Wozu Liberalismus?
Struktur, Krise und Perspektiven liberaler Demokratie
0111
2021
978-3-8385-5544-7
978-3-8252-5544-2
UTB
Heribert Nix
Der Autor erforscht, inwiefern die Ursachen für das Ende seiner Dominanz im Liberalismus selbst zu suchen sind.
Im Buch werden zudem die Grundlagen unserer Freiheit erläutert. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob wir uns diese heute noch leisten können oder vielleicht aufgeben müssen, um den heutigen Herausforderungen begegnen zu können.
Ausgehend von den Konsequenzen des (Neo-)Liberalismus werden schließlich Perspektiven ausgeleuchtet, inwieweit ein anderes Verständnis davon womöglich unsere Demokratie und damit unsere Freiheit zu retten vermag.
<?page no="0"?> Heribert Nix Wozu Liberalismus? Struktur, Krise und Perspektiven liberaler Demokratie <?page no="1"?> utb 5544 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="3"?> Heribert Nix Wozu Liberalismus? Struktur, Krise und Perspektiven liberaler Demokratie UVK Verlag · München <?page no="4"?> Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.dnb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 1. Auflage 2021 © UVK Verlag 2021 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Cover-Illustration: © iStock rue_wi Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de UTB-Nr. 5544 ISBN 978-3-8252-5544-2 (Print) ISBN 978-3-8385-5544-7 (ePDF) <?page no="5"?> Inhalt 1 Politische Unordnung 7 2 Liberalismusdämmerung? 13 2.1 Ist der Westen naiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.2 Grenzenloser Liberalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3 Zerstört Liberalismus, wonach er strebt? . . . . . . . . . . 53 2.4 Staatsmonopolliberalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.5 Das Ende sozialer Marktwirtschaft? . . . . . . . . . . . . . 88 2.6 Schützt Liberalismus vor Autoritarismus? . . . . . . . . . . 104 2.7 Demokratie nur, wenn’s Ergebnis passt? . . . . . . . . . . . 119 3 Perspektiven der Freiheit 147 3.1 Freiheit und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3.2 Selbstbestimmung und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 156 3.3 Repräsentation und Republik . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3.4 Liberalismus und Individualismus . . . . . . . . . . . . . 175 3.5 Konservatismus und Autoritarismus . . . . . . . . . . . . 211 3.6 Universalismus und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . 232 3.7 Realismus und Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Literatur 279 <?page no="7"?> 1 Politische Unordnung Die Grundfesten der modernen politischen Ordnung sind erschüttert. Wir hielten die Demokratie für unvermeidbar, weil sie allein Legitimation zu verschaffen vermag. Dass sich Macht auch ohne Demokratie sichern lässt, war zwar bekannt, aber man hielt das nur unter Bedingungen wirtschaftlicher Rückständigkeit für möglich. Heute aber müssen wir feststellen, dass der wirtschaftliche und politische Einfluss antidemokratischer Kräfte zunimmt. Dabei stützen die sich auf Konzepte, die sie vom liberalen Westen übernommen haben, auf deren legitimierende Wirkung sie nicht verzichten wollen. Sie lassen ebenfalls wählen und schützen damit die demokratische Grundlage ihrer Macht vor. Sie stützen sich gleichermaßen auf republikanische Institutionen und weisen damit ihre Regierung als verfassungskonform aus. Sie pflegen scheinbar ordentliche Rechtsverfahren und begründen damit die Rechtmäßigkeit ihrer fragwürdigen Verurteilungen. Sie unterhalten all jene Institutionen, für die ihnen der Westen versichert hat, dass sie Legitimität verleihen. Sie inszenieren perfekte »strukturelle Isomorphie«, 1 indem sie hochgradige institutionelle Ähnlichkeit herstellen. Autoritäre Regime bedienen sich der gleichen republikanischen Mittel wie liberale Staatswesen, sodass sich formal kaum unterscheiden lässt, welche Regierung Anspruch auf Legitimität erheben kann und welche nicht. Der moderne Autoritarismus bedient sich lediglich einer Radikalisierung des grundlegenden republikanischen Prinzips, das direkte Demokratie dadurch hemmt, dass es die Regierung durch zwischengeschaltete Institutionen von der Mitbestimmung des Volkes entkoppelt. Eine solche »Entkopplung zwischen allgemein verkündeten Werten und praktischem Handeln« 2 beschränkt sich mittlerweile allerdings nicht mehr allein auf immer schon zweifelhafte Regime, sondern wird zunehmend auch in den gefestigt ge- 1 Meyer u. a., »Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat«, S. 85. 2 Ebd., S. 101. 7 <?page no="8"?> glaubten Republiken des Westens beklagt, entsprechend hat die Diagnose einer »Postdemokratie« von Colin Crouch viel Beachtung gefunden. Der Begri bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, daÿ Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die ö entliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daÿ sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. 3 Für ebenso unerschütterlich wie die republikanische Demokratie hielten wir auch die Grundrechte , zumal nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Wir glaubten uns für immer dagegen gefeit, Unmenschlichkeiten zuzulassen. Nun müssen wir aber feststellen, dass eben jene Menschenrechte, die wir als unantastbar würdigten, in Frage gestellt werden, sobald der Wohlstand darunter zu leiden droht. Dass außerhalb der Grenzen westlicher Wohlstandsgebiete Grundrechte ohnehin nie wirklich Relevanz entfalteten, hatten wir stets auf die dortige Rückständigkeit zurückgeführt; und dass sie auch direkt an unseren Grenzen nicht eingehalten werden, hatten wir lange verdrängt. Mittlerweile aber wird nicht nur offen toleriert, dass sie dort zur Verteidigung unseres Wohlstands außer Kraft gesetzt sind, sondern immer häufiger wird ihre durchgängige Geltung für alle Menschen auch innerhalb dieser Grenzen angezweifelt oder sogar offen verletzt, bis hin dass Familien getrennt und Kinder interniert werden. Unausweichlich schien uns auch der Kapitalismus . Hatte er doch seinen ärgsten Widersacher, den sowjetischen Kommunismus, niedergerungen. Doch nun zeigen sich als wirtschaftlich besonders erfolgreich jene Staaten, die zwar die Mechanismen des Kapitalismus ausnutzen, ohne sich aber selbst 3 Crouch, Postdemokratie , S. 10. 8 <?page no="9"?> kapitalistischen Prinzipien zu unterwerfen. Vielmehr scheint ihr Erfolg gerade darauf gegründet, dass sie mit Hilfe des sozialistischen Verfahrens zentraler Planung zielsicher jene Gelegenheiten ergreifen, die ihnen der Kapitalismus bietet. Ausgerechnet dieser verschafft ihnen somit die Mittel, um ihre zutiefst undemokratische, illiberale, menschenverachtende, anti-westliche und letztlich auch antikapitalistische Haltung mit großem Erfolg zu finanzieren. Die größten Profiteure des Kapitalismus sind nicht zuletzt marktfeindliche Autokraten - und das nicht nur jenseits des Westens, sondern auch dort gewinnen diese an Macht. Kapitalismus und Antikapitalismus vermengen sich unentwirrbar: Glaubte man, der Sozialismus wäre an der selbstzerstörerischen Inflexibilität seiner Fünfjahrespläne gescheitert, so findet man diese heute nicht nur in erfolgreichen autoritären Regimen, sondern auch in jedem größeren Konzern. Dort, in den Motoren unseres westlichen Selbstbewusstseins, herrschen in der Regel keine demokratischen, keine liberalen und teilweise auch keine kapitalistischen Regeln. Nicht Wahlen, Freiheiten und marktförmiger Wettbewerb prägen die internen Abläufe, sondern Hierarchien, Weisungen, Geltungsbedürfnis und das unaufhörliche Ringen um Macht. Schließlich galt uns auch der Liberalismus als unantastbar. Individuelle Freiheit war es, so glaubten wir, was Aufschwung, Fortschritt, Wohlstand und Überlegenheit brachte. Nun aber verbreitet sich der Eindruck, dass es genau dieser Liberalismus ist, der von Illiberalen skrupellos ausgenutzt wird. Chinesische Kommunisten nutzen die Liberalität des westlichen Kapitalismus, um sich zu einer Weltmacht aufzuschwingen. Autokraten in vielen Ländern nutzen die Liberalität der Demokratie, um die Macht zu ergreifen und Republiken von innen auszuhöhlen. Arbeitsscheue und Migranten, so empfinden es viele, nutzen die Liberalität des westlichen Rechtssystems, um sich am Sozialstaat zu laben. Terroristen nutzen die Liberalität des westlichen Lebensstils, um uns hinterrücks in Angst und Schrecken zu versetzen. so manche Großkonzerne schließlich nutzen die Liberalität westlichen Fortschrittsdenkens, um uns zu überwachen und all unserer Privatsphäre zu berauben. Aus dem Erfolgskonzept Liberalismus, so scheint es, ist der Kern aller neuartigen Bedrohungen erwachsen. Die ideellen Grundlagen unserer westlichen Ordnung erodieren. Ihre Wi- 9 <?page no="10"?> dersacher hielt man erst für Ewiggestrige und Kleingeister. Zunehmend aber erobert illiberales Gedankengut den Diskurs auch in gehobenen Kreisen. Eingängig verpackt und wissenschaftlich gerahmt, wird es salonfähig, an den Grundfesten unseres bisherigen Zusammenlebens zu zweifeln. Demokratie, Grundrechte, Kapitalismus und Liberalismus sind ihre Unantastbarkeit abhanden gekommen. Der »Konsens« darüber hat sich aufgelöst und weit hinter uns liegt die Hybris der 1990er Jahre, wie sie Francis Fukuyama hochmütig zum Ausdruck brachte: »das Ideal der liberalen Demokratie ist nicht verbesserungsbedürftig.« 4 Von Vielen ebenso lieb gewonnene wie unhinterfragte Fundamente der westlichen Moderne verlieren damit ihre Selbstverständlichkeit. So sehr manche diese gern jeder Diskussion entziehen würden, entkommen sie doch nicht den unübersehbaren Erschütterungen. Jahrzehntelange intellektuelle Kritik konnte ihnen nichts anhaben, das schiere Machtverlangen von Konzernen und Politikern hingegen schon. Fukuyama sprach vom »Ende der Geschichte« und sah ein immer währendes Zeitalter der liberalen Demokratie heraufziehen. Denn die liberale Demokratie bleibt das einzige klar umrissene politische Ziel, das den unterschiedlichen Regionen und Kulturen rund um die Welt gemeinsam vor Augen steht. 5 Doch nicht Wenige befürchten, dass eine Zeit gekommen ist, in der die liberale Demokratie das Ende ereilt. Noch größere Beklemmung weckt, dass der menschlichen Zivilisation tatsächlich das Ende ihrer Geschichte droht und die liberale Demokratie nicht der Herausforderung gewachsen ist, die Katastrophe abzuwenden. Galt unsere politische Ordnung vor dreißig Jahren noch als die für alle Zeit Bestmögliche, erscheint sie mittlerweile vielen nicht mehr zukunftsfähig. Angesichts autoritärer und ökologischer Bedrohungen lässt sie Stabilität vermissen und bietet eher ein trauriges Bild politischer Unordnung. 4 Fukuyama, Das Ende der Geschichte , S. 11. 5 Ebd., S. 14. 10 <?page no="11"?> Die vermeintlich wohlgeordnete Welt des republikanischen Westens hat eine Auseinandersetzung mit ihren eigenen Grundlagen lange vernachlässigt. Statt sich ihrer immer wieder neu zu versichern, geriet so die Basis unseres Zusammenlebens beinahe dogmatisch. Republikanische Demokratie, Kapitalismus und Liberalismus nahmen eine unbezweifelbare Stellung ein, an der eine oftmals ebenso dogmatische intellektuelle Kritik abprallte. Jedenfalls blieb die Debatte stets abgehoben akademisch, ohne die Bevölkerung insgesamt zu erreichen und oft auch ohne sie, getragen von einer gewissen Hochnäsigkeit, tatsächlich erreichen zu wollen. Dieses Versäumnis nutzen die neuen Gegner nun, um auf Selbstgefälligkeiten und Inkonsistenzen ebenso genüsslich wie ruppig hinzuweisen. Doch auch anti-liberales Denken birgt Widersprüche und so gleitet die Diskussion schnell in schlichte Konfrontation ab, sodass vielen ein vermeintlich undogmatischer Realismus attraktiv erscheint. Dessen Konsequenzen sind allerdings nicht weniger gefährlich für eine liberale Demokratie, wie deren unverhohlene Ablehnung. Wie der erste Teil des vorliegenden Buches zu verdeutlichen sucht, hätte ein pragmatisch anmutender Realismus fatale Folgen für die Art unseres Zusammenlebens, so verführerisch unideologisch er sich auch geben mag. Der zweite Teil fragt deshalb nach dem Fundament eines Gemeinwesens, das den Liberalismus kritisch hinterfragt, ohne sich von dessen freiheitlichem Versprechen abzuwenden. <?page no="13"?> 2 Liberalismusdämmerung? 2.1 Ist der Westen naiv? Die Europäische Union galt einmal als Modell der Zukunft. Viele wollten sich ihr anschließen, um an einer liberalen Gemeinschaft teilzuhaben, die den nationalistischen Geist hinter sich lässt. Es ging darum, einen Weg aufzuzeigen, wie ein Zusammenleben verschiedener Menschen und Völker ebenso friedlich wie zukunftsweisend aussehen könnte. Es sollte sich die Integrationskraft des Liberalismus zeigen, ohne die Arroganz des Westens zu verstärken: freier Handel, liberalisierte Märkte, offene Grenzen, zuverlässige Rechtsstaatlichkeit. Die EU wollte überzeugen, nicht überwältigen. Galt dieses Projekt Europa lange als liberale Erfolgsgeschichte mit nachhaltigem Integrationseffekt, so erscheinen sowohl Erfolg als auch Integration mittlerweile gefährdet. Die so ordnungsliebende Europäische Union wirkt ungewohnt unaufgeräumt. Ereignisse und Strömungen unterlaufen für selbstverständlich gehaltene Spielregeln: Weder Flüchtlinge noch so manche europäische Regierung oder exotische Krankheit wollen sich an Vorgaben halten und die Briten nehmen nach 45 Jahren Mitgliedschaft Abschied. Es entsteht der Eindruck, dass nach Jahrzehnten rascher Erweiterung sich die EU auf einen Wendepunkt zubewegt. Hat sie ihr Potential überdehnt? Droht aus dem Zukunftsmodell des Liberalismus ein Symbol für dessen Untergang zu werden? Noch ist die Union nicht zerbrochen und der Liberalismus nicht untergegangen, doch nie zuvor war die Möglichkeit des Scheiterns für beides so präsent. Drastische Veränderungen vollziehen sich. Diese entfalten auch deshalb solche Verunsicherung, weil sie im starken Kontrast zu der lange Zeit präsenten Auffassung stehen, dass der Westen die Formel für Erfolg gefunden hatte. Der Liberalismus wurde als Garant für wirtschaftlichen Fortschritt gese- 13 <?page no="14"?> hen und nicht zuletzt über internationale Organisationen in alle Welt getragen: Francis Fukuyama sah bereits 1992 das »Ende der Geschichte« gekommen, weil sich die »liberale Idee « als »siegreich erweist« 1 und gegen alle anderen politischen und wirtschaftlichen Systeme durchgesetzt habe. Zugleich trieben Weltbank und Welthandelsorganisation die wirtschaftliche Liberalisierung in aller Welt voran unter Maßgabe des so genannten Washington Consensus , den Jean Ziegler folgendermaßen charakterisiert: »Der Konsens von Washington bezweckt die Privatisierung der Welt.« 2 Dass auch die EU als Erfolgsmodell galt, darauf weist schon die zügige Erweiterung hin, in deren Zuge sich den sechs Gründungsmitgliedern in den vierzig Jahren von 1973 bis 2013 insgesamt 22 Staaten anschlossen. In dieser Zeit wurde über die vielen Makel der Brüsseler Bürokratie auch deshalb hinweggesehen, weil das Projekt Europa über jeden Zweifel erhaben schien. Doch heute haben Liberalismus wie EU derart an Selbstverständlichkeit verloren, dass ersterer vielen keine Perspektive mehr zu versprechen und für letztere selbst ein Zerfallen nicht mehr ausgeschlossen scheint. Bei Bürgern ehemals kommunistisch regierter Staaten weckt das Erinnerungen, haben sie doch den Niedergang großer politischer Institutionen und Ideen bereits hautnah erfahren. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev spricht deshalb nicht nur von einer »Europadämmerung«, sondern sieht Osteuropäer auch um eine wichtige Erfahrung reicher: Was mich fasziniert, ist die politische Macht eines Déjà-vu-Denkens , wie ich es nennen möchte eines Zustands, in dem man sich verfolgt fühlt von der Überzeugung, dass etwas heute Erlebtes die Wiederholung eines früheren Augenblicks oder einer früheren Episode der Geschichte sei. In diesem Sinne ist Europa nicht nur gespalten in links und rechts, Nord und Süd, groÿe und kleine Staaten, in solche, die mehr Europa, und solche, die weniger (oder 1 Fukuyama, Das Ende der Geschichte , S. 45. 2 Ziegler, Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher , S. 51. 14 <?page no="15"?> gar kein) Europa wollen, sondern auch in jene, die Zerfall aus eigener Anschauung, und jene, die ihn nur aus Lehrbüchern kennen. Das ist der Graben zwischen denen, die den Zusammenbruch des Kommunismus und den Zerfall des einstmals mächtigen kommunistischen Blocks am eigenen Leibe erfahren haben, und jenen, die von solchen traumatischen Ereignissen verschont blieben. 3 Man könnte daraus nun schließen, dass die Bewohner ehemals kommunistischer Staaten etwas erlebt haben, was man nur verstehen kann, wenn man selbst betroffen war. Ohne solch unmittelbare Erfahrung bleibe der Blick dagegen unzureichend, weil man nur über theoretisches Wissen verfüge. Den Westeuropäern wäre demnach der realistische Blick auf die Dinge abhanden gekommen, weil sie nicht über solch fundamentale Erfahrungen verfügen. Verschont von heftigen Einschnitten, hingen sie weltfremden Interpretationsmustern an, sodass sie Gefahr laufen, Realitäten zu verkennen, die Osteuropäern ins Auge fallen, wie Krastev nahelegt: Die unterschiedlichen Erfahrungen sind letztlich verantwortlich für die äuÿerst unterschiedlichen Interpretationen der aktuellen europäischen Krise, ob nun aus Budapester oder aus Pariser Sicht. Osteuropäer interpretieren den Stand der Dinge aus einem Gefühl von Angst oder sogar Schrecken heraus, während Westeuropäer weiterhin glauben, alles werde schon gut werden. 4 Wem es an entsprechenden Erfahrungen mangelt, fehle also das Gespür für die Härten des Lebens, weshalb etwa Westeuropäer naiverweise »weiterhin glauben, alles werde schon gut werden.« Es klingt ein wenig nach dem berüchtigten Vorwurf von Dekadenz, wonach ein bequemes Leben in Wohlstand den Blick auf die Realität verstelle. Die allzu oft an den Tag gelegte Hochnäsigkeit des Westens wäre demnach nicht einfach nur der Form halber unangemessen, sondern geradezu substantiell realitätsfern. 3 Krastev, Europadämmerung , S. 18. 4 Ebd., S. 19. 15 <?page no="16"?> Doch, so könnten Unerfahrene einwenden, über wieviele Dinge dürfte man nicht sprechen, wenn es tatsächlich auf eigene Erfahrung ankäme? Wieviele Abgeordnete dürften sich dann noch an der Diskussion über Agrarsubventionen beteiligen, welche die EU so großzügig verteilt, wenn doch die wenigsten davon Landwirte sind? Wieviele dürften tatsächlich über Krieg sprechen? Wer über die Zukunft (etwa von Digitalisierung und Automatisierung), die man ja noch gar nicht erlebt haben kann? Wer über Drogengesetze? Und wer dürfte eigentlich über den Tod sprechen? So sehr sich mancher das anders wünschen mag, sprechen doch häufig Menschen über Dinge, die sie nicht selbst erlebt haben. Nicht notwendig sind ihre Beiträge schlechter, zuweilen hilft Distanz sogar. Jedenfalls hält es offenbar niemand für nötig, dass ein Arzt alle Krankheiten durchlebt haben muss, die er behandelt. Entsprechend dürfte Norbert Elias mit seiner Einschätzung nicht allein sein, dass zu viel »Engagement« eher hinderlich und ein gewisses Maß an »Distanzierung« notwendig für Erkenntnis ist - insbesondere für wissenschaftliche. 5 Ja, man könnte die Argumentation sogar umkehren und den Osteuropäern entgegenhalten, dass sie »traumatischen Ereignissen« ausgesetzt waren, um nochmals Krastevs Worte zu benutzen. Traumata jedoch schärfen nicht unbedingt den Blick für die Wirklichkeit, sondern führen zu Angstzuständen, die mit emotionaler »Hilflosigkeit«, »Übererregung«, Vermeidungsverhalten und episodischem »Wiedererleben« 6 einhergehen können. Da ist es wieder, das déjà-vu ! Recht schnell ist jener Punkt erreicht, der so viele Diskussionen vergiftet: Man rechnet sich gegenseitig auf, wer nun die wertvolleren Erfahrungen gemacht hat und wem aufgrund seiner Biographie die einzig richtige Einschätzung der Lage möglich ist. Noch ohne über Inhalte gesprochen zu haben, ginge es nur noch darum, für sich allein die »legitime Sicht« 7 auf die Welt zu reklamieren und sein jeweiliges Gegenüber wahlweise als naiv, traumatisiert oder sonst wie zu diffamieren. Ein solcher »Kampf um Durchsetzung« 8 5 Elias, Engagement und Distanzierung , S. 14 f. 6 Pausch und Matten, Trauma und Traumafolgestörung , S. 9. 7 Bourdieu, Sozialer Raum und ›Klassen‹ , S. 22. 8 Ebd., S. 22. 16 <?page no="17"?> bringt keinerlei neue Erkenntnisse, sondern läuft darauf hinaus, die eigene Sicht der Dinge gegen die womöglich stichhaltigen Argumente von anderer Seite von vornherein zu immunisieren. Das führt offensichtlich direkt in eine unauflösliche Konfrontation, in der dann nur noch um eine Höherrangigkeit gestritten wird, von der sich die vermeintlich bessere Einschätzung unmittelbar ableiten lasse. Diskussionen - insbesondere politische - verlieren sich nur allzu oft in solcherlei eitles Statusgerangel. Einmal in diesem Ringen um den besseren Standpunkt gefangen, verstärkt sich die Konfrontation dann von selbst und so überrascht es wenig, dass Krastev im Zitat oben anhand von Paris und Budapest sinnbildlich den schärfsten Kontrast gegenüberstellt, steht doch die eine Stadt ebenso sehr für ein Bekenntnis zu wie die andere für eine Abkehr von der EU. Doch nicht nur von ihm werden Ost und West einander en bloc gegenüber gestellt, als gäbe es in Frankreich keine Rassemblement National (die sich bis Juni 2018 Front National nannte) und in den Nachbarländern nicht noch viele weitere europakritische Bewegungen, die in den letzten Jahren durchaus an Anhängern gewonnen haben. Zugleich täte man den Osteuropäern Unrecht, würde man sie alle mit der ungarischen Regierung auf einer Linie sehen. Versteifte man sich tatsächlich auf diesen Kontrast, beschriebe man Europa zweigeteilt in monolithische Blöcke fast wie zu Zeiten des Kalten Kriegs , ohne Rücksicht darauf, welche politische Vielfalt an unterschiedlichen Sichtweisen im Osten wie im Westen herrscht. Wo etwa finden Italien und das Baltikum in einer solchen Kontrastierung Platz? Und was ist mit all den Parteien und Bewegungen, die in Polen und der Slowakei ebenso auf die Straße gehen wie in Deutschland und Spanien? Wer diese Zweiteilung fortsetzt, verlängert eine politische Vergangenheit, die nichts anderes als einen solchen Gegensatz zuließ, in eine politische Gegenwart, die eben diesen zu überwinden sich anschickte. Dabei sollte niemanden überraschen, dass Jahrzehnte strikter Trennung und auch deren Aufhebung nachwirken, umso mehr hingegen, wie bereitwillig ein alter Gegensatz auf beiden Seiten gedanklich fortgeführt wird, nachdem sein institutionelles Fundament längst weggebrochen ist. Offenbar lassen gerade die dadurch verursachten Veränderungen und Verwerfungen vertraute Denkmuster besonders attraktiv erscheinen, versprechen sie doch Halt an einer zwar vergan- 17 <?page no="18"?> genen, dafür aber zumindest in der Rückschau geordneten Welt. Nur: Wird man damit neuen Entwicklungen gerecht? Bekommt man sie so überhaupt zu fassen? Oder nimmt man sich damit jede Möglichkeit, für eine andere Perspektive? Wer unbeirrt nach Ost und West trennt, dem werden zwangsläufig Unterschiede begegnen, die sie oder er den Antagonismen der Vergangenheit geschuldet glaubt; zugleich mindert ein solcher Blickwinkel jedoch die Sensibilität für Wandlungen, die sich seinem Wahrnehmungsmuster nicht fügen. Statt Entwicklungen auch nur wahrzunehmen, welche die historische Blockbildung überwinden, bleibt man im vertrauten Schema gefangen. Obwohl man sich, wenn man einen weniger vergangenheitsfixierten Blickwinkel einnimmt, durchaus über die Parallelität europakritischer Bewegungen in der ganzen EU ebenso wundern könnte und müsste wie über jene der weltweit anwachsenden Zweifel am Neoliberalismus, just in jenem Moment, in dem beide sich den angestrebten Zielen so nahe wähnten. 9 Zweifellos finden sich im Umgang mit dem wankenden Liberalismus Unterschiede, welche auf die antagonistische Vergangenheit von Ost und West zurückgehen, vor allem aber setzt dieser Antagonismus sich nicht einfach fort, sondern der Liberalismus erfährt seine Krise beiderseits der alten Kluft. Eine fortwährende Kontrastierung benennt nicht einfach nur Gegensätze, die auf unterschiedliche Vergangenheiten zurückgehen, sondern beschwört diese geradezu. Sie hält die Welt in Denkmustern gefangen, die kein Aufbrechen zulassen; und so wird die Frage, ob sich alte Gegensätze überwinden lassen, auch zu einer Frage danach, ob sich ihre Überwindung überhaupt denken lässt. Denn umgekehrt ist es viel einfacher: Kontraste verstärken sich, indem man sie betont, sie haben den »geradezu magischen, ›wirklichkeits‹schaffenden Effekt« einer »Selbsterfüllenden Prophezeiung«. 10 Wer den Konflikt will, bekommt ihn! Wenn man Verschiedenartigkeiten betont, gleichgültig welcher Art diese auch sein mögen, greift man unweigerlich aus der Unmenge bestehender Un- 9 Letztere Entwicklung fällt auch Krastev auf, allerdings ohne dass ihn das von der starken Kontrastbildung nach Ost und West abbringen würde. (vgl. Krastev und Holmes, Das Licht, das erlosch ) 10 Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein , S. 61. 18 <?page no="19"?> terschiede bestimmte heraus, während man andere zurückstellt, hebt damit das eine hervor und übergeht anderes. Jede Benennung bestimmter Merkmale führt damit zwangsläufig zur Ausblendung anderer. Schon die Benennung führt so zur Bekräftigung von Gegensätzen, die unter anderem Blickwinkel womöglich nur eine untergeordnete Rolle spielen. Denn anders als bei Naturgesetzen gilt in sozialen Dingen: Unterschiede bestehen nicht unabhängig vom Wissen um sie. Helium verhält sich nicht wie Wasserstoff, gleichgültig ob wir davon Kenntnis haben. Unterschiede zwischen Deutschen und Österreichern oder EU-Bürgern und EU- Ausländern dagegen sind nur wahrnehmbar, insofern sie buchstäblich gemacht werden und beständig eine Reproduktion erfahren, also Kommunikation einschließlich etwaiger schriftlicher Dokumente wie Reisepässe sie am Leben erhalten. Insbesondere in Grenzbereichen etwa von Bayern und Tirol oder Kroatien und Bosnien wäre ansonsten eine Unterscheidung noch nicht einmal anhand der Mundart zielsicher möglich. Immer wieder zeigt sich: Man muss vermeintliche Wesensunterschiede nur lange genug bekräftigen, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. Umso mehr Menschen das Gleiche zu wissen glauben, desto unausweichlicher reproduziert sich der Tatbestand. Wie Ossis, Wessis, Juden, Flüchtlinge oder welche Menschengruppe auch immer gesehen werden, hängt letztlich davon ab, welche Pauschalisierungen diesbezüglich beständig aufrecht erhalten werden. Da soziale Unterschiede weder naturnoch gottgegeben sind, bedürfen sie kontinuierlicher Reproduktion; oder um es klassisch mit einem Zitat von Peter Berger und Thomas Luckmann aus dem Jahr 1966 zu formulieren: Wissen über die Gesellschaft ist demnach Verwirklichung im doppelten Sinne des Wortes: Erfassen der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige Produzieren eben dieser Wirklichkeit in einem. 11 Von »objektiviert« ist hier die Rede, um darauf hinzuweisen, dass unser soziales Leben von »Vergegenständlichungen« 12 geprägt ist, die erst da- 11 Berger und Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit , S. 71. 12 Ebd., S. 65. 19 <?page no="20"?> durch zu Stande kommen, dass die Menschen sich in ihrem Zusammenwirken von verbreiteten Verständnissen leiten lassen. So lebt etwa das Rechtssystem allein von einem allgemeinen Vertrauen in seine soziale Wirksamkeit, wie schmerzlich bewusst wird, sobald unter chaotischen Umständen Zweifel daran aufkommen. Erfahrung allein jedenfalls und die daraus geschöpften Denkmuster verleihen nicht zwangsläufig eine bessere Sicht auf die Dinge, vielmehr kann mangelnde Distanz bekanntermaßen dazu führen, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Vor allem aber verleitet sie dazu, überkommene Unterscheidungen fortzuführen und damit alte Gegensätze fortleben zu lassen, selbst wenn diese bereits ihre Grundlage verloren haben mögen. Erfahrung schöpft notwendig aus der Vergangenheit und entsprechend liegen ihr die hinmaligen Konflikte und Einordnungen zugrunde, weshalb sie sich notwendig am Bestehenden orientiert. Umgekehrt läuft man aber Gefahr, Realitäten zu verkennen, wenn man Erfahrungen ausblendet. Erfahrung ist nicht alles, aber ohne sie geht es offenbar auch nicht. Insbesondere als gefährlich gilt, wenn man Idealen nachhängt und darüber die Widerstände der Wirklichkeit vergisst. Genau dieser Vorwurf wird einer EU gemacht, die nach einer liberalen Zukunft strebt, welche manchen mittlerweile illusorisch scheint. Krastev attestiert ihr fahrlässigen Idealismus: Die Europäische Union ist eine hochriskante Wette darauf, dass die Menschheit sich in Richtung einer demokratischeren und toleranteren Gesellschaft fortentwickeln wird. 13 Es erscheint wenig ratsam, einen Staatenbund auf einer Grundlage zu errichten, die man als unsicher oder gar »hochriskant« ansieht. Entsprechend könnte man Krastev stellvertretend für viele Anhänger von mehr Realismus hier einmal mehr so verstehen, dass er Naivität am Werke sieht. Wann immer von Idealismus und Realismus die Rede ist, liegt die grundsätzliche Frage nicht fern, ob man sich grundlegende Werte in politischen 13 Krastev, Europadämmerung , S. 26. 20 <?page no="21"?> Dingen überhaupt leisten kann. Muss es nicht allein darum gehen, sich im realpolitischen Ringen durchzusetzen? Gegen Konkurrenz, gegen Feinde, gegen ungeahnte Bedrohungen? Es mag sich zunächst wie ein Dienst an der Europäischen Union anhören, wenn jemand ihr Bestehen durch zu viel Idealismus gefährdet sieht. Doch birgt schlichter Realismus Gefahren, denn grundsätzlich scheint der überzeugte Realist durchaus bereit, jedwedes politische Prinzip zu opfern, wenn damit nur dem von ihm präferierten Ziel gedient ist: der Selbstbehauptung . Jedenfalls nennt er keine Prinzipien, die ihm unverfügbar erscheinen. Damit aber stellt sich die Frage, was dann eigentlich gerettet würde, wenn man dafür alle grundlegenden Werte preiszugeben bereit ist. Wofür lohnt es sich dann eigentlich, Macht zu erhalten? Jede Realpolitik mündet in das Dilemma, dass sie sich der Aufgabe annimmt, wie man Macht erhält, nicht aber wofür das gut sein soll. Doch abseits von den Mächtigen ist Politik nunmal kein Selbstzweck. Die Menschen, für deren Wohlergehen Politik betrieben werden sollte, profitieren von der Machterhaltung selbst nicht; diese hat für sie keinen eigenständigen Wert. Für einen Realpolitiker hingegen bedeutet jede Ausrichtung an Prinzipien eine Schwäche, weil dies zwangsläufig die Möglichkeiten der reinen Machterhaltung einschränkt. Tatsächlich misst die EU ihrem Selbstverständnis nach unter anderem Demokratie und Toleranz einen hohen Stellenwert bei, wie der Vertrag über die Europäische Union betont: Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschlieÿlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet. 14 14 Art. 2 EUV in Amtsblatt Europäische Union, Vertrag über die Europäische Union , S. C 21 <?page no="22"?> Die Europäische Union betrachtet Demokratie und Toleranz nicht als ein perspektivisches Ziel, vielmehr handelt es sich um Voraussetzungen für die Aufnahme in die Staatengemeinschaft. 15 Zugleich versucht sie tatsächlich selbst dazu beizutragen, dass diese Werte fortbestehen, indem sie für einen engen Austausch unter ihren Mitgliedstaaten sorgt, indem sie rechtsstaatliche Anforderungen stellt und indem sie Wert auf freie Wahlen legt. Worin Realisten eine naive Ausrichtung an hehren Idealen zu erkennen glauben, das ist dem Bemühen um den Erhalt der gemeinsamen Grundlagen geschuldet. Demokratie und Toleranz stellen für die EU keinen idealistischen Luxus dar, sondern eine notwendige Vorbedingung. Ihr Ende wäre gleichbedeutend mit demjenigen des Staatenbunds selbst, weil dieser in seiner engen Verzahnung ohne ein solches Fundament nicht vorstellbar erscheint. Wie sollte man sich sonst auf gemeinsame, für alle Beteiligte verbindliche Entscheidungen verständigen, wenn man einander mit Intoleranz gegenüberträte? Wie sollten Entscheidungsprozesse für weitreichende Belange, wie sie die EU behandelt, funktionieren, wenn in den einzelnen Staaten unterschiedliche Regierungssysteme herrschten, in manchen womöglich gar Diktaturen? Welcher Autokrat würde sich von anderen Völkern reinreden lassen, wenn er sein eigenes nicht mitbestimmen lässt? Gründet ein Staatenbund nicht auf Demokratie und Toleranz, gründet er also nicht auf Übereinkunft, bleibt demgegenüber nur die Dominanz eines Mitgliedsstaates, um eine gemeinsame Linie zu finden, wobei diese dann freilich eher auf eine Vorgabe denn auf Verständigung zurückgeht. Es ist wohl kein Zufall, dass einer Orientierung an Grundwerten im Osten mit mehr Skepsis begegnet wird, trägt man dort doch die Dominanz der Sowjetunion ebenso im kollektiven Gedächtnis wie das Schicksal sozialistischer Prinzipien. Letztere behielten nicht nur stets utopischen Charakter, sondern wurden zudem oft genug dazu genutzt, realpolitische Beweggründe notdürftig zu kaschieren. Wer im Osten an die Gültigkeit sozialistischer Grundsätze 202/ 17. 15 Das erste, das »politische« der so genannten Kopenhagener Kriterien , die bei Aufnahmen in die EU herangezogen werden, lautet: »Institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten.« (Europäischer Rat, Kopenhagener Kriterien ) 22 <?page no="23"?> glaubte, galt zweifellos als naiv. Vor dem Hintergrund einer solchen Erfahrung mag es tatsächlich schwer fallen, Prinzipien jedweder Art für relevant zu erachten. Das politische Überleben war von ihnen schlicht nicht abhängig, sie erfüllten lediglich eine Feigenblattfunktion. Aus einer solchen Perspektive gerät jede Befürwortung von Demokratie und Toleranz leicht zu einem Idealismus ohne realpolitische Wirkmächtigkeit und oft vorgeschoben: Schöne Ideen, aber unrealistisch und irreführend! In einer Demokratie jedoch können Grundwerte mehr sein als lebensfremde Wunschvorstellungen, vielmehr vermögen sie hier auch realpolitische Relevanz zu entfalten, insofern sie beim Wähler Unterstützung finden. Dahinter müssen keineswegs bloß idealistische Hirngespinste stehen, vielmehr dürfen sich Bürger davon die Stärkung ihrer eigenen Interessen versprechen, immerhin ermöglicht Demokratie mehr Einfluss auf politische Entscheidungen und Toleranz verhilft zu größerer Unabhängigkeit bei der Wahl des eigenen Lebensstils. Aus Wählersicht kann es deshalb jenseits allen Idealismus durchaus sinnvoll sein, sich für vermeintlich idealistische Prinzipien einzusetzen, da diese von realem Interesse sein können. So lange die Macht jedoch in den Händen von Wenigen liegt, verkommt jede Rede von Grundwerten zu einem machiavellistischen Manöver, hinter dem sich die Verfolgung politischer Egoismen verbergen lässt. Wobei, wenn hier sein Name in der üblichen Verwendung zur Bezeichnung machtgierigen Verhaltens herangezogen wird, nicht unerwähnt bleiben soll, dass selbst Niccolò Machiavelli Macht nicht als Selbstzweck ansieht, sondern als Mittel zur Sicherung des Friedens und mittelfristig im Sinne der Untertanen: Gut angewandt kann man grausame Mittel nur nennen wenn es überhaupt erlaubt ist, etwas Schlechtes gut zu heiÿen , wenn man sie auf einmal anwendet und nur aus der Notwendigkeit heraus, um sich zu sichern, dann aber nicht damit fortfährt und sie jedenfalls zum gröÿtmöglichen Nutzen der Untertanen wendet. 16 16 Machiavelli, Der Fürst , S. 38. 23 <?page no="24"?> Erst wenn alle Bürger gemeinsam Macht ausüben, kann sich das Interesse substantiell auf Grundwerte selbst richten, da damit Mitbestimmung unmittelbar verknüpft bleibt. Nicht aufgrund einer wie auch immer gearteten moralischen Bedeutsamkeit gewinnen Prinzipien dann Wirkmächtigkeit, sondern weil sie von Menschen eingefordert werden, die darin wiederum die Voraussetzung für ihre eigene politische Partizipation erkennen. Wer die Wahrung seiner Grundrechte hingegen anderen überantwortet, hat sie bereits aufgegeben. Oft genug leidet die Rede von Werten darunter, dass diese als ein Idealismus abgetan werden, der die Realität ausblende. Letztlich aber gründen normative Überzeugungen, sofern sie allgemein Anerkennung finden, auf dem Einvernehmen, dass sie die notwendige Grundlage des Zusammenlebens bilden. Zur Naivität verkommen Grundwerte erst in den Händen von Mächtigen, die sich ihrer bedienen, wenn dies ihrem Machterhalt entgegenkommt, und an ihnen vergehen, sobald sie diesem im Weg stehen. Sobald die Macht aber nicht im Zugriff der Wenigen sondern der Vielen liegt, entwickeln normative Überzeugungen einen eigenen Stellenwert, eine »Realität sui generis«. 17 Sie sind nicht mehr nur Manövriermasse machiavellistischen Machtstrebens, sondern entfalten selbst Macht. Aus wohlfeilen moralischen Wunschvorstellungen erwachsen dann handfeste politische Interessen. Wer es nun für einen Geburtsfehler der EU hält, dass sie Zusammenleben und insbesondere Kooperation an bestimmte Voraussetzungen knüpft, äußert damit nicht so sehr Zweifel an ihrer Zukunftsfähigkeit, sondern vielmehr an ihrem Wesenskern. Immerhin hat man sich von ihrer Gründung versprochen, dass sie Völker einander näher bringt, die sich zuvor in zwei Weltkriegen unerbittlich bekriegt hatten. Sie wurde nicht zuletzt geschaffen, um »Sicherheit und Frieden« 18 zu wahren - und von diesem Geist wurde auch die Osterweiterung ein gutes Stück mitgetragen. Wer diese Grundlagen für entbehrlich hält, reduziert die EU zum reinen Selbstzweck. Ihn kümmern keine konkreten Inhalte, sondern er zielt dann allein auf Bestandserhaltung. Damit tritt er mit Wahrnehmungskategorien 17 Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode , S. 109. 18 Weidenfeld, Die Europäische Union , S. 19. 24 <?page no="25"?> an Europa heran, die der Denkschule des politischen Realismus entspringen, für die der Kampf um Macht universellen Charakter in Zeit und Raum hat und eine unwiderlegliche Erfahrungstatsache darstellt. Es kann nicht geleugnet werden, daÿ immer in der Geschichte, ohne Rücksicht auf soziale, wirtschaftliche und politische Verhältnisse, die Staaten gegeneinander im Kampf um die Macht standen. 19 Ging seit Hans Morgenthau dieses theoretische Paradigma davon aus, in zwischenstaatlichen Verhältnissen einzelne Nationalstaaten als Nutzen optimierende Akteurseinheit auffassen zu können, die einem einhelligen Interesse folgt, ergibt sich aus einer solchen Vereinfachung, angewandt auf die EU, die Ausblendung von deren Heterogenität. Um das realpolitische Kalkül auf Europa beziehen zu können, muss man folglich seine Vielfalt ausblenden, weshalb jedes Bekenntnis zum Realismus nicht zufällig zunächst in eine scharfe Trennung von Ost und West sowie dann nach unterschiedlichen Staaten führt. Es mündet geradezu zwangsläufig in ein nationalstaatliches Denken. Mehr noch als bei Nationalstaaten aber werden bei einem Staatenbund die Grenzen eines solchen Blickwinkels deutlich. Die EU prägt ein kontinuierlicher Verhandlungsprozess ihrer Mitgliedsstaaten, aus dem bestenfalls resultiert, dass sie als Akteur auftreten kann, oft genug aber ihre Uneinheitlichkeit deutlich wird. Sie kennt kein intrinsisches Interesse, sondern vertritt stets nur das Verhandlungsergebnis ihrer Mitglieder. Von diesen ist allerdings nicht selten eine Machterweiterung der EU-Administration gar nicht gewünscht. Das hat zur Folge, dass originär EU-eigene Interessen allenfalls die Brüsseler Behörden verfolgen, was dann bei Mitgliedstaaten und Bürgern gleichermaßen zu Misstrauen führt, sobald dies ruchbar wird. Zwingt der politische Realismus bereits auf nationalstaatlicher Ebene zu einer starken Vereinfachung, die das innenpolitische Geschehen ausblendet, so wird das gleiche Vorgehen der Komplexität europäischer Politik bei weitem nicht gerecht. Obwohl schon bei der US-amerikanischen Außenpolitik 19 Morgenthau, Macht und Frieden , S. 75. 25 <?page no="26"?> sich unübersehbar zeigt, dass diese nicht unabhängig vom politischen Ringen im Land gesehen werden kann, behandelt der Realismus politische Akteure als homogene Einheiten und »schaut nur auf das Staatensystem, nicht mehr in die Staaten.« 20 Bei der EU erscheint eine Reduzierung auf Interessen des Staatenbundes dann vollends abwegig, weil es keine gemeinsame Außenpolitik gibt. Europäische Politik bleibt ohne Betrachtung der innereuropäischen Verhältnisse in und zwischen ihren Mitgliedstaaten unverständlich. Wer nun unterstellt, Europa stehe sein Idealismus im Weg, verwechselt eine weltfremde Sehnsucht nach hehren Zielen mit der aus zwei Weltkriegen gewonnenen Befürchtung, dass ohne Demokratie und Toleranz der nächste kriegerische Konflikt nur eine Frage der Zeit sein dürfte. Er konzentriert sich damit ganz in der Tradition des politischen Realismus allein auf gegenwärtige Interessen und leitet daraus ab, dass es für die EU als Institution aktuell hilfreich sein könnte, von grundlegenden Prinzipien abzurücken, um keine Macht einzubüßen. Doch selbst wenn dies kurzfristig zutreffend wäre, zerstörte man damit mittelfristig die Grundlage der Gemeinschaft. Ein solcher Zusammenhang liegt allerdings jenseits der Reichweite jedes gegenwartsfixierten Nutzenkalküls. Wie hier, so entzieht sich dem politischen Realismus generell jegliches Beharren auf Prinzipien, sobald sich deren Verfolgung mühevoll gestaltet und daraus kein unmittelbarer machtpolitischer Nutzen ableiten lässt. Das liegt aber weniger an den jeweiligen Prinzipien als vielmehr an ihm selbst. Indem er alles der Macht und ihrem Erhalt unterordnet, erkennt er keine anderen Kriterien an. Auf dem Altar des Machtstrebens, und sei dieses noch so kurzfristig, muss im Zweifel jedes Prinzip geopfert werden und sei dieses langfristig noch so vielversprechend. Einem solchen Blickwinkel muss verborgen bleiben, dass sich die EU auf diesem Weg nicht retten lässt. Denn im gleichen Maße, in dem sie sich von den Bürgern abwendet, werden sich diese auch von ihr abwenden und das in Wahlen zum Ausdruck bringen - wie man bereits erleben kann -, eben weil Demokratie nicht Ziel, sondern bereits vorhanden ist. Wie soll die EU da Bestand haben? Schon heute führt Bürgerferne zu einem Verdruss, der EU-skeptischen 20 Krell, Weltbilder und Weltordnung , S. 117. 26 <?page no="27"?> Parteien europaweit großen Zulauf verschafft. Nicht zu viel Demokratie hat die gegenwärtige Ablehnung der Brüsseler Bürokratie heraufbeschworen, sondern dass die demokratische Legitimation von Entscheidungen im dortigen Institutionengewirr bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird, weshalb man auch von einer »potemkinschen Demokratie« 21 sprechen könnte. Verdruss aber lässt sich nicht machtpolitisch erklären: Der Machtpolitiker versucht seine Macht auszubauen, gerade weil er die Wirksamkeit der Machtverhältnisse anerkennt und vom Überlegenen nichts anderes als die maximale Ausnutzung seiner Möglichkeiten erwartet. Der Realist strebt nach Macht, eben weil er das Nachsehen des Unterlegenen fürchtet, aber akzeptiert. So selbstverständlich ihm der Wettstreit um Macht ist, so selbstverständlich muss er auch das Los des Verlierers hinnehmen, ohne sich darüber zu beklagen. Verdruss kann demgegenüber nur entstehen, wenn die Machtverhältnisse nicht dem entsprechen, was man für gerechtfertigt hält, wenn man sie nicht als gegeben hinnimmt, wenn man sie schlicht nicht akzeptiert. Er orientiert sich nicht am ohnehin Bestehenden, sondern an berechtigten Erwartungen. Dabei dürfte Machtunterlegenheit eigentlich gar nicht Grund für eine verbreitete Politikverdrossenheit sein, sofern das Volk tatsächlich jene Souveränität verkörperte, die ihm der demokratischen Idee nach zusteht, schließlich ginge von ihm dann jegliche Macht überhaupt erst aus. Doch das erweist sich zunehmend als Chimäre und so ergibt sich der Verdruss aus der Enttäuschung berechtigter Ansprüche und Hoffnungen. Diese erwachsen einem modernen Staatswesen ebenso wie der EU gegenüber aus deren eigenen freiheitlichen Prinzipien, wonach niemand sich als unmündiger Untertan ansehen und keine Herrschaftsansprüche anerkennen muss, die sich nicht letztlich auf die Zustimmung der Beherrschten zurückführen lassen. Gibt ein Staat oder auch ein Staatenbund sich nun vor seinen Bürgern als demokratisch aus, bedient er zweifellos solche Erwartungen. Er räumt Ansprüche auf Mitbestimmung ein, deren Nichterfüllung dann zwangsläufig Enttäuschung nach sich zieht. Kurzum: Verdruss entsteht, wo Politik Hoffnungen schürt, die sie unerfüllt lässt. Wenn sie Ansprüche formal anerkennt, 21 Vauchez, Europa demokratisieren , S. 37. 27 <?page no="28"?> die sie praktisch nicht einzulösen gewillt scheint, darf sie sich nicht darüber wundern, dass ihr Ablehnung entgegen schlägt - seien diese Ansprüche aus machtpolitischer Sicht auch noch so illusorisch. Institutionen, die sich selbst demokratisch nennen, rufen Verachtung hervor, wenn Bürger diese Einschätzung nicht vorbehaltlos teilen. Wann immer sie den geweckten Erwartungen gegenüber eher hinderlich auftreten, büßen sie Vertrauen ein. Statt höchster Anerkennung ernten sie Misstrauen. Schaffen sie es nicht, weitestgehende Zustimmung zu ihrem Aufbau zu erlangen und zu erhalten, wird sich die Bevölkerung über kurz oder lang abwenden. Das gilt für jede Regierung, jede Behörde und auch für die EU. So lange es einem Apparat, der sich selbst demokratisch nennt, nicht gelingt, dass jene Bevölkerung, der er damit die Herrschaft zuerkennt, diese Selbstbeschreibung als voll und ganz gerechtfertigt ansieht, entfremdet er sich notwendig von jenen, deren Diener zu sein er vorgibt. Im Rahmen eines demokratischen Selbstverständnisses können deshalb Ansprüche, die sich aus grundlegenden Prinzipien ableiten, ganz offensichtlich eine soziale Kraft entfalten, die politischen Realisten verschlossen bleibt. Denen ist schon aufgrund ihres Blickwinkels unverständlich, weshalb man an Grundwerten und Zielvorstellungen festhalten sollte, die nicht unmittelbaren Machtgewinn oder zumindest Machterhalt versprechen. Ihre Denkweise lässt streng genommen überhaupt keine Prinzipien zu, sondern folgt lediglich stur der Mechanik des machtpolitischen Nutzenkalküls, 22 ohne sich weiter um die daraus resultierende Paradoxie zu scheren, dass Prinzipienlosigkeit damit zum Prinzip erhoben wird. Aber wenigstens wissen so alle anderen, dass auf Zusicherungen von politischen Realisten kein Verlass ist. Anhänger des politischen Realismus stehen in einer Tradition von Thomas Hobbes , die das Geschehen auf einen simplen Mechanismus reduziert, wonach der Mensch stets nach Macht strebt, weil er um seine Sicherheit fürchtet, so lange andere ihm gefährlich werden können: Und wegen dieses gegenseitigen Miÿtrauens gibt es für 22 Der politische Realismus folgt »the Realpolitik tradition which assumes that human beings are governed by a drive for power« (McKinlay und Little, »The Realist Model«, S. 82) 28 <?page no="29"?> niemand einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie Vorbeugung, das heiÿt, mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groÿ genug wäre, ihn zu gefährden. 23 Eine Freiheit des Willens oder auch nur der Entscheidung ist nicht vorgesehen. Der homo potestas ist ebenso eindimensional wie der homo oeconomicus . Richtet man seinen Blick allein auf Möglichkeiten der Machtmaximierung, kann man zwar für die Interaktion unter Staaten ebenso wie unter Individuen oftmals durchaus berechtigte Erwartungen bezüglich des unmittelbar bevorstehenden Verhaltens ableiten, nicht jedoch längerfristige Motive. So mag das Streben nach Machterhalt Lenins Abkehr von jenen sozialistischen Prinzipien erklären, die er selbst vor der Oktoberrevolution noch hochgehalten hatte, nicht jedoch, wie er zuvor zu eben diesen gelangt war, deren Zuspruch es immerhin erst erlaubte, den Ausgang der Revolution für sich zu entscheiden. 24 Ebenso wenig entspringt die Gründung einer sozialen Bewegung oder einer Partei in der Regel machtpolitischen Erwägungen, dafür oftmals ihr Verhalten, wenn sie sich etabliert hat. Einmal zur Macht gelangt, wird aus Idealismus allzu häufig Realismus. Aus einem Streben nach inhaltlichen Zielen wird eines nach inhaltsloser Macht. Der Ursprung der eigenen Macht aber liegt oft genug in einer Idee, für die sich Unterstützung in einem Umfang fand, ohne den man weiterhin der Bedeutungslosigkeit anheim gefallen wäre. Während sich also der Aufstieg einer Bewegung regelmäßig auf ihre inhaltliche Ausrichtung zurückführen lässt, tritt diese später nicht selten hinter taktischen Manövern zurück. Augenscheinlich verlangt die Bevölkerung nach sachlichen Positionen, andernfalls würden neue Bewegungen nicht immer wieder solchen Zuspruch erfahren, wogegen macht-getriebene Lobbyverbände abgelehnt werden. Ebenso regelmäßig macht sich aber Ernüchterung breit, sobald Richtungskämpfe die inhaltliche Ebene verlassen. 23 Hobbes, Leviathan , S. 95. 24 Vgl. Hildermeier, Russische Revolution , S. 36 ff. 29 <?page no="30"?> Der Mensch strebt offenbar doch nicht immerdar nach Macht, wie sich Machiavellisten das ausmalen, umgekehrt aber strebt häufig nach ihrem Erhalt, wer einmal in ihren Genuss gelangt ist. Kaum jemand scheint bereit, aufzugeben, was sie oder er einmal erlangt hat. In gewisser Weise erweitert Macht nicht die eigenen Möglichkeiten, sondern schränkt sie ein: Man wird zum Sklaven des eigenen Status, den man nun mit allen Mitteln zu verteidigen sucht und zum einzigen Ziel erhebt, obgleich man ihn durch das Eintreten für andere Ziele und Mittel erlangt hatte. Realisten nun blenden die Welt solcher Initiativen aus, die in der Bevölkerung gerade deswegen Zuspruch erfahren, weil sie grundlegende inhaltliche Änderungen anstreben, ohne Rücksicht auf machtpolitische Befindlichkeiten zu nehmen. Statt dessen orientieren sie sich allein am Zustand etablierter Machtverhältnisse, wie er das tagespolitische Tauziehen kennzeichnet. Die republikanische Demokratie macht hier keine Ausnahme, schafft sie doch eine Flut an Machtpositionen, die nicht kontinuierlicher demokratischer Bestätigung unterliegen, sondern auf einmalige Wahl zurückgehen - teilweise gar nur einer Liste, also ohne dass jemand tatsächlich für die jeweilige Person gestimmt hätte. Obgleich sie jeglichen Idealismus trotz seiner Verbreitung gering achten, diese mit ihrer Kritik indirekt sogar anerkennen, besteht das Versprechen selbst ernannter Realisten seit Niccolò Machiavelli dennoch darin: Wer sich zu ihnen bekenne, ließe »alles beiseite, was [...] zusammenphantasiert wurde, und spreche nur von der Wirklichkeit.« 25 Sie verfahren mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie mit der physischen: Sie halten sie für unabänderlich gegeben, ganz so als würde sie sich nicht ändern. Dabei muss schon die Einschätzung, die Realität ließe sich zweifelsfrei erkennen, als unrealistisch eingestuft werden. Vielmehr wird ständig von allen Seiten genau darum gerungen, was denn nun eigentlich der Fall sei. In einem von Menschen bevölkerten Umfeld kommt noch hinzu, dass deren Verhalten unmittelbar davon abhängt, wie sie die Welt sehen. Schon allein die Tatsache, dass es darauf so viele unterschiedliche Sichten gibt, könnte als deutlicher Hinweis gesehen werden, dass die Welt vor allem unübersicht- 25 Machiavelli, Der Fürst , S. 63. 30 <?page no="31"?> lich ist und die Menschen verschiedene Schemen anwenden, um sich darin zurechtzufinden. Je nachdem, was man in der Welt aber nun für ausschlaggebend hält, verhält man sich anders: Wer die Welt als Machtkampf wahrnimmt, agiert nicht wie jemand, der nur in Kooperation die Lösung sieht. Glaubt man Probleme vor allem durch das Verhältnis von In- und Ausländern geprägt, strebt man andere Lösungen an als wenn man das Verhältnis von arm und reich für dominant ansieht oder das von wirtschaftlich und unwirtschaftlich. Sozialer Wandel ergibt sich schlicht schon dadurch, dass die Menschen sich eine Vorstellung von der Welt machen, an der sie ihre Handlungen ausrichten, die nicht ohne Wirkung bleiben. Wenn nur genügend Menschen wirtschaftlich schwere Zeiten heraufziehen sehen, sinken die Börsenwerte; und wenn nur genügend plötzlich eines bedrohlichen Klimawandels gewahr werden, obwohl der längst bekannt war, bekommt Nachhaltigkeit mehr Bedeutung. Aufgrund ständiger Veränderungen, kann realistisch von Realität deshalb nur sprechen, wer vielgestaltigen Wandel zu einer Einheit zusammenballt. Wer jedoch auf eine Realität verweist, deren Wesen er erkannt zu haben glaubt, erhebt nicht nur seine Sicht zur einzig richtigen, sondern gibt sich zudem einem Bestehenden hin, das er solchermaßen behauptet. Indem er nun andere von dessen Unabänderlichkeit zu überzeugen sucht, befördert er zugleich seinen Erhalt. Er bestärkt auf diese Weise also jene Voraussetzung, von der seine ursprüngliche Behauptung ausging: wonach nämlich die Welt nun einmal so sei - unabhängig vom eigenen Zutun. Der politische Realismus gerät deshalb in dem Maße konservativ , wie er für die Anerkennung der Gegebenheiten eintritt. Selbst wenn sich die Realität noch nicht wie vom Realisten behauptet verhält, wirkt dieser immerhin auf die Verwirklichung seiner Behauptung hin. Der wiederkehrende Hinweis auf Macht als ausschlaggebende Kraft, ändert daran wenig, sofern er lediglich dazu dient, bestehende Machtstrukturen opportunistisch zu bekräftigen. Wie soll ein solcher Realismus auch nur neue Quellen der Macht - geschweige denn andere Motivlagen - erkennen können, wenn für ihn das bestehende Machtgefüge selbst der Quell allen Geschehens ist? 31 <?page no="32"?> Umso mehr man auf Bestehendes hinweist, desto stärker widersteht man dem Wandel. Was der Konservative anstrebt, macht sich der Realist zu Nutze, indem er etablierte Differenzierungen und damit bestehende Machtverhältnisse betont. Insofern er auf die Trägheit des Bestehenden setzt, hat er den Konservatismus auf seiner Seite und stützt eben jene Machtstrukturen, deren Unabänderlichkeit er von vornherein behauptet hatte. Wenn also der Realist verlangt, dass die Menschen ihre »zusammenphantasierten« Wunschvorstellungen aufgeben, endlich die Wirklichkeit anerkennen und ihr Verhalten daran ausrichten sollen, dann gibt er den Idealismus nicht auf, sondern stellt ihn nur von den Füßen auf den Kopf, indem er seine Idee von der Welt zur Wirklichkeit erklärt, ohne sich des ideellen Charakters seiner Haltung bewusst zu sein. Karl Marx warf bekanntlich Georg Hegel vor, die Dialektik stehe »bei ihm auf dem Kopf«, weil für ihn »der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen« sei. 26 Für den Realisten nimmt diese Rolle die Macht ein, obwohl er sich der Denkrichtung Hegels entgegengesetzt glaubt. Er will kein fernes Ideal verwirklichen , sondern idealisiert kurzerhand die bestehende Wirklichkeit bzw. was er dafür hält. Er empfindet nicht die beharrenden Mächte für unerträglich bedrückend, sondern erklärt das Bedrückende beharrlich für machtpolitisch ertragreich. Er will nicht dem Bestehenden mit aller Macht entfliehen, sondern die Macht des Bestehenden bis in alle Ewigkeit erhalten. Indem die realistische Sicht am Gegebenen festhält, orientiert sie sich zwangsläufig an etablierten Gegensätzen, deren Fortführung Kooperation unmöglich macht. Das konnte vielleicht in einer bipolaren Welt des Kalten Krieges Stabilität bringen, in einer Welt jenseits schlichter ideologischer Gegensätze allerdings verstärkt sich dadurch die Konfrontation, bis sie ins bipolare zurückzukippen droht. Nicht von ungefähr geht der Realismus mit nationalistischen Denkmustern einher, die eine EU ebenso zwangsläufig zum Scheitern verurteilt wie jede Lösung globaler Probleme; und so stehen wir unversehens vor der Wahl eines Rückfalls in den nationalistischen Realismus oder einer universalen Demokratie, die nur überzeugen können wird, wenn 26 Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 27. 32 <?page no="33"?> sie idealistische Prinzipien hochhält, die den realen Interessen der Menschen entspricht. Erstere Option jedenfalls hält an einer Naturalisierung von Nationen fest, deren Konsequenz wir aus dem letzten Jahrhundert bereits kennen, während letztere Perspektiven eröffnen könnte, die sich gar nicht denken lassen, wenn man in altbekannten Gegensätzen verharrt. Demgegenüber führen die Vereinfachungen des Realismus dazu, sich Geschichte so vorzustellen, dass kollektive Einheiten in ihrem Machtverlangen kausal aufeinander einwirken, woraus die Außenpolitik der USA, Russlands, Chinas oder eben auch der EU abgeleitet wird. Hat man das Schema einmal im Kopf, ist es nur noch ein winziger Schritt, es auch gleich auf die »Migranten« anzuwenden. Für Krastev sind diese zwar »einsame Revolutionäre«, aber sie sind für ihn doch Revolutionäre mit einheitlicher Motivlage : Für viele Verdammte dieser Erde bedeutet Veränderung heute, wegzugehen und das Land zu wechseln, statt zu bleiben und die Regierung auszuwechseln. 27 An keiner Stelle berührt Krastev die unterschiedliche Ausgangssituationen von Asylanten, Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlingen. Die Aussichtslosigkeit einer Revolution im Herkunftsland, die Bürgerkriegsbetroffenen, Homosexuellen oder Andersgläubigen Hoffnung geben könnte, bleibt unerwähnt. Migranten sind für ihn unterschiedslos Benachteiligte der »Geburtsrechtslotterie«, wonach der Geburtsort »das Lebenseinkommen eines Menschen am besten zu erklären vermag«, 28 weshalb sie sich auf den Weg machten, nicht um ihr Heimatland zu revolutionieren, sondern das Immigrationsland. Aus einsamen Flüchtlingen formt seine realistische Reduktion so implizit eine revolutionäre Gruppe . Auch hier entgehen dem Raster des politischen Realismus Vielfalt und Uneinheitlichkeit. So wie diese Denkschule Nationalstaaten zu einheitlichen Akteuren zusammenfasst, die konsequent nach Macht streben, so erscheinen Flüchtlinge ohne Umschweife ebenfalls als Macht ausübende Einheit. 27 Krastev, Europadämmerung , S. 39. 28 Ebd., S. 37 f. 33 <?page no="34"?> Entsprechend dünkt ihr aufgrund der Vielgestalt die EU nicht homogen genug, ihr Pluralismus geradezu störend. Es bestehen offensichtlich Schwierigkeiten, Heterogenität anzuerkennen. Wenig verwunderlich gilt aus einer solchen Perspektive das Streben nach mehr Demokratie durch die damit verbundenen Unwägbarkeiten ihrer Pluralität als bestandsgefährdend: Statt den Versuch zu machen, das Überleben der EU durch eine Stärkung ihrer Legitimation zu sichern, kann die Demonstration ihrer Überlebensfähigkeit in Zukunft vielleicht zu einer wichtigen Legitimationsquelle werden. 29 Nach dem gleichen Muster hatten auch Aristokraten ihre Herrschaft zu rechtfertigen versucht: Legitim ist, was sich zu behaupten vermag! Genau dieser unverhohlene Realismus war es, wogegen sich schließlich Widerstand regte, der sich aus einer Idee speiste, deren breite Unterstützung dann jene reale Schlagkraft annahm, welche die Französische Revolution ins Werk setzte, nur um allzu bald wiederum von Machiavellisten unter den Revolutionären für machtpolitische Zwecke missbraucht zu werden. Emmanuel-Joseph Sieyès , populärer Wortführer der Französischen Revolution und Verfasser der bis heute auflagenstärksten Flugschrift Was ist der dritte Stand? , schreibt in dieser 1789: Man ist nicht frei durch Privilegien, sondern durch die Bürgerrechte, Rechte, die allen zustehen. Falls nun die Aristokraten es unternehmen, das Volk sogar um den Preis dieser Freiheit, deren sie sich selbst unwert zeigen, in der Unterdrückung zu halten, dann wird es sich die Frage erlauben: kraft welchen Rechtstitels? Wenn man antwortet: nach dem Recht der Eroberung, so muÿ man zugeben, daÿ dies ein wenig weit zurückgehen heiÿt. Aber der Dritte Stand braucht nicht zu fürchten, in vergangene 29 Krastev, Europadämmerung , S. 132. 34 <?page no="35"?> Zeiten zurückzugehen; er wird sich in das Jahr zurückversetzen, das der Eroberung voranging; und weil er heute stark genug ist, um sich nicht erobern zu lassen, wird ohne Zweifel sein Widerstand wirksamer sein. Warum sollte er nicht alle diese Familien in die fränkischen Wälder zurückschicken, die den tollköp gen Anspruch weiterp egen, sie seien dem Stamm der Eroberer entsprossen und hätten Eroberungsrechte geerbt? 30 1794 wirkte Sieyès am Sturz des Terrorregimes von Maximilien de Robespierre mit, nur um dann doch aus machtpolitischen Erwägungen 1799 zusammen mit Roger Ducos und Napoléon Bonaparte ein Triumvirat zu bilden, dessen Einsetzung letzterer aber ganz machiavellistisch als Zwischenschritt zur Alleinherrschaft zu nutzen verstand. 31 Krastev schwenkt somit auf ein altbekanntes Legitimationsverständnis ein, das nur allzu gut zur Machtfixierung des politischen Realismus passt. War diese Theorie angetreten mit der Behauptung, die politische Welt folge insgesamt allein der Macht und ließe sich darüber analysieren, mündet sie häufig kurzschlüssig in die Forderung, alle politischen Akteure mögen endlich idealistisch motivierte Aktionen einstellen. Insbesondere Liberale sollen doch bitte aufhören, an einem naiven Idealismus festzuhalten, den es immerhin gar nicht geben dürfte, wenn die Realisten Recht hätten. Schon die Aufforderung, sich dem Machiavellismus anzuschließen, wäre unnötig, wenn Machtpolitik so ubiquitär sich zeigte, wie behauptet, denn dann wären wir alle Machiavellisten. Offensichtlich lässt sich die Welt doch nicht allein auf Macht reduzieren. Sollte es Realisten aber nur um den gut gemeinten Hinweis gehen, dass in allen politische Überlegungen stets die gegebenen Machtverhältnisse zu berücksichtigen seien, bestünde hier nicht einmal Dissens zu hartgesottenen Idealisten, wies doch schon Jean-Jacques Rousseau darauf hin, dass das »Recht des Stärkeren« weder der Legitimation noch der Unterstützung bedarf: 30 Sieyes, »Was ist der dritte Stand? «, S. 126. 31 vgl. Schulin, Die Französische Revolution , S. 246 ff. 35 <?page no="36"?> Gehorcht den Machthabern! Wenn das heiÿen soll, weicht der Stärke , ist die Vorschrift gut, aber über üssig; ich stehe dafür ein, daÿ ihr niemals zuwidergehandelt wird. 32 Idealisten hegen keinen Zweifel an der Wirksamkeit bestehender Verhältnisse und wie sie Macht verteilen, halten das Verlangen nach immer mehr davon aber nicht für die einzige Triebfeder menschlichen Handelns. Sie gehen vielmehr davon aus, dass die Mehrheit der Menschen an einer allgemeinen Verbesserung der Verhältnisse interessiert ist und nicht ausschließlich an ihrer persönlichen Machtspanne - auf deren Ausweitung für die meisten ohnehin wenig Aussicht besteht. Offenbar korrumpieren einmal etablierte Machtverhältnisse jedoch deren Profiteure und befeuern geradezu machiavellistisches Verhalten. Angesichts der Heterogenität menschlicher Motivation wirkt es widersprüchlich, wenn ein politischer Realismus schon dem Begriff nach sich selbst als realistisch ausgibt und alles andere als naiv, idealistisch oder gar ideologisch einordnet. Offenbar hat er Mühe, jene vielgestaltigen Realitäten anzuerkennen, die sich seinem Weltbild widersetzen und blendet sie deshalb einfach aus. Es scheint, als gelte hier Roland Barthes’ »Prinzip des Mythos: Er verwandelt Geschichte in Natur.« 33 Mit dem Übergang von der Geschichte zur Natur nimmt der Mythos eine Einsparung vor: Er beseitigt die Komplexität der menschlichen Handlungen, verleiht ihnen die Einfachheit der Wesenheiten, unterdrückt jede Dialektik, jeden Rückgang hinter das unmittelbar Sichtbare; er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, ausgebreitet in der Evidenz; er legt den Grund für eine glückliche Klarheit. Die Dinge tun so, als bedeuteten sie von ganz allein. 34 32 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag , S. 9. 33 Barthes, Mythen des Alltags , S. 278. 34 Ebd., S. 296. 36 <?page no="37"?> Indem der politische Realismus Staaten ebenso wie Staatenbünde und sogar gänzlich unkoordinierte Menschengruppen auf Nutzen optimierende, einheitliche Akteure reduziert und als solche mythologisch naturalisiert , entgehen ihm alle Motive jenseits des Strebens nach Machterhalt und alle Vielfalt. Wenn sich aber ideologisch verhält, wer für seine bis hin zum Mythos gefestigten Vorstellungen bereit ist, über andere Menschen hinwegzugehen, über deren Vorstellungen, deren Verhältnisse und deren Interessen, dann ist politischer Realismus pure Ideologie, die sich ihrer »Partikularität« 35 nur nicht bewusst ist. Vielleicht verhält sich nicht nur anmaßend, sondern sogar selbst naiv, wer anderen Naivität unterstellt und darüber die »Seinsrelativität« des eigenen Gedankengutes vergisst. Karl Mannheim bemerkt dazu bereits 1928: Für den, der die Seinsrelativität der Erkenntnisse überblickt und nicht mit einer unbedingten Ausschlieÿlichkeit, einer bestimmten Sicht sich hingibt, sondern sich gewissermaÿen relativiert, dem stellt sich bereits die heutige Denklage so dar: ein existenzielles Experimentieren der einzelnen Gruppen mit lauter partikularen Ordnungsschemen, von denen keines einzeln ausreicht, um die heutige Wirklichkeit in toto zu erfassen. Dieser Partikularität der einzelnen Standorte gegenüber, von denen jeder sich zum absoluten Standort aufwerfen will, scheint allein darin ein Ausgleich gescha en zu sein, daÿ die dennoch sich stets vollziehenden Synthesen darauf hinzuweisen scheinen, als wollte gleichsam das über sich selbst Klarheit suchende Leben mit der steten Erweiterung der Denkplattform der immer komplizierter werdenden Totalität des geschichtlichen Lebens gerecht werden. 36 Der politische Realismus nimmt den umgekehrten Weg von der komplizierter werdenden Totalität zu einer stark vereinfachenden Denkplattform. 35 Mannheim, Ideologie und Utopie , S. 53. 36 Mannheim, »Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen«, S. 354. 37 <?page no="38"?> Schon um Nationen als handlungsfähige Akteure stilisieren zu können, muss der er sie simplifiziert zu homogenen Einheiten zusammenfassen, damit sie auf die Geschichte kausal einwirken können. Er muss sie wie einen Körper auffassen, der von nur einem Kopf gesteuert wird, ganz so wie sich Hobbes seinen »Leviathan« 37 vorgestellt hat. Einem solcherart vereinheitlichten politischen Akteur kann sich dann gar keine andere Aufgabe stellen, als im internationalen Ringen zu bestehen. Mythologisch reduziert auf einen Volkskörper sieht er sich seinesgleichen gegenüber, die sich alle von Natur aus für ebenso klar getrennte wie konkurrierende Nationen halten. Aus dem Mythos natürlicher Einheiten erwächst so zwangsläufig die hobbessche Problematik gnadenloser Egoisten, die im Zusammentreffen ein Umfeld bilden, in dem man nur bestehen oder untergehen kann. Umso mehr Akteure sich dann einem solchen Machiavellismus hingeben, desto unausweichlicher erfüllt sich dessen Prophezeiung, wonach politische Einheiten allein machtpolitisch agieren. Fasst man Politik so auf, lässt sie freilich keinerlei Prinzipienfestigkeit zu, weil das Machtkalkül nichts verschont. Ganz nebenbei erleichtert es eine solche Auffassung einheitlicher Akteure ungemein, Geschichte als eine Verkettung von Ursachen und Wirkungen naturalisieren zu können. Nur dann kann man die Spaltung von Ost und West mental ungebrochen fortsetzen, wo die politische seit gut 25 Jahren vorüber ist. Nur dann kann man Polen, Ungarn oder Bulgaren kollektiv aufgrund von Einwanderung um ihren Bestand fürchten lassen, obwohl Auswanderung das homogene Volk in alle Winde zerstreut. Nur dann kann man schließlich Flüchtlinge als einen eigenständigen Akteur auffassen, als handelte es sich um eine geschlossene Gruppe, die eine Bedrohung für die nationale Homogenität, Ordnung und Souveränität darstellt. Politischer Realismus beruht auf einem Weltbild, das sich funktionierende Staaten nur als abgeschlossene »Container« 38 ethnisch, religiös, kulturell und in ihren Wertvorstellungen homogener Bevölkerungen vorzustellen vermag. Ein Staatsverständnis, das nicht nur osteuropäische kommunistische Regime über Jahrzehnte gepflegt hatten und immer schon eine unzulässi- 37 Hobbes, Leviathan . 38 Beck, Was ist Globalisierung? , S. 50. 38 <?page no="39"?> ge Vereinfachung darstellte, der man durchaus unterstellen konnte, politisch motiviert zu sein: Die Minderheiten in aller Welt können jedenfalls ein Lied davon singen. Da passt es ins Bild, dass Krastev ausgerechnet das moderne Polen herausgreift, das nach dem Zweiten Weltkrieg eine außergewöhnliche Homogenisierung erlebt hat: Während Polen vor dem Zweiten Weltkrieg eine multikulturelle Gesellschaft war, in der mehr als ein Drittel der Bevölkerung aus Deutschen, Ukrainern oder Juden bestand, ist das heutige Polen mit seinen 98 Prozent ethnischen Polen eine der ethnisch homogensten Gesellschaften der Welt. Die Rückkehr zu ethnischer Vielfalt erscheint dort daher vielen als ein Rückfall in die schwierigen Zeiten zwischen den Weltkriegen. 39 Schwierig waren die Zeiten für Polen jedoch nicht aufgrund der Heterogenität im Land, sondern aufgrund des nationalistischen Homogenisierungsstrebens seiner Nachbarländer. Nicht polnische Juden überfielen Polen, sondern von ihrer rassischen Reinheit überzeugte Deutsche. Wer sich von Homogenität gesellschaftlichen Frieden verspricht, übersieht, wie der Drang nach Ordnung Feindseligkeiten heraufbeschwört und einen steten Quell für Gewalt und Krieg bietet. Zumal das Streben nach Reinheit noch nie Halt an ethnischen Unterschieden machte, sondern sich stets gegen jede Form wie auch immer zugerechneter Andersartigkeit richtete. Doch einem naturalisierenden Geschichtsverständnis stehen keine anderen Interpretationsmöglichkeiten offen und auch keine anderen Reaktionsweisen als einen kollektiven Akteur gegen andere in Stellung zu bringen, weshalb ein solches Denken staatlich geförderten Geschichtsschreibungen und Politikauffassungen von vornherein nahe lag Es mündet geradezu notwendig in einen Nationalismus, weil es diesen ohnehin durch unermüdliche Naturalisierung in einen Mythos verwandelte, dem man nicht mehr ansieht, wie sehr man ihn selbst geschaffen hatte. Sobald Geschichte auf der Grundlage von Kollektiven eine Naturalisierung erfährt, bildet Nationalismus deshalb 39 Krastev, Europadämmerung , S. 59. 39 <?page no="40"?> die logische Konsequenz, wie Zygmunt Bauman betont. Dieser floh als Jude 1938 vor den deutschen Besatzern aus jenem Polen, dessen Heterogenität Krastev schwierig anmutet, um nach dem Zweiten Weltkrieg dorthin zurückzukehren, bis er 1968 seine Anstellung an der Universität Warschau verlor und schließlich einem Ruf an die Universität von Leeds in England folgte. Mit diesem Erfahrungsschatz erscheint ihm nicht Inhomogenität gefährlich, sondern der Drang nach Ordnung: Alle Visionen einer künstlichen Ordnung sind notwendig (in ihren praktischen Konsequenzen, wenn auch nicht immer in ihrem ursprünglichen Entwurf) inhärent asymmetrisch und führen auf diese Weise zu einer Dichotomie. Sie spalten die menschliche Welt in eine Gruppe, für die die ideale Ordnung errichtet werden soll, und eine andere, die in dem Bild und der Strategie nur als ein zu überwindender Widerstand vorkommt als das Unpassende, das Unkontrollierbare, das Widersinnige und das Ambivalente. Dieses Andere, das aus der Scha ung von Ordnung und Harmonie hervorgegangen ist, das Überbleibsel des klassi katorischen Bestrebens, wird aus jenem Universum der Verp ichtung herausgeworfen, das die Mitglieder der Gruppe bindet und ihr Recht anerkennt, als Träger moralischer Rechte behandelt zu werden. 40 Nur indem der Realismus die Vielfalt der Menschen ignoriert und sie in eine homogene Bevölkerungsmasse von Staaten verwandelt, gelingt es ihm, letztere zu Akteuren zu erheben, denen eigene Interessen anhaften. Diese vermeintlich gesamtstaatlichen Interessen jedoch kann niemand sonst verfechten als diejenigen, welche die Macht in Händen halten. Sie sind es, die mit der Macht des Staates zugleich ihre eigene vermehren und verteidigen; sie sind es, deren Status mit jenem des Staates verknüpft ist; und sie sind es, die davon profitieren, wenn sie sowohl ihre eigene Position als auch die des Staates verbessern. Realismus, gleichgültig ob auf individueller, organisatorischer oder 40 Bauman, Moderne und Ambivalenz , S. 69. 40 <?page no="41"?