Ausführungen zu Anredepro‐ nomen durch Verweise auf die diachronische Entwicklung des Anrede- 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 92 <?page no="93"?> systems. Die heute gebräuchliche Sie-Form hat sich im Deutschen erst in der Goethe-Zeit durchgesetzt (vgl. Weinrich 1993, 106). Der Gebrauch der Anredeformen ist aber keineswegs stabil; gesellschaftliche Veränderungen spiegeln sich u. a. auch in Verschiebungen des Gebrauchs von Sie und du wider. Erinnert sei hier nur an die Tatsache, dass es erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts üblich ist, dass Studierende sich untereinander duzen. Zeitweise wurde das auch auf die Kommunikation mit DozentInnen ausgedehnt; in der Zwischenzeit ist das aber wieder unüblich geworden. Die Entwicklungen des Systems geben einen guten Einblick in die Dynamik des Sprachgebrauchs sowie die Faktoren und Mechanismen, die zu diesbezügli‐ chen Veränderungen führen. Das Anredesystem war im Deutschen eine Zeit lang sehr viel komplexer als heute. Schon im 9. Jahrhundert wurde neben der du-Form der Gebrauch der Form ir gegenüber einzelnen Personen nachgewiesen (vgl. zum Fol‐ genden Hentschel/ Weydt 2013, 216 f., für vertiefende Diskussionen Kohz 1982, 4 ff., Valtl 1986, 168 ff., Ammon 1972, 82 ff., von Polenz 1999, 383 ff.). In dieser Phase lässt sich also schon zeigen, dass zur Respekterweisung der angesprochenen Person pluralisiert wurde - sie wurde behandelt, als sei sie mehrere Personen und zähle auch mehr als ein Individuum. Die Wirkung solcher Zuschreibungen lässt natürlich nach, je mehr diese Formen zur Routine werden. Im Frühneuhochdeutschen wurde daher zusätzlich noch die 3. Person Singular als weitere Höflichkeitsform verwendet. Die Angesprochenen wurde also „objektiviert“, die Anrede erfolgte indirekt, so als sei der Adressat ein Gegenstand der Rede. Die SprecherInnen si‐ gnalisieren damit, dass sie eine große Distanz zwischen sich und ihren GesprächspartnerInnen sehen. Auch das nutzte sich aber mit der Zeit ab und wurde dann durch eine weitere Pluralisierung überboten - die Sie-Form wurde gebräuchlich - zeitweise neben der Anrede mit der 3. Person Singular, wobei diese Konstellation eine weitere Statusunterscheidung zuließ: Mit Sie wurden besonders hochgestellte Personen angesprochen. Zusätzlich waren auch noch nominale pluralische Anredeformen wie Euer Gnaden anzutreffen. Im Deutschen ist die Wahl des Anredepronomens bzw. der nominalen Anrede das am weitesten grammatikalisierte Verfahren - und es ist eine unvermeidbare Wahl. Hier muss sich jeder am Anfang einer Interaktion entscheiden. Diese Entscheidung zieht vieles andere nach sich, sie ist so etwas wie die Mutter aller beziehungsrelevanten Selektionen. Indem man diese Entscheidung trifft und sich dementsprechend verhält, gestaltet man 4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen 93 <?page no="94"?> das Verhältnis auch. Man schafft Nähe, Vertrautheit, Distanz, Respekt usw. bis hin zu Angst oder Unsicherheit. Wenn man dabei das adäquate Maß trifft, ist man höflich, andernfalls verhält man sich abweichend und verletzt den oder die PartnerIn. Und die adäquate Nähe ist genau diejenige, die das Gegenüber wünscht und zulassen kann. Höflich kommunizieren besteht u. a. darin, solche Entscheidungen oder Einstellungen der anderen zu antizipieren. In anderen Sprachen hat diese Entwicklung andere Wege genommen. Bereits angesprochen wurde das Englische, in dem Respekt und Höflichkeit nicht (mehr) in dieser Form grammatikalisiert, aber trotzdem ausdrückbar sind. Im Englischen wurde die Dichotomie thou vs. you aufgegeben und zwar zugunsten der „höheren“ Form, also derjenigen, die dem deutschen Sie entsprechen würde. Einen anderen Weg schlagen die skandinavischen Sprachen ein, wo die dem Sie entsprechenden Formen aufgegeben werden. Das andere Extrem bilden verschiedene asiatische Sprachen. Das fast schon legendäre Anredesystem des Japanischen unterscheidet sich von den Gege‐ benheiten in europäischen Sprachen nicht nur durch die Möglichkeit (und Notwendigkeit) einer weiteren Differenzierung in der Hörerdeixis, sondern auch durch Variationsmöglichkeiten beim pronominalen Selbstbezug des Sprechers, also der Sprecherdeixis. Es gibt im Japanischen mehr als eine Form, um ich zu sagen. Je nachdem, mit wem man spricht, muss man den richtigen Ausdruck wählen: Daß die soziale Relation zwischen den Redepartnern in der Hörerdeixis, nicht aber in der Sprecherdeixis markiert ist, ist typisch für das Deutsche und einige andere (europäische) Sprachen. Im Englischen ist dieser Unterschied in der Hörerdeixis nicht markiert, im Japanischen etwa ist er auch in der Sprecherdeixis in mehreren Abstufungen realisiert. Man kann also z. B. im Japanischen das Verhältnis zu dem Redepartner oder den Redepartnern lexikalisch differenzierter angeben als im Deutschen. (Zifonun et al. 1997, 930) Solche sprachlichen Besonderheiten sind als Hinweis darauf interpretierbar, dass es in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich stark ausge‐ prägte Bedürfnisse gibt, beim Sprechen die sozialen Verhältnisse relativ eindeutig zum Ausdruck zu bringen. Im Japanischen erfordert auch der Selbstbezug eine Wahl; es gibt eine grammatikalisierte Unterscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten der sprachlichen Realisierung des Ich. SprecherInnen müssen ihre Äußerung nicht nur danach modellieren, wen sie vor sich zu haben glauben, sondern auch danach, wer sie selbst (im 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 94 <?page no="95"?> Kontext der vorliegenden Personenkonstellation) zu sein glauben und auf welches Bild von sich selbst sie die GesprächspartnerInnen einschwören wollen. Um es mit dem Terminus von Goffman (1986) zu sagen: Auch die Imagearbeit ist ansatzweise sprachlich kodiert. Auch hier ist natürlich deutlich, dass beide Verfahren in engem Zusam‐ menhang miteinander stehen: Wie die SprecherInnen sich selbst präsen‐ tieren, hängt auch davon ab, wie sie ihr Gegenüber konzipieren. Und die Einschätzung der Stellung, der Bedeutung, des Status des Gegenübers und die daraus resultierende Distanz zwischen SprecherInnen und HörerInnen wiederum hängt davon ab, welchen Status die sprechende Person sich selbst zuweist. Wer den anderen groß macht, macht sich selbst relativ kleiner. Imagearbeit (facework) und Beziehungsarbeit sind eng aufeinander bezogen. Im Japanischen spiegelt sich der Zusammenhang direkt in den Formen der Personaldeixis wider, im Deutschen und diversen anderen Sprachen nicht. Solche Unterschiede können als Hinweis darauf gelesen werden, dass es - trotz des engen Zusammenhanges - sinnvoll sein kann, zwischen Beziehungsarbeit und Imagearbeit zu unterscheiden. Die Unterscheidung dient u. a. als Erklärungsansatz für Unterschiede zwischen Sprachen. Halten wir erst einmal fest: Wenn wir kommunizieren, dann beziehen wir uns auf Gegenstände in der Welt und informieren die Partner darüber; da‐ neben tun wir aber zwangsläufig und immer noch mindestens zwei weitere Dinge; zum einen geben wir Informationen über uns selbst und zum zweiten konstruieren wir Beziehungen zu Gesprächspartnern. Zu fragen bleibt dann, welche Konsequenzen diese Überlegungen für die Thematisierung von Höflichkeit haben. Im Japanischen könnte Höflichkeit als eine Funktion der Imagearbeit und der Beziehungsarbeit verstanden werden - SprecherInnen sind höflich, wenn sie das richtige Pronomen der ersten und der zweiten Person wählen -; im Deutschen steht die zweite Art von kommunikativer Aktivität im Vordergrund. Höflichkeit ist demnach auf jeden Fall eine Form von Beziehungsarbeit. Sprachen wie das Japanische werfen die Frage auf, ob die SprecherInnen höflich sind (also eine adäquate Definition der Beziehung zum Partner kommunizieren) und zusätzlich noch etwas Anderes tun, nämlich sich selbst darstellen und ihr Image einbringen oder ob man davon ausgehen sollte, dass die japanische Höflichkeit Imagearbeit als zusätzlichen Aspekt enthält. Wir werden auf solche Fragen im Rahmen der Diskussion von Höflichkeitstheorien zurückkommen. 4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen 95 <?page no="96"?> 4.2.3 Modalität, Konjunktiv Präteritum Die Modalität spielt bei sprachlichen Ausdrucksformen von Höflichkeit eine entscheidende Rolle. Im Deutschen ist der Konjunktiv Präteritum (auch Konjunktiv II, Irrealis oder restriktiver Konjunktiv) neben Modalverben und Modalwörtern eine Form des Ausdrucks von Modalität und von Indirektheit (in indirekter Rede): Konjunktivformen - und teilweise überschneidend, teilweise kontrastierend mit ihnen auch Indikativformen - werden in Verwendungskontexten gebraucht, die grob in zwei Funktionskreise geordnet werden können: den Funktionskreis der Modalitätskontexte und den Funktionskreis der Indirektheitskontexte. Beide Verwendungskontexte überlappen sich im Bereich der indirekten Modalitätskon‐ texte. (Zifonun et al. 1997, 1743) Durch die Verwendung von Konjunktivformen bringt ein/ e SprecherIn also beispielsweise zum Ausdruck, dass das, was er oder sie sagt, ein Wunsch ist, ob es an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, von ihm/ ihr für unmöglich gehalten wird usw. Der Konjunktiv Präteritum wird in DaF-Lehrwerken und in vielen an‐ deren Kontexten (vgl. z. B. Habermann et al. 2009, 17) u. a. als Höflich‐ keitsform eingeführt. „Der Konjunktiv II wird häufig in den Dienst der Höflichkeit genommen“ (Dudengrammatik, 521). Diese Verbform hat dem‐ nach verschiedene Funktionen: Sie wird zum Ausdruck von Wünschen verwendet, in irrealen Konditionalsätzen, in irrealen Vergleichen, zum Ausdruck von Zweifeln, in der indirekten Rede und eben, um eine Äußerung höflicher zu machen. Ein Flexionsparadigma wird in solchen Aufzählungen mit verschiedenen kommunikativen Funktionen und verschiedenen Bedeu‐ tungen in Verbindung gebracht - vor allem betrifft das den Modus der Aussage. Das klingt so, als handele es sich um eine polyseme Verbalkate‐ gorie und als sei der Ausdruck von Höflichkeit eine der kommunikativen Funktionen der Verwendung des Konjunktiv Präteritum. Das wiederum würde wohl bedeuten, dass der Verbmodus als eine grammatikalisierte Form der Kommunikation von Höflichkeit aufgefasst werden kann oder zumindest auf dem Weg zur Grammatikalisierung von Höflichkeit relativ weit fortgeschritten ist. Einer solchen Auffassung steht jedoch erst einmal die Erfahrung ent‐ gegen, dass die Verwendung des Konjunktiv Präteritum durchaus nicht immer die höflichste Variante eines Satzes determiniert. Wir hatten schon 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 96 <?page no="97"?> angesprochen, dass in sehr vielen Beispielen für die höfliche Verwendung des Konjunktivs auch andere Höflichkeitsformen verwendet werden und damit nicht klar ist, was der Modus in den Äußerungen überhaupt leistet: (7) Könnten Sie Ihr Fahrrad bitte an einer anderen Stelle abstellen? (8) Aussteigen! (8‘) Steigen Sie aus! (8‘‘) Sie würden aussteigen. (8‘‘‘) Würden Sie aussteigen? (8‘‘‘‘) Würden Sie bitte aussteigen? (7) kann - soweit man das ohne Kontext überhaupt sagen kann - als höflich aufgefasst werden, weil der direktive Sprechakt durch einen Fragesatz, also als indirekter Sprechakt realisiert wird und weil bitte und das Modalverb im Konjunktiv verwendet werden. (8) wird nicht wesentlich höflicher, wenn man nur den Konjunktiv verwendet. (8‘‘) ist auch eher ungebräuchlich, ebenso wie (8‘‘‘), wobei dieses Beispiel fast schon automatisch als Fragesatz interpretiert wird und damit ein weiteres Höflichkeitselement neben dem Konjunktiv enthält. Richtig höflich wird es erst dann, wenn man, wie in (8‘‘‘‘) den Konjunktiv mit anderen typischen Höflichkeitsformen kombi‐ niert. Vor allem aber basiert die Annahme vom Konjunktiv als grammatikalisierte Höflichkeitsform auch auf einer zu oberflächlichen Beschreibung der Be‐ deutung der Verbalkategorien. Die linguistische Diskussion hat gezeigt, dass das Verhältnis von Konjunktiv-Verwendung und Höflichkeit komplizierter und indirekter ist. Diese Erkenntnis spiegelt sich auch in den Grammatiken wider. In einer gebrauchstheoretischen Herleitung der Bedeutung der deutschen Verbalkategorien hat Radtke (1998) beispielsweise gezeigt, dass die Verwen‐ dung des Konjunktivs einer vergleichsweise einfachen Regel folgt: Die Kategorie ‚Konjunktiv‘ läßt sich über genau eine Gebrauchsregel beschreiben. Sie lautet: ‚Wenn die Aussage nicht mit behauptender Kraft geäußert werden soll, verwende den Konjunktiv.‘ Die Funktion der Konjunktivformen besteht darin, dafür zu sorgen, daß die jeweiligen Aussagen nicht behauptet werden. Die konjunktivische Aussage ist - im Gegensatz zu indikativischen Aussagen nicht Gegenstand eines Urteils bezüglich des Wahrheitswertes. (Radtke 1998, 238) 4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen 97 <?page no="98"?> Der Konjunktiv signalisiert also schlicht und einfach, dass die SprecherInnen etwas sagen, für dessen Wahrheit sie keinerlei Garantie geben können oder wollen; sie laden die HörerInnen ein, die Wahrheit der Aussage nicht an dem zu messen, was sie über die Welt wissen. Das entspricht dem, was in der GdS Modalitätskontexte genannt wird. Diese zeichnen sich dadurch aus, „daß die Proposition nicht auf das zu beziehen ist, was tatsächlich der Fall ist“ (Zifonun et al. 1997, 1744). Sie unterscheiden sich von Faktizitätskontexten. Wenn es sich bei der Aussage im Konjunktiv um einen Vergleich handelt, dann kann der Hörer auf der Grundlage der zitierten Regel schließen, dass das Vergleichsobjekt nicht an Gegebenheiten der realen Welt gemessen werden soll. Analog verhält es sich mit Bedingungen in Konditionalsätzen oder mit Aussagen in der indirekten Rede: „Alles weitere ist Ergebnis eines Schlussprozesses“ (Radtke 1998, 228). Ähnlich wird der Konjunktiv in den Grammatiken des Deutschen eingeschätzt. Weinrich führt aus: Mit seiner eingeschränkten Geltung ist der restriktive Konjunktiv auch ein wich‐ tiges Signal diskreten Verhaltens und steht häufig im Dienste der Höflichkeit. Diskret und höflich ist ein Verhalten dann, wenn man dem Gesprächspartner nicht zu nahe tritt und ihn in seinem Handlungsraum nicht zu sehr einengt. Der andere fühlt sich wahrscheinlich wohler, wenn ihm ein gewisser Spielraum des Handelns bleibt. Dieses Ziel erreicht ein Sprecher am leichtesten, wenn er dem, was er sagt, ein Signal beigibt, das die Geltung des Gesagten einschränkt. (Weinrich 1993, 257) Auch in dieser Passage wird davon ausgegangen, dass der Weg von der Verwendung des Konjunktivs zur Interpretation der Äußerung als höflich indirekt verläuft: Durch die Konjunktivform wird der Geltungsanspruch der Aussage eingeschränkt. Dies wiederum erhöht den Spielraum der HörerInnen; sie können die Wahrheit des Satzes infrage stellen, ohne die Glaubwürdigkeit der SprecherInnen zu unterminieren. Die SprecherInnen sind genau deswegen höflich, weil sie ihren PartnerInnen diese Möglichkeit einräumen. In den Beispielen (7) und (8) handelt es sich allerdings um direktive Sprechakte, bei denen der Wahrheitsgehalt der Aussage keine Rolle spielt - solche Äußerungen werden nie mit behauptender Kraft geäußert. Hier bezieht sich die Einschränkung des Geltungsanspruchs nicht auf die Wahrheit des proportionalen Gehalts, sondern auf die direktive Kraft der Aussage und auf die zugrundeliegende Annahme der SprecherInnen, dass die HörerInnen das tun werden, was sie (S) verlangen. Durch die Verwendung des Konjunktivs wird signalisiert, dass die Aufforderung nicht 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 98 <?page no="99"?> als verbindlich verstanden werden sollte und dass die HörerInnen natürlich die Möglichkeit haben, abzulehnen und zu tun, was sie in der Situation für richtig halten. Auch der Duden spricht von einem „normalen Gebrauch“ des Konjunktivs und dessen Bedeutung sowie von der Möglichkeit, dies auszunutzen, um Äußerungen höflicher zu machen: Es handelt sich beim höflichen Konjunktiv II um konventionalisierte Verwen‐ dungsweisen, die die irreale Unterstellung, die mit dem normalen Gebrauch des Konjunktivs verbunden ist, ausnutzen, um der angesprochenen Person in der Gesprächssituation einen größeren Handlungsspielraum zu verschaffen. Ernst gemeint sein muss die Abmilderung von Bitten, Aufforderungen oder Feststellungen selbstverständlich nicht. (Dudengrammatik, 521) Hier wird zusätzlich auf bevorzugte Verwendungskontexte hingewiesen, nämlich zum einen direktive Sprechhandlungen, also Fälle, in denen die SprecherInnen die HörerInnen dazu bringen möchten, etwas Bestimmtes zu tun oder zu denken (Bitten, Aufforderungen, Einladungen usw.) und zum anderen die bereits angesprochenen Feststellungen. Betont wird hier auch, dass der Konjunktiv und andere Höflichkeitsformen sich u. a. auch dadurch auszeichnen, dass sie die direktive Kraft der Äußerung natürlich nicht in jedem Fall abmildern oder dass diese Abmilderung nicht ernst gemeint sein muss. Ob PolizistInnen bei einer Verkehrskontrolle (8) oder (8‘‘‘‘) äußern, ist für die Realisierung der Aufforderung letztlich gar nicht so wichtig. Schon durch die Gegebenheiten der Situation sind beide Versionen verbindlich - eine Weigerung würde in beiden Fällen Konsequenzen nach sich ziehen. Der Unterschied liegt vielmehr auf der Beziehungsebene. Durch die höfliche Formulierung kommunizieren die PolizistInnen - neben der Aufforderung auszusteigen - auch, dass ihnen daran gelegen ist, ihre Autorität nicht auszuspielen und trotz der eindeutigen Situation die GesprächspartnerInnen als BürgerInnen mit allen damit verbundenen Rechten zu betrachten. Was aus der Perspektive der HörerInnen aufrichtig gemeint sein muss, damit die Äußerung mit Erfolg als höfliche Aufforderung realisiert werden kann, wird später noch zu diskutieren sein. Die Kommunikation von Höflichkeit gelingt hier wohl nur dann, wenn die HörerInnen an die aufrichtige Intention der SprecherInnen glauben, auf der Beziehungsebene nicht als Autorität aufzutreten. Nicht so wichtig ist es, ob die Abmilderung der direktiven Kraft für ein aufrichtiges Anliegen gehalten wird. 4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen 99 <?page no="100"?> Ähnlich verhält es sich mit verschiedenen anderen Kontexten, in denen die vorgebliche Abschwächung der illokutionären Kraft in Wirklichkeit nur eine Abschwächung der interaktionalen Verbindlichkeit ist: Zu nennen ist letztlich der ‚Modalitätskontext aus Höflichkeit‘. Hier werden im Diskurs z. B. Einstellungsbekundungen […], gesprächssteuernde Bemerkungen […], aber auch z. B. Feststellungen über Preise […] im Konjunktiv Präteritum formuliert. In diesen Fällen soll es nur so erscheinen, als wäre das Gesagte nicht faktisch. Vielmehr wird hier gleichsam über eine Abschwächung des Faktizitätsanspruches eine Abmilderung der mit der Äußerung verbundenen interaktionsbezogenen Verbindlichkeiten erreicht. (Zifonun et al 1997 1753) In dieser Passage geht es um Sätze wie (9) Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Der Konjunktiv transportiert das Bedauern über die unterlassene Hilfeleis‐ tung und die Feststellung, dass die PartnerInnen so hochgeschätzt werden, dass man gerne geholfen hätte. Fassen wir zusammen: Der Ausdruck von Höflichkeit gehört nicht zur Grundbedeutung der Verbalkategorie ‚Konjunktiv‘. Dieser stellt damit keine Höflichkeitsform im engeren Sinne und keine Grammatikalisierung von Höflichkeit dar. Wenn durch seine Verwendung Höflichkeit signalisiert werden kann, dann geschieht dies auf dem Weg einer mehr oder weniger bewussten und mehr oder weniger konventionalisierten Schlussfolgerung durch die HörerInnen, die man, grob gesagt, so zusammenfassen könnte: Die sprechende Person hat eine Feststellung (einen Aufforderungssatz) im Konjunktiv Präteritum geäußert. Damit wird normalerweise die Geltung (die direktive Kraft) des Gesagten eingeschränkt. Ich kann annehmen, dass sie diese Einschränkung vornimmt, um mich in meiner Urteilsbzw. Handlungsfreiheit möglichst wenig einzuschränken. Damit gibt sie zu verstehen, dass sie mich als InteraktionspartnerIn ernst nimmt und nicht davon ausgeht, mir in irgendeiner Weise überlegen zu sein oder hierarchisch höher zu stehen. Ich kann auf dieser Grundlage erwarten, dass wir auf der Beziehungsebene gut kooperieren können. Der/ die SprecherIn war höflich. Teilweise hat dieser Prozess auch schon zur Entstehung formelhafter Wen‐ dungen mit Konjunktiv Präteritum geführt, wie in der Dudengrammatik (521) bemerkt wird. Als formelhaft werden hier Formulierungen eingestuft wie: 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 100 <?page no="101"?> (10) Ich würde sagen/ meinen, dass … (11) Ich hätte gerne eine Gemüsesuppe. (12) Das wäre mir recht. (13) Ich hätte gern Frau Hildebrandt gesprochen. 4.3 Höflichkeitsformeln 4.3.1 Höflichkeit zwischen Grammatik und Phraseologie Die Beispiele (10) bis (13) markieren einen Übergangsbereich zwischen gram‐ matischen Formen zum Ausdruck von Höflichkeit auf der einen und den Höflichkeitsformeln auf der anderen Seite. Sie zeigen auch, dass man beides nicht klar trennen kann. Es ist etwa schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, festzustellen, ob (12) höflich klingt, weil hier der Konjunktiv verwendet wird oder weil sich genau diese Formulierung in bestimmten Kontexten als feste Wendung etabliert hat und als Satz ein Höflichkeitssignal darstellt - unabhängig von den verwendeten Formen und Lexemen. Man könnte die Frage auch so formulieren: Handelt es sich um freie Syntagmen oder festgefügte phraseologische Einheiten? In unserem Zusammenhang muss hier keine scharfe Unterscheidung getroffen werden. Wir können es dabei belassen zu sagen, dass die Beispielsätze - soweit man das ohne Kontext sagen kann - höflich sind und dass sie so etwas wie den zur Formelhaftigkeit gefrorenen Gebrauch des Konjunktiv Präteritum repräsentieren. Die Grenzen zwischen spontan gewählten Formulierungen und vorgefertigten Einheiten in Form von Mehrwortlexemen oder Phrasemen sind fließend. Die Sätze weisen Ähnlichkeiten und Analogien mit den Konstruktionen auf, die in einigen Grammatiken als Höflichkeitsformeln geführt werden. Weinrich (1993) führt im einschlägigen Unterkapitel seiner Grammatik aus: „Ausdrücklich im Dienste der Höflichkeit, sowohl in mündlichen Gesprächen als auch in Briefen, stehen die Höflichkeitsformeln bitte und danke mit ihren vielfach abgestuften Varianten zur situationsspezifischen Nuancierung der Höflichkeit“ (Weinrich 1993, 826). Zusätzlich führt er noch Entschuldigungsformeln an. In der GdS heißt es: Routineformeln wie (1) Guten Morgen! (2) Mahlzeit! (3) Guten Appetit! (4) Auf Wiedersehen! (5) Tschüß! (6) Vielen Dank! sind Höflichkeitsformen. Sie zu äußern ist höflicher als sie nicht zu äußern und die Situation nur gestisch-mimisch 4.3 Höflichkeitsformeln 101 <?page no="102"?> zu bewältigen. Es handelt sich bei diesen formelhaften Wendungen um eine relativ niedrige Stufe der Höflichkeit, sozusagen die verbale Minimalausstattung für einen höflichen Umgang miteinander. Steigerungen des Höflichkeitsgrades können zum Beispiel so erreicht werden: (7) Entschuldigen Sie bitte! (8) Ich bitte vielmals um Entschuldigung! (9) Guten Morgen, Frau Berghofer! (10) Einen schönen guten Morgen, Frau Berghofer! (Zifonun et al. 1997, 936) Neben den Entschuldigungen, die auch Weinrich angesprochen hatte, werden hier noch Grußformeln und Wünsche genannt. Auch terminolo‐ gisch und konzeptuell weist die GdS über den engeren Zuständigkeitsbereich einer Grammatik hinaus: Hier wird von Routineformeln gesprochen, und die sind eher ein Gegenstand der Phraseologie als der traditionellen Gram‐ matiken. Auch auf der Ebene von Mehrwortlexemen oder fest gefügten Einheiten lassen sich offensichtlich sprachliche Strukturen identifizieren, die mehr oder weniger direkt und mehr oder weniger eindeutig als Höf‐ lichkeitsindikatoren aufgefasst werden können oder die zumindest - wie im Bereich der Grammatik der Konjunktiv Präteritum - im Dienste der Höflichkeit stehen können. Feste Formeln stellen ein weiteres interessantes Untersuchungsobjekt dar, wenn es um die Frage gehen soll, wie Sprache, Sprachgebrauch und Höflichkeit zusammenhängen bzw. wodurch die mehr oder weniger aus‐ geprägte Höflichkeit einer Äußerung determiniert oder beeinflusst wird: Handelt es sich vor allem um eine Funktion sprachlicher Strukturen oder aber ein Zusammenwirken des Gebrauchs sprachlicher Strukturen (auch pa‐ rasprachlicher Mittel) mit Kontextfaktoren? Kann eine Auseinandersetzung mit Höflichkeitsformeln zu Antworten auf Fragen führen, die unsere Über‐ legungen über Sprache und Höflichkeit vertiefen können? Damit verbunden stellen sich diverse weitere Fragen: Ist man, wenn man Höflichkeitsformeln verwendet (anders als beim Konjunktiv oder den Anredeformen), immer höflich? Ist die Ebene der festen Redewendungen diejenige Ebene der Organisation von Sprache und Kommunikation, auf der Höflichkeit tatsäch‐ lich enkodiert/ grammatikalisiert/ lexikalisiert wurde? Was unterscheidet Höflichkeitsformeln von anderen Routineformeln? Was lässt sich über Rolle, Funktion, Effekt von Höflichkeit in der Kommunikation ableiten? Welche Mechanismen sind wichtig? Welchen theoretischen Stellenwert hat Höflichkeit für eine Sprach- und Kommunikationstheorie? Um diese Fragen wenigstens ansatzweise beantworten zu können, sollte man erst einmal genauer beschreiben, um welchen Gegenstand es eigentlich 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 102 <?page no="103"?> geht: Die Ausdrücke, die in den Grammatiken Höflichkeitsformeln oder Routineformeln genannt werden, sind in der Linguistik vor allem ein Ge‐ genstand der Phraseologie. In dieser sprachwissenschaftlichen Teildisziplin haben sich Begriffe und Methoden entwickelt, die eine fundierte Auseinan‐ dersetzung mit Höflichkeitsformeln möglich machen. Die Phraseologie (für einen Überblick vgl. Burger 2015, Burger et al. 2007 oder Donalies 2009) ist als wissenschaftliche Disziplin ein Bindeglied zwischen Morphosyntax und Lexikologie. Sie beschäftigt sich mit verschiedenen Formen von im Ge‐ brauch verfestigten sprachlichen Strukturen, also Mehrwortlexemen, festen Wendungen, Redewendungen, idiomatischen Ausdrücken, Phrasemen oder Phraseologismen - von Formen wie sowohl … als auch über Kollokationen wie das Geschirr spülen, geflügelten Worten wie […] und das ist gut so, Redewendungen wie jemandem Sand in die Augen streuen bis hin zu Sprich‐ wörtern oder auch formelhaften Texten. 4.3.2 Routineformeln und Höflichkeitsformeln In den Zuständigkeitsbereich der Phraseologie fallen auch Routineformeln; sie werden im Allgemeinen als pragmatische Phraseme, phraseologische Formeln, pragmatische Phraseologismen oder kommunikative Formeln be‐ zeichnet (für einen Überblick vgl. Lüger 1999, 29). Alle Termini beziehen sich auf festgefügte Formulierungen, die in der Kommunikation spezifische Funktionen übernehmen: „Mit ihrer Hilfe bewältigen wir immer wiederkeh‐ rende kommunikative Handlungen, die man als ‚kommunikative Routinen‘ bezeichnen kann“ (Burger 2015, 53). Für viele Kommunikationssituationen verfügen kompetente SprecherInnen über „eingespielte und bewährte Lö‐ sungsmuster zum Erreichen des jeweiligen Handlungsziels“ (Lüger 1992, 19), und diese Muster manifestieren sich sprachlich durch solche Formeln. In der Phraseologie wird davon ausgegangen, „[…] daß sprachliche Fertigteile (Wendungen, Textbausteine, Texte) in der Sprachgemeinschaft etabliert und individuell gespeichert sind, so daß sie wiederholt eingesetzt werden können, ohne Planungs- und Produktionsaufwand betreiben zu müssen“ (Stein 1995, 127); der Autor spricht auch von kognitiver Entlastung durch die Verwendung vorgefertigter und leicht abrufbarer Wortkombi‐ nationen. Die Verfügbarkeit solcher Formeln erspart SprecherInnen also ein aufwendiges Kalkül über die richtige, angemessene, effiziente Formu‐ lierung zur Erreichung eines bestimmten kommunikativen Zieles. Und sie ermöglicht es HörerInnen, ziemlich problemlos zu verstehen, was die 4.3 Höflichkeitsformeln 103 <?page no="104"?> sprechende Person sagen will. Ein Restaurantbesuch ist beispielsweise durch Routinehandlungen gegliedert, für die es wiederum sprachliche Muster gibt, die einem erfahrenen Gast bekannt sind. Die Unerfahrenheit in der Situation manifestiert sich u. a. in der Ungeschicktheit in der Verwendung von Routineformeln. Einige dieser pragmatischen Phraseme stehen in engem Zusammenhang mit Höflichkeit - sie können als kognitive Entlastung in der Beziehungsar‐ beit angesehen werden. Hyvärinen beispielsweise weist darauf hin, dass zu den Routineformeln auch die hier fokussierten Höflichkeitsformeln zählen: „Höflichkeitsformeln sind eine Untergruppe von Routineformeln“ Hyvärinen (2011, 181). Sie nennt weitere Typen von Höflichkeitsformeln: a. Grußformeln b. Abschiedsformeln c. Vorstellungsformeln d. Dankesformeln e. Entschuldigungsformeln f. Ergehensfragen g. Beileidsformeln h. Wunschformeln (z. B. (11)) i. verschiedene Typen von Entgegnungsformeln (z. B. (12)). Fleischer (1997, 130) spricht von Höflichkeitsformeln (Kontaktformeln) und nennt zusätzlich: j. Konversationsformeln (wenn ich fragen darf, bitte mal herhören) k. Tischformeln (Wohl bekomm’s, Guten Appetit) Auch für die Realisierung solcher kommunikativer Aufgaben wie die Been‐ digung einer Konversation, den Beginn eines gemeinsamen Essens oder der Bewältigung einer kritischen Situation haben sich in der deutschen Sprache vorgefertigte Lösungen herausgebildet, auf die SprecherInnen zu‐ rückgreifen können, ohne lange überlegen zu müssen. Es ist kaum überra‐ schend, dass die Typen von Höflichkeitsformeln ziemlich genau diejenigen Situationen abbilden, von denen bisher schon die Rede war: Situationen, die auf der Beziehungsebene delikat und riskant sind, also die Eröffnung und die Beendigung eines Gesprächs, die Einführung neuer TeilnehmerInnen, die Reaktion auf altruistische Handlungen des Anderen oder auf eigene Fehler, der Ausdruck eigener Ansprüche an die PartnerInnen, der Ausdruck der eigenen Einstellung zu Handlungen oder Äußerungen der PartnerInnen, 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 104 <?page no="105"?> 1 Wir bedanken uns bei Susanne Günthner, Beate Weidner und Wolfgang Imo für die Abdruckgenehmigung. das Verhalten während eines Gesprächs oder am Tisch beim Essen. Diese Situationen haben gemeinsam, dass auf der Beziehungsebene viel ausgehan‐ delt werden muss, dass bestehende Beziehungen bestätigt, neue organisiert werden müssen oder dass eben ein kommunikativer Austausch beendet und damit das Weiterbestehen der Beziehung gefährdet wird. Höflichkeitsformen in diesem Sinne sind sprachliche Mittel, die von Sprechern normalerweise verwendet werden, um sprachliche Handlungen zu vollziehen, bei denen Beziehungskonstitution oder -entwicklung das Hauptziel oder zumindest ein relevantes Teilziel darstellt. Ein höflicher Mensch fragt GesprächspartnerInnen am Anfang des Gesprächs nach ihrem Befinden, er stellt sich und eventuelle andere GesprächspartnerInnen vor usw. Wer sich für eine ihm erbrachte Leistung nicht bedankt, ist unhöf‐ lich, wer GesprächspartnerInnen nicht grüßt, ebenso. Die kommunikative Leistung von Gruß- und Vorstellungsformeln lässt sich am Beispiel von Telefongesprächen sehr gut beschreiben, weil die mediale Konstellation bestimmte Gesprächsschritte im Rahmen dieser Aktivitäten fast schon notwendig macht. Ein kurzes Beispiel ((das Telefon tutet, der Hörer wird abgenommen)) 01 J halLO? 2 B hier is beAte- 03 hallo JUlia. 04 J HAAALlo. 05 B STÖR ich grade? 06 J nee GAR nich. 07 B Okay dann is ja gut. Abb. IV.2: Beginn eines Telefongesprächs. Quelle: Gesprochenes Deutsch für die Auslandsgermanistik. https: / / daad-gda.sprache-interaktion.de/ wp-con tent/ uploads/ 2013/ 07/ 05Transkript_zum_Essen_verabreden-bearbeitet.pdf [14.12.2020]. 1 4.3 Höflichkeitsformeln 105 <?page no="106"?> Allen BeobachterInnen wird sofort klar sein, dass es sich um ein Festnetz‐ telefonat handelt, dass die beiden Sprecherinnen miteinander vertraut, viel‐ leicht sogar Freundinnen sind und dass das Gespräch in einem informellen, privaten Kontext stattfindet. Das liegt an den verwendeten Routineformeln. Es zeigt sich, „[…] dass Alltagsgespräche in ihren Anfangs- und Schluss‐ phasen rituell festgelegten Ablaufmustern folgen […]“ (Stein 1995, 53) und dass den Sprecherinnen für die Gestaltung dieser Gesprächssequenzen bestimmte kommunikative Ressourcen zur Verfügung stehen, die sie kon‐ textangemessen verwenden sollten, wenn sie ihre Gesprächsziele erreichen möchten, ohne unnötige Komplikationen hervorzurufen. Im vorliegenden Fall lassen sich unterscheiden: Sich melden/ die Ge‐ sprächsbereitschaft anzeigen (Zeile 01), Selbstidentifizierung (02), Gruß (03), Gegengruß (04) und Einleitungssequenz (05-07). Um zu signalisieren, dass man gesprächsbereit ist, ist es im Deutschen - jedenfalls bei Fest‐ netzanrufen - üblich, beim Entgegennehmen eines Anrufes den eigenen Namen zu nennen und sich damit auch gleich vorzustellen. Julia wählt hier eine etwas unkonventionellere Lösung, indem sie Hallo (mit ansteigender Intonation) sagt und auf die Nennung ihres Namens verzichtet. Man kann annehmen, dass sie entweder davon ausgeht, dass die Anruferin weiß, mit wem sie spricht, oder dass ihrer Auffassung nach die Anruferin sich zuerst vorzustellen hat. Auf jeden Fall verweist diese Eröffnung auf eine private Situation - als Repräsentantin einer Institution oder eines Unternehmens wäre die Nennung des Namens der Organisation und der Mitarbeiterin erwartbar. Im zweiten turn identifiziert sich die Anruferin. Auch hier gibt es ver‐ schiedene standardisierte Optionen, etwa: Mein Name ist…, Hier spricht …, Ich heiße …, jeweils mit Nennung von Vornamen und/ oder Familiennamen. Beate wählt auch an dieser Stelle eine einfache und informelle Formel und signalisiert damit, dass sie von einer gewissen Vertrautheit zwischen den beiden Sprecherinnen ausgeht und denkt, dass auch Julia das so sieht. Verstärkt wird das noch durch die informelle Grußformel Hallo und die Nennung des Vornamens. Damit ist ein Rahmen für das weitere Gespräch (Vorbringen des eigentlichen Anliegens usw.) abgesteckt. Mit wenigen Worten hat Beate kommunikativ einiges geleistet: Sie hat einen freund‐ schaftlich-vertrauten Ton angeschlagen, ihrer Partnerin emotionale Nähe signalisiert und einen Austausch „auf Augenhöhe“, ohne hierarchischen Unterschied eröffnet. Sie hat eine soziale Situierung für dieses Gespräch geschaffen oder besser gesagt: einen Vorschlag gemacht, wie der Austausch 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 106 <?page no="107"?> sozial strukturiert sein sollte. Feilke spricht von solchen Momenten als archimedischer Punkt des Handelns, „[…] er kann dort, wo noch nichts festgelegt ist, etwas festlegen“ (Feilke 1996, 262). Das ist hier vor allem das Resultat der Verwendung dieser speziellen Formeln, die eben dafür geeignet sind, in einem solchen Kontext genau das zustande zu bringen. Julia ratifiziert diese Vorgaben im nächsten Gesprächsschritt, indem sie ebenfalls Hallo sagt und dabei den ersten Vokal so dehnt, dass der Gegen‐ gruß auch zu einem Ausdruck der Herzlichkeit und der Freude über das Gesprächsangebot wird. Die Angerufene nimmt also Beates Vorschlag zur Gesprächs- und Beziehungskonstitution an und gibt zu verstehen, dass auch sie es für angemessen hält, das Gespräch auf dieser Ebene anzusiedeln. Die Verwendung einer unangemessenen Höflichkeitsformel wäre dagegen wohl eine Unhöflichkeit gewesen. Das zeigt zunächst einmal, dass Höflichkeits‐ formeln nur in bestimmten Kontexten und Partnerkonstellationen als solche funktionieren, ansonsten kann ihr Gebrauch auch als unhöflich qualifiziert werden. Die erfolgreiche Verwendung dieser Art von Routineformeln ist also sehr eng mit Kontextmerkmalen verknüpft. Im vorliegenden Beispiel weicht keine der beiden Beteiligten vom erwart‐ baren Verhalten ab; es entsteht keine Störung auf der Beziehungsebene. In einer ersten Annäherung kann man wohl davon ausgehen, dass Beate und Julia höflich sind - sie legen keinen übertriebenen kommunikativen Aufwand zur Beziehungsgestaltung an den Tag, machen aber diesbezüglich offensichtlich so viel, wie von der jeweils anderen erwartet wird. Beide tun sprachlich genau das, was sie in dieser Situation und in dieser Konstellation tun sollten. Sie signalisieren sich darüber hinaus eine gewisse emotionale Nähe. Höflich ist auch die Sequenz, die der Begrüßung und Vorstellung folgt. Auch ihre Funktion ergibt sich aus der Besonderheit des Mediums Telefon: Der Anrufer bricht ungefragt in die Privatsphäre des Angerufenen ein; er vollzieht eine Handlung, die als Störung der häuslichen Ruhe aufgefasst werden könnte. Deswegen ist es ratsam, die Störung zu entschärfen, indem man darauf hinweist, dass man den/ die PartnerIn keineswegs von in diesem Moment wichtigeren Tätigkeiten abhalten möchte. Hier wird das durch die explizite Frage erledigt, ob der Anruf eine Störung darstellt. Nachdem dies verneint wurde und damit abgehandelt ist, kommt die Ein‐ leitungssequenz an ihr Ende und die Anruferin kann auf ihr eigentliches Anliegen kommen. 4.3 Höflichkeitsformeln 107 <?page no="108"?> Insgesamt kann der Gesprächsauftakt zuerst einmal als gelungen einge‐ schätzt werden. Die beiden Sprecherinnen können sich problemlos auf einer informellen und vertrauten Ebene verständigen, sie haben die Grundlage für ein entspanntes, angenehmes und kooperatives Gespräch geschaffen, in dem es wahrscheinlich ist, dass jede ihre kommunikativen Ziele vorbringen und darauf hoffen kann, dass sie von der anderen wohlwollend abgewogen werden. Man müsste den weiteren Gesprächsverlauf betrachten, um dafür Bestätigung zu finden. Wenn man auch ohne diese Angaben erst einmal davon ausgeht, dass alles gutgegangen ist, dann wird auch deutlich, dass die Verwendung und das Verständnis von Routineformeln ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg waren. 4.3.3 Kommunikative und rituelle Leistungen von Höflichkeitsformeln Das Gespräch nimmt auch deswegen diesen Verlauf, weil die Sprecherinnen für die Realisierung ihrer anfänglichen kommunikativen Ziele Formeln gefunden haben, mit denen sie ihre Intention signalisieren, auf der Bezie‐ hungsebene Nähe herzustellen, dass diese Intention von der Partnerin erkannt wird und dass die damit angezeigte Beziehungsdefinition auch akzeptiert wird. Routinen lassen sich natürlich auch für andere Gesprächsphasen und -typen und auch für die geschriebene Kommunikation identifizieren. Es ist so gut wie immer wichtig, die Beziehung, in der man sich als SprecherIn zum/ zur HörerIn sieht, zu definieren oder zu entwickeln: „In nahezu allen Gesprächssituationen müssen die Partnerbeziehungen von Zeit zu Zeit bestätigt und stabilisiert werden, die Partner müssen sich wechselseitig ihrer Wertschätzung versichern, um eine Beschädigung des Images anderer zu vermeiden […]“ (Stein 1995, 200). Kiesendahl (2011, Kapitel 5) hat das z. B. an universitären E-Mails untersucht, wo Gruß- und Anredeformeln eine entscheidende Rolle für die Beziehungskonstitution und den Erfolg der Kommunikation spielen. Höflichkeitsformeln sind - wie viele andere Typen von Phrasemen - erst einmal Mittel zum Ausdruck bestimmter psychischer Zustände und Intentionen. Sie leisten aber noch mehr: Sie bewirken eine Modellierung des Gesprächskontextes und machen damit bestimmte Formen von Anschluss‐ kommunikation wahrscheinlicher oder - anders gesagt - lenken das, was in der Interaktion folgt, in eine bestimmte Richtung. Nach einer Einleitung 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 108 <?page no="109"?> wie der im hier zitierten Gespräch kann die Fortsetzung kaum in einem formellen Rahmen realisiert werden. Wenn eine der beiden Sprecherinnen plötzlich anfangen würde, sehr förmlich zu werden, dann würde das als Affront aufgefasst. […] die für den Erfolg einer sprachlichen Handlung mitbestimmenden ‚psychi‐ schen Zustände‘ der Kommunikationspartner werden in nicht geringem Maße - soweit es um sprachliche Mittel überhaupt geht - durch Phraseologismen sowohl indiziert (auf Seiten des Senders ausgedrückt, ‚angezeigt‘) als auch induziert (beim Empfänger hervorgerufen). Darin liegt eine wesentliche Komponente der pragmatischen Potenz von Phraseologismen […]. (Fleischer 1997, 218) Lüger weist darüber hinaus darauf hin, dass Routineformeln neben ihrer bereits angesprochenen Leistung auf der individuellen Beziehungsebene auch einen symbolischen Mehrwert haben, der auf die soziale Ordnung verweist, weil sie Rückschlüsse darauf zulassen, an welchen Werten sich der jeweilige Sprecher orientiert, was er für richtig hält und welcher sozialen Gruppe er sich (und seine Gesprächspartner) zugehörig fühlt: Die Realisierung der genannten Handlungsschritte erfüllt noch eine weitere wichtige Aufgabe: sie verweist auf eine bestimmte soziale Ordnung, auf die Art und Weise, wie die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft sich zueinander verhalten […]. Die Gesprächspartner bringen mit dem Einsatz der betreffenden Routineformeln zum Ausdruck, daß sie sich einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlen und die betreffende Ordnung, die jeweils geltenden Normen respektieren und aufrechterhalten. […] Für Handlungen, die in diesem Sinn über sich hinausweisen, […] wird häufig der Begriff Ritual verwendet. (Lüger 2007, 446) Vor allem für das Verständnis von Höflichkeitsformeln (und von Höflichkeit im Allgemeinen) ist dieser Aspekt (vgl. auch Lüger 1992, 23) wichtig. Wer ein Gespräch mit einer höflichen Grußformel beginnt oder wer sich für einen Fehler entschuldigt, der stabilisiert eine bestimmte Art von Kontakt mit seinen GesprächspartnerInnen Er signalisiert damit aber auch, dass er es im Prinzip für richtig und wichtig hält, dass Menschen sich am Anfang einer Begegnung als GesprächspartnerInnen anerkennen und eine gemeinsame Ebene in der Beziehungsdefinition suchen; darüber hinaus gibt er unter Umständen auch noch zu verstehen, dass er gesellschaftlich etablierte Hierarchien akzeptiert und für richtig hält. 4.3 Höflichkeitsformeln 109 <?page no="110"?> Im Falle der Entschuldigung ist das noch deutlicher: Wenn jemand sich dafür höflich entschuldigt, dass er/ sie das von einer anderen Person ausge‐ liehene Buch verloren hat, dann ist die Äußerung auch eine Anerkennung der verbreiteten Auffassung von Privatbesitz und seiner Schutzwürdigkeit sowie des Prinzips der Verantwortung: Wer einen Fehler begangen hat, der muss dafür geradestehen. Die sprechende Person unternimmt einen Versuch, eine Störung im Verhältnis zu ihren GesprächspartnerInnen zu reparieren, sie drückt aber darüber hinaus auch eine grundsätzliche Wert‐ orientierung aus. Die Entschuldigung ist eben auch eine Versicherung, dass es sich bei dem betreffenden Versehen um einen Einzelfall gehandelt hat und das Versprechen, dass der/ die SprecherIn im Normalfall auch in Zukunft den Privatbesitz respektieren und sich entsprechend verhalten wird. Kádár/ Haugh bemerken folgerichtig: „[…] politeness is arguably one of the most representive manifestations of ritual behaviour“ (Kádár/ Haugh 2013, 148). Damit wird betont, dass Höflichkeit nicht nur als Mittel betrachtet werden kann, das Individuen einsetzen, um ihre Handlungsziele in Interak‐ tionen zu erreichen und das die Kommunikation sozial situiert, sondern dass sie eben auch eine Bedeutung hat, die über die individuelle Ebene hinausweist. „Höflichkeit stellt ein wichtiges Mittel der Aufrechterhaltung der rituellen Kohärenz in sozialen Interaktionen dar“ (Bonacchi 2013, 99). Die Funktion von Ritualen liegt auch auf der kollektiven Ebene sie dienen der gesellschaftlichen Kohärenz, zur Konstituierung von sozialen Gruppen und sie signalisieren Gruppenzugehörigkeit: „Meist erneuern Rituale das Bestehende, machen Verhalten vorhersehbar und erzeugen so soziales Vertrauen und Erwartungssicherheit“ (Meyer 2014, 341). Wie andere ritu‐ elle Handlungen funktioniert Höflichkeit nur im Rahmen und auf der Grundlage einer bestimmten sozialen Ordnung, deren Anerkennung hin und wieder bestätigt werden muss. Gruppenmitglieder bekräftigen durch höfliche Handlungen und Handlungsweisen also, dass sie sich weiterhin zur betreffenden Gruppe zugehörig fühlen, die konstituierenden Werte teilen und dass sie die gruppenspezifischen Handlungsabläufe und -erwartungen als Leitlinie für ihr Verhalten sehen. Auch zum Ausdruck solcher impliziter Aussagen dienen sprachliche Si‐ gnale wie Höflichkeitsformeln oder Routineformeln im Allgemeinen. Kom‐ munikative Routinen oder Interaktionsrituale (um einmal mehr auf einen Begriff von Goffman (1986) zurückzugreifen) haben noch einen weiteren wichtigen Effekt: Sie sorgen dafür, dass das Verhalten der Interaktionsteil‐ nehmerInnen leichter kalkulierbar wird. Wenn sich jemand an die rituellen 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 110 <?page no="111"?> Regeln hält, dann ist nicht damit zu rechnen, dass er im nächsten Moment „aus der Reihe tanzen“ wird. Die in Ritualen enthaltene Verbindlichkeit einer bestimmten Art von Reaktion auf einen Impuls schließt aller Wahr‐ scheinlichkeit eine ganze Menge der potentiell unendlich vielen alternativen Reaktionsmöglichkeiten aus. Und die Befolgung des Rituals ermöglicht eine Prognose über das weitere Verhalten: Die durch Instinktreduktion in menschlicher Interaktion zum Vorschein kom‐ mende wechselseitige Kontingenz wird durch Interaktionsrituale zwar nicht beseitigt, aber doch bis auf weiteres neutralisiert. Nachdem man einander begrüßt hat, ist nicht mehr ganz unvorhersagbar, was der jeweilige Partner tun wird - man hat sich erst einmal auf ein friedliches Verhalten festgelegt. (Haferland/ Paul 1996, 42) Wenn alle an einem Gespräch Beteiligten erst einmal rituell signalisiert haben, dass sie daran interessiert sind, den Austausch auf der Grundlage der allgemein anerkannten Regularitäten zu führen, dann können alle SprecherInnen der folgenden Interaktion relativ entspannt entgegensehen. Routineformeln reduzieren also auch die Kontingenz von Situationen, sie machen Abläufe vorhersehbar. Vor allem Höflichkeitsformeln - beispiels‐ weise die im Zitat angesprochenen Grußformeln - spielen in diesem Zu‐ sammenhang eine wichtige Rolle. Wenn alle beteiligten PartnerInnen sie so verwenden, wie es für die entsprechende Situation vorhersehbar ist, dann signalisieren sie eben auch, dass sie im Prinzip darauf eingestellt sind, ein Gespräch im Rahmen der gesellschaftlichen Konventionen zu führen. Nicht umsonst wird der Ursprung von vielen Grußgesten darin gesehen, dass die InteraktionsteilnehmerInnen sich gegenseitig demonstrieren, dass sie unbewaffnet sind. Wie wichtig solche Rituale sind, kann man auch daran sehen, was passiert, wenn sie aus irgendeinem Grund verweigert oder von den Beteiligten auf unterschiedliche Weise realisiert werden sollen: In den letzten Jahren wird beispielsweise in Deutschland verstärkt darüber diskutiert, ob es akzeptabel ist, dass ein muslimischer Geistlicher sich weigert, einer deutschen Politikerin bei einem offiziellen Besuch die Hand zu reichen. Die Weigerung kann dazu führen, dass von Beginn an Irritationen auf der Beziehungsebene auftreten oder dass das Gespräch gar nicht erst begonnen wird. In wenigen Wörtern können demnach verschiedene Ebenen von Bedeu‐ tung und komplexe Handlungsmuster kondensiert sein. Höflichkeitsfor‐ meln sind dafür ein besonders eindrückliches Beispiel. Auch das lässt 4.3 Höflichkeitsformeln 111 <?page no="112"?> sich ansatzweise am Beispiel des bereits angesprochenen Telefongesprächs zeigen. Die beiden Sprecherinnen, Julia und Beate, haben sich darin zu einem Essen am folgenden Tag verabredet. Sie beenden ihr Gespräch so: 72 B gut dann zwei [UHR. ] 73 J [also wenn] das dir nich zu SPÄT is- 74 würd ich sagen [ZWEI.] 75 B [nee ] is in ORDnung. 76 gut lassen wir’s bei [ZWEI.] 77 J [oKAY.] 78 B ALles klar- 79 J wunderBAR. 80 B [bis MORgen. ] 81 J [dann bis DANN.] 82 B tschüüüss. 83 J ciao. ((Hörer wird aufgelegt)) Abb. IV.3: Ende eines Telefongesprächs. Quelle: Gesprochenes Deutsch für die Auslandsgermanistik. Auch der Austritt aus einem Gespräch ist ein Moment, der potentiell gefährlich und gesichtsverletzend ist. Wer etwa zu viel Eile oder ein zu kühles Verhalten an den Tag legt, der riskiert, dass ein weiterer Kontakt entweder gar nicht zustande kommt oder durch das für mindestens einen Beteiligten unbefriedigende Ende beziehungstechnisch belastet wird. Das wiederum könnte den Erfolg der Interaktion gefährden. Elemente, die in kaum einem Gespräch (zumal am Telefon) fehlen, sind daher Verweise auf die nächste Begegnung und Abschiedsformeln, mit denen signalisiert wird, dass die Interaktion jetzt beendet, dass aber eine Fortsetzung zu einem späteren Zeitpunkt gewünscht wird. Natürlich gibt es im Deutschen auch Leb wohl als Abschiedsformel - durch ihre Verwendung gibt die sprechende Person zu verstehen, dass sie eben keinen Wert auf eine weitere Begegnung legt. Diese Formel wird daher ausgesprochen selten verwendet und wäre in den meisten Kontexten alles andere als höflich. Die neutrale, formelle 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 112 <?page no="113"?> Höflichkeitsformel zum Abschied verweist im Deutschen dagegen explizit auf den Wunsch nach einem Wiedersehen. Beate und Julia unterstreichen gleich mehrmals, dass sie die Konversation fortsetzen oder erst richtig beginnen möchten. Nach der Verabredung für 14 Uhr am folgenden Tag, die in Zeile 78 und 79 von beiden bestätigt wird, folgt noch einmal von beiden der formelhafte Verweis darauf, dass das Gespräch hier zwar zu Ende geht, aber in naher Zukunft wiederaufgenommen wird (Zeile 80 und 81). Dann folgt die informelle Verabschiedungsformel in ihrer deutschen und italienischen Version. Das Gespräch endet so freundschaft‐ lich-herzlich und so informell, wie es begonnen hatte. Ausdrücke wie Ciao oder bis + (Zeitangabe) sind deswegen als Routine‐ formel qualifizierbar, weil sie in einem geeigneten Kontext kommunikative Leistungen vollbringen, die weit über ihren semantischen Gehalt hinaus‐ gehen. Letzteres kann kaum anders verstanden werden als ein Hinweis darauf, dass das Ende der gegenwärtigen Interaktion nah ist, dass die Interaktion auf Wiedervorlage gelegt wurde, also in absehbarer Zeit eine Fortsetzung wahrscheinlich ist und dass sich in der Zwischenzeit auf der Beziehungsebene nichts Wesentliches ändern wird. 4.4 Pragmatik der Höflichkeit 4.4.1 Höflichkeitsformeln als pragmatische Prägungen Höflichkeitsformeln sind insofern pragmatisch aufgeladen, als sie kommu‐ nikative Leistungen vollbringen, die aufgrund der wörtlichen Bedeutung der verwendeten Wörter und ihrer syntaktischen Kombination nicht unbe‐ dingt vorhersagbar sind. Sie verweisen auf Kontexte (Informalität z. B.) und bilden selbst Kontexte, indem sie Anschlusshandlungen festlegen oder einschränken. Sie sind ein Beispiel dafür, […] dass semantisch und syntaktisch wohlgeformte Ausdrücke ohne jede Ein‐ schränkung idiomatisch sein können, wenn sie hinsichtlich eines oder mehrerer pragmatischer Kontextparameter geprägt und das heißt, bereits interpretiert sind. (Feilke 2004, 49) Feilke spricht hier von pragmatischer Idiomatizität oder Fixierung und unterscheidet diesen Begriff von dem vor allem semantisch definierten Idiomatizitätsbegriff, der in vielen phraseologischen Ansätzen verwendet 4.4 Pragmatik der Höflichkeit 113 <?page no="114"?> wird: In vielen Arbeiten zur Phraseologie wird davon ausgegangen, dass idiomatische Ausdrücke entweder syntaktische oder (häufiger) semantische Irregularitäten aufweisen, dass die Bedeutung von sich einen schlanken Fuß machen oder jmdm. auf den Schlips treten nicht regulär aus der Bedeutung der verwendeten Lexeme abgeleitet werden kann - es geht eben nicht um Füße oder darum, dass jemand auf ein Kleidungsaccessoire tritt, sondern darum, dass man sich aus einer Affäre zieht bzw. jemanden beleidigt. Höflichkeitsformeln und andere Routineformeln zeigen deutlich, dass es auch auf der pragmatischen Ebene so etwas wie Idiomatizität geben kann: Solche Ausdrücke sind auf bestimmte Kontexte zugeschnitten und wirken in anderen irregulär oder unangemessen. Eine Erhellung des Zusammenhanges zwischen Kontextgegebenheiten und der Herausbildung formelhafter Ausdrücke ist ein erster Schritt zur Beantwortung der Frage, wie Sprache mit soziokulturellen Kontexten interagiert, wie sprachliche Routinen entstehen können; welcher Stellenwert der Höflichkeit dabei zukommt und wie diese in einem solchen Rahmen erklärt werden kann. Höflichkeitsformeln sind - wie andere Phraseme - also zuerst einmal so etwas wie in Sprache geronnene Routinehandlungen. Das wurde schon mehrmals angesprochen. Sie sind damit als Ergebnis rekurrenter und koor‐ dinierter sozialer Aktivitäten aufzufassen: Formelhaft sind sprachliche Einheiten, die durch Rekurrenz, d. h. durch häufigen Gebrauch, fest geworden sind oder fest werden. Aufgrund der Festigkeit im Gebrauch sind oder werden sie lexikalisiert, d. h. sie sind Bestandteile oder werden zu Bestandteilen des Wortschatzes, so daß sie von den Sprachteilhabern als fertige komplexe Einheiten reproduziert werden. (Stein 1995, 57) Diese Einheiten haben sich formal verfestigt. Die notwendige Bedingung dafür ist ihre pragmatische Leistung bzw. die Tatsache, dass sie sich in genau dieser Form als geeignete Mittel erwiesen haben, um bestimmte kommunikative (hier: soziale) Effekte zu erzielen. Die Konsequenz aus dieser Fixierung ist die oben beschriebene pragmatische Aufladung der Einheiten. Die Eigenschaften, die bestimmte Formeln zu Höflichkeitssignalen machen, haben also wenig mit den syntaktischen und semantischen Charakteristika der verwendeten Lexeme zu tun - es handelt sich vielmehr um Eigen‐ schaften, die nur mit Rückgriff auf pragmatische Prozesse beschreibbar sind. Feilke nennt solche Einheiten Ausdrücke und unterscheidet sie von Wörtern. Die beiden Termini beschreiben unterschiedliche Aspekte von sprachlichen Einheiten, sie sind also komplementär zu verstehen. Der Terminus Wort 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 114 <?page no="115"?> bezieht sich auf diejenigen Eigenschaften des Zeichens, die seine Integration in Syntagmen ermöglichen und es in grammatischen Kategorien erfassbar machen. Der Ausdruck dagegen umfasst das Wort und die Geschichte seines Gebrauchs, insofern als sie sich in Gebrauchsregularitäten manifestiert: Der Ausdruck […] sichert die externe Passung des Sprechens zu den erfolgreichen und bestätigten semantischen Koorientierungen in der Verwendung hin. Er ‚schafft und verkörpert‘ Bedeutungen […]. Die Gestaltqualität des Ausdrucks sichert die Anschließbarkeit an vorgängige pragmatische und semantische Koor‐ ientierungen. (Feilke 1996, 68) Wenn man diese Unterscheidung ernst nimmt und teilt, dann kann man ausschließen, dass sprachliche Strukturen wie Wörter oder Wortverbin‐ dungen Höflichkeitsformeln sein können. Um als solche fungieren zu können, müssen sie sich in einem bestimmten Kontext befinden und auf vorgängige Verwendungen verweisen. Einerseits lässt sich so die Tatsache erklären, dass Höflichkeitssignale auch unhöflich sein können - wenn sie nämlich in einem ungeeigneten Kontext verwendet werden oder einen ungeeigneten Kontext herstellen, wie ein Guten Tag, Frau Becker im oben angesprochenen Beispiel. Andererseits führt diese Bestimmung zur Bestä‐ tigung der Annahme, dass Höflichkeit nur ein kontextuell determiniertes Phänomen sein kann - ohne Einbeziehung der Gebrauchsregularitäten und der Handlungskontexte ist keine linguistische Erklärung von sprachlicher Höflichkeit möglich. Höflich sein heißt also sehr viel mehr als bestimmte Formeln zu verwenden bzw. verbale (oder auch nonverbale) Handlungen zu vollziehen. Hypothetisch kann man annehmen, dass Höflichkeitsformeln - wie andere Phraseme - als Lösungen für bestimmte kommunikative Problem‐ stellungen entstanden sind, sich da bewährt haben, von weiteren Sprechern aufgegriffen wurden und dass sich ihr Gebrauch dadurch verfestigt hat: „Phraseme sind Produkte gemeinsamer Handlungen“ (Donalies 2009, 38). Fleischer begreift ihre Herausbildung als „Spezialfall sekundärer Nomina‐ tion“, sie seien insbesondere „durch die kommunikative Sphäre der Sprache dominiert“ (Fleischer 1997, 163). Als Effekt kommunikativer Akte würde dieser Auffassung gemäß also ein Prozess der Zeichenbildung einsetzen, der sich auf bereits etablierte Zeichen bezieht. Ein Wort bekommt im Verlauf dieser sekundären Semiose beispielsweise eine zusätzliche oder auch neue Bedeutung. Das klingt allerdings so, als könnte die Arbitrarität der primären Zeichenbildung auf die sekundäre übertragen werden. 4.4 Pragmatik der Höflichkeit 115 <?page no="116"?> Andere Autoren betonen dagegen stärker die Dynamik der Herausbil‐ dung von Routineformeln und anderen Phrasemen und die - alles andere als arbiträre - Rückbindung an bestimmte Gegebenheiten der Kommunika‐ tionssituation und der Sprecherintentionen. Filatkina etwa beschreibt die „Habitualisierung des sprachlichen Handelns durch den Mechanismus der idiomatischen Prägung“ (Filatkina 2007,139) und bezieht sich dabei direkt auf einen maßgeblich von Feilke entwickelten Begriff. Idiomatische Prägung beschreibt die Ausdrucksbildung als Ergebnis der Wechselwirkung von Äußerungen, deren Effekten und Kontexten im oben angedeuteten Sinne. Es handelt sich um den Prozess, der Wörter zu Ausdrücken macht. Für die Zwecke der Diskussion um Höflichkeitsformen und -formeln ist dieser Begriff auch deswegen von Vorteil, weil er sowohl Grammatikalisierung als auch Lexikalisierung umfasst (vgl. Feilke 1996, 187) und es damit möglich macht, die Gemeinsamkeiten grammatischer Höflichkeitsformen und phraseologischer Strukturen zu analysieren. Prägung kann in der Tat Wörter, Wortbildungen und grammatische Strukturen betreffen. Ein berühmt gewordenes Beispiel von Feilke ist Trinker: Wenn man die Ana‐ lyse auf die Gebrauchsregeln für das Wort und die Regeln der deutschen Wortbildung beschränkt, dann müsste es sich um eine Person handeln, die irgendwo, irgendwann, irgendwas trinkt. Das ist aber nicht der Fall. Durch die Gebrauchsgeschichte ist das Wort zu einem Ausdruck geworden, der sich auf eine Person bezieht, die regelmäßig alkoholische Getränke in größerem Ausmaß zu sich nimmt und dessen Verhalten pathologische Züge hat. Nach dem gleichen Mechanismus ist Leb wohl zu einer Formel geworden, die einen endgültigen Abschied einleitet. Je nach Gestalt der geprägten Ausdrücke lassen sich syntaktische, seman‐ tische und pragmatische Prägungen unterscheiden. Höflichkeitsformeln wie die in diesem Kapitel angesprochenen gehören zur letztgenannten Kategorie (der Terminus Höflichkeitsformeln wird von Feilke aber nicht verwendet). Diese lässt sich weiter unterteilen. Eine Unterklasse bilden dabei die sozialen Prägungen; deren Gestalt wurde durch die Notwendigkeit geprägt, in Kommunikationssituationen die sozialen Verhältnisse zwischen den Beteiligten zu organisieren und die Orientierungen zum Ausdruck zu bringen: „Jede Kommunikation beruht also zunächst auf einer sozialen Strukturierung der Situation“ (Feilke 1996, 273). In diesem Zusammenhang kommt Höflichkeitsformeln eine herausragende Bedeutung zu. Als soziale Prägungen sind sie „institutionalisierte Formen sozialer Integration […], bei 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 116 <?page no="117"?> denen auch die soziale Etikette eine außerordentlich wichtige Rolle spielt […]“ (Feilke 1996, 277). Höflichkeitsformeln lassen sich demnach als syntaktisch und seman‐ tisch wohlgeformte Ausdrücke auffassen, die aus einem oder mehreren Lexemen bestehen können und deren kommunikative Leistung darin liegt, dass sie die jeweilige Interaktion sozial strukturieren oder dass sie - um die oben gewählten Begriffe aufzugreifen - die Beziehungen zwischen den Beteiligten organisieren bzw. beziehungsrelevante Orientierungen der SprecherInnen zum Ausdruck bringen. Sie haben dieses kommunikative Potential „erworben“, weil sie von anderen SprecherInnen in analogen Situationen mit analogen Zielen erfolgreich verwendet worden sind. Es hat sich beispielsweise bewährt, einen Brief mit Mit freundlichen Grüßen zu schließen, wenn es sich um ein eher förmliches Schreiben an einen Adressaten/ eine Adressatin handelt, mit dem/ der die ScheiberInnen nicht besonders vertraut sind oder zu dem/ der sie eine gewisse soziale Distanz sehen bzw. herstellen wollen. In die Entscheidungen der SprecherInnen, in solchen Kontexten eben diese Formel zu verwenden, sind auch die Erfor‐ dernisse der Etikette eingeflossen - das Wissen der SprechteilnehmerInnen um in der Gesellschaft akzeptierte Normen und Wertorientierung (etwa über Form und Bedeutung von Hierarchien in einer Gesellschaft). Höflich sein heißt dann nicht, sich ständig an kodifizierten Höflichkeitsnormen zu orientieren und abzuwägen, welche Vorschrift in der aktuellen Situation angewendet werden muss. Allerdings stellt die Etikette eines der Elemente dar, die auf die geeigneten sprachlichen Mittel zum Ausdruck von Höflich‐ keit eingewirkt haben, also ein prägender Faktor waren. Die Beispiele haben darüber hinaus bestätigt, dass die Verwendung von Höflichkeitsformeln auch die Kraft hat, die Kommunikationssituation zu be‐ einflussen oder dass sie sozial kreativ sind. Beziehungsstiftend kanalisieren sie das, was in der Interaktion folgt. Die Antwort auf einen Brief, der mit Mit freundlichen Grüßen schließt, wird aller Wahrscheinlichkeit nach anders ausfallen als die auf ein Schreiben, das der Autor mit LG ausklingen lässt. Auch das ist ein Resultat der Prägung solcher Ausdrücke: […] wichtig, daß Ausdrücke wie ‚Hallo! ‘, ‚Mach’s gut! ‘, ‚Lebe wohl! ‘, ‚Das tut mir leid! ‘, ‚Entschuldigen Sie bitte! ‘, ‚Nichts für ungut! ‘, ‚Was fällt Ihnen ein? ‘, ‚Ich liebe dich! ‘ jeweils soziale Beziehungen in einem bestimmten Sinne strukturieren. Sie sind kraft ihrer Prägung sozial kreativ. Indem man sie äußert, legt man zugleich eine soziale Situation fest für diejenigen, die die Prägung kennen, und 4.4 Pragmatik der Höflichkeit 117 <?page no="118"?> das heißt in der Regel auch, daß bestimmte Reaktionsmöglichkeiten obligatorisch sind. (Feilke 1996, 276) Höflich sein heißt in diesem Sinne also nicht nur eine Art vorgegebenes Protokoll verfolgen, sondern ist auch als sozial produktive Aktivität zu verstehen: Wer höflich ist, steuert dadurch auch die Reaktionen der anderen Beteiligten. Er wirkt auf die Kommunikationssituation ein und schafft Erwartungen an die folgenden Handlungen. Ob eine kommunikative Hand‐ lung folgender SprecherInnen in der Interaktion als höflich aufgefasst wird oder nicht, misst sich nicht nur an den verwendeten sprachlichen Formen, sondern auch an dem, was vorher gesagt wurde. Und andererseits: Der Grad an Höflichkeit, der einer Äußerung zugeschrieben werden kann, ist ohne eine Analyse der Anschlusshandlungen, in denen sich zeigt, wie die Handlungen von HörerInnen aufgenommen wurden, nicht bestimmbar. Die Betrachtung von Höflichkeitsformeln als idiomatische Prägungen erfasst die Dynamik und die Komplexität solcher Formeln. Es handelt sich um einen pragmatischen Blick auf das Phänomen, weil es die sprachlichen Formen in ihrer Abhängigkeit von Kontextfaktoren analysiert. Der Ansatz ist beschreibungsadäquat und eröffnet auch zahlreiche Möglichkeiten für Erklärungsversuche. Beschreibungsadäquat heißt in diesem Fall, dass die Tatsache einbezogen wird, dass auch die formal höflichste Höflichkeits‐ formel nur in geeigneten Kontexten als solche fungieren kann. Erklärungs‐ potential besitzt der Ansatz, weil diese Besonderheiten über den Verweis auf vorgängige Verwendungen und das Konzept der idiomatischen Prägung in einen größeren Zusammenhang (u. a. auch mit grammatischen Höflich‐ keitsformen) gestellt werden und weil so gezeigt werden kann, welche Mechanismen und Dynamiken auf Wörter oder Wortkombinationen ein‐ wirken müssen, damit diese zu geprägten Ausdrücken mit einer bestimmten kommunikativen Leistung werden können. Die Analyse von Höflichkeitsformeln als soziale Prägungen und damit als Spezialfall von pragmatischen Prägungen, unterstreicht die Bedeutung von Höflichkeit für die Aufnahme, die Strukturierung, die Modellierung, Entwicklung oder auch Beendigung von sozialen Beziehungen und die rituelle Bestätigung sozialer Werte. Das Vorhandensein und die Verwendung von speziellen Höflichkeitsformeln für genau diese Momente der Interak‐ tion verweist auf die Annahme, dass SprecherInnen hier die Notwendigkeit gesehen haben und sehen, mehr oder weniger standardisierte Lösungen für kommunikative Problemstellungen zu entwickeln und dass die Sprach‐ 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 118 <?page no="119"?> gemeinschaft diesen einen hohen Grad an Verbindlichkeit hat zuwachsen lassen. Daraus lässt sich die Vermutung stützen, dass die Kernbereiche der sprachlichen Höflichkeit genau die Situationen sind, in denen sich Höflichkeitsformeln herausgebildet haben. Das Konzept der idiomatischen Prägung scheint eine geeignete Grundlage für den Versuch zu sein, die linguistische Auseinandersetzung mit sprachli‐ cher Höflichkeit sprachtheoretisch zu untermauern und die Relevanz von Höflichkeit für kommunikative Prozesse besser einschätzen zu können. Es ermöglicht eine Anbindung der Diskussion um sprachliche Höflichkeit an linguistische Kategorien, indem es Höflichkeit, verstanden als soziale Strukturierung der Situation, als eine Motivation der Ausdrucksbildung beschreibbar macht. Der Zusammenhang von Höflichkeit und sprachlichen Strukturen lässt sich an diesem Punkt schon etwas besser charakterisieren als es auf der Grundlage der Grammatiken möglich war. Es zeigt sich, dass Höflichkeits‐ formeln erst einmal zum Vollzug von sprachlichen Handlungen gebraucht werden, die beziehungsunterstützend sind und damit in der Interaktion als höflich eingestuft werden, beispielsweise, um jemandem zu gratulieren oder zu kondolieren. Außerdem bewirken die Formeln, dass andere Handlungen mehr oder weniger höflich ausfallen können, etwa ein Gruß oder eine Verabschiedung. Der Grad an Höflichkeit hängt dabei von der Erfüllung der wechselseitigen Erwartungen von SprecherInnen und HörerInnen in Bezug auf Beziehungsarbeit ab. Andererseits stellt sich Höflichkeit auch als soziale Kategorie dar, die auf die Sprache einwirkt, zur Herausbildung, Bedeutungsverschiebung oder Spezialisierung von morphosyntaktischen, lexikalischen oder phra‐ seologischen Strukturen führt. Höflichkeit ist in diesem Sinne sprachlich produktiv. Sprachliche Höflichkeit kann nicht auf der Ebene von Wörtern und gram‐ matischen Strukturen angesiedelt werden, ist aber trotzdem ein relevanter Gegenstand für linguistische Ansätze, die Sprache und Sprachgebrauch in ihrem Abhängigkeitsgefüge betrachten wollen. Die linguistischen Phä‐ nomene, die als Höflichkeitsindikatoren infrage kommen, können aber nicht auf der Ebene des Wortes oder des Satzes analysiert werden. Höflich oder unhöflich können vielmehr nur Ausdrücke und Äußerungen in ihrem Handlungszusammenhang sein: 4.4 Pragmatik der Höflichkeit 119 <?page no="120"?> Pragmatische Prägungen haben performativen Charakter, das heißt, sie sind als Handlungen beziehungsweise Handlungssegmente geprägt. Pragmatisch haben die entsprechenden Ausdrücke den Status von Äußerungen, oder aber sie lassen sich zumindest als Äußerungen explizieren. Sie indizieren deshalb in erster Linie Handlungsschemata des Sprechens selbst, die auf verschiedene Problemdimensi‐ onen sprachlichen Handelns bezogen werden können. (Feilke 1996, 265 f.) Eine weitere zentrale Bezugsebene für die linguistische Auseinandersetzung mit sprachlicher Höflichkeit könnten daher höfliche Sprechakte wie Kom‐ plimente und Komplimenterwiderungen (ein sehr interessantes und breit diskutiertes Thema, vgl. z. B. Alfonzetti 2009, Castagneto/ Ravetto 2015, Ehrhardt/ Müller-Jacquier 2017, Grein 2008, Manes/ Wolfson 1981, Mulo Farenkia 2004 und 2005, Probst 2003) Entschuldigungen, Dank usw. sein. Leider kann das hier nicht vertieft werden. 