> staatlicher Ebene, zielt letztlich auf den eigenen Status : Wie lässt sich das Meiste aus der Situation herausholen? Die Situation selbst und die ihr zugrunde liegenden Spielregeln hinterfragt der Realismus nicht. Er nimmt sie als gegeben hin. Der Idealismus demgegenüber zielt genau darauf, inwiefern sich die Situation so verändern lässt, dass alle davon profitieren, indem Ungleichheiten ausgeräumt werden. Ihm geht es nicht nur um den eigenen, sondern um den Gesamtstatus . Weshalb er aber nicht weniger eigennützig sein muss, weil es eben für die Mehrheit durchaus erstrebenswert sein kann, wenn es ihr besser geht. Wer Idealisten pauschal Naivität unterstellt, verwechselt Gemeinnützigkeit mit interesselosem Altruismus, obwohl der gemeine Nutzen doch gerade im Interesse aller liegen sollte. So gesehen reduziert sich der Unterschied zwischen Idealismus und Realismus darauf, dass ersterer den Anliegen der Machtlosen Gewicht zu verleihen strebt, indem er die bedauerlichen Gegebenheiten nicht fraglos akzeptiert, wogegen letzterer die Anliegen der ohnehin Mächtigen rechtfertigt, indem er die bedauerlichen Gegebenheiten für unabänderlich erklärt. Es mag vielleicht naiv sein, an eine gemeinsame Lösung zu glauben, aber in der heutigen Situation bleibt sie auf lange Sicht die einzige Chance. Während Erfahrung dazu verleitet, das Bestehende zu überhöhen, droht Idealismus die Realitäten zu verkennen. Demokratie und Toleranz stellen für die EU allerdings nicht einfach hohe Ideale dar, vielmehr bilden sie die einzig mögliche Grundlage für ihr Bestehen nach der Erfahrung von zwei verheerenden Weltkriegen. Darüber hinaus können in einer Demokratie idealistische Prinzipien reale Kraft entfalten, insofern darauf jene politische Partizipation beruht, die im Interesse der Bürger liegt. Indem der politische Realismus die Heterogenität der Bevölkerung übergeht und sie zu einer Einheit zusammenfasst, unterschlägt er dessen uneinheitliche Interessenlage und überhöht ihr organisiertes Machtverlangen. Er jedoch kennt 41 <?page no="42"?> nur Machtpolitik und übersieht dabei, dass populäre Initiativen und ehrenamtliches Engagement häu g Themen und Aktionen betre en, von denen die Beteiligten keinen Machtzuwachs zu erwarten haben. Die Naturalisierung von staatlichen Einheiten und deren Reduktion auf rein machtpolitisch agierende Akteure führt demgegenüber unweigerlich in einen konservativen Nationalismus, der jede Kooperation verhindert, die heute so dringend benötigt würde. 2.2 Grenzenloser Liberalismus? Liberale wollen Demokratie und Toleranz in alle Welt verbreiten, was ihnen nicht selten den Vorwurf einbringt, sie würden westliche Werte über diejenigen anderer Kulturen stellen, sich also des Eurozentrismus schuldig machen. Wenig überraschend kommt dieser Einwand regelmäßig aus dem Umfeld von Regimen, die Volk und insbesondere Minderheiten wenig Mitsprache einräumen, freilich ohne dabei ein Wort darüber zu verlieren, dass der eigene Herrschaftsapparat keineswegs allein auf Errungenschaften heimischer Kultur gründet; vielmehr liegen ihm nicht selten kapitalistische, kommunistische, diktatorische oder einfach nur bürokratische Konzepte zugrunde, die ausgerechnet jenem Westen entstammen, von dem man sich abzugrenzen sucht. Abgesehen davon könnte man nach der unrühmlichen Geschichte von Kolonialismus und Imperialismus durchaus hinterfragen, inwiefern Demokratie und Toleranz überhaupt an eine spezifisch europäische Kultur anschließen. Da das Verlangen nach Mitsprache und Grundrechten nicht allein westlichen Völkern eigentümlich zu sein scheint, liegt die Vermutung nahe, dass der Graben weniger zwischen dem Westen und dem Rest verläuft als vielmehr zwischen Autoritären und Demokraten weltweit - immerhin halten sich Feinde der Demokratie in Europa ebenso hartnäckig wie Anhänger da- 42 <?page no="43"?> von in den fernsten Ländern. Mag diese Konfliktlinie also vor allem durch die jeweilige Interessenlage bestimmt sein, so beruft sich eine andere Zurückweisung des expansionistischen Liberalismus auf theoretische Überlegungen: Jedem Bestreben, liberale Prinzipien verwirklichen zu wollen, muss ein politischer Realismus schon deshalb mit Skepsis begegnen, weil er Idealismus in der Politik gegenüber dem allgegenwärtigen Machiavellismus chancenlos wähnt. Sieht er schon die Haltung der Europäischen Union diesbezüglich als bestandsgefährdend an, so erscheinen ihm idealistische Ansprüche jenseits davon - womöglich gar global - für gänzlich unrealistisch. Einmal mehr formuliert Ivan Krastev die Vorbehalte in aller Deutlichkeit: Heute gibt es in der Welt zahlreiche scheiternde oder gescheiterte Staaten, in denen niemand leben und arbeiten möchte, und Europa ist weder in der Lage noch bereit, o ene Grenzen zuzulassen. Die Migrationskrise konfrontiert den Liberalismus mit einem für seine Philosophie zentralen Widerspruch. Wie lassen sich unsere universellen Rechte mit der Tatsache vereinbaren, dass wir sie als Bürger ungleich freier und wohlhabender Gesellschaften genieÿen? 41 Damit wäre ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem universalistischen Liberalismus und Migrationsbewegungen hergestellt, wie er für eine realistische Position nahe liegt, dabei aber dessen Kurzschlüssigkeit offenbart. Denn es klingt, als erwüchse die gegenwärtige Situation daraus, dass an liberalen Prinzipien festgehalten wird. Es klingt, als würden die Flüchtlinge nicht kommen, wenn für Menschenrechte keine Universalität beansprucht würde. Ja, es klingt, als könnte man Europas Wohlstand seiner Anziehungskraft berauben, indem man sich einfach nur weniger liberal gibt. Doch gerade aus der Perspektive eines politischen Realismus, der Interessen immerhin für ausschlaggebend hält, sollte eigentlich nachvollziehbar sein, 41 Krastev, Europadämmerung , S. 36 f. 43 <?page no="44"?> dass Lebenschancen immer anziehend wirken, ganz unabhängig davon mit welchen Grundwerten diese verbunden sind; denn »auf der Seite der Handelnden bringt es vernunftgemäße Ordnung in ihr Tun«, 42 wie der Ahnherr des realistischen Ansatzes, Hans Morgenthau , betont und das Interesse deshalb zum zentralen Begriff erhebt: Der Begri des Interesses, verstanden im Sinne von Macht, verlangt von Beobachtern gedankliche Disziplin, führt eine vernunftgemäÿe Ordnung in den Bereich der Politik ein und ermöglicht damit theoretische Einsicht in die Politik. 43 Was hier für Staaten angenommen wird, gilt aber ebenso für Individuen: Viele wenig erbauliche Dinge gibt es in der Tat nur deshalb, weil Menschen damit ihren Lebensunterhalt bestreiten können oder sogar müssen oder sich davon Reichtum versprechen, also schlicht ihren Interessen folgen. So lange es Ungleichgewichte gibt, wird deshalb Wohlstand immer begehrenswert bleiben, weil Schlechtergestellte daran teilhaben wollen, wie gerade Realisten unterstreichen müssten. Deswegen ziehen auch illiberale Staaten am Persischen Golf mit ihrem Reichtum Menschen aus ärmeren Ländern in großer Zahl an und selbst die menschenverachtenden Zustände libyscher Flüchtlingslager halten offenbar nicht davon ab, sich auf den Weg in die Wohlstandsgebiete zu machen. Allein die Preisgabe des Liberalismus dürfte die materielle Anziehungskraft Europas wohl kaum verringern, dafür würde sie die Lebensqualität innerhalb seiner Grenzen deutlich einschränken: Weniger Freizügigkeit, weniger Rechtsstaatlichkeit, weniger Freiheitsrechte und weniger Konsequenz bei den Menschenrechten würde die Europäer mancher Errungenschaft berauben, während sie einigen Flüchtlingen sogar entgegen kommen dürfte. Autoritäre Regime gewohnt, sorgen hiesige Vielfalt und individuelle Freiheiten gerade bei Migranten teilweise zu nicht unerheblichen Irritationen. 42 Morgenthau, Macht und Frieden , S. 51. 43 Ebd., S. 51. 44 <?page no="45"?> Folgte man jedoch wie Krastev dem Realismus, so sollen wir uns nun anpassen - und zwar an die konservativen, autoritären Wertvorstellungen, die viele Zuwanderer aus ihren Herkunftsländern mitbringen. Wir sollen unseren liberalen Lebensraum aufgeben, nur weil wir nicht imstande sind, die ganze Menschheit daran teilhaben zu lassen. Wir sollen die Grundidee universeller Menschenrechte aufgeben, nur weil Europa nicht in der Lage ist, sie weltweit zu garantieren. Wir sollen von Rechtsstaatlichkeit absehen, nur weil wir sie nicht global etablieren können. Wir sollen die Freizügigkeit innerhalb der EU aufgeben, nur weil wir keinen freien Zuzug von außerhalb ermöglichen. Wir sollen von unseren Idealen Abstand nehmen, weil andere sie nicht teilen. Sollten wir da nicht auch gleich von Wohlstand Abstand nehmen, weil wir ihn nicht in alle Welt zu tragen vermögen? Nun ist die Idee des Liberalismus nicht von derjenigen der Selbstbestimmung zu trennen, wonach Menschen selbst entscheiden können sollen, wie sie leben wollen. In Demokratien wird genau das angestrebt. Man kann sicherlich darüber streiten, inwiefern das in ihrer heutigen republikanischen Ausprägung der Fall ist, oder vielleicht doch ihre Institutionen mehr dazu dienen, »Politik vom unmittelbaren Einfluss der Menschen so weit wie möglich zu entkoppeln«; 44 aber zumindest ihrem Anspruch nach zielen Demokratie und Liberalismus beide auf Selbstbestimmung . Regierung, Gesetze und gesellschaftliche Ordnung sollen von der Bevölkerung selbst gewählt werden können. Überzeugte Demokraten jedenfalls halten niemanden davon ab, ihnen nachzueifern. Nicht sie sind es, die genau das in anderen Ländern verhindern, sondern es sind diejenigen, die solcherlei Idealismus verachten; es sind diejenigen, die als gelehrige Schüler des politischen Realismus der Macht folgen, statt der Bevölkerung Selbstbestimmung zuzugestehen; es sind die Profiteure der Hierarchie, die Gleichberechtigung ablehnen - und das nicht nur jenseits des Westens: Sogar vermeintlich demokratische Staaten betreiben Machtpolitik, wie sie der Republikanismus seit römischer Zeit kennt und der Realismus propagiert, bis hin zu Freiheit einschränkenden Auswüchsen, wenn in Kuba 1961, Chile 1973 oder Grenada 1983 durch direkte Interventionen 44 Niedermaier, Wozu Demokratie? , S. 388. 45 <?page no="46"?> oder Unterstützung von Putschisten Selbstbestimmung aus machiavellistischen Gründen behindert wird. Denn auch wo Demokratie sich die Form einer Republik gibt, prämiert deren Fixierung auf die Vergabe von Positionen und den Erhalt von Hierarchien politisches Machtkalkül offenbar höher als demokratische Entscheidungsfindung. Man könnte dadurch die Aussage des Realismus bestätigt sehen, allerdings kann dieser lediglich die Niederschlagung, nicht jedoch das Erstarken von Bewegungen erklären, die, auch wenn sie sich mit ihrem Verlangen nach Selbstbestimmung gelegentlich durchsetzen, in der Regel durch militärische Gewalt gestoppt werden - sei es landeseigene oder fremde. Wenn er deshalb die Wirkmächtigkeit idealistischer Motivation nicht einfach in Abrede stellen kann, so glaubt der Realismus dennoch einen »Widerspruch zwischen dem universellen Charakter der Menschenrechte und ihrer Ausübung im nationalen Kontext« 45 zu erkennen, angesichts der ständigen Verletzung von Grundrechten und der höchst ungleichen Verteilung ihrer Einklagbarkeit je nach Staat. Kein Liberaler würde behaupten, dass die Menschenrechte überall auf der Welt ausreichend Beachtung finden. Die Folgerungen daraus gehen jedoch diametral auseinander: Während Liberale autoritären Regierungen die Missachtung von Menschenrechten anlasten, wirft der Realist umgekehrt liberalen Regierungen vor, Grundrechtsgarantien lediglich für ihr Staatsgebiet abzugeben. Dies nimmt er sogar zum Anlass die Universalität der Menschenrechte generell anzuzweifeln, weil sie nicht allgemein Bestand haben; und was keine allgemeine Geltung besitzt, obwohl es diese beansprucht, erscheint ihm wenig wert. Folgte man dieser Logik, müsste man nicht nur Steuerpflichten und Eigentumsrechte gering schätzen, sondern auch alle zehn Gebote einschließlich dem fünften: »Du sollst nicht töten.« 46 Im Grunde gilt für jedes Recht und jedes Gesetz, dass sie Allgemeingültigkeit beanspruchen, aber dennoch immer wieder verletzt werden. Regeln werden überhaupt nur eingeführt, weil unerwünschtes Verhalten vorkommt, ansonsten wären sie gar nicht nötig. 45 Krastev, Europadämmerung , S. 41. 46 Bibel, 2. Buch Mose: Ex 20,13 46 <?page no="47"?> Es ist eine Binsenweisheit: Anders als Naturgesetze gelten Rechtsgesetze nicht absolut, dennoch beanspruchen beide universale Geltung - natürliche Gesetze aus physikalischen Gründen, rechtliche aus normativen. Ersteren entkommt man keinesfalls, letzteren soll man sich fügen, bedürfen für ihre Geltung aber ebenso sehr der Befolgung wie der Durchsetzung. Niemand kann die Schwerkraft aufheben, aber jeder kann töten, obwohl es verboten ist. Aus jeder Norm folgt unausweichlich die Möglichkeit, sie zu verletzen. Wer daraus nun Widersprüchlichkeit ableitet und Universalität abstreitet, lässt schlussendlich nur physikalische Gesetze gelten, die sich zwangsläufig immer durchsetzen. Zugleich streitet er damit aber Menschenrechte generell ab, weil sie aufgrund ihres normativen Charakters niemals überall gewährleistet sein können. Ein solcher Gedankengang ergibt sich aber geradezu unmittelbar aus einer realistischen Logik, der es letztlich nur auf Durchsetzungskraft ankommt: Wer seine Rechte nicht durchzusetzen vermag, genießt demnach auch keine. Wenn nicht Recht, sondern Macht allein zählt und man das realistische Schema von der zwischenstaatlichen auf die zwischenmenschliche Welt herunter bricht, geht deshalb jede Humanität verloren. Staaten, die Menschenrechte gering achten, schließen sich einem Machtopportunismus an, dessen vorgeschobene kulturelle Begründung seiner Inhumanität nichts nimmt, und stützen sich dabei auf eine juristische Selbstverständlichkeit westlichen Ursprungs: Rechte gelten nur für das Territorium jener Staaten, die sie gewähren. Es verhält sich also gerade umgekehrt, wie den Liberalen vorgehalten: Nicht sie sind es, die einer Verbreitung der Menschenrechte im Wege stehen, sondern illiberale Regierungen, die eine Anwendung dieser Rechte auf ihrem Territorium verhindern. Wenn man dennoch liberalen Staaten den Vorwurf macht, sie respektierten die Menschenrechte nicht ausreichend - und zwar diejenigen, aller Menschen außerhalb ihres Territoriums - so lautet die Logik dahinter offenbar: Wenn Menschenrechte für alle gelten sollen, aber nicht überall respektiert werden, muss es ein Recht geben, dorthin zu gehen, wo es Garantien gibt. So gewendet, leitet sich aus dem Liberalismus ein Argument dafür ab, Migranten weniger Steine in den Weg zu legen und genau darin sehen Realisten eine Gefahr. Sie sehen ein liberales Europa schutzlos zunehmenden Migrationsbewegungen ausgesetzt, was ihnen als Rechtfertigung genügt, den 47 <?page no="48"?> Anspruch auf universale Gültigkeit der Menschenrechte infrage zu stellen. Indem sie Rechtsstaatlichkeit und Liberalismus gegeneinander ausspielen, glauben sie eine ausreichende Grundlage dafür geschaffen zu haben, Grundrechte zu suspendieren. Diktatoren sind ihnen dabei allerdings zuvor gekommen: Sie nutzen die Rechtshoheit über ihr Territorium, um darauf die Anwendung der Menschenrechte zu verhindern. Will man diese nun auch im Westen suspendieren, folgt man lediglich diktatorisch erprobten Geleisen. Man nutzt die Macht, um der Macht zu nutzen. Tatsächlich kann es kein konsequent liberales Argument gegen Migration geben, sofern man unter Liberalismus die Stärkung individueller Freiheiten versteht. So wenig unter dieser Maßgabe die Freizügigkeit innerhalb eines Staates eingeschränkt werden kann, so wenig kann man dies mit gleicher Argumentation auf globaler Ebene, wofür schon Ludwig von Mises in bester liberalistischer Manier konsequent wirtschaftlich argumentiert: Die Wirkungen der Beschränkung der Wanderungsfreiheit sind also ganz dieselben wie die eines Schutzzolles. Sie führen dazu, daÿ in einem Teil der Welt günstigere Produktionsgelegenheiten nicht ausgenützt werden und in einem anderen Teil der Welt weniger günstige Produktionsgelegenheiten ausgebeutet werden. Vom Standpunkt der Menschheit gesehen: Verringerung der Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit, Verminderung des der Menschheit zur Verfügung stehenden Güterreichtums. Die Versuche, die Politik der Einwanderungsbeschränkungen vom wirtschaftlichen Standpunkt aus zu rechtfertigen, sind also von vornherein ganz aussichtslos. 47 Wer immer die Bewegungsfreiheit des Einzelnen einschränkt, kann nicht behaupten, dass dies im Dienste individueller Liberalität geschehe. Wer für diese konsequent eintritt, muss sich für die Aufhebung aller Grenzen einsetzen - und das nicht nur beim Kapitalfluss, sondern auch bei der Freizügigkeit 47 Mises, Liberalismus , S. 122. 48 <?page no="49"?> der Menschen. Darüber hinaus empfindet Mises auch vom Staat verordnete ethnische Homogenität als »fürchterlich«: Bei der Machtfülle, die dem Staate heute zu Gebote steht, muÿ die nationale Minderheit von der andersnationalen Mehrheit das Schlimmste befürchten. 48 In diesem Punkt ist also nicht zu widersprechen: Der Liberalismus setzt der Migration keine Grenzen. Vielmehr macht es seinen Kern aus, nach deren Aufhebung zu streben. Wo immer jemand im Namen des Liberalismus Forderungen erhebt, geschieht dies mit dem Ziel, bestehende Beschränkungen aufzuheben und Freiheiten zu erweitern: Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vertragsfreiheit und eben auch Freizügigkeit zielen allesamt auf die Befreiung von einschränkenden Vorgaben. Ganz in diesem Sinne strebt auch der wirtschaftliche Liberalismus stets nach Aufhebung von Regularien, die Kapitalströme beschränken. Das Streben nach völliger Schrankenlosigkeit ist kein Makel des Liberalismus, sondern genau darin besteht seine Grundidee. Es war Napoléon Bonaparte , weit davon entfernt, in unserem heutigen Sinne liberal genannt werden zu können, der den Begriff der idées libérales prägte, um seine Politik von jener der individuellen Beschränkungen abzuheben, die ständische Aristokratie einerseits und revolutionäre Jakobiner andererseits den französischen Bürgern zuvor auferlegt hatten. 49 Jede Aufhebung von Beschränkungen und jede Schrankenlosigkeit hat aber zwangsläufig Konsequenzen: Religionsfreiheit verstärkt unausweichlich die religiöse Heterogenität, wie schon die Ausbreitung des Protestantismus im Gefolge von Martin Luther und Johannes Calvin zeigte. Berufsfreiheit hatte mit der Auflösung der Zünfte eine intensivierte Konkurrenz im Handwerk zur Folge. Vertragsfreiheit erlaubte es, dass Grundbesitz nicht allein dem Adel vorbehalten blieb und trug so zur Auflösung der Ständegesellschaft bei. Pressefreiheit erhöhte die politische Vielfalt, die sich dann in 48 Ebd., S. 125. 49 Vgl. Vierhaus, »Liberalismus«, S. 748 ff. 49 <?page no="50"?> den jungen Demokratien des 19. und 20. Jahrhunderts in einer bunten Zeitungslandschaft niederschlug. 2008 folgte auf die Deregulierung des Kapitalmarkts ein Börsenkrach, den der Markt selbst nicht wieder aufzufangen in der Lage war. Freizügigkeit schließlich führte zunächst innerhalb nationaler Grenzen zu verstärkter Migration, später dann auch innerhalb der EU. Liberalisierungen haben stets Umbrüche zur Folge, die sich im alltäglichen Leben niederschlagen. Das liberale Verständnis von Freizügigkeit, das innerstaatlich und innereuropäisch als Errungenschaft angesehen wird, sehen viele als Bedrohung an, umso stärker es sich international etabliert. Auch andere Freiheiten werden zunehmend als problematisch wahrgenommen: Religiöse Vielfalt, freie Presse, globale Konkurrenz um Arbeitsplätze, Firmenübernahmen durch ausländische Konzerne und verselbständigte Kapitalmärkte sind allesamt Ergebnis einer Liberalisierung, gegen die sich Widerstand regt. Denn nicht wenige verbinden damit keine Befreiung mehr, sondern eine Einschränkung ihrer persönlichen Lebensumstände. Zugleich droht jede Argumentation an Selbstgerechtigkeit Schiffbruch zu erleiden, die Migration einen Riegel vorschreiben möchte, für sich selbst aber Freizügigkeit und Reisefreiheit beansprucht. Allzu leicht könnte man vorwerfen, dass willkürlich anderen jene Freizügigkeit vorenthalten werden soll, die man für sich ganz selbstverständlich in Anspruch nimmt und von der man persönlich profitiert, dass man also für sich selbst gerne Freiheiten in Anspruch nimmt, die man anderen nicht zugesteht. Im Dienste eigener Interessen werden viele Menschen zu Realisten: Sobald Freiheitsrechte nicht mehr zum eigenen Vorteil gereichen, wendet man sich gegen sie. Die gleichen Rechte, denen man das Gefühl persönlicher Freiheit verdankt, empfindet man als Bedrohung für die eigenen Lebensumstände, wenn auch andere in ihren Genuss kommen. Man wendet sich just dann von der Idee des Liberalismus ab, sobald man sich der eigenen Vorrechte sicher wähnt, um letztere nun zu verteidigen. Damit folgt man, ganz im Sinne des politischen Realismus, einem schlichten Status sichernden Handeln, lässt aber die grundlegende Fragestellung politischer Legitimation unbeantwortet: Wer hat das Recht, anderen (Freiheits-)Rechte vorzuenthalten, die er für sich selbst beansprucht? Oder steht dies einfach jedem zu, der dazu die Möglichkeit und die Macht hat? 50 <?page no="51"?> Mit dem Liberalismus verhält es sich heute augenscheinlich immer noch so wie schon seit Jahrhunderten: Er ist gut, wenn er dabei hilft, die eigenen Rechte zu erweitern, und schlecht, wenn man durch ihn Vorrechte zu verlieren droht. Schon im 19. Jahrhundert setzten sich selbsternannte Liberale gegenüber dem Adel für eine Liberalisierung des Wahlrechts ein, um ihre Möglichkeiten der Mitbestimmung zu erweitern, während sie zugleich nach einem Zensuswahlrecht strebten, um die Mitbestimmung des einfachen Volkes zu verhindern - etwa mit einem Argument wonach »distress [...] blunts their judgement«, 50 die Not also ihre Urteilsfähigkeit abstumpfe. Konsequent zu Ende gedacht kennt der Liberalismus jedoch keine Grenzen und keine Abstufungen, sondern beansprucht universale Gültigkeit. Das ermöglicht einerseits, dass jeder ihn für seine Ziele in Anspruch nehmen kann, indem er jedem eine Grundlage dafür bietet, Gleichberechtigung zu fordern. Zugleich macht es ihn fortwährend zu einer Bedrohung für all diejenigen, die Vorrechte genießen, weil er aufgrund seiner Universalität grundsätzlich jegliches Privileg und jegliche Ungleichstellung gegenüber jedweder Menschengruppe auf der Welt in Frage stellt. Im nationalen Rahmen erscheint das heute weitgehend unproblematisch, ja geradezu selbstverständlich: gleiches Recht für alle! Alles andere gilt mittlerweile als skandalös. Auch wenn es heute manchem vielleicht immer noch nicht leicht fällt, die Gleichrangigkeit von Frauen oder bestimmten Minderheiten tatsächlich zu akzeptieren, so hat die rechtliche Gleichstellung auf nationaler Ebene dennoch statt- und auch weitgehend Anerkennung gefunden. Doch es war ein langes Ringen bis dorthin. Immerhin hatte es bis zum Jahr 1977 gedauert, ehe in Deutschland der Ehemann nicht mehr die Anstellung seiner Frau aufkündigen konnte. Weil der Liberalismus seiner Idee nach keine Grenzen kennt, weist er allerdings über die Nationalstaaten hinaus. Mit der Globalisierung fanden nicht nur der liberalisierte Waren- und Kapitalverkehr globale Verbreitung, sondern auch liberale Ideen, denn diese machen grundsätzlich keine Unterschiede zwischen Europäern, Amerikanern, Afrikanern oder Asiaten. Doch so 50 Macaulay, Reform, That You May Preserve ; vgl. Niedhart, Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert , S. 78 ff. 51 <?page no="52"?> wie im 18. und 19. Jahrhundert Adelige den Liberalismus als Bedrohung ihrer Vorrechte empfunden haben, so ergeht es heute offenbar vielen Bürgern von Staaten mit hohem Wohlstandsniveau, weil sie genau wissen, dass die Annehmlichkeiten ihres Lebens sich nicht zuletzt dem Umstand verdanken, dass weltweit noch lange nicht gilt: gleiches Recht für alle! Nimmt man Liberalismus ernst, dann hat international der Skandal Bestand. Damit steht er dem politischen Realismus naturgemäß entgegen, denn dieser strebt nicht nach gleichem Recht für alle, sondern nach unaufhörlicher Machtmaximierung, nach Verschiebung der Ungleichheit zu eigenen Gunsten, ungeachtet wie ungleich die Kräfteverhältnisse bereits verteilt sind. Der Liberalismus hingegen schöpft seine Kraft aus dem Widerstand gegen Privilegien und Besitzstandswahrung. Umso erstaunlicher erscheint, dass der Westen so lange am Liberalismus festgehalten hat, privilegiert wie die allermeisten seiner Bewohner sind. Offenbar gelang es lange den Status zu behaupten und sogar auszubauen, in jüngster Zeit aber sehen Europäer und Nordamerikaner ihre angesammelten Besitzstände bedroht durch die Folgen von Globalisierung, Industrialisierung sowie Migration und reagieren in zunehmender Zahl geradezu erwartungsgemäß illiberal. Angesichts der Gefahr Einbußen in seinem privilegierten Lebensstil hinnehmen zu müssen, greifen die gleichen Abwehrreflexe, wie sie sich beim Adel angesichts der Forderungen des Bürgertums und bei diesem angesichts der Forderungen des Proletariats zeigten. Mit der Naturalisierung der nationalen Einheit liefert der politische Realismus dabei der Besitzstandswahrung jenes Gruppendenken, das der Adel aus der vermeintlich gottgewollten Geburt und die Bourgeoisie aus dem vermeintlich leistungsgerecht verteilten Kapital zu beziehen können glaubte. Die eigenen Privilegien werden auch heute mit allerlei Überlegenheiten zu rechtfertigen versucht: Intellekt, Kultur, Leistung, Stärke, Infrastruktur usw. Die Frage aber ist, ob sich die globale Ausbreitung liberaler Ansprüche überhaupt noch aufhalten lässt, nicht nur weil man sie nunmal selbst in alle Welt gestreut hat, sondern mehr noch weil die Unterprivilegierten ihnen immer mehr Nachdruck zu verleihen vermögen: eben durch die Folgen von Globalisierung, Industrialisierung und Migration. Die Privilegien des Adels und des Bürgertums jedenfalls gingen im gleichen Maße zurück, wie die Un- 52 <?page no="53"?> terprivilegierten wirtschaftlichen Druck aufzubauen vermochten. Liberalismus hat grundsätzlich einen universalen Charakter und stellt dadurch jegliche Privilegien infrage. Der politische Realismus hält nicht nur das menschliche Streben nach Machtmaximierung für stärker, sondern es auch für gefährlich, mehr Freizügigkeit zu gewähren. Es könnte sich jedoch als aussichtslos erweisen, gegen berechtigte Forderungen nach mehr Gleichberechtigung anzugehen. Jedenfalls haben sich historisch liberale Forderungen durchgesetzt, sobald ihre Pro teure genug wirtschaftlichen Ein uss gewonnen hatten. Es könnte deshalb womöglich aussichtsreicher sein, die Entwicklung e ektiv zu gestalten, statt sie verhindern zu wollen, da sie kaum aufzuhalten sein wird. 2.3 Zerstört Liberalismus, wonach er strebt? Dass er universal anwendbar ist, kann man dem Liberalismus schlecht vorwerfen. Allgemeingültigkeit macht für gewöhnlich die Stärke von Prinzipien aus. Bedrohlich erscheint ein Universalismus lediglich jenen, die um ihre Privilegien fürchten: Sei es früher dasjenige der vermeintlich edlen Geburt und des Grundbesitzes oder heute das der Geburt in einem reichen Land und der politischen Partizipation ebendort, was aufgrund wirtschaftlicher Potenz überproportionalen Einfluss verspricht. Jeder Universalismus gerät notwendig in Konflikt zu Privilegien, weil er seinem Prinzip nach nun einmal keine Ausnahmen zulässt. Dagegen gibt es weder logisch noch menschlich etwas einzuwenden, vielmehr erscheint die Forderung nach Gleichberechtigung für alle nur konsequent. Widersprüche ergeben sich daraus keine, dafür aber umso mehr Widerstände , je einflussreicher die Privilegierten. Die eigentliche Problematik des Liberalismus, sofern man die Verlustängs- 53 <?page no="54"?> te von Privilegierten nicht als seinen Makel, sondern als Kern seiner Überzeugungskraft ansieht, entspringt nicht aus seinem Universalismus, sondern aus dem grundlegenden Ziel, wonach individuelle Freiheit maximiert werden soll. Denn setzte man dem Individuum tatsächlich keine Schranken, liefe das in letzter Konsequenz auf die Abschaffung aller Regeln hinaus, weil vollkommene Freiheit keine Grenzen kennt. Anarchie wäre somit die perfekte Umsetzung individueller Liberalität, da schlussendlich jedes Verbot einschränkend wirkt. Das gilt nicht nur für Einschränkungen typischer Freiheitsrechte wie Freizügigkeit, Religions-, Meinungs-, Vertrags- oder Versammlungsfreiheit; sondern das gilt genau genommen auch für jedwedes Verbot, also auch für jenes, Gewalt auszuüben, zu töten oder andere zu erpressen. Dass mit Freiheit häufig etwas Positives verbunden wird, sie von Liberalen gar »als Gut an sich« 51 angesehen wird, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, welche Folgen ihre radikale Umsetzung konsequenterweise hätte: Wer verbietet, Andersdenkende, Chefs oder einfach den Nachbarn zu töten, schränkt damit individuelle Freiheit ein; ebenso wer verbietet, Kinder, Sonderlinge oder sonstwen zu verprügeln; und auch wer verbietet, den Lebensunterhalt mit Schutzgeldforderungen zu verdienen. Verbote verfolgen kein anderes Ziel, als der individuellen Freiheit Schranken zu setzen. Das ist kein Mangel, sondern das originäre Ziel eines jeden Verbots. Darum zerstört ein radikaler Liberalismus, wonach er strebt: Uneingeschränkte individuelle Liberalität führt nicht zu Freiheit für alle, sondern zu Angst und Unterwerfung. Wenn der individuellen Willkür keine Grenzen gesetzt werden, macht dies nicht etwa frei , sondern im Gegenteil unfrei , weil ungehemmte Gewalt sich Bahn bricht. Konsequent verfolgt, erwächst aus individueller Liberalität eine Unvereinbarkeit mit sich selbst. Weil sie auch die Freiheit lässt, andere der ihren zu berauben, mündet sie nicht in universale Freiheit, sondern in einen gefürchteten Zustand, wie er in einer berühmten Formulierung von Thomas Hobbes seinen Niederschlag fand: in den »Krieg eines jeden gegen jeden.« 52 Das ist üblicherweise nicht Ziel der Liberalen, weshalb sie ohne Freiheit 51 Butler, Wie wir wurden, was wir sind , S. 53. 52 Hobbes, Leviathan , S. 96. 54 <?page no="55"?> begrenzende Prinzipien nicht auskommen. Deren bekanntestes lässt meine Freiheit dort enden, wo die der anderen beginnt und fand nach der Französischen Revolution im Jahr 1789 Eingang in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die Verfassunggebende Nationalversammlung: Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat mithin nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern. 53 Doch dieser Grundsatz folgt selbst keiner freiheitlichen Maxime, vielmehr wirkt er einschränkend. Er benennt die Grenzen der Freiheit und genau hier liegt das Dilemma des Liberalismus: Per se enthält er kein Prinzip, aus dem sich eine Begrenzung der Freiheit ableiten ließe, dennoch bedarf er eines solchen, um das Individuum vor Unterwerfung durch andere und somit vor dem Verlust der Freiheit zu schützen. 54 Es ist nicht die Freiheit der anderen, die meine einschränkt, denn das hieße, ich wäre untertan; es sind ihre Rechte. Was fehlt, ist ein originär liberales Kriterium dafür, wo genau meine Freiheit endet und die Rechte des anderen beginnen: Ist es sein Recht auf Leben? Dann dürfte ich ihn schlagen und quälen! Ist es sein Recht auf körperliche Unversehrtheit? Dann dürfte ich ihn einsperren! Ist es sein Recht auf Freizügigkeit? Dann dürfte ich ihm alles nehmen! Ist es sein Recht auf Eigentum? Dann dürfte ich ihn verhungern lassen, wenn er nunmal keines hat! Ist es sein Recht auf Almosen? Dann dürfte ich ihn ausbeuten! Ist es sein Recht auf ein würdiges Leben? Dann dürfte ich noch immer seine politische Mitbestimmung verhindern! Ist es sein Recht auf politische Partizipation? Dann würde ich einräumen, dass es kein liberales Kriterium gibt, sondern die Grenzen der Freiheit letztlich auf Einigung, mithin De liberation beruhen! Dass jeder Versuch einer liberalen Beschränkung des Liberalismus willkürlich ausfällt, mag man auch daran ersehen, dass die liberale Ikone John Stu- 53 Art. IV, Nationalversammlung, »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789«, S. 27. 54 Zu dieser Problematik auch bei Adam Smith siehe: Walther, »Wirtschaftlicher Liberalismus«, S. 794. 55 <?page no="56"?> art Mill in Ermangelung eines spezifisch liberalen Kriteriums die despotische Herrschaft über Kolonien rechtfertigt. Für Mill gibt es Kolonien, deren Bevölkerung auf einer Entwicklungsstufe steht, die sie zum Repräsentativsystem fähig erscheinen lässt. Indessen gibt es andere, die diese Stufe noch nicht erreicht haben und die, jedenfalls soweit es sich um Kolonien handelt, von der Kolonialmacht bzw. durch deren Beauftragte regiert werden müssen. Eine solche Regierung ist so legitim wie irgendeine andere, wenn sie den Übergang des unterworfenen Volkes von seiner gegenwärtigen auf eine höhere Zivilisationsstufe am ehesten ermöglicht. Unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen ist, wie wir bereits festgestellt haben, eine zielstrebige Despotie an sich schon die beste Herrschaftsform, um das Volk in den Dingen zu schulen, die es in spezi scher Weise für eine höhere Zivilisation reif machen. 55 Wenn aber sogar eine Despotie mit Liberalismus vereinbar sein soll, hat letzterer sein grundlegendes Ziel und damit jegliche Legitimation aufgegeben. Freiheit gewährt er dann nur denjenigen, die er für geeignet hält, und wer darunter fällt, darüber wird willkürlich entschieden. Liberal ist dann, was Mill dafür hält. Vermag der Liberalismus aber seine Eingrenzung nicht aus eigenen Prinzipien zu schöpfen, so muss er sich dafür auf Vereinbarungen der Menschen untereinander stützen - oder auf Macht. Wann immer er dennoch als prinzipienfeste Lehre auftritt, leugnet er, dass es in freiheitsgefährdende Schrankenlosigkeit ausarten würde, sollten ihn kollektive Festlegungen nicht daran hindern. Erst seine Beschränkung hindert den Liberalismus also daran, sich an seinem eigenen zentralen Grundsatz zu vergehen: der Bewahrung der Freiheit! 55 Mill, Betrachtungen über die Repräsentativregierung , S. 273. 56 <?page no="57"?> Liberalismus bleibt ohne eine grundsätzlich illiberale Freiheitsbegrenzung undenkbar. 56 Ohne eine solche fehlt ihm die nötige Einhegung, damit er nicht an seiner eigenen Widersprüchlichkeit zu Grunde geht. Die Begrenzung des radikalen Liberalismus erfolgt üblicherweise durch Rechte, die dem Individuum eingeräumt werden. Doch jedes Recht , das ich anderen einräume, beschränkt zwangsläufig meine Freiheit : Sein Recht auf Leben beschränkt meine Möglichkeiten, mich durchzusetzen! Sein Recht auf körperliche Unversehrtheit beschränkt meine Möglichkeiten, mich zu wehren! Sein Recht auf Freizügigkeit beschränkt meine Möglichkeiten, ihn von bestimmten Orten fernzuhalten! Sein Recht auf Eigentum beschränkt meine Möglichkeiten, auf die gleichen Dinge Ansprüche zu erheben! Sein Recht auf Almosen beschränkt mein eigenes Recht auf Eigentum! Sein Recht auf ein würdiges Leben beschränkt meine Möglichkeiten, die Vertragsfreiheit etwa beim Angestelltenverhältnis auszuschöpfen! Sein Recht auf politische Mitbestimmung beschränkt meine Macht, eigene Interessen durchzusetzen! Auch Immanuel Kant weist über den Liberalismus hinaus, um diesem Dilemma zu entgehen. Sein kategorischer Imperativ liefert keine liberale Beschränkung mit, sondern bezieht sich auf den menschlichen Willen : Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daÿ sie ein allgemeines Gesetz werde. 57 Da grundsätzlich alles zum Gesetz erhoben werden könnte, kommt es darauf an, wovon man dies auch wollen kann. Man könnte Mord und Totschlag ebenso gelten lassen, wie man unter Hinweis auf Eigentum Hungernden 56 Bei der Anwendung einer Unterscheidung auf sich selbst ergibt sich eine Paradoxie: Ist die Unterscheidung von liberal und illiberal selbst wiederum liberal oder illiberal? Es bleibt die paradoxe Situation, dass Liberalität nicht ohne Illiberalität bestehen kann. Folgt man Niklas Luhmann, muss »man das Paradox als Letztformel akzeptieren.« (Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft , S. 520) 57 BA52 in Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 51. 57 <?page no="58"?> Nahrung verweigern könnte. Der Liberalismus kennt hier keine freiheitsbeschränkenden Prinzipien, der Wille zum Überleben hingegen schon - und so ergibt sich Kants einschränkendes Prinzip nicht aus individueller Freiheit, sondern setzt bereits voraus, dass der Mensch mehr sein will als nur frei , also etwa auch körperlich unversehrt. Warum sollte er sonst Gewalt verbieten wollen ? Kant erhebt nicht Liberalität zur alleinigen Richtschnur, sondern Wechselseitigkeit zum Prinzip. Aus diesem ergibt sich im Zuge des praktischen Imperativs die Möglichkeit, dem Willen des anderen den gleichen Wert beizumessen wie dem eigenen: Handle so, daÿ du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloÿ als Mittel brauchest. 58 Sobald deshalb der Grundsatz gilt, dass meine Freiheit dort endet, wo die des anderen beginnt, läuft dies stets auf eine Beschränkung individueller Freiheit hinaus. Ein so verstandener Liberalismus weicht vom Ziel größtmöglicher Liberalität für das Individuum ab und verweist statt dessen auf das Prinzip der Reziprozität . Halten sich alle daran, wird niemand benachteiligt und ein gleiches Maß an Freiheit gewährleistet: Wenn ich für mich das Recht auf Leben fordere, negiere ich damit nicht das Recht auf Leben anderer! Wenn ich Freizügigkeit beanspruche, schränke ich nicht die Bewegungsfreiheit anderer ein (abgesehen von der Stelle auf der ich stehe - eine Besonderheit, die für politische Proteste durchaus genutzt wird)! Wenn ich für mich Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und politische Partizipation in Anspruch nehme, erfahren gleichlautende Ansprüche anderer dadurch keine Einschränkung! Diese Rechte verleihen allen Beteiligten gleichermaßen Freiheiten wie sie diese beschränken, ohne dass deren Ausschöpfung durch eine Person, die Inanspruchnahme durch andere beeinträchtigen würde. Für eine von Beginn an zentrale Forderung der Liberalen gilt das allerdings nicht: für das Recht auf Eigentum . Dieses schließt gerade das gleiche Recht anderer auf den selben 58 BA66f in Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 61. 58 <?page no="59"?> Gegenstand aus. John Locke , »Urvater des Liberalismus«, 59 begründet denn auch durch Eigentum verursachte Ungleichgewichte nicht liberal , sondern behauptet einfach ihre allgemeine Akzeptanz , indem er mit der Erfindung des Geldes die Zustimmung zum Ende einer Reziprozität gegeben sieht, welche allen gleiche Möglichkeiten eingeräumt hatte: Das aber wage ich kühn zu behaupten: dieselbe Regel für das Eigentum, nämlich daÿ jeder Mensch so viel haben sollte, wie er nutzen kann, würde auch noch heute, ohne jemanden in Verlegenheit zu bringen, auf der Welt gültig sein, denn es gibt genug Land, das auch für die doppelte Anzahl von Bewohnern noch ausreicht, wenn nicht die Er ndung des Geldes und die stillschweigende Übereinkunft der Menschen, ihm einen Wert beizumessen (durch Zustimmung), die Bildung gröÿerer Besitztümer und das Recht darauf mit sich gebracht hätte. 60 Wie Locke hier andeutet, hatte er sich wenige Seiten zuvor dafür ausgesprochen, dass niemand mehr besitzen solle, als es seinen Bedürfnissen entspricht: So viel, wie jemand zu irgendeinem Vorteil seines Lebens gebrauchen kann, bevor es verdirbt, darf er sich durch seine Arbeit zum Eigentum machen. Was darüber hinausgeht, ist mehr als sein Anteil und gehört anderen. Nichts ist von Gott gescha en worden, damit die Menschen es verderben lassen oder vernichten. 61 Demnach soll den Menschen nicht erlaubt sein, ihre Freiheit beliebig auszuleben ohne Rücksicht auf die Folgen, vielmehr gilt es, Verschwendung unbedingt zu vermeiden. Um diese Einschränkung zu begründen, argumentiert Locke nicht liberal , sondern religiös , wie er durch Bezugnahme auf Gott 59 Schwaabe, Politische Theorie 1 , S. 150. 60 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung , S. 222. 61 Ebd., S. 219. 59 <?page no="60"?> deutlich zum Ausdruck bringt. Erneut geht hier einem Liberalen uneingeschränkte Liberalität zu weit, ohne dass er dafür eine liberale Begründung angeben könnte. Ungeachtet dessen hält Locke seine ursprüngliche Maßgabe nicht mehr für angezeigt, wonach niemand mehr besitzen solle, als er selbst »gebrauchen kann«, sofern Verschwendung einfach durch Verwendung von Geld vermieden wird. Der Anhäufung und »Erhaltung des Eigentums«, worin er ganz liberalistisch »das große und hauptsächliche Ziel« 62 sieht, steht aus seiner Sicht dann nichts mehr entgegen, auch wenn er als einzige Rechtfertigung dafür anführen kann, dass die Menschen dem stillschweigend ihre Zustimmung gegeben hätten. Davon kann allerdings keine Rede sein, weil die breite Einführung des Geldes weder in Eintracht noch mit Einverständnis erfolgte, vielmehr durchaus als »Gewalt, Zwang« 63 betrachtet wurde. Betrieb doch die einfache Bevölkerung über weite Strecken der Geschichte Naturalienwirtschaft, ohne größere Berührungspunkte zu Gold, Silber oder Kupfer. Entsprechend mussten sich Grundherren im Mittelalter mit Frondiensten und einem Zehnten begnügen, der sich ebenfalls auf Naturalien bezog. Geld nutzten vor allem Kaufleute und Adlige, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Erst mit der Erhebung von Steuern in Münzgeld wurden dann auch Bauern in die Monetarisierung getrieben. Sie mussten sich nun um Einkommen bemühen, sei es als Tagelöhner, sei es durch verstärkte Markttätigkeit. Der Bauer muÿte seine Produkte nun erst auf dem lokalen Markt verkaufen, um das Geld für den Zins aufbringen zu können. 64 Jedenfalls genügte Überschussproduktion in Naturalien, wie sie insbesondere für die eigene Vorratshaltung wichtig war, nicht mehr, sondern sie musste in Geldmittel konvertiert werden, die fürs Überleben auf Grundlage der üblichen Subsistenzwirtschaft irrelevant waren. Indem man dem Volk, das 62 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung , S. 278. 63 Brunner, Land und Herrschaft , S. 306. 64 Goetz, Leben im Mittelalter , S. 159. 60 <?page no="61"?> selbst überwiegend Tauschhandel mit nützlichen Produkten betrieb, Steuern abpresste, zwang man es also in eine Geldwirtschaft, die ihm keine Vorteile brachte. Dafür ermöglichte es den Fürsten, Reichtümer in einem Umfang anzuhäufen, wie er in Form von Naturalien niemals möglich gewesen wäre. Das wurde als gravierende Änderung empfunden, wie Norbert Elias erläutert: Und jedermann, von dem es der Zentralherr verlangt, ist jetzt gehalten, regelmäÿig einen bestimmten Teil seiner Geldeinnahmen oder seines Geldbesitzes an den Zentralherrn abzuführen. Das ist erst recht etwas Neues, gemessen an dem, was ursprünglich in der mittelalterlichen Gesellschaft Brauch ist. Hier, in dieser vorwiegend natural wirtschaftenden Gesellschaft, in der Geldmittel verhältnismäÿig rar sind, emp ndet man das Verlangen der Fürsten und Könige nach einer Geldabgabe von bestimmten, durch das Herkommen xierten Gelegenheiten abgesehen zunächst als etwas vollkommen Unerhörtes; man steht zu solchen Maÿnahmen nicht sehr viel anders als zu Raubzügen oder zum Nehmen von Zins. 65 Es verhält sich mithin genau umgekehrt als von Locke behauptet: Die Einführung des Geldes beruht nicht auf Zustimmung zur Anhäufung von Besitzständen, sondern diejenigen, die solche ansammeln wollten, zwangen die Verwendung von unverderblichen Zahlungsmitteln der breiten Bevölkerung auf, wodurch es ihnen möglich war, zuvor ungeahnte Reichtümer zusammenzutragen. Geld versetzte so überhaupt erst in die Lage, Menschen, die selbst hauptsächlich Naturalien handelten, etwas abzunehmen, das nicht verdirbt, um sich damit mehr zu bereichern, als es die eigenen Bedürfnisse verlangten. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass die dadurch mögliche Akkumulation eine Voraussetzung für die Entstehung des Absolutismus und später moderner Staaten mit kostspieligen Beamten und stehendem Heer bildete, 65 Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Zweiter Band , S. 280. 61 <?page no="62"?> die dafür auf regelmäßige Steuereinnahmen angewiesen waren. Eine solche Asymmetrie zwischen Staat und Bevölkerung bringt allerdings noch nicht notwendig soziale Ungleichheit mit sich. Unter den Bürgern jedoch hebt Eigentum zwangsläufig Gleichrangigkeit und Reziprozität schlicht durch die ungleiche Verteilung von Vermögen auf, mit der Lebenschancen unabhängig von den eigenen Bedürfnissen oder Talenten vergeben werden. Das verschafft Besitzenden weitreichende Optionen, darunter auch die der Ausbeutung: Sie können den Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen (wie etwa Land) von Abgaben abhängig machen. Deren Attraktivität wiederum nimmt durch die Möglichkeit, unverderbliche Güter anzuhäufen, enorm zu. Denn: Was nicht verdirbt, mehrt den eigenen Reichtum nur umso nachhaltiger. Während für Reiche dadurch die Freiheitsgrade zunehmen, erfahren andere ihre Armut als restriktiv. Geld und Eigentum bereiten so die Grundlage dafür, enorme soziale Ungleichheiten zu schaffen und sie immer weiter zu verstärken. Mit seiner Verteidigung des Geldes verlässt Locke folglich den Boden der Reziprozität und bedient exakt die »Interessen seines vermögenden Umfelds«, 66 in dem er als Schatzkanzler und Absolvent einer Aristokratenschule verkehrte. Er rechtfertigt schlicht jene bestehenden Ungleichheiten, von denen seine Klientel profitiert: Denn ihr gewährt das Recht auf Eigentum die Anhäufung von Vermögen, während es andere, gleichgültig wie bedürftig sie sein mögen, vom Gebrauch dieser Besitztümer ausschließt. Im Namen der Freiheit lässt Locke damit ein gewaltiges Ungleichgewicht an Freiheit zu: Reichten die Handlungsmöglichkeiten von Bauern und Tagelöhnern zu seiner Zeit doch bei weitem nicht an jene von reichen Kaufleuten oder Adligen heran. Eigentum verhindert aber nicht nur reziproke Freiheiten gleichen Umfangs für alle, es steht darüber hinaus auch im Widerspruch zur Freizügigkeit , weil der Besitzanspruch auf Land durch den einen die Bewegungs- und Nutzungsmöglichkeiten des anderen einschränkt. Zumal in einer endlichen Welt nicht gewährleistet werden kann, dass andere im gleichen Maße Besitz für sich beanspruchen können. Dass es genug Land für alle gebe, wie von Lo- 66 Niedermaier, Wozu Demokratie? , S. 149. 62 <?page no="63"?> cke behauptet, gilt schon lange nicht mehr, falls das im letzten Jahrtausend überhaupt jemals der Fall gewesen sein sollte, war doch schon im Mittelalter die Zahl der Tagelöhner groß, die nur allzu gern über genügend Land verfügt hätten, um sich nicht verdingen zu müssen. Wenn aufgrund meiner Eigentumsansprüche andere in Not geraten, weil ihnen das Nötigste zum Überleben fehlt, steht das außerdem im Widerspruch zum Recht auf Leben . Wenn ich, um meinen Besitz zu verteidigen, notfalls auf Gewalt zurückgreife, trete ich in Widerspruch zum Recht auf körperliche Unversehrtheit . Das Recht auf Eigentum steht mithin zu sich selbst im Widerspruch, forderte man Reziprozität: Denn für alles worauf ich Besitzanspruch erhebe, negiere ich die Ansprüche aller anderen. Jean- Jacques Rousseau - »Ahnherr der modernen Demokratie«, 67 um nochmals eine heutige Einordnung wiederzugeben - bemerkt nicht unberechtigt, dass Eigentum weniger selbstverständlich ist, als wir heute gemeinhin annehmen: Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: Das ist mein und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviele Verbrechen, Kriege, Morde, Leiden und Schrecken würde einer dem Menschengeschlecht erspart haben, hätte er die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugerufen: Hört ja nicht auf diesen Betrüger. Ihr seid verloren, wenn ihr vergeÿt, daÿ die Früchte allen gehören und die Erde keinem! 68 Die Forderung nach Eigentum steht im krassen Gegensatz sowohl zum Anspruch auf größtmögliche Freiheit, der dem individuellen Durchsetzungswillen keinerlei Schranken setzt und somit auch Diebstahl erlauben müsste, als auch demjenigen auf Gleichberechtigung, der jedem menschlichen Leben gleichen Wert beimisst. Letzteres wird auch daran deutlich, 67 Schwaabe, Politische Theorie 2 , S. 33. 68 Rousseau, »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen«, S. 191 f. 63 <?page no="64"?> dass in einer Welt reziprok beschränkter Freiheitsrechte - mit einem gleichen Recht auf Leben - eine Hungersnot alle gleichermaßen betreffen würde, wogegen für eine Welt ungleicher Eigentumsverhältnisse das nicht gilt. Es ringen drei verschiedene Ansprüche an Freiheit miteinander: solche nach individueller, solche nach gleichrangiger und solche nach (Eigentum) bewahrender Freiheit. Entsprechend könnte man drei Formen des Liberalismus unterscheiden: Erstens kennt ein konsequent an individueller Freiheit orientierter Liberalismus nur ein Recht: das des Stärkeren, demzufolge jeder tun und lassen kann, wonach ihm der Sinn steht, und niemand ihn dabei einschränken darf. Eine solche Auffassung mündet letztlich in eine Anarchie , die dem (Un-)Recht der Durchsetzungsfähigkeit folgt, denn jedes Verbot würde einschränkend wirken. Anarchisten fordern eine solche » Rückgabe der Freiheit an alle «, 69 hoffen aber dennoch dem Chaos entgehen zu können, indem sie auf »freie Assoziation und Föderationen« 70 setzen, die nicht in blanker Gesetzlosigkeit enden. Liberale teilen diesen Optimismus nicht. Obschon sie also Anarchie ablehnen, ergäbe diese sich aus der Maximierung individueller Freiheit, weshalb Benjamin Barber diesen anarchistischen Kern des Liberalismus für »politikfeindlich« hält: Da die anarchistische Disposition eng mit der Au assung verknüpft ist, individuelle Rechte seien absolut, ist sie ein unversöhnlicher Gegner politischer Macht . 71 So sehr sie anarchische Zustände fürchten, so sehr fordern radikale Liberale »individuelle Freiheit«, erklären sie »zum überragenden Ziel jeder Gesellschaftspolitik«. 72 Sie bestehen auf Handlungsfreiheit, aber gerade weil diese auch andere unberechenbar macht, hegen sie Misstrauen. Jeder kämpft für sich. Jede/ r muss sehen, wie sie/ er klarkommt. Liberale sind also der Überzeugung, dass jede/ r für sich selbst verantwortlich ist. Zum Ausdruck kommt 69 Bakunin, »Zusammenfassung der Grundideen des Revolutionären Katechismus«, S. 99. 70 Malatesta, »Ein anarchistisches Programm«, S. 231. 71 Barber, Starke Demokratie , S. 35 f. 72 Buchanan, Die Grenzen der Freiheit , S. 3. 64 <?page no="65"?> eine solche Haltung im verbreiteten Motto: Jede/ r ist ihres/ seines Glückes Schmied! Darauf hat sich stets berufen, wer alle Ansprüche als gerechtfertigt ansieht, die er durchzusetzen vermag, sodass hier ein politischer Realismus durchscheint. Dahinter steht nicht einfach nur die Vorstellung, dass man sein Leben in die Hand nehmen muss, was ohnehin immer stimmt, sondern mehr noch, dass es darum geht, zu ergreifen, was man kriegen kann, und wer dabei weniger Erfolg hat, trägt daran selbst Schuld. Gegebene Umstände, unterschiedliche Startbedingungen, Schicksalsschläge oder auch nur anderweitig gelagertes Gerechtigkeitsempfinden werden ausgeblendet. Indem diese radikal machiavellistische Haltung unberücksichtigt lässt, wieviel jemand gemessen an seiner Ausgangssituation geleistet hat, sich statt dessen voll und ganz an Durchsetzungsfähigkeit orientiert, entkoppelt sie Macht von Leistung . Mit größtem Genie und Fleiß kann man leer ausgehen, wenn Faulpelze auf günstige Gelegenheiten lauern, um eventuelle Schwächen auszunutzen. Wo individuelle Freiheit tatsächlich keine Grenze kennt, zahlt sich Leistung nicht unbedingt aus, wenn man Vollbrachtes nicht zu schützen weiß. Man könnte dies einen radikalen Liberalismus nennen, weil er der Handlungsfreiheit keine Grenzen setzen will. Ein zweitens konsequent an gleichberechtigenden Schranken individueller Freiheit orientierter Liberalismus kennt nur ein Prinzip möglicher Einschränkungen: das der Reziprozität , demzufolge keine Inanspruchnahme eines Rechts andere daran hindern darf, gleiche Ansprüche zu hegen, worauf auch Kant zielt, wenn er schreibt: Eine jede Handlung ist recht die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann. 73 Eine solche Auffassung mündet letztlich in universale Gleichberechtigung, denn man könnte niemandem ein Recht vorenthalten, das man für 73 B34 in Kant, »Die Metaphysik der Sitten«, S. 337. 65 <?page no="66"?> sich selbst ebenfalls beansprucht. Zum Ausdruck kommt dies in der Forderung: Gleiches Recht für alle! Darauf hat sich stets berufen, wer die Abschaffung von Privilegien und damit allseitig gleichlautende Ansprüche forderte. Grundsätzlich wohnt diesem Prinzip ein Universalismus inne, der keine Grenzen kennt, sodass sich wirklich jede/ r darauf stützen kann. Verallgemeinerungsfähigkeit entfaltet ihre argumentative Kraft durch Wechselseitigkeit : Wie will man anderen verwehren, was man für sich selbst in Anspruch nimmt? Man könnte dies einen reziproken Liberalismus nennen. Die Idee der Reziprozität führt zu einem gleichberechtigten Recht auf alles. Eigentum steht dem entgegen, weil daraus ein ungleicher Zugang zu Ressourcen resultiert. Aus einem solchen Universalismus folgt daher eine Entkopplung von Leistung und Vermögen : Jeder soll gleichen Zugang zu Ressourcen erhalten, gleichgültig wie viel er geleistet hat. Ein Freiheitsstreben, das solchermaßen auf Gleichberechtigung abzielt, enthält den Kern eines jeden Sozialismus , auch wenn Karl Marx und Friedrich Engels dem Liberalismus kritisch gegenüber stehen. Sie nehmen ihn in seiner wirtschaftsliberalen Ausprägung als ideologische Wendung bürgerlicher Interessen wahr: als »Bourgeoisliberalismus«. 74 Sie verbinden damit die Verteidigung des Privateigentums, während sie dem emanzipatorischen Potential der Gleichberechtigung keineswegs ablehnend gegenüberstehen, dieses vielmehr als Voraussetzung des Sozialismus ansehen. Das aber sei dem deutschen Sozialismus bei der Übernahme des französischen entgangen: Dem wahren Sozialismus war so erwünschte Gelegenheit geboten, der politischen Bewegung die sozialistischen Forderungen gegenüberzustellen, die überlieferten Anatheme gegen den Liberalismus, gegen den Repräsentativstaat, gegen die bürgerliche Konkurrenz, bürgerliche Preÿfreiheit, bürgerliches Recht, bürgerliche Freiheit und Gleichheit zu schleudern und der Volksmasse vorzupredigen, wie sie bei dieser bürgerlichen Bewegung nichts zu gewinnen, vielmehr alles zu verlieren habe. Der deutsche 74 Marx und Engels, »Die deutsche Ideologie«, S. 178. 66 <?page no="67"?> Sozialismus vergaÿ rechtzeitig, daÿ die französische Kritik, deren geistloses Echo er war, die moderne bürgerliche Gesellschaft mit den entsprechenden materiellen Lebensbedingungen und der angemessenen politischen Konstitution vorausgesetzt, lauter Voraussetzungen, um deren Erkämpfung es sich erst in Deutschland handelte. 75 Wie auch immer die praktische Umsetzung des Sozialismus ausgesehen haben mag, seine Grundidee widerspricht jeder Privilegierung und jeder ungleichen Ressourcenausstattung. So sehr Liberale ihn auch ablehnen, bildet er doch die Konsequenz reziproker Gleichberechtigung. Nur deshalb ist es den Konservativen in den USA möglich, Liberale in die Nähe des Kommunismus zu rücken (obwohl Europäern das befremdlich anmutet), während sie zugleich eine neoliberale Politik betreiben. 76 Ein drittens konsequent am Eigentum orientierter Liberalismus besteht auf Garantie dessen, was jemand sein Eigen nennen zu können glaubt. Eine übergeordnete Macht möge verteidigen, was er allein nicht zu verteidigen vermag. Sie möge seinen Eigentumsansprüchen zur Durchsetzung verhelfen, die er selbst nicht zu behaupten sich imstande sieht. Sie möge den Besitz der Besitzenden wahren. Darauf hat sich stets berufen, wer Ansprüche anderer abwehren wollte. Was mir gehört, darauf sollte niemand sonst zugreifen dürfen, gleichgültig ob ich selbst dessen bedarf oder zu nutzen Gelegenheit habe. Damit erweist sich die Eigentumsgarantie als ein bürgerliches Ansinnen, das dem Selbstverständnis des Adels widerspricht. Dieser verstand sich nicht als hilfsbedürftig in der Behauptung seiner Ansprüche, sondern berief sich auf seine Durchsetzungs- und Verteidigungsfähigkeit. Sein Eigentum begründete er mit Edelmut, Überlegenheit und der Gnade Gottes, wobei man diesen nicht um Garantien anzuflehen brauchte. Der Adelige und sein Besitz bedürfen nicht des Schutzes, sondern er ist es, der » Schutz und Schirm « zu gewähren hat. So ist der Grundherr nicht einfach Grundeigentümer oder 75 Marx und Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 487. 76 Vgl. Lütjen, Die Politik der Echokammer , S. 89 ff. 67 <?page no="68"?> Grundbesitzer, sondern ganz buchstäblich und wörtlich ein Grundherr. 77 Mit dem heraufziehenden Kapitalismus nahmen Eigentumsansprüche zu, welche die Eigentümer nicht selbst zu verteidigen im Stande und auch nicht unmittelbar mit eigener Nutzung verbunden waren. Nicht zuletzt Aktiengesellschaften sind ohne entsprechende Garantien der Anteile undenkbar. Folglich setzt bürgerliches Eigentum eine übergeordnete Macht voraus, die schützend ihre Hand darüber hält, verlangt also nach einem starken Staat , der regelt, wer worauf zu recht Besitz beansprucht, und dies auch durchsetzt. So sehr sich Wortführer des Liberalismus formal gegen einen solchen aussprechen mögen, so sehr bleiben sie doch davon abhängig. Denn ihre Kernforderung besteht in der Aufrechterhaltung der bestehenden Eigentumsverhältnisse unabhängig davon, welche Machtmittel den Besitzenden zur Verfügung stehen. Bei aller Ablehnung, die Liberale der Staatsmacht entgegenbringen, haben sie ganz offenbar ein ambivalentes oder gar schizophrenes Verhältnis zu ihr, denn anders als der Adel, den sie so sehr verachten, bleibt ihr Eigentum stets nur das, was ihnen der Staat zubilligt. Zugleich bringen sie diesen überhaupt erst in seiner modernen Ausprägung hervor, weil sie seiner so sehr bedürfen, auch wenn sie ihn gerne auf einen »Minimalstaat« 78 reduzieren würden. Marx bemerkt hierzu bekanntlich: Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuÿ, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. 79 Man könnte das so verstehen, dass die Liberalen den modernen Staat vereinnahmt haben, mehr noch aber haben sie ihn überhaupt erst als einen konstituiert, der sich in den Durchgriffsmöglichkeiten seiner Macht insbesondere auf Eigentum äußerst beschränkt gibt. Die Gewaltenteilung, für die Locke vehement eintritt, bietet dafür nur den augenfälligsten Ausdruck: 77 Brunner, Land und Herrschaft , S. 284. 78 Nozick, Anarchie, Staat, Utopia , S. 468. 79 Marx und Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 464. 68 <?page no="69"?> Bei der Schwäche der menschlichen Natur, die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen, würde es jedoch eine zu groÿe Versuchung sein, wenn dieselben Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben, auch noch die Macht in die Hände bekämen, diese Gesetze zu vollstrecken. 80 Ein solcher Liberalismus zielt auf die Entkopplung von Vermögen und Macht . Hatten in der Vergangenheit die Mächtigen ihre Durchsetzungsfähigkeit stets dazu genutzt, die Vermögensverhältnisse in ihrem Sinne zu gestalten, verlangen die Liberalen nicht weniger, als dass sie fortan freiwillig darauf verzichten, ihre Möglichkeiten auszunutzen. Damit nicht genug verlangen sie, dass die Herrscher ihre Macht dafür einsetzen, den Besitz anderer zu verteidigen. Teilweise gehen sie sogar so weit, aus ihrem Eigentum Ansprüche auf Macht abzuleiten, also das Verhältnis umzukehren: Forderten Adlige Eigentum aufgrund ihrer Machtmittel ein, so fordern Liberale Macht aufgrund ihrer Kapitalkraft. Staatsmacht soll lediglich Eigentum garantieren, ansonsten aber neutralisiert werden, damit Kapital unbehelligt Macht entfalten kann. Nur so konnte im Kapitalismus die Wirtschaft jener Machtfaktor werden, der Politik vordem gewesen war. In diesem Zuge verlangen Liberale die Garantie der Vermögensverhältnisse unabhängig von den Machtverhältnissen und somit die Garantie der wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse unabhängig von politischen. Um das zu erreichen, bedürfen sie eines ebenso starken wie kastrierten Staates. Er soll durchsetzungsfähig und zahm zugleich sein. Der von ihm geforderte Schutz des Eigentums strebt insofern nach einer Konservierung des status quo wie bestehende Ansprüche unangetastet fortleben sollen, gleichgültig wer regiert: Alles soll bleiben, wie es ist! Schon die Forderung nach Erhalt des status quo selbst stellt dabei einen Anspruch dar, dessen Anfechtung verhindert werden soll. Nicht nur Eigentum will man garantiert haben, sondern freilich auch jene gesellschaftliche Ordnung bewahren, die genau das gewährleistet. Hierin besteht zugleich der größte Affront der Profiteure dieses Arrangements gegenüber allen, die sich 80 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung , S. 291. 69 <?page no="70"?> davon eingeschränkt fühlen. Die Anerkennung einer Ordnung, deren Aufhebung allein Benachteiligten Besserung verspricht, während ihre Bewahrung die Fortsetzung bestehender Ungleichheiten beinhaltet, wird nicht nur eingefordert, sondern gar für selbstverständlich erachtet. In dieser Hinsicht verfolgten der Adel im Niedergang und das Bürgertum gegenüber sozialistischen Strömungen ein gleichartiges Ansinnen. Sie forderten die Besitzstandswahrung , indem sie die bestehenden Verhältnisse konservieren wollten, nur dass es der Bourgeoisie nicht unmittelbar um Herrschaft und die damit verbundene Verantwortung ging, sondern um ihr Eigentum und die damit verbundenen Vorzüge. Beinahe wirkt es, als wollten sie unbehelligt ihren Reichtum genießen, ohne sich mit der anstrengenden Aufgabe seiner Verteidigung befassen zu müssen. Stets haben sich Vertreter des Wirtschaftsliberalismus deshalb mit Regierungen jedweder Couleur abgefunden, so lange diese nur Eigentumsgarantien gewährten. Niemand habe demnach das Recht, bestehenden Besitz anzurühren. Daraus resultiert eine Nähe zum Konservatismus , der unantastbar machen will, wovon er glaubt, dass es ihm (oder genau so) gehört. Man nimmt eine Haltung ein, die in ein »Sichklammern an das unmittelbar Vorhandene« 81 mündet. Man könnte dies deshalb einen konservativen Liberalismus nennen. Es handelt sich dabei gewissermaßen um eine Mischform der beiden zuerst genannten Liberalismen: Während für das Eigentum , insbesondere für das Kapital ein radikaler Liberalismus gefordert wird, sodass die Gewalt der Kapitalkraft ungehindert sich durchsetzen kann, soll für Menschen , insbesondere für Unternehmer ein reziproker Liberalismus gelten, sodass sich physische Gewalt nicht ungehindert durchsetzen kann. Eigentum bekommt einen eigenständigen Wert unabhängig von der Person zugesprochen. In einem modernen, vermeintlich liberalen Staat kann man seine Freiheit verlieren, aber nicht sein Eigentum, das seine Eigenständigkeit unabhängig von der eigenen Lebenssituation, ja sogar von dessen Ende bewahrt. Seinen Besitz kann man nicht verlieren, nur veräußern, denn alles andere wäre eine Enteignung, die nur in besonderen Fällen gegen Entschädigung zur Anwendung kommt, wo- 81 Mannheim, Konservatismus , S. 111. 70 <?page no="71"?> gegen es für Freiheitsverlust keinen Ausgleich gibt, sofern er rechtmäßig zustande kam. Liberalistisch wird ein solch konservatives Bestreben erst durch die Forderung nach uneingeschränktem Vertragsrecht, weil hier eine Limitation individueller Freiheit aufgehoben wird: Die vollumfängliche Entscheidungsgewalt über Verwendung meines Besitzes gibt freie Verfügungsgewalt, sodass durch Veräußerung Gewinne realisiert werden können. Daraus resultiert ein Antrieb zum Wirtschaften, also zum möglichst effizienten Einsatz der verfügbaren Mittel. Vertragsfreiheit transformiert somit ein statisches Verhältnis zum Besitz in ein dynamisches. Einerseits sollen die allgemeinen Verhältnisse bleiben, wie sie sind; denn der Liberale will keinen politischen Umsturz. Andererseits soll über persönliche Dinge frei verfügt werden können; denn der Liberale will die kontinuierliche wirtschaftliche Revolution. An die Stelle traditionellen Festhaltens am Bestehenden tritt die dynamisierende Kraft freier Disposition. Was hier eine Liberalisierung erfährt, ist die Verfügungsgewalt über Vermögensbestände, deren ursprünglich ungleiche Verteilung allerdings aus vorliberalen Zeiten stammt. Liberalisiert wird die Verwendung bestehenden Eigentums, nicht seine Herkunft, weshalb Liberalisierung stets von den Besitzenden aus- und oftmals auf Kosten der Besitzlosen geht; wie schon Thomas Morus im Jahr 1515 zu den so genannten enclosures , Einhegungen des vormals von Bauern gemeinschaftlich genutzten Landes zur Bewirtschaftung durch den Grundherrn allein, 82 in England bemerkt: So umgibt ein einziger unersättlicher Prasser, ein scheuÿlicher Fluch für sein Vaterland, einige Tausend zusammenhängende Äcker mit einem einzigen Zaun, die Bodenbebauer werden hinausgeworfen, entweder gewaltsam unterdrückt oder mit List umgarnt, oder, durch allerlei Unbilden abgehetzt, zum Verkauf getrieben. 83 Eine Restrukturierung erfährt nur die Bewirtschaftung von Ressourcen, 82 Vgl. Haan und Niedhart, Geschichte Englands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert , S. 82 ff. 83 Morus, Utopia , S. 56. 71 <?page no="72"?> nicht jedoch die Zugriffsgewalt darauf. Eine Befreiung ergibt sich allein für Eigentümer, nicht jedoch für den Besitzlosen. Auf diese Weise besorgt der liberale Konservatismus ebenso wie der traditionale die Aufrechterhaltung der Verhältnisse, allerdings bei voller Dispositionsgewalt über Eigentum. Was nicht nur Besitzlose bisweilen - wie bei den Einhegungen - ihrer Existenzgrundlage beraubt, sondern auch allerlei Gewohntes verändert. Während den Traditionalisten schon die Umgestaltung des Ortsbildes mit Wehmut erfüllt, sieht der Liberale in ihr das Resultat seiner wirtschaftlichen Potenz. Ersterer überlässt den Lauf der Dinge dem Althergebrachten, letzterer dem Dispositionsgeschick der Eigentümer. Der Traditionalist hegt Gewohnheiten, der Liberale sein Kapital. Nicht selten aber, gehen sie eine Verbindung ein und bewahren Traditionen und Eigentum so weit es zum eigenen Vorteil gereicht. Der Konservatismus von beiden richtet sich gegen all jene, die ihnen etwas wegnehmen wollen; denn beide sind überzeugt, dass ihnen zusteht, was sie besitzen: Der Traditionalist, weil er davon ausgeht, dass die Welt richtig eingerichtet ist; der Liberale, weil er davon ausgeht, dass sich sein Besitz seinem eigenen Geschick verdankt, dem die Vertragsfreiheit keinerlei Grenzen setzt. Was man hat und was man ist, hat demnach jede/ r selbst in der Hand. Das Schicksal glaubt er frei gewählt und jede/ r bekomme, was sie/ er verdient: Jeder/ m das seine! Wenn die Nationalsozialisten diese Worte am Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald verwendeten, so weil sie sich im Recht fühlten bei dem, was sie taten. 84 In ihren Augen holten sie sich bei den Enteignungen Besitztümer zurück, von denen sie glaubten, dass sie ihnen zustanden. Der Wahlspruch lässt nun einmal offen, wann wer was als sein Eigen ansehen darf - was jeglichem Eigentumsanspruch eine Warnung sein sollte! Nur: Was hat jemand eigentlich verdient ? Indem der konservative Liberalismus alles dem Eigentum unterordnet, beantwortet er die Frage rein wirtschaftlich. Gleichgültig, welche Talente jemand besitzt, seine soziale Stellung bemisst sich allein daran, wie geschickt er sich darauf versteht, daraus Kapital 84 Vgl. Brunssen, Frank, »›Jedem das Seine‹ - zur Aufarbeitung des lexikalischen NS- Erbes«. 72 <?page no="73"?> zu schlagen. Hervorragende Ärzte, Wissenschaftler, Künstler, Sportler, Pädagogen usw. darben, wenn sie wirtschaftlich unklug handeln, währenddessen der durchtriebene Gebrauchtwagenhändler Reichtümer anhäuft. Der wirtschaftliche Liberalismus prämiert einseitig ökonomisches Geschick, wogegen er anders geartete Talente zu übervorteilen droht. Statt Bedingungen dafür zu bieten, dass jede Person sich auf ihre Fähigkeiten konzentrieren kann, werden alle dazu angehalten, sich kontinuierlich um ihre Vermögensverhältnisse zu kümmern. So kitzelt die Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens in den letzten Jahrzehnten, in denen die medizinische Versorgung hinter Fragen der Rentabilität und Gewinnerzielung zurückgetreten ist, aus den Ärzten vor allem ungeahnte betriebswirtschaftliche Fähigkeiten hervor, 85 wodurch sich die Effizienz des Gesundheitssystems freilich nicht verbesserte. 86 Dabei wäre es die Aufgabe des Ökonomen, andere von den alles überlagernden wirtschaftlichen Erwägungen zu entlasten, indem er hierfür sein Spezialwissen zur Verfügung stellt. Statt dessen bürdet der Kapitalismus es allen auf, sich ständig mit einem Themenfeld zu beschäftigen, auf dem sie mangels Expertise ineffizient sind. Im Liberalisierungseifer vergisst der Liberale die Effizienzvorteile jener Arbeitsteilung, an die er so fest glaubt. Ist es aber wirklich sinnvoller, wenn Ökonomen Ärzten aufzwingen, ihr Fachgebiet zu beherrschen, als wenn umgekehrt Ärzte dies Ökonomen abverlangten? Sollte, wer von Ärzten Rentabilitätsrechnungen verlangt, sich nicht auch gleich von Ökonomen operieren lassen? Nun ist davon auszugehen, dass nicht alle mit beliebigen Ressourcen gleich gut umzugehen verstehen. Die wenigsten werden sich auf Getreide, Zement, Öl, Gold oder Daten gleichermaßen verstehen. Wie privater Konsum und Arbeitsteilung zeigen, verfügt nicht jede Person über die gleiche Geschicklichkeit in allen Belangen, sodass manche es verstehen, besser zu wirtschaften als andere. Durch Eigentum allein werden deshalb wohl kaum alle gleichermaßen höchste Effizienz erlangen. Wenn hier aber Unterschiede bestehen, dann reicht es zur bestmögli- 85 Vgl. Adamek und Otto, Der gekaufte Staat , S. 101 ff. 86 Vgl. Lauterbach, Der Zweiklassenstaat , S. 68. 73 <?page no="74"?> chen Allokation der Mittel nicht aus, Privatbesitz zu gewährleisten, vielmehr müssten die Ressourcen denjenigen zur Verfügung stehen, die sie optimal einzusetzen verstehen; sie müssten ihren Weg also dorthin finden, wo sie bestmöglich verwendet werden, gleichgültig wer zuvor in ihrem Besitz war. Daraus erklären sich auch die Vorteile großer Betriebe, in denen Experten sich jeweils auf ihre Stärken konzentrieren können und sich durch Arbeitsteilung möglichst effizient ergänzen. So profitieren insbesondere Aktiengesellschaften davon, dass Eigentümer den Einsatz ihrer Ressourcen an andere delegieren können, die sich darauf womöglich besser verstehen. Käme es hingegen allein auf Besitz an, dürften, anders als Liberale gerne behaupten, private Konzerne ohnehin nicht besser funktionieren als staatliche Einrichtungen. In beiden Fällen bewirtschaften Angestellte die Ressourcen und stehen dabei zu ihrem Arbeitsmaterial in keinem direkten Eigentumsverhältnis, sondern sind Anweisungsempfänger oft ohne unmittelbar eigenem Interesse an den Ergebnissen. Während Eigentümer erfolgsabhängig profitieren, bleiben Angestellte größtenteils auf Gehalt und Zukunftsperspektiven verwiesen. Hier unterscheiden sich private und staatliche Betriebe nicht. Der Unterschied liegt allein auf Seiten der Eigner und deren Durchgriffsmöglichkeiten, die im Falle des Staates eingeschränkt sind. Demgegenüber greift im privaten Bereich die Dispositionsgewalt über Ressourcen und Angestellte stärker. Die von Liberalen oft beklagte Ineffizienz des Staates ergibt sich hier nicht aus der Eigentumssituation, sondern aus unterschiedlichen Freiheitsgraden in der Disposition: In einem Beamtenapparat lässt sich die Arbeitsteilung schon deshalb nicht so leicht veränderten Gegebenheiten anpassen, weil personell weniger flexibel reagiert werden kann; und auch das Tätigkeitsfeld der Organisation lässt sich nicht so einfach wandeln. Unabhängig von den Besitzverhältnissen gilt für Angestellte dabei stets: Da sie kein originäres Interesse an effizientem Mitteleinsatz haben, müssen sie über Entlohnung, also durch die Aussicht auf Privateigentum motiviert werden. Wer hingegen bereits über ausreichend Vermögen verfügt, braucht sich nicht zur Lohnarbeit zu verdingen, und setzt deshalb seine Fähigkeiten gegebenenfalls nicht dort ein, wo sie benötigt würden, sondern dort, wo es ihm behagt, schlicht weil es seine Verhältnisse erlauben. Wer also wie Milton Friedman Liberalisierung darüber zu rechtfertigen sucht, dass die Verfü- 74 <?page no="75"?> gungsgewalt über Privateigentum die effizienteste Allokation von Ressourcen gewährleiste, übersieht dessen demotivierenden Effekt auf die Vermögenden - sofern man genau derselben interessengetriebenen Logik folgt, die einer solchen Sichtweise zugrunde liegt: Die Wirkungsweise der Bezahlung in Relation zur Leistung ist in einer vom freien Markt bestimmten Gesellschaft in erster Linie nicht distributiv, sondern vielmehr allokativ. 87 Unterschiedliche Löhne gewährleisten ihm zufolge die »wirkungsvollste Nutzung der Möglichkeiten«, worüber er offenbar vergisst, dass demnach bei jenen, die von der ungleichen Allokation am meisten profitieren, die Notwendigkeit zur wirkungsvollsten Nutzung abnehmen würde. Um es in der Sprache der Liberalen zu formulieren: Der Grenznutzen und damit die Motivation nimmt ausgerechnet bei den vermeintlich Leistungsfähigsten ab. Denn das Sättigungsgesetz aus dem Jahr 1854 von Hermann Gossen , das die Liberalen übernommen haben, 88 lautet: Die Gröÿe eines und desselben Genusses nimmt, wenn wir mit Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt. 89 Die Vermögenden, die von einer Garantie des Privateigentums am stärksten profitieren, haben die geringste Notwendigkeit damit effizient und somit sparsam umzugehen, eben weil sie im Überfluss darüber verfügen. Motivierend kann nur die Aussicht auf Zugewinn wirken, nicht der Besitz selbst. Wollte man Effizienz maximieren, müsste man folglich einerseits Ressourcen in Betrieben bündeln und andererseits Experten, also mithin Menschen bedürftig halten, damit sie einem Einsatz dort zugeneigt sind, was dem Sozialismus schon sehr nahe käme. Der Liberalismus, sofern er vom Mehrwert 87 Friedman, Kapitalismus und Freiheit , S. 198. 