4.4.2 Höflichkeit als Stil Anregend ist in diesem Kontext der von Lüger (2002) eingeführte Begriff der ‚Höflichkeitsstile‘. Denn das Konzept des Stils als bewusste sprachliche Gestaltungsform ermöglicht, sprachliche Einzelphänomene, die von gram‐ matischen Realisierungen von Sprechakten über Partikelverwendungen bis hin zu Direktheitsgraden und merkmalsübergreifenden Gesprächsprak‐ tiken und Modalitäten reichen können, zu einer übergeordneten Bedeutung zu integrieren. Fassbar wird sprachliche Höflichkeit damit auch als eine übergreifende, textuelle Erscheinung (so Lüger 2002, 22). Dies hat Lüger an Beispielen von Behördenkommunikation, aktuellen Fernsehformaten und vor allem an Beispielen literarischer Texte, vor allem von Fontane, gezeigt (2010, 2011), wo der Ausdruck von Höflichkeit als übergreifendes, stilbildendes Element der Personencharakterisierung verwendet wird. Seine Schlussfolgerung lautet: Feste Bedeutungszuschreibungen potentiell höflichkeitsrelevanter Ausdrücke gehen an der Realität vorbei. Abschwächungs- oder Verstärkungseffekte ergeben sich immer nur relativ zur Interaktionssituation, zur Redekonstellation und zum sprachlichen Kontext. Eine ‚Höflichkeitssprache‘ gibt es insofern nicht. (Lüger 2010, 275) Hier bietet sich die Verbindung mit den Stilbegriffen der pragmatischen Stilistik an, vor allem mit dem Begriff des ‚Textstils‘ bei Sandig (1986) und 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 120 <?page no="121"?> Fix/ Poethe/ Yos (2003), die die Intentionalität textuellen Sprachhandelns und den Bedeutungsgehalt von Textstilen über die referentielle Ebene hinaus im Hinblick auf Selbstdarstellung und Beziehungsgestaltung hervorheben. Dabei ergibt sich wiederum eine Verbindung zu den noch näher zu behan‐ delnden Ansätzen von facework und relational work. Ein Stilkonzept kann der Dynamik und dem Wandel des Sprachgebrauchs Rechnung tragen und schließlich auch die Vielfalt unterschiedlicher Aus‐ drucksweisen sprachlicher Höflichkeit differenzieren und soziopragmatisch ordnen. 4.5 Zusammenfassung Das Verhältnis zwischen Sprache und Höflichkeit ist komplex und viel‐ schichtig. Man kann kaum höflich sein, ohne zu sprechen. Es gibt aber keine sprachlichen Formen, deren Hauptfunktion darin besteht, Höflichkeit zum Ausdruck zu bringen. Höfliche SprecherInnen können sich vielmehr einer ganzen Reihe von morphosyntaktischen, lexikalischen, phraseologischen und stilistischen Formen bedienen bzw. bestimmte Sprechhandlungen auf eine bestimmte Weise vollziehen, wenn sie erreichen wollen, dass ihr Agieren für höflich gehalten werden. In diesem Kapitel sind wir davon ausgegangen, dass die in Grammatiken des Deutschen genannten Formen mit dieser Funktion ein guter Ausgangspunkt für Überlegungen zur sprach‐ lichen Höflichkeit sind. Bei den meisten hier erwähnten Formen handelt es sich um Konstruk‐ tionen, deren Hauptbedeutung erst einmal nichts mit Höflichkeit zu tun hat. Sie dienen in erster Linie zum Ausdruck der Hörerdeixis, von Modalität, des Verhältnisses zwischen zwei Propositionen oder ähnlicher kommunika‐ tiver Anliegen. HörerInnen und BeobachterInnen müssen die Intention der SprecherInnen, höflich sein zu wollen, erst durch Schlüsse ableiten, indem sie beispielsweise von der Einräumung von eigenen Handlungsspielräumen durch die SprecherInnen darauf schließen, dass diese höflich sein wollten. Viele dieser Schlüsse sind zu Konventionen geworden. Regelmäßigkeiten im Sprachgebrauch haben Sprache geformt oder geprägt. Eine der rele‐ vanten Regelmäßigkeiten ist offensichtlich der Wunsch, höflich zu sein. Für viele Situationen haben sich Routinen herausgebildet, die es erlauben, das betreffende Handlungsmuster höflich zu bewältigen. Formen wie der Kon‐ junktiv Präteritum, einige Modalverben oder einige Lexeme sind zu relativ 4.5 Zusammenfassung 121 <?page no="122"?> verlässlichen Höflichkeitsindikatoren geworden, ohne jedoch notwendige oder hinreichende Bedingungen dafür zu werden, dass eine höfliche Äuße‐ rung entsteht. Für diverse Routinen gibt es darüber hinaus Ausdrücke, die für deren Zwecke geprägt worden sind. Das heißt u. a., dass sie einen impliziten Verweis auf Verwendungskontexte „inkorporiert“ haben und deswegen nur dann tatsächlich als höflich eingeschätzt werden, wenn Sprecher sie in entsprechenden Kontexten wiederverwenden. Höflich sind also nicht Wörter, Syntagmen oder Sätze, sondern Aus‐ drücke und Äußerungen. Das verweist auch darauf, dass sie in einem Handlungskontext stehen müssen. Es kann sich um Handlungen handeln, deren Hauptziel es ist, Beziehungsarbeit zu realisieren (wie im Falle der Komplimente) oder um Handlungen, die auf andere illokutionäre Zwecke abzielen, bei deren Vollzug die SprecherInnen aber zu verstehen geben, dass sie u. a. auch das Ziel verfolgen, die Beziehung zu den HörerInnen zu unterstützen oder zumindest nicht zu gefährden. Das Vorhandensein von einschlägigen sprachlichen Mustern bestätigt die Intuition, dass Höflichkeit ein wichtiger Bestandteil der Kommunikation ist und eine gewisse Bedeutung für die soziale Situierung von kommunikativen Handlungen hat. Der Überblick über die in Grammatiken am häufigsten genannten sprachlichen Formen der Realisierung von Höflichkeit deutet darauf hin, dass diese eindeutig mit der Gestaltung von Beziehungen in Verbindung gebracht werden muss. Die Diskussion hat zu der Hypo‐ these geführt, dass Höflichkeit darin besteht, zwischen InteraktantInnen eine beiderseitig akzeptierte Definition ihrer Beziehung zum Ausdruck zu bringen und zu konstituieren. Die SprecherInnen machen einen Definitions‐ vorschlag, und dieser wird als höflich aufgefasst, wenn er der Auffassung der HörerInnen entspricht oder wenn die HörerInnen sich darauf einlassen können. Es ist nicht möglich, eine Beziehung zu GesprächspartnerInnen aufzu‐ nehmen, ohne auch etwas über die eigene Auffassung von der Natur dieser Beziehung verlauten zu lassen - schon in der notwenigen Wahl eines deiktischen Ausdruckes, also in der elementarsten Form der Aufnahme eines kommunikativen Austausches, liegt ja eine Aussage zur Beziehung. Spreche‐ rInnen könnten dabei keinerlei Rücksicht auf die anzunehmende Einstellung oder die Sensibilität der HörerInnen nehmen; dann wären sie unhöflich. Das führt aller Wahrscheinlichkeit nach dazu, dass die HörerInnen kaum ein 4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen 122 <?page no="123"?> Interesse daran haben werden, den Kontakt über das unbedingt notwendige Maß hinaus fortzusetzen. Sobald SprecherInnen aber signalisieren, dass sie eine Beziehungsdefini‐ tion im beiderseitigen Einvernehmen anstreben, sind sie höflich. Je mehr sie für diese Abstimmung und die Bekanntgabe ihres Entgegenkommens tun, umso höflicher werden sie. Höflichkeit ist damit kein notwendiger Bestandteil von Kommunikation, aber ein wichtiger Bestandteil von erfolg‐ reicher und effizienter Kommunikation. Für eine vertiefende sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Höflichkeit ist es also entscheidend, genauer zu bestimmen, wie Höflich‐ keit, Kommunikation und Beziehungsarbeit zusammenhängen, was unter effizienter Kommunikation zu verstehen ist und welcher Stellenwert der Höflichkeit dabei genau zukommt. Es stellt sich die Frage, ob und wie Höf‐ lichkeit in einem Modell von Kommunikation verankert werden kann. Erst wenn auf diese Weise eine theoretisch haltbare Definition von Höflichkeit abgeleitet werden kann, wird es möglich sein, diejenigen Phänomene zu bestimmen, die dann den Gegenstand von empirischen Untersuchungen über sprachliche Höflichkeit sein können und müssen. Einer solchen theo‐ retischen Herleitung ist das folgende Kapitel gewidmet. 4.5 Zusammenfassung 123 <?page no="125"?> 5 Höflichkeit und Kommunikation: (Sprach-)wissenschaftliche Grundlagen der Höflichkeitsforschung 5.1 Einleitung Im Kapitel über Sprache und Höflichkeit sind wir immer wieder auf die Verbindung von Höflichkeit und Beziehungsgestaltung gestoßen. Höflich‐ keit wurde als eine Form des Aufbaus, der Pflege, der Entwicklung von menschlichen Beziehungen bezeichnet. Der Begriff ‚Beziehung‘ wurde als Erklärungsinstanz für die Verwendung der Formen sprachlicher Höflichkeit und für ihre Herausbildung herangezogen. ‚Beziehung‘ ist aber kein genuin sprachwissenschaftlicher Begriff und Beziehungen sind ein Phänomen, das erst einmal wenig mit Sprache und Sprachgebrauch zu tun hat. Sowohl der Begriff als auch das Phänomen gehören eher in die Psychologie oder die Soziologie. Das sieht auf den ersten Blick so aus, als wollten LinguistInnen entweder in den Zuständigkeitsbereich anderer Wissenschaften eindringen oder aber ein wissenschaftliches Problem ihrer Disziplin, mit dem sie nicht mehr so richtig zurande kommen, einfach mit einem Verweis auf Begriffe aus anderen Wissenschaften erklären. Wenn ‚Beziehung‘ nicht als sprachwissenschaftlicher bzw. kommunikationswissenschaftlicher Begriff etabliert werden könnte, dann läge es nahe zu sagen, dass Höflichkeit auch kein Problem für sprachwissenschaftliche Arbeiten ist, dass man sie zumindest nicht mit sprachwissenschaftlichen Begriffen und Methoden beschreiben, analysieren und erklären kann. In der Tat gibt es in der Linguistik Schulen, die es ablehnen, sich mit aus dieser Perspektive - um es etwas zugespitzt auszudrücken - so diffusen, vagen Begriffen wie ‚Höflichkeit‘ oder eben ‚Beziehung‘ zu befassen und sich stattdessen auf die harten Fakten, etwa der Phonologie oder der Syntax konzentrieren. Dagegen spricht u. a., dass - wir hatten es gesehen - auch manche grammatische Phänomene schwer erklärbar sind, wenn man Verweise auf Höflichkeit ablehnt, und dass - auch das war ein Ergebnis von Kapitel 4 - Höflichkeit und Beziehungsorganisation durchaus auf <?page no="126"?> harte sprachliche Fakten einwirken und damit eine gewisse Erklärungskraft beanspruchen können. Unter anderem deswegen gibt es in der Sprach- und Kommunikations‐ wissenschaft auch durchaus Traditionen, die die Beziehungsbegrifflichkeit (unter Verwendung unterschiedlicher Termini) in ihre Theoriebildung ein‐ binden und damit einen Bezugsrahmen für theoretische Überlegungen zur sprachlichen Höflichkeit darstellen können (vgl. z. B. Holly 1979, Adamzik 1984 oder die Beiträge in Linke/ Schröter 2017). In diesem Kapitel werden wir in der gebotenen Kürze einige wichtige Ansätze vorstellen, die eine solide theoretische Grundlage für Arbeiten zur Höflichkeit bieten können. Insbesondere sind sie dazu geeignet zu zeigen, was genau Höflichkeit ist, in welcher Verbindung sie mit Beziehungsarbeit und ähnlichen Phänomenen steht, welche Funktionen sie in der Kommunikation erfüllt und wie man erklären kann, dass SprecherInnen (und vor allem HörerInnen) Wert auf Höflichkeit legen. In den vorangegangen Kapiteln ist schon angeklungen, dass es sich bei der Höflichkeit um ein vielschichtiges und kompliziertes Phänomen han‐ delt. Höflichkeitskonventionen haben sich im Verlauf der Kulturgeschichte ausdifferenziert und entwickeln sich in Interdependenz mit anderen gesell‐ schaftlichen Tendenzen ständig weiter. Haferland/ Paul (1996) unterscheiden drei evolutionäre Stufen in der Herausbildung dessen, was wir heute unter ‚Höflichkeit‘ verstehen. Sie betonen, dass die Komplexität der gegenwär‐ tigen Situation u. a. dadurch bedingt ist, dass die drei Stufen sich nicht gegenseitig ersetzt oder verdrängt haben, sondern dass sie vielmehr alle immer noch präsent sind. Die erste Stufe nennen sie „elementare Höflichkeit“ (Haferland/ Paul 1996, 27 f.). Darunter wird vor allem die Verwendung von Routinen und Routineformeln verstanden, wie sie in Kapitel 4 diskutiert wurden. Bei Haferland/ Paul wird der Einsatz solcher Formen in der Interaktion als vorhersehbares, ritualisiertes Verhalten analysiert, dessen Ausbleiben als unhöflich erlebt wird. Wer auf einen Gruß nicht mit einem Gegengruß ant‐ wortet, der verhält sich unangemessen und wird von anderen als unhöflich angesehen. Diese Stufe scheint so etwas wie eine unschuldige, interesselose Urform von Höflichkeit zu sein, in der Menschen ihren Mitmenschen mehr oder weniger instinktiv die Behandlung zukommen lassen, die dem weiteren kommunikativen Austausch am dienlichsten ist und von dem sie erwarten, dass es auch ihnen selbst gegenüber an den Tag gelegt wird. Wir befinden uns hier auf der Ebene von Bräuchen und Sitten. 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 126 <?page no="127"?> Die zweite Stufe fällt mit dem zusammen, was in Kapitel 2 als Etikette thematisiert wurde. Man könnte auch an Protokolle denken, die etwas im di‐ plomatischen Dienst das Verhalten der Individuen regeln. Diese Stufe heißt „kodifizierte Höflichkeit“. Sie besteht aus einem „System von elaborierten Regeln, die bestimmten Situationen und/ oder bestimmten Personenkreisen vorbehalten sind“ (Haferland/ Paul 1996, 28). Dieses System berücksichtigt Statusunterschiede und wird typischerweise erst in sozial stratifizierten Gesellschaften ausgeprägt, wo eine Konventionalisierung des Verhaltens im Sinne der Aufrechterhaltung der sozialen Struktur wichtig wird. Auch hier fällt das Vorhandensein der Konvention erst auf, wenn erwartbare Interaktionsbeiträge unterlassen werden. Die dritte Stufe schließlich ist die „reflektierte Höflichkeit“. Sie gilt einem/ einer PartnerIn als Individuum und nicht seinem oder ihrem sozialen Status. Reflektierte Höflichkeit ist wohl in etwa das, was Goethe in den Wahlverwandtschaften als „Höflichkeit des Herzens“ bezeichnet hat: „Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußeren Betragens“ (Goethe 1809/ 2006, 432). Hier geht es nicht um die Befolgung von standardisierten Handlungsabläufen, sondern um eine Einstellung der SprecherInnen oder, besser gesagt, der Vermittlung einer Einstellung. Für reflektierte Höflichkeit gilt: „Sie geht merklich über das hinaus, was erwartet werden kann, und ist deshalb freiwillig und bedarf einer bestimmten Initiative. Sie wird nicht ex negativo erkennbar, sondern fällt positiv auf “ (Haferland/ Paul 1996, 31). Wer reflektierte Höflichkeit praktiziert, der weiß und kann mehr als die einfache Wiederholung früher bewährter Formeln - höflich sein erfordert in diesem Verständnis eine gewisse kommunikative Kompetenz. Auch das kann als Indiz dafür aufgefasst werden, dass es sich lohnen könnte, sich mit sprachwissenschaftlichen Begriffen der Höflichkeitsforschung ausein‐ anderzusetzen. Die Autoren weisen darauf hin, dass auf diesem Niveau Höflichkeit leicht mit Freundlichkeit oder Liebenswürdigkeit verwechselt werden könnte. Auf der Grundlage der Ausführungen in Kapitel 4 lässt sich aber festhalten, dass es hier einen wichtigen Unterschied gibt: Von Höflichkeit kann nur dann die Rede sein, wenn die betreffenden Äußerungen auf ritualisierte und konventionalisierte Verhaltensformen verweisen. Der Interaktionsbe‐ reich, in dem Höflichkeit überhaupt auftreten kann, wird also weitgehend eingeengt auf den Bereich, der (in Kapitel 4) als Kernbereich der Höflich‐ keit beschrieben wurde, denjenigen nämlich, in dem sich Routineformeln 5.1 Einleitung 127 <?page no="128"?> und andere konventionalisierte Formen von höflichem Verhalten etabliert haben. Hier deutet sich ein Unterschied zum viel allgemeineren und vageren alltagssprachlichen Höflichkeitsbegriff an. In der Alltagsreflexion wird jemand als höflich bezeichnet, der einer älteren Dame hilft, die Straße zu überqueren oder einen schweren Koffer eine Treppe hinaufzutragen. Solche Handlungen haben aber wenig mit denjenigen zu tun, die üblicherweise unter Verwendung von Höflichkeitsformeln vollzogen werden (Grüßen, Danken, Komplimente machen etc.). Es scheint daher sinnvoll zu sein, sie schlicht als Hilfsbereitschaft zu klassifizieren und den Begriff ‚Höflichkeit‘ für solche Handlungen oder Handlungssequenzen zu reservieren, in denen konventionalisierte Formen zum Einsatz kommen oder kommen können. Reflektierte Höflichkeit besteht dann genau darin, diese Formen zu überbieten, ohne jedoch den Bezug dazu zu verlieren. Es handelt sich letztlich um unkonventionelle Verhaltensweisen in konventionell besetzten Momenten - Verhaltensweisen, die im Zuständigkeitsbereich der Etikette und der Rituale ansetzen, diese aber überbieten, indem persönliches Enga‐ gement kommuniziert wird, welches über das Abspulen etablierter Hand‐ lungsmuster hinausgeht. 5.2 Beziehung und Kommunikation 5.2.1 Interaktionssoziologisches Intermezzo: Goffman und das face Höflichkeit ist, wie gesagt, ein nicht nur sprachlich verankertes Phänomen und deswegen nicht nur ein Forschungsobjekt der Sprachwissenschaft. Viele andere wissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit dem gleichen Gegenstand. Es ist daher mehr als begrüßenswert, wenn interdisziplinäre Verbindungen hergestellt werden und die verschiedenen Ansätze sich ge‐ genseitig inspirieren können. Für die linguistischen Diskussionen über Höflichkeit kamen wichtige Impulse vor allem aus der Soziologie und hier insbesondere aus der Interaktionssoziologie. Die Arbeiten von Erving Goffman waren für die Pragmatik im Allgemeinen und für die Höflichkeits‐ forschung im Besonderen eine ausgesprochen produktive Quelle von Ideen und Begriffen. Goffman zeichnet sich dadurch aus, dass er die Grundbedingungen, die Dynamik und die ablaufenden Prozesse in und von alltäglichen Interaktions‐ 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 128 <?page no="129"?> situationen in vielen Facetten und sehr detailliert beschreibt und analysiert. Eine der Grundbedingungen von Interaktion und Kommunikation hat er auf den Begriff face gebracht - im Deutschen oft als Image wiedergegeben. Damit wird die Einsicht angesprochen, dass das, was wir als die Identität eines Individuums wahrnehmen, u. a. von den Interaktionssituationen ab‐ hängt und dass eine Person sich in einer bestimmten Situation ganz anders präsentieren kann als in einem anderen Kontext. Die zentrale und immer wieder zitierte Definition von Image lautet: Der Terminus Image kann als der positive soziale Wert definiert werden, den man für sich durch die Verhaltensstrategie erwirbt, von der die anderen annehmen, man verfolge sie in einer bestimmten Interaktion. Image ist ein in Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild - ein Bild, das die anderen übernehmen können. (Goffman 1986, 10) Anders als eine Identität (was auch immer das genau sein mag) hat man ein Image nicht, man erwirbt es. Es ist eng verknüpft mit einer Strategie, die eine Person in einer bestimmten Situation verfolgt. Das setzt voraus, dass diese Person (mehr oder weniger bewusste) Ziele verfolgt und interaktive Mittel auswählt, mit denen die Ziele erreicht werden können. Soziale Akteure oder Akteurinnen projizieren dazu ein Bild von sich selbst in die Situation - etwa als kompetente ExpertInnen, als Lernende, als EntscheiderInnen, als harte VerhandlungsführerInnen usw. Das Bild wird erst dadurch zum Image, dass die anderen es übernehmen - es findet also immer eine Art Aushandlung zwischen den Vorstellungen des Individuums und der PartnerInnen statt, die zu einem rituellen Gleichgewicht führt. Goffman sieht im Vorhandensein der Images eine Grundbedingung der Interaktion. Wenn man in eine Situation gerät, in der man keine Ahnung hat, welches Spiel da gerade gespielt wird, und welche Rolle man übernehmen sollte (kein Image hat), dann wird es schnell sehr unangenehm. Wenn man feststellen sollte, dass der angebliche Experte oder die angebliche Expertin keine Ahnung hat, dann wird es peinlich, jemand „verliert sein Gesicht“. Goffman betont, dass es im Interesse aller Beteiligten liegt, dass solche Situationen nicht auftreten und dass alle an einer Interaktion Beteiligten sich deswegen für das eigene Image, aber auch für das der anderen engagieren müssen und sich engagieren, um es vor Bedrohungen zu schützen, die sich in der Kommunikation ergeben können: „[…] das, was ein Mensch schützt und verteidigt und worin er seine Gefühle investiert, ist eine Idee von sich 5.2 Beziehung und Kommunikation 129 <?page no="130"?> selbst; Ideen sind aber nicht verletzbar durch Tatsachen oder Dinge, sondern nur durch Kommunikation“ (Goffman 1986, 51). In allen Gesellschaften haben sich Praktiken entwickelt, die Goffman „Techniken der Imagepflege“ (facework) nennt und die als defensive Orien‐ tierung auf das Image der jeweils Handelnden gerichtet sind und als protek‐ tive Manöver auf das Image anderer. In diesem Zusammenhang erwähnt er immer wieder Begriffe wie ‚Takt‘, ‚Höflichkeit‘, ‚Etikette‘, ‚Respekt‘ oder ‚soziale Geschicklichkeit‘ als Beispiele, ohne das weiter zu differenzieren oder zu vertiefen. Es geht ihm in diesem Beitrag eben nicht in erster Linie um Höflichkeit. Für die sprachwissenschaftliche Höflichkeitsforschung sind diese Gedanken dann vor allem durch Brown/ Levinson (1987) sehr fruchtbar gemacht worden. Wir kommen im folgenden Kapitel darauf zurück. 5.2.2 Sprache und Beziehungsgestaltung Interaktion setzt natürlich mehr voraus als die bloße Anwesenheit von zwei oder mehr Individuen mit entsprechenden Selbstbildern - Interaktion kommt erst dann zustande, wenn die Individuen sich wechselseitig wahr‐ nehmen, miteinander in Kontakt treten und sich aufeinander beziehen - wenn A B sieht und sieht, dass B ihn/ sie sieht. Hier kommt der Begriff der Beziehung ins Spiel. Dass es einen engen Zusammenhang zwischen Kom‐ munikation und Beziehungsgestaltung gibt, liegt auf der Hand: Im vorigen Kapitel wurde mehrmals darauf hingewiesen, dass jede Form von Kommu‐ nikation eine Beziehung zwischen verschiedenen Individuen voraussetzt und diese andererseits auch begründet. Die kommunikative Minimaleinheit sind ein/ e SprecherIn und ein/ e HörerIn, die in einen Austausch eintreten, d. h. sich wechselseitig wahrnehmen und als PartnerInnen anerkennen. Das tun sie z. B. unter Verwendung personaldeiktischer Ausdrücke. Wenn kein/ e SprecherIn vorhanden ist, der/ die eine/ n HörerIn oder auch mehrere HörerInnen anspricht, dann findet schlicht keine Kommunikation statt. Und sobald die deiktische Bezugnahme funktioniert hat, die HörerInnen sich also angesprochen fühlen, sind die beiden Beteiligten in eine soziale Beziehung eingetreten. Auch darauf geht Goffman ein. Er unterscheidet zwischen verankerten und anonymen Beziehungen. Verankert sind Beziehungen dann, wenn sie festgelegt sind, Beziehungen, „[…] bei denen jede Seite die andere als Person identifiziert, weiß, dass die andere das gleiche tut, und ihr offen bestätigt, 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 130 <?page no="131"?> daß zwischen ihnen etwas Unwiderrufliches begonnen hat - die Schaffung eines Rahmens gegenseitigen Wissens […]“ (Goffman 1982, 256). Anonyme Beziehungen sind dagegen solche zwischen Individuen, die sich (noch) nicht persönlich kennen, die also eher auf der Ebene der sozialen Identität angesiedelt sind. Beziehungen haben laut Goffman drei relevante Eigenschaften: 1. Sie haben einen Namen. Wir sprechen von jemandem als Schwester, Freund, Ehefrau, Liebhaber, Kollege usw. 2. Sie unterliegen bestimmten Bedingungen. Ein Kollege oder eine Kollegin kann sich mit mir in Konkurrenz befinden oder die gleichen Interessen haben, wir können uns mehr oder weniger sympathisch oder auch noch befreundet sein. 3. Beziehungen haben eine Geschichte. Sie haben einen Anfang und ein Ende und sie befinden sich immer in einem bestimmten Stadium der Entwicklung, in der es immer Änderungen geben kann. All das wird in der Interaktion fortlaufend signalisiert: Wenn einander bisher unbekannte Personen füreinander unmittelbar präsent werden, wird die Tatsache, daß ihre Beziehung anonym ist oder bestenfalls gerade angefangen hat, dies nicht mehr zu sein, für sie selber und andere durch zahlreiche Zeichen evident gemacht. Das gleiche gilt für in einer verankerten Beziehung zueinander stehende Personen. Sobald sie in gegenseitige Reichweite für ungehinderten sozialen Kontakt kommen, wird die Tatsache, daß sie nicht in einer anonymen Beziehung zueinander stehen, evident gemacht. […] Alle diese Bekundungen über Beziehungen, das heißt über Verbindungen zwischen Personen, mögen sie Gegenstände, Handlungen oder Expressionen einschließen, […] werde ich ‚Beziehungszeichen‘ nennen. (Goffman 1982, 262) InteraktionsteilnehmerInnen müssen, auch das wurde bereits diskutiert, notwendigerweise die Beziehung gestalten, etwa durch die Wahl der Anre‐ deformen, den Abstand, den sie zueinander einnehmen, Begrüßungsrituale, Blickkontakte und vieles mehr. Je nachdem, wie die Entscheidungen am Anfang eines Gesprächs, aber auch in späteren Phasen ausfallen, verän‐ dert sich die Beziehung. Zwei banale Aussagen über Kommunikation und Beziehung lauten also: Kommunikation setzt Beziehungen voraus. Und: Kommunikation verändert Beziehungen. Hier stellt sich aber die Frage, ob sich diese Aussagen auf den Inhalt oder die Form der Äußerungen beziehen; ob sie etwas darüber aussagen, was 5.2 Beziehung und Kommunikation 131 <?page no="132"?> SprecherInnen sagen oder wie (mit welchen semiotischen Mitteln) sie etwas sagen. Wenn wir annehmen würden, dass der Inhalt von Kommunikation menschliche Beziehungen begründet und verändert, dann wäre alles, was mit Beziehungen zu tun hat, eher ein Problem für PsychologInnen und SoziologInnen als für SprachwissenschaftlerInnen. Man könnte dann so argumentieren: So wie wir über Fußball sprechen können, über Vampire, Opernaufführungen oder über politische Fragen, so sprechen wir auch darüber, wie wir unser Verhältnis zu anderen sehen und sehen wollen. So wie Fußball, Opern, Vampire oder Politik kein genuines sprachwissen‐ schaftliches Thema sind - außer in der Diskurslinguistik, in der es aber vorrangig darum geht, wie solche Themen behandelt werden -, wären dann auch Beziehungen mit den Begriffen und Methoden der Linguistik nicht fassbar. Auch Höflichkeit wäre dann höchstens ein marginales Nebenthema linguistischer Überlegungen. Wenn man aber andererseits zeigen kann, dass Beziehungsarbeit ein konstitutiver Bestandteil von kommunikativen Aktivitäten ist, der mehr ist als einfach ein Gegenstand eben dieser Aktivitäten (so wie Opern oder Fußball), dann kann man auch Beziehungsarbeit als Aspekt von kommuni‐ kationstheoretischen und linguistischen Ansätzen begründen. Das würde bedeuten, dass Aktivitäten auf der Beziehungsebene sprachliche Formen beeinflussen, dass SprecherInnen und HörerInnen bei der Interpretation von Äußerungen immer auch Informationen über die Beziehung verarbeiten, die zwischen ihnen besteht, dass der Gebrauch von Sprache solche Infor‐ mationen voraussetzt bzw. dass die Übermittlung von Hinweisen auf die SprecherIn-HörerIn-Beziehung und ihre Ausgestaltung systematisch zu jeder oder fast jeder Äußerung gehört. Es wird keine Überraschung sein, dass in einem Buch über sprachliche Höflichkeit die Position vertreten wird, dass dies der Fall ist und dass Höflichkeit nicht nur ein kommunikatives Ober‐ flächenphänomen ist oder eine fakultative Verzierung von „eigentlichen“ Inhalten kommunikativer Akte, sondern „a deeper phenomenon, something that human communicators would find it hard to do without“ (Leech 2014, ix). Beziehungskommunikation wird hier also als einer der eigentlichen In‐ haltsbestandteile jeder Kommunikation betrachtet und Beziehungszeichen als konstitutiver Bestandteil vieler Äußerungen. Diese Einschätzung hat in der Sprachwissenschaft eine gewisse Tradition - zumindest, wenn man auch implizite Verweise darauf einbezieht. Held (1992 und 1995) gibt einen ausführlichen Überblick über vorpragmatische Bezugnahmen auf den sozialen Rahmen, in dem Sprache und Kommunika‐ 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 132 <?page no="133"?> tion stattfinden und Ansätze, diesen auch als Erklärungsinstanz für die Ausprägung und Verwendung sprachlicher Formen heranzuziehen. Ihre Einschätzung lautet: Wir bekommen also in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus Aufschluß, daß Höflichkeit und Sprache im Zusammenhang stehen, daß Höflichkeit in der Grammatik bzw. in den jeweiligen Sprachsystemen Spuren hinterläßt. Ungeklärt bleiben aber Fragen der Variation, der Selektion des/ der Sprecher(s), ferner die pragmatische Polysemie von Formen und Funktionen oder die ‚Auslegung‘ im Kontext, aber auch Fragen der Angemessenheit und der unterschiedlichen Wirkungsgrade, u. ä. Es bedarf also dringend der ‚Wende zur Pragmatik‘, um dieser Probleme nicht nur theoretisch gewahr zu werden, sondern sie auch in sprachlichen Performanzdaten festzuhalten. (Held 1992, 31) Höflichkeit im Sprachsystem ist also keine exklusive Erfindung der Sprach‐ wissenschaft nach der pragmatischen Wende. Pragmatische Ansätze er‐ lauben aber einen sehr viel differenzierteren Blick auf die Kontextabhän‐ gigkeit von Höflichkeitsformen, auf die Dynamik ihrer Verwendung und Variation in Abhängigkeit von bestimmten kommunikativen Konstella‐ tionen oder auf ihre kommunikativen Funktionen und Effekte. Erst nach der Durchsetzung pragmatischer Begriffe und Methoden wurde es nämlich möglich, systematisch den Gebrauch von Sprache zu untersuchen und die verschiedenen Faktoren zu beschreiben, die auf diesen einwirken und die dazu beitragen, dass eine Äußerung einen kommunikativen Sinn be‐ kommt. Zu diesen Faktoren gehören auch die Ziele, die SprecherInnen verfolgen, wenn sie kommunizieren sowie die wechselseitigen Erwartungen der KommunikationsteilnehmerInnen. Und zu den Zielen und Erwartungen wiederum lässt sich Beziehungsgestaltung rechnen: „Die linguistische Prag‐ matik […] befasst sich mit der […] ‚Arbeit‘ […], die Menschen verrichten, wenn sie sich in der Kommunikation kooperativ und interaktiv über Inhalte verständigen und Beziehungen gestalten“ (Bublitz 2009, 24). 5.2.3 Watzlawick/ Beavin/ Jackson Die Idee, dass es in der Kommunikation mehr oder weniger immer auch um die Gestaltung von Beziehungen geht, hat sich in der Sprachwissenschaft nicht zuletzt in der Folge der Rezeption des Buches Menschliche Kommunika‐ tion von den PsychotherapeutInnen Watzlawick et al. (im Folgenden W/ B/ J) (2011) verbreitet, dessen erste Auflage 1967 erschienen ist und das von 5.2 Beziehung und Kommunikation 133 <?page no="134"?> den AutorInnen auch als „Einführung in die Pragmatik der menschlichen Kommunikation“ (W/ B/ J 2011, 14) betrachtet wird. Das Buch hatte in der Tat für eine gewisse Zeit fast schon den Status eines Standardwerkes. Es war allerdings auch immer sehr umstritten. Seitens der Sprachwissenschaft wurde schon früh fundamentale Kritik an dem Ansatz formuliert und seine theoretische Satisfaktionsfähigkeit im Rahmen der linguistischen Diskussion wurde in Zweifel gezogen (vgl. etwa Ziegler 1977). Für die Auseinandersetzung mit sprachlicher Höflichkeit sind vor allem zwei der insgesamt fünf von W/ B/ J formulierten Axiome der Kommunika‐ tion interessant. Beide haben es zu bleibender Berühmtheit gebracht: Das erste betrifft die Frage, was überhaupt sinnvollerweise als Kommunikation bezeichnet werden kann. Es lautet: „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (W/ B/ J 2011, 58 ff.). Demnach wäre alles Kommunikation: wenn jemand errötet, wenn jemand niest, wenn jemand eine karierte Krawatte trägt, lächelt, jemandem die Hand reicht, einen guten Abend wünscht usw. Die AutorInnen unterscheiden in der Tat nicht zwischen Verhalten und Kom‐ munikation. Diese Auffassung ist in der Linguistik sehr umstritten: „Ihr liegt der […] unangemessene Schluss zugrunde, daß alles, was interpretierbar ist, kommuniziert sein muss. Dem ist jedoch nicht so“ (Keller 2018, 19). Aus der Perspektive der Sprachwissenschaft und der Kommunikations‐ theorie hat es sich als sinnvoll und realistisch erwiesen, zwischen verschie‐ denen Typen von Zeichen zu unterscheiden und dabei ihr Verhältnis zum Bezeichneten als Unterscheidungskriterium zugrunde zu legen. Wenn man das tut, dann zeigt sich sehr schnell, dass instinktgeleitetes Verhalten etwas ganz anderes ist als Kommunikation. Man kann dies an einem ganz einfa‐ chen Beispiel illustrieren: In verschiedenen Medien kursierten im Jahr 2016 Berichte über eine Studie der University of Iowa zu einem der wichtigsten Probleme der Menschheit. In Spiegel online wurde es in der Überschrift eines Artikels so auf den Punkt gebracht: 2011, 14) betrachtet wird. Das Buch hatte in der Tat für eine gewisse Zeit fast schon den Status eines Standardwerkes. Es war allerdings auch immer sehr umstritten. Seitens der Sprachwissenschaft wurde schon früh fundamentale Kritik an dem Ansatz formuliert und seine theoretische Satisfaktionsfähigkeit im Rahmen der linguistischen Diskussion wurde in Zweifel gezogen (vgl. etwa Ziegler 1977). Für die Auseinandersetzung mit sprachlicher Höflichkeit sind vor allem zwei der insgesamt fünf von W/ B/ J formulierten Axiome der Kommunikation interessant. Beide haben es zu bleibender Berühmtheit gebracht: Das erste betrifft die Frage, was überhaupt sinnvollerweise als Kommunikation bezeichnet werden kann. Es lautet: „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (W/ B/ J 2011, 58ff.). Demnach wäre alles Kommunikation: wenn jemand errötet, wenn jemand niest, wenn jemand eine karierte Krawatte trägt, lächelt, jemandem die Hand reicht, einen guten Abend wünscht usw. Die AutorInnen unterscheiden in der Tat nicht zwischen Verhalten und Kommunikation. Diese Auffassung ist in der Linguistik sehr umstritten: „Ihr liegt der […] unangemessene Schluss zugrunde, daß alles, was interpretierbar ist, kommuniziert sein muss. Dem ist jedoch nicht so“ (Keller 2018, 19). Aus der Perspektive der Sprachwissenschaft und der Kommunikationstheorie hat es sich als sinnvoll und realistisch erwiesen, zwischen verschiedenen Typen von Zeichen zu unterscheiden und dabei ihr Verhältnis zum Bezeichneten als Unterscheidungskriterium zugrunde zu legen. Wenn man das tut, dann zeigt sich sehr schnell, dass instinktgeleitetes Verhalten etwas ganz anderes ist als Kommunikation. Man kann dies an einem ganz einfachen Beispiel illustrieren: In verschiedenen Medien kursierten im Jahr 2016 Berichte über eine Studie der University of Iowa zu einem der wichtigsten Probleme der Menschheit. In Spiegel online wurde es in der Überschrift eines Artikels so auf den Punkt gebracht: Abb. V.1: Überschrift aus SPON zu einer Studie der Universität Iowa. Quelle: Maas 2016. Es geht, einfach gesagt, darum, ob und wie ein Mann erkennen kann, dass eine Frau mit ihm flirten möchte oder sogar noch weitergehendes Interesse an ihm hat. Angeblich haben Männer dafür eine wenig ausgeprägte Sensibilität. Dabei spielt die Interpretation des Lächelns der Frau eine gewisse Rolle. Wenn eine Frau einen Mann anlächelt, dann hat dieser verschiedene Möglichkeiten der Interpretation: Er kann annehmen, dass es sich schlicht und einfach um eine freundliche Person handelt oder dass diese im betreffenden Moment guter Laune ist. Alternativ kann er das Lächeln als Annäherungsversuch auffassen, als Einladung, einen näheren Kontakt zu suchen (im amerikanischen Kontext der zitierten Studie geht es hier auch gleich um eventuelle dramatische Folgen einer Fehlinterpretation, beispielsweise sexuelle Übergriffe). Wichtig dabei ist: Für die Fortsetzung der Interaktion muss der Mann sich für eine Interpretation entscheiden. Je nach Abb. V.1: Überschrift aus SPON zu einer Studie der Universität Iowa. Quelle: Maas 2016. SPIEGEL.de, bento, 1.11.2016 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 134 <?page no="135"?> Es geht, einfach gesagt, darum, ob und wie ein Mann erkennen kann, dass eine Frau mit ihm flirten möchte oder sogar noch weitergehendes Interesse an ihm hat. Angeblich haben Männer dafür eine wenig ausgeprägte Sensibilität. Dabei spielt die Interpretation des Lächelns der Frau eine gewisse Rolle. Wenn eine Frau einen Mann anlächelt, dann hat dieser verschiedene Möglichkeiten der Interpretation: Er kann annehmen, dass es sich schlicht und einfach um eine freundliche Person handelt oder dass diese im betref‐ fenden Moment guter Laune ist. Alternativ kann er das Lächeln als Annä‐ herungsversuch auffassen, als Einladung, einen näheren Kontakt zu suchen (im amerikanischen Kontext der zitierten Studie geht es hier auch gleich um eventuelle dramatische Folgen einer Fehlinterpretation, beispielsweise sexuelle Übergriffe). Wichtig dabei ist: Für die Fortsetzung der Interaktion muss der Mann sich für eine Interpretation entscheiden. Je nach Interpreta‐ tion werden seine Folgehandlungen unterschiedlich ausfallen. Er wird kaum denken können, dass beide Interpretationen stimmen. Der Witz dabei ist: Im ersten Fall interpretiert der Mann das Verhalten der Frau als Symptom (zu Zeichentypen vgl. Keller 2018, 155 ff.) für eine bestimmte, dauerhafte oder momentane Eigenschaft der Interaktionspartnerin. Er identifiziert eine kausale Beziehung zwischen Lächeln und Freundlichkeit und schließt auf dieser Grundlage auf die momentane Stimmung der Frau. Dabei sieht er das Lächeln nicht als intentional vorgebracht, sondern eher als Ergebnis der genetischen und kulturevolutionär entwickelten Disposition des Menschen: Ein freundlicher oder gut gelaunter Zeitgenosse lächelt eben. Wenn der Mann dagegen das Lächeln als Einladung interpretiert, dann muss er davon ausgehen, dass es eben nicht aus biologischen Gründen entstanden ist, sondern dass die Frau es absichtlich, mit Intention, in diesem Moment in ihr Gesicht zaubert, um ihm (dem Mann) etwas mitzuteilen. Das verändert den Charakter des Zeichens, es wird ansatzweise zum Symbol und in diesem Fall gibt es keine kausale Erklärung. Unter anderem deswegen beginnen hier die Verständnisprobleme; offensichtlich (wenn man der Studie glauben will) fällt es den meisten Männern schwer, die richtige Interpreta‐ tion zu finden. Das Zeichen ist unterdeterminiert, aber immerhin ein Hin‐ weis darauf, dass es etwas zu deuten gibt. Es könnte ein höfliches Lächeln sein, ein ironisches Lächeln oder eben ein einladendes/ ermunterndes. Der Mann muss aus der Mimik auf die Intention der Frau schließen, ein Lächeln ist kein Symptom für Höflichkeit und auch keins für die Flirtintention. Das behaupten nicht einmal Vertreter von Flirtschulen oder Wissenschaftler wie 5.2 Beziehung und Kommunikation 135 <?page no="136"?> die aus Iowa, die zeigen wollen, dass die Sensibilität von Männern in diesem Bereich gesteigert werden kann - diese müssen dann aber nicht nur auf das Lächeln achten, sondern auch auf andere Zeichen, Symptome und Symbole. Eine Frau kommuniziert also unter Umständen durch das Lächeln, dass sie vom Mann einen Annäherungsversuch erwartet oder diesen zumindest nicht ablehnen würde. Oder sie kommuniziert nicht, sondern macht das, was in der Verhaltensdisposition menschlicher Wesen biologisch vorgesehen ist. Das Problem der Männer (in diesem Beispiel) ist es erst einmal, hier zu unterschieden. Erst wenn sie eine Differenzierung getroffen haben, können sie angemessen reagieren. Der Unterschied zwischen Verhalten und Kommunikation ist - man könnte hier viele weitere Beispiele anführen - ein Teil der Alltagskommu‐ nikation. Die Tatsache, dass ein und dieselbe Geste sowohl als Verhalten als auch als kommunikative Handlung interpretiert werden kann, ist eine der Quellen von Missverständnissen in der Alltagskommunikation. Die Fähigkeit, hier unterscheiden zu können, macht sensible und kommunikativ kompetente Menschen aus. Eine wissenschaftliche Beschreibung der kom‐ munikativen Kompetenz sollte die Tatsache aufgreifen, dass dazu auch die Fähigkeit gehört, intentionales von nicht-intentionalem Verhalten zu unterscheiden, und nicht so tun, als sei das alles dasselbe. Höflichkeit ist in diesem Sinne immer kommuniziert. Wenn jemand eine Handlung oder eine Äußerung als höflich klassifiziert, dann impliziert das, dass er/ sie diese Handlung als absichtsvoll vollzogen ansieht, dass er/ sie gute Gründe zu haben glaubt, dem/ der SprecherIn die Intention unterstellen zu können, höflich zu sein. Man kann wohl kaum absichtslos, aus Versehen oder nur auf der Grundlage instinktiver Verhaltensweisen höflich sein. Das zweite Axiom von W/ B/ J ist für unseren Diskussionszusammenhang noch einschlägiger. Es bezieht sich auf die Frage, welche Inhalte Menschen kommunizieren und begründet die Annahme, dass es in der Kommunikation eben nicht nur um die Übermittlung von Informationen zu Tatsachen oder Sachverhalten geht, sondern auch um Beziehungen: „Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, derart, dass letzterer den ersteren bestimmt und daher eine Metakommunikation ist“ (W/ B/ J 2011, 61ff). Hier geht es also explizit um Kommunikation als Beziehungsgestal‐ tung. Der erste Teil des Axioms ist keine exklusive Neuentdeckung dieser AutorInnen (s. u.), aber relativ unstrittig: „Diese Funktionsbestimmung von Kommunikation scheint mir der wichtigste Gedanke zu sein, den die Linguistik von W/ B/ J übernehmen konnte“ (Adamzik 1984, 45). 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 136 <?page no="137"?> Der zweite Teil der Aussage behauptet, dass die beiden Aspekte nicht auf der gleichen Ebene angesiedelt werden können. Der Inhalt scheint hier wichtiger zu sein, der Beziehungsaspekt ist eine zusätzliche Information. Der Inhalt entspricht der Botschaft oder den Daten, der Beziehungsaspekt gibt an, wie die Daten verstanden werden sollten, ob diese als Befehl gedacht waren, als Scherz o. ä. Für W/ B/ J ist das die Beziehungsebene und diese fällt mit Kom‐ munikation über die Kommunikation zusammen. Für Pragmatiker handelt es sich natürlich einfach um unterschiedliche Aspekte einer Sprechhandlung. Es ist eine Grundeinsicht der linguistischen Pragmatik, dass Sprache vor allem als Mittel der Kommunikation analysiert werden muss. Das heißt auch, dass Sprechen eine Form von Handeln ist, dass jeder kommunikative Akt zwangsläufig eine Handlungsbestimmung kommuniziert - erst wenn wir verstehen, ob es sich bei einem Sprechereignis um eine Drohung handelt, eine Aufforderung, eine Tatsachenfeststellung, einen Befehl usw., hat der Sprecher etwas kommuniziert. Die illokutionäre Kraft ist ein fundamentaler Bestandteil jeder Äußerung. Wenn man behauptet, dass die Signalisierung der illokutionären Kraft (also z. B., ob es ein Befehl oder ein Scherz ist) ein Teil der Kommunikation über Kommunikation (Metakommunikation) ist, dann muss man wohl sagen, dass man mit dieser Art von Metakommunikation über etwas kommuniziert, was es in einem pragmatischen Verständnis gar nicht gibt: eine Äußerung ohne illokutionäre Kraft. Metakommunikation wäre dann Kommunikation über etwas, was keine Kommunikation ist. Daraus kann man nur folgern, dass das, was W/ B/ J als Beziehungsaspekt betrachten, auf keinen Fall Kommunikation zweiter Ordnung oder Kommunikation über Kommuni‐ kation sein kann. Man kann mit guten Gründen auch bestreiten, dass die illokutionäre Kraft einer Äußerung zwangsläufig mit Beziehungsgestaltung in Verbindung steht. W/ B/ J scheinen anzunehmen, dass es einen „eigentlichen“ Inhalt einer Äußerung gibt und eine sekundäre Angabe über deren Intention. Wir haben bereits gesehen, dass das durchaus nicht immer so ist. Bei Komplimenten beispielsweise spielt der Inhalt höchstens eine untergeordnete Rolle, der Be‐ ziehungsaspekt ist viel wichtiger. Auch Begrüßungsformeln sind ein Beispiel für Beziehungskommunikation ohne eigentlichen Inhalt. Begrüßungen oder Komplimente sind keine Kommunikation über Kommunikation, sie sind Kommunikation. Wenn HörerInnen nicht wissen, ob SprecherInnen einen Befehl geben, ein Kompliment machen oder jemanden begrüßen wollten, dann hat keine Kommunikation stattgefunden; kommunizieren heißt ja, sprachliche Handlungen vollziehen und verstehen. 5.2 Beziehung und Kommunikation 137 <?page no="138"?> Wenn wir über Höflichkeit als zentralen Teil der Beziehungskommuni‐ kation sprechen, dann meinen wir das also nicht im Sinne von W/ B/ J - wir meinen nicht, dass eine höfliche Äußerung eine ist, die sich von einer unhöflichen oder nicht-höflichen dadurch unterscheidet, dass die SprecherInnen u. a. auch sagen, wie der eigentliche Inhalt zu verstehen ist. Eine höfliche Äußerung hat vielmehr mindestens einen eigentlichen Inhalt, und das ist die Kommunikation von Beziehungsinformation. In vielen Fällen kommen auch noch andere Inhalte dazu, die für die Gesamtaussage mehr oder weniger wichtig sein können. Auf keinen Fall kann man aber für alle Arten von Mitteilungen eine feste Hierarchie von Beziehungs- und Inhaltskommunikation etablieren. 5.2.4 Das Organon-Modell und Jakobson In der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie hatte sich die Auffassung, dass Kommunikation sehr viel mehr ist als die Übermittlung von Daten, schon lange vor der Veröffentlichung der Arbeit von W/ B/ J durchgesetzt. Beziehungskommunikation wurde und wird hier auch enger und spezifi‐ scher gefasst als bei W/ B/ J, wo der Unterschied zwischen Beziehungsaspekt und illokutionärer Kraft alles andere als deutlich ist. Einer der wichtigsten Impulsgeber für die Auffassung, dass Sprechen viel mehr ist als das Vermitteln von Inhalten und dass folglich die Sprachtheorie sich auch mit anderen Aspekten und Funktionen von Zeichen auseinander‐ setzen muss, war Karl Bühler - ebenfalls ein Psychologe, der sich aber auch intensiv mit der sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Literatur seiner Zeit auseinandergesetzt hat. 1934 erschien sein bahnbre‐ chendes Buch Sprachtheorie mit dem Untertitel Die Darstellungsfunktion der Sprache. Der Autor entwickelt hier u. a. das „Organon-Modell der Sprache“ mit den Grundfunktionen Darstellung, Ausdruck und Appell. Damit werden die sozialen Funktionen von Zeichen als konstitutiver Aspekt etabliert, den man nicht ignorieren kann. Beziehungsgestaltung, Höflichkeit und ähnliche Aktivitäten werden in das Zentrum des zeichenkonstituierenden Mechanismus gerückt. Sie können demnach nicht als Nebenaspekt abqua‐ lifiziert oder als fakultativer Zusatzaspekt der Kommunikation eingestuft werden. Das wird allerdings erst mit Bühlers Nachfolgern deutlicher. Der Autor selbst räumt - jedenfalls an einigen Stellen - der Darstellungsfunktion eine herausgehobene Rolle im Vergleich zu den anderen Funktionen ein. Er spricht von der „von uns unbestrittenen Dominanz der Darstellungsfunktion 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 138 <?page no="139"?> der Sprache“ (Bühler 1999/ 1934, 30). Auch wenn diese Sicht nicht im ganzen Werk durchgehalten wird - „there is a wide variation in Bühler’s views on the hierarchy of the three functions“ (Nerlich/ Clarke 1996, 231). Die nachfolgenden Diskussionen werden die Anstöße Bühlers aufnehmen und für Klärungen und Präzisierungen sorgen. Roman Jakobson (1979) hat die Anregungen Bühlers aufgegriffen und erweitert. Sein vieldiskutiertes Modell der Kommunikation ist im Vergleich zu dem von Bühler um einige Funktionen reicher. Es ergibt sich das folgende Bild aus konstitutiven Faktoren und entsprechenden Sprachfunktionen: Faktor Funktion SprecherIn emotiv HörerIn konativ Gegenstand referentiell Kanal phatisch Code metasprachlich Nachricht poetisch Warum konstitutive Faktoren mit Funktionen zusammenfallen müssen, ist durchaus diskussionswürdig. Einige Elemente sind schon von Bühler bekannt, andere (z. B. Code oder Kanal) können zwar durchaus als Bedin‐ gungen der Möglichkeit von Kommunikation verstanden werden, es ist aber nicht klar, in welcher Hinsicht sie Zwecke der Kommunikation sein können; man kommuniziert ja nicht, um einen Code zu haben, zu entwickeln oder zu verbessern. Man kommuniziert aber sehr wohl, um den Adressaten zu beeinflussen oder etwas über Gegebenheiten in der Welt zu vermitteln. Man kann das Modell also aus verschiedenen Gründen kritisieren. Das kann hier aber nicht vertieft werden. Im Vergleich zum Organon-Modell sind hier einige terminologische Veränderungen vorgenommen und einige Faktoren ergänzt bzw. modifi‐ ziert worden. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass Jakobson sehr deutlich betont, dass in den meisten Äußerungen alle Faktoren eine Rolle spielen. In bestimmten Text- oder Gesprächstypen bzw. Kontexten ist die eine oder andere Funktion deutlich wichtiger als in anderen, man verwendet Sprache aber immer, um alle diese Ziele zu erreichen: Wer spricht, will eine 5.2 Beziehung und Kommunikation 139 <?page no="140"?> Nachricht übermitteln, sich selbst darstellen, einen Effekt auf den Hörer oder die Hörerin erzielen, auf einen Gegenstand Bezug nehmen, einen Kommunikationskanal eröffnen und die Aufmerksamkeit auf die eigenen Formulierungen lenken - und selbst wenn er es nicht wollen sollte: Er tut es trotzdem. In der Werbekommunikation steht sicherlich die konative Funktion im Mittelpunkt - sie hat das primäre Ziel, die Adressaten davon zu überzeugen, etwas zu glauben, zu denken oder zu tun (insbesondere etwas zu kaufen). Ein Eintrag in einem Flirtportal im Internet ist kommunikativ vielleicht ähnlich strukturiert, basiert aber eher auf der emotiven Funktion - die AutorInnen wollen sich selbst als attraktive PartnerInnen darstellen. Ein journalistischer Bericht zielt dagegen eher auf Information ab, hier ist also die referentielle Funktion zentral. Wer richtig verstehen will, was SprachproduzentInnen in solchen Kontexten äußern, sollte sich über die wichtigste Funktion dieser Beiträge bewusst sein. Wer etwa die Einträge im Flirtportal als objektive Tatsachenbeschreibungen interpretiert, läuft Gefahr, beim ersten Rendezvous eine böse Überraschung zu erleben. In diesem Ansatz ist es für das Zustandekommen von Kommunikation also nicht mehr ausreichend, wenn sich SprecherInnen und HörerInnen über einen Gegenstand verständigen. Relevant wird auch die Verbindung zwischen beiden - hier in Form eines Codes und eines (medialen) Kanals. Diese Verbindung kann man eher technisch verstehen oder eher sozial - je nach Schwerpunkt wird man das Medium oder die Beziehung fokussieren. Der Beziehungsaspekt und damit auch die Kommunikation von Höflichkeit lässt sich offensichtlich unter der phatischen Kommunikation behandeln. Sie dient der Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen SenderInnen und EmpfängerInnen. Jakobson bezieht sich hier explizit auf Malinowski (1936): Einige sprachliche Botschaften verfolgen in erster Linie den Zweck, Kommuni‐ kation zu erstellen, zu verlängern oder zu unterbrechen, zu kontrollieren, ob der Kanal offen ist (‚Hallo, können Sie mich hören? ‘), die Aufmerksamkeit des Angesprochenen auf sich zu lenken oder sich zu vergewissern (‚Hören Sie zu? ‘ […]). Diese Einstellung auf den Kontakt, oder im Anschluß an Malinowskis For‐ mulierung, die phatische Funktion, offenbart sich in einem überschwänglichen Austausch ritualisierter Formeln, oder zieht sich durch ganze Dialoge hindurch mit dem bloßen Zweck, Kommunikation zu verlängern. ( Jakobson 1979, 91) Jakobson unterstreicht die enorme Bedeutung der phatischen Kommunika‐ tion, indem er betont, dass sie ontogenetisch und phylogenetisch vor allen anderen Funktionen herausgebildet wird. 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 140 <?page no="141"?> Im Vergleich zu Malinowski, der ja die phatic communication sozial motiviert hatte (vgl. Senft 2009), klingen die Ausführungen von Jakobson sehr technisch; die Qualität der sozialen Bedeutung scheint hier kaum eine Rolle zu spielen. Zur Integration von Beziehungsarbeit und Höflichkeit in ein solches Kommunikationsmodell ist also eine weitere Differenzierung und Präzisierung nötig. Das scheint möglich oder sogar notwendig zu sein, um erklären zu können, wozu Sprachen das enthalten, was vorher als Höflichkeitsformen diskutiert wurde. Aus der Sicht der modernen Pragmatik stellt sich auch die Orientierung am klassischen Code-Modell als problematisch dar. In neueren Arbeiten wird dieses durch inferentielle Ansätze entweder ergänzt oder vollständig ersetzt (vgl. z. B. Sperber/ Wilson 1986, Kapitel 1 oder Recanati 2004 und 2010). Faktoren wie Code oder Kanal werden unwichtig, wenn man - pragmatisch - davon ausgeht, dass es in der Kommunikation um Koordinierung geht und dass SprecherInnen und HörerInnen sich dann einigermaßen verständigen können, wenn sie wechselseitig ihre Intentionen erkennen. Und das wird dadurch erleichtert, dass sie die Rezeptionsoptionen des anderen jeweils antizipieren. Anders gesagt: Die Bedeutung von sprachlichen Strukturen ist nicht, wie bei einem Code, festgelegt, sondern konstituiert sich im Verlauf der Kommunikation, z. B. aufgrund von Vorwissen der Beteiligten, von Hypothesen übereinander und auf der Grundlage der Beobachtung des Verhaltens des Anderen. Nach einem kleinen Zwischenschritt über einen weiteren psychologischen Ansatz werden wir darauf zurückkommen. Festzuhalten bleibt erst einmal, dass sich spätestens mit Jakobson die Ein‐ sicht etabliert hat, dass Sprache und Kommunikation als multidimensional zu beschreiben sind und dass verschiedene Faktoren berücksichtigt werden müssen, wenn man die Verwendung von Sprache und das Verständnis von Äußerungen angemessen beschreiben will. Damit ist für die Integration von Beziehungsmanagement und Höflichkeit in eine Kommunikationsthe‐ orie zumindest der Boden bereitet worden. Die Berücksichtigung sozialer und anderer Faktoren als Erklärungsinstanz für verschiedenste Typen von Texten ist zum linguistischen Allgemeingut geworden und wird von unter‐ schiedlichen Schulen und für unterschiedliche Zwecke herangezogen. So betont Garfinkel: „How a participant understands an utterance depends on the relation of that utterance to such things as the person speaking it and the time or place of its production“ (Garfinkel 1967, 4 f.). Deppermann verweist in seiner Einführung in die Gesprächsanalyse auf verschiedene Ebenen, die die Beteiligten beim Führen von Gesprächen auf jeden Fall im 5.2 Beziehung und Kommunikation 141 <?page no="142"?> Auge behalten müssen, darunter „die sozialen Beziehungen zwischen den Gesprächsbeteiligten (z. B. Macht, Vertrautheit oder Sympathie) und ihre Identitäten (z. B. als Frau, Deutsche oder Akademikerin)“ (Deppermann 2009, 9). Hier wird also deutlich, dass soziale Beziehungen für die Gesprächsbetei‐ ligten eine relevante Kategorie sind; eine theoretische Auseinandersetzung mit Kommunikation kann davon folglich nicht abstrahieren. 5.2.5 Schulz von Thun Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun hat in seinen Arbeiten vor allem die Ansätze von W/ B/ J und Bühler aufgegriffen und zu einem Modell weiterentwickelt, das die verschiedensten Diskussionen über Kommunikation nachhaltig beeinflusst hat (auch durch die Aktuali‐ sierungen in Pörksen/ Schulz von Thun 2016 und 2020) und das in den verschiedensten Kontexten zur Anwendung gebracht wurde. In der Lingu‐ istik werden seine Arbeiten allerdings kaum rezipiert. Das liegt vor allem an dem unterkomplexen Kommunikationsmodell, das er seinen Überlegungen zugrunde legt. Im Kontext dieses Buches ist Schulz von Thun aber interessant, weil er einerseits das zweite Axiom von B/ W/ J weiterentwickelt und sehr deutlich macht, welche Rolle und Funktion der Beziehungsarbeit in der menschlichen Interaktion zukommt und weil er andererseits die Hörerperspektive stärker beachtet hat als das bei Jakobson der Fall war. Schulz von Thun (1981) spricht von vier Seiten einer Nachricht. Er stellt sie graphisch in einem Quadrat dar; seine Ideen werden deswegen auch unter dem Schlagwort „Nachrichtenquadrat“ verbreitet. Er geht davon aus, dass jede Form von Kommunikation auf vier Ebenen stattfindet bzw. vier Seiten hat: 1. Sachebene: „Worüber ich informiere.“ Die SprecherInnen kommuni‐ zieren über einen Gegenstand und versuchen, die HörerInnen darüber zu informieren; deswegen wollen sie die Sachverhalte möglichst klar und verständlich präsentieren. 2. Selbstkundgabe: „Was ich von mir selbst kundgebe.“ Jede Äußerung ist auch eine Manifestation der Persönlichkeit der SprecherInnen - teilweise bewusst, teilweise unbewusst oder unfreiwillig. Mit verbalen (Sprachenwahl, Registerwahl, Varietätenwahl etc.), para‐ verbalen (Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit etc.) und nonverbalen 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 142 <?page no="143"?> (Kleidungscode, Distanz zum Hörer oder zur Hörerin etc.) Mitteln versuchen die SprecherInnen sich in ein bestimmtes Licht zu rücken, ein bestimmtes Bild von sich selbst zu verkaufen. 3. Appellebene: „Wozu ich dich veranlassen möchte.“ Die SprecherInnen verfolgen im Normalfall ein bestimmtes Ziel, wenn sie sich an Adres‐ satInnen wenden. Sie wollen, dass diese eine bestimmte Einstellung übernehmen, etwas in Betracht ziehen, glauben, tun oder auch kaufen. Sie wollen einen Einfluss auf die AdressatInnen nehmen. 4. Beziehungsebene: „Was ich von dir halte und wie wir zueinander stehen.“ Hier kann auf das verwiesen werden, was schon im Kapitel über Sprache und Höflichkeit diskutiert wurde: Jede Nachricht enthält auch einen mehr oder weniger explizit oder versteckt übermittelten Hinweis darauf, wie die SprecherInnen ihr Verhältnis zu den Höre‐ rInnen einschätzen, z. B. ob sie sich diesen gegenüber überlegen fühlen, sie sympathisch finden oder sie respektieren. Die Seiten des Quadrats sind gleich lang. Damit soll symbolisiert werden, dass alle Seiten der Nachricht gleich wichtig sind. Das liest sich wie eine Synthese aus W/ B/ J und Bühler. Die ersten drei Aspekte in der hier gewählten Reihenfolge entsprechen den drei Seiten des Organon-Modells; hinzu kommt der Beziehungsaspekt. Letzterer wird hier sehr viel expliziter gemacht als in Jakobsons Modell. Aus diesem Grund lassen sich Überle‐ gungen zur Höflichkeit sehr leicht verorten, auch wenn das für Schulz von Thun kein Thema ist. Man kann das Modell an Beispielen ganz einfach durchexerzieren. Das berühmteste Beispiel ist das verheiratete Paar im Auto und der Satz „Die Ampel da vorne ist grün“. Das wollen wir hier nicht noch einmal disku‐ tieren. Wir versuchen, das Nachrichtenquadrat auf einen der bekanntesten Sätze der Bundeskanzlerin Angela Merkel anzuwenden. Im Jahr 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, hatte sie gesagt: „Wir schaffen das“. Der Satz ist in den letzten Jahren in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit breit diskutiert worden und hat es sogar zu einem eigenen Wikipedia-Eintrag gebracht (Wikipedia „Wir schaffen das“). Die Äußerung enthält viele deiktische Ausdrücke (Wer ist „wir“? Worauf bezieht sich „das“? ). Es ist nicht klar, welcher Sprechakt damit vollzogen werden sollte (welche illokutionäre Kraft soll die Äußerung haben - ist es eine Feststel‐ lung, eine Aufmunterung oder etwas Anderes? ) und die Äußerung ist aus dem Zusammenhang gerissen. Der Satz wirkt so etwas enigmatisch und 5.2 Beziehung und Kommunikation 143 <?page no="144"?> wurde auch deswegen zum Objekt von vielen Spekulationen, Kommentaren und Polemiken. Zusammen mit seinem Kotext lautete das Zitat: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das! “ Jenseits von journalistischer Verkürzung und von parteipolitischer bzw. ideologischer Strategie kann man wohl davon ausgehen, dass es sich in erster Linie um eine Aufmunterung handelt; der Appellcharakter steht also im Vordergrund: Die AdressatInnen, die deutsche Bevölkerung, sollen aufgefordert werden, sich für Flüchtlinge zu engagieren, zusammenzuhalten und nach Möglichkeit zu helfen. Von sich selbst offenbart die Kanzlerin hier z. B., dass sie Deutsche ist, dass sie Deutsch spricht, dass sie die deutsche Geschichte kennt, dass sie eine Frau ist (wenn man das Zitat hört) und dass sie in Bezug auf die Aufnahme von Flüchtlingen optimistisch ist. Die Sachebene ist ziemlich klar: Die Äußerung bezieht sich auf sprunghaft erhöhte Flüchtlingszahlen und die damit verbundenen logistischen und politischen Probleme. Auf der Beziehungsebene ist die Botschaft nicht besonders ausgeprägt, aber trotzdem vorhanden. Immerhin lässt sich sagen, dass die Kanzlerin zum Ausdruck bringt, dass alle Deutschen in diesem Moment in einem Boot sitzen, dass sie sich auf eine Stufe mit den MitbürgerInnen stellt, dass sie wahrscheinlich so etwas wie Solidarisierung anstrebt. Das Beispiel zeigt auch, dass Spekulationen über die Ziele und Intentionen der Kanzlerin politisch und linguistisch sehr interessant sein können, aber in jedem Fall nur einen Teil der kommunikativen Realität darstellen. Viel wichtiger war in diesem Fall, was die Öffentlichkeit daraus gemacht hat. Den Sinn einer solchen Äußerung kann man erst dann verstehen, wenn man auch versucht darzustellen, wie sie von den Adressaten aufgenommen wurde und welche Reaktionen sie hervorgerufen hat. Selbst ein vollkommen klar formulierter Satz kann anders verstanden werden als es von dem/ der SprecherIn intendiert war. Dieser Zusammenhang wird auch bei Schulz von Thun unterstrichen. In der oben zitierten Passage klingt eine weitere Besonderheit seines Kom‐ munikationsmodells an: Er berücksichtigt stärker als andere AutorInnen auch die RezipientInnenperspektive, indem er darauf hinweist, dass wir Äu‐ ßerungen mit vier Ohren hören: dem Sachohr, dem Selbstoffenbarungsohr, dem Beziehungsohr und dem Appellohr. Das, was die RezipientInnen ver‐ stehen, muss nicht mit dem übereinstimmen, was die SprecherInnen inten‐ dieren. Und es können auf den verschiedenen Ebenen Unstimmigkeiten 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 144 <?page no="145"?> auftreten, die zu einer gestörten Kommunikation führen. Gerade auf der Beziehungsebene kann es hier zu Spannungen kommen, wenn etwa der/ die HörerIn eine andere Einschätzung hat als der/ die SprecherIn, wenn also (z. B.) der/ die SprecherIn signalisiert, dass er/ sie sich den HörerInnen nahe, solidarisch, vertraut o. ä. fühlt, die RezipientInnen das aber ganz anders einschätzen. Fast jede Äußerung enthält eben auch einen Hinweis auf die Beziehungsdefinition; die HörerInnen können es damit nicht vermeiden, auch darauf einzugehen. Empirisch beobachtbare Interaktionsfolgen werden aber von den theo‐ retisch konstruierten Modellüberlegungen von Schulz von Thun nicht hin‐ reichend berücksichtigt. In manchen Interaktionen kann man beobachten, dass in Fällen unterschiedlicher Ansichten ein mehr oder weniger explizit ausgetragenes Tauziehen um die angemessene Definition und die richtige Ebene der Kommunikation einsetzt - angefangen von der explizit voll‐ zogenen Aushandlung des angemessenen Anredepronomens bis hin zu subtilen Hinweisen auf kommunikatives Fehlverhalten im Hinblick auf die Beziehungskonfiguration. Hier kann man ansetzen, um Höflichkeit in das Modell zu integrieren: Höflichkeit könnte demnach der Balance auf der Beziehungsebene ent‐ sprechen. Eine Äußerung würde als höflich eingestuft, wenn hier keine Störung wahrgenommen wird; sie wäre unhöflich, wenn RezipientInnen etwas anderes verstehen als das, was die SprecherInnen meinen oder wenn kein Einverständnis über die manifestierte Beziehungsdefinition herrscht. Höflichkeit würde so der Kommunikation einer übereinstimmenden, kon‐ sensfähigen Beziehungsdefinition entsprechen. Höflich wäre ein/ e Spre‐ cherIn, der/ die die jeweilige Äußerung auf der Beziehungsebene so gestaltet, dass die HörerInnen mit der Definition, die sie über ihr Beziehungsohr wahrnehmen, einverstanden sein können. Höflichkeit würde also in der Dynamik der Situation zwischen SprecherInnenintentionen und HörerIn‐ nenreaktionen ausgehandelt. Das ist erst einmal eine sehr vage Bestimmung. Wenn man den hier vor‐ gestellten Überlegungen folgen möchte, dann kann man eine Bestätigung für die Annahme finden, dass Beziehungsgestaltung in der Kommunikation eine zentrale Rolle spielt, dass jede kommunikative Handlung auch Hinweise darauf enthält, wie die SprecherInnen sich im Verhältnis zu den HörerInnen sehen. Das kann ein/ e SprecherIn nicht vermeiden; und auch ein/ e HörerIn kann es nicht vermeiden, Informationen auf dieser Ebene wahrzunehmen und zu verarbeiten. Im Rahmen der Beziehungsgestaltung wiederum kann 5.2 Beziehung und Kommunikation 145 <?page no="146"?> Höflichkeit als zentrale Kategorie etabliert werden - man kann sie verstehen als Definition der Beziehung, die sich in sprachlichen Äußerungen manifes‐ tiert und die von SprecherInnen und HörerInnen geteilt wird. Daraus lässt sich eine Grundidee über Höflichkeit und Kommunikation ableiten, die auf die für einen sprachwissenschaftlichen Ansatz zentralen Fragen aber noch keine Antwort gibt: Wie hängt Höflichkeit mit Sprache und/ oder Sprachgebrauch zusammen, welche kommunikative Funktion erfüllt sie, und wie hängt Höflichkeit genau mit Beziehungsgestaltung zusammen? Um auf diese Fragen Antworten zu finden, muss die Theorie sowohl über Ansätze hinausgehen, die auf einem einfachen Codemodell basieren als auch über solche, die Kommunikationsstörungen aus psycho‐ logischer Perspektive in den Mittelpunkt stellen. Letztere gehen für unser Anliegen zu wenig auf Sprache und die empirisch darzustellende Dynamik der Interaktion ein, erstere setzen implizit voraus, dass es so etwas wie einen Beziehungs- oder Höflichkeitscode geben kann. Wir haben aber schon mehrmals gesehen, dass die Höflichkeit einer Äußerung nur in ein‐ geschränktem Maße von der Natur der gewählten Formulierungen abhängt. So etwas wie einen geteilten Code scheint es hier nicht geben zu können. Der Ko- und Kontext sind entscheidende Faktoren. 5.3 Kommunikation, Kooperation und Höflichkeit Ein wirklich pragmatischer Blick auf den Zusammenhang zwischen Sprache, Kommunikation und Höflichkeit wird erst dann möglich, wenn man in die Überlegungen die Begriffe einbezieht, die vor allem auf den Arbeiten von Grice basieren und von vielen Pragmatikern und Sprachphi‐ losophen weiterentwickelt wurden. Das Grice’sche Modell der Bedeutung und der Kommunikation kann als wichtigste Grundlage moderner pragma‐ tischer Ansätze verstanden werden (vgl. Liedtke 2016, 9). Über die Pragmatik der Höflichkeit hat Grice so gut wie nichts geschrieben, seine Kommunika‐ tionstheorie ist aber eine gute und notwendige Grundlage für diesbezügliche Ansätze. Sie thematisiert Sprache anders als das Codemodell, reflektiert die Relevanz des Kontextes für die Bedeutung und bezieht (wenn auch eher verhalten) auch die Rolle der HörerInnen für das Zustandekommen von Kommunikation ein. Grice hat sich zunächst mit der Frage auseinandergesetzt, was Bedeutung ist und was eine kommunikative Handlung ausmacht. Das englische Verb to 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 146 <?page no="147"?