88 Mises, Nationalökonomie , S. 84 ff. 89 Gossen, Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln , S. 4 f. 75 <?page no="76"?> abhängt, bedarf also der Kapitalkonzentration auf betrieblicher Seite einerseits und der Kapitalknappheit auf individueller Seite andererseits. Das alles gilt wohlgemerkt nur, wenn man den liberalen Glauben an die motivierende Kraft monetärer Anreize teilt, die freilich ebenso wenig ehrenamtliches Engagement wie die häufig aufopferungsvolle Ausübung sozialer Berufe gegen geringe Bezahlung erklärt. Radikaler Liberalismus zerstört, wonach er strebt. Indem er dem Einzelnen schrankenlose Freiheit gewähren will, nimmt er in Kauf dass die Mehrheit unter anarchischen Bedingungen ihre Freiheit verliert, wie es heute in wirtschaftlichen Dingen in e ectu der Fall ist. Weil das Streben nach Freiheit keine Selbstbeschränkung kennt, bedarf es anderer Prinzipien, um der Selbstaufhebung zu entgehen. Lässt man dabei nur Rechte zu, die auf Reziprozität beruhen und somit in ihrer wechselseitgen Anwendung keine Ungleichgewichte herbei führen, wäre das konservative Recht auf Eigentum davon ausgeschlossen, weil Besitz allen anderen den Zugri auf den gleichen Gegenstand untersagt. Den Liberalismus prägen folglich widerstreitende Ziele: radikale Freiheit, reziproke Gleichheit und Eigentumsschutz. Aus allen drei Zielsetzungen bezieht der Liberalismus seine Attraktivität, aber auch seine Widersprüchlichkeit, weil sie ihn mit unvereinbaren politischen Ansätzen in Verbindung bringen: Das Streben nach Freiheit teilt er mit dem Anarchismus, das nach Gleichrangigkeit mit dem Sozialismus und das nach Eigentum mit dem Kapitalismus. Auf letzteres zielte eine Liberalisierung der vergangenen Jahrzehnte, die allen kontinuierlich eine ökonomische Denkweise aufzwingen will, auch wenn ihre Stärken woanders liegen. 76 <?page no="77"?> 2.4 Staatsmonopolliberalismus? Mehr noch als von einkommensgetriebener Motivation hängt der Kapitalismus davon ab, dass Mehrwert entsteht. Sollte das nämlich nicht der Fall sein, kommt es in einer endlichen Welt zum Nullsummenspiel, in dem der Zugewinn an Eigentum auf einer Seite einen Verlust auf der anderen bedeutet. Allein Mehrwert verhindert deshalb jenen unerbittlichen Verteilungskampf. Allein das damit verbundene Wirtschaftswachstum lässt die einzige Form von Wohlstand anwachsen, die der Liberalismus kennt: mehr Konsum für alle. Schließlich, so die Konsequenz, gewährt allein fortschreitende Effizienz in der Ausbeutung der Ressourcen den Erfolg. Um den für ihn notwendigen Mehrwert zu generieren, ist der Kapitalismus auf immer mehr angewiesen: Mehr Produkte, mehr Konsum, mehr Effizienz. Dafür bedarf es mehr Produktion, mehr Waren, mehr Ausbeutung. Ressourcenknappheit hingegen, stofflicher oder menschlicher Natur, ist der sichere Niedergang des Kapitalismus. Fehlt es an Rohstoffen oder an Arbeitskraft, gerät die Mehrwertproduktion ins Stocken. Daran ändern auch digitale Produkte oder Dienstleistungen nicht grundsätzlich etwas. Zwar können sie für den Kunden ebenfalls einen Mehrwert bedeuten und damit den Konsum erhöhen, doch beides basiert auf Effizienz: Nur insofern diese durch digitale Anwendungen gegenüber analogen Verfahren erhöht wird, finden sie Zuspruch. Wären sie ineffizient, umständlich oder kostspielig, kämen sie nicht zum Einsatz. Digitalisierung ermöglicht es, stoffliche oder menschliche Ressourcen an anderer Stelle effizienter auszubeuten. Über das Internet lassen sich brach liegende Rechnerkapazitäten (etwa über Cloud Computing ) besser ausnützen und die Auslastung von Mitarbeitern im Einzelhandel (beim Online-Handel gegenüber dem Kaufhaus) erheblich erhöhen (ganz zu schweigen, von den Produktionsbedingungen der veräußerten Waren). Das Internet mindert Leerlauf auf allen Seiten, auch auf der des Konsumenten, der bisweilen Suchtverhalten aufweist. Nur indem neue Werte geschaffen werden bzw. Neues entsteht, dem die Menschen einen Wert beizumessen bereit sind, kann Eigentum allseitig zunehmen. Immer schon ist deshalb nicht der Handel, also der Tausch von Besitz, entscheidend für die Akzeptanz des Kapitalismus, sondern die Produk- 77 <?page no="78"?> tion. Denn sobald keine neuen Werte geschaffen werden, sinkt der Handel zurück in ein Nullsummenspiel. Nicht umsonst erweist es sich stets als tiefe Krise auch des Systems, sobald die Wirtschaft nicht wächst. Um nicht in Besitzstandswahrung zu verharren und die Besitzlosen gegen sich aufzubringen, muss daher der konservative Liberalismus stets darauf verweisen, dass mit ihm ein wirtschaftlicher Aufschwung verbunden ist, von dem alle profitieren. Ohne das Versprechen ökonomischer Prosperität fände der Kapitalismus hingegen kaum Zuspruch. Ludwig von Mises stellt deshalb seinem Buch zum Liberalismus voran: Immerhin hat die leider nur kurze und allzu beschränkte Dauer der Herrschaft liberaler Ideen hingereicht, um das Antlitz der Erde zu verändern. Eine groÿartige ökonomische Entwicklung setzte ein. Die Entfesselung der menschlichen Produktivkräfte hat die Menge der Unterhaltsmittel vervielfacht. 90 Wenn das aber das zentrale Argument für den Liberalismus ist, stellt es diesen nicht nur angesichts des heutigen Zustands unseres Planeten in Frage, sondern rechtfertigt auch jede andere Lehre, sofern sie nur Wirtschaftswachstum verspricht. Die chinesische Führung orientiert sich daran offenbar nur allzu gerne und stellt wirtschaftlichen Erfolg über alles - insbesondere über liberale Ideen. Der Kapitalismus nun, den die Liberalen meinen, sucht das Unvereinbare zu vereinbaren, indem er die Welt in eine ökonomische nach den Gesetzen des radikalen Liberalismus und eine rechtsstaatliche nach den Gesetzen des universalen Liberalismus unterteilt, sodann beides durch den republikanischen Staat nach den Gesetzen des konservativen Liberalismus zusammenzwingen lässt. Auch wenn er sich als liberal ausgibt, so verhindert doch der eine Liberalismus in ihm, wonach der andere strebt: Wer für das Recht des Stärkeren eintritt, erkennt die Gleichrangigkeit anderer nicht an und bringt Unterlegene um ihre Besitzansprüche wie etwa Konzerne störende 90 Mises, Liberalismus , S. 1. 78 <?page no="79"?> (Ur-)Einwohner! Wer für Gleichberechtigung eintritt, beschneidet individuelle Freiheit und prangert ungleiche Eigentumsverhältnisse an! Wer schließlich für Eigentum eintritt, will dieses ebenso vor dem Zugriff Stärkerer sichern wie vor dem der Allgemeinheit! Staaten versuchen die Konsequenzen der verschiedenen Liberalismen auszutarieren. Sie bemühen sich also, den radikalen Liberalismus in einer Weise zu beschränken, die Akzeptanz in der Bevölkerung ermöglicht, was regelmäßig nur gelingt, sofern Wirtschaftswachstum bessere Lebensumstände gewährleistet. Sie bemühen sich, den auf Gleichberechtigung zielenden reziproken Liberalismus in einer Weise zu begrenzen, die individuelles Engagement ermöglicht, was regelmäßig nur gelingt, sofern Wohlfahrt nicht jede Eigenverantwortung tilgt. Und sie bemühen sich, die Eigentumsansprüche des konservativen Liberalismus in einer Weise zu beschränken, die eine Gefährdung des Gemeinwohls verhindert, was regelmäßig nur gelingt, sofern Lobbyismus gezähmt werden kann. Staaten bemühen sich also, die widerstrebenden liberalen Anliegen einzuhegen, woran sie jedoch nicht selten scheitern. Internationale Organisationen hegen häufig ähnliche Ansprüche und kämpfen dadurch mit vergleichbaren Problemen. Galten sie einige Zeit als verantwortlich für die »Abtretung von Souveränitätsrechten« 91 bis hin zur »Entmachtung« 92 nationaler Regierungen, so zeigen sie sich in jüngster Zeit zunehmend unzureichend, um die verschiedenen nationalen und unternehmerischen Egoismen zu zähmen. International nimmt Bilateralität in einem Maße zu, dass man von einer » ›Feudalisierung‹ unter anderem Vorzeichen«, 93 nämlich auf organisationaler Ebene, sprechen könnte. Zeichneten sich mittelalterliche Herrschaftsverhältnisse durch Über- und Unterordnung von Individuen aus, so kennt die globale Herrschaftsordnung ebenfalls keine verfasste, institutionalisierte Hierarchie, wie sie innerhalb moderner Staaten besteht. Vielmehr prägen unmittelbare, untereinander nicht selten unkoordinierte bilaterale Beziehungen das Staatenkonzert, nur dass anders als im Mittelalter keine Individuen , sondern Organisationen das Geschehen bestimmen. 91 Grimm, »Die Verfassung im Prozess der Entstaatlichung«, S. 84. 92 Mounk, Der Zerfall der Demokratie , S. 86. 93 Niedermaier, Das Ende der Herrschaft? , S. 267. 79 <?page no="80"?> National wie international führen unvereinbare liberale Vorstellungen in Widersprüche. Dennoch bedient sich jede moderne Politik gleich welcher Couleur liberaler Ideen: Der Stärkere fordert in ihrem Namen Handlungsfreiheit, der Schwächere Gleichberechtigung und der Besitzende Sicherheit. Gängige politische Richtungen - vom Anarchismus über den Sozialismus bis zum Konservatismus - greifen jeweils auf einen spezifischen Aspekt zurück: Der Sozialismus ebenso wie jeder Widerstand gegen Diskriminierung folgt einer reziproken Ausprägung, wobei beide Eigentumsansprüche bestreiten, indem sie sich gegen Ungleichverteilungen wenden, die mit Klassen- oder ethnischer Zugehörigkeit einhergehen. Der Realismus ebenso wie jeder Autoritarismus folgt einer radikalen Ausprägung, wobei beide Gleichberechtigung und Besitzstände in Frage stellen, indem sie der Macht ein eigenes Recht zusprechen, das sich auch über Ansprüche auf Gleichberechtigung Schwächerer oder solche auf Besitz hinwegsetzt. Schließlich folgt der Kapitalismus ebenso wie jeder Konservatismus einem konservativen Liberalismus, indem er dem Schutz des Privateigentums Priorität einräumt, wofür er in armen Ländern nicht vor grundlegenden Menschenrechten und in reichen nicht vor individuellen Freiheitsrechten halt macht, wie man angesichts von Produktionsumständen und Terrorgesetzgebungen feststellen muss. Ja, auch der Kapitalismus gibt sich heute konservativ in seinem dauernden Lobbyismus für Statussicherung von Konzernen und Vermögenden bei gleichzeitigem Subventions- und Rettungsverlangen gegenüber dem Staat zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Die »Bourgeoisie« spielt längst keine »revolutionäre Rolle« 94 mehr wie zu Marxens Zeiten, sondern gibt sich widerständig selbst gegen ebenso unausweichliche wie zukunftsweisende Entwicklungen, indem sie fortwährend an Industrien sich klammert, die Nachhaltigkeit im Wege stehen. Der Kapitalismus genießt derart hohe Priorität, dass für dessen Aufrechterhaltung bereitwillig Regeln unterminiert werden, die ihm selbst ursprünglich als konstitutiv galten, weil man andernfalls fürchtet, die durchaus kapitalistischen Konsequenzen einer zukunftsfähigen Ausrichtung könnte ihn selbst hinwegfegen, reformunfähig wie er sich zeigt. Die drei Formen des Liberalismus stehen zueinander im Widerspruch und 94 Marx und Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 464. 80 <?page no="81"?> doch wird sich ihrer gleichzeitig bedient, wenn sowohl der Schutz des Eigentums als auch rechtliche Gleichstellung und mehr Eigenverantwortung gefordert werden. Diese drei Forderungen erscheinen derart vertraut, dass ihre grundsätzliche Unvereinbarkeit dahinter zurücktritt. Sie sind nicht alle in vollem Umfang gleichzeitig zu haben, sodass es anderer denn liberaler Mechanismen bedarf, um sie zu verknüpfen: Eigenverantwortung wird von einem Sozialstaat eingehegt, der das Existenzminimum unabhängig davon schützt, ob die Not selbst verschuldet ist; Gleichberechtigung wird vom Rechtsstaat eingehegt, der zwar Verfahrens-, aber keine Chancengleichheit herstellt; und Eigentum wird schließlich vom Steuerstaat eingehegt, der für dessen Schutz Geld einfordert, mithin Schutzgeld verlangt. Liberale berufen sich ungern auf den Staat, doch nur er ist in der Lage, ihren Prinzipien zur Durchsetzung zu verhelfen und sie zusammenzuführen. Dazu nimmt er ihnen Radikalität, Reziprozität und Konservativität, um sie in ein Verhältnis zueinander zu bringen. Er schränkt einerseits individuelle Liberalität in rechtlicher Hinsicht bis hin zur formalen Gleichberechtigung ein, um andererseits in wirtschaftlichen Belangen Ungleichheiten zuzulassen, die ein sehr unterschiedliches Maß an tatsächlichen Freiräumen im individuellen und unternehmerischen Bereich nach sich ziehen. 95 Er schränkt einerseits die lebensweltliche Wirksamkeit universaler Rechte durch ungleiche Vermögensverhältnisse bis zur Unkenntlichkeit ein, um andererseits die Gleichrangigkeit aller zu betonen, was angesichts bestehender Chancenungleichheit einer Farce gleichkommt. 96 Er greift einerseits durch Steuererhebung in Eigentumsansprüche ein, um andererseits mit seinem Gewaltmonopol Eigentumsrechten überhaupt erst zur Durchsetzung zu verhelfen, deren Behauptung gegenüber staatlichen Zugriffen Vermögende fortwährend umtreibt. 97 Welche Ausformung der Liberalismus annimmt, hängt somit nicht von liberalen Prinzipien, sondern letztlich vom Staat und seiner Ausgestaltung ab. Der Staat hat das Monopol darüber, welche Gestalt der Liberalismus konkret erhält. Es herrscht mithin in jedem Land ein anderer Staatsmonopolliberalimus . Die Widersprüche bleiben nichtsdestotrotz bestehen - in- 95 Vgl. Hradil, Soziale Ungleichheit in Deutschland , S. 211 ff. 96 Vgl. Tomanek, Die Zwei-Klassen-Justiz , S. 11 ff. 97 Vgl. M. Hartmann, Die Abgehobenen , S. 154 ff. 81 <?page no="82"?> nerhalb eines Staates, mehr noch aber global. So drängt der allgegenwärtige Liberale zugleich auf staatlichen Schutz von Eigentum sowie Eigentümern und auf Garantie ihrer Freiheitsrechte, aber auch auf das Recht des ökonomisch Stärkeren . Er verlangt für sich globale Freizügigkeit , möchte sie aber den Angehörigen ärmerer Staaten oder vielmehr nur deren ärmeren Bewohnern nicht zugestehen. Er verlangt politische Partizipation nach gleichem Stimmrecht und nimmt mit seinem Geld darüber hinaus Einfluss in einem Umfang, der Ärmere übervorteilt. Er verlangt für sich und sein Eigentum Schutz durch den Staat vor gewaltsamer Entwendung und stört sich nicht daran, wenn dieser das gewaltsam gegenüber Besitzlosen durchsetzt. Er verlangt für seine Unternehmungen Subventionen , indem er dies als Standortwettbewerb bezeichnet, zweifelt aber die staatliche Unterstützung Bedürftiger an. Er verlangt für sich nach Annehmlichkeiten und staatlicher Infrastruktur, ohne die gleiche Notwendigkeit für Mittellose zu sehen und wohl wissend, dass dies zumindest teilweise mit Ausbeutung in anderen Ländern verbunden ist. Unser Alltagsliberalismus ist ein halbierter, ein inkonsequenter, ein selbstgerechter Liberalismus. Wir fordern für uns, was wir anderen verweigern. Es ist kein Liberalismus, sondern ein Egoismus, der weniger beschämend wäre, wenn er sich nicht als fair und gleichberechtigt ausgeben würde. Entsprechend erscheint der Liberalismus immer schon widersprüchlich: Der Kolonialismus rechtfertigte seine gänzlich illiberale Herrschaftsausübung mit mangelnder Eigenverantwortung der Unterworfenen. 98 Ebenso sah man im Zeitalter der Industrialisierung Knechtung und Elend der Ärmsten nicht nur als vertretbar, sondern geradezu als freiheitlich unausweichlich an. 99 Zur gleichen Zeit forderten Liberale einerseits die Abschaffung adliger Privilegien, um Gleichberechtigung zu erlangen, nicht ohne jedoch zugleich der ärmeren Bevölkerung das für sich selbst beanspruchte Wahlrecht vorzuenthalten. 100 Offenbar lädt die Vielgestalt des Liberalismus zu Selbstgerechtigkeit gera- 98 Vgl. Mill, Betrachtungen über die Repräsentativregierung , S. 266 ff. 99 Vgl. Malthus, Das Bevölkerungsgesetz , S. 41 ff. 100 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band , S. 1050 ff.; Niedhart, Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert , S. 78 ff. 82 <?page no="83"?> dezu ein: Wenn man sich stark wähnt, drängt man auf Eigenverantwortung ! Wenn man sich benachteiligt fühlt, ruft man nach Gleichberechtigung ! Und wenn man in Wohlstand lebt, fordert man Eigentumssicherung ! Der Liberalismus gibt jedem eine Grundlage für seine Forderungen und das Gefühl, er befände sich damit im Recht. Umgekehrt fällt es nicht schwer, ihn zu kritisieren: seine radikale Zügellosigkeit, seine universalistische Gleichmacherei oder sein Ungleichheit verstetigender Konservatismus - je nachdem wogegen man sich gerade wenden möchte. Man sollte es dann zwar nicht offen sagen, aber es lässt sich problemlos mit liberalen Argumenten gegen den Liberalismus zu Felde ziehen: So kann man im Namen der Chancengleichheit für und im Namen der Eigenverantwortung gegen gleichberechtigten Zugang zu Bildungsangeboten sein. Oder man tritt im Namen der Eigentumssicherung für das Erbrecht ein, im Namen der Chancengleichheit aber dagegen. Auch kann man sich im Namen der Eigenverantwortung für die Privatisierung der Krankenversicherung aussprechen, in Berufung auf gleichberechtigte Ansprüche hinsichtlich körperlicher Unversehrtheit aber dagegen. Vor diesem Hintergrund ist es kaum möglich, von dem Liberalismus zu sprechen, vielmehr taugt er in seinen verschiedenen Ausprägungen nur dazu, verschiedene Formen der Selbstgerechtigkeit zu bedienen. Ein solches Verhältnis pflegen offenbar immer mehr Bewohner reicher Länder: Wie Bürgerliche des 19. Jahrhunderts freuen sie sich über hinzu gewonnene Freiheiten und Rechte, wollen diese aber nicht mit schlechter Gestellten teilen - damals Proletarier, heute Migranten. Hinter jeder Forderung nach Errichtung von Grenzen und Zäunen steht ein Streben nach Besitzstandswahrung, nach Erhalt der Eigentumsverhältnisse. Grundlage für die Abschottung jeglichen Territoriums bildet dabei das konservatives Verlangen, etwas für sich zu behalten, worauf man Anspruch zu haben glaubt. Das gilt für den eigenen Garten ebenso wie für ein Staatsgebiet. Zweifelt man nun die Realisierbarkeit des liberalen Universalismus an, wie es schon die Liberalen des 19. Jahrhunderts gegenüber dem Pöbel taten, klingt einerseits allzu leicht Selbstgerechtigkeit durch, andererseits macht es der Liberalismus Kritikern nun einmal nicht schwer: Wer schädliche Machtkonzentrationen ausmacht, kann den radikalen Liberalismus dafür verant- 83 <?page no="84"?> wortlich machen; wer die Verteilungsungerechtigkeit anprangert, hält den konservativen Liberalismus für ursächlich; und wer seine Privilegien als verdient erachtet, der erkennt eben im reziproken Liberalismus eine Gefahr. Wie erwähnt, kann man sich umgekehrt ebenso auf den Liberalismus berufen, gleichgültig wofür man sich einsetzt: auf den radikalen für mehr individuelle Eigenverantwortung, auf den reziproken für mehr Gleichberechtigung und auf den konservativen für mehr Eigentumsschutz. Daraus folgt: Liberalismus geht immer! Genau das lässt ihn aber beliebig werden. Dass Liberalen mangelnde Konsequenz vorgeworfen wird, liegt dann allerdings nicht an deren Wankelmütigkeit, sondern an der Vielgestalt des Liberalismus selbst. Im Resultat ergeht es vielen Menschen dann so: Sie begrüßen den Liberalismus, wo er ihren Interessen entgegenkommt, und verteufeln ihn, wo er diesen entgegen steht. Die Verwirrung um die Liberalismen führt dabei leicht dazu, dass der Liberalismus als Ganzes verworfen wird, obwohl es eigentlich nur um ein Austarieren gehen kann. Die Menschen drohen Reziprozität zu kippen, wenn sie Radikalität oder Konservatismus wünschen - oder auch umgekehrt. Vom Liberalismus bleibt dann nichts weiter als ein Kampfbegriff, der sich jedem andient; einfach weil jeder gerne weitgehende Freiheit genießen möchte, aber zugleich auch Eigentumsschutz und keine Ungerechtigkeiten - zumindest nicht auf eigene Kosten. Vor diesem Hintergrund verkommt der Staat zum Verteidiger eben jener Ausprägung des Liberalismus, die ihm und denjenigen, die von ihm profitieren, nützlich erscheint. Er dient somit ganz im Sinne des Realismus zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Das ist so wenig überraschend wie skandalös. Das Streben nach dem eigenen Vorteil ist allgegenwärtig. Das Dilemma der EU liegt deshalb auch darin, dass ihre Eliten und die ihrer Mitgliedsstaaten vom Machtstreben ebenso durchdrungen wie sie dazu strukturell gedrängt sind, während die Bevölkerung dem längst überdrüssig, stets nur so viel Einfluss erlangt, wie die Realisten ihr in ihrem machiavellistischen Verhalten zugestehen müssen. Wer mehr Realismus fordert, übersieht, dass dieser doch längst alles dominiert. In der Folge wenden sich auch viele gewöhnliche Menschen seiner gänzlich unverhüllten Ausprägung des rechten Chauvinismus zu, nachdem 84 <?page no="85"?> jeder Rest Idealismus am Beharrungswillen der in der Politik allgegenwärtigen Realisten sich aufgerieben hat. Der Liberalismus jedenfalls, wie wir ihn heute kennen, gerät zu einem unglaubwürdigen Rechtfertigungslieferanten, wie vormals sozialistische Werte, weil er für alles und allem Legitimation verschafft. Weil der Liberalismus sich allen Interessen andient - der radikale den Starken und Dynamischen, der universale den Schwachen und Benachteiligten, der konservative den Vermögenden und Behäbigen - birgt er selbst eine Gefahr für Liberalität: Jeder radikale Liberalismus droht in Plutokratie umzuschlagen, weil die Starken ihre unverdiente (Kapital-)Stärke auszunutzen imstande sind! Jeder reziproke Liberalismus droht in Sozialismus abzugleiten, weil er die unverdiente Schwäche der Schwachen vergessen macht! Jeder konservative Liberalismus droht in Autoritarismus umzuschlagen, weil die Privilegierten ihre unverdienten Privilegien zu verteidigen suchen! Im Ergebnis droht jeder Liberalismus unter den Interessen der Interessenvertreter seine Balance zu verlieren. Der Staat ist hierbei nichts weiter als die ausführende Machtinstanz jener Interessen, die sich gerade durchzusetzen vermögen. Er ist immer schon der Apparat der Macht und deshalb im Kapitalismus derjenige des Kapitals. Er versucht nur oberflächlich, die verschiedenen Liberalismen auszugleichen, im Grunde folgt er jedoch einfach nur der Macht, die den Liberalismus nur allzu gerne als Rechtfertigung heranzieht, welche er in allen Lagen zu geben imstande ist. Damit folgen die Mächtigen schlicht nur opportunistisch ihren Opportunitäten. Im Reich der Opportunisten des politischen Realismus verbinden sich dann radikaler und konservativer Liberalismus zu einem nationalen Chauvinismus, in dem die Privilegierten sich als Nation naturalisieren und dieser auf internationaler Ebene nach dem Recht des Stärkeren zu handeln erlauben. Als Volk insgesamt und als Angehörige davon sehen sie keinen Anlass zu Gleichberechtigung, sondern sich in Konkurrenz zu anderen. Sie wähnen sich in einem Wettstreit, der alle Mittel rechtfertigt, nicht zuletzt weil sie davon ausgehen, dass andere es ebenso handhaben. So lange die Naturalisierung der Nation international Bestand hat, dürften sie damit sogar richtig liegen. Vor Krieg schrecken sie dabei nicht aus moralischen Gründen zurück, sondern allein aus Nutzenkalkül - umso näher liegt es mit seiner Drohung zu hantieren. 85 <?page no="86"?> Angesichts des drohenden Verlusts an Privilegien, Wohlstand und Sicherheiten wird jeglicher Universalismus bestritten. Chauvinismus und Faschismus sind realistische Haltungen par excellence : Man rechnet sich einer Nation zu und schließt sich als solche zusammen, weil das einen Zugewinn an Macht verspricht, zugleich stellt man sich gegen alle, die eigene Vorrechte bestreiten. Sei es international, national oder EU-weit: Realismus suspendiert Liberalismus. Für Joachim Hirsch gerät Demokratie auf diese Weise zu »einer Organisationsform sozialer Apartheid«: 101 Die demokratischen Systeme der starken metropolitanen Staaten tendieren bei wachsenden internationalen Ungleichheiten und den damit verbundenen Migrationsbewegungen dazu, sich zu einer Art Interessengemeinschaften relativ Privilegierter zurückzubilden, deren politisches Primat darin besteht, die eigene Wohlstandsfestung durch Abschottung zu erhalten sowie politische Sicherheit und ökonomische Prosperität durch militärischpolizeiliche Interventionen in der abhängigen Peripherie zu garantieren. 102 Es gibt keine Prinzipien, an die man sich in seiner Machtbehauptung gebunden fühlt. Auch die Gleichrangigkeit der (völkisch) Gleichgesinnten wird nur deshalb anerkannt, weil sie Teilhabe an einer Macht verspricht, die allein unerreichbar wäre. Zugleich bedarf jedes Kollektiv, soll es, wie vom Realismus gefordert, als Einheit agieren, eines führenden Kopfes an der Spitze, sodass letztlich auch unter den Gleichgesinnten keine Gleichrangigkeit herrscht. Im Interesse jedes Mächtigen wiederum liegt es, das Individuum nicht zu achten und dafür eine möglichst große Gruppe hinter sich zu scharen. Seine Macht steigert sich in dem Maße, wie es gelingt, Menschen in eine Situation zu bringen, in der sie sich vom Anschluss an eine Gruppe mehr versprechen, als sie durch den Verzicht auf Eigenständigkeit und Freiheiten verlieren. 101 Hirsch, »Die Internationalisierung des Staates«, S. 135. 102 Ebd., S. 127. 86 <?page no="87"?> Doch ist es für einen unterdrückerischen Massenstaat typisch, daÿ er es bald für ebenso wichtig hält, seine eigenen Gefolgsleute einzuschüchtern. 103 Der Kapitalismus bedarf kontinuierlichen Wachstums, um nicht in einem Nullsummenspiel zu versinken. Insofern sich der Liberalismus darauf stützt und mit ökonomischer Prosperität zu überzeugen sucht, liefert er zugleich jedem anders orientierten Regime Legitimität, so lange es nur wirtschaftlichen Erfolg vorweisen kann. Demgegenüber auf Prinzipien zu verweisen, fällt dem Liberalismus schwer, weil diese in einem Widerspruch zueinander stehen, den nur staatliche Domestikation einigermaÿen zu mildern weiÿ. Bis heute haben Staaten ein Monopol darauf, Liberalismus zu gewähren, was jeder davon auf andere Weise umsetzt. Es herrschen mithin Staatsmonopolliberalismen. Ungeachtet dessen bleiben die Widersprüche des Liberalismus in seinen unvereinbaren Zielen bestehen, mit denen er sich zugleich jeder/ m andient und so Selbstgerechtigkeit befördert. Mit ihm fordert der Starke Eigenverantwortung, der Schwache Gleichberechtigung, der Wohlhabende Eigentumssicherung und jeder fühlt sich im Recht. Im Staatsmonopolliberalismus bedient der Staat lediglich die Interessen jeweils derjenigen, die sich in ihm gerade Geltung zu verscha en verstehen. Damit aber verliert der Liberalismus jede Glaubwürdigkeit. 103 Bettelheim, Aufstand gegen die Masse , S. 297. 87 <?page no="88"?> 2.5 Das Ende sozialer Marktwirtschaft? Es ist ein Wesenszug des Kapitalismus, dass er Chancen eröffnet, dann aber sogleich um das Erreichte bangen lässt. Er fördert den Wettbewerb und setzt alle der Konkurrenz aus. Er schützt Eigentum, aber nicht den Status. Der Einzelne kann viel erreichen und viel verlieren. Der Staat kann versuchen, die drei Liberalismen zu verknüpfen, aber dadurch hebt er nicht ihre Widersprüchlichkeit auf. Eigentum, Gleichberechtigung und Eigenverantwortung sind nicht bruchlos vereinbar. So ausgewogen die so genannte soziale Marktwirtschaft womöglich vorübergehend auf Westeuropäer gewirkt haben mag, ihre Widersprüche waren lediglich verdeckt unter einem wachstumsbedingten, kollektiven » Fahrstuhle ekt «, 104 einer Verbesserung der Situation und der Perspektiven für alle. Mittlerweile aber treten die Gegensätze immer offener zutage. Zu viele mussten aus dem Fahrstuhl aussteigen. Das radikal-liberale Prinzip der Eigenverantwortung eröffnet dem Einzelnen einerseits enorme Möglichkeiten, indem es ihm freien Lauf lässt, andererseits aber gewährt es keinerlei Garantien. Niemand kann wissen, was die Zukunft bringt und wie sie die eigenen Pläne durchkreuzt oder sicher Geglaubtes erschüttert. Mit jeder weiteren Liberalisierung nehmen die Unsicherheiten zu. Richard Sennett macht weitreichende Folgen dieser Entwicklung aus: Instabilität ist normal [...]. Vielleicht ist die Zerstörung des Charakters eine unvermeidliche Folge. Nichts Langfristiges desorientiert auf lange Sicht jedes Handeln, löst die Bindungen von Vertrauen und Verp ichtung und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung 105 Das reziprok-liberale Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verleiht einerseits formal allen die gleichen Rechte, andererseits aber gewährt es faktisch jenen bessere Chancen, die sich teure Rechtsberatung leisten können 106 oder 104 Beck, Risikogesellschaft , S. 122. 105 Sennett, Der flexible Mensch , S. 38. 106 Vgl. Tomanek, Die Zwei-Klassen-Justiz , S. 31 ff. 88 <?page no="89"?> gar größeren Einfluss auf die Rechtsetzung ausüben wie Konzerne und Verbände, indem »ganze Ausarbeitungen durch Lobbybüros erstellt« 107 werden. Markus Balser und Uwe Ritzer bieten ein ganzes Potpourri an Einflussnahmen. Unter anderem beschreiben sie, dass Industrievertreter mehr als die Hälfte der Mitglieder eines EU-Gremiums zur Integrierten Luftverschmutzungs-Prävention und -Kontrolle (IPPC) ausmachen: Denn Manipulationen sind gar nicht nötig, wenn man die Grenzwerte gleich selbst mitbestimmen kann. 108 Mit jedem neuen Gesetz nimmt dann die Komplexität und damit deren Ausnutzung durch jene zu, die sich im Dickicht noch zurechtfinden, weil sie sich die Expertise leisten können. Das konservativ-liberale Prinzip der Eigentumsgarantie sichert einerseits Besitz, andererseits aber lässt es zugleich zunehmender Ungleichheit freien Lauf. Mit jedem neuen Aktienboom nimmt die Konzentration des Kapitals nochmals zu. Michael Hartmann notiert für die Entwicklung in den USA, die er ähnlich auch in anderen Ländern vorfindet: Die wirklichen Pro teure der Entwicklung seit den 1980er Jahren sind nämlich bei denen zu suchen, die zum obersten Prozent zählen. Auf sie entfallen zwei Drittel des Gesamtzuwachses. Nachdem sie bis 1978 noch einen Rückgang ihres Einkommensanteils von 12,5 auf weniger als 10 Prozent des Gesamteinkommens hinnehmen mussten, konnten sie ihn bis Anfang dieses Jahrtausends dann auf knapp 22 Prozent verdoppeln. 109 Jede neue Liberalisierung birgt neue Chancen und neue Risiken zugleich, jedoch nicht für alle im gleichen Umfang: Im Kapitalismus ist nicht nur Eigentum ungleich verteilt, sondern direkt daran gekoppelt auch Einfluss. 107 Leif und Speth, »Die fünfte Gewalt - Anatomie des Lobbyismus in Deutschland«, S. 21. 108 Balser und Ritzer, Lobbykratie , S. 101. 109 M. Hartmann, Die Abgehobenen , S. 101 f. 89 <?page no="90"?> Konzerne setzen kapitalbewehrt ihre Lobby nicht selten erfolgreich gegen unliebsame Regelungen ein und können darüber »eine Macht entwickeln, der sich auch die Regierung beugt.« 110 Viele ohne Einfluss fühlen sich demgegenüber ausgeliefert und das Wissen um diese Diskrepanz verstärkt den Effekt. Entsprechend macht sich Unmut nicht nur bei denjenigen breit, deren Wohlstand aktuell gering ist, sondern auch bei denjenigen, die ihren gegenwärtigen Lebensstandard bedroht sehen. Es ist wie an der Börse: Nicht der gegenwärtige Status ist ausschlaggebend, sondern die Zukunftsaussichten; und wer diese gering einschätzt, möchte daran etwas ändern. Es verstärkt sich der Eindruck, dass vermeintliche Liberalisierungen für viele Menschen Risiken mit sich bringen, aber für immer weniger Chancen bereithalten. Für die Mittelschichten der industrialisierten Welt stellen sich die letzten Jahre zunehmen als Verteilungskampf dar, der bei nicht wenigen die Befürchtung weckt, dass es ihnen schlechter gehen muss, damit es anderen besser gehen kann. 111 Sie wurden von Stagnation und der Angst vor Abstieg erfasst, während es zugleich zu einer »Abkopplung der Spitzengehälter von den normalen Einkommen« 112 gekommen ist und das Vermögen der Reichen deutlich zugenommen hat. Der Fahrstuhleffekt ist einem Verteilungskampf gewichen. Doch bereits zuvor vermittelte selbst die so genannte soziale Marktwirtschaft dem Einzelnen, dass es darum geht, sich durchzusetzen, und nicht darum, gemeinsam etwas zu erreichen. Schon ihrem Namen nach stützt sie sich auf zwei Prinzipien: Markt und Sozialität bzw. Solidarität. Auf dem Markt soll sich der Leistungsfähigste durchsetzen, was nichts anderes besagt, als dass leer ausgehen soll, wer nicht mithalten kann. Wer nicht in der Lage ist, seine Milch zum konkurrenzfähigen Preis auf den Markt zu werfen, bleibt darauf sitzen. Irgendwann muss ein Landwirt aufgeben, wenn er sich in der Konkurrenz nicht behaupten kann. Das gilt für jeden Selbständigen, aber auch für jeden Arbeitnehmer: Welche Entlohnung er für seine Arbeit erzielen kann, hängt von der Konkurrenzsituation ab - schlimmstenfalls also gar keine. Das eigenverantwortliche Marktprinzip vermittelt die Botschaft: Es kommen nur die Besten zum Zug! 110 Leif und Speth, »Die fünfte Gewalt - Anatomie des Lobbyismus in Deutschland«, S. 29. 111 Vgl. Milanović, Die ungleiche Welt , S. 17 ff. 112 Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert , S. 42. 90 <?page no="91"?> Es ist nicht genug Einkommen für alle da! Das Solidaritätsprinzip wiederum besagt, dass niemand im Stich gelassen werden darf und leitet sich aus dem universalen Anspruch auf ein Leben in Würde ab. Wer nicht selbst bedürftig ist, wird dazu herangezogen, für die Unterstützung anderer aufzukommen. Die Solidargemeinschaft beruht auf einer Verpflichtung, die jede Solidarität in Zwang verwandelt. Anders als das Wort vielleicht nahelegt, ist solcherlei füreinander Einstehen kein gewachsener Zusammenhalt, sondern staatlich verordnet. Die Botschaft lautet jedenfalls: Alle haben ein Anrecht auf ein würdiges Leben! Es muss genug Einkommen für alle da sein! Der Widerspruch ist offensichtlich: Der Staat vermittelt seinen Bürgern einerseits, dass sie für ihr Glück selbst verantwortlich und an ihrem Unglück selbst Schuld sind, um ihnen andererseits mitzuteilen, dass sie für vermeintlich selbstverschuldet Unglückliche aufkommen müssen. Er erhebt den Markt zum höchsten Maßstab, an dem sich buchstäblich der Wert eines Menschen bemisst. Denjenigen, die sich aufgrund dessen als wertvoll ansehen, erlegt er es dann aber auf, für diejenigen aufzukommen, denen er aufgrund mangelnder Durchsetzungsfähigkeit zuvor Wertlosigkeit attestiert hatte. Soziale Marktwirtschaft führt auf diese Weise zu einer doppelten moralischen Abwertung: Wer sich nicht durchsetzen konnte, wird sowohl vom Markt als untauglich als auch von seinen Mitmenschen als Belastung eingestuft. Armut signalisiert damit nicht nur unglückliche Lebensumstände, sondern Unbrauchbarkeit. Sie verliert ihre Schicksalhaftigkeit und gerät zu einem persönlichen Makel. Konnte Armut im Mittelalter noch Mitgefühl wecken, angesichts des harten Loses, das Gott den betroffenen Menschen aufbürdete, werden in einer sozialen Marktwirtschaft die Steuerzahler bedauert, die diese Belastung zu tragen haben. Das Unglück liegt nicht mehr auf Seiten der Armen, sondern auf der der Reichen, wie diese immer wieder zu verstehen geben, indem sie auf ihren überproportionalen Beitrag zum Sozialstaat hinweisen. Erzwungene Solidarität transformiert Armut in Beutelschneiderei ohne Alternative und Reichtum in Wohltätigkeit wider Willen. Was sich anhört wie eine gängige liberale Klage ist das resultierende Lebensgefühl staatlicher Wohlfahrt. Sie macht Arme ebenso zu minderwertigen Gau- 91 <?page no="92"?> nern wie Vermögende zu höherwertigen Gönnern, vor allem hinterlässt sie bei beiden Unwillen. Das ist das Resultat einer marktwirtschaftlichen Logik, die den Wert einer Person fein säuberlich abgestuft an den ihr verfügbaren Mitteln bemisst. Ohne lange nach den zu Grunde liegenden Umständen zu fragen, assoziiert sie Reichtum mit Nützlichkeit, wogegen Armut stets der Makel der Unbrauchbarkeit begleitet. Die liberale Idee der Gleichwertigkeit wird so nicht nur aufgehoben, sondern verwandelt sich mittels erzwungener Solidarität zu einer Gefahr fürs eigene Glück: Im Zweifel gehen von jedem Gegenüber Nachteile aus - sei es als Belastung oder als Konkurrenz. Unter solchen Bedingungen erfasst die moralische Abwertung auch Flüchtlinge: Ihnen haftet von vornherein an, untauglich und belastend zu sein. Sollten sie dieser Einordnung entgehen wollen, müssen sie auf den Arbeitsmarkt strömen, was von denjenigen, die glaubten, sich im Leistungswettbewerb behauptet zu haben, als Bedrohung empfunden wird. Bürger reagieren deshalb auf Zuwanderung mitunter wie Fabrikanten auf neue Marktteilnehmer: Sie bekämpfen neue Konkurrenz! Hatte man ihnen nicht lang genug erzählt, dass im Kapitalismus die Verfolgung egoistischer Ziele große Erfolge zeitigt? Schon seit Bernard Mandevilles Bienenfabel oder Private Laster, ö entliche Vorteile aus dem Jahr 1705 behauptet der Liberalismus, bewiesen zu haben, daÿ weder die Menschen von Natur zukommenden Gefühle des Wohlwollens und der Freundschaft, noch die eigentlichen Tugenden, die er durch Vernunft und Selbstverleugnung zu erwerben vermag, die Grundlagen der Gesellschaft bilden; daÿ vielmehr das, was wir das Übel der Welt nennen, sowohl das moralische wie das natürliche, das groÿe Prinzip ist, das uns zu sozialen Wesen macht, die feste Basis für die Entstehung aller Berufe und Erwerbszweige ohne Ausnahmen. 113 113 Mandeville, Die Bienenfabel oder Private Laster, ö entliche Vorteile , S. 399 f. 92 <?page no="93"?> Die Menschen könnten sich somit im Recht fühlen in der freien Auslebung lasterhaften Verhaltens, doch die soziale Marktwirtschaft macht einen gewaltigen Unterschied zwischen Bürgern und Unternehmern: Letztere müssen sich um die im Wettbewerb Unterlegenen nicht kümmern, erstere hingegen schon. Der Markt kennt Gewinner, die Solidargemeinschaft jedoch nur Verlierer: Entweder unterliegt man selbst im Wettbewerb oder man muss für den Unterlegenen aufkommen. So lange man die Welt als einen Verteilungskampf wahrnimmt, gibt es aus dieser Negativspirale sozialer Marktwirtschaft kein Entkommen. Ein unbeschwertes Miteinander ist unter solchen Umständen nur dort möglich, wo der Durchsetzungskampf suspendiert werden kann: außerhalb von Beruf und Öffentlichkeit. Wohlwollendes Zusammenleben wird ins Private gedrängt. Wenn aber dieses nun wiederum an die (digitale) Öffentlichkeit gezerrt wird, gewinnt es selbst den Charakter eines Wettbewerbs: Das eigene Profil wird optimiert, die eigene Freizeit durch entsprechende Bebilderung als hochwertig ausgewiesen, die Zahl der Freunde auf eine beeindruckende Zahl gesteigert. Jeder Kontakt unterliegt der Abschätzung, inwiefern er den eigenen Status wohl zu befördern vermag. Das ganze Leben gerät zum Wettbewerb um Perspektiven und Status. Die zur Konkurrenz geformten sozialen Verhältnisse erklären den Erfolg von Netzwerken, die dabei helfen im Wettbewerb bestehen zu können, weshalb sie dort besonders gepflegt werden, wo man sich davon Vorteile verspricht. Pierre Bourdieu identifiziert darin eine Kapitalform, die als Ressource dient: Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind 114 Netzwerke unterliegen einem kapitalistischen Nutzenkalkül und bilden 114 Bourdieu, »Ökonomisches Kapital - Kulturelles Kapital - Soziales Kapital«, S. 63. 93 <?page no="94"?> somit den Gegenfall zur »Vergemeinschaftung«, die »der radikalste Gegensatz gegen › Kampf ‹« ist. 115 Netzwerke pflegt man absichtsvoll zweckgerichtet, Gemeinschaften ergeben sich dagegen aus den Umständen. Man muss sich schon über die Forderungen der sozialen Marktwirtschaft an das Individuum erheben, um zu denjenigen, denen man nicht ohnehin nahe steht oder einen Nutzen beimisst, eine wohlwollende Beziehung aufzubauen. Man muss davon ausgehen, dass der Verteilungskampf kein Nullsummenspiel ist, sondern alle davon profitieren können. Man muss mit Neuankömmlingen Chancen und Bereicherung in Verbindung bringen können. Man muss die blindwütige Verfolgung kurzfristiger eigener Interessen ein Stück weit zurückdrängen, damit mittelfristig ein gelungenes Zusammenleben entstehen kann. Kurzum: Man muss die Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft suspendieren, um ein menschliches Miteinander zu ermöglichen. Von allgegenwärtiger Konkurrenz und erzwungener Solidarität geprägt, legt der Staatsmonopolliberalismus nicht nur eine Abneigung gegenüber Flüchtlingen geradezu nahe, vielmehr beschwört er eine gegen jede Form von Solidarität geradezu herauf. Warum sollte man anderen helfen, die nach marktwirtschaftlicher Logik entweder als wertlos oder als Konkurrenz angesehen werden müssen? Das gilt für Flüchtlinge ebenso wie für Staatsangehörige. Der Kapitalismus jedenfalls vermag dafür keine Begründung zu liefern. Wenn Menschen sich solidarisch verhalten, muss es folglich andere Gründe geben. Diese können dreierlei Art sein: Erstens aus einem liberalen Humanismus heraus, der jedes menschliche Leben als gleichermaßen wertvoll und damit solidarischer Unterstützung würdig ansieht; zweitens aufgrund einer emotionalen Bindung zu nahestehenden Personen, für deren privates Glück man sich vorbehaltlos im liberalen Wettstreit einsetzt; drittens im Glauben an die Solidargemeinschaft einer bestimmte Gruppe, die füreinander einsteht und gemeinsam liberale Eigentumsansprüche zu verteidigen sucht. Der humanistische Universalismus führt zwangsläufig in eine reziproke Gleichbehandlung aller Menschen und kann somit keinen Unterschied ma- 115 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft , S. 22. 94 <?page no="95"?> chen zwischen Personen - seien diese nun nahestehend, gehörten diese zur gleichen Nation oder lebten diese sonstwo: Vielmehr glaubt er daran, Solidarität müsse unterschiedslos allen gleichermaßen gelten. Stützt diese sich hingegen auf einen persönlichen Bezug, muss zwangsläufig jede Solidarität mit Unbekannten als Zumutung empfunden werden, gleichgültig ob diese zur eigenen Stadt oder eigenen Nation gehören oder nicht. Mitgefühl gilt allein den Nächsten, für deren Glück man sich gegen andere glaubt mit aller Radikalität behaupten und jede Gelegenheit ebenso opportunistisch wie machiavellistisch nutzen zu müssen. Gibt es aber eine definierte Gruppe , die füreinander zu einem solidarischen Verhalten verpflichtet wird, erwächst damit einerseits der Anspruch, dass diese Gruppe im Falle persönlichen Unglücks sich nicht abwendet, und andererseits der Unterschied zwischen Mitgliedern der Gruppe und Nichtmitgliedern. Erstere stehen füreinander ein, während letztere als irrelevant erachtet werden. Erstere verteidigen gemeinsam was sie ihr eigen nennen und diejenigen, von denen sie glauben, dass sie zu ihnen gehören , gegen andere. Die Gruppe verhält sich insofern konservativ , wie sie ihren selbst geschaffenen Status zu bewahren sucht. Indem der Staat nun die Nation zu einer solchen Solidargemeinschaft erhebt, schließt er sie nach außen ab, sodass für die Bürger alle Menschen anderer Staatsangehörigkeit in solidarischer Hinsicht einen niedrigeren Rang einnehmen. Der Flüchtling wird nicht sofort in die Solidargemeinschaft aufgenommen, sondern genießt ein Gastrecht und damit ein Anrecht auf Unterstützung, ohne die Pflicht zur Solidarität auch nur übernehmen zu dürfen. Es tritt ein Missverhältnis auf, das nicht dem Flüchtling anzulasten ist, denn der hat diese Einteilung nicht geschaffen, sondern der Staat setzt die Regeln hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft. Mancher fühlt sich dadurch berechtigt, jedem Neuankömmling vorzuwerfen, dass er seine ursprüngliche, nationale Solidargemeinschaft verlassen hat, ohne auch nur zu wissen, inwiefern eine solche bestand, und ihm deshalb die Zugehörigkeit zu einer neuen Gruppe ebenso wenig zuzugestehen wie die Bereitschaft dazu. Auf diese Annahme stützt sich auch der dumpfe Hass gegenüber Menschen, die längst zur staatlichen Solidargemeinschaft zählen, womöglich gar in dieser aufgewachsen sind, aber einen Migrations- 95 <?page no="96"?> hintergrund zugewiesen bekommen. 116 Ohnehin wohnt nationaler Solidarität ein Rassismus inne, der mit Fremdartigkeit schon deshalb Minderwertigkeit gleichsetzen muss, um nicht der Begründung für den nationalen Zusammenhalt verlustig zu gehen: Will man nicht Allen Solidarität in gleichem Umfang angedeihen lassen, muss denjenigen ein höherer Wert beigemessen werden, denen man sich solidarisch verpflichtet fühlen soll. Wie sonst will man einen Unterschied machen? Solidargemeinschaften müssen sich einer Ausweitung der Definition ihrer Gruppe gegenüber schon deshalb reserviert verhalten, um deren Beliebigkeit nicht aufscheinen zu lassen, was den Zusammenhalt zwangsläufig schwächen würde. Umso notwendiger gestaltet sich für einen Staat die Betonung nationaler Identität, bemerkt doch nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs sogar der sicherlich mangelndem Konservatismus unverdächtige Max Weber eine gewisse Beliebigkeit in der Konstitution der Nation: 117 Nation ist ein Begri , der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten de niert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daÿ gewissen Menschengruppen ein spezi sches Solidaritätsemp nden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber aber, wie jene Gruppen abzugrenzen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener Solidarität 116 Zum Begriff Migrationshintergrund bemerkt Aladin El-Mafaalani : »Sprache repräsentiert Wirklichkeit. Eine veränderte Sprache kann entsprechend auch die Wirklichkeit verändern. Weil für viele die Zuschreibung ›mit Migrationshintergrund‹ wie eine Krankheitsdiagnose klingt, habe ich die Kategorisierung in der Zeit, in der ich als Lehrer an einer Schule unterrichtet habe, in ›Schüler/ innen mit internationaler Geschichte‹ und ›Schüler/ innen ohne internationale Geschichte‹ oder ›mit nationaler Geschichte‹ umbenannt. Daraufhin waren viele Jugendliche beleidigt. Eine sagte zu mir: ›Das ist voll diskriminierend. Jetzt haben die anderen das coolere Wort.› Und tatsächlich suchten plötzlich alle in ihrer Familiengeschichte irgendetwas Internationales, weil sie eine internationale Geschichte haben wollten.« (El-Mafaalani, Das Integrationsparadox , S. 54) 117 Vgl. Niedermaier, Wozu Demokratie? , S. 293 f. 96 <?page no="97"?> zu resultieren habe, herrscht Uebereinstimmung. 118 Je mehr nun ein Staat jedem Einzelnen ein nationales »Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten « sich anschickt, desto stärker gerät die Nation zu einer abgeschlossenen Gemeinschaft, die auf Gedeih und Verderb das gleiche Schicksal zu teilen hat; desto mehr steht ein solcher Anspruch allerdings auch in einem Spannungsverhältnis zur marktwirtschaftlichen Doktrin des Konkurrenzkampfs. Der Staat zwingt die Menschen in eine Schicksalsgemeinschaft, die eine unbedingte Solidarität einfordert und ihm zugleich als Loyalitätsquelle dient. Durch den Kapitalismus aller anderen Solidarität entkleidet nehmen viele Menschen dieses Angebot nationaler Gemeinschaft dankbar an. Indem er jedwede Form sozialen Verkehrs im kapitalistischen Nutzenkalkül erstickt, errichtet der liberale Staat so ein Monopol auf ein bedingungsloses Solidaritätsempfinden. Wann immer sich dann andere Quellen der Solidarität etablieren wie etwa religiöse Gemeinschaften, Clans oder regionale Volksgruppen, sieht sich das Staatswesen deshalb bedroht. Nur wer die Nationalität über alle anderen Zugehörigkeiten setzt und nicht zuletzt über jene zur Menschheit insgesamt, vermag große Unterschiede in der Behandlung von sogenannten Landsleuten und anderen zu machen. Interesse daran hat der Staat, dem allein die nötigen Mittel zur Verfügung stehen, seine Definitionsmacht entsprechend zu nutzen. Umso stärker er Solidarität an Zugehörigkeit zu einer Gruppe knüpft, desto ausgeprägter wird dann zwangsläufig auch deren Drang, sich gegen andere abzuschließen. Der Staat kann dann nicht einfach die Aufnahme beliebiger Personen anordnen, hat er doch Loyalität überhaupt erst über eine Abgrenzung erzeugt, die Solidarität an eine fest definierte Gruppe bindet. Umso stärker er ethnische Abgeschlossenheit betont, desto mehr bleibt er ihr verhaftet; umso weniger er das aber tut, desto weniger plausibel erscheint jeder Unterschied, den er zwischen Bürgern und Ausländern macht. Die er »rief, die Geister« wird er »nun nicht los.« 119 118 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft , S. 528. 119 Goethe, Der Zauberlehrling . 97 <?page no="98"?> Hier verbinden sich nationale Solidaritätszumutungen mit einem politischen Realismus der nach innen aus Loyalitätsgründen einen universalistischen und nach außen aus purem Machiavellismus einen radikalen Liberalismus vertritt, insgesamt aber vor allem konservativ seinen Bestand zu erhalten sucht. Im Nationalstaat wiederholt sich, was in autoritären Gruppen geschieht: Man forciert die Kohäsion im Innern, um nach außen umso widerstands- und durchsetzungsfähiger auftreten zu können. Entsprechend großes Gewicht wird der Bestandserhaltung beigemessen, ohne die man sich verloren glaubt. Einmal überzeugt von der Lebensnotwendigkeit der selbst definierten Einheit, wird deren Aufrechterhaltung dann alles andere untergeordnet, wofür im Zweifelsfall auch vor rabiaten Mitteln nicht zurückgeschreckt wird. Wo die behauptete Einheit nicht besteht, setzt man sie durch. Der politische Realismus muss, schon um Staaten als einheitliche Akteure ansehen zu können, zuallererst dem staatlichen Mythos von der Urwüchsigkeit nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls folgen und jede andere Form von Solidarität in den Hintergrund treten lassen. Wie gut ihm dies gelungen ist, lässt sich einmal mehr an Ausführungen von Ivan Krastev verdeutlichen: Nach der Tragödie der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs kamen so viele Flüchtlinge nach Bulgarien, dass ihr Anteil an der Bevölkerung 25 Prozent erreichte (und mit Unterstützung durch den Völkerbund gelang es den Bulgaren, ihnen allen Nahrung und Obdach zu bieten). Damals sah Bulgarien aus wie Jordanien und der Libanon heute, und die Bulgaren sind zu Recht stolz darauf, dass es ihnen gelang, so viele Menschen innerhalb kurzer Zeit zu integrieren. Warum halfen die Bulgaren damals und verweigern heute jede Hilfe? Die Antwort ist einfach: Vor einem Jahrhundert waren die Schutzsuchenden in ethnischer Hinsicht gleichfalls Bulgaren. Heute sind sie es nicht. Die Bulgaren sind nicht der Ansicht, dass sie die einstmals ihren Landsleuten gewährte Solidarität auch anderen Menschen schulden, die vor Krieg und Verfolgung iehen. Tatsächlich ist die Zahl der Bulgaren, die bereit 98 <?page no="99"?> sind, sich ehrenamtlich an der Sistierung illegal eingereister Flüchtlinge zu beteiligen, höher als die Zahl derer, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren. 120 Für Realisten genügt offenbar ein Hinweis darauf, ob es sich um »Landsleute« handelt oder nicht, um zu erklären, weshalb Solidarität unterschiedlich ausfällt. Damit folgen sie bereitwillig dem von den Nationalstaaten angebotenen Interpretationsmuster. Aber warum sollte sich ein Freiburger gegenüber einem 700 Kilometer entfernten Hamburger eigentlich zu mehr Solidarität verpflichtet fühlen als gegenüber einem 70 Kilometer entfernten Straßburger oder Baseler? Die Forderung geht allein vom Staat aus, der festlegt, wer zur Nation zählt und wer nicht. Er ist es, der Solidarität einfordert und er ist es auch, der davon profitiert, denn nur wenn sich die Bewohner zu ihrem Staat bekennen und im Ernstfall dafür einstehen, kann dieser daraus seine Existenzgrundlage beziehen. Nationalität bestimmt demnach über Zugehörigkeit, das hat man den Menschen lang genug vermittelt. Doch die nationale Einheit geht im historischen Verlauf dem Staat nicht voran, vielmehr bringt dieser sie erst hervor. Der Historiker Eric Hobsbawm verwendet hierfür die eingängige Losung: Der Staat macht die Nation, nicht die Nation den Staat. 121 Nicht zufällig geht der Aufstieg des Nationalstaats mit demjenigen der Massenmedien einher, denn sobald die Menschen nicht an einem Ort zusammenkommen können, bedarf der Staat einer Möglichkeit, die Menschen mit einem einheitlichen Narrativ ihrer Zusammengehörigkeit vertraut zu machen. In modernen Gesellschaften erledigen das Massenmedien, die in der Lage sind, Gleichlautendes in einer Bevölkerung zu verbreiten, welche sich über ein großes Territorium verstreut. So wie ein Theater seinem Publikum 120 Krastev, Europadämmerung , S. 57. 121 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus , S. 58. 99 <?page no="100"?> buchstäblich ein Stück Gemeinsamkeit schenkt, so verbinden massenmediale Verlautbarungen ihre Rezipienten durch allgemein bekannte Geschichte(n) miteinander, wodurch überhaupt erst eine Gruppe entsteht, die sich aufgrund von Gemeinsamkeiten zusammengehörig fühlen kann. Zeitungen schufen eine »Leserschaft, der diese Schiffe, Bräute, Bischöfe und Preise gehörten«, 122 über die berichtet wurde. Die Publikationsräume und damit das angesprochene Publikum orientierten sich dabei regelmäßig an vorhandenen Verwaltungsstrukturen, insbesondere Staatsgrenzen. Mit steigender Auflage verbreiteten Zeitungen ab dem 18. Jahrhundert nicht nur identische Informationspakete an immer mehr Menschen, sondern bringen zugleich einen Personenkreis hervor, dem dadurch Gleichlautendes bekannt ist und jede und jeder weiß, dass alle anderen Zugehörigen dies wissen - im Gegensatz zu denen, die nicht dazugehören. Reichweite der Massenmedien und nationale Einheit verstärken sich gegenseitig (und auch ihre Fragmentierung im Zeitalter personalisierten Medienkonsums scheint einher zu gehen). Doch spätestens auf Reisen stellt man fest, dass anderswo keine Selbstverständlichkeit ist, wovon man dachte, es wäre Allgemeingut. Selbst, wo es um gleiche Geschichte(n) geht, kursieren abweichende Versionen. Schulbücher, Zeitungen und Fernsehen haben dort einen völlig anderen, aber ebenso allgemein bekannten Wissensstand geschaffen. Großenteils hält sich die Rezeption an Staatsgrenzen, häufig verstärkt durch einen abrupten Wechsel des Sprachraums, wie ihn vormoderne Zeiten nicht kannten und erst durch staatliche Bildungssysteme hergestellt wurde. Massenmedien verbreiten nicht nur einfach Kopien, sie erbringen nicht nur eine rein technische Leistung, sondern konstituieren zugleich ein gemeinsames Publikum für Inhalte, die damit zugleich als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können. Auf diese Weise erschuf der »Buchdruck eine neue Form von vorgestellter Gemeinschaft« 123 (bzw. »imagined community«, um die etwas pointiertere Originalfassung nicht unerwähnt zu lassen) die für Benedict Anderson in der Alltagserfahrung omnipräsent wird: Indem der Zeitungsleser beobachtet, wie exakte Dupli- 122 Anderson, Die Erfindung der Nation , S. 59. 123 Ebd., S. 46. 100 <?page no="101"?> kate seiner Zeitung in der U-Bahn, beim Friseur, in seiner Nachbarschaft konsumiert werden, erhält er ununterbrochen die Gewiÿheit, daÿ die vorgestellte Welt sichtbar im Alltagsleben verwurzelt ist. 124 Im Zeitalter der Massenmedien entwickeln nicht die Angehörigen von Nationen gemeinsam Deutungen von bestimmten Ereignissen, sondern umgekehrt sind es die massenmedial in Umlauf gebrachten Deutungen, die durch ihre Verbreitung die Nation als Gruppe hervorbringen. Trotzdem behaupten manche Historiker Ende des 20. Jahrhunderts ganz selbstverständlich: Mit der Teilung des Frankenreichs im Vertrag von Verdun aus dem Jahr 843, »so haben wir es in der Schule gelernt, beginnt die deutsche Geschichte.« 125 Das jedoch gründet keineswegs auf den Erfahrungen der Zeitgenossen, die weder von ihrem Deutschsein noch von einer deutschen Geschichte etwas ahnten. Für den Großteil der Bevölkerung waren die Vorgänge ohnehin bedeutungslos, weil die Auseinandersetzungen weitgehend auf den Adel begrenzt blieben. Zum weltbewegenden Ereignis wird die Reichsteilung erst im Rückblick für eine Geschichtsdeutung, die darauf die Deutschen als Gruppe zu konstituieren sucht und aufgrund ihrer Verbreitung durch die staatliche Schule offenbar eine solch allgemeine Anerkennung genießt, dass auch manch Historiker sie nicht hinterfragt. Indem Schule als staatliche Einrichtung ein einheitliches Geschichtsverständnis vermittelt, bringt sie zugleich eine Volks einheit hervor. Sie erzeugt überhaupt erst die Vorstellung von gemeinsamen Erfahrungen , obwohl die so weit zurückliegen, dass noch nicht einmal die Großväter der Schüler sie leibhaftig erlebt haben können. Es bedarf also gar keiner tatsächlichen gemeinsamen Erlebnisse, sondern es genügt ein allgemein bekanntes Geschichtsbild. Ganz in diesem Sinne erhielt jener Ludwig II. , der ab 843 die Herrschaft über das Ostfrankenreich beanspruchte, seinen Beinamen der Deutsche erst knapp tausend Jahre später mit dem Aufkommen modernen Staatswesens, 124 Ebd., S. 37. 125 Schulze, Kleine deutsche Geschichte , S. 14. 101 <?page no="102"?> weil hier die spezifisch deutsche Geschichtsschreibung beginnt. 126 Einem Staat muss an der Schulpflicht schon allein deshalb gelegen sein, weil er damit die Alphabetisierung in einer »normierten und vereinheitlichten Sprache« 127 erreicht, auf deren Grundlage Kinder in den Schulbüchern und Erwachsene später in Presse, Funk und Fernsehen eine gemeinsame Vorstellungswelt vermittelt bekommen. Die Massenmedien müssen dazu nicht einmal kontrolliert werden, sofern sie nur in ihrer Verbreitung den Staatsgrenzen folgen und an über Jahrzehnte gepflegte Geschichte(n) anschließen. Eine im gesamten Territorium verständliche Sprache bekommt so für den Zusammenhalt enorme Bedeutung und genau darauf legen staatliche Schulsysteme stets den größten Wert. Anfänglich setzte man sich über die örtlich jeweils tatsächlich gesprochenen Sprachen hinweg und führte eine Einheitssprache ein, selbst wenn diese zuvor nur von einer Minderheit benutzt wurde - wie etwa in Italien, wo es »zum Zeitpunkt der Vereinigung (1860) nur 2,5 Prozent der Bevölkerung« waren. 128 Auch einheitliche Sprachräume gehen Staaten also nicht voraus, sondern werden erst durch diese geschaffen. Seinen Erfordernissen nach ist der Nationalstaat ein illiberales Unterfangen. Ihm behagt Vielfalt nicht, vielmehr stützt er sich auf Einheitlichkeit. Er gründet auf nationaler und sprachlicher Einheit und nicht selten verlangt es ihn auch nach religiöser und kultureller. Außerdem setzt er nicht nur ein einheitliches Rechtssystem, sondern duldet darüber hinaus auch nur ein Wirtschaftssystem. Betreibt der Staat dennoch Liberalisierung, droht er unbedingter Solidarität verlustig zu gehen. Umso mehr er einen reziproken Liberalismus vertritt, desto mehr globalisieren sich die Ansprüche, desto kosmopolitischer Denken dessen Anhänger. Ebenso führt ein radikal vertretener Liberalismus dazu, dass sich die Menschen vom konkreten Nationalstaat abwenden und diesen nur noch als Standortfaktor sehen. Selbst Anhänger eines konservativen Liberalismus suchen ihr Eigentum dem Zugriff des Staats zu entziehen. Der Staat findet in Liberalen keine glühenden Verehrer, obwohl doch nur er deren Ansprüche überhaupt erst zu gewähren vermag: Ohne hätten 126 Vgl. W. Hartmann, Ludwig der Deutsche , S. 1. 127 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus , S. 68. 128 Ebd., S. 75. 102 <?page no="103"?> Grundrechte ebenso wenig Bestand wie Eigentum und auch der Wettbewerb um Durchsetzungsfähigkeit, würde nicht auf wirtschaftliche Bereiche beschränkt bleiben. So sehr der Staat also einerseits überhaupt erst Liberalismus ermöglicht, indem er seine verschiedenen Ansprüche vermittelt, so sehr steht er andererseits zu ihm im Widerspruch. Der Staat ermöglicht Liberalismus nur insofern er ihn begrenzt, sowohl räumlich wie auch in seinen Konsequenzen. Er ermöglicht ihn, indem er dessen grundsätzliche Grenzenlosigkeit ignoriert, doch genau daran scheitert er. Soziale Marktwirtschaft enthält einen grundlegenden Widerspruch: Einerseits fordert sie Eigenverantwortung ein, um im Wettbewerb zu bestehen, andererseits zwingt sie Menschen eine Solidarität unabhängig von Leistungsfähigkeit auf. Staaten müssen ihre Solidaritätszumutung losgelöst von universalistischem Humanismus und persönlicher Zuneigung auf die De nition einer Nation gründen, die Bürger dazu verp ichtet, Mitbürger einen höheren Wert beizumessen als Ausländern. Jeder staatlichen Solidargemeinschaft wohnt dadurch die Idee inne, dass Menschen nicht gleichwertig sind, worin Rassismus somit grundsätzlich angelegt ist. Wenn sich die Menschen nicht mehr persönlich kennen, bedarf es Massenmedien, um eine Gruppe zu formen, die gleichlautende Geschichte(n) ihr Eigen nennt. Der resultierende Nationalstaat ist ein illiberales Unterfangen, das nicht nach Vielfalt, sondern nach Einheitlichkeit verlangt. Dass Liberale von ihm zugleich die Gewährung ihrer Ansprüche erwarten, erscheint damit gänzlich unvereinbar. 103 <?page no="104"?> 2.6 Schützt Liberalismus vor Autoritarismus? Der Nationalstaat hatte die Liberalismen eingehegt, doch jetzt globalisieren sich diese: Durch radikale Liberalisierung tritt man individuell zunehmend mit der ganzen Welt in Konkurrenz, während zuvor der Nationalstaat noch den Eindruck vermittelte, er böte Schutz und nur er als Ganzes befände sich im Ringen mit anderen Staaten. Aufgrund verstärkter Migration erkennen viele die Reziprozität universaler liberaler Grundsätze nicht mehr an, während zugleich deren bestehende territoriale Begrenztheit deutlich ins Bewusstsein rückt. Der konservative Liberalismus schließlich wird durch globale Umweltprobleme herausgefordert, welche die Berechtigung auf den eigenen Wohlstand infrage stellen. Der Nationalstaat und mit ihr die Nation ist längst zur hoffnungslosen Solidarität der Wenigen gegenüber einer überwältigenden Weltbevölkerung und Naturzerstörung verkommen. Das empfinden manche als eine Bedrohung, der sie die Demokratie nicht gewachsen glauben, weshalb sie diese aufzugeben sich bereit zeigen, zumal sie das Volk für nicht verantwortungsbewusst halten. Vielmehr sehen sie die Wähler von Gefühlen geleitet und in stumpfer Einfalt auch bereit, verantwortungslose Politiker zu wählen. Ivan Krastev hält es sogar für möglich, dass sich die Menschen gerade in Europa massenweise destruktiven Gefühlen hingeben, weil sie sich dort durch die Europäische Union vor den Folgen jeglichen Irrlichterns geschützt glauben: Ein noch bedeutsamerer E ekt basiert auf dem Umstand, dass die Europäische Union als eine Art Sicherheitsnetz dient, das Risikofreudigkeit dämpft (indem es Staaten von einer unverantwortlichen Politik abhält), aber Wählern den Anreiz bietet, verantwortungslose politische Parteien und Politiker zu unterstützen, um dadurch ihrer Enttäuschung und Wut Ausdruck zu verleihen. Weshalb sollten die Polen Angst vor jemandem wie Kaczy«ski haben, wenn sie doch wissen, dass Brüssel ihn bändigen wird, falls er zu weit geht? Paradoxerweise hat die Verbindung zwischen Europäisierung und Demokratisierung 104 <?page no="105"?> Mitteleuropa zu einem Paradebeispiel für demokratischen Illiberalismus gemacht. 129 Abgesehen davon, dass eine solche Einschätzung ausblendet, wie sehr sich in der Türkei, Russland, den USA und anderen Ländern ohne EU- Absicherung vergleichbare Tendenzen zeigen, verbirgt sich dahinter die Annahme, die Bürger wählten bewusst Kandidaten, die sie für ungeeignet halten. Das würde allerdings nicht nur bedeuten, dass offensichtlich wäre, welche Politiker besser geeignet sind, sondern auch dass die Wähler dies durchaus erkennen würden, sich aber gezielt für eine politische Option entschieden, die sie eigentlich gar nicht befürworten, einfach nur um »ihrer Enttäuschung und Wut Ausdruck zu verleihen.« Man muss schon voll und ganz überzeugt sein von den Qualitäten und dem Vorgehen der politischen Eliten in den vergangenen Jahren und auch von ihren programmatischen Ankündigungen für die nächsten, um zu einer solchen Einschätzung zu gelangen. Nur wer daran keinerlei Zweifel hegt, kann das offenbar unerwünschte Wahlverhalten als reinen Protest abtun. Nur dann kann man die Wähler so sehen, als würden sie wider besseren Wissens sich von unvernünftigem Trotz leiten lassen. Nur dann kann man sie für dumm und sich selbst für weise halten. Dass sich hinter diesen starken Gefühlen ein begründeter Zweifel an den etablierten politischen Parteien und ihren Politikern verbirgt, scheint ebendiesen hingegen undenkbar. Doch indem sie die Bürger derart wie trotzige Kinder behandeln, verstärken sie den abwertenden Effekt ihrer Aussagen noch. Wenn etablierte Politiker, Konzernvorstände, Journalisten und Intellektuelle den Bürgern signalisieren, dass sie sie nicht für voll nehmen, während sie sich selbst überlegene Einsicht attestieren, wird der Graben nur tiefer. Eine solche Haltung verrät aber nicht nur intellektuelle Selbstverliebtheit, sondern auch in etablierten Kreisen verbreitete machtpolitische Denkmuster: Wer davon ausgeht, Bürger würden darauf vertrauen, dass die EU allzu extreme Auswüchse einhegt, unterstellt damit die typisch politische Strategie des Taktierens. Das ist weniger deshalb abwegig, weil es exakt solche perfiden 129 Krastev, Europadämmerung , S. 85 f. 105 <?page no="106"?> Winkelzüge sind, die Politik für viele Menschen so abstoßend macht, als vielmehr, weil man dazu die schon allein aufgrund ihrer großen Zahl inhomogene Bevölkerung wie eine taktisch agierende Einheit betrachten muss - als würden sie sich exakt so verhalten wie politische Parteien das regelmäßig tun. Der Gedanke von der Volkseinheit und der Organisationsgrad von Parteien sind offenbar derart vertraut, dass man ihn auf eine gänzlich unorganisierte und uneinheitliche Vielzahl an Menschen anwendet. Damit aber übersieht man das eigentlich Erschreckende: Die Bürger sprechen sich ganz ohne jegliche Koordination in großer Zahl gegen den politischen status quo aus - und zwar bei weitem nicht nur jene, die dann tatsächlich illiberale Parteien wählen. Die Menschen taktieren indessen nicht, sondern wollen wahrhaftig eine Änderung, die sie sich von den etablierten Parteien nicht mehr erhoffen. Sie leben vermeintlich in einer Demokratie und verzweifeln doch an ihrer bestehenden Ausgestaltung, die zu ändern ihnen verwehrt bleibt. Wenn man nun ablehnendes Verhalten gegenüber Repräsentanten oder gar Eliten allgemein immerfort als Trotz abtut, blickt man auf diejenigen wie auf Kinder herab, denen man zugleich regelmäßig versichert, sie seien der Souverän. Man lässt den Gedanken nicht zu, dass die Menschen es durchaus ernst meinen, dass sie tatsächlich in diesem Ausmaß unzufrieden mit der Situation sind und dafür womöglich auch gute Gründe haben. Statt dessen wähnt man sich auf der richtigen Seite und die andere lediglich als uninformiert, weshalb so häufig die Rede davon ist, dass Aufklärung Not tue. Ohnehin hält man den Mob im Grunde für unverständig, weshalb es ja so gut sei, dass letztlich nicht er, sondern eine Elite regiert - allen demokratischen Bekenntnissen zum Trotz. Man beruhigt sich mit dem Glauben an ein gewaltiges Missverständnis: Alles hat schon seine Ordnung, aber leider können viele einfach nicht verstehen, dass Politik nunmal kompliziert ist. So formuliert Carlo Strenger in vollendeter Selbstgerechtigkeit: Wenn die liberale Demokratie überleben soll, müssen wir die gröÿtmöglichen Anstrengungen unternehmen, damit die Bevölkerungsmehrheit die Bürgertugenden und Kenntnisse erwirbt, die notwendig sind, um politischen 106 <?page no="107"?> Argumentationen folgen und ihre Stichhaltigkeit einschätzen zu können. 130 Dabei ist er sich nicht zu schade voranzuschicken, dass sein eigener Bildungsweg über jeden Zweifel erhaben ist und er deshalb »ein trainiertes Gespür für die Qualität und Triftigkeit von Argumenten« 131 habe: Meine Vorstellung von Bildung hat sich jedoch nicht allein in den elf Jahren herausgebildet, die ich an Universitäten studierte, um zwei höhere akademische Grade zu erwerben, bevor ich schlieÿlich begann, dort zu lehren. Sie beruht im selben Maÿ auf meiner Zeit im Sekundärschulsystem der Schweiz, das überaus fordernd war, aber den Schülern die Grundlagen freiheitlicher Bildung zu vermitteln vermochte. (...) Ja, die Anforderungen waren ziemlich hoch, doch als wir die Matura gemacht hatten, besaÿen wir ein Maÿ an Kenntnissen, das junge Leute in anderen Ländern erst im Grundstudium erwerben. 132 Dieser Hochmut irritiert umso mehr, da Strenger zuvor noch einen »großen Fehler der liberalen Kosmopoliten« betont: Sie haben die wahrhaft destruktive Neigung, stärker traditionsverbundene Gesellschaftsgruppen, die ihre aufgeklärten Ansichten nicht teilen, geringzuschätzen und runterzumachen . 133 Abgesehen davon, dass niemand wissen kann, wie bestmögliche Bildung tatsächlich aussehen sollte, fällt die realitätsferne Vorstellung auf, alle müssten »zwei höhere akademische Grade erwerben«, um liberale Satisfaktionsfähigkeit zu erreichen. Nicht nur, dass viele das gar nicht wollen würden, es 130 Strenger, Diese verdammten liberalen Eliten , S. 160. 131 Ebd., S. 160 f. 132 Ebd., S. 159 f. 133 Ebd., S. 129. 107 <?page no="108"?> wäre auch völlig unklar, wer dann all jene Berufe ausüben sollte, auf die wir im Alltag so angewiesen sind, ohne dass sie mit höherer Bildung einher gingen Umso mehr sich die Etablierten, also diejenigen, die im bestehenden System über Einfluss verfügen, über diejenigen erheben, die sich ohnmächtig fühlen, desto mehr bauen sie eine Distanz auf. Damit sind sie im Begriff ihre Stellung von Zustimmung zu lösen und auf irgendwie geartete Höherwertigkeit zu gründen. Denn notwendig geht jede Distanzierung mit der Überzeugung einher, persönliche Vorzüge verliehen ein Anrecht auf eine herausgehobene Position - seien sie nun charakterlicher, intellektueller oder physischer Art (Letzteres spielte nicht nur ehedem, sondern auch im Wahlkampf zwischen Donald Trump und Hillary Clinton bei der Frage eine Rolle, wie es um deren Gesundheit bestellt sei). Anstatt das Einverständnis gewöhnlich Situierter als Voraussetzung für jedwedes Privileg anzusehen, wie es demokratischer Geist geböte, erachten viele Etablierte eine Besserstellung aufgrund der eigenen Vorzüge schlicht für angebracht, wie es einer aristokratischen Denkweise entspricht; und wer das nicht zu billigen weiß, dem mangele es an Einsicht und der verhalte sich mithin trotzig. Aristokraten - und seien sie dies nur ihrer Vorstellung nach - wähnen sich im selben Maße des Zustimmungsbedarfs enthoben, wie sie ihre Stellung als verdient ansehen. Insofern sie abweichende Auffassungen der Uneinsichtigkeit bezichtigen, beanspruchen sie zudem im gleichen Zuge geradewegs eine Zustimmungspflicht. Jeder Akt der Distanzierung dispensiert Einverständnis, das ist sein vorrangiger Zweck. Wer sich distanziert, will mit Gedankengut und Haltung derjenigen nichts zu tun haben, von denen Abstand genommen wird. Die Distanzierung soll jede Verbindung in Abrede stellen, soll sie gegebenenfalls abbrechen, sofern sie zuvor bestanden hatte. Immer geht damit einher, dass man die Gleichwertigkeit dessen in Frage stellt, wovon man sich absetzt. Man distanziert sich von Zweifelhaftem, mit dem man nicht in Verbindung gebracht werden will - nicht zuletzt um seine Geringschätzung zum Ausdruck zu bringen. Genau so wirkt auch jede Absetzbewegung vom gewöhnlichen Volk, ob gewollt oder nicht. Unweigerlich zieht der Glaube an eigene Vorzüge eine Trennung ein gegenüber weniger Intelligenten, weniger Fleißigen, weniger Leistungsfähigen, weniger Gebildeten, weniger Anständigen, 108 <?page no="109"?> oder drastischer: gegenüber den Dummen, Faulen, Schwachen, Ungebildeten, Unanständigen. Mag sie menschlich nachvollziehbar sein oder nicht, Distanz widerspricht zwangsläufig der demokratischen Grundidee, wonach Einfluss dem Einverständnis der Beeinflussten bedarf. Mehr noch, sie beraubt die Demokratie ihrer größten Stärke: Eine Regierung, die tatsächlich Rückhalt in der Bevölkerung genießt, muss ihre loyalsten Kräfte nicht rein defensiv für die Behauptung ihrer Herrschaft aufbringen, sondern kann von ihrem Engagement auf mannigfaltigste Weise profitieren. Wann immer aber Einfluss ohne Zustimmung reklamiert wird, steigt der Aufwand zur Statussicherung. Mangels demokratischem Rückhalt bedarf es dann anderer Mittel zur Rechtfertigung eines Rangunterschieds, die allerdings niemals ohne die Behauptung irgendwie gearteter Höherwertigkeit auskommt. Demokratie jedenfalls herrscht nur dort, wo Anerkennung genießt, wer über Einfluss verfügt. Vielleicht nicht bei jedem, aber zumindest mehrheitlich. Wo immer aber Menschen ihren höheren Status nicht auf das Einverständnis ihrer Gefolgschaft zurückführen, sondern umgekehrt Gefolgschaft aufgrund ihres höheren Status einfordern, tut sich ein Spalt auf. Wenn die Elite nun in Distanz geht zum Pöbel, grenzt sie sich ab. Es gilt somit, was Norbert Elias und John Scotson ganz allgemein über Etablierte und Außenseiter schreiben, gleichgültig ob sich das Überlegenheitsgefühl auf äußere Merkmale oder Statusunterschiede stützt: Gemeinsam ist all diesen Fällen, daÿ die mächtigere Gruppe sich selbst als die besseren Menschen ansieht, ausgestattet mit einem Gruppencharisma, einem spezi schen Wert, an dem ihre sämtlichen Mitglieder teilhaben und der den anderen abgeht. Und mehr noch: In all diesen Fällen können die Machtstärkeren die Machtschwächeren selbst immer wieder zu der Überzeugung bringen, daÿ ihnen die Begnadung fehle daÿ sie schimp iche, minderwertige Menschen seien. 134 134 Elias und Scotson, Etablierte und Außenseiter , S. 8. 109 <?page no="110"?> Ganz offensichtlich produziert unsere heutige Welt eine Menge Menschen, die sich zurückgesetzt fühlen, nicht aber als Außenseiter, schlicht weil sie zu viele sind. Umso mehr eine Elite ihren Status als verdient ansieht, ohne auf Zustimmung zu rekurrieren, desto mehr transportiert sie einen Wertunterschied zwischen sich und anderen, signalisiert diesen mithin Minderwertigkeit. Ganz unabhängig davon, ob es einer Spezialisierung, Professionalisierung und Elitenbildung nun tatsächlich bedarf oder nicht, bringt jede Forderung danach, vor allem aber die damit einhergehende Zurückweisung des und der Gewöhnlichen, eine Kluft hervor. Immer wenn die Elite den Erwartungen nicht gerecht wird, delegitimiert sie den von ihr selbst forcierten Statusunterschied. Zu befürchten steht jedenfalls, dass weniger die Bürger als vielmehr die Eliten unverständig sich verhalten, weil sie einfach nicht wahrhaben wollen, weshalb ihnen solche Ablehnung entgegen schlägt Dass sie der Masse mit Geringschätzung begegnen, dürfte deshalb auch weniger an eben dieser liegen, als an ihnen selbst. Nicht die Unzulänglichkeiten der anderen sind es regelmäßig, die Missachtung buchstäblich hervorbringen, sondern die eigene Dünkelhaftigkeit. Wo immer ein Statusunterschied gesetzt wird, geschieht dies durch diejenigen, die selbstverliebt ihrem Hochmut folgen. Dem Problem im vollen Umfang kann sich deshalb nur stellen, wer die Möglichkeit in Betracht zieht, selbst Teil davon zu sein. Das allerdings nicht allein hinsichtlich inhaltlicher Positionen, wo erfahrene Politiker es gelernt haben, sich unbeschadet veränderten Gegebenheiten anzupassen. Vielmehr müssten sie auch dazu bereit sein, die eigene gesellschaftliche Rolle grundsätzlich zu hinterfragen, jene Stellung also, die sie mit so viel Ehrgeiz und Einsatz erreicht haben. Wollten Politiker tatsächlich der verbreiteten politischen Resignation begegnen und allen denkbaren Ursachen auf den Grund gehen, müssten sie die Bereitschaft aufbringen, sogar das von ihnen persönlich Erreichte zur Disposition zu stellen. Sie dürften vor möglichem Machtverlust und Gefahren für die eigene Karriere nicht halt machen. Denn hier wie anderswo kann eine angemessene Analyse des Problems nur gelingen, wenn sie unabhängig von möglichen Effekten auf die persönliche Situation erfolgt. Schwer vorstellbar erscheint jedoch, dass jemand grundsätzlich in Frage zu stellen vermag, wovon die eigene gesellschaftliche Stellung voll und ganz ab- 110 <?page no="111"?> hängt. Hier machen Politiker keine Ausnahme. Mit zunehmendem Statusgewinn wird es nicht nur immer attraktiver, danach zu trachten, ihn zu erhalten, im gleichen Zuge lässt das Bedürfnis nach, die eigene Stellung und ihre Berechtigung anzuzweifeln. Einmal etabliert, geraten Statusunterschiede auf der einen Seite ebenso sehr zu einer Versuchung wie auf der anderen zu einem Ärgernis. Nicht notwendig niedere Beweggründe, wie sie Politikern so oft unterstellt werden, sind es deshalb, die einen unvoreingenommenen Blick verhindern, sondern ein ganz gewöhnlicher Interessenkonflikt, der noch nicht einmal voll ins Bewusstsein getreten sein muss. Wie anderswo auch werden nicht Wenige im Stolz auf das von ihnen Erreichte die dafür nötigen strukturellen Gegebenheiten nicht prinzipiell hinterfragen, weil man sie eben schon akzeptiert haben muss, um auf ihrer Grundlage Karriere machen zu können. Wer im politischen System Macht erlangt, hat sich auf dessen Spielregeln bereits eingelassen. Da fällt es leichter die verbreitete Unzufriedenheit mit der Politik als unvermeidlich hinzunehmen und auf die Komplexität der Vorgänge zurückzuführen, womit man schlussendlich wiederum mangelnde Sachkenntnis der Bürger für ursächlich erklärt; ohne dabei zu sehen, dass man sich selbst aus dem gleichen Grund auf externe Beratung von außen einlässt und somit den eigenen Mangel an gleicher Stelle konzediert. Eine Lücke, die Lobbyisten nur allzu gerne füllen. So gibt man sich selbst tendenziösen Interessenvertretern hin, wo man anderen die Urteilsfähigkeit abspricht. Statt dessen müssten Politiker erkennen, dass nicht ihre Fähigkeiten angezweifelt werden, sondern was sie daraus machen. Vor allem aber müssten sie einsehen, dass eine Trendwende nur zu erreichen wäre, wenn sie sich bereit zeigten, an dem zu rütteln, was ihnen Macht verleiht. So lange sie jedoch das politische Procedere selbst aus allen Reformbemühungen ausschließen oder angesichts autoritärer Gegenbewegungen als einzig selig machend verteidigen, wird dessen Akzeptanz darunter leiden. Denn längst richtet sich die Unzufriedenheit nicht mehr allein gegen einzelne politische Inhalte, sondern gegen die Art, wie die republikanische Ordnung immer wieder deren Durchsetzung jenseits aller demokratischen Mehrheitsfähigkeit ermöglicht. An Stelle von demokratischer Entscheidungsfindung befördert die Archi- 111 <?page no="112"?> tektur einer Republik verschlungene Verhandlungswege; doch die Menschen halten für hinderlich, was damit innigst vertraute Politiker virtuos betreiben und zum Wesen moderner Politik verklären: Taktieren und Geschacher. 135 Viele Politiker glauben, dass halbherzige Kompromisse, strategisches Postengemauschel und taktisches Lavieren den elementaren Werkzeugkasten ihres Geschäfts und ein sicherer Umgang damit ihre Kompetenz ausmachen. Dabei ergeben sich diese Vorgehensweisen regelmäßig allein aus parteitaktischen Erwägungen. In Anbetracht langer Wahlperioden kann man unentwegt Klientelpflege betreiben und seien die Profiteure noch so wenige, gerade weil man nicht für jede einzelne Entscheidung zur Rechenschaft gezogen wird. So lange man die Wählerschaft alle paar Jahre bei großen Themen auf seine Seite zieht, darf man sie ansonsten getrost vernachlässigen. Die Fokussierung auf einige wenige Themen bei der Wahl liegt deshalb im Interesse der Parteien und insofern waren diese immer schon populistisch. Populisten treiben diese Engführung lediglich auf die Spitze. Aus einer demokratischen Sicht jedoch erschließt sich das alles nicht: weder Engführung, noch Klientelpolitik oder politische Winkelzüge. Demokratie beruht nicht auf Taktieren, Lavieren und thematischer Verarmung, sondern auf Beschlussfindung durch die Mehrheit. Sie zielt nicht auf Berücksichtigung von Sonderinteressen durch Verhandlungsmarathons, sondern auf Offenlegung der Positionen und Argumente, um dann eine Entscheidung herbeizuführen, die durchaus hart ausfallen kann. Wie sehr sich Parteipolitik davon entfernt hat, wird daran deutlich, dass es für viele Fragestellungen in der Bevölkerung klare Mehrheiten gibt, die 135 Wenn die Wahl von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission genau auf diese Weise zustande kommt und damit die Wahl für das Europäische Parlament entwertet, bestätigt dies nur, dass führende Politiker noch immer nicht ahnen, woher ein Gutteil Unzufriedenheit rührt. Zumal wenn die Position dann noch mit einer Person besetzt wird, die in ihrer vorangehenden Stellung keineswegs überzeugt hat und nicht zuletzt durch eine irritierende Nähe zu kostspieligen Beratungsfirmen aufgefallen ist. Ja, man muss wohl sagen, dass ihr Wechsel geradezu gelegen kommt, um einen Problemfall aus der nationalen Politik loszuwerden. Eine erschreckende Kontinuität bekommt die Entscheidung noch dadurch, dass ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker , bevor er das höchste Amt der EU bekleidete, als Premierminister Luxemburgs wesentlich zur Steuerflucht großer Konzerne beigetragen hat und aus Sicht der Bürger ebenfalls nie der Wunschkandidat war. 112 <?page no="113"?> über Jahre hinweg »regelmäßig ignoriert« 136 werden. 137 Wenn eine demokratische Entscheidung klar ausfallen würde, die Politik sich aber dazu nicht durchringen kann, dann liegt das nicht an den Bürgern. Wenn diese sich mit ihrer Haltung auch noch klar auf der Linie von Experteneinschätzungen bewegen, wird das Missverhältnis noch bedrückender. Nicht die Demokratie, nicht die Bürger und auch nicht deren angeblich mangelnde Sachkenntnis stehen richtungweisenden politischen Entscheidungen im Weg, sondern Parteipolitik. Populismus macht sich nun genau dieses Missverhältnis zunutze und vermittelt die Absicht, Entscheidungen im Sinne des Volkes ohne faule Kompromisse zu fällen. Dass ausgerechnet rechte Parteien dafür Zustimmung erfahren, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass sie glaubhaft vertreten können, nicht Teil des politischen Establishments zu sein, schlicht weil sie nie in der Regierungsverantwortung waren. Jede Ächtung, die sie erfahren, verbessert deshalb noch ihre Position, da das allzu oft nur als Verteidigung des status quo durch die Etablierten wahrgenommen wird. Das linke Lager hingegen hatte aus der Sicht von vielen seine Chance, weil Sozialdemokraten dem in der Regel zugeschlagen werden und diese selbst mit ihrer Berufung auf Karl Marx diese Deutung stützen. In Osteuropa kann angesichts der kommunistischen Vergangenheit ohnehin keine linke Bewegung glaubwürdig Erneuerung vermitteln. Vor dem Hintergrund des demokratischen Missverhältnisses wirkt es auf viele so, als hätten sich sozialistische, bürgerliche oder liberale Parteien alle gleichermaßen längst mit dem politischen System arrangiert, das ihnen Stellen und Status sichert. Das Klammern daran scheint sich angesichts der Zugewinne rechtsradikaler Parteien noch zu verstärken, sodass es letzteren immer leichter gelingt, den Eindruck zu erwecken, dass nur sie echte Veränderungen wollen. Dort, wo etablierte Parteien rechte Forderungen gar aufgreifen, bestätigen sie damit letztlich nur ihren realpolitischen Opportunismus, nicht aber den Willen zu substantiellen Änderungen. Sie vermitteln dadurch weniger den 136 Schreyer, Die Angst der Eliten , S. 29. 137 Man denke für Deutschland nur an Finanztransaktionssteuer, einheitliche Krankenversicherung oder CO2-Steuer. Die Volksabstimmung zum Schutz der Bienen in Bayern führt ebenfalls vor Augen, wie sehr die Parteipolitik für das Allgemeinwohl durchaus zuträgliche Lösungen blockiert, die auf demokratischem Weg zum Zuge kämen. 113 <?page no="114"?> Eindruck, dass sie auf die Position einschwenken, weil sie etwas bewegen, als einmal mehr jenen, dass sie dies tun, weil sie an der Macht bleiben wollen, damit sich eben strukturell nichts Grundlegendes ändert. Hierdurch aber verhelfen sie lediglich destruktiven antidemokratischen Inhalten rechter Parteien zur Durchsetzung, statt den konstruktiven demokratischen Ansprüchen unzufriedener Bürger über alle Lager hinweg. Die etablierten Parteien manövrieren sich zunehmend in eine Situation, in der sie die Grundlage ihrer eigenen Macht umso mehr beschädigen, je stärker sie sich dafür einsetzen. Indem sie voller Überzeugung für die bestehenden republikanischen Verhältnisse eintreten, sehen sie sich selbst als »Hüter der Verfassung« 138 gegen die rechte Gefahr; und angesichts von deren autokratischen Anwandlungen glauben sie zugleich, sich für Verfechter der Demokratie halten zu dürfen. Eine Konstruktion, deren Problematik schon Carl Schmitt offenlegte (um daraus dann aber höchst zweifelhafte Schlussfolgerungen zu ziehen): Der Hüter soll nicht abstrakt und schlechthin, sondern gegen ganz bestimmte, konkret befürchtete Gefahren sichern. Während früher, im 19. Jahrhundert, die Gefahr von der Regierung her drohte, also aus der Sphäre der Exekutive kam, richtet sich die Besorgnis heute vor allem gegen den Gesetzgeber. Heute dient die verfassungsgesetzliche Regelung bereits zu einem groÿen Teil der Aufgabe gewisse Angelegenheiten und Interessen, die sonst Sache der einfachen Gesetzgebung waren, vor diesem Gesetzgeber, d. h. vor wechselnden Parlamentsmehrheiten, zu schützen. Die verfassungsgesetzliche Verankerung soll bestimmte Interessen, insbesondere Minderheitsinteressen, vor der jeweiligen Mehrheit sichern. Darin liegt ein merkwürdiger Funktionswandel und eine gegen das demokratische Mehrheitsprinzip gerichtete Tendenz. 139 138 Schmitt, Der Hüter der Verfassung , S. 24. 139 Ebd., S. 24. 114 <?page no="115"?> Mehr noch als Demokratie garantieren Verfassungen ihre republikanische Einhegung. Sie befassen sich nicht primär damit, dem Willen der Mehrheit zur Durchsetzung zu verhelfen, vielmehr entfalten sie ein kompliziertes System, das die unmittelbare Machtausübung des Volkes unterbindet. Seit jeher ist die Verfassungsgeschichte geprägt vom Misstrauen gegenüber Emotionalität und Wankelmut jener Menschen, deren Gesamtheit als Souverän anzuerkennen niemand mehr umhin kann, nachdem die Vernunft alle anderen Legitimationsversuche endlich beiseite gewischt hatte. Yascha Mounk formuliert in aller Deutlichkeit: Die politischen Systeme von Ländern wie Groÿbritannien oder den Vereinigten Staaten wurden nicht gegründet, um die Demokratie umzusetzen, sondern um sie zu verhindern. 140 Die amerikanischen Verfassungsväter formulierten öffentlich ihre Distanzierung vom Volk freilich weniger deutlich: Sie äuÿerten die Befürchtung, dass die Mehrheit von einer gemeinsamen Leidenschaft oder einem gemeinsamen Interesse erfaÿt wird, gegen das eine Republik, womit ich ein Regierungssystem meine, in dem das Konzept der Repräsentation verwirklicht ist, [...] das Heilmittel bietet, weil Repräsentanten das wahre Interesse des Landes am besten erkennen können, und deren Patriotismus und Gerechtigkeitsliebe kaum erwarten lassen, daÿ sie sie momentanen oder parteilichen Überlegungen opfern werden. 141 Dem ganzen liegt die wohl nicht nur aus heutiger Sicht unrealistische Annahme zu Grunde, dass eine Elite, wie auch immer sie zu Stande kommen mag, moralisch und charakterlich über bessere Eigenschaften verfügt als der 140 Mounk, Der Zerfall der Demokratie , S. 79. 141 Hamilton, Madison und Jay, Die Federalist -Artikel , S. 55. 115 <?page no="116"?> Pöbel. Ein Grundmotiv, das sich durch die lange Geschichte der Vorbehalte gegen die Demokratie zieht, obwohl ganz offensichtlich Repräsentanten keineswegs überparteilich, leidenschafts- und interesselos agieren. Vielmehr erwartet Berufspolitik Parteilichkeit, fordert den Einsatz für bestimmte Interessen und kommt ohne Leidenschaft nicht aus. Wer sich für eine republikanische Verfassung einsetzt, verteidigt nicht nur ihre demokratischen Rudimente gegen autokratische Begehrlichkeiten, sondern immer auch ihren elitären Konservatismus gegen demokratische Verheißungen. Wofür sich die selbsternannten Hüter da einsetzen, das ist weder die einzig mögliche Form der Demokratie noch auch nur im entferntesten ihre aufrichtigste, sondern vor allem ist es jener in Kraft befindliche Regelkatalog, dem sie ihre politisch privilegierte Position überhaupt erst verdanken. Wenn Politiker die Verfassung verteidigen, gleichgültig mit welch ehrenwerten Motiven das im Einzelnen geschehen mag, verteidigen sie vor aller Augen ihre eigene Geschäftsgrundlage, die ihnen Status und Einfluss sichert. Indem sie so zu Lobbyisten in eigener Sache werden, sinkt zwangsläufig ihre Glaubwürdigkeit, zumal Parteipolitik ohnehin als durch und durch interessengetrieben gilt. Das treibt all jene in die Arme der Rechten, die Politik längst als Machtabsicherung der Elite betrachten, und frustriert all jene, die noch immer daran glauben, dass eine stärkere Demokratisierung möglich und nötig wäre. Wenn der Republikanismus, der auf existentielle Bedrohungen seit Jahrzehnten nur zu hilflosem Klein-Klein sich durchringen kann, keine andere Antwort als seine eigene Bewahrung auf den rechten Populismus findet, dann wird letzterer gewinnen, einfach nur weil er Entscheidungen statt endloser Verhandlungen und immerhin Populismus statt Elitarismus verspricht. Viel zu oft verweisen die Verfechter des republikanischen Politikstils bei wichtigen Fragestellungen darauf, dass es dazu Verhandlungen auf internationaler, europäischer oder nationaler Ebene bedürfe, deren Ergebnis aber ist beinahe ebenso oft kaum zu unterscheiden von dem, was ohnehin geschehen wäre. 142 Selbst wenn es für bestimmte Entscheidungen klare demokratische 142 Angesichts der Maßnahmen, wie sie bei der Ausbreitung des Corona-Virus COVID-19 ergriffen wurden, wird allzu deutlich, dass der Verweis auf die Notwendigkeit von Verhand- 116 <?page no="117"?> Mehrheiten gibt, werden sie nicht selten in den republikanischen Mühlen durch parteipolitische Verhandlungen zermahlen. Längst fühlen sich all die Verhandlungsergebnisse wie Niederlagen an, weil sie überhaupt erst zustande kommen, nachdem sie bis zur Unkenntlichkeit verwässert wurden. Zudem wird im Zweifel so lange Geld vom Steuerzahler und mithin Wähler hinterher gekippt, bis auch jene einverstanden sind, die zufrieden zu stellen, den eigentlichen Frevel darstellt. Wir leben in einer Demokratie, in der sich der vermeintliche Souverän immerdar als einziger Verlierer fühlt! Schon allein deshalb kann es kaum verwundern, dass der Populismus Zuspruch erfährt. Darin liegt auch gar nicht das Problem: Wann immer es galt, Mehrheiten zu erzielen, schreckte man vor Populismus nicht zurück - auch nicht etablierte Parteien. Das ist keineswegs allein verbreitetem Desinteresse oder mangelnder Bildung geschuldet, wie oft ebenso kurzschlüssig wie respektlos unterstellt wird. Ohne die nötige Eingängigkeit kommt vielmehr auch keine Präsentation vor Konzernvorständen aus, denen Liberale gemeinhin nicht Einfalt unterstellen, sondern größten Respekt zollen. Die Notwendigkeit zum Populismus ergibt sich nicht aus Niveaulosigkeit, sondern aus Zeitmangel. Wichtige Punkte eingängig präsentieren zu können, gilt als hohe Kunst. Sollte es dabei zu einer unzureichenden Verkürzung kommen, so liegt es an den anderen Beteiligten, genau darauf hinzuweisen. Da Unternehmen nur allzu oft keine konkurrierenden Perspektiven zulassen, kommt es immer wieder vor, dass dem Vorstand wichtige Informationen vorenthalten werden. Genau hier liegt der Vorteil der Demokratie, denn sie sollte alle Perspektiven zu Wort kommen lassen. Nicht der Populismus stellt deshalb für die Demokratie ein Problem dar, sondern der Elitarismus. Umso länger die Repräsentanten jenen Misstrauen entgegenbringen, die sie repräsentieren sollen, desto eher werden die Missachteten sich anderswohin wenden, und wenn sie keine andere Möglichkeit finden, sich Geltung zu verschaffen, dann werden sie auch vor autokratischen Kräften nicht zurückschrecken, sofern sie sich davon eher die Berücksichtigung ihrer Interessen versprechen. Bei all denjenigen, die ihre demokratischen Hoffnungen lungen stets übertrieben war: klare Entscheidungen waren und sind möglich und zumutbar, sofern es die Sache erfordert und sie die Unterstützung der Bevölkerung finden. 117 <?page no="118"?> von der repräsentativen Republik oder von der EU enttäuscht sehen, hilft es dann auch nicht mehr, davor zu warnen, Autokraten würden die Demokratie zerstören. Wem diese bereits als tot erscheint, sucht nach anderen Wegen, seiner Stimme Gehör zu verschaffen. Die einzige Möglichkeit, die Demokratie zu retten, besteht deshalb darin, sie überhaupt erst zuzulassen. Je weniger die Eliten dem eigenen Volk trauen, desto mehr geht auch umgekehrt das Vertrauen in die Eliten verloren und desto wahrscheinlicher wird ein Sieg der Autokraten. An überlegene Einsicht und unvoreingenommene Lagebeurteilung der Politiker, was allein die republikanische Demokratiebeschneidung rechtfertigen würde, glaubt ohnehin kaum noch jemand von denen, die sich eigentlich repräsentiert fühlen sollten. Denn auch Politiker verfügen oft genug nicht über ausreichende Sachkenntnis und können das angesichts der Vielzahl an Themen auch gar nicht, sondern sind ebenfalls auf die Einlassungen von Experten angewiesen, weil sie »überfordert« 143 sind. Eine Situation, die kapitalkräftige Lobbyisten zu nutzen wissen, wie der ehemalige Bundestagsabgeordnete Marco Bülow feststellt: Die Über utung von uns Abgeordneten mit Unternehmensargumenten und Lobbyinteressen ist immens. Keiner bleibt davon unbeeindruckt. Diese Interessen stellen allerdings nur einen Ausschnitt der Realität dar, gleichzeitig bleiben die Sorgen und Nöte von Menschen, die keine Lobby besitzen, auf der Strecke. 144 Umso mehr die Etablierten ihre Position verteidigen, desto stärker befördern sie die Abgrenzung zur Bevölkerung. Erliegen sie dabei der verführerischen Selbstgerechtigkeit, werden sie alle Probleme ausblenden, die mit ihrer eigenen Rolle zu tun haben. Wahre Demokratie jedoch 143 Adamek und Otto, Der gekaufte Staat , S. 121. 144 Bülow, Wir Abnicker , S. 164. 118 <?page no="119"?> macht Privilegien zustimmungsp ichtig. Wer diese aufgrund seiner vermeintlichen Vorzüge schlicht als verdient ansieht, p egt demgegenüber eine aristokratische Denkweise. Insbesondere Politiker müssten die ihnen verliehene Stellung hinterfragen, mit der allerdings ist ein Statusgewinn verbunden, der ihnen genau daran jedes Interesse raubt. Dabei kommt ihnen das Beharrungsvermögen republikanischer Institutionen entgegen, das demokratische Mehrheiten teilweise jahrelang ignoriert, ohne autoritären Neigungen tatsächlich widerstehen zu können. Republiken sind nicht zuletzt dazu gescha en worden, den Ein uss des Pöbels klein zu halten, mithin volksnahe Demokratie zu verhindern. Selbst wenn die Mehrheiten zu bestimmten Themen im Volk deutlich sind, werden Entscheidungen dazu bei typisch republikanischen Verhandlungsmarathons teilweise bis zur Unkenntlichkeit verwässert und ein ussreiche Betro ene mit Steuergeldern versorgt. Es resultiert eine Demokratie, die den vermeintlichen Souverän stets mit dem Gefühl zurücklässt, einziger Verlierer zu sein. 2.7 Demokratie nur, wenn's Ergebnis passt? Wer glaubt, die Wähler würden davor zurückschrecken, Populisten ihre Stimme zu geben, wenn sie sich nicht durch die Institutionen der Europäischen Union geschützt wähnten, dem sollte ein Blick über deren Grenzen hinweg genügen, um sich davon zu überzeugen, dass auch anderswo Wähler weitreichende Entscheidungskompetenzen an offensichtlich illiberal gestimmte Politiker übertragen. Niemand schützt Russen, Türken, US- Amerikaner, Brasilianer, Philippiner usw. vor den autokratischen Bestrebungen der von ihnen gewählten Regierenden. Entsprechend haben alle genü- 119 <?page no="120"?> gend Anschauungsbeispiele vor Augen, wohin es führt, sich dem Illiberalismus hinzugeben. Die Wähler wissen also, worauf sie sich einlassen, und stimmen dennoch bzw. offenbar genau deshalb dafür. Wie kommt es dazu? Es liegt zunächst nahe, Bürger für ihr Wahlverhalten verantwortlich zu machen, immerhin haben sie mit ihren Stimmen den autoritären Populismus stark gemacht und vergehen sich damit an der liberalen Demokratie, wie das stellvertretend wiederum Ivan Krastev in aller Deutlichkeit ausführt: Der eigentliche Reiz der liberalen Demokratie liegt darin, dass sie nicht nur das Privateigentum und das Recht der politischen Mehrheit, die Regierung zu stellen, sondern auch das Recht der Minderheiten schützt und sicherstellt, dass die Wahlverlierer bei den nächsten Wahlen erneut antreten können und nicht ins Exil oder in den Untergrund gehen müssen, während die Sieger ihren Besitz kon szieren. Die selten bemerkte Kehrseite für die Wahlgewinner liegt darin, dass die liberale Demokratie keine Chancen auf einen vollständigen oder endgültigen Sieg bietet. [...] Der Reiz populistischer Parteien liegt im Versprechen eines unzweideutigen Sieges. Das gefällt denen, die in der von Liberalen so hochgeschätzten Gewaltenteilung kein Mittel, die Machthabenden zur Verantwortung zu ziehen, sondern ein Alibi für Eliten erblicken, ihre Wahlversprechen zu brechen. Deshalb versuchen an die Macht gelangte Populisten stets, das System der checks and balances abzubauen und unabhängige Institutionen wie Gerichte, Zentralbanken, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen unter ihre Kontrolle zu bringen. Populistische und radikale Parteien sind nicht einfach Parteien; sie sind Verfassungsbewegungen. Sie versprechen den Wählern etwas, das in der liberalen Demokratie ausgeschlossen ist: das Gefühl eines Siegs, der es den Mehr- 120 <?page no="121"?> heiten und nicht nur politischen, sondern auch ethnischen und religiösen Mehrheiten erlaubt, nun zu tun, was ihnen gefällt. 145 Krastev bringt damit eine verbreitete Haltung unverstellt zum Ausdruck, ohne sich darum zu kümmern, ob diese nicht mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Zuallererst wäre da der zeitliche Aspekt zu nennen: Warum erfolgt die Hinwendung zum Illiberalismus ausgerechnet jetzt? Immerhin verhindern liberale Demokratien schon seit jeher »einen vollständigen oder endgültigen Sieg«. Die Verlockungen des autoritären Populismus hätten demnach schon sehr lange ihre Wirkung tun müssen, hat es doch an machtgierigen Politikern nie gefehlt. Auch kann man schwerlich behaupten, die Populisten zeichneten sich plötzlich in vielen Ländern gleichzeitig durch eine rhetorische Begabung aus, die vorher jahrzehntelang niemand erreichte. Vielmehr scheint heute selbst in Staaten mit langer republikanischer Tradition noch nicht einmal offensichtlich wirre Artikulation eine populistische Karriere zu verhindern, so lange das Auftreten nur entschlossen genug ausfällt. Mit auffallender Parallelität gewinnt vielerorts Skepsis gegenüber republikanischem Liberalismus an Boden, nachdem zumindest im Westen politische Systeme seit Jahrzehnten, teilweise Jahrhunderten beinahe unverändert Bestand hatten, ohne dass »Verfassungsbewegungen« größere Bevölkerungsteile mobilisieren konnten. Dass autoritärer Populismus verfangen kann, ist allerdings auch nicht völlig neu, wie gerade die deutsche Geschichte zeigt. Anscheinend wirkt liberale Demokratie nicht immer gleichermaßen attraktiv. Nicht immer steht den Wählern der Sinn danach, die politischen Regeln zu ändern. Nicht immer herrscht Unzufriedenheit in einem Ausmaß, durch das Aufbegehren geweckt würde. So lange die Menschen einigermaßen zufrieden sind, verspüren sie offenbar nicht genug Veranlassung, um sich gegen etwas zu wenden. Richtet sich Unmut gegen konkrete Resultate der Politik, sollte es eine Demokratie den Unzufriedenen ohnehin ermöglichen, die Mehrheit von ihrer Auffassung zu überzeugen. Denn nicht nur die liberale (wie Krastev meint), sondern jede Demokratie lässt keinen letztgültigen Sieg zu, ohne dass man sie 145 Krastev, Europadämmerung , S. 88 f. 121 <?page no="122"?> zugleich aufgibt. Jederzeit können sich die Mehrheits- und damit die Kräfteverhältnisse verändern. Darin besteht ihr wesentlicher Mechanismus, nicht mehrheitlich Unzufriedenheit aufkommen zu lassen. Damit das möglich ist, müssen alle Bürger über gleiche Rechte und Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen verfügen. So lange faire Wahlen stattfinden, niemand ausgeschlossen oder bedroht wird, kann von der Demokratie keine Ausschaltung des Gegners ausgehen, vielmehr zielt sie grundsätzlich auf Wettstreit ohne Unterwerfung. Sie bietet die Möglichkeit, Unzufriedenheit in konstruktive, mehrheitsfähige Vorschläge zu verwandeln. Vor einem Ausschluss schützen allerdings auch liberale Institutionen nicht unbedingt, lassen diese doch exkludierende Regelungen des Wahlrechts ohne Weiteres zu: So waren 2016 in den USA 6,1 Millionen verurteilte Straftäter von den Wahlen ausgeschlossen, was 2,5 Prozent der Wahlberechtigten entspricht. Davon 2,6 Millionen hatten ihre Strafe bereits verbüßt, werden in einigen Bundesstaaten aber dennoch ausgeschlossen, obwohl es sich teilweise um geringfügige Delikte wie Ladendiebstahl handelt. Einseitige Kriminalisierung und härteres Vorgehen gegenüber Schwarzen führt dazu, dass diese Bevölkerungsgruppe überproportional betroffen ist, was teilweise politisch bewusst eingesetzt wird. Im Durchschnitt jedeR 13. Schwarze darf keine Stimme abgeben in Florida sind es 21 Prozent, in Kentucky sogar 26 Prozent der schwarzen Bevölkerung. 146 Liberale Institutionen garantieren keinen Schutz demokratischer Grundlagen, statt dessen verleiten sie auf ihre Weise dazu, eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse mit institutionellen Mitteln zu unterlaufen, worunter etwa auch die für die eigene Partei vorteilhafte Anpassung von Wahlkreisen fällt - »gerrymandering« 147 genannt. Die Gefahr geht hier nicht von uneingeschränkter Demokratie aus, wie die Verteidiger liberaler Institutionen nahelegen, sondern umgekehrt von ihrer Einschränkung. 146 Pickert, Qual der Wahl . 147 Lütjen, Die Politik der Echokammer , S. 90. 122 <?page no="123"?> Auf demokratischem Weg kann es jedenfalls keinen letztgültigen Sieg geben, da selbst, wenn mehrheitlich der Ausschluss oder die Unterdrückung von Minderheiten beschlossen würde, das bereits dem demokratischen Grundprinzip der Stimmgleichheit widerspräche, auf das jede Mehrheitsentscheidung sich beruft, sodass sie mit deren Aufhebung zugleich ihrer eigenen Voraussetzung verlustig ginge. Ein Ende der Gleichberechtigung bedeutet immer auch das Ende der Demokratie. Erst die Entkopplung von demokratischer Zustimmung durch zwischengeschaltete staatliche Institutionen lässt endgültige Siege zu. Nur indem man verhindert, dass ein Wechsel der demokratischen Mehrheitsverhältnisse politisch durchschlägt, kann man einem einmaligen Sieg Dauer verschaffen. Liberale Institutionen sind wesentlich darauf ausgelegt, die vermeintlich wechselhaften und impulsiven Regungen des Volks aus der Politik heraus zu halten. Langjährige Wahlzyklen, Gewaltenteilung und Verfassungen sollen den Volkswillen zähmen. Damit schützen sie aber nicht nur liberale und besonnene Politiker vor dem rasenden Mob, sondern ebenso illiberale und machtgierige Politiker vor dem einsichtigen Volk. Einrichtungen, die Entscheidungen ohne direkte Befürwortung durch die Bevölkerung treffen können, schaffen jedenfalls die Möglichkeit, sich von Mehrheitsverhältnissen und ihrer möglichen Verschiebung zu lösen. Gerade weil sie sich unmittelbarer demokratischer Zustimmung - und sei es nur temporär - entziehen, können Regierungen, Parlamente, Verwaltungen, Kommissionen und auch Gerichte Beschlüsse fassen, mit denen sich Demokratie einschränken lässt. Darüber hinaus erlauben selbst liberale Verfassungen und Gesetzgebungen den Ausschluss bestimmter Personengruppen von Wahlen, ganz zu schweigen davon, dass sich mit republikanischen Mitteln Verfassungsänderungen und Wahlbestimmungen herbeiführen lassen, die eine demokratische Abwahl von Regierungen verhindern. Sobald Institutionen Entscheidungen treffen können, die eine Bevölkerungsmehrheit nicht jederzeit wieder aufzuheben vermag, lässt sich einmalige Kontrolle darüber Stück für Stück in einen endgültigen Sieg verwandeln. Unabhängige Machtapparate - seien sie formal liberal oder nicht - sind der Traum eines jeden Autokraten, unaufhebbare Demokratie sein Albtraum, wie man in jedem autokratisch regierten Land beobachten kann. 123 <?page no="124"?> Nicht jeglicher Populismus oder gar jede Skepsis gegenüber einer bestehenden Verfassung ist mit einem Verlangen nach dem »endgültigen Sieg« gleichzusetzen, wenn doch auch Zweifel an demokratischer Fairness zu Grunde liegen können. Immerhin kann es selbst an einer liberalen Demokratie - der (Selbst-)Bezeichnung zum Trotz - demokratisch motivierte Systemzweifel ebenso geben wie un demokratisch motivierte. In beiden Fällen richtet sich der Unmut gegen die bestehende Verfassung insgesamt. Er zielt nicht einfach auf bestimmte politische Entscheidungen, also darauf was beschlossen wurde, sondern generell darauf wie dies zu Stande kam. Wer nicht nur einzelne Beschlüsse für falsch hält, sondern den Eindruck gewonnen hat, dass unter den gegebenen Umständen, Politik überhaupt richtige Resultate zeitigen kann, zweifelt am politischen System. Das Vertrauen in dessen bestehende Verfassung ist dahin, wofür es dem entsprechend hauptsächlich zwei Gründe geben kann: zu wenig oder zu viel Demokratie. Entweder man beklagt einen Mangel daran oder man misstraut ihr grundsätzlich. Letzteres, also das Misstrauen gegenüber der Demokratie regt sich nun ausgerechnet bei denjenigen, die ihre liberale Variante zu verteidigen sich anschicken und nicht selten auch sich selbst als liberal ansehen. Unter ihnen wachsen Vorbehalte gegenüber demokratischen Prozessen, vor allem wenn diese nicht jene Ergebnisse zeitigen, die ihnen rational erschienen. Sobald die Demokratie sich gegen liberale Standpunkte richtet, schwindet auf Seiten der Liberalen der Rückhalt. Das zeigte sich bei der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ebenso wie bei Wahlen mit unerwünschtem Ausgang (etwa in Osteuropa), aber auch bei Abstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union oder verschiedenen anderen Volksabstimmungen. All diese Ergebnisse werden von Liberalen oftmals nicht als Kritik an den bestehenden Strukturen verstanden, die in ihrem Dickicht von vermeintlichen Sachzwängen und »undemokratischen Institutionen«, 148 wie sie der bekennende Liberale Fareed Zakaria selbst nennt, demokratische Mitbestimmung zur Randnotiz verkommen lassen. Sie werden auch nicht als Re- 148 Zakaria, Das Ende der Freiheit , S. 24. 124 <?page no="125"?> aktion auf politische Entwicklungen aufgefasst, die sich als ebenso mangelhaft demokratisch legitimiert wie lebensweltlich folgenreich erwiesen haben. Man denke nur an konzernfreundliche Liberalisierungen (insbesondere des Finanzsektors) oder befremdliche EU-Verordnungen. Entsprechend ging es beim Brexit nicht allein um die Frage, wie sie im Wortlaut zur Abstimmung vorgelegt wurde, sondern die Wähler hatten all ihre Erfahrungen mit undurchsichtigen Entscheidungsprozessen der Vergangenheit im Kopf und nun die einmalige Gelegenheit, endlich selbst darüber abzustimmen, ob sie ihre Abhängigkeit von einer Monster-Institution lösen wollen, die es, gemessen am Umfang ihrer Mitbestimmungsmöglichkeiten, nicht verdient, demokratisch genannt zu werden. Das mag trotzig wirken, aber warum sollten Wähler für eine Fortsetzung von etwas stimmen, mit dessen Resultaten sie nicht zufrieden sind, wenn sie genau eine Chance zum Abbruch bekommen, derweil die EU mehr Partizipation nicht in Aussicht stellt. In dieser Stimmungslage greift der autoritäre Populismus den liberalen Dünkel dankbar auf und positioniert sich als Verfechter des Volkes, der diesem gegenüber all den undemokratischen Institutionen endlich wieder eine Stimme verleiht. Umso mehr Liberale an der Zurechnungsfähigkeit der Bevölkerung zweifeln, desto leichter fällt es Populisten, sich als deren Vertreter auszugeben. Haben letztere dann die Macht erlangt, offenbart sich ein mindestens ebenso instrumentales Verhältnis zur Demokratie wie bei Liberalen: Man bedient sich ihrer, so lang sie einem nutzt. Sobald sie aber eigenen Zielen im Weg steht, hebelt man sie aus. Nicht selten macht man dazu von eben jenen Institutionen Gebrauch, mit denen schon der Liberalismus Demokratie beschnitt. Deren vermeintliche Unabhängigkeit , die sie vor allem gegenüber demokratischer Zustimmung beanspruchen, während das in diesem Maße gegenüber anderen Interessen oftmals nicht gelingt, greifen populistische Autokraten auf, um sich ebenfalls demokratischen Ansprüchen zu entwinden. Dass der Liberalismus dieser Form Unabhängigkeit hohe Legitimität beimisst, spielt ihnen dabei in die Hände, um ihrem Vorgehen pro forma einen korrekten Anschein zu verleihen. Die selben Mechanismen, mit denen also liberale Republiken seit jeher ihr Misstrauen gegenüber der Demokratie zum Ausdruck bringen, setzen Populisten heute ein, um jene demokratischen Geister loszuwerden, die sie 125 <?page no="126"?> riefen, als es sie noch nach der Gunst der Wähler verlangte. Um ihrer Macht willen hegen Populisten wie Liberale Vorbehalte gegenüber der Demokratie. So widersprüchlich es auch klingen mag: die einen im Namen des Volkes , die anderen in jenem der Freiheit . Wer demgegenüber davon ausgeht, beidem könne man nur mittels Demokratie gerecht werden, findet davon in ihrer liberalen Variante ebenso wie in ihrer autoritären zu wenig vor. Jenes Demokratiedefizit, das Republiken durch ihren institutionellen Aufbau generell aufweisen und das durch die EU nochmal deutlich zugenommen hat, rächt sich in der Form, dass die Bürger nicht mehr nur gegen bestimmte politische Entscheidungen aufbegehren, sondern gegen das System , das sie von diesen Entscheidungen fern hält. Autoritäre Populisten nehmen darüber hinaus im Namen des Volkes Manipulationen vor, durch die sie dessen vermeintliche Zustimmung erst imaginieren; und selbst wenn diese vorübergehend tatsächlich bestünde, vergehen sie sich sogleich wieder an der Demokratie, indem sie ihre Macht zu zementieren und gegen jeglichen Stimmungswandel mit skrupellosen Methoden zu verteidigen suchen. Liberalen und Illiberalen gegenüber stehen also jene, denen Republikanismus jedweder Couleur - liberal, sozialistisch, meritokratisch, autoritär - zu wenig Demokratie bietet. Ihnen bietet sich die liberale Demokratie ebenso in erster Linie liberal und nur in zweiter demokratisch dar wie sich der autoritäre Populismus primär als autoritär und allenfalls sekundär als populär erweist. Genauso verhält es sich mit anderen Formen republikanisch beschränkter Demokratie: Die ideologischen Attribute triumphieren über den wesentlichen Kern, der allein Legitimität verleiht. Wer sich nun gegen das politische System, die republikanischen Institutionen oder gar die Verfassung richtet, tut das im Glauben, dass die gegebenen Umstände eine Politik verhindern, die er oder sie für notwendig hält. Auch wer das politische Establishment ablehnt, hegt im Grunde Zweifel am politischen System, verschafft dieses doch seiner Ansicht nach den falschen Personen Macht. Ja, letztlich birgt jeder Unmut über mächtige Politiker und Parteien Verfassungsentfremdung, steckt hinter ihm doch eine tiefe Skepsis gegenüber dem Auswahlprozess des politischen Personals, wie ihn die bestehende politische Ordnung vorgibt. 126 <?page no="127"?> Unzufriedenheit mit konkreten Entscheidungen entspricht einer demokratischen Normalität, in der sich letztlich die Mehrheit durchsetzt, Unzufriedenheit mit politischem Personal jedoch nicht. Repräsentanten, denen nicht vertraut wird, sind keine. Sie können nur dann für sich demokratische Legitimität beanspruchen, wenn sie zumindest überdurchschnittlichen Respekt genießen, wenn ihnen ihre Stellung mehrheitlich zugebilligt wird. Wann immer das nicht der Fall ist, verhindern Auswahlprozess und Partizipationsmöglichkeiten das demokratisch notwendige Einverständnis. Davor schützen auch Wahlen in ihrer bestehenden Form nicht, richtet gegen diese sich doch gerade der Verdacht struktureller Schieflage, wenn sie Politikern zur Macht verhelfen, die kein Vertrauen genießen. Selbst gewählte Mehrheiten verlieren ihre Autorität, sobald bei den Wählern der Eindruck überwiegt, dass es sich dabei nicht um Wunschkandidaten, sondern ums geringste Übel handelt angesichts dessen, was zur Wahl stand. Auch wenn liberale Demokratien an sozialistischen Einparteiensystemen zu Recht mangelnde Wahlfreiheit beanstanden, schützt sie das nicht vor dem gleichen Vorwurf. Nicht wenigen gelten sie ebenfalls als zu restriktiv, um Politik im Sinne der Bürger herbeizuführen. Nichtsdestotrotz bleibt einmütige Zustimmung unerreichbar und Politiker werden immer politische Gegner haben. Das bringt demokratischer Pluralismus unweigerlich mit sich. Wenn der Berufsstand jedoch insgesamt einen schlechten Ruf genießt, ist das bedenklich. Ein Umstand, der Politikern nicht persönlich anzulasten ist, so lange Strukturen zweifelhaftes Verhalten begünstigen oder gar prämieren, ohne dass darauf demokratisch eine unmittelbare Reaktion möglich wäre. Nimmt man die verbreitete Politik(er)verdrossenheit ernst, hegen große Teile der Bevölkerung grundsätzliche Zweifel am politischen System und ihren Repräsentanten, ohne dass sie eine friedliche Möglichkeit sähen, auf eine Demokratisierung hinzuwirken. Zugleich aber widersprechen basisdemokratische Überzeugungen jedem gewaltsamen Vorgehen. Demokratie kommt dann gegenüber weniger zimperlichen Politikauffassungen auch deshalb zu kurz, weil ihre Verfechter sie nur mit demokratischen Mitteln verfechten wollen. Tritt man dennoch wacker für sie ein, dauert es oft nicht lange bis man sich seiner Chancenlosigkeit gegenüber den Beharrungskräf- 127 <?page no="128"?> ten republikanischer Institutionen gewahr wird. Daraus mag sich dann jene Resignation ergeben, die man nicht wenigen aufrichtigen Demokraten anzumerken meint. Viele fügen sich daher von vornherein brav in ein republikanisches System, von dem sie nicht nur sich, sondern ihresgleichen generell schlecht vertreten fühlen, dessen vermeintliche Alternativlosigkeit sie aber hinnehmen: lieber ein wenig Demokratie als gar keine! Unzufriedenheit mit der liberalen Demokratie in ihrer derzeitigen Ausformung stellt Bürger somit vor eine merkwürdige Wahl: Entweder man lenkt ein oder man zeigt sich zu Methoden bereit, die mit demokratischen Ansprüchen unvereinbar sind. All jene, die sich mit der Reformunwilligkeit liberalen Republikanismus nicht abfinden können, zwingt dieser mit all seiner institutionellen Absicherung dazu, jeglichem demokratischen Gedankengut ab-, um sich auf blindwütigen politischen Realismus einzuschwören. Wen die Selbstblockade liberaler Demokratie mit Hoffnungslosigkeit erfüllt, den treibt sie in die Arme des Machiavellismus. So lange Institutionen sich nur denen fügen, die sich ihrer bedienen, nicht aber einer Beschneidung, widerstehen sie jeder Demokratisierung. Ihre Fortentwicklung kennt dann nur eine Richtung: Machtsicherung und -erweiterung. Institutionen haben den Realismus schon allein deshalb verinnerlicht, weil all ihre Angehörigen davon profitieren. Politik wird in einem solchen Umfeld nur noch betrieben, um sie den eigenen Interessen dienstbar zu machen. In ihrer Panik klammern sich Republikaner - gemeint sind alle Anhänger eines republikanischen Staatsaufbaus und nicht (nur) diejenigen einer USamerikanischen Partei - nun an unabhängige Institutionen, die allein ihnen Freiheit auch der Minderheiten zu garantieren scheinen, womit zwar andere gemeint waren, sie sich selbst aber zunehmend in dieser Rolle wähnen. Das zeigt sich sogar bei Yascha Mounk , obwohl er selbst doch darauf hinweist, wie republikanische Institutionen Demokratie verhindern: Der E ekt des Populismus ist besorgniserregend denn auf lange Sicht kann die Demokratie ohne unabhängige Institutionen nicht überleben: Haben die Populisten erst einmal alle Hürden, die einem vollen Ausdruck des Volkswillens im Wege stehen, zur Seite gescha t, hindert sie 128 <?page no="129"?> nichts mehr daran, die Ansichten der Mehrheit zu übergehen, wenn sie ihren eigenen Interessen zuwiderlaufen. 149 Stets jedoch haben sich auch scheindemokratische Regime aller Art bemüht vermeintlich unabhängige Institutionen einzurichten, um ihrer autoritären Herrschaft Legitimität zu verschaffen. Das galt und gilt für kommunistische Regierungen ebenso wie für Diktaturen oder Autokratien. Sie alle nutzen die legitimierende Wirkung institutioneller Arrangements. Dabei zeigt sich immer wieder, dass es in einer politischen Welt keine wirklich unabhängigen Institutionen gibt. Die Europäische Zentralbank hat ihre Neutralität, sofern sie jemals bestanden haben sollte, angesichts der Wirtschaftskrise nach 2008 ebenso aufgegeben, wie Verfassungsgerichte, Menschenrechtsgerichtshöfe oder Schiedsgerichte der Welthandelsorganisation stets nur jenen neutral erscheinen, die politisch auf deren Seite stehen. Für alle Institutionen aber gilt, dass sie für sich Entscheidungsprivilegien herausnehmen, die sie im selben Umfang der demokratischen Entscheidungsfindung entziehen. Antoine Vauchez sieht in der EU mit den Befugnissen von Gerichtshof, Kommission und EZB eine »Expertokratie« 150 erwachsen, in der »die satzungsmäßige Unabhängigkeit, die wirkliche Basis der europäischen Form politischer Legitimität« darstellt: Allein die staatenunabhängigen Institutionen super partes gelten als kompetent genug, um die zahlreichen Europa anvertrauten Initiativ-, Kontroll- und Sanktionsbefugnisse in unparteiischer Weise wahrzunehmen. 151 Das Missfallen der Menschen richtet sich entsprechend mitunter auch gegen jene Institutionen, die den demokratischen Wünschen nach Veränderung im Wege stehen. Populistische Parteien machen sich das zu Nutze, nicht aber um der Demokratie zur Durchsetzung zu verhelfen, sondern um die eigene Macht durch institutionelle Vorkehrungen zu sichern, sobald sie einmal 149 Mounk, Der Zerfall der Demokratie , S. 59. 150 Vauchez, Europa demokratisieren , S. 79. 151 Ebd., S. 64 f. 129 <?page no="130"?> erlangt wurde. Nicht vom Verlangen nach einem Umbau der Institutionen geht Gefahr für die Demokratie aus, sondern von allen, die Institutionen nur dazu nutzen, sich privilegierte Machtmittel zu sichern - und das gilt ebenso für republikanische oder solche der EU. Umso weniger die liberale Demokratie eine Demokratisierung mit demokratischen Mitteln zulässt, desto mehr befeuert sie den Einsatz un demokratischer Mittel. Wenig verwunderlich gewinnt destruktiver Populismus dort an Stärke, wo die Antwort auf folgende Frage besonders schwer fällt, also etwa in präsidialen Regierungssystemen: Welcher Partei gibt man seine Stimme, wenn man mehr Demokratie fordert? Innerhalb einer Republik gibt es kein Wahlverhalten, das nicht Parteien und Institutionen in ihrer Macht bestätigen würde. Die Protagonisten mögen austauschbar sein, ihre Rollen und Positionen bleiben gleich. Die Republik kennt keine legitime Gegenmacht, sondern drängt diese ausnahmslos in die Illegalität und bekämpft sie mit ihren Institutionen. Dass sie dabei auf so genannten Linksradikalismus empfindlicher reagieren, mag schon daran liegen, dass sie von diesem in der Regel stärker in Frage gestellt werden, wogegen der so genannte Rechtsradikalismus deren Macht häufig ausbauen will, weil sein Autoritarismus dessen bedarf. Vertreter republikanischer Institutionen fürchten Anarchisten schon deshalb mehr als Faschisten, weil erstere sie ersetzen wollen, wogegen bei letzteren Unterordnung genügt. Wer nun behauptet, dass es vielen Wählern darum ginge, einen endgültigen Sieg an sich zu reißen und politische Gegner aus dem Weg zu räumen, unterstellt eine machtgierige Gesinnung, wie man sie Tyrannen nachsagt. Das mag auf manche zutreffen, viele andere werden sich dessen zu Unrecht bezichtigt und in ihrem Eindruck bestätigt fühlen, dass die Elite ein schlechtes Bild von gewöhnlichen Menschen pflegt. Das jedoch mag nicht so recht zu einem aufgeklärten Zeitalter passen, in dem die liberale Forderung nach Mündigkeit jede Bereitschaft getilgt hat, sich bevormunden zu lassen. Warum sollte da elitären Zirkeln Achtung geschenkt werden, deren Vertreter, indem sie diese nicht zu erwidern geneigt scheinen, jedes Bemühen um Einvernehmen mit der Bevölkerung vermissen lassen. Das republikanische Prinzip der Repräsentation hat spätestens dann jegliches Vertrauen verspielt, wenn der Eindruck entsteht, dass nicht die Bevölkerung gegenüber mächtigen Interessen 130 <?page no="131"?> vertreten, sondern umgekehrt Interessen der Mächtigen gegenüber der Bevölkerung verteidigt werden. Kein Wort findet sich bei Krastev und anderen, die der Bevölkerung misstrauen, hingegen davon, dass in der EU demokratische Partizipation nunmehr über Jahrzehnte hinweg verschleppt wird. Kein Wort davon, dass ebenso lang hochrangige Repräsentanten davon sprachen, bestimmte politische Entscheidungen seien alternativlos, während zeitgleich Unternehmen gewaltige Summen für Lobbying aufbrachten, um genau diese vermeintlich unausweichlichen ›Entscheidungen‹ (die diese Bezeichnung dann eigentlich gar nicht mehr verdienen) herbeizuführen. Die Heerscharen an Lobbyisten nahmen ausgerechnet in jener Zeit schwindelerregende Größenordnungen an, in der politische Entscheidungen schon seit Jahrzehnten mit dem berüchtigten Motto von Margaret Thatcher begründet wurden: TINA - there is no alternative ! Mittlerweile übertrifft die Zahl der Lobbyisten diejenige der Repräsentanten um ein Vielfaches, sodass Sascha Adamek und Kim Otto schon 2008 schreiben konnten: Die EU-Kommission hat vor fünf Jahren eine Schätzung angestellt und kam auf rund 10 000 Interessenvertreter in der belgischen Hauptstadt. Mittlerweile sollen es rund 15 000 sein. Zum Vergleich: Im EU-Parlament sitzen 785 Abgeordnete. Auf jeden EU-Parlamentarier kommen also fast zwanzig Lobbyisten. 152 Im Jahr 2020 geht man davon aus, dass 25 000 Lobbyisten Brüssel bevölkern. 153 Muss sich der Beobachter da nicht die Frage stellen: Würden Unternehmen tatsächlich so viel Geld aufwenden, wenn Entscheidungen in ihrer Alternativlosigkeit schon feststünden? Kein Wort im Übrigen auch davon, dass einflussreiche Politiker und andere Eliten allzu häufig eben jenes Verhalten an den Tag legen, das Krastev beim Volk so abstößt: Der Versuch, ihren Einfluss unverantwortlich auf Kosten anderer auszudehnen, ja, andere möglichst auszuschließen. Jede Verweigerung 152 Adamek und Otto, Der gekaufte Staat , S. 15 f. 153 LobbyControl, Lobbyismus in der EU . 131 <?page no="132"?> mehr unmittelbare Demokratie zuzulassen, schließt immerhin große Teile der Bevölkerung von weitreichenden Entscheidungen aus. In Summe ergibt sich ein Szenario, das Bürger kaum zu unterscheiden vermögen von jenem, das ihnen für den Fall eines Erfolgs des Populismus prophezeit wird. Der republikanische Liberalismus verdeckt kunstvoll, was in einer Demokratie ausgeschlossen sein sollte: Er erlaubt Minderheiten - nämlich den politischen und wirtschaftlichen Eliten - »zu tun, was ihnen gefällt«. Exakt das also, was Krastev mit diesen Worten populistisch gesinnten Mehrheiten vorwirft, halten nicht wenige heute bereits für gegeben, allerdings vollführt durch eine Minderheit. Michael Hartmann fasst das Ergebnis einer Studie zur Verteilung des tatsächlichen Einflusses innerhalb der liberalen Demokratie so zusammen: Sie zeige anhand von 252 politischen Entscheidungen zwischen 1998 und 2015, dass in all den Fällen, in denen die Meinung des unteren Zehntels der Bevölkerung deutlich von der des oberen Zehntels abwich, sich die des letzteren durchgesetzt hat. 154 Ein Ergebnis, das ohne Populismus nicht denkbar wäre. Wie sonst ließe sich zumindest die passive Hinnahme seitens der Mehrheit erreichen? Ohnehin beruhte politischer Erfolg schon immer auf Populismus, der sich stets gleicher Mittel bediente: Beschaffung vorübergehender Mehrheiten durch Fokussierung auf wenige Themen bei Wahlen und Einflussnahme auf die Medien, um anschließend, wenn die unmittelbare Zustimmung der Wähler nicht mehr erforderlich ist, die Verteilung staatlicher Gelder dann je nach gewünschtem Effekt entweder publikumswirksam öffentlich oder unauffällig interessengetrieben einzusetzen. Als perfide erweist sich dabei die Veräußerung von Staatseigentum unter Wert: Ohne Budgetbedarf lassen sich so günstige Gelegenheiten schaffen, von denen regelmäßig nur Eliten profitieren, einfach weil es sich sonst niemand leisten kann, obwohl die entsprechenden Werte von der Allgemeinheit geschaffen wurden. 154 M. Hartmann, Die Abgehobenen , S. 216. 132 <?page no="133"?> Hier wie anderswo erwächst die Problematik des Populismus daraus, dass er einmalig Unterstützung für Personen generiert, die dann unter Ausschaltung weiterer politischer Partizipation Entscheidungen treffen, für die keine Mehrheiten zu gewinnen wären. Genau davon machen liberale Demokratien exzessiven Gebrauch, wie jedes politische System, das Sachentscheidungen hinter Personenwahlen zurücktreten lässt. Der autoritäre Populismus versucht seine Macht nun allerdings durch eine illiberale Wendung liberaler Institutionen zu festigen; nicht zuletzt weil er um den Niedergang der Überzeugungskraft des gegenwärtigen Liberalismus weiß und mit der alten liberalen Elite nicht mehr die gleichen Interessen teilt. Innerhalb der elitären Minderheit bildet er eine Minderheit, die mit radikalem Einsatz der gleichen Mittel weniger verdruckst die Macht zu erlangen sucht. Er schlägt die liberale Republik mit ihren eigenen Waffen: Machtsicherung mittels undemokratischer Institutionalisierung! Wenn man angesichts dieser autoritären Gefahr den Bürgern suggeriert, es bliebe nur noch die Wahl zwischen blindem Vertrauen in die etablierten Eliten oder irrationaler Hingabe an reüssierende Populisten, dann blendet man aus, dass es weniger verantwortungslose Positionen sind, welche die Wähler verführen, als vielmehr der lang bestrittene Tatbestand, dass es doch Alternativen gibt. Wie eine Offenbarung führen die Populisten vor Augen, dass es gewaltige politische Entscheidungsräume gibt und diese auch dringend benötigt werden, um den anstehenden Herausforderungen zu begegnen. Demgegenüber haftet der repräsentativen Demokratie ein Hang zur Homogenisierung und Nivellierung von Entscheidungen an, dessen die Bürger längst überdrüssig sind. Fordern die Bürger nicht zurecht von einer Demokratie ein, dass sie selbst darüber bestimmen, welche Entscheidungen getroffen werden? Wer nun die vermeintliche Irrationalität der Bevölkerung verantwortlich für die Hinwendung zum Autoritarismus machen zu können glaubt, unterschlägt die frustrierende Erfahrung, die von einem liberalen Republikanismus ausgeht, der einer Herrschaft des Volkes nicht nur fortwährend misstraut, sondern in wegweisenden Entscheidungen die Interessen der Mehrheit ignoriert, selbst wenn diese demoskopisch unübersehbar sind. Bei alldem scheint die undemokratische Arroganz einer Meritokratie durch, die ihre Vorrechte aus der Leistungslogik schöpfen und aufgrund dessen der Be- 133 <?page no="134"?> völkerung das Anrecht auf Mitsprache abstreiten zu können glaubt. Demokratie jedoch erlaubt grundsätzlich jeder und jedem das gleiche Recht auf politische Teilhabe ganz unabhängig von ihrer oder seiner Leistungsfähigkeit. Die Stimme des Faulen, des Dummen und des Genies sind ihr gleich viel wert. Umso mehr die Eliten dies in Abrede stellen, desto mehr entfernen sie sich von der demokratischen Idee und öffnen den Populisten das Feld, weil diese ihr Versprechen, Interessen von Bürgern wahrzunehmen, nicht an Leistung koppeln. Auch wenn Versprechungen nicht eingelöst werden, geht davon dennoch eine völlig andere Botschaft aus als von jener dominanten neoliberalen Doktrin, die den Wert eines Menschen von seiner Leistungsfähigkeit abhängig macht, wobei sie diese rein monetär bemisst, während sie zugleich denjenigen, die in Armut leben, unentwegt vermittelt, diese sei nunmal verdient, gleichgültig was die Ursachen sein mögen. Diejenigen, die sich im marktwirtschaftlichen Wettbewerb nicht durchsetzen konnten, erleben auch oft genug, dass es eben nicht unbedingt die Leistung der anderen war, die den Erfolg brachte, sondern dass Beziehungen, Vermögen, Verschlagenheit oder glückliche Zufälle erst jenen zu ihrer Position verholfen haben, die sich nun auf ihre herausragende Leistungsfähigkeit berufen. Eine Leistungsfähigkeit, die sie in der angemaßten Außerordentlichkeit dann oft genug nicht unter Beweis stellen. Nicht selten genügt schon, eine höhere Position einmal ausgefüllt zu haben, um wieder ein vergleichbare oder noch höhere zu erlangen. Mit welchem Erfolg das geschehen ist, spielt allzu häufig keine Rolle. Das kennt man vom Top-Management ebenso wie aus der Politik. Weithin herrscht der Eindruck vor, dass man in hochdotierten Positionen offensichtlich versagen kann und trotzdem ein neues Angebot bekommt. Doch was für normale Menschen die alltägliche medienvermittelte Erfahrung ist, wird nicht selten schlicht auf Neid reduziert. Die Frage nach dem Verhältnis von Eliten zu Bürgern dürfte denn auch entscheidend für die Zukunft unserer Gesellschaftsordnung sein, weil sich hier zwei grundsätzlich unterschiedliche Positionen gegenüberstehen: eine meritokratische und eine demokratische. Über alle Lager hinweg besteht weitgehende Einigkeit, dass Menschen verschieden sind, und sofern man ihnen die Fähigkeit zu regieren nicht generell abspricht, muss man davon ausgehen, dass zumindest nicht alle gleicher- 134 <?page no="135"?> maßen dazu geeignet sind. Entsprechend müsste es im Interesse aller liegen, wenn die Fähigsten regieren. Für viele liegt es deshalb auf der Hand, dass die Meritokraten, also die Leistungsfähigsten, die Führung übernehmen sollen. Damit kann man sich auf eine lange Tradition berufen: Schon für Platon stand fest, dass es Menschen gibt, die fürs Herrschen geschaffen sind, und andere dafür, beherrscht zu werden. 155 In typischer Manier des Analogieschlusses folgert Platon: Denn es liegt nicht in der Natur, daÿ der Steuermann die Schi sleute bitten solle, sich von ihm regieren zu lassen, noch daÿ die Weisen vor die Türen der Reichen gehen; [...] vielmehr ist das Wahre von der Sache, daÿ, mag nun ein Reicher krank sein oder ein Armer, er vor des Arztes Türe gehen muÿ, und so jeder, der beherrscht zu werden nötig hat, zu dem, der zu herrschen versteht, nicht aber, daÿ dieser die zu Beherrschenden bitte, sich beherrschen zu lassen, wenn er nämlich in Wahrheit etwas taugt. 156 Ideal erschien es dem Philosophen bekanntlich ganz unbescheiden, wenn »Philosophen Könige werden«. 157 Ähnlich selbstverständlich zeigt sich Krastev davon überzeugt, in wessen Händen die EU am besten aufgehoben ist: in jenen der Meritokraten, den »hart arbeitenden und kompetenten Beamten in Brüssel«. 158 Nun werden diese in den meisten Fällen wohl nicht unbedingt als Philosophen durchgehen, aber die Idee dahinter ist die gleiche: Das Regieren sollte man einer erlesenen Elite überlassen. Diese verfüge über höhere Einsicht, die sich dem gemeinen Volk entzieht, weshalb dieses sich zurückhalten möge und wie Schafe brav auf ihre Schäfer vertrauen solle. War schon Platon erklärter Demokratiegegner, so misstraut folgerichtig auch Krastev dem Volk: 155 Vgl. Niedermaier, Wozu Demokratie? , S. 29 ff. 156 489b-c Platon, »Politeia«, S. 393. 157 473c ebd., S. 378. 158 Krastev, Europadämmerung , S. 21. 135 <?page no="136"?> Europa kann keine Union der Volksabstimmungen sein, weil die EU ein Raum für Verhandlungen ist, während Volksabstimmungen das letzte Wort des Volks darstellen und daher weitere Verhandlungen ausschlieÿen. Referenden sind deshalb politische Instrumente, die von europaskeptischen Minderheiten und europapessimistischen Regierungen leicht missbraucht werden können, um die Arbeit der Union zu blockieren. Falls die EU Selbstmord begeht, wird die Wa e dazu höchstwahrscheinlich eine Volksabstimmung oder eine Serie von Volksabstimmungen sein." 159 Hier wird nun auch deutlich, weshalb Krastev die Rolle der eurokratischen Spezialisten politisch so zentral ansiedelt. Für ihn ist Europa, was es immer war: ein »Raum für Verhandlungen« - und genau da liegt das Spezialgebiet von Funktionären. In Verhandlungen geht es nicht um Wahrheit, Fairness, Gleichberechtigung oder Vertretung der Betroffenen, sondern hier wird taktiert, laviert und geschachert bis schließlich nicht selten eine Hand die andere wäscht und jede Seite eine mitunter kleine Klientel bedient, ohne dass dafür demokratischer Rückhalt bestünde. Das ist exakt das Europa, gegen das die Menschen aufbegehren. Wenn der Meritokrat Krastev der Demokratie misstraut, dann weil er an der europäischen Meritokratie festhalten will. Wie ihm geht es zweifellos vielen: Welcher europäische Politiker, Bürokrat, Experte oder Lobbyist könnte gegen das intransparente Verhandlungseuropa sein, wo es ihm doch Status, Einfluss, Einkommen und Privilegien sichert und dazu noch das Gefühl, all dies sei wohlverdient? Wem immer man Macht verleiht, er wird sie nicht freiwillig aufgeben und sie im Zweifelsfall ausbauen. Das gilt auch wenn man wie Krastev Experten oder wie Platon Philosophen zu Königen macht. So stellte es selbst Dion , »von allen Schülern, die Platon gehabt hat, der höchstbegabte und eifrigste,« 160 unter Beweis, der einmal zur Herrschaft gelangt, sich selbst zum Tyrannen aufschwang. 159 Krastev, Europadämmerung , S. 111 f. 160 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 4 , S. 10. 136 <?page no="137"?> Nicht nur wer Diktatoren oder Oligarchen, sondern auch wer Meritokraten oder Philosophen die Regierung überlässt, verabschiedet sich langsam aber sicher von der Demokratie, genau so wie die EU das schon seit langem tut: Man dränge den Einfluss der Bevölkerung zurück und erkläre sie immer mehr für unmündig. Man führe immer komplexere Regelungen ein, auf dass nur noch Eingeweihte sie durchschauen. Man überlasse Experten richtungweisende Entscheidungen, weil andere mit dem selbst geschaffenen Dschungel an Regelungen und Abhängigkeiten nicht vertraut sind. Man betrachte das Vorgehen als alternativlos (was aber freilich nur Experten zu erfassen vermögen), sollte sich Unzufriedenheit regen. Man nenne Bürger uninformiert, wenn sie aufbegehren. Angesichts des ›irrationalen‹ Verhaltens dränge man den gefährlichen Einfluss der Bevölkerung weiter zurück und beginne von vorn. Wer sagt, dass Experten regieren sollten, hat ohnehin allen anderen ihr Recht auf politische Partizipation bereits entzogen. Denn mitreden darf nun nur noch, wer herausragende Sachkenntnis aufzubieten hat, womit auch Repräsentation ausscheidet, weil sie nicht sicherstellen kann, dass Experten gewählt werden. Letztlich stellt eine Meritokratie grundsätzlich jegliche demokratische Legitimation in Abrede, da das Volk nunmal exakt für das Gegenteil von Expertise steht. Demokratie ist nichts anderes als die Herrschaft der Laien. Seit Platons Philosophenherrschaft lässt deshalb jede Aristokratie im wörtlichen Sinne, also die Herrschaft der Besten, konsequenterweise nur eine Form der Rekrutierung zu: jene durch die Aristokraten selbst, weil doch nur sie vertrauenswürdig und informiert genug sind. Zugleich liegt hier jedoch auch die Achillesferse jeder Aristokratie: Kann Selbstrekrutierung tatsächlich sicherstellen, dass die richtigen Experten an die Regierung kommen? Zweifellos sind Stelleninhaber davon überzeugt, am besten zu wissen, welche Qualifikationen für ihre Tätigkeit besonders wichtig sind. Beinahe eben so oft gewinnen jedoch Beobachter den Eindruck, dass sie dabei übersehen, wo ihre Defizite liegen. Mag es an Selbstüberschätzung oder Selbstschutz liegen, Inhaber wichtiger Positionen gelten selten als ausgewogene Quelle für die Beurteilung ihrer Tätigkeit. Weshalb sollten sie es dann für die Besetzung ihrer Nachfolge sein? Die Selbstrekrutierung von Eliten führt keineswegs zwangsläufig dazu, 137 <?page no="138"?> dass die Bestgeeigneten ausgewählt werden. Wer Stellen zu vergeben hat, wird nicht zuletzt darauf achten, sie mit Kandidaten zu besetzen, die seine eigene Position stärken, die also nach Möglichkeit auf der eigenen Linie liegen. Daraus ergibt sich eine Tendenz zur Homogenisierung, die in eine Reproduktion bestehender Machtzirkel mündet, wie sie aus mächtigen Organisationen nur allzu bekannt sind: Der Vatikan legt davon ebenso Zeugnis ab wie Vorstandsetagen - nicht nur hinsichtlich ihrer schier unerschütterlichen Männerdominanz. Für deutsche Eliten stellt Hartmann insgesamt eine stark schichtbezogene Selbstrekrutierung fest: Je gröÿer der Ein uss der Bevölkerung in einem Sektor ist, desto repräsentativer sind auch seine Eliten zusammengesetzt. [...] Die Mitglieder der deutschen Eliten kommen mit einer Mehrheit von fast zwei Dritteln aus bürgerlichen oder groÿbürgerlichen Familien. Die gröÿte Gruppe mit fast 40 Prozent stammt aus dem Bürgertum, ein weiteres knappes Viertel aus dem Groÿbürgertum. Der Nachwuchs der oberen fünf Promille der Gesellschaft ist damit genauso stark repräsentiert wie der aus Mittelschichtfamilien, obwohl diese in der Vätergeneration einen mehr als 70-mal so groÿen Anteil an der Bevölkerung ausmachten. Am schlechtesten vertreten sind Arbeiterkinder. 161 Jede Rekrutierung folgt letztlich immer eigenen Interessen und die können durchaus auch darin liegen, konkurrierende starke Persönlichkeiten fernzuhalten oder generell andere Standpunkte nicht zuzulassen. Kooptation bietet jedenfalls keine idealen Bedingungen für Diversifizierung und für die Berücksichtigung anderer Interessen und damit auch nicht jener der betroffenen Bevölkerung. Die Geschichte der Atomkraft etwa folgt exakt diesem Muster und zeichnet sich durch Ausblendung der Kritiker, Intransparenz und Beförderung eigener Interessen aus. 162 161 M. Hartmann, »Deutsche Eliten«. 162 Vgl. Cooke, Atom . 138 <?page no="139"?> Meritokratie wirkt mithin selbstverstärkend: Umso mehr Einfluss Experten geltend machen, desto stärker können sie Dinge in ihrem Sinne regeln, ohne sich um andere Perspektiven kümmern zu müssen. Vor allem besteht für sie kein Hinderungsgrund, Regelungen und Institutionen zu schaffen, die in ihrer Komplexität hohe Expertise voraussetzen ganz unabhängig davon, ob der Sachverhalt dies erfordert. Umso komplexer ein Sachbereich aber gestaltet wird, desto mehr Spezialkenntnisse benötigen alle damit Befassten, wodurch die Nachfrage nach eben jenen Experten zunimmt, die diese Komplexität erst geschaffen haben. Niemand, der gut im Geschäft ist, kann im Grunde ein Interesse daran haben, dass es einfacher wird, weil damit seine Expertise an Wert verliert und die Zugangsbarrieren für Konkurrenten herab sinken Genau so sehen die Ergebnisse von Verhandlungen durch Experten dann auch aus: Sie weisen eine für den Laien undurchdringliche Komplexität aus, die alle mit Gedeih und Verderb an die Eingeweihten ausliefert. Darauf setzt häufig auch »Inside-Lobbyismus«: 163 Man stellt der Politik Experten zur Verfügung, die den Paragraphen-Dschungel noch undurchdringlicher gestalten, auf dass er ihren eigenen Interessen noch mehr entgegenkommt und kleineren Wettbewerbern weitere Hürden in den Weg stellt. Die Zahl so genannter Leihbeamter, die als bezahlte Angestellte großer Konzerne für Ministerien arbeiten, ist erstaunlich groß: Allein zwischen 2004 und 2006 waren pro Jahr im Schnitt 100 Leihbeamte in den Ministerien insgesamt rund 300. 164 Nicht zufällig spielen Recht und Juristen hier eine zentrale Rolle, denn die Nachfrage nach juristischen Spezialkenntnissen steigt im selben Maße, wie die Komplexität der Gesetzestexte zunimmt. Ursprünglich geschaffen, damit jeder seine Rechte kennt, fühlen sich die meisten längst angesichts der Unübersichtlichkeit der Gesetzeslage verunsichert und bewegen sich nur noch auf vertrautem Terrain, bieten doch unternehmerisch interessante Gebiete 163 Adamek und Otto, Der gekaufte Staat , S. 213. 164 Ebd., S. 213. 139 <?page no="140"?> allzu oft eine Fülle an juristischen Fallstricken, die ohne Rechtsbeistand nicht zu überblicken sind. Rechtssicherheit, wie sie Gesetze eigentlich herstellen sollten, ist in Rechts un sicherheit umgeschlagen, weil die juristische Komplexität längst jeden überfordert, selbst Juristen, sofern sie nicht gerade Spezialisten auf dem Gebiet sind (und sogar deren Auskünfte bleiben oft vage). Das Recht hat damit seine ursprüngliche Funktion verloren, die darin bestand »Erwartungssicherheit« 165 zu ermöglichen. Jenseits vertrauter Gefilde verhält sich die Rechtslandschaft für die allermeisten völlig undurchsichtig. Darüber hinaus kennt Recht anders als das Ingenieurwesen keine Mechanismen, die Komplexität reduzieren könnten. Innovationen und Vereinfachung technischer Verfahren können zur Entwertung so mancher Ingenieursexpertise führen; die Gesetzeslage dagegen lässt sich nicht durch Geniestreiche vereinfachen, sondern nimmt immer weiter zu, wovon die ganze Juristenzunft schlussendlich profitiert. Kein Rechtsexperte kann Interesse an einer Vereinfachung der Rechtslage haben, sichert ihm deren Komplexität doch Status und Einkommen. Demgegenüber transportieren die Populisten keinen meritokratischen Habitus und verweisen nicht ständig darauf, man müsse doch differenzieren. Statt dessen suchen sie den Eindruck zu vermitteln, dass man mit ihrer Wahl es den ganzen aufgeblasenen Parlamentariern, Repräsentanten und Meritokraten zeigen könne. Umso volkstümlicher der Auftritt, desto höher die Identifikation des Volkes selbst mit Autokraten. Denn wenn man schon nicht selbst an Entscheidungen beteiligt wird, hat man so wenigstens der eingebildeten Elite eins ausgewischt. Umgekehrt teilt die neoliberale Elite den Menschen kontinuierlich mit, dass nur mitreden darf, wer sich durch Leistung auszeichnet und behandelt somit eben nicht alle Menschen gleich. Die Popularität der Populisten geht auch darauf zurück, dass sie den Menschen bedingungslose Treue und Wertschätzung entgegenbringen: Die richtige Nationalität genügt. Zweifellos gibt es solch einfältige Menschen, die sich damit zufrieden geben, doch wird deren Zahl in den letzten Jahren nicht plötzlich rapide angeschwollen sein. Vielmehr bewegen wir uns in einem selbstverstärkenden Zirkel: Die Elite 165 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft , S. 152 f. 140 <?page no="141"?> hält das Volk für immer weniger fähig, vernünftige Entscheidungen zu treffen und zeigt ihre Verachtung, woraufhin immer weitere Teile der Bevölkerung sich davon ab- und jenen zuwenden, die ihnen vermeintlich Achtung entgegenbringen, was die Elite wiederum in ihrer Überzeugung bestärkt, dass das Volk unzuverlässig ist. Das alles führt dazu, dass viele in bester elitärer Manier Volksabstimmungen misstrauen. Denn wer sich für besser hält, muss zwangsläufig die Auffassung der anderen abqualifizieren. Man blickt auf die Bürger herab und wendet sich wie Krastev gegen die Demokratie, weil sie längst für das selbst geschaffene Gebilde nur noch einen Störfaktor darstellt. Wie Renzis Referendum eindeutig beweist, sind Volksabstimmungen unzuverlässige Instrumente, wenn dadurch institutionelle Reformen abgesegnet werden sollen. Das holländische Beispiel macht deutlich, wie sie sich einsetzen lassen, um die Union zu paralysieren. Und Orbáns Referendum zeigt, wie eine Volksabstimmung sich für explizit gegen Brüssel gerichtete Ziele benutzen lässt. Alle drei Arten von Volksabstimmungen sind in der Lage, die politische Dynamik der EU zu bestimmen und einen ausgeprägten Europapessimismus zu fördern, der weit über die Europaskepsis der letzten Jahre hinausgeht. 166 Sobald Abstimmungsergebnisse nicht wie gewünscht ausfallen, kann es in dieser Logik nur daran liegen, dass die Wähler zu unzuverlässig, wenn nicht gar zu dumm sind. Dass diese sich aber gegen den elitären Gestus wehren, kommt jemandem, der sich zur Elite zählt, nur selten in den Sinn und wenn doch gilt ihm eben dies als unvernünftig. Davon abgesehen gab es durchaus gute Gründe für die Abstimmungsergebnisse und hätte Krastev sie hören wollen, er hätte sie vernommen. Demokratie ist für Krastev, da unterscheidet er sich nicht von vermeintlich Liberalen, »wenn’s Ergebnis passt«. 167 So eine kritische Anmerkung von Deniz Yücel angesichts der Wahlergebnisse, die nicht nur von Krastev gescholten wurden. Die auch im Liberalismus weit 166 Krastev, Europadämmerung , S. 125. 167 Yücel, Demokratie ist, wenn’s Ergebnis passt . 141 <?page no="142"?> verbreitete Ansicht, dass Demokratie liberalen Prinzipien unterzuordnen sei, vertritt Friedrich von Hayek in aller Offenheit: Die Regierungsform der Demokratie hat sich überall bewährt, wenn und solange die Staatsaufgaben entsprechend einer herrschenden Au assung auf Gebiete begrenzt wurden, auf denen sich im Wege freier Diskussion eine Majorität zusammen nden konnte, und es ist der groÿe Verdienst des Liberalismus, daÿ er die Zahl der Fragen, über die man sich im Staate einigen muÿte, auf solche beschränkte, für die eine solche Übereinstimmung in einer Gesellschaft freier Menschen als wahrscheinlich vorausgesetzt werden konnte. Man kann heute oft hören, daÿ die Demokratie den Kapitalismus nicht länger dulden will. Wenn Kapitalismus hier ein auf Wettbewerb und Privateigentum beruhendes Wirtschaftssystem bedeuten soll, so ist es weit wichtiger, sich darüber klar zu sein, daÿ nur im Rahmen eines solchen Systems die Demokratie möglich ist. Läÿt sie sich dagegen von einer kollektivistischen Ideologie überwältigen, so gräbt sie damit unweigerlich ihr eigenes Grab. 168 Hayek macht den Kapitalismus zur Voraussetzung von Demokratie und spricht dieser umgekehrt das Recht ab, am Kapitalismus zu rühren. Hier tritt das Problem aller Ideologie - nicht nur des Liberalismus - zu Tage, dass sie Demokratie ablehnen muss, sobald diese sich gegen sie selbst wendet: Es ist wichtig, sich klarzumachen, warum ein Parlament zugegebenermaÿen unzulänglich ist, wenn es sich darum handelt, das Wirtschaftsleben einer Nation in allen Einzelheiten zu einer Regierungsangelegenheit zu machen. [...] Man verlangt von ihnen, nicht, daÿ sie in Fällen handeln, in denen sie sich einigen können, sondern daÿ sie eine 168 Hayek, Der Weg zur Knechtschaft , S. 98. 142 <?page no="143"?> Übereinstimmung über schlechthin alles erzielen nämlich über die gesamte Lenkung der volkswirtschaftlichen Produktivkräfte. 