> mean lässt sich im Deutschen mit bedeuten und etwas meinen wiedergeben. Grice führt jede Form von nicht-natürlicher (die natürliche muss uns hier nicht interessieren) Bedeutung auf das zweite deutsche Verb zurück. Bedeu‐ tung entsteht demnach dann, wenn jemand etwas meint, indem er oder sie einen Ausdruck verwendet. Das Grice’sche Grundmodell (vgl. auch Meggle 1979b, ix) lautet: „‚S meinte mit x etwas‘ ist in etwa äquivalent mit ‚S äußerte x mit der Absicht, eine Überzeugung mittels der Erkenntnis dieser Absicht hervorzurufen‘“ (Grice 1957/ 1979, 10). Das Theorem ist breit diskutiert und häufig (auch von Grice selbst) modifiziert worden. Das muss hier nicht vertieft werden. In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass Bedeutung und Kommunikation hier sehr eng mit Absichten der SprecherInnen oder Intentionen verbunden wird. Wir waren an verschiedenen Stellen schon auf diese Auffassung gestoßen. Hinzu kommt noch der Verweis auf die kausale Verbindung der bei HörerInnen hervorgerufenen Überzeugung mit der Intention der SprecherInnen. Was damit gemeint ist, kann man sich gut an einem kleinen Beispiel klarmachen: Stellen wir uns vor, Sofia fährt mit dem Fahrrad durch eine Stadt, Tobias steht am Straßenrand und hebt den Arm. Sofia hält an. Haben die beiden kommuniziert? Das kann man so leicht sicher nicht beantworten. Die Antwort hängt von verschiedenen Faktoren ab. Man kann die Anschlusshandlungen der beiden Personen als Indizien verwenden. Option 1: Sofia holt ein Handy aus der Satteltasche und beginnt ein Gespräch. Option 2: Sofia schaut Tobias erwartungsvoll an. Wenn Option 1 eintritt, dann kann man wohl davon ausgehen, dass Sofia angehalten hat, weil ihr Handy geklingelt hat, sie hat Tobias’ Geste nicht gesehen oder sie hat sie nicht als Aufforderung zum Anhalten ge‐ deutet. In diesem Szenario hat keine Kommunikation stattgefunden. Man könnte höchstens annehmen, dass Tobias einen Kommunikationsversuch unternommen hat, aber auch da kann man nicht ganz sicher sein. Wenn dagegen Option 2 eintritt, dann kann man davon ausgehen, dass es eine kausale Verbindung zwischen Sofias Anhalten und der Geste von Tobias gibt: Sofia hat die Armbewegung gesehen, sie als Zeichen gedeutet, auf die Intention geschlossen, sie zum Anhalten zu bringen und genau das war für sie der Grund, dann auch tatsächlich zu bremsen. Wenn man von jemandem sagt, dass er/ sie kommuniziert, dann heißt das - grob gesagt - nicht nur, dass wir ihm/ ihr die Intention unterstellen, die jeweiligen Gesprächspart‐ nerInnen dazu bringen zu wollen, etwas zu tun/ zu denken/ zu glauben usw., 5.3 Kommunikation, Kooperation und Höflichkeit 147 <?page no="148"?> sondern dass wir ihm/ ihr zusätzlich auch die Intention unterstellen, dass die AdressatInnen seine/ ihre Absicht erkennen und genau deswegen das tun/ denken/ glauben usw., was der/ die SenderIn wollte - jedenfalls dann, wenn die Kommunikation erfolgreich verlaufen ist. Die Idee, dass es sich bei Beziehungskommunikation bzw. Höflichkeit um einen Aspekt der Äußerungsbedeutung handelt, setzt also voraus, dass man den SenderInnen erstens die Absicht unterstellen kann, etwas auf der Beziehungsebene mitzuteilen, zweitens die Absicht, dass die HörerInnen diese Intention erkennen und dann auf irgendeine Art darauf reagieren. Beispielsweise können sie auf die vorgeschlagene Beziehungsdefinition eingehen - dann war der Kommunikationsversuch erfolgreich. Oder sie können sich „auf den Schlips getreten“ fühlen, dann tritt unter Umständen eine Störung in der Kommunikation auf - der Versuch der Beziehungskom‐ munikation war nicht vollkommen erfolgreich. In einem so angelegten Kommunikationsmodell kommt es in erster Linie auf die Intention und ihr Erkennen an; es braucht nicht unbedingt einen Code. Aber man muss erklären, wie man vom Erkennen einer Intention auf das Verstehen einer Äußerung kommt. Intentionen sind ja sehr unspezifisch; wenn ich erkenne, dass jemand die Intention hat, mir etwas mitzuteilen, dann habe ich noch lange nicht erkannt, was ich erfahren soll. Ein vollständigeres Bild von Kommunikation und eine Basis für die Integration von Höflichkeit in ein Modell ergibt sich dann, wenn man ein weiteres Element der Grice’schen Philosophie einbezieht: das Kooperations‐ prinzip und die Kommunikationsmaximen (vgl. zu einer Vertiefung und Präzisierung etwa Meibauer 2008, 24 ff., Bublitz 2009, Liedtke 2016, 69 ff., Ehrhardt/ Heringer 2011, Levinson 1983). Einer der Ansatzpunkte der Überlegungen von Grice ist die Beobachtung, dass man in ganz normalen, alltäglichen Gesprächen häufig etwas sagt und damit etwas meint, das auf den ersten Blick wenig mit dem Gesagten zu tun hat. Ein Beispiel: Erika weiß, dass Andreas am Vortag in einem neu eröffneten Restaurant war. Erika: Und? Wie ist der neue Laden? Andreas: Der Kellner war nett. 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 148 <?page no="149"?> Auf eine Frage, die ziemlich eindeutig auf die Qualität des neuen Restaurants abzielt, antwortet der Gefragte mit einer Bemerkung über einen Nebenas‐ pekt. Trotzdem werden hier weder Erika noch ein/ e BeobachterIn auf die Idee kommen, dass Andreas die Frage nicht richtig verstanden hat und deswegen so abwegig antwortet. Man versteht eher, dass er damit ein negatives Urteil über das Restaurant zum Ausdruck bringen will - je nach Kontext gibt es natürlich auch andere mögliche Interpretationen. Also: Er sagt, dass der Kellner nett war und meint, dass das Essen nicht geschmeckt hat. Und so ziemlich jede/ r HörerIn versteht, was er gemeint hat, obwohl er es nicht gesagt hat. Die grundlegende Frage, die Grice (1975/ 1979) hier stellt, ist die nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Kommunikation (der Titel des Aufsatzes lautet „Logic and Conversation“): Wie kommt es, dass man sich ziemlich sicher darauf verlassen kann, dass die Leute verstehen, was man meint, wenn man es nicht sagt? Die Antwort, die Grice gibt und die so gut wie alle pragmatischen Diskussionen nachhaltig beeinflusst hat, besteht aus zwei Teilen: Zuerst einmal bekommen Interaktionsteilnehmer eine Art Vertrauensvorschuss: Wir gehen davon aus, dass unsere Gesprächspartner nicht plötzlich den Verstand verlieren oder einfach unmotiviert aus dem Gespräch aussteigen. Selbst wenn eine Person unvermittelt inmitten einer angeregten Diskussion beginnt, das Alphabet von hinten nach vorne zu rezitieren, werden wir im Normalfall nicht denken, dass sie verrückt geworden ist. Wir gehen davon aus, dass sie einen guten Grund für dieses abweichende Verhalten hat oder zu haben glaubt und dass sie uns damit etwas sagen will. Anders gesagt: Wir denken erst einmal, dass sie rational handelt. Die wechselseitige Unterstellung, dass der jeweils andere den Sinn des geführten Gesprächs und den „normalen“ Rahmen dafür nicht aus den Augen verloren hat, fasst Grice im Kooperationsprinzip (nachfolgend: KP) zusammen: Unsere Gespräche bestehen normalerweise nicht aus einer Abfolge unzusammen‐ hängender Bemerkungen, und wären so auch nicht rational. Sie sind kennzeich‐ nenderweise, wenigstens bis zu einem gewissen Maß, kooperative Bemühungen; und jeder Teilnehmer erkennt bis zu einem gewissen Grad in ihnen einen gemeinsamen Zweck […] oder zumindest eine wechselseitig akzeptierte Richtung an. […] Wir können demnach grob ein allgemeines Prinzip formulieren, dessen Beachtung […] von allen Teilnehmern erwartet wird, und zwar: Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du gerade teilnimmst, gerade 5.3 Kommunikation, Kooperation und Höflichkeit 149 <?page no="150"?> verlangt wird. Dies könnte man mit dem Etikett Kooperationsprinzip versehen. (Grice 1975/ 1979, 248) Andere AutorInnen haben den Gedanken leicht abgewandelt und sprechen von „Rationalitätsprinzip“ (z. B. Kasher 1976), im Großen und Ganzen ist dieser Gedanke aber zu einem zentralen Bestandteil der pragmatischen Theorie geworden. Man darf es nicht mit einer Art Konversationsleitfaden verwechseln, der vorgibt, wie man sich in Gesprächen zu verhalten hat. Grice argumentiert nicht normativ, sondern deskriptiv, er will darstellen, was alle GesprächsteilnehmerInnen wissen und voraussetzen, wenn sie in einen kommunikativen Austausch eintreten. Wer nicht in diesem Sinne kooperiert, kommuniziert nicht falsch, er kommuniziert gar nicht, er ist aus dem Gespräch ausgestiegen, seine Gesprächspartner nehmen ihn nicht mehr als vollwertiges Mitglied der temporären Dialog-Gemeinschaft wahr. Wenn jemand - um das obige Beispiel aufzunehmen - in einem Gespräch über ArbeitskollegInnen beispielsweise plötzlich anfängt, das Alphabet von hinten nach vorne zu rezitieren, dann haben die ZuhörerInnen etwas über‐ spitzt ausgedrückt zwei Möglichkeiten: Entweder sie nehmen an, dass die betreffende Person übergeschnappt ist; in diesem Fall würde die handelnde Person nicht mehr als kooperierende/ r InteraktionspartnerIn angesehen. Oder die anderen Beteiligten unterstellen ihr, weiterhin kooperieren zu wollen; in diesem Fall suchen sie nach einer möglichst rationalen Erklärung für ihr abweichendes Verhalten. Sie könnten z. B. zu dem Schluss kommen, dass gerade ein extrem delikater Punkt angesprochen worden ist, den man nach Auffassung der „störenden Person“ besser vermeiden sollte. Solange man GesprächspartnerInnen also unterstellt, kooperieren zu wollen, strengt man sich an, auch für merkwürdiges, abweichendes und unpassendes Verhalten eine Erklärung zu finden. Die Frage, was in diesem Beispiel abweichend ist, führt uns zum zweiten Teil der Grice’schen Antwort; er ist auch ein Hinweis darauf, wie man von der Erkenntnis, dass jemand weiterhin am Kommunikationsspiel teilnimmt, darauf kommen kann, was er oder sie sagen will. Das, was SprecherInnen und HörerInnen wechselseitig voneinander erwarten, wenn sie miteinander sprechen, hat Grice als Maximen formuliert. Sie betreffen die Quantität, die Qualität, die Relevanz und die Modalität des Gesagten. Mit anderen Worten: Sie beziehen sich darauf, wie viel eine Person sagt, was sie sagt (und in welcher Verbindung es zu ihren Überzeugungen steht), in welcher Verbin‐ dung es zum Kotext steht und wie sie es sagt. Das Alphabet im Beispiel war 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 150 <?page no="151"?> offensichtlich irrelevant, es hat nichts mit den anderen Gesprächsbeiträgen zu tun und fällt deswegen aus dem Rahmen. Die anderen TeilnehmerInnen erkennen das und suchen (wenn sie dem Sprecher andauernde Kooperati‐ vität unterstellen) nach einer Erklärung, die es relevant macht. Grice (1975/ 1979) hat die Maximen als Aufforderungssätze formuliert: Maximen der Quantität 1. Mache deinen Gesprächsbeitrag so informativ (wie für den gegebenen Gesprächszweck) nötig. 2. Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig. Maximen der Qualität 1. Sage nichts, was du für falsch hältst. 2. Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen. Maxime der Relation Sei relevant. Maximen der Modalität 1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks. 2. Vermeide Mehrdeutigkeit. 3. Sei kurz (vermeide unnötige Weitschweifigkeit). 4. Der Reihe nach! Die vier Hauptmaximen sind in Anlehnung an Kants Kategorientafel for‐ muliert. Dieser hat in der KrV (B 106) vier Kategorien beschrieben, die als Werkzeuge des Denkens apriorische Gültigkeit besitzen, die also Vorausset‐ zungen dafür darstellen, dass Menschen überhaupt denken können. Der Bezug auf diese philosophische Tradition zeigt, welchen grundlegenden Stellenwert Grice den Maximen einräumt. Auch hier muss noch einmal betont werden, dass es sich keinesfalls um eine Art kommunikative Etikette oder eine Kommunikationsethik handelt. Auch die Maximen sind nicht normativ angelegt, sie sollen vielmehr beschreiben, nach welchem Leitfaden wir handeln, wenn wir kommunizieren und was wir auch bei anderen als selbstverständlich voraussetzen. Normalerweise nehmen wir an, dass ein/ e SprecherIn die aus seiner/ ihrer Sicht richtige Menge an Informationen geliefert hat, dass er/ sie das glaubt, was er/ sie sagt, dass er/ sie es für relevant hält und dass er/ sie der Überzeugung ist, er/ sie habe es auf angemessene Weise gesagt. Wenn wir denken, dass ein/ e GesprächspartnerIn das KP 5.3 Kommunikation, Kooperation und Höflichkeit 151 <?page no="152"?> kennt und respektiert, wissen wir, dass er/ sie rational handelt. Die Maximen spezifizieren das genauer, sie bilden ab, wie man rational handelt und mit welchen Mitteln man kommunikative Ziele erreichen kann. Wenn man jemanden über etwas informieren möchte, dann sollte man beispielsweise die Fakten in einer logischen Reihenfolge präsentieren und auf diese Art die Zusammenhänge so klar wie möglich machen. Das implizite Wissen um die Maximen und das Vertrauen darauf, dass alle sie einhalten, bildet die Grundlage dafür, dass wir unser Welt- und Kontextwissen anwenden können und uns einigermaßen verstehen, z. B. in diesem Dialog: Anna: Peter geht es nicht gut. Berta: Er trinkt zu viel. Berta muss hier nicht explizit sagen, dass sie nicht meint, Peter würde zu viel Wasser trinken, dass sie größere Mengen an Alkohol für gesundheitsgefähr‐ dend hält und dass sie in einem solchen Missbrauch den Grund für Peters schlechten Gesundheitszustand sieht. Die Antwort kann so knapp ausfallen, weil Berta sich darauf verlassen kann, dass Anna sie eben als Antwort auf die erste Bemerkung ansieht und deswegen ihr Wissen aktiviert, um sie relevant zu machen. Anna wird auch selbstverständlich davon ausgehen, dass Berta Peter gut genug kennt, um über dessen Alkoholkonsum informiert zu sein, dass sie über belastbare Informationen über die Konsequenzen des Missbrauchs verfügt usw. Dank der Kenntnis der Maximen kann man darauf verzichten, immer mit extremer Explizitheit zu kommunizieren. Im Unterschied zum KP werden die Maximen aber nicht immer respek‐ tiert. Texte aus dem Bereich der Werbung und des Marketing etwa zeichnen sich dadurch aus, dass kaum jemand sie als Informationen über die Über‐ zeugungen des Textproduzenten versteht. In Gesprächen wie einem Verhör rechnet jeder der Beteiligten immer damit, dass die andere Person sich nicht an die Qualitätsmaximen hält. Ähnliches gilt auch für Komplimente und andere prosoziale Lügen (vgl. Hornung/ Meibauer 2016); sie funktionieren auch dann, wenn sie nicht als wahre Aussagen aufgefasst werden. Verstöße gegen Maximen können auch genutzt werden, um kommunika‐ tive Spezialeffekte zu erzeugen, also etwas zu sagen, aber etwas ganz anderes zu meinen. In diesem Zusammenhang spricht Grice (1975/ 1979, 245 ff.) von „Implikaturen“, die mehr oder weniger konventionalisiert sein können. Das 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 152 <?page no="153"?> Aufsagen des Alphabets war ein erstes Beispiel. Eine Implikatur ist ein Teil der Bedeutung einer Äußerung, der nicht in der wörtlichen Bedeutung der verwendeten Lexeme und ihrer syntaktischen Verbindung enthalten ist. Hier werden also zwei Bedeutungsebenen angenommen: was jemand sagt (die wörtliche Bedeutung) und was jemand meint (die Implikatur). Letzteres kann aus dem Gesagten erschlossen werden - auf der Grundlage der Kenntnis von KP und Maximen und unter Anwendung des Weltwissens. Eine systematische, konventionalisierte Ausbeutung liegt z. B. dann vor, wenn jemand (um in der Nähe des vorigen Beispiels zu bleiben) bei einer nächtlichen Polizeikontrolle angehalten und gefragt wird, ob er oder sie etwas getrunken hat. Wenn die betreffende Person zugibt, ein Glas Wein während des Abendessens getrunken zu haben, lassen die BeamtInnen die Sache unter Umständen auf sich beruhen und verzichten auf einen Test. Wenn sie das für eine Schutzbehauptung halten, werden sie eine Kontrolle anordnen. Ist es eine Lüge, wenn der/ die AutofahrerIn sagt, er/ sie habe ein Glas getrunken, in Wirklichkeit aber eine ganze Flasche konsumiert hat? Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen der „logischen Wahrheit“, der wörtlichen Bedeutung auf der einen und der „kommunikativen Wahrheit“ auf der anderen Seite. Streng genommen stimmt es ja, dass jeder, der eine Flasche Wein getrunken hat, auch ein Glas getrunken hat - der/ die AutofahrerIn hätte nicht gelogen. In der Kommunikation wird ein Satz wie (1) Ich habe ein Glas Wein getrunken. aber so gut wie immer als (1‘) Ich habe genau ein Glas Wein getrunken. verstanden. Dieser Satz ist eine Implikatur von (1) - d. h., er kann nicht als Teil der wörtlichen Bedeutung von (1) angesehen werden, wird aber regelmäßig kommuniziert. Im Verständnis im Sinne von (1‘) wäre die Behauptung im Beispiel eine Lüge. Ob man die Aussage des/ der FahrerIn für eine Lüge hält oder nicht, hängt vor allem davon ab, ob man dem Urteil über die Wahrheit einer Aussage den wörtlichen Bedeutungsgehalt zugrunde legt oder ob man den Wahrheitsgehalt auf der Grundlage der Implikatur ermittelt und davon ausgeht, dass entscheidend ist, was der/ die SprecherIn gemeint hat. Es wäre interessant, hier die Plädoyers von AnklägerInnen und VerteidigerInnen in einem Gerichtsverfahren zu hören. Implikaturen können aber auch vollkommen unkonventionalisiert sein. In diesem Fall ist von „konversationellen (oder konversationalen, die Verf.) 5.3 Kommunikation, Kooperation und Höflichkeit 153 <?page no="154"?> Implikaturen“ die Rede (Grice 1975/ 1979, 254). Mit ihrer Hilfe lässt sich sehr viel von dem erklären, was man als „uneigentlichen Sprachgebrauch“ bezeichnen könnte - Fälle, in denen SprecherInen etwas meinen, was auf den ersten Blick sehr wenig oder nichts mit dem zu tun hat, was sie sagen. Schauen wir uns auch hier ein nicht-authentisches, aber sicher realistisches Beispiel an: Bernd und Daniela sind ein Paar und wohnen zusammen. Bernd: Was kochen wir heute Abend? Daniela: Ich habe Luisa und Mike eingeladen. Die Antwort von Daniela scheint auf den ersten Blick keine Antwort auf Bernds Frage zu sein. Als Beobachter können wir nicht wissen, was es am Abend zu essen geben wird. Wir können aber sehr wohl erkennen, dass das, was Daniela sagt, nicht so absurd ist, wie es erscheinen mag. Wir gehen damit davon aus, dass Daniela mit Bernd kooperiert, dass ihre Äußerung eine rationale Handlung ist, mit der sie glaubt, ein bestimmtes kommuni‐ katives Ziel erreichen zu können. Unter anderem deswegen können wir uns vorstellen, dass Bernd schon verstehen wird, was seine Partnerin hier sagen wollte - weil er die beiden eingeladenen Personen kennt und um ihre kulinarischen Vorlieben weiß. Aus der (hypothetischen) Perspektive von Bernd stellt sich die Lösung für dieses kleine Ratespiel einfacher dar als für eine/ n externe/ n BeobachterIn. Er weiß, dass Luisa und Mike Vegetarier sind oder dass sie immer von der Lasagne schwärmen, die Bernd und Daniela bei ihrem letzten Besuch gekocht haben. Bernd könnte in der Situation etwa folgendes Räsonnement realisieren: Daniela äußert einen Satz, der darauf verweist, dass sie Luisa und Mike eingeladen hat. Im Kontext meiner Frage ist das nicht relevant. Ich denke aber, dass Daniela kooperativ bleiben will. Ich weiß, dass Luisa und Mike unsere Lasagne sehr gerne mögen. Ich weiß, dass Daniela weiß, dass ich das weiß. Ich kann damit schließen, dass Daniela dieses wechselseitig vorhandene Wissen nutzen möchte, um mir zu verstehen zu geben, dass sie vorschlägt, am Abend Lasagne zu kochen. Bernd kommt zu dieser Einschätzung auf der Grundlage eines Schlussprozesses - ein Code spielt so gut wie keine Rolle. Was er wissen, kennen und anwenden muss, sind das KP, die Maximen, das Wissen über Luisa und Mike und das Wissen über das Wissen von Daniela. 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 154 <?page no="155"?> Schematisch könnte man den Schlussprozess, der sich bei Implikaturen abspielt, so zusammenfassen: Konversationeller Schlussprozess 1. A (Adressat_in) der Äußerung nimmt das Gesagte zur Kenntnis. 2. A stellt fest, dass eine bestimmte Maxime nicht erfüllt ist, so dass die Annahme der Kooperativität auf der Basis des Gesagten nicht aufrechterhalten werden kann. 3. A möchte die Annahme der Kooperativität nicht aufgeben. 4. Das Gesagte wird uminterpretiert, bis sich eine Übereinstimmung mit der ver‐ letzten Maxime ergibt, so dass die Annahme der Kooperativität wieder möglich ist. (Liedtke 2016, 75) Das ergibt einen pragmatischen Blick auf Kommunikation, der auf der Kenntnis grundlegender Mechanismen, dem Kontext und der wechselsei‐ tigen Unterstellung von Intentionen und Wissen basiert. Offen bleibt dabei allerdings die Frage, warum Kommunizierende solche Umwege gehen, warum sie nicht einfach direkt sagen, was sie meinen. Die Antwort auf diese Frage wird auch eine Verbindung des KP mit Beziehungsge‐ staltung und Höflichkeit ermöglichen; sie kann nämlich auch auf Situationen angewendet werden, in denen ein/ e SprecherIn z. B. einen/ eine AdressatIn auffordern möchte, etwas zu tun, das aber nicht durch einen Imperativsatz realisiert, sondern durch eine Frage, die auch noch durch die Verwendung des Konjunktiv eingeschränkt wird. Wir kommen darauf zurück. An dieser Stelle möchten wir nur darauf verweisen, dass Grice in seinem Text durchaus andeutet, dass es eine Verbindung von KP, Maximen und Implikaturen zur Höflichkeit geben könnte, dass er diese aber nicht zu verfolgen gedenkt: Natürlich gibt es alle möglichen anderen Maximen (ästhetischer, gesellschaft‐ licher und moralischer Natur), wie etwa ‚Sei höflich‘, die von den Gesprächs‐ teilnehmern normalerweise ebenfalls beachtet werden, und auch die können nicht-konventionale Implikaturen erzeugen. […] Ich habe meine Maximen hier so formuliert, als bestünde dieser Zweck in maximal effektivem Informations‐ austausch; diese Kennzeichnung ist natürlich zu eng, und das System gehört verallgemeinert […]. (Grice 1975/ 79, 250) Offensichtlich wird Höflichkeit dieser Auffassung nach genau dann relevant für eine Kommunikationstheorie, wenn man davon ausgeht, dass der effek‐ tive und effiziente Austausch von Informationen nicht das einzige und nicht das wichtigste Ziel von kommunikativen Bemühungen darstellt. Nach 5.3 Kommunikation, Kooperation und Höflichkeit 155 <?page no="156"?> einer kurzen allgemeineren Zwischenüberlegung über Kooperativität und Höflichkeit und ihre Bedeutung für die Möglichkeit der Kommunikation aus einer evolutionären Perspektive werden wir versuchen, die Ausführungen zu kommunikativen Zielen mit dem von Grice inspirierten Ansatz einer inferentiellen (auf Schlüssen, nicht auf Codes basierenden) Kommunikati‐ onstheorie zu verbinden und so den Stellenwert von Höflichkeit in der Kommunikation besser analysierbar zu machen. 5.4 Kooperation und Höflichkeit: Ein Blick in die Evolution In vielen Einzelheiten sind, wie gesagt, das KP und auch die Maximen durchaus umstritten. Beispielsweise ist die dritte Maxime der Modalität („Sei kurz“) nicht ganz einfach von der Maxime der Quantität abgrenzbar. Autoren wie Sperber/ Wilson (1986) und andere Relevanztheoretiker halten die Relevanzmaxime für die einzig notwendige und sind der Auffassung, dass sich alle anderen daraus ableiten lassen. Unterschiedliche Einschät‐ zungen des KP und der Maximen sind ein zentraler Bestandteil pragmati‐ scher Diskussionen; (u. a.) an ihnen scheiden sich die Geister zwischen Post-GriceanerInnen und Neo-GriceanerInnen (vgl. z. B. Bianchi 2009, 72 ff.). Schon die Bezeichnungen der pragmatischen Schulen beweisen aber, dass an den Arbeiten von Grice kaum jemand vorbeikommt und dass diese extrem produktiv gemacht und auf verschiedene sprachliche Phänomene angewendet werden können. Ein für unseren Diskussionszusammenhang besonders einschlägiger Dis‐ kussionsstrang befasst sich mit der Anwendung der Grice’schen Ideen auf die Entwicklung der menschlichen Kommunikationsfähigkeit. Aus psycho‐ logischer und kulturanthropologischer Perspektive hat Tomasello dazu sehr interessante Überlegungen vorgelegt. In seinem Buch über die Ursprünge der menschlichen Kommunikation (Tomasello 2011) beschreibt er sowohl die phylogenetische als auch die ontogenetische Entwicklung dessen, was er die „psychologische Infrastruktur menschlicher Kommunikation“ (Tomasello 2011, 119) nennt, versucht also zu ergründen, was Menschen wissen und können müssen, damit sie kommunikative Kompetenz ausprägen können. Aus evolutionärer Perspektive wird dabei verfolgt, wie die menschliche Kommunikationsfähigkeit sich von der von Menschenaffen unterscheidet. Anhand der Beschreibung und Analyse zahlreicher (nicht-invasiver, spiele‐ rischer) Experimente und Naturbeobachtungen weist Tomasello nach, dass 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 156 <?page no="157"?> Menschenaffen in der Lage sind, andere als intentionale, rationale Akteure oder Akteurinnen mit bestimmten Zielen einzuschätzen und dass sie sich gegenseitig helfen können. Schimpansen können sich beispielsweise koordi‐ nieren, um gemeinsam kleinere Affen zu jagen; sie sind dabei aber im Prinzip immer konkurrenzorientiert und individualistisch (vgl. Tomasello 2011, 195 ff.) - einfach ausgedrückt: Jeder hilft dem anderen, weil er annimmt, dass für ihn dann am Ende mehr Beute herausspringt. Hier liegt der entscheidende Unterschied zur menschlichen Kommunika‐ tion. Bei uns ist es relativ normal, dass wir etwas einfach nur zugunsten eines anderen tun, obwohl wir uns davon keinen direkten Gewinn versprechen. Und wir können, wenn wir die Handlungen anderer beobachten und ein‐ schätzen, annehmen, dass sie hauptsächlich mit dem Ziel realisiert wurden, einem Mitmenschen zu helfen. Anders gesagt: Wir können altruistisch han‐ deln und tun das mehr oder weniger häufig auch. Diese Kompetenz beruht auf der den Menschen eigenen Möglichkeit der „geteilten Intentionalität“, eine evolutionäre Errungenschaft, die unsere Spezies von Menschenaffen und anderen unterscheidet: Die finale Erklärung dafür, was Menschen dazu befähigt, miteinander auf so komplexe Weisen durch so einfache Gesten zu kommunizieren, lautet, daß sie miteinander auf einzigartige Weise sozial interagieren. Etwas konkreter: Men‐ schen kooperieren miteinander auf eine Weise, die wir von keiner anderen Spezies kennen, wobei diese Kooperation Prozesse geteilter Intentionalität beinhaltet. (Tomasello 2011, 83) Kinder lernen ab einem Alter von ca. 9 Monaten etwas, was Menschenaffen nie schaffen: Sie können sich an Interaktionen beteiligen, die gemeinsame Ziele, wechselseitig geteilte Intentionen und geteilte Aufmerksamkeit er‐ fordern. Mit anderen Worten: Sie erlernen in diesem Alter das, was bei Tomasello „geteilte Intentionalität“ genannt wird. Was Menschen von verwandten Spezies unterscheidet und was auch die Voraussetzung für die Herausbildung der kommunikativen Kompetenz dar‐ stellt, ist also die Fähigkeit zur „mutualistischen Zusammenarbeit“ (Tomasello 2011, 207 ff.), um einen weiteren Ausdruck Tomasellos zu verwenden: Man hilft anderen und hilft damit auch gleichzeitig sich selbst. Hier beginnt die evolutionäre Geschichte dessen, was sich dann zur pragmatischen Kompetenz entwickelt. Jeder kann sich mehr oder weniger vorstellen, was ein Mitmensch denkt und jeder reflektiert auch, was der andere von einem selbst denkt und erwartet. Komplexe kooperative Unternehmen wie die gemeinsame Jagd 5.4 Kooperation und Höflichkeit: Ein Blick in die Evolution 157 <?page no="158"?> werden sehr viel effizienter, wenn man das kann. Es ist für uns als Spezies von großem Vorteil, dass wir soziale Wesen sind und als solche von unseren Artgenossen wahrgenommen werden. Was in Situationen gelernt wird, in denen es auf eine präzise Koordination ankommt, wird dann im Laufe der Entwicklung auch auf andere Situationen übertragen: Dem Hilfeersuchen anderer nachzukommen und gerade auch das Anbieten von Hilfe für andere nahmen ihren Anfang also wahrscheinlich im Kontext mutua‐ listischer Zusammenarbeit, in dem die Einwilligung immer adaptiv ist, weil sie für einen selbst von Vorteil ist; sie wurden dann wegen der positiven Auswirkungen auf das Ansehen des Helfenden auf nichtmutualistische Situationen ausgeweitet. (Tomasello 2011, 222) Die mutualistische Zusammenarbeit kann als „Heimstatt kooperativer Kom‐ munikation“ (Tomasello 2011, 213) angesehen werden. In diesem Zusam‐ menhang erweist es sich nämlich als Vorteil für jedes Individuum, wenn in der Bezugsgruppe allgemein bekannt ist, dass man sich auf sie oder ihn verlassen kann. Wenn A weiß, dass B ihr im Bedarfsfall helfen würde, wird A wahrscheinlich geneigter sein, B ihrerseits zu helfen. Und beide werden den Eindruck haben, dass sie sich bei gemeinsamen Unternehmungen aufeinander verlassen können. An dieser Stelle lässt sich der evolutionäre Ausgangspunkt dessen ver‐ orten, was Haferland/ Paul „elementare Höflichkeit“ genannt haben. Toma‐ sello (2011, 222 ff.) geht im Anschluss an die zitierte Passage explizit auf Höflichkeit ein. Er beschreibt, dass etwa der Ausdruck von Dankbarkeit der SprecherInnen (der Dankenden) und der HörerInnen (der EmpfängerInnen des Danks) in diesem Sinne dient: Wenn ich Ihnen danke, dann zeige ich damit erstens den Menschen in unserer Umgebung, dass Sie ein hilfsbereiter Mensch sind, auf den man zählen kann. Zweitens habe ich deutlich gemacht, dass jeder, der mir auf irgendeine Art hilft, damit rechnen kann, zumindest in dieser elementaren Weise eine Gratifikation zu empfangen. Hier handelt es sich also um eine Art „Reputationsmanagement“ - der/ die Dankende macht so etwas wie Werbung für die bedankte Person und für sich selbst. Damit ist einer der Bereiche angesprochen, der schon vorher als eines der zentralen Handlungsfelder bezeichnet wurde, in denen Höflichkeit zum Einsatz kommt. Hier stimmen das common-sense-Verständnis und die wissenschaftliche Analyse durchaus überein. Der zweite Bereich, der ebenfalls von Tomasello erwähnt wird, ist die Tat‐ sache, dass man es nach Möglichkeit vermeiden sollte, anderen Menschen 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 158 <?page no="159"?> Befehle zu erteilen. In kooperativen Interaktionen ist es sinnvoller, den anderen die Freiheit zu lassen, selbst zu entscheiden, was sie tun und lassen möchten und sie in möglichst geringem Ausmaß verbal zu nötigen, das zu tun, was die SprecherInnen sich vorstellen. Wenn ein/ e Handelnde/ r will, dass ein/ e andere/ r eine bestimmte Handlung vollzieht, dann sollte er/ sie diese/ r eher die Notwendigkeit dieser Handlung begreifbar machen und darauf hoffen, dass er/ sie sich von alleine dafür entscheidet, das zu tun, was getan werden soll. Auch das gehört zu den Kernbereichen der Beziehungs‐ arbeit und der Höflichkeit, die schon in Kapitel 4, hier in Zusammenhang mit der Verwendung des Konjunktivs, angesprochen wurde. Beide angesprochenen Handlungen entwickeln sich im Rahnen mutua‐ listischer Zusammenarbeit, sie dienen vor allem der Bestätigung der Ko‐ operativität der SprecherInnen und der Vermittlung der Annahmen, dass die SprecherInnen davon ausgehen, dass auch die HörerInnen weiterhin kooperieren werden. Offensichtlich ist Kooperation so wichtig, dass von Zeit zu Zeit betont werden sollte, dass sie weitergeführt wird. Hier liegt eine der grundlegenden, vorerst noch vagen Funktionen von Höflichkeit. Man ist höflich, um zu bestätigen, dass man kooperativ ist und bleibt. Im Folgenden wird dies noch zu präzisieren sein. Der kurze Blick in die Ursprünge und evolutionären Voraussetzungen der menschlichen Kommunikation untermauert erst einmal die zentrale Bedeu‐ tung der Kooperativität als Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation. Ohne die Fähigkeit zu kooperieren und die Mitmenschen als kooperative Wesen aufzufassen, befänden sich die kommunikativen Kompetenzen der Menschen wahrscheinlich noch auf dem Stand der Menschenaffen. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Ausbildung elementarer Formen von Höflichkeit eng mit der Kooperationskompetenz verknüpft ist. Man kann es grob wohl so zusammenfassen: Ohne Kooperativität gäbe es keine Kommunikation. Höflichkeit ist ein entscheidendes und zentrales Mittel zur Erleichterung der Kooperation. Ohne solche Höflichkeitsformen hätte es die Evolution des sozialen Zusammenhalts unter Menschen wohl kaum geben können. Höflichkeit scheint also grundlegend und tief in der menschlichen Kommunikationsfähigkeit verankert zu sein. Sie kann nicht nur als eine fakultative Verzierung von kommunikativen Handlungen oder bestimmten Typen von kommunikativen Handlungen betrachtet werden und auch nicht als eine Tugend, an der sich Menschen orientieren können, wenn sie wollen. Höflichkeit besteht in diesem ursprünglichen Sinn darin, die Kommunikationspartner öffentlich als kooperative Personen dastehen zu 5.4 Kooperation und Höflichkeit: Ein Blick in die Evolution 159 <?page no="160"?> lassen und ihnen möglichst viel Handlungsspielraum einzuräumen. Wenn sich diese Fähigkeit nicht herausgebildet hätte, dann könnten wir heute nicht so kommunizieren, wie wir es können. Der evolutionäre Ursprung von höflichem Verhalten überschneidet sich im Kern durchaus sowohl mit dem, was in Kapitel 2 als alltagssprachliche Höflichkeitsauffassung beschrieben wurde (man sollte sich möglichst be‐ danken, man sollte anderen Respekt erweisen etc.) als auch mit dem, was sich in Kapitel 4 als Sinn und Bedeutung von grammatikalisierten Höflich‐ keitsformen herauskristallisiert hatte. Die Ausführungen von Tomasello verweisen auf einen genetischen Zusammenhang aller Phänomene und Verhaltensweisen, die heute unter ‚Höflichkeit‘ subsumiert werden. Aus den allerersten, elementarsten Formen von Ausdruck von Dankbarkeit, Kooperativitätssignalen und Formen der Zurückhaltung in Bezug auf die Determination des Verhaltens anderer haben sich mit zunehmender Kom‐ plexität der Handlungszusammenhänge die verschiedensten Formen dessen entwickelt, was man heute Höflichkeit nennt: von Sprechhandlungen wie Entschuldigungen, Komplimenten oder Grüßen bis hin zu elaborierten Formen von Etikette als kodifizierte Version der Regeln, die auf Rücksicht‐ nahme und Signalisierung von Kooperationsbereitschaft basieren. Der kleinste gemeinsame Nenner all dessen, was in der Alltagssprache und in linguistischen Diskussionen als Höflichkeit eingestuft wird, ist immer noch der ursprüngliche Kern, der von Tomasello beschrieben wurde: Man sollte, wenn man erfolgreich kommunizieren will, betonen, dass man koope‐ rationsbereit ist und dass man davon ausgeht, dass auch andere kooperieren, und man sollte signalisieren, dass man seinen Mitmenschen nach Möglichkeit ihre Handlungsfreiheit lassen möchte. Es ist also möglich, in diachronischer und in synchronischer Perspektive eine direkte Linie zwischen Höflichkeit 1 und Höflichkeit 2 (vgl. Kapitel 2) zu ziehen. Es scheint sich hier um unterschiedliche Evolutionsstufen einer Reihe von Verhaltensdispositionen zu handeln, die auf dem gleichen Grundimpuls beruhen. Hier deutet sich ein ähnlicher Blick an, wie er in den oben zitierten Ausführungen von Haferland/ Paul vorgestellt wurde: Man kann hypothe‐ tisch annehmen, dass Höflichkeit sich im Laufe der Evolutionsgeschichte in Abhängigkeit von sprachlichen und sozialen Faktoren entwickelt hat, auf immer mehr Situationen angewendet wurde und so immer komplexer wurde. Offensichtlich wurde sie so wichtig, dass Menschen irgendwann angefangen haben, sie für bestimmte gesellschaftliche Kontexte zu kodi‐ fizieren und damit Verhaltensnormen aufzustellen, an die man sich zu 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 160 <?page no="161"?> halten hatte, wenn man als Mitglied der jeweiligen sozialen Gruppe erfolg‐ reich handeln wollte. Etikette stellt sich also als eine Weiterentwicklung dessen dar, was in der kommunikativen Kompetenz angelegt war - es wird von Etikettebüchern dann nur ins Normative gewendet, reduziert und vereinfacht, sodass der Gegenstand der Überlegungen streng genommen ein anderer wird. Eine Etiketteregel wie die, die besagt, dass der Ältere dem Jüngeren das Du anbieten sollte, ist eine ins Normative gewendete Manifestation der Intuition, dass ältere Menschen Respekt verdienen, dass man den Mitmenschen nicht zu nahe treten sollte, dass man ihnen ihre Handlungsfreiheit lassen sollte - natürlich unter den Bedingungen einer sozial stratifizierten Gesellschaft. Abb. V.2: Entwicklungsstufen der Höflichkeit nach Haferland/ Paul (1996) Wir können hier, anknüpfend an Kapitel 2, eine etwas genauere terminologische Unterscheidung vornehmen: Wir sprechen von sprachlicher Höflichkeit, wenn wir uns auf die in der kommunikativen Kompetenz verankerten Wissensbestände über situationsangemessenes Verhalten beziehen. Wir sprechen von Etikette, wenn wir von Normen sprechen, in denen soziale Gruppen den Umgang miteinander regulieren. Hier geht es also mehr um gesellschaftliche als kommunikative Kompetenz, um die Fähigkeit, die kommunikative Kompetenz entsprechend den gesellschaftlichen Gepflogenheiten einzusetzen. Solche Regeln und Normen sagen über das reale kommunikative Verhalten etwa so viel aus wie Gesetze über das Verhalten von Bürgern. Wenn man beobachten, beschreiben und analysieren will, was Menschen in ihrem Alltagsleben machen und warum sie so handeln, dann wird man kaum beim BGB, der Straßenverkehrsordnung oder anderen Gesetzestexten ansetzen. Analog verhält es sich mit der Linguistik der Höflichkeit: Wenn wir erfahren wollen, was Menschen wissen und können müssen, um einigermaßen erfolgreich miteinander kommunizieren zu können, dann ist die Etikette kein besonders geeignetes Material für Untersuchungen. Grice hat für informationsorientierte Handlungskontexte gezeigt, welches Wissen und welche wechselseitigen Annahmen SprecherInnen und HörerInnen sich einander unterstellen müssen, um erklären zu können, dass Kommunikation zustande kommt. Im Weiteren wird es darum gehen müssen, diesen Ansatz auf die Beziehungsaspekte der Kommunikation zu übertragen. Es wird also darum gehen, zu beschreiben, wie in diesem Bereich in Analogie zum Handlungsziel maximal effizient Informationen austauschen, Ziele und Maximen für die Ziele Kooperation signalisieren und dem Anderen seine Handlungsfreiheit lassen formuliert werden können und ob damit ein relevanter Beitrag zur Erklärung von sprachlicher Höflichkeit geleistet wäre. Wir werden also versuchen, die Verallgemeinerung vorzunehmen, die Grice in der oben zitierten Passage anregt. Man kann die evolutionären Befunde in den Termini der vorher diskutierten Ansätze zusammenfassend erst einmal so formulieren: Man darf auf dem Beziehungsohr nicht taub sein, und man darf auf der Beziehungsebene nicht stumm sein, wenn man sozialen Gruppen angehören und mit anderen Mitgliedern interagieren möchte. Und: Die Aufrechterhaltung der sozialen Kohäsion durch Beziehungsarbeit oder Beziehungsmanagement ist ein ausgesprochen wichtiges Ziel kommunikativer Aktivitäten. Ohne Kooperativität und kontinuierliche Bestätigung der Kooperationsbereitschaft hätte sich die kommunikative Kompetenz der Menschen nicht entwickeln können und könnte der kommunikative Zusammenhalt einer sozialen Gruppe nicht aufrechterhalten werden. Höflichkeit •Orientierung des (sprachlichen) Verhaltens an der Einschätzung der Beziehung zum Partner und an der antizipierten Auffassung des Partners Routine/ Ritual •Standardisierte Lösungen für rekurrente Probleme der Beziehungsgestaltung Etikette/ Norm • Kodifizierung Abb. V.2: Entwicklungsstufen der Höflichkeit nach Haferland/ Paul (1996) Wir können hier, anknüpfend an Kapitel 2, eine etwas genauere terminologi‐ sche Unterscheidung vornehmen: Wir sprechen von sprachlicher Höflichkeit, wenn wir uns auf die in der kommunikativen Kompetenz verankerten Wis‐ sensbestände über situationsangemessenes Verhalten beziehen. Wir sprechen von Etikette, wenn wir von Normen sprechen, in denen soziale Gruppen den Umgang miteinander regulieren. Hier geht es also mehr um gesellschaft‐ liche als kommunikative Kompetenz, um die Fähigkeit, die kommunikative Kompetenz entsprechend den gesellschaftlichen Gepflogenheiten einzusetzen. Solche Regeln und Normen sagen über das reale kommunikative Verhalten etwa so viel aus wie Gesetze über das Verhalten von Bürgern. Wenn man beobachten, beschreiben und analysieren will, was Menschen in ihrem Alltags‐ leben machen und warum sie so handeln, dann wird man kaum beim BGB, der Straßenverkehrsordnung oder anderen Gesetzestexten ansetzen. Analog verhält es sich mit der Linguistik der Höflichkeit: Wenn wir erfahren wollen, was Menschen wissen und können müssen, um einigermaßen erfolgreich 5.4 Kooperation und Höflichkeit: Ein Blick in die Evolution 161 <?page no="162"?> miteinander kommunizieren zu können, dann ist die Etikette kein besonders geeignetes Material für Untersuchungen. Grice hat für informationsorientierte Handlungskontexte gezeigt, wel‐ ches Wissen und welche wechselseitigen Annahmen SprecherInnen und HörerInnen sich einander unterstellen müssen, um erklären zu können, dass Kommunikation zustande kommt. Im Weiteren wird es darum gehen müssen, diesen Ansatz auf die Beziehungsaspekte der Kommunikation zu übertragen. Es wird also darum gehen, zu beschreiben, wie in diesem Bereich in Analogie zum Handlungsziel maximal effizient Informationen austauschen, Ziele und Maximen für die Ziele Kooperation signalisieren und dem Anderen seine Handlungsfreiheit lassen formuliert werden können und ob damit ein relevanter Beitrag zur Erklärung von sprachlicher Höflichkeit geleistet wäre. Wir werden also versuchen, die Verallgemeinerung vorzu‐ nehmen, die Grice in der oben zitierten Passage anregt. Man kann die evolutionären Befunde in den Termini der vorher disku‐ tierten Ansätze zusammenfassend erst einmal so formulieren: Man darf auf dem Beziehungsohr nicht taub sein, und man darf auf der Beziehungsebene nicht stumm sein, wenn man sozialen Gruppen angehören und mit anderen Mitgliedern interagieren möchte. Und: Die Aufrechterhaltung der sozialen Kohäsion durch Beziehungsarbeit oder Beziehungsmanagement ist ein ausgesprochen wichtiges Ziel kommunikativer Aktivitäten. Ohne Koopera‐ tivität und kontinuierliche Bestätigung der Kooperationsbereitschaft hätte sich die kommunikative Kompetenz der Menschen nicht entwickeln können und könnte der kommunikative Zusammenhalt einer sozialen Gruppe nicht aufrechterhalten werden. 5.5 Kommunikative Ziele, Maximen und Höflichkeit Wir hatten schon darauf hingewiesen, dass indirekte, über Implikaturen vermittelte Aussagen eigentlich erst einmal wenig effizient wirken: Es scheint sehr viel einfacher zu sein und weniger kognitiven Aufwand zu erfordern, zu sagen, dass zum Abendessen Lasagne erwünscht ist oder für Aufforderungen einen Imperativsatz zu verwenden. Warum sagt Daniela in unserem Beispiel also, dass sie jemanden zum Essen eingeladen hat, warum formulieren wir Fragesätze mit Konjunktiv, wenn wir jemanden zu etwas auffordern wollen usw.? 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 162 <?page no="163"?> Die Antwort auf diese Fragen lässt sich so auf den Punkt bringen: „Die direkt formulierte Äußerung ist zwar im allgemeinen gut verständlich, aber kommunikativ oft weniger erfolgversprechend. Eine direkt formulierte Bitte oder Aufforderung dürfte in manchen Situationen weniger Chancen haben, erfüllt zu werden als eine indirekte, per Implikatur formulierte“ (Keller 2018, 293). Ganz offensichtlich bestätigt sich hier die Einschätzung, dass der maximal effiziente Informationsaustausch nicht oder zumindest nicht immer das einzige und wichtigste Ziel kommunikativer Bemühungen ist. Es geht den SprecherInnen auch um etwas anderes. Im Falle des Abendessens könnte man vermuten, dass Daniela keine langweilige, banale Antwort geben und mit ihrem Gesprächspartner eine Art Rätsel spielen wollte. Die indirekt formulierten Aufforderungen dagegen stehen im Dienste der Beziehungsarbeit. Als kommunikative Ziele (neben der Vermittlung von Informationen) wären hier also Unterhaltung und Beziehungsmanagement anzusetzen. In beiden Beispielen liegt ein Zielkonflikt zugrunde: Wer unter‐ haltsam sein will, sollte nicht klar und eindeutig formulieren, sondern mit der Sprache spielen; wer die Beziehung zum anderen nicht gefährden will, sollte diesen nicht durch klar formulierte Direktiva sprachlich unter Druck setzen. Ein/ e SprecherIn, der/ die sowohl das Ziel verfolgt, ein/ e HörerIn dazu zu bringen, etwas für ihn/ sie zu tun als auch das, die Beziehung zu seiner/ ihrer PartnerIn nicht zu gefährden, muss also abwägen, was im Moment wichtiger ist: Wenn es die Klarheit der Aufforderung ist, dann kann er/ sie einen Imperativsatz wählen, wenn es die Beziehung ist, sollte er/ sie dem/ der HörerIn möglichst viel Entscheidungsspielraum einräumen. Schon bei Grice ist deutlich geworden, dass es zwischen kommunikativen Zielen und Maximen einen engen Zusammenhang gibt. Das wird auch von anderen AutorInnen immer wieder aufgegriffen. So betont Levinson: „Grice suggests that the maxims are in fact not arbitrary conventions, but rather describe rational means for conducting co-operative exchanges“ (Levinson 1983, 103). Maximen beschreiben also rationale Mittel zum Erreichen eines Zweckes: Wenn man informieren will, ist es sinnvoll, klar zu sein, nicht zu viele und nicht zu wenige Informationen zu liefern, nur Relevantes zu sagen usw. Man kann dies aus SprecherInnen- und aus HörerInnenperspektive betrachten: Aus der Sicht der SprecherInnen: Wenn wir kommunizieren, dann kooperieren wir, d. h., wir haben bestimmte Ziele und wählen rationale Mittel, um diese zu erreichen. Auf diese Weise können wir die HörerInnen dazu bringen, die von uns gewünschten Schlüsse zu ziehen. Aus HörerIn‐ nenperspektive: Wir verstehen, was ein/ e SprecherIn sagt, wenn wir ihm/ ihr 5.5 Kommunikative Ziele, Maximen und Höflichkeit 163 <?page no="164"?> erst einmal unterstellen, kooperativ zu sein, d. h., Ziele zu haben und rationale Mittel zu ihrem Erreichen einzusetzen. Wir können erkennen, welche Ziele er/ sie im gegebenen Moment verfolgt, wenn wir analysieren, welchen Maximen er/ sie in seinem/ ihrem Handeln folgt. Etwas allgemeiner gewendet: Das KP stellt die Grundlage für rationales kommunikatives Handeln dar. Das heißt, es verweist darauf, dass Spreche‐ rInnen Ziele verfolgen und geeignete Mittel für deren Realisierung wählen. Es ist die Grundlage dafür zu erkennen, dass kommuniziert wird. Die Maximen definieren effizientes Handeln; sie zeigen an, welche kommuni‐ kativen Ziele verfolgt werden können und wie das möglich ist. Sie sind die Grundlage dafür, zu erkennen, was kommuniziert wird. Übertragen auf unsere Beispiele: Die SprecherInnen lassen sich nicht nur von den Maximen der Quantität, Qualität, Relevanz und Modalität leiten, sondern auch von zusätzlichen Maximen - der von Grice bereits erwähnten Höflichkeitsmaxime und einer Maxime, die man vielleicht so formulieren könnte: „Unterhalte deinen Gesprächspartner durch originelle Formulie‐ rungen oder Ideensprünge“. In beiden Beispielen ist davon auszugehen, dass diese beiden Maximen in Konflikt mit der Maxime der Relevanz oder der Klarheit getreten sind und die jeweiligen SprecherInnen deswegen gegen letztere verstoßen haben. Das ist sinnvoll, wenn nicht sogar notwendig, um Ziele wie Unterhaltung oder Beziehungspflege zu erreichen, erhöht aber den kognitiven Aufwand für die Formulierung und für ihre Interpretation - und natürlich auch die Fehlerquote: Je indirekter eine Formulierung ausfällt, umso weniger determiniert sie das Verständnis der HörerInnen. Unter anderem deswegen ist es häufig umstritten, ob eine Äußerung in einem gegebenen Kontext als höflich verstanden werden kann oder nicht. An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob die Anzahl und die Art der Maximen arbiträr ist oder ob sie aus sprachlichen oder kommunikativen Gegebenheiten abgeleitet werden können. Damit eng verbunden ist natürlich die Frage, ob so etwas wie eine Höflichkeitsmaxime angenommen werden kann oder sogar muss, um ein vollständiges, erklärungskräftiges Bild des Kommunikationsproz‐ esses zu bekommen. Die Antwort auf diese Fragen verweist auf das, was vorher als mögliche Funktionen kommunikativer Handlungen beschrieben worden war. Wenn Maximen mit Zielen und Zwecken der jeweiligen Handlungen verbunden sind, dann muss es für jeden möglichen Zweck oder jede mögliche kommunikative Funktion mindestens eine einschlägige Maxime geben, die das Handeln der SprecherInnen und die Interpretation der HörerInnen leitet und die ausformuliert, wie das jeweilige Ziel erreicht werden kann. 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 164 <?page no="165"?> In einigen neueren Ansätzen werden in der Tat die aus der Tradition bekannten Ziele kommunikativen Handelns aufgegriffen und mit Maximen in Verbindung gebracht. Dabei wird in vielen Fällen ein Kosten-Nutzen-Mo‐ dell der Kommunikation zugrunde gelegt. Die Ziele werden als möglicher Nutzen gefasst, den die SprecherInnen sich erhoffen, der motorische oder kognitive Aufwand für die Realisierung von Sprechhandlungen wird als Kosten behandelt: „I find it helpful to think of ‚cost‘ and ‚benefit‘ in terms of goals“ (Leech 2014, 136). Keller übernimmt den Versuch, aus einer als exhaustiv verstandenen Liste aller möglichen kommunikativen Nutzen entsprechende Maximen abzuleiten: „Wenn es richtig ist, daß die Maximen der Identifikation der Ziele dienen, sollte Art und Anzahl der Maximen aus einer Klassifikation möglicher kommunikativer Ziele ableitbar sein. Dies ist in der Tat der Fall“ (Keller 2018, 290). Wenn man dieser Argumentation folgt, dann sind die Maximen in ihrer Formulierung sicher beliebig, ihre Anzahl und ihre prinzipielle Ausrichtung aber nicht. Wenn man angeben kann, wozu SprecherInnen überhaupt kommunizieren, dann kann man auch sagen, welche Maximen angenommen werden müssen, um Kommunikation erklären zu können. Wenn Beziehungspflege als ein mögliches Ziel akzep‐ tiert wird, dann muss man annehmen, dass diese auch von einer Maxime geleitet wird - hier kann die Höflichkeitsmaxime eingeordnet werden. Keller entwirft ein Bild vom möglichen Nutzen von kommunikativen Handlungen: Formulierung und für ihre Interpretation - und natürlich auch die Fehlerquote: Je indirekter eine Formulierung ausfällt, umso weniger determiniert sie das Verständnis der HörerInnen. Unter anderem deswegen ist es häufig umstritten, ob eine Äußerung in einem gegebenen Kontext als höflich verstanden werden kann oder nicht. An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob die Anzahl und die Art der Maximen arbiträr ist oder ob sie aus sprachlichen oder kommunikativen Gegebenheiten abgeleitet werden können. Damit eng verbunden ist natürlich die Frage, ob so etwas wie eine Höflichkeitsmaxime angenommen werden kann oder sogar muss, um ein vollständiges, erklärungskräftiges Bild des Kommunikationsprozesses zu bekommen. Die Antwort auf diese Fragen verweist auf das, was vorher als mögliche Funktionen kommunikativer Handlungen beschrieben worden war. Wenn Maximen mit Zielen und Zwecken der jeweiligen Handlungen verbunden sind, dann muss es für jeden möglichen Zweck oder jede mögliche kommunikative Funktion mindestens eine einschlägige Maxime geben, die das Handeln der SprecherInnen und die Interpretation der HörerInnen leitet und die ausformuliert, wie das jeweilige Ziel erreicht werden kann. In einigen neueren Ansätzen werden in der Tat die aus der Tradition bekannten Ziele kommunikativen Handelns aufgegriffen und mit Maximen in Verbindung gebracht. Dabei wird in vielen Fällen ein Kosten-Nutzen-Modell der Kommunikation zugrunde gelegt. Die Ziele werden als möglicher Nutzen gefasst, den die SprecherInnen sich erhoffen, der motorische oder kognitive Aufwand für die Realisierung von Sprechhandlungen wird als Kosten behandelt: „I find it helpful to think of ‚cost‘ and ‚benefit‘ in terms of goals“ (Leech 2014, 136). Keller übernimmt den Versuch, aus einer als exhaustiv verstandenen Liste aller möglichen kommunikativen Nutzen entsprechende Maximen abzuleiten: „Wenn es richtig ist, daß die Maximen der Identifikation der Ziele dienen, sollte Art und Anzahl der Maximen aus einer Klassifikation möglicher kommunikativer Ziele ableitbar sein. Dies ist in der Tat der Fall“ (Keller 2018, 290). Wenn man dieser Argumentation folgt, dann sind die Maximen in ihrer Formulierung sicher beliebig, ihre Anzahl und ihre prinzipielle Ausrichtung aber nicht. Wenn man angeben kann, wozu SprecherInnen überhaupt kommunizieren, dann kann man auch sagen, welche Maximen angenommen werden müssen, um Kommunikation erklären zu können. Wenn Beziehungspflege als ein mögliches Ziel akzeptiert wird, dann muss man annehmen, dass diese auch von einer Maxime geleitet wird - hier kann die Höflichkeitsmaxime eingeordnet werden. Keller entwirft ein Bild vom möglichen Nutzen von kommunikativen Handlungen: Abb. V.3: nach: Keller (2018, 291) Wahlhandlungen Nutzen informativ Persuasion Repräsentation sozial Image Beziehung Ästhetik Kosten motorisch kognitiv Abb. V.3: nach: Keller (2018, 291) 5.5 Kommunikative Ziele, Maximen und Höflichkeit 165 <?page no="166"?> Hier werden fünf Typen von möglichem Nutzen kommunikativer Hand‐ lungen angenommen (im Schema fett gedruckt). Sie entsprechen in groben Linien dem, was aus der bisher referierten Diskussion bekannt ist und stellen eine pragmatisch motivierte Synthese der bekannten Ansätze dar. Erkennbar ist zunächst die klassische Unterscheidung in epistemische und soziale Funktion, hier als informativer und sozialer Nutzen. Beide werden weiter untergliedert, und der Überblick wird durch den ästhetischen Nutzen vervollständigt. Insgesamt lässt sich das gut mit den Modellen von Bühler, Jakobson und Schulz von Thun vergleichen. In der folgenden Tabelle haben wir die Gemeinsamkeiten, ungefähre Entsprechungen und Unterschiede zusammengefasst: Keller Bühler Jakobson Schulz von Thun Gegen‐ stand Repräsenta‐ tion Darstellung referentielle Funktion Sachseite Sender Image Ausdruck Expressive Funktion Selbstkundgabe Empfänger Persuasion Appell Konative Funktion Appellseite Kontakt Beziehung Phatische Funktion Beziehungsseite Code Metasprach‐ liche Funktion Botschaft Ästhetik Poetische Funktion Abb. V.4: Sprachfunktionen im Vergleich In Kellers Ansatz wird noch einmal besonders deutlich, dass es sich bei den Nutzen nicht um Alternativen handelt, die sich gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil: Normalerweise formulieren wir unsere Kommunikationsbei‐ träge, um etwas mitzuteilen, um die PartnerInnen von etwas zu überzeugen, um etwas über uns selbst auszudrücken, um eine Beziehung zu PartnerInnen auf- oder auszubauen und um schön, originell, ansprechend zu reden oder zu schreiben. Je nach Textsorte, Kontext oder Teilnehmerkonstellation kann allerdings die eine oder die andere Kategorie überwiegen. Eine Bedienungs‐ anleitung wird vor allem des repräsentativen Nutzens wegen geschrieben 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 166 <?page no="167"?> und gelesen, bei einer Werbeanzeige überwiegt die Ausrichtung am persu‐ asiven und am Image-Nutzen, bei einem Bewerbungsschreiben eher die Imageorientierung. Jede/ r LeserIn eines Textes hat eine ungefähre Vorstellung von der Textsortenzugehörigkeit des jeweiligen Exemplars und damit von der Hauptfunktion oder den Hauptfunktionen. Die LeserInnen eines Bewer‐ bungsschreibens wissen sehr genau, dass es dem/ der AutorIn in erster Linie darum gehen wird, sich selbst in ein günstiges Licht zu rücken. Er/ Sie wird natürlich keine falschen Informationen geben, aber die Tatsache doch immer so auswählen und präsentieren, dass ein positives Bild entsteht. Je nach SprecherIn kann es natürlich zu individuellen Variationen kommen. Als HörerIn oder LeserIn haben wir deswegen immer auch die Aufgabe, verstehen zu müssen, worum es dem/ der SenderIn im vorliegenden Fall gerade geht, was er oder sie uns mitteilen möchte. Wir tun das, indem wir versuchen, von den verwendeten sprachlichen Mitteln Rückschlüsse auf Intentionen und Funktionen zu ziehen. Dabei helfen uns die Maximen oder, anders gesagt, unser Wissen darüber, welche Mittel man sinnvollerweise für welche Zwecke verwenden kann. Grice hatte darauf hingewiesen, dass seine Darstellung so tut, als ginge es in der Kommunikation um maximal effizienten Informationsaustausch. Die vier Maximen decken also den Bereich des informativen Nutzens (Persuasion und Repräsentation) ab. Wenn man davon ausgeht, dass die anderen Arten von Nutzen ebenfalls relevante Kategorien für die Beschrei‐ bung und Erklärung von Kommunikation sind, dann muss man, analog zur Darstellung von Grice, Maximen für Imagearbeit, Beziehungsarbeit und ästhetischen Nutzen formulieren. Die Formulierungen sollten möglichst genau widerspiegeln, was SprecherInnen und HörerInnen für geeignete Mittel zum Erreichen des betreffenden Zieles halten; sie müssen sich an der kommunikativen Realität orientieren. Sinnvoll ist es außerdem, möglichst wenige allgemeine Prinzipien anzunehmen, die dann ggf. durch Unterma‐ ximen ergänzt werden können wie das ja auch bei Grice gehandhabt wird. Es liegt nahe, hier die theoretische Verankerung von Höflichkeit anzu‐ setzen. Schon Lakoff (1973), Leech (1983) und Brown/ Levinson (1987) als Klassiker der linguistischen Höflichkeitstheorie hatten sich auf Grice und das KP gestützt. Wir werden im folgenden Kapitel auf ihre Ansätze und auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu unserem Vorschlag zurückkommen. Im vorliegenden Kapitel war Höflichkeit als Teil der phatischen Funktion und der Beziehungsseite identifiziert worden. Zusätzlich verweisen wir auf 5.5 Kommunikative Ziele, Maximen und Höflichkeit 167 <?page no="168"?> das Kapitel über Sprache und Höflichkeit, in dem die Diskussion immer wieder darauf hinauslief, die sprachlichen Strukturen, die in Grammatiken als Höflichkeitsformen geführt werden, als Mittel der Beziehungsorganisa‐ tion zu betrachten. Alles spricht dafür, in dem, was man unter ‚Höflichkeit‘ subsumiert, ein zentrales, wenn nicht gar das zentrale Mittel der Beziehungs‐ gestaltung zu sehen. Darauf weisen Kádár/ Haugh zu Beginn ihres Buches hin: „Politeness is a key means by which humans work out and maintain interpersonal relationships“ (Kádár/ Haugh 2013, 1). Als allgemeine Maxime für den Beziehungsnutzen kann also gelten: „Sei höflich.“ Diese Maxime beschreibt eine Erwartung, die Personen, die an einem kommunikativen Austausch teilnehmen, wechselseitig aneinander richten. Man kann die Erwartung auch ausführlicher formulieren: Die GesprächspartnerInnen gestalten und definieren die Beziehung zu den anderen durch die Wahl ihrer sprachlichen Mittel in einer Weise, die sie für konsensfähig halten. Einfacher ausgedrückt: Alle gehen mit den anderen so um, wie sie glauben, dass diese es erwarten und akzeptieren können. Das betrifft vor allem die Definition des hierarchischen Verhältnisses, der sozialen Nähe oder Distanz und variiert in Abhängigkeit von der Art der vollzogenen Sprechhandlung. Die Art der zur Beziehungsgestaltung eingesetzten Mittel und ihre Ak‐ zeptabilität ändern sich je nachdem, ob wir (z. B.) mit Vorgesetzten oder Untergebenen sprechen, mit FreundInnen, Bekannten oder Unbekannten und wird in einer dringenden Warnung anders ausfallen als bei einer Einladung. Gleichzeitig drücken die von dem/ der SprecherIn gewählten Formen u. a. aus, wie er/ sie die hierarchische und soziale Distanz zu den HörerInnen einschätzt und welchen Stellenwert er/ sie der jeweiligen Hand‐ lung einräumt. Auch auf diese Faktoren werden wir in der Diskussion im nächsten Kapitel zurückkommen. Bleiben wir erst einmal bei der Formulierung der Maximen. Kellers Vorschlag für die Beziehungsmaxime lautet: „Sei höflich (dominant, unter‐ würfig usw.)“ (Keller 2018, 292). Höflich steht hier neben einer kaum spezi‐ fizierten Reihe von anderen Adjektiven, die auf Beziehungsbeschreibungen verweisen. Nicht nur die einschlägige sprachwissenschaftliche Diskussion, sondern auch die Intuition verweisen aber darauf, dass der Höflichkeit hier eine herausgehobene Stellung zukommt: Die Maximen beschreiben ja, was SprecherInnen und HörerInnen voneinander erwarten; nun gehört Unter‐ würfigkeit oder Dominanz sicher nicht zu den Normalitätserwartungen in Gesprächen. Es würde kaum jemandem einfallen, bei einer Interaktionspart‐ nerIn zu beanstanden, dass sie nicht dominant oder nicht unterwürfig ist. 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 168 <?page no="169"?> Wenn es um Höflichkeit geht, ist das aber durchaus der Fall. Man erwartet von anderen ein gewisses Maß an Höflichkeit und wenn das ausbleibt, dann fällt es negativ auf und wird unter Umständen auch explizit thematisiert. Höflichkeit beschreibt ziemlich exakt das, was im Hinblick auf Bezie‐ hungsgestaltung von SprecherInnen geleistet werden muss, um die Kommu‐ nikation effizient zu gestalten, eine Fortsetzung des Gesprächs zu ermögli‐ chen und Störungen zu vermeiden. Es gibt eine Reihe von Gründen, die es angemessen oder sogar notwendig machen, die Höflichkeitsmaxime als zentrale Maxime für den Beziehungsnutzen einzusetzen und damit die von Grice entworfene Aufzählung von Maximen zu ergänzen. Für die weiteren kommunikativen Ziele (oder Nutzen) müssen dann noch andere Maximen angenommen werden. Keller nennt für den Image-Nutzen (die Selbstdarstellung) „Stelle dich positiv dar.“ Man könnte alternative Formulierungen erwägen wie etwa „Stelle dich so dar, wie du gesehen werden möchtest.“ Oder: „Sei authentisch.“ In der Substanz geht es auch in diesem Bereich darum, durch die Maxime möglichst realistisch das wieder‐ zugeben, was KommunikationsteilnehmerInnen wechselseitig voneinander erwarten, wenn sie unterstellen, dass die jeweils anderen sich mit rationalen Mitteln dem Ziel des Gesprächs angemessen präsentieren. Dieser Bereich muss hier nicht vertieft werden, da es uns vor allem um Höflichkeit und Beziehungspflege geht. Die Maxime für den ästhetischen Nutzen soll hier aus diesem Grund auch nur erwähnt werden: „Drücke dich schön (amüsant, anspruchsvoll usw.) aus.“ SprecherInnen halten sich normalerweise an alle diese Maximen. Je nach Kontext, Textbzw. Gesprächssorte und individuellen Schwerpunkten kann die eine oder andere Maxime relevanter werden und in Konflikt mit anderen geraten. Dann muss der/ die SprecherIn sich entscheiden, was wichtiger ist. In einem akademischen Vortrag etwa geht es vor allem um Informations‐ austausch, genauer um eine möglichst objektive Darstellung von Fakten und Zusammenhängen. Die anderen Ziele spielen auch eine Rolle, sind hier aber im Normalfall als sekundär zu betrachten: Der/ die Vortragende will natürlich auch die ZuhörerInnen von einer bestimmten Position über‐ zeugen (Persuasion), er/ sie will, (z. B.) als kompetent, belesen, intelligent wahrgenommen werden (Image), er/ sie will eine positive Beziehung zum Publikum konstruieren, damit die ZuhörerInnen dem Vortrag folgen können und ihn/ sie vielleicht sympathisch finden (Beziehung). Und er/ sie will 5.5 Kommunikative Ziele, Maximen und Höflichkeit 169 <?page no="170"?> schließlich die Fakten in ansprechender Form darstellen, das Publikum auch unterhalten und so dafür sorgen, dass das Gesagte gut ankommt (Ästhetik). In diesem idealisierten Beispiel steht die Beziehungsarbeit im Dienste der Information: Der/ die RednerIn ist höflich, damit das Publikum seine/ ihre Ausführungen aufmerksam verfolgt und ihnen am Ende zustimmt. Im Einzelfall kann das natürlich auch anders sein: Der/ die RednerIn kann den Vortrag auch in erster Linie deswegen halten, damit der/ die eine oder andere ZuhörerIn ihn oder sie zukünftig eher für eine/ n gleichrangige DiskussionspartnerIn hält als dies in der Vergangenheit der Fall war, damit sich also die Beziehung zwischen RednerIn und ZuhörerIn in eine bestimmte Richtung entwickelt. In anderen Situationen, etwa beim Komplimentieren oder beim Austausch von Grußformeln, steht der Beziehungsnutzen im Vordergrund, der Informationsgehalt der Äußerungen spielt keine zentrale Rolle. Das gleiche gilt für viele Nachrichten, die über Twitter, Facebook, SMS, WhatsApp o. ä. ausgetauscht werden. Wichtig dabei ist: Je nach dem schwerpunktmäßig zu erreichenden Ziel werden SprecherInnen passende sprachliche Mittel wählen. Im Vortragsbei‐ spiel: Wenn es dem/ der Rednerin vorrangig oder auch um Beziehungsnutzen geht, dann wird er/ sie im Laufe ihres Vortrages die ZuhörerInnen direkt an‐ sprechen, er/ sie könnte ihnen Komplimente machen, besonders elaborierte Gruß- und Abschiedsformeln verwenden usw. Mit anderen Worten: Er/ sie wird höflich sein. Die ZuhörerInnen ihrerseits erkennen an der Art der verwendeten sprachlichen Mittel, dass der/ die RednerIn der Höflichkeits‐ maxime folgt. Sie schließen daraus, dass er/ sie Beziehungsarbeit leistet und werden diese mehr oder weniger angemessen oder passend finden. Sie schätzen den/ die RednerIn als höfliche Person ein, wenn die Art der Beziehungsarbeit zu ihrer (der HörerInnen) Vorstellung des Verhältnisses zwischen den Beteiligten passt. Andernfalls wird der/ die Vortragende ihnen unhöflich, unverschämt, unterwürfig, ungeschickt, schmeichlerisch o. ä. vorkommen. Eine genauere Bestimmung von kommunikativen Beziehungsaktivitäten nimmt Holly (1979 und 2001) vor. An einem einfachen Beispiel macht er zu‐ nächst die Vielschichtigkeit und auch die Relevanz des Beziehungsaspektes deutlich. Er geht davon aus, dass es hierbei um kommunikative Aktivitäten geht, die nicht mit dem Ausdruck von Einstellungen gegenüber dem proposi‐ tionalen Gehalt und auch nicht mit der Strukturierung des kommunikativen Austausches zusammenfallen: „Es geht […] um die Sicherung der wechsel‐ seitigen Anerkennung der Interaktanten als Individuen, die ein gewisses 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 170 <?page no="171"?> Maß an Beachtung und Rücksichtnahme durch die Interaktionspartner, aber auch durch die eigene Handlungsweise beanspruchen; dies macht die Grundlage zwischenmenschlicher Beziehungen überhaupt aus“ (Holly 1979, 23). Menschliche Beziehungen werden also durch Kommunikation konsti‐ tuiert und insbesondere durch diejenigen kommunikativen Aktivitäten, die sich als Beziehungsaspekt zusammenfassen lassen. Ein genauerer Blick auf diesen Bereich zeigt, dass sich Beziehungsarbeit in vier Dimensionen untergliedern lässt (vgl. dazu Holly 2001, 1384 f.): a. horizontal: SprecherInnen und HörerInnen nehmen einen be‐ stimmten kommunikativen Abstand voneinander ein; sie konstitu‐ ieren sich durch entsprechende kommunikative Signale als Fremde, Bekannte, Vertraute, intim miteinander Verbundene usw. Vor allem der Gebrauch der Anredeformen ist in diesem Bereich funktional. b. vertikal: In Abhängigkeit von sozialen Parametern, aber auch von Gegebenheiten der Situation nehmen SprecherInnen und HörerInnen einen kommunikativen Rang ein. Ein Machtgefälle manifestiert sich beispielsweise in einer unterschiedlichen Verteilung des Rederechts, in der Befugnis, die Interaktion zu initiieren/ zu beenden oder im Recht auf die Realisierung bestimmter Sprechhandlungen (Anweisungen geben, Befehlen usw.). Die Partnerkonstellation kann symmetrisch oder asymmetrisch ausgebildet sein. c. evaluativ: Die an einer Interaktion Beteiligten bringen eine bestimmte kommunikative Wertschätzung der jeweils anderen zum Ausdruck. Die SprecherInnen bewerten sowohl sich selbst als auch die Partne‐ rInnen und konstituieren auch damit eine spezifische und dynamische Konstellation auf der Beziehungsebene. Als Grundtypen von solchen Bewertungen benennt Holly (1979, 75 f.) Selbstbestätigung, Partner‐ bestätigung, Selbstkritik und Partnerkritik. d. affektiv: In der Interaktion wird deutlich, ob die Beteiligten Sympa‐ thie, Antipathie oder andere Gefühle füreinander empfinden. Die kommunikative Gefühlslage ist sicher in engem Zusammenhang mit der evaluativen Dimension zu sehen. Diese bezieht sich jedoch eher auf die Bewertung der kommunikativen Handlungen der Partne‐ rInnen, während die affektive Komponente allgemeinere emotionale Haltungen erfasst. 5.5 Kommunikative Ziele, Maximen und Höflichkeit 171 <?page no="172"?