169 In seiner Ablehnung alternativer Wirtschaftsformen vergisst Hayek allerdings, dass für jede Konzernlenkung, deren verantworteter Umsatz durchaus das Bruttosozialprodukt manchen Staates übertreffen kann, grundsätzlich das gleiche Problem besteht, nur dass man hier die Zahl der Entscheider künstlich begrenzt. Statt die »gesamte Lenkung der volkswirtschaftlichen Produktivkräfte« beansprucht ein Unternehmensvorstand diejenige der betriebs wirtschaftlichen Produktivkräfte, welche sich in großen Konzernen nicht weniger unübersichtlich gestalten. Bei privatwirtschaftlichen Unternehmen sieht Hayek darin allerdings einen Ausdruck ihrer Freiheit, sich ihre Steuerungsform selbst zu geben. Wenn es sich dagegen um Staaten handelt, dann will er den Bürgern nicht die gleiche Freiheit zugestehen, die Regierungsform ihres Gemeinwesen selbst zu regeln. Demokratie dient ihm entsprechend auch nicht als eigenes Ziel, sondern lediglich als Mittel für liberale Ziele: Die Demokratie ist vielmehr wesentlich ein Mittel und ein von der Nützlichkeit diktiertes Instrument für die Wahrung des inneren Friedens und der individuellen Freiheit. 170 Noch heute gibt Eamonn Butler unumwunden zu, worin eine liberale Haltung besteht: Klassisch Liberale treten dafür ein, den demokratischen politischen Prozess auf Entscheidungen zu beschränken, die nur gemeinsam getro en werden können. Ebenso wollen sie die Rechte und Freiheiten aller Individuen schützen, indem sie Beschränkungen festlegen, wie dieser 169 Ebd., S. 90 f. 170 Ebd., S. 99. 143 <?page no="144"?> Prozess abläuft und wie Entscheidungen getro en werden. 171 Kurzum: Liberale wollen Demokratie nur, insofern sie den eigenen Zielen dient. Das Problem der liberal geprägten EU liegt deshalb darin, dass Abstimmungen sich längst von solchen über Sachfragen zu solchen über das System und die damit verbundenen Machtverhältnisse insgesamt entwickelt haben. Was also, wenn die Bürger das kapitalistische Spiel durchschaut und verstanden haben, dass die Erfolgreichen nicht deshalb auch anderswo gefragt sind, weil sie leistungsfähiger sind, sondern weil sie die Gelegenheit bekommen haben, ihre Eignung und Anpassungsfähigkeit unter Beweis zu stellen? Was, wenn die Bürger weniger Mobilität und Exzellenz der Elite beneiden, sondern sie sich über das Missverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit echauffieren? Was, wenn nicht der Erfolg missgönnt wird, sondern der Eindruck vorherrscht, dass dieser auf Kosten anderer gehe? Die Demokratie ist nicht nur die einzige Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass die Interessen der Betroffenen gewahrt bleiben; sondern stellt auch als einzige eine Auswahl der Elite sicher, die nicht in Homogenität, Vetternwirtschaft oder Selbstzufriedenheit ausartet. Das einzige, was sie erwartet, ist, dass jemand, der sich zur Elite zählen möchte, den Bürgern auch vermitteln kann, warum er das tut und warum das für alle Beteiligen gut wäre. Das sollte von Menschen mit herausragenden Fähigkeiten nicht zu viel verlangt sein. Die Rolle der Demokratie ist es, die Privilegien der Mächtigen aufzuheben, und zugleich das demokratische Privileg der Mehrheit zu erhalten: darüber zu bestimmen, wer Macht ausüben soll. So aber beschwört die elitäre Politik des liberalen Republikanismus einen Realismus herauf, der geradewegs in einen Chauvinismus mündet, sobald er die Massen erfasst, weil diese auf eine realistische Position umschwenken, nachdem ihnen angesichts einem allgegenwärtigem Machiavellismus jeglicher Idealismus vergeblich erscheint. Der Realismus wird zu einer »selbsterfüllenden Prophezeiung«, 172 wenn die Menschen sehen, dass jeder Idealismus ebenso vergeblich ist wie jedes Vertrauen in die Eliten. 171 Butler, Wie wir wurden, was wir sind , S. 84. 172 Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein , S. 59. 144 <?page no="145"?> So lange man die Menschen wie Kinder behandelt und ihnen jede Möglichkeit nimmt, die Politik in ihrem Sinne zu steuern, wird ihr Wahlverhalten sich destruktiv entwickeln, um jenes System zu zerstören, das anders sich nicht mehr ändern lässt. Wenn vernünftige Änderungen nicht mehr möglich sind, verstärkt sich die Bereitschaft, die Blockade mit un vernünftigen Mitteln zu beseitigen - auf Seiten der Eliten ebenso wie jener der Bevölkerung. Wahl- und Abstimmungsergebnisse, die nicht im liberalen Sinne ausfallen, wecken auf Seiten der Liberalen zunehmend Misstrauen gegenüber der Demokratie, dergegenüber sie vermeintlich unabhängige Institutionen deshalb noch weiter zu stärken versuchen. Das gibt Populisten die Chance, sich als wahre Vertreter des Volkes auszugeben, die diesem endlich wieder Stimme und Gewicht verleiht. Letztlich p egen beide, republikanische Liberale wie autoritäre Populisten, ein instrumentales Verhältnis zur Demokratie: Man bedient sich ihrer, so lange sie den eigenen Zielen nutzt. Ansonsten aber macht man gerne Gebrauch von jenen Institutionen, denen Liberale die Legitimation verliehen haben, Demokratie einzuschränken. Wen es angesichts dessen nach mehr Demokratie verlangt, der sieht sich in einer Republik chancenlos einem institutionellen Gefüge gegenüber, dem es gelingt, jedes Wahlverhalten entweder als Bestätigung des bestehenden politischen Systems oder aber als gefährlich subversiv zu deklarieren. Dabei ist Populismus nicht generell problematisch, sondern ebenso alltäglich wie politisch unausweichlich. Gefährlich wird er erst durch eine Vermischung mit einem Autoritarismus, der mittels liberalen Institutionen undemokratischen Machterhalt betreibt. Auch Liberalismus, insbesondere jener der EU, schränkt politische Partizipation in einem Maÿe ein, das nicht wenige den Ein- 145 <?page no="146"?> druck gewinnen lässt, eine elitäre Minderheit regiere, wie es ihr gefällt. Tatsächlich begünstigt Meritokratie einen selbstverstärkenden Machtzirkel, der im Sinne der eigenen Interessen walten kann, ohne andere Perspektiven zuzulassen. Dabei pro tieren Experten überproportional von zunehmender Komplexität, auch wenn sie diese vornehmlich selbst gescha en haben. Indem der Liberalismus an der Demokratie nur so lange festhält, wie sie seinen Zielen dient, o enbart er seinen ideologischen Kern und verhält sich wie der von ihm so geschmähte Sozialismus. <?page no="147"?> 3 Perspektiven der Freiheit 3.1 Freiheit und Vernunft Ohne Freiheit kann es keine Vernunft geben, denn was könnte diese schon ausrichten, wenn alles bereits vorgegeben wäre? Wo Vernunft walten soll, muss es Optionen geben. Nur wenn sie einen Unterschied machen kann, bedarf es ihrer. Um vernünftig sein zu können, müssen wir deshalb zu allererst frei sein. Umgekehrt genießen wir aber nur Freiheit, wenn wir Vernunft gewähren lassen. Nicht allein wer keine Wahl hat, ist unfrei, sondern auch wer die Wahl dem Zufall überlässt. Wer sich einem Würfelergebnis unterwirft, legt sich ebenso auf eine äußere Instanz fest, wie derjenige, der unausweichlichen Notwendigkeiten folgt. Ansonsten würde Freiheit darin bestehen, den Zufall über verschiedene Optionen richten zu lassen, statt eigene Entscheidungen zu treffen. Nur insofern diese sich weder aus Notwendigkeit noch aus Beliebigkeit ergeben, können sie überhaupt als ebenso frei wie vernünftig gelten. Zwei mögliche Hindernisse der Freiheit und damit der Anwendung eigener Vernunft liegen auf der Hand: innere Notwendigkeit und äußere Unausweichlichkeit. Wer sich seinen Trieben hingibt, geht ihrer ebenso verlustig, wie diejenigen, denen ihr Herr unentrinnbare Vorgaben auferlegt oder denen die Lage der Dinge keine Wahl lässt. Zugleich kennt Freiheit nur eine unverzichtbare Grundlage: die Vernunft. Nur sie kann ausschlaggebend sein, will man eine freie Entscheidung treffen. Nur sie gibt sich nicht der Beliebigkeit hin und folgt nicht blind äußeren Einflüssen. Nur sie bildet eine eigenständig urteilende Instanz. Es besteht keine Freiheit, wo Möglichkeiten nicht gegeneinander abgewogen werden, wo Beliebigkeit regiert, vielmehr braucht es einer vernünftigen Entscheidung, um Freiheit wahrnehmen zu können. Erst Vernunft ermöglicht Freiheit, weil sie als ursachelose Ursache wirkt, folgt man Immanuel Kant : 147 <?page no="148"?> Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; so wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Ein uÿ fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu werden. 1 Vernunft bildet allerdings nicht nur eine Voraussetzung der Freiheit, sondern bedarf dieser auch: Wo ihr keine Wahl bleibt, wo sie keine Freiheitsgrade erkennt, findet sie keine Anwendung, sondern muss sich stumpf den Notwendigkeiten fügen. Vernunft setzt Optionen voraus, zwischen denen sie frei wählen kann. Sie verlangt nach einer Freiheit, die ihrer Beurteilung der Lage und Folgen harrt. Indem Vernunft bei bestehender Wahlfreiheit eine Entscheidung nach eigener Einschätzung fällt, nutzt sie Freiheiten, um sich selbst der ihren zu versichern. Zwischen beiden besteht mehr als ein Kausalverhältnis, wie es Kant oben in Anschlag bringt: Freiheit bildet Ursache und Folge der Vernunft gleichermaßen. Vernunft bedarf ebenso der Freiheit wie umgekehrt Freiheit der Vernunft, um jeweils überhaupt erst zur Entfaltung zu kommen. Sie ermöglichen und bedingen einander. Wer nicht frei ist, hat keine Gelegenheit und keinen Bedarf, Vernunft anzuwenden; und wer nicht vernünftig ist, hat keine Gelegenheit und keinen Bedarf, frei zu entscheiden. Vernunftwesen kommen in ihrer Freiheit nicht umhin über ihr Leben selbst zu bestimmen. Was sie tun und was nicht, legen sie selbst fest und müssen dies auch unentwegt. Ihre Entscheidungsfreiheit mag durch äußere Umstände eingeschränkt sein, doch auch wenn Natur oder andere Wesen die Freiräume begrenzen, obliegt es dem Vernünftigen, innerhalb seiner Möglichkeiten Entschlüsse zu fassen. Selbstbestimmung ist das, was Vernunft im Innersten ausmacht, weil ihr Freiheit dazu Veranlassung und Vordringlichkeit gibt. Um selbstbestimmt leben zu können, müssen nicht nur Wahlmöglichkeiten bestehen, sondern zwischen ihnen muss auch eigenständig ausgewählt werden können. 1 BA97 in Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 81. 148 <?page no="149"?> Es geht also um das Verhältnis von Optionen und Entscheidungen. Was wie eine Parallele zum evolutionären Schema von Variation und Selektion anmutet, verhält sich bei genauerer Betrachtung genau entgegengesetzt. Niklas Luhmann schreibt zum Verhältnis der Begriffe im evolutionären Kontext: Variation heiÿt nicht einfach Veränderung (denn das wäre dann ja schon die Evolution), sondern Herstellung einer Variante für mögliche Selektion. Und ebenso meint Selektion im evolutionstheoretischen Kontext nicht einfach die pure Tatsache, daÿ etwas so-und-nicht-anders geschieht, sondern der Begri bezeichnet Selektion aus Anlaÿ einer Variation, die im System vorkommt. 2 Während die Evolution ihren unerschöpflichen Variantenreichtum geradezu planmäßig aus sich selbst heraus hervorbringt, folgen zugehörige Selektionsereignisse einer blinden äußeren Notwendigkeit , die dem einzelnen Lebewesen beinahe zufällig vorkommen mag. Entsprechend ist Vielfalt ebenso sehr das Erfolgsrezept der Evolution wie ihr Ergebnis. Ihre unglaubliche Mannigfaltigkeit erlaubt der lebendigen Natur, sich immer neue Lebensräume zu erobern und Wege zu finden, mit veränderten Lebensbedingungen zurecht zu kommen. Sie erlaubt die immer währende Fortsetzung des Lebens in vielerlei Gestalt unter vielerlei Umständen und bringt auf diese Weise eine atemberaubende Vielgestalt hervor. Ganz offensichtlich bewährt es sich evolutionär, hohe Variation zu generieren. Für Vernunft liegt die Sache genau umgekehrt: Varianten von Handlungsoptionen ergeben sich hier aus Anlass einer blinden äußeren Notwendigkeit der Natur, die dem Individuum nicht selten zufällig vorkommen mag, während dieses seine Entscheidungen aus seinem Innersten geradezu planmäßig hervorbringt, um selektiv Naturgesetzlichkeiten für sich zu nutzen. Der Vernunft stellt sich die Vielfalt an Möglichkeiten nicht einfach als ihr eigenes Produkt dar, obwohl sie selbst erst tätig werden muss, um sie zu erkennen. Optionen erscheinen ihr nicht in erster Linie als selbsterzeugt, sondern aufgrund der situativen Gegebenheiten vorliegend. Sie mag damit mehr oder 2 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft , S. 451. 149 <?page no="150"?> weniger geschickt umgehen, bleibt dabei aber den unausweichlichen Rahmenbedingungen verhaftet. Evolution kann viele verschiedene Wege zugleich beschreiten, weil es bei ihr auf das einzelne Lebewesen nicht ankommt; Vernunft hingegen bleibt dem Individuum verpflichtet und muss sich entscheiden. Evolution überlässt die Selektion dem Lauf der Dinge; Vernunft muss sich selbst festlegen. Für Evolution kommt es darauf an, viele Varianten auszuprobieren; für die Vernunft kommt es jedoch darauf an, die richtige Variante zu wählen, weil ihre eigene Existenz unmittelbar davon abhängt. Zielführende Selektion ist ebenso sehr ihr Erfolgsrezept wie ihr Ergebnis. Ganz offensichtlich bewährt es sich für die Vernunft, vortreffliche Entscheidungen zu fällen, weil sie sich individuell vollzieht, während es sich bei Evolution um einen gattungs spezifischen Vorgang handelt. Die Bestimmung der Vernunft liegt demnach in der Selektion, ihre Leistung aber im Erkennen von Möglichkeiten. Ohne Erkenntnis bleibt Vernunft blind, ohne Entscheidung stumpf. Freiheitsgrade ergeben sich mithin aus zwei Dimensionen: zum einen durch den Raum möglicher Variation und zum anderen durch selektive Eigenständigkeit. Im Lauf der Geschichte hat die Menschheit ihre Möglichkeiten enorm gesteigert, was als Fortschritt erlebt wird, dennoch sehen wir noch immer unsere Entscheidungsmöglichkeiten in vielerlei Hinsicht beschnitten. Ohnehin zeigt sich Vernunft völlig unbeeindruckt davon, wie sich ihre Spielräume im historischen Vergleich ausnehmen. Gänzlich unabhängig davon strebt sie fortwährend nach Selbstbestimmung . Sie kann nicht anders, weil sie, wann immer sie zur Anwendung kommt, Möglichkeiten erblickt, zwischen denen sie dann auch entscheiden muss. Fortwährend schafft sie sich damit jene Freiräume, deren sie bedarf. Bei allen Restriktionen bleiben Entscheidungsspielräume stets auch ihr Produkt, weil sie überhaupt erst erkannt werden müssen. Vernunft ermittelt selbst jene Optionen und nimmt jene Selektionen vor, durch die sie ihre Freiheit verwirklicht. Somit besteht ihre unaufhörliche Tätigkeit darin, ihren Freiraum auszuloten, neue Optionen zu entdecken und deren Vorzüge gegenüber anderen abzuwägen, um schließlich eine Wahl zu treffen. Vernunft erschließt sich Möglichkeiten, die sie dann qua Entscheidung wieder au ebt , worauf die Freiräume von neuem ausgelotet werden. 150 <?page no="151"?> Vernunftwesen sind darauf ausgerichtet ihre Freiheitsgrade zu ermessen. Sie sind gezwungen, ihrem Leben selbst eine Richtung zu geben, und je uneingeschränkter ihre Entscheidungsmöglichkeiten, desto größer ihre Freiheitsgrade, das zu tun. Wer nicht selbstbestimmt leben will, muss auch darüber selbst bestimmen und seine vernunftgegebene Freiheit dazu nutzen, Selbstbestimmung selbstbestimmt einzuschränken. Allerdings gestaltet es sich bisweilen mühevoll, die Möglichkeiten zu erhalten, Entscheidungszwängen zu entfliehen, sodass dafür nicht geringe Freiheitsgrade bestehen müssen. Wo immer jedenfalls Wesen sich ihrer Vernunft bedienen, drängt es sie nach Ausweitung sowohl des Möglichkeitsraums als auch nach Unabhängigkeit beim Entscheiden. Fremdbestimmung hingegen geht immer auch damit einher, nicht dem folgen zu können, was man selbst für vernünftig erachtet. Ganz unabhängig davon, wie man die Freiheitssituation im historischen Vergleich bewerten möchte, zielt Vernunft deshalb ohnehin fortwährend auf Selbstbestimmung. Einschränkungen können sich allerdings nicht nur aus den Widrigkeiten der äußeren Natur ergeben, sondern auch aus der Anwesenheit anderer Vernunftwesen, die ebenso sehr nach Selbstbestimmung streben. Sobald aber mehrere Personen beteiligt sind, strebt nicht mehr nur eine Vernunft nach Freiheit. Der eigene Spielraum hängt dann wesentlich vom Verhalten der anderen ab. Wenn es mir gelingt, die anderen zu unterwerfen, wachsen meine Möglichkeiten an, sollte es aber umgekehrt jemand anderem gelingen, mich zu dominieren, so vermindert sich mein Freiraum. In Gesellschaft lässt sich Freiheit nicht einfach dadurch maximieren, dass man alle nach Belieben schalten und walten lässt, weil die Ungehemmtheit des einen zur Geißel der anderen zu werden droht. Ohne Beschränkung gerät Freiheit deshalb zum Nullsummenspiel: Dem Zuwachs an Optionen auf der einen Seite steht eine Abnahme derselben auf der anderen gegenüber. Jede Schranke aber, die ein Vernunftwesen vor den Folgen des Freiheitsgebrauchs anderer schützt, bedeutet nichts anderes als einen Verlust an Freiheit für jedes einzelne und damit für alle gleichermaßen - zumindest wenn die Beschränkung allgemeine Gültigkeit erlangt. So gesehen, können Rechte als Gewinn nur von denjenigen empfunden werden, die zuvor unfrei waren. Wer hingegen uneingeschränkte Freiheit genoss, für denjenigen muss es einen Verlust bedeuten, denn das Recht der an- 151 <?page no="152"?> deren bildet die Schranke der eigenen Willkür - weshalb es stets die ohnehin schon Dominierenden sind, die eine weitere Ausweitung der Freiheiten fordern, während die Dominierten Schutz in einer Beschränkung der Freiheit aller suchen. Ein Verhältnis, auf das im Wesentlichen schon der Gegensatz von Kapitalisten und Arbeitern zurückgeht, weshalb wenig verwundert, dass erstere häufiger liberalen, letztere hingegen sozialistischen Ideen anhängen. Geht man seiner Freiheit verlustig, weil andere die ihre schrankenlos so weit in Anspruch nahmen, dass die eigene sich nicht mehr zu entfalten vermag, gewinnt man durch Rechte tatsächlich Freiräume hinzu. Allerdings sind es nicht die Rechte selbst, die befreiend wirken, was man schon daran erkennen kann, dass auch Standesgesellschaften sie kannten, sie dort allerdings vorrangig als Vor rechte sich äußerten und somit all jene in ihrer Freiheit stark einschränkten, die solche nicht genossen. Nicht die Rechte bilden deshalb den Ursprung der Freiheit, denn sie gewähren lediglich Freiräume, die einem von anderen zuvor geraubt worden waren. Von Freiheits rechten kann nur sprechen, wer deren bedarf, um damit der Unterwerfung zu entgehen. Ihre Wirkung entfalten sie dann nicht durch ihre Rechtsform , in die sich auch die obszönste Sklaverei gießen ließe und historisch auch gegossen worden ist. Vielmehr eröffnen sie Freiräume nur sofern sie allgemeine Anwendung finden, insofern Rechte also egalisierend wirken. Nur so gewähren sie ein gleichlautendes Maß an Entfaltungsmöglichkeiten für jede und jeden. Allerdings verflüchtigt sich dieser egalisierende Effekt wieder, sobald sie eine Komplexität annehmen, die kostspielige juristische Expertise voraussetzt, da sich die Gesetzeslage dann ebenso verhält als würde nicht gleiches Recht für alle gelten. Klare Gesetzgebung hingegen setzt an die Stelle der Maximierung individueller Freiheiten deren Nivellierung . Alle büßen gleichermaßen an Handlungsspielraum ein, damit niemand grundlegender Freiräume verlustig geht. Die Unterlegenheit eines Vernunftwesens, aus welch schicksalhaften Gründen auch immer sie zu Stande gekommen sein mag, soll nicht seine völlige Unfreiheit nach sich ziehen. Jedes Individuum gibt somit einen Teil seiner Freiheiten auf, um einen anderen Teil zu schützen. Wie aber ist einem Vernunftwesen eine solche Aufgabe möglich, wenn seine Vernunft unmittelbar mit seiner Freiheit verknüpft bleibt? Geht es auch seiner Vernunft partiell 152 <?page no="153"?> verlustig, wenn es einen Teil seiner Freiheiten aufgibt? Jede Entscheidung, die ein Individuum trifft, verwirft für diesen Moment alle anderen Möglichkeiten. Damit schränkt die Vernunft selbst ihren weiteren Spielraum im Vertrauen darauf ein, die richtige Wahl getroffen zu haben. Sobald sich Vernunftwesen verschiedener Alternativen bewusst werden, kommt es unweigerlich zu einer Entscheidung. Es ist dann überhaupt nicht mehr möglich, nicht zu entscheiden, weil man sich auch zum Abwarten bewusst entschließen muss, sobald andere Möglichkeiten im Raum stehen. Wenn ein Vernunftwesen nun beschließt, Freiheiten teilweise aufzugeben, handelt es sich auch dabei um eine Entscheidung, die vernünftig genannt werden muss, sofern sie aus freien Stücken erfolgt ist. Da ohnehin jede Entscheidung Optionen auslöscht, weil anders keine Wahl zu treffen wäre, bildet der Entschluss, universale Freiheitsrechte anzuerkennen, keine Ausnahme. Eine vernunftgemäße Aufgabe von Freiheiten kann folglich durch freie Entscheidung geschehen, die eine Bewertung der eigenen Optionen vornimmt, um dann eine eigenständige Wahl zu treffen. Selbstbeschränkung kann Freiheit nicht aufheben, Unterwerfung hingegen schon. Damit wird schlicht jede Freiheit ausgelöscht. Will man diesen Weg nicht beschreiten, kann uneingeschränkte gegenseitige Gefährdung nur dadurch verhindert werden, dass jede und jeder sich selbst beschränkt. Wäre Freiheit gleichbedeutend mit Beliebigkeit, ginge man ihrer damit verlustig, weil jedwede Einschränkung einer Reduktion gleichkäme. Da sie aber darauf gründet, dass die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten nicht zufällig erfolgt, geht sie immer schon auf den Bestimmungsgrund ihrer Selektivität zurück: auf die Vernunft. Wer frei ist, gibt sich nicht Beliebigem hin, sondern Selbstgewähltem, mithin Vernünftigem. Wann immer eine Beschränkung aus eigenem Entschluss erfolgt, bedeutet sie deshalb keinen Freiheitsverlust. So wie ein freies Vernunftwesen nicht jede beliebige Option wahrzunehmen, zu selektieren verpflichtet ist, um frei sein zu können, muss es auch nicht auf dem vollen Möglichkeitsraum persönlicher Entfaltung beharren. Niemand muss sich die Möglichkeit der Brandstiftung vorbehalten, um seine Freiheit zu wahren; vielmehr schränkte sich diese ein, wäre man dazu verpflichtet. Freiheit kommt nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, selbstbestimmt auf Spiel- 153 <?page no="154"?> räume verzichten zu können. Wenn also gelten soll, dass Vernunft immer mit Freiheit einhergeht, bedarf jede Beschränkung letzterer selbst wiederum freiwilliger Zustimmung. Wer hingegen unfreiwillig sich der Ausübung seiner Freiheit beraubt sieht, wird daran gehindert, seiner Vernunft zu folgen. Nicht mehr aus ihr heraus, nicht mehr aus Einsicht werden die Rechte des anderen dann respektiert, sondern aus Zwang. In ihrer Freiheit sind sich alle Vernunftwesen gleich. Das Streben nach Selbstbestimmung kennt keine Rangordnung. Selbst wer anderen ein geringeres Maß an Vernünftigkeit unterstellt, sieht sich deren selbstbestimmtem Drängen gegenüber. Freiheit lässt sich weder verwehren noch gewähren, sondern bleibt untrennbar mit Vernunft verbunden. Was vernünftig ist, das ist frei und was frei ist, das ist vernünftig! Was nach Freiheit strebt, folgt deshalb einer Vernunft, mögen andere dies auch absprechen. Immer dann wenn ein Freiheitsrecht keine universale Gültigkeit hat, gesteht es somit nicht allen Vernunftwesen den gleichen Umfang an Freiheit zu. Wenn die Formulierung oben offensichtlich sich an eine bekannte Passage von Georg Hegel anlehnt, so übernimmt sie doch nicht deren Konsequenzen: Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. 3 Damit setzt Hegel im Jahr 1821 Wirklichkeit und Vernunft gleich, womit er darauf hindeutet, dass die Welt und mithin die Geschichte einem vernünftigen Verlauf folgt, weil er sich angesichts der Ordnung der Natur nicht vorstellen kann, dass die Entwicklung der Gesellschaft, bevölkert von vernünftigen Wesen, völlig ungeordnet und unvernünftig sich verhält. Nach Entdeckung der Evolution durch Charles Darwin knapp vierzig Jahre später kann man sich dessen jedoch nicht mehr sicher sein. 4 Fortan scheint es durchaus vorstellbar, dass eine Ansammlung vernünftiger Wesen keiner höheren Vernunft folgt, so wie die Ansammlung von Lebewesen keinem höheren Plan des Lebens oder eines höheren Wesens folgt. Es wird denkbar, dass 3 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts , S. 24. 4 Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl . 154 <?page no="155"?> auch völlig unkoordiniert eine Weiterentwicklung möglich ist, und dass individuelle Vernunft wie individuelle Gene bei aller Vortrefflichkeit und Struktur nicht sicherstellen, dass ihr massenhaftes Auftreten sich vortrefflich und strukturiert verhält. Wirklichkeit und Vernunft lassen sich nicht gleichsetzen, weil Vernunft nur individuell auftritt, ohne dass übergeordnete Synchronisation gegeben wäre. Es mag ohne Vernunft zwar niemanden geben, der davon sprechen kann, was wirklich ist, dennoch wird Wirklichkeit nicht allein dadurch vernünftig, dass sie von vernünftigen Wesen gedacht und bevölkert wird, zumal die Welt noch mehr umfasst als diese. Freiheit und Vernunft lassen sich hingegen verknüpfen, weil sie in ihrem individuellen Dasein einander unmittelbar bedingen und zugleich als ein Ergebnis der Evolution vorstellbar bleiben. Da Freiheit und Vernunft einander bedingen, zwingt letztere Vernunftwesen zur individuellen Selbstbestimmung. Zugleich macht die Vernunft der anderen kollektive Selbstbestimmung nötig, hängt in Gesellschaft der eigene Freiraum doch vom Verhalten anderer ab. Streng genommen bieten Rechte nur denjenigen Freiheit, die zuvor unfrei waren, indem sie die Maÿlosigkeit der Überlegenen einschränken und so den Unterlegenen Schutz bieten. Zu Freiheitsrechten werden sie also, sofern sie für alle gleichermaÿen gelten. Dazu müssen Freiheiten aufgegeben werden, was Vernunft nur dann nicht einschränkt, wenn das freiwillig erfolgt. Dann sind Selbstbeschränkungen zu Gunsten allgemeiner Rechte ein Akt freier Vernunft, nähme es doch Freiheit, könnte man sich nicht selbst mäÿigen. Ohnehin reduziert jede Entscheidung zukünftige Möglichkeiten, sodass Freiheit immer auch darin besteht, eine Wahl zu tre en, die andere Optionen für alle Zukunft verwirft. 155 <?page no="156"?> 3.2 Selbstbestimmung und Gesellschaft Da es niemanden gibt, dessen Regeln sich ein Vernunftwesen unterstellen könnte, muss es sich solche selbst geben. Zugleich vermag die Selbstbeschränkung einer oder eines Einzelnen allein nichts an den unsicheren Zuständen der Regellosigkeit zu ändern, so lange sich die anderen nicht ebenfalls selbst beschränken. Erst wenn Regeln überindividuelle Gültigkeit erlangen, bekommt das Zusammenleben eine neue Grundlage. Die Notwendigkeit zur Selbstbestimmung besteht folglich nicht nur auf individueller, sondern zugleich auf kollektiver Ebene. Vernunftwesen müssen gemeinsam entscheiden, wie sie ihre Welt gestalten wollen. Niemand kann ihnen das abnehmen. Religionen simulieren zwar, dass es eine höhere Macht gäbe, die den Menschen Regeln vorgeben kann. Doch letztlich sind es auch hier wiederum die Menschen selbst, die sich dazu entscheiden müssen, religiöse Regeln in Kraft zu setzen, sollen sie Wirksamkeit erzeugen. Konflikte zwischen Angehörigen verschiedener Religionen kann es nur geben, weil nicht Gott, sondern die Menschen sich die Regeln geben - oder aber die Götter sich nicht einig sind. Zwingt die eigene Vernunft den Menschen zu individueller Selbstbestimmung, so zwingt ihn die Vernunft der anderen dazu, auch gemeinsam Selbstbestimmung zu erlangen. Sobald letztere aber nicht von allen gleichermaßen getragen wird, tritt sie zwangsläufig in Widerspruch zu ersterer: Wann immer ein Individuum eine Regel nicht anerkennt, bedeutet dies eine Beschränkung seiner Freiheit, besteht letztere doch darin, sich nur selbst Regeln zu geben. Doch nicht nur droht das Streben nach Selbstbestimmung des Kollektivs diejenige der Individuen zu beeinträchtigen, sondern auch umgekehrt kann die Selbstbestimmung der Individuen diejenige des Kollektivs behindern. Denn wann immer die von einer Gruppe von Menschen anerkannten Regeln verletzt werden, sei es durch Einzelpersonen oder durch eine fremde Gruppe (etwa im Krieg) bedeutet dies eine Beschränkung ihrer Freiheit, sich selbstbestimmt Regeln zu geben. Das grundlegende Dilemma jedes Zusammenlebens besteht mithin darin, inwiefern sich Selbstbestimmung für das Kollektiv erreichen lässt, ohne dass sie zugleich für das Individuum verloren geht. Jean-Jacques Rousseaus berühmte Formulierung für diese Frage lautet: 156 <?page no="157"?> Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor. 5 Erachtet man als selbstbestimmt, wer über ihre/ seine Belange eigenständig entscheiden kann, dann bestünde das naheliegendste Verfahren, das Zusammenleben zu regeln, darin, dass jede Person sich nur an jene Regeln zu halten habe, denen sie selbst zugestimmt hat. Was aber bedeutet dies für all diejenigen, die ihre Zustimmung nie gegeben oder sie wieder zurückgezogen haben (worunter zwangsläufig auch jene fallen, die gegen Regeln verstoßen, denen sie zuvor zugestimmt hatten)? Wer die Regeln einer Gruppe nicht anerkennt, befindet sich folglich dazu in einer ungeregelten Beziehung. So lange es aber keine Vereinbarungen gibt, entbehrt das Zusammenleben zwangsläufig jeder Grundlage. Es bestehen so wenig Verbote wie Sicherheiten. Das Verhältnis ist im altertümlichen Sinne vogelfrei. Beide Seiten bewegen sich in völliger Ungebundenheit zueinander und müssen entsprechend das Schlimmste befürchten. Dabei steht es einer Gruppe selbstredend frei, Regeln auch für diesen Fall vorzusehen und somit Grundlagen des Umgangs mit Nichtmitgliedern zu schaffen. Ganz unabhängig von der Zustimmung Außenstehender kann eine Gruppe den Umgang mit diesen regeln und schon allein aufgrund ihrer zahlenmäßigen Übermacht für gewöhnlich auch durchsetzen. So beanspruchen moderne Staaten den Gültigkeitsraum ihrer Gesetze für ein Territorium ganz unabhängig davon, ob die dort sich aufhaltenden Individuen das anzuerkennen bereit sind. Diese haben sich den bestehenden Regeln zu unterwerfen oder müssen mit Sanktionen rechnen. Dabei ist noch nicht einmal sichergestellt, dass die Gesetze sich überhaupt aus einer wie auch immer gearteten Zustimmung ergeben haben. Ganz unabhängig davon, wie sie zu Stande gekommen sein mögen, bedeuten Gesetze so oder so eine Beschneidung meiner Freiheit, sollte ich ihnen nicht zugestimmt haben. Ob es sich dabei um solche eines Diktators oder aber einer Gruppe handelt, die sich 5 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag , S. 17. 157 <?page no="158"?> darauf einvernehmlich geeinigt hat, spielt für meine individuelle Situation keine Rolle. Wann immer kollektive Regeln gelten, gehen damit unvermeidlich Einschränkungen individueller Freiheit einher, sei es, weil ihnen nicht alle zugestimmt haben, weil sie auch auf Nichtzugehörige Anwendung finden, jemand seine Zustimmung revidiert oder durch Regelverstoß Vereinbarungen verletzt. Wenn Selbstbestimmung aber tatsächlich als grundlegend für jene Freiheit sich erweist, ohne die jede Vernunft vergeblich wirkt, kann ihrer nicht entsagen, wer sich als Vernunftwesen ansehen will. Freilich müsste man eben dies nicht notwendig wollen, doch damit unterstellte man sich lediglich einer äußeren oder inneren Notwendigkeit, die sich von keinerlei vernünftiger Überlegung beirren lässt. Wer keiner Vernunft folgt, hat bereits jede Freiheit verloren und jeder Selbstbestimmung entsagt. Dann gibt es für Übereinkünfte keine Grundlage mehr, weil dazu freie Entscheidung vorausgesetzt werden muss. Wer nicht frei ist, stimmt nicht aus Überzeugung zu, sondern aus Notwendigkeit. Wer also in ihre/ seine Vernunft vertraut, bedarf der Freiheit. Andernfalls wäre ohnehin jedes Bemühen vergebens, geschähe doch alles aus Notwendigkeit. So lange wir uns als Vernunftwesen ansehen, behält Selbstbestimmung jedenfalls einen konstitutiven Wert. Es gibt heute Vorbehalte gegen jegliche inhaltliche Festlegungen: Sei es gegen eine conditio humana oder anthropologische Setzungen oder gegen Zweckbestimmungen usw. Es ist ein großes Verdienst der letzten Jahrzehnte, gesetzte Voraussetzungen oder Zielvorstellungen zu hinterfragen. Die Argumentation hier möchte nicht dahinter zurückfallen. Aus der Biologie ergeben sich zwar zweifellos Konsequenzen für das Zusammenleben, so dürften Unterschiede im Sozialleben von Delphinen und Menschen nicht zuletzt in der Anatomie zu suchen sein. Hier jedoch geht es nicht darum, etwas aus natürlichen Gegebenheiten abzuleiten. Vielmehr sollen die Konsequenzen verdeutlicht werden, die sich aus der Entscheidung für oder gegen gewisse Konzepte ergeben. Anthropologie versucht aus Naturgegebenheiten die Notwendigkeit sozialer Gegebenheiten abzuleiten. Vernunft versucht aus Freiheiten die Notwendigkeit für Freiheit abzuleiten. In einer bevölkerten Welt erfährt unsere Selbstbestimmung enge Grenzen. Wie sehr wir ihrer teilhaftig werden, hängt deshalb stark davon ab, wel- 158 <?page no="159"?> che Regeln für das Zusammenleben gelten, schließlich resultiert individuelle Selbstbestimmung unmittelbar aus kollektiver, sobald mehrere Menschen zusammenleben. Mehr noch als auf der Ebene der Einzelpersonen muss sich Freiheit dann auf jener der Gesellschaft realisieren. Jede/ r ist nur so frei, wie es das Gesetz zulässt, und ist somit nur so frei, wie sie/ er selbst über die Gesetzeslage zu bestimmen vermag. Jede Freiheit, die wir individuell erfahren, kann in einer Gesellschaft nur eine sein, die wir uns per Gesetz gegeben haben. Nur, wer sich dieses selbst gibt, ist demnach wahrlich frei. Wenn also wie im Absolutismus nur eine Person kollektive Regeln vorgibt, genießt auch nur eine Freiheit. Wenn wie in der Aristokratie nur wenige Personen gesetzgebend wirken, beschränkt sich auch Freiheit auf wenige. Wenn jedoch alle gemeinsam über die Gesetze bestimmen, erfahren alle Freiheit. Es kommt somit auf die Frage an, wie Mitbestimmung geregelt wird. Allzu leicht verfällt man der Versuchung, bestehende Varianten gegeneinander abwägen zu wollen, um sich dann für eine davon einzusetzen. Man würde jedoch Freiheit ohne Not beschneiden, wollte man Vernunftwesen nicht selbst darüber befinden lassen, wie Mitbestimmung geregelt werden soll. Will sie wirksam sein, muss Selbstbestimmung bereits hier ansetzen: Die Betroffenen bestimmen auch darüber, wie bestimmt werden soll, welche Regeln für Mitbestimmung zu gelten haben - und wenn sie wollen nicht nur einmalig, sondern durchaus revidierbar. Individuelle und mehrheitliche Zustimmung bleiben dabei unhintergehbare Grundbedingungen. Zur Freiheit gehört nicht nur, über jene Gesetze zu bestimmen, die das Zustandekommen von Gesetzen regeln, was üblicherweise der Verfassung zufällt; zu ihr gehört vielmehr auch, darüber zu bestimmen, wie eine solche Verfassung zu Stande kommt, falls sie überhaupt gewünscht wird. Sie steht somit nicht über der Selbstbestimmung, sondern kann nur deren Resultat sein. Wie Ingeborg Maus feststellt, darf auch nicht die »Herrschaft der Exegese« durch Verfassungsgerichte das »Basisprinzip der Volkssouveräntität zum Verschwinden« 6 bringen. Doch welche kollektiven Regeln aufgrund welchen Verfahrens auch im- 6 Maus, »Sinn und Bedeutung von Volkssouveränität in der modernen Gesellschaft«, S. 27 f. 159 <?page no="160"?> mer schlussendlich Geltung erlangen, sie werden doch nicht auf der Zustimmung aller beruhen können. Niemals wird es gelingen, das Einverständnis aller zu erlangen und selbst unter denjenigen, die sich vormals einverstanden zeigten, wird es immer wieder zu Regelverstößen kommen. Folgt daraus, dass nur Gesetzlosigkeit Freiheit wahrt? Anarchie schränkt zwar niemandes Freiheit durch Gesetze ein, denen sie oder er nicht zustimmt, doch sie schränkt die Freiheit aller ein, sich gemeinsame Gesetze zu geben, um den Gefahren der Anarchie nicht zuletzt für die eigene Freiheit zu entgehen. Sie nimmt all denjenigen die Möglichkeit, sich gemeinsame Regeln zu geben, die dazu willens sind. Im Namen der Freiheit kann jedoch niemand dazu gezwungen werden, in Anarchie zu verweilen. Es steht folglich einer beliebigen Gruppe frei, sich Regeln zu geben; und da sie dabei zu anderen im Verhältnis der Anarchie verweilt, so steht es ihr ebenso frei, sich eigene Regeln für den Umgang mit allen Außenstehenden zu geben. Insoweit eine Gruppe ihren Regeln zur Durchsetzung zu verhelfen vermag, werden sie folglich auch verbindlich für jene, die ihr nicht zugehören. Letztlich folgt die geltende Gesetzeslage der Macht . Die Frage ist nur: welcher ? Einerseits gilt: Sollen Gesetze von Vernunftwesen deren Vernunft folgen, müssen sie auf Selbstbestimmung beruhen. Andererseits aber gilt offenbar ebenso: In einer bevölkerten Welt kann nicht der individuellen Selbstbestimmung aller Vernunftwesen Genüge getan werden und Geltung erlangt schlussendlich ohnehin, was sich durchzusetzen vermag. Wenn aber Gesetze sowohl der Selbstbestimmung als auch der Macht Rechnung tragen müssen, kann das nur gelingen, wenn beides der gleichen Quelle entspringt: der Macht selbstbestimmter Vernunft . Jedes vernünftige Wesen übt durch seine Entscheidungsfreiheit Macht aus, indem es selbstbestimmt darüber befindet, welche Option es zu verwirklichen gedenkt. Somit ist Vernunft der Macht ebenso verbunden wie der Freiheit, weil Freiheit Macht verleiht und zwar die Macht zu entscheiden . Frei ist schließlich nur, wer die Macht hat, über sich selbst zu bestimmen. In einer bevölkerten Welt gewinnt diese buchstäbliche Entscheidungsgewalt an Durchsetzungsmacht, umso mehr sich ihr anschließen. Damit geht sie letztlich zurück auf die Mehrheit , die sich kraft Überzahl durchsetzt, dabei aber auf nichts anderes stützt als auf deren Freiheit zur Selbstbestimmung. 160 <?page no="161"?> Auch sie schöpft ihre Kraft aus der Macht zu entscheiden - diesmal nicht des Individuums, sondern des Kollektivs. Die Mehrheit kann dabei ihre Durchsetzungskraft allein auf die Vernunft der Beteiligten zurückführen, wogegen jede andere Gruppe äußere Machtmittel in Anspruch nehmen müsste. Die Mehrheit kann Gesetzen zur Durchsetzung verhelfen, ohne sich auf vernunft un begabte Ressourcen zu stützen. Die Mehrheit kann also kollektive Selbstbestimmung durchsetzen, ohne individueller Selbstbestimmung etwas anderes entgegenzusetzen als die individuelle Selbstbestimmung anderer . Die Mehrheit hat als einzige die Macht, die Freiheit einzelner gegen deren Willen zu beschneiden, ohne sich dabei auf etwas anderes zu berufen als auf Vernunft , weil sie aus einer rein vernunftgetragenen Übermacht resultiert. Diese basiert allein darauf, dass sich die Mehrheit der Vernunftwesen ihr angeschlossen haben. Anderer Mittel muss sich hingegen bedienen, wer Minderheiten Durchsetzungskraft verleihen will. Nicht fähig, genug Vernunftwesen zu überzeugen, wird Überlegenheit auf anderem Weg hergestellt. Da hilft es auch nicht, sich auf vermeintlich höhere Vernunft zu berufen, muss man dazu doch für sich selbst bereits überlegene Einsicht reklamieren, weil anders sich nicht begründen ließe, weshalb andere nicht zur selben Erkenntnis gekommen sind. Wer immer sich gegen die Mehrheit stellt, stellt sich auch über sie und muss anderen jene Vernunft absprechen, deren sie/ er sich selbst zu bedienen vorgibt. Was soll das aber für eine Vernunft sein, deren einziges Ansinnen darin besteht, anderen ihre Vernunft abzusprechen? Kann es vernünftig sein, das Freiheitsverlangen anderer für unvernünftig zu erklären? Worauf auch immer sich eine Minderheit beruft, Durchsetzungsmacht kann sie nur durch Mittel erlangen, die über die reine Verbindung von Vernunftwesen hinausgeht. Wer immer aber andere Mittel anwendet, verleiht seinem Willen ein Übergewicht, das seinen Ressourcen oder seinem Geschick, nicht aber seiner Vernunft entspringt. Man kann stets mit vernünftigen Mitteln versuchen Vernünftige zu überzeugen, um so die Mehrheit zu erlangen. Wer jedoch der Vernunft entzogene Machtmittel dazu heranzieht, entzieht seiner Macht die Vernunft im selben Maße. Er erheischt sich Vorrechte ohne Zustimmung. Wenn es also eine Macht gibt, die zwar nicht die Selbstbestimmung aller zu wahren vermag, sie aber auch nicht auf unlautere 161 <?page no="162"?> Weise verletzt, dann handelt es sich um jene der Mehrheit. Ihre Übermacht ist deshalb insofern urdemokratisch als sie sich aus einer ursprünglichen Gleichrangigkeit der Vernünftigen herleitet. Nicht nur wird individuelle Freiheit durch kollektive Regeln beschnitten, sofern diesen nicht zugestimmt wurde, sondern ebenso können individuelle Verstöÿe jenes Freiheits-Arrangement durchkreuzen, das ein Kollektiv selbstbestimmt sich gegeben hat. In Gesellschaft erfahren nur diejenigen Freiheit, die über die Gesetze bestimmen, sodass nur Demokratie maximale Freiheit gewähren kann. Folglich kann eine Verfassung niemals Freiheit sichern, so lange sie über kollektiver Selbstbestimmung steht, sondern muss ihr Resultat sein. Anarchie schränkt demgegenüber die Freiheit aller ein, sich Gesetze zu geben. Deren Durchsetzung wiederum folgt nur dann selbstbestimmter Vernunft, wenn die Macht bei der Mehrheit liegt; nicht etwa weil die Mehrheit notwendig bessere Gesetze macht, sondern weil sie allein sich auf freie Selbstbestimmung stützen kann. Da es keinen objektiven Maÿstab dafür geben kann, wodurch sich bessere Gesetze auszeichnen, bleibt die einzig vertretbare Abwägung, jedem Vernunftwesen gleiches Stimmrecht zuzubilligen. Mehrheiten bieten auÿerdem die einzige Möglichkeit, sich in ihrer Durchsetzung gegen individuelle Selbstbestimmung auf nichts anderes zu berufen denn auf die individuelle Selbstbestimmung anderer. 162 <?page no="163"?> 3.3 Repräsentation und Republik Alle Bürger an allen Entscheidungen zu beteiligen, scheitert schon daran, dass dann niemandem mehr Zeit für anderes bliebe. Die naheliegende Antwort darauf lautet: Repräsentation. Sie birgt das Versprechen, die Bürger indirekt an kollektiver Selbstbestimmung zu beteiligen, ohne dass alle gleichermaßen Zeit dafür aufbringen müssen. Zumal der Anspruch auf individuelle Selbstbestimmung eine Vertretung auch durchaus zulässt. Immerhin kann ein Vernunftwesen seine Freiheit dazu nutzen, sich vertreten zu lassen. Niemals jedoch darf Repräsentation als solche auftreten, ohne sich dem Einverständnis derer sicher zu sein, die zu vertreten sie vorgibt. Genau dieser Fall tritt in einer Republik ein, wenn die Bürger nicht selbstbestimmt die Voraussetzungen für Repräsentation benennen und kontinuierlich bestätigen, sondern umgekehrt Repräsentanten sich selbst als Bedingung der Möglichkeit bürgerlicher Selbstbestimmung ansehen. Diese muss den Freien allerdings nicht erst ermöglicht werden, weil Selbstbestimmung bereits den wesentlichen Teil ihres Freiseins ausmacht. Indem die Republik sie darin beschränkt, selbst darüber zu bestimmen, wie sie ihre Selbstbestimmung ausüben, beschränkt sie zugleich ihre Freiheit. Wer Repräsentation oktroyiert, um Selbstbestimmung zu erreichen, hat deren Ziel bereits verfehlt. Sofern die Republik Repräsentation aufnötigt, hat sie nicht Demokratie zur ihrer Grundlage erhoben, sondern einfach übergangen und das Repräsentativsystem demokratischer Zustimmungspflicht entzogen. Sie verhindert damit nicht nur jede andere Form kollektiver Selbstbestimmung, sondern raubt dem System zugleich auch die Überzeugungskraft selbst geschaffener Strukturen. Statt selbst Gestalter der Politik zu sein, muss das Volk seine Rolle in dessen republikanischer Gestalt akzeptieren. Ist Repräsentation erst einmal zur unverrückbaren Instanz demokratischer Beteiligung erkoren, werden sich die Repräsentanten ihre damit gewonnene Macht freilich nicht mehr nehmen lassen. Ihre Unausweichlichkeit lässt dann Repräsentanten nur in soweit Repräsentanten sein, wie es für Erlangen und Erhalt der Stellung notwendig ist, ansonsten aber insoweit Machtmensch, wie es ihnen die erlangte Stellung ermöglicht. Will man Repräsentation Gewicht verleihen, ohne Zugeständnisse an damit verbundene 163 <?page no="164"?> Versuchungen zu machen, muss man sie einem permanenten demokratischen Vorbehalt unterstellen. Alle institutionalisierten Kontrollinstanzen konnten Machtmissbrauch nicht verhindern, weil sie selbst ebenfalls der Logik von Erhalt und Ausbau ihrer Machtstellung unterliegen und sich auf dieser Ebene stets Mittel und Wege finden ließen, sie zu korrumpieren - und sei es nur dadurch, dass ein bestehendes Netzwerk sich in seiner privilegierten Stellung gegenseitig stützt. Der einzige Kontroll- und Machtapparat, der keiner Korruption und ungerechtfertigter gegenseitiger Loyalität anheim fällt, ist das Volk. Denn wer dieses bestechen wollte, zu überzeugen wusste oder sich seine Gunst erworben hat, hat zugleich das Gemeinwohl auf seiner Seite. Das sollte man allerdings nicht zum Anlass nehmen Repräsentation für unzulässig zu halten, würde Selbstbestimmung doch ebenfalls eingeengt, wiese man sie wie Jean-Jacques Rousseau grundsätzlich zurück: Ich behaupte deshalb, daÿ die Souveränität, da sie nichts anderes ist als die Ausübung des Gemeinwillens, niemals veräuÿert werden kann und daÿ der Souverän, der nichts anderes ist als ein Gemeinwesen, nur durch sich selbst vertreten werden kann; die Macht kann wohl übertragen werden, nicht aber der Wille. 7 Damit unterscheidet sich Rousseau nicht von all jenen, die er so ablehnt, weil sie dem Volk Vorschriften machen wollen. Indem er den Menschen die Möglichkeit abspricht, sich vertreten lassen zu können, verwickelt er sich in den Widerspruch, ihnen im Namen der Freiheit zumindest genau diese eine Freiheit zu nehmen. Wie dem auch sei, von dem Augenblick an, wo ein Volk sich Vertreter gibt, ist es nicht mehr frei; es ist nicht mehr. 8 7 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag , S. 27. 8 Ebd., S. 105. 164 <?page no="165"?> In welchem Namen glaubt Rousseau, dem Volk solche Vorgaben machen zu können? Im Namen des Volkes? Dann wäre er ja sein Vertreter! Moderne Staaten treten schon ihrer Selbstbezeichnung nach selten als repräsentative Demokratien auf, sondern häufig als Republiken . Als solche beanspruchen sie eine Vermischung verschiedener Elemente, die das jeweils Beste zusammenführen soll. So wollte schon Marcus Tullius Cicero mit der Republik die »zügellose Raserei des Pöbels« bändigen: Aber in Monarchien haben alle übrigen zu wenig Anteil an dem gemeinsamen Recht und der planvollen Leitung des Staates; in der Aristokratie kann die Menge, da ihr jede Beteiligung an der planvollen Leitung und an der Macht fehlt, kaum Anteil an der Freiheit haben; und in der Demokratie, wenn alles vom Volk entschieden wird (und mag dieses noch so gerecht und maÿvoll sein), ist die Gleichheit selbst ein Element der Ungerechtigkeit, da sie keine Rangabstufungen kennt. [...] Und ich sage dies über jene drei Arten von Staatsformen, wenn sie nicht getrübt und vermischt sind, sondern die ihnen eigene Verfassung wahren. Diese Gattungen sind erstens jeweils mit den Fehlern behaftet, die ich oben genannt habe. Zweitens haben sie andere verhängnisvolle Fehler; denn von jeder dieser Staatsformen führt ein steil abfallender und schlüpfriger Weg zu einem eng benachbarten Übel. Denn dicht neben jenem erträglichen oder, wenn ihr so wollt, sogar liebenswerten König Kyros um diesen vorzugsweise zu nennen lauert ja, da stets ein Sinneswandel möglich ist, der höchst grausame Phalaris, zu dessen Ebenbild die Herrschaft des Einzelnen auf abschüssiger Bahn gar leicht abgleitet. Jener Staatsverwaltung der Massilier durch wenige hervorragende Bürger benachbart ist hinwiederum die eingeschworene Klüngelherrschaft (Oligarchie) der Dreiÿig seinerzeit in Athen. Dass aber die uneingeschränkte Herrschaft des Volkes 165 <?page no="166"?> (die radikale Demokratie) der Athener diesen selbst um nicht nach anderen zu fragen , nachdem sie sich in zügellose Raserei des Pöbels verwandelt hatte, Verderben brachte [...] Daher halte ich eine vierte Staatsform für diejenige, welche die meiste Anerkennung verdient: nämlich eine, die aus den drei genannten maÿvoll gemischt ist. 9 Strebt man eine Synthese der klassischen Staatsformen an, wie sie Cicero aufführt, so bleibt das nicht ohne Folgen für die einzelnen Ansprüche. Monarchische, aristokratische und demokratische Prinzipien lassen sich nicht ohne Weiteres vereinen, weil sie einander widersprechen. Alleinherrschaft schließt jede Mitbestimmung aus und eine Volksherrschaft jegliche elitäre Vorrechte. Führt man beides zusammen, wird Absolutismus zwangsläufig ebenso sehr verhindert wie Demokratie. Statt dessen verspricht die Republik ein grundlegendes Problem der Aristokratie zu lösen, sofern man darunter tatsächlich die Herrschaft der Besten verstehen will. Immer schon stellt sich die Frage, wie sich die für das Regieren Tauglichsten finden lassen. Läuft doch jede Ernennung durch andere darauf hinaus, dass die Ernennenden selbst bereits bestgeeignet sein müssen, um ein solches Urteil treffen zu können. Aristokraten können sich also nur selbst ernennen. Wie aber beginnen, wenn noch keine Aristokratie besteht? Und wie lässt sich prüfen, dass es tatsächlich die Besten sind, welche die Besten rekrutieren? Eine Republik umgeht dieses Problem direkter Ernennung, indem sie auf Verfahren zurückgreift, in denen sich erweisen soll, wer geeignet ist. Demokratisch nennt sie sich dann, wenn sie solche Verfahren an Wahlen koppelt. Auf diese Weise bringt sie einen Personenkreis hervor, der für sich demokratische Legitimation, anerkannte Repräsentation und bestmögliche Eignung gleichermaßen beansprucht, weil er dies aus dem Selbstbild der Republik ableitet. Doch alle drei Punkte erlangen nicht Geltung allein dadurch, dass man Anspruch darauf erhebt: Denn um von Demokratie sprechen zu können, müsste die Bevölkerung direkten Einfluss auf Entscheidungen nehmen 9 Cicero, De re publica. Vom Staat , S. 57 ff. 166 <?page no="167"?> können; um von Repräsentation sprechen zu können, müsste jede Bürgerin und jeder Bürger selbst bestimmen, von wem er oder sie vertreten werden will; und um von Aristokratie zu sprechen, müsste sichergestellt sein, dass die Besten das Parlament bevölkern. Alle drei Aspekte kann eine Republik nicht gewährleisten. Statt dessen herrscht ein anderes Bild vor: Es sind die Parteien , die bestimmen, welche Entscheidungen getroffen werden, wen sie zu den Besten zählen und wer deshalb als ›Repräsentant‹ überhaupt zur Wahl steht. Diejenigen, die sich repräsentiert fühlen sollten, sehen deshalb in den Parlamenten keine Versammlung der besten Bürger, durch die sie vertreten werden, sondern vielmehr Ausschüsse der einflussreichsten Parteien. Von einem aristokratischen Charakter fehlt jede Spur. Parlamentarier verkörpern keine am Gemeinwohl orientierte Elite, sondern Experten in Sachen Parteipolitik. Die Republik, angetreten die Stärken von Monarchie, Aristokratie und Demokratie zusammenzuführen, vereinigt deren Schwächen. Die Schwäche jeder Alleinherrschaft, ob Monarchie, Autokratie oder Diktatur, liegt darin, dass dem Erhalt der Macht alles andere untergeordnet wird. Die Schwäche jeder Gruppenherrschaft, sei es Aristokratie, Meritokratie, Plutokratie oder Oligarchie liegt darin, dass die Elite im Glauben an die eigene Vorzüglichkeit ihre eigenen Interessen und Einstellungen mit dem Zuträglichen für das Gemeinwohl verwechselt. Die Schwäche jeder Demokratie, aber auch jeder Gemeinschaft Gleichrangiger oder jeden Staatenbundes liegt darin, dass sie als Verhandlungspartner nicht immer einheitlich auftreten. Indem die Republik ihre exekutive Gewalt in einer Person bündelt, schafft sie dort Machtfülle in der Absicht, die vermeintliche Stärke der Alleinherrschaft zu übernehmen. Doch diese Machtkonzentration macht Republiken anfällig für autokratische Auswüchse. Sie schafft eine Exekutive, die ihre umfassende Macht nicht zuletzt darauf verwenden kann, eben diese auszuweiten. Komplexe republikanische Architekturen sollen zwar genau davor bewahren, vermögen diese jeder Alleinherrschaft inhärente Tendenz jedoch nicht zu ersticken und so weisen Republiken mittelfristig häufig eine Entwicklung zu einer selbstbestätigenden Meritokratisierung von Macht auf. Anstelle einer gelungenen Synthese ergibt sich ein Widerspruch: Die Republik verspricht sich von einer starken hierarchischen Exekutive einerseits 167 <?page no="168"?> die Schlagkraft einer Alleinherrschaft , andererseits verhindert sie diese zugleich, indem sie der dafür nötigen Einheitlichkeit republikanische Rückbindungen an parlamentarische Institutionen entgegenstellt. Während der gewünschte Effekt nach außen hin verpufft, kann die Exekutive zuweilen nicht der Verlockung widerstehen, ihre Schlagkraft gegen die anderen Instanzen der Republik zu wenden, schlicht weil sie in dem Maße an Macht gewinnt, wie sie diese zurückdrängt. Schlussendlich behindert jedes autokratische Vorrecht die Entfaltung demokratischer Stärken ebenso wie jene aristokratischer, weil ihm eine Tendenz zur Machtkonzentration innewohnt. Individuelle und kollektive Selbstbestimmung werden von der Republik ebenso wenig gefördert wie eine offene Debatte unter echten Repräsentanten oder Experten. Allzu nahe liegt das Bestreben, die Mechanismen vorhandener Institutionen zur Durchsetzung dessen zu nutzen, was dem Machterhalt oder eigenen Interessen dient. Indem die Republik ihre legislative Gewalt einem Parlament überträgt, schafft sie dort eine Elite in der Absicht, die vermeintliche Stärke der Aristokratie zu nutzen. Doch auch sie hat keinen zuverlässigen Weg gefunden, wie sich wirklich die für die Staatsführung Tauglichsten bestimmen lassen. Auch sie kann den Zugang zu Macht und Einfluss letztlich nur über mechanische Regelungen abbilden, sodass auch sie nicht sicherstellen kann, dass sich dabei jene durchsetzen, die für die Aufgaben der Legislative bestgeeignet sind, sondern lediglich diejenigen, die bestehende Verfahren am besten zu nutzen verstehen. Das republikanische Parlament verlangt allerdings ohnehin nicht nach den besten Staatslenkern. Es fungiert nicht als Diskussions- und Beratungsinstanz herausragender Persönlichkeiten, um dem Gemeinwesen weise Gesetze zu geben. Ihm wohnt gar kein aristokratischer Geist inne, sondern der bisweilen abstoßende Charme einer Kampfarena, in der sich Parteien nichts schenken. Nicht am Gemeinwohl orientiertes Räsonnieren prägt das Klima, sondern kalkulierendes Taktieren. Geschaffen um die Vorzüge von Aristokratie und Demokratie zusammenzuführen, entfaltet das Parlament deren Widerspruch: Insofern die Parlamentarier als Repräsentanten auftreten, müssten sie die Interessen ihrer Klientel vertreten, insofern sie als Elite auftreten, müssten sie unabhängig von ihrer Klientel allein ihrem Urteil folgen. Im Resultat jedoch verhalten sie sich 168 <?page no="169"?> nicht selten ihrer Klientel gegenüber elitär und anderen Parlamentariern gegenüber als Interessenvertreter. Schlussendlich sind sie beides nicht, sondern lediglich Repräsentanten und Elite ihrer Partei. Ihren Rang verdanken sie in erster Linie ihrer Expertise in Parteipolitik. Einmal gewählt, entscheiden Parlamentarier unabhängig von der Zustimmung derjenigen, die sie zu repräsentieren vorgeben. Drehte sich der Wahlkampf nur um einige wenige Themen, lassen sich in der Vielzahl an Gesetzesvorlagen und deren kleinteiliger Ausgestaltung allerlei Wendungen vollziehen, für die eine Unterstützung der Bevölkerung nicht zu bekommen wäre. Oftmals wird hierbei unterstellt, dem einfachen Volk fehlte die nötige Einsicht in unvermeidbare Härten, noch öfter aber fügt sich die selbsternannte Elite den Verlockungen und Drohungen von reichlich mit Ressourcen ausgestatteten Interessenverbänden. Im Resultat tritt jeder repräsentative und elitäre Charakter bis zur Unkenntlichkeit hinter der Vertretung eigener Interessen und jener der Partei zurück. Davon bleibt selbst der häufig angebrachte Hinweis auf die Komplexität heutiger Problemstellungen nicht verschont, denn alle Beteiligten mit Einfluss können gar kein Interesse daran haben, diese zu reduzieren, selbst wenn dies möglich wäre. Mit zunehmender Komplexität steigt nicht nur der Bedarf an Expertise, sondern auch ihr Stellenwert. Umso schwerer es Außenstehenden fällt, das Feld zu überblicken, desto höher werden sie die Bedeutung von Experten einschätzen und sich auf ihr Urteil verlassen. Parlamentarier ebenso wie Interessenverbände profitieren nicht davon, wenn sie Dinge einfach halten. Während die Bevölkerung gerade in einer unübersichtlicher werdenden Welt ein grundsätzliches Interesse daran haben muss, dass die Gesetzgebung möglichst einfach ausfällt, kommt ihren selbsternannten Repräsentanten zunehmende Komplexität entgegen, was für die Gesetzgebung nicht ohne Folgen bleibt. So lange einflussreiche Parlamentarier und Experten kein Interesse an ihrer Eindämmung haben, werden sie einer Zunahme der Komplexität wohlwollend gegenüberstehen. Immerhin steigt ihre Wertschätzung genau in dem Maße, in dem der Laie sich nicht alleine zurechtfindet. Jede Expertise, gleichgültig worauf sie beruht, profitiert von jener Unübersichtlichkeit, die sie überhaupt erst notwendig erscheinen lässt. Warum sollten Eliten da nicht die 169 <?page no="170"?> Komplexität steigern, wenn man ihnen Gelegenheit dazu gibt. Die Republik fördert eine Komplexität, die eine Aristokratie erst erforderlich macht, deren Notwendigkeit sie von vornherein behauptet hatte. Indem die Republik das Wahlrecht vorsieht, schafft sie Bürger in der Absicht, von der vermeintlichen Stärke der Demokratie zu profitieren: Legitimität. Wer immer diese für seine Entscheidungen zu reklamieren vermag, genießt weitreichende Macht. Die Republik war ursprünglich angetreten, durch komplexe Verfahren Auswüchse des Machtgebrauchs einzudämmen. Wer aber aufgrund eben dieser Verfahren Legitimität beanspruchen kann, sieht sich mit weitgehender Macht ausgestattet. Ganz offensichtlich schützt die republikanische Verschränkung verschiedener Institutionen nicht vor Autokraten und Autoritarismus. Die beabsichtige Machtkonzentration in der Exekutive wendet sich in den falschen Händen gegen die Republik selbst und ebenso verhält es sich mit der Gesetzgebungsvollmacht, wenn Demokratiefeinde ihrer habhaft werden. Republikanische Legitimität unterliegt zwar komplizierten Regelungen, an deren Ende steht dennoch Entscheidungsgewalt. Die moderne Republik behauptet, »alle Staatsgewalt geht vom Volke aus«, 10 doch letztlich hält sie in Händen, wer es versteht, aus ihren komplizierten Verfahren erfolgreich hervorzugehen. Dann aber liegt die Gewalt nicht beim Volk, sondern bei denjenigen, welche die Institutionen dominieren, was sich dazu nutzen lässt, zukünftig die Verfahren der Legitimitätsgewinnung im eigenen Sinne anzupassen, wie etwa durch Neuregelungen des Wahlrechts oder der Wahlkreise, oder im Umgang mit Pressefreiheit bzw. mit der Unabhängigkeit von Richtern. Wollte man, dass das Volk den Eindruck hat, über Macht zu verfügen, ohne sie ihm in die Hände geben zu müssen, man würde wohl die Republik erfinden. Ihre Institutionen verleihen nicht dem Volk Macht, sondern halten dieses vielmehr von wichtigen Entscheidungen fern. Sie sprechen zwar vom Volk als eigentlichem Quell der Macht, nur um den resultierenden Strom dann durch so viele Barrieren in Form von Verfahren und Institutionen zu regulieren, dass er jegliche Kraft verliert, die dem Willen des Volkes noch innewohnte. Den Lauf des Stroms bestimmen institutionelle Verbauungen und 10 Art. 20 Abs. 2 GG 170 <?page no="171"?> nicht die Bürger, die über keinerlei Durchgriff verfügen. Im Resultat verfügen Regierung und staatliche Einrichtungen über mehr Einfluss darauf, was das Volk für richtig halten solle, als umgekehrt die Bevölkerung darauf, was die Regierenden für richtig halten sollten. Geschaffen, um die Vorzüge von Monarchie, Aristokratie und Demokratie zusammenzuführen, entfalten Wahlen deren Widersprüche: Hatten Monarchen und Aristokraten jenseits ihres vermeintlichen Gottesgnadentums stets mit ihrer Illegitimität zu kämpfen, so verschafft eine Republik die Möglichkeit, darauf verweisen zu können, dass Legitimität sich unmittelbar vom Volk ableitet, um Macht so höchste Weihen zu verleihen. Hatte demgegenüber die Demokratie stets mit dem Vorwurf zu kämpfen, dass sie dem ebenso unverständigen wie ungehemmten Pöbel zur Macht verhilft, so erweckt die Republik den Eindruck, das Volk misstraute sich selbst und hätte sich deshalb eine Regierung der Verständigen gegeben. Schlussendlich aber zweifelt das Volk ebenso wenig an seiner Vorzüglichkeit wie die Elite. Vielmehr bezweifeln große Teile der Bevölkerung die Legitimität von Politikern und Regierenden ebenso wie diese umgekehrt die Tauglichkeit der Bevölkerung als Quelle der Macht. Gegenseitig halten Politiker und Volk einander für unfähig. Schafft sie eine solche Stimmungslage, kann die Republik kein Instrumentarium darstellen, um kollektive Selbstbestimmung zu erreichen. Sie etabliert lediglich Verfahren zur Legitimitätsbeschaffung, zur Repräsentation und zur Herrschaftsausübung. Sie etabliert Verfahren, die von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Bevölkerung getragen sind, die Regierung einzuhegen versuchen und die einem tiefen Glauben an eine taugliche Elite anhaften. Selbst diejenigen, die der Demokratie skeptisch gegenüber stehen, wie etwa Ingolfur Blühdorn , konzedieren die undemokratische Ausrichtung der Republik: Es könnten die Erzählungen der demokratischen Optimisten als Strategie derer interpretiert werden, die ein Interesse daran haben, zu verschleiern, dass die Demokratie in Wahrheit längst nicht mehr das Instrument der Ermächtigung und Gleichstellung der Unterprivilegierten ist, sondern sich verwandelt hat in ein Instrument zur Si- 171 <?page no="172"?> cherung der Privilegien einer elitären Minderheit, in ein Instrument also der politischen Legitimation und des praktischen Managements zunehmender Ungleichheit und Exklusion. 11 Selbstbestimmung lässt sich jedenfalls nur erreichen, wenn Repräsentation unmittelbar an die Zustimmung der Bevölkerung gekoppelt bleibt. Heutige Möglichkeiten ließen das sogar zu. Längst könnten die Menschen unabhängig von Wahlterminen und Wahlkreisen darüber befinden, von wem sie repräsentiert werden wollen. Sie könnten sogar darüber befinden, welche Entscheidungen sie nicht an einen Repräsentanten delegieren wollen. Das heute gängige Konzept repräsentativer Republiken stammt aus einem Zeitalter, in dem noch nicht einmal Eisenbahn und Telegrafie bekannt waren und Zeitungen noch lange nicht die Massen erreichten. Die Ansprüche, an denen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit einer Regierung gemessen werden, stammen ebenfalls aus jener Zeit. Doch nicht nur Transport, Kommunikation und Bildung haben enorm zugenommen, sondern auch der Entscheidungsbedarf, nicht nur im Sinne von Verhandlungsergebnissen, die kaum über Absichtserklärungen hinauskommen, sondern von klaren Weichenstellungen, die nicht nur Gewinner kennen und deshalb allein von demokratische Mehrheiten getragen sein können. Wer soll harte Entscheidungen, wie sie uns die immer bedrohlicheren Herausforderungen abfordern, legitimieren, wenn nicht die Bevölkerung? Allein eine Rückbindung an das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung scheint diesen Entwicklungen gewachsen, will man keiner Diktatur den Weg bereiten. Nicht die Demokratie ist entscheidungsschwach, wie oft behauptet, sondern ihr republikanisches Zerrbild, führt doch das Instrument der Abstimmung Entscheidungen unmittelbar herbei. Gemessen daran, dass weder Liberalismus noch Realismus uneigennütziges Verhalten vorsehen, sind erstaunlich viele Bürger bereit, persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen, um gesellschaftliche Problemlagen zu bewältigen. Die meisten Menschen wirken weniger prinzipienlos und egoistisch 11 Blühdorn, Simulative Demokratie , S. 113. 172 <?page no="173"?> als von solchen Weltauffassungen dargestellt. Während Idealismus in der Bevölkerung durchaus verbreitet scheint, wirkt er regelmäßig korrumpiert, sobald Macht ins Spiel kommt. Prinzipienlosigkeit und Egoismus auf Seiten verantwortlicher Politiker lösen aber nicht einfach deshalb Wut oder gar Resignation aus, weil sie den eigenen Wertvorstellungen oder auch den eigenen Interessen widersprechen. Vielmehr macht solcherlei Verhalten Wahlen schlicht überflüssig: Wenn tatsächlich jeder Politiker nur seinen Interessen und Machtträumen folgt, ist es letztlich gleichgültig, wen ich wähle, weil niemand mehr meine Interessen oder die der Allgemeinheit verteidigen würde. Wenn das Menschenbild des Liberalismus oder Realismus zuträfe, machte Repräsentation keinen Sinn mehr. Es herrschte ein ungehemmter Kampf um Selbstbehauptung, der jede Vertretung anderer Personen ausschließt, sofern sie sich nicht mit den eigenen Interessen unmittelbar deckt. Regelmäßig aber stehen Repräsentation und Verfolgung eigener Interessen zueinander im Widerspruch. Wer eigenen Interessen folgt, kann nicht zugleich die anderer vertreten, außer diese fallen zufällig zusammen. Dass Liberale sich dennoch für Repräsentation stark machen, erstaunt auch deshalb, weil sie der Macht, die mit Repräsentation einher geht, grundsätzlich skeptisch gegenüber stehen. Immerhin hatten sie die Befürchtung, dass Macht missbraucht werden könnte, zum Anlass genommen, für Gewaltenteilung einzutreten. Sie wahren sich der Gefahr bewusst, die von jeglicher Machtbündelung ausgeht, und hatten sie doch zugelassen im Glauben, man könne sie mit anderen Machtapparaten einhegen. Doch geht Gewaltenteilung offensichtlich nicht weit genug, weil sie noch immer einzelnen Personen eine überproportionale Macht verleiht, die diese nicht unbedingt im Sinne derer einsetzen, die sie vertreten. Katastrophal für die Demokratie wirkt sich aus, wenn Mächtige jenes Vertrauen der Massen ausnützen, das diese ihnen nie geschenkt hatten, das Regierungssystem ihnen aber keine andere Wahl ließ, als die Macht an Repräsentanten zu übertragen. Es gibt keine Garantie dafür, dass die Elite der Wahrheit näher ist, sondern allein eine, dass eine politische Elite im Zweifelsfall ihre Macht dazu nutzt, Bürger daran zu hindern, sich ein eigenes Bild von der Wahrheit zu machen. Und selbst wenn eine Regierung dies nicht tut, sorgt ein großes Machtgefälle 173 <?page no="174"?> dafür, dass sie dessen stets verdächtigt wird. Das Vertrauen in Eliten ist dahin, woran diese selbst keinen geringen Anteil hat. Wenn es nun keine letzte Wahrheit gibt, stellt sich nur noch die Frage, wie man im Sinne der Betroffenen handeln kann. Richard Rorty schließt daraus, dass dann nur noch Überzeugungskraft ausschlaggebend sein kann: Für die Idee einer liberalen Gesellschaft ist es von zentraler Bedeutung, daÿ alles erlaubt ist, sofern es um Worte im Gegensatz zu Werken, um Überzeugungskraft im Gegensatz zu Gewalt geht. Diese Aufgeschlossenheit sollte nicht deshalb gehegt und gep egt werden, weil, wie die Bibel sagt, die Wahrheit groÿ ist und siegen wird, auch nicht, weil, wie Milton meint, in freiem und o enem Kampf die Wahrheit immer gewinnen wird. Eine Gesellschaft ist dann liberal, wenn sie sich damit zufriedengibt, das wahr zu nennen, was sich als Ergebnis solcher Kämpfe herausstellt. 12 Obwohl Rorty insoweit doch dem klassischen Liberalismus zu sehr verpflichtet bleibt, als dass er der Demokratie vertrauen würde, bildet sie doch die einzig logische Konsequenz: auf wen sollte »Überzeugungskraft« sonst zielen, wenn nicht auf die Bevölkerung. Damit nicht alle Bürger über alles entscheiden müssen, liegt es nahe, sich durch Repräsentanten vertreten zu lassen. Sofern diese aber nicht einem permanentem demokratischen Vorbehalt unterstehen, sind sie versucht, ihre Stellung sei es auch nur punktuell oder zumindest nicht vordergründig in einer Weise zu nutzen, für die es in der Bevölkerung keinen Rückhalt gibt. Umgekehrt würde es 12 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität , S. 96. 174 <?page no="175"?> kollektive Selbstbestimmung beschneiden, wollte man Repräsentation grundsätzlich untersagen. Die Republik verspricht, die Vorteile der drei Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie zusammenzubringen, doch ähnlich wie bei Wahlversprechen bleiben die daraus sich ergebenden Nachteile unerwähnt. Ihre institutionellen Verwicklungen bieten Gelegenheiten für Verhandlungen bis hin zu Selbstblockade und Entscheidungsschwäche. Die anstehenden Herausforderungen verlangen aber Beschlüsse, die nicht nur Gewinner kennen. Gelingt es nicht, das dezisive Potential der Demokratie für deren Legitimation zu mobilisieren, ebnet man der Diktatur den Weg. 3.4 Liberalismus und Individualismus Liberalismus zielt darauf, uns möglichst große Entscheidungsfreiheit zu überlassen. In wirtschaftlicher Hinsicht drängt er uns zu Eigenverantwortung und verlangt, dass Individuen sich mit zahllosen Details und komplizierten Sachfragen auseinandersetzen. Jede/ r Einzelne sieht sich fortwährend damit konfrontiert, Konsum-, Investitions- und Transaktionsentscheidungen zu treffen. Nicht selten täuscht das mehr Wahlmöglichkeiten vor als tatsächlich bestehen, weil Angebote sich kaum unterscheiden, zuweilen lediglich unter verschiedenen Marken firmieren. Nichtsdestotrotz beruht eine liberale Wirtschaftsordnung darauf, den Menschen die Verantwortung für ihr Leben zu überlassen und ihnen das auch zuzutrauen, während umgekehrt koordinierter Lenkung misstraut wird. In politischer Hinsicht nimmt uns das ebenfalls liberale Demokratieverständnis jedoch individuelle Wahlmöglichkeiten in Sachfragen weitgehend und überträgt sie an Repräsentanten. Hier beschränkt sich unsere Entscheidungsfreiheit darauf, alle paar Jahre eine bestimmte Partei wählen zu können. Was diese dann in einzelnen Gesetzesvorhaben daraus macht, kann 175 <?page no="176"?> kaum mehr beeinflusst werden. Der gleiche Liberalismus also, der die Bürger zu tagtäglichen wirtschaftlichen Entscheidungen - kleinteiligen ebenso wie solche von großer Tragweite - in der Lage sieht, traut ihnen kein politisches Urteilsvermögen zu, sondern reduziert ihre Einbindung auf eine einzige Wahlentscheidung unentwirrbar programmatischer und personeller Art zugleich, wodurch ein Gefühl von Verantwortung gar nicht erst aufkommen will. Bürger sollen also kleinteilig ihren Alltag regeln, dessen Rahmenbedingungen ihnen aber entzogen bleiben, sind diese doch politisch durch den Liberalismus bereits gesetzt und durch allerlei republikanische Institutionen vor demokratischen Zugriffen geschützt. Dahinter steht ein paternalistisches Gesellschaftsmodell, das Bürgern (natürlich unter Aufsicht) Freiraum auf einem öffentlichen (Spiel-)Platz gibt, in dessen Gestaltung sie nicht einbezogen werden. Die politische Bevormundung steht in schärfsten Kontrast zur Forderung nach völliger Eigenverantwortung in wirtschaftlichen Dingen. Durch diesen drastischen Gegensatz entsteht der Eindruck, dass jeder in seiner ökonomischen Vereinzelung völlig allein(-gelassen) Konzernen mit überlegener Ressourcenausstattung gegenüber steht, während er zugleich politisch genau an jener Kooperation gehindert wird, aus der Unternehmen ihre Kraft schöpfen. Privatisierungen, Liberalisierungen und Deregulierungen verstärken die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und politischer Eigenverantwortung zusätzlich, indem sie immer wieder neue ökonomische Entscheidungsnotwendigkeiten schaffen, die ehedem staatlich geregelt waren: Telekommunikation, Stromversorgung, Krankenversicherung, Zusatzversicherungen für Rente, Pflege, Zahnersatz usw. Während wir in wirtschaftlicher Hinsicht also individuell gesteuerten Interessen vertrauen mit der urliberalen Erwartung, dass sich diese von einer »unsichtbaren Hand geleitet« 13 ausgleichen mögen, herrscht in politischer Hinsicht ein tiefes Misstrauen gegenüber den Entscheidungen von gewöhnlichen Menschen. Wir legen unser wirtschaftliches Schicksal ganz und gar in die Hände von völlig ungesteuerten, individuellen Austauschbeziehungen, 13 Smith, Der Wohlstand der Nationen , S. 371. 176 <?page no="177"?> politisch aber trauen wir der Urteilsfähigkeit der gleichen Individuen nicht über den Weg. Obwohl die republikanische Demokratie damit dem Prinzip der Eigenverantwortung widerspricht und die individuelle Entscheidungsfreiheit stark einschränkt, halten Liberale sie dennoch für vereinbar mit ihren Grundsätzen, allein weil sie eine Marktförmigkeit ausmachen, wo Parteien Angebote unterbreiten, aus denen Bürger wählen können. Sie sehen in der Demokratie einen Markt, auf dem Parteien ihre Produkte anbieten und die Bürger wie Kunden zugreifen können, sie behandeln »Politik als Quasi- Marktbeziehung«, 14 wenn sie nicht wie Milton Friedman Wirtschaft mit Politik einfach gleichsetzen: So betrachtet besteht die Funktion des Marktes darin, dass er Übereinstimmung ohne Konformität zulässt, eine echte repräsentative Vertretung. 15 In der Politik gibt es jedoch alles nur in Form von Bündelangeboten, wie sie von Parteien zusammengestellt werden: Die wenigen Warenkörbe sind schon gefüllt, man hat nur noch die Wahl, welchen man nimmt. In Ländern mit Mehrheitswahlrecht stehen lediglich zwei verschiedene zur Auswahl, in anderen ein paar mehr, was angesichts der möglichen Kombinatorik dennoch geradezu einer Vernichtung nennenswerter Wahlfreiheit gleichkommt. Hinzu kommt, dass die Bündel nicht unbedingt enthalten, was sie versprechen. Wenn später die Packungen geöffnet werden, verbirgt sich darin Anderes als erwartet, denn Parteien setzen nicht notwendig um, was sie angekündigt haben. Einmal gewählt haben Repräsentanten letztlich freie Hand, was ihnen Handlungsspielraum für sich verändernde Situationen verschaffen soll, freilich aber auch jeder anders motivierten Umorientierung Tür und Tor öffnet - sofern die Wahlversprechen überhaupt ernst gemeint waren. Ist es das, was Liberale unter Markt verstehen? Auf einem Marktplatz konkurrieren verschiedene Anbieter und wer den Kunden Minderwertiges anbietet oder gar eine Schale Erdbeeren anpreist, 14 Ptak, »Grundlagen des Neoliberalismus«, S. 29. 15 Friedman, Kapitalismus und Freiheit , S. 46. 177 <?page no="178"?> in der sich unter der Oberfläche Pflaumen befinden, wird schon in der folgenden Woche weniger Kunden zählen. Findet der Markt aber nur alle paar Jahre statt und man musste schon mit mehreren Anbietern solche Erfahrungen machen, verkaufen außerdem alle die Erdbeeren immer nur zusammen mit Anderem, dann bleibt nur noch die Wahl des geringsten Übels oder man hält sich gleich ganz fern. Wieso sollte ein solches Verhalten im politischen Bereich ausgerechnet Liberale verwundern, wenn sie doch im ökonomischen nichts anderes erwarten würden? Doch der Liberalismus misstraut Politik, weil er übergreifende Koordination und Planung für unmöglich hält. Die Welt erscheint ihm in ihrer Komplexität die Verarbeitungskapazität menschlicher Vernunft zu übersteigen. Deshalb will er politische Koordination weitestgehend vermeiden und alles dem unkoordinierten Ergebnis individueller wirtschaftlicher Entscheidungen überlassen in der Hoffnung, die »unsichtbare Hand« - jene für den Liberalismus so unverzichtbare Metapher Adam Smith ’ - möge es richten. So steht für Friedrich Hayek , Vordenker des Neoliberalismus, fest: Eine Ordnung, die eine Anpassung an Umstände voraussetzt, deren Kenntnis unter viele Leute verstreut ist, kann nicht durch zentrale Lenkung hergestellt werden. 16 Denn dafür hält Hayek die Fähigkeiten der Menschen für nicht hinreichend. Diese ganze Vorstellung, daÿ der Mensch bereits mit einem Verstand ausgestattet ist, der fähig ist, sich eine Zivilisation auszudenken, und sich daran gemacht hat, diese zu scha en, ist grundlegend falsch. 17 Einzig möglich und sinnvoll erscheint Hayek die »Bildung spontaner Ordnungen«, weshalb die »Aufgabe des Gesetzgebers« darin bestehe, »Bedingungen zu schaffen, unter denen sich eine solche Ordnung bilden und 16 Hayek, Die Verfassung der Freiheit , S. 205. 17 Ebd., S. 33. 178 <?page no="179"?> immer wieder erneuern kann.« Er soll für »vernunftbegabte Menschen, von denen wir wünschen, daß sie ihre persönlichen Fähigkeiten in der Verfolgung ihrer eigenen Ziele so erfolgreich wie möglich nutzen,« einen »Schutz vor unvoraussagbaren Eingriffen« schaffen. 18 Dass ihm das spontane Zusammenspiel von Menschen als vorhersehbar erscheint, politische Planung jedoch nicht, verweist auf eine Besonderheit der liberalen Auffassung von Ordnung : Das gesellschaftliche Leben gilt dieser immer schon als völlig geordnet, sodass es durch politische Eingriffe nur durcheinander gebracht werden kann. Der Liberalismus bezweifelt damit, dass es der Politik bedarf, um eine Grundlage für gesellschaftliche Ordnung zu schaffen, sondern hält diese unabhängig davon immer schon für vorhanden. Soziale Strukturen mitsamt Gesetzen gelten ihm als in ihrer - oder vielmehr durch ihre - Naturwüchsigkeit geordnet. In »Tradition und Gebräuchen« verkörpert sich demnach ein »evolutionäres« 19 Ergebnis einer »anpassenden Entwicklung«. 20 Wo anderen die Unberechenbarkeit unkoordinierten Geschehens Furcht einjagt, erkennt Hayek eine »spontane Ordnung«, der er mehr traut als menschlicher Vernunft. Alles Geplante gilt ihm hingegen als artifiziell und damit unzureichend, hält er doch den menschlichen Geist für unzureichend, um sich auf die Komplexität seiner Umwelt einen Reim zu machen. Hierauf könnte nun freilich die Frage anschließen, ob diese Unzulänglichkeit nicht auch für Hayeks eigene Einschätzungen gelten müsste; ganz davon abgesehen, dass die von ihm geforderte Unterlassung staatlicher Planung selbst einem Plan folgt, der oft genug nicht der Naturwüchsigkeit freien Lauf lässt, sondern die Menschen lediglich den einseitigen Plänen einflussreicher wirtschaftlicher Akteure aussetzt. Um eine solche Sicht überhaupt vertreten zu können, darf es sich bei Gesetzen dann keinesfalls um Instrumente politischer Koordination oder gar Steuerung handeln, sondern sie müssen ebenfalls naturwüchsiger oder gar spontaner Ordnung zugeschlagen werden; gerade so als entsprängen sie keiner willentlichen Entscheidung und als ergäbe sich der Gesellschaftsaufbau 18 Ebd., S. 206. 19 Ebd., S. 82. 20 Ebd., S. 76. 179 <?page no="180"?> rein zufällig. Dabei ist das Bemühen einflussreicher Personen nicht zu übersehen, das jene Ordnung zu verwirklichen strebt, die ihnen zuträglich erscheint - wobei Hayek selbst zu Lebzeiten nichts anderes tat. Auf Grundlage solcherlei Ungereimtheiten kommt es dann, dass Hayek einerseits die moderne Allgegenwart des »Rechtspositivismus« 21 beklagt , andererseits aber wider besseren Wissens an der romantischen Vorstellung festhält, aus der Gesetzeslage spräche eine codifizierte Tradition, die allein dadurch gut sei. Genau das hatten auch absolutistische Herrscher im Niedergang nur allzu gern ihre Untertanen glauben machen wollen. Um die liberale Überzeugung von der »unsichtbaren Hand« als Allheilmittel darauf anwenden zu können, wird das Rechtswesen in einen tribalen Zustand zurückversetzt, in dem überlieferte Gebräuche das Zusammenleben bestimmten. Hayek gibt sich damit im Zweifel sogar einer abergläubischen Tradition hin, um nicht einräumen zu müssen, dass vernunftgeleitete Eingriffe Positives bewirken können. Obwohl Liberale die heilsamen Mechanismen des Marktes überall beschwören, geben sie sich seltsamerweise trotzdem mit einer oberflächlichen Umsetzung zufrieden. Nicht nur in der Politik bestimmen weniger die Menschen über ihre Nachfrage als große Organisationen über ihre Marktmacht, was angeboten wird: In der Wirtschaft dominieren in vielen Bereichen einige wenige Konzerne, welche Güter produziert werden; wenige Ketten geben im Einzelhandel durch ihre Produktauswahl vor, was es überhaupt zu kaufen gibt; bei an Infrastruktur gebundenen Diensten wie Gas, Strom oder Telekommunikation können sich die Produkte gar nicht unterscheiden, sondern lediglich die Organisation der Anbieter; und im Internet läuft der selbstverstärkende Effekt erfolgreicher Plattformen jedem Wettbewerb zuwider. Der kapitalistische Markt wird heute nicht vom Kundenverhalten dominiert, vielmehr fügt sich dieses umgekehrt in jene Konsummuster, welche Konzerne unterbreiten. Diese begnügen sich im Zuge der Digitalisierung nicht mehr allein damit zu kanalisieren, wie konsumiert wird, sondern heben dazu an, jede Kommunikation sich anzueignen, wobei diese allzu bereitwillig immer weitergehend der geforderten Plattform-Kompatibilität sich fügt. 21 Hayek, Die Verfassung der Freiheit , S. 322. 180 <?page no="181"?> Die moderne, liberale Welt ist weit entfernt von jener Marktförmigkeit, die sie immerzu beschwört: Hier befriedigen nicht viele kleine Anbieter die ungetrübten Bedürfnisse der Kunden, sondern einige große Organisationen versuchen nicht nur ein Verlangen nach ihren Produkten, sondern auch eine Fixierung darauf herbeizuführen; ja, sie versuchen einen Fetisch zu erschaffen. Schon immer ergibt sich dieser nicht aus den Dingen selbst, sondern aus dem sozialen Verhältnis der Menschen untereinander. Der heutige Fetischismus steigert dabei jenen, den Karl Marx bereits grundsätzlich angelegt sah: Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu scha en. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu nden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt üchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist. 22 Wie der Wert jeder Ware entspringt auch der Fetisch dem gesellschaftlichen Verkehr und wohnt nicht dem Ding an sich inne. Er steigt an, je mehr Statusprofilierung der stolze Besitz verspricht. Im Zeitalter äußerlich und in ihrer Funktionalität kaum unterscheidbarer elektronischer Geräte suchen die Hersteller diesen eine Wertigkeit - und eben nicht unbedingt einen Wert , wie die geradezu aufrichtige Formulierung offenbart - anzuhaften, die ihre Unscheinbarkeit überstrahlen soll. 22 Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 86 f. 181 <?page no="182"?> Die damit dann zugänglichen gleichförmigen Internetdienste versprechen ganz im Gegensatz dazu nicht Status schlicht durch Erwerb , sondern bieten buchstäblich jeder/ m eine Plattform, auf deren Grundlage sie/ er mit dem eigenen Selbst den Status sozial auszutarieren sich anschickt. Der ist dort nicht käuflich, sondern fordert Freizügigkeit bis hin zur Frivolität; nicht der Status prostituiert sich dort, sondern diejenigen, die dafür sich zur Schau stellen. Jede/ r wird hier zum Produzenten ihrer/ seiner selbst als Ware , sucht sich selbst in einen Fetisch zu verwandeln, von dem die anderen nicht lassen können und dies in Abonnements oder durch anders geartete minimalistische Bestätigungen dokumentieren. Daneben aber streift der Fetisch seinen sozialen Charakter vollständig ab, wo Software sich des menschlichen Spieltriebs bemächtigt und dessen Aufmerksamkeit absorbiert. Auch beschränkt der Fetischismus sich hier nicht mehr auf die Ware selbst, sondern erfasst ihren Gebrauch, ohne dass daraus ein »Gebrauchswert« im materialistischen Sinn erwachsen würde, weil er jeder »Nützlichkeit« 23 entbehrt. Schon lange zuvor ermöglichte es gerade Nutzlosigkeit , einen Fetisch obszön zu steigern, besteht Luxus doch darin, seine Überflüssigkeit zur Schau zu stellen. Was aber könnte heute zu Tage luxuriöser sein, als maßlos Zeit zu verschwenden? Das virtuelle (Computer-)Spiel jedenfalls bleibt gesellschaftlich nutzlos, dient allein der Welt entfremdeter Unterhaltung, wobei »Entfremdung« 24 buchstäblich eine Virtualisierung erfährt. In der Fabrik stand den Arbeitern ihre Arbeit und ihr Produkt entfremdet gegenüber, weil sie nicht für sich arbeiteten und produzierten. Insofern für den Fließbandarbeiter der von ihm gefertigte Gegenstand schon immer austauschbar war, war er selbst es für die Fertigung dieses Gegenstands ebenfalls. Schließlich wurde er tatsächlich ausgetauscht und von Automaten ersetzt, die ohnehin kein Verhältnis zu ihrer Produktion hegen. In der automatisierten Fertigung dann verhalten sich die Produkte schon deshalb nicht mehr gegenüber ihren Produzenten entfremdet, weil sie weitestgehend ohne menschliches Zutun hergestellt werden. Sie sind nicht das 23 Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 50. 24 Marx, »Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844«, S. 512. 182 <?page no="183"?> Ergebnis menschlicher Arbeit, sondern rein maschinelle Erzeugnisse. Es gibt dort keine Arbeiter mehr, denen gegenüber ein Produkt oder ein Arbeitsprozess entfremdet sein könnte. Vielmehr verhalten sich die Produkte zu den Menschen in einem Maße unabhängig, dass man sich die Art und Weise ihrer Herstellung immer schwerer vorzustellen vermag. Die Designer von Fertigungsstraßen, Arbeitsrobotern oder Computer- Programmen wiederum haben oftmals ein sehr enges Verhältnis zu den von ihnen entwickelten Produkten, so wie es auch schon Erfinder von Maschinen zu ihrer Erfindung hatten. Insbesondere Neu-Entwicklungen setzen eine Vertrautheit voraus, die ganz unabhängig von den vorliegenden Besitzverhältnissen jedes Einander-Fremdsein ausschließt. Im Zeitalter der Digitalisierung nun hat Arbeit jeden physischen Kontakt zu seinen Produkten verloren. Sie hat sich virtualisiert und das gleiche ist mit der Entfremdung geschehen. Allerdings betrifft sie den Arbeiter nicht mehr, schlicht weil es seiner nicht mehr bedarf, dafür ereilt sie den Konsumenten . Software, insbesondere Spiele, verwandelt Konsumtion selbst in Arbeit. Man verzehrt sie nicht, sondern sie zehrt von einem. In endlosen Stunden will sie in all ihren Facetten durchgespielt, durchgearbeitet, durchforscht, durchlebt werden. Zum virtuellen Spiel verhält sich der Spieler wie zu einem »fremden und über ihn mächtigen Gegenstand.« 25 Dort begibt er sich in ihm fremde Welten und sollten diese ihm dann zur Natur werden, liegt genau darin eine Gefahr, die sein eigenes Leben außer Kontrolle zu bringen vermag. Sein einziges Arbeitsprodukt in dieser fremden Welt liegt in der ebenso abstrakten wie entfremdeten Form des Highscores . Auch gerät die Tätigkeit des Spielens selbst insofern entfremdet, als sie ihren ursprünglichen spielerischen Charakter der körperlichen Nachahmung ersetzt durch eine rein visuelle Simulation, die auf einige wenige einfache Muster immer gleicher minimalistischer körperlicher Bewegungen aufsetzt. Mausbewegungen treten an die Stelle von Fertigkeiten an Instrument, Ball, Gerät oder einfach Stock und Stein. 25 Ebd., S. 515. 183 <?page no="184"?> Im Spiel wird des Spielers eigene physische und geistige Energie [...], sein persönliches Leben denn was ist Leben (anderes) als Tätigkeit als eine wider ihn selbst gewendete, von ihm unabhängige, ihm nicht gehörige Tätigkeit. Die Selbstentfremdung wie oben die Entfremdung der Sache. 26 Insofern das Spielen selbst zur Natur wird, erwächst daraus die gleiche Gefahr, wie sie Marx schon für entfremdete Arbeit beschrieben hat, wo der Arbeiter »keine physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert.« 27 Anders als Arbeit erfolgt das Spiel allerdings nicht unfreiwillig, was die von ihm ausgehende Gefahr umso virulenter macht. Denn anders als der Arbeiter die Arbeit verneint der Spieler das Spiel nicht, sondern bejaht es, und umso mehr er dies tut, desto stärker verneint er das Leben jenseits seiner virtuellen Welt. Bei aller verblüffenden Verwandtschaft des virtuellen Spiels mit Marx’ Auffassung von entfremdeter Arbeit, liegt hier ein bedeutender Unterschied, weil der Spieler kein Unglück verspürt: Worin besteht nun die Entäuÿerung der Arbeit? Erstens, daÿ die Arbeit dem Arbeiter äuÿerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehört, daÿ er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst auÿer der Arbeit bei sich und in der Arbeit auÿer sich. 28 Bei aller Bejahung wird man allerdings auch im Spiel sich selbst fremd, indem man ein/ e andere/ r wird. Insofern das spielerische Ich zur Natur wird, wird es zur Gefahr. 26 Marx, »Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844«, S. 515. 27 Ebd., S. 514. 28 Ebd., S. 514. 184 <?page no="185"?> Es entfremdet dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur auÿer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen. 29 Für den Spieler gilt: Das Leben selbst erscheint nur als Lebensmittel. 30 Umso mehr ihm das Spiel nicht entfremdet erscheint, desto mehr entfremdet er sich von der Welt, in der er lebt, in der er sein Leben reproduziert. Für Marx würde er damit halb zum Tier , weil »die freie bewußte Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen«, wogegen gilt: Das Tier ist unmittelbar eins mit seiner Lebenstätigkeit. Es unterscheidet sich nicht von ihr. Es ist sie. Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewuÿtseins. Er hat bewuÿte Lebenstätigkeit. 31 Auch der Spieler wird eins mit seiner Lebenstätigkeit, das aber durchaus bewusst. Schließlich entfremdet das Spiel die Menschen voneinander, es forciert »die Entfremdung des Menschen von dem Menschen .« 32 Die Konsumenten entfremden sich ihren Mitmenschen, indem sie Produkte nutzen, die sie in eine eigene Welt entführen. Das server-basierte Spiel löscht den zwischenmenschlichen Austausch zwar nicht aus, gibt ihm aber seine Form vor und diese dominiert oder ersetzt gar zunehmend jede andere. Insofern dies zur Natur wird, löst sich diesseitig der Kontakt auf und findet nur noch virtuell statt, was vor allem bedeutet, dass die möglichen Formen der Interaktion nicht mehr von den Interagierenden selbst bestimmt werden, sondern von denjenigen, die virtuelle Welten erschaffen. 29 Ebd., S. 517. 30 Ebd., S. 516. 31 Ebd., S. 516. 32 Ebd., S. 517. 185 <?page no="186"?> Das bewusste Spiel im Sport, am Instrument oder am Brett macht die verwendeten Spielzeuge zu Werkzeugen, an denen besondere körperliche und kognitive Fertigkeiten ein- und ausgeübt werden, sodass der Mensch für sich oder mit anderen gemeinsam seine Kreativität zu äußern vermag. Das entfremdete Spiel in virtuellen Welten dagegen macht die Nutzer selbst zu Werkzeugen, indem es sich ohnehin vorhandener, minimaler Fertigkeiten auf deren Seite bedient, um vorgegebene Welten zu bevölkern, auf dass sich jeder im Rahmen der Vorgaben seiner selbst entäußere. Angesichts des um sich greifenden Versinkens in virtuellen Spielwelten tritt der Warencharakter so sehr in den Hintergrund, dass der Produktgebrauch selbst eine Lebenswelt annimmt, die den Konsumenten vergessen macht, wie er selbst zum Rohstoff wird, den es auszubeuten gilt. Ebenso erheben virtuelle Sozialwelten ihren Gebrauch zu einer Lebensform und geben so dem Fetisch-Charakter jene soziale Basis zurück, die er im isolierten Spiel zu verlieren drohte, nur um zum Produkt gerinnen zu lassen, was der Nutzer an Daten hinterlässt, auf dass er Warencharakter annehme und die Bedürfnisse der Industrie befriedige. Seine volle Kraft entfaltet der Fetisch folgerichtig im server-basierten Modus, sobald Spiel und Kommunikation nur mehr dazu dienen, an Daten derjenigen zu gelangen, deren Gedanken und Regungen man ohnehin längst in der eigenen virtuellen Welt vollständig eingehegt hat. Digitale Unternehmen akkumulieren Kommunikationen in einem noch viel umfangreicheren Maße als es industriellen mit Kapital jemals gelang. Jeden nur erdenklichen zwischenmenschlichen Austausch suchen sie nach und nach auf ihre Plattform zu ziehen oder auch nur mitverfolgen zu können. Was mit unseren Kommunikationen geschieht, darüber entscheiden längst Instanzen mit Zugriff auf die Webserver dieser Welt. Auf den Kapitalismus folgt deshalb wohl kein Kommunismus, sondern gewissermaßen ein Kommunikationismus . Die Macht in Händen hält dann nicht mehr, wer das größte Kapital angehäuft hat, sondern wer die meisten Kommunikationen kontrolliert und observiert. Industriebetriebe liefern nur noch Verbrauchsgüter als Grundlage für eine Gesellschaft, in der Digitalkonzerne Kommunikation bewirtschaften . Wenn angesichts der Endlichkeit des Planeten die Grenzen der Produktionsausweitung erreicht werden, lässt sich damit ohnehin keine Umsatzstei- 186 <?page no="187"?> gerung mehr erreichen, weshalb Gewinn sich nur mehr aus Kommunikation schöpfen lässt. Insofern fügt sich Digitalisierung perfekt in die gegenwärtigen globalen Herausforderungen, wobei es weniger um monetären Gewinn geht, sondern Kommunikation selbst letztlich zur relevanten Währung wird. Sogar die ans Kapital rückgebundene Werbung nimmt im Internet dann eine neue Bedeutung an, wenn sie nicht mehr als breit gestreute klassische Anzeige funktioniert, sondern sich individualisiert in von der Plattform kontrollierte Kommunikation einfügt. Diese Kontrolle dient den Konzernen aber gar nicht mehr vorrangig zur Kapitalakkumulation, vielmehr lässt sich darüber nicht allein der Kapitalfluss dominieren, sondern auch Macht ausüben. Nicht mehr Geld regiert die Welt, statt dessen ist Kommunikationskontrolle an ihre Stelle getreten, weshalb Staaten selbst diese zunehmend zu gewinnen suchen und dafür einen »Permanent Record« erstellen, mit dem sie alles überwachen, dessen sie habhaft werden, was jede Kommunikation mit und in der Umgebung von elektronischen Geräten umfasst (deren Mikrofone und Kameras Geheimdienste eigens dafür auch aus der Ferne einzuschalten vermögen). Edward Snowden zitiert die Bemerkung eines leitenden technischen Beamten, Ira ›Gus‹ Hunt, die dieser auf einer Technologiekonferenz bereits 2012 getätigt hat: 33 Es liegt nahezu in unserer Reichweite, alle von Menschen erzeugten Informationen zu erfassen. Die Unterstreichung stammte von Gus selbst. 34 Zur fortwährenden Machtkonzentration bei großen Organisationen, wie wir sie mit unvergleichlicher Rasanz bei Internet-Plattformen erleben, hat ein vertrauensseliger Glauben an die wohltuende Leistungsfähigkeit der Eliten beigetragen, den der Liberalismus von Beginn an zu verbreiten suchte. Zur Rechtfertigung weitreichender individueller Freiheiten ebenso wie eklatanter Ungleichheiten beruft er sich seit John Stuart Mill auf die »Wichtig- 33 Snowden verweist auf einen Mitschnitt bei Youtube, in dem Gus Hunt eine Folie mit folgendem Wortlaut zeigt: »It is nearly within our grasp to compute on all human generated information.« (Hunt, We Try to Collect Everything and Hang Onto It Forever , Minute 27: 18) 34 Snowden, Permanent Record , S. 315. 187 <?page no="188"?> keit des Genies«, von dem unter der Bedingung der »freien Entfaltung« 35 eine segensreiche Wirkung für die Gesellschaft ausgehe. Im Zeitalter der Digitalisierung kann den kommerziellen Erfolg manch findiger Geschäftsidee nicht bestreiten, selbst wer von ihrer Zuträglichkeit nicht restlos überzeugt ist. Ebenso wenig wird man aber bestreiten können, dass die Machtkonzentration weiter zugenommen hat und der Liberalismus keine Grenze für diesen Vorgang vorsieht - entgegen allen liberalen Beteuerungen, Macht skeptisch gegenüber zu stehen. Wenn individuelle Freiheit dazu führt, dass einzelne Personen enormen Einfluss anhäufen, dann gilt ihm das als Ergebnis jener »spontaner Ordnungen«, denen er nichts entgegensetzen will, selbst wenn dadurch alle anderen zu Marionetten verkommen sollten. Liberale hegen blindes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Eliten, auch wenn von deren allgegenwärtigem Einfluss stets nur die ohnehin Starken profitieren, während sie dem gemeinen Volk Misstrauen entgegen bringen. Aller Freiheitsdrang der Liberalen diente so regelmäßig dazu, Elitenangehörigen Handlungsoptionen zu verschaffen, die dem Großteil der Bevölkerung aufgrund begrenzter Ressourcenausstattung sowieso verschlossen bleiben. Jedenfalls empfand nicht nur Mill es als Bedrohung, wenn »die Ansichten der Massen durchschnittlicher Köpfe überall zur Herrschaft« kommen, wogegen man die Exzellenz einzelner Individuen, »die auf einer höheren Stufe des Denkens stehen« 36 glaubte verteidigen zu müssen. Eine Haltung, die Liberale seit jeher begleitet, wobei sie sich selbst offenbar eine solch »höhere Stufe des Denkens« attestieren, ohne anzugeben, worauf diese Annahme beruht. Carlo Strenger ist davon überzeugt, dass Liberale auf einer solch höheren Stufe stehen, weil sie über bessere Bildung verfügen. Deshalb bildeten sie nicht nur die »neuen Eliten«, 37 sondern hätten auch das einzig richtige Verständnis von den Dingen, wogegen andere aufgrund defizitärer Kenntnisse zu Fehleinschätzungen kämen: 35 Mill, Über die Freiheit , S. 90. 36 Ebd., S. 92. 37 Strenger, Diese verdammten liberalen Eliten , S. 12. 188 <?page no="189"?> Wenn die liberale Demokratie überleben soll, müssen wir die gröÿtmöglichen Anstrengungen unternehmen, damit die Bevölkerungsmehrheit die Bürgertugenden und Kenntnisse erwirbt, die notwendig sind, um politischen Argumentationen folgen und ihre Stichhaltigkeit einschätzen zu können. 38 Für Strenger steht fest, dass die liberalen Positionen richtig und Menschen mit anderen Ansichten einfach nur zu ungebildet sind, um das nachvollziehen zu können. Das Beste wäre es aus seiner Sicht deshalb, wenn alle eine so gute Ausbildung erführen, wie er selbst, um die »Grundlagen freiheitlicher Bildung« 39 zu erhalten. Anstatt andere Positionen zuzulassen, wie es sich für eine liberale Haltung geziemte, begeht er damit, was er Liberalen zuvor selbst vorgeworfen hatte. Nämlich den groÿen Fehler der liberalen Kosmopoliten: Sie haben die wahrhaft destruktive Neigung, stärker traditionsgebundene Gesellschaftsgruppen, die ihre aufgeklärten Ansichten nicht teilen, geringzuschätzen und runterzumachen . 40 Abgesehen davon, dass man sich in bester stalinistischer Tradition befände, wollte man tatsächlich Liberalismus mittels klar liberal ausgerichteter Schulbildung durchsetzen, verfährt Strengers Argumentation kurzschlüssig: Liberale sind besser, weil sie liberale Bildung genossen haben und diese wiederum ist gut, nun ja, weil sie liberale Werte vermittelt. Der liberale Glaube an die Eliten entspringt jedoch ganz offensichtlich nicht jener liberalen Grundidee, wonach grundsätzlich jeder Mensch »nur als einzelner« 41 und somit gleich viel zählt, sondern der Anmaßung, Exzellenz - sofern sie liberale Werte vertritt - dürfe sich aufgrund ihrer vermeintlich »höheren Stufe 38 Ebd., S. 160. 39 Ebd., S. 160. 40 Ebd., S. 129. 41 Buchanan, Die Grenzen der Freiheit , S. 3. 189 <?page no="190"?> des Denkens« alles erlauben, was zweifelsohne besonders erstrebenswert denen erscheint, die sich selbst zugehörig wähnen. Aus einem universalistisch verstandenen Liberalismus jedenfalls lassen sich der Elite keine Vorrechte einräumen. Was die Konzentration auf den Märkten angeht, können Liberale zwar darauf verweisen, dass die rückläufige Zahl an Wettbewerbern auf Konsumentscheidungen der Kunden zurückgeht und somit selbst Ergebnis des Marktgeschehens ist. An vergleichbarer Machtkonzentration in der Politik nehmen sie jedoch Anstoß, obgleich man doch auch dort ein freies Spiel der Kräfte - hier der politischen statt der ökonomischen - am Werk sehen könnte, bei dem die ohnehin bereits Mächtigen ebensolche Vorteile genießen wie die ohnehin Vermögenden in der Wirtschaft. Während Liberale rein politische Macht also stets zu beschränken trachten, vertreten sie regelmäßig Konzerninteressen, ohne sich daran zu stören, dass die Wirtschaft sich immer stärker jener bevormundenden Politik angleicht, die sie so ablehnen. Nicht aus der Nachfrage ergibt sich das Angebot, sondern dominante Organisationen geben vor, was zur Auswahl steht. Bürgern und Kunden bleibt nichts anderes mehr, als sich den genannten Bedingungen zu unterwerfen oder sich zurückzuziehen: Wer Plastikverpackungen vermeiden will, sieht sich in seiner Produktauswahl deutlich eingeschränkt; wer humane Arbeitsbedingungen fordert, findet nur mit Mühe Kleidung oder elektronische Geräte; wer persönliche Daten nicht zur Verfügung stellen möchte, muss mittlerweile nicht nur auf gängige internet-basierte Dienste verzichten, sondern wird zugleich von allen Kreisen ausgeschlossen, die sich darüber koordinieren. Statt Bedürfnisse der Verbraucher zu befriedigen, wie es die liberale Theorie vorsieht, 42 schließt Marktmacht all diejenigen vom sozialen Leben aus, die sich nicht den Bedürfnissen der Unternehmen unterwerfen, wobei sie dabei die Bequemlichkeit der Konsumenten in einer Weise zu bedienen suchen, die jeglichen Versuch einer weniger bequemen oder egoistischen Lebensweise aberwitzig erscheinen lässt. Der homo oeconomicus liegt weniger in der menschlichen Natur, aus der die Richtigkeit des Wirtschaftsliberalismus 42 Vgl. Mises, Liberalismus , S. 3. 190 <?page no="191"?> angeblich folgt, als dass dieser ihn erst hervorbringt, indem er seine Denkweise für einzig richtig hält und befördert. Allgegenwärtige psychische und soziale Verwerfungen zeigen das immer schon an, wenn man sie nur wahrnehmen wollte: Depressionen und Rebellionen entspringen keinem Nutzenkalkül und dürfte es nicht geben, entspräche dieses der menschlichen Natur. Dominante Organisationen kehren die Verhältnisse am Markt und in der Demokratie um: Statt Konsumenten die gewünschten Produkte oder Bürgern die erhofften Gesetze führen Wirtschaft und Politik zunehmend den Konzernen Kunden und den Parteien Wähler zu - nicht selten für Bündelangebote, deren unerwünschte Bestandteile unausweichlich gemacht werden. Mit der Wahl einer Partei bekommt man ebenso ungewollt unangekündigte (Deregulierungs-)Maßnahmen wie mit der Wahl eines Betriebssystems verborgene (Überwachungs-)Funktionen. Das »Zeitalter der Nebenfolgen« 43 nimmt damit eine für Bürger und Konsumenten niederschmetternde Wendung, die noch aus ihrer Ohnmacht Gewinn zu ziehen trachtet: Seiteneffekte sind weder unbedacht noch » un gewollt«, 44 sondern perfide Absicht. Wollte man angesichts dessen einer »individualistisch-demokratischen Methodologie« 45 wahrlich Vorrang einräumen, wie Liberale vorgeben, müsste man zum Ergebnis kommen, dass sie in Politik und Wirtschaft gleichermaßen noch nicht weit genug vorangekommen ist. Die tatsächlichen Entscheidungsspielräume sprechen dem Marktprinzip Hohn, gäbe es bei Wahlen und Konsum doch so viel mehr zu entscheiden. Weder Markt noch Öffentlichkeit werden von den Individuen geprägt, vielmehr dominieren in beiden Sphären große Organisationen, die mehr den eigenen als den Interessen von Bürgern und Konsumenten dienen. Aufgrund organisatorischer Strukturen einflussreiche Personen verfügen über viel mehr Gewicht als andere, was jenen Grundsätzen widerspricht, wie sie der Liberale James Buchanan unter Berufung auf den methodologischen Individualismus aufstellt. Der methodologische Individualist muÿ jedoch notwendigerweise auf die Darstellung seiner eigenen Wertvorstel- 43 Beck, »Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne«, S. 19. 44 Ebd., S. 27. 45 Buchanan, Die Grenzen der Freiheit , S. 3. 191 <?page no="192"?> lungen verzichten. Seine Rolle muÿ genauer umschrieben werden als die des elitären Kollektivisten, von dem man erwartet, daÿ er die Ziele für die Gesellschaft näher bestimmt, wobei diese unabhängig von individuellen Werten sind, also nicht mit seinen Zielen oder denen seiner Anhänger übereinstimmen. Im Gegensatz dazu muÿ der methodologische Individualist die Existenz seiner Mitmenschen und deren Wertvorstellungen anerkennen. Er würde von Anbeginn gegen seine Prinzipien verstoÿen, wenn er Menschen unterschiedliches Gewicht verleihen würde. 46 Bei Repräsentanten könnte man es als gerechtfertigt ansehen, dass sie über mehr Einfluss verfügen, sofern sie diesen im Sinne ihrer Wähler einsetzen, doch oft genug bedienen sie sich seiner auch darüber hinaus. Wie sonst ist zu erklären, dass nicht selten Gesetze unter Abgeordneten eine Mehrheit erhalten, die sich in der Bevölkerung nicht widerspiegelt? Erstaunlicherweise geht Buchanen nicht darauf ein, welche Schlüsse er aus seiner Gleichgewichtung aller Menschen angesichts der Allgegenwart ungleichen Einflusses zieht. Er lässt den universalistischen Kern des Liberalismus hervorblitzen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Statt dessen behauptet er wenig später, zu wissen, was gut ist und gibt damit dann doch Wertvorstellungen vor, ohne zu klären, ob seine Mitmenschen das genau so sehen. Das wirkt widersprüchlich, wollte Buchanan doch »die Existenz seiner Mitmenschen und deren Wertvorstellungen anerkennen«. Gut ist, was gewöhnlich der freien Entscheidung der beteiligten Individuen entspringt. 47 Nun geschieht allerdings nicht wenig Unerfreuliches aus freier Entscheidung . Ihr entspringen auch schlimme Verbrechen oder üble Machenschaften, die legal sein mögen, ohne das ›Gute‹ verkörpern zu können. Insofern 46 Buchanan, Die Grenzen der Freiheit , S. 2. 47 Ebd., S. 8. 192 <?page no="193"?> hätte Buchanan wohl tatsächlich besser »auf die Darstellung seiner eigenen Wertvorstellungen verzichten« sollen. Einmal aufgeschwungen zum Lehrmeister für gutes Leben will er aber außerdem noch vorgeben, was die Menschen nicht gut finden sollen und lässt sie wissen, wozu sie zusammen leben: Menschen leben zusammen, weil die gesellschaftliche Organisation ihnen e ziente Möglichkeiten erö net, ihre jeweiligen Ziele zu erreichen, und nicht, weil sie mit Hilfe der Gesellschaft die transzendentalen Ziele einer gemeinsamen Glückseligkeit erreichen wollen. 48 Die Menschen dürften sich demnach also nicht frei dazu entscheiden, als Religionsgemeinschaft oder sozialistische Kommune zusammen zu leben, auch wenn sie dies wünschen. Denn das Ziel steht für Buchanan schon fest, ohne dass er den Menschen eine Wahl ließe. Die individuelle Freiheit wird dann zum überragenden Ziel jeder Gesellschaftspolitik, nicht als Instrument auf dem Weg zu wirtschaftlichen oder kulturellen Segnungen, auch nicht als ein im metaphysischen Sinne höherer Wert, sondern ganz einfach als notwendige Konsequenz einer individualistisch-demokratischen Methodologie. 49 Ebenso unentschlossen mutet es an, dass Buchanan sein »Buch quasi als Utopie eingestuft« 50 sehen möchte, obwohl er kurz zuvor betont, dass es ihm nicht um einer »erdachten Welt« zu tun ist: Wir gehen vom Hier und Heute aus, von der Situation, in der wir uns be nden, und nicht von einer erdachten Welt, bevölkert von Wesen, die eine andere Geschichte haben und utopische Institutionen besitzen. 51 48 Ebd., S. 1. 49 Ebd., S. 3. 50 Ebd., S. XII. 51 Ebd., S. XI. 193 <?page no="194"?> Der Liberalismus möchte idealistisch und realistisch zugleich sein. Er möchte normativ individuelle Freiheit zum Ziel erheben und gleichzeitig behaupten, er wisse empirisch, was Menschen wirklich wollen und antreibt. Er möchte Regeln aufstellen und dabei so tun als ergäben sich diese ganz natürlich. Die Konsequenzen seiner hehren Ideale geraten ihm dabei allzu leicht aus dem Blick: Denn mit seiner Methodologie gibt der Liberalismus allen Illiberalen freie Hand bei der Verteidigung ihrer je individuellen Freiheit, völlig unabhängig von der demokratischen Zustimmung durch andere. Er gibt ihnen das Recht, sich für das, was sie für ihre Freiheit halten, mit allen Mitteln einzusetzen, selbst wenn dies auf Kosten anderer geht, schlicht weil er letztlich individueller Unabhängigkeit oberste Priorität einräumt. Ein universalistischer, reziproker Liberalismus müsste beanstanden, dass der Einfluss der Menschen ungleich verteilt ist, dass er mit Eigentum ansteigt, weil damit jene Egalität gefährdet ist, die der liberale Individualismus fordert. Vor allem aber müsste er bemängeln, dass große Organisationen, denen er seinen Prinzipien nach keine Privilegien zugesteht, überproportional Einfluss ausüben und all diejenigen marginalisieren, die keine organisierten Kräfte hinter sich haben - nicht weil sie abwegige Positionen vertreten, sondern weil auch mehrheitsfähige Interessen nicht immer organisiert auftreten, wogegen dies immer dann der Fall ist, sobald genügend Finanzkraft im Spiel ist und sei die Klientel noch so klein. Im wirtschaftlichen noch mehr als im politischen Alltag dominiert allerdings ein radikaler Liberalismus, der den wirtschaftlich Potenteren alle Trümpfe in die Hand gibt, um jede vermeintliche Gleichrangigkeit der einzelnen Menschen zu annullieren. Der radikale Liberalismus stützt nicht formale Egalität, sondern das ungemilderte Recht des Stärkeren. Macht- und Kapitalkonzentration in der Wirtschaft lässt wiederum auch ein konservativer Liberalismus gewähren, zielt er doch auf Besitzstandswahrung und toleriert wirtschaftlich eine Zusammenballung, gegen die er im politischen Bereich ankämpft. Die Rede von individueller Freiheit verkommt zur hohlen Phrase, wo unter ihrem Deckmantel Konzerne Macht ausspielen, während sie es Zivilgesellschaft und Staat erschweren will, Spielräume für die Masse der Bevölkerung 194 <?page no="195"?> zu erhalten, wo sie also zu einer systematischen Benachteiligung politischer gegenüber wirtschaftlicher Kräfte führt. Radikale und konservative Liberale unterbinden auf der politischen Seite eben jene Vorteile der Kooperation, aus denen die von ihnen hoch geachteten Konzerne ihre wirtschaftliche Potenz beziehen, denn überall zeigt sich dort die Überlegenheit der Zusammenarbeit. Der Motor jener Wirtschaftsunternehmen, die Liberale so vehement preisen, beruht intern weniger auf Konkurrenz denn auf Kooperation. Die Freiheit des Individuums mag darin liegen, eine Firma zu gründen, die ihr Potential aber allein daraus schöpft, wie es ihr gelingt, die Zusammenarbeit von Menschen schöpferisch zu nutzen. Alleinunternehmer hingegen spielen gesamtwirtschaftlich eine untergeordnete Rolle. Was Unternehmen erfolgreich macht, begründet auf Kooperation und nicht auf individueller Freiheit . Um am Markt bestehen zu können, setzt man in der so genannten freien Wirtschaft - die ihren Namen zu Recht trägt, genießt sie doch mehr Freiheiten als Individuen - auf hochgradige Koordination statt auf ein freies Spiel der Kräfte. Niemand würde intern die Geschicke (s)einer Firma einer »unsichtbaren Hand« anvertrauen. Diejenigen Organisationen, in deren Hände die Liberalen unser Schicksal tatsächlich legen, arbeiten ihrerseits nicht nach liberalen Prinzipien, vielmehr gleichen sie in erstaunlichem Maße einer Planwirtschaft, die allerdings radikal auf Rentabilität getrimmt ist: Sie folgen strengen Hierarchien, weisen klare Zuständigkeiten zu, führen intern mikropolitische Machtkämpfe und orientieren sich an Mehrjahresplänen. Ein einfältig vorgetragener Liberalismus, der sich einseitig für die Maximierung individueller Freiheiten einsetzt, bewertet »persönliche Unabhängigkeit« 52 höher als jeden Spielraum, der aus Kooperation erwachsen könnte. So betont Milton Friedman in aller Deutlichkeit: Als Liberale sehen wir in der Freiheit des Individuums und vielleicht noch in der Freiheit der Familie das höchste Ziel aller sozialen Einrichtungen. 53 52 Mill, Über die Freiheit , S. 10. 53 Friedman, Kapitalismus und Freiheit , S. 35. 195 <?page no="196"?> Es ist dem Liberalismus gleichgültig, ob gemeinsam Optionen erreichbar wären, die jedem einzeln verwehrt bleiben. Die Konzerne jedoch, für deren Spielräume Neoliberale sich unentwegt einsetzen, nutzen eben diese Vorteile der Kooperation, deren sie nur habhaft werden, indem sie persönliche Freiheiten innerhalb ihrer Organisation einschränken, um sich Menschen dienstbar zu machen. Unternehmen nutzen Zusammenarbeit zu ihrem Vorteil und schmälern dabei jene Freiheit und Unabhängigkeit, die der radikale Liberalismus einfordert, in genau dem Maße, in dem ihre Mitarbeiter ihre eigenen Interessen denen des Unternehmens unterordnen. Liberalismus hört dort auf, wo der Konzern anfängt. Jene unternehmerische Freiheit, die Wirtschaftsliberale meinen, stärkt lediglich diejenigen an der Spitze von Organisationen, die ihre vermeintlich individuelle Leistungsfähigkeit letztlich aus der Kraft forcierter Gemeinschaftsarbeit schöpfen, deren Zustandekommen unter der Tyrannei der Finanzkräftigen als freiwillig anzusehen, sie ebenso wenig zögern, wie demokratische Beschlüsse als »Tyrannei der Mehrheit« 54 zu zeihen. Die Rede vom Individualismus will denn auch weniger Arbeitern und Angestellten zu mehr Freiheit und Unabhängigkeit verhelfen als vornehmlich Unternehmern und Wohlhabenden. Sie will nicht denen ein Stück Entscheidungsgewalt über ihr Leben verschaffen, die Kraft ihres Schicksals - ob nun selbst verschuldet oder nicht - nehmen müssen, was sie kriegen, weil sie keine andere Wahl haben, sondern allein die Optionen derjenigen vermehren, die mit ihren bisherigen schon jetzt ihr Glück gemacht haben und deshalb unerschütterlich daran glauben, eines jeden Los sei selbst gewählt Nicht dem Individuum gönnt der liberale Individualismus Unabhängigkeit, sondern dem Kapital. Die Warnung vor der »Tyrannei der Mehrheit« zielt entsprechend vor allem darauf, Spielräume zu schützen, die ohnehin nur jener Minderheit offen stehen, die bereits über mehr Unabhängigkeit verfügt als andere. Entsprechend möchte John Stuart Mill individuelle »Handlungsfreiheit« durch nichts eingeschränkt sehen, sofern niemand dadurch Schaden nimmt: Der Zweck dieser Abhandlung ist es, einen sehr einfachen Grundsatz aufzustellen, welcher den Anspruch erhebt, das Verhältnis der Gesellschaft zum Individuum in 54 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika , S. 145. 196 <?page no="197"?> bezug auf Zwang oder Bevormundung zu regeln, gleichgültig, ob die dabei gebrauchten Mittel physische Gewalt in der Form von gerichtlichen Strafen oder moralischer Zwang durch ö entliche Meinung sind. Dies Prinzip lautet: daÿ der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Daÿ der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäÿig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. 55 Die ganze Schwierigkeit liegt allerdings darin, dass in einer begrenzten Welt nahezu alles zu Lasten anderer geht, sei es, dass man deren Umwelt verschmutzt oder ihnen Zugriff auf Land bzw. Ressourcen verwehrt, die man selbst in Anspruch nimmt. Nähme man Mills Grundsatz heute ernst, gäbe es keinerlei individuelle Handlungsfreiheit. Niemand kann für sich in Anspruch nehmen, sein Handeln hätte keinen Einfluss auf das Leben anderer. Die verbreitete liberale Haltung setzt voraus, dass Eigentum von Beginn an vorhanden und eben nicht den anderen abgetrotzt oder von der Gesellschaft zugestanden ist. Sie verschließt die Augen davor, dass insbesondere die Anhäufung von Besitztümern und der damit einhergehende Einfluss ebenso wie die dabei externalisierten Kosten selbstverständlich andere in »Mitleidenschaft« ziehen und somit Verantwortung gegenüber der Gesellschaft mit sich bringen, wie sie selbst Mill in solchen Fällen für angezeigt hält: Nur insoweit sein Verhalten andere in Mitleidenschaft zieht, ist jemand der Gesellschaft verantwortlich. Soweit er dagegen selbst betro en ist, bleibt seine Unabhängigkeit von Rechts wegen unbeschränkt. Über sich selbst, über seinen Körper und Geist ist der einzelne souveräner Herrscher 56 55 Mill, Über die Freiheit , S. 16. 56 Ebd., S. 17. 197 <?page no="198"?> Kurzum: Handlungsfreiheit jenseits gesellschaftlicher Verantwortung, wie Mill sie vorsieht, gibt es nur auf einer einsamen Insel. Viele übersehen großzügig, dass sie ihre Möglichkeiten nicht einfach ausschöpfen dürften, sofern ihr »Verhalten andere in Mitleidenschaft« zieht. Statt dessen berufen sie sich auf liberale Prinzipien im Glauben, sich damit Freiheiten herausnehmen zu können, ungeachtet dessen, welche Auswirkungen dies auf andere hat. Der Liberalismus gerät dann aber in dem Maße unredlich, wie er vergisst, dass er in seinen Auswirkungen der »Gesellschaft verantwortlich« bleibt. Weil er persönliche Unabhängigkeit höher bewertet als Demokratie , ist er im Zweifel auch bereit, letztere zu dispensieren. Er nennt Ideologie , wann immer eine Gruppe - und handele es sich dabei auch um die Mehrheit - für Regeln eintritt, die in Besitzstände von Individuen eingreifen, während er dieses Wort nicht gebraucht, wann immer Besitzende ihr Eigentum und ihre Eigenheiten mit allen Mitteln verteidigen - und ginge dieses auch noch sehr zu Lasten anderer. Spricht man von Ideologie aber dann, wenn jemand bereit ist, seine eigene Sicht der Dinge, nicht nur über die der anderen zu stellen, sondern sie auch mit dogmatischen Mitteln durchzusetzen, dann ist solcherlei Liberalismus pure Ideologie. Davon kann nur eine demokratische Verhandlung von Argumenten emanzipieren, ansonsten bleiben wir Gefangene unserer selbstbezogenen Überzeugungen. Was Unabhängigkeit für sie bedeutet, darüber sollten Menschen gemeinsam entscheiden und nicht liberale Theoretiker einsam für andere, zumal jede individuelle Unabhängigkeit ihre Garantie gesellschaftlicher Vereinbarung verdankt. Der Liberalismus jedoch vergisst allzu schnell seine gesellschaftlichen Voraussetzungen und versteigt sich deshalb leicht zu doktrinärem Fundamentalismus, sobald er sich intellektuell überlegen wähnt. Wollte er das vermeiden, müsste er anerkennen, dass Handlungsfreiheit gesellschaftlichen Regelungen nicht vorausgeht, sondern überhaupt erst ihr Ergebnis ist. Es bedarf nunmal der Einmischung, will man Anarchie verhindern. Liberal jedoch verhalten sich Liberale häufig nur so lange, wie ihre Auffassung von Freiheit uneingeschränkt geteilt wird. So schließt Mill Despotismus zur Durchsetzung einer liberalen Ordnung grundsätzlich nicht aus: 198 <?page no="199"?> Despotismus ist eine legitime Regierungsform, wo man es mit Barbaren zu tun hat, vorausgesetzt, daÿ ihre Vervollkommnung das Ziel ist und die Mittel dadurch gerechtfertigt werden, daÿ man den Zweck wirklich erreicht. 57 Dem Problem kollektiver Selbstbestimmung ist jedoch niemals zu entkommen, weil es ohne sie auch keine echte individuelle Selbstbestimmung geben kann. Nur wer über die Regeln des Zusammenlebens mitbestimmt, bestimmt auch über seine eigene Freiheit. Wer von der Festlegung der Freiheitsrechte ausgeschlossen bleibt, ist nicht frei. Anders als ein rein auf individueller Selektionsfreiheit fokussierter Liberalismus schließt Demokratie keine gesellschaftlichen Variationsmöglichkeiten von vornherein aus, so lange die resultierende Gesellschaftsform echte Demokratie nicht ausschließt. Ihr ist es auch möglich das kooperative Potential auf allen Ebenen - wirtschaftlichen wie politischen - auszuschöpfen. Aus demokratischer Sicht darf das Festhalten an egoistischen Freiheitsrechten weder die möglichen Formen des Zusammenlebens limitieren noch diejenigen der Zusammenarbeit. Freien Menschen muss es grundsätzlich offen stehen, wie sie zusammenleben und zusammenarbeiten wollen. Immerhin lassen sich kollektiv Leistungen vollbringen, die den Möglichkeitsraum eines jeden Individuums übersteigen. Angesichts der globalen Herausforderungen wird dieses Potential auch dringend benötigt. Die Folgen von Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Naturverbrauch werden sich allein mit dem Glauben daran, dass sich egoistisches Nutzenkalkül ausgleicht, nicht aufhalten lassen. Die Frage ist deshalb, wie man Individuen dazu bringt, sich an kollektiven Unternehmungen zu beteiligen. Liberalismus kennt dafür nur die Form der Unterwerfung unter die Vorgaben von Unternehmen (und deren elitären Führungsfiguren). Setzt man dem keine Schranken, so reicht das bis hin zur Sklaverei, wie sie aller formalen Abschaffung zum Trotz noch heute unter anderem zur Rohstoffgewinnung in armen Ländern anzutreffen ist, welche letztlich den reichen Ländern dient. Kevin Bales schätzt die gegenwärtige 57 Mill, Über die Freiheit , S. 17. 199 <?page no="200"?> Zahl der Sklaven weltweit auf » 27 Millionen « 58 und macht unternehmerisches Gewinnstreben verantwortlich: Sklaverei ist ein orierendes Geschäft: Die Zahl der Sklaven nimmt zu, und bestimmte Leute werden durch Sklavenarbeit reich. Haben die Sklaven ihre Schuldigkeit getan, entledigt man sich ihrer einfach. Das ist die neue Sklaverei, in der sich alles um hohe Gewinne dreht. Und um Leben, die nichts wert sind. Es geht nicht darum, im traditionellen Sinne der alten Sklavenwirtschaft Menschen zu besitzen, sondern darum, sie sich völlig zu unterwerfen. Menschen werden zu jederzeit verfügbaren Mitteln, um Geld zu machen. 59 Sobald die Möglichkeit besteht, Druck auszuüben, führt das regelmäßig dazu, dass die Überlegenen ihren Handlungsspielraum auf Kosten der Unterlegenen erweitern, genau so wie Konzerne und autoritäre Regime dies gleichermaßen betreiben. Wer in Ermangelung eigener Ressourcen überhaupt in den Produktionsprozess eingebunden sein will, hat sich dessen Erwartungen in seinem ganzen Gebaren unterzuordnen. Im Resultat fügt sich der moderne Mensch diesen Kräfteverhältnissen durch Selbstdisziplinierung . Wenn der liberalen Behauptung, wonach diese Disziplin wirtschaftlichen Nutzen bringe, sogar Michel Foucault folgt, der ansonsten einem ökonomiefixierten Liberalismus unverdächtig erscheint, zeigt dies, wie sehr es gelungen ist, Unterordnung und Anpassung bis hin zur Gleichschaltung zur Notwendigkeit zu erheben. Immerhin sieht Foucault die verheerende Wirkung auf politische Freiheit: Wir können sagen, daÿ die Disziplin das einheitliche technische Verfahren ist, durch welches die Kraft des Körpers zu den geringsten Kosten als politische Kraft zurückgeschraubt und als nutzbare Kraft gesteigert wird. 58 Bales, Die neue Sklaverei , S. 17. 59 Ebd., S. 11. 200 <?page no="201"?> Das Wachstum einer kapitalistischen Wirtschaft hat die Eigenart der Disziplinargewalt hervorgerufen, deren allgemeine Formeln, deren Prozeduren zur Unterwerfung der Kräfte und der Körper, deren politische Anatomie in sehr unterschiedlichen politischen Regimen, Apparaten oder Institutionen eingesetzt werden können. 60 Mittlerweile stehen allerdings beinahe alle modernen Konzerne vor dem Problem, dass disziplinierte Mitarbeiter ihren Anforderungen nicht genügen, weil alle Tätigkeiten, die lediglich Disziplin erfordern, von rechnergesteuerten Maschinen ausgeführt werden. Umso mehr sind Unternehmen heute auf das kreative und eigenständige Engagement ihrer Mitarbeiter angewiesen, ohne zu wissen, wie sie sich dieses sichern können, weshalb sie verzweifelt nach Wegen suchen, wie sich ein »Empowerment« 61 herbeiführen lässt. Auch deshalb gerät der Neoliberalismus an sein Ende: Setzte er doch an die Stelle freier Vernunft kalkulierende Anpassung , zu der Liberale wie Hayek tiefes Vertrauen hegen. Sie halten nicht nur die biologische, sondern auch die gesellschaftliche Entwicklung für rein durch evolutionäre Anpassungsleistungen bestimmt, weshalb die Menschen ihr Zusammenleben nicht selbst regeln, sondern den Bräuchen überlassen sollten, in denen Hayek die Vernunft von Generationen angesammelt glaubt: Diese Werkzeuge , die der Mensch entwickelt hat und die einen so wichtigen Teil seiner Anpassung an seine Umgebung darstellen, schlieÿen viel mehr ein als materielle Arbeitsgegenstände. Sie bestehen weitgehend in Verhaltensformen, die er gewohnheitsmäÿig einhält, ohne zu wissen, warum; sie bestehen in den sogenannten Traditionen und Institutionen , die er gebraucht, weil sie ihm als Ergebnis eines kumulativen Wachstums zur Verfügung 60 Foucault, Überwachen und Strafen , S. 284. 61 Laloux, Reinventing Organizations , S. 32. 201 <?page no="202"?> stehen, ohne daÿ sie je von einem einzelnen Verstand erdacht worden sind. 62 Hayek glaubt nicht an die gemeinsame Gestaltbarkeit der Welt und sieht deshalb die Notwendigkeit zu fortwährender »Anpassung« an die Gegebenheiten, wie sie der Liberalismus von Arbeitnehmern verlangt. Er will gar nicht, dass die Menschen ihr Schicksal mit demokratischen Mitteln selbst in die Hand nehmen, sondern fordert, dass sie sich den Gegebenheiten fügen. Unserer heutigen Gesellschaft, die alles in Frage stellt, müsste Hayek deshalb höchst skeptisch gegenüberstehen, worin einmal mehr liberaler Konservatismus zum Ausdruck kommt. Damit kontrastiert eigentümlich seine Begeisterung für die »führende Rolle von Individuen oder Gruppen, die ihre Ansichten und Ideale finanziell stützen können, [...] die von der Mehrheit noch nicht geteilt werden.« 63 Ihnen weist Hayek also ohne jede Verpflichtung auf »Traditionen« eine gestalterische Rolle zu, die er weniger Vermögenden vorenthält. Ungeachtet aller Anpassungsleistungen der einfachen Bevölkerung erhöhen sich stets die Variations- und Selektionsfreiheiten derjenigen, die über viele Ressourcen verfügen, sodass tatsächlich elitäre Dezision die wesentliche gestaltende Kraft ausübt. Evolutionär kann man diese Entwicklung nur insofern nennen, dass im Sinne eines survival of the fittest (»Überleben des Passendsten« 64 ) die ohnehin finanziell Starken sich in der Regel mühelos durchsetzen. Dabei haben sie es häufig gar nicht nötig, sich den Gegebenheiten anzupassen, sondern passen diese umgekehrt ihren eigenen Interessen an. Während sie Einfluss auf richtungweisende Entscheidungen nehmen können, verlangt deren Ergebnis allen anderen dann tatsächlich vorbehaltlose Anpassung ab. Selbstverständlich besteht die grundsätzliche Möglichkeit, sich nicht den Ressourcenbesitzern unterzuordnen, die Konsequenzen hängen dann allerdings jeweils vom alternativen Möglichkeitsraum ab, der es aber nicht selten als das geringere Übel erscheinen lässt, sich zu fügen. Jedes Ausscheren 62 Hayek, Die Verfassung der Freiheit , S. 37. 63 Ebd., S. 161. 64 Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl , S. 150. 202 <?page no="203"?> aus dem kapitalistischen Erwerbsmodell kommt immerhin einschneidender materieller Sanktionierung gleich, weil für die meisten Menschen damit unweigerlich Geldmangel einhergeht. Wenn Anthony Giddens zur zynischen Folgerung kommt, dass man Zwang immer »widerstehen« könne, notfalls eben indem man den Tod in Kauf nimmt, fügt er sich nahtlos in liberales Denken: Nur sehr selten nehmen Sanktionen die Form solchen Zwanges an, dem die ihnen Ausgesetzten zu widerstehen völlig auÿerstande sind, und auch dies ist nur in jenen kurzen Augenblicken möglich, in denen eine Person physisch hil os gemacht wird. Alle anderen Sanktionen, wie gewaltsam und total sie auch immer sein mögen, setzen seitens jener, die ihnen unterworfen sind, irgendeine Art von Einwilligung voraus dies ist der Grund, warum wir mehr oder weniger überall auf die Dialektik der Kontrolle stoÿen. Das ist allgemein bekannt. Sogar die Androhung des Todes ist ohne Bedeutung, wenn nicht das entsprechend bedrohte Individuum an seinem Legen hängt. 65 Zweifellos hat die Bündelung der Ressourcen dazu geführt, dass die Grenzen dessen, was möglich ist, sich verschoben haben. Umso mehr zusammengeführt wurde, desto gewaltigere Projekte konnten verwirklicht werden. Staatswesen haben dies ebenso gezeigt wie Konzerne. Diejenigen, die darüber Entscheidungsgewalt besitzen, verfügen über enorme Möglichkeiten, während viele andere kaum Optionen haben. Der liberale Kapitalismus bündelt Ressourcen faktisch unter der Entscheidungsgewalt einiger weniger einflussreicher Personen, während die ebenso liberale Demokratie zwar so tut, als hätte dem die Mehrheit zugestimmt, ihre Bestimmung aber darin sieht, politische Macht aufs Minimum zu reduzieren, um der wirtschaftlichen freie Hand zu lassen. Ressourcenkonzentration erweitert den Möglichkeitsraum, doch für die meisten geschieht das auf Kosten individueller Selbstbestim- 65 Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft , S. 229. 203 <?page no="204"?> mung, sodass sich die Frage stellt: Lassen sich die Vorteile kollektiver Unternehmungen nutzen, ohne Selektionsfreiheiten ungleich zu verteilen? Der Liberalismus misstraut den Menschen in ihrer Urteilsfähigkeit, sofern es sie in der Mehrheit betrifft, obwohl doch gerade er jedem einzelnen möglichst keine Grenzen dabei setzen will, seiner eigenen Urteilsfähigkeit zu trauen. Mutet es nicht seltsam an, dem einzelnen Individuum maximale Entscheidungsfreiheit geben zu wollen, wenn man der Mehrheit der Individuen nicht über den Weg traut? Demgegenüber fordert echte Demokratie auf politischer Seite nicht mehr und nicht weniger als tatsächlich jenen egalitären Individualismus, von dem Liberale sprechen, damit es den Bürgern offensteht, die Kraft der Kooperation zu nutzen, wo immer es ihnen sinnvoll erscheint. Dazu müssen jeder/ m bei politischen Entscheidungen dieselben Möglichkeiten offenstehen wie bei wirtschaftlichen, sie/ er muss also entweder selbst mitbestimmen oder sich von einer/ m Repräsentantin/ en vertreten lassen können, die/ den sie/ er jederzeit wechseln kann. Fundamentale Demokratie gewährt uneingeschränkte Abstimmungsmöglichkeiten und bietet die einzige Möglichkeit das Problem eines Liberalismus zu lösen, der die Lebensgrundlagen zerstört, weil er keineswegs dort halt macht, wo er die Freiheit anderer einschränkt, insbesondere diejenigen der nächsten Generationen. Nur die Mehrheit wird in der Lage sein, dem Lobbyismus einzelner Interessengruppen, die stets nur eine Minderheit vertreten, etwas entgegenzusetzen und auch schmerzhafte Entscheidungen zu treffen, denen eine republikanische Demokratie aus dem Weg geht. Zumal sich die Bevölkerung mehrheitlich in vielen Zukunftsfragen weiter als ihre Regierungen zeigt. Wer aus unliebsamen Ergebnissen einzelner Volksabstimmungen ableitet, dass das Volk nicht immer richtig entscheidet, übersieht zum einen, dass es sich dabei um das Resultat von zuvor nicht zugestandener Partizipation handelt und verschweigt zum anderen, dass auch republikanische oder autoritäre Regierungen immer wieder Fehlentscheidungen hervorbringen und niemand im Stande wäre anzugeben, welche Regierungsform weniger davon oder solche mit geringerer Tragweite gewährleistet. Immer deutlicher zeigt sich allerdings, dass ein republikanischer Politikstil und liberaler Kapitalis- 204 <?page no="205"?> mus den Herausforderungen der Klimakrise nicht gewachsen sind. Vielen galt und gilt der Brexit als Versagen direkter Demokratie. Weil die Mehrheit der Briten sich für den Austritt aus der Europäischen Union aussprach, wurden wieder einmal Stimmen laut, dass das Volk ebenso töricht wie unberechenbar sei und zu Fehlentscheidungen neige. Einige Politiker und Journalisten, die sich selbst Demokraten nennen, halten normale Menschen für uninformiert, unverantwortlich oder unfähig. Wenn der Brexit abgelehnt worden wäre, hätte man sich mit dem Volk zufrieden gezeigt, so aber äußert man ihm unverhohlen seine Abneigung. Ganz offensichtlich hegt so mancher ein Demokratieverständnis, dass darauf hinausläuft, das Volk nur so lange als Souverän anzuerkennen, wie es gemäß den eigenen Vorstellungen abstimmt. Sobald es davon abweicht, wird die Tauglichkeit des Volks grundsätzlich angezweifelt. Unter denjenigen, die aus welchem Grund auch immer das Privileg genießen, sich öffentlichkeitswirksam äußern zu können, fanden sich zu allen Zeiten Angehörige, die dem Volk die Befähigung zur Herrschaft in Abrede stellten. Was sich für einen Monarchen geradezu zwingend ergibt, wirkt allerdings irritierend, wenn sich dieses Privileg im wesentlichen demokratischen Mechanismen verdankt oder verdanken sollte, wie das für Politiker heute gilt. Immerhin stellen diese dann die Grundlage ihrer eigenen Position in Frage. Wenn das Volk nicht in der Lage ist, schwierige Entscheidungen zu fällen, dann dürfte dies schließlich auch für die Wahl von Repräsentanten gelten. Denn immerhin ist jede Personal entscheidung weitreichender als eine einzelne Sach entscheidung, weil letztere davon abhängen. Darüber hinaus ist es keineswegs einfacher, darüber zu befinden, wer für repräsentative Aufgaben geeignet ist. Während bei einer Sachentscheidung ein bestimmter Informationsstand vorliegt und eine Entscheidung darüber zu einem eindeutigen Ergebnis führt, bleiben Personalentscheidungen vergleichsweise unbestimmt. Trotz aller Informationen, die man zu einer/ m Kandidatin/ en hat, bleiben Unsicherheiten hinsichtlich des Abstimmungsverhaltens und auch aller Umtriebe darüber hinaus. Es lässt sich nie mit absoluter Bestimmtheit sagen, wofür ein ein/ e Kandidat/ in genau steht, noch wie sie/ er in jedem Einzelfall abstimmen wird. Nicht weniger verdanken Journalisten ihre Position jener Bevölkerung, 205 <?page no="206"?> dergegenüber sie sich bisweilen überlegen fühlen. Immerhin leben sie von der Nachfrage des Publikums. Selbst wenn sie sich zu einem guten Teil über Werbung finanzieren, hängt auch diese schlussendlich von der Reichweite ab. Dass in Großbritannien überhaupt eine Stimmung entstehen konnte, die ein Referendum heraufbeschwor, dürfte weniger an zu viel Demokratie, denn vielmehr an zu wenig davon gelegen haben. Der Verdruss an der EU rührt sicherlich nicht vom Gefühl her, dass die Bevölkerung zu viel Einfluss auf Entscheidungen in Brüssel ausübt. Nicht nur Briten erleben die EU- Institutionen als abgehoben und ihre Legitimation nach demokratischen Maßstäben als fragwürdig. Die EU wird noch nicht mal Ansprüchen an Repräsentation gerecht, zumal die Bedeutung des demokratisch gewählten EU-Parlaments vernachlässigbar ist. Alle großen Entscheidungen fallen ohne Vertretung des europäischen Volks, statt dessen entscheiden Vertreter der Mitgliedstaaten. Wenn wir deren Regierungen aufgrund ihres Zustandekommens als Vertretung der Parlamentsmehrheit und die Parlamentarier wiederum als Volksvertreter betrachten, dann haben wir es mit Vertretern von Vertretern von Vertretern des Volkes zu tun. Weiter entfernen von der Souveränität des Volkes kann man sich kaum, ohne gleich eine Diktatur auszurufen. Schon mit Parlamentariern machen wir oft genug die Erfahrung, dass sie entweder abgehoben oder durch Interessen getrieben agieren, die nichts mit denen der Bevölkerung zu tun haben. 66 Die EU mag ihre Entscheidungen als demokratisch legitimiert erachten, weil sie ihr Personal aus Staaten rekrutiert, in denen es Wahlen gibt. Aber was hilft das, wenn das Volk das anders sieht? Wenn es genügen würde, dass die Entscheider sich demokratisch legitimiert fühlen , wird kaum ein Regime undemokratisch genannt werden können. Darüber, was als demokratisch gelten darf, kann deshalb letztlich nur das Volk befinden. Wer also will mit welchem Recht den Briten das Recht absprechen, aus der EU auszutreten, selbst wenn man es für falsch halten mag? Man kann dieses Abstimmungsergebnis zum Anlass nehmen, um an di- 66 Man denke nur an den Umgang mit Glyphosat, wo die Haltung der Bevölkerungsmehrheit völlig eindeutig war. 206 <?page no="207"?> rekter Demokratie zu zweifeln, man kann darin allerdings auch das Symptom eines Demokratiedefizits sehen. Wie sich eine solche Frage in einer Demokratie klären ließe, dürfte klar sein: demokratisch! Kritiker direkter Demokratie sollten sich fragen: Wäre es zum Brexit auch gekommen, wenn die Bevölkerung mehr in EU-Entscheidungen involviert gewesen wäre? Brexit und Trump sind keine Bestätigung für die Unzuverlässigkeit des Volkes, sondern für den Verdruss, der aus dauerhafter Vorenthaltung politischer Selbstbestimmung resultiert. Für viele Briten bedeutet ein Verbleib in der EU vor allem, dass weiterhin Bürokraten in Brüssel über ihr Schicksal entscheiden. Ohne eine Demokratisierung wird deshalb der Brexit nicht der letzte Rückschlag für die EU bleiben. Warum sollten sich freie Menschen es bieten lassen, von Technokraten regiert zu werden? Verantwortung können Bürger erst übernehmen, wenn sie welche haben. Statt dessen hat man sie über Jahrzehnte daran gewöhnt, dass sie für ihre politischen Entscheidungen keine Verantwortung übernehmen müssen. Dass sie damit verantwortlich umgehen können , müssen sie in wirtschaftlichen Dingen jeden Tag beweisen und tun das überwiegend auch, schon weil ihnen der Liberalismus das abverlangt. Mit welcher Begründung will man ihnen da politische Verantwortung vorenthalten? Zumal Experten und Politiker mit ihrem Einfluss nicht notwendig verantwortlicher umgehen. Nicht nur weil auch sie Menschen sind, denen Fehler und Fehleinschätzungen unterlaufen, sondern weil sie aus strukturellen Gründen unter Umständen davon profitieren, unverantwortlich zu handeln. Insofern sie Entscheidungsträger sind oder auf diese großen Einfluss haben, werden sie zwangsläufig zum Ziel von korrupten Verführungen, während die Bestechung der ganzen Bevölkerung deutlich schwerer zu bewerkstelligen ist bzw. ein Vorteil für sie eigentlich sogar ein wünschenswertes Ergebnis darstellt. Insofern außerdem die Nachfrage nach Expertise abhängig vom Ausgang einer Entscheidung sehr unterschiedlich ausfällt, trübt auch das unter Umständen die Zuverlässigkeit von Experten. Ein Atomphysiker, der von Atomkraft abrät, beschneidet Perspektiven und Bedeutung für die Zukunft seines Berufsstands und damit für sich selbst. Eine ablehnende Haltung gegenüber zunehmender Demokratisierung jedenfalls, wie könnte es auch anders sein, widerspricht dem demokratischen 207 <?page no="208"?> Geist. Wer dem Volk misstraut, kann kein Demokrat sein und muss die Frage beantworten, wem er denn traut. Antworten dazu laufen oft darauf hinaus, dass viele ihresgleichen vertrauen: Politiker Politikern, Experten Experten, Konservative Konservativen, Sozialisten Sozialisten, Liberale Liberalen usw. Tatsächlich unterscheidet sich der grundlegende Fehler jedes orthodoxen Liberalismus nicht von jenem anderer Orthodoxien und besteht darin, zu glauben, man könne Grundsätze aufstellen, die man für allgemein zustimmungsfähig hält, unabhängig davon, ob die Menschen auch tatsächlich zustimmen. Statt sich also zu überlegen, wie sich alle gemeinsam auf Grundsätze einigen können, genügt es ihnen, wenn dies ein paar Theoretikern gelingt. John Rawls etwa glaubt, Gerechtigkeit entdecken zu können, ohne jene einzubinden, denen dies gerecht erscheinen muss. Er meint eine gesellschaftsunabhängige Form der Gerechtigkeit finden zu können, ganz so als bedürfte diese nicht des Gerechtigkeitsempfindens jener Menschen, die unaufhebbar in einer Gesellschaft leben: Der Leitgedanke ist vielmehr, daÿ sich die ursprüngliche Übereinkunft auf die Gerechtigkeitsgrundsätze für die gesellschaftliche Grundstruktur bezieht. Es sind diejenigen Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden. Ihnen haben sich alle weiteren Vereinbarungen anzupassen; sie bestimmen die möglichen Arten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit und der Regierung. Diese Betrachtungsweise der Gerechtigkeitsgrundsätze nenne ich Theorie der Gerechtigkeit als Fairneÿ. 67 Liberale übergehen die Demokratie, indem sie einen »rationalen Konsens« 68 für möglich halten, wobei sie sich in der Tradition des Utilitarismus letztlich auf Nützlichkeit berufen: 67 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit , S. 28. 68 Mouffe, Das demokratische Paradox , S. 128. 208 <?page no="209"?> Ich halte es für geraten, hier zu erklären, daÿ ich auf jeden Vorteil verzichte, den man für meine Beweisführung aus der Idee eines abstrakten, vom Nützlichkeitsprinzip unabhängigen Rechtes ableiten könnte. Ich betrachte Nützlichkeit als letzte Berufungsinstanz in allen ethischen Fragen, aber es muÿ Nützlichkeit im weitesten Sinne sein, begründet in den ewigen Interessen der Menschheit als eines sich entwickelnden Wesens. Diese Interessen rechtfertigen, behaupte ich, die Überprüfung individueller Selbstbestimmung durch fremde Überwachung nur hinsichtlich solcher Handlungen der einzelnen, die den Interessenkreis anderer schneiden. 69 Der Nützlichkeit ordnet Mill alles unter, im Zweifel auch Mitbestimmung, Ranggleichheit und Menschenrechte. Er vergisst dabei aber, dass sich der Nutzen nicht objektiv prüfen lässt, weshalb Demokratie überhaupt erst nötig ist, denn wer soll sonst darüber entscheiden, was nützlich ist. Wenn immer feststünde, was nützlich ist, fiele die Entscheidung, was zu tun ist, leicht und es wäre gleichgültig, wer diese fällt, denn man könnte immer an einem objektiven Maßstab der Nützlichkeit messen - doch den gibt es nicht. Chantal Mou e attestiert Liberalen deshalb, ihnen sei gemeinsam ein »Glaube an eine Form der Rationalität, die nicht rein instrumentell ist, sondern eine normative Dimension besitzt: das ›Vernünftige‹ für Rawls«. 70 Auch im Liberalismus triumphiert der Glaube an die eigene Rationalität über die Demokratie. Der Fehler liegt nicht darin, dass man von der eigenen Auffassung überzeugt ist - das sind andere von der ihrigen ebenfalls. Er liegt vielmehr darin, dass Liberale den Überzeugungen der anderen ihre Berechtigung absprechen - die das dann wiederum umgekehrt genauso handhaben. In Gesellschaft vernünftiger Wesen, die allesamt jeweils von ihrer Auffassung überzeugt sind, wird sich ein Konsens schwer finden lassen, zumal wenn alle von ihrer Rationalität überzeugt sind. Deshalb liegt die einzige Möglichkeit, das Zusammenleben zu regeln, darin, demokratisch darüber zu befinden. 69 Mill, Über die Freiheit , S. 18. 70 Mouffe, Das demokratische Paradox , S. 89. 209 <?page no="210"?> Während der Liberalismus von uns in wirtschaftlicher Hinsicht zahlreiche individuelle Detailentscheidungen und Eigenverantwortung abverlangt, nimmt seine republikanische Ausgestaltung den normalen Bürgern jede Verantwortung, indem sie von inhaltlichen Entscheidungen ferngehalten werden. Liberale sehen in Wahlen das Marktprinzip dadurch gewahrt, dass zwischen verschiedenen Parteien ausgewählt werden kann, dem Wähler jedoch bleibt oft nur das geringste Übel, weil er seine Präferenzen nirgendwo gewahrt sieht. Zu sehr dominieren die Politik ebenso wie die Wirtschaft groÿe Organisationen durch ihr Angebot, das abweichende Nachfrage ignorieren kann, ohne dadurch unmittelbare Nachteile befürchten zu müssen. Das Internet schlieÿlich vertauscht die Rollen endgültig: Der Nutzer wird in seinem ganzen Verhalten selbst zu einem Produkt der Konzerne (das sie in seiner Datenform vermarkten). Er fügt sich voll und ganz den Logiken jener Plattformen, in denen er mit seinen Beiträgen oder Spielverläufen herauszustechen versucht. Umgekehrt hegen digitale Unternehmen ungeheure Nachfrage nach jeder Kommunikation und jeder Minute Spielzeit, die sie erheischen können, freilich ohne dafür zu bezahlen. Liberale führen gegen politische Machtkonzentration eine universalistische Gleichgewichtung aller Menschen ins Feld, von der sie in wirtschaftlicher Hinsicht nichts wissen wollen, soll es dort doch ein vermeintlich natürliches Gleichgewicht der Kräfte richten. Dabei wird insbesondere für Unternehmer gegenüber dem Staat ein Maÿ an individueller Freiheit gefordert, wie sie in den von ihnen hoch geschätzten Konzernen nirgends herrscht. Denn deren Erfolg ergibt sich aus einem internen Grad an Planung, Kooperation und Subordination, das in seiner Organisation 210 <?page no="211"?> weniger an Marktdenn an jene Planwirtschaften erinnert, gegen die Liberale politisch ankämpfen. Letztlich liegt der grundlegende Fehler jedes orthodoxen Liberalismus ebendort, wo er auch bei anderen Orthodoxien vorzu nden ist: Es werden Annahmen zu Grunde gelegt, die in ihrer Gültigkeit für allgemein zustimmungsfähig bzw. -p ichtig gehalten werden, ohne dass eine Zustimmung dazu tatsächlich vorläge. 3.5 Konservatismus und Autoritarismus Einfältiger Liberalismus wendet sich gegen Reglementierungen, wo er kann, selbst wenn das beanspruchte Verhalten seine Kosten auf andere, und seien es künftige Generationen, externalisiert. Auf persönliche Freiheit berufen sich nicht erst in Zeiten des Klimawandels diejenigen, die mit ihrem Verhalten offensichtlich die Chancen anderer beschneiden. Vielmehr tritt Rücksichtslosigkeit häufig unter liberaler Flagge auf. Nicht wenige scheinen zu glauben, der Liberalismus gäbe ihnen das Recht, im Namen der Freiheit tun zu können, wonach ihnen der Sinn steht, ohne dass sie die Folgen für andere kümmern müssten. Würden Liberale jedoch tatsächlich darauf bestehen, dass ihre Freiheit dort endet, wo ihr eigenes Verhalten anderen schadet, müssten sie sich für Reglementierungen an Stelle von Liberalisierungen einsetzen. So aber verkommt Liberalismus zum egoistischen Freiheitsverlangen: Wer es sich leisten kann, soll machen dürfen, was sie/ er will. Solcherart gewendet, leugnet Liberalismus sein ursprüngliches, egalitäres Prinzip der Reziprozität und nimmt eine bornierte Rücksichtslosigkeit an, die ihm so oft vorgeworfen wird und ihn zugleich so attraktiv für all diejenigen macht, die unter allen Umständen ihre Vorteile zu verteidigen suchen. Insoweit zur Bewahrung bestehender Freiheiten, Vermögen und Privilegien jede Überprüfung ihrer Vertretbarkeit ausgeblendet wird, dient sich solcherlei Liberalismus einem Konservatismus 211 <?page no="212"?> an, der von Gleichberechtigung nichts mehr wissen will. Hier wendet sich das nackte Freiheitsverlangen von jenem Universalismus ab, dem der Liberalismus ursprünglich seine Anerkennung verdankt. Trotzdem macht sich die/ der Konservative nur zu gern eine Legitimität zu eigen, die Liberale dem Freiheitsstreben anzuhaften vermochten, ohne sich aber um dessen egalitäre Konsequenzen zu scheren. Nicht Freiheit als gesamtgesellschaftliche Errungenschaft steht ihr/ m im Sinn, sondern nur ihre/ seine persönliche. Die anderen kümmern sie/ ihn nicht, so lange sich nur erhält, wovon sie/ er ihr/ sein Glück abhängig glaubt. In der Furcht vor einer »Tyrannei der Mehrheit« 71 kommt die ganze Demokratiefeindlichkeit des konservativen Liberalismus zum Ausdruck. Bleibt doch fraglich, inwiefern die Mehrheit tyrannischer sein könnte als eine Minderheit. Wann immer man Menschen Macht gibt, kann sie missbraucht werden. Das gilt für Einzelpersonen, Minderheiten und Mehrheiten gleichermaßen. Wenn letztere regiert, ist allerdings wenigstens gewährleistet, dass ein Machtgebrauch im Sinne des überwiegenden Teils der Bevölkerung erfolgt. Ein Anliegen der liberalen Demokratie besteht darin, vor Machtmissbrauch von welcher Seite auch immer durch Minderheitenrechte zu schützen, die per Gesetz oder Verfassung verankert werden. Wenn jedoch autoritäre Kräfte erst einmal die vermeintlich Liberalität garantierenden Institutionen dominieren, nutzen sie deren undemokratischen Charakter, um sie als illiberales Bollwerk gegen jedes demokratische Aufbegehren der Mehrheit ebenso wie gegen unliebsame Minderheiten einzusetzen. Die Unabhängigkeit von Gerichten, Behörden und Verordnungen gegenüber unmittelbarer demokratischer Mitbestimmung ermöglicht autoritäre Auswüchse und verleiht ihnen zugleich den Anschein von Legitimität, nur weil der Liberalismus demokratisch nennt, was seit Alters her als republikanisch gilt. Im gleichen Maße, in dem sich Institutionen demokratischen Prozessen entziehen, ermöglichen sie einen selbstverstärkenden Machtgebrauch, der ursprünglich zur Milderung akuten Furors gedacht gewesen sein mag, sich aber ebenso gut dazu eignet, jedweden dauerhaften, unliebsamen Mehrheitswillen zu blockieren. Das »oberste Ziel der Republik, die Beschränkung 71 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika , S. 145. 