> Schematisch zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: als auch die PartnerInnen und konstituieren auch damit eine spezifische und dynamische Konstellation auf der Beziehungsebene. Als Grundtypen von solchen Bewertungen benennt Holly (1979, 75f.) Selbstbestätigung, Partnerbestätigung, Selbstkritik und Partnerkritik. d) affektiv: In der Interaktion wird deutlich, ob die Beteiligten Sympathie, Antipathie oder andere Gefühle füreinander empfinden. Die kommunikative Gefühlslage ist sicher in engem Zusammenhang mit der evaluativen Dimension zu sehen. Diese bezieht sich jedoch eher auf die Bewertung der kommunikativen Handlungen der PartnerInnen, während die affektive Komponente allgemeinere emotionale Haltungen erfasst. Schematisch zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: Abb. V.5: Dimensionen der kommunikativen Beziehungsaktivität nach Holly 2001 Dabei ist zu beachten, dass alle Dimensionen jeweils einen individuellen und einen interaktiven Aspekt haben: Kommunikative Aktivitäten auf der Beziehungsebene bringen einerseits eine Einstellung zum Ausdruck und konstituieren andererseits eine bestimmte Konstellation. SprecherInnen indizieren durch die Wahl der sprachlichen Mittel, wie sie die Beziehung zu den PartnerInnen einschätzen und konditionieren damit die Art der Folge-Interaktion, weil die HörerInnen auf diese Signale reagieren müssen und sich infolgedessen eine bestimmte • kommunikative Gefühlslage (emotionale Haltung, Sympathie, Antipathie usw.) • kommunikative Wertschätzung (Bestätigung oder Kritik an Selbst bzw. Partner) • kommunikativer Rang (symmetrisch, asymmetrisch, Machtdistanz) • kommunikativer Abstand (fremd, vertraut, bekannt, intim usw.) horizontal vertikal affektiv evaluativ Abb. V.5: Dimensionen der kommunikativen Beziehungsaktivität nach Holly 2001 Dabei ist zu beachten, dass alle Dimensionen jeweils einen individuellen und einen interaktiven Aspekt haben: Kommunikative Aktivitäten auf der Bezie‐ hungsebene bringen einerseits eine Einstellung zum Ausdruck und konsti‐ tuieren andererseits eine bestimmte Konstellation. SprecherInnen indizieren durch die Wahl der sprachlichen Mittel, wie sie die Beziehung zu den PartnerInnen einschätzen und konditionieren damit die Art der Folge-In‐ teraktion, weil die HörerInnen auf diese Signale reagieren müssen und sich infolgedessen eine bestimmte Interaktionsatmosphäre herausbildet, die dann wiederum die Form der Anschlusshandlungen beeinflusst. Bevor wir versuchen werden, die Konsequenzen eines solchen Ansatzes für die Theorie der sprachlichen Höflichkeit vorerst zusammenzufassen, diskutieren wir anhand eines Beispiels die Anwendbarkeit und den analyti‐ schen Nutzen der hier entwickelten Auffassungen. 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 172 <?page no="173"?> 5.6 Ein Beispiel: Bundestagsdebatte Das Beispiel, anhand dessen wir verifizieren wollen, ob und inwieweit sich die Rede von kommunikativem Nutzen und Maximen auf die kommunika‐ tive Realität anwenden lässt und was daraus für den Höflichkeitsbegriff folgt, ist eine Debatte aus dem deutschen Bundestag. Wie Diskussionen in Internetforen (vgl. dazu z. B. Ehrhardt 2009) und andere Kommunikationsformen im Internet gelten Parlamentsdebatten und -reden nicht gerade als Paradebeispiele für höfliches Verhalten. Im Gegenteil: Viele Beobachter weisen darauf hin, dass hier eher Grobheit, Flegelhaftigkeit, Unhöflichkeit und Polemik charakteristisch sind. Gerade deshalb erscheint es uns aber interessant zu untersuchen, ob Höflichkeit im oben beschriebenen Sinne hier auch eine Rolle spielt und wenn ja, welche. Wenn es stimmt, dass Höflichkeit ein unverzichtbarer Bestandteil so gut wie jeder Interaktion ist, dann müsste nachweisbar sein, dass auch RednerInnen in Parlamenten Höflichkeit praktizieren, dass sie im beschriebenen Sinne Beziehungsarbeit leisten, die auf ein interaktives Gleichgewicht ausgerichtet ist. Wenn wir das sprachliche Verhalten von ParlamentsrednerInnen un‐ tersuchen und im Hinblick auf Höflichkeit oder Unhöflichkeit bewerten wollen, dann müssen wir natürlich den Kontext berücksichtigen, in dem die sprachliche Interaktion stattfindet. Höflichkeit wird nie im luftleeren Raum vollzogen; der kommunikative Rahmen, in dem Sprechhandlungen vollzogen werden, beeinflusst diese und muss bei der Analyse in Betracht gezogen werden. Man wird kaum davon ausgehen können, dass Höflichkeit im Parlament die gleichen Erscheinungsformen aufweist wie Höflichkeit bei einem diplomatischen Empfang oder bei einem privaten Abendessen. Hier stellt sich die Frage, ob in diesen verschiedenen Situationen Gemeinsam‐ keiten auftreten, die es rechtfertigen, in allen Fällen von Höflichkeit zu reden oder ob es angemessener ist, diesen Begriff für diplomatische und ähnliche Kontexte zu reservieren. Wir werden deswegen in der gebotenen Kürze einige höflichkeitsrelevante Besonderheiten der Kommunikationssituation im Bundestag beschreiben und dann anhand einiger Beispiele versuchen zu zeigen, wie die Rahmenbedingungen mit dem Verhalten der Akteure und Akteurinnen zusammenhängen und welches Bild von Höflichkeit oder Unhöflichkeit sich daraus ableiten lässt. Bundestagsdebatten haben als Objekte linguistischer Überlegungen den Vorteil, dass sie sehr gut dokumentiert und einfach zugänglich sind. Auf 5.6 Ein Beispiel: Bundestagsdebatte 173 <?page no="174"?> den Internetseiten des Bundestages (https: / / www.bundestag.de/ protokolle) findet man Videoaufzeichnungen aller Plenardebatten und auch die Plenar‐ protokolle, die auf stenografischen Mitschriften beruhen. Wir werden uns im Folgenden vor allem auf eine Debatte beziehen: Es handelt sich um die Haushaltsdebatte des Jahres 2020, die es zu einiger Berühmtheit gebracht hat, weil die Bundeskanzlerin darin in für sie ungewöhnlich emotionalen Tönen die Corona-Politik ihrer Regierung erklärt und gerechtfertigt hat (Bundestag 179). Gelegentlich werden wir auch Auszüge aus anderen Ple‐ narsitzungen heranziehen, um einen etwas breiteren Eindruck zu geben. Es geht dabei nicht um eine linguistische Analyse von Parlamentsreden (vgl. dazu Burkhardt 2003 oder Burkhardt/ Pape 2000) oder um Überlegungen zum Zusammenhang von Sprache, Sprachgebrauch und Politik (vgl. dazu z. B. Niehr 2014). Es geht nur um die Frage, ob und wie Höflichkeit in dieser speziellen Form von Interaktion relevant ist, und ob man aus diesen Analysen Präzisierungen des Höflichkeitsbegriffes ableiten kann, ob dieser eventuell korrigiert, ergänzt oder modifiziert werden muss. Bundestagsreden sind vorrangig monologische Texte. Die SprecherInnen sind gewählte Abgeordnete des Parlaments. Sie haben für ihre Beiträge eine bestimmte Zeitspanne zur Verfügung und haben in diesen Minuten das Recht, alleine zu reden. Der Inhalt einer Rede kann von folgenden RednerInnen aufgegriffen werden, so entsteht so etwas wie ein Dialog zwischen verschiedenen Monologen. Die Protokolle verzeichnen aber auch immer wieder dialogische Momente im engeren Sinne: Die ZuhörerInnen re‐ agieren durch Beifall, Zurufe oder Zwischenrufe auf das Gesagte; manchmal nehmen die RednerInnen diese Beiträge auch auf, sodass tatsächlich kleine Dialoge entstehen, die die eigentliche Rede unterbrechen. Aber auch in den monologischen Passagen finden sich zahlreiche Momente, in denen RednerInnen ihr Publikum ansprechen und versuchen, eine Beziehung zu den HörerInnen aufzubauen. Hier ist also durchaus zu erwarten, dass Höflichkeit eine gewisse Rolle spielt. Charakteristisch ist zudem, dass es sich um öffentliche Debatten handelt, in denen es um alle Fragen geht, die für die politische Situation des Landes relevant sind und in denen sehr unterschiedliche Positionen und Meinungen aufeinandertreffen. Niemand erwartet, dass alle RednerInnen die gleiche Auffassung vertreten - sollten sie dies ausnahmsweise doch tun, dann wird in der Öffentlichkeit an der Repräsentativität des Parlaments gezweifelt. Konsens ist also nicht erwünscht, Dissens zwischen den verschiedenen RednerInnen wird erwartet und bevorzugt. Es kann also - im Unterschied 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 174 <?page no="175"?> zu vielen anderen Redekontexten - kaum als unhöflich angesehen werden, wenn Abgeordnete einander widersprechen. Im Gegenteil: Erst wenn sie sich widersprechen, tun sie das, was der Souverän von ihnen erwartet. Alle RednerInnen sprechen dabei als Individuen, aber auch als Repräsen‐ tanten in mehrfachem Sinn: Abgeordnete sind RepräsentantInnen einer Partei und Fraktion und werden in den Protokollen auch immer so vorge‐ stellt, darüber hinaus sind sie in vielen Fällen RepräsentantInnen eines Wahlkreises und/ oder einer Region, eines Parteiflügels usw. RednerInnen sprechen also nie für sich alleine, sondern immer auch im Namen anderer und müssen damit rechnen, dass eventuelles Fehlverhalten auch auf diese anderen Gruppen zurückfällt, dass sie als RednerInnen also auf mehreren Ebenen Verantwortung für das tragen, was sie sagen und wie sie es sagen. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass das Parlament als Ganzes als Volksvertretung fungiert und jede/ r einzelne Abgeordnete auch allen StaatsbürgerInnen Rechenschaft für sein/ ihr (auch sprachliches) Handeln schuldig ist. Ähnlich verhält es sich mit den AdressatInnen. Bundestagsreden sind ein klarer Fall von Mehrfachadressierung. Die RednerInnen wenden sich an die anderen Parlamentsabgeordneten, an die Gäste im Plenarsaal, aber auch an eine nicht in der Situation präsente Öffentlichkeit: Interessierte BürgerInnen können die Debatten live im Fernsehen verfolgen, sie können in Nachrichtensendungen Ausschnitte daraus hören oder sehen, oder sie können die Protokolle nachlesen bzw. die Videoaufzeichnungen in einem Moment ihrer Wahl verfolgen. Teilweise werden die verschiedenen Gruppen in der Einleitungsformel von den Abgeordneten explizit angesprochen: (1) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer vor den Bildschirmen! (Manfred Grund (CDU/ CSU), Bundestag 179, 22578) Es handelt sich um einen sehr breiten und heterogenen Kreis von Ad‐ ressatInnen, zu denen die RednerInnen auch sehr unterschiedliche Arten von Beziehungen pflegen: Teilweise handelt es sich um KollegInnen und um politische KonkurrentInnen, teilweise um verschiedenste Gruppen von WählerInnen und BürgerInnen; einige ZuhörerInnen sind Politik-Exper‐ tInnen, andere sind kaum über die dargestellten Zusammenhänge infor‐ miert. Höflichkeit wird hier zu einem Balanceakt: Eine Äußerung, die die KollegInnen oder KonkurrentInnen durchaus akzeptabel finden könnten, ist für die Öffentlichkeit oder zumindest Teile von ihr eventuell schon 5.6 Ein Beispiel: Bundestagsdebatte 175 <?page no="176"?> unhöflich. Vorschnelle und einfache Urteile über den Höflichkeitsgrad von Äußerungen verbieten sich damit. Die Redebeiträge sind in erster Linie auf Persuasion ausgerichtet. Die RednerInnen verfolgen das Ziel, andere Menschen von ihrer Position zu überzeugen. Auch hier kann das konkret sehr viel bedeuten: Die eigene Fraktion soll von der Position des/ der RednerIn überzeugt werden, die Abgeordneten der anderen Fraktionen sollen davon überzeugt werden, dass die jeweilige Stellungnahme vernünftig ist und vielleicht sogar geteilt werden kann, die BürgerInnen sollen davon überzeugt werden, dass ihre RepräsentantInnen ihre Interessen gut vertreten und die BürgerInnen im Wahlkreis sollen motiviert werden, redende Abgeordnete bei der nächsten Wahl zu unterstützen. In der parlamentsinternen Kommunikation dürfte zudem allen RednerInnen bewusst sein, dass in den meisten Fällen kaum eine Chance besteht, die politischen GegnerInnen von den eigenen Zielen zu überzeugen. Die Positionen sind wechselseitig bekannt und notorisch so festgelegt, dass auch noch so ausgefeilte Argumentationen kaum eine Meinungsänderung bewirken können. Die anderen kommunikativen Ziele sind dem primären Ziel der Per‐ suasion untergeordnet, spielen für den Erfolg der Kommunikation aber trotzdem eine wichtige Rolle. Wer andere von etwas überzeugen möchte, muss natürlich auch Fakten präsentieren (Repräsentationsziel); er/ sie muss sich selbst als kompetent, gut vorbereitet, seriös usw. präsentieren (Image-Ziel), um glaubwürdig zu sein; er/ sie sollte anregend, unterhaltsam usw. sprechen (Ästhetik), damit das Publikum möglichst aufmerksam zuhört - und er/ sie sollte die AdressatInnen in eine Beziehung einbinden, damit diese sich ihm/ ihr nahe fühlen, ihn/ sie sympathisch finden, als einen aus ihrer Mitte auffassen, als Experten oder Expertin anerkennen usw. Der mehr oder weniger ausgeprägte Grad an Höflichkeit von Äußerungen steht in Zusammenhang mit dem zuletzt genannten Ziel. Nach der oben diskutierten Auffassung wäre ein Redebeitrag oder ein Teil davon genau dann höflich, wenn er eine Beziehungsdefinition kommuniziert, mit der die AdressatInnen einverstanden sein können. Die Parlamentskommunikation findet insgesamt in einem sehr stark ritualisierten und förmlichen Rahmen statt, in dem die Verantwortung der Beteiligten als Angehörige der zentralen Institution einer parlamentarischen Demokratie und die damit verbundenen Pflichten sehr präsent sind. Man sieht das u. a. daran, dass sich die Beteiligten in den Plenarsitzungen fast durchgängig mit Sie anreden, obwohl man davon ausgehen kann, dass 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 176 <?page no="177"?> zumindest einige von ihnen sich schon seit Jahren kennen und im privateren Rahmen das du verwenden. In der 179. Sitzung gibt es allerdings eine Ausnahme: Bei einem kurzen Wortwechsel duzt ein Abgeordneter von Bündnis90/ Die Grünen den Redner von der Partei Die Linke (Bundestag 179, 22586). Die Debatten sollten insgesamt einerseits möglichst zivilisiert verlaufen, um dem Anspruch, das „hohe Haus“ der Demokratie zu sein, zu genügen. Andererseits wird aber auch ein möglichst lebhafter Meinungs‐ austausch angestrebt, der das gesamte (verfassungskonforme) Meinungs‐ spektrum des Landes abdeckt. Innerhalb dieser beiden Pole sind auch die kommunikativen Aktivitäten auf der Beziehungsebene auszutarieren: RednerInnen sollten sich klar und deutlich von konkurrierenden Gruppen abgrenzen und diesen möglichst eindeutig klar machen, was an ihren Ausführungen und ihrem gesamten Habitus nicht stimmt; gleichzeitig sollte jedem Volksvertreter der gebührende Respekt erwiesen werden. Was man im Bundestag wie sagen darf ist kaum explizit geregelt; es gibt kein Dokument, das der in der Internetkommunikation verbreiteten Netiquette entsprechen würde. Das Bewusstsein dafür, dass die in der Gesellschaft gültige Etikette im Parlament beachtet werden sollte, ist jedoch sehr ausgeprägt, wenn es auch nicht formalisiert wird. Zusätzlich ist im Bundestag noch eine Geschäftsordnung gültig, in der aber sehr wenig geregelt wird, was mit Höflichkeit in Verbindung gebracht werden könnte. Verboten werden darin etwa „abfällige Äußerungen“ und das Überschreiten der Redezeit (vgl. Bundestag, Geschäftsordnung). Bei Fehlverhalten kann der/ die PräsidentIn Sanktionen in Form von Ordnungsrufen oder Rede‐ entzug aussprechen. Das passiert erstaunlich selten. In der 19. Wahlperiode wurden laut einem Medienbericht aus dem Juli 2019 bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt 13 Ordnungsrufe erteilt, in vorherigen Legislaturperioden noch weniger, in der gesamten 18. Legislaturperiode wurden nur zwei Ordnungs‐ rufe verzeichnet (vgl. Bundestag, DHB, Kapitel 7.16). Ein Blick auf die Parteizugehörigkeit der so gemaßregelten Personen lässt BeobachterInnen vermuten, dass die relativ hohe Zahl damit in Zusammenhang steht, dass seit 2017 mit der AfD eine neue Partei im Parlament vertreten ist, die nach der Meinung vieler BeobachterInnen meint, sich entsprechend profilieren zu müssen: 5.6 Ein Beispiel: Bundestagsdebatte 177 <?page no="178"?> 8 3 2 1 AfD Linke SPD FDP Ordnungsrufe im Bundestag, 19. Legislaturperiode Stand: 29.6.2019 Abb. V.6: Ordnungsrufe im deutschen Bundestag. Quelle: DER SPIEGEL 29/ 2019, Seite 22, Stand 29.6.2019, 19. Legislaturperiode Ordnungsrufe werden beispielsweise verteilt, wenn Abgeordnete ihre Kol‐ legen als „Hetzer“, „Terrorist“ oder „lächerliche Schießbudenfigur“ titulieren (vgl. Handelsblatt 2020). Im Zusammenhang mit Überlegungen zur Höflichkeit ist vor allem ein Fall interessant, in dem es um die rituelle Anredeformel ging. Nicht alle Abgeordneten leiten ihre Redebeiträge so förmlich korrekt ein wie es der in Beispiel (1) zitierte CDU/ CSU-Vertreter getan hat. Der Abgeordnete Stephan Brandner (AfD) hat Widerspruch gegen zwei Ordnungsrufe eingelegt, die ihm Wolfgang Kubicki als Vizepräsident des Parlaments erteilt hatte: Brandner hatte die ersten beiden Ordnungsrufe bekommen, weil er seine Rede nicht mit der Anrede ‚Herr Präsident‘ eingeleitet hatte. Brandner begründet seine beiden Einsprüche damit, dass es für den von Kubicki verlangten Redebeginn weder eine Rechtsnoch sonst eine Grundlage gebe. Auch habe er zu Beginn seiner Rede sämtliche anwesenden ‚Damen und Herren‘ angesprochen. Diese Anrede habe sich auch an den amtierenden Präsidenten gerichtet. (Bundestag, Dokumente) Der Einspruch wurde abgelehnt. Der amtierende Präsident muss also am Beginn einer Rede gesondert angesprochen werden, obwohl dies nicht vorgeschrieben ist. Es hat sich aber offensichtlich eine diesbezügliche Konvention herausgebildet. Einige Beispiele aus der 179. Sitzung (Bundestag 179, in Klammern die Seitenzahlen im Protokoll): 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 178 <?page no="179"?> (2) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Sehr geehrte Damen und Herren! (Dr. Alice Weidel, AfD, 22519) (3) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Dr. Angela Merkel, CDU, 22521) (4) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! (Christian Lindner, FDP, 22528) (5) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Dr. Rolf Mützenich, SPD, 22532) (6) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Anwesende! (Doris Achelwilm, Die Linke, 22547) (7) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! (Tabea Rößner, Bündnis 90/ Die Grünen, 22548) Welche ungeschriebene Regel rechtfertigt also die Ordnungsrufe wegen der fehlenden Anrede an den Präsidenten? Ein Zusammenhang mit Höflichkeit ist zweifellos vorhanden, wir waren schon mehrmals auf die Tatsache gestoßen, dass die Begrüßungskonventionen zum Kern der sprachlichen Höflichkeit zählen. Zweifellos klingen die Anredeformeln (2) bis (7) ausge‐ sprochen höflich. Aber ist es tatsächlich höflich, sich so an den Präsidenten zu wenden, wenn man wissen kann und muss, dass man andernfalls sank‐ tioniert wird? Kann eine Handlung, die fast schon unter Zwang vollzogen wird, höflich sein? Kann man, wenn man das weiß, den RednerInnen noch die aufrichtige Intention unterstellen, dem Präsidenten die ihm gebührende Ehre und Höflichkeit zukommen zu lassen? Die Auffassung, dass Höflich‐ keit immer intendiert sein muss, um wirksam zu sein, könnte hier in Zweifel gezogen werden. Zunächst stellt sich einmal die Frage, wer überhaupt beurteilen kann, ob diese Äußerungen höflich sind: der/ die RednerIn, weil er oder sie höflich sein wollte? Der adressierte Präsident? Die anderen Abgeordneten? Unabhängige BeobachterInnen, z. B. LinguistInnen? Das zeigt erst einmal, wie schwierig hier Festlegungen sind und dass es durchaus nicht immer eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Höflichkeit geben muss. Für die Konturierung des Zusammenhangs zwischen Intention des Spre‐ chers oder der Sprecherin und der Höflichkeit der Äußerung lassen sich grob gesagt drei mögliche Lösungen identifizieren, die zu drei unterschiedlichen Höflichkeitsauffassungen führen: 5.6 Ein Beispiel: Bundestagsdebatte 179 <?page no="180"?> a. RednerInnen sind höflich, wenn sie die Intention haben, höflich zu sein. b. RednerInnen sind höflich, wenn sie die entsprechenden Sprechhand‐ lungen, hier (Gruß/ Anrede), erfolgreich vollziehen und damit auch kommunizieren, genau das zu intendieren. c. RednerInnen sind höflich, wenn sie tun, was von Ihnen erwartet wird, wenn sie das institutionell vorgesehene Ritual vollziehen. Die Möglichkeit a) klingt naheliegend. Sie würde zu der Auffassung führen, dass SprecherInnen höflich sind, wenn sie die Absicht verfolgen, höflich zu sein. Das entspricht aber in einigen Fällen nicht der Intuition: Man kann ja auch versuchen, höflich zu sein, aber scheitern, wenn die AdressatInnen das nicht anerkennen oder wahrnehmen. Und dann ist es natürlich ausgespro‐ chen schwierig, die echten Intentionen von Menschen festzustellen. Man muss kein Psychoanalytiker sein, um zu merken, dass wir in diversen Fällen handeln, ohne selbst ganz genau sagen zu können, was wir damit erreichen wollen. Die Lösung b) geht davon aus, dass ein Sprechakt (hier Anrede und/ oder Gruß) erfolgreich vollzogen wurde und dass damit der/ die SprecherIn den AdressatInnen kommuniziert hat, dass er oder sie den illokutionären Zweck (der in diesem Fall im Rahmen von höflicher Beziehungskonstituierung anzusiedeln ist) erreichen wollte. Der erfolgreiche Vollzug von Sprechhand‐ lungen ist ja u. a. an die Erfüllung der Aufrichtigkeitsbedingung gebunden (vgl. z. B. Staffeldt 2009, 54). Wenn die Grußhandlung gelingt, haben die AdressatInnen also die höfliche Intention wahrgenommen. Hier wird das definitorische Kriterium mehr auf die EmpfängerInnenseite verlagert. Ob der/ die SprecherIn die Intention tatsächlich hatte, ist nicht so wichtig. Die letzte vorgeschlagene Lösung, c), schließlich abstrahiert von indivi‐ duellen Intentionen. Sie betrachtet Höflichkeit als nicht unbedingt ganz be‐ wussten Vollzug von rituellen Handlungsmustern. Diese sind natürlich das Ergebnis vieler intentional ausgeführter Präzedenz-Handlungen, müssen aber genauso wenig intentional und bewusst ausgeführt werden, wie es auf der individuellen Ebene intentional ist, dass man einen Relativsatz verwendet. Solche grammatischen Strukturen und solche Handlungsmuster beruhen auf einer Art zum Ritual geronnener Intention, die man dem/ der SprecherIn nicht bei jedem Vollzug gesondert unterstellen muss, damit die Handlung erfolgreich vollzogen werden kann. 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 180 <?page no="181"?> Wir neigen dazu, c) und damit die schwächste Annahme als Erklärung für den gegebenen Fall anzunehmen. Die Anredeformen funktionieren und sind höflich. Das beruht nicht auf der Annahme, dass jede RednerIn dem Präsidenten oder der Präsidentin aufrichtig huldigen will, sondern auf der Annahme, dass die RednerInnen durch die Verwendung der entsprechenden Formel dokumentieren, dass sie die institutionell vorgegebene Beziehungs‐ struktur akzeptieren. Abgeordnete erwarten voneinander offensichtlich (und BürgerInnen erwarten von Abgeordneten), dass sie sich an die institu‐ tionell vorgegebenen Richtlinien für die Beziehungskommunikation halten. Wenn dies der Fall ist, dann haben SprecherInnen auf der Beziehungsebene das getan, was unterschiedliche AdressatInnengruppen von ihnen erwarten und damit sind sie höflich: Eine störungslose Anschlusskommunikation wird ermöglicht. Höflichkeit scheint in Plenardebatten trotz aller kontroversen Auseinan‐ dersetzungen kein wichtiges Problem zu sein. Eine stichprobenartige Suche nach den Wörtern höflich und Höflichkeit in den Parlamentsprotokollen zeigt, dass sie nur selten verwendet werden. Das lässt sich erst einmal als Indiz dafür auffassen, dass der erste Eindruck beim Blick auf die Mitschriften nicht täuscht: Die Debatten werden recht zivil geführt, so gut wie alle RednerInnen sind sich der hohen institutionellen Verantwortung, die sie tragen, bewusst. Wenn Höflichkeit vorkommt, dann überwiegend in Redewendungen wie um es höflich auszudrücken. Ein Beispiel dafür findet sich auch in der Haushaltsdebatte von 30.9.2020: (8) Es ist schade, dass Boris Johnson sein Szenario hier vor dem Hinter‐ grund fährt, von innenpolitischen Defiziten abzulenken: abzulenken von einem katastrophalen Handling der Coronakrise in Großbritan‐ nien, abzulenken aber auch von vielen anderen innenpolitischen Schwierigkeiten, um es noch höflich zu sagen. (Bundestag 179, Gunther Krichbaum, CDU/ CSU, 22572) Der Redner will zum Ausdruck bringen, dass er die Politik des britischen Premierministers scharf verurteilt. Die „versteckte“ Botschaft könnte man so formulieren: (8‘) Boris Johnsons Innenpolitik ist ein Desaster. Der Redner drückt auch die Auffassung aus, dass er das so deutlich im Parlament nicht sagen kann, weil er sonst unhöflich wäre. 5.6 Ein Beispiel: Bundestagsdebatte 181 <?page no="182"?> Analog zu Formeln wie kurz gesagt, ehrlich gesagt, um die ganze Wahrheit zu sagen, um es klar und deutlich auszudrücken und ähnlichen wird hier etwas gesagt, was selbstverständlich ist und eigentlich keiner besonderen Bestätigung bedarf. Der/ die SprecherIn betont aber trotzdem, dass er/ sie die Maximen der Qualität, der Quantität bzw. der Modalität beachtet. Damit wird kommuniziert, dass eigentlich eine andere Ausdrucksweise nötig oder angemessen wäre. Diese Interpretation ist an die Verwendung solcher Formeln gebunden. Es handelt sich um eine spezielle Form der konversationellen Implikatur, die im Allgemeinen „generalisierte konversa‐ tionelle Implikatur“ genannt wird (vgl. z. B. Levinson 2000 oder Liedtke 2016, 77 ff.). Sie beruht darauf, dass ein/ e SprecherIn Wörter verwendet, die das Bemühen erkennen lassen, nicht gegen eine Maxime zu verstoßen. Der/ die HörerIn versteht, dass jede alternative Ausdrucksweise ein Verstoß gegen eine Maxime gewesen wäre. Das Beispiel zeigt, dass das auch mit der Höflichkeitsmaxime möglich ist und bestätigt damit deren Wirksamkeit. Es lässt auch Hypothesen darüber zu, was der Redner als Teil des im vorliegenden Kontext von allen Beteiligten geteilten Wissen ansieht und ansehen kann. In diesem Fall ist das die Auffassung, dass es unhöflich wäre, von Regierungschefs befreundeter Länder allzu kritisch und negativ zu reden. Neben Paradebeispielen für ausgesprochen höfliches Verhalten, gibt es im Bundestag natürlich auch harte Wortwechsel. Dazu noch ein Beispiel aus einer Rede, in der es u. a. um Corona-Schutzmaßnahmen ging: (9) Ich habe mich gefragt, warum die AfD permanent und demonstrativ diese Maßnahmen nicht einhält, nicht aufeinander achtet, keine Ab‐ stände einhält (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Weil sie es mit der Hygiene nicht so haben! ) und den Leuten permanent, übrigens auch in den sozialen Netzwerken, erzählt: Das alles ist nicht nur übertrieben, sondern dieses Virus gibt es eigentlich so nicht. (Dr. Alice Weidel [AfD]: Das stimmt doch gar nicht! ) In den vergangenen Tagen haben wir aus internen Gesprächen die Erklärung dafür gehört: Sie wollen, dass es Deutschland schlechter geht. (Dr. Alice Weidel [AfD]: Das stimmt doch gar nicht! ) Das ist Ihr Ziel. Und so wollen Sie es erreichen. (Bundestag 179, Paul Ziemiak, CDU/ CSU, 22554) 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 182 <?page no="183"?> Die RednerInnen werfen sich hier vor, es mit der Hygiene nicht so genau zu nehmen und die Unwahrheit zu sagen. Offensichtlich stört das in einem auf Debatte angelegten Kontext auf der Beziehungsebene nicht weiter. Im Proto‐ koll sind keine Konsequenzen erkennbar. Man kann nur darüber spekulieren, ob es vielleicht damit zu begründen ist, dass die persönlichen Beziehungen zwischen den Abgeordneten der unterschiedlichen Fraktionen hier keine besonders große Rolle spielen und deswegen kommunikativ schwerer belastet werden können als dies in anderen Kontexten möglich wäre. Insgesamt aber scheinen alle Abgeordneten sich ihrer Verantwortung gegenüber der Institution, in der sie agieren, bewusst zu sein. Sie gestalten die Beziehungen so, wie es vorgegeben ist. Die anderen werden vor allem als Angehörige der Institution behandelt. Die Analyse der Debatte könnte und müsste natürlich vertieft werden. Das können wir hier nicht leisten. Wir sehen die Ausführungen als Beispiel dafür, dass man bei dem Blick auf Höflichkeit in verschiedenen Textsorten und Kommunikationsformen (Diskussionsforen, Facebook-Nachrichten, Vi‐ deokonferenzen, Werbetexte, Unternehmenskommunikation usw.) nicht von einer abstrakten Etikette ausgehen sollte, um dann zu untersuchen, inwieweit die normativen Vorgaben tatsächlich erfüllt werden. Sinnvoller scheint es uns zu sein, Beziehungskommunikation zu untersuchen und dabei Antworten auf Fragen wie die folgenden zu finden: ▸ Welche kommunikativen Beziehungsaktivitäten sind zu beobachten? ▸ Was erwarten die TeilnehmerInnen voneinander? ▸ Wo, wie, warum werden die Wörter höflich und Höflichkeit ver‐ wendet? ▸ An welchen Stellen gibt es Irritationen/ Zwischenfälle auf der Bezie‐ hungsebene? ▸ Wodurch werden Irritationen ausgelöst? ▸ Was kann man dabei im Hinblick auf die Normalitätserwartungen ableiten? ▸ Welche Höflichkeitsimplikaturen treten auf ? ▸ Was kann man daraus im Hinblick auf das wechselseitig unterstellte Wissen ableiten? Die Antworten führen zu einem differenzierten Bild von Höflichkeit in Abhängigkeit von der Kommunikationssituation und dem Kontext. 5.6 Ein Beispiel: Bundestagsdebatte 183 <?page no="184"?> 5.7 Vorläufiges Fazit Die Überlegungen in diesem Kapitel gehen von der Annahme aus, dass Höflichkeit intentional eingesetzt und damit kommuniziert wird. Ihre Funk‐ tion liegt im Bereich der Beziehungsorganisation, SprecherInnen und Höre‐ rInnen nutzen sie, um das Verhältnis zu ihren PartnerInnen zu definieren und zu qualifizieren. Weiterhin wurde gezeigt, dass Beziehungsmanagement ein elementarer, notwendiger und wichtiger Bestandteil fast jeder Art von Kommunikation ist. Unter Rückgriff auf einige vorpragmatische, aber auch pragmatisch inspirierte Modelle der Kommunikation wurde ausgeführt, wie Beziehungsarbeit in solche Modelle und Theorien integriert werden kann und neben informativen und anderen Zielen zu den grundlegenden Zwe‐ cken kommunikativer Aktivitäten tritt. Diese Ziele wiederum werden von KommunikationsteilnehmerInnen zugrunde gelegt, wenn sie versuchen, die Bedeutung von Äußerungen aus dem Gesagten und aus ihrem Wissen über Kontext und Situation abzuleiten. Daraus ergab sich die Annahme, dass Höflichkeit als zentrale Maxime der Beziehungskommunikation an‐ genommen werden kann; Höflichkeit ist (im Grice’schen Sinne) für die Beziehungsorganisation also das, was Relevanz für die inhaltliche Gestal‐ tung und das inhaltliche Verständnis von Beiträgen ist: eine kontext- und situationsabhängige Erwartung an die Form einer Äußerung - ein Maß für die Angemessenheit und Akzeptabilität von solchen Äußerungen. Für eine linguistische, insbesondere pragmatische Theorie der Höflichkeit ergeben sich daraus einige Hinweise, die vertieft werden müssen: 1. Höflichkeit im linguistischen Sinne ist klar zu unterscheiden von Etikette. Sprachwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen können nur deskriptiv ansetzen, sie müssen beschreiben, analysieren und erklären, was SprecherInnen und HörerInnen tun, wenn sie kommunizieren. Etikette ist ein normatives Unterfangen, das Menschen Vorgaben machen möchte, wie sie kommunizieren sollten. Sie erlaubt nur sehr bedingt Rückschlüsse darauf, was Kommunikan‐ tInnen tatsächlich tun. Um den Vergleich noch einmal aufzugreifen: Die Straßenverkehrsordnung ist keine geeignete Grundlage, wenn man beschreiben will, wie sich Menschen im Straßenverkehr be‐ wegen. Zwischen diesen Bewegungen und der StVO gibt es natürlich zahlreiche Zusammenhänge, eine klare Unterscheidung der beiden Bereiche ist theoretisch aber unerlässlich. 5 Höflichkeit und Kommunikation: Grundlagen der Höflichkeitsforschung 184 <?page no="185"?> 2. Höflichkeit ist so etwas wie der Default-Fall der Kommunikation, also das, was SprecherInnen und HörerInnen im Normalfall voneinander erwarten. Sie ist als kontext- und partnerangemessene Gestaltung der Äußerung zu beschreiben und kann aus dieser Perspektive nicht als markierte Form oder als besonders elaborierte Weise der Äußerung betrachtet werden. Das entspricht dem, was Weinrich im ersten Teil seiner Höflichkeitsdefinition angegeben hatte: „Höflichkeit ist ein sprachliches und nichtsprachliches Verhalten, das zum normalen Umgang der Menschen miteinander gehört […]“ (Weinrich 1986, 24). 3. Höflichkeit kann nur in konkreten Kontexten beschrieben und be‐ wertet werden. Ob eine Äußerung als höflich eingestuft werden kann oder nicht, hängt davon ab, wer sie wann und wo macht. Alleine die Form eines Satzes erlaubt kaum eine Vorhersage über den Grad der Höflichkeit der Verwendung eben dieses Satzes in konkreten Situationen. 4. Daraus folgt auch, dass Höflichkeit kommunikativ konstruiert wird. SprecherInnen und HörerInnen entscheiden und definieren in Kom‐ munikationssituationen, was auf der Beziehungsebene angemessen ist und wo die Grenzen für die Gestaltung von Äußerungen liegen. Das lässt sich theoretisch nur dann nachvollziehen, wenn auch die Perspektive der TeilnehmerInnen und die manifesten Effekte von Äußerungen auf der Handlungsebene einbezogen werden. 5. Höflichkeit kann und sollte von Imagearbeit unterschieden werden. Auch hier gibt es Interdependenzen, es wäre jedoch theoretisch nicht korrekt, einfach davon auszugehen, dass Höflichkeit mit der Konstruktion der SprecherInnenidentität oder mit Imagearbeit (bzw. facework) zusammenfallen könnte. Diese Punkte werden im folgenden Kapitel anhand der Auseinandersetzung mit neueren linguistischen Höflichkeitstheorien diskutiert und vertieft. 5.7 Vorläufiges Fazit 185 <?page no="187"?> 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 6.1 Einleitung Die linguistische Höflichkeitsforschung lässt sich nach unserer Einschät‐ zung grob in drei historische Phasen einteilen: Die Pionierphase, die Konsolidierungsphase und die diskursive Phase. Am Anfang stehen die wegweisenden Arbeiten von Robin Lakoff (1973), Geoffrey Leech (1977 und 1983) und dem Autorenpaar Penelope Brown und Stephen C. Levinson (1987). Diese drei Klassiker werden auch als „first-wave approaches“ (Kádár/ Haugh 2013, 13) charakterisiert. Sie haben Impulse gesetzt, die zahlreiche AutorInnen zu weiteren Diskussionsbeiträgen anregten. Darunter waren Anwendungen der Begriffe und Ansätze auf konkrete Sprachen, Varietäten oder Kommunikationsbereiche, kritische Auseinandersetzungen mit den Begriffen und entsprechende theoretische Neuausrichtungen oder auch Weiterentwicklungen der Grundideen. Gino Eelen hat dann mit seinem Buch (Eelen 2001) eine entscheidende Neuorientierung bewirkt, die häufig als diskursive Wende bezeichnet wird und die zu einem neuen Blick auf sprachliche Höflichkeit geführt hat. Leech nennt die daraus entstandenen Ansätze im Anschluss an Watts et al. 1992/ 2005, xiii) „postmodernist“ (Leech 2014, 43). 6.2 Die Pionierphase Den Beginn der neueren linguistischen Auseinandersetzung mit Höflichkeit bilden Publikationen, in denen das Modell von Grice (vgl. Kapitel 5) ange‐ wendet und erweitert wurde. Als „mother of modern politeness theory“ (Eelen 2001, 2) kann Robin Lakoff angesehen werden. Ihr Ansatz ist in der generativistischen Semantik verwurzelt. Im Rahmen der Definition von syntaktischen und semantischen Regeln stieß sie auf die Notwendigkeit, diese durch pragmatische Regeln, insbesondere Höflichkeitsregeln zu er‐ gänzen (vgl. Lakoff 1973). Für diese notwendigen Ergänzungen orientierte sie sich an Grice und initiierte damit eine Sichtweise auf Höflichkeit, die vor allem auf pragmatischen Modellen basiert. Für Lakoff hat Höflichkeit vor <?page no="188"?> allem die Funktion, das Konfliktpotential in der Interaktion zu neutralisieren oder zumindest zu verkleinern. Sie formulierte zunächst drei grundlegende Höflichkeitsregeln: „Don’t impose“, „Give options“ und „Make A [die Ad‐ ressatInnen, die Verf.] feel good - be friendly“ (Lakoff 1973, 298). Ihr Ansatz wird immer wieder diskutiert, ist aber nie zu einer genauer artikulierten Höflichkeitstheorie ausgearbeitet worden. Wir werden deswegen nicht weiter darauf eingehen. Der zweite Klassiker der Linguistik der Höflichkeit ist Geoffrey Leech, der sich ebenfalls stark an Grice anlehnt. Schon 1977 bringt er als Ergänzung der vier Grice’schen Maximen eine Taktmaxime in die Diskussion ein. Leech distanziert sich von einem regelbasierten Ansatz (der bei Lakoff noch eine gewisse Rolle spielte) und favorisiert stattdessen die Idee, dass die Pragmatik prinzipienbasiert ist. Er entwickelt in Leech (1983) ein umfas‐ sendes Modell der Pragmatik, in dem das Höflichkeitsprinzip - in Analogie zum Kooperationsprinzip - eine wichtige Rolle spielt. Der Ansatz wurde weiter ausdifferenziert und vertieft. Mit Leech (2014) legt der Autor eine Monografie vor, in der er auf der Grundlage seiner älteren Arbeiten einen Höflichkeitsbegriff ausformuliert, der die Diskussionen im Anschluss an die diskursive Wende aufgreift und diesen neue Impulse geben kann. Leech orientiert sich dabei immer noch an Grice und schlägt ein Modell vor, das höflichkeitsspezifische Grundprinzipien und Maximen vorsieht. Wir kommen im Kapitel über die Konsolidierungsphase darauf zurück. Als dritter und wirkmächtigster Klassiker der Theorie der Höflichkeit kann die Arbeit von Penelope Brown und Stephen C. Levinson gelten. Ihr erstmals 1978 als langer Aufsatz und später (Brown/ Levinson 1987) mit Ergänzungen als Buch erschienenes Werk ist ein Meilenstein, mit dem sich die gesamte folgende Forschung auseinandersetzen musste und immer noch muss. Auch diese Arbeit schließt an Grice an, führt aber zusätzlich noch Goffmans Begriff face als Schlüsselkategorie ein (vgl. Goffman 1986). Die Autoren verstehen Höflichkeit ebenfalls im Wesentlichen als Konflikt‐ vermeidungsstrategie, d. h. als Vermeidung oder Abmilderung von so ge‐ nannten gesichtsbedrohenden Handlungen, im Original „face-threatening acts“. Wir konzentrieren uns in diesem Abschnitt in erster Linie auf Brown/ Levinson (im Folgenden: B/ L) und versuchen, eine kritische Würdigung ihres Beitrages zur Höflichkeitstheorie zu präsentieren. Die Frage, auf die der Text eine Antwort liefern soll, wird schon im Titel Politeness: Some Universals in Language Usage klar: Es geht um sprachliche Universalien, also die Frage, was alle natürlichen Sprachen 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 188 <?page no="189"?> gemeinsam haben und was folglich als Grundkonstante der menschlichen Kommunikation angesehen werden kann. Die Autoren setzen sich aber nicht mit sprachlichen Strukturen auseinander, die in der linguistischen Univer‐ salienforschung häufig angesprochen werden, nämlich die Abfolge von Subjekt, Verb und Objekt in Sätzen oder der Präsenz bestimmter grammati‐ scher Kategorien. Sie konzentrieren sich vielmehr auf den Sprachgebrauch und wollen zeigen, dass bestimmte kommunikative Mechanismen und Prozesse ebenfalls in allen Sprachen vorhanden sind. Eine dieser potentiellen kommunikativen Universalien ist die Tatsache, dass Sprache auch dazu verwendet wird, höflich zu sein. Etwas genauer: Die Ausgangshypothese ist die Annahme, dass in allen Sprachen eine Gemeinsamkeit in Bezug auf bestimmte Sprechhandlungen wie Bitten, Kritisieren, Anbieten usw. zu beobachten ist: Je schwerwiegender die Handlung wird, desto mehr verbaler und nonverbaler Aufwand wird betrieben und desto mehr indirekte Formen der Realisierung der Handlungen werden verwendet. Dahinter scheint eine universale Strategie der Sprachverwendung zu liegen, die auf den Schutz des face abzielt und die mit Höflichkeit zu tun hat. Um diese These zu verifizieren, sind mindestens zwei Schritte nötig: Man muss genau sagen, was man unter Höflichkeit versteht, und man muss seine Ideen anhand der Beschreibung vieler und sehr unterschiedlicher Sprachen beweisen. Letzteres ist in einem Text mit begrenztem Umfang natürlich nur sehr eingeschränkt möglich; immerhin umfasst die Datengrundlage für diese Höflichkeitstheorie aber Tonaufnahmen aus so unterschiedlichen Sprachen wie Englisch (Amerikanisch und Britisch), Tzeltal (eine mexika‐ nische Sprache) und Tamil, das in Südindien gesprochen wird. Theoretisch ruht die Arbeit von B/ L, wie gesagt, im Wesentlichen auf zwei Pfeilern: der Grice’schen Pragmatik und den interaktionssoziologischen Einsichten von Goffman. Von Grice übernehmen sie die Idee, dass Kommu‐ nikation als durch Rationalität geleitete Aktivität zu verstehen ist und dass TeilnehmerInnen sich wechselseitig unterstellen, optimale Mittel für das Erreichen der kommunikativen Ziele zu verwenden. Auf die Grundfrage der Pragmatik, nämlich die Frage nach dem Unterschied zwischen dem, was SprecherInnen sagen und dem, was sie meinen, und - aus der anderen Perspektive - wie HörerInnen verstehen können, was jemand meint, obwohl dieser es in den meisten Fällen nicht direkt oder nicht vollständig sagt, antworten B/ L mit dem Hinweis, dass ein großer Teil dieser mysteriösen Leistung durch den Verweis auf Höflichkeit erklärt werden kann. 6.2 Die Pionierphase 189 <?page no="190"?> Was genau damit gemeint ist, wird erst deutlich, wenn man Goffmans Beiträge und insbesondere seinen Begriff face (im Weiteren werden Gesicht und Image als Synonyme dazu verwendet) einbezieht. B/ L tun dies auf recht eigenwillige Weise: Sie unterscheiden zwischen positivem und negativem Gesicht - eine Differenzierung, die Goffman (1986) so nicht vornimmt. Die negative Seite betrifft die Handlungsfreiheit von Individuen und die Unverletzlichkeit der persönlichen Sphäre; das positive Gesicht dagegen das Selbstbild, das ein Individuum in Interaktionen einbringt. Daraus ergeben sich zwei grundsätzliche Bedürfnisse, die Menschen in Interaktionen reali‐ siert sehen wollen (vgl. B/ L 1987, 62): 1. Negatives Gesicht: Jeder Mensch will seine Handlungen ohne Be‐ schränkungen durch andere vollziehen können. 2. Positives Gesicht: Jeder Mensch möchte von anderen (jedenfalls einigen) geliebt, geschätzt, gewürdigt werden. Aus dem Aspekt der Rationalität und den Gesichtsbedürfnissen konstruieren die AutorInnen eine Art idealisierte/ n ModellsprecherIn, dessen oder deren Kommunikationsverhalten den Gegenstand der Überlegungen von B/ L bildet: „All our Model Person (MP) consists in is a wilful fluent speaker of a natural language, further endowed with two special properties - rationality and face“ (B/ L 1987, 58). Es geht also in diesem Buch darum, was diese ModellsprecherInnen in Interaktionen tun würden und wie sie Äußerungen anderer verstehen und bewerten würden - beispielsweise im Hinblick auf den Grad an Höflichkeit. In alltäglichen Kommunikationssituationen sind die Modellspreche‐ rInnen wie alle anderen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft häufig Situa‐ tionen ausgesetzt, die ein Risiko für das Selbstbild der InteraktantInnen bergen; manche Handlungen sind nämlich per definitionem gesichtsbedro‐ hend. B/ L nennen diese face-threatening acts, meistens abgekürzt als FTAs. Wenn Ihnen beispielsweise jemand etwas verbietet, dann schränkt er/ sie Ihre Handlungsfreiheit ein und untergräbt damit Ihr negatives Gesicht. Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen alltäglichen Handlungen: Sie bedrohen das negative oder positive Gesicht der SprecherInnen oder der Hö‐ rerInnen. B/ L (1987, 70 ff.) geben viele Beispiele, von denen die wichtigsten in der folgenden Tabelle aufgelistet sind: 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 190 <?page no="191"?> Bedrohung Positives Gesicht Negatives Gesicht Gesicht der Spreche‐ rInnen Entschuldigung, Annahme eines Kompliments, Verlust körperlicher Kontrolle, Selbst‐ demütigung, Beichte, Schuld‐ eingeständnis, unkontrolliertes Lachen oder Weinen Dank, Annahme eines An‐ gebots, Antwort auf einen Fauxpas des Hörers Gesicht der HörerInnen Widerspruch, Beschwerde, Anschuldigung, Beleidigung, Rüge, Ausdruck starker Emo‐ tionen, Ausdruck von Missach‐ tung, Tabu-Thema ansprechen Befehl, Bitte, Vorschlag, Dro‐ hung, Warnung, Angebot, Versprechen, Kompliment, Ausdruck von Neid oder Be‐ wunderung Abb. VI.1: FTAs nach B/ L Das gesichtsbedrohende Potential eines Versprechens wird beispielsweise damit begründet, dass die Handlung eine zukünftige Handlung des Spre‐ chers/ der Sprecherin zugunsten des Hörers/ der Hörerin prädiziert und damit den/ die HörerIn unter Druck setzt, das Versprechen anzunehmen oder abzulehnen und ihm/ ihr für die Zukunft eine Art Schuld auflädt. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass hier so gut wie alle (Sprech-)Handlungen auftauchen, die Menschen in alltäglichen Zusammen‐ hängen vollziehen. B/ L sprechen zwar von einigen Handlungen, die FTAs darstellen, es fällt aber schwer, sich vorzustellen, was nicht in diese Liste passen könnte. Einige Kritiker von B/ L sehen hier einen Schwachpunkt. Darauf kommen wir später zurück. Die permanente Bedrohung des Gesichts der TeilnehmerInnen und der eventuell tatsächlich eintretende Gesichtsverlust des/ der einen oder anderen würden für die Möglichkeit der Interaktion ein enormes Risiko darstellen. Goffman hatte ja sehr deutlich gemacht, dass das face eine Be‐ dingung der Möglichkeit von Interaktion und dass es ein Teil des geheiligten Raumes oder Territoriums ist, den ein Individuum um sich haben muss. Alle KommunikationsteilnehmerInnen müssen deswegen ein starkes Interesse daran haben, Gesichtsbedrohungen zu vermeiden oder unschädlich zu ma‐ chen. In der Konzeption von B/ L kommt genau an dieser Stelle Höflichkeit ins Spiel. In einem häufig zitierten Schema zeigen sie, dass es verschiedene Formen des Umgangs mit FTAs geben kann: 6.2 Die Pionierphase 191 <?page no="192"?> FTA 2. Do the FTA 4. on record 5. without redressive action, baldly 6. with redressive action 7. positive politeness 8. negative politeness 3. off record 1. Don’t do the FTA Abb. VI.2: Realisierung von FTAs nach B/ L (1987, 60) Wenn eine Situation auftritt, in der die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit besteht, einen FTA zu vollziehen, dann kann der/ die SprecherIn natürlich zuerst einmal eine Vermeidungsstrategie anwenden (1.) Er/ sie bittet den/ die PassantIn nicht um eine Wegauskunft oder gibt seiner/ ihrer MitarbeiterIn nicht die Anweisung, die Arbeit noch am selben Tag zu erledigen. Das hätte natürlich große Nachteile. Als Alternative (2.) liegt es deswegen nahe, das Risiko der Gesichtsverletzung doch einzugehen. Und auch hier gibt es eine Reihe von Möglichkeiten: (3.) Man kann die Sprechhandlung so vollziehen, dass die Intention nicht eindeutig ist, also etwa darauf hinweisen, dass die Arbeit besonders dringend ist und morgen gebraucht wird - ohne eine Aufforderung aussprechen. Man kann aber die direktive Handlung auch direkt vollziehen (4.), wobei dies in Form eines Befehls oder einer Anordnung erfolgen kann, also ohne Abschwächung, klar und präzise (5.), oder mit einem modifizierenden oder ergänzenden Hinweis darauf, dass es nicht in der Absicht des Sprechers/ der Sprecherin liegt, das Gesicht der AdressatInnen zu verletzen (6.). Dieser zusätzliche Hinweis fällt mit Höflichkeit zusammen. Grob gesagt ist Höflichkeit demnach eine Form der fakultativen Modellierung einer Sprechhandlung, mit der der/ die SprecherIn das Ziel verfolgt, das interaktive Gleichgewicht nicht zu gefährden. Entsprechend der Unterteilung in positives und negatives Gesicht kann weiter in positive Höflichkeit und negative Höflichkeit unterschieden werden. Erstere (7.) orientiert sich am positiven Gesicht der HörerInnen, gibt diesen also zu verstehen, dass sie durchaus weiterhin geschätzt und unterstützt werden. Negative Höflichkeit (8.) ist auf das negative Gesicht gerichtet; mit ihr versucht der/ die SprecherIn zu kommunizieren, dass die Einschränkung der Handlungsfreiheit nur aus‐ nahmsweise erfolgt, durch höhere Notwendigkeiten zu begründen ist und/ oder so gering gehalten wird wie irgend möglich. Zur Realisierung der verschiedenen Optionen gibt es jeweils wieder verschiedene sprachliche Strategien, die sich teilweise soweit konventiona‐ 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 192 <?page no="193"?> lisiert haben, dass sie auch einen Niederschlag in der Grammatik gefunden haben. Der größte Teil des Buches von B/ L ist der Beschreibung dieser Strategien in den verschiedenen betrachteten Sprachen gewidmet. Zur Exemplifizierung listen wir einige der Strategien auf, die als positive Höf‐ lichkeit klassifiziert werden (vgl. B/ L 1987, 102): ▸ Notice, attend to H [HörerIn, die Verf.] (his interests, wants, needs, goods) ▸ Exaggerate (interest, approval, sympathy with H) ▸ Intensify interest to H ▸ Use in-group identity markers ▸ Seek agreement ▸ Joke ▸ Be optimistic ▸ Give gifts to H (goods, sympathy, understanding, cooperation) Diese Strategien lassen sich in allen von B/ L untersuchten Sprachen nach‐ weisen. Welche davon zur Anwendung kommt, hängt davon ab, wie groß die potentielle Gesichtsbedrohung ist. Je größer die Bedrohung, umso mehr muss der/ die SprecherIn tun, um sie zu entschärfen. Er/ sie muss also erst einmal kalkulieren, wie groß und wie schwerwiegend die Konsequenzen einer Handlung sein könnten und dann die Entscheidung treffen, wie sie vollzogen wird. In das Kalkül des Sprechers/ der Sprecherin fließen drei Faktoren ein (B/ L 1987, 74 ff.): 1. Soziale Distanz (D) zwischen S und H 2. Relative Macht (P) von S über H 3. Absoluter Wert des Belastungspotentials der Handlung (R) in der betreffenden Kultur. Die AutorInnen greifen hier einfach die Einsicht auf, dass sich unser kom‐ munikatives Verhalten je nach Umständen verändert: Wenn wir mit guten Bekannten reden, kommunizieren wir anders als im Gespräch mit engen FreundInnen oder Unbekannten. Wenn wir mit Vorgesetzten reden, dann tun wir das anders als mit hierarchisch gleichgestellten KollegInnen oder Untergebenen. Und wenn wir KollegInnen bitten, uns einen Euro für einen Kaffee zu leihen, dann verwenden wir andere Strategien als beispielsweise, wenn wir sie bitten, ihren geplanten Jahresurlaub zu verschieben oder zu unseren Gunsten auf eine Beförderung zu verzichten. Hier kommt es natürlich auch darauf an, wie wichtig der Jahresurlaub bzw. die Beförderung für die Betroffenen sind. Daher der Hinweis auf die Kultur - je nach 6.2 Die Pionierphase 193 <?page no="194"?> gruppenspezifischer Orientierung kann das ja durchaus unterschiedlich sein. In Abhängigkeit von der Kultur variiert etwa auch die Akzeptanz und Angemessenheit von Befehlen oder Komplimenten. Das alles hat dann Auswirkungen auf die Höflichkeitsstrategie, die in der gegebenen Situation als angemessen angesehen wird. B/ L verbinden die Faktoren zu einer Formel, mit der das Ausmaß der Gesichtsbedrohung durch eine Handlung objektiv bestimmt werden kann: W x = D(S,H) + P(H,S) + R x W ist dabei das Maß des gesichtsbedrohenden Potentials der Sprechhand‐ lung x. D ist die soziale Distanz zwischen SprecherIn und HörerIn, P das Ausmaß der Macht des Hörers/ der Hörerin über den/ die SprecherIn und R ein Wert, der beschreibt, wie stark die Handlung in der betreffenden Kultur als Zumutung eingeschätzt wird. Man muss kein großer Mathematiker sein, um zu erkennen, dass nach dieser Formel das gesichtsbedrohende Potential ansteigt, wenn mindestens einer der Werte sich erhöht. Pragmatisch kompetente SprecherInnen sind in der Lage, für jede mög‐ liche Äußerung den Bedrohungswert zu berechnen und angemessene Ge‐ genmaßnahmen zu treffen. Sie formulieren also höflicher, wenn sie mit Fremden sprechen, die Macht über sie haben. B/ Ls Höflichkeit ist also in erster Linie ein Mittel der Gesichtsbedro‐ hungsprophylaxe, die dazu dient, den Zusammenbruch der Kommunikation infolge von Übergriffen auf das Gesicht zu vermeiden. SprecherInnen führen eine Sprechhandlung aus, und wenn sie sehen, dass diese auf irgendeine Art gefährlich werden könnte, dann fügen sie noch eine zusätzliche Note bei, die man als Höflichkeit identifizieren kann. Diese Arbeit von B/ L hat die Höflichkeitsforschung entscheidend voran‐ gebracht. Noch heute kann man eigentlich nicht sprachwissenschaftlich über Höflichkeit sprechen, ohne auf diese Pionierleistung Bezug zu nehmen und ohne die Grundkonzepte aufzunehmen und mehr oder weniger kritisch zu kommentieren. In den Diskussionen haben sich aber auch einige kritische Punkte in dieser Konzeption herauskristallisiert, deren vertiefende Bearbei‐ tung dann zu Neukonzeptionen geführt hat. 6.3 Kritik an Brown/ Levinson Die Höflichkeitstheorie von B/ L hat sofort nach ihrer Publikation das Thema ‚sprachliche Höflichkeit‘ auf die linguistische, insbesondere soziolinguistische 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 194 <?page no="195"?> und pragmatische Tagesordnung katapultiert und zahlreiche Debatten stimu‐ liert. Der Ansatz hat dabei sehr viel Zustimmung erfahren; ihm kommt auf jeden Fall das Verdienst zu, gezeigt zu haben, dass Höflichkeit sehr viel mehr ist als Tischmanieren oder andere Facetten von Etikette. B/ L haben gezeigt, dass Höflichkeit ein zentraler Bestandteil der sozialen Struktur der Interaktion ist, dass sie für die Aufrechterhaltung des kommunikativen Gleichgewichts fundamental ist und dass sie damit auch ein wichtiger Gegenstand von theo‐ retischen Überlegungen ist, die das Ziel haben zu zeigen, wie Kommunikation funktioniert und welche Voraussetzungen für ihr Funktionieren gegeben sein müssen. B/ L wurden aber auch in vielen Punkten kritisch kommentiert. Wir geben hier einen kurzen Überblick über wichtige Ansatzpunkte für Kritik an der Konzeption. Die meisten dieser Punkte werden dann vertieft, wenn wir die daraus resultierenden Neuorientierungen etwas ausführlicher behandeln. Die relevantesten Kritikpunkte sind: ▸ die Grundannahmen ▸ die Zuschreibung von Sprechhandlungen zu den Strategien ▸ der Universalitätsanspruch ▸ die Übernahme des face-Begriffes ▸ das Konzept der Modellperson ▸ die Sprecherzentriertheit des Modells ▸ die Statik des Modells Schon an den Grundannahmen von B/ L kann man Kritik ansetzen: Höf‐ lichkeit wird bei ihnen ja als eine Art imageorientiertes „Schmiermittel“ dargestellt, das den Mechanismus des kommunikativen Austauschs erleich‐ tert oder auch in Gang hält - allerdings auf Kosten der Direktheit oder Zielstrebigkeit. Höflichkeit stellt damit erst einmal eine Abweichung vom direkten, zielorientierten und im engeren Sinne rationalen kommunikativen Verhalten dar: „Politeness is then a major source of deviation from such rational efficiency, and is communicated precisely by that deviation“ (B/ L 1987, 95). Höflichkeit ist ein kommunikativer Effekt, der im Sinne von Grice eine Implikatur darstellt und der auch weggelassen werden kann. Wer „bald on records“ (vgl. Abb. VI.2) kommuniziert, kann damit nicht höflich sein. Wer eine der höflichen Strategien (positive oder negative Höflichkeit) verwendet, kommuniziert etwas und gibt zusätzlich noch zu verstehen, dass er/ sie damit aber nicht das Gesicht der AdressatInnen bedrohen will. Dem Adressaten/ der Adressatin fällt das auf und im Idealfall fühlt er/ sie sich nicht gekränkt oder beleidigt. Fraser (2001, 133) weist darauf hin, dass 6.3 Kritik an Brown/ Levinson 195 <?page no="196"?> das kontraintuitiv ist: Höflichkeit stellt den kommunikativen Normalfall dar und nicht einen für die AdressatInnen auffälligen Sonderfall; in der Kommunikation fällt uns auf, wenn Höflichkeit fehlt, wo sie erwartbar ist oder wenn sie verwendet wird, wo sie nicht erwartbar ist. Das kommentieren Interaktionsteilnehmer regelmäßig. Was an Äußerungen auffällig und be‐ merkenswert sein kann, ist also nicht Höflichkeit, sondern Unhöflichkeit. Die Idee, dass Höflichkeit eine auf den „eigentlichen Kern“ der Botschaft aufgesetzte Zusatzbotschaft darstellt, wirft zudem die Frage auf, was denn der eigentliche Kern z.B. von Komplimenten oder Grußformeln sein kann. Solche Äußerungen sind ja in erster Linie Höflichkeiten und haben keinen relevanten propositionalen Gehalt. Damit können sie auch nicht als Zusatzinformation zu etwas Anderem verstanden werden. Solche Fragen verweisen auf den komplexen Zusammenhang zwischen Höflichkeit und Kommunikation, den wir in Kapitel 5 schon angesprochen hatten. Wir waren dabei zu dem Schluss gekommen, dass Höflichkeit als Teilaspekt nahezu jeder Äußerung beschrieben werden sollte und nicht als fakultativer Nebeneffekt. Problematisch wird auch die konkrete Zuschreibung von Sprechhand‐ lungen zu den Kategorien von B/ L. Oft vermischen sich Bedrohungen des positiven und des negativen Gesichts wie in diesem Beispiel: Abb. VI.3: Verbotsschild in einem Einkaufszentrum in Siegen (April 2019, Foto: Claus Ehrhardt) 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 196 <?page no="197"?> Es handelt sich um ein Verbotsschild, auf dem drei verschiedene Handlungen auf unterschiedliche Weise untersagt werden. Wie jedes Verbot stellt es eine Bedrohung des negativen Gesichts der BetrachterInnen dar: Ihre Optionen für zukünftige Handlungen werden hier eingeschränkt. Ihnen soll die Frei‐ heit genommen werden, zu tun und zu lassen, was sie wollen. Andererseits unterstellt das Schild auch die Möglichkeit, dass die AdressatInnen die Intention haben könnten, genau diese verbotenen Handlungen an dieser Stelle auszuführen - sonst wäre ein Verbot ja sinnlos. In diesem Sinn ist auch das positive Gesicht bedroht: Die BesucherInnen des Einkaufszentrums werden als Personen eingeschätzt, die auf die Idee kommen könnten, Abfälle auf den Boden zu werfen, zu betteln oder in eine Ecke zu urinieren. Schwierig ist dann auch die Einordnung von Sprechhandlungen oder Sprechhandlungstypen zu einzelnen Strategien: Eine Entschuldigung wäre eine Strategie der negativen Höflichkeit (B/ L 1987, 187): Wer sich entschul‐ digt, gibt zu verstehen, dass er/ sie die Handlungsoptionen der AdressatInnen nicht einschränken wollte. Aber unterstützt sie nicht auch die Selbstach‐ tung der PartnerInnen und verwendet damit positive Höflichkeit? Und ist eine Entschuldigung als Bitte um Verzeihung nicht auch wieder eine Bedrohung des negativen Gesichts, also potentiell unhöflich? Schließlich drängt der/ die ProduzentIn einer Entschuldigung ja die RezipientInnen dazu, die Sprechhandlung zu ratifizieren und damit den Zwischenfall aus der Welt zu schaffen. Vor allem von Höflichkeitsforschern aus ostasiatischen und anderen außereuropäischen Ländern wird darauf hingewiesen, dass der von B/ L vorgeschlagene face-Begriff eigentlich nur in westlichen Kulturen, vielleicht sogar nur im angelsächsischen Raum anwendbar ist. Der Anspruch auf Uni‐ versalität einer Höflichkeitstheorie wird deswegen infrage gestellt. In Japan, China und anderen Ländern werden nicht nur andere Wörter verwendet, um Bezug auf das zu nehmen, was bei uns face oder Höflichkeit bzw. politeness heißt, die Begriffe selbst sind anders. B/ L legen ihrer Argumentation die An‐ nahme zugrunde, dass Höflichkeit im Austausch zwischen unabhängigen, autonomen Individuen entsteht, die aufgrund eines individuellen Kalküls Entscheidungen treffen und Strategien wählen. In kollektivistischen Kul‐ turen ist das aber nicht nachvollziehbar. Beispielsweise Ide (1989) oder Mao (1994) zeigen, dass in Japan und China face vielmehr eine gesellschaftlich geteilte Kategorie darstellt und dass hier Gruppenharmonie und Solidarität sehr viel wichtiger sind als individueller Entscheidungs- und Handlungs‐ spielraum. Höflichkeit wäre demnach immer nur kulturspezifisch erklärbar 6.3 Kritik an Brown/ Levinson 197 <?page no="198"?> und - über ganz banale Aussagen hinaus - keine universale Eigenschaft des Sprachgebrauchs. Daraus wiederum folgt, dass Höflichkeit in allen Fällen, zumindest auch aus einer emischen Perspektive analysiert werden muss, das heißt mit den Augen von InsiderInnen. Der etische Blick, also der von BeobachterInnen von außen, wird nicht ausreichen, um eine korrekte Beschreibung der Phänomene zu geben und schon gar nicht, um zu erklären, wie Höflichkeit in einer bestimmten Kultur kommuniziert wird. Ein Ausgleich zwischen Universalitätsanspruch und kulturspezifischen Überlegungen wird von Leech vorgeschlagen: Er betont, dass die Unter‐ scheidung zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen nicht absolut gesetzt werden kann, sondern vielmehr ein Kontinuum dar‐ stellt. Jede Kultur enthält Züge von beidem. Auch Höflichkeit ist sowohl an individuellen als auch an kollektiven Werten orientiert: „All polite communication implies that the speaker is taking into account both indi‐ vidual and group values“ (Leech 2014, 83). Wenn man keine universelle Gültigkeit zumindest einiger grundlegender Kategorien annehmen würde, dann wäre es ja auch sinnlos, überhaupt über Höflichkeit in verschiedenen Sprachen und Kulturen zu sprechen. Wenn damit in jedem Land etwas anderes gemeint wäre, gäbe es keine Vergleichsbasis. Das würde auch den Erfahrungen vieler Reisender widersprechen, denen auffällt, dass in anderen Ländern vieles anders gehandhabt wird als zu Hause, aber analoge und vergleichbare kommunikative Funktionen hat. Verschiedene KommentatorInnen setzen ihre Kritik am Begriff face an, bzw. an der Art und Weise, wie er von B/ L verwendet wird. Bublitz etwa weist darauf hin, dass mit der engen Anbindung der Definition von Höflichkeit an face auch ein Risiko verbunden ist: „Politeness bleibt in diesem Modell ein eigentümlich vager Begriff, den Brown Levinson zwar mit dem face-Konzept in Beziehung setzen, aber an keiner Stelle ausdrücklich definieren“ (Bublitz 2009, 263). In der Tat hat es den Anschein, als würde ein schwer fassbarer Begriff, nämlich ‚Höflichkeit‘, durch den Verweis auf ‚face‘ erklärt - ein Begriff, der mindestens genauso unklar und schillernd ist wie der zu erklärende. Es ist also nicht viel damit gewonnen, wenn man Höflichkeit als gesichtsschützende kommunikative Aktivität definiert. Es handelt sich auch um zwei Phänomene, denen ein sehr unterschiedlicher Stellenwert zukommt und die nicht so einfach aufeinander abgebildet werden können: Face ist ein „inneres, ideelles (Wert)Konzept emischer Natur, das jeder Mensch aufgrund seiner Biografie internalisiert hat. Poli‐ teness hingegen ist ein symbolisch manifestes Verhaltens-Konzept“ (Held 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 198 <?page no="199"?> 2017, 66 f.). Die Theorie von B/ L scheint insgesamt eher eine face-Theorie als eine Höflichkeitstheorie zu sein (vgl. Watts 2003, 97). Diverse Autoren weisen auch darauf hin, dass der face-Begriff von Goffman in der Arbeit von B/ L ungenau und selektiv übernommen wird. Goffman hat sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass das Aufrechterhalten des Gesichts eine der Voraussetzungen für die Möglichkeit von Interaktion ist. Sie kann also nicht als Ziel kommunikativer Aktivitäten dargestellt werden. Darüber hinaus beschreibt Goffman face als flüchtig und wan‐ delbar; Individuen können für unterschiedliche Situationen unterschied‐ liche Selbstbilder entwerfen: „Brown and Levinson seem to be thinking of the self as a stable core of values lodged somewhere in the individual, whereas for Goffman self is far less ‚real‘ and is constantly renegotiable“ (Watts 2003, 105). Das face bei Goffman ist auch insofern weniger stabil, als er - im Unterschied zu B/ L - die Dialektik zwischen den beteiligten Individuen in seine Überlegungen einbezieht: Sein Gesicht besteht nicht nur aus Wünschen und Bedürfnissen eines Individuums. Es wird auch durch das Fremdbild oder das hypothetische Fremdbild auf das handelnde Individuum bestimmt. Also: Wie ein Mensch sich selbst in einer Situation entwirft, hängt auch davon ab, was er oder sie denkt, dass die anderen über ihn oder sie denken. Den Überlegungen von B/ L scheint auch ein recht diskussionswürdiges Menschenbild zugrunde zu liegen: Jede/ r KommunikationsteilnehmerIn muss anscheinend ständig auf der Hut sein, dass sein/ ihr Selbstbild nicht von anderen unterminiert wird. Überall lauern potentielle Angriffe auf das Gesicht - das hat fast schon paranoide Züge: „It appears that in Brown Levinson’s treatment of ‚face‘, Goffman’s tendentially individualistic treatment of ‚sacred self ‘ becomes an obsessive attempt by an ideal rational actor to mark and protect personal territory from potentially harmful interpersonal contact“ (Bargiela-Chiappini 2003, 1461). So bedrohlich ist Interaktion aber sicher nicht immer. Die meisten Menschen sehen in In‐ teraktionspartnerInnen wohl eher PartnerInnen und weniger potentielle AngreiferInnen. Aus kritischen Stellungnahmen zum face-Begriff bei B/ L werden sich diverse Neuansätze der Höflichkeitstheorie ergeben, auf die wir später eingehen werden. Das Konzept der Modellperson und das formelhafte Kalkül der Höhe einer Gesichtsbedrohung widersprechen ebenfalls der Intuition und werfen Probleme für die Integration der Höflichkeitstheorie in allgemeinere prag‐ matische Theorien auf. Paternoster spricht von der „fast schon roboterhaften 6.3 Kritik an Brown/ Levinson 199 <?page no="200"?> Konzeptualisierung der Modellperson“ (Paternoster 2015, 34, Übers. v. Verf.). B/ L selbst räumen ein, dass die verschiedenen zu kalkulierenden Faktoren in der Formel natürlich kontextabhängig sind. Diese Tatsache kann in einer solchen Formel aber kaum abgebildet werden. In der real existierenden Kommunikation fließen immer weitere Elemente in das Kalkül von Spre‐ cherInnen und HörerInnen ein und tragen entscheidend dazu bei, dass das gesichtsbedrohende Potential von Sprechhandlungen berechnet werden kann; sie bestimmen damit auch den jeweils angemessenen Grad an Höflich‐ keit. KommunikationsteilnehmerInnen ist bewusst, dass sie nicht mit einer Modellperson kommunizieren, sondern mit realen Menschen, über deren Einstellungen, Bedürfnisse, Orientierungen, Vorlieben usw. sie Hypothesen bilden können. Diese Hypothesen wiederum fließen in die Gestaltung der Sprechhandlungen ein. Die erwarteten, erwartbaren und realen Reaktionen der PartnerInnen sind dann ein weiteres Element, das berücksichtigt werden muss. Eine pragmatische Auffassung von Kommunikation geht immer davon aus, dass der Sinn von Äußerungen das Produkt eines komplexen Aushandlungsprozesses ist; er hängt von zahlreichen Variablen ab. Ob eine Äußerung höflich ist bzw. wie höflich sie ist, kann man also kaum berechnen - und schon gar nicht, bevor sie überhaupt sprachlich realisiert wurde. In engem Zusammenhang damit steht die Kritik, dass das Modell von B/ L unangemessen sprecherzentriert ist. Höflichkeit wird hier in erster Linie als das Ergebnis eines Abwägungsprozesses der SprecherInnen be‐ schrieben. Eine Äußerung wäre damit so höflich, wie die SprecherInnen sie machen wollen. Die Intention der SprecherInnen ist der entscheidende Faktor. In Wirklichkeit reicht es aber nicht, höflich sein zu wollen, um es tatsächlich zu sein. Mindestens ebenso entscheidend ist die Einschät‐ zung der Angesprochenen: Wenn sie der Meinung sein sollten, dass die betreffende Äußerung im vorliegenden Kontext nicht höflich oder unhöf‐ lich ist, dann ist die Intention fehlgeschlagen. Man wird kaum sagen können, eine Äußerung sei höflich, obwohl der/ die AdressatIn sie ganz anders einschätzt. Der Grad der Höflichkeit hängt von SprecherInneninten‐ tionen, HörerInnenreaktionen und Einschätzungen von BeobachterInnen ab - wobei es durchaus auch mehrere Gruppen von AdressatInnen (z. B. Mehrfachadressierung in massenmedialen Texten) und unterschiedliche Typen von BeobachterInnen (WissenschaftlerInnen, anwesende Personen etc.) mit unterschiedlichen Einschätzungen geben kann. Debatten über die Angemessenheit von Komplimenten haben in den letzten Jahren gezeigt, dass diese höflich gemeint, aber als völlig deplatzierte Übergriffe rezipiert 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 200 <?page no="201"?> werden können. In der neueren Höflichkeitstheorie wird daher von der „Ko-Konstruiertheit“ höflicher Handlungen gesprochen. Auch aufgrund dieser Eigenschaft ist Höflichkeit ein Gegenstand von metasprachlichen Diskussionen unter KommunikationsteilnehmerInnen. Es ist in manchen Fällen ausgesprochen schwierig, sich darauf zu verständigen, ob es höflich ist, einer Dame in der Straßenbahn einen Sitz anzubieten oder nicht. Urteile über die Höflichkeit von Äußerungen sind aber nicht nur in dem Sinne variabel, dass verschiedene Personen unterschiedliche Auffas‐ sungen über ein Beispiel haben können. Die Meinungen verändern sich auch in Abhängigkeit von diversen anderen Faktoren, angefangen bei der Kommunikationssituation, dem Kontext oder der beteiligten Partne‐ rInnen. Dazu kommt noch das Problem, dass sich solche Varianten kaum objektiv bestimmen und beschreiben lassen; was in die Kalkulation des Höflichkeitsgrades einfließt, sind auch Hypothesen der TeilnehmerInnen und der BeobachterInnen: Ein/ e SprecherIn kann eine Situation etwa für informell halten und dementsprechend salopp formulieren. Wenn seine/ ihre GesprächspartnerInnen oder auch BeobachterInnen die Einschätzung bezüglich der Formalität nicht teilen, dann könnten sie leicht zu der Auf‐ fassung kommen, der/ die SprecherIn habe es an Höflichkeit fehlen lassen und/ oder sei unsensibel, weil er/ sie die Situation nicht angemessen lesen kann. Darüber hinaus ist häufig auch zu beobachten, dass die Formalität einer Situation keine gegebene Größe ist, sondern, zumindest bis zu einem gewissen Grad, das Ergebnis der Formulierungen Einzelner: Wenn ein/ e SprecherIn einen informellen Ton vorgibt, können die anderen ihm/ ihr folgen und damit den Grad an erforderlichem verbalen Beziehungsaufwand entscheidend beeinflussen. Solche Aushandlungsspiele können von dem Modell von B/ L nicht beschrieben werden; es ist in dieser Hinsicht zu statisch, es kann nicht die Dynamik der Situationen abbilden. Notorisch unklar und problematisch ist auch das Verhältnis von Höflich‐ keit und Unhöflichkeit. Letztere wird bei B/ L eigentlich nie explizit thema‐ tisiert, sie wird als Abwesenheit von Höflichkeit, im Sinne von Abschwä‐ chung des aggressiven Potentials, behandelt. Vor allem Eelen (2001, 87 ff.) hat darauf hingewiesen. Culpeper (2011) und auch andere entwickeln als Ergänzung eine Theorie der Unhöflichkeit, in der sie davon ausgehen, dass das Verhältnis zwischen Höflichkeit und ihrem Gegenteil bei weitem nicht so einfach ist, wie man annehmen könnte - angefangen bei der Tatsache, dass Unhöflichkeit, verbale Aggressionen und symbolische Gewalttätigkeit sehr viel auffälliger sind als sozial angemessenes Verhalten. Man muss dabei 6.3 Kritik an Brown/ Levinson 201 <?page no="202"?> nicht einmal an Hatespeech, Flaming oder andere beleidigende Redeweisen denken, die in den Neuen Medien vorkommen können. 6.4 Die Konsolidierungsphase In den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden die Anre‐ gungen von B/ L von zahlreichen AutorInnen aufgegriffen, in Teilaspekten kritisiert und dann zu modifizierten Modellen weiterentwickelt, die aber (mit Ausnahme von Leech) nicht den großen systematischen Stellenwert für sich beansprucht haben, der der Arbeit von B/ L zugeschrieben wird. Wir stellen eine Auswahl wichtiger Beiträge vor, um zu illustrieren, welche Richtung die Diskussionen genommen haben. 6.4.1 Fraser/ Nolan und der Konversationsvertrag Einen einflussreichen Beitrag zur Diskussion um sprachliche Höflichkeit leisten Fraser/ Nolan (1981, vgl. auch Fraser 1990 und 2001) mit einem Aufsatz, in dem es gar nicht in erster Linie um Höflichkeit geht, sondern um den damit verwandten Begriff ‚Ehrerbietung‘ (deference). Um zu zeigen, was darunter zu verstehen ist und wie er von Höflichkeit abgegrenzt werden kann, erklären die Autoren zuerst ihr Verständnis von Höflichkeit. Es unterscheidet sich in entscheidenden Punkten von den Ideen B/ Ls und nimmt einige zukünftige Entwicklungen vorweg. Auch Fraser und Nolan knüpfen an Grice und Goffman an, die Grund‐ voraussetzung ist also auch hier die Vorstellung, dass Interaktionsteilneh‐ merInnen als rational handelnde Wesen verstanden werden müssen, die ein interaktionales Gleichgewicht aufrechterhalten wollen und müssen. Die beiden Autoren führen hier einen „Konversationsvertrag“ in die Diskussion ein, ein stillschweigend akzeptiertes Abkommen zwischen den an einem Gespräch beteiligten Personen, das die Rechte und Pflichten der TeilnehmerInnen definiert: „On entering into a given conversation, each party brings an understanding of some initial set of rights and obligations that will determine, at least for the preliminary stages, the limits of the interaction“ (Fraser/ Nolan 1981, 93 f.). Es gibt dabei zwei Typen von Regeln: allgemeine und spezifische. Die allgemeinen Regeln finden in jeder Art von Konversation Anwendung. Es handelt sich einerseits um Konventionen, die Details wie die Organisation des SprecherInnenwechsels, die akzeptierte 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 202 <?page no="203"?> Lautstärke, die Wahl der Sprache für einen Beitrag usw. betreffen. Zusätzlich gibt es eine institutionelle Dimension des Vertrages. Einige Paragraphen des Konversationsvertrages ergeben sich aus dem Rahmen, in dem die Konversation stattfindet: Im Gericht gelten andere Vorgaben als in einer Besprechung in einem Unternehmen, in der Kirche spricht man anders miteinander als in einer Kneipe. Die konventionellen und die institutionellen Regeln sind Vorgaben, die kaum Variationsspielraum aufweisen, sie sind in einer Kultur in jeder Art von Gespräch gültig. Die Art und Weise, wie wir miteinander sprechen und was wir vonein‐ ander erwarten, hängt aber nicht nur von allgemeinen Konventionen und institutionellen Zwängen ab; der Vertrag hat auch eine historische und eine situationsbezogene Dimension. Damit ist erstens gemeint, dass viele Interaktionen eine Vorgeschichte haben und die Regeln des gegenwärtigen Austausches natürlich an das anknüpfen, was die Beteiligten schon früher praktiziert haben. Zweitens ist die Kommunikationssituation ein wichtiger Einflussfaktor, hier kommen Variablen wie die von B/ L angesprochenen zur Anwendung: Je nach Status, Machtunterschied oder Rolle der SprecherInnen ergeben sich unterschiedliche Pflichten und Rechte. Die historische und die situationsbezogene Dimension des Vertrages beziehen sich auf Details, die variabel sind und immer wieder neu ausgehandelt und angepasst werden können. Der Ansatz von Fraser und Nolan kann als dezidiert pragmatisch be‐ trachtet werden: Sie betonen, dass nicht Wörter, Sätze oder sonstige sprach‐ lichen Formen höflich sind, sondern immer nur deren Verwendung in bestimmten Kontexten: […] no sentence is inherently polite or impolite. We often take certain expressions to be impolite, but it is not the expressions themselves but the conditions under which they are used that determines the judgement of politeness. (Fraser/ Nolan 1981, 96) Daraus folgt, dass auch die Rolle der HörerInnen anders eingeschätzt werden muss als bei B/ L; ihnen wird bei Fraser und Nolan eine größere Bedeutung zugeschrieben: Was als höflich oder unhöflich aufgefasst wird, liegt bei ihnen ganz in der Hand der HörerInnen. Der wichtigste Unterschied zum B/ L-Modell liegt aber in der Grundan‐ nahme über Höflichkeit: Bei Fraser/ Nolan handelt es sich dabei nicht um eine Strategie, mit der SprecherInnen eine potentiell bittere Medizin leichter verdaulich machen, sondern - um im Bild zu bleiben - um das alltägliche 6.4 Die Konsolidierungsphase 203 <?page no="204"?> Brot. Höflichkeit besteht schlicht und einfach darin, das zu tun, was im Konversationsvertrag vorgesehen ist, also das, was SprecherIn und HörerIn wechselseitig voneinander erwarten. Höflichkeit ist demnach der kommu‐ nikative Normalfall und keine gesichtswahrende Reparaturhandlung: Politeness is a state that one expects to exist in every conversation: participants note not that someone is being polite - this is the norm - but rather than [sic] the speaker is violating the CC [conversational contract, die Verf.]. Being polite does not involve making the hearer ‚feel good‘, à la Lakoff or Leech, nor does it involve making the hearer not ‚feel bad‘, à Brown/ Levinson. It simply involves getting on with the task at hand in light of the terms and conditions of the CC. (Fraser 2001, 1414) Nach dieser Auffassung muss Höflichkeit auch gar nicht kommuniziert werden (oder die Intention, höflich zu sein, muss nicht bekannt gemacht werden) und stellt auch keine Implikatur dar. Wer höflich ist, handelt einfach vertragsgemäß. Vieles von dem, was B/ L als Höflichkeit klassifizieren, fällt für Fraser und Nolan mit Ehrerbietung zusammen. Ehrerbietung definieren sie wie‐ derum im Rückgriff auf Goffman als eine Verhaltenskomponente, mit der den AdressatInnen symbolisch Wertschätzung für ihre Person oder ihr zugerechnete Objekte übermittelt wird (vgl. Goffman 1986, 64). Das wird von Höflichkeit unterschieden. Elaborierte Anredeformen wie Meine sehr geehrten Damen und Herren oder Gnädige Frau wären demnach keine Ma‐ nifestationen von Höflichkeit, sondern eben Ehrerbietung. Man kann es so zusammenfassen: Höflich ist ein/ e SprecherIn dann, wenn den HörerInnen nichts auffällt; wenn sie sich besonders zuvorkommend behandelt fühlen; dann erweist der/ die SprecherIn ihnen Ehre. Hier liegt sicherlich ein Problem der Auffassung von Fraser und Nolan: Es ist im Einzelfall nicht leicht, genau zwischen Ehrerbietung und Höflichkeit, zwischen Normalfall und markiertem Benehmen zu unterscheiden. Der Status des Konversationsvertrages - vor allem im Verhältnis zum KP - ist darüber hinaus unklar, und es scheint nicht ganz angemessen zu sein, davon auszugehen, dass Höflichkeit nicht kommuniziert wird. Die Diskussion um sprachliche Höflichkeit hat aber durch die Arbeiten von Fraser und Nolan eine entscheidende Bereicherung erfahren, die auch in neuen Publikationen noch nachwirkt. 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 204 <?page no="205"?> 6.4.2 Leech: Höflichkeit als „kommunikativer Altruismus“ Wie bereits angesprochen gehört Geoffrey Leech eigentlich zu den Pionieren der linguistischen Höflichkeitsforschung. Schon 1977 veröffentlichte er einen Aufsatz über Sprache und Takt (Leech 1977). Seine Arbeiten sind aber erst nach der Publikation des B/ L-Ansatzes in den Blickpunkt der Diskussionen gerückt. Leech hat dann weitere Aufsätze und Bücher zum Thema vorgelegt und sich als einer der theoretisch fundiertesten Forscher auf diesem Gebiet etabliert; er wird bis heute stark rezipiert. Seine Position ist im Wesentlichen in den 80er Jahren formuliert und in einer Monografie (Leech 2014) mit leichten Änderungen bestätigt worden. Leechs Wirkungs‐ geschichte reicht also von der Pionierzeit der Höflichkeitsforschung bis hinein in die diskursive Wende (die er kritisch kommentiert) - schwerpunkt‐ mäßig (sowohl zeitlich als auch inhaltlich) passt sie aber in das, was hier Konsolidierungsphase genannt wurde. Anders als viele andere ForscherInnen hat Leech seine Position im Zusammenhang mit einer breiter angelegten Reflexion über linguistische Pragmatik entwickelt. Das Buch, das als erster Höhepunkt seiner diesbezüg‐ lichen Tätigkeit gilt, heißt in der Tat Principles of Pragmatics (Leech 1983). Es ging ihm also nicht in erster Linie um die Frage, was es mit Höflichkeit auf sich hat, sondern um den Zusammenhang von Bedeutung und Sinn, von Sprechen und Handeln, von Sagen und Meinen im Allgemeinen. Im Rahmen der Grundlegung der Pragmatik kommt er auch auf Höflichkeit zu sprechen. Er weist zunächst einmal auf den hohen Stellenwert hin, der ihr in einer Sprachtheorie zukommt: „Far from being a superficial matter of ‚being civil‘, politeness is the missing link between CP [Cooperative Principle, die Verf.] and the problem of how to relate sense to force“ (Leech 1983, 104). Was Leech entwirft, ist also eine echte Theorie der Höflichkeit, die in eine umfassendere Sprachtheorie eingebettet ist. Höflichkeit wird hier zu einem (zentralen) Baustein einer Theorie des Sprachgebrauchs. Inspiriert von Halliday (1973) beschreibt Leech zunächst drei Grund‐ funktionen der Sprache: die ideationale, interpersonale und die textuelle Funktion. Er geht davon aus, dass wir kommunizieren, um Erfahrungen zu vermitteln und zu interpretieren (ideational), dass wir Einstellungen und Beziehungskonzeptionen kommunizieren (interpersonal) und dass wir geschriebene oder gesprochene Texte konstruieren wollen (textuell). Die linguistische Analyse kommunikativer Handlungen sieht eine Arbeitstei‐ lung vor, sie funktioniert dergestalt, dass die traditionelle Linguistik (von der 6.4 Die Konsolidierungsphase 205 <?page no="206"?> Phonologie über die Grammatik bis zur Semantik) sich mit der ideationalen Funktion beschäftigt, die Pragmatik mit den beiden anderen. Die Grammatik beschreibt ein System von Regeln, die Pragmatik dagegen Prinzipien, die uns in die Lage versetzen, gut konstruierte Texte in einer dem interpersonellen Kontext angemessenen Form zu produzieren. Alles, was Höflichkeit betrifft, hat mit der interpersonellen Funktion zu tun - sie fasst die Bühlersche Apell- und Ausdrucksfunktion zusammen (vgl. Bühler 1934/ 1999). Eine weitere Grundunterscheidung bezieht sich auf die Ziele der Spre‐ cherInnen: Leech spricht hier von illokutionären Zielen auf der einen Seite und sozialen auf der anderen. Die illokutionären Ziele sind diejenigen, die ein/ e SprecherIn mit einer Handlung erreichen will, also beispielsweise die Erlaubnis bekommen, rauchen zu dürfen, die HörerInnen dazu bewegen, nicht zu rauchen, ein Essen im Restaurant serviert zu bekommen usw. Dazu kommen soziale Ziele; allgemein gesagt bestehen sie darin, gute kom‐ munikative Beziehungen mit den InteraktionspartnerInnen beizubehalten. Dabei kann es zu Zielkonflikten kommen: Wenn eine Ehefrau will, dass ihr notorisch fauler Partner mit ihr einen Spaziergang auf einen anstrengenden Berg macht, dann riskiert sie, ihn zu verstimmen und zukünftige Gespräche im Voraus zu belasten. Sie muss also zwischen dem illokutionären Ziel (ihn davon zu überzeugen, die Wanderschuhe anzuziehen) und dem sozialen (den ehelichen Frieden zu wahren) abwägen. Nach Leech ergeben sich aus den möglichen Zielen insgesamt vier Konstellationen, die Typen von Sprech- und Handlungssituationen beschreiben (Leech 1983, 104 und 2014, 89) und die anhand typischer Sprechhandlungen erläutert werden können: a. kompetitiv: Es gibt einen Zielkonflikt zwischen sozialem und illoku‐ tionärem Ziel. Sprechhandlungen: Befehlen, Betteln, Bitten usw. b. gesellig (konvivial): Das illokutionäre und das soziale Ziel stimmen überein. Sprechhandlungen: Einladen, Grüßen, Danken, Gratulieren usw. c. kollaborativ: Das illokutionäre Ziel ist unabhängig vom sozialen Ziel, letzteres spielt keine Rolle. Sprechhandlungen: Behaupten, Berichten, Ankündigen, Anweisen usw. d. konfliktär: Es gibt einen Konflikt oder Widerspruch zwischen illokuti‐ onärem und sozialem Ziel. Sprechhandlungen: Beschuldigen, Fluchen, Rügen usw. Sprechhandlungen: Beschuldigen, Fluchen, Rügen usw. 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 206 <?page no="207"?> Höflichkeit wird vor allem in kompetitiven und konvivialen Situationen relevant. In kollaborativen Situationen liegt kein Zielkonflikt vor und des‐ wegen auch keine Notwendigkeit, höflich zu sein. Im Falle von Konflikten haben die Teilnehmer es auf die kommunikative Schädigung des Partners abgesehen, auch hier muss niemand höflich sein. Höflichkeit wird hier also als ein Mittel verstanden, das dafür geeignet ist, unterschiedliche, einander in einer Situation widersprechende, kommu‐ nikative Ziele zu versöhnen. Wer höflich ist, der versucht, seine sozialen Ziele zu verwirklichen, obwohl die Sprechhandlung, die er gerade ausführt, geeignet ist, weitere, spätere Interaktionen im Voraus zu belasten oder sogar zu unterminieren. Auch Leech konzipiert Höflichkeit als Ausgleichsaktivität. Sie dient dazu, potentielle Beleidigungen abzumildern und kommunikatives Einver‐ ständnis zu unterstützen. In Analogie zu Grice formuliert Leech das als Prinzip, das wir befolgen, wenn es in der Interaktion „brenzlig“ wird: The Principle of Politeness (PP) - analogous to Grice’s CP [im Deutschen KP, die Verf.] - is a constraint observed in human behaviour, influencing us to avoid communicative discord or offence, and maintain or enhance communicative concord or comity. (Leech 2014, 87) Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Leech das PP als Ergänzung zum Kooperationsprinzip (KP) konzipiert: PP und KP haben in seinem Modell den gleichen Status. Ein/ e SprecherIn kann das eine oder das andere befolgen und das PP kann - wie das KP - verletzt, ausgesetzt oder zur Kommunikation von „versteckten Botschaften“ oder Implikaturen ausgenutzt werden (vgl. Leech 2014, 99). PP und KP sind als parallele Prinzipien angelegt, die auch miteinander in Konflikt treten können. Dieses Modell stimmt nicht mit der Auffassung des KP überein, die wir in Kapitel 5 vertreten hatten: Hier war davon ausgegangen worden, dass die Maximen, aber nicht das KP verletzt werden können und dass SprecherInnen, die sich nicht an das KP halten, auch nicht kommunizieren. Höflichkeit hatten wir auf der Ebene der Maximen angelegt, als Parallele zur Qualität (z. B.), nicht aber auf der Ebene des grundlegenden Prinzips. Leech würde das offensichtlich anders sehen. Er schlägt eine präzise Formulierung des PP als übergeordnetes Prinzip vor: General Strategy of Politeness: In order to be polite, S expresses or implies meanings that associate a favorable value with what pertains to O [other, 6.4 Die Konsolidierungsphase 207 <?page no="208"?> AdressatIn/ HörerIn, die Verf.] or associates an unfavorable value with what pertains to S (S = self, speaker). (Leech 2014, 90) Wie das KP bei Grice lässt sich dieses PP weiter ausführen und in hand‐ lungsleitende Maximen fassen. Leech schlägt hier fünf Maximen vor, von denen jede wiederum in einer sprecherInorientierten und einer hörerInori‐ entierten Version existiert. Daraus ergibt sich ein vollständiges Bild von Höflichkeitsprinzipien: Maximenpaar Maxime Formulierung Typische Sprech‐ handlungen Großzügig‐ keit, Takt (M1) Großzügig‐ keit Lege großen Wert auf die Bedürfnisse von O. Kommissiva (M2) Takt Lege wenig Wert auf die Bedürfnisse von S. Direktiva Beifall, Be‐ scheidenheit (M3) Beifall Lege großen Wert auf die Qualitäten von O. Kompliment (M4) Bescheiden‐ heit Lege wenig Wert auf die Qualitäten von S. Selbstabwertung Verpflichtung (M5) S gegenüber O Lege großen Wert auf die Verpflichtungen von S gegenüber O. Entschuldigung, Dank (M6) O gegenüber S Lege niedrigen Wert auf die Verpflich‐ tungen von O gegen‐ über S. Antwort auf Dank oder Entschuldi‐ gung Meinung (M7) Zustimmung Lege großen Wert auf die Meinung von O. Zustimmen, Wi‐ dersprechen (M8) Zurückhal‐ tung Lege niedrigen Wert auf die Meinung von S. Meinung abgeben Gefühle (M9) Sympathie Lege hohen Wert auf die Gefühle von O. Gratulieren, Be‐ mitleiden (M10) Reserviert‐ heit Lege niedrigen Wert auf die Gefühle von S. Gefühle unterdrü‐ cken Abb. VI.4: Höflichkeitsmaximen nach Leech 2014, 91 (O=Other/ AdressatIn, S=Self/ SprecherIn, die Verf.) 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 208 <?page no="209"?> Die Tabelle spiegelt viele Intuitionen über Höflichkeit wider. Ein Kompli‐ ment besteht z. B. darin, einer Qualität der GesprächspartnerInnen beson‐ ders hohen Wert beizumessen (Maxime 3) und das zu kommunizieren. Es gilt als höflich. Wenn jemand dagegen eine andere Person kritisieren will, dann sagt er/ sie häufig so etwas wie: „Ich bin ja kein großer Experte für Mode, aber ich habe den Eindruck, dass deine Krawatte nicht so richtig gut zum Hemd passt.“ Er oder sie gibt also zu verstehen, dass die eigene Meinung nicht so viel zählt (Maximen 4 und 8). Die Maximen mit geraden Zahlen fasst Leech unter positiver Höflichkeit zusammen, die mit ungeraden Zahlen als negative. Er betont aber, dass diese Unterteilung anders zu verstehen ist als bei B/ L: Vor allem bei der positiven Höflichkeit zeigt sich, dass sie bei B/ L als Strategie der Abmilderung von FTAs aufgefasst wird, bei Leech hingegen als Unterstützung des Images des anderen - unabhängig von der Präsenz eines FTA. Auch Leech betrachtet Höflichkeit als graduelles Phänomen, der Grad an Höflichkeit, der in einer Situation erwartbar ist, hängt von den Gegeben‐ heiten ab. Wie B/ L beschreibt er Faktoren, die in Betracht gezogen werden müssen, wenn man kalkulieren will, ob ein/ e SprecherIn auf der Ebene der Höflichkeit angemessen kommuniziert. Die Faktoren überschneiden sich zum Teil mit denen von B/ L, Leech schlägt aber einige zusätzliche Faktoren vor und er fasst das Kalkül nicht in eine mathematisch anmutende Formel. Die von Leech genannten Faktoren sind (vgl. Leech 2014, 103): a. Vertikale Distanz zwischen SprecherIn und HörerIn: Status, Macht, Rolle, Alter usw. b. Horizontale Distanz zwischen SprecherIn und HörerIn: Intimität, Bekanntheit usw. c. Kosten/ Nutzen: Wie hoch sind der Nutzen, die Kosten, die Verpflich‐ tung dessen, was kommuniziert wird? d. Stärke der sozialen Rechte und Pflichten (Verpflichtung von Leh‐ rerInnen gegenüber SchülerInnen, von GastgeberInnen gegenüber Gästen etc.) e. Territorialität: In-group-Situationen vs. Out-group-Situationen. Ge‐ hören SprecherIn und HörerIn der gleichen Gruppe an? Aus der Perspektive von Leech ist Höflichkeit also eine Form von Konflikt‐ vermeidung, die darauf abzielt, die Interaktionen ohne Störungen auf der interpersonellen oder sozialen Ebene abwickeln zu können. Man erreicht dieses Ziel, indem man dem anderen etwas Gutes tut oder sich selbst 6.4 Die Konsolidierungsphase 209 <?page no="210"?> zurücknimmt. Höflichkeit ist ein normaler, erwartbarer Bestandteil vieler Arten von kommunikativem Austausch. Leech selbst spricht auch von Höflichkeit als „kommunikativem Altruismus“ (Leech 2014, 4), wobei er betont, dass dieser nicht notwendigerweise mit echtem Altruismus zusam‐ menfällt: Wer genuin altruistisch handelt, der tut etwas für den anderen ohne an die eigenen Bedürfnisse zu denken. Wer höflich ist, kann damit jedoch durchaus auch darauf abzielen, eigene Ziele zu erreichen oder diese zumindest effizienter zu erreichen. 6.4.3 Arndt/ Janney und die emotive communication Arndt und Janney haben in verschiedenen Beiträgen eine Sichtweise auf Höflichkeit entwickelt, die einem alternativen Höflichkeitsmodell nahe‐ kommt (vgl. dazu Watts 2003, 75) und das einige spätere Entwicklungen vorausgenommen und/ oder beeinflusst hat. Die beiden Autoren entwickeln ihre Ausführungen erst einmal aus einer sehr speziellen Perspektive: Sie fragen nämlich, wie Höflichkeit in eine Fremdsprachendidaktik eingeglie‐ dert werden kann, die über die Vermittlung von feststehenden Formeln hinausgehen und eine echte kommunikative Kompetenz vermitteln möchte. Sie halten die existierenden linguistischen Höflichkeitstheorien zu solchen Zwecke für ungeeignet: Little in the way of an adequate approach to studying or teaching politeness in speech has come out of linguistics in recent decades. Most current approaches are based on the notion that politeness is a matter of using the right words in the right places, and that the appropriacy of expressions in different situations is regulated by social conventions. (Arndt/ Janney 1985, 281) Aus ihrer Perspektive behandeln alle anderen Ansätze Höflichkeit als stilisti‐ sche, soziale oder situationale Angemessenheit. Höflich ist also eine Person, die die korrekte Stilebene identifizieren kann, die sozialen Konventionen be‐ folgt oder das macht, was in einer speziellen Situation von ihr erwartet wird. In allen Fällen fällt Höflichkeit mit der Befolgung von Regeln zusammen. Hier liegt nach Arndt/ Janney der Fehler: Ein solcher Ansatz ignoriert die individuelle Ebene und die Tatsache, dass es letztlich einzelne Men‐ schen sind, die höflich sind und Höflichkeit wahrnehmen. Für die beiden Autoren muss die Behandlung von Höflichkeit in den Rahmen der Ana‐ lyse emotiver Kommunikation eingegliedert werden. Nicht irgendwelche soziologischen Variablen determinieren den Grad der Höflichkeit einer 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 210 <?page no="211"?> Äußerung, sondern die Gefühle, die damit ausgedrückt werden. Gefühle sind transitorische affektive Zustände, die nur teilweise der Kontrolle des Indi‐ viduums unterliegen. In der Kommunikation unterscheiden sie zwischen emotionaler und emotiver Kommunikation. Emotionale Kommunikation wäre der unkontrollierte, spontane Ausdruck von Gefühlen. Unter emotiver Kommunikation fassen sie die bewusste, strategische Modulation solcher Gefühlszustände und deren Ausdruck, bei dem das Individuum sich auch von zivilisatorischen Interaktionsnormen leiten lässt. Die beiden Autoren legen großen Wert darauf zu zeigen, dass hier verbale, nonverbale (Stimmführung, Betonung, Lautstärke etc.) und kinesische (Gestik, Mimik) Aspekte eine Rolle spielen, dass Höflichkeit also als multimodales Phänomen verstanden werden muss. Aus der psychologischen Fachliteratur übernehmen Arndt/ Janney drei Dimensionen von Gefühlen: Vertrautheit, positive bzw. negative Affekte und Grad des Engagements. SprecherInnen, die mit verbalen oder sonstigen Mitteln Gefühle ausdrücken, signalisieren etwas über ihre Vertrautheit mit dem behandelten Gegenstand, über ihre (positive oder negative) Einstellung diesem gegenüber und darüber, ob sie damit eher starke oder schwache Gefühle verbinden. Für die Auseinandersetzung mit Höflichkeit ist vor allem die Dimension „positive vs. negative Affekte“ relevant. Beide sollten, wenn sie kommuniziert werden, nämlich mit flankierenden kommunikativen Maßnahmen begleitet werden: Briefly, positive messages have to be accompanied by displays of confidence and involvement in order to avoid creating the impression that they are not positive enough (i.e. cover threats of face); and negative messages have to be accompanied by displays of lack of confidence and uninvolvement in order to avoid creating the impression that they are too negative (i.e. overt threads of face). (Arndt/ Janney 1985, 294) In dem Zitat deutet sich an, dass auch hier Höflichkeit als eine kommuni‐ kative Ausgleichsmaßnahme fungiert und dass die beiden Autoren den face-Begriff von B/ L übernehmen. Der Schutz des Images steht im Mittel‐ punkt ihrer Überlegungen. Es ist durch Manifestationen von Emotionen, insbesondere negativen und positiven Evaluationen, potentiell bedroht, dadurch wiederum gerät das interaktive Gleichgewicht in Gefahr, das für jede Konversation nötig ist. SprecherInnen müssen daher die Wertschätzung des Images des anderen durch unterstützende Maßnahmen kommunizieren. Höflichkeit wird also als Unterstützung (supportiveness) des Images konzi‐ 6.4 Die Konsolidierungsphase 211 <?page no="212"?> piert. Man formuliert negative Evaluationen beispielsweise höflich, indem man signalisiert, dass man mit dem Gegenstand nicht übermäßig vertraut ist bzw. dass man in der Sache nicht besonders engagiert ist, aber eben auf die interpersonelle Ebene großen Wert legt. Positive Ausdrücke werden höflich realisiert, indem man zeigt, dass man sich seiner Sache sicher ist und dass man besonders viel Wert darauf legt, also besonders engagiert ist. Diese Art von Höflichkeit - die Autoren sprechen auch von Takt - erfüllt also keine Erwartungen der GesprächspartnerInnen, sie ist eine multimodal realisierte unterstützende Maßnahme. Sie fällt nicht mit der Verwendung bestimmter sprachlicher oder außersprachlicher Formen zusammen. Darüber hinaus gibt es auch eine formellere Art von Höflichkeit, die sie soziale Höflichkeit nennen und die aus standardisierten Strategien zur Bewältigung rekurrenter sozialer Situationen (Gesprächseinstieg oder -ausstieg usw.) be‐ steht. Im Unterschied zu vielen anderen Theorien wird Höflichkeit hier nicht als Teil eines rationalen Kalküls präsentiert, sondern als Teil der emotiven Kommunikation. Allerdings betonen die Autoren auch, dass dieser Bereich in der Linguistik noch weitgehend unerforscht ist und dass ihr Entwurf eher als Skizze verstanden werden muss, weil er mehr Fragen aufwirft als Antworten anbietet (vgl. Arndt/ Janney 1985, 298). Der Impuls, der später in der Höflichkeitstheorie aufgegriffen wurde, ist die Idee, dass Höflichkeit mehr auf der individuellen Ebene lokalisiert werden sollte und nicht in erster Linie als Befolgung von Regeln und Konventionen. 6.4.4 Was kommuniziert man, wenn man höflich ist? Der relevanztheoretische Ansatz In kritischer Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Grice haben Sperber/ Wilson (1986) mit der Relevanztheorie eine weitere pragmatische Rahmentheorie entworfen, die dann auch herangezogen wurde, um eine alternative Perspektive auf Höflichkeit zu entwickeln (vgl. z. B. Escan‐ dell-Vidal 1996 oder Jary 1998). Relevanztheoretiker bezweifeln die Erklä‐ rungskraft der Grice’schen Maximen. Nach ihrer Auffassung reicht das Relevanzprinzip aus, um zu analysieren, was Menschen tun, wenn sie kommunizieren (für einen Überblick vgl. Hall 2018). Sie sind der Auffassung, dass ein/ e HörerIn, der/ die eine Äußerung interpretiert, dem/ der SprecherIn unterstellt, eine maximal relevante Proposition übermitteln zu wollen. Unter den verschiedenen möglichen Interpretationshypothesen hält der/ die 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 212 <?page no="213"?> HörerIn am Ende diejenige für die richtige, die im gegebenen Kontext die relevanteste ist. Das wiederum heißt, dass die Äußerung starke kontextuelle Effekte auslöst (das kognitive Umfeld beeinflusst) und so wenig kognitiven Verarbeitungsaufwand wie möglich erfordert. Die Formulierungen machen schon deutlich, dass es der Relevanztheorie weniger darum geht, die Ra‐ tionalität der Räsonnements auf der Grundlage konventioneller Schlüsse nachzustellen, als vielmehr um die Erklärung kognitiver Prozesse. Relevanz‐ theoretikerInnen wenden diese Überlegungen auch nicht nur auf Fälle an, in denen eine versteckte, über den wörtlichen Inhalt hinausgehende Bedeutung zu entschlüsseln ist (eine Implikatur), sondern auch auf das Verständnis der wörtlichen Bedeutung selbst. In Bezug auf Höflichkeit stellen sich hier erst einmal zwei Fragen: Wird sie als Implikatur kommuniziert, also als mitgemeinte Bedeutung, wie es in vielen Höflichkeitstheorien zumindest implizit unterstellt wird? Und: Wird sie überhaupt kommuniziert, also vom Sprecher als kognitiver Effekt beim Hörer intendiert? Anders gesagt: Wie und wann kann Höflichkeit relevant sein? RelevanztheoretikerInnen gehen davon aus, dass die meisten Äußerungen im Hinblick auf ihre Höflichkeit oder Unhöflichkeit erst einmal völlig unauf‐ fällig sind. Kein/ e AdressatIn würde in solchen Fällen bemerken, dass der/ die SprecherIn auf dieser Ebene etwas übermitteln wollte. Höflichkeit fällt eben nur dann auf, wenn sie fehlt oder wenn sie übertrieben wird. Im Nor‐ malfall gibt es keine kognitiven Höflichkeitseffekte, also wird auch nichts Diesbezügliches kommuniziert. Höflichkeit ist demnach kein notwendiger und/ oder immer präsenter Teil einer jeden Botschaft. Sie gehört eher zu den SprecherInnen und HörerInnen wechselseitig bekannten Hintergrundinfor‐ mationen über den Kontext ihres kommunikativen Austausches - sie besteht aus Annahmen darüber, was man tun und sagen kann und was nicht. Erst wenn ein/ e InteraktantIn etwas sagt oder tut, was diesen Grundannahmen widerspricht und wenn dieses ungewöhnliche Verhalten relevant erscheint, kommt bei den InterpretInnen ein Räsonnement in Gang. Sie werden sich fragen, ob diese Abweichung von dem/ der SprecherIn intendiert war. Wenn sie zu der Auffassung kommen, dass dies nicht der Fall ist, können sie die Abweichung als Ergebnis kultureller Unterschiede zwischen der eigenen sozialen Gruppe und der des Sprechers oder der Sprecherin verbuchen. Wenn ein/ e HörerIn hingegen Gründe hat, ein intentionales Verhalten zu unterstellen, dann wird er oder sie zu dem Schluss kommen, dass (z. B.) der/ die SprecherIn ihm/ ihr mehr oder weniger Achtung entgegenbringt als der/ die InterpretIn bisher angenommen hatte. 6.4 Die Konsolidierungsphase 213 <?page no="214"?> Für den/ die SprecherIn kann es sinnvoll und wichtig sein, solche Effekte auszulösen, weil wir in der Kommunikation - so Jary (1998, 11) - im We‐ sentlichen zwei Typen von Zielen verfolgen: Das kurzfristige Ziel, jemanden dazu zu bringen, etwas zu tun oder zu glauben und das langfristige Ziel, ein akzeptiertes Mitglied unserer Kommunikationsgemeinschaft zu sein und zu bleiben. Vor allem für das Erreichen der langfristigen Ziele kann die so verstandene Höflichkeit eingesetzt werden. Das ist aber nicht immer nötig; viele Äußerungen sind deswegen in Bezug auf Höflichkeit unmarkiert. Das, was B/ L und andere „Höflichkeitsstrategien“ oder „Höflichkeitsformen“ genannt haben, wird einfach nur verwendet, weil es im Kontext erwartbar ist und den Normalfall repräsentiert. Anders gesagt: Wenn der/ die SprecherIn die entsprechenden Handlungen nicht oder anders vollziehen würde, dann würde er/ sie auffallen und den AdressatInnen den Impuls geben, nach einer Erklärung für das abweichende Verhalten zu suchen: „‚Politeness‘ is thus necessary to avoid triggering unwanted implications of impolite‐ ness“ (Escandell-Vidal 1996, 645). Höflichkeit ist damit keine Implikatur, sondern ein Mechanismus zur Vermeidung von seitens der SprecherInnen unerwünschten Implikaturen: „More generally, polite verbal behaviour is better seen as motivated by a desire to avoid (mis)communication; and the relevance of polite behaviour to observers should not be taken to entail its relevance to participants“ ( Jary 1998, 13). Das relevanztheoretische Höflichkeitskonzept nimmt schon Watts’ Idee auf, dass Höflichkeit mit markierten Fällen von Kommunikation identifiziert werden sollte und dass unmarkiertes Verhalten besser als „politic behaviour“ benannt wäre, weil es mit Höflichkeit wenig zu tun hat. Diesen Gedanken werden wir später wieder ansprechen, weil er erst nach der diskursiven Wende seine ganze Produktivität entfaltet hat. Zukunftsweisend ist darüber hinaus die konsequente HörerInnenorien‐ tierung der Höflichkeit aus der Relevanzperspektive. Höflichkeit ist hier in erster Linie ein kognitiver Effekt, der bei den HörerInnen ausgelöst wird. Was höflich ist und was nicht, kann also nur dann entschieden werden, wenn man zeigen kann, wie das kognitive Umfeld der AdressatInnen affiziert wird. Die Unterteilung in kurzfristige und langfristige Ziele scheint darauf zu verweisen, dass in diesem theoretischen Rahmen Kommunikation zuerst als Austausch von Informationen verstanden wird und dass Beziehungs- und andere Ziele eher als sekundär betrachtet werden. 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 214 <?page no="215"?> 6.4.5 Beiträge aus dem nicht-anglofonen Bereich Die bisher präsentierten Beiträge zur Höflichkeitstheorie stammen alle aus der anglofonen Linguistik und wurden in englischer Sprache verfasst. Damit ergibt sich aber keineswegs ein vollständiges Bild der Höflichkeits‐ forschung; auch in anderen Ländern und Sprachen wurde und wird über Höflichkeit diskutiert. Beiträge, die auf Deutsch, Französisch oder Russisch publiziert werden, werden in der internationalen Forschung aber weitaus weniger rezipiert und treten etwas in den Hintergrund - auch wenn sie qualitativ und inhaltlich genauso gut und innovativ sein mögen wie die bereits angesprochenen Ansätze. Wir versuchen hier, einen sehr knappen Überblick über einige Diskussionsbeiträge zu geben, die vor allem für den deutschsprachigen Kontext relevant sind. Größere Arbeiten zur Höflichkeit oder zu einzelnen Aspekten erschienen in Deutschland schon in den 80er Jahren: Lange (1984) setzt sich mit Entschuldigungen auseinander und Valtl (1986) betrachtet Höflichkeit vor allem aus einer pädagogischen Perspektive. Einen sehr einflussreichen Ver‐ such der linguistischen Auseinandersetzung mit Höflichkeit legte Weinrich (1986) vor. In seinem Essay stellt er pronominale Anredeformen in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Seine Definition von Höflichkeit knüpft an Theorien an, die in höflichem Verhalten den kommunikativen Normalfall sehen und das, was man von Gesprächspartnern erwarten kann: Höflichkeit ist ein sprachliches und nichtsprachliches Verhalten, das zum normalen Umgang der Menschen miteinander gehört und den Zweck hat, die Vorzüge eines anderen Menschen indirekt zur Erscheinung zu bringen oder ihn zu schonen, wenn er vielleicht nicht vorzüglich sein will. (Weinrich 1986, 24) Die Definition ist das Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Ansatz von B/ L und verschiedener anderer Traditionen, die auf die Gegebenheiten in der deutschen Sprache und Kultur angewendet werden. Der Bezug auf die positive und negative Höflichkeit wie sie von B/ L theoretisiert wurden, ist deutlich zu erkennen. Die Höflichkeitstheorie in Deutschland bekam neue Impulse und neuen Schwung, als 1992 der Sammelband von Watts et al. erschien. Dieses Buch wurde so stark rezipiert, dass 2005 eine erweiterte Neuauflage gedruckt wurde. Es kann auch als Brücke zwischen der englischsprachigen und der deutschsprachigen Höflichkeitsforschung gesehen werden: Die Beiträge 6.4 Die Konsolidierungsphase 215 <?page no="216"?> sind durchweg in englischer Sprache verfasst, viele AutorInnen sind oder waren aber in deutschsprachigen Ländern tätig und beeinflussten die wei‐ tere Forschung hier stark. Weit über den deutschsprachigen Rahmen hinaus wurde die Unterschei‐ dung zwischen first-order und second-order politeness produktiv gemacht, die die Herausgeber in der Einleitung diskutieren und auf den Punkt bringen. Auch in diesem Buch ist schon darauf hingewiesen worden, dass diese Differenzierung von fundamentaler Bedeutung ist. In den einzelnen Beiträgen werden verschiedenste Aspekte der Höflichkeit angesprochen. Einige Beispiele: Held (2005) gibt einen detaillierten Überblick über linguisti‐ sche Ansätze zur Erforschung von Höflichkeit, Watts (2005) begründet seine einflussreiche Idee, Höflichkeit von political behaviour zu unterschieden (darauf kommen wir noch zurück) und Ehlich (2005) beschreibt detailliert, dass Höflichkeit sowohl als Verhaltensform als auch als mehr oder weniger wissenschaftliche Reflexion der Praxis nur in ihrer Historizität angemessen verstanden werden kann. Eine theoretisch sehr ambitionierte und fundamentale Kritik an B/ L formuliert Werkhofer (2005). Er beschreibt zunächst zwei verbreitete Sicht‐ weisen auf Höflichkeit, die er einerseits als traditionelle und andererseits als moderne Sichtweise bezeichnet. Die traditionelle versteht Höflichkeit vor allem als Phänomen, das auf der sozialen Ebene anzusiedeln ist. Höfliche Individuen verhalten sich demnach einfach so, wie die gesellschaftlichen Konventionen es vorsehen, ihr individueller Handlungsspielraum spielt für die Theorie keine Rolle. Der moderne Ansatz dagegen sieht vor allem die individuelle Seite. In der Tradition von Grice wird Höflichkeit als eine Art individuelles Kalkül verstanden, mit dem SprecherInnen den RezipientInnen auf indirekte Weise etwas mitteilen wollen. Der Ansatz verkennt die soziale Dimension von Höflichkeit, die Werkhofer genau als Vermittlung zwischen individuellen und sozialen Ansprüchen ansieht. Grice hatte mit seiner Konzeption von Kommunikation einen Ansatz dafür vorgelegt, wie erklärt werden kann, dass SprecherInnen etwas zu verstehen geben, ohne es explizit zu sagen - wir hatten in Kapitel 4 schon darauf hingewiesen. Es geht ihm ausdrücklich um informationsvermittelnde Kommunikation und eben nicht um Höflichkeit oder andere soziale Fak‐ toren. Werkhofer weist nun darauf hin, dass es widersprüchlich ist, diesen Ansatz im Sinne von B/ L auf Höflichkeit anzuwenden, weil hier Höflichkeit ja gerade darauf hinausläuft, die echten Intentionen zu verstecken - sie könnten ja eine Gesichtsverletzung bewirken. Intentionen verstecken ist 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 216 <?page no="217"?> nun so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Grice untersucht hat. Wenn man, wie B/ L, eine Höflichkeitstheorie zu großen Teilen auf der Arbeit von Grice gründet, dann setzt man sich der Gefahr aus, dass man zwei Arten von Kommunikation annimmt, die sich widersprechen: die „wahre“, am Informationsgehalt orientierte Kommunikation und die Höflichkeit, die diese unterminiert und im Grunde genommen aufgrund der unterstellten Unaufrichtigkeit zum Zusammenbruch bringen müsste. Hier stellt sich zudem die Frage, ob man überhaupt noch von Kommunikation reden sollte, wenn man beschreibt, wie Sprecher versuchen, ihre wahren Intentionen nicht zu übermitteln. Die sozialen Aspekte von Höflichkeit haben B/ L durch die Übernahme von Goffmans Begriffen zu erfassen versucht. Aber auch hier meldet Werkhofer Kritik an: Zum einen überwiegt seiner Auffassung nach in B/ L eindeutig der Grice’sche Ansatz und zum anderen ist er der Auffassung, dass Goffman von B/ L nur selektiv und damit verfälschend rezipiert wurde - die beiden Autoren betonen vor allem das Image als individuelle Kategorie und verkennen die bei Goffman angelegte Verbindung mit der Konstituierung der sozialen und der rituellen Ordnung der Interaktion. Aus der Kritik an B/ L entwickelt Werkhofer einen originellen Gegenent‐ wurf: Er greift Parallelen zwischen Höflichkeit und Ökonomie auf, die auch bei Autoren wie B/ L oder Leech angedeutet werden, und macht sie stark, um den zwischen Individuellem und dem Sozialen vermittelnden Charakter sowohl von Geld als auch von Höflichkeit zu unterstreichen. Geld ist ein Me‐ dium der Organisation des Austausches von Waren und Dienstleistungen. Diese haben einen subjektiven und einen sozial anerkannten Wert. Diese Werte müssen nicht miteinander übereinstimmen; Geld kann hier aber einen Ausgleich schaffen und so etwas wie einen objektiven Wert anzeigen. Im Idealfall ist der Preis einer Ware also die Repräsentation ihres Wertes. Geld wird hier zu einer „relatively autonomous, active entity“ (Werkhofer 2005, 185). Damit ist gemeint, dass Geld eine gewisse Eigendynamik entwickeln kann. Unabhängig von konkreten Tauschoptionen kann es zum Ziel von Menschen werden, Geld zu erwerben. Das Medium beeinflusst schließlich auch die Bedürfnisse und Gefühle von Individuen. Ähnlich verhält es sich laut Werkhofer mit Höflichkeit. Er sieht fünf relevante Parallelen zwischen den beiden Phänomenen: 6.4 Die Konsolidierungsphase 217 <?page no="218"?> (i) Politeness, like money, is a socially constructed medium. (ii) Again like money, it is a symbolic medium in the sense that its functions originally derive from an association to something else, namely to values. (iii) Like money, too, politeness is historically constituted and reconsti‐ tuted; its functions and the values it is associated with are essentially changeable ones. (iv) During its history, the function of politeness turn into a power of the medium in the sense that it may, rather than being only a means to the end of the individual user, itself motivate and structure courses of action. (v) Correspondingly - and due to the other forces, too - the changes of the user to master the medium completely (which would mean being able to use it according to his/ her wishes) will be diminished. (Werkhofer 2005, 190) Höflichkeit wäre also ein Medium, das sich aus dem Sprachgebrauch entwickelt hat, um die soziale Balance in der Interaktion wahren zu können und soziale Werte zu repräsentieren. Dieses Medium hat insofern eine Eigendynamik entwickelt, als es Rückwirkungen auf die Einstellungen und Handlungen individueller NutzerInnen hat. Verkürzt lässt sich diese Paral‐ lele so auf den Punkt bringen: Jemand, der Geld verwendet, um eine Ware oder Dienstleistung zu kaufen oder zu verkaufen, wird durch das Medium dazu angehalten, vom subjektiven Wert zu abstrahieren, den etwa eine Bahnfahrkarte für ihn/ sie hat und diesem Objekt den Wert beizumessen, den die Gesellschaft (und das betreffende Unternehmen) nach einer bestimmten Dynamik festgelegt haben. Jemand, der höflich ist, abstrahiert von den eigenen Handlungszielen in einer gegebenen Situation und tut vielmehr das, was auf der Grundlage der gesellschaftlichen Dynamik (anerkannte und historisch ausgebildete Werte) gerade von ihm/ ihr verlangt wird. Werkhofer weist auch darauf hin, dass die Analogie zwischen Höflichkeit und Geld auch ihre Grenzen hat: Die von Höflichkeit repräsentierten Werte basieren nicht auf einer Angebot-Nachfrage-Dynamik, sondern auf der sozialen Ordnung und lassen sich als Rechte und Pflichten beschreiben. Ihre Verwendung und ihre Angemessenheit sind kontextsensibel und variieren vor allem in Abhängigkeit von der Beziehung zwischen SprecherIn und HörerIn. Das ist bei Geld nicht der Fall. 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 218 <?page no="219"?> Der Autor fasst sein Konzept so zusammen: According to this view, then, in order to be polite social acts and behaviours would have to be appropriate in the first place. This would imply that - by contrast to the modern view - the role of individually and strategically generating and modifying given behaviour patterns would have to be a secondary, derived one. It would follow that the room left for ‚investing‘ considerably more or less politeness than is required - as would be the case in flattery, mockery, sarcasm, irony etc. - is limited and that, as soon as the polite agent goes beyond these limits, demeanour may no longer be perceived as polite, but as something else. Note that this point of view stresses the relativity of politeness, and that therefore the notion of ‚scalability‘ would seem to be a misleading one. (Werkhofer 2005, 192) Es wäre sehr interessant, diese Idee genauer auszuführen und etwa zu fragen, wie sie sich mit gängigen Kommunikationstheorien verbinden lässt oder was genau es heißt, wenn Höflichkeit als Medium (ähnlich wie Sprache) analysiert wird. Leider ist Werkhofers Gedanke im engeren Sinne aber nicht weiter verfolgt worden. Anders verhält es sich mit vielen anderen Beiträgen des Sammelbandes von Watts et al. Viele der vertretenen AutorInnen haben ihre Ansätze weiter verfolgt und die deutschsprachigen Höflichkeitsdiskussionen nach‐ haltig geprägt. So hat Held in zahlreichen Publikationen einerseits die (Vor-)Geschichte der Höflichkeitsforschung und damit deren Grundan‐ nahmen eingehend untersucht (Held 1992) und andererseits die empirische Untermauerung der Theorien vorangetrieben, etwa in ihrer Studie zum Bitten und Danken bei französischen und italienischen Jugendlichen (Held 1995). House gehörte, zusammen mit Blum-Kulka, Olshtain und Kasper, zur internationalen Forschergruppe, die das Projekt CCSARP ins Leben gerufen und durchgeführt hat. Die Abkürzung steht für the Cross-Cultural Speech Act Realization Project. Wie der Name schon sagt, ging es hierbei um die Frage, wie in verschiedenen Sprachen und Kulturen Sprechakte vollzogen werden. Vor allem beschäftigte sich die Gruppe mit Bitten und Entschul‐ digungen. Naturgemäß fielen bei diesem empirisch orientierten Projekt auch zahlreiche Daten über Höflichkeit an, die in diversen Publikationen diskutiert wurden. Wir kommen im Kapitel über kontrastive Ansätze in der Höflichkeitsforschung darauf zurück. Einen weiteren Meilenstein in der deutschsprachigen Höflichkeitsdiskus‐ sion der 90er Jahre bildete das Themenheft „Höflichkeit“ der Zeitschrift OBST. Es enthielt neben dem bereits erwähnten Aufsatz von Haferland/ Paul 6.4 Die Konsolidierungsphase 219 <?page no="220"?> (1996), in dem ein differenzierter und avancierter theoretischer Ansatz vorgeschlagen wurde, zahlreiche historische sowie empirische Studien und Anwendungen etwa zu Höflichkeitskonzepten in Anstandsbüchern (Linke 1996b) oder zu Bitten am Beispiel von Berliner Bettlern (Ehlers 1996). 6.4.6 Schluss In diesem groben Überblick über die hier so bezeichnete Konsolidierungs‐ phase der Höflichkeitsforschung mussten zahlreiche Arbeiten ignoriert werden. Aber auch so zeichnet sich ab, dass die Diskussionen durch eine kritische Auseinandersetzung mit den Impulsen von B/ L und Leech - teilweise auch Lakoff - geprägt waren und dass sich dadurch diverse und sehr unterschiedliche Neuorientierungen ergaben, von denen sich aber kein Ansatz in dem Maß durchsetzen konnte, wie es bei B/ L der Fall war. Die Beiträge bereiteten insgesamt den Boden für eine entschiedenere Neuorientierung, die dann mit dem sog. „discursive turn“ realisiert wurde. 6.5 Die diskursive Wende 6.5.1 Überblick Nach der Jahrtausendwende erlebte die Höflichkeitsforschung eine rasante Entwicklung. Man kann wohl schon von einem Boom der Höflichkeitslin‐ guistik sprechen. Das gilt sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht. Zuerst einmal ist zu beobachten, dass Höflichkeit zu einem der zentralen Themen der pragmatisch und/ oder soziolinguistisch orientierten Linguistik geworden ist. Zahlreiche Tagungen oder Tagungssektionen beschäftigten sich intensiv mit Höflichkeitsthemen. In deutschsprachigen Ländern, aber auch weltweit, sind viele Sammelbände (zum Teil mit Dokumentationen der Tagungsergebnisse), Monografien und Aufsätze erschienen, die das Thema Höflichkeit aufgreifen und immer differenzierter und detaillierter behan‐ deln. Auch wissenschaftliche Zeitschriften mit entsprechenden Schwer‐ punkten enthalten immer häufiger Beiträge zu Anredepronomen, Entschul‐ digungen, Beziehungsmanagement oder zahlreichen anderen Themen, die direkt mit der Linguistik der Höflichkeit in Verbindung stehen. Es gibt seit 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 220 <?page no="221"?> 2005 auch ein Journal of Politeness Research, in dem ein relevanter Teil der Fachdiskussionen stattfindet und dokumentiert ist. Die „höfliche“ ForscherInnengemeinschaft ist alles andere als einig in Bezug auf die genaue Bestimmung ihres Gegenstandes, auf Forschungsme‐ thoden und auf theoretische Leitlinien. Die Impulse der hier so genannten Konsolidierungsphase sind jedoch weiterentwickelt und teilweise ergänzt worden, sodass sich einige Tendenzen herauskristallisieren, die als reprä‐ sentativ für diese neue Phase der Höflichkeitslinguistik gelten können. Fast alle gehen auf die Publikationen von Eelen (2001) und Watts (2003) zurück, die auch allgemein als Begründer dessen angesehen werden, was viele als „diskursive Wende“ der Höflichkeitstheorie ansehen. Ganz allgemein ist dabei eine Hinwendung zu einem emischen Verständnis der Höflichkeit gemeint, also eine Orientierung an der Sichtweise der beteiligten Spreche‐ rInnen und HörerInnen. Das beinhaltet auch die Akzeptanz der Variabilität von Höflichkeitsurteilen, die von Situation zu Situation, aber auch von einer sozialen Gruppe zur anderen unterschiedlich ausfallen können. Es hängt u. a. vom Werte- oder Normensystem ab, das sich in sozialen Gruppen oder communities of practice ausbilden kann und das solche Gruppen voneinander unterscheidet: „Die diskursiven Denkansätze […] berücksichtigen, dass es verschiedene gesellschaftliche Ideologien zu Höflichkeit und Unhöflichkeit gibt, wobei die beobachteten Praktiken von diesen allgemeineren Normen auch abweichen können“ (Locher 2017, 78 f.). Stichwortartig zusammenge‐ fasst ▸ legt der diskursive Ansatz mehr Wert auf first-order politeness als auf wissenschaftliche Modellierungen, ▸ betont er die Beziehungsfunktion, ▸ lehnen die einschlägigen AutorInnen eine mechanistische Reduzie‐ rung von Höflichkeit auf den Gebrauch bestimmter sprachlicher Formen sehr entschieden ab, ▸ betont der Ansatz die Relativität und Variabilität von Höflichkeit, ▸ legt er großen Wert auf empirische Analysen, ▸ betrachtet er Höflichkeit als in sozialen Gruppen ko-konstruiertes, emergentes Phänomen und ▸ ergänzt oder ersetzt er Goffman als soziologischen Bezugspunkt durch Bourdieu, insbesondere den durch den französischen Sozialtheore‐ tiker geprägten Begriff des ‚Habitus‘ (vgl. Bourdieu 1980/ 2015, 97 ff. und Bourdieu 1972/ 2009, 1979/ 2014). 6.5 Die diskursive Wende 221 <?page no="222"?> Darüber hinaus wird das komplexe Verhältnis von Höflichkeit und Unhöf‐ lichkeit zu einem zentralen Gegenstand der Reflexionen, es gibt sogar Bestrebungen, eine eigene Theorie der Unhöflichkeit zu entwickeln. Also: (Un)Höflichkeit ist ein in einzelnen sozialen Netzwerken emergentes Phä‐ nomen, dessen Natur kontext- und situationsabhängig ist und das eingesetzt wird, um soziale Beziehungen zu regeln. Wir versuchen, diese neuen Tendenzen anhand einiger zentraler Themen zu illustrieren. 6.5.2 Höflichkeit: Der Gegenstand der Reflexion Der diskursive Neuansatz der Höflichkeitstheorie basiert nicht zuletzt auf einer Neubestimmung des Untersuchungsgegenstandes. In der Folge von B/ L und anderen war Höflichkeit vor allem als wissenschaftlicher Begriff verstanden worden. Auf der Grundlage theoretischer Fragestellungen, etwa über das KP, Maximen und Implikaturen, hatte es sich als nötig oder sinnvoll herausgestellt, Höflichkeit als Begriff in die pragmatische Theoriebildung zu integrieren, um die Theorie erklärungskräftiger zu machen. Es ging hier vor allem um das, was Watts et al. Höflichkeit 2 oder second-order politeness genannt hatten (vgl. auch Kapitel 2). Die DiskurstheoretikerInnen der Höflichkeit setzen nun genau am an‐ deren Ende an: Sie orientieren sich an Höflichkeit 1 oder einem alltags‐ sprachlichen Höflichkeitsbegriff, also dem, was SprachbenutzerInnen ver‐ stehen, wenn sie über Höflichkeit nachdenken und sprechen. Dazu muss zunächst einmal zwischen der Handlungsebene und der Reflexionsebene unterschieden werden. SprecherInnen und HörerInnen vollziehen sprach‐ liche und außersprachliche Handlungen, die sich als höflich klassifizieren lassen - Eelen (2001, 32) spricht von „politeness-in-action“. Diese Hand‐ lungen sind erst einmal die Daten für jede Form von Überlegung zur Höflichkeit; sie haben nur insofern mit Begriffen oder gar Theorien zu tun, als sie den Input dafür liefern. In der alltäglichen Kommunikation beob‐ achten, kommentieren und reflektieren InteraktionsteilnehmerInnen diese Prozesse aber - und hier setzt die konzeptuelle Ebene ein: Sprachteilnehme‐ rInnen entwickeln einen vorwissenschaftlichen Begriff von Höflichkeit, von situationsangemessenem Verhalten, von Sinn und Zweck entsprechender Handlungen, von deren sozialer Funktion oder auch darüber, wie man das eigentlich bewerten sollte. Solche Überlegungen sind der Kern des alltags‐ sprachlichen Höflichkeitsbegriffes oder der Höflichkeit 1 bzw. first-order 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 222 <?page no="223"?> politeness. Sie haben keinen linguistischen, psychologischen, soziologischen oder anderweitig ausgeprägten wissenschaftlichen Unterbau und zielen auch nicht darauf ab, zu einer konsistenten Theorie ausgebaut zu werden. Höflichkeitsbegriffe in diesem Sinne können sehr individuell ausgeprägt sein, sie können aber auch in sozialen Gruppen bis hin zu Kulturen verbreitet sein und damit zu einem Gegenstand von wissenschaftlichen Überlegungen über Höflichkeit werden, die z. B. darauf abzielen, den Untersuchungsgegen‐ stand genauer zu bestimmen, kulturbzw. sprachspezifische Ausprägungen zu identifizieren oder einen diachronischen Blick auf die Phänomene zu entwickeln. Offensichtlich sind die vorwissenschaftliche Reflexion und die interak‐ tionale Praxis eng aufeinander bezogen und bedingen sich gegenseitig. Das manifestiert sich beispielsweise in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Eine Aufgabe der Erziehungsberechtigten liegt ja darin, ihren Schützlingen die Regeln für einen angemessenen Umgang mit anderen Menschen zu vermitteln. Dabei tradieren die ErzieherInnen natürlich die in ihrer sozialen Gruppe gültigen Höflichkeitsregeln und den hier verbreiteten Begriff von Höflichkeit. Wenn Kinder lernen, dass man in bestimmten Situationen Handlungen wie Bitten, Danken oder sich Entschuldigen voll‐ ziehen sollte oder dass mit Erwachsenen anders umgegangen werden muss als mit Kindern, dann werden ihnen Elemente aus der gesellschaftlichen Praxis vermittelt, die wiederum (hoffentlich) die zukünftigen Handlungen zumindest beeinflussen. Die Vermittlung aus der Praxis in die Praxis läuft über die Zwischenstufe der Selektion und Reflexion einzelner Praktiken durch die ErzieherInnen. Eelen (2001, 35 ff.) charakterisiert genauer, welche Eigenschaften vorwis‐ senschaftliche Höflichkeitsbegriffe haben: a) Reflexivität, b) Evaluativität, c) Argumentativität, d) Normativität. Zunächst gehört das Nachdenken über Höflichkeit zum metasprachlichen Verhalten. Wer darüber spricht, dass er/ sie selbst oder andere höflich sind oder nicht, der reflektiert das Verhalten der betreffenden Personen oder Gruppen. Er oder sie betrachtet dieses Verhalten als nicht natürlich gegeben oder instinktgeleitet, sondern vielmehr als eine Lösung des jeweiligen Kommunikationsproblems, die von der jeweils handelnden Person alternativen Lösungen vorgezogen wurde (vgl. auch Ehlich 2005, 77). Dann stellt diese Reflexion auch immer eine Bewertung (b) dar. Wenn ein/ e SprecherIn eine Verhaltensmanifestation als höflich bezeichnet, be‐ inhaltet das meistens eine positive Wertung, es kann aber auch negativ 6.5 Die diskursive Wende 223 <?page no="224"?> gemeint sein, etwa wenn auf Verhalten verwiesen wird, das als heuchlerisch empfunden wird. (c) bezieht sich auf die Tatsache, dass es durchaus nicht selbstverständlich ist, viele, sehr unterschiedliche Verhaltensweisen unter das Label ‚höflich‘ zu fassen. Wenn das geschieht, dann ist es immer mit sozialen Werten und Zielen verbunden. Wenn eine (Sprech-)Handlung als höflich qualifiziert wird, dann basiert diese Einschätzung auf Werten, z. B. der Idee, dass ältere Menschen besonderen Respekt verdienen, dass soziale Hierarchien berück‐ sichtigt werden müssen oder auch auf Vorstellungen über das Geschlechter‐ verhältnis. Gleichzeitig werden diese Werte als richtig, korrekt und sinnvoll dargestellt und damit tradiert. Die SprecherInnen, die diese Bewertung vornehmen, versuchen auch, andere Menschen von ihren diesbezüglichen Ideen zu überzeugen. Das hat dann durchaus auch ideologische Elemente; Verhaltensstandards bestimmter sozialer Gruppen werden als Vorbild für die gesamte Gesellschaft propagiert. Wir hatten bereits angesprochen, dass das schon in der Etymologie von Wörtern wie höflich angelegt ist, die ja zuerst einmal auf die Umgangsformen in sehr beschränkten sozialen Kontexten verweisen und deren Verwendung für das Verhalten außerhalb dieser Kontexte einen Beitrag dazu leistet, dass auch bürgerliche Schichten sich an den höfischen Gegebenheiten orientieren müssen. (d) wurde ebenfalls schon mehrmals angesprochen: Höflichkeit bezieht sich auf einen Verhaltensstandard, der als Norm gesetzt wird, die wiederum mehr oder weniger kodifiziert ist (z. B. als Etikette). An dieser Norm wird das Verhalten im Einzelfall gemessen und - wenn es damit vereinbar ist - als höflich charakterisiert. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sich die neuere Höflich‐ keitstheorie weniger mit der Frage beschäftigt, was Höflichkeit genau ist und wie sie in wissenschaftliche Theorien integriert werden kann und sich stattdessen darauf konzentriert zu untersuchen, was SprecherInnen in Alltagssituationen mit dem Höflichkeitsbegriff anfangen, wie sie ihn verstehen und einsetzen: Instead of cataloguing the behaviours evaluated as (im)polite, the focus would be more on the discursive role and functionality of the evaluations themselves. Pos‐ sible analytical questions are, for example: ‚What is the argumentative/ discursive structure of the situation, and how does the evaluation contribute to it? ‘, ‚What is the interactional effect of the evaluation? ‘, ‚If the argumentative/ discursive 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 224 <?page no="225"?> structure were changed, would the same evaluation still be made? ‘, and so on. (Eelen 2001, 255) Zur genaueren Gegenstandsbestimmung gehört auch die Frage nach dem genus proximum. Heringer (2017b, 89 f.) weist darauf hin, dass in Wörter‐ büchern und in alltagssprachlichen Kontexten Höflichkeit häufig als eine Tugend betrachtet wird; er betont auch, dass eine solche Einordnung termi‐ nologisch, empirisch und begrifflich unzureichend ist. Sie bringt die sprach‐ wissenschaftliche Diskussion nicht weiter. Aber auch in der linguistischen Literatur gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie Höflichkeit klassifiziert werden sollte. Eine Möglichkeit besteht darin, Höflichkeit unter die Kategorie ‚Konven‐ tion‘ zu fassen. Damit wird an eine lange Tradition in der Soziologie, der Linguistik und der Sprachphilosophie angeknüpft, die sich mit Regu‐ laritäten menschlichen Zusammenlebens beschäftigt. Konventionen sind Handlungsweisen, die in bestimmten Kontexten regelmäßig auftreten und die erwartbar sind. Eine Voraussetzung dafür, dass man eine Handlungs‐ weise als Konvention einstufen kann, ist die Tatsache, dass sie auch anders ausgeführt werden könnte, dass sie also arbiträr ist. Es ist keine Konvention, dass wir normalerweise irgendwann am Tag etwas essen - wir würden nicht lange überleben, wenn wir es nicht tun würden und haben deswegen keine Wahl. Es ist aber sehr wohl eine Konvention, wie wir das tun: Hier haben wir die Wahl beispielsweise zwischen Gabel, Stäbchen oder den Händen. Ebenso verhält es sich mit Begrüßungen. Wir haben hier viele Möglichkeiten: die Hände schütteln, die Nasen aneinander reiben, in die Hände klatschen, Wangenküsse austauschen, die Ellenbogen aneinander stoßen und viele andere mehr. Was wir tatsächlich tun, hängt davon ab, was in unserer sozialen Gruppe (das kann eine Kultur oder eine sehr viel kleinere community of practice sein) auch von den anderen praktiziert und als normal angesehen wird. Andere Beispiele für Konventionen wären: Wir klatschen, wenn ein Konzert beendet ist; Männer tragen bei offiziellen Terminen eine Krawatte, Frauen ein Kleid; wir stehen auf Rolltreppen rechts und gehen auf der linken Seite usw. Lewis (1975) hat den modernen Begriff von Konvention entscheidend geprägt. Er beschreibt diese als Lösung von Koordinationsproblemen; sie entstehen durch die Konventionalisierung bestimmter Handlungsweisen. Der wichtigste Grund für Handelnde, eben die konventionalisierte Hand‐ lung zu wählen und keine der alternativen Möglichkeiten, ist die Erwartung, 6.5 Die diskursive Wende 225 <?page no="226"?> dass die anderen es genauso machen oder machen würden, dass sie genau das erwarten und dass damit Probleme oder Konflikte vermieden werden können. Alles, was man mit Höflichkeit in Verbindung bringt, kann geradezu als Paradebeispiel für konventionalisiertes Verhalten aufgefasst werden: Es handelt sich um Verhaltensweisen, die nicht naturgegeben oder instinktge‐ leitet sind und die bevorzugte und rationale Techniken für den Umgang mit rekurrenten Kommunikations- und Koordinationsproblemen darstellen, etwa: Wie beginnt man eine Interaktion? Wie verhält man sich im Falle von potentiellen Störungen des interaktionellen Gleichgewichts? Moderne HöflichkeitstheoretikerInnen (vgl. z. B. Kádár/ Haugh 2013, 140 ff.) weisen darauf hin, dass der Begriff der Konvention auch aus anderen Gründen geeignet ist, diverse Eigenschaften höflichen Verhaltens zu erfassen und zu erklären: ▸ Höflichkeitsregeln können einen unterschiedlichen Geltungsbereich haben: einige sind in einer Gesamtgesellschaft gültig, andere nur in kleinen Gemeinschaften. ▸ Höflichkeitsregeln und Konventionen im Allgemeinen weisen einen schwer fassbaren Grenzbereich zu Normen auf; sie können kodifiziert und dann auch als Normen aufgefasst werden. Im Bereich der Höf‐ lichkeit spricht man hier von Etikette. Konventionelle Regeln sind auch ein Beispiel für die normative Kraft des Faktischen: Was man einfach so oder so macht, kann leicht als Notwendigkeit aufgefasst werden und/ oder sich zu einer verbindlichen Vorschrift entwickeln. ▸ Höflichkeitsregeln können auch innerhalb der Gemeinschaft, in der sie gültig sind, unterschiedlich bewertet werden. ▸ Höflichkeitsregeln können für die Handelnden mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger transparent sein. ▸ Höflichkeitsregeln haben auch eine unterschiedliche Geltungsdauer und können sich mehr oder weniger schnell ändern. Alles, was wir unter Höflichkeit fassen, weist also relevante Parallelen zu anderen Verhaltensweisen auf, die man als Konventionen einstuft. Diskus‐ sionswürdig bleibt die Frage, ob es auch unkonventionelle Höflichkeit geben kann, ob also jemand als höflich angesehen wird, der nicht das macht, was z. B. in Begrüßungssituationen von ihm erwartet wird, der aber mit „guten“ Intentionen etwas anderes tut. Ist er dann trotzdem höflich oder ist das eher Freundlichkeit? 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 226 <?page no="227"?> Einige Handlungen werden nicht einfach konventionell vollzogen, son‐ dern regelrecht aufgeführt - als ob die Handelnden einem Drehbuch folgen würden, das den Beteiligten bestimmte Rollen und Einstellungen vorschreibt. Solche Handlungen bekommen einen symbolischen Charakter; man nennt sie „Rituale“ oder: „[…] eine formalisierte und wiederholbare Sequenz von Handlungen oder Verhaltensweisen symbolischen Charakters“ (Meyer 2014, 340). Auch dieser Begriff hat eine lange Geschichte, vor allem in der Anthropologie. Er wurde verwendet, um verschiedene Praktiken zusam‐ menzufassen, in denen soziale Werte zum Ausdruck gebracht und bestätigt werden. Man kann hier an verschiedene Formen von Initiationsritualen denken (Hochzeit, Taufe, Einschulung etc.) oder auch religiöse Rituale. Sie haben gemeinsam, dass es um gesellschaftlich wichtige Momente geht und dass die Beteiligten nicht einfach für sich selbst sprechen, sondern sich (auch) als Stimme der Gemeinschaft empfinden und als solche wahrge‐ nommen werden. Insofern spielen sie eine Rolle, die über ihre individuellen Ambitionen hinausweisen. Die einzelnen Handlungen bekommen einen mimetischen Charakter, die Handelnden tun so, als ob; sie übernehmen für einen begrenzten Zeitraum die Rolle des Priesters oder der Priesterin, der/ die ein Kind tauft, des Dekans oder der Dekanin, der/ die eine Promoti‐ onsurkunde überreicht usw. Rituale sind also ritualisierte Konventionen: „once a convention is adopted by a social network, and when it takes on mimetic functions, it becomes ritual“ (Kádár/ Haugh 2013, 149). Vor allem Goffman hat den Ritualbegriff für die Analyse von Alltagshand‐ lungen produktiv gemacht. Eins seiner Bücher heißt ja auch Interaktionsri‐ tuale. Er hat dabei besonders den Bereich der Höflichkeit im Blick: Solche zeremoniellen Handlungen findet man vielleicht am deutlichsten in den Begrüßungen, Komplimenten und Entschuldigungen, die sozialen Umgang be‐ gleiten; man kann sie als ‚Statusrituale‘ oder ‚interpersonale Rituale‘ bezeichnen. Ich benutze den Begriff Ritual, weil diese Handlungen, selbst wenn sie informell und profan sind, dem Individuum ermöglichen, auf die symbolischen Implika‐ tionen seines Handeln zu achten und diese zu planen, wenn er unmittelbar einem Objekt gegenübersteht, das von besonderem Wert für ihn ist. (Goffman 1986, 64 f.) Höflichkeit gehört sicher zu den am meisten ritualisierten alltäglichen Handlungssequenzen. Wenn sie als Ritual charakterisiert wird, dann betont man erst einmal die große Bedeutung, die ihr in der Interaktion zukommt. Rituale betreffen schließlich immer mit hohem Wert aufgeladene Themen. Höflichkeit symbolisiert Einstellungen und verweist auf Werte, vor allem 6.5 Die diskursive Wende 227 <?page no="228"?> wohl auf bestimmte Vorstellungen, die die Organisation des menschlichen Zusammenlebens betreffen. Daraus ergibt sich ein weiterer wichtiger Punkt, der die Höflichkeitsforschung vorangebracht hat: Man kann ein Ritual nicht (nur) als Handlung beschreiben, die auf einem individuellen Kalkül aufbaut. Wer Rituale vollzieht, tut dies nicht nur als einzelne Person, sondern auch als Repräsentant einer Gemeinschaft. Er bringt zum Ausdruck, was dieser Ge‐ meinschaft wichtig ist und bestätigt durch jeden Vollzug, dass er diese Werte weiterhin teilt. Durch diese Zuschreibung wird weiter unterstrichen, dass Höflichkeit ein zentrales Element der Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft ist. In eine ähnliche Richtung, wenn auch mit etwas anderem Hintergrund und anderer Akzentuierung, zielen ForscherInnen, die Höflichkeit im Rahmen von Frame-Theorien analysieren. Frames (oder ‚Rahmen‘ in einigen deutschen Übersetzungen) sind den Mitgliedern einer Kultur bekannte Einheiten stereotypisierten Wissens über Situationen und Kontexte, die als fertig aufbereitete Vorlagen für die Modellierung der Wahrnehmung und des Verhaltens dienen können. Frames werden vor allem in kognitiv orientierten Ansätzen der Linguistik breit diskutiert; teilweise werden auch alternative Termini wie Skript, Schema, Szene, Szenario verwendet. Auch in diesem Fall gehört Goffman zu den Inspirationsquellen. In seinem Buch Rahmen-Analyse beginnt er mit einer ganz einfachen Annahme: „Ich gehe davon aus, daß Menschen, die sich gerade in einer Situation befinden, vor der Frage stehen: Was geht hier eigentlich vor? “ (Goffman 1977, 16). Wenn wir mit einem anderen Menschen in einem Restaurant essen, dann wissen wir normalerweise, in was für einer Begegnung wir uns da gerade befinden, etwa ein Geschäftsessen, ein zwangloses Essen mit Freunden oder ein Date. Wenn wir das nicht wissen, dann müssen wir es herausfinden, weil davon abhängt, welche Pflichten und Rechte wir in der Begegnung haben und wie wir unser Verhalten orientieren sollten. Solche Orientierungshilfen nennt Goffman „Rahmen“: Ich gehe davon aus, daß wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereig‐ nisse - zumindest für soziale - und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente, […] nenne ich ‚Rahmen‘. (Goffman 1977, 19) Rahmen werden durch die Interaktion mit dem sozialen Umfeld gelernt und im Gedächtnis abgespeichert, sodass ein Individuum jederzeit auf sie zurückgreifen kann. Sie werden automatisch aufgerufen, wenn eine 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 228 <?page no="229"?> entsprechende Situation auftritt (vgl. Leech 2014, 38). Sie führen dazu, dass Menschen ein kontextangemessenes standardisiertes Verhaltensprogramm abspulen können. AutorInnen wie Aijmer (1996) und in den letzten Jahren vor allem Terkourafi (1999, 2005, 2008) haben den Begriff für die Analyse von Höflichkeit adoptiert. Sie sehen Höflichkeit als das dem jeweiligen Rahmen angemessene Verhalten. Die Anbindung von Höflichkeit an den Interakti‐ onskontext wird dadurch sehr stark gemacht. Auch hier ist Höflichkeit nicht in erster Linie eine Funktion der individuellen Intentionen, sondern eine Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft. Solche Ansätze sind sehr gut geeignet, um formalisierte, ritualisierte, grammatikalisierte und pragmatisierte Formen von Höflichkeit zu ver‐ stehen. Wenn man aber davon ausgeht, dass Höflichkeit auch als kreative Variation von Mustern oder ganz allgemein als nicht musterhafter Gebrauch von Sprache auftreten kann, dann kommen sie an ihre Grenzen. Leech etwa kritisiert: „[…] we should not forget that in some respects being polite means using reasoning and imagination, not just memory […]“ (Leech 2014, 39). Manchmal muss (und kann) man eben auch in Situationen höflich sein, für die kein fertig zubereitetes Verhaltensmuster vorliegt. 6.5.3 Höflich - unhöflich und x? Eine weitere Innovation in der Debatte um Höflichkeit resultierte aus der Beschäftigung mit der Frage nach dem Gegenteil von Höflichkeit und nach der Berücksichtigung dessen in der Theorie. Viele neuere Publikationen sprechen in der Tat nicht mehr von Höflichkeit, sondern führen Ausdrücke wie (Im)Politeness im Titel - ein Beispiel dafür ist das Palgrave Handbook of Linguistic (Im)politeness (Culpeper et al. 2017). Die AutorInnen, die solche Titel verwenden, bringen damit die Überzeugung zum Ausdruck, dass Höflichkeit nur dann angemessen verstanden werden kann, wenn man das Phänomen in Relation zu seinem Gegenteil setzt. Im Hinblick auf das Gegenteil von Höflichkeit stellt sich zunächst einmal die Frage, was das genau ist: Unhöflichkeit oder einfach die Abwesenheit von Höflichkeit, also Nicht-Höflichkeit? Oder gar Aggression, Frechheit, Grobheit o.ä.? Und die Antwort auf diese Frage hat dann auch wieder Rückwirkungen auf den Höflichkeitsbegriff: Auch hier muss geklärt werden, ob Höflichkeit schlicht in der Abwesenheit von Unhöflichkeit liegt oder ob man sie auch positiv definieren kann. 6.5 Die diskursive Wende 229 <?page no="230"?> In der Einleitung zu dem Handbuch (Culpeper et al. 2017, 2 ff.) verweisen die Autoren auf Daten zur Anzahl von wissenschaftlichen Artikeln über Höflichkeit, die sie der Datenbank Scopus entnehmen. Die Daten zur Häu‐ figkeit des Terminus politeness in Aufsatztiteln bestätigen zunächst einmal das, was oben schon gesagt wurde: Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ist ein stetiger Anstieg zu verzeichnen, der ab dem Ende der 90er Jahre sehr steil ausfällt. Impoliteness ist weniger präsent und wurde ganz offensichtlich zeitver‐ setzt wichtiger. Ein signifikanter Anstieg zeigt sich hier seit ca. 2004/ 2005. Das hängt sicher mit der Ausbreitung sozialer Netzwerke und der damit verbundenen Verschiebung der Interaktionsnormen zusammen. Viele Beob‐ achterInnen bemerkten, dass beleidigende, aggressive oder auf andere Art unhöfliche bzw. nicht-höfliche Äußerungen häufiger produziert und wohl auch eher toleriert werden als noch wenige Jahre vorher. Die Linguistik und andere Wissenschaften haben diese Phänomene sofort aufgegriffen und unter Stichworten wie Hatespeech, Flaming, Banter oder verbale Aggression thematisiert (vgl. z. B. Bonacchi 2017) und haben dabei häufig auch auf Höflichkeit oder eben Unhöflichkeit Bezug genommen. In diesem Zusam‐ menhang stellt sich die Frage, ob in manchen Situationen Unhöflichkeit erlaubt ist oder sogar erwartet wird. Ausgehend von der Beobachtung, dass in der Alltagssprache, neben den soeben angesprochenen, viele weitere Wörter existieren, die auf Unhöflich‐ keit verweisen - einige Beispiele: sexistisch, beleidigend, grob, flegelhaft, frech, respektlos -, dass es also eine eigene Metasprache für Unhöflichkeit zu geben scheint, hat sich eine Theorie der Unhöflichkeit entwickelt, die für sich in Anspruch nimmt, ein Phänomen zu untersuchen, dem der gleiche theoretische Stellenwert zukommt wie der Höflichkeit. Es geht dabei um Formen sprachlichen Verhaltens, die auf die Verletzung des Kommunikati‐ onspartners abzielen. Die am häufigsten zitierte Definition hat Culpeper formuliert: Impoliteness is a negative attitude towards specific behaviours occurring in specific contexts. It is sustained by expectations, desires and/ or beliefs about social organisation, including, in particular, how one person’s or a group’s identities are mediated by others in interaction. Situated behaviours are viewed negatively - considered ‚impolite‘ - when they conflict with how one expects them to be, how one wants them to be and/ or how one thinks they ought to be. Such behaviours always have or are presumed to have emotional consequences for at least one 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 230 <?page no="231"?> participant, that is, they cause or are presumed to cause offence. Various factors can exacerbate how offensive an impolite behaviour is taken to be, including for example whether one understands a behaviour to be strongly intentional or not. (Culpeper 2011, 23, vgl. auch Culpeper/ Hardaker 2017, 204) Die Definition von Unhöflichkeit geht auf verschiedene Fragen ein, die auch für die Definition von Höflichkeit als Leitfragen gelten können: Welches kommunikative Ziel hat die Handlung? Wird die Handlung als intentional eingeschätzt? In welchem Kontext/ welcher Situation wird die Handlung vollzogen? Welche Effekte hat die Handlung? Die Scopus-Statistik bildet auch die Tatsache ab, dass sich seit ca. 2010 der Terminus (im)politeness immer weiter durchsetzt. Viele AutorInnen gehen seitdem davon aus, dass das eine ohne das andere nicht zu analysieren und zu erklären ist. Ein vollständiges Bild der kommunikativen Realität muss das gesamte Spektrum der Termini abdecken, die wir verwenden, um die interaktionalen Aktivitäten von Menschen zu qualifizieren; von aggressiv über grob bis höflich oder delikat. ‚(Un)Höflichkeit‘ wird hier zum übergeordneten Begriff oder […] an umbrella term that covers all kinds of evaluative meanings (e.g., warm, friendly, considerate, respectful, deferential, insolent, aggressive, rude). These meanings can have positive, negative or neutral connotations, and the judgements can impact upon people’s perception of their social relations and the rapport or (dis)harmony that exists between them. (Spencer-Oatey 2005, 97) Solche Ansätze, im Wesentlichen sind es die „postmodernen“ Ansätze, gehen also davon aus, dass man Höflichkeit nicht definieren kann, wenn man nicht auch genau beschreibt, was nicht-höflich oder unhöflich ist und vor allem vertreten sie die Auffassung, dass der Höflichkeit in diesem Spektrum keine herausgehobene Position zusteht. Man kann demnach etwa Grobheit nicht einfach als Abwesenheit von Höflichkeit definieren. Höflichkeit ist nur eine von vielen verschiedenen Möglichkeiten, das Verhalten anderer zu evaluieren. Das ist sicher nachvollziehbar, wenn man den alltagssprach‐ lichen Höflichkeitsbegriff im Auge hat, die Linguistik der Höflichkeit also vor allem an der Höflichkeit 1 ausrichten will. Aus dieser Perspektive lässt sich feststellen, dass SprachteilnehmerInnen über ein gut entwickeltes Instrumentarium von Begriffen und Termini verfügen, um das Verhalten von Menschen zu beschreiben und zu bewerten. Im Hinblick auf das Verhalten in Beziehungen sind das etwa Adjektive 6.5 Die diskursive Wende 231 <?page no="232"?> wie grob, flegelhaft, unhöflich, beleidigend, freundlich, höflich, aggressiv oder schmeichlerisch. Sie bilden ein Kontinuum mit graduellen Übergängen. Es wird kein großer kategorialer Unterschied zwischen höflich und den anderen Adjektiven vorgenommen. Dem widersprechen AutorInnen, die Höflichkeit als handlungs- und verständnisleitendes Prinzip ansehen, das als Maxime formuliert werden kann und das einen grundlegenden Bestandteil fast jeder Art von Kommu‐ nikation darstellt. Sie betonen erst einmal, dass es in der Theorie darauf ankommt, auch Unterschiede herauszuarbeiten, die SprecherInnen im Alltag nicht unbedingt bewusst werden, dass beispielsweise freundlich eher die Charakterisierung eines Wesenszuges ist, höflich dagegen die Bewertung des Verhaltens in einem bestimmten Moment und in einer bestimmten Situation. Vor allem aber ist Höflichkeit konventionsbasiert; es gibt keine vergleichbaren Konventionen für Freundlichkeit oder Aggressivität. Aus dieser pragmatischen Perspektive kommt der Höflichkeit deswegen in der Reihe von Begriffen und Termini eine Ausnahmestellung zu. Wir können kommunizieren, ohne freundlich oder unfreundlich bzw. aggressiv oder nicht aggressiv zu sein. Wir können aber nicht oder kaum kommu‐ nizieren, ohne den GesprächspartnerInnen einen mehr oder weniger im‐ pliziten Vorschlag zur Beziehungsgestaltung zu unterbreiten und damit höflich zu sein, wenn die PartnerInnen den Vorschlag akzeptieren oder eben unhöflich, wenn der Vorschlag nicht auf Akzeptanz stößt. Höflichkeit ist also relevanter für die Beschreibung und Analyse von Kommunikation im Allgemeinen. Wir erwarten in der Interaktion normalerweise, dass unsere PartnerInnen eine kommunikative Distanz einnehmen, die ihnen angemessen erscheint und nicht, dass sie uns beleidigen wollen. Wenn wir eine Äußerung als beleidigend empfinden, dann empfinden wir die eingenommene Distanz als unangemessen - gemessen an den Erwartungen, die sich als Höflichkeit darstellen lassen. Beleidigung, Grobheit usw. sind also von Höflichkeit ableitbar und Höflichkeit lässt sich als unmarkierter Fall oder Default darstellen und definieren. Der vorrangige Gegenstand von theoretischen Überlegungen auf diesem Gebiet sollte damit Höflichkeit sein und nicht Unhöflichkeit oder Grobheit. Diese lassen sich auf der Grundlage der Theorie der Höflichkeit erklären und nicht umgekehrt. Ähnlich argumentiert Leech (2014, 219), der darauf hinweist, dass das in allen Wissenschaften zentrale Prinzip von Ockham’s Rasiermesser vorsieht, dass man in einer Theorie so wenig Variablen, Begriffe und Entitäten einführen sollte, wie möglich. Angewendet auf die Höflichkeit: Man sollte 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 232 <?page no="233"?> erst einmal versuchen, zu sehen, wie weit man mit der Erklärung der kommunikativen Realität kommt, wenn man nur den Begriff ‚Höflichkeit‘ verwendet. Erst wenn man feststellt, dass es relevante Phänomene gibt, die damit nicht erfassbar sind, sollte man zusätzliche Begriffe, etwa ‚Un‐ höflichkeit‘ heranziehen. Wenn man Unhöflichkeit als Abwesenheit von Höflichkeit erklären kann, braucht man keine Theorie der Unhöflichkeit. Eine etwas andere Konzeption des Verhältnisses von Höflichkeit und Unhöflichkeit vertritt Watts. Er beschreibt Höflichkeit gerade nicht als Default oder erwartbaren „Normalfall“ des kommunikativen Verhaltens, sondern als auffälliges Phänomen. Für Äußerungen, die von beteiligten Gesprächspartnern oder Beobachtern als neutrale, normale Realisierung empfunden werden, reserviert er den bereits angesprochenen Begriff ‚politic behaviour‘. Watts schlägt vor, „[…] that linguistic behaviour which is per‐ ceived to be appropriate to the social constraints of the ongoing interaction, i.e. as non-salient, should be called politic behaviour“ (Watts 2003, 19). Es geht also um Verhalten in bestimmten situativen Kontexten und darum, dass InteraktionsteilnehmerInnen eine Vorstellung davon haben, was in der jeweiligen Situation angemessen ist. Wenn sie gemäß dieser Vorstellung handeln, dann fällt das, was sie tun, niemandem auf und ist deswegen politic. Das ist natürlich auch ein Produkt von Aushandlungsprozessen, deswegen wird die Definition noch präzisiert: „[…] politic behaviour is that behaviour, linguistic and non-linguistic, which the participants construct as being appropriate to the ongoing social interaction“ (Watts 2003, 257). Höflichkeit (und Unhöflichkeit) wären dann in irgendeiner Form sali‐ entes, auffälliges Verhalten, das von den Normalitätserwartungen abweicht, es wäre unangemessen. Hier wird die Definition von Höflichkeit sehr vage. In den Worten des Autors: Linguistic behaviour which is perceived to be beyond what is expectable, i.e. salient behaviour, should be called polite or impolite depending on whether the behaviour itself tends towards the negative or positive end of the spectrum of politeness. (Watts 2003, 19) Watts sagt also in erster Line, was Höflichkeit nicht ist, nämlich nicht ganz angemessen und nicht erwartbar. Das ist eher eine negative Definition, auf deren Grundlage man kaum eine Theorie der Höflichkeit konstruieren kann. Es wird nämlich nicht klar, welches unangemessene Verhalten genau als höflich beschrieben und analysiert werden kann, welche Eigenschaften und Funktionen Höflichkeit haben kann und wie Höflichkeit von Freund‐ 6.5 Die diskursive Wende 233 <?page no="234"?> lichkeit usw. unterschieden werden kann. In der Tat ist Watts auch einer der entschiedensten Vertreter der Auffassung, dass sich die Linguistik der Höflichkeit auf Höflichkeit 1 konzentrieren soll und dass jeder Versuch, eine Theorie der sprachlichen Höflichkeit zu konstruieren, zum Scheitern verurteilt ist. Wir bleiben aber bei der Auffassung, dass man Höflichkeit positiv definieren kann als sprachliches oder nicht sprachliches Verhalten, das eine Konzeption der Beziehung zu den Gesprächspartnern zum Ausdruck bringt, die von diesen geteilt und ratifiziert wird. Es handelt sich also um wechselseitig erwartetes und erwartbares Verhalten und um eine Art Default, der auf der individuellen und situationsbedingten Einschätzung der kommunikativen Gegebenheiten, aber auch auf gesellschaftlich aner‐ kannten Konventionen und Routinen beruht. Unhöflichkeit ist ein von diesen Erwartungen abweichendes Verhalten. Äußerungen werden als Be‐ leidigung, Aggression, Unhöflichkeit etc. empfunden, wenn sie Signale auf der Beziehungsebene enthalten, die der Rezipient nicht akzeptieren kann. Mit anderen Worten: „Sei höflich! “ ist eine Maxime, von der man mit einiger Plausibilität behaupten kann, dass sie in sehr vielen Interaktionen handlungsleitend ist, „Beleidige den anderen! “ eher nicht. 6.5.4 Face und Beziehung In Kapitel 5 haben wir den Zusammenhang zwischen Höflichkeit und Beziehungsgestaltung schon recht ausführlich behandelt und dabei den Unterschied zwischen der Beziehungsfunktion und der Imagefunktion als kommunikative Ziele betont. Unser Vorschlag war es, Höflichkeit als zentrale Eigenschaft der Beziehungskommunikation zu beschreiben und nicht als kommunikative Aktivität, die Bedrohungen des Images abwenden oder abmildern soll. Wir haben also kommunikative Imagearbeit oder Reputationsmanagement als Erklärungsrahmen für die Höflichkeitstheorie etwas abgewertet und dafür Beziehungsmanagement in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt, indem wir gezeigt haben, dass Höflichkeit eine kom‐ munikative Aktivität ist, die im Rahmen der Aushandlung der Beziehung zwischen den beteiligten PartnerInnen eingeordnet werden sollte. Die Frage nach der angemessenen Berücksichtigung von face und der Relevanz von Beziehung ist auch zu einem der Schwerpunkte der linguis‐ tischen Höflichkeitsdiskussionen nach der diskursiven Wende geworden. Insgesamt hat sich dabei auch in diesen Ansätzen die Diskussion immer 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 234 <?page no="235"?> mehr auf Beziehung konzentriert, sodass Kádár/ Haugh (2013, 50) sogar von einem „relational shift in politeness research“ sprechen können. Den Ausgangspunkt bildet auch hier eine kritische Auseinandersetzung mit der Höflichkeitstheorie von B/ L, in der Höflichkeit ja im Rahmen des facework definiert war, also als Versuch, gesichtsbedrohende Handlungen abzuschwächen. „Dahinter verbergen sich jedoch zahlreiche Trugschlüsse“ bemerkt Held (2017, 62) dazu. In der Tat war die Orientierung am face-Kon‐ zept eine der wichtigsten Zielscheiben der Kritik an B/ L. Die Kritik richtete sich zum Teil auf die unvollständige und/ oder verzerrende Übernahme des Begriffes von Goffman. Einige AutorInnen (etwa Arundale 2006) stellen den Begriff auch im Sinne von Goffman infrage. Kritisiert wird aber auch die Anwendung auf Höflichkeit. Für die Höflichkeitstheorie stellt sich hier die Frage, wie Beziehungsmanagement von facework zu unterscheiden ist, wie das Verhältnis der beiden zueinander modelliert werden kann und in welchen Bereich Höflichkeit als Gegenstand der Überlegungen fällt. Daraus haben sich zahlreiche Vorschläge entwickelt, die Höflichkeit eher im Rahmen von Beziehungsaktivitäten analysieren. Besonders ein‐ flussreich waren die Überlegungen von Spencer-Oatey. Die Autorin will den Begriff ‚politeness‘ wegen seiner notorischen Schwammigkeit weitge‐ hend vermeiden, obwohl er im Untertitel ihres Buches verwendet wird. In der Einleitung (Spencer-Oatey 2008a, 3) führt sie aus, dass sie „the maintenance and/ or promotion of harmonious interpersonal relations“ als Kernbereich aller linguistischen Überlegungen zur Höflichkeit ansieht. Für Fälle, in denen Sprache verwendet wird, um diese harmonischen sozialen Beziehungen zu fördern, zu bestätigen oder in Gefahr zu bringen, schlägt sie den Begriff rapport management (ebd.) vor. Dieser Terminus, in dem explizit auf den Beziehungsaspekt der Kommunikation verwiesen wird, tritt also an die Stelle von Höflichkeit. Letztere wird damit zu einem Instrument der Beziehungsgestaltung. Die Autorin betont ausdrücklich, dass impression management und self-presentation (also das, was man auch als facework fassen könnte) etwas anderes sind als Höflichkeit und mit dem Phänomen Höflichkeit erst einmal wenig zu tun haben. Das Verhältnis von rapport management und face wird dann aber als hierarchisches konzipiert: face ist ein Aspekt des umfassenderen Begriffs rapport management: I propose […] that rapport management […] entails three main interconnected components: the management of face, the management of sociality rights and obligations, and the management of interactional goals. (Spencer-Oatey 2008b, 13) 6.5 Die diskursive Wende 235 <?page no="236"?> Wenn man - wie es die zitierten Bemerkungen suggerieren - rapport management als Ersatzbegriff für ‚Höflichkeit‘ ansieht, dann ist Höflichkeit (und Beziehungsmanagement) der übergeordnete und face der untergeord‐ nete Begriff. Ganz anders stellt sich das bei Locher/ Watts (2005) dar. Auch sie setzen am Begriff facework an und stellen fest, dass in der Folge der Diskussionen um B/ L eine Verengung dieses Konzepts eingesetzt hat. Facework wird mit Höf‐ lichkeit gleichgesetzt und damit nur für Fälle angewendet, in denen es darum geht, ein harmonisches Miteinander in der Interaktion zu garantieren und Gesichtsbedrohungen nicht zu größeren Problemen für das kommunikative Gleichgewicht werden zu lassen. Locher/ Watts weisen darauf hin, dass der Goffman’sche face-Begriff auch da angewendet werden kann und muss, wo es um ganz andere kommunikative Ziele geht: Es ist auch eine Art facework, wenn wir andere beleidigen oder einfach ignorieren. Sie schlagen deswegen vor, für die linguistische Diskussion auf den allgemeineren face-Begriff, wie ihn Goffman entworfen hat, zurückzukommen. Um mehr terminologische Klarheit zu erreichen verwenden sie dafür relational work (Locher/ Watts 2005, 11): Relational work thus comprises a more comprehensive notion of face than is offered in Brown and Levinson. But it will also lead to a more restricted view of politeness than is common in the literature. In order to show this, we will briefly review some of the more commonly used conceptualizations of politeness and then go on to outline what we understand to be the discursive approach. (Locher/ Watts 2005, 13) Höflichkeit wird hier zu einer möglichen Option für die Realisierung von Beziehungsarbeit. Die übergeordnete Kategorie ist relational work, die untergeordnete ‚Höflichkeit‘, wie auch Watts betont. Er verwendet allerdings noch den Begriff facework anstelle von relational work: „All human interaction consists of facework of one kind or another, and it may sometimes include linguistic politeness as one of its aspects“ (Watts 2003, 130). Sowohl Spencer-Oatey als auch Locher und Watts konstruieren also ein recht komplexes Verhältnis zwischen Beziehungsarbeit und Höflichkeit. Sie führen neue Termini ein und verschieben den Anwendungsbereich der entsprechenden Begriffe. Der kommunikative Stellenwert von Höflichkeit im Vergleich zu Beziehungsarbeit wird sehr unterschiedlich dargestellt. Auf jeden Fall bleiben Höflichkeit und facework eng aufeinander bezogen. 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 236 <?page no="237"?> Der Nachteil dieser Operation könnte darin liegen, dass nun mit face und Beziehung (rapport oder relation) zwei eher schwer definierbare Begriffe im Spiel sind, wenn man beschreiben und analysieren will, was SprecherInnen tun, wenn sie höflich sind. Held (2017, 64 ff.) dagegen führt diverse Argumente dafür an, dass es sinnvoll ist, face und politeness zu entflechten. Wichtig ist das u. a. deswegen, weil es sich um zwei grundsätzlich unterschiedliche Phänomene handelt, die sich kaum aufeinander beziehen lassen: Face […] ist ein inneres, ideelles (Wert)Konzept emischer Natur, das jeder Mensch aufgrund seiner Biografie internalisiert hat. Politeness hingegen ein symbolisch manifestes Verhaltens-Konzept, das im Angewiesensein auf Beurteilung von außen (nota bene durch Teilnehmer und Forscher gleichermaßen) damit etischer Natur zu sein scheint. (Held 2017, 66 f.) Ihr Lösungsvorschlag liegt in einer Rückkehr zum facework, sie plädiert in der Konklusion ihres Beitrages „für die Öffnung der politeness-Paradigmen zu face-Paradigmen“ (Held 2017, 72). Wir haben oben ebenfalls für eine klare Trennung zwischen face (Image, Reputationsmanagement, Selbstdarstellung) auf der einen und Beziehungs‐ arbeit auf der anderen Seite plädiert. Für die Beschäftigung mit Höflichkeit haben wir uns allerdings mehr auf den Beziehungsaspekt konzentriert und face als andere kommunikative Aktivität oder anderes kommunikatives Ziel angesehen. Theoretisch und terminologisch scheint diese Trennung klarer und den Kommunikationsmodellen angemessener zu sein als die Verflechtung der beiden Felder. Ob das auch empirisch angemessen ist, muss sich noch erweisen. Die diesbezüglichen Fragen lauten: Unterscheiden InteraktionsteilnehmerInnen tatsächlich zwischen den beiden Aspekten? Hat diese Unterscheidung Auswirkungen auf den Verlauf der Interaktionen? Gibt es Äußerungen, in denen nur (oder vor allem) der eine oder der andere Aspekt herangezogen wird, um den Sinn zu ermitteln? Festzuhalten bleibt, dass mit der Unterscheidung zwischen face und Höflichkeit und den diesbezüglichen Überlegungen über das Verhältnis der beiden Begriffe ein neues Diskussionsfeld eröffnet wurde. Damit wurde die Möglichkeit geschaffen, die empirischen Instrumente zur Erforschung der Höflichkeit in der Interaktion zu verfeinern und andererseits den theoreti‐ schen Stellenwert von Höflichkeit in theoretischen Ansätzen besser model‐ lieren zu können. Im Anschluss an Spencer-Oatey fassen Kádár/ Haugh die Neuorientierung so zusammen: 6.5 Die diskursive Wende 237 <?page no="238"?> [… ] what all these approaches have in common is ‚a central focus on interper‐ sonal relations, rather than, as with traditional models of ‚politeness‘, which is then correlated with interpersonal relations as variables‘. (Kádár/ Haugh 2013, 50) 6.6 Höflichkeit als soziale Praxis: Ein Beispiel 6.6.1 Vorbemerkung Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus einem Gespräch, das in einer italienischen Radiosendung geführt wurde. Das Gespräch wurde grob tran‐ skribiert und dann ins Deutsche übersetzt. Bei der Radiosendung handelt es sich um „Prima Pagina“, ein Programm, das RAI3, der Kulturkanal des öffentlich-rechtlichen italienischen Radios, seit vielen Jahren jeden Morgen ausstrahlt. Das Konzept der Sendung sieht vor, dass ein Gast - ein/ e JournalistIn einer Tageszeitung, eines Magazins oder eines Nachrichtenportals - eine Woche lang jeweils ab 7.15 Uhr ausgewählte Artikel aus der Presse vorliest und kommentiert. Nach 45 Minuten wird die Sendung für HörerInnen geöffnet, diese dürfen dann mit dem Journalisten oder der Journalistin über die angesprochenen Themen diskutieren. In manchen Fällen sprechen sie auch aktuelle Themen an, die in der Presseschau nicht behandelt wurden. Die meisten Gespräche beginnen damit, dass die HörerInnen sich mit ihrem Vornamen vorstellen und angeben, aus welcher Stadt oder Region sie anrufen. Diese Vorstellungsmodalität ist so ritualisiert, dass die Journa‐ listInnen häufig danach fragen, wenn die AnruferInnen sie überspringen oder modifizieren. In den Gesprächen sprechen sich die beiden Beteiligten häufig direkt an. Dabei verwenden sie nahezu immer die formellere Anredeform „Lei“ und den Vornamen. Das ist im Italienischen in manchen Kontexten durchaus üblich und hat keine negativen Konnotationen. Die meisten AnruferInnen sind über die behandelten Themen gut informiert, sodass Gespräche auf einem vergleichsweise hohen Niveau entstehen können. So entwickeln sich Dialoge zwischen einander unbekannten Personen, die sich auf Augenhöhe begegnen: Beide kommentieren Zeitungsartikel. Man kann wohl davon ausgehen, dass es einen gewissen Informationsvorsprung auf der Seite der JournalistInnen gibt, die sich meistens näher mit den 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 238 <?page no="239"?> Themen beschäftigt haben als die HörerInnen und dass die Profis natür‐ lich auch mehr Erfahrungen im Umgang mit dem Medium Radio haben. Manchmal haben die HörerInnenbeiträge auch eher den Charakter von Fragen an die „ExpertInnen“, es gibt aber auch durchaus Fälle, in denen die AnruferInnen besser über das Thema informiert sind als die JournalistInnen. Das Rollenverständnis der GesprächspartnerInnen ist ganz offensichtlich so, dass sie sich auf einer Ebene sehen. Insgesamt entwickelt sich also eine Beziehung, in der kein relevanter Hierarchieunterschied besteht. Es deutet auch wenig darauf hin, dass sich hier eine Art GastgeberIn-Gast-Kon‐ stellation etabliert, wie das in anderen Call-in-Sendungen im Radio zu beobachten ist. Natürlich ist der Dialog öffentlich, private Themen werden nicht behandelt, und den SprecherInnen ist immer bewusst, dass sie vor einem breiten Publikum sprechen. Die HörerInnen haben auch die Möglichkeit, sich per SMS oder Whats- App-Nachrichten an der Sendung zu beteiligen. Beiträge, die auf diesen Wegen eintreffen, werden von der Redaktion auf der Homepage der Sendung veröffentlicht und von den JournalistInnen manchmal explizit aufgegriffen und kommentiert. Auch in diesem Ausschnitt spielt das eine Rolle. Für das Verständnis des Gesprächsausschnittes ist es noch wichtig zu wissen, dass die Sendung an Wochentagen eine Art Fortsetzung erfährt: Um 10 Uhr greift das Programm „Tutta la città ne parla“ ein besonders interessantes oder ein von mehreren HörerInnen angesprochenes Thema noch einmal auf. Die entsprechenden Beiträge aus Prima Pagina werden dann wiederholt und mithilfe von ExpertInnen aus Presse und Wissenschaft vertieft. Der Moderator dieser Fortsetzungssendung heißt Pietro del Soldà. Er wird im Textausschnitt erwähnt. In der Woche, in der das folgende Gespräch stattfand, war Alberto Faustini der Gast von Prima Pagina. Er ist Chefradakteur der Südtiroler Tageszeitung L’Adige und hat sich im Allgemeinen als redegewandter und schlagfertiger Moderator der Sendung präsentiert. Im Gespräch mit einer Hörerin kam er aber etwas ins Schwimmen, als es um Höflichkeit ging: Prima Pagina, 23.05.2019 Journalist: Alberto Faustini (AF) Maria Grazia, Hörerin, am Telefon (MG) 6.6 Höflichkeit als soziale Praxis: Ein Beispiel 239 <?page no="240"?> Time 1: 09: 36 AF Mal sehen, ob es einen weiteren Anruf gibt. Hallo. MG Ja, eh hier ist Maria Grazia, die aus Trieste anruft. AF Guten Morgen Maria Grazia MG Guten Morgen und ich eh eigentlich fände ich es besser, wenn Sie mich mit Signora Maria Grazia anreden könnten, das wäre netter und höflicher. AF Eh aber ich betrachte Sie als junge Frau vor wegen der Stimme, deswegen sage ich [Guten Morgen Signora Maria Grazia] MG [nein, nein, nein, nein] Wenn Sie wüssten, wie alt ich bin, würden Sie in Ohnmacht fallen. Auf jeden Fall nein, auf jeden Fall ist es sicher netter und höflicher Signora oder Signore [Herr oder Frau, die Verf.] mit dem Namen davor das passiert sicher, was mich angeht, jetzt halten Sie es wie Sie wollen. Wir sprechen über wichtigere Dinge. AF Guten Morgen Signora Maria Grazia [Beitrag zum Thema] 1: 12: 24 AF Vielen Dank, Signora Maria Grazia. Nennen Sie mich ruhig Alberto. Also [Antwort zum thematischen Beitrag] Signora Maria Grazia […] Signora […] Ein weiterer Hörer ruft an. Er stellt sich mit seinem Spitznamen Guglielmo vor. 1: 16: 30 AF […] Ich nenne Sie Guglielmo, das ist ja nun mal Ihr Aliasname, […] nein, Herr Guglielmo werde ich Sie nennen […] (Er liest ein‐ gegangene SMS- und WhatsApp-Nachrichten vor): Del Soldà heute musst du unbedingt den Beitrag von Signora Maria Grazia wieder‐ holen, unverzichtbar, den sollte man sich für die Erinnerung aus‐ schneiden, schreibt Giuseppe. Ja, Signora Maria Grazia ist wirklich unverzichtbar […]. Ärgern Sie sich nicht über Signora Maria Grazia, schreibt Marilena, das sind überholte Formalismen von Leuten, die mehr auf die Erscheinung als auf den Inhalt achten. Nein, ich möchte Signora Maria Grazia unter diesem Gesichtspunkt verteidigen, weil sie recht hat. Nur, dass ich sie nicht in einem Treppenhaus getroffen habe, wo ich sicher „Guten Morgen, Signora Maria Grazia“ gesagt hätte. Ich habe sie im Radio getroffen, wo man zu einer direkteren und unvermittelten Beziehung tendiert, was nicht heißt, dass das immer richtig ist. Abb. VI.5: Grobes Transkript eines Radiogesprächs. Übersetzung: der Verf. Satz‐ abbrüche und syntaktische Fehler in der deutschen Version sind als Versuch zu verstehen, die italienischen Formulierungen möglichst genau wiederzugeben. 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 240 <?page no="241"?> 6.6.2 Beschreibung Was in diesen Minuten passiert ist, kann man wohl als critical incident bezeichnen, ein kurzer Moment in einer Konversation, in dem die Beteiligten (und die BeobachterInnen) merken, dass etwas schief gelaufen ist und in dem sie ihr Verhalten zumindest kurz reflektieren. Daraus ergeben sich dann Konsequenzen für den weiteren Ablauf der Interaktion und eventuell auch für andere Gespräche in anderen PartnerInnenkonstellationen. Das Gespräch beginnt so wie viele andere: Der Journalist in seiner Rolle als Moderator öffnet den Kanal. Er muss sich nicht vorstellen, weil seine Identität und seine Rolle zu den allen Beteiligten bekannten Grundkonstanten der Kommunikationssituation gehört. Die Hörerin stellt sich so vor wie so gut wie alle anderen Anrufer. Nach der Begrüßung und der Wiederholung des Namens durch den Journalisten beginnt eine kurze Gesprächssequenz, die den üblichen Rahmen dieser Dialoge sprengt. Die Hörerin geht nicht, wie es erwartbar wäre, direkt zum Thema ihres Anrufes über und trägt ihre Meinung vor. Sie thematisiert vielmehr den Sprachgebrauch ihres Gesprächspartners, indem sie ihre Präferenz für eine andere Form der Anrede zur Sprache bringt und ihr Anliegen auch auf eine allgemeinere Ebene stellt: Ganz offensichtlich möchte sie nicht nur selbst mit dem titelähnlichen Namenszusatz Signora angesprochen werden, sondern würde das auch in anderen Gesprächen für die korrektere Form halten - sie sagt explizit, das sei ihrer Meinung nach „garbato“. Dieses Adjektiv ist kein echtes Synonym zu cortese (der italienischen Entsprechung von höflich), wird aber ebenfalls häufig mit höflich übersetzt. Alberto Faustini wird damit aus dem Konzept gebracht. Sein Selbstver‐ ständnis als freundlicher, jovialer, korrekter und höflicher Moderator der Sendung kommt ins Wanken. Er kommt hörbar in Verlegenheit, verwendet Füllformeln (eh) und konstruiert seinen Beitrag syntaktisch nicht zu Ende. Er versucht zudem, der Anruferin so etwas wie ein Kompliment zu machen, indem er darauf verweist, dass ihre Stimme sehr jung klingt. Das kann man wohl als Verlegenheitsgeste betrachten, eine stark improvisierte Strategie, die aus einer kommunikativen Notsituation heraus entstanden ist. Die Anruferin hatte aber nicht eingefordert, ältere Damen mit Namenszusatz anzusprechen, sondern dies als im Allgemeinen höflichere Version darge‐ stellt. Sie würde wahrscheinlich keinen Zusammenhang mit dem Alter der Gesprächspartnerin herstellen. Letztlich wiederholt der Moderator aber seine Begrüßungsform in modifizierter Form, so wie es die Anruferin 6.6 Höflichkeit als soziale Praxis: Ein Beispiel 241 <?page no="242"?> gewünscht hat. Er bestätigt damit die Berechtigung des Anliegens, gibt zu verstehen, dass er damit einverstanden ist (zumindest im Gespräch mit älteren Damen) und sich in der Folge an diese Sprachregelung halten will. Die offensichtliche Verunsicherung des Moderators destabilisiert die ge‐ samte Situation. Auch die Anruferin kommt in Verlegenheit: Sie unterbricht den Partner sehr entschieden mit einem klaren Widerspruch, der sich erst einmal auf die Schätzung ihres Alters bezieht, wohl aber auch als Zurück‐ weisung des Räsonnements über den Zusammenhang von Anredeform und anagrafischem Alter angesehen werden kann. Auch ihr entgleiten die folgenden Sätze syntaktisch. Sie wiederholt ihr Anliegen mit den gleichen Wörtern wie vorher, verweist jetzt auf ihr persönliches Interesse und lädt den Moderator etwas resigniert dazu ein, in der Sendung so weiterzuma‐ chen, wie er es für richtig hält. Dann relativiert sie noch die Relevanz dieses metasprachlichen Austausches im Vergleich zu dem Thema, um das es eigentlich gehen soll. Faustini bestätigt noch einmal, dass er die Auffassung der Hörerin respek‐ tiert und akzeptiert. Dann gehen die Beteiligten zum thematischen Kern des Gesprächs über. Am Ende des Beitrages der Dame bedankt sich der Moderator explizit und unter Verwendung einer förmlichen Strategie - und natürlich einer expliziten Anrede einschließlich des Namenszusatzes. Dann fordert er die Partnerin noch auf, ihn nur mit dem Vornamen anzureden. Die Akzeptanz der Wünsche bezüglich der Anrede erscheint damit als Zugeständnis an diese konkrete Person, aus dem sich aber keine verallgemeinerbaren Regeln oder Konventionen ableiten lassen. Für sich selbst scheint er eine förmli‐ chere Anrede abzulehnen, er gesteht seiner Partnerin zu, ihn mit Vornamen anreden zu können. Signora Maria Grazia könnte das durchaus als subtile Form von Kritik an ihrem Versuch ansehen, eine andere Anredekonvention zu etablieren. In seiner thematischen Antwort spricht der Journalist die Hörerin mehr‐ mals explizit an und verwendet dabei immer Signora. In der Folge wird die metasprachliche Sequenz aus dem Gespräch mit Signora Maria Grazia mehrmals aufgegriffen: Der Journalist selbst tut dies, indem er einen anderen Hörer entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten mit Namenszusatz anspricht und auch explizit darauf hinweist, dass er das tut. Und auch andere HörerInnen äußern sich in Textnachrichten zu der Dis‐ kussion um Anredeformen. Die Meinungen gehen dabei erwartungsgemäß stark auseinander. Ein Hörer verweist auf die fundamentale Bedeutung 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 242 <?page no="243"?> dieser Reflexion und lädt den Sender dazu ein, das zu vertiefen. Eine andere Hörerin erklärt sich solidarisch mit dem Journalisten. Sie hat die Äußerungen von Signora Maria Grazia wohl als Angriff auf den Moderator interpretiert und seine Verlegenheit gespürt. Sie will ihn unterstützen, indem sie darauf verweist, dass das Förmlichkeiten sind, die nur noch eine kleine Gruppe von Menschen interessieren, die noch nicht in der kommunikativen Realität des 21. Jahrhunderts angekommen sind. Der Journalist verteidigt seine vermeintliche Kritikerin aber entschieden, er gibt ihr ganz klar recht. Allerdings relativiert er auch diese Verteidigung dann sofort wieder, indem er auf den Rahmen des Gesprächs verweist. Er betont, dass er zwischen Begegnungen in öffentlichen Räumen auf der einen und medial vermittelten Gesprächen in einem virtuellen Raum wie dem Radio auf der anderen Seite unterscheiden möchte. Er betont also, dass das Medium und der Rahmen, in dem man kommuniziert, Vorgaben im Hinblick auf die Rollen der Beteiligten und der Beziehungskonstellation enthalten, die wiederum die Akzeptabilität oder Abweichung einzelner Anredeformen beeinflussen oder gar determinieren. 6.6.3 (Un)Höflichkeit? Der Gesprächsausschnitt ist ein Beispiel für einen Austausch über Anrede‐ konventionen, ihren Gebrauch und ihre Implikationen für die Kommunika‐ tionssituation. Aus der Perspektive eines Beobachters/ einer Beobachterin, also aus einer etischen Perspektive, ist das eindeutig eine Auseinanderset‐ zung über das, was man auf den Begriff ‚Höflichkeit‘ bringen kann. Aus der emischen Perspektive stellt sich das ebenfalls so dar: Die Beteiligten machen es sogar explizit, dass es um Höflichkeit geht. Darüber hinaus stellt der Moderator der Sendung noch explizit einen Zusammenhang zu der Beziehung der TeilnehmerInnen untereinander her. Zuerst einmal geht es also um Höflichkeit 1, also darum, was Kommuni‐ kationsteilnehmer in alltäglichen Situationen unter Höflichkeit verstehen. Der Anlass für diesen Austausch ist eine etwas unterschiedliche Auffassung über die angemessene Anrede in einer solchen Form von Konversation. Die Hörerin macht den Moderator darauf aufmerksam, dass sein Verhalten sie persönlich stört und dass es darüber hinaus auch gegen allgemein akzeptierte Konventionen verstoßen könnte. Es ist natürlich immer schwer, Hypothesen darüber zu formulieren, was genau ihr Anliegen ist und welche Ziele sie damit verfolgt - in dieser Schwierigkeit liegt eine der Grenzen von 6.6 Höflichkeit als soziale Praxis: Ein Beispiel 243 <?page no="244"?> Überlegungen zu Höflichkeit 1. Man kann allerdings aus den Äußerungen ableiten, dass die Dame mit hoher Wahrscheinlichkeit die ganze Sache als nicht sehr gravierend empfindet und dass sie sich davon nicht in der Abwicklung ihres Hauptanliegens, der Äußerung ihrer Meinung zum Thema, stören lassen würde. Sie würde wahrscheinlich nicht sagen, dass der Journalist sich unhöflich verhält. Nur eben nicht so, wie sie sich das vorstellt. Auch die Sprechhandlung der Hörerin ist potentiell unhöflich. Sie kriti‐ siert den Moderator und gibt zu verstehen, dass sein sprachliches Verhalten nicht ganz korrekt ist. Das ist eine Störung des regulären Ablaufs eines solchen Gesprächs. Und in der Tat bringt sie ihren Gesprächspartner damit in Schwierigkeiten. Aber auch in diesem Fall empfindet der Adressat das wohl nicht als Unhöflichkeit, er gibt ihr sogar Recht und akzeptiert ihren Vorschlag. Beide TeilnehmerInnen und auch die HörerInnen, die später eingreifen, zeigen aber deutlich, wie wichtig diese Nebendiskussion ist. Der erste SMS-Schreiber sagt das explizit. Darüber hinaus gibt es aber weitere Indizien dafür, dass die korrekte Anredeform für die SprecherInnen keine Bagatelle ist: Zuerst einmal kann man das aus der Tatsache ableiten, dass dieses Thema - entgegen den Konventionen der Sendung - überhaupt zur Sprache gebracht wird. Und dann deutet auch die entstehende Verlegenheit darauf hin, dass dieser Einwurf sehr ernst genommen wird. Wir sehen also politeness-in-action und eine Reflexion darüber, die die Form einer Bewertung annimmt, die wiederum auf Werten beruht, die von den beiden beteiligten Personen jeweils für richtig gehalten werden. Vor allem die beiden HörerInnen, die in der eigentlichen Interaktion noch eine BeobachterInnenfunktion eingenommen hatten und erst später eingreifen, zeigen, dass Höflichkeit durchaus auch als Symptom für die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen gedeutet wird. Die zweite SMS-Schreiberin spricht das sehr klar an und gibt eine negative Bewertung ab. Aus der Sicht von wissenschaftlich interessierten Beobachtern ist erst einmal darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Gesprächsausschnitt um die Begrüßungssequenz einer Interaktion handelt. Die Begrüßung ist immer eine delikate Gesprächsphase, weil hier die TeilnehmerInnenrollen und die Beziehungskonzeptionen ausgehandelt werden. Höflichkeit spielt hier deswegen eine zentrale Rolle. Dabei kann es leicht zu Unstimmigkeiten und kleineren Konflikten kommen, wie es hier der Fall ist. 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 244 <?page no="245"?> Der Rahmen der Sprechhandlungen wird von den beiden Protagonis‐ tInnen wohl etwas unterschiedlich definiert. Beide haben Erwartungen an die Situation, die Abläufe, die Rollen der Teilnehmer und deren Beziehung zueinander. Die Erwartungen werden aber durch die Handlungen des jeweils anderen enttäuscht und dadurch entsteht ein Ungleichgewicht. Konkreter: Der Journalist scheint das Gespräch als eine freundliche, themenzentrierte Konversation zwischen zwei Menschen aufzufassen, die ein gemeinsames Interesse (am Thema) haben und sich in entspannter Atmosphäre darüber austauschen. Seine Rolle ist die des Medienprofis, der auf medial unerfahrenere Menschen trifft, diesen aber durch menschliche Nähe über eine eventuelle Verlegenheit in der öffentlichen Diskussion hinwegzuhelfen versucht. Die Anruferin erwartet offensichtlich ein Ge‐ spräch zwischen Personen, die sich nicht kennen, die sich aber gegenseitig respektieren und die vor allem an einem inhaltlichen Austausch interessiert sind. Beide gehen also mit einem bestimmten Rollenverständnis und einem bestimmten Selbstbild (oder Image) in die Diskussion und sind natürlich daran interessiert, imageadäquat zu handeln und nicht „aus der Rolle zu fallen“. Das funktioniert aber nicht, weil die Auffassungen zu unterschiedlich sind. Der Journalist konzipiert die Situation als eine Art In-group-Konversa‐ tion, die Hörerin als Out-group-Interaktion. Faustini folgt der Höflichkeits‐ maxime und zwar der Untermaxime „Lege hohen Wert auf die Gefühle von O.“ In den Termini Leechs (2014) ist das die Sympathie-Maxime (M9, s.o). Der Sprecher will Nähe zur Hörerin herstellen, er will die horizontale Distanz verringern. Diese empfindet das aber als unangemessen - sie fühlt sich in ihrem Rollenverständnis nicht ernst genommen. In ihren Augen gibt es diese Nähe nicht, und sie hat wohl kein Interesse daran, so zu tun als ob es sie gäbe. Sie will die Beziehung also anders definieren als der Moderator. Für sie wäre es höflich, die Distanz zu respektieren, die es nun einmal gibt und eine dafür adäquate Form der Anrede zu finden - sie würde da nicht zwischen einem Gruß im Treppenhaus und einem Gespräch im Radio unterscheiden. Für den kleinen Konflikt, der sich anbahnt, ist die Interdependenz von kommunikativem Selbstbild auf der einen und Beziehungskommunikation auf der anderen Seite entscheidend - er zeigt aber auch, dass das durchaus unterschiedliche Anliegen sind. Alberto Faustini macht der Anruferin durch seine recht vertrauliche Anredeform ein Angebot: Er will eine Art freundschaftlichen Kontakt etablieren. Sein Ziel liegt nicht darin, das Gesicht einer bisher unbekannten 6.6 Höflichkeit als soziale Praxis: Ein Beispiel 245 <?page no="246"?> Person zu schützen, sondern vornehmlich in der Beziehungskonstitution. Das Angebot wird aber nicht angenommen, weil die Gesprächspartnerin eine andere Vorstellung von der Beziehungskonstellation hat. Sie kommu‐ niziert das ziemlich explizit und schlägt so eine andere Definition der Beziehung vor. Die abweichende Definition stellt jetzt aber tatsächlich eine Bedrohung für das Image des Medienexperten dar, und er reagiert dementsprechend verwirrt. Er weicht auf eine andere Höflichkeitsstrategie aus, indem er der Hörerin ein Kompliment macht und damit noch einmal versucht, seine Nähe zu ihr zum Ausdruck zu bringen. Aber auch das schei‐ tert ziemlich kläglich. Das Resultat ist eine neue Anredekonvention in dieser Situation, die die Verhältnisse auf der Beziehungsebene so widerspiegelt, dass beide zufrieden sein können. Was in bestimmten Situationen als höflich angesehen wird, hängt sehr stark vom Rahmen ab und muss im Zweifelsfall zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden. Als Ergebnis der mehr oder weniger expliziten Aus‐ handlung entsteht eine lokale Konvention, die den Erfolg der Interaktion wahrscheinlicher macht. Die lokale Konvention kann in andere Zusammen‐ hänge übertragen werden und allgemeinere Anwendung finden. 6 Sprachwissenschaftliche Höflichkeitstheorien 246 <?page no="247"?> 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 7.1 Höflichkeit in den sozialen Medien: Zwischen Hatespeech und Wohlfühlkommunikation Die Verbreitung des Internet hat u. a. zu einer gewaltigen Umstellung der Kommunikationsgewohnheiten vieler Menschen geführt (vgl. z. B. Schlo‐ binski 2006). Das Netz ist zu einem eigenen Universum geworden, in dem es immer schwieriger wird, den Überblick über relevante neue Tendenzen zu behalten. Es integriert die Angebote und auch Gewohnheiten vieler „alter“ Medien und wird deswegen auch als „Hybridmedium“ bezeichnet (Marx/ Weidacher 2014, 73). Um nur einige Beispiele zu nennen: Im Internet gibt es private Kommunikation, institutionelle Kommunikation und Werbe‐ kommunikation. Es bietet eine Plattform für face-to-face-Interaktion und für verschiedene Spielarten von Massenkommunikation - allerdings im Unterschied zur klassischen Massenkommunikation mit sehr viel mehr In‐ teraktionsmöglichkeiten und Momenten der Dialogizität. Man findet in den unendlichen Weiten des Internets verschiedenste Sprachen und Varietäten, Verbindungen zwischen Text- und Bildkommunikation (Multimodalität) und neue Zeichen bzw. Typen von Zeichen (Emoticons, Inflektive, spezielle Abkürzungen) sowie innovative Verwendungen alter Symbole. Eine der wichtigsten Eigenschaften von Internettexten ist die Hypertextualität, also die Möglichkeit der Verknüpfung unterschiedlichster Texte und Textteile. Die Vielzahl von Kommunikationsoptionen hat zur Ausbildung sehr vieler verschiedener Kommunikationsformen geführt, die jeweils durch spezielle Kombinationen von Merkmalen, kommunikativen Zielen, Perso‐ nenkonstellationen, raumzeitlichen Gegebenheiten oder technischen Re‐ striktionen gekennzeichnet sind. Die Kommunikation auf Facebook, TikTok, Clubhouse und Instagram ist anders als die auf Twitter. Diese wiederum un‐ terscheidet sich von Diskussionen in Foren. Darüber hinaus gibt es (um nur einige Beispiele aufzuzählen) die Medienangebote der klassischen Tages- und Wochenzeitungen, Blogs, Vlogs, YouTube, Videospiele, Homepages von Unternehmen und Institutionen, Online Shops, Portale für die Hotel- oder Restaurantsuche (und Bewertung) usw. Man kann sogar mit Computern (Chatbots) interagieren und merkt es manchmal nicht einmal. <?page no="248"?> Entsprechend groß ist die Vielfalt an Interaktionsmöglichkeiten. So gut wie alles, was früher offline kommuniziert wurde, kann - in oft leicht abgewandelter Form - im Internet erledigt werden. Man kann einen Partner oder eine Partnerin kennenlernen und die Beziehung ausbauen, man kann Liebesbriefe schreiben oder geschäftliche Kommunikation über internetge‐ stützte Videokommunikation abwickeln, man kann Bücher oder Hotels rezensieren, alleine oder mit anderen spielen, einen Aperitif mit Freun‐ dInnen einnehmen, Freundschaften knüpfen und pflegen, universitären bzw. schulischen Unterricht abwickeln oder sich einfach über Sachverhalte informieren. Tendenziell ist die Kommunikation im Internet dialogischer organisiert als analoge Formen der Offline-Kommunikation. Die EmpfängerInnen einer Nachricht haben nahezu immer die Möglichkeit, eine Rückmeldung zu geben - und sei es auch nur in Form von Likes. Dadurch wird auch die Kommunikation auf der Beziehungsebene komplexer und vielfältiger. Metasprachliche Diskurse über die Kommunikation im Internet, in klas‐ sischen und modernen Medien sowie im Alltag stellen oft die angebliche Verrohung der Umgangsformen in den Mittelpunkt. Das Internet scheint das Reich der Unhöflichkeit, der Abwesenheit von Höflichkeit und sogar der verbalen Gewalt zu sein. Phänomene wie Hatespeech, rassistische oder sonstige diskriminierende Beleidigung, Cybermobbing, Flaming und andere Formen von verbaler Aggression sind sicher alles andere als konstruktive Formen der Beziehungspflege. Sie sind im Internet nicht zu übersehen, und sie sind Gegenstand vieler linguistischer Beiträge geworden, die auch an Arbeiten zur (Un)Höflichkeit anschließen (vgl. z. B. die Beiträge in Bonacchi 2017). Andererseits sollte man nicht vergessen, dass das Internet auch ein Medium ist, in dem sich zahlreiche Formen von beziehungsunterstützenden kommunikativen Maßnahmen finden. Manche Posts bestehen nur aus Grüßen, guten Wünschen, Liebesbekundungen oder ähnlichen Sprechhandlungen, die verbal ausgedrückt werden können oder nicht - manchmal reicht auch eine Reihe von Emoticons. Die Vielfalt der Kommunikationsformen, Situationen, Kontexten und Textsorten im Internet verbietet es, generalisierende Aussagen über die Höf‐ lichkeit oder Unhöflichkeit in diesem Medium zu machen. Wir beschränken uns deswegen darauf, einige grundlegende Eigenschaften der Computer Mediated Communication (CMC) aufzugreifen und kurz im Hinblick auf ihre Relevanz für Höflichkeit im Internet zu kommentieren. Es wird dabei vor allem um die Frage gehen, in welchen höflichkeitsrelevanten Charakteris‐ 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 248 <?page no="249"?> tika sich die CMC von anderen Formen der Kommunikation unterscheidet. Als Leitfaden wird uns ein von Herring erstelltes Klassifikationsschema für CMC dienen (Herring 2007, vgl. auch Yus 2011, Herring/ Androutsopoulos 2015). Wir werden versuchen, ausgewählte Kriterien aus dem Katalog von Herring kurz zu diskutieren und auf Höflichkeit zu beziehen. Herring geht davon aus, dass sich CMC durch zwei Gruppen von Faktoren von anderen Kommunikationsformen unterscheidet: erstens technische und zweitens soziale Rahmenbedingungen. Das Analyseschema sieht deswegen erst einmal diese beiden Kategorien vor und dann jeweils Unterkategorien. Wir werden folgende Unterkategorien kurz kommentieren: ▸ Synchronizität ▸ Übermittlung ▸ Anonymität ▸ Teilnehmerkonstellation ▸ Eigenschaften der Teilnehmer ▸ Zweck ▸ Normen Was Herring unter den Stichworten ‚Synchronizität‘ und ‚Übermittlung‘ anführt, fassen wir als raumzeitliche Kommunikationskonstellation zu‐ sammen. Es geht um die Frage, wie sich die technischen Rahmenbe‐ dingungen der CMC auf die räumliche und zeitliche Situierung der TeilnehmerInnen auswirken und welche Konsequenzen das für die Be‐ ziehungskommunikation hat. Hier ist zunächst zu bemerken, dass das In‐ ternet bei aller Vielfalt der Kommunikationsformen und -konstellationen doch eine Konstante aufweist: Die KommunikantInnen kommunizieren fast immer auf Distanz. Sie sehen sich nicht, sie können sich sogar an sehr weit voneinander entfernten Plätzen befinden. Die Ko-Präsenz an einem Ort ist so gut wie ausgeschlossen, die wechselseitige Wahrnehmung, die in der Offline-Kommunikation die Grundlage für den Austausch von Beziehungszeichen bietet, ist eingeschränkt: Ich sehe meine Online-Ge‐ sprächspartnerInnen in vielen Fällen (wie in Foren, Clubhouse, Facebook oder Twitter) nicht, und ich kann nicht sehen, dass sie mich sehen. Selbst bei Videokonferenzen ist es fraglich, ob man sich so in die Augen schauen kann, wie das in analogen Gesprächen möglich ist - sicher ist die wechselseitige Wahrnehmung mit anderen Sinnen noch weiter reduziert als die auf der visuellen Ebene. Reziprozität der Wahrnehmung wird me‐ dienbedingt stark beeinträchtigt; der Austausch von Beziehungszeichen 7.1 Höflichkeit in den sozialen Medien: Zwischen Hatespeech und Wohlfühlkommunikation 249 <?page no="250"?> wird daher auf die verbale Ebene konzentriert. Es ist oft nicht möglich, die Beziehungskonzeption der PartnerInnen auf der Grundlage von Proxemik, Gestik, Stimmführung usw. zu erkennen; man ist weitgehend auf die verwendeten (vor allem sprachlichen) Zeichen angewiesen. Schwieriger ist es schon, Angaben über die Zeitverhältnisse zu machen: Im Internet ist alles möglich und verbreitet: der face-to-face-Kommunikation ähnliche Videokonferenzen, in denen sich die TeilnehmerInnen synchron sehen und hören können und direkt aufeinander reagieren, quasi-synchrone Formen der Kommunikation wie Chat oder WhatsApp-Dialoge oder auch der asynchrone Austausch in E-Mails, Diskussionsforen oder in der insti‐ tutionellen Kommunikation. Bei geschriebenen Formen des Austauschs können die TeilnehmerInnen nicht erkennen, ob die PartnerInnen gerade eine Äußerung produzieren. Die Übergabe oder Übernahme des Rederechts - ein Moment, der kommunikatives Fingerspitzengefühl und Beziehungs‐ kompetenz erfordert - ist damit unproblematisch. Genauer zu untersuchen wäre allerdings, wie es sich mit Kommunikationsformen verhält, in denen angezeigt wird, dass die PartnerInnen gerade schreiben: Wird ein gleich‐ zeitig verfasster Beitrag als eine Art Unterbrechung und damit potentielle Unhöflichkeit aufgefasst oder nicht? Einige Formen der Online-Interaktion scheinen sich auch dadurch aus‐ zuzeichnen, dass die TeilnehmerInnen den Austausch als zeitliches Konti‐ nuum konzipieren; sie markieren keinen Moment als Beginn und Ende des Dialogs, das Gespräch kann jederzeit unterbrochen und wieder aufge‐ nommen werden. Das macht einleitende und abschließende Rituale wie Begrüßungssequenzen überflüssig. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Quantität und Qualität von Beziehungssignalen, die von Kommunikations‐ partnerInnen erwartet werden können. Und dies wiederum verändert (im Vergleich zur Offline-Kommunikation) die grundlegenden Bedingungen für Urteile über die Höflichkeit von Beiträgen. Am Beispiel von Forendiskussi‐ onen (vgl. dazu auch Arendholz 2013) lässt sich das verdeutlichen. Die TeilnehmerInnen an dieser Form von Diskussion antworten oft auf einen Beitrag von anderen. Die Situation ist also ansatzweise dialogisch. Die Beteiligten befinden sich nicht am gleichen Ort, können und müssen also nicht direkt aufeinander reagieren. Die Antwort folgt mit einem gewissen zeitlichen Abstand auf den Impuls. In diesem Rahmen wird die Beziehungsgestaltung auch dadurch er‐ schwert, dass die beiden Personen sich nicht kennen und keine oder nahezu keine Informationen über die jeweils anderen haben - sie kennen nicht 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 250 <?page no="251"?> einmal deren Namen. Die potentielle Anonymität ist ein weiterer Punkt in Herrings Liste der Besonderheiten von CMC. Im Hinblick auf die Höflichkeit handelt es sich hier sicher um einen entscheidenden Aspekt. So gut wie immer werden in Foren Pseudonyme verwendet. Das Gespräch wird hier also zwischen Internetidentitäten geführt. Die TeilnehmerInnen können keine Hypothesen über die reale Identität der anderen bilden und haben deswegen auch keine Informationsgrundlage für die Beziehungsgestaltung. Das fördert einerseits einen formalen Kommunikationsstil und andererseits einen weitgehenden Verzicht auf das, was man in der Offline-Kommu‐ nikation als Höflichkeit bezeichnet. Andererseits kann man an solchen Beispielen sehr schön beobachten, wie sich neue, medienspezifische Formen der Höflichkeit herausbilden. Immer wieder wird die Anonymität auch als Grund dafür angesehen, dass manche TeilnehmerInnen sich das Recht herausnehmen, beleidigend, unflätig, verbal übergriffig oder extrem aggressiv zu werden. Aus der Per‐ spektive der Höflichkeitsforschung ist es interessant zu beobachten, wie sich unter solchen Bedingungen Standards der gegenseitigen Erwartungen ent‐ wickeln, ob und wann Äußerungen als unzulässige Übertretungen gewertet werden und schließlich, ob sich ein für bestimmte Kommunikationsformen spezifisches Verständnis von Höflichkeit herausbildet, also ein Bewusstsein dafür, was in dem gegebenen Rahmen auf der Beziehungsebene für die Aufrechterhaltung einer Kommunikationsbeziehung getan werden sollte und was von anderen erwartet werden kann. Interessant ist dies nicht zuletzt deshalb, weil es sich in vielen Fällen ja nicht um eine an bestimmte Individuen gerichtete Höflichkeit handeln kann, sondern um das formale Minimum an kommunikativem Altruismus, den man jedem/ jeder möglichen InteraktionspartnerIn schuldet. Anonymität ist aber natürlich keine Eigenschaft aller Kommunikations‐ formen in der CMC. In der Praxis sind viele verschiedene TeilnehmerInnen‐ konstellationen anzutreffen. Es gibt private wie öffentliche Kommunikation, one-to-one-Kommunikation und one-to-many, die TeilnehmerInnen können miteinander bekannt sein oder völlig unbekannt. Es handelt sich darüber hinaus oft um Mehrfachadressierung. Auch solche Besonderheiten haben Folgen für das Beziehungsmanagement und die Höflichkeit. Das gilt natürlich auch allgemein für die Eigenschaften der Teilnehmer- Innen. In vielen Fällen fehlen Informationen über demographische Eigen‐ schaften der GesprächspartnerInnen (Alter, Geschlecht, Beruf etc.), über die man in Offline-Gesprächen meistens verfügt, ebenso wie das Wissen 7.1 Höflichkeit in den sozialen Medien: Zwischen Hatespeech und Wohlfühlkommunikation 251 <?page no="252"?> über Sprach- und Internetkompetenz, sozialen Status, Einstellungen und Meinungen usw. Je nach Umfang dieses Wissens im jeweiligen Kommuni‐ kationskontext ändern sich im Internet auch die Kommunikationsgewohn‐ heiten im Hinblick auf Höflichkeit. Was als höflich angesehen werden kann und was nicht, hängt natürlich auch vom übergeordneten Zweck der Interaktion ab. Auch hier ist die Bandbreite in der CMC sehr groß. Diskussionsforen sind auf den Ausdruck von Meinungen ausgerichtet; die AutorInnen schreiben, um andere von ihren Meinungen zu überzeugen. Ohne kontroverse Stellungnahmen ver‐ liert die Kommunikationsform ihren Sinn, deswegen wird Widerspruch gegen andere AutorInnen fast schon zur präferierten Antwortoption. Hier ähneln Foren Talkshows oder Parlamentsdebatten. Wenn der Widerspruch ausbleibt, dann kommt die Diskussion zum Erliegen. Es wird also kaum als unhöflich empfunden, wenn ein/ e TeilnehmerIn einer anderen widerspricht. Ganz anders sind die Gegebenheiten in beziehungsorientierten Kommu‐ nikationsformen wie Chatgruppen, Facebook-Gruppen oder Portalen zur Partnersuche. Bemerkenswert ist weiterhin, dass es für die CMC Normen gibt, die als Netikette bezeichnet werden und die sich schon terminologisch an die Etikette der Offline-Welt anlehnen. Darüber hinaus gibt es auch Chatikette und Empfehlungen des Deutschen Knigge-Rats zum Umgang mit anderen Menschen in sozialen Netzwerken. Hier finden sich beispielsweise Empfeh‐ lungen wie diese: „Eine einfache Faustregel: Schreiben Sie nie etwas, was Sie dem Adressaten nicht auch vor anderen Leuten ins Gesicht sagen würden“ (http: / / www.kirchwitz.de/ ~amk/ dni/ netiquette [9.7.2020]). Auch in der On‐ line-Kommunikation scheint es also das Bedürfnis und die Notwendigkeit zu geben, den kommunikativen Umgang miteinander zu regeln und in Normen zu fassen. In vielen Kontexten (z. B. in Foren) werden Verstöße gegen die Regeln von AdministratorInnen auch strikt geahndet. Beleidigende, verunglimpfende oder rassistische Äußerungen (um nur einige Beispiele zu nennen) werden konsequent gelöscht. Insgesamt verbieten sich allzu grobe Verallgemeinerungen über die (Un-)Höflichkeit im Internet, insbesondere in den sozialen Medien. Der Eindruck, dass sich die Kommunikation im Internet entweder durch über‐ zogene Aggressivität oder aber durch eine übertriebene Konfliktvermeidung auszeichnet, bezieht sich immer auf spezielle Bereiche im Netz. Zu klären ist dann sicher die Frage, welche Faktoren dafür ausschlaggebend sind, dass hier aggressiver oder konsensorientierter kommuniziert wird als Offline und 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 252 <?page no="253"?> dass es Phänomene wie Cybermobbing oder hetzerische, verleumderische und beleidigende Nachrichten bis hin zu Morddrohungen an Persönlich‐ keiten des öffentlichen Lebens gibt: Liegt es z. B. in erster Linie an der Anonymität oder an der Tatsache, dass sich die Beziehungsinformation auf die verbale Ebene der Kommunikation konzentriert? Das Internet ist ein ausgesprochen vielfältiger und heterogener Kom‐ munikationskosmos, in dem die unterschiedlichsten Interaktionsstrategien identifiziert werden können. Ein genauer Blick auf einzelne Domänen (Foren, Chats, Facebook-Gruppen, Instagram, Partnersuche-Portale, Rezen‐ sionsportale usw.) kann aber für die Höflichkeitsforschung sehr interessant sein, weil dabei beobachtet werden kann, wie sich eine Community of Practice konstituiert, welche Bedeutung dabei Beziehungsaktivitäten haben und wie die Praxis der Beziehungsgestaltung schließlich konventionalisiert und dann sogar in Form von Normen festgehalten wird. Dazu sind in den letzten Jahren zahlreiche Studien veröffentlicht worden (z. B. Arendholz 2013, Bedijs et al. 2014, Freytag 2019, Kunkel 2020), in denen auch höflich‐ keitsbezogene Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur analogen Welt in den Blick genommen werden. 7.2 Kontrastive Perspektiven 7.2.1 Einleitung Wer eine Fremdsprache lernt und vor allem, wer versucht, seine Sprach‐ kennnisse in einem Land anzuwenden, in dem diese Sprache als Mutter‐ sprache gesprochen wird, dem wird schnell auffallen, dass es nicht immer ganz leicht ist, in einer Fremdsprache höflich zu sein. Selbst wenn man alle möglichen Grußformeln kennt, weiß man noch nicht, wer wen wann mit welcher Formel und mit welcher nonverbalen Begleitaktivität grüßt. Man wird immer Unsicherheit in Bezug auf die Frage verspüren, in welcher Si‐ tuation man welches Anredepronomen oder welche Anredeform verwendet (du oder Sie, Titel usw.), und man wird auf Sprechhandlungen stoßen, die erwartet werden, mit denen man aber nie gerechnet hätte. Es gibt sehr viele weitere Beispiele, die zeigen, dass Höflichkeit in jeder Sprache (vielleicht sogar in jeder Varietät einer Sprache) unterschiedlich realisiert wird. Höflichkeit ist ein Phänomen im Spannungsfeld zwischen individuellem Sprachgebrauch, Kultur und Gesellschaft und auch aus diesem 7.2 Kontrastive Perspektiven 253 <?page no="254"?> Grund ein Feld, das ein hohes Maß an situations- und kulturbedingter Variabilität aufweist. Sprachbedingt unterschiedliche Formen und Realisierungsstrategien für sprachliche Höflichkeit sorgen auch dafür, dass das Vorhandensein und die Bedeutung von Beziehungsaktivitäten eigentlich erst auffallen. Vieles von dem, was zur sprachlichen Höflichkeit gerechnet werden kann, ist ja ein selbstverständlicher Teil unserer alltäglichen Kommunikation in unserer Muttersprache. Dass das alles nicht so natürlich ist, wie man annehmen könnte, fällt vor allem dann auf, wenn man in Kontexten interagieren muss, in denen Unterschiede auftreten. Die Höflichkeitsforschung ist u. a. deswegen von Anfang an kontrastiv ausgerichtet, sie konzentriert sich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachen. Wir hatten schon darauf hingewiesen, dass B/ L nach Universalien im Sprachgebrauch suchen, indem sie so un‐ terschiedliche Sprachen wie Englisch, Tzeltal und Tamil vergleichen. Mit kontrastiver Analyse ist gemeint, dass man unterschiedliche Sprachen im Hinblick auf ein bestimmtes Phänomen analysiert, beispielsweise also fragt, wie Höflichkeit im Deutschen im Unterschied zum Türkischen oder Wolof realisiert wird. Die kontrastive Perspektive (oder cross-cultural analysis) muss unter‐ schieden werden von transkulturellen oder interkulturellen Ansätzen. Der Begriff der Transkulturalität ist durch die Arbeiten des Philosophen Wolfgang Welsch (1992) in der deutschsprachigen Forschungslandschaft populär geworden. Welsch hat sehr eindrücklich darauf hingewiesen, dass Kulturen keine homogenen, abgrenzbaren Entitäten mit klar definierbarer Identität sind, sondern vielfältig miteinander verwoben und aufeinander bezogen sind. Das ist im Zeitalter der Globalisierung besonders eindrück‐ lich zu erkennen, war aber eigentlich immer schon so. Transkulturelle Phänomene sind dann diejenigen, an denen diese Verwobenheit festge‐ macht werden kann, weil sie in verschiedenen Kulturen auftreten. Der Wangenkuss als Begrüßungsritual wäre ein Beispiel dafür, die so genannte Tu/ Vos-Unterscheidung, also die zwei Optionen bei den Anredepronomen, ein anderes. Interkulturalität beschäftigt sich dagegen mit Kontakten und Interak‐ tionen von Individuen oder Gruppen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund, mit der Dynamik solcher Situationen und mit Faktoren, die den Erfolg oder Misserfolg interkultureller Begegnungen ausmachen können. Ein interkultureller Ansatz zur Höflichkeit könnte also beispielsweise analy‐ 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 254 <?page no="255"?> sieren, was genau passiert, wenn eine Deutsche und ein Japaner miteinander kommunizieren, welche Erwartungen sie jeweils an den anderen haben, welche Dynamik sich in einer solchen Situation entfaltet oder wie die Be‐ teiligten eine tragfähige interaktive Grundlage für ihre Dialoge konstruieren (vgl. dazu z. B. die Beiträge in Rings/ Rasinger 2020). Wir kommen unten darauf zurück. Das alles setzt natürlich voraus, dass Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Sprachen und Kulturen identifiziert, beschrieben und analysiert werden können. Dabei kommt der kontrastiven Linguistik eine zentrale Rolle zu. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Sprachvergleiche in der Ge‐ schichte der Höflichkeitsforschung schon immer eine wichtige Rolle gespielt haben und dass dabei sehr unterschiedliche Themen, Ebenen und Formen untersucht wurden. Um nur einige Beispiele zu nennen: Sehr einflussreich war das bereits angesprochene Projekt Cross-Cultural Speech Act Realization Patterns Project (CCSARP), in dem schon in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine kontrastive Perspektive eingenommen wurde (vgl. z. B. Blum-Kulka/ Olshtain 1984, House 1986, Blum-Kulka et al. 1989). Auch der Sammelband von Watts et al. (1992/ 2005) enthält schon eine Sektion mit Texten über Höflichkeit in Israel, Japan und Thailand. Held (1995) hat den Sprachgebrauch deutscher und italienischer Jugendlicher in Bitt- und Danksituationen untersucht und zielte dabei ausdrücklich auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Realisierung von Höflichkeit ab. Marina Terkourafi, eine der international profiliertesten Forscherinnen auf dem Gebiet der sprachlichen Höflichkeit, hat ihre Karriere mit einer vergleichenden Untersuchung zum Griechischen auf dem Festland und auf Zypern begonnen (Terkourafi 2001). Der Sammelband Lüger (2002) enthält Beiträge, in denen die Gegebenheiten im Deutschen z. B. mit dem Spani‐ schen, Rumänischen, Finnischen, Chinesischen oder Japanischen vergli‐ chen werden. Kotthoff (2003) gibt einen grundlegenden Überblick über das Untersuchungsfeld. Mulo-Farenkia (2004) betrachtet Komplimente und Komplimenterwiderungen im Deutschen und Kamerunischen. Der Band Politeness in Europe (Hickey/ Stewart 2005) präsentiert Aufsätze über Höf‐ lichkeit in verschiedensten europäischen Ländern, darunter auch solche, die ansonsten weniger im Fokus derartiger Untersuchungen stehen, wie etwa Belgien, Irland, Estland oder Zypern. Die Ansätze der diskursiven Wende werden in Bargiela-Chiappini/ Kádár (2011) auf Sprachvergleiche angewendet - hier in einem breiten internationalen Panorama, das auf den 7.2 Kontrastive Perspektiven 255 <?page no="256"?> Sprachgebrauch kanadischer LKW-Fahrer ebenso eingeht, wie auf den is‐ raelischer Politiker. Auch Sprachen wie Koreanisch, Georgisch oder das in Simbabwe gesprochene Englisch werden berücksichtigt. Bonacchi (2013) stellt eine umfassende Untersuchung zur Höflichkeit im Deutschen, Pol‐ nischen und Italienischen vor. Freytag (2019) untersucht die Höflichkeit in beruflichen E-Mails im Englischen und Spanischen. In Sammelbänden wie Ehrhardt/ Neuland (2017) finden sich regelmäßig auch Sektionen oder zumindest Beiträge zum Sprachvergleich. Wie ein globaler Blick auf Höflichkeit aussehen könnte, zeigt der Band Ogiermann/ Garcès-Conejos Blitvich (2019). Darüber hinaus sind in den letzten Jahren sehr viele Promotions- und sonstige akademische Qualifikationsarbeiten zur verglei‐ chenden Höflichkeitsforschung entstanden und publiziert worden (z. B. Nixdorf 2002, Schlund 2009 über Höflichkeitsformeln Deutsch-Serbisch, Kunkel 2020). 7.2.2 Das Problem des tertium comparationis Wie jeder Ansatz der vergleichenden Sprachwissenschaft hat die kontrastive Analyse von sprachlicher Höflichkeit erst einmal das Problem festzulegen, was eigentlich die Vergleichsgrundlage, also das tertium comparationis, ist. Darunter versteht man „[…] that which is common to the two compared objects and against which the differences can be specified“ (Jaszczolt 1995). Mit anderen Worten: Wie kann man sicherstellen, dass man nicht Äpfel und Birnen vergleicht? Wenn wir beispielsweise feststellen sollten, dass in der Sprache A auf ein Kompliment (vgl. dazu Neuland 2011) signifikant häufig mit einem Dank geantwortet wird, in der Sprache B aber mit einem Downgrader (einer Antwort wie Das ist doch nicht der Rede wert oder Das hat eine andere Person gemacht), könnten wir daraus die verschiedensten Schlüsse ziehen, etwa: ▸ In A bedankt man sich in solchen Situationen, in B redet man das eigene Verdienst klein. Aber: Das sind zwei völlig unterschiedliche Handlungen. Was sollten sie gemeinsam haben? Was sollte sie ver‐ gleichbar machen? Man könnte jetzt anfügen, dass sie funktionale Äquivalente sind (sind sie das wirklich? ) insofern, als sie beide bevorzugte Antworten auf Komplimente sind. Aber auch hier könnte man wieder einwenden, dass der Unterschied in der Antwort darauf hindeutet, dass Komplimente in A und B völlig anders aufgefasst 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 256 <?page no="257"?> werden, dass also schon hier von einer Vergleichbarkeit keine Rede sein kann. ▸ Die Handlung ist in beiden Fällen die gleiche, sie wird in B nur anderes realisiert als in A. Aber: Wie kann man so etwas behaupten? Es würde darauf hinauslaufen, dass man mit jedem Satz jede belie‐ bige Handlung vollziehen kann und dass es keine Indikatoren für Sprechhandlungen gibt und das ein Dank ungefähr das Gleiche ist wie ein Downgrader. ▸ Die Gemeinsamkeit ist: In beiden Sprachen wird auf ein Kompliment geantwortet. Es handelt sich also weder um einen Dank noch um einen Downgrader, sondern um eine Antwort auf ein Kompliment. Das stimmt zweifellos, aber es ist banal und irrelevant. Wir wollen ja gerade beschreiben und analysieren, wie auf ein Kompliment geantwortet wird. ▸ Oberflächlich wird in A ein Dank ausgesprochen, in Wirklichkeit ist das aber auch eine Form der Verkleinerung der Verdienste. Gemeint ist in A also das Gleiche wie in B. Aber: Wer kann das festlegen? Woher weiß man, ob ein Dank in einer bestimmten Situation echt gemeint ist? Kann man den Wortlaut und die Form einer Äußerung einfach so ignorieren? In kontrastiven Analysen wird man keine allgemeingültige und zufrieden‐ stellende Antwort auf die Frage finden, was das tertium comparationis nun wirklich ist. Für jedes Forschungsvorhaben muss das individuell festgelegt und mit Gebrauchsangaben empirisch belegt werden. Wichtig ist, dass dazu auch eine reflektierte und überzeugende Begründung geliefert wird. Im Bereich der Höflichkeit ist dies besonders wichtig, weil hier leicht falsche Schlüsse gezogen werden können. Dazu ein weiteres Beispiel: Abb. VII. 1 zeigt ein Schild, das im Jahr 2018 in der portugiesischen Stadt Coimbra in einer Allee in einer Plastikhülle steckte und an einem Baum befestigt war. Es handelt sich um eine eher unhöfliche Handlung, nämlich ein Verbot, das hier aber auf eine ausgesprochen höfliche Weise vollzogen wird. 7.2 Kontrastive Perspektiven 257 <?page no="258"?> Abb. VII.1: Verbotsschild in Coimbra (April 2019, Foto: Claus Ehrhardt) Eine plausible Übersetzung wäre: (1) Am 29. wird das Städtische Gartenbauamt Pflegearbeiten an den Bäumen durchführen. Bitte nicht parken! Wir wissen die Mitarbeit aller zu schätzen. Zuerst stellt sich hier die Frage, ob man sich einen solchen Text tatsächlich in einer vergleichbaren Situation in einem anderen Land vorstellen könnte. Ein italienisches Äquivalent für ein temporäres Parkverbot kann so aussehen: Abb. VII.2: Parkverbot in Pesaro/ Italien (August 2020, Foto: Claus Ehrhardt). Übersetzung: Abschleppbereich. Halteverbot [Angabe des Gültigkeitszeitraumes] 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 258 <?page no="259"?> Hier wird keine Begründung für das Verbot angegeben und die AutorInnen drohen sehr direkt mit Sanktionen im Fall von Zuwiderhandlungen. In Deutschland könnte man sich einen ähnlich formulierten Text vor‐ stellen, etwa: (2) Baumarbeiten. Parken am 29. verboten. Widerrechtlich abgestellte Fahrzeuge werden kostenpflichtig abgeschleppt. Das Gartenbauamt Wahrscheinlich wäre auch hier ein Parkverbotsschild abgedruckt. Um wirklich belastbare Aussagen für einen Sprachvergleich machen zu können, müssten wir ein Schild in Deutschland finden, das die gleiche Aussage enthält, in einer vergleichbaren Situation veröffentlicht worden ist und auch auf der Handlungsebene analog ist. Selbst wenn wir das finden würden, könnte man immer noch behaupten, das portugiesische und/ oder das deutsche oder italienische Schild seien alles andere als repräsentativ für den Sprachgebrauch im jeweiligen Land oder dass sie in ihren Kontexten eben nicht den gleichen Sinn vermitteln. Was auch immer man hier sagt, wird also etwas spekulativ bleiben. Wir nehmen also einen Augenblick an, dass man (2) in einer deutschen Stadt finden würde. Was macht man mit einem solchen Befund? Zu bemerken ist erst einmal, dass das portugiesische Verbot als Bitte formuliert ist. Es wird eine Begründung für das Verbot geliefert und die Befolgung wird verbal honoriert, gleichzeitig wird an das Zusammengehö‐ rigkeitsgefühl und das Verantwortungsbewusstsein der BewohnerInnen und BesucherInnen appelliert - beides wird als gegeben angenommen. Der hypothetische deutsche Text (2) gibt - anders als der italienische - ebenfalls eine Begründung für das Verbot. Der zentrale Sprechakt wird als unpersönliche Infinitivkonstruktion formuliert, dabei wird keine Bitte vollzogen, sondern eher ein explizites Verbot, also ein anderer Sprechakt. Der Appell an das Gemeinschaftsgefühl fehlt, dafür wird mit Sanktionen im Fall der Übertretung gedroht. Die erste Interpretation könnte lauten: Das Portugiesische ist höflicher als das Deutsche oder das Italienische. Das ist sicher eine unangemessene Feststellung und reflektiert überdies Stereotypen, weil nicht Sprachen höflich oder unhöflich sind, sondern SprecherInnen. Kann man also sagen, dass PortugiesInnen höflicher sind als Deutsche oder ItalienerInnen? Eine solche Aussage ist natürlich viel zu allgemein und zu stereotyp. Intuitiv mag das einleuchtend sein, aber die sprachwis‐ senschaftliche Forschung will tragfähige Aussagen auf der Grundlage wis‐ 7.2 Kontrastive Perspektiven 259 <?page no="260"?> senschaftlicher Methoden und Begriffe machen. Selbst wenn wir mehr und bessere Daten zur Verfügung hätten als dieses Beispiel, würde diese Wertung auf einem Vergleich ohne echtes tertium comparationis beruhen. Zunächst müsste geklärt oder festgelegt werden, ob die AutorInnen der beiden Schilder tatsächlich die gleiche Handlung vollziehen - der eine mehr, der andere weniger höflich. Oder handelt es sich vielmehr um zwei unterschiedliche Handlungen, eine Bitte und ein Verbot? Und wenn ja, kann man sagen, dass eine Bitte höflicher ist als ein Verbot, oder vergleicht man dann wirklich Äpfel mit Birnen? Ein weiteres Problem liegt in der Tatsache, dass dem/ der deutschen LeserIn die wörtliche Übersetzung des portugiesischen Hinweises höflich erscheinen mag. Aber was würde ein Portugiese/ eine Portugiesin dazu sagen? Findet er/ sie das ebenfalls höflich, oder ist es im portugiesischen Kon‐ text ein ganz normales Verbot - vielleicht sogar ein zu explizit formuliertes? Bevor man versucht, die deutsche, die italienische und die portugiesische Höflichkeit zu charakterisieren und zu vergleichen, müssen also diverse Variablen abgeklärt werden. Aus Daten wie den hier angedeuteten kann man sicher keine allgemeinen Behauptungen über Höflichkeit in den Ländern ableiten. Was man - vorausgesetzt, eine erweiterte Datengrundlage gibt das her - vielleicht sagen kann, ist, dass es Unterschiede in der Kommuni‐ kation zwischen Behörden und Bürgern gibt und dass auch unterschiedliche Erwartungen im Hinblick auf die Gestaltung der Aussagen auf der Bezie‐ hungsebene existieren, die nationale Stereotype reflektieren können. Wie man es auch dreht und wendet, Sprachvergleiche bleiben immer ein schwieriges Unterfangen. Es ist extrem wichtig, die Vergleichsgrundlagen immer offen zu legen und keine voreiligen Schlüsse aus den Daten zu ziehen. Gerade wegen der Schwierigkeiten sind Vergleiche aber natürlich auch in‐ teressant und wichtig für die Theoriebildung in der Höflichkeitsforschung. 7.2.3 Sprechhandlungen kontrastiv Die ersten Beispiele deuten darauf hin, dass Sprechhandlungen eine der relevantesten Ebenen der Organisation von Kommunikation sind, wenn es darum gehen soll, Vergleiche in Bezug auf Höflichkeit anzustellen. Das be‐ reits angesprochene Projekt CCSARP hat diese Einsicht konsequent verfolgt (vgl. zum Folgenden House 1986). Es ging der Forschungsgruppe vor allem um die Sprechakte ‚Bitte‘ und ‚Entschuldigung‘. Schon bei der Begründung für die Auswahl dieser Sprechakte spielte die Verbindung zwischen Höflich‐ 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 260 <?page no="261"?> keit und face eine Rolle. Die Bitte ist eine direktive Sprechhandlung, d. h., dass der/ die SprecherIn will, dass der/ die HörerIn etwas tut, was im Interesse des Sprechers/ der Sprecherin liegt; das ist immer eine Einschränkung der Handlungsfreiheit des Hörers oder der Hörerin und damit ein FTA im Sinne von B/ L. Die Entschuldigung realisiert gewissermaßen das Gegenteil davon. Sie ist eine Reparaturhandlung, mit der der/ die SprecherIn einräumt, dass er oder sie etwas getan hat, was gegen die Interessen des Hörers/ der Hörerin gerichtet war und mit der er/ sie anerkennt, dass das falsch war und versucht, diesen Fehler aus dem Weg zu räumen. Er/ sie unterstützt damit also das Gesicht des Hörers/ der Hörerin. Bei dem empirisch angelegten Projekt ging es um die Realisierung dieser Handlungen in sieben Sprachen und Varietäten: australisches, amerikani‐ sches und britisches Englisch, kanadisches Französisch, Hebräisch, Dänisch und Deutsch. Für jede Sprache wurde eine Gruppe von Muttersprachler‐ Innen befragt und eine gleich große Gruppe von Menschen, die die jeweilige Sprache als L2 lernen. Die Ergebnisse können damit sowohl in kontrastiver als auch in interkultureller Perspektive analysiert werden. Die Ziele lagen auf drei Ebenen: Es sollten bevorzugte Realisierungsmuster der beiden Sprechhandlungen bei MuttersprachlerInnen ermittelt werden, es sollten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Sprachen beschrieben werden (kontrastiver Aspekt), und es sollten Gemeinsamkeiten und Unter‐ schiede zwischen der Sprachproduktion von MuttersprachlerInnen und der von L2-LernerInnen im fremdsprachigen Kontext ermittelt werden (interkultureller Aspekt). Dabei wurden verschiedene situative Faktoren berücksichtigt; untersucht werden sollte eben auch, wie die SprecherIn-Hö‐ rerIn-Beziehung, etwa die vertikale und horizontale Distanz (auch wenn diese Termini von den Forscherinnen nicht verwendet wurden), die Reali‐ sierung der Handlungen beeinflussen. Methodisch wurden bei der Datenerhebung sog. Discourse Completion Tasks (auch Discourse Completion Tests, DCT) verwendet. Das sind kleine Situationsbeschreibungen, in denen die ProbandInnen ergänzen sollen, was sie sagen würden. Ein Beispiel (hier für Bitten): At a students’ apartment: Larry, John’s room-mate, had a party the night before and left the kitchen in a mess. John: Larry, Ellen and Tom are coming for dinner tonight and I’ll have to start cooking soon; __________________________________ Larry: Ok, I’ll have a go at it right away. (Blum-Kulka/ Olshtain 1984, 198) 7.2 Kontrastive Perspektiven 261 <?page no="262"?> Wenn man sich die Antworten anschaut, dann kann man verschiedene Strategien identifizieren, die sich in allen Sprachen finden, etwa: a) Imperativ: Räum die Küche auf! b) Wunschäußerung: Ich möchte, dass du die Küche aufräumst. c) Bezug auf die vorbereitenden Bedingungen: Könntest du die Küche aufräumen? Die Forscherinnen haben verglichen, welche Strategie in welcher Situation und in Abhängigkeit von welchen Variablen signifikant häufiger verwendet wird, welche als höflich eingeschätzt wird und wo Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachen liegen. Dabei kann man dann beispielsweise feststellen, dass eine Strategie wie c) als die „normale“ Realisierung im Deutschen und im britischen Englisch angesehen werden kann, dass sie aber von Briten viel häufiger verwendet wird als von Deutschen und dass Briten im Allgemeinen zu einer formelhafteren Realisierung neigen, die Deutschen dagegen weniger Routineformeln verwenden. 7.2.4 Höflichkeit in ausgewählten Ländern Anhand einiger ausgewählter Beispiele versuchen wir etwas konkreter zu zeigen, welche Ergebnisse bei kontrastiven Analysen zur Höflichkeit erzielt werden und wie solche Studien angelegt sein können. Mit deutscher Höflichkeit setzt sich House (2005) auseinander. Die Au‐ torin vergleicht das Deutsche vor allem mit dem britischen Englisch. Sie zeigt dabei u. a., dass die DCTs nicht die einzige Methode sind, um Daten zur (vergleichenden) Höflichkeitsforschung zu gewinnen. Ihre Ausführungen stützen sich auch auf: 1. Aufzeichnungen von Rollenspielen und Analyse des Materials 2. Teilnehmende Beobachtung: Protokolle von Situationen, in denen es zu kommunikativen Unfällen (critical incidents) kam 3. Tagebuchartige Notizen über kritische Interaktionssituationen 4. Aufnahmen von Interviews, in denen MuttersprachlerInnen über kritische Situationen berichten 5. Aufnahmen von authentischen Interaktionen. 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 262 <?page no="263"?> Zusätzlich wurden auch geschriebene Texte analysiert. Dabei bieten sich adressatenorientierte Textsorten wie Stipendienanträge (Kotthoff 2011), Grußworte oder geschäftliche Briefe bzw. Mails (Freytag 2019) besonders an, die allerdings in der Arbeit von House noch nicht berücksichtigt werden konnten. Die deutsch-britischen Unterschiede, die House bei diesen Studien ge‐ funden hat, lassen sich in fünf Dimensionen zusammenfassen: Direktheit ↔ Indirektheit Orientierung an der eigenen Person ↔ Orientierung am Anderen Inhaltsorientierung ↔ Adressatenorientierung Explizite Kommunikation ↔ Implizite Kommunikation Ad Hoc Formulierung ↔ Verbale Routinen Abb. VII.3: Dimensionen kontrastiver Höflichkeit Deutsch-Britisch nach House (2005, 21) Die auf der linken Seite und fett gedruckten Begriffe charakterisieren die deutsche Höflichkeit: „German subjects tend to interact in ways that are more direct, explicit and verbose, more self-referenced and contrast-ori‐ ented; they are also less prone to resort to verbal routines than English speakers“ (House 2005, 21). Deutsche neigen also beispielsweise dazu, inhaltlichen Widerspruch di‐ rekter zum Ausdruck zu bringen als Briten und auch andere höflichkeitssen‐ sitive Handlungen expliziter zu vollziehen. House weist aber ausdrücklich darauf hin, dass man solche Daten nicht verwenden sollte, um Folgerungen darüber abzuleiten, ob Deutsche mehr oder weniger höflich sind als andere. Das Verhältnis von Direktheit und Höflichkeit ist komplex; man kann Indirektheit bei der Realisierung von Sprechhandlungen nicht einfach mit Höflichkeit gleichsetzen. Die Ergebnisse werden von House vor einem breiteren historischen und soziokulturellen Hintergrund betrachtet. Realisierungsmuster sind das Ergebnis von langfristigen Entwicklungen, die auch mit historischen Er‐ fahrungen und Tendenzen in Zusammenhang stehen. Hier wird auf die Entwicklung des deutschen Bürgertums verwiesen (vgl. dazu Kapitel 3), auf 7.2 Kontrastive Perspektiven 263 <?page no="264"?> die historisch bedingten deutschen Probleme mit der nationalen Identität oder auch die Geschichte des deutschen Erziehungssystems. Zusammenfassend wird deutsche Höflichkeit so charakterisiert: […] it often involves saying what one means and meaning what one says; engaging more and sooner in ‚serious talk‘ than carefully preparing the ground with ‚small talk‘; it may mean referring in detail to matters relating to both self and the topic in hand, and it may mean omitting all-purpose formulae in favour of improvising and providing links to the particular speech event being shared with one’s interlocutor. (House 2005, 25) Ganz anders wird Höflichkeit im Portugiesischen (in Portugal) realisiert (vgl. Araújo Carreira 2005). Es gibt hier eine Vielzahl von linguistischen Res‐ sourcen, die zur Beziehungskommunikation herangezogen werden können. Zur Beschreibung lassen sich ähnliche Parameter anwenden wie im Deut‐ schen: 1. Takt vs. Aufrichtigkeit 2. Konsens vs. Konflikt 3. Inhalt vs. Beziehung 4. Beziehungsorientierung vs. Schutz der Individualität Auch hier sind die auf Portugal zutreffenden Pole der Dichotomien fett gedruckt. Dieser Komplex an Orientierungstendenzen manifestiert sich z. B. in Gruß- und Abschiedssequenzen. Beide sind länger und elaborierter als in vielen anderen Sprachen. Es ist im Portugiesischen üblich, nicht einfach aus einer Interaktion auszutreten. Man zögert vielmehr den Moment der Beendigung hinaus, indem am Ende des Gesprächs beispielsweise betont wird, wie froh man über das Treffen war, man sich entschuldigt, dass man nicht länger bleiben kann, man verschiedene gute Wünsche austauscht, Grüße an das familiäre Umfeld in Auftrag gibt oder Hilfe anbietet. Das kann sich über einen längeren Zeitraum hinziehen, eventuell wird dann auch noch einmal das eigentliche Gespräch aufgenommen und das Abschiedsritual später noch einmal begonnen. Charakteristisch für das Portugiesische ist darüber hinaus ein reiches System an Anredeformen, die aus Pronomen, aber auch verschiedenen Kombinationen von Vor- und Familiennamen und anderen nominalen Anredeformen, darunter Titeln, bestehen. Wie vielfältig die Beziehungskommunikation ist, wird aber erst dann richtig klar, wenn man den Blick in geografisch und kulturell entferntere 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 264 <?page no="265"?> Regionen und auf Höflichkeit beispielsweise in ostasiatischen, arabischen oder afrikanischen Ländern und die dort gesprochenen Sprachen lenkt. Dazu gibt es inzwischen eine Vielzahl von Untersuchungen. Sie machen sehr schnell deutlich, dass nicht nur die Höflichkeitspraktiken und die damit verbundenen sprachlichen und außersprachlichen Handlungen ganz anders strukturiert und organisiert sind als in europäischen Ländern, sondern auch die in der Diskussion verwendeten Termini und Begriffe. Für vergleichende Untersuchungen sind diese Unterschiede eine riesige Herausforderung. Sie sind aber auch eine unverzichtbare Bereicherung, die zur Präzisierung und Vertiefung der theoretischen Ansätze beiträgt. Die theoretische Reichweite der Unterschiede wurde schon in der Diskussion über B/ L deutlich, in der - wir hatten darauf hingewiesen - besonders Lin‐ guisten aus ostasiatischen Ländern die Universalität der Annahmen infrage stellten. Vor allem Ide (1989) hat immer wieder darauf hingewiesen, dass im Japanischen Höflichkeit sehr viel stärker grammatikalisiert ist als in euro‐ päischen Sprachen (vgl. dazu auch Haase 1994). Die Verwendung bestimmter Formen ist daher nicht - wie in europäischen Sprachen - eine strategische Entscheidung der SprecherInnen, die auch die Möglichkeit hätten, eine an‐ dere Form zu wählen. Sie ist vielmehr durch soziale Regeln vorgeschrieben. Ide nennt diese Form der Höflichkeit ‚Einsicht‘ oder ‚Urteilsvermögen‘ (discernment) - im Gegensatz zum Willen des Sprechers (volition); gemeint ist damit, dass es im Japanischen nicht einmal theoretisch möglich ist, eine Äußerung zu formulieren, in der die Informationsvermittlung das einzige Ziel ist. Die SprecherInnen werden von sozialen Konventionen geleitet. Die Struktur der Sprache zwingt die SprecherInnen dazu, immer zum Ausdruck zu bringen, wo sie ihren Platz in der Gesellschaft relativ zu den GesprächspartnerInnen sehen. Es gibt keine diesbezüglich neutralen Formen. Zugespitzt ausgedrückt: Im Deutschen kann man höflich sein, wenn man Wert darauf legt, im Japanischen bleibt einem gar nichts anderes übrig, wenn man grammatisch korrekte Sätze konstruieren will. Dieses Argument würde eine eingehende Diskussion verdienen. Wir beschränken uns hier auf den Hinweis, dass wir in Kapitel 5 die Auffassung vertreten haben, dass auch im Deutschen und in anderen Sprachen Kommunikation ohne Beziehungskomponente kaum vorstellbar ist. Das deutet darauf hin, dass es sich bei der Höflichkeitsmaxime um eine Grundkonstante menschlicher Kommunikation und eine Universalie han‐ delt. Verschiedene Sprachen und Kulturen unterscheiden sich im Hinblick auf die jeweils gültigen Untermaximen wie sie in Kapitel 6.4.2 angesprochen 7.2 Kontrastive Perspektiven 265 <?page no="266"?> wurden. In einigen Kulturen kann Höflichkeit vor allem darin bestehen, den PartnerInnen individuellen Handlungsspielraum zu lassen, in anderen mag es wichtiger sein, Bescheidenheit zu zeigen, also die eigenen Verdienste zu minimalisieren. Das muss im Detail empirisch ermittelt werden. Natürlich zeichnen sich Sprachen wie das Japanische dadurch aus, dass die Beziehungsinformationen stärker über grammatische Strukturen ver‐ mittelt werden als etwa im Deutschen. Die dahinterstehenden Höflichkeits‐ strategien und die Zusammenhänge zwischen Anredekonventionen und anderen Manifestationen von Höflichkeit zu beschreiben ist aber nicht ganz einfach, wenn man über die Schilderungen von Anekdoten hinausgehen möchte. Häufig werden Begriffe aus den betreffenden Sprachen ins Spiel gebracht, um die Höflichkeitskonventionen zu charakterisieren. Im Japanischen ist das Keigo (vgl. Coulmas 1987) die Bezeichnung für das japanische Höf‐ lichkeitssystem. Es manifestiert sich u. a. in verschiedenen Höflichkeitsaus‐ drücken, die mit „Verbindlichkeitsausdruck, Ehrerbietungsausdruck und Ergebenheitsausdruck“ übersetzt werden (Yamashita 2001, 320). Hier zeigt sich aber sehr schnell auch die Problematik der Übersetzung, in die immer eine Interpretation des Übersetzers einfließt. Yamashita (2001 und 2011) untersucht Verkaufsgespräche in Japan und in Deutschland und insbesondere deren Bewertung als mehr oder weniger höf‐ lich. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass JapanerInnen Äußerungen vor allem dann als höflich bewerten, wenn die konventionellen Höflichkeits‐ formen verwendet werden, während Deutsche hier toleranter sind und auch in Abwesenheit klassischer Höflichkeitsformen eine Interaktion als höflich und positiv bewerten können: „[…] dass die Äußerung mit den legeren Re‐ dewendungen im Deutschen auch mit ‚sehr höflich‘ bewertet werden kann, während die Äußerungen mit Formulierungen der Höflichkeitssprache im Japanischen als ‚sehr freundlich‘ empfunden werden“ (Yamashita 2011, 159). Insgesamt drängt sich hier der Eindruck auf, dass bei allen Unterschieden in den als höflich eingeschätzten Verhaltensformen und entsprechenden sprachlichen Formen die Unterschiede in Bezug auf die Verwendung und die zugrundeliegenden Prinzipien doch höchstens graduell sind. Für das Chinesische ist der entsprechende Begriff limao. Günthner (2001, 298) übersetzt das mit „höfliches Erscheinen“ und weist darauf hin, dass das Wort vom stark konfuzianistisch geprägten Begriff li abgeleitet und damit in unserem Verständnis eher in die Sphäre der Sittlichkeit einzuordnen ist als in die der Höflichkeit im modernen Verständnis. Es gibt dabei starke 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 266 <?page no="267"?> Anklänge an soziale Hierarchie und Ordnung. Auch das Chinesische bietet zahlreiche lexikalische Möglichkeiten der Selbst- und Fremdreferenz, in denen tendenziell das Selbst ab- und die PartnerInnen aufgewertet werden. Gu (1990) hat eine Reihe solcher Ausdrücke aufgelistet. Liang (1998 und 2009) identifiziert vier allgemeinere Höflichkeitsregeln, die im Chinesischen handlungsleitend sind: 1. Bescheidenheit und Respektbezeugung 2. Vertrautheit und Herzlichkeit 3. Asymmetrisches Sprachverhalten 4. Indirekte Sprechweisen. Wenn man versucht, allgemeinere Prinzipien der Höflichkeit zu identifi‐ zieren, dann zeigt sich auch hier, dass die Unterschiede zu europäischen Sprachen gar nicht so groß sind. Der Verweis auf die Verwendung asymme‐ trischer Formen, z. B. bei der Anrede, lässt sich dahingehend interpretieren, dass im Chinesischen soziale Hierarchien (noch) größere Auswirkungen auf die Kommunikationsgewohnheiten haben. Aber auch europäische Sprachen und Kulturen lassen in manchen Zusammenhängen asymmetrische Formen der PartnerInnenadressierung zu. An solchen Punkten zeigen sich einige Schwierigkeiten der kontrastiven Analyse: Je weiter man sich von der anekdotischen Schilderung exotisch anmutender Praktiken entfernt und versucht, allgemeine Strategien zu formulieren, umso mehr verwischen sich die Unterschiede zwischen ver‐ schiedenen Sprachen. Problematisch ist auch die Tatsache, dass die betreffenden Sprachen immer als eine homogene Einheit ohne diatopische oder diastratische Vari‐ anten betrachtet werden. Das ist natürlich eine viel zu starke Verallgemei‐ nerung, wie Okamoto (1999) zeigt. Auch im Japanischen gibt es Dialekte und Soziolekte und beim Chinesischen ist die intrakulturelle Variation so groß, dass nicht einmal problemlos von einer Sprache gesprochen werden kann. Solche Verallgemeinerungen fördern die Stereotypisierung. Die kontrastive Perspektive auf Höflichkeit ist immer der Gefahr ausgesetzt, stereotype Blicke auf andere Sprachen und Kulturen zu unterstützen. Die begriffliche Basis vieler Vergleiche ist darüber hinaus klärungsbe‐ dürftig. So lässt sich beispielsweise keineswegs genau sagen, was unter Direktheit und Indirektheit zu verstehen ist. Noch strittiger wird es, wenn man chinesische Indirektheit mit der deutschen oder türkischen vergleichen möchte. Aussagen wie die über die Indirektheit der japanischen und chine‐ 7.2 Kontrastive Perspektiven 267 <?page no="268"?> sischen Sprechweisen und deren Parallelisierung mit Höflichkeit stehen auf theoretisch tönernen Füßen. Dabei zeigt sich sehr stark das eingangs angesprochene Problem des tertium comparationis. 7.3 Höflichkeit als Schlüsselkompetenz in der interkulturellen Kommunikation 7.3.1 Interkulturalität Mit ‚interkulturell‘ bezeichnen wir gemeinhin Kommunikationen, die zwi‐ schen Angehörigen verschiedener Kulturen und in der Regel auch Sprechern verschiedener Sprachen geführt werden (vgl. auch ten Thije 2020, 35). Während der Begriff der ‚Multikulturalität‘ das empirisch nachweisbare Nebeneinander verschiedener Kulturen innerhalb eines sozialen Gebildes, zumeist einer Nation, bezeichnet (so Lüsebrink 2012, 16), bezieht sich ‚In‐ terkulturalität‘ auf die Beziehungen zwischen den Kulturen, seien diese Be‐ ziehungen assimilatorisch-verschmelzend oder dominierend-unterordnend oder etwas Drittes, Innovatives. Durch die vergleichende Betrachtungsweise der (Kultur-)Kontrastivität können Kulturen genauer miteinander vergli‐ chen werden. Eigen- und Fremdkulturelles formen allerdings keine statischen Gebilde mit festen Grenzen. Im Rahmen der kulturellen Diversifizierung moderner Gesellschaften führen interkulturelle Erfahrungen auch zu widersprüch‐ lichen Normen und Wissensbeständen, die verarbeitet werden wollen. Soziologische Analysen zum kulturellen Pluralismus und zur Multikultu‐ ralismus-These widerlegen den oberflächlichen Eindruck eines Nebenein‐ anders separierter kultureller Gruppen: „Das Bild von den homogenen, geschlossenen Kulturgruppen trifft für moderne Gesellschaften gerade nicht zu“, wie Leggewie/ Zifonun in ihrem Aufsatz „Was heißt Interkulturalität? “ schlussfolgern. Weniger die Trennung als vielmehr das ständige Aufein‐ andertreffen kultureller Gruppen und Mentalitäten im Kontext kulturüber‐ greifender, transkultureller Erfahrungen bildet ein konstitutives Moment moderner Gesellschaften, und zwar nicht nur in Form von Konflikten im Sinne eines „clash of civilizations“, sondern in Form vielfältiger Aushand‐ lungs- und Austauschprozesse (Leggewie/ Zifonun 2010, 16). In einem aktuellen Verständnis von Interkulturalität ist mithin auch Transkulturalität stets (mit)einbezogen (vgl. Antor 2020). Zunehmende 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 268 <?page no="269"?> Kulturkontakte, Kulturaustausch und Kulturtransfers führen zu Prozessen der Hybridisierung von Kulturen, in denen Kategorien wie Eigenes und Fremdes, Identität und Alterität eher unscharfe Ränder aufweisen und als ständig zu aktualisierende soziale Konstruktionen erscheinen, wie Lüse‐ brink es in seinem Beitrag über „Interkulturelle Kommunikation im Kontext der Globalisierung“ (2011) konstatiert. Bolten zeichnet in einem Beitrag „Interkulturalität und interkulturelle Trainings neu denken“ (2016) den Paradigmenwechsel in der Interkul‐ turalitätsforschung nach, der von primär strukturorientierten, homogeni‐ sierenden Lesarten hin zu offeneren Verständnisweisen reicht, die Mehr‐ wertigkeit und Relationalität des Kulturbegriffs und eine grundlegende Perspektivenreflexivität implizieren (vgl. auch Bolten 2020). Interkulturelle Kommunikation wird im Rahmen der zunehmenden In‐ ternationalisierung von Politik und Wirtschaft, Bildung und Kultur immer bedeutsamer. Die Kompetenz zur interkulturellen Kommunikation erhält daher einen immer höheren Stellenwert, gerade auch im Bereich von Spracherwerb und sprachlichem Lernen. Welchen Stellenwert nimmt dabei die sprachliche Höflichkeit ein? Der Umgang mit sprachlicher Höflichkeit ist für Fremdsprachenlerne‐ rInnen besonders schwierig, geht es hierbei doch nicht mehr allein um Wortschatzlernen und um Grammatikerwerb, sondern um die Wahl einer angemessenen Stilebene, die durch unterschiedliche sprachliche Mittel aus‐ gedrückt werden kann. Sprachliche Höflichkeit fußt auf der Kenntnis und der angemessenen Anwendung sprachlicher Mittel. Die Art und Weise, wie ich etwas ausdrücken kann, stellt ein besonders anspruchsvolles Lernziel bei der Entwicklung der kommunikativen Kompetenz in der Zielsprache dar. Der Umgang mit sprachlicher Höflichkeit setzt daher bereits eine hohe Sprach- und Kommunikationskompetenz voraus, sowie vor allem eine interkulturelle Kompetenz: Was darf wann, wie und zu wem gesagt werden? Urteile über eine angemessene Form der sprachlichen Realisierung einer Sprechhandlung oder eines Sprechhandlungsmusters gründen auf vielfachen Wissensbeständen über den sprachlichen und situativen Kontext - und vor allem über kulturspezifische Gebrauchsnormen (vgl. Ehrhardt 2020). Der Umgang mit sprachlicher Höflichkeit in einer Fremdsprache und in einer fremden Kultur ist weit schwieriger als in der eigenen Muttersprache und Herkunftskultur. Dabei stellen sich regelmäßig Fragen wie: 7.3 Höflichkeit als Schlüsselkompetenz in der interkulturellen Kommunikation 269 <?page no="270"?> ▸ Wissen wir genug über kulturtypische Formen von Höflichkeit in der Zielsprache und interkulturelle Differenzen im Vergleich zur Ausgangssprache? ▸ Folgen wir dabei nicht eher unseren subjektiven Vorurteilen oder all‐ gemeinen Stereotypen von Kulturstandards (z. B. AsiatInnen lächeln immer) als den alltäglichen Gebrauchsnormen in der Zielkultur? ▸ Haben generelle Annahmen, wie die These der Gesichtsarbeit (face‐ work) und speziell der Vermeidung von Gesichtsverletzung, univer‐ sale Gültigkeit in allen Kulturen? ▸ Und nicht zuletzt: Was erwartet mein Gegenüber von mir in einer interkulturellen Kommunikationssituation, je nachdem, wo und zu welchem Zweck diese stattfindet? Sprachliche Höflichkeit kann als eine besondere, zentrale Schlüsselkompe‐ tenz für die interkulturelle Kommunikation bezeichnet werden. Als Schlüs‐ selkompetenz ist sie transferierbar: ▸ auf unterschiedliche Themen, Partner, Situationen und Ziele von Kommunikation, ▸ auf verschiedene Erscheinungsweisen der mündlichen oder schrift‐ lichen Kommunikation in face-to-face-Situationen oder in medial vermittelter Form. ▸ auf eigensprachliche wie interkulturelle Kommunikation, und ▸ auf unterschiedliche Anwendungskontexte der Kommunikation in Wirtschaft und Verwaltung, Politik, Bildung und Kultur. Auch und gerade in der interkulturellen Kommunikation stoßen gut ge‐ meinte populärwissenschaftliche Ratgeber wie der Auslands-Knigge (Rupp‐ recht-Stroell 2002) oder der Kultur-Knigge für Nicht-Muslime (Heine 2001) an Grenzen, wenn sie allgemeine, als fraglos gegebene und zu befolgende ausgewiesene Verhaltensstandards (Dos and Don’ts) für ein „weltweit rich‐ tiges Auftreten“ verheißen. Dabei wird jedoch oft nur eine kulturbezogene Realienkunde vermittelt (z. B. „zu Gast bei Muslimen“, „islamische Kleidung“ etc.) und in schlichte Vermeidungstechniken umgemünzt (z. B. „nicht die Hände schütteln“, „nicht die Fußsohlen zeigen! “). Dahinter ist ein zu kurz gegriffenes Konzept von Höflichkeit als bloße Vermeidungstechnik und letztlich als Anpassungstraining zu vermuten (vgl. dazu Neuland 2013). Wenn man zu sehr darauf achtet, dass man nicht in ein „Fettnäpfchen tritt“, droht die Gefahr eines künstlichen, zwanghaften Verhaltens. Sprachli‐ 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 270 <?page no="271"?> ches erhält dabei allerdings meist nur wenig Beachtung (z. B. Grußverhalten bei Heine 2001). Auch hier spielen implizit Vermeidungstechniken eine Rolle, so ist im Arabischen Vorsicht geboten, die Begrüßung as-salamu alaykum (Friede sei mit euch) mit der Antwort Wa alaykumu as-salam (Mit euch sei Friede) zu beantworten, denn nach der Vorstellung mancher MuslimInnen sollte sie ausschließlich zwischen MuslimInnen verwendet werden, da man als Nicht-MuslimIn die angesprochenen MuslimInnen in eine schwierige Situation bringen und sie womöglich zu einer Unhöflichkeit verleiten könnte. Auch dieses Beispiel zeigt das Problem der Aussparung von intrakulturellen und auch von regionalen Unterschieden. Wird ein solcher Gegengruß von Mann oder Frau, Höher- oder Niedergestelltem, Bekanntem oder Unbekanntem erwidert, können die Reaktionen nicht nur von MuslimInnen sehr unterschiedlich ausfallen. 7.3.2 Kritik der „Kulturstandards“ Linguistische Studien, die über die reine Deskription hinausgehend auch nach Erklärungen für kulturelle Differenzen in ihren Befunden suchen, greifen oft auf Modelle aus der Sozialwissenschaft und Sozialpsychologie zurück. Hier spielt vor allem das Modell der Kulturstandards des Psycho‐ logen Alexander Thomas (2005) oder auch das der Kulturdimensionen des empirischen Sozialforschers Geert Hofstede (2001) eine Rolle. Deutsche Kulturstandards sind nach Thomas z. B. ▸ interpersonale Distanz, ▸ Direktheit interpersonaler Kommunikation, ▸ Regelorientiertheit, ▸ Autoritätsdenken, ▸ Organisationsbedürfnis. Nach Hofstedes Schlussfolgerungen weist eine westliche Industrienation wie Deutschland einen fast um die Hälfte niedrigeren Machtdistanz-Index (Index: 35) auf als ein ostasiatisches Land wie Südkorea (Index: 60) oder auch lateinamerikanische Staaten. Demgegenüber wird Deutschland, ebenso wie anderen westlichen Industrienationen, ein dreibis viermal höherer Indivi‐ dualitätsindex (Index: 67) als Südkorea (Index: 18) zugeschrieben. Aber auch solche, bei Hofstede auf Befragungen von IBM-Mitarbeitern beruhenden Forschungen funktionieren im Prinzip nach einer kulturver‐ 7.3 Höflichkeit als Schlüsselkompetenz in der interkulturellen Kommunikation 271 <?page no="272"?> gleichenden kontrastiven Methode, der ein bipolares Schema von zwei oder mehr in der Regel als getrennt angenommenen Kulturen K1 und K2 zugrunde liegt. K 1 K 2 • Direktheit interpersonaler Kommunikation, • Regelorientiertheit, • Autoritätsdenken, • Organisationsbedürfnis. Nach Hofstedes Schlussfolgerungen weist eine westliche Industrienation wie Deutschland einen fast um die Hälfte niedrigeren Machtdistanz-Index (Index: 35) auf als ein ostasiatisches Land wie Südkorea (Index: 60) oder auch lateinamerikanische Staaten. Demgegenüber wird Deutschland, ebenso wie anderen westlichen Industrienationen, ein dreibis viermal höherer Individualitätsindex (Index: 67) als Südkorea (Index: 18) zugeschrieben. Aber auch solche, bei Hofstede auf Befragungen von IBM-Mitarbeitern beruhenden, Forschungen funktionieren im Prinzip nach einer kulturvergleichenden kontrastiven Methode, der ein bipolares Schema von zwei oder mehr in der Regel als getrennt angenommenen Kulturen K1 und K2 zugrunde liegt. Abb. VII.4: Vereinfachte Darstellung kulturkontrastiver Vergleiche. Nach: Neuland/ Peschel 2013, 38 Die Vergleichsdimensionen kann man sich nach Hofstede ebenfalls als polare Differenzen vorstellen: Abb. VII.4: Vereinfachte Darstellung kulturkontrastiver Vergleiche. Nach: Neuland/ Pe‐ schel (2013, 38) Die Vergleichsdimensionen kann man sich nach Hofstede ebenfalls als polare Differenzen vorstellen: Abb. VII.5: Polare Differenzen von Kulturdimensionen bei Hofstede (2001) am Beispiel Individualismus - Kollektivismus (in: Heringer 2017a, 144 f.) Mit Heringer (2017a, 143 ff.) ist kritisch nach dem Status solcher „Standards“ - oder besser gesagt Stereotype - zu fragen und ihre empirische Absiche‐ rung und Validierung zu bezweifeln. Außerdem ist augenfällig, dass sie weitgehend ohne Bezug auf sprachliche Kommunikation formuliert sind. Man kann den Schluss ziehen, dass Kulturstandards künstliche Konstrukte bleiben und überdies nicht frei von Eurozentrismus sind und sich nur sehr bedingt für die Deutung linguistischer Befunde eignen. 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 272 <?page no="273"?> Kulturkontrastive Verfahrensweisen haben, wie bereits erwähnt, der Sprachgermanistik großen Gewinn eingebracht. Dennoch bleibt es eine Her‐ ausforderung von Interkulturalität, dass diese sich primär im eigentlichen Zwischenraum der ‚Interkultur‘ herausbildet - zwischen den sich durch die Prozesse von Kontakt, Austausch und Transfer aufweichenden, wenn nicht auflösenden Grenzen von Kulturen. Ein solches Modell der Zwischenkultur hat Bolten veranschaulicht: Eigenkultur Fremdkultur Lebenswelt B Lebenswelt A Code, handlungsleitende Schemata A tradierter Wissens- & Interpretationsvorrat, »kulturelles Gedächtnis« A tradierter Wissens- & Interpretationsvorrat, »kulturelles Gedächtnis« B Code, handlungsleitende Schemata B außersprachlich verbal non-Verbal para-verbal Individuen A (Selbst-, Fremd-, Metabilder) Gesellschaft Subkulturen A (Selbst-, Fremd-, Metabilder) Individuen B (Selbst-, Fremd-, Metabilder) Gesellschaft Subkulturen B (Selbst-, Fremd-, Metabilder) Abb. VII.6: Modell der Zwischenkultur nach Bolten (1993, 113) „Das ‚Dazwischen‘ ist der Prozess oder die ‚Interkultur‘ […]. In diesem Sinne fokussiert der Begriff ‚Interkulturalität‘ immer auch Interaktionsprozesse, und er lässt sich genau genommen nicht auf ausschließlich kulturverglei‐ chende bzw. -kontrastive Ansätze anwenden“ (Bolten 1993, 113). Überschreitet man nun die Grenzen seines gewohnten eigenen Kultur‐ raumes, werden kommunikative Praktiken der Höflichkeit umso bedeut‐ samer. Diese aber müssen in jenem „dritten Raum“ oftmals erst herausge‐ funden bzw. vereinbart werden. Dabei stellt sich die zentrale Frage nach Universalität und/ oder Kulturspezifik der Höflichkeit. 7.3 Höflichkeit als Schlüsselkompetenz in der interkulturellen Kommunikation 273 <?page no="274"?> 7.3.3 Höflichkeit und interkulturelle Kompetenz Fragen wir zunächst nach einer genaueren Bestimmung von interkultureller Kompetenz, so können wir uns an einer ausführlichen Definition von Thomas orientieren: Interkulturelle Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Tole‐ ranz gegenüber Inkompatibilitäten und einer Entwicklung hin zu synergieträch‐ tigen Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und handlungswirk‐ samer Orientierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretation und Weltgestaltung. (Thomas 2003, 143) Rathje (2006) hat das Konzept der interkulturellen Kompetenz und das von Thomas hervorgehobene Ziel einer erfolgreichen Kommunikation einer kritischen Revision unterzogen und vor einem Zweckrationalismus gewarnt - eine ähnliche Argumentation, wie sie bei der Auseinandersetzung um sprachliche Höflichkeit praktiziert wurde. Rathje führt einige grundlegende „Streitpunkte“ an, die für einen zukunftsfähigen Begriff von interkultureller Kompetenz gelöst werden sollten: ▸ Zielorientierung: Verengung auf einen Zweckrationalismus vs. per‐ sönliche Weiterentwicklung der Kommunikationspartner? ▸ Generik vs. Spezifik interkultureller Kompetenz: universelle, kultur‐ übergreifende oder rein kulturspezifische Fähigkeiten? ▸ Anwendungsfelder: internationale oder eher interkollektive Interak‐ tionen? ▸ Kulturbegriffe: Homogenität vs. Heterogenität von Kulturen mit Kohäsionsorientierung? Offen bleibt auch hier die Frage, welche Rolle der Sprache und insbesondere der sprachlichen Höflichkeit beigemessen wird. Um das breite Spektrum einzelner Fähigkeiten und Fertigkeiten in verschiedene Teilkompetenzen zu gruppieren, schlagen Erll/ Gymnich (2007, 11 ff.) folgende drei Teilkom‐ petenzen vor: 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 274 <?page no="275"?> wir uns an einer ausführlichen Definition von Thomas orientieren: kulturspezifische Fähigkeiten? • Anwendungsfelder: internationale oder eher interkollektive Interaktionen? • Kulturbegriffe: Homogenität vs. Heterogenität von Kulturen mit Kohäsionsorientierung? Offen bleibt auch hier die Frage, welche Rolle der Sprache und insbesondere der sprachlichen Höflichkeit beigemessen wird. Um das breite Spektrum einzelner Fähigkeiten und Fertigkeiten in verschiedene Teilkompetenzen zu gruppieren, schlagen Erll/ Gymnich (2007, 11ff.) folgende drei Teilkompetenzen vor: Abb. VII.7: Drei Teilkompetenzen der interkulturellen Kompetenz nach Erll/ Gymnich 2007, 11 kognitive Kompetenz pragmatischkommunikative Kompetenz affektive Kompetenz Interkulturelle Kompetenz Abb. VII.7: Drei Teilkompetenzen der interkulturellen Kompetenz nach Erll/ Gymnich (2007, 11) ▸ Die kognitive Teilkompetenz umfasst demnach das Wissen über andere Kulturen, aber auch ein Metawissen über Kulturtheorien und den Punkt der Selbstreflexivität, ▸ die affektive Teilkompetenz betrifft Interesse an und Aufgeschlos‐ senheit gegenüber anderen Kulturen, Empathie und Fähigkeit des Fremdverstehens sowie Ambiguitätstoleranz, ▸ die pragmatisch-kommunikative Teilkompetenz umfasst den Einsatz geeigneter kommunikativer Muster und wirkungsvoller Konfliktlö‐ sungsstrategien. Insbesondere der dritte Punkt bleibt allerdings blass und inhaltsleer. Dem‐ gegenüber fächert Lüsebrink vergleichbar, aber differenzierter auf: ▸ Verhaltenskompetenz, ▸ Kommunikationskompetenz, ▸ Verstehenskompetenz. Für den Wirtschaftsbereich entwickelt er folgendes Modell der interkultu‐ rellen Kompetenz (2012, 9): 7.3 Höflichkeit als Schlüsselkompetenz in der interkulturellen Kommunikation 275 <?page no="276"?> affektive Dimension kognitive Dimension Fachkenntnisse in der fremden Kultur Interkulturelle Kompetenz interkulturelle Sozialkompetenz allgemein kulturelles Wissen kulturspezifisches Wissen Werbung Markterkundung Akquisition Verhandeln Korrespondenz An- und Verkauf Beratung Abb. VII.8: Interkulturelle Kompetenz (am Beispiel des Wirtschaftsbereichs) nach Lüsebrink (2012, 9) Während die affektive und die kognitive Dimension unmittelbar plausibel sind, ist hier die kommunikative Dimension am Beispiel des Wirtschafts‐ bereichs genauer aufgeschlüsselt und kann entsprechend auf andere Kom‐ munikationsbereiche übertragen werden. Unter linguistischen Aspekten können wir die kommunikative Teilkompetenz zunächst unterscheiden in: ▸ produktive Kompetenz des Sprechens und des aktiven Zuhörens und ▸ rezeptive Kompetenz der Kultursensibilisierung und des Fremdvers‐ tehens. Grundlegend aber bleibt der prozessuale Ablauf einer Interaktionssituation, die sich im Verlauf des interkulturellen Kommunikationsprozesses fortlau‐ fend verändern kann. Ein solches Phasenmodell hat Müller-Jacquier wie folgt veranschaulicht: 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 276 <?page no="277"?> Person(en) aus Kultur C1 Person(en aus Kultur C2 Einstellungen Werte Geschichte Sprache: Lexikon Sprechhandlungen Kommunikationsstile Non-verbales und paraverbales Verhalten Einstellungen Werte Geschichte Sprache: Lexikon Sprechhandlungen Kommunikationsstile Non-verbales und paraverbales Verhalten Interkulturelle Kommunikationssituation Eigenkulturelle Verhaltensschemata als Modell der Interpretation für fremdkulturelle Kommunikationshandlungen Missverständnisse; Kommunikationsziel nicht erreicht Frustration; Stress Falsche Attribuierungen (Kategorisierung des Problems) Stereotypen Mangelnde Objektivität bei der Perzeption künftiger Interkultureller Kommunikationssituation Direktkontakte mit Vertretern anderer Kulturen werden vermieden Abb. VII.9: Phasenmodell interkultureller Interaktionssituationen nach Müller-Jac‐ quier (1999, 51 f.). Hier nach der Darstellung in: Lüsebrink (2012, 53) 7.3 Höflichkeit als Schlüsselkompetenz in der interkulturellen Kommunikation 277 <?page no="278"?> Das Schema soll verdeutlichen, dass jede interkulturelle Kommunikati‐ onssituation von den kulturell geprägten Sprech- und Handlungskonven‐ tionen der Interaktionspartner beeinflusst wird, diese müssen jedoch im Verlauf des interkulturellen Kommunikationsprozesses fortlaufend situativ verändert und angepasst werden, was das Modell für einen negativen Bei‐ spielfall veranschaulicht. Durch inadäquate Interpretationen des Verhaltens des Kommunikationspartners/ der Kommunikationspartnerin, etwa durch den Rückgriff auf stereotype psychologisierende Interpretationen oder eben auch durch Übertragung eigenkultureller Muster, kann es dagegen im Verlauf des Interaktionsprozesses zu Missverständnissen oder gar zum Abbruch der Kommunikation kommen. Das Modell legt allerdings einen solchen negativen Verlauf zu stark nahe; eine Kommunikationsvermeidung muss sich durchaus nicht zwangsläufig ergeben. Allerdings steht auch bei diesem Phasenmodell das Missverständnis in kritischen Kommunikationssituationen im Mittelpunkt. Prinzipiell könnte man demnach die These aufstellen, dass interkulturelle Kommunikation per se kritisch ist und das Verstehen eher den Ausnahmefall und nicht den Normalfall darstellt. Aber in Wirklichkeit ist interkulturelle Kommunikation ja in den meisten Fällen erfolgreich und ausgesprochen bereichernd für alle Beteiligten. Schließlich ist zu betonen, dass interkulturelle Kommunikationssituati‐ onen nicht nur zu sprachlichen „Fettnäpfchen“, Konflikten und Missver‐ ständnissen führen, sondern auch produktive Momente neuer Erkenntnisse hervorbringen können. Dieser Gedanke kommt im Konzept der „Hotspots“ von Michael Agar (1994) besonders gut zur Geltung. Heringer führt sie folgendermaßen ein: Heiße Momente sind in der interkulturellen Kommunikation an der Tagesord‐ nung [und zwar] so zahlreich, […] so verbreitet, dass man sie nicht auf Vorrat bewältigen kann. Man kann sich nur sensibilisieren und methodisch darauf vorbereiten. Denn zuerst gilt es einmal sie zu erkennen, zu realisieren, dass ein Kommunikationsproblem vorliegt. (Heringer 2017a, 161) 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 278 <?page no="279"?> Abb. VII.10: Hotspots nach Agar (1994, 100), Darstellung von Heringer (2017a, 161) Stellen wir uns z. B. eine interkulturelle Begegnung im Rahmen einer Einla‐ dungssituation vor, so öffnen sich zahlreiche interkulturelle „Fallen“ oder „Fettnäpfchen“, beginnend mit der Wahl einer Begrüßungsformel, der An‐ redeform, des Körperkontakts (Händeschütteln? ), der Gesprächseröffnung bis zur Auswahl einzelner Sprechhandlungen und natürlich Themenschwer‐ punkte. Hotspots sind nach Agar zugleich aber auch Rich Points. Heringer betont: Rich Points sind reich. weil sie Einsichten in Kulturen verschaffen; weil sie uns eigene Erwartungen überprüfen lehren; weil man sie kommunikativ bearbeiten kann. (Heringer 2017a, 162) Damit aber wendet sich die Perspektive, indem in den möglichen Problemen der Kommunikation zugleich auch Chancen gesehen werden, Sprach- und Kulturbewusstheit zu wecken, und nach Möglichkeiten z. B. der metakom‐ munikativen Bearbeitung zu suchen. 7.3 Höflichkeit als Schlüsselkompetenz in der interkulturellen Kommunikation 279 <?page no="280"?> Wir gehen davon aus, dass sprachliche Höflichkeit in der interkulturellen Kommunikation einen zentralen Stellenwert als Schlüsselkompetenz ein‐ nimmt und eine hohe Sprach- und Kommunikationskompetenz sowie die Einsicht in kulturspezifische Gebrauchsnormen einschließlich intrakultu‐ reller Differenzen voraussetzt. Höflichkeit ist dann - in den Worten des Kulturwissenschaftlers Thomas Macho: „die Sprache der Weltgesellschaft“ (2002, 9). 7.4 Höflichkeit in interkulturellen Trainingsprogrammen Sucht man auf dem freien Markt und im Internet nach interkulturellen Kommunikationstrainings, so fällt eine ganze Reihe von Angeboten auf (vgl. dazu auch Simon 2011). Sie lassen sich zunächst vor allem unter dem Aspekt der Zielgruppenorientierung unterscheiden. 7.4.1 Diversität der Zielgruppen versus Universalität der Kulturen Die meisten Programme richten sich allgemein an Unternehmen wie z. B. Kommunikationstraining für Fach- und Führungskräfte (www.ime-sem inare.de); Interkulturelle Kommunikation und Kompetenztraining erweitert Ihr Wissen, wie Menschen auf dem globalen Marktplatz denken, agieren und Geschäftsbeziehungen pflegen! (Interkulturelle Kommunikation-Lingu‐ arama); Kommunikationstrainings für die Steigerung der Arbeitseffizienz in internationalen Kontexten (www.bccm-web.com). Daneben gibt es aber auch spezielle Angebote z. B. für Bahn- und Fluggesellschaften. Anbieter sind Consulting-Unternehmen und Weiterbildungsinstitutionen; schließlich sind diese Programme auch ein lukratives Geschäft. Differenziert werden geschlechtertypische Angebote für Frauen bzw. für Männer, für spezifische Zielgruppen wie z. B. MedizinerInnen oder für Verwaltungsangestellte; seit einigen Jahren wird auch dem Migrationskontext stärkere Aufmerksamkeit zuteil, etwa in Deeskalationstrainings im Kontext der Flüchtlingsarbeit. Die meisten Programmangebote verstehen sich als kulturübergreifende Trainings, Coaching- und Cultural Diversity Management für internatio‐ nale Unternehmen, Hochschulen, öffentliche Einrichtungen, Non-Profit-Or‐ ganisationen sowie kulturelle Lebensgestaltung für Privatpersonen. Alle Angebote betonen die Relevanz der interkulturellen Kompetenz als Schlüsselkompetenz und bieten überdies spezielle Trainings an, wie Füh‐ 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 280 <?page no="281"?> rungskräftetraining, Konfliktmanagement, Selbstmarketing, Teambuilding, Zeitmanagement, wobei aus Kommunikationstraining schnell ein Lebens‐ hilfeversprechen wird. Einige wenige Angebote sind kulturspezifisch ausgerichtet wie z.B.: Interkulturelle Kommunikation Japan (japankoncept.de) oder Indien (viney‐ lugani.de). Halten wir zusammenfassend fest, dass das Trainingsangebot mit dem Attribut interkulturell weitgehend eine Differenzierung der Ziel‐ gruppen auf der einen Seite, eine Universalität der Inhalte auf der anderen Seite aufweist. 7.4.2 Vielzahl von Übungstypen und wenig Sprachliches Einzelne Programme weisen eine Vielzahl von Übungstypen auf, was die Dominanz der Methodik belegt. Hiller/ Vogler-Lipp (2010) führen in ihrem Trainingskonzept für Hochschulen folgende Verfahren auf: ▸ interaktive und selbstreflexive Verfahren, ▸ produktionsorientierte und analytische Verfahren, ▸ meditative und simulative Verfahren. Diese sind jeweils noch einmal unterteilt. Unter den interaktiven Verfahren werden „Kommunikationsübungen“ aufgezählt wie z.B.: ▸ der „interkulturelle Früchtesalat“, wo es um das Dekodieren von unbekannten Wörtern durch Befragung einer anderen Gruppe geht, ▸ oder auch „Sprachanimationen“ wie z. B. „Schenk mir einen Buch‐ staben“, wo gemeinsame Buchstaben in Vornamen gesucht werden sollen, ▸ unter den analytischen Verfahren findet sich z. B. „Nice to greet you“, wo filmisch dargestellte Begrüßungssituationen im interkulturellen Erstkontakt beobachtet und ausgewertet werden. Diese Aufgaben beziehen sich zwar auf Sprachliches und mögen sich für den Fremdsprachenerwerb eignen, jedoch vermitteln sie nur bedingt ein Wissen über interkulturelle Sprach- und Kommunikationsdifferenzen. Lernziele zur sprachlichen Höflichkeit werden nicht explizit formuliert. Betrachten wir nun genauer diejenigen Programme bzw. Aufgabentypen, die sich explizit mit Sprache beschäftigen. Müller-Jacquier (1999, 48 ff.) hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei den Zielen von interkulturellen Trainingskonzepten nicht nur um psychologisch-pädago‐ 7.4 Höflichkeit in interkulturellen Trainingsprogrammen 281 <?page no="282"?> gische Einsichten in unterschiedliche Wertorientierungen handeln kann; vielmehr sollte es um konkrete verbale und nonverbale Interaktionshand‐ lungen, deren linguistische Analyse und kommunikative Deutung gehen. Zur Veranschaulichung der Relevanz von Sprache zitiert er ein Beispiel von Knapp, wonach britische Probanden ihre deutschen Arbeitskollegen als „sehr unfreundlich-direkt“ und „aggressiv“ beschreiben, da sie so selten ein please nach Bitten oder Aufforderungen einsetzten […] statt anzuerkennen, dass ihr Eindruck der Unhöflichkeit aus den an‐ deren Kommunikationskonventionen in Deutschland erwächst, gingen die Infor‐ manten unisono davon aus, dass die Deutschen die im Vergleich zu den Briten direkteren Sprechaktrealisierungen deshalb machen, weil sie unhöflicher sind. (Knapp 1989, 9, zit. in Müller-Jacquier 1999, 50) Sie psychologisieren und messen im Sinne eines „Mehr oder Weniger“ von einem Standard, der dazu noch der Eigenkultur entnommen ist. Kulturelle Zugehörigkeiten im Sprachgebrauch aufzudecken, ist hingegen Ziel des von Müller-Jacquier entwickelten Trainingskonzepts Linguistic Awareness of Cultures (LAC). Dabei wurde ein Analyseraster aus den folgenden zehn Komponenten erarbeitet: […] statt anzuerkennen, dass ihr Eindruck der Unhöflichkeit aus den anderen Kommunikationskonventionen in Deutschland erwächst, gingen die Informanten unisono davon aus, dass die Deutschen die im Vergleich zu den Briten direkteren Sprechaktrealisierungen deshalb machen, weil sie unhöflicher sind. (Knapp 1989, 9, zit. in Müller-Jacquier 1999, 50) Sie psychologisieren und messen im Sinne eines „Mehr oder Weniger“ von einem Standard, der dazu noch der Eigenkultur entnommen ist. Kulturelle Zugehörigkeiten im Sprachgebrauch aufzudecken, ist hingegen Ziel des von Müller-Jacquier entwickelten Trainingskonzepts Linguistic Awareness of Cultures (LAC). Dabei wurde ein Analyseraster aus den folgenden zehn Komponenten erarbeitet: Analyseraster: Übersicht über die Komponenten zur Analyse interkultureller Kommunikation Soziale Bedeutungen/ Lexikon Sprechhandlungen/ Sprechhandlungssequenzen Gesprächsorganisation: Konventionen des Diskursablaufs Themen Direktheit/ Indirektheit Register Paraverbale Faktoren Nonverbale Faktoren Kulturspezifische Werte/ Einstellungen Kulturspezifische Handlungen (einschließlich der Rituale) und Handlungssequenzen. Abb. VII.11: Analyseraster für interkulturelle Kommunikation nach Müller-Jacquier 1999, 56, vgl auch Lüsebrink 2012, 52 Speziell die Stilkategorie: Direktheit/ Indirektheit ist eng und zum Teil kulturübergreifend mit der Versprachlichung von Höflichkeit verbunden. Aber auch andere Kategorien erweisen sich im Kontext bestimmter Interaktionssituationen als höflichkeitsrelevant: So kann die Äußerung: Ich krieg erst mal ’n Bier, aber ’n großes! in einem deutschen Restaurant als nicht besonders höfliche, aber nicht unübliche Feststellung mit Aufforderungscharakter verstanden werden; in anderen, z.B. französischsprachigen oder Schweizer Kontexten würde sie dagegen eher vermieden und eine höfliche Bitte für angebrachter gehalten werden. In einem Trainingsmodul für Erfolgreich in der interkulturellen Kommunikation (vgl. Eismann 2008, 19) sollen kulturabhängige Konventionen und Wertungen im Falle eines Nicht- Einverständnisses mit einer vorgeschlagenen Lösung anhand der beiden folgenden Antwortmöglichkeiten veranschaulicht werden: A: „Ich halte diese Lösung für ungeeignet.“ B: „Ja, das ist ein ausgezeichneter Vorschlag. Vielleicht könnte man auch folgende Lösung noch in Erwägung ziehen: …“ A könnte in entsprechenden deutschsprachigen Kontexten für unhöflich und abweisend gehalten werden, während sie in anderen Kulturen als klar und ehrlich eingeschätzt werden könnte; B kann als klar und ehrlich oder auch als höflich oder unnatürlich empfunden werden. Im beruflichen Alltag können solche Wertungen mit erheblichen Konsequenzen verbunden sein. Abb. VII.11: Analyseraster für interkulturelle Kommunikation nach Müller-Jacquier (1999, 56), vgl. auch Lüsebrink (2012, 52) Speziell die Stilkategorie Direktheit/ Indirektheit ist eng und zum Teil kultur‐ übergreifend mit der Versprachlichung von Höflichkeit verbunden. Aber auch andere Kategorien erweisen sich im Kontext bestimmter Interaktions‐ situationen als höflichkeitsrelevant: So kann die Äußerung Ich krieg erst mal 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 282 <?page no="283"?> ’n Bier, aber ’n großes! in einem deutschen Restaurant als nicht besonders höfliche, aber nicht unübliche Feststellung mit Aufforderungscharakter verstanden werden; in anderen, z. B. französischsprachigen oder Schweizer Kontexten würde sie dagegen eher vermieden und eine höfliche Bitte für angebrachter gehalten werden. In einem Trainingsmodul für Erfolgreich in der interkulturellen Kommu‐ nikation (vgl. Eismann 2008, 19) sollen kulturabhängige Konventionen und Wertungen im Falle eines Nicht-Einverständnisses mit einer vorge‐ schlagenen Lösung anhand der beiden folgenden Antwortmöglichkeiten veranschaulicht werden: A: „Ich halte diese Lösung für ungeeignet.“ B: „Ja, das ist ein ausgezeichneter Vorschlag. Vielleicht könnte man auch folgende Lösung noch in Erwägung ziehen: …“ A könnte in entsprechenden deutschsprachigen Kontexten für unhöflich und abweisend gehalten werden, während sie in anderen Kulturen als klar und ehrlich eingeschätzt werden könnte; B kann als klar und ehrlich oder auch als höflich oder unnatürlich empfunden werden. Im beruflichen Alltag können solche Wertungen mit erheblichen Konsequenzen verbunden sein. Einige sprachbezogene Ansätze seien im Folgenden angeführt: Linguistic Awareness of Cultures: Darunter versteht der Autor in linguistischen Erscheinungsweisen von Grammatik und Lexikon bzw. non‐ verbaler Kommunikation verborgene kulturelle Differenzen, die explizit oder implizit sprecher- oder hörerseitig auftreten können. Das LAC-Konzept führt einen interaktionistischen Analyseansatz von zumeist als critical incidents auftretenden Kommunikationssituationen mithilfe einzelsprach‐ übergreifender linguistischer Bestimmungskategorien an (Müller-Jacquier 2000, 24 ff.). Im Unterschied zu einem kontrastiven Vergleich von linguis‐ tischen Aspekten innerhalb der verschiedenen Kulturen geht es hierbei insbesondere um den Umgang mit den Auswirkungen unterschiedlicher sprachlich-kommunikativer Gewohnheiten in der interkulturellen Interak‐ tion. Nehmen wir die Situation eines Arbeitstreffens mit französischen und deutschen TeilnehmerInnen. Während französische TeilnehmerInnen in multikulturellen Gesprächen in der Anfangsphase gern in eine unernste, personenbezogene Ebene von witzigen Kommentaren über die Situation, den Kontext oder auch das Thema bzw. Problem wechseln, können viele Deutsche dieses Verhalten, besonders in Erstbegegnungen, nicht ein‐ schätzen und bewerten es als deplatziert: „Es ist jetzt nicht an der Zeit, 7.4 Höflichkeit in interkulturellen Trainingsprogrammen 283 <?page no="284"?> Witze zu machen! “ Damit weisen sie nicht den Humor als solchen, sondern sein Auftreten zu einem ungewohnten Zeitpunkt im Diskursverlauf zurück und verkennen dabei die beziehungskonstituierende Funktion eines solchen Gesprächsverhaltens (Müller-Jacquier 1999, 30). Was hier zu Gesprächsorganisation und zu Gesprächsstilen in verschie‐ denen Gesprächsphasen angemerkt wurde, lässt sich in ähnlicher Weise für andere interaktionsbezogene Variablen, wie z. B. Themen- und Register‐ wahl, zeigen. Das Bewusstmachen der Regelhaftigkeit von Alltagsinterakti‐ onen kann für den Fremdsprachenunterricht ebenso wie für interkulturelle Trainings produktiv gemacht werden. Simulation authentischer Fälle (SAF): Bei diesem interkulturellen Trainingskonzept geht es insbesondere um die Fähigkeit, fremde Sicht‐ weisen zu übernehmen und in die eigene zu integrieren. Das SAF-Verfahren bietet eine Möglichkeit, automatisierte Interpretationsmuster durch einen Reflexionsprozess zu deautomatisieren und in eine problembewusste und -lösende Fähigkeit umzuwandeln (Lambertini/ ten Thije 2004, 75). Der reale Fall soll stets latente Konflikte, Ineffizienz oder eine unbefriedigende Kom‐ munikation aufweisen. Im Unterschied zu Rollenspielen geht es bei diesem Verfahren aus der angewandten Gesprächsforschung um einen Ernstfall‐ charakter, der eine größere Betroffenheit erzeugen kann. Der Einsatz dieses Trainingsverfahrens setzt die Vermittlung von fachlichem Wissen über den bestimmten Anwendungsbereich, z. B. der BürgerInnen-Verwaltungs-Kom‐ munikation, voraus. Eine genaue Transkriptanalyse am Ende des Trainings ermöglicht die Erarbeitung von Handlungsalternativen seitens der Institutionsvertreter und der Klienten und Klientinnen. Ein solches Trainingsverfahren setzt eine hohe sprachliche Sensibilität und die Bereitschaft zu mikroanalytischer linguistischer Kleinarbeit voraus. Diskursanalytischer Trainingsansatz: Auch das diskursanalytische Trainingskonzept ist interaktionsorientiert, zugleich setzt es aber auch Informationen über Sprache und Kommunikation voraus, die für die Analyse von Beispielfällen nötig sind. Es geht auch hier um dokumentierte authen‐ tische Interaktionen, die sprachliche Probleme beinhalten, die der Analyse und Optimierung bedürfen. Auch hier geht es in den meisten Beispielen um Fälle der Kommunikation in einer AusländerInnenbehörde. Für die Analyse eines solchen Gesprächs ist Musterwissen wesentlich, z. B. für die Position Datenabfrage oder auch Anliegensformulierung. Die Autoren‐ gruppe (Liedke-Göbel et al. 1999) hat aus ihren Ergebnissen ein spezifisches 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 284 <?page no="285"?> Trainingsprogramm für SachbearbeiterInnen in AusländerInnenbehörden entwickelt, das auf verschiedene Methoden zurückgreift, darunter: gesteu‐ erte Transskriptarbeit und Rollenspiele, in denen Höflichkeit eine besondere Bedeutung hat. 7.4.3 Höflichkeit in critical incidents Zum Abschluss sei schließlich ein Verfahren aufgegriffen, das zur Pro‐ duktion von sprach- und kommunikationsbezogenen Aufgabenformaten genutzt werden kann: der Umgang mit critical incidents. Die Methode der kritischen Ereignisse (Critical Incident Technique CIT) geht zurück auf den amerikanischen Psychologen John C. Flanagan (1954) und wurde ursprünglich als Beobachtungsmethode in Studien zur Analyse von Berufsfeldern und Arbeitstätigkeiten eingesetzt, um menschliches Ver‐ halten in Problemsituationen zu beobachten und Prognosen für erfolgsver‐ sprechendes Verhalten zu ermöglichen. Eine Übertragung dieser Methode in interkulturelle Kommunikationstrainings (vgl. dazu auch Heringer 2012, 75 ff.) setzt verschiedene Bedingungen voraus, u.a.: ▸ Eine Konstruktion von quasi-authentischen Kommunikationssitua‐ tionen, die kritisch für die jeweilige Probandengruppe und ihren spezifischen Erfahrungskontext ist. ▸ Eine Situation, die Spielräume für unterschiedliche sprachliche Hand‐ lungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Auswirkungen offen lässt: Es gibt keine „richtige“ Lösung, wie am Beispiel der folgenden Studie gezeigt werden kann. Eine Studie zur interkulturellen Kommunikation (vgl. Neuland 2009) mit studentischen DeutschlernerInnen aus verschiedenen Herkunftskulturen (neben Deutschland u. a. Italien, Finnland, Polen, Russland, Ägypten) an der Bergischen Universität Wuppertal soll hier als Beispiel näher vorgestellt werden. Dabei wurden z. B. die folgenden kritischen Kommunikationssitu‐ ationen mit in sozialem Rang und Vertrautheit je unterschiedlichen Adres‐ satInnen eingeführt: „Stellen Sie sich vor, Sie wären als AustauschstudentIn zu Gast an einer Universität in Deutschland. Dort erleben Sie folgende Situationen“: Sieben kritische Situationen wurden gendertypisch differenziert; sie lauten (157 ff.): 7.4 Höflichkeit in interkulturellen Trainingsprogrammen 285 <?page no="286"?> 1. Die versalzene Suppe bei einer Einladung a) eines Professors/ einer Professorin b) eines guten Freundes/ einer guten Freundin 2. Die von einem/ einer FreundIn vergessene Leihgabe 3. Der letzte freie Platz im Seminarraum 4. Die schlechte Beurteilung durch einen/ eine ProfessorIn 5. Der unangenehme Körpergeruch eines guten Freundes/ einer guten Freundin 6. Die neue (unvorteilhafte) Frisur eines/ einer Bekannten 7. Ein erstes Treffen mit einem sympathischen Kommilitonen/ einer sympathischen Kommilitonin. Den Situationsbeschreibungen im Test folgen in der Mehrzahl jeweils fünf vorformulierte Beispieläußerungen, die aus Voruntersuchungen mit Studie‐ renden gewonnen wurden. Die ProbandInnen sollten auf einer fünfstufigen Likert-Skala einschätzen, ob sie eine solche Formulierung wählen oder nicht wählen würden. In einer offenen Antwortkategorie kann jeweils eine freie Antwort eingetragen werden, die zur Interpretation der Befunde genutzt werden kann. Schließlich wurde bei jeder Aufgabe noch danach gefragt, wie sich die ProbandInnen in ihrem Herkunftsland und in ihrer eigenen Sprache in einer solchen Situation verhalten würden. Die Konstruktion dieser kritischen Situationen erlaubt die Einführung und Kontrolle bestimmter Variablen, die als unabhängige Variablen Bedin‐ gungen des Interaktionskontextes darstellen. Diese kritischen Situationen werden bezogen auf den akademischen Erfahrungsbereich als relativ kultur‐ fair konstruiert; sie lassen sich nach folgenden vier Aspekten unterscheiden (Neuland 2009, 158): Situative Variable 1: Kontext 1.1 privat-informell 1.2 öffentlich-formell Situative Variable 2: Handlungsbereich 2.1 objektives/ objektivierbares Problem: Schaden, Nachteil 2.2 subjektives Problem: Empfinden, Gefallen Personale Variable 3: sozialer Rang 3.1 symmetrisch 3.2 asymmetrisch 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 286 <?page no="287"?> Personale Variable 4: soziale Nähe 4.1 befreundet 4.2 bekannt Mithilfe folgender Analysekriterien wurden die Antworten der Proban‐ dInnen klassifiziert (Neuland 2009, 159): 1. Direkte Kritik (DK) 2. Indirekte Kritik (IK) 3. Direkte Aufforderung (DA) 4. Indirekte Aufforderung (IA) 5. Kompromissvorschlag (KV) 6. Konsensorientierung (KO) 7. Ausweichstrategien (AS) 8. Minimalisierungsstrategie (MS) 9. Witz, Ironie (WI) 10. unechtes Lob (L), auch „Notlüge“. Zusammenfassend seien zwei Tendenzen in den Ergebnissen hervorge‐ hoben: ▸ In formelleren, berufsbezogenen Situationen werden gegenüber einem/ einer ranghöheren GesprächspartnerIn (z. B. Aufgabe CI 1b: Die versalzene Suppe: DozentIn als GastgeberIn, sowie Aufgabe CI 4: Schlechte Beurteilung einer Hausarbeit durch eine/ n DozentIn) di‐ rekte Formen der Kritik vermieden und Formulierungen von Lob, Ausweichstrategien und indirekter Kritik bevorzugt. ▸ In informelleren Situationen mit gleichgestellten, befreundeten Kom‐ munikationspartnerInnen (z. B. Aufgabe CI 1b: Die versalzene Suppe: FreundIn als GastgeberIn, sowie Aufgabe CI 5: Der unangenehme Körpergeruch eines guten Freundes/ einer guten FreundIn oder Aufgabe CI 6: Die neue unvorteilhafte Frisur eines/ einer Bekannten) ist die Bandbreite kritischer Kommentare dagegen größer, wenn auch Witz und indirekte Formen von Kritik überwiegen. Aus den Fragebogendaten lassen sich nun Häufigkeitsverteilungen der einzelnen Sprachhandlungskategorien in den verschiedenen Aufgaben be‐ rechnen und z. B. kontrastive Präferenzprofile konstruieren. Folgende Ten‐ denzen (Neuland 2009, 165) lassen sich festhalten (alle Zitate in Originalor‐ thographie): 7.4 Höflichkeit in interkulturellen Trainingsprogrammen 287 <?page no="288"?> ▸ Formen direkter Kritik werden generell von allen Gruppen in starkem Ausmaß vermieden, von den DaF-LernerInnen allerdings noch stärker als von den deutschsprachigen ProbandInnen. ▸ Formen indirekter Kritik werden nicht ganz so stark vermieden, in diesem Falle am wenigsten von der italienischen Gruppe: „Bei einem Freund kann man einfach die Wahrheit sagen: Freund, es gibt zu viel Salz! Machen wir eine Pasta! Bei einem Dozent soll man essen. Es ist besser nichts sagen! “ (Italienischer Proband in CI 1). ▸ Direkte und indirekte Aufforderungen werden ebenfalls vermieden, von der deutschen Gruppe allerdings am wenigsten ausgeprägt: „Könnten Sie Ihr Urteil nicht etwas korrigieren? “ (in CI 4). ▸ Die Ausweichstrategie weist den größten interkulturellen Unterschied auf. Sie wird von der deutschen Gruppe stark vermieden, von den fremdsprachigen Gruppen hingegen nur minimal: „Ich entschuldige mich höflich, dass der Arzt mir befohlen hat, Speisen mit weniger Salz zu essen“ (ägyptischer Proband in CI 1a mit Professor). ▸ Minimalisierungsstrategien weisen hingegen nur leichte Unterschiede bei negativen Präferenzwerten auf; bei der finnischen Gruppe treten sie am stärksten auf: „Das macht doch nichts, Haare wachsen so schnell wieder nach“ (in CI 6). ▸ Witzige Äußerungsformen werden von den DaF-Lernern stärker als von der deutschen Gruppe gemieden („Bist Du verliebt? “ deutscher Proband in CI 1 mit Freund), während lobende Äußerungen in der deutschen Gruppe seltener als bei den DaF-Lernern auftreten: „Wow! Du siehst wirklich bezaubernd aus … Ich möchte auch diese Frisur“ (italienische Probandin in C 6). Als Gesamttendenz kann festgehalten werden, dass sich in dieser Studie die DaF-LernerInnen aus Italien und auch die aus Finnland in besonderer Weise um höflichere bzw. für höflicher gehaltene Umgangsformen im Deutschen bemühen und in kritischen Situationen eher zu ausweichenden und lobenden Äußerungsformen greifen als die deutschen ProbandInnen. Die Tatsache, dass die ProbandInnen eher die negativen als die positiven Präferenzwerte ankreuzen, spricht für die Wirkung der kritischen Kommu‐ nikationssituationen (CIs), denn in der Regel fällt es leichter, „falsche“ Reaktionen zu vermeiden als „richtige“ zu bevorzugen. Bei relativ großer interkultureller Übereinstimmung im sprachlichen Höf‐ lichkeitsverhalten werden allerdings auch kulturelle Differenzen sichtbar: 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 288 <?page no="289"?> So weist die finnische Gruppe stets noch einen höheren Vermeidungsgrad der Direktheit von Äußerungen auf als die italienische, daneben werden aber auch beschwichtigende und witzige Äußerungen stärker vermieden. Bemerkenswert ist dieses Ergebnis aber auch deshalb, weil es sich um relativ homogene ProbandInnengruppen mit vergleichbarem Status und Erfahrungsraum handelt. Auch können die kulturtypischen Differenzen kaum auf mangelnde Sprachkompetenzen zurückgeführt werden, da sich die ProbandInnengruppen durch ein hohes Niveau an Sprach- und Kommu‐ nikationskompetenz im Deutschen auszeichnen. Die Realisierungsformen sprachlicher Höflichkeit spiegeln damit zweifellos kulturgebundene Wert‐ vorstellungen wider. Diese Methode ist zwar mit gewissen Einschränkungen verbunden, da auf diese Weise nur eine unidirektionale und keine interaktive Erfassung des Umgangs mit sprachlicher Höflichkeit möglich ist und die Deutung schrift‐ lich formulierter Antworten in der Dimension von Ernst/ Unernst/ Ironie nicht exakt vorgenommen werden kann. Eine solche Studie kann daher die ethnographische Beschreibung oder soziolinguistische Analyse von spon‐ taner mündlicher Alltagskommunikation keineswegs ersetzen. Allerdings erfolgen diese zumeist im Rahmen von Einzelfallstudien und ermöglichen daher streng genommen kaum kulturkontrastive Ausarbeitungen. Genau darin liegen die Vorteile dieser Methode, die zugleich empirische Validität sowie effektive Auswertbarkeit gewährleistet. Im Hinblick auf interkulturelle Kommunikationstrainings sowie auf den DaF-Unterricht lässt sich schlussfolgern, dass solche Verfahrensweisen und Befunde Chancen zur Vermittlung reflektierter Höflichkeit für verschiedene Zielgruppen darstellen können. Ein „angemessener“ Umgang mit Höflichkeit sollte im didaktischen Kontext stets einen gewissen Ermessensspielraum und eine Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten für die sprachliche Realisierung von Höflich‐ keitsstilen aufzeigen. Das Bewusstmachen unterschiedlicher Sprachhand‐ lungsmöglichkeiten kann den LernerInnen ein Spektrum eröffnen und Arbeit am sprachlichen Detail ermöglichen. Interkulturelle Erfahrungen bieten für solche Reflexionen hervorra‐ gende Anlässe. Wie die Studie zeigt, haben DaF-LernerInnen aus ver‐ schiedenen Kulturen bereits transkulturelle Vorerfahrungen über kultur‐ typische Umgangsformen im studentisch-akademischen Bereich durch Medien, Internet und Aufenthalte in der Zielkultur gewonnen. Auch haben sie ein Wissen über die Koexistenz intrakulturell unterschiedlicher 7.4 Höflichkeit in interkulturellen Trainingsprogrammen 289 <?page no="290"?> Höflichkeitsformen in der eigenen Kultur und über Folgen kulturellen Wandels erworben. All dies sind Chancen zur Vermittlung reflektierter Höflichkeit im DaF-Unterricht. 7.5 Lässt sich Höflichkeit erlernen? Sprachdidaktische Perspektiven Bei der Frage nach sprachdidaktischen Perspektiven geht es im Folgenden vorrangig um den schulischen Sprachunterricht. Die gleiche Frage stellt sich aber auch für die Entwicklung und Anwendung von Trainingsprogrammen und für die Fort- und Weiterbildung; darauf können wir hier leider nicht eingehen. 7.5.1 Höflichkeit als Lernziel in der Sprachdidaktik Man sollte davon ausgehen, dass in Zeiten multikultureller Schülerschaften Konzepte eines multikulturellen Sprachunterrichts eine Selbstverständlich‐ keit darstellen, doch erweist sich diese Annahme leider als falsch. Die letzte große Rahmenorientierung des kommunikativen Sprachunterrichts und des sprachlichen Handelns hat sich zwar mit dem Lernziel der kommu‐ nikativen Kompetenz von einem normativen Bildungsziel verabschiedet und Mehrsprachigkeit der Lernenden respektiert, doch ist die interkulturelle Kompetenz nicht zu einem neuen Leitziel aufgerückt (vgl. dazu Neuland/ Peschel 2013, 37 ff.; DU 3/ 2019). Betrachten wir zunächst die Rahmenvorgaben für den Unterricht Deutsch als Muttersprache und den Unterricht Deutsch als Fremdsprache, speziell für das Lernziel ‚sprachliche Höflichkeit‘. Wenn man den Umgang mit sprachlicher Höflichkeit im Sprachunterricht genauer verfolgen will, ist zunächst nach den allgemeinen Vorgaben zu fragen. Diese werden in allgemeiner Form in den Beschlüssen der Kultus‐ ministerkonferenz festgehalten, von denen hier die Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss (KMK 2003) sowie für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) berücksichtigt werden sollen. Das Fach Deutsch ist hier in verschiedene Kompetenzbereiche aufgegliedert, von denen zunächst der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören einschlägig ist. Hier heißt es für den Mittleren Schulabschluss: 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 290 <?page no="291"?> „Die Schülerinnen und Schüler […] verfügen über eine Gesprächskultur, die von aufmerksamem Zuhören und respektvollem Gesprächsverhalten geprägt ist“ (KMK 2003, 8). In den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschul‐ reife (KMK 2012, 15) wird im Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören formuliert: „Die Schülerinnen und Schüler können in ihren Gesprächen auf Verständigung zielen und respektvolles Gesprächsverhalten zeigen“. Weiter heißt es in diesem Text unter dem Aspekt Dialogische Gesprächs‐ formen: mit anderen sprechen: „Die Schülerinnen und Schüler können nach Geboten der Fairness kommunizieren und Strategien unfairer Kommunika‐ tion erkennen“ (KMK 2012, 16). Beim Schreiben geht es um das eigenständige, zielgerichtete, situations- und adressatenbezogene und sprachlich differenziert gestaltende Verfassen von Texten (9). Zum Kompetenzbereich Schreiben heißt es: „Die Schüle‐ rinnen und Schüler verfassen inhaltlich angemessene kohärente Texte, die sie […] adressaten- und zielorientiert […] und stilistisch stimmig gestalten“ (16). Im Kompetenzbereich Sprache und Sprachgebrauch reflektieren heißt es u.a.: „Die Schülerinnen und Schüler können Bedingungen gelingender Kommunikation analysieren […]“ (20). Aus diesen Formulierungen wird erkennbar, dass Höflichkeit nicht als Lernziel eigenen Rechts auftritt, sondern sich vielmehr hinter Formulie‐ rungen wie „adressaten- und zielorientiert“, „stilistisch angemessen“, „re‐ spektvoll und fair“ verbirgt. Unterrichtseinheiten zur sprachlichen Höflich‐ keit müssen Lehrkräfte aber selbst einbringen und gegebenenfalls auch entwickeln. Die fachdidaktische Literatur hält dafür leider nur wenige Anregungen bereit. Eine Ausnahme bildete bereits im Jahr 2003 ein Themenheft der Zeit‐ schrift Praxis Deutsch, das dem Thema sprachliche Höflichkeit gewidmet war. Im Basisartikel von Dieckmann et al. wird die Unterscheidung zwi‐ schen einer inneren Seite der Einstellung und einer äußeren Seite, der soziokulturell gebundenen Formen von Höflichkeit eingeführt. Auch wird zwischen Höflichkeit und Distanz versus Vertrautheit unterschieden, auf den Zusammenhang zwischen Höflichkeit und Indirektheit hingewiesen, und es werden einige lexikalische und grammatische sprachliche Mittel angeführt. Im unterrichtspraktischen Teil werden einzelne Projekte für die verschiedenen Schulstufen vorgestellt, z. B. eine Einführung ins höfliche Sprechen an Beispielen von Fragen, Bitten und Forderungen (Menzel) 7.5 Lässt sich Höflichkeit erlernen? Sprachdidaktische Perspektiven 291 <?page no="292"?> oder Kulturkontakt und Höflichkeit am Beispiel des Benimms an fremden Tischen (Oomen-Welke), wodurch interkulturelle Differenzen höflicher Verhaltensweisen für die frühe Sekundarstufe I veranschaulicht werden. Weiterhin geht es um verbale und nonverbale Formen von Höflichkeit (Seidel) und Höflichkeit im Internet (Androutsopoulos), einschließlich einer Problematisierung von Netiketten und Gruppennormen. Für die Sekundar‐ stufe II wird eine Geschichte des Nachdenkens über Höflichkeit empfohlen (Bremerich-Vos). Erst Jahre später nimmt die Zeitschrift Der Deutschunterricht das Thema mit einem Themenheft zu Sprachliche Höflichkeit wieder auf (DU 2/ 2011). Hier finden sich linguistisch orientierte Beiträge zu vergleichenden Höf‐ lichkeitsstilen (Lüger), TV-Talkshows (Ehrhardt), Internetforen und E-Mails (Spiegel/ Kleinberger), kulturellen Missverständnissen (Liedtke) und ein Beitrag zum Unterricht. Grossmann kommt in ihrem Überblick über bestehende Materialien zu dem Schluss, dass in der Grundschule die Behandlung von Höflichkeit verhaltensregulierend und normativ ausgerichtet ist und somit die Unter‐ richtskommunikation erleichtern soll. Zu Beginn der Sekundarstufe wird in den Klassenstufen 5 und 6 das Thema häufiger implizit angesprochen, vor allem beim Verfassen von Briefen, beim Aufstellen von Gesprächsregeln und bei der situationsadäquaten Formulierung von Bitten und Aufforderungen. In den folgenden Klassenstufen ist eine Zunahme reflexiver Aspekte im Umgang mit Höflichkeit zu beachten, für die gymnasiale Oberstufe wird in den vorliegenden Materialien überwiegend auf die diachrone Perspektive verwiesen. Grossmann bemerkt, dass die vorgestellten Materialien zumeist künstlich konstruiert sind, während authentische Materialien kaum hinzu‐ gezogen werden. Der Unterrichtsalltag wird aber in der Regel eher von den Vorgaben der Bildungspläne und Richtlinien und vor allem von den Lehrwerken bestimmt. Betrachten wir zunächst die Rahmenvorgaben für den Unterricht Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Fremdsprache, speziell für das Lernziel ‚Sprachliche Höflichkeit‘. 7.5.2 Muttersprachlicher Deutschunterricht Eine exemplarische Durchsicht der Kernlehrpläne für einzelne Schulformen im Bundesland Nordrhein-Westfalen wie auch in anderen Bundesländern 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 292 <?page no="293"?> kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass die Suche unter den Stichwör‐ tern Höflichkeit oder Respekt ergebnislos bleibt. Allein auf der Sekundarstufe II im Kernlehrplan Gymnasium NRW (2014) findet sich die Formulierung: „konstruktives und wertschätzendes Feedback formulieren“ (14). Auch in den Kernlehrplänen für das Berufskolleg (2007) und für den mittleren Schul‐ abschluss, z. B. für die Realschule von 2004, finden sich in den Lernbereichen Sprechen und Zuhören, Gespräche führen und Reflexion über Sprache keine Anhaltspunkte zum Themenbereich der Höflichkeit, ebenso wenig wie für den Hauptschulabschluss (2011). Aktuelle Lehrpläne werden zumeist kompetenzorientiert formuliert, und so kann man unter Zielvorstellungen wie: „Bildung für Toleranz und Akzep‐ tanz von Vielfalt“ (Bildungswert des Faches Deutsch in den Bildungsplänen von Baden-Württemberg 2012) oder: „Gestaltung und Reflexion der Viel‐ gestaltigkeit von Kultur und Lebenswirklichkeit“ in den Aufgaben und Zielen des Faches in NRW (Kernlehrplan für das Gymnasium 2013, 9) ganz verschiedene Lernzielkonkretisierungen verstehen. Bei einem Blick in Lehrwerke der Mittelstufe stoßen wir im Deutschbuch 8 (neue Grundausgabe) auf eine Einheit mit dem Titel: Respekt, Respekt - adressatengerecht sprechen und schreiben. In dieser Einheit steht die Adres‐ satInnenorientierung im Mittelpunkt, wie das folgende Beispiel zeigt: Briefen, beim Aufstellen von Gesprächsregeln und bei der situationsadäquaten Formulierung von Bitten und Aufforderungen. In den folgenden Klassenstufen ist eine Zunahme reflexiver Aspekte im Umgang mit Höflichkeit zu beachten, für die gymnasiale Oberstufe wird in den vorliegenden Materialien überwiegend auf die diachrone Perspektive verwiesen. Grossmann bemerkt, dass die vorgestellten Materialien zumeist künstlich konstruiert sind, während authentische Materialien kaum hinzugezogen werden. Der Unterrichtsalltag wird aber in der Regel eher von den Vorgaben der Bildungspläne und Richtlinien und vor allem von den Lehrwerken bestimmt. Betrachten wir zunächst die Rahmenvorgaben für den Unterricht Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Fremdsprache, speziell für das Lernziel ‚Sprachliche Höflichkeit‘. 7.5.2 Muttersprachlicher Deutschunterricht Eine exemplarische Durchsicht der Kernlehrpläne für einzelne Schulformen im Bundesland Nordrhein-Westfalen wie auch in anderen Bundesländern kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass die Suche unter den Stichwörtern Höflichkeit oder Respekt ergebnislos bleibt. Allein auf der Sekundarstufe II im Kernlehrplan Gymnasium NRW (2014) findet sich die Formulierung: „konstruktives und wertschätzendes Feedback formulieren“ (25, 34). Auch in den Kernlehrplänen für das Berufskolleg (2007) und für den mittleren Schulabschluss, z.B. für die Realschule von 2004, finden sich in den Lernbereichen Sprechen und Zuhören, Gespräche führen und Reflexion über Sprache keine Anhaltspunkte zum Themenbereich der Höflichkeit, ebenso wenig wie für den Hauptschulabschluss (2011). Aktuelle Lehrpläne werden zumeist kompetenzorientiert formuliert, und so kann man unter Zielvorstellungen wie: „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ (Bildungswert des Faches Deutsch in den Bildungsplänen von Baden-Württemberg (2012)) oder: „Gestaltung und Reflexion der Vielgestaltigkeit von Kultur und Lebenswirklichkeit“ in den Aufgaben und Zielen des Faches in NRW (Kernlehrplan für das Gymnasium 2013, 9) ganz verschiedene Lernzielkonkretisierungen verstehen. Bei einem Blick in Lehrwerke der Mittelstufe stoßen wir im Deutschbuch 8 (neue Grundausgabe) auf eine Einheit mit dem Titel: Respekt, Respekt adressatengerecht sprechen und schreiben. In dieser Einheit steht die AdressatInnenorientierung im Mittelpunkt, wie das folgende Beispiel zeigt: Abb. VII.12: Unterrichtsbeispiel aus Deutschbuch 8 (2006, 68) Abb. VII.12: Unterrichtsbeispiel aus Deutschbuch 8 (2006, 68) Hier sollen die SchülerInnen beurteilen, welche der angebotenen Äuße‐ rungen adressatengerecht ist. Ein Merkkasten in der Einheit erläutert, 7.5 Lässt sich Höflichkeit erlernen? Sprachdidaktische Perspektiven 293 <?page no="294"?> dass angemessenes Sprechen z. B. bedeutet, den GesprächspartnerInnen höflich und freundlich zu begegnen (68 ff.). Weiterhin werden die Sprech‐ handlungen ‚sich beschweren‘ und ‚sich entschuldigen‘ unter der Leitidee Bestimmt in der Sache, höflich im Ton behandelt. Auch hier klärt ein Kasten mit Merksätzen auf, z. B. um Verzeihung bitten: ‚Bekenne dich nicht nur zu deinem Fehler. Sage, dass es dir leid tut.‘ In der folgenden Unterrichtseinheit sollen sich die SchülerInnen mit dem Terminus Respekt auseinandersetzen (Respekt dem Respekt - Wortbedeu‐ tungen erschließen). Diese Einheit ist deutlich auf eine reflexive Auseinan‐ dersetzung der Lernenden mit dem Terminus ausgerichtet. Wenn der Kasten mit Merksätzen in diesem Fall angibt: Für das Fremdwort Respekt kann man je nach Situation Wörter wie Achtung, Bewunderung oder gutes Benehmen einsetzen und schlussfolgert: „[…] diese Wörter sind mehr oder weniger bedeutungsgleich (synonym), sie sind Synonyme.“ - dann ist linguistisch wie auch empirisch Vorsicht angebracht, wie die Wuppertaler Erhebungen demonstrieren, nach denen die Jugendlichen durchaus zwischen Höflichkeit und Respekt unterscheiden (Neuland et al. 2020, 60 f.). Auf einen interessanten Entwurf sei noch hingewiesen, die sich in einer Einheit über Respekt und Benehmen - strittige Themen diskutieren im Deutschbuch 7 (differenzierende Auflage 2013) befindet: Das war nicht schlecht, das war richtig gruselig! Hier wird am Beispiel eines Beitrags aus einem Internetforum über den zu häufigen Gebrauch von Beleidigungen in sozialen Medien und besonders auf das schlechte Vorbild von Dieter Bohlen verwiesen (nach Dieter Bohlen: Du singst leider so, wie du aussiehst.). Die SchülerInnen sollen anhand kontroverser Kommentare dazu ihre eigene Meinung bilden. In der Neuauflage dieses Lehrwerks ist die Einheit aller‐ dings nicht mehr zu finden. Im Lehrwerk Wortstark 8 (2003) findet sich hingegen noch ein Vorschlag zur sprachlichen Höflichkeit am Beispiel von zwei Versionen von Beschwerdebriefen (237). Diese beiden Versionen sind allerdings dermaßen übertrieben konstruiert, dass der Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe außerordentlich gering scheint. Eine Sichtung von Lehrwerken für die Oberstufe kommt zu dem ent‐ täuschenden Ergebnis, dass keine expliziten entsprechenden Unterrichts‐ einheiten zu finden sind. Allerdings können in manchen Beispielen, die zur Veranschaulichung von Kommunikationsmodellen und Gesprächstypen dienen, von den Lehrkräften selbst entwickelte Arbeitsaufträge zur Höflich‐ keit ergänzt werden. 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 294 <?page no="295"?> 7.5.3 Höflichkeit im DaF-Unterricht Betrachtet man zunächst auch hier die Leitlinien in Rahmenvorgaben, so stoßen wir auf Profile Deutsch. Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen (GER). Auch der GER/ Profile Deutsch greift die interkulturelle Kommunika‐ tion als Schlüsselbegriff auf. In einem Abschnitt zu kulturspezifischen As‐ pekten im Referenzrahmen wird die Bedeutung der kulturellen Adäquatheit von Äußerungsformen, insbesondere sog. „Alltagsroutinen“ wie Begrüßen und Verabschieden, Bedanken, Hilfe anbieten hervorgehoben. Die Termini soziokulturelles Wissen, soziolinguistische Kompetenzen und interkulturelles Bewusstsein sowie interkulturelle Fertigkeiten werden eingeführt und Skalie‐ rungen der soziolinguistischen Angemessenheit vorgenommen, in denen auch die Höflichkeit berücksichtigt wird, z.B.: ▸ A1: Kann sehr kurze Kontaktgespräche bewältigen, in dem er/ sie häufig gebräuchliche Höflichkeitsformeln der Begrüßung und Anrede benutzt, bitte und danke sagt, […] ▸ B1: Ist sich der wichtigsten Höflichkeitskonventionen bewusst und handelt entsprechend, […] ▸ B2: Kann sich in formellem und informellem Stil überzeugend, klar und höflich ausdrücken, wie es für die jeweilige Situation und die betreffenden Personen angemessen ist. (Profile Deutsch 2005, 85) Angesichts dessen verwundert aber die grundsätzliche Aussage, dass sich die Niveaubeschreibungen „nicht direkt mit dem deklarativen Wissen (Welt‐ wissen, soziokulturelles Wissen, interkulturelles Bewusstsein) in Verbin‐ dung bringen“ lassen, „da dieses Wissen nichts über die effektive sprachliche Kommunikationsfähigkeit aussagt“ (Profile Deutsch 2005, 84). Profile Deutsch konzentriert sich vielmehr - wie der Referenzrahmen - auf die Beschreibung von Aktivitäten und Aufgaben, die nicht in einem direkten Zusammenhang mit dem Wissen stehen. In der Tat ist in den Kernbeschreibungen in den relevanten Rubriken Interaktion mündlich bzw. Interaktion schriftlich von Interkulturalität und Höflichkeit auch keine Rede mehr, bis auf die denkwürdige Ausnahme: ▸ A2: Interaktion mündlich: […] Kann in verschiedenen alltäglichen Situationen einfache Formen des Grüßens, Anredens, von Bitten, Entschuldigungen, und des Dankens anwenden. Kann im Restaurant die Bedienung höflich rufen und um einen Aschenbecher bitten. (Profile Deutsch 2005, 117) 7.5 Lässt sich Höflichkeit erlernen? Sprachdidaktische Perspektiven 295 <?page no="296"?> Dieses Beispiel ist wirklich „von gestern“! Dennoch wird dem Thema Höflichkeit im DaF-Unterricht weit mehr Aufmerksamkeit zuteil als im muttersprachlichen Deutschunterricht. Der Schwerpunkt liegt wiederum im Bereich der Mündlichkeit und zwar speziell der Gesprächskompetenz. Schon 1998 hatte Erndl seine Konzeption und Realisierungsvorschläge zur Höflichkeit im Deutschen vorgelegt und dabei zwischen verschiedenen Richtungen, u. a. der traditionellen Höflichkeit und der Höflichkeit als routinisiertem und ritualisiertem Sprachgebrauch unterschieden. Er informiert über verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten der Höflich‐ keit im Deutschen, vor allem Indirektheit, Bestärkung und Entgegen‐ kommen und nimmt bestimmte „Standardsituationen“ wie Kontakteröff‐ nung und -beendigung, Entschuldigung und Dank genauer unter die Lupe. Seine Anregungen für eine bessere Integration von Höflichkeit im DaF-Unterricht bezieht sich auf eine verstärkte Arbeit mit Dialogen im Unterricht. Er fordert eine Analyse von Fallstudien, Höflichkeit im Unter‐ richtsgespräch selbst, eine stärkere Berücksichtigung von Gefühlen und Emotionen, Räume für das allgemein unterschätzte Smalltalk-Gespräch und insgesamt eine stärkere Berücksichtigung des Themas speziell im Bereich der Mittelstufe. Ähnliche Folgerungen zieht einige Jahre später Vorderwülbecke (2002). Hier findet sich noch der wichtige Hinweis auf die zumeist unberücksich‐ tigte Progression, d. h. die Frage, womit man wann anfangen und wann aufhören kann. Der Autor schlägt folgende Abfolge vor: ▸ konventionelle vor individuelle Höflichkeit sowie ▸ explizite sprachliche Formen und (Routine-)Formeln vor Texten/ Re‐ flexionen/ Diskussionen über Höflichkeit (41 ff.). In seinem dreistufigen Progressionsmodell findet man ▸ auf der ersten Stufe u.a.: Du/ Sie-Anredemodus, Anredeformen, into‐ natorische Regelhaftigkeiten, ▸ auf der zweiten Stufe u.a.: Formen von Indirektheit und Abtönung, Intonation und Stimmfärbung, ▸ auf der dritten Stufe u.a.: individuelle Variationen von Abschwächung durch Indirektheit, gesichtsbedrohende Handlungen, Reflexion/ Dis‐ kussion über Höflichkeit. 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 296 <?page no="297"?> Ausführliche kritische Diskussionen aus der fremdsprachendidaktischen Perspektive liefern Scialdone 2009 sowie Simon 2017. Wenden wir uns nun einer DaF-Lehrwerkanalyse zu, so findet sich das Thema sprachliche Höflichkeit oft auch unter Stichwörtern wie Etikette, Sprachkonventionen, Menschliches - allzu Menschliches oder auch Benimm dich. Die meisten Lehrwerkeinheiten orientieren sich an der kontrastiven Pragmatik und an Kultur-Kontrast-Modellen nach dem Prinzip: „Hier bei uns sagt man y - in der Zielkultur sagt man x“. In einigen Lehrwerken wird ein Repertoire von Routineformeln als Redemittel angeboten, darunter Anrede-, Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln, die den LernerInnen eine erste Orientierung ermöglichen. Die darüberhinausgehende didaktische Vermitt‐ lung von Höflichkeitsstilen als Bestandteil der Alltagskommunikation in einer Fremdsprache ist damit allerdings noch nicht erreicht. Dazu bedarf es auch konkreter Situationskontexte und spezifischer AdressatInnen sowie einer Auswahl verschiedener stilistischer Mittel in der Zielsprache, die den LernerInnen erst einen Ermessensspielraum und eine Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen (vgl. dazu Ehrhardt/ Neuland 2009, 20 ff.). Dies sei an einem Beispiel aus einem Lehrwerk veranschaulicht: In Stufen 3 (1989) wird in vorgeblich eindeutiger tabellarischer Kontrastierung angeführt, wie man „hier“ und „bei uns“ sagt - ohne Bezug zum jeweiligen Interaktionskontext, zur Kommunikationssituation und zur Partnerorien‐ tierung im konkreten Fall. 7.5 Lässt sich Höflichkeit erlernen? Sprachdidaktische Perspektiven 297 <?page no="298"?> Abb. VII.13: Stufen 3 (1989, 121) In einer Analyse von DaF-Lehrwerken hat Neuland (2010) nach Entwick‐ lungstendenzen in der Behandlung von sprachlicher Höflichkeit gefragt. Dabei ging es um die folgenden Lehrwerke aus verschiedenen Generationen: ▸ Lehrwerke der ersten Generation (1980-1990): Sprachbrücke Stufen ▸ Lehrwerke der zweiten Generation (1990-2000): Sichtwechsel neu 3 Themen neu 3 ▸ Lehrwerke der dritten Generation (2000-2010): Studio d optimal Berliner Platz Zusammenfassend können folgende Tendenzen als Ergebnisse der stichpro‐ benhaften Analyse festgehalten werden: 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 298 <?page no="299"?> Lehrwerke der ersten Generation (1980-1990) enthalten eine ertragreiche Ausbeute eigenständiger Unterrichtseinheiten, für die hier das Beispiel Höflichkeit und Etikette im Lehrwerk Stufen (1989 112 ff.) im Umfang von ca. 10 Druckseiten angeführt werden soll. Zehn Aufgaben sind den Aspekten Wortschatz, Wortbildung und Redemittel gewidmet, eine umfangreiche Aufgabe dem Informationsaustausch und drei Aufgaben der Grammatik mit dem Schwerpunkt Konjunktiv II. Für die Einübung von Redemitteln werden u. a. Multiple Choice-Aufgaben präsentiert, deren Auswahlantworten nicht gerade wirklichkeitsgetreu sind: Lehrwerke der ersten Generation (1980-1990) enthalten eine ertragreiche Ausbeute eigenständiger Unterrichtseinheiten, für die hier das Beispiel Höflichkeit und Etikette im Lehrwerk Stufen (1989 112ff.) im Umfang von ca. 10 Druckseiten angeführt werden soll. Zehn Aufgaben sind den Aspekten Wortschatz, Wortbildung und Redemittel gewidmet, eine umfangreiche Aufgabe dem Informationsaustausch und drei Aufgaben der Grammatik mit dem Schwerpunkt Konjunktiv II. Für die Einübung von Redemitteln werden u.a. Multiple Choice-Aufgaben präsentiert, deren Auswahlantworten nicht gerade wirklichkeitsgetreu sind: Abb. VII.14: Stufen 3 (Stufen 1989, 116) Wie auch schon das in Kapitel 2.2 aus diesem Lehrwerk angeführte Beispiel zum Informationsaustausch zeigte, liegt vielen Aufgaben eine Orientierung an der damals vorherrschenden kontrastiven Grammatik und mithin an einem bipolaren Kultur-Kontrast-Modell zugrunde, das in tabellarischer Auflistung zwischen „hier“ und „bei uns“ unterscheidet. Auch im Lehrwerk Sprachbrücke (1987) findet sich ein eigenständiges Kapitel „Menschliches - Allzumenschliches“, in dem sich einige Aufgaben zur Höflichkeit finden, z.B.: Höflich - aber unverständlich (A1), Höflich oder unhöflich? (A3), Höflich sein = lügen? (B1). Es geht weiterhin um Wahrheiten - nicht ausgesprochen (B3), auch beim Schimpfen (B5), womit auf das ethische Problem von Höflichkeit und Wahrhaftigkeit angespielt wird. Abb. VII.14: Stufen 3 (Stufen 1989, 116) Wie auch schon das in Kapitel 2.2 aus diesem Lehrwerk angeführte Beispiel zum Informationsaustausch zeigte, liegt vielen Aufgaben eine Orientierung an der damals vorherrschenden kontrastiven Grammatik und mithin an einem bipolaren Kultur-Kontrast-Modell zugrunde, das in tabellarischer Auflistung zwischen „hier“ und „bei uns“ unterscheidet. Auch im Lehrwerk Sprachbrücke (1987) findet sich ein eigenständiges Kapitel „Menschliches - Allzumenschliches“, in dem sich einige Aufgaben zur Höflichkeit finden, z.B.: Höflich - aber unverständlich (A1), Höflich oder unhöflich? (A3), Höflich sein = lügen? (B1). Es geht weiterhin um Wahrheiten - nicht ausgesprochen (B3), auch beim Schimpfen (B5), womit auf das ethische Problem von Höflichkeit und Wahrhaftigkeit angespielt wird. 7.5 Lässt sich Höflichkeit erlernen? Sprachdidaktische Perspektiven 299 <?page no="300"?> Abb. VII.15: Sprachbrücke 1 (1987, 196) In der folgenden Generation, für die hier die beiden Lehrwerke Themen neu 3 (1992) sowie Sichtwechsel neu 3 (1996) stehen, sucht man vergeblich nach eigenständigen Lehreinheiten. Themen neu 3 bietet zwar ein Kapitel „Sprachliche Konventionen“, in dem u. a. Anredeformen behandelt sowie Rollenspiele mithilfe von Redemitteln durchgeführt werden sollen. Daneben geht es aber auch um „Männer- und Frauensprache“ und um „Sprache der Gefühle“, so dass sich der Eindruck eines Gemischtwarenladens ein‐ stellt. In einer Aufgabe sollen vorgegebene Äußerungen im Hinblick auf Höflichkeitsgrade eingesetzt werden, allerdings ohne Berücksichtigung von Adressaten und Situationstypen, z.B.: ▸ Dürfte ich bitte mal das Salz haben? ▸ Das Salz! ▸ Ich brauche mal das Salz. (71) 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 300 <?page no="301"?> Im Lehrwerk Sichtwechsel neu 3 stoßen wir in einem Unterkapitel auf das Stichwort höflich mit der Aufgabenstellung, in vorgegebenen Situationen erwartungsgemäße und zugleich höfliche Antworten zu formulieren (87), ohne dass weitere Begründungen und Reflexionen angeregt werden. Wie geht nun die Entwicklung nach der Jahrhundertwende weiter? Dazu lässt sich überblicksartig festhalten, dass die Tendenz zur Integration des Themas weiter zuzunehmen scheint. Im Lehrwerk Berliner Platz 3 (2004) finden wir in einem Kapitel über „Jung und Alt“ das Unterkapitel „Im Alltag“. Darin gibt es eine Aufgabe: Fragen besonders höflich formulieren, die mithilfe einer vorgegebenen Liste mit Redemitteln gelöst werden soll. In einem Abschnitt über Essgewohnheiten finden sich Beispiele für das Komplimentieren (z. B. Mensch, ich habe gar nicht gewusst, dass du so gut kochen kannst? ) immerhin in dialogischer Einbettung (Ach, weißt du, ich koche einfach gern), die von den LernerInnen zu rekonstruieren ist (30). Ähnliche disparate Beispiele finden wir in den Lehrwerken Aspekte 1 (2007) und Optimal (2004/ 05). Betrachten wir nun zum Abschluss das Lehrwerk Studio d (2007) mit Beispielen aus einem Kapitel „Peinlich-Peinlich“, das aufschlussreich für die künftige interkulturelle Entwicklung von Lehrwerken erscheint. Nach einer Einleitung über „Pleiten, Pech und Pannen“ (Abschnitt 1) wird gefragt „Was sagt der ‚Knigge‘? “ (Abschnitt 2). Leider beschränken sich die Ausfüh‐ rungen auf allgemeines Verhalten, und die darauf bezogene sprachliche Übung (Nebensätze mit obwohl) ist nicht sonderlich eng mit dem Inhalt verbunden. Im nächsten Schritt geht es um „Knigge international“ (Ab‐ schnitt 3), wobei u. a. Smalltalk-Regeln für Andere Länder andere Sitten nach dem Arm-Zonen-Modell des Biologen Desmond Morris angeführt werden, z. B. sei alles Private in Ellenbogenländern ein treffendes Smalltalk-Thema, während in Fingerspitzen-Staaten Gespräche über das Privatleben teilweise tabu seien (2007, 125). Auch die folgenden Beispiele für critical incidents, die wir bereits im vorherigen Kapitel angesprochen haben, legen nahe, dass den Aufgabenstellungen immer noch ein Kultur-Kontrast-Modell zugrunde liegt, wenn gefragt wird: Worauf müssen Ausländer in ihrem Land achten, formulieren sie Ratschläge z. B. das macht man bei uns nicht… bei uns sollte man. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen und zugleich pro‐ blematisieren: 7.5 Lässt sich Höflichkeit erlernen? Sprachdidaktische Perspektiven 301 <?page no="302"?> 1. Integration kann - neben allen Vorzügen - auch zur Diffusion und Zersplitterung eines didaktischen Gegenstandsfelds beitragen und systematisches Sprachlernen und den gezielten Aufbau von Sprach- und Kulturbewusstheit erschweren. Diese mögliche Gefahr sollte aber den grundlegenden Vorzug von Integration nicht schmälern. 2. Interkulturalisierung sollte sich nicht nur auf Kommunikationspro‐ bleme und -konflikte (critcal incidents) beschränken, die schließlich doch nur zum Vermeidungslernen führen. In Termini der Höflich‐ keitstheorie sollte also nicht nur negative, sondern auch positive Höf‐ lichkeit in Lehrwerken behandelt werden. Dies kann dazu beitragen, dass sprachliche Höflichkeit zum Normalfall in einer „Sprache der Weltgesellschaft“ (Macho 2002) wird. 3. Vor allem stimmt aber der linguistische Bezugsrahmen auch in den neueren Lehrwerken bedenklich: Es herrschen weiterhin oft fragwür‐ dige Kulturkontrastmodelle und Stereotypisierungen vor, während neuere Forschungsimpulse der linguistischen Pragmatik und Stilistik ebenso wie die Aktualisierungen in den neuen Anwendungsfeldern noch kaum aufgegriffen werden. Zur Realisierung eines Lernziels der reflektierten Höflichkeit im DaF-Unter‐ richt scheint es noch ein weiter Weg zu sein. Anregungen dazu bieten das Themenheft Interkulturelle Kommunikation - Interkulturalität der Zeit‐ schrift Der Deutschunterricht (2008) sowie der Sammelband Ehrhardt/ Neu‐ land (2009). Die meisten Unterrichtsvorschläge bleiben bei der bloßen Auflistung von Redemitteln stehen, ohne Anregungen zu geben oder deren Wirkungen bei unterschiedlichen Adressaten und in unterschiedlichen Situationskontexten zu reflektieren. Diese Desiderate sollten bei der künftigen Lehrwerkentwicklung als produktive Herausforderung angesehen werden. Sprachliche Höflichkeit kann und sollte - ihrer Bedeutung für die kommunikative Kompetenz gemäß - deutlich stärker, tiefer und systematischer aufgegriffen werden. 7 Anwendungsfelder der Höflichkeitsforschung 302 <?page no="303"?> 8 Ausblick und Fazit Seit der Jahrtausendwende ist eine fruchtbare Forschung zur sprachlichen Höflichkeit im deutschsprachigen Raum zu verzeichnen, die sich ständig weiterentwickelt. Das manifestiert sich sowohl in Empirie und Methodo‐ logie als auch in der Theoriebildung. Abgesehen von den in den einzelnen Kapiteln herausgearbeiteten Punkten seien abschließend noch zwei allgemeine Schwerpunkte der wis‐ senschaftlichen Diskussion als Desiderata für vertiefende Forschungsvor‐ haben herausgegriffen und knapp kommentiert: 1. Die Verbindung von Theorie und Empirie in der Höflichkeitsfor‐ schung sowie 2. die intrakulturellen Differenzierungen von Höflichkeit. 8.1 Theorie und Empirie der Höflichkeitsforschung Forschungsüberblicke zur sprachlichen Höflichkeit weisen eine Vielzahl kulturkontrastiver Studien auf, die das Universalitätsparadigma unwider‐ ruflich erschüttert haben und nachdrücklich kulturelle Diversität belegen. Gleichwohl sind solche Studien oft schwer vergleichbar, da sie ganz unter‐ schiedliche Aspekte fokussieren, die sich aus den verschiedenen kulturellen Traditionen herleiten (Beispiel: Anredeformen in Japan, in der Türkei und in Deutschland). Auch werden die empirischen Gütekriterien quantitativer wie qualitativer Verfahren in einzelnen Studien nur unzureichend erfüllt, indem z. B. nur wenige und kaum repräsentative Einzelbeobachtungen vorgelegt werden, die keine Verallgemeinerung erlauben. Weiterhin wird nicht immer sauber zwischen Deskription und Wertung unterschieden. Schließlich bildet die Erfassung von Sprachwandelprozessen noch eine weitere Herausforderung für die Sprachwissenschaft. Dem widmet sich die historische Höflichkeitsforschung, auf die in diesem Band leider nicht eingegangen werden konnte (vgl. z. B. Jucker/ Kopaczyk 2017). Mit der Konzentration auf die Methodik und die Ausdehnung des Unter‐ suchungsfeldes auf die gesprochene Sprache und auf unterschiedliche Text‐ sorten in natürlichen Kommunikationssituationen geht zugleich eine oft <?page no="304"?> unzureichende Integration mit Aspekten einer Höflichkeitstheorie einher. Zwar wird vor allem der Begriff des face in der Regel nicht mehr so naiv wie in den frühen Studien verwendet, doch mangelt es weitgehend an theoretischen Reflexionen, insbesondere auch der Implikationen der jeweiligen Studie. Andererseits kümmern sich theoretische Beiträge in vielen Fällen kaum um ihre empirische Validierung. Dadurch ergibt sich insgesamt ein ekla‐ tantes Missverhältnis von Theorie und Empirie, das die Weiterentwicklung der Höflichkeitsforschung entscheidend zu beeinträchtigen droht. 8.2 Höflichkeit und soziolinguistische Differenzen Ein zweites Desiderat der Höflichkeitsforschung bezieht sich auf die unzu‐ reichende Beachtung intrakultureller Differenzen, die sich mithilfe soziolin‐ guistischer Parameter erfassen lassen. Fragen wir zunächst nach Geschlecht, Alter und Bildungsstand: 8.2.1 Geschlecht, Alter und Bildungsstand Seit der herkömmlichen Annahme einer „feineren“ Sprache von Frauen und Mädchen ist viel über den Einfluss der Geschlechtszugehörigkeit auf den Umgang mit Höflichkeit spekuliert worden: Mädchen und Frauen werden für höflicher als Jungen und Männer gehalten. Doch ist ein solches Geschlechterstereotyp vielleicht nur historisch überliefert und war mit der größeren Bedeutung der Sprache und eines gehobenen Sprachstils für gesellschaftliches Ansehen von Mädchen und Frauen zu erklären. Dies mag sich im Zuge der Gleichstellung der Geschlechter ausgeglichen haben. Doch ist dieser Zusammenhang weder in der Soziolinguistik noch in der Frauenforschung bzw. der Genderlinguistik bislang systematisch erfasst worden. Ähnlich sieht die Forschungslage zur intrakulturellen Differenzierung von Alter und Bildungsstand aus: Hinsichtlich des Alters herrscht die allgemeine Annahme vor, dass der Erwerb von Höflichkeitsausdrücken erlernt werden müsse und erst in fortgeschrittener Kindheit erfolge. Hinsichtlich des Bildungsstands kann man annehmen, dass ein erhöhter sprachlicher Aufwand bei höflichen Ausdrucksweisen, insbesondere die 8 Ausblick und Fazit 304 <?page no="305"?> Formulierung und das Verständnis indirekter Ausdrucksweisen, ein höheres sprachliches Bildungsniveau erfordert. Aber auch diese vorwissenschaftlichen Hypothesen sind weder in der Soziolinguistik noch in der Jugendsprachforschung systematisch untersucht worden. Zwar enthält die Soziolinguistik von Veith (2005) einige entspre‐ chende Kapitel (z. B. zu „Kindheit und Sprache“ bzw. „Alter und Sprache“ sowie „Geschlecht und Sprache“), doch geben diese keinerlei Aufschluss über die genannten Fragestellungen im Zusammenhang mit sprachlicher Höflichkeit. Und auch das soziolinguistische Varietätenmodell in der neu‐ esten Auflage der Germanistischen Linguistik von Löffler (2016) führt leider nicht weiter. Greifen wir an dieser Stelle auf eigene quantitative wie qualitative Be‐ funde aus Wuppertaler Studien zum Umgang Jugendlicher mit Höflichkeit und ihrer soziolinguistischen Differenzierung zurück (vgl. dazu Neuland 2016 sowie Neuland et al. 2020). Hier lassen sich hinreichend belastbare Belege dafür finden, dass Mäd‐ chen einen höflichkeitssensibleren Sprachgebrauch als Jungen aufweisen und z. B. von ihnen als diskriminierend empfundene Ausdrucksweisen vermeiden (Neuland 2016, 308). Mädchen verbinden Höflichkeit stärker mit dem Merkmal gewählte Ausdrucksweise und halten Höflichkeit für wichtiger als Jungen (hochsignifikanter Effekt) (Neuland et al. 2020, 43 ff.). Im Hinblick auf das Alter ergab sich statistisch gesichert, dass sich ältere SchülerInnen als höflichkeitssensibler erweisen als jüngere: die Ein‐ schätzungen von Wichtigkeit der Höflichkeit nimmt mit dem Alter und dem nahenden Schulende und Berufseintritt der SchülerInnen von den Jahrgangsstufen 5 bis 12 signifikant zu. Die Identifikation von Unhöflichkeit mit „respektlose Anrede“ steigt mit dem Alter ebenfalls signifikant an. Die mittlere Altersgruppe der Jahrgangsstufen 8 und 9 bildet bei diesen Entwick‐ lungen oft eine Ausnahme, die mit einer besonderen Unangepasstheit des postpubertären Jugendalters erklärt werden kann. Ein überraschender Befund betrifft das schulische Bildungsniveau: Im Hinblick auf Schulformdifferenzen lassen sich nämlich keine einheitlichen Tendenzen erkennen, etwa ein höheres Maß höflicher bzw. indirekter Aus‐ drucksweisen bei GymnasiastInnen. Für diesen Effekt könnte die größere Durchlässigkeit im heutigen deutschen Schulsystem verantwortlich sein. Generell erwies die Studie mit über 1.000 Jugendlichen sowohl in den quantitativen Fragebogendaten als auch in den qualitativen Spontandaten, dass Jugendliche sehr wohl die konventionelle Höflichkeit und ihre Aus‐ 8.2 Höflichkeit und soziolinguistische Differenzen 305 <?page no="306"?> drucksformen kennen und diese auch zu ironisieren wissen - sie nutzen diese aber nur selektiv je nach situativem Kontext vor allem gegenüber Lehrkräften und im Unterricht. 8.2.2 Kontext und Situation Je nach Kontext und Situation verwenden Jugendliche einen jugendtypi‐ schen Höflichkeitsstil, der Formen der mock politeness oder der kooperativen Unhöflichkeit in scherzhafter Modalität annehmen kann (vgl. Kapitel 4.3.2), und zwar insbesondere mit Altersgleichen in der Peerkommunikation und in informellen Kontexten (z. B. bei einer Begrüßung einer Gruppe bekannter Jugendlicher: „Ihr Missgeburten! “ oder als Anrede: „Du Opfer! Einfach so aus Spaß“). Dabei können lexikalisch auch Schimpfwörter und konven‐ tionell beleidigende Äußerungen verwendet werden, allerdings dominiert die spaßhafte Modalität. Die AdressatInnenorientierung erweist sich als wesentlicher differentieller Faktor im Umgang von Jugendlichen mit Höf‐ lichkeit heute. Solche Befunde belegen auch die Notwendigkeit weiterer empirischer Studien zu soziolinguistischen Differenzierungen der sprachlichen Höflich‐ keit. 8.3 Fazit Sprachliche Höflichkeit ist also ein Thema, über das noch viele Aufsätze, Vorträge und Bücher präsentiert werden können. Sowohl empirisch als auch theoretisch gibt es noch viel zu erforschen. In diesem Band wurde versucht, ein Bild von sprachlicher Höflichkeit zu zeichnen, das eine Orientierung in den bisher veröffentlichten Ansätzen ermöglicht. Es hat sich schnell gezeigt, dass das Bild sehr viele Facetten enthält. Es wurde Wert darauf gelegt, dass die Überlegungen zur Höflichkeit einerseits nicht das vernachlässigen, was SprecherInnen, die sich nicht professionell mit diesem Thema beschäf‐ tigen (also Nicht-LinguistInnen), über den Gegenstand wissen und denken, andererseits wurde aber auch unterstrichen, dass eine solide Verankerung in der pragmatischen und soziolinguistischen Theoriebildung unerlässlich ist, wenn wissenschaftlich fundierte Aussagen zur Höflichkeit angestrebt werden. 8 Ausblick und Fazit 306 <?page no="307"?> Eines der Probleme der Höflichkeitsforschung liegt gerade in der Wech‐ selwirkung zwischen einem alltagssprachlichen und einem wissenschaftli‐ chen Begriff von Höflichkeit. Das führt häufig zu begrifflichen Unschärfen. Auch in anderen Wissenschaften ist eine Wechselwirkung von alltags‐ sprachlichen Wörtern und fachbezogenen Termini zu beobachten: Wenn Physiker von Kraft reden, Biologen von einem Virus oder Psychoanalytiker vom Unbewussten, dann reden sie ja von etwas anderem als uneingeweihte Laien, die die gleichen Termini verwenden - aber gleichzeitig beziehen sie sich auf den gleichen Gegenstand, der im wissenschaftlichen Diskurs anders und neu konstituiert wird. Man kann das eine nicht ohne das andere denken und darstellen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Begriffen wird immer eine Verbindung mit den alltagssprachli‐ chen Konzepten behalten, kann aber nicht allein auf diesen basieren; der fachsprachliche Terminus wird immer sehr viel mehr Facetten haben und gleichzeitig sehr viel präziser sein als der alltagssprachliche Terminus. Man kann die Unschärfen vermeiden, wenn man fachsprachliche und alltagssprachliche Termini genau unterscheidet und sich und den Adressa‐ tInnen immer klarmacht, wovon man gerade spricht - und wenn man eine wissenschaftliche Behandlung des jeweiligen Themas auf der Grundlage eines wissenschaftlich begründeten und theoretisch verankerten Begriffes angeht. So verhält es sich auch mit der Höflichkeit. Die ziemlich schillernde und unscharfe Verwendung des Wortes in der Alltagskommunikation sollte nicht als Argument dafür angeführt werden, dass man über dieses Thema keine wissenschaftlich begründeten Aussagen machen kann. Man kann das sehr gut, wenn man die alltagssprachliche Verwendung einerseits ernst nimmt, andererseits aber auch davon abstrahiert. Viele SprecherInnen sehen in einem ersten Impuls Höflichkeit als eine Ansammlung von Verhaltens‐ richtlinien im Sinne der Etikette und unterscheiden sie nur unzureichend von verwandten Begriffen, wie z. B. der ‚Freundlichkeit‘. In der Tat ist es ja auch nicht leicht, Freundlichkeit von Höflichkeit zu unterscheiden; auf der Ebene der manifesten Verhaltensweisen mögen sie durchaus viele Überschneidungen aufweisen. Bei genauerem Nachfragen und Hinsehen auf den Gebrauch der entsprechenden Wörter stellt man aber sehr schnell fest, dass sehr wohl Unterscheidungen gemacht werden, die zugleich auch Bezie‐ hungen zwischen einem alltagssprachlichen und einem wissenschaftlichen Höflichkeitsbegriff aufzeigen können. Höflichkeit wird erstens - anders als Freundlichkeit - als intendiert und damit kommuniziert wahrgenommen 8.3 Fazit 307 <?page no="308"?> und nicht als spontane, instinktive Verhaltensdisposition. Und zweitens sehen viele SprecherInnen ein, dass Höflichkeit auf Konventionen basiert und nicht - wie Freundlichkeit - auf Stimmungen und Gefühlen. Um es pointiert zu formulieren: In einer ersten Annäherung kann man sagen, dass Höflichkeit so etwas wie ostentativ simulierte Freundlichkeit ist. Wer höflich ist, tut so, als sei er/ sie freundlich. Und er/ sie gibt den PartnerInnen zu verstehen, dass er/ sie so tut also ob, um damit bestimmte kommunikative Ziele zu erreichen. Natürlich würde das Nachdenken über Höflichkeit in alltagspraktischen Zusammenhängen dann nicht die Verbindung mit kommunikativer Kom‐ petenz, Kooperation, dem KP, Maximen, Kontexten oder kommunikativen Funktionen herstellen. Hier liegt die Aufgabe der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand. Der vorliegende Band hat sich zum Ziel gesetzt, einen solchen Blick auf sprachliche Höflichkeit zu entfalten. Daraus ergab sich ein Begriff von Höflichkeit, den man so zusammen‐ fassen kann: Höflich sein heißt, den PartnerInnen mit vor allem sprachli‐ chen, teilweise aber auch außersprachlichen Mitteln ein aus der Sicht der SprecherInnen wahrscheinlich konsensfähiges Angebot zur Definition der SprecherIn-HörerIn-Beziehung in einer bestimmten Interaktion zu machen. Um als höflich klassifiziert zu werden, muss die Äußerung so formuliert sein, dass auf der Grundlage ihres Wortlautes und der gegebenen Umstände (Situation, SprecherInnenkonstellation, Kontext, gesellschaftliche Konven‐ tionen, kulturelle Gegebenheiten usw.) die AdressatInnen dem Angebot zustimmen und auf dieser Grundlage die Interaktion beginnen oder fort‐ führen können. Insbesondere folgende Entscheidungen, die wir im Verlauf der Abhand‐ lungen im Hinblick auf Grundfragen der Höflichkeitsforschung zur Diskus‐ sion gestellt haben, wollen wir hier noch einmal explizit auflisten: ▸ Höflichkeit ist eine Grundkonstante der menschlichen Kommunika‐ tion. ▸ Die Höflichkeitsmaxime ist universal gültig, ihre Ausgestaltung ist aber sehr kulturspezifisch. Das spiegelt sich in Form von unterschied‐ lichen oder unterschiedlich gewichteten Untermaximen wider. ▸ Untermaximen können sich je nach (sub-)kulturellem Zusammen‐ hang und historischem Kontext stark voneinander unterscheiden. 8 Ausblick und Fazit 308 <?page no="309"?> ▸ Höflichkeit wird als intentional aufgefasst und damit kommuniziert. Man kann kaum unabsichtlich höflich oder unhöflich sein. ▸ Höflichkeit beschreibt, was SprecherInnen und HörerInnen vonein‐ ander erwarten. ▸ Höflichkeit ist ein in konkreten Interaktionssituationen emergentes Phänomen. ▸ Höflichkeit ist ein Teil der Bedeutung von Äußerungen. ▸ Höflichkeit ist eine Qualität von Äußerungen und nicht von Wörtern, Sätzen oder Formeln - ohne Blick auf den Kontext kann man nie feststellen, ob ein/ e SprecherIn höflich war oder nicht. ▸ Höflichkeit ist eine Vermittlung von individuellen Aussageabsichten und gesellschaftlichen Konventionen. ▸ Höflichkeit ist ein Vorschlag zur Beziehungsdefinition und kann von der Imagefunktion (facework) unterschieden werden, auch wenn Selbstdarstellung der SprecherInnen und Beziehungskommunikation eng aufeinander bezogen sind. Insgesamt soll damit beschrieben und erklärt werden, was SprecherInnen tun, wenn sie kommunizieren - auch wenn ihnen das nicht immer bewusst ist und auch nicht bewusst sein kann bzw. sollte und wenn sie das kaum explizit machen würden. Die Höflichkeitsforschung wird so als Teil einer Linguistik entworfen, die sich zum Ziel gesetzt hat zu analysieren, welchen Prinzipien SprecherInnen und HörerInnen folgen, wenn sie kommunizieren. Wir hoffen, dass wir damit, wenigstens ansatzweise, eine angemessene Grundlage für weitere theoretische Überlegungen und auch für empirische Forschungen zu diesem Thema vorschlagen konnten. 8.3 Fazit 309 <?page no="311"?> 9 Literaturverzeichnis A D A M Z I K , Kirsten (1984): Sprachliches Handeln und sozialer Kontakt. Zur Integration der Kategorie ‚Beziehungsaspekt‘ in eine sprechakttheoretische Beschreibung des Deutschen. Tübingen: Narr. A D A M Z I K , Kirsten (2002): „Interaktionsrollen. Die Textwelt und ihre Akteure“. 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Frequenzanalyse 32 Freundlichkeit 22 galant 63 Gebrauchspräferenz 32 Gebrauchsprofil 35 Gebrauchsumgebung 32 Generationsdifferenz 76 Genossen-Du 89 Geschäftskorrespondenz 71 geselliger Umgang 60 Gesicht 190 Gesichtsarbeit 270 gesichtsbedrohende Handlung (face threatening act) 39, 191 gesichtsschützend 198 Gesichtsverletzung 270 Gesichtsverlust 191 Gesinnungsgenossenschaft 71 Gespräch 59 Gesprächsformat 44 Gesprächskompetenz 296 Gesprächskontext 48 Gesprächsorganisation 49 Gesprächsthemen 68 Gestik 72 geteilte Intentionalität 157 Grammatikalisierung 85 Grobheit 13 Grobianismus 27 Grußformel 21 guter Ton 63 Habitus 221 Händeschütteln 72 Hatespeech 230, 248 höfisch 13 Höflichkeit 1 (oder first-order politeness) 52, 160 Höflichkeit 2 52, 160 Höflichkeitsdiskurs 61 Höflichkeitserziehung 65 Höflichkeitsform 88 Höflichkeitsformel 101 Höflichkeitskonvention 47 Höflichkeitsmarker 82 Höflichkeitsmaxime 165, 169 Höflichkeitsprinzip 188, 208 Höflichkeitspronomen 63 Höflichkeitsregel 188, 226 Höflichkeitsstil 65, 120 Sachregister 338 <?page no="339"?> Höflichkeitswandel 71 Hofmann 65 Honorifika 86 Hörerdeixis 94 Hotspot 278 hovelich 59 Hybridisierung 269 Hybridmedium 247 Hypertextualität 247 Identität 70 Identitätsstiftung 65 idiomatische Prägung 118 Idiomatisierung 85 Idiomatizität 113 illokutionäre Kraft 137 Image 129, 190, 217 Imagearbeit (facework) 95, 130 Implikatur 152 impression management 235 Indirektheit 263, 267 Individualitätsindex 271 Inflektiv 247 Informalisierung 70 Informalität 71, 113 Institutionalisierung 69 Inszenierung 59 Integration 65 Interaktionsritual 110 Interkultur 273 Interkulturalität 254, 268 interkulturelle Kommunikation 24 interkulturelle Kompetenz 269 intersubjektive Verständigung 70 Jugendlichkeit 75 Keigo 266 Klugheit 59 kodifizierte Höflichkeit 127 Kodifizierung 69 Ko-Konstruiertheit 201 Kommunikationsmaxime 148 Kommunikationstraining 280f., 289 Kommunikationsvermeidung 278 kommunikative Kompetenz 269 kommunikativer Altruismus 205 Kompliment 61 Komplimentierwesen 60 Konflikt 264 Konjunktiv 79 Konsens 264 kontrastive Analyse 254 kontrastive Linguistik 255 Konvention 27, 225 Konversation 60 konversationelle/ konversationale Implikatur 154 Konversationslehre 64 Konversationslexikon 64 Konversationsvertrag 202 Konzilianz 13 Kookkurrenzanalyse 34 Kookkurrenzpartner 35 Kooperationsprinzip 148 Kooperativität 151, 159 Ko-Präsenz 249 Körperkultur 60 Körpersprache 72 Korpusanalyse 32 Kotext 150 Kulturbewusstheit 279 Kultur-Kontrast-Modell 297 Kultursensibilisierung 276 Kulturstandard 270f. kulturübergreifend 280 Laienreflexion 56 Lehrwerkanalyse 297 Lernziele 281 Sachregister 339 <?page no="340"?> Lexemverbindung 33 Liebenswürdigkeit 13 Likes 248 limao 266 Linguistic Awareness of Cultures (LAC) 282f. Machtdistanz-Index 271 Manieren 21 Mehrfachadressierung 251 Metakommunikation 136 Metasprache 57 Missverständniss 278 Mobbing 29 Modalität 96 Modalitätskontext 98 Modalverb 80 Multikulturalität 268 Multimodalität 247 Multiple Choice-Aufgabe 299 Mündlichkeit 296 Muttersprachlicher Deutschunterricht 292 mutualistische Zusammenarbeit 157 Nachrichtenquadrat 142 Nähehöflichkeit 71 negative Höflichkeit 192 Netikette 252 Objektsprache 57 Okkurrenz 33 Organon-Modell 138 para- und nonverbal 68 Personaldeixis 82 phatische Kommunikation 140 Phrasem 77 Phraseologie 101 Phraseologismen 103 Pluralismus 268 Politesse 13 politic behaviour 214 positive Höflichkeit 192 Possessivartikel 81 pragmaticalization 85 Präteritum 79 professionelle Höflichkeit 22 Profile Deutsch. Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen (GER) 295 pronominale Anrede 79, 88, 215 Proxemik 250 Quasi-Synonym 37 Rahmen 228 rapport management 235 Ratgeberliteratur 62 Rationalitätsprinzip 150 Realienkunde 270 Referentenverschiebung 61 reflektierte Höflichkeit 127, 289 relational work 236 Reputationsmanagement 158, 234 Respekt 86 Rich Points 279 Ritterlichkeit 13 Ritual 227 Routineformel 79, 297 salonkonversationelle Höflichkeit 61 Schema 228 Schimpfwort 21 Schlüsselkompetenz 270 second-order politeness 52, 216 sekundäre Semiose 115 Selbstdarstellung 59, 235 Selbstdegradierung 61 Selbstverständigung 65 Simulation authentischer Fälle (SAF) 284 Skript 228 Sachregister 340 <?page no="341"?> Smalltalk-Gespräch 296 Soft Skills 20 soziale Interaktion 30 Sozialrang-Anrede 63 soziopragmatische Höflichkeit 78 Sprachbewusstheit 279 Spracherwerb 269 sprachlicher Umgang 60 sprachliches Lernen 269 sprachliche Universalien 188 Sprachreflexion 51 Sprecherdeixis 94 Sprechstil 68 Ständegesellschaft 62 Standesrituale 59 Stereotypisierung 267 Stil 19 Stilebene 269 Stilwahl 61 Sympathie-Maxime 245 Synchronizität 249 Szenario 228 Szene 228 Takt 62, 264 Taktgefühl 69 Taktmaxime 188 Talkshow 29 tertium comparationis 256 Textstil 120 Titel 71, 74 To-do-Anweisungen 31 Transkriptanalyse 284 Transkulturalität 254, 268 Tu/ Vos-Unterscheidung 254 Übungstyp 281 Umgangsformen 26 Universalität 265 Unterbrechung 47 Verabschiedung 74 verankerte Beziehung 130 verbale Aggression 230 Verbeugung 72 Verhaltensstandard 16 Vermeidungsstrategie 192 Vertrautheitsform 88 Videokonferenz 250 Visite 67 Wangenkuss 72 WhatsApp-Dialog 250 Wortwahl 68 Wuhan-Shake 72 Zartgefühl 13 Zielgruppenorientierung 280 Zivilisationsprozess 68 Zivilisiertheit 14 Zivilität 13 Zuvorkommenheit 13 Zwanglosigkeit 60 Sachregister 341 <?page no="342"?> Personenregister Adamzik 136 Agar 278 Aijmer 229 Ammon 93 Androutsopoulos 249 Ankenbrand 71 Antor 268 Araújo Carreira 264 Arendholz 250 Arndt 210 Arundale 235 Aspekte 301 Bargiela-Chiappini 255 Beavin 133 Bedijs et al. 253 Beetz 60 Belica 35 Berliner Platz 301 Besch 63, 70, 88 Bianchi 156 Blum-Kulka 219, 255 Blum-Kulka et al. 255 Bolten 269 Bonacchi 110, 230, 248, 256 Bourdieu 221 Braun et al. 88 Brockhaus 64 Brown 88, 130, 167, 187 Bublitz 55, 133, 148, 198 Bühler 138 Burger 44, 103 Burger et al. 103 Buscha 81, 88 Castiglione 60 Clarke 139 COSMAS II 32 Coulmas 266 Culpeper 34, 201, 230 Culpeper et al. 229 Deppermann 141 de Scudéry 60 Dieckmann 291 Donalies 103, 115 Duden 88 Eelen 187, 221 Ehlers 220 Ehlich 216, 223 Ehrhardt 46, 87, 148, 173, 256, 269, 292, 297 Eisenberg 81, 88 Eismann 283 Elias 68 Erasmus von Rotterdam 59 Erlinger 30 Erll 274 Erndl 296 Escandell-Vidal 212, 214 Feilke 107 Filatkina 116 Flanagan 285 Fleischer 104 Fraser 195, 202 Freud 69 Freytag 253, 256, 263 Garfinkel 141 Gilman 88 Goffman 95, 128 Göttert 61 <?page no="343"?> Gracián 60 Grice 146, 187, 216 Grossmann 292 Gu 267 Günthner 266 Gymnich 274 Haase 86, 265 Habermann 96 Habermas 69 Haferland 111, 126, 158, 219 Hall 212 Halliday 205 Haugh 77, 168, 187, 226 Heine 270 Helbig 81, 88 Held 132, 198, 216, 219, 235, 237, 255 Hentschel 81, 88 Heringer 87, 89, 148, 225 Herring 249 Hickey 255 Hiller 281 Hofstede 271 Holly 170 House 219, 255, 260, 262 Humboldt 69 Hyvärinen 104 Ide 265 Jackson 133 Jakobson 138 Janney 210 Jary 212, 214 Jaszczolt 256 Kádár 77, 168, 187, 226, 255 Kádár/ Haugh 31 Kämper 71 Kasher 150 Kasper 219 Keibel 32 Keller 134, 163 Kerbs/ Müller 70 Kiesendahl 108 Kleinberger 292 Knapp 282 Knigge 15, 65 Kohz 88 Kotthoff 255, 263 Kretzenbacher 88 Kunkel 253, 256 Kupietz 32 Lakoff 167, 187 Lambertini 284 Lange 215 Leech 78, 165, 167, 187 Leggewie 268 Levinson 130, 148, 163, 167, 187 Lewis 225 Liang 267 Liedke-Göbel et al. 284 Liedtke 146, 148, 155, 292 Linke 60, 220 Locher 221, 236 Lüger 90, 103, 255, 292 Lüsebrink 268, 275 Macho 280 Malinowski 140 Marx 247 Meggle 147 Meibauer 87, 148 Meyer 110, 227 Montandon 67 Morris 301 Müller-Jacquier 276 Mulo-Farenkia 255 Nerlich 139 Neuhaus 83 Neuland 69, 72, 75f., 256, 270, 285, 290, Personenregister 343 <?page no="344"?> 297f. Nixdorf 256 Nolan 202 Ogiermann 256 Okamoto 267 Olshtain 219, 255 Paternoster 199 Paul 111, 126, 158, 219 Perkuhn 32 Peschel 290 Pittrof 67 Polenz 70 Radtke 97 Rasinger 255 Rathje 274 Recanati 141 Rings 255 Rupprecht-Stroell 270 Scharloth 71 Schlieben-Lange 69 Schlobinski 247 Schlund 87, 256 Schmölders 60 Schulz von Thun 142 Schumacher 59 Scialdone 297 Simmel 69 Simon 86, 88, 297 Spencer-Oatey 231, 235 Sperber 141, 156, 212 Spiegel 292 Stein 74, 103 Stewart 255 Stötzel 71 ten Thije 268, 284 Terkourafi 229, 255 Thomas 271 Tomasello 156 Topszewska 84 Valtl 93, 215 Vogler-Lipp 281 von Polenz 93 Vorderwülbecke 296 Watts 32, 56, 77, 187, 199, 216, 221, 233, 236 Watts et al. 52, 215, 255 Watzlawick 133 Weidacher 247 Weinrich 78, 81, 215 Welsch 254 Wengeler 71 Werkhofer 216 Weydt 81, 88 Wilson 156, 212 Yamashita 266 Yus 249 Ziegler 134 Zifonun 80f., 268 Zinnecker 75 Personenregister 344 <?page no="345"?> Abbildungsverzeichnis Abb. II.1: Knigge, Ausgabe im Insel Verlag (2008) © Suhrkamp Verlag . 18 Abb. II.2: Titelbild Gärtner/ Roth (2013). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Abb. II.3: Gebrauchsfrequenzen im COSMAS II-Korpus, Stand: 18.9.2020 33 Abb. II.4: Kookkurrenzprofil von Höflichkeit. wordle-Darstellung, Datengrundlage Belica 2001 ff., Stand: Mai 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Abb. II.5: Kookkurrenzprofil von höflich. wordle-Darstellung, Datengrundlage Belica 2001 ff., Stand: Mai 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Abb. III.1: Daniel Nikolaus Chodowiecki (1779): Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Abb. III.2: Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprechspiele (1644) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Abb. III.3: Über den Umgang mit Menschen. Inhaltsverzeichnis der 18. Originalausgabe, Hannover und Leipzig (1908, XIII/ XIV) . . . . . . . . . . . . 66 Abb. III.4: Die Sitten der guten Gesellschaft. Aus: Calm 1886 (Wikipedia zeno/ org) [12.08.2020] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Abb. III.5: So ändert das Coronavirus unsere Etikette: Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher beim Ellenbogen-Gruß (t-online v.1.9.2020) (c) picture alliance/ dpa / Bernd von Jutrczenka) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Abb. IV.1: Thematisierung von Höflichkeit in ausgewählten Grammatiken des Deutschen. 1. Dudengrammatik, 2. Eisenberg 2006b, 3. Hentschel/ Weydt 2013, 4. Weinrich 1993, 5. Helbig/ Buscha 2017, 6. Zifonun et al. 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Abb. V.1: Überschrift aus SPON zu einer Studie der Universität Iowa. Quelle: Maas 2016. SPIEGEL.de, bento, 1.11.2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Abb. V.2: Entwicklungsstufen der Höflichkeit nach Haferland/ Paul (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Abb. V.3: nach: Keller (2018, 291) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Abb. V.4: Sprachfunktionen im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Abb. V.5: Dimensionen der kommunikativen Beziehungsaktivität nach Holly 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Abb. V.6: Ordnungsrufe im deutschen Bundestag. Quelle: DER SPIEGEL 29/ 2019, Seite 22, Stand 29.6.2019, 19. Legislaturperiode . . . . . . . . . . . . . 178 Abb. VI.1: FTAs nach B/ L . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 <?page no="346"?> Abb. VI.2: Realisierung von FTAs nach B/ L (1987, 60) . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Abb. VI.3: Verbotsschild in einem Einkaufszentrum in Siegen . . . . . . . . 196 Abb. VI.4: Höflichkeitsmaximen nach Leech 2014, 91 (O=Other/ AdressatIn, S=Self/ SprecherIn, die Verf.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Abb. VII.1: Verbotsschild in Coimbra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Abb. VII.2: Parkverbot in Pesaro/ Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Abb. VII.3: Dimensionen kontrastiver Höflichkeit Deutsch-Britisch nach House (2005, 21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Abb. VII.4: Vereinfachte Darstellung kulturkontrastiver Vergleiche. Nach: Neuland/ Peschel (2013, 38) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Abb. VII.5: Polare Differenzen von Kulturdimensionen bei Hofstede (2001) am Beispiel Individualismus - Kollektivismus (in: Heringer 2017a, 144 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Abb. VII.6: Modell der Zwischenkultur nach Bolten (1993, 113) . . . . . . . 273 Abb. VII.7: Drei Teilkompetenzen der interkulturellen Kompetenz nach Erll/ Gymnich (2007, 11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Abb. VII.8: Interkulturelle Kompetenz (am Beispiel des Wirtschaftsbereichs) nach Lüsebrink (2012, 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Abb. VII.9: Phasenmodell interkultureller Interaktionssituationen nach Müller-Jacquier (1999, 51 f.). Hier nach der Darstellung in: Lüsebrink (2012, 53) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Abb. VII.10: Hotspots nach Agar (1994, 100), Darstellung von Heringer (2017a, 161) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Abb. VII.11: Analyseraster für interkulturelle Kommunikation nach Müller-Jacquier (1999, 56), vgl. auch Lüsebrink (2012, 52) . . . . . . . . . . . . 282 Abb. VII.12: Unterrichtsbeispiel aus Deutschbuch 8 (2006, 68) . . . . . . . . . 293 Abb. VII.13: Stufen 3 (1989, 121) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Abb. VII.14: Stufen 3 (Stufen 1989, 116) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Abb. VII.15: Sprachbrücke 1 (1987, 196) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Abbildungsverzeichnis 346 <?page no="347"?> Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de ,! 7ID8C5-cffebb! ISBN 978-3-8252-5541-1 Claus Ehrhardt | Eva Neuland Sprachliche Höflichkeit Höflichkeit ist ein wichtiges Thema laienlinguistischer Überlegungen zu Sprache und Kommunikation. Seit einiger Zeit hat es sich auch zu einem zentralen Gegenstand linguistischer Forschungsansätze entwickelt. Der Band stellt die wichtigsten sprachwissenschaftlichen Theorien zur Höflichkeit vor und zeigt ihre Verflechtung mit Nachbardisziplinen auf. Es handelt sich um die erste deutschsprachige Publikation, die einen aktuellen Überblick über das Forschungsgebiet samt Anwendungsfeldern bietet. Sprachwissenschaft | Germanistik Ehrhardt | Neuland Sprachliche Höflichkeit QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 55411 Ehrhardt_M-5541.indd 1 55411 Ehrhardt_M-5541.indd 1 28.04.21 10: 34 28.04.21 10: 34