212 <?page no="213"?> der Macht, wird auf diesem Weg vor allem gegenüber dem Volk erreicht.« 72 Die Republik begrenzt die Macht demokratischer Entscheidung, ohne die Macht un demokratischer Einflüsse wirklich im Zaum zu halten. Es sind die Institutionen einer liberal verstandenen Demokratie, die sowohl so genannte unpopuläre politische Entscheidungen ermöglichen, für die es in der Bevölkerung keine Mehrheit gibt, als auch sich populären Anliegen verweigern, für die eine solche stabil vorliegt. Genau diese undemokratische Unabhängigkeit spielt dem Autoritarismus in die Hände, sobald er dieser gegenüber Mehrheiten widerständigen Institutionen habhaft geworden ist. Indem der Republikanismus einzelne Institutionen der Mitbestimmung durch die Bevölkerung entzieht, erlaubt er ihren Missbrauch durch diejenigen, die hintertrieben Machtpolitik nachgehen. Der Benennung höchster Richter (nicht nur in den USA) kommt gerade deshalb solch politische Bedeutung zu, weil ihre Arbeit sich fortan demokratischen Prozessen entzieht, obwohl ihre Gerichtsurteile die Möglichkeiten der Gesetzgebung durch die Politik beschränken. Ebenso gerät die Auswahl von Zentralbankchefs zu einem Politikum, weil ihre Entscheidungen politischen Mehrheiten entzogen bleiben, obwohl sie durchaus politisch bedeutsam sind. Für Antoine Vauchez steht die vordergründige Unabhängigkeit gerade europäischer Institutionen in deutlichem Kontrast sowohl zu ihrem politischen Einfluss wie auch zu ihrer politischen Konstitution: Die wachsende politische Autorität dieser europäischen Unabhängigen ging auf Kosten einer Verleugnung ihrer Ursprünge. Die Identität des Gerichts, der Kommission und EZB gründete sich darauf, dass sie sich laut und deutlich für apolitisch erklärten und mit allen Mitteln ihre Distanz zu parteipolitischem Taktiken wie diplomatischen Manövern betonten. Dieses Bestehen auf dem Vokabular der Unabhängigkeit und Neutralität führte dazu, dass die andere, ganz und gar politische Seite ihrer Identität im Dunkeln blieb. Denn Gericht, Kommission und EZB sind 72 Niedermaier, Wozu Demokratie? , S. 387. 213 <?page no="214"?> keine gewöhnlichen Unabhängigen . In ihrer Zusammensetzung wie auch in ihren Ernennungsbedingungen re ektieren und respektieren sie eine Reihe politischer und geopolitischer Erfordernisse und Gleichgewichte. 73 Trotz aller Vorkehrungen konnte der Republikanismus die Diskriminierung von Minderheiten nicht verhindern: Hinsichtlich Hautfarbe, Herkunft oder Religionszugehörigkeit herrscht weiterhin keine Chancengleichheit. Weit davon entfernt, dass es hier eine Minderheit betreffen würde, gilt das sogar für Unterschiede hinsichtlich des Geschlechts. Wo die so genannte liberale Demokratie nach Jahrzehnten des Ringens zumindest rechtliche Gleichstellung gewährte, zeigt sich umso deutlicher, dass Liberalität mit einer ebenso schlichten Gesetzesänderung sich ohne Weiteres wieder rückgängig machen ließe - wohlgemerkt nach den Regeln der gleichen liberalen Demokratie. Ohnehin erfochten nicht liberale Institutionen Gleichberechtigung, sondern der politische Druck der Mehrheit, sobald er sich endlich gegen die konservierenden Strukturen des Republikanismus durchzusetzen vermochte. Ganz offensichtlich garantiert liberale Demokratie allein noch keine Gleichberechtigung. Vollends zur elitären Besitzstandswahrung verkommt konservativer Liberalismus, wo er sich nicht gegen Machtexzesse richtet, sondern mit John Stuart Mill »Schutz gegen die Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens« 74 fordert. Dann verlangt der Liberale nicht mehr nur individuelle Freiheiten für sich, sondern will zugleich anderen die Freiheit nehmen, ihm die Anerkennung zu versagen, was auch immer er mit seiner Freiheit anstellt. Gleichgültig welche Extravaganzen seine Exzellenz hervorbringt, gleichgültig wie sehr er sich über den Pöbel erhebt, er möchte dafür geliebt werden. Ihm gilt es schon als Zumutung, wenn die Mehrheit zu ihm sagt: Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten; aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürger- 73 Vauchez, Europa demokratisieren , S. 84 f. 74 Mill, Über die Freiheit , S. 10. 214 <?page no="215"?> recht behalten, aber es wird dir nicht mehr nützen; denn wenn du von deinen Mitbürgern gewählt werden willst, werden sie dir ihre Stimme verweigern, ja, wenn du nur ihre Achtung begehrst, werden sie so tun, als versagten sie sie dir. 75 Indem Alexis de Tocqueville hier so tut, als wäre das ohne Demokratie anders, verunglimpft er diese und mit ihr die Ansichten der Mehrheit, obwohl es ganz unabhängig von der Herrschaftsform immerdar vom eigenen Verhalten abhängt, in welchem Umfang man Achtung erfährt. Beinahe wirkt es so, als ob Liberale hier ins ewige Klagen der Selbstgefälligen verfallen, das ertönt, wann immer ihre Egoismen von anderen nicht goutiert werden und sie das zu spüren bekommen. Sie begnügen sich dann nicht mehr nur mit Meinungsfreiheit, sondern sie wollen dass ihre hohe Meinung unbedingt Anerkennung findet. Was für ein Anspruch! Hinter all dem steht der Glaube daran, um nochmals mit Mill zu sprechen, dass es allein »Ausnahmepersönlichkeiten« sind, welche mit »klugen und vortrefflichen Vorschlägen« für Fortschritt sorgen, wogegen »Ehre und Ruhm des Durchschnittsmenschen sind, daß er dieser Initiative zu folgen vermag«. 76 Die Rede vom Individualismus gilt hier nur vordergründig der Ausstattung aller Menschen mit gleichen Rechten, mehr noch dient sie jedoch dazu, vor Ansprüchen der Mehrheit zu schützen. Der Neoliberalismus schließlich macht keinen Unterschied zwischen der Macht eines Diktators oder derjenigen der Mehrheit. Sie gelten ihm gleich viel und er lehnt beide gleichermaßen ab, damit sich wirtschaftliche Potenz frei entfalten kann. Allein darin liegt ihm Freiheit, die somit nichts weiter als eine Freiheit von jeglicher Einmischung in Vermögensverhältnisse ist, wogegen sich diese uneingeschränkt in alles einmischen und aller anderen Verhältnisse sich bemächtigen. Während der Neoliberalismus sich an politischer »Machtzusammenballung« stört, lässt ihn die wirtschaftliche bei Konzernen kalt. Auf diese Weise verleiht er im Namen der Freiheit wirtschaftlicher Macht ein höheres Recht als jeder demokratischen und offenbart seinen un- 75 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika , S. 152. 76 Mill, Über die Freiheit , S. 92. 215 <?page no="216"?> demokratischen Kern. Entsprechend möchte Milton Friedman politische Macht ihrer Stärke berauben, ohne die nicht weniger nötigende wirtschaftliche Macht auch nur zu sehen: Der Markt sichert die wirtschaftliche Freiheit. Aber diese Eigenschaft führt zugleich über den Bereich des Wirtschaftlichen hinaus. Politische Freiheit bedeutet, dass es keinen Zwang eines Menschen gegenüber einem anderen geben darf. Die fundamentale Bedrohung der Freiheit kommt gerade durch die Macht, Zwang ausüben zu können, sei es durch einen Monarchen, einen Diktator, eine Oligarchie oder eine momentane demokratische Majorität. Die Bewahrung der Freiheit verlangt die Eliminierung solcher Machtzusammenballung, so weit es nur geht. Die Macht, die dann noch übrig bleibt, muss weitmöglichst verteilt und zerstreut sein als ein echtes System der Checks and Balances . Indem er die Organisation der wirtschaftlichen Aktivitäten der Kontrolle der politischen Instanzen entzieht, eliminiert der Markt zugleich die Quelle der Macht, Zwänge auszuüben. Er ermöglicht es, der wirtschaftlichen Stärke der politischen Macht eher einen Zügel anzulegen als irgendwelche sonstigen Maÿnahmen, die man bisher dagegen ergri en hat. 77 Der neoliberale Individualismus entspringt nicht der Achtung vor allen menschlichen Individuen, sondern der Furcht und Abneigung gegenüber den allermeisten davon. Er zielt nicht auf Gleichberechtigung, sondern auf ungehinderte Entfaltung von Exzeptionalität, gleichgültig worauf diese beruht. Als intellektuelle Überlegenheit verbrämt, dient er letztlich aber dann doch nur der freien Entfaltung des Kapitals, dessen Häufung man nicht mal mehr als Ergebnis besonderer Fähigkeiten zu rechtfertigen sich die Mühe macht, sondern Ungleichheit selbst zur fortschrittsdienlichen Besonderheit 77 Friedman, Kapitalismus und Freiheit , S. 38 f. 216 <?page no="217"?> erhebt ganz unabhängig davon, worauf sie gründet. Friedrich von Hayek etwa kümmert die Herkunft des Reichtums und ihre Berechtigung nicht, sondern allein sein vermeintlicher Wohlfahrtseffekt: Englands Führerschaft hat mit dem Verschwinden der Klasse aufgehört, deren Lebensstil von den anderen nachgeahmt wurde. Es mag nicht lange dauern, bis die britischen Arbeiter erkennen werden, daÿ es ein Vorteil für sie war, Mitglieder einer Gemeinschaft zu sein, in der es viele Menschen gab, die reicher waren als sie, und daÿ der Vorsprung, den sie vor den Arbeitern anderer Länder hatten zum Teil die Wirkung eines ähnlichen Vorsprungs ihrer eigenen Reichen gegenüber den Reichen anderer Länder war. 78 Eine kühne Behauptung angesichts des unermesslichen Reichtums, wie ihn Scheichs arabischer Ölstaaten zur Schau stellen, ohne dass jemand diesen verantwortlich für Fortschritt und Wohlfahrt der dortigen Gesellschaft machen würde. Dagegen profitieren die einfachen Bürger Norwegens offenbar deutlich mehr von großen Ölfördermengen, obwohl die Elite dort sich weniger vermögend und protzig zeigt. Der empirische Gehalt von Hayeks Aussage ist somit zweifelhaft, dafür die darin zum Ausdruck gebrachte Geringschätzung der Arbeiter umso deutlicher und sie erstreckt sich auf alle, die nicht zur Elite gehören: Wenn die Mehrheit um ihre Meinung über alle mit dem Fortschritt verbundenen Änderungen befragt würde, würde sie wahrscheinlich viele seiner notwendigen Bedingungen und Folgen verhindern wollen und damit den Fortschritt selbst schlieÿlich zum Stillstand bringen. Und ich müÿte den Fall erst kennenlernen, in dem die bewuÿte Stimme der Mehrheit (im Gegensatz zur Entscheidung 78 Hayek, Die Verfassung der Freiheit , S. 61. 217 <?page no="218"?> einer herrschenden Elite) sich für solche Opfer im Interesse einer besseren Zukunft entschieden hätte, wie das durch eine freie Marktwirtschaft geschieht. 79 Die Mehrheit der gewöhnlichen Menschen muss jedoch erleben, wie viele »Ausnahmepersönlichkeiten« 80 ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten nur allzu gewöhnlich vor allem dazu nutzen, ihre Macht, Privilegien oder Einkünfte außergewöhnlich zu mehren. Sie stellen ihre Exzeptionalität und ihre Kontakte nicht unbedingt edel in den Dienst der Gesellschaft, sondern verfolgen ganz profan ihre eigenen Interessen, während die liberale Republik sie dabei mehr vor dem Groll der Mehrheit schützt als umgekehrt diese vor dem Schindluder der Eliten. Wie sich nicht zuletzt angesichts der heutigen globalen Herausforderungen erweist, sind zukunftsweisende Weichenstellungen von den etablierten Eliten weniger zu erwarten als von Mehrheitsentscheidungen der Bevölkerung. Es sind die Bürger, die zu einschneidenden Richtungsänderungen drängen, während Regierungen nur zögerlich folgen und sichtbar am status quo klammern. Von selbst zeigen die Eliten sich nicht Willens, der Naturzerstörung Einhalt zu gebieten, sondern sich vor allem damit beschäftigt, ihre Privilegien zu verteidigen. In der Elitengläubigkeit des Liberalismus kommt eine gedankliche Nähe zum Autoritarismus zum Vorschein, die dessen Verbreitung Vorschub leistet, weil sie eine mentale Haltung bereits legitimiert hatte, die vermeintlichen »Ausnahmepersönlichkeiten« Vorrang zu gewähren sich anschickt. Setzt man das politische Vertrauen aber voll und ganz in die Qualitäten von herausragenden Persönlichkeiten, liegen Preisgabe der Demokratie und autoritäre Herrschaft schon deshalb nahe, weil diese Haltung es erlaubt, die Auffassungen der Mehrheit gering zu schätzen. Liberalismus in seiner konservativen Ausprägung ist somit nicht Alternative zum Autoritarismus, sondern dessen Wegbereiter: Er war dies nach den liberalen Jahren Anfang des 20. Jahrhunderts und ist es ein Jahrhundert später erneut - und das nicht allein wegen 79 Hayek, Die Verfassung der Freiheit , S. 65. 80 Mill, Über die Freiheit , S. 92. 218 <?page no="219"?> einer neoliberalen Spaltung der Gesellschaft, sondern mehr noch wegen einer verwandten Denkweise. Der Liberalismus erlaubt es nicht nur, allein seinen eigenen Interessen zu folgen, sondern empfiehlt darüber hinaus geradezu deren Vertretung durch herausragende Führungspersönlichkeiten. Freiheit bedeutet ihm zuvorderst die Verfolgung eigener Interessen ohne Ansehen der Folgen für andere, weil er daran glaubt, dass sich eigennütziges Verhalten in seiner Gesamtheit gemeinnützig ergänzt. Das konservative Moment jedes Liberalismus liegt mithin darin, dass er der (Be-) Wahrung eigener Interessen oberste Priorität einräumt und damit ihre Verteidigung mit allen Mitteln nahelegt. Gerne berufen sich Liberale in allen Lebenslagen auf Adam Smith , der Eigennutz generell als förderlich für das Gemeinwohl erkannt zu haben glaubte: Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch diese so lenkt, daÿ ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten läÿt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläu g, daÿ das Volkseinkommen im Jahr so groÿ wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewuÿt das Allgemeinwohl, noch weiÿ er, wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, daÿ ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat. Auch für das Land selbst ist es keineswegs immer das schlechteste, daÿ der einzelne ein solches Ziel nicht bewuÿt anstrebt, ja, gerade dadurch, daÿ er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häu g das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirk- 219 <?page no="220"?> lich beabsichtigt, es zu tun. Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan. 81 Gleichsetzen lassen sich Eigennutz und gesellschaftlicher Wohlstand allerdings nur, sofern die Gesellschaft in irgendeiner Form am persönlichen Gewinn partizipiert, sei es durch Steuern oder Bezahlung von Dienstleistungen, Gütern oder Löhnen, die andernfalls nicht oder in geringerem Umfang geflossen wären. Reine Spekulationsgewinne etwa oder solche, die durch Lohnsenkung ohne Not zu Stande kommen, bringen eigenen Nutzen ohne gesellschaftlichen Mehrwert. Im Resultat ist die liberale Demokratie liberal , insofern sie durch geeignete Institutionen zuvorderst individuelle Freiheiten wahren soll, demokratisch aber lediglich darin, dass sie darüber abstimmen lässt, wer in seiner Regierungsfunktion nicht an die liberalen Garantien von Eigentum, wirtschaftlichen Freiheiten und Ursachen sozialer Ungleichheit rühren darf. Daher erwachsen auch die Schwierigkeiten dieser Regierungsform, auf den Klimawandel zu reagieren, der über kurz oder lang eine vollständige Abkehr von konservativ-liberalen Lebensprinzipien notwendig macht. Denn will man die Lebensgrundlagen künftiger Generationen schützen, darf aktuelle Verfügungsgewalt über Ressourcen nicht das Recht auf für künftige Generationen schädliche Verwendung einschließen, müssen Freiheiten zwangsläufig auf ein langfristig nachhaltiges Niveau eingeschränkt werden, kann auch Reichen kein umweltzerstörerischer Lebensstil erlaubt sein. Sobald der konservative Liberalismus gleichwohl den je individuellen Interessen oberste Priorität einräumt und ihre egoistische Verfolgung legitimiert, gibt er alle universalistischen Ideale auf und sich dem politischen Realismus hin. Er setzt sich nicht mehr für die Achtung gleicher Rechte, sondern für die machtpolitische Durchsetzung seiner Vor rechte ein. Aus liberalem Idealismus wird so realistischer Machiavellismus. Ralf Ptak erkennt deshalb schon in der Betonung wirtschaftlicher Freiheit einen autoritären Zug: Durch diese einseitige Gleichsetzung von Freiheit mit 81 Smith, Der Wohlstand der Nationen , S. 370 f. 220 <?page no="221"?> wirtschaftlicher Freiheit entfernt sich der Neoliberalismus von den emanzipatorischen Wurzeln des bürgerlichen Liberalismus: Die politische Freiheit einst die wichtigste Säule der bürgerlichen Revolutionen wird zur Bedrohung der Marktgesellschaft. Dies ist der Punkt, an dem der Neoliberalismus ins Autoritäre kippt. 82 Wirklich zum Tragen kommt dieser Autoritarismus allerdings erst durch seine Verbindung mit Elitengläubigkeit. Demokratie reduziert sich im Dienste des Liberalismus dann darauf, Legitimation zu beschaffen: Das Hauptaugenmerk der neoliberalen Demokratiediskussion gilt deshalb der Rechtfertigung und Durchsetzung einer beschränkten Demokratie , also einer Entkernung der Demokratie von ihrem materiellen Gehalt und ihrer sozialen Struktur unter Beibehaltung ihrer legitimatorischen Funktion. 83 Dass dem Neoliberalismus Regierungen dazu dienen, seine politischen Vorstellungen durchzusetzen, und Demokratie folglich nur erwünscht ist, so lange sie sich diesem Kurs fügt, bestätigt Friedman durch folgende Worte: Der Spielraum der Regierung muss beschränkt sein. Ihre Aufgabe muss es sein, unsere Freiheit zu schützen, insoweit sie von auÿerhalb bedroht ist und insoweit sie unsere Mitbürger verletzen könnten: also für Gesetz und Ordnung zu sorgen, die Einhaltung privater Verträge zu überwachen, für Wettbewerb auf den Märkten zu sorgen. Neben dieser Hauptfunktion kann uns die Regierung noch helfen, Aufgaben zu erfüllen, von denen wir glauben, dass sie für Einzelne zu schwierig oder zu kostspielig wären. 84 82 Ptak, »Grundlagen des Neoliberalismus«, S. 59. 83 Ebd., S. 64. 84 Friedman, Kapitalismus und Freiheit , S. 25. 221 <?page no="222"?> Irgendwann spiegelt sich die liberale Rücksichtslosigkeit, welche die (Einfluss-)Reichen an den Tag legen, im Verhalten der Unterprivilegierten wider, sodass allüberall als Freiheit verteidigt wird, was jegliche Kosten solcherlei gepflegten Egoismus auf andere externalisiert, sei es als Produktionsbedingungen an gegenwärtige Generationen in fernen Ländern oder als Klimaschädigung an künftige weltweit. Zugleich wird jede Reglementierung eines Verhaltens, das offensichtlich anderen schadet, als freiheitsbeschneidend empfunden. An dieser Stelle kommt es dann zum Schulterschluss von Liberalismus, Konservatismus und Autoritarismus. Zur Verteidigung eigener, als Freiheiten getarnter Rücksichtslosigkeiten wird schließlich auch ihre autoritäre Durchsetzung in Kauf genommen. Warum aber verbinden sich Freiheitsdrang, Besitzstandswahrung und Autoritätsgläubigkeit? Freiheitsdrang muss Universalismus als beschränkend empfinden, wenn überproportionale Freiheiten bestehen, während er ihn als befreiend erachten kann, sollte eine Benachteiligung bei den eigenen Freiräumen vorliegen. Ob er sich also für oder gegen Universalismus wendet, hängt aus einer Perspektive persönlicher Vorteilhaftigkeit davon ab, ob man derzeit über- oder unterprivilegiert ist. Schon deshalb liegt es nahe, dass Überprivilegierte dazu tendieren, die für sie vorteilhaften Freiheiten konservieren zu wollen, während Unterprivilegierten Chancengleichheit attraktiv erscheint. Kurzum: Wer Vorteile hat, will diese bewahren, wer im Nachteil ist, will diesen beseitigen. Zwangsläufig möchten deshalb die einen Vermögen ebenso sehr als verdient ansehen können, wie andere es als unverdient wahrnehmen. Für die einen ist es verdiente Folge unterschiedlicher Nutzung gleichlautender Freiheiten, für die anderen ist es unverdiente Ursache für ungleiche Freiheitsgrade. Max Weber , der mangelndem Konservatismus unverdächtig gelten kann, bemerkt an einer Stelle: Die einfachste Beobachtung zeigt, daÿ bei beliebigen au älligen Kontrasten des Schicksals und der Situation zweier Menschen, es sei etwa in gesundheitlicher oder in ökonomischer oder in sozialer oder welcher Hinsicht immer, möge der rein zufällige Entstehungsgrund des 222 <?page no="223"?> Unterschieds noch so klar zutage liegen, der günstiger Situierte das nicht rastende Bedürfnis fühlt, den zu seinen Gunsten bestehenden Kontrast als legitim , seine eigene Lage als von ihm verdient und die des anderen als von jenem irgendwie verschuldet ansehen zu dürfen. 85 Umso stärker man sich benachteiligt fühlt, desto schneller wachsen Zweifel, dass die Unterschiede gerechtfertigt sind, und damit auch die Bereitschaft, dagegen vorzugehen, was - wenig überraschend - von den gut Situierten als freiheitsbeschränkend, mithin illiberal wahrgenommen wird. Umso mehr verteidigenswerte Privilegien hingegen vorliegen, desto verlockender nimmt sich entsprechend ein illiberaler Konservatismus aus, der als Freiheit noch verteidigt, was letztlich nur unverdiente Chancen un gleichheit zementiert. In dieser symmetrisch erscheinenden Gemengelage sind regelmäßig diejenigen im Vorteil, die über mehr Ressourcen verfügen. Die Symmetrie des Ungerechtigkeitsempfindens übersetzt sich dadurch in eine Asymmetrie seiner Durchsetzungsfähigkeit. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine Neigung zum Autoritarismus aus der Verbindung rücksichtslosen Freiheitsdrangs mit der elitär-liberalen Ablehnung von Mehrheiten, wie sie nicht allein dem Konservatismus, sondern auch dem radikalen Liberalismus innewohnt. Die Forderung nach individueller Freiheit steht unausweichlich immer in einem Konkurrenzverhältnis zu Majoritätsentscheidungen. Denn folgt man Liberalen, gilt sie ganz unabhängig von vorliegenden Mehrheiten. Wer Freiheit aber von demokratischer Zustimmung loslöst, sieht sich auch dazu berechtigt, sich darüber hinwegzusetzen. Indem Liberale Demokratie nur so lange anerkennen, wie sie ihre favorisierten Freiheiten verteidigt, sehen sie in ihr lediglich ein Mittel zur Erreichung ihrer eigenen Ziele und sich davon entbunden, sofern sie diese nicht bedient. Der dem individuellen Freiheitsdrang verfallene Liberale wird also nicht erst zum Antidemokraten , sobald er seine Interessen nicht gewahrt sieht, vielmehr war er nie Anhänger der Demokratie. Er toleriert sie nur, sofern sie ihm von Nutzen ist. Wo aber die Demokratie individuellem Nut- 85 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft , S. 549. 223 <?page no="224"?> zenkalkül geopfert wird, gibt es keinen Grund, Freiheit nicht ebenfalls einem solchen zu unterziehen. Warum sollte man nicht auch seinen Freiheitsbedarf von persönlichen Interessen abhängig machen, wenn man diesen schon alles andere untergeordnet hat? Tatsächlich zeigen gerade Konservative nicht selten die Bereitschaft, Freiheiten aufzugeben, die ihre Interessen nicht berühren. Um wirtschaftlicher Vorteile willen wird leichtfertig über die Verletzung von Grundrechten in Lebenslagen hinweg gesehen, vor denen man sich in seiner wohlsituierten Position geschützt glaubt. Um der vermeintlichen Terrorabwehr willen wird ebenso leichtfertig jede Privatsphäre preisgegeben, deren man in seinem konservativen Opportunismus ohnehin nicht bedarf. Um der Wahrnehmung einer günstigen Gelegenheit willen werden schließlich alle Prinzipien missachtet, die man aufgrund der damit erlangten Vorteile für verzichtbar hält. Das alles hat zur Folge, dass auch Freiheit nicht grundsätzlich verteidigt wird, sondern lediglich dort, wo sie ganz machiavellistisch den eigenen Interessen dient. Doch nur wenn man Freiheitsrechte als ein Resultat mehrheitlicher Zustimmung versteht, werden sie als solche auch für die Allgemeinheit akzeptabel. Sofern man sie aber als etwas versteht, was man der Gesellschaft, dem Staat oder der Mehrheit für sich individuell abgetrotzt hat, wird man sie mit allen Mitteln genau dagegen verteidigen. Jeder Konservatismus leugnet Universalismus, insofern er für Bewahrung ganz unabhängig davon eintritt, welche Ungleichheiten damit einhergehen. Ob er nun auf Wahrung von Traditionen, (Eigentums-)Rechten oder politischem Einfluss abzielt, regelmäßig geht damit die Fortsetzung bestehender Benachteiligungen einher, sei es etwa derjenigen von Frauen, Besitz- oder Einflusslosen. Konservative wehrten sich gegen die Zulassung von Frauen und weniger Begüterten zu Wahlen oder verteidigten Lobbyismus und Parteispenden im Glauben, dass ihnen nunmal zustehe, worüber sie durch welchen Zufall auch immer bereits verfügen, andere aber genau darauf keinen Anspruch hätten. Seine Vollendung findet diese Haltung in der liberalen Forderung nach Privateigentum, das alleinige Verfügungsgewalt über etwas verleiht, das damit allen anderen entzogen ist, ganz unabhängig davon, wie verdient die zugrunde liegenden Eigentumsansprüche sein mögen. Undemokratisch wird 224 <?page no="225"?> ein solches Ansinnen, wenn man Eigentum zu einem Grundrecht erhebt, das demokratischer Zustimmung entzogen bleiben soll, obwohl doch nur der von allen Bürgern getragene Staat es zu garantieren vermag und ohne ihn kein Besitz zu verteidigen wäre. Konservative Grundhaltungen des Liberalismus fördern weder die Anerkennung der Demokratie noch die der Gleichberechtigung. Vielmehr muss ihnen gemäß jeder davon ausgehen, dass auch andere stets nur ihrem Vorteil folgen, wie es das liberale Prinzip seit Adam Smith verlangt. In der Folge glaubt niemand daran, dass andere ausgerechnet dann damit aufhören werden, wenn sich ihnen eine Gelegenheit bietet, Mitmenschen zu übervorteilen - nicht nur im gewöhnlichen wirtschaftlichen Verkehr, sondern auch was politische Privilegien, Sonderrechte und Sonderzahlungen betrifft, wie nicht zuletzt Konzerne durch die Forderung nach Subventionen regelmäßig unter Beweis stellen. Niemand erwartet, dass einflussreiche Personen oder Firmen Vorrechte aus prinzipiellen Gründen ungenutzt lassen, wenn sie greifbar sind. Gewohnt, blind ihren eigenen Interessen zu folgen, verführt der Liberalismus sie dazu, das unabhängig von allen Prinzipien fortwährend zu tun. Entsprechend begünstigt die liberale Grundhaltung nicht Gleichberechtigung, sondern Egoismus. Um behaupten zu können, dass die Verfolgung des Eigennutzes förderlich sich auswirkt, muss Gleichberechtigung jedoch vorausgesetzt werden. Genau das hat der Liberalismus auch getan, als er sich gegen den Absolutismus und all die Privilegien des Adels wandte, die dieser freilich ebenfalls schon aus reinem Eigennutz zu bewahren suchte. Egoismus besteht und bestand immer schon - ohne dass es besonderer Fürsprache bedurft hätte. Doch er allein zeitigt noch keinerlei Prosperität, sondern vermag das erst auf der Grundlage einer Gleichberechtigung, die allen Chancen einräumt, sich gegenseitig Konkurrenz zu machen und zugleich niemanden durch Vorrechte davor schützt. Dies wiederum findet seine Grundlage deshalb in der Demokratie , weil die Mehrheit regelmäßig nicht gewillt ist, Minderheiten Privilegien zuzugestehen. Gegen Vorrechte indessen, die Mehrheiten sich selbst zuerkennen, helfen auch keine liberalen Grundrechte, wie Jahrhunderte der Sklaverei, des Rassismus und des religiösen Hasses beweisen, vielmehr geht auch hier die Forde- 225 <?page no="226"?> rung nach Gleichberechtigung von demokratischen Bewegungen aus, welche die Mehrheit zu überzeugen suchen. Ja, es waren liberale Grundrechte , die sogar eine Benachteiligung der Hälfte der Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg zuließen, nämlich die der Frauen. Liberalismus verführt zum Autoritarismus, sofern er sich konservativen Ansprüchen hingibt, weil er dann jeden Universalismus leugnet und Realismus zum letzten Prinzip erhebt. Sobald man glaubt, dass jeder immer seinem Vorteil folgt, bleibt auch gar nichts anderes mehr, als sich diesem machiavellistischen Prinzip anzuschließen und jeden Idealismus fahren zu lassen - wovon ein berüchtigtes Zitat Hayeks beredtes Zeugnis ablegt: Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig. [...] Für eine Welt die auf egalitäre Ideen gegründet ist, ist das Problem der Überbevölkerung (...) unlösbar. Wenn wir garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen. Gegen diese Überbevölkerung gibt es nur die eine Bremse, nämlich daÿ sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können. 86 Neoliberalismus, wie Hayek ihn propagiert, zielt nicht auf Gleichberechtigung, sondern auf Durchsetzungsfähigkeit. Im Glauben an das evolutionäre Prinzip des »survival of the fittest«, das er für die Wirtschaft einfordert, vergisst er leicht, dass er sich politisch den Grundrechten, dem Individualismus und der Chancengleichheit verpflichtet hatte. Wie bei Verfolgung eigener Interessen verleitet ihn seine eigene Denkweise zu erschütternden Konsequenzen, die sich besonders dann leicht vertreten lassen, wenn man sich im Vorteil wähnt. Ohnehin fällt auf, dass radikale und konservative liberale Positionen von denen vertreten werden, deren Überlegenheit bereits Bestand hat. Statt die liberale Trennung von Wirtschaft und Politik aufrecht zu erhalten, die zugegebenermaßen einer gewissen Schizophrenie zuneigt, kommt es 86 Hayek nach Ptak, »Grundlagen des Neoliberalismus«, S. 67. 226 <?page no="227"?> zu unzulässigen Vermischungen. Müsste der Neoliberalismus seinen universalistischen Prinzipien nach politische Fairness verlangen, gibt er unverhohlen dem Gedanken nach, dass sich stets durchsetzen solle, wer dies vermag, gleichgültig welche Mittel und Wege dafür notwendig sind. In Fixierung auf wie in seiner Abhängigkeit von Nationalstaaten schreckt er dabei noch nicht einmal vor Sozialdarwinismus zurück. Mit Grundrechten und Individualismus unvereinbar, dringt hier das schrankenlos unbarmherzige Prinzip des radikalen Liberalismus durch - und mit ihm offenbar das Bedürfnis danach, sich selbst bei schamloser Verfolgung eigener Interessen moralisch im Recht zu fühlen. Genau dieses Gefühl bedienen auch Autokraten: Völlig offen verfolgen sie ihre eigenen Interessen und unterstreichen schon dadurch, dass dies nicht verwerflich sei, wobei sie sich auf die liberale Legitimierung einfältiger Interessenverfolgung berufen können. Einmal zur Macht gelangt, verleihen sie solcherlei Egoismus noch die Weihen der Autorität, nachdem der liberale Republikanismus Demokratie auf einen simplen Wettkampf ressourcenbewährter Interessen reduziert hatte, in dem sich im Zweifel nicht die Mehrheit, sondern größerer Einfluss durchsetzt. Diese Konstellation verschaffte im Liberalismus dem Kapital einen Vorteil, weil es über die nötigen Mittel verfügte, seinen Interessen Geltung zu verleihen. Der Autokrat nun dreht die Verhältnisse um: Er verschafft denjenigen Vorteile, die bereit sind, ihre Ressourcen für seine Macht einzusetzen. Er richtet sich nicht nach den kapitalkräftigsten Interessen aus, sondern versucht umgekehrt die Kapitalkräftigen nach seinen Interessen auszurichten, wobei er selbstverständlich stets darauf achtet, dass diese sich mit denjenigen der durchsetzungsfähigsten Kräfte decken. Er vermittelt denjenigen, die nach Vorteilen oder Privilegien streben, dass sie solche unter seiner Führung erlangen werden, sofern sie sich bereit zeigen, auf seine Linie einzuschwenken. Auf diese Weise lässt sich Gefolgschaft jenseits der eigenen Anhänger gewinnen, wie es schon Adolf Hitler mit frei werdenden Stellen nach Verbannung der Juden gelang, wie Sebastian Ha ner unter Juristen erlebte: 227 <?page no="228"?> Selbst die, die bisher keine Nazis gewesen waren, fühlten ihre Chance. 87 Die liberale Annahme, dass dem Gemeinwohl am besten gedient sei, wenn jeder seinem Interesse folgt, gibt die Legitimation, genau dafür einzutreten, und sobald man jede universalistische Rückbindung aufgibt, wird dem Autoritarismus freier Lauf gelassen. Indem das Individuum sich nun mit der Führung identifiziert, partizipiert es zugleich an deren Erfolgen. Es fühlt seine Freiheit, seinen Besitz und seine Macht verteidigt, wenn der Autokrat die Freiheit, den Besitz und die Macht der Nation verteidigt. Insofern hängt jeder Besitzstandswahrung, jeder blinden Verteidigung eigener Interessen, sogar jedem Ruf nach persönlicher Freiheit ein Hang zum Autoritarismus und letztlich zum Nationalismus an, sobald er dafür bereit ist, Universalismus aufzugeben. Die/ Der Konservative und Autoritätsgläubige hält sich aber nicht für egoistisch, sondern möchte sich und anderen glauben machen, dass er mit seinen Ansichten richtig und die anderen falsch liegen. Richtig liegt sie/ er, weil sie/ er sich damit durchzusetzen vermag, denn richtig ist radikal-liberal, was sich behauptet. Damit hängt auch die Hingabe an Autoritätspersonen zusammen, deren Ansichten ihr/ m schon deshalb als richtig gelten, weil sie sich durchsetzen. Das Denkschema folgt der kindlichen Situation in einem autoritären Haushalt: Richtig ist, was die Autorität sagt, denn jede Zuwiderhandlung beweist ihre Unrichtigkeit dadurch, dass sie sich nicht durchzusetzen vermag. Was aber ist eine Wahrheit Wert, die nicht besteht? Deshalb bleibt die einzige Wahrheit autoritären Denkens, die der Macht. 88 87 Haffner, Geschichte eines Deutschen , S. 197. 88 Als ein Transportzug der 1. SS-Panzer-Division »Leibstandarte SS Adolf Hitler« im April 1944 im französischen Ascq entgleist, lässt der Kommandant alle jungen Franzosen aus den Häusern des Ortes zusammentreiben, obwohl nahe liegt, dass die Saboteure längst geflohen sind. 86 unbewaffnete Menschen werden dann auf offener Straße erschossen. In einem Interview des NDR begründet ein beteiligter SS-Mann das Massaker so: »Wenn ich die Männer arrestiere, dann habe ich die Verantwortung für sie. Und wenn sie weglaufen, habe ich das Recht auf sie zu schießen.« (Bongen u. a., Interview mit NS-Verbrecher: ›Ich bereue nichts‹ ) Kein Zweifel an der Autorität und ihrem irrationalen rachegetriebenen Vorgehen; kein Zweifel an der Richtigkeit, des eigenen Handelns, so lange es Befehlen einer Autorität 228 <?page no="229"?> Der damit einhergehende Hang zum Nationalismus wirkt widersprüchlich, setzt er doch auf eine kollektive Komponente auf, obwohl die Gefolgschaft nur einer Person gilt. Doch hier findet die autoritäre Familie ihre Fortsetzung: Allein fühlt man sich schwach, gewinnt aber genau in dem Maße an Größe, wie das eigene Oberhaupt an Macht. Jedes Stammes- oder Familienmitglied bezieht seinen Selbstwert aus der Autorität des Oberhaupts, das umso mehr Stärke ausstrahlt, je größer und ergebener die Gefolgschaft. Der Nationalismus verkörpert eine gewaltige Rudelbildung, die dem Leittier folgt, weil in ihm persönliche Autorität mit der Kraft der Gruppe konvergiert. Damit aber widerspricht er diametral dem liberalen Individualismus, der vor der Macht der Masse ebenso schützen soll wie vor jener der Regierung. Hat man den mühsam erworbenen Individualismus einmal hinter sich gelassen, verflechtet sich der eigene Status unversehens mit demjenigen des Regimes. Das Gefolge macht sein eigenes Glück abhängig von dem seines Oberhaupts, das umgekehrt verspricht, sein Schicksal von dem der Nation abhängig zu machen, ohne dabei Rücksicht auf Einzelne zu nehmen. Genau darauf bauen die autoritären Regime mit ihren Loyalitätsansprüchen und verbreiten Angst, indem sie Leute plötzlich ins Abseits stellen. Wie unverblümt konservative, autoritäre Figuren Gleichgesinnte fallen lassen, wenn es ihren Interessen dient, führt nicht erst Donald Trump mit seinem hohen Verschleiß in seinem Stab vor. Ebenso verraten ihre Anhänger bereitwillig Landsleute, deren Nationalität sie doch so hoch einschätzen, wenn es nur dem eigenen Vorteil dient, den sie identisch mit demjenigen der Nation wähnen. In ihrem Bestreben nach Statuserhalt drohen deshalb Konservative jeglicher Couleur dem Faschismus zu verfallen, sobald dieser an die Macht gelangt, weil sie dort sogleich die höchste Chance auf Wahrung und Mehrung ihrer Besitzstände und Vorrechte erblicken. In diesem Sinne faschistisch zeigt sich auch ein Stalinismus, der sich zwar dem Sozialismus verpflichtet gab, dem es aber doch nur um Machterhalt zu tun war. Ohnehin gerät Sozialismus gleichfalls konservativ, sobald er dem Universalismus die Treue versagt und Besitzstandswahrung betreibt. Sozialdemofolgt; und kein Zweifel daran, dass derjenige, der die Macht hat, auch das Recht hat, seine Regeln durchzusetzen . 229 <?page no="230"?> kraten heute verlieren sich im Konservatismus, wenn sie nichts anderes mehr tun, als Bestehendes zu verteidigen. Als sie dieses Ansinnen auf bürgerliche Klassen ausdehnten, indem sie sich dem Neoliberalismus hingaben, gelangten sie prompt auch um die Jahrtausendwende in vielen Ländern an die Regierung; nur um dann wieder an Rückhalt zu verlieren, als sie danach strebten, liberalen Universalismus auf Minderheiten auszudehnen. Entsprechend gewinnen konservative Parteien bei Wahlen so lange die Mehrheit, wie diese um ihren Besitzstand bangt. Fühlt sich die Mehrheit benachteiligt, müssen universalistischer eingestellte Parteien korrigierend eingreifen, nur damit der Konservatismus zurückkehrt, sobald die Mehrheit wieder denkt, ihren Status verteidigen zu müssen. Linke Politik kommt deshalb oft nur zum Zuge, wenn die Mehrheit von mehr Gleichberechtigung eine Verbesserung ihrer Position erwartet. Umgekehrt gewinnt Autoritarismus an Attraktivität, umso mehr Menschen glauben, etwas zu verlieren zu haben, das sie vom liberalen Konservatismus nicht mehr verteidigt wähnen. Mit der Hinwendung zum Neoliberalismus gaben nicht nur die Sozialdemokraten ihren universalistischen Kern preis, ebenso hatten die Konservativen zuvor auf gleiche Weise ihren konservativen Charakter verloren. Ihr neoliberaler Fortschrittsglaube stellt Bestehendes kontinuierlich in Frage und nimmt denjenigen ihre politische Heimat, die gerne am status quo festhalten würden. Der Konservatismus war stets eine starke politische Kraft und gewinnt umso mehr an Bedeutung, je weniger Fortschritt unmittelbar mit einer Verbesserung der Lebenssituation verknüpft scheint. Wer von Veränderungen, und mögen diese auch noch so progressiv sein, nicht profitiert, wird sie nicht begrüßen und deshalb nach Erhalt des status quo streben. Spricht man dann von Abgehängten , hat man die neoliberale Hingabe an den Fortschritt um seiner selbst willen bereits verinnerlicht. Doch nicht jede Veränderung, die sich selbst fortschrittlich dünkt, ist schon deshalb gut , sondern nur insofern sie den Menschen dient. Wenn Sozialdemokraten sich demgegenüber für Minderheits rechte einsetzen, glauben sie sich auf der Seite der Gleichberechtigung, doch schon die Formulierung wirkt unglücklich. Was nur für eine Minderheit gilt, widerspricht zwangsläufig dem Universalismus. Hinzu kommt, dass sich das Ver- 230 <?page no="231"?> langen nach Gleichberechtigung ursprünglich gegen Privilegien richtete und schon deshalb einen anti-elitären Charakter beinhaltete, der heute nichts an seiner Brisanz eingebüßt hat. Stets ging es um die Behauptung einer unterprivilegierten Mehrheit gegenüber einer privilegierten Minderheit . Mit der Forderung nach Gleichberechtigung sammelte der Sozialismus breite Bevölkerungskreise hinter sich. Vor deren Anliegen versuchte der Neoliberalismus die Elite zu schützen, indem er elitären Minderheitspositionen Sonderrechte einzuräumen suchte, die demokratische Entscheidungsgewalt beschränken sollten. Der Verteidigung einer Minderheit gegenüber der Mehrheit haftet dadurch immer auch eine elitäre Konnotation an. Indem die Sozialdemokratie sich im Einsatz für Minderheiten auf den liberalen Individualismus stützt, droht sie dadurch vom Neoliberalismus ununterscheidbar zu werden. Nicht im Einsatz für Gleichberechtigung liegt das Problem, sondern in ihrer Beschränkung auf eine Minderheit. Denn wenn sie die Mehrheit bereits für gleichberechtigt hält, ist sie dem neoliberalen Formalismus rechtlicher Gleichstellung bereits verfallen. Die Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen, wie groß jede einzelne auch sein mag, ist eine demokratische Selbstverständlichkeit und erfährt nicht umsonst hohe Zustimmung. Wenn dies aber zum Haupttätigkeitsfeld sozialdemokratischer Politik gerät, verkommt diese zu einem neoliberalen Ablenkungsmanöver von Ungerechtigkeiten, wie sie mit sozialer Ungleichheit für die Mehrheit der Bevölkerung einhergeht. Autoritäre Bewegungen profitieren davon, dass weder jemand für Gerechtigkeit noch für Statusbewahrung eintritt. Gerne greifen sie dafür auf das Sicherheitsbedürfnis weiter Bevölkerungskreise zurück, weil die Rede von erhöhter Sicherheit den Anschein erweckt, als würde sie universell für alle gleichermaßen gelten als auch das konservative Verlangen nach Schutz decken. Tatsächlich aber bringen aufgeblähte Sicherheitsapparate mehr Unsicherheit für Abweichler und liefern die Privatsphäre an Staatsapparate aus. Mehr Sicherheit verspüren nur Opportunisten, was mithin der Grundidee des Liberalismus widerspricht, die Schutz vor staatlicher Willkür schaffen wollte. 231 <?page no="232"?> Liberale Demokratie garantiert weder Gleichberechtigung noch Liberalität, dauerte es doch Jahrzehnte bis Frauen oder Schwarze auch nur gleiche Rechte erlangten. Das Freiheitsverlangen des konservativen Liberalismus richtet sich vor allem auf eine Befreiung der Vermögensverhältnisse von jeglicher Einmischung. Zu diesem Behufe setzt er auf die Unabhängigkeit liberaler Institutionen, die vor allem eine Unabhängigkeit von demokratischer Einmischung meint. Indem Liberale Vertrauen in die Exzeptionalität von Ausnahmepersönlichkeiten p egen, leisten sie dem Autoritarismus Vorschub, der genau einer solchen zustimmungsunabhängigen Legitimierung von Führungspersönlichkeiten bedarf. Ebenso verachtet der einfältig Freiheit fordernde Individualismus den Universalismus, sobald er persönliche Freiheitsansprüche über Gleichberechtigung und Schranken zum Schutz ferner Arbeiter und Generationen stellt. Wo er auf diese Weise sich bereit zeigt, Demokratie dem individuellen Nutzenkalkül zu opfern, gibt es auch keinen Grund mehr, Freiheitsrechte von diesem auszunehmen, sofern sie andere betre en. Hat der Konservatismus den Universalismus hinter sich gelassen, droht er sich dem Faschismus hinzugeben, sobald er darin Wahrung und Mehrung seiner Vorrechte und Besitztümer am erfolgversprechendsten vertreten wähnt. 3.6 Universalismus und Demokratie Der Liberalismus hat seinen Ursprung nicht zuletzt in der Angst vor Machtmissbrauch. Dagegen wendet sich jedenfalls die liberale Idee der Gewaltenteilung, wie sie Charles-Louis Montesquieu bereits 1748 betont: 232 <?page no="233"?> Sobald in ein und derselben Person oder derselben Beamtenschaft die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden ist, gibt es keine Freiheit. Es wäre nämlich zu befürchten, daÿ derselbe Monarch oder derselbe Senat tyrannische Gesetze erlieÿe und dann tyrannisch durchführte. 89 Mit Gewaltenteilung und unabhängigen Institutionen glaubte Montesquieu, individuelle Freiheit verteidigen zu können. Er wollte Macht unschädlich machen, indem er sie aufteilte. Er hoffte, das Individuum zu schützen, indem er den Staat in seinen Möglichkeiten beschränkte. Historisch gesehen reagiert er damit auf einen Absolutismus, durch den Herrscher in ihrer Willkür zur Bedrohung wurden, nachdem sie sich aller religiösen und ständischen Gegenkräfte entbunden wähnten. Von jeglichen Fesseln befreit schreckte der absolute Staat auch nicht davor zurück, über Leben und Tod seiner Untertanen zu bestimmen. Nichts auf Erden soll dem Willen des Souveräns widerstehen, hieß die absolutistische Forderung im 16. Jahrhundert: Der souveräne Fürst dagegen ist eben niemandem auÿer Gott Rechenschaft schuldig. 90 Diese Bestimmung der Souveränität, wie sie Jean Bodin 1576 vornimmt, richtet sich »gegen die Aufspaltung von Herrschaft auf viele, etwa religiös, lehnsrechtlich oder ständisch legitimierte Träger«. 91 Zu seinem absoluten Fürsten verhält sich der Bürger, wie der Sklave zu seinem Herrn: er ist ihm schutzlos ausgeliefert. Genau dagegen wendet sich der Liberalismus, indem er die Freiheit des Individuums über die Gewalt des Souveräns stellt. Niemandem, nicht einmal einem Fürsten, soll es erlaubt sein, mit Bürgern umzugehen, als wären sie sein Besitz. Freiheit meint hier also zuallererst Freiheit vor willkürlichen Übergriffen, und greift insofern die antike Unterscheidung von Freien und Sklaven auf. Ohnehin konnte es angesichts der unum- 89 Kap. XI.6. in Montesquieu, Vom Geist der Gesetze , S. 216 f. 90 Buch I. Kap. 8 Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Buch I-III , S. 207. 91 Koselleck und Conze, »Staat und Souveränität«, S. 108. 233 <?page no="234"?> schränkten Gewalt souveräner Herrscher gar nicht um schrankenlose Freiheit gehen, sondern zunächst einmal darum, völliger Inferiorität zu entgehen, die jeden Untertanen gegenüber dem absoluten Staat tatsächlich in den Status eines Rechtlosen versetzte. Anfänglich wendete sich der Liberalismus somit nicht gegen Demokratie, vielmehr entdeckte er in ihr sehr bald eine Verbündete dafür, jeglichen Absolutismus einzudämmen; denn mit ihr hoffte er, die autokratische Willkürherrschaft beseitigen zu können, schloss sie doch Einzelherrschaft aus. Demokratie bedeutet allerdings auch: An die Stelle der Souveränität eines Fürsten rückt diejenige des Volkes. Der Bedrohung durch die absolute Gewalt eines Einzelnen soeben entgangen, sieht sich der Liberale dadurch einer anderen gegenüber, die nun von den Vielen ausgeht. Zwar gibt er zu, dass deren Herrschaft gerade aus der Befreiung von jener der Fürsten, mithin also aus der Freiheit der Individuen selbst, erst hervorgeht, dennoch fürchtet er davon sein Leib und Leben ebenso bedroht wie sein Hab und Gut. Jene individuellen Freiheiten, wie er sie gegenüber dem Absolutismus zu verteidigen suchte, glaubt er auch in der Demokratie schützen zu müssen, hat diese doch jenen Machtapparat übernommen, den ihr die absoluten Fürsten hinterlassen hatten. Immerhin ist der demokratische Staat in seiner Organisation nicht weniger schlagkräftig wie der absolutistische, weil ebenso über ein Gewaltmonopol verfügt. Gegenüber dem Einzelnen erscheint die Demokratie deshalb nicht notwendig weniger bedrohlich als der Absolutismus. Darum genügt es dem Liberalismus nicht, dass die Herrschaft nun von freien Individuen ausgeht. Er strebt nicht mehr nur danach, die Rechtlosigkeit abzuschütteln, sondern fordert individuelle Rechte unabhängig von den Herrschaftsverhältnissen. Er verlangt von einer Regierung, welcher Couleur sie auch immer sein mag, dass sie liberale Ansprüche verteidigt. Letztlich ist es ihm dann einerlei, um welche Regierungsform es sich tatsächlich handelt, worauf sich ihre Legitimation stützt und mit welchen Methoden sie sich behauptet, so lange sie nur dem Individuum wirtschaftliche Freiheit lässt. Anders als gerne angenommen, pflegt der Liberalismus keine natürliche Verbindung zur Demokratie, sondern bedient sich ihrer nur, wo sie ihm zur Erreichung seiner eigenen Ziele nützlich erscheint, wie etwa im Kampf gegen einen unberechenbaren Absolutismus. Wo Monarchien oder Autokra- 234 <?page no="235"?> tien sich aber als berechenbar erweisen und auf individueller Ebene liberale Rechte gewähren, zeigt sich der Liberalismus durchaus einverstanden. Ohnehin gehen Liberale Kooperationen ein, sobald sie kommerzielle Chancen wittern, und hegen sodann nicht einmal mehr allzu große Ansprüche an vermeintlich urliberale Menschenrechte. Singapur ist hier nur das augenfälligste Beispiel und China führt all denjenigen vor Augen, die an eine liberalisierende und demokratisierende Wirkung des Handels glaubten, welchem Irrtum sie aufsaßen. Freier Warenverkehr allein bringt ganz offensichtlich noch keine politische Liberalisierung mit sich. Diese bleibt vielmehr stets abhängig von Demokratisierung, was insofern nicht überraschen kann, weil nur durch sie Macht all denjenigen verliehen wird, welche ein eigenes Interesse daran haben können, die Universalität der Freiheitsrechte zu verteidigen: den Individuen - und zwar nicht die von einigen, sondern von allen. Vom Handel geht lediglich genau eine liberalisierende Wirkung aus: die des Handels selbst, also eine immer weiter fortschreitende Befreiung des Kapitals von jeglichen Schranken - auch von jenen, die liberale Menschenrechte setzen. Im Europa des 19. Jahrhunderts ebenso wie im Indien des 20. sind es Liberalismus und Handel, die Kinderarbeit zu einem Massenphänomen werden lassen. Damals suchten Staaten das schließlich irgendwann aus purem Eigeninteresse zu unterbinden: teils um dem neuartigen nationalstaatlichen Legitimationsmodell durch Schulbesuch höhere »Loyalität« 92 und durch körperliche Unversehrtheit ausreichende Verteidigungsfähigkeit zu sichern; teils auf Druck der volljährigen Bevölkerung, weil deren ohnehin kärgliches Auskommen durch die minderjährige Konkurrenz noch weiter litt. Heute spielt das Kaufverhalten der Konsumenten in den reichen Ländern eine wichtige Rolle, sofern sie für das Produkt relevant ist. In wirtschaftlicher Hinsicht verhalten sich Unternehmer, die Kinder zur Arbeit einsetzen, somit durchaus liberal: Sie nutzen die ökonomischen Kostenvorteile eines liberalisierten Arbeitsmarkts, sofern es die örtlichen Gegebenheiten zulassen, und reagieren auf Kundenwünsche, sofern es der globale Absatzmarkt verlangt (oder geben dies zumindest vor, indem sie zumindest 92 Bönig, Zur Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland und Europa . 235 <?page no="236"?> offiziell von Kinderarbeit Abstand nehmen 93 ). Einen eigenen Antrieb zur Beachtung universalistischer Menschenrechte hegen sie nicht. In politischer Hinsicht steht ihr Verhalten damit im Widerspruch zu einem Liberalismus, der die Einhaltung der Menschenrechte allgemein und unabhängig von wirtschaftlichen Vorteilen fordert. Damals wie heute wirkt nicht die Ausbreitung des Wirtschafts liberalismus per se zivilisierend. Stets gehen Forderungen nach liberalen Universalismen von Kräften aus, die insofern demokratisch genannt werden können, als sie sich durch ihre schiere Masse Geltung zu verschaffen suchen, wobei ihnen dies oftmals dadurch erschwert wird, dass Unternehmer im Zuge einer Nutzenmaximierung, wie sie der Wirtschaftsliberalismus nunmal von allen Marktteilnehmern fordert, ein Interesse daran haben müssen, Kunden über die Produktionsbedingungen möglichst im Unklaren zu lassen. Ohne dass die Motive stets philanthropischer Natur gewesen wären, sind es dennoch primär demokratische Kräfte, die zivilisierend im Sinne universaler Rechte wirken. Erst indem die Bevölkerung gegen Auswüchse aufbegehrt, wird der Liberalismus an seine eigenen Prinzipien erinnert, die er ohne Widerstand allzu leichtfertig auf dem Thron der Wirtschaftlichkeit zu opfern bereit ist. Das gilt nicht nur für Kinderarbeit, sondern für Arbeitsbedingungen und Grundrechte allgemein. Nicht der Wirtschaftsliberalismus führt zu Liberalisierung und Universalisierung politischer und grundlegender Rechte, sondern sie kommen stets nur in dem Maße zum Zuge, wie sich die Bevölkerung Gehör zu verschaffen vermag. Verfolgt man die Entwicklung in China, Russland und anderen Ländern mit relativ spät von Liberalisierung ergriffener Wirtschaft, fällt dessen Entkopplung von menschenrechtlichen Verbesserungen und politischer Partizipation auf. Betrachtet man auf der anderen Seite die Entwicklung in Staaten mit langer liberaler Tradition, kann man darüber hinaus den Eindruck gewinnen, dass es nicht der wirtschaftliche Liberalismus war, der politischen Liberalismus mit sich brachte, sondern dass im Westen beides allein von einer wirtschaftlichen Vorrangstellung getragen war, und beides im selben Maße an Stabilität einbüßt, wie letztere verloren geht - als könne man es sich nicht 93 Chakrabarti u. a., »Im Namen von Unicef«. 236 <?page no="237"?> mehr leisten . Wenn sich in China aber nun erweist, dass Prosperität und damit politische Macht ohne Rücksicht auf Menschenrechte, ja sogar ohne tatsächliche Liberalisierung der Wirtschaft, wenn sich also zeigt, dass dem Westen beizukommen ist, ohne ihm nachzueifern, dann verlieren wirtschaftlicher und politischer Liberalismus gleichermaßen an Attraktivität. Wenn sich zudem der Westen von beidem abwendet, sobald seine Dominanz zu schwinden droht, dann kommt auch einem liberalen Idealismus jede Zugkraft abhanden. Liberalismus ist dann nur mehr eine weitere Ideologie unter anderen. Exakt in jenem Maße, in dem man auf dessen wirtschaftliche Überlegenheit verwiesen hatte, um andere davon zu überzeugen, verliert der Liberalismus nun an Überzeugungskraft, da offenkundig wird, dass auch andere Wege Prosperität versprechen. Wer auf Wirtschaftskraft als Argument setzt, hat nunmal keines mehr, sowie der Aufschwung nachlässt. Verwöhnt vom wirtschaftlichen Erfolg, hatte der Liberalismus dessen Vergänglichkeit verdrängt. Doch genau im gleichen Moment erinnert er sich daran, dass sein Ursprung nicht in ökonomischen Interessen liegt, und besinnt sich dessen, dass es etwas anderes war, dass ihm Leben einhauchte. Erst jetzt geht den Liberalen auf, was im Falle einer Niederlage auf dem Spiel steht, nachdem sie leichtfertig die Frage nach dem guten Leben auf einen wirtschaftlichen Wettbewerb reduziert hatten. Einmal in diesen eingetreten, wollen im Westen nun die Einen weiterhin triumphieren, koste es, was es wolle, und sei es auch das wertvolle Erbe an liberalen Errungenschaften, welche wiederum die Anderen nicht so einfach preisgeben wollen, obwohl ihnen die wirtschaftlichen und weltpolitischen Aussichten Angst und Schrecken einjagen. Während die Einen also bereit sind, angesichts des drohenden wirtschaftlichen Bedeutungsverlusts urliberale Prinzipien zu verraten , wollen die Anderen eben diese unbedingt aufrecht erhalten , ohne dass es ihnen gelänge, eine vielversprechende Perspektive für die Zukunft zu vermitteln. Der Liberalismus ist in die Defensive geraten und das wohl nicht zuletzt, weil er sein Schicksal zu eng mit wirtschaftlichem Erfolg verknüpft hat; wohl auch, weil er in der Vergangenheit nicht selten den Eindruck vermittelte, dass er unter diesem Vorwand Vermögende unlauter bevorzugt hat. Angetreten, um die Bürger vor der Willkür absolutistischer Herrscher zu schützen, war er 237 <?page no="238"?> nicht selten bereit die arme Bevölkerung der Willkür kapitalkräftiger Unternehmer auszusetzen, während er umso mehr Energie darauf verwandte, die Freiheitsrechte letzterer auch auf Kosten der Allgemeinheit auszuweiten. Mit vermeintlich unabhängigen Institutionen meinte der Liberalismus jeden Machtmissbrauch verhindern zu können, den er aber immer nur dort witterte, wo sich politische Macht gegen wirtschaftsliberale Ansprüche wandte, selten aber, wo wirtschaftliche Macht die Mühsal der armen Bevölkerung weiter verschärfte. Wie sich heute allerdings zeigt, lassen sich die gleichen Institutionen genauso gut in den Dienst von autoritären Herrschern stellen. Ganz neu ist diese Erkenntnis nicht, hatte Max Weber doch schon 1922 darauf hingewiesen, dass »bureaukratische Herrschaft«, welche ihm die »formal rationalste , Form der Herrschaftsausübung« 94 war und damit die »legale Herrschaft« 95 des »modernen okzidentalen Staats« widerspiegelt, bereitwillig jedem unterordnet, der diesem vorsteht: Er funktioniert für die zur Gewalt gelangte Revolution und für den okkupierenden Feind normalerweise einfach weiter wie für die bisher legale Regierung. Stets ist die Frage: wer beherrscht den bestehenden bureaukratischen Apparat? 96 Es gehört zu den so vorgesehenen Eigenschaften eines jeden streng bürokratischen Apparates, dass er stets jenen Prinzipien oder Personen gehorcht, die Macht darüber erlangen. Um die Unabhängigkeit von Institutionen, sofern es eine solche überhaupt geben kann, ist es deshalb geschehen, sobald diejenigen Mechanismen, die sie gewährleisten sollen, in Hände fallen, die genau daran kein Interesse haben. Selbst höchste Gerichte, auf deren Unabhängigkeit Liberale den größten Wert legen, fallen in strittigen Fragen durch tendenziöse Urteile auf. Nicht umsonst werden Neubesetzungen dort stets als politische und nicht etwa als juristische Ausrichtung gesehen - und das nicht erst seit der verstörenden Dreistigkeit, mit der Donald Trump hier vorging. Ivan Krastev und Stephen Holmes schreiben dazu: 94 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft , S. 128. 95 Ebd., S. 125. 96 Ebd., S. 128. 238 <?page no="239"?> Die alles andere als unparteiische amerikanische Justiz ist ein zentrales Thema liberaler Forschungen und Kommentare zu Rassen- und Klassenvorurteilen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtsvollzug. 97 Abgesehen davon bleibt vermeintlich unabhängigen Institutionen die ihnen oftmals reflexhaft zugeschriebene Neutralität schon deshalb verwehrt, weil sie von Menschen bevölkert werden, die alle wiederum von anderen Menschen dafür bestellt wurden. Wer immer aber eine Position besetzt, verfolgt damit ein Interesse. Selbst wenn dabei viele Unabhängigkeit im Sinn haben sollten, so wohnt doch jeder Berufung immer auch eine Tendenz inne, weil sie zugleich eine gegen andere Kandidaten ist, mit denen eine andere Ausrichtung verbunden wäre und sei es nur in Nuancen. Besetzungen führen jedenfalls Richtungsentscheidungen herbei, die kaum mehr rückgängig zu machen sind und nicht immer hehren Grundsätzen folgen. Niemand kann ausschließen, dass allein durch geschickte Besetzungen Behörden Schlagseite bekommen. Ohnehin verhält sich nicht alles unabhängig, was sich so nennt, so folgen etwa Ausbildung und Ernennung von Richtern Wertvorstellungen, die gewissen Milieus gegenüber Vorbehalte pflegt, wie Werner Tomanek aus seiner praktischen Erfahrung als Anwalt feststellt: Ein Strafakt ist für die meisten Polizisten, Staatsanwälte und Richter ein Haufen Suchtgift, eine Hure mit Lackstiefeln oder einer Blutlacke. Die gefälschte Bilanz, die Scheingesellschaft auf den Cayman Islands oder die groÿe Korruptionsa äre sind zunächst mal abstrakte Gröÿen, mit denen die ermittelnden Beamten und die Justiz einige Verständnisschwierigkeiten haben. Das hat einen einfachen Grund. Die meisten von ihnen wurden in einer Zeit ausgebildet, in der Strafrecht nun mal hauptsächlich mit Suchtgift, Huren und Blutlacken assoziiert wurde. Dementsprechend war auch die Ausbildung. 98 97 Krastev und Holmes, Das Licht, das erlosch , S. 270. 98 Tomanek, Die Zwei-Klassen-Justiz , S. 38. 239 <?page no="240"?> In der Folge kommt es zu einer Schlagseite einer vermeintlich unabhängigen Institution: Die Philosophie des Ermittelns in jenen Bereichen, in denen Täter am leichtesten dingfest zu machen sind, schützt die Reichen und Mächtigen und bestraft die Ärmeren doppelt. Zum einen, weil sie der Einfachheit halber zur Zielscheibe des Rechtssystems werden und der schmale Grat zwischen Kriminalität und Kriminalisierung immer wieder überschritten wird, um den Beweis für die eigene Daseinsberechtigung zu erbringen. Zum anderen, weil die Ärmeren in letzter Konsequenz auch die kriminelle Energie der Reicheren ausbaden und unter Umständen erst durch deren Taten in eine legistische Grauzone gedrängt werden. 99 Abgesehen davon kann jedes Mitglied einer unabhängigen Institution, einmal bestellt, jederzeit von der geforderten Unabhängigkeit abweichen und bestimmte Interessen verfolgen, freilich ohne dies offen zu legen. Wo Menschen arbeiten, herrschen verschiedene Motive und Voreingenommenheiten, die keineswegs den institutionellen Vorgaben folgen müssen. Die Unabhängigkeit von Ämtern bezieht sich darauf, Vorgesetzten gegenüber nicht weisungsgebunden zu sein, garantiert aber keine Neutralität , vielmehr gewährt sie eine gewisse Unabhängigkeit auch solchen Erwartungen gegenüber. Man braucht deshalb zwar nicht sogleich die Forderung nach Unabhängigkeit zu verwerfen, aber man sollte sich ihrer Schwierigkeiten bewusst sein. Nur weil Institutionen sich unabhängig nennen, müssen sich ihre Angehörigen noch lange nicht so verhalten und schon gar nicht wahren sie deshalb notwendig Neutralität. Nur weil Menschen in organisatorisch unabhängigen Organisationen arbeiten, legen sie nicht all die allzu menschlichen Motive ab. Nur weil Verfahren formalisiert sind, produzieren sie Ergebnisse deshalb nicht mit unbestechlicher, rein sachgemäßer Zwangsläufigkeit. Stets bestehen Spielräume, deren Ausnutzung gerade vor dem Hintergrund vermeint- 99 Tomanek, Die Zwei-Klassen-Justiz , S. 42 f. 240 <?page no="241"?> licher Unabhängigkeit besonders wirkmächtig sind. Man denke an die nationalsozialistische Vergangenheit der deutschen Justiz, deren Aufarbeitung von ihr selbst freilich nicht mit angemessener Unabhängigkeit und Neutralität geahndet wurde, wie Marc Miquel betont: Der Fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs fällte im Mai 1969 die juristisch hochumstrittene, aber politisch gewollte Entscheidung, dass die Verbrechen gerade derjenigen verjährt waren, die innerhalb des Mordapparates die Hauptverantwortung getragen hatten. 100 Der Eindruck, dass die Polizei auf dem »rechten Auge« blind sei, reißt nicht ab, sodass es Martin Bernstein leicht fällt, illustrativ drei Fälle gegenüber zu stellen, die zeigen, »Wie die Justiz mit möglicherweise gewaltbereiten Menschen umgeht.« 101 Dazu muss er nicht auf bekannte überregionale Beispiele zurückgreifen, sondern ihm genügt ein punktueller Blick auf die bayerische Justiz: Ein 24 Jahre alter Antifaschist gerät da wegen Fluchtgefahr zwei Monate in Untersuchungshaft, weil das Aufgreifen weggeworfener Lebensmittel als bewa neter Diebstahl gewertet wird, hatte der Mann doch einen Stock mit Fahne dabei, womit er gegen Pegida demonstriert hatte. Acht polizeibekannte Rechtsradikale überfallen bewaffnet mit Messer, Hammer und Baseballschläger einen Döner-Imbiss und verletzen zwei Menschen, müssen aber nicht in Untersuchungshaft. In der Nähe einer Flüchtlingsunterkunft halten Polizisten ein Auto an und entdecken: Messer, Beil, Axt, Nachtsichtgerät und einen gefüllten Benzinkanister. Nachdem sie beim Staatsschutz nachgefragt haben, nehmen sie dem Fahrer nur das Messer ab und lassen ihn weiterfahren. Diese Berichte aus dem juristischen Alltag weisen eine bedrückende Parallelität zu Eindrücken aus bekannten Geschehnissen auf, wo etwa der Verfassungsschutz nicht nur im Zusammenhang mit dem NSU-Prozess durch zahlreiche »Merkwürdigkeiten« 102 aufgefallen ist. Auch im Fall Oury Jalloh legt die Justiz bis heute eine befremdliche Untätigkeit an den Tag, die es 100 Miquel, Der befangene Rechtsstaat . 101 Bernstein, Sehschwäche auf dem rechten Auge . 102 Diehl, Hunger und Witte, Die Merkwürdigkeiten im NSU-Komplex . 241 <?page no="242"?> in einem Rechtsstaat, wenn sich Institutionen tatsächlich durch Neutralität auszeichneten, nicht geben dürfte: Ein Mann verbrennt in einer Gewahrsamszelle der Polizei. Die Beamten in der Polizeidienststelle behaupten, er habe seine Matratze angezündet und sei dann im Feuer umgekommen. Die Ermittler, die den Ort des Todes untersuchen, nden kein Feuerzeug. Zwei Tage später taucht plötzlich eins auf. Die Faserspuren am Feuerzeug sind allerdings andere als die der Matratze und der Kleidung des Mannes. Ach ja, der Mann, der sich selbst angezündet haben soll, war mit Handschellen gefesselt. 103 Die Frage lautet nicht einfach, wie sich Institutionen unabhängig einrichten lassen, sondern mehr noch, wie Unausgewogenheiten aufgefangen werden, die dort entstehen können. Denn Institutionen sind nicht automatisch dadurch neutral , dass sie als unabhängig gelten. Ihre Unabhängigkeit bezieht sich lediglich darauf, dass keine Weisungsbindung und auch keine demokratische Kontrolle besteht. Neutralität gewährleistet das nicht und es liefert auch kein Motiv dahingehend. Obwohl jede/ r ein gutes Gespür dafür zu haben glaubt, führt schon die Forderung nach Neutralität in die irre, weil jede/ r etwas anderes darunter versteht. Es bedürfte also eines unabhängigen Maßstabs, doch woher sollte dieser kommen und wer sollte seine Einhaltung kontrollieren? Eine unabhängige Institution, die wiederum der gleichen Problematik unterliegt? Hier zeigt sich das Dilemma aller Unabhängigkeit: Sie garantiert keine Neutralität, sondern überantwortet lediglich die Maßstäbe der Arbeitsweise an Stellen, die einer Kontrolle entbunden sind. Unabhängige Institutionen leisten nicht, wozu sie geschaffen wurden und können dies auch gar nicht. Schon deshalb besteht keine Aussicht darauf, dass sich etwas ändert. Eine einmal etablierte Schieflage besteht nicht trotz Unabhängigkeit weiter, sondern wegen ihr. 103 Schulz, Rassistisch korrupt . 242 <?page no="243"?> Ein Rechtswesen, das unbeeinflusst von anderen Einrichtungen arbeiten kann, erst recht aber staatliche Apparate zeigen Unausgewogenheiten, die offenbar schon allein daher rühren, dass kooptative Rekrutierung selbstverstärkend wirkt. Jede Rekrutierung folgt letztlich den Interessen der Rekrutierenden. Man wird nicht grundsätzlich entscheiden können, dass es besser ist, dass Experten, Vorgänger, andere Stelleninhaber, das Losglück oder sonstwer für die Stellenvergabe zuständig ist. So oder so bleibt die entscheidende Frage, wer über das Verfahren bestimmt und wer es gegebenenfalls ändern kann. Wann immer aber sich diese Verfahren in ihrer Ausgestaltung gegen demokratische Entscheidungen sperren, bedeutet das nicht einfach nur, dass sie der Mehrheit entzogen sind, sondern immer auch, dass sie einer Minderheit obliegen . Genau darauf zielen liberale Institutionen: Sie schränken den demokratischen Entscheidungsspielraum ein. Diese Angst vor der Demokratie hegt der Liberalismus aus den selben Gründen wie vor dem Autoritarismus: Er fürchtet die Beschneidung individueller Freiheiten. Durch republikanische Institutionen glaubt er sich davor geschützt, womit er zum Ausdruck bringt, dass er gegenüber der Demokratie ein ähnliches Misstrauen hegt wie gegenüber dem Absolutismus. Beides hält er für freiheitsgefährdend. Von der Demokratie kann der Liberalismus dennoch nicht lassen, weil er sich von Alleinherrschaft oder Oligarchie noch mehr bedroht sieht, und so hofft er, dass ihm die Mehrheit dabei hilft, individuelle Freiheiten zu verteidigen, während er sich zugleich vor der gleichen Mehrheit zu schützen sucht, indem er ihre Macht durch Institutionen auf Bereiche einschränkt, die nichts Grundlegendes berühren. Dass etablierte liberale Republiken sich weltweit im historischen Verlauf und so erstaunlich gleichförmig entwickeln, liegt deshalb wohl weniger an einer natürlichen Stabilität, als vielmehr daran, dass der Gestaltungsspielraum durch die republikanische Einhegung bereits vorgegeben ist. Zugleich bleiben sie genau dadurch unflexibel , sodass die liberale Demokratie in Gänze gefährdet ist, sobald größere Neuausrichtungen notwendig werden. Diese Probleme zeigten sich schon im Gefolge der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren und sie zeigen sich wieder angesichts von Globalisierung, Klimawandel und Migration. Es waren republikanische Institutionen, die den Faschismus nicht verhindern konnten, statt dessen ließen sie es zu, dass 243 <?page no="244"?> die höchsten Ämter der Weimarer Republik von Feinden der Demokratie besetzt wurden. Es waren republikanische Regeln, die in eine Selbstblockade der Politik mündeten, von der die Nationalsozialisten profitierten. Schließlich waren es republikanische Strukturen, die der Bevölkerung bei der Präsidentenwahl die Entscheidung zwischen einem Monarchisten und einem Faschisten aufnötigten, also nur mehr die Wahl »des kleineren Übels unter den Republikfeinden« 104 ließen. Hans Mommsen unterstreicht die Wirkungslosigkeit republikanischer Mechanismen in just der Situation, in der sie am dringendsten gebraucht wurden: Die republikanischen Kräfte gelangten in dieser Lage vollends in die Defensive. Es war allen Einsichtigen klar, daÿ ein Sieg Hindenburgs die Schie age der Republik nach rechts nicht verändern würde. Die einzige Chance bestand darin, das formale Gefüge der Republik in eine Entwicklungsphase hinüberzuretten, in der die wirtschaftliche Not zurückging und erwartet werden konnte, daÿ die politische Radikalisierung breiter Bevölkerungsteile rückläu g würde. 105 In typisch liberaler Manier setzt auch Mommsen alle Hoffnungen in die Wirtschaft. Den Bürgern wird angelastet, auf ökonomische Tristesse mit Radikalisierung zu reagieren, obwohl es republikanische Mechanismen waren, die Heinrich Brüning in der Weltwirtschaftskrise eine Sparpolitik erlaubte, die keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung hatte. Naheliegenderweise zeigte sich diese daraufhin in den Wahlen 1932 enttäuscht und wandte sich von den Regierungsparteien ab. Doch den Wählern blieb keine wirksame Möglichkeit, gegen den verheerenden Sparkurs zu votieren, ohne zugleich ihre Stimme entweder Kommunisten oder Nationalsozialisten zu geben. Denn alle gemäßigten Parteien einschließlich SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und Monarchisten hatten sich zu Komplizen einer selbstzerstörerischen Wirtschaftspolitik gemacht. 104 Niedermaier, Wozu Demokratie? , S. 304. 105 Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar , S. 495. 244 <?page no="245"?> Ausgerechnet Adolf Hitlers Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht sollte sich später auf eine Konjunkturpolitik besinnen, wie sie John Maynard Keynes seit den 1920er Jahren für Wirtschaftskrisen empfahl und noch heute Anwendung findet. Schacht hatte 1923 als Mitglied der DDP (Deutschen Demokratischen Partei), von der er sich später abwandte, mit Einführung der Rentenmark wesentlich zur Eindämmung der Hyperinflation beigetragen. 106 Die Verknüpfung antizyklischer Wirtschaftspolitik mit Rassenfragen ergibt sich zehn Jahre später nicht zwingend, sondern folgt einer wahltaktischen Koinzidenz angesichts der republikanischen Parteienkonstellation, sodass man sich fragt: Wie wäre die Geschichte verlaufen, hätten die Deutschen sich für eine Keynesianische Wirtschaftspolitik entscheiden können, ohne Hitler zur Macht zu verhelfen? Und: Was sind liberale Institutionen Wert, wenn sie ihre Funktion nur erfüllen, so lange es keine Probleme gibt und die Wirtschaft brummt? Betrachtet man die politischen Vorgänge, die Hitler zur Macht verhalfen, muss man wohl sagen, dass nicht die republikanischen Kräfte in die Defensive gerieten, sondern die demokratischen . Die Institutionen der Republik arbeiteten wie vorgesehen, allerdings vermochten sie die Freiheit nicht zu verteidigen. Die Liberalen zeigten sich davon nicht allzu erschrocken, sondern eher aufgeschlossen gegenüber den Nationalsozialisten, 107 denn sie sahen nicht sich selbst bedroht, sondern ihre kommunistischen Gegner, bei denen man über die Verletzung liberaler Grundrechte hinwegzusehen bereit war. Der Nationalsozialismus ließ sich von liberalen Institutionen nicht aufhalten, vielmehr dienten ihm diese umgekehrt, um seiner Herrschaft den Anschein von Legitimität und Legalität zu verleihen, ohne jemals bei einer fairen Wahl die Mehrheit erlangt zu haben. Es war nicht die Bevölkerungsmehrheit, die Hitler ins Amt hob, sondern die Republik stellte die Bürger erst vor die Wahl zwischen lauter Parteien, die sich zuvor in der Weltwirtschaftskrise unmöglich gemacht hatten, um Hitler als Reichskanzler dann mit ihren Institutionen Instrumente in die Hand zu geben, die ihm innerhalb kürzester Zeit eine legale Machtergreifung ermöglichten. 106 Vgl. Niedermaier, Wozu Demokratie? , S. 308. 107 Vgl. Ptak, »Grundlagen des Neoliberalismus«, S. 19. 245 <?page no="246"?> Ob er für all die Verordnungen, die dafür notwendig waren, demokratische Mehrheiten erzielt hätte, sofern er unter Bedingungen direkter Demokratie überhaupt an die Macht gekommen wäre, lässt sich nicht sagen. Aber man kann zumindest feststellen, dass schon in der Weimarer Republik Volksentscheide zuweilen anders ausfielen, als sich das die Parlamentsmehrheit gewünscht hatte, wie etwa 1926 jener über die Enteignung der Fürsten: Die Gegner des Volksentscheids waren insofern taktisch im Vorteil, als Wahlenthaltung genügte, um ihn zu Fall zu bringen. Trotz vielfältiger Behinderungen, die in ländlichen Bezirken bis zur Ächtung der Abstimmenden reichten, stimmten 14,5 Millionen Wähler für die entschädigungslose Enteignung der Fürsten, was Wilhelm II. zu der Bemerkung veranlaÿte: Also gibt es 14 Millionen Schweinehunde in Deutschland. 108 Der Volksentscheid scheiterte, weil zwischenzeitlich das fragliche Gesetz zur Fürstenenteignung von der Reichsregierung für verfassungsändernd erklärt worden war, was nach damaliger Gesetzeslage eine mehrheitliche Zustimmung der insgesamt 40 Millionen Wahlberechtigten erforderlich machte. Wer gegen die Enteignung der Fürsten war, musste deshalb nicht zur Abstimmung erscheinen, was die erreichten 96 Prozent Zustimmung bedeutungslos machte. 109 Die Fragwürdigkeit dieses ungewöhnlichen Abstimmungsmodus wird daran deutlich, dass die Regierungsparteien, die schließlich das Quorum von fünfzig Prozent durchgesetzt hatten, bei der vorangegangenen Reichstagswahl nur 9 Millionen Stimmen erhalten hatten. Knapp hundert Jahre später wiederholt sich die Selbstzerstörung der Republik mit republikanischen Mitteln . Aus aller Welt erreichen uns Nachrichten darüber, wie republikanische Institutionen vereinnahmt, missbraucht und ausgehöhlt werden. Das Prinzip Bananenrepublik erweist sich als erschre- 108 Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar , S. 299. 109 Paul Schreyer hat die zu Grunde liegenden Umstände offenbar nicht berücksichtigt, wenn er zu diesem Volksentscheid schreibt: »Klarer hätte das demokratische Votum kaum ausfallen können.« (Schreyer, Die Angst der Eliten , S. 66) 246 <?page no="247"?> ckend erfolgreich. Nicht mehr nur in Lateinamerika, selbst die ältesten Demokratien erliegen ihm. Grundrechte werden missachtet, um die Weltbevölkerung zu überwachen; Wahlergebnisse hängen mehr vom verfügbaren Geld als von politischen Inhalten ab; Justitia wirkt keineswegs indifferent gegenüber wirtschaftlicher Potenz oder politischer Haltung; und die Medienlandschaft wird von wenigen Konzernen dominiert. Fernmeldegeheimnis, Unbestechlichkeit der Politik, Gleichheit vor dem Gesetz, Pressefreiheit sind zur Farce verkommen. Bei alledem stellt die Republik bereitwillig jene Werkzeuge zur Verfügung, mit denen sich ihre Grundlagen unterwandern lassen: Sie entzieht mächtige Institutionen demokratischer, teilweise sogar jeglicher Kontrolle. Diese zeigen sich dann zuweilen Einflüssen gegenüber aufgeschlossen, deren undemokratischen Verlockungen sie nicht zu widerstehen vermögen. Dem wirkt institutionelle Unabhängigkeit nicht entgegen, vielmehr bietet sie das Einfallstor. Nicht nur in Brasilien ist es einflussreichen Kreisen gelungen, »Institutionen zu instrumentalisieren«, wie es Boaventura de Sousa Santos für das Rechtswesen dort beklagt: Brasilien hat sich neuerdings in ein gewaltiges Laboratorium für die autoritäre Manipulation der Rechtmäÿigkeit verwandelt. Nur dieses Kapern der Institutionen hat es möglich gemacht, dass der Neofaschist Bolsonaro zum Präsidenten gewählt werden konnte. Wie schon in anderen Ländern war das Justizsystem die erste Institution, die gekapert wurde. Der Grund ist ein doppelter: Einerseits, weil es die Institution ist, deren politische Macht am weitesten entfernt ist von der Wahlpolitik; andererseits, weil diese souveräne Institution unter Verfassungsgesichtspunkten als neutraler Schlichter angesehen wird. 110 Selbst wenn Gerichte tatsächlich vollkommene Neutralität wahren würden und könnten, ließen sie sich immer noch instrumentalisieren - zumindest wenn man über die dafür nötigen Mittel verfügt. Das Rechtswesen ist 110 Sousa Santos, »Demokratischer Untergang der Demokratie? «, S. 123 f. 247 <?page no="248"?> nicht per se gut (oder böse). Wie bei jedem Werkzeug kommt es vielmehr darauf an, wie man es verwendet. Es dient nicht nur Staatsanwälten dazu, Mörder einer rechtmäßigen Strafe zuzuführen, sondern auch Abmahnanwälten dazu, mit ihren Spezialkenntnissen des Paragraphendschnungels von Ahnungslosen absurde Gebühren einzufordern. Auch erstreiten sich Konzerne auf diesem Weg nur allzu gern Entschädigungen aus Steuergeldern, wenn sie etwa Anlagen, deren Entwicklung ebenfalls enorme Summen an Steuergeldern verschlungen hatte, nicht wie erwartet weiter betreiben dürfen - wie etwa Atomkraftwerke. Da die Instrumentalisierung mit hohem finanziellen Aufwand verbunden ist, bleibt sie »Eliten« vorbehalten, welche »die selektive Anrufung der Gerichte als einen Weg entdeckten, bestimmte Entscheidungen zu entpolitisieren.« 111 Gerade weil der Liberalismus Gerichte zu un politischen Orten stilisierte, wurden sie für die Instrumentalisierung zu politischen Zwecken attraktiv. Ihre Urteile entfalten aber nicht nur politische Sprengkraft, sondern wirken selbst nicht selten politisch motiviert. Immer wieder gibt es Hinweise darauf, dass institutionelle Unabhängigkeit politischer Gesinnung unlautere Freiräume schafft: Nicht nur in Brasilien, wo es zu einem »Hyperaktivismus der Justiz« 112 kam, um eine neuerliche Kandidatur für die Präsidentschaft von Lula da Silva zu verhindern, sondern auch in Deutschland, wo die Prozesse zum NSU oder zum G20-Gipfel in Hamburg ein sehr unterschiedliches Aktivitätsniveau der Strafverfolgungsbehörden offenbarten. Auch anderswo scheint nicht ausgeschlossen, was in Brasilien bereits gilt, wo eine »neue Art von juristischem Aktivismus, der eine Verrechtlichung der Politik anstrebte, dabei aber unvermeidlich in einer Politisierung der Justiz mündete.« 113 Dort vollzog sich die »Verwandlung der legalen Ordnung in eine legale Unordnung«: Das Justizsystem, das eigentlich der Garant und letzte Verteidiger der legalen Ordnung sein sollte, ist zum 111 Sousa Santos, »Demokratischer Untergang der Demokratie? «, S. 125. 112 Ebd., S. 126. 113 Ebd., S. 125. 248 <?page no="249"?> Ursprung einer gefährlichen legalen Unordnung geworden. 114 Wie schon in den 1930er Jahren wirkt der Republikanismus auch heute wieder unbeweglich konservativ und demokratisch hinderlich angesichts enormer Herausforderungen. Nicht die Bevölkerung gibt sich träge und unflexibel, sondern die liberalen Institutionen behindern notwendige Veränderungen, weil sie den beharrenden Kräften in den etablierten Institutionen einen unverhältnismäßigen Vorteil verleihen. Geraten die institutionell gehegten Interessen dann in Widerspruch zu den Forderungen der Zeitläufte, geben sie sich widerständig festhaltend am Bestehenden, dem die Bevölkerung zu entfliehen versucht. Beinahe wirkt es, als behielte Karl Marx im Zuge des Klimawandels auf andere Weise Recht als geahnt: Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. 115 Die auf Wettbewerb basierenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse zeigen sich nicht nur zunehmend in Widerspruch zu den um sich greifenden Monopolisierungstendenzen der Internetplattformen, sondern mehr noch zur Zukunft des Planeten insgesamt. Angespornt von kapitalkräftigen Interessen schlagen sie ausgerechnet jene Produktivkräfte in Fesseln, die dringend zur Entfaltung kommen müssten, will man der Katastrophe entgehen. Nicht nur die »materiellen Produktivkräfte«, wie sie auf natürlichen Grundlagen beruhen, geraten somit zunehmend in Widerspruch zu 114 Ebd., S. 125. 115 Marx, »Zur Kritik der Politischen Ökonomie«, S. 9. 249 <?page no="250"?> den liberal-demokratischen Eigentums-, Herrschafts- und Konsumverhältnissen, sondern auch deren soziale Basis in dem Maße, wie die »Symbol- Analytiker« 116 ökologisches Bewusstsein erlangen. Das wiegt umso schwerer, als deren »Wissensarbeit« eine tragende Säule der Produktivkräfte in der »Wissensgesellschaft« 117 bildet. Wann immer jedoch liberale Institutionen den Konservatismus gegenüber unvermeidbaren Veränderungen über Gebühr stärken, bleibt allen veränderungswilligen Kräften nichts anderes mehr als der Kampf gegen die Institutionen selbst, nicht weil sie in der Minderheit wären, sondern weil die Republik etablierte Beharrungskräfte überproportional stärkt. Die liberale Republik stellt die Bevölkerung damit vor die Wahl, ohnmächtig den Besitzstandswahrern sich zu beugen und deren rein institutionell gesicherte Übermacht hinzunehmen oder den von der marginalisierten Mehrheit erkannten Forderungen der Zeit zum Durchbruch zu verhelfen und gegen das institutionelle Gefüge aufzubegehren. Nicht die so oft beschworene irrationale Emotionalität, »seine verbrecherischen Anlagen oder seine Dummheit« treibt dann den »Pöbel« 118 zur Revolte, sondern die konservative Unbeweglichkeit des liberalen Republikanismus versperrt jeden anderen Weg. Um Freiheit kollektiv wieder zu erlangen, müssen jene Institutionen, welche vermeintlich individuelle Freiheit verteidigen, letztlich aber nur Besitzstände wahren, außer Kraft gesetzt werden. Durch seine Trägheit nötigt der reaktionäre Aufbau der liberalen Republik somit diejenigen zum Umsturz, die nichts weiter wollen als das, was ihnen versprochen wurde: demokratische Entscheidungen. Joseph Schumpeter hingegen hält es für ratsam, solche »mit allen verfügbaren Mitteln zu bekämpfen«, weil er falsche Entscheidungen und irrationale Maßnahmen für möglich hält, ganz so als käme es dazu sonst nicht. In typisch liberaler Manier erscheint Schumpeter Demokratie nur erträglich, wenn »sie in von uns gebilligter Art und Weise arbeitet.« 119 Obwohl niemand behaupten würde, dass Demokratien völlig fehlerfrei arbeiten, verlangt er dies von 116 Reich, Die neue Weltwirtschaft , S. 199. 117 Willke, »Wissensgesellschaft«, S. 380 f. 118 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie , S. 385. 119 Ebd., S. 385. 250 <?page no="251"?> ihr, ohne an andere Regierungsformen gleichermaßen hohe Maßstäbe anzulegen. Als positives Beispiel hebt Schumpeter ausgerechnet die autokratische Herrschaft Napoléon Bonapartes hervor: Verfahrene Situationen oder endlose Kämpfe, die zu steigender Erbitterung geführt hätten, wären sehr wahrscheinlich das Ergebnis eines jeden Versuchs gewesen, die Frage demokratisch zu regeln. Napoleon hingegen war imstande, sie vernünftig zu regeln, gerade weil alle jene Gruppen, die ihren Standpunkt aus eigenem Willen nicht aufgeben konnten, gleichzeitig fähig und willens waren, eine Ordnung anzunehmen, wenn sie ihnen auferlegt wurde. 120 Die vielen Verfehlungen Napoléons aber lässt er unerwähnt: Kriegstreiberei, Größenwahn, Chauvinismus. Nun, die »Kämpfe« Napoléons waren in der Tat nicht »endlos«, dafür war es seine »Ordnung« auch nicht, sondern überaus kurzlebig. Wieviele Menschen mussten zudem ihr leben dafür lassen, bis am Ende Frankreich unterlag und in Europa ein reaktionärer Nationalismus Einzug hielt, der noch weit verlustreichere Kriege nach sich ziehen sollte? 121 Schumpeter nennt keine tatsächlich demokratisch getroffenen Entscheidungen als Beispiele für die Schwächen der Demokratie, sondern behauptet hypothetisch , dass dann »verbrecherisch und dumm« 122 regiert würde. Schließlich versteigt er sich zu der gewagten Behauptung, dass die »Hexenverfolgungen« im Mittelalter »der Seele der Massen« entsprungen seien, wogegen »der heilige Stuhl der öffentlichen Meinung mehr nachgab, als daß er sie anstachelte.« 123 Hybris scheint der gefährlichste Zug der Liberalen - auch für ihr eigenes Anliegen: Überzeugt von ihrer moralischen Integrität, die sie doch mit jedem 120 Ebd., S. 406. 121 Vgl. Niedermaier, Wozu Demokratie? , S. 202 ff. 122 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie , S. 384. 123 Ebd., S. 382. 251 <?page no="252"?> Tag mehr einbüßten, an dem sie wirtschaftliche Interessen höher bewerteten als jene der Bevölkerung, und überzeugt von ihrer ökonomischen Überlegenheit, die mit jedem Jahr schwindet, in dem die chinesische Wirtschaft schnellen Schrittes aufholt, ohne Anzeichen politischer Liberalisierung zu zeigen, überzeugt von sich also, glauben Liberale auch dann noch an republikanischer Stabilität und ihren Institutionen starr festhalten zu können, wenn deren Überzeugungskraft schwindet und tiefgreifende Veränderungen nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus sozialen und technologischen Gründen unausweichlich scheinen, weil Klimawandel, Digitalisierung oder sich wandelnde Sozialstruktur ungeahnte Herausforderungen mit sich bringen. Nun steht aber jede tiefgreifende Veränderung zwangsläufig im Widerspruch zu den Interessen derjenigen, die sich in den bestehenden Verhältnissen erfolgreich eingerichtet hatten. Je mehr also die Profiteure republikanischer Stabilität im Widerspruch zu jenen Veränderungen stehen, die der Mehrheit unumgänglich erscheinen, desto mehr werden sie sich hinter Institutionen zu verschanzen haben, deren Anerkennung dadurch nur umso schneller schwindet. So erfolgreich die Republik darin war, in endloser Verwässerung keine Veränderung zuzulassen, die überproportional einflussreichen Gruppen zuwider lief, so hilflos wirkt sie angesichts von unaufhaltsamen Wandlungen, die darauf keine Rücksicht nehmen können, ja nicht dürfen, will man der Apokalypse entgehen, die sowohl von ökologischer Seite durch den Klimawandel als auch von politischer durch den Autoritarismus sowie von wirtschaftlicher durch die Digitalisierung droht. Der Republikanismus glaubt bestehende Strukturen erhalten zu können, ohne die gesellschaftliche Entwicklung auf seiner Seite zu haben. Er glaubt, das, was er für individuelle Freiheiten und liberale Institutionen hält, ließe sich ungerührt perpetuieren, ohne dass ihm die Mehrheit dabei beipflichtet. Doch wenn es wahrlich um Freiheit geht, kann allein die Mehrheit sie verteidigen. Kollektive Freiheit ist ohne sie undenkbar und individuelle nur möglich, wo erstere besteht. Rechte hingegen, für deren Verteidigung nur eine Minderheit eintritt, können auf Dauer unmöglich Bestand haben. Die Schwäche des Republikanismus besteht darin, dass es ihm trotz aller anders lautender Beteuerungen nicht gelingt, Korruption, Nepotismus 252 <?page no="253"?> und die Verfolgung persönlicher Interessen zu verhindern. Indem er Lobbygruppen hohen Einfluss einräumt, Entscheidungen intransparent vom Willen der Bevölkerung entkoppelt und durch Legislaturperioden Verantwortliche auch bei Verlust der Zustimmung im Amt hält, widerspricht der etablierte republikanische Modus dem Universalismus und verleitet so zu ungerechtfertigten Begünstigungen. Demgegenüber kann niemand ein ganzes Volk bestechen oder auf dessen Kosten unplausible Subventionen einführen. Deshalb kann allein durchgängige Demokratie vor Korruption schützen. Nur eine Zustimmungspflicht der Mehrheit kann verhindern, dass eine Minderheit auf Kosten der Allgemeinheit profitiert. Somit ist Demokratie die einzige Möglichkeit, einer Verselbständigung der Eliten entgegenzuwirken, die ansonsten leichtes Spiel haben, die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen und zu ihrem Vorteil einzurichten, sodass sie dadurch überhaupt erst einen elitären Status schaffen und selbst steigern können. Jede andere Regierungsform verleiht einer Minderheit einen Einfluss, der über Gebühr ermöglicht, die Gesellschaft zu ihren Gunsten zu prägen. Dem entsprechend profitierten von der Globalisierung vor allem jene Eliten, die sie auch vorangetrieben haben: Branko Milanovi¢ zeigt, dass 44 Prozent des absoluten Zuwachses den reichsten 5 Prozent der Weltbevölkerung zu ossen und fast ein Fünftel des Gesamtzuwachses dem reichsten Einen Prozent zugutekam. 124 Nun steht die Menschheit allerdings vor so gewaltigen Herausforderungen, dass mancher dadurch die Demokratie »überfordert« glaubt. So sieht das etwa Ingolfur Blühdorn , der ähnlich wie Krastev großes Vertrauen in Experten hat: Tatsächlich sind demokratische Systeme angesichts der Globalisierung einerseits und der gesellschaftlichen Di erenzierung andererseits längst ho nungslos überfordert. 124 Milanović, Die ungleiche Welt , S. 32 f. 253 <?page no="254"?> Im Namen der E zienz, also der systemischen Performanz, wird der Bereich des politisch und demokratisch Verhandelbaren immer enger de niert. Immer mehr Politikbereiche werden entpolitisiert, das heiÿt der politischen Verhandelbarkeit entzogen und an nicht demokratisch legitimierte Körperschaften (z. B. Regulierungsbehörden, Nichtregierungsorganisationen, Expertenkommissionen, Forschungseinrichtungen, Gerichte) delegiert. 125 Blühdorn übersieht, dass die Illusion der Alternativlosigkeit sich aufgelöst hat und vieles wieder politisiert wird, vor allem aber, dass gerade nicht mehr Verhandlung im Vordergrund steht, sondern Entscheidung und genau hier liegt die Stärke der Demokratie. Trotzdem traut man ihr nicht zu, die nötigen Maßnahmen gegen Umweltzerstörung und Klimawandel auf den Weg zu bringen. Man hält sie für zu schwerfällig. Doch nicht die Demokratie ist schwerfällig, vielmehr wohnt ihr ein dezisionistischer Zug inne: Jede Abstimmung bringt eine Entscheidung. Demgegenüber verhält sich die Republik stockend, weil sie viele Blockademöglichkeiten kennt. Gedacht, um Machtauswüchse einzuhegen, zeigt sich das oft geprießene System der checks and balances längst hinderlich für relevante Reformbemühungen. Die komplexe republikanische Struktur tendiert dazu, echte Weichenstellungen zu verhindern, indem sie in Verhandlungen überkommenen, aber etablierten Interessen über Gebühr Gewicht verleiht. Wo Republikanismus verwässert, fordert Demokratie Entscheidung. Nicht selten ist die Bevölkerung der ewigen lebenserhaltenden Maßnahmen für nicht zukunftsfähige Industrien längst überdrüssig. Wenn man sie zulässt, sind Mehrheitsentscheidungen nicht ineffizient, sondern das einzige Verfahren, das selbst noch bei Dissens, Legitimität für Entscheidungen reklamieren kann. Ineffizient dagegen sind die undurchsichtigen und zeitraubenden Verhandlungen einer an Einflussgruppen orientierten Republik. Selbst wenn man es als Stärke ansehen wollte, dass republikanische Verfahrensweisen einflussreichen Akteuren viel Mitsprache ermöglicht und so 125 Blühdorn, Simulative Demokratie , S. 90. 254 <?page no="255"?> deren Interessen berücksichtigt, kommt man nicht umhin, die zeitraubende Ineffizienz und verwässernde Unentschlossenheit der zugehörigen Verhandlungen anzuerkennen. Effizienz kommt durch eine Stärkung der Entscheidung zustande, wie sie zuweilen bei autokratischen Systemen wie China gelobt werden, grundsätzlich aber jedem dezisionistischen Verfahren eigen ist, also auch demokratischen Abstimmungen. Zweifellos zeichnet sich die heutige Welt durch hohe Komplexität aus, die es Entscheidern schwer macht, den Überblick zu behalten. Überforderung allerdings ist längst nicht mehr ein Zustand der normalen Bürger allein, vielmehr zeigt sich diese Erscheinung auch bei professionellen Politikern. Experten wiederum sind ebensolche stets nur auf ihrem Gebiet und haben in anderen Bereichen das gleiche Problem. Überforderung durch stetig zunehmende Komplexität hat sich geradezu demokratisiert: Sie erfasst alle. Entsprechend ist Komplexität nicht nur eine Herausforderung für die Demokratie, sondern ubiquitär. Repräsentanten, Top-Manager, Verhandlungsführer - sie alle sind auf eine Vielzahl an Experten angewiesen. Doch die beste Expertise kann nicht die Entscheidung abnehmen, sie kann nur Konsequenzen aufzeigen. Entscheiden können allein die Betroffenen und das sind in einer komplexen, vernetzten Welt meist alle. Weshalb auch in Unternehmen nicht die Experten entscheiden, sondern Manager, die Betroffene insofern sind, als sie das Kapital verwalten, das betroffen ist. Sie sind Stellvertreter der Betroffenen, der Aktionäre - oder sollten es zumindest sein. Es gibt so gut wie keine begrenzten Entscheidungen mehr. Wie Landwirtschaft betrieben wird, betrifft ebenso die gesamte Bevölkerung wie die Folgen von Energiegewinnung, Verpackungsproduktion oder Mobilität. Gleichgültig wer entscheidet, sie/ er ist immer auf Expertisen angewiesen. Doch es gilt ebenso: Wie auch immer diese Expertisen ausfallen, welche Folgen man in Kauf nehmen möchte, darüber können nur die Betroffenen bestimmen. Niemand will sich etwa angesichts der Wahl von zwei unangenehmen Alternativen von anderen vorschreiben lassen, welche er zu erdulden hat. Die Wahl zwischen billigeren Produkten und weniger Umweltverschmutzung kann kein Experte den Betroffenen abnehmen. Wenn Blühdorn aufgrund steigender Komplexität eine »Entpolitisie- 255 <?page no="256"?> rung« 126 wahrnimmt, in der Experten Entscheidungen abnehmen, von denen sie glauben, dass sie gewöhnliche Menschen überfordern, dann beschreibt er exakt jenen Vorgang, der die EU auszeichnet, vergisst dabei aber, dass es genau das ist, worunter ihre Legitimität leidet. Diese verliert sie exakt in dem Maße, in dem sie über die Köpfe der Bürger hinweg entscheidet. Verschlimmert wird das noch dadurch, dass sich in den Augen der Betroffenen die Entscheidungen oftmals noch nicht mal durch hohe Expertise auszeichnen, der Einfluss von Interessengruppen dafür umso offensichtlicher ist. Was Blühdorn also übergeht, ist, dass auch europäische Spitzenbeamte auf vereinfachte Darstellung durch Experten und mehr noch sogar auf Zustimmung der Betroffenen angewiesen sind. Angesichts der heutigen Herausforderungen wird Demokratie sogar wichtiger denn je: Sie zwingt Experten zu einer transparenten Beschreibung der Konsequenzen, wie sie für Parlamente ohnehin stattfinden muss, aber nicht selten von der Regierung unterdrückt werden, wenn diese Studien zurückhält, deren Ergebnisse ihren Interessen zuwider laufen. Der Republikanismus treibt Komplexität zusätzlich an, statt sie zu reduzieren. Der Bedarf, diese in Zaum zu halten wächst jedoch und genau hier zeigen sich von Lobbyisten verwässerte und von Meritokraten verhandelte Nicht-Entscheidungen, die letztlich nichts Wesentliches ändern, hinderlich. Denn geboten sind richtungweisende Positionierungen, die Komplexität nicht unnötig weiter anwachsen lassen und durch die Bevölkerung getragen werden. Um dem Klimawandel zu begegnen, werden Entscheidungen notwendig, die nicht alle einflussreichen Interessen zufriedenstellen können, aber dennoch eine Anerkennung finden, wie sie nur demokratische Verfahren ermöglichen. Diese bieten deshalb die einzige Möglichkeit, globalen Herausforderungen durch Kooperation zu begegnen, weil nur sie die nötige Bindungswirkung erzeugen können, will man einer Diktatur entgehen. Manchmal wird behauptet, Demokratie bedürfe der Homogenität , um das leisten zu können. Verlust der stabilen Identität wird als bedrohlich für die Demokratie wahrgenommen. Selbst Blühdorn pflegt den Mythos des »ho- 126 Blühdorn, Simulative Demokratie , S. 92. 256 <?page no="257"?> mogenen Demos«, 127 der völkischen Homogenität also, wie sie schon Carl Schmitt für notwendig erachtete: Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daÿ nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens nötigenfalls die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen. [...] Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, daÿ sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiÿ. Bei der Frage der Gleichheit handelt es sich nämlich nicht um abstrakte, logischarithmetische Spielereien, sondern um die Substanz der Gleichheit. [...] In der Demokratie englischer Sektierer des 17. Jahrhunderts gründet sie sich auf die Übereinstimmung religiöser Überzeugungen. Seit dem 19. Jahrhundert besteht sie vor allem in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, in der nationalen Homogenität. 128 Was Schmitt hier beschreibt, betrifft tatsächlich vorwiegend den Nationalismus, der Homogenität ebenso sehr voraussetzt, wie er sie durchzusetzen strebt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Demokratie hingegen meint gerade eine Technik, um Entscheidung bei Dissens herzustellen. Nur sie kann unter Bedingungen der Heterogenität Zustimmung herstellen, weil nur sie ein Verfahren zur Verfügung stellt, das zustimmungsfähig ist, auch wenn es gegen die eigenen Interessen geht. Die einzige Gleichheit, die sie dafür fordert, ist diejenige hinsichtlich des Stimmrechts. Daraus leitet sich aber keine Gleichheit in anderer Hinsicht ab. Wäre das Volk geprägt von Homogenität bis hin zum einheitlichen Volkswillen, wie Schmitt sich das im Anschluss an Jean- Jacques Rousseaus »Gemeinwillen« 129 ( volonté générale ) vorstellt, dann bedürfte es ohnehin keiner Abstimmung mehr. Mangelnde Kontinuität in den 127 Ebd., S. 93. 128 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus , S. 14. 129 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag , S. 21. 257 <?page no="258"?> Identitäten und Vorstellungen der Wähler sind aber kein Problem der Demokratie, sondern darin drückt sich lediglich beständige Ablehnung von Ideologie aus. Der Liberalismus verbündete sich mit der Demokratie, um dem Adel seine Privilegien zu nehmen und Bürger vor Auswüchsen des Absolutismus zu schützen. Er bleibt aber stets nur so lange überzeugt demokratisch, wie dies wirtschaftsliberal opportun erscheint. So sehr er sich darauf verlieÿ, dass seine wirtschaftliche Stärke als Überzeugungskraft genüge, so sehr kommt ihm diese abhanden, wenn illiberale Staaten wie China prosperieren. Erfolgreich nutzen dabei alle Regime, ob liberal oder nicht, Institutionen, deren Unabhängigkeit ebenso sehr Legitimität verleiht, wie sie vor demokratischer Mitbestimmung schützt. Wichtige Entscheidungen sind damit nicht nur der Mehrheit entzogen, sondern zugleich auch einer Minderheit vorbehalten. Die Angst vor der Demokratie p egt der Liberalismus aus den gleichen Gründen, wie jene vor der Absolutismus: Er fürchtet die Beschneidung individueller Freiheiten. Lieber gesteht er Institutionen Eigenständigkeit zu, als sie demokratischer Kontrolle zu unterwerfen. Das aber ermöglicht die Selbstzerstörung der Republik mit republikanischen Mitteln, schlicht weil republikanische Institutionen sie betreiben können, ohne dass sie dafür demokratischer Zustimmung bedürften. Angesichts der globalen Herausforderungen geraten die konservativen Kräfte, deren kapitalbewährten Ein üssen die republikanischen Blockademöglichkeiten zu Gute kommen, zunehmend in Widerspruch zu unausweichlichen Veränderungen, soll die Zivilisation nicht untergehen. Demokratie bietet die einzige Möglichkeit, Beharrungskräfte zu über- 258 <?page no="259"?> winden und die notwendigen Schritte mit Unterstützung der Bevölkerung einzuleiten. 3.7 Realismus und Idealismus Ein jeder Idealismus beginnt damit, dass man im Dienste höherer Ziele niederen Verlockungen nicht nachgeben soll. Welche das im Einzelnen sind, unterscheidet sich je nach Ansatz. Einig aber ist man sich darin, dass das Schlechte der Welt von dort herrührt, wo die Menschen sich nicht von den richtigen Idealen leiten lassen. Der Idealismus blickt also nicht einfach nur herab auf diejenigen, die opportunistisch jede Gelegenheit wahrnehmen, die sich ihnen bietet; nein, er betrachtet mit Argwohn solcherlei Verhalten. Weil er eine Idee vom Guten hat, weiß er auch, was schlecht ist. Selbst der deutsche Idealismus im Gefolge von Georg Hegel bedient sich mit dem » Vernünftigen « 130 eines Äquivalents, dessen Durchsetzung er einfach annimmt, indem er den Gang der Geschichte mit einer unumstößlichen Teleologie versieht. Eine solche Sicht dämpft den Argwohn auf das Unvernünftige, erscheint dieses doch nur mehr als notwendiger, antithetischer Zwischenschritt zum erwarteten Triumph des Vernünftigen. Hegel muss für schlecht Befundenes nicht rundweg ablehnen, weil er ihm eine geschichtliche Funktion zuweist und sich seines Untergangs gewiss ist. Auf einer solchen Grundlage fällt Akzeptanz leichter und dennoch hat er eine klare Vorstellung von der richtigen Richtung, wenn er jenem Volk, auf dessen Seite er den Weltgeist vermutet, ein »absolutes Recht« zuspricht. Dem Volke [...] ist die Vollstreckung desselben in dem Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewuÿtseins des Weltgeistes übertragen. Dieses Volk ist in der Weltgeschichte für diese Epoche und es kann in ihr nur einmal 130 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts , S. 24. 259 <?page no="260"?> Epoche machen das herrschende. gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geister der anderen Völker rechtlos, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte. 131 Der Idealismus kennt richtig und falsch, andernfalls hätte er keine Idee , der er folgen könnte. Der Realismus wendet sich dagegen, daraus ein Rezept für die Heilung der Welt ableiten zu wollen. Nicht nur weil man schon so viele Idealisten beim Versuch der Umsetzung hat scheitern sehen, sondern vor allem weil man die Gründe dafür zu kennen glaubt. Der Realist bezweifelt, dass die Menschen überindividuellen Idealen folgen, sieht er sie doch durch ein stärkeres Motiv getrieben. Das Streben nach Macht gilt ihm seit Thomas Hobbes nicht einfach als menschliche Natur, sondern als unausweichlich, so lange andere aus welchen Gründen auch immer danach trachten: Auch weil es einige gibt, denen es Vergnügen bereitet, sich an ihrer Macht zu weiden, indem sie auf Eroberungen ausgehen, die sie über das zu ihrer Sicherheit erforderliche Maÿ hinaustreiben, könnten andere, die an sich gerne innerhalb bescheidener Grenzen ein behagliches Leben führen würden, sich durch bloÿe Verteidigung unmöglich lange halten, wenn sie nicht durch Angri ihre Macht vermehrten. 132 Da man niemals ausschließen kann, dass andere Menschen niederen Beweggründen folgen, verlangt der Realismus, genau das einzukalkulieren. Aller Idealismus verpuffe oder führe gar ins Verderben, wenn ihn nicht alle teilen, wie Niccolò Machiavelli warnt: Ein Mensch, der immer das Gute möchte, wird zwangsläu g zugrunde gehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind. 133 131 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts , S. 505 f. 132 Hobbes, Leviathan , S. 95. 133 Machiavelli, Der Fürst , S. 63. 260 <?page no="261"?> Wo der Idealismus fordert, Arglist, Verlockungen und Lastern nicht nachzugeben, verlangt also der Realismus - genau umgekehrt - sich ihnen hinzugeben, weil er davon ausgeht, dass viele, wenn nicht gar die meisten, nicht widerstehen können. Unabhängig davon wie man selbst dazu stehen mag, könne man es nicht dabei belassen, den Opportunismus der anderen nur zu konstatieren, sondern müsse die gleiche Haltung übernehmen, will man bestehen. Nur wenn man selbst jede Gelegenheit und jeden Winkelzug zum eigenen Vorteil zu nutzen bereit ist, also nur indem man jeglichen Idealismus fahren lässt, könne man den eigenen Untergang verhindern. Der Liberalismus nun erhebt den Realismus zum Ideal , indem er die heilsame Wirkung der Verfolgung eigener Interessen behauptet. Seine ungeheure Verführungskraft schöpft er daraus, dass er dem Egoismus seine moralische Verwerflichkeit nimmt und Prosperität gerade darauf zurückführt, dass sie hervorgehe, wo Menschen allein dem persönlichen Vorteil folgen. Schädliche Wirkungen glaubt er abgewendet, so lange Grundrechte gewahrt sind. Zweifel daran, dass das allein genügt, um Ausbeutung zu verhindern, gab es schon immer. Seinen Siegeszug konnte das aber nicht aufhalten, so nur Wohlstand damit einher ging. Beginnt sein materialistisches Versprechen jedoch zu verblassen, wie es heute geschieht, dann wirkt sich zersetzend aus, dass der Liberalismus nicht einfach einen Idealismus durch einen anderen ersetzt hatte. Vielmehr hat er jeglichen untergraben, indem er egoistische Interessenverfolgung zum richtigen Verhalten erhoben hat. Doch wenn erst einmal als Ideal gilt, wonach Individuen ohnehin trachten, besteht nicht nur kein Idealismus mehr, sondern diesem ist damit auch jede Grundlage entzogen. Ebenso ergeht es der Moral, sobald die Suche nach dem eigenen Vorteil zum moralischen Gesetz erhoben wird. Warum sollte man sich für etwas anderes einsetzen, wenn Egoismus höchste moralische Weihen genießt? Mit dem Liberalismus geht Idealismus in profanem Realismus auf und beides wird ununterscheidbar. Nun wäre es in einer liberalen Welt tatsächlich unrealistisch , von Menschen zu verlangen, sie sollten Idealen folgen, kann genau das doch ihre Existenz gefährden. Völlig illiberal wäre es darüber hinaus, wollte man zudem vorgeben, welchen Idealen sie folgen sollen. Gibt es also kein Entrinnen aus dem Realismus? Kennt der Liberalismus doch keine Prinzipien? Was aber wird dann aus Freiheit, Gleichheit und Eigentum? 261 <?page no="262"?> Ungünstig wirkt sich nicht nur aus, dass sich seine Widersprüche gegeneinander ausspielen lassen, folgenreicher noch erscheint, dass der Liberalismus Individuen dazu erzieht , jegliche Prinzipien hinter sich zu lassen. Während er vom Staat die Garantie von Freiheit, Gleichheit und Eigentum verlangt, ermutigt er dessen Bürger und Unternehmen zur ungehemmten Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten. In dem Maße wie er vom Staat Idealismus einfordert, entbindet er dessen Mitglieder davon und etabliert so patriarchales Denken: Vater Staat stellt die Regeln auf, innerhalb derer seine Schutzbefohlenen Narrenfreiheit genießen. Sie müssen an sich keinerlei Ansprüche stellen, obgleich sie diese dem Staatsapparat umso mehr abverlangen. Liberale Prinzipien haben in der Folge nur in exakt dem Maße Bestand, wie der Staat sie verteidigt. Das fällt diesem allerdings umso schwerer, je mehr seine Bürger machiavellistisch ihre Möglichkeiten maximal ausschöpfen, wozu insbesondere auch gehört, liberale Prinzipien zu unterlaufen, wann immer dies individuelle Vorteile verspricht. Der Liberalismus zerrt Menschen und Unternehmen in einen ebenso hemmungswie prinzipienlosen Wettbewerb, bei dem der Staat über die Einhaltung der Spielregeln wachen soll. Diese Rollenverteilung geht allerdings nur auf, sofern der Staat unabhängig von seinen Bürgern agiert, sofern er also über ihnen steht. Der Liberalismus bedarf einer Instanz, die seinen Forderungen nach Wettbewerb, Eigennutz und Wirtschaftlichkeit enthoben bleibt, gerade um deren Verfolgung durch die Gesellschaftsmitglieder einen stabilen Rahmen zu verleihen. Sobald der Staat aber selbst Wettbewerber wird, gerät dies leicht unfair, weil er die Bedingungen zu seinen Gunsten setzen kann; sobald er selbst eigennützig handelt, gerät er leicht tyrannisch, weil er sein Wohl über das seiner Bürger stellt; und sobald er wirtschaftlich denkt, gerät er leicht ausbeuterisch, weil er die Regeln bestimmt. Der Staat soll sich möglichst nicht in den freien Markt einmischen, aber faire Bedingungen garantieren. In einer Demokratie besteht genau diese Unabhängigkeit nicht, vielmehr soll eine solch patriarchale Trennung überwunden werden. Der Staat soll nicht über die Bevölkerung befinden, sondern umgekehrt diese über ihre Regierung und alle damit verbundenen Apparate. Hier also kommen sich Liberalismus und Demokratie ins Gehege: Ersterer bedarf eines unabhängigen Staates, während letztere umgekehrt dessen völlige Abhängigkeit von denje- 262 <?page no="263"?> nigen fordert, die ihn bevölkern. Wenn es nun die liberale Demokratie ihren Bürgern erlaubt, auf den Staat Einfluss zu nehmen und die das dann als Liberale tun, folgen sie dabei wiederum ihrem persönlichen Vorteil. Denn zur Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten gehört auch, liberale Prinzipien zu den eigenen Gunsten zu torpedieren, genau so wie man das von Unternehmen und einflussreichen Persönlichkeiten kennt. Warum sollte das legitimierte egoistische Streben ausgerechnet dort enden, wo es sich am meisten lohnt? Das aber gerät dem Staat zum Problem: Wie soll er in einer Demokratie liberale Prinzipien gegen Bürger verteidigen, die diese gar nicht hochhalten? Im Ergebnis treibt der Liberalismus seine Anhänger in die Schizophrenie: Nur insofern sich die (Staats-)Bürger als solche nicht liberal verhalten, würden sie zu Verteidigern des liberalen Gemeinwesens - und nur insofern sie sich nicht gemeinwohlorientiert verhalten, würden sie zu Verteidigern des liberalen Wirtschaftssystems . Es genügt nicht, den Liberalismus im Herzen zu tragen, so lange jener dazu anhält, gleichzeitig Egoismus zu leben und Gleichberechtigung einzufordern. Vielmehr müssten sie, wie schon Karl Marx festgestellt hat, als » bourgeois « dem privaten Vorteil folgen und zugleich als » citoyen « die Grundlagen des Gemeinwesens verteidigen: Der vollendete Staat ist seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben. Alle Voraussetzungen dieses egoistischen Lebens bleiben auÿerhalb der Staatssphäre in der bürgerlichen Gesellschaft bestehen, aber als Eigenschaften der bürgerlichen Gesellschaft. Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewuÿtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist, die andern Menschen als Mittel betrachtet, sich 263 <?page no="264"?> selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird. 134 So lange der Liberalismus zwischen staatlichem Gemeinwesen und bürgerlicher Gesellschaft einen Unterschied macht, können liberale Prinzipien ebenso wenig Bestand haben wie jedwede andere Ideale. Wenn Fundamente nur einen Teil des Hauses stützen, werden sie dieses nicht tragen können. In einer Demokratie zumal halten nur Überzeugungen Stand, die von der Bevölkerung geteilt werden, trägt diese doch die ihren unweigerlich in die Politik hinein. Wer Prinzipien hochhalten will, muss deshalb entweder die Bürger davon überzeugen oder aber diese ihres Einflusses berauben, muss also entweder demokratisch vorgehen oder aber patriarchalisch, wenn nicht gar autoritär. Je stärker Staat und Gesellschaft getrennt sind, desto mehr können sich die Bürger ihrem Egoismus hingeben, ohne die liberalen Grundlagen des Staates zu berühren, desto weniger sind diese aber auch vor autoritärer Herrschaft geschützt. Immerhin herrscht Diktatur , wo der Staat seiner Bevölkerung jeglichen Einfluss verweigert. Dennoch geht der Liberalismus in seiner Schizophrenie einfach davon aus, dass eine Regierung liberale Prinzipien hochhält, ohne dass er die Liberalität der Regierenden gewährleisten könnte. Ungeachtet dieser Problematik begegnen viele Liberale der Demokratie mit Skepsis, was angesichts der von ihnen vertretenen Lehre nicht verwundern kann: Ist sie es doch selbst, die den Bürgern einen Egoismus abverlangt, der für verantwortliches Verhalten gegenüber dem Gemeinwesen ungeeignet macht. Daraus erwächst zwangsläufig ein Misstrauen jenem Vermögen gegenüber, das liberale Demokratie auf Bürgerseite voraussetzt. Wer dem liberalen Menschenbild anhängt, muss bezweifeln, dass diejenigen demokratische politische Verantwortung und liberalen privaten Egoismus strikt voneinander zu trennen vermögen, auf die es in einer Demokratie ankommt: die Bürger. Letztlich bleibt der Liberalismus dem Realismus doch insofern verpflichtet, als dass er in der Natur des Menschen keine Grundlage für Gleichberechtigung und Fairness angelegt sieht, sondern lediglich ein Streben nach 134 Marx, »Zur Judenfrage«, S. 354 f. 264 <?page no="265"?> Selbstbehauptung und Durchsetzung. Entsprechend wenig erstrebenswert erscheint Demokratie, traut man ihren Trägern doch einen verantwortungsbewussten Umgang damit nicht zu. Zugleich wirkt allerdings auch jede andere Regierungsform bedrohlich, immerhin muss man davon ausgehen, dass Regierende gleichen Charakters sind. Der Liberalismus, so lange er einen unabhängigen Staat voraussetzt, bedürfte politischen Personals, das nicht jene menschliche Eigenschaften aufweist, die er selbst für allgegenwärtig gegeben hält. Er bedürfte über menschlicher Herrscher. Die Hinwendung des Liberalismus zum Realismus wirkt deshalb nur auf den ersten Blick wie eine halbierte , wenn er einerseits von Menschen nichts anderes als blanken Opportunismus gegenüber Macht und Gelegenheiten erwartet, während er den Staat zum tugendhaften Wächter über die liberalen Prinzipien macht. Für deren Aufrechterhaltung kann er nämlich keine maßgebliche Instanz mehr benennen, nachdem er alle Staatsmitglieder dem Eigennutz überantwortet hat. Schlussendlich muss er anerkennen, dass das Maß staatlicher Liberalität den Machtverhältnissen voll und ganz ausgesetzt bleibt: Liberalismus herrscht dann, sofern es den Herrschenden opportun erscheint - womit man dann gänzlich im Realismus angekommen wäre. Allerdings muss sich auch jeder Realismus an der Realität bewähren: Was aber, wenn sich diese als weniger macht- und interessenfixiert erweist als angenommen? Was, wenn das erstaunlich idealistische Festhalten der Bevölkerung an Ansprüchen auf Chancengleichheit, Gerechtigkeit und (sozialer) Sicherheit sich ihm nicht fügen wollen? Was, wenn der Realismus in der Realität gar auf Ablehnung stößt? Regelmäßig erleben wir, dass die Bevölkerung sich von blanker Machtpolitik angewidert abwendet. Niemals brachten einfache Bürger Verständnis für politische Ränkespiele auf. Nur deshalb bedarf das machtbesessene Verwirrspiel mancher Staatsoberhäupter der Behauptung, den politischen Sumpf trocken legen zu wollen, während es ihn noch vertieft. Weil man weiß, dass Wähler intrigante Machtpolitik nicht schätzen, wirft man dem politischen Gegner unlautere Machenschaften vor und redet zugleich die eigenen klein. Realismus, so scheint es, liegt normalen Menschen - anders als angenommen - keineswegs im Blut, sondern löst Missfallen aus. Das wusste schon Machiavelli und rät genau deshalb zur Heuchelei: Da der Machtpolitiker auf die Ak- 265 <?page no="266"?> zeptanz der Bevölkerung angewiesen bleibt, müsse er sich deren Empfinden andienen. Ein Herrscher muÿ also sehr darauf bedacht sein, daÿ [...] jeder, der ihn sieht oder hört, den Eindruck hat, als sei er die Milde, Treue, Redlichkeit, Menschlichkeit und Gottesfurcht in Person. [...] Jeder sieht, was du scheinst, und nur wenige fühlen, was du bist. 135 Niederträchtige Machtpolitik hält Machiavelli zwar für erfolgversprechend, aber keineswegs für hoch angesehen, allerdings ohne angeben zu können, warum das so ist. Damit macht er es sich leicht: Der Realist weist mit Emphase darauf hin, dass sich die Leichtgläubigkeit anderer Menschen ausnutzen lässt und man selbst darauf achten sollte, nicht von der Skrupellosigkeit anderer ausgestochen zu werden. Doch wer hätte das ernsthaft bezweifelt? Viel schwieriger wäre die Frage zu beantworten, warum es dennoch so viel Idealismus und Leichtgläubigkeit in der Welt gibt und die Leute unverdrossen darauf beharren, machiavellistisches Verhalten zu verachten. Trotz aller realistischen Versuche Machtgier Normalität zu verleihen, erntet sie weiterhin Abscheu. Dafür bietet der Realismus keine Erklärung, sondern qualifiziert dies einfach als Naivität ab. Der Liberalismus steht diesem Phänomen ebenso ratlos gegenüber: Warum müssen Politiker Interesse am Gemeinwohl vorschützen, wenn doch Eigeninteresse die liberale Welt rettet? Warum müssen sie einen anderen Eindruck vermitteln, als ihre Überzeugung nahe legt? Warum müssen sie einen Schein wahren, der nicht dem entspricht, was sie selbst empfehlen? Anscheinend haben viele Menschen, trotz stetiger Wiederholung, die Lehren des Liberalismus und des Realismus nicht verinnerlicht, sie glauben weder bedingungslos an die segensreiche Wirkung ungehemmten Eigennutzes noch an die Unausweichlichkeit unaufhörlichen Machtstrebens. Jahrzehnte auftrumpfenden Liberalismus und kühl kalkulierenden Realismus haben 135 Machiavelli, Der Fürst , S. 73 f. 266 <?page no="267"?> das Vertrauen der Bürger nicht wecken können. Noch immer getrauen diese sich nicht ohne Weiteres, ihr Schicksal herzlosen Liberalen und aggressiven Realisten in die Hände zu legen, sondern verlangen von den Regierenden Gemeinwohlorientierung. Nur deshalb müssen Realisten sich selbst empfehlen, eine solche zu heucheln, um die Gunst der Bevölkerung zu erschleichen. Vom Liberalismus in den kontinuierlichen Wettbewerb gedrängt, machen viele Menschen offenbar völlig andere Erfahrungen als von jenem behauptet: Ohne Kooperation und Gemeinsinn geht es nicht, ohne sie lassen sich gemeinsame Vorhaben nicht verwirklichen und man steht schnell ziemlich allein da. Ebenso wenig wie Konkurrenz- und Machtdenken innerhalb von Unternehmen dessen Erfolg befördern, halten die Menschen dies auf gesellschaftlicher Ebene für möglich. Auch für den Wettbewerb zwischen Firmen beharren sie auf der idealistischen Forderung nach fairen Bedingungen. Unlautere Einflussnahme im Sinne des Eigennutzes und der Selbstbehauptung hingegen stoßen allerorten auf wenig Akzeptanz. Nicht liberaler Durchsetzungswille und realpolitische Hinterlist finden Zuspruch, sondern sie sind es, die viele in Politik und Gesellschaft abstoßend finden. Aller Desillusionierung durch den allgegenwärtigen Liberalismus und Realismus, wie er unentwegt um sich greift, zum Trotz, pflegen Menschen dennoch Vorstellungen von richtig und falsch , die sich nicht auf persönliche Interessen oder Macht reduzieren lassen; und ein Gutteil des Unbehagens an der Politik scheint daher zu rühren, dass dieses Empfinden dort regelmäßig missachtet wird. Die Realität der Realisten stößt in der Realität der realen Bevölkerung auf Ablehnung. Will der Realist dies nun nicht auf die realen Erfahrungen der Betroffenen zurückführen, muss er den Menschen mehrheitlich Idealismus oder gar Naivität unterstellen und damit selbst eine gesonderte, übergeordnete Position einnehmen. Indem er diejenigen für Realitätsverweigerer hält, die in großer Zahl die Realität bevölkern, wirkt plötzlich nicht mehr der Idealismus hochmütig, sondern der Realismus. Weit verbreiteten Vorstellungen verweigert er die Anerkennung ihrer realen Relevanz und schimpft sie statt dessen Idealismus, nur weil sie sich nicht seiner abgebrühten Abgestumpftheit fügen. Dabei wäre es gerade am Realisten, den empirischen Stellenwert gängiger Ansichten anzuerkennen, gleichgültig welcher Provenienz ihre Evidenz ent- 267 <?page no="268"?> sprungen sein mag. Wenn die Mehrheit der Auffassung ist, dass Eigennutz allein kein Gemeinwesen trägt, handelt es sich um einen Umstand, der zur Realität gehört. Das gilt auch, falls das empirisch vorfindbare Verlangen nach bestimmten Idealen auf ein Unbehagen an einer Welt zurückginge, wie Realisten sie sich ausmalen - einer Welt, der es an Gemeinsinn mangelt. Die Notwendigkeit zur Heuchelei jedenfalls entspringt der Weigerung anzuerkennen, dass die Bürger nach einer anderen Realität verlangen als sie die Realisten nicht nur leben, sondern in ihrer Angepasstheit an das, was sie für real halten , vorantreiben. Nur indem die Realisten sich einer Realität verweigern, wie sie die Bevölkerung - wohl aufgrund eigener alltäglicher Erfahrungen - auch für jene Politik anmahnt, die vorgibt, sie zu repräsentieren, erhalten sie eben dort ihre eigene Realität aufrecht, von der sie fortwährend beschwören, sie existiere unabhängig davon. Offenbar stehen sich zwei unvereinbare Realitäten gegenüber: Auf der einen Seite steht die Realität der politischen Realisten und auf der anderen die Realität der breiten Bevölkerung. Die eine zeichnet sich durch ein Streben nach Macht, die andere durch eines nach Lebenswert aus. Die eine ist in der Politik verankert, die andere im Alltag. Diese Zweiteilung spiegelt durchaus das Empfinden der Beteiligten wider: Viele Politiker betrachten große Teile der Bevölkerung als naiv und weichherzig, umgekehrt halten viele Bürger Politiker regelmäßig für machthungrig und skrupellos. Womöglich entspricht diese Spaltung mehr der Wirklichkeit als einem lieb sein kann. Dann aber stellt sich die Frage, ob man den außerpolitischen Alltag der politischen Realität angleichen sollte, wie es Realisten fordern, oder vielleicht eher umgekehrt die außeralltägliche Politik der Alltagsrealität. Die Realisten werden von der ihren jedenfalls nicht so einfach lassen, denn sie profitieren davon, dass sie sich opportunistisch dem anschließen, was Macht verspricht. Realisten stehen auf der Seite der Macht, gleichgültig wo diese steht. Ihnen geht es darum, die bestehenden Machtstrukturen bestmöglich zu ihren eigenen Gunsten zu nutzen. Da sie damit zugleich die Mechanismen der etablierten Ordnung bestärken, wohnt ihnen stets ein konservatives Momentum inne. Wer sich für die realistische Realität entscheidet, votiert für die Aufrechterhaltung bestehender Strukturen und ihre Ausnutzung im Dienste des Machterwerbs. 268 <?page no="269"?> Realisten akzeptieren bestehende Gegebenheiten der politischen Landschaft und nehmen sie als Ausgangspunkt dafür, Politik zu treiben. Ungleichgewichte politischer Partizipation nehmen sie nicht nur hin, sondern empfehlen, sie zum eigenen Vorteil zu nutzen. Ungerechtigkeiten wollen sie nicht abbauen, sondern für sich gewinnbringend einsetzen. Ihr Fokus liegt voll und ganz auf der Analyse, wie man politische Mechanismen, wie sie aktuell wirksam sind, möglichst effektiv einsetzen kann. In Ermangelung idealistischer Ziele wissen Realisten allerdings nicht wofür , sodass das reine Machtbegehren zum letzten Zweck politischen Realismus sich aufschwingt. Nicht etwa weil man Macht zum höchsten Ideal erhöbe, denn das verbietet sich, lehnt man doch jeden Idealismus ab; sondern weil sie zum einzig verbliebenen Begehren, mithin zum Selbstzweck wird. Immerhin entkleidet Politik per definitionem jeden anderen Sinns, wer sie auf ein reines Machtgeschehen reduziert. Zwangsläufig kann in ihr dann keine andere Bestimmung mehr gefunden werden als Machtvollkommenheit allein. Wo Politik aber jeden anderen Zweck verloren hat, kennt sie auch kein Wofür mehr und genau das ist es dann auch, was die Beobachter wahrnehmen. Wissenschaftler und Bürger folgern daraus allerdings sehr Unterschiedliches. Die Wissenschaft schließt, dass es sich um einen »Machtkreislauf« 136 handelt, dessen operative »Geschlossenheit« 137 sich sehr systematisch analysieren lässt. Für die Bürger jedoch verliert Politik genau dadurch ihren Sinn . Sie sehen ihren Verdacht bestätigt, dass Politik sich nur um sich selbst kümmert, ohne ihnen einen Vorteil zu bieten. Es entsteht der Eindruck eines überflüssigen Schauplatzes für Hahnenkämpfe auf Kosten der Bevölkerung. Eine Welt des rein egoistischen Nutzenkalküls hat sich selbst aufgegeben. Unabhängig davon, inwiefern man eine solche lebenswert findet, ergibt sich aus ihr keine Perspektive. Sie kennt keine Richtung, keine Ziele, keine Gemeinsamkeiten - sie kennt nichts, wofür sich einzusetzen lohnt, außer das unmittelbare persönliche Interesse. Aus dem mit- und gegeneinander davon ergibt sich dann, was sich eben daraus ergibt - ungeplant, ungesteuert, unbeabsichtigt. Das Versprechen der Liberalen, dies sei das Beste, was wir kriegen 136 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft , S. 258. 137 Ebd., S. 105. 269 <?page no="270"?> können, wird zur Drohung: Die »unsichtbare Hand« führt uns geradewegs in die Katastrophe - klimatisch, gesundheitlich, wirtschaftlich, politisch. Zunehmend offenbart sich, dass der Wirtschaftsliberalismus seine eigene Überlebensfähigkeit nicht sichern kann. Globale ökologische Herausforderungen lassen sich damit ebenso wenig bewältigen, wie gesellschaftliche Krisen wirtschaftlicher, kriegerischer, gesundheitlicher oder sonstiger Art. Reines Nutzenkalkül auf individueller Ebene war diesen niemals gewachsen und treibt die Gesellschaft schon im Normalbetrieb auseinander. Realismus mag die persönliche Durchsetzungsfähigkeit für den Moment im Blick haben, nicht aber das gesellschaftliche Überleben auf Dauer. Zweifelsohne bietet er dafür einen vielversprechenden und schnellen Weg persönlich von den Gegebenheiten zu profitieren. Wer sich bestehender Macht anschließt, hat es gewiss leichter als wer sich ihr entgegenstellt, und das gilt völlig unabhängig davon, was für die Allgemeinheit besser ist. Realismus ist konservativ, aber die Herausforderungen der Zukunft verlangen nach Veränderung. Idealismus gestaltet Macht, Realismus verwaltet sie nur. Gegen Idealismus spricht also seine Verwundbarkeit durch Realisten. Gegen Realismus aber sprechen sein selbstzerstörerisches Potential ebenso wie verbreitete Ablehnung obszönen Machtgebrauchs. Gegen Liberalismus wiederum spricht seine Unfähigkeit sowohl den blanken Machiavellismus trotz Gewaltenteilung zu bändigen wie seine eigenen Prinzipien gesellschaftsweit aufrecht zu erhalten. Umgekehrt spricht wenig für Realismus abgesehen von seiner puren Durchsetzungsfähigkeit. Für Liberalismus spricht immerhin die Überzeugungsfähigkeit seiner ursprünglichen Ideale, denen anfangs offenbar auch Osteuropa erlegen war. Gescheitert ist er nicht an mangelndem Realismus, sondern an seiner Ununterscheidbarkeit davon. Ob er sich behaupten kann, hängt nicht davon ab, inwiefern er sich der Macht, dem Einfluss oder dem Kapital andient. Solcherlei Anpassungsfähigkeit hat er über Gebühr bewiesen. Vielmehr richtet sich sein Schicksal danach, inwieweit er seine Ideale gegenüber den Mächtigen, Einflussreichen und Kapitalkräftigen zu behaupten vermag. Für Idealismus also, sei er liberal oder anderer Art, spricht, dass nur er etwas anzubieten hat, um Menschen davon zu überzeugen, über ihre unmittelbar individuellen Interessen hinauszugehen. Nur Idealismus ermöglicht 270 <?page no="271"?> Zustimmung zu Prinzipien, selbst wenn man davon nicht persönlich profitiert. Nur er ermöglicht somit die Grundlage eines zukunftsfähigen Gemeinwesens: gemeinsam getragene Veränderungen, von denen nicht alle profitieren werden. Nicht notwendig bedarf es dafür eines Konsenses, der ohnehin niemals zu erreichen ist. Umso mehr bedarf es der Demokratie , um bei Dissens zu einer Entscheidung zu kommen. Sie bietet ein Verfahren, das nicht von der Überlegenheit einzelner ausgeht und dennoch das Potential bietet, Entscheidungen Legitimität und Akzeptanz zu verleihen, selbst wenn diese für Teile der Bevölkerung nachteilig ausfallen sollten. Sie kann also den Weg weisen in einer Situation, die weitreichende Veränderungen verlangt, ohne zugleich alle zufrieden stellen zu können. Republikanische Repräsentation demgegenüber zeigt sich nur stabil, so lange wirtschaftliche Prosperität die Verteilung von Zuwächsen erlaubt, so lange also alle profitieren, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Sie hat durch ihre Verhandlungsorientierung Stärke in der Zufriedenstellung einflussreicher Gruppen gezeigt, wie gerechtfertigt auch immer dies im Einzelnen gewesen sein mag. Sie hat Verlierer durch Ausgleichsmaßnahmen vermieden und war immer darauf bedacht, mächtige Interessenvertretungen zufrieden zu stellen. Als wirtschaftliche Schönwetterpolitik erwies sie sich außerordentlich erfolgreich, beförderte dabei aber auch bedenkliche Ungleichgewichte, weil sie überproportionalen Einfluss stets dadurch verstärkte, dass sie ihm nachgab. Sobald sich jedoch Verlierer abzeichnen, gerät republikanische Repräsentation regelmäßig in die Krise. Jenseits von Wohlfahrtsstaaten erlangte sie deshalb kaum jemals Stabilität und auch dort wirkt sie regelmäßig gefährdet, sobald wirtschaftlich schwere Zeiten aufziehen. Wie sich angesichts des Klimawandels erneut zeigt, vermag sie starken Interessengruppen auch in existentiellen Fragen keine Zugeständnisse abzuringen, von den erforderlichen Einschnitten ganz zu schweigen. Zugleich schafft sie es nicht, Legitimität gegenüber denjenigen auszustrahlen, die über keinen nennenswerten Einfluss verfügen, die sich aber dennoch durch den gesellschaftlichen Wandel bedroht fühlen, sei es durch Globalisierung, Digitalisierung, Liberalisierung, Migration oder Klimakrise. Obwohl sie sich selbst demokratisch nennt, hat sich durch ihre Nähe zu Industrie, Interessenverbänden und Lobbyismus in Tei- 271 <?page no="272"?> len der Bevölkerung eine Wahrnehmung eingestellt, wonach die Demokratie nur noch eine Fassade bildet und »zu einem reinen Spektakel verkommt«. 138 Gerade weil sich republikanische Repräsentation demokratisch gibt, wächst mit ihrer Krisenanfälligkeit zugleich auch die Skepsis gegenüber der Demokratie insgesamt, obwohl sie diese nie wirklich zur Geltung hat kommen lassen. Jedenfalls muss man feststellen, dass autoritäre Regierungsformen für nicht wenige Bürger umso mehr an Attraktivität gewinnen, je weniger der bestehende Republikanismus zu maßgeblichen Weichenstellungen im Stande scheint. Selbst diejenigen, die den Glauben an die liberale Demokratie nicht verloren haben, setzen immer weniger auf demokratische Prozesse, statt dessen vertrauen sie in die Widerstandsfähigkeit un demokratischer Institutionen, die schon so oft grundlegende Reformen verhindert haben. Tatsächlich zeigten deren Strukturen sich unbeeindruckt von jedem Verlangen nach Demokratisierung, umso anfälliger wirkt ihr institutioneller Apparat jedoch für eine Verwendung im Dienste einer autoritären Agenda. Schon der Nationalsozialismus profitierte vom republikanischen Verfahren der Rechtsetzung und -sprechung mehr als es jedes breit unterstützte Volksbegehren zuvor oder danach jemals vermochte. Während Ansinnen der einfachen Bevölkerung regelmäßig am institutionellen Gefüge scheitern, unterwirft sich eben dieses geradezu widerstandslos totalitären Bestrebungen, sobald entsprechende Machtpositionen von diesen erfasst werden. Wie Max Weber bemerkt, zeichnet sich der »bureaukratische Apparat« - und ein solcher ist auch, worauf Liberale vertrauen - durch » Disziplin « 139 aus ohne Rücksicht darauf, wer ihm vorsteht. Er fügt sich einer demokratischen Regierung ebenso wie einer okkupierenden Macht oder einem zur Macht gelangten Diktator. Die liberale Schwärmerei für die Vortrefflichkeit elitärer Personen schenkt einzelnen Amtsinhabern mehr Vertrauen als demokratischen Mehrheiten, was dazu führt, dass einer Hingabe an vermeintlich herausragende Fähigkeiten eines Staatsoberhaupts der Weg geebnet wird, die demokratische Mitbestimmung nur mehr als störend wahrnimmt. Allerdings schwächen nicht nur 138 Crouch, Postdemokratie , S. 10. 139 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft , S. 128. 272 <?page no="273"?> Personenkult und Elitengläubigkeit zwangsläufig demokratische Strukturen, sondern schon das alltägliche republikanische Zutrauen in einzelne Institutionen und Personen, das etwa darin zum Ausdruck kommt, dass man politisch maßgebliche Entscheidungen nicht selten dem Rechtswesen und damit Richtern überantwortet, während man sie dem Volk verwehrt. Der Republikanismus traut Apparaten und denjenigen, die darin Macht ausüben, mehr als der Bevölkerung, womit er jedem Autoritarismus eine willfährige Grundlage schafft. Dass nicht wenige ihr Vertrauen in die Demokratie verloren haben und es statt dessen starken Persönlichkeiten schenken, kann nach einer Sozialisation innerhalb eines solchen elitenfixierten Institutionengefüges kaum verwundern. Die liberale Demokratie hat trotz Wahlen Hierarchien, Amtsautoritäten und Machtgefälle erhalten, wie sie sie vom absolutistischen Staat übernommen hat. Demokratisch wurde nur der Wettbewerb innerhalb der Elite entschieden, ohne dass das autoritäre Prinzip staatlicher Einrichtungen aufgehoben wurde. Durch gesellschaftlichen Wandel aufkeimende Konflikte konnten autoritäre Strukturen aber stets nur unterdrücken, einer gemeinsamen Lösung zuführen konnten sie sie nicht. Im Hinblick auf die anstehenden Herausforderungen steht der Liberalismus nun vor der Wahl, die Bevölkerung zu überzeugen oder weiterhin auf Eliten zu vertrauen. In letzterem Fall wird aufgrund der vorhersehbaren Konflikte allerdings ein höherer Grad an autoritärer Machtausübung nötig sein, deren Abnutzung über kurz oder lang dann doch Widerstand hervorrufen wird. Strebt man hingegen eine Konfliktlösung im Rahmen freier Gleichberechtigung an, bleibt nur demokratische Entscheidungsfindung. Jeder vernünftige Idealismus muss sich deshalb an einer fundamentalen Demokratie orientieren. Dafür gibt es einen Grundsatz, von dem man nur abweichen könnte, indem man seinen Mitmenschen entweder Vernunft oder Gleichrangigkeit abstreitet: gleichwertiges Stimmrecht bei kollektiven Entscheidungen! Jeder Versuch, anderen ihr Stimmrecht zu nehmen oder dieses unterschiedlich zu gewichten, ist ein Verstoß gegen die Demokratie. Welchem Vernunftwesen stünde es zu, anderen einen gleichen Status abzusprechen? Hierin läge zugleich der wirksamste Schutz gegen Autoritarismus, der Gleichrangigkeit nicht anerkennt und darauf zielt, alle Gegner von Mitbe- 273 <?page no="274"?> stimmung auszuschließen. Wenn nun Demokratie und Gleichberechtigung regelmäßig am Machtgebrauch Einzelner scheitern, die innerhalb von Institution gehobene Stellungen einnehmen, kommt man nicht umhin, jegliche Machtposition unmittelbar an demokratische Prozesse rückzubinden. Das gilt in räumlicher Hinsicht ebenso wie in zeitlicher. Die Berufung von Abgeordneten, Amtsträgern und Regierungsmitgliedern muss tatsächlich durch jene erfolgen, die sie zu vertreten beanspruchen, zudem müssen diese ihre Vertreter jederzeit abberufen können. Dadurch ließe sich auch die Trennung der inkongruenten Realitäten von Politik und Alltag aufheben, weil man Macht der Möglichkeit berauben würde, als Selbstzweck betrieben zu werden. Macht darf niemals für sich selbst, sondern muss immer für andere zuträglich sein - und in einer Demokratie heißt das: für die Bevölkerung. Alle Macht geht dann nicht nur vom Volke aus, sondern setzt sich auch dafür ein und kann von ihm jederzeit widerrufen werden. Um ihren korrumpierenden Charakter auszuhebeln, muss Macht deshalb möglichst proportional verteilt, mithin demokratisiert werden. Niemand darf unabhängig von mehrheitlicher Zustimmung Macht ausüben und seine Position muss stets widerrufbar sein. Wo das nicht der Fall ist, erleben wir regelmäßig ihren Missbrauch - an der Staatsspitze ebenso wie in Einrichtungen vom Internat bis zur Polizei. Die einzige dauerhaft wirkungsvolle Möglichkeit Heuchelei und Machtmissbrauch zu unterbinden, besteht schlicht darin, Macht nicht auf Dauer zu stellen und Entscheidungen an die Bevölkerung rückzubinden. Wenn Macht nur so lange Bestand hat, wie sie von der Bevölkerung tatsächlich getragen wird, kann es gar nicht erst dazu kommen, dass Mächtige ihre Position (manchmal bis hin zur Diktatur) institutionell immer mehr absichern, wie das in Republiken ausgerechnet mit republikanischen Mitteln geschieht. So lange Wahlen jedoch mit jahrelangem Abstand betrieben werden, bleibt den dadurch an die Macht gelangten dazwischen genug Zeit, ihre Energie darauf zu verwenden, durch reinen Machtge- und -missbrauch die eigenen Chancen für die nächsten Wahlen zu verbessern. Inhaltliche Politik mag dafür hilfreich sein, mindestens ebenso verlockend ist es aber, Anpassungen innerhalb des republikanischen Gefüges vorzunehmen, welche die 274 <?page no="275"?> eigene Position institutionell stärken - wie das etwa durch Wahlkreismanipulation in den USA erfolgt oder in Russland gleich durch Änderung der Verfassung. Wichtige Positionen sollten also niemals durch Personen besetzt bleiben, die den Rückhalt in der Bevölkerung verloren haben. Außerdem gibt es weder einen demokratischen noch einen inhaltlichen Grund, Minister nach partei-internem, regionalem Proporz zu besetzen, wenn dieses Anliegen nicht von den Wählern ausgeht. Völlig überholt wirkt es, dass man nur Kandidaten aus dem eigenen Wahlkreis direkt wählen kann, selbst wenn es sich um eine überregionale Wahl handelt. Räumliche Distanzen haben seit dem 18. Jahrhundert, in dem die ersten Wahlsysteme solcher Art eingeführt wurden, enorm an Bedeutung verloren. In einer Demokratie sollte es aber den Wählern überlassen bleiben, wen sie wählen möchten, unabhängig davon wie weit entfernt die/ der Wunschkandidat/ in wohnt. Ebenso wie in wirtschaftlichen Dingen muss es Vernunftwesen offen stehen, ob sie sich stellvertreten lassen wollen oder nicht, vor allem aber auch wie lange und durch wen. Niemand würde in Eigentumsfragen Beschränkungen durch Parteien, Regionen oder Legislaturperioden dulden, warum sollte man es dann bei politischer Mitbestimmung, die letztlich ebenfalls darauf zurückgeht, dass jede/ r Anteil am Gemeinwesen hat. Stellvertretung durch Repräsentanten muss sich deshalb jederzeit beenden lassen oder an andere übertragbar sein. Stellvertreter müssen dabei frei wählbar und nicht durch einen Stimmkreis vorgegeben sein. Wenn ein/ e Repräsentant/ in mehr Bürger hinter sich sammeln konnte als ein/ e andere/ r, dann muss ihre/ seine Stimme auch ein proportional höheres Gewicht haben, genau genommen muss sie/ er über so viele Stimmen verfügen, wie sie/ er vertritt. Es ist unnötig, dass eine Partei dutzende oder gar hunderte Personen in ein Parlament entsendet, wenn die meisten Wähler sich von einer bestimmten Person am besten repräsentiert fühlen und andere Parteimitglieder womöglich gar ablehnen. Warum sollten alle Repräsentanten die gleiche Zahl Bürger vertreten, wenn die Popularität völlig unterschiedlich ausfällt? Demokratische Entscheidungsfindung wird eher dadurch behindert, dass ein und die selbe Partei in einem Parlament mit unpopulären Abgeordneten in großer Zahl vertreten ist, die mit ihrem Geltungsbedürfnis und un- 275 <?page no="276"?> terschiedlichen Ansichten für intensive partei-interne Selbstbeschäftigung sorgen, obwohl viele Wähler die Partei nur wegen einer Person gewählt haben. Was spricht dagegen einer/ m Repräsentantin/ en das Stimmgewicht etwa von einem Viertel der Bevölkerung zu geben, wenn eben dieses Viertel sich genau davon am besten repräsentiert fühlt? Liberalismus ist nur halbierter Liberalismus, so lange wir Bürgern in politischer Hinsicht weniger Verfügungsgewalt über ihren Anteil geben wie dem Eigentümer in wirtschaftlicher Hinsicht. Niemand kann gezwungen werden, ihren/ seinen wirtschaftlichen Eigentum- oder politischen Stimmanteil nicht selbst zu verwalten; und sie/ er kann sich ihren/ seinen Stellvertreter frei aussuchen, wenn sie/ er sich doch nicht zur Selbstverwaltung entschließt. Ebenso wie Liberalismus verhält sich fundamentale Demokratie insofern idealistisch, wie sie Gleichrangigkeit zum Ziel und zur Voraussetzung des Zusammenlebens von Vernunftwesen macht. Ihr oberster Zweck besteht darin, Gleichberechtigung bei der Gestaltung des Zusammenlebens herzustellen. Dazu muss sie verhindern, dass Politik zu einem Schauspiel gerät, in dem Macht zum Selbstzweck wird. In einer fundamentalen Demokratie kennt das Wofür der Macht nicht von vornherein eine inhaltliche Ausrichtung, sondern zielt zunächst auf die Ermächtigung der Bürger, ihren Mitbestimmungsrechten zur Geltung zu verhelfen. Das Ziel besteht darin, die Macht in die Hände des Volkes zu legen unabhängig von inhaltlicher Bestimmung, damit dieses sie dann zur Umsetzung selbst gewählter Inhalte nutzen kann. Fundamentale Demokratie akzeptiert bestehende Ungleichheiten nicht und bestehende politische Strukturen nur insofern, wie sie mit demokratischer Gleichrangigkeit vereinbar sind. Ihr Idealismus besteht darin, dass sie politische Gegebenheiten nicht einfach hinnimmt, sondern sich für Prinzipien einsetzt, die alle Vernunftwesen gleich behandelt, niemandem also politische Privilegien einräumt. Damit verfolgt fundamentale Demokratie nicht nur selbst ein grundlegendes Ideal, sondern eröffnet zugleich die Möglichkeit, dem Idealismus Geltung zu verschaffen. Sie lässt Idealismus in der Politik in exakt dem Maße zu, wie er in der Bevölkerung vorliegt. Sie zwingt diese nicht, fatalistisch den nepotischen Machiavellismus des bestehenden politischen Betriebs hinzunehmen, sondern Ideale immer dort durchzusetzen, wo sie ihr nötig und sinnvoll 276 <?page no="277"?> erscheinen. Fundamentale Demokratie kann somit idealistische Prinzipien in Realität verwandeln, sofern sie in der Bevölkerung real vorhanden sind. Sie ist kein Idealismus, der einer bestimmten Ideologie folgt, und doch so idealistisch, dass sie nicht jedes Prinzip dem puren Machterhalt zu opfern bereit ist. Zugleich bleibt sie auch dem Realismus verbunden, indem sie nur Ziele und Ideale verfolgt, die in der Bevölkerung eine reale Grundlage haben, und wann immer die Bevölkerung nicht Idealen, sondern rein pragmatischen Erwägungen folgt, kennt fundamentale Demokratie keinen Grund, dagegen ideologische Vorbehalte zu pflegen. Der Liberalismus erhebt den Realismus zum Ideal, indem er egoistischer Interessenverfolgung eine segenbringende Wirkung attestiert, sie auf diese Weise von den Individuen geradezu verlangt. Weil er einem Verhalten, das diese ohnehin an den Tag legen, moralische Vordringlichkeit verleiht, raubt er jedem Idealismus seine Grundlage, der Menschen dafür zu gewinnen sucht, nicht geradewegs dem Egoismus nachzugeben. Der Liberalismus lässt aber nicht einfach sämtliche moralische Ansprüche fallen, sondern projiziert sie voll und ganz auf den Staat. Ihm überträgt er die ganze Last, Freiheit, (Chancen-)Gleichheit und Eigentum zu garantieren, während Bürger und Unternehmen davon entbunden sind. In einer Demokratie arbeitet der Staat jedoch nicht unabhängig von seinen Bürgern, sondern nur in deren Sinne. Liberale Prinzipien können deshalb nur so lange Bestand haben, wie die Bevölkerung sie ver cht. Da egoistische Interessenverfolgung, wie sie der Liberalismus erwartet, dafür eine Gefahr darstellt, bedürfte es einer Schizophrenie, wie sie nur wenige an den Tag zu legen vermögen: Als Gesellschaftsmitglieder müsste man ebenso sehr dem Eigennutz folgen wie als Staatsmitglied dem Gemeinwohl. Tatsächlich aber leben sehr 277 <?page no="278"?> viele Menschen im Privaten Solidarität, während einige wenige in der Politik dem Machtstreben nachgeben. Der Realismus weigert sich kontinuierlich, als Realität anzuerkennen, dass der Alltag der meisten Bürger keineswegs machiavellistischen Mechanismen folgt. Umgekehrt vermissen viele in der Politik jene Grundsätze, die ihr Zusammenleben überhaupt erst lebenswert machen. Fundamentale Demokratie nun verlangt gleichwertiges Stimmrecht für alle ohne räumliche oder zeitliche Einschränkungen. Denn Liberalismus ist nur halbierter Liberalismus, so lange Bürger politisch weniger Selbstbestimmung über ihren Teil am gemeinschaftlichen Vermögen ausüben können, wie sie es wirtschaftlich über ihr privates Vermögen tun. Demokratie wird dann zum Fundament der Gesellschaft, wenn den Menschen die Möglichkeit gegeben wird, der Politik und darüber ihrem Gemeinwesen genau so viel Idealismus angedeihen zu lassen, wie es ihnen sinnvoll erscheint. <?page no="279"?> Literatur Adamek, Sascha und Kim Otto. Der gekaufte Staat. Wie Konzernvertreter in deutschen Ministerien sich ihre Gesetze selbst schreiben . Köln, 2009. Amtsblatt Europäische Union. Vertrag über die Europäische Union. (Konsolidierte Fassung) . 7. 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Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 9797 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Martin Oppelt Demokratie? - Frag doch einfach! Klare Antworten aus erster Hand 1. Auflage 2020, 150 Seiten €[D] 14,99 ISBN 978-3-8252-5446-9 eISBN 978-3-8385-5446-4 Martin Oppelt Demokratie? Klare Antworten aus erster Hand Frag doch einfach! 23.10.20 10: 16 Was unterscheidet die moderne von der antiken Demokratie? Welche Schattenseiten hat die moderne Demokratie? Gehören Demokratie und Kapitalismus zusammen? Wie steht es um Meinungsfreiheit und Toleranz in Demokratien? Diese und weitere Fragen beantwortet Martin Oppelt in seinem Buch. Er beleuchtet konkurrierende Ideen und Modelle der Demokratie, blickt auf ihre geschichtliche Entwicklung und erklärt aktuelle Herausforderungen. Zudem stellt er die wichtigsten Fachbegriffe prägnant vor und verrät, welche Websites, Videos und Bücher das Wissen aus diesem Band vertiefen können. Frag doch einfach! Die utb-Reihe geht zahlreichen spannenden Themen im Frage-Antwort-Stil auf den Grund. 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Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidakt DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus F \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourism \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ WL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanist Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft ologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ 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Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ aft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ orische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenhematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss schaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen aft \ Geschichte \ 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KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 9797 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Karl-Martin Hentschel Demokratie für morgen Roadmap zur Rettung der Welt 2018, 292 Seiten €[D] 17,99 ISBN 978-3-86764-894-3 eISBN 978-3-7398-0458-3 Die Welt bewegt sich trotz all der Mühe vieler engagierter Aktivisten, Autoren und Politiker immer weiter in die falsche Richtung. Die Schere zwischen Reichtum und Armut wird immer größer. Afrika wird weiterhin abgehängt. Rund um die EU rücken die Bürgerkriege immer näher: Afghanistan, Sudan, Mali, Libyen, Syrien, Ukraine. Der jahrzehntelange Siegeszug der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg ist ins Stocken geraten. Denn demokratische Grundlagen werden massiv bekämpft und in Frage gestellt. Werte, die diese Gesellschaft tragen, werden gezielt destabilisiert. Umso wichtiger ist es, dass die richtigen Fragen aufgeworfen und diskutiert werden. Karl-Martin Hentschel trägt mit seinem Buch dazu bei und gibt Denkanstöße für eine demokratische Erneuerung. <?page no="290"?> ,! 7ID8C5-cffeec! ISBN 978-3-8252-5544-2 Der Autor beleuchtet, inwiefern die Ursachen für das Ende seiner Dominanz im Liberalismus selbst zu suchen sind. Im Buch werden die Grundlagen unserer Freiheit erläutert. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob wir uns diese heute noch leisten können oder vielleicht aufgeben müssen, um den heutigen Herausforderungen begegnen zu können. Ausgehend von den Konsequenzen des (Neo-) Liberalismus werden Perspektiven ausgeleuchtet, inwieweit ein anderes Verständnis davon womöglich unsere Demokratie und damit unsere Freiheit zu retten vermag. Das Buch richtet sich an Studierende der Politikwissenschaft und der Philosophie sowie an Leser, die sich vertieft mit Demokratie und Freiheit auseinandersetzen. Politikwissenschaft Sozialwissenschaften | Philosophie Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel