Der Krimi in Literatur, Film und Serie
Eine Einführung
0215
2021
978-3-8385-5556-0
978-3-8252-5556-5
UTB
Stefan Neuhaus
Ein Blick in die Programme von Verlagen, Fernsehsendern und Filmanbietern zeigt, dass es kein populäreres Genre gibt als den Krimi. Hier soll erstmals der Versuch gewagt werden, an exemplarischen Beispielen aus Literatur, Film und Serie in den ,ganzen' Krimi einzuführen - in Merkmale, Geschichte und Entwicklung. Die englischsprachige Krimitradition wird in die Darstellung mit einbezogen.
<?page no="0"?> Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de ,! 7ID8C5-cfffgf! ISBN 978-3-8252-5556-5 Stefan Neuhaus Der Krimi in Literatur, Film und Serie Ein Blick in die Programme von Verlagen, Fernsehsendern und Filmanbietern zeigt, dass es kein populäreres Genre gibt als den Krimi. Allein von Agatha Christies Romanen wurden über zwei Milliarden Exemplare verkauft. Die Figur Sherlock Holmes gehört zu den frühesten Film- und Serienhelden und am Anfang der modernen Krimiliteratur stehen Erzählungen nicht nur von Edgar Allan Poe, sondern auch von Friedrich Schiller und E.T.A. Hoffmann. Erstmals wird der Versuch gewagt, an exemplarischen Beispielen aus Literatur, Film und Serie in den ‚ganzen‘ Krimi einzuführen - in Merkmale, Geschichte und Entwicklung. Bisher hat sich die Forschung selten mit dem als trivial geltenden Genre beschäftigt. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass der Krimi genauso anspruchsvolle Beispiele bereithält wie andere Genres. Literaturwissenschaft Neuhaus Der Krimi in Literatur, Film und Serie QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 55565 Neuhaus_M-5556.indd 1 55565 Neuhaus_M-5556.indd 1 14.01.21 15: 18 14.01.21 15: 18 <?page no="1"?> utb 5556 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Neuhaus ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. © Henriette Kriese <?page no="3"?> Stefan Neuhaus Der Krimi in Literatur, Film und Serie Eine Einführung Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5556 ISBN 978-3-8252-5556-5 (Print) ISBN 978-3-8385-5556-0 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5556-5 (ePub) Umschlagabbildung: Silhouette von Basil Rathbone als Sherlock Holmes. Quelle: By Rumensz - Own work, CC0, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=30967870 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 1. 9 1.1 9 1.2 13 1.3 17 2. 21 2.1 21 2.2 27 2.3 35 2.4 37 2.5 42 2.6 45 2.7 49 3. 53 3.1 53 3.2 58 4. 75 4.1 75 4.2 76 4.3 82 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein spannendes und vielfältiges Genre . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gratifikationen für Krimi-Leser*innen . . . . . . . . . . . . . . . . Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist ein ‚Krimi‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gängige Strukturen, Themen und Motive des Krimis . . . Konzeptionelle und kontextuelle Grundlagen . . . . . . . . . . Diskurse von (poetischer) Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . Rationalität und Emotionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuschreibungen von Gut und Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuschreibungen des Wertes: Unterhaltung, Kunsthandwerk und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Ursprungserzählung‘ und Genretraditionen . . . . . . . . . . . Vom Buch zum Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriminalerzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Sammelbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Anfang im 18. Jahrhundert mit der Frage nach dem Motiv der (Un-)Tat: Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einbruch von Kontingenz: Theodor Fontanes Unterm Birnbaum (1891) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4.4 90 4.5 97 5. 107 5.1 107 5.2 110 5.3 118 5.4 121 5.5 135 5.6 140 5.7 151 5.8 156 5.9 162 5.10 166 5.11 177 5.12 181 5.13 196 5.14 201 5.15 210 6. 219 6.1 219 6.2 225 Die unbeantwortbare Frage nach der Schuld: Fritz Langs M (1931) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die schwierige Abgrenzung von Kriminalerzählung, Detektiverzählung und Thriller: Nele Neuhaus’ Böser Wolf (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detektiverzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typen des Detektivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine moderne Detektivfigur vor der Moderne: E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1819) . . . . . . . . . . . . Das Muster des Genres: Edgar Allan Poes The Murders in The Rue Morgue (1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Muster der Detektivfigur: Sherlock Holmes in Sir Arthur Conan Doyles The Hound of the Baskervilles (1902) Holmes im Film: The Hound of the Baskervilles (1939) . . . Muster der Variation: Hercule Poirot in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poirot im Film: The Murder of Roger Ackroyd (2000) . . . . . Das Muster des Kinder-Detektivs: Erich Kästners Emil und die Detektive (1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emil im Film: Emil und die Detektive (1931) . . . . . . . . . . . . Der bekannteste ‚hard-boiled detective‘: Philip Marlowe in Raymond Chandlers The Big Sleep (1939) . . . . . . . . . . . Marlowe im Film: The Big Sleep (1946) . . . . . . . . . . . . . . . . Requiem für den Detektiv: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthäi im Film: Es geschah am hellichten Tag (1958) . . . Der Detektiv als Stehaufmännchen in der späten Postmoderne: Simon Brenner in Wolf Haas’ Das ewige Leben (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brenner im Film: Das ewige Leben (2015) . . . . . . . . . . . . . . Thriller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Es geht um den Nervenkitzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Vorläufer: Friedrich Schillers Der Geisterseher (1789) Inhalt 6 <?page no="7"?> 6.3 233 6.4 241 6.5 249 7. 259 7.1 259 7.2 261 7.3 270 8. 281 8.1 281 8.2 285 8.3 292 8.4 299 9. 307 10. 313 10.1 313 10.2 314 10.3 315 10.4 325 327 329 334 Liebe, Tod und Wahnsinn: Alfred Hitchcocks Rebecca (1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der lange Schatten der Vergangenheit: John Schlesingers Marathon Man (1976) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein postmoderner Meta-Thriller: Kenneth Branaghs Dead Again (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählungen von Agenten und Spionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Spion im Mittelpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Britische Snoblesse: Ian Flemings Roman Goldfinger (1959) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmische Nonchalance: Albert R. Broccolis und Harry Saltzmans Goldfinger (1964) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krimikomödien und Krimiparodien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bunt ist alle Parodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adel vernichtet: Kind Hearts and Coronets (1949) . . . . . . . Very English: Die James-Bond-Parodie Johnny English Strikes Again (2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Fünf-Sterne-Krimi-Komödie-Parodie-Satire-Cocktail: Fargo (2014 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Ein mörderisch gutes Genre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monographien, Sammelwerke und Aufsätze . . . . . . . . . . . Internet-Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> 1. Einleitung 1.1 Ein spannendes und vielfältiges Genre Ein Blick in die Programme von Verlagen, Fernsehsendern und Filmanbie‐ tern legt die Vermutung nahe, dass es kein populäreres Genre gibt als den Krimi. Stellvertretend für viele sei auf zwei Superlative hingewiesen: „Nur von Shakespeares Werken und von der Bibel sind mehr Exemplare verkauft worden als von [Agatha] Christies Romanen, inzwischen über zwei Milliarden“ (Hamann 2016, 26). Nach den Romanen und Erzählungen setzten Filme und Serien die Erfolgsgeschichte fort. Für die Erstausstrahlung der Francis-Durbridge-Verfilmung Das Halstuch als sechsteiliges Fernsehspiel im Januar 1962 wurde die sensationelle Einschaltquote von 89 Prozent ermittelt. Einführungen in die Kriminalliteratur gibt es bereits (v. a. Vogt 1971; Vogt 1998; Nusser 2009), ein Handbuch von 2018 dokumentiert den For‐ schungsstand (Düwell u. a. 2018). Ebenso hat der Kriminalfilm in seinen verschiedenen Ausprägungen immer wieder Beachtung erfahren (Hicke‐ thier 2005; Grob 2012; Koebner/ Wulff 2013). Dazu kommen Studien zu Subgenres und besonderen Themen (z. B. Föcking/ Böger 2012; Hißnauer u. a. 2014). Allerdings ist das Feld der grundlegenden Handreichungen immer noch übersichtlich, wenn man sie mit dem Erfolg des Genres vergleicht. Der wichtigste Grund dürfte sein, dass die Popularität des Genres als Zeichen schneller Konsumierbarkeit und somit als Beleg für seine Trivialität gewertet wird (vgl. z. B. Alewyn 1998, 52; Wörtche 2007, 344; Nusser 2009, 11; Worthington 2011, 1). Mit anderen Worten: Wenn etwas so einfach gestrickt ist wie ein Krimi, dann lohnt sich keine (literatur- oder kultur-)wis‐ senschaftliche Auseinandersetzung (es sei denn, man blickt auf das Genre als Kulturbetriebsphänomen). Dieses Urteil ist allerdings ein Vor-Urteil. So hat beispielsweise Josef Hoffmann in seiner Studie Philosophien der Krimi‐ nalliteratur versucht, die „Entstehung der Kriminalliteratur aus dem Geist der westlichen Philosophie“ zu erklären (Hoffmann 2013, 41). Auch andere Genres waren oder sind populär und auch hier ist der größere Teil stets eher der Unterhaltung gewidmet. Das heißt aber nicht, dass es nicht einen Anteil an herausragenden, innovativen und im Wortsinn bemerkenswerten <?page no="10"?> Beispielen gibt, die eine genauere Betrachtung geradezu herausfordern. Goethes Die Leiden des jungen Werther und Die Wahlverwandtschaften sind frühe Beispiele für Liebesromane - aber doch wohl keineswegs trivial. Die bisherigen Studien, Sammelbände und Nachschlagewerke können keinen historischen Überblick über den ‚ganzen‘ Krimi geben, obwohl beeindruckende Versuche vorliegen (vgl. z. B. Arnold/ Schmidt 1978 u. Walter 2002). Der vorliegenden Einführung kann und wird es ebenfalls nicht gelingen, alle Medien und Aspekte abzudecken und das allein für den „Kri‐ minalroman“ festgestellte „erhebliche[s] Forschungsdesiderat“ zu beheben (Wörtche 2007, 345). Dennoch soll erstmals der Versuch gewagt werden, den Krimi in Literatur, Film und Serie gemeinsam beispielhaft zu beleuchten. Auch das kann natürlich nur sehr selektiv geschehen, und dies bereits, wenn es um die Einbeziehung anderer kultureller Traditionen geht. Die im deutschsprachigen Raum besonders populäre US-amerikanische und britische Krimi-Tradition soll in die Darstellung mit einbezogen werden. Die Ausdifferenzierung des Genres hat zu einer segmentierten Be‐ trachtung verschiedener Subgenres geführt, die allerdings in ihrer idealty‐ pischen Ausprägung nur selten vorkommen. Wie soll man sinnvoll eine Kriminalerzählung von einer Detektivgeschichte oder einem Thriller ab‐ grenzen? Die Handlung entwickelt sich äußerst selten entweder retrospek‐ tiv-analytisch oder in die Zukunft gerichtet, in den meisten Fällen findet man eine Mischung von beidem vor. Und wohin gehören beispielsweise die Spionageerzählung oder der Spionagefilm? James Bond jagt in der Regel nicht politisch motivierte Verbrecher, sondern Kriminelle, die den Globus in Geiselhaft nehmen. Kriminelle Handlungen sind in Literatur und Film ohnehin an der Tages‐ ordnung. Letztlich kann nur das gewählte Analyseraster offengelegt und dann am Einzelbeispiel diskutiert werden, welches Thema überwiegt: Die Krimihandlung oder die Liebe zwischen den Protagonisten, selbst wenn gewalttätiges Verhalten eine große Rolle spielt, oder ein politisches Thema wie Rassismus, auch wenn Polizei und Gerichtsverfahren einen breiten Raum einnehmen. Ist also Harper Lees To Kill a Mockingbird (Wer die Nachtigall stört) von 1960, ein moderner Klassiker der US-amerikanischen Literatur, nun ein Krimi? Wie steht es mit der Verfilmung von 1962 unter der Regie von Robert Mulligan, die drei Oscars bekam und als einer der besten amerikanischen Filme überhaupt gilt? (AFI’S 100 Years 2019). Gregory Peck spielt die Hauptrolle, einen Anwalt, der einen Farbigen verteidigt, wobei der 1. Einleitung 10 <?page no="11"?> Plot als allegorische Anklage des alltäglichen Rassismus in den USA angelegt ist. Handelt es sich nun bei Buch und Film um Krimis? Offenbar ja, denn es sind gleich mehrere Merkmale des Krimis zu finden - ein (angebliches) Verbrechen, Polizeiarbeit, eine Gerichtsverhandlung und am Ende noch versuchter Mord mit Notwehr. Andererseits zögert man, auch weil der Begriff des Krimis in der Praxis seiner Verwendung so weit herabgesunken ist, dass er vor allem die populären Ausprägungen des Genres meint. Deshalb ist beispielsweise Tatort-Kommissar Felix Murot, gespielt von Ulrich Tukur, so umstritten. Vor allem jene, die Entspannung durch Spannung suchen und erwarten, dass gängige Muster des Genres bedient werden, fühlen sich überfordert. Angriff auf Wache 08 von 2019 beispielsweise (Regie Thomas Stuber, mit ihm gemeinsam schrieb Schrift‐ steller Clemens Meyer das Drehbuch) hatte am 24.08.2019 Premiere auf dem Festival des deutschen Films - unüblich für eine Fernsehproduktion (Angriff auf Wache 08 2019). Die grundlegenden Fragen danach, was das Genre ausmacht, sind alles andere als neu. Ein Beispiel für die Wirkmacht von Tradierungen: Für die Forschung steht offenbar fest, dass das Genre mit Edgar Allan Poes Murders in The Rue Morgue (Die Morde in der Rue Morgue) beginnt (vgl. z. B. Scaggs 2005, 7; Düwell 2018, 286), obwohl in der deutschsprachigen Literatur bereits mit Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre eine bahnbrechende und zentrale Kriminalerzählung vorliegt und mit E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi wenige Jahrzehnte später eine Detek‐ tiverzählung (vgl. Bloch 1998, 40), die modern genug ist, um beispielsweise von ihr eine Brücke zu den Romanen um den Detektiv Brenner von Wolf Haas zu schlagen (zu möglichen weiteren Beispielen vgl. die Auswahl in Hamann 2016). Dass es sich um eine international konventionalisierte Genregeschichte handelt, macht die, wenn auch in jüngerer Zeit monierte (z. B. Beck 2014, 33), Brüchigkeit der Argumentation nicht plausibler. So beginnt Richard Bradfords außerordentlich kundige Einführung in das Genre mit dem Hinweis auf Vorläufer wie Sophokles’ König Ödipus, Herodots Rhampsinit und der Meisterdieb oder Shakespeares Hamlet (Bradford 2015, 1), wobei es sich hier auch um Dramen handelt. Reclams Kriminalromanführer verortet „die anscheinend erste Detektiv‐ geschichte der Weltliteratur“ 1679 in China und spart die englische gothic novel des 18. Jahrhunderts nicht aus (vgl. Arnold/ Schmidt 1978, 43). In einer Liste der ‚hundert lesenswerten Krimis‘ kommen allerdings weder Schillers 1.1 Ein spannendes und vielfältiges Genre 11 <?page no="12"?> noch Hoffmanns Erzählungen vor, ebenso fehlt Fontanes Unterm Birnbaum. Dafür finden sich ganze neun Titel von Sir Arthur Conan Doyle, aber nur zwei von Agatha Christie (vgl. Arnold/ Schmidt 1978, 403 ff.), die (wie eingangs festgestellt) mehr Kriminalromane verkauft hat als jede*r andere Krimiautor*in. Folgende Schlussfolgerung liegt nahe: Jede Auswahl in einer Einführung kann nur eine sehr subjektive sein. Bradford erwähnt Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre und E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (Bradford 2015, 70 f.), er betont sogar die wegweisenden Merkmale einer Psychologie des Verbrechens einerseits und der Entstehung der Figur einer Amateurdetektivin andererseits. Dennoch ist für ihn Edgar Allan Poes Figur Auguste Dupin der Prototyp des Detektivs, er ist sogar ‚Patriarch einer Nachkommenschaft von Holmes, Poirot, Miss Marple, Maigret‘ und den anderen bekannten Detektivfiguren (Bradford 2015, 7), und dies lediglich aufgrund eines Merkmals - der schlüssigen, auf Logik basierenden Detektion. Dieses Merkmal wird aber nur für die schematisch ablaufenden Detek‐ tiverzählungen gelten. Es wird zu einem Merkmal trivialer Literatur. Hoff‐ manns Das Fräulein von Scuderi konterkariert es bereits, bevor es entsteht, und dies nicht zufällig als Reaktion auf die Defizite des Rationalismus der Aufklärung. Auch spätere Autoren wie Wolf Haas mit seiner Figur des Detektivs Simon Brenner werden sich nicht daran halten. Sogar Poes Erzählung bekommt durch die Figur des Täters - einen Affen - eine sehr untypische Note (Bradford 2015, 9). Wie konnte es so weit kommen, weitgehend unwidersprochen Poe zum „,father‘ of the detective genre“ (Scaggs 2005, 7) zu erklären und ihn als Vater der rationalistischen Kriminalerzählung zu feiern? Auch darüber gibt Bradfords Einführung Auskunft, wenn er auf den Systematisierungsversuch von Tzvetan Todorov verweist (die von 1966 stammende Typologie des Kriminalromans ist auch abgedruckt in Vogt 1998, 208-215). Doch bereits mit der Feststellung „Der Kriminalroman hat seine Normen“ und mit der Zuordnung des Krimis zur „Massenliteratur“ (ebd., S. 209) markiert Todorov deutlich, dass er eine bestimmte Ausprägung dessen meint, was allgemein in der Literaturwissenschaft unter Krimi verstanden wird. Einige Systematisierungsversuche - Todorovs zählt zu den besonders populär gewordenen - haben das Bild eines Genres gezeichnet, das bei näherem Hinsehen deutlich an Kontur verliert. Einige wichtige Ansätze für mögliche Weiterungen gibt es bereits, etwa den Versuch, eine Geschichte der „Kriminalfallgeschichten“ an Beispielen aus den letzten vier Jahrhunderten 1. Einleitung 12 <?page no="13"?> zu schreiben (Košenina 2014). Mit der vorliegenden Einführung soll nun ein weiterer Versuch einer solchen Ausweitung des Blicks gewagt werden, und das hoffentlich, ohne den Fokus zu verlieren. 1.2 Vorgehensweise Die bisherigen Versuche der Genrebeschreibung zeigen, dass man der heterogenen Thematisierung von Verbrechen in der fiktionalen Prosa-Li‐ teratur (auf die sich so gut wie alle Genrebeschreibungen beschränken) eine Systematik aufgezwungen hat, die deutliche Limitierungen hat und nur funktioniert, wenn man sich auf einige wenige stereotype Merkmale konzentriert - die dann vor allem zu Merkmalen trivialer Literatur über Verbrechen werden. Von prototypischen, bereits in den Anfängen hybriden Beispielen ausgehend soll daher überlegt werden, welche Themen und Merkmale jeweils welche Geltung beanspruchen, um so zu einer stärker auf die literarische und filmische Praxis bezogenen Beschreibung des Genres zu gelangen. Dabei wird die Frage nicht unwichtig sein, welche Krimis aus welchen Gründen zu den herausragenden Beispielen ihres Genres gezählt werden können. Um beurteilen zu können, ob ein Text, ein Film oder eine Serie als besonders gelungen angesehen werden kann, sind aber zunächst die genre‐ spezifischen Merkmale zu ermitteln: Welche Diskurse von Gerechtigkeit werden so präsentiert, dass sie beispielsweise als (sozialgeschichtlich bzw. gegenwärtig) relevant angesehen werden können? Wie ist das Verhältnis der außertextuellen Auffassung von Gerechtigkeit und der poetischen Ge‐ rechtigkeit des Texts? Welche Rolle spielen Emotionen textintern wie textextern, also einerseits für das Verhalten der Figuren und andererseits für die Rezeptionssituation? In welcher Weise und aus welchen Gründen werden bestimmte Figuren oder Handlungen als ‚gut‘ oder ‚böse‘ markiert? Ob es sich bei Krimis um - nach einer Unterscheidung des Soziologen Niklas Luhmann - Kitsch, Kunsthandwerk oder Kunst handelt (Luhmann 1997, 300 ff.), lässt sich so zwar ermitteln, aber natürlich nicht verbindlich festschreiben. Erstens sind die Kriterien der Beurteilung historisch und kulturell variabel und zweitens ist es jeder und jedem selbst überlassen, was sie oder er aus welchen Gründen rezipiert. Allerdings kann es nieman‐ dem, die oder der sich für das Genre interessiert, schaden, sich darüber zu informieren, welche besonderen Qualitäten Krimis aus Sicht einer fachwis‐ 1.2 Vorgehensweise 13 <?page no="14"?> senschaftlichen Beurteilung haben oder eben nicht haben. Immerhin sind Bücher geistige Nahrung und der Nahrungsaufnahme sollte zumindest eine Einschätzung der Qualität des Essens und vielleicht sogar seiner Risiken und Nebenwirkungen vorausgehen. Ein wichtiges Ziel dieser Einführung ist es daher auch, den professionelleren Blick auf Krimis zu schulen, so dass die Leserinnen und Leser nach der Lektüre dieses Buches besser dazu in der Lage sind zu entscheiden, welche Krimis sich für sie persönlich lohnen - zur Unterhaltung wie zur Vermittlung etwa in der Schule. Bei aller Kritik an der bisherigen Systematik wird es schwierig sein, aus dem Stand eine neue Systematik zu entwickeln, die geeigneter ist als die alte, erst recht in einer Einführung. Daher soll die Grobstruktur die bisher üblichen Begriffe zwar zum Teil übernehmen, es soll in der Argumentation aber auch immer diskutiert werden, welche Limitierungen die Einordnung der jeweiligen Beispiele in eine solche ‚Schublade‘ hat. Der Begriff der ‚Erzählung‘ soll nicht nur literarische Texte, sondern auch Filme und Serienfolgen umfassen. Die Kriminalerzählungen sind die allgemeinste Kategorie - also ohne eines der Merkmale, die für die folgenden Kategoriebildungen zentral sind (und wohl am nächsten an der oft so genannten ‚Verbrechensliteratur‘). In den Detektiverzählungen steht, wenig überraschend, eine Detektivfigur im Mittelpunkt, allerdings kann dies ein Polizei- oder ein Privatdetektiv sein - oder beides. Oftmals werden dann beide, Privatdetektiv und Polizist, als antagonistische Ermittlerfiguren eingeführt - man denke an Inspector Lestrade in den Sherlock-Holmes-Er‐ zählungen und deren Adaptionen. Es gibt aber auch genügend Beispiele für Helferfiguren - so hat Detektiv Jim Rockford in den Rockford Files (Detektiv Rockford - Anruf genügt), 1974-80 gespielt von James Garner, einen Freund bei der Polizei. Ebenfalls kann ein Anwalt oder ein Richter oder ein Gerichtsmediziner Ermittler*in sein - solche Sonderfälle können hier nur erwähnt werden. Thriller ist zu einem Sammelbegriff geworden für alle Erzählungen, die vorrangig auf Handlungsspannung setzen - daher werden Eingrenzungen unvermeidlich sein. Auf den Sonderfall Spionageerzählungen soll an dem prototypischen Beispiel James Bond kurz eingegangen werden. Spione sind im Auftrag von Regierungen international handelnde Figuren, die Verbre‐ chen aufzuklären oder zu verhindern suchen oder auch selbst begehen. Komödien und Parodien nutzen Merkmale der genannten Subgenres, auch hier ist das Spektrum viel größer, als dies zu zeigen möglich sein wird. 1. Einleitung 14 <?page no="15"?> Es reicht von mit Humor erzählten Krimis über Genreparodien bis hin zu satirisch-kritischen Funktionalisierungen von Krimimerkmalen. Zu Serien müsste eigentlich (mindestens) eine eigene Einführung ge‐ schrieben werden. Sie sind außerordentlich populär und auch wenn sie seit der Etablierung von Streaming-Kanälen in den 2010er Jahren noch einmal mehr zu boomen scheinen, so haben sie schon viel früher ein breites Publikum angezogen. Dies betrifft sowohl Miniserien wie scheinbar endlose Fortsetzungen in Staffeln mit zahlreichen Folgen, etwa von 1972-77 die erfolgreichen The Streets of San Francisco (Die Straßen von San Francisco) mit 120 Folgen in fünf Staffeln; durch sie wurde Michael Douglas zum Star. Auch Beispiele aus Deutschland ließen sich hier nennen, so wurden von Der Kommissar mit Erik Ode in den Jahren 1968-75 immerhin 97 Folgen produziert. Der internationale Verkaufsschlager Derrick mit Horst Tappert in der Titelrolle brachte es sogar von 1974-98 auf 281 Folgen in 25 Staffeln. Die österreichische Serie Kottan ermittelt, die von 1976-84 in sechs Staffeln auf 19 Folgen kam, gilt als eine der besten deutschsprachigen Genreparodien. Nur angesprochen werden kann, dass es wichtige Überschneidungen zu anderen Genres und Gattungen gibt, etwa zum Drama und zur Lyrik. Das Spektrum reicht von hochkanonisierten Texten wie Heinrich von Kleists Gerichtsdrama und Komödie Der zerbrochne Krug (1828) oder populären Gerichtsdramen wie Hokuspokus von Curt Goetz (Urfassung 1828) mit den entsprechenden Verfilmungen bis hin zu Kriminalhandlungen auf der Bühne wie in dem wohl größten Bühnenerfolg aller Zeiten, Agatha Christies Mouse Trap (dt. Die Mausefalle), ein Stück, das seit dem Uraufführungsjahr 1952 bis zur durch das Corona-Virus bedingten Schließung der Theater 2020 täglich im Londoner West-End aufgeführt wurde. Auch in der Ballade finden sich oft Kriminalhandlungen. In Friedrich Schillers Die Kraniche des Ibykus (1797) beispielsweise geht es um die Ermordung des Dichters Ibykus (Ibykos) durch Räuber, die sich später selbst entlarven. Frank Wedekinds satirisches Gedicht Der Tantenmörder (1902) handelt von einem jungen Mann, der sich für den Mord an seiner Tante aus Habgier vor einem Gericht rechtfertigt, und in Erich Kästners Die Ballade vom Nachahmungstrieb (1931/ 32) wird aus Spiel Ernst, wenn ein Kind von anderen verurteilt und hingerichtet wird. Texte wie die beiden letztgenannten stehen in der Tradition der Moritat, einer Variante des Bänkelsangs, die vor allem im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit von fahrenden Sängern gepflegt wurde. Bertolt Brechts Dreigroschenoper (1928) handelt nicht nur von Verbrechern und 1.2 Vorgehensweise 15 <?page no="16"?> ihren Untaten; aus dem Drama stammt auch die berühmte Moritat von Mackie Messer, die von zahlreichen berühmten Sänger*innen adaptiert wurde (Louis Armstrong, Hildegard Knef, Frank Sinatra, Eartha Kitt, Robbie Williams u.v.m.). Auch innerhalb der fiktionalen Prosa-Literatur gibt es zahlreiche Über‐ schneidungen, als Beispiel sei nur auf das Horror-Genre hingewiesen. Horrorerzählungen und -filme haben in der Regel mit Straftaten zu tun, so handelt Stephen Kings Roman It (dt. Es) von 1986, ebenso wie seine nicht weniger populären Verfilmungen, von einem als Clown auftretenden Mons‐ ter, das Kinder ermordet. Der sage und schreibe bereits 22. Roman des Autors hat zugleich Fantasy-Elemente; anders als andere Horrorproduktionen wie etwa, um ein Filmbeispiel zu nennen, Alfred Hitchcocks Psycho von 1960. Darin geht es eigentlich um einen jungen Mann, der aus einem ödipalen Persönlichkeitskonflikt zum Mörder wird. Komödien wie Hot Fuzz (2007; Regie Edgar Wright) arbeiten mit Krimi-, Thriller- und Horrorelementen. Die Konzentration auf Prosaliteratur und Film (Spielfilme, Serien) und auf einige wenige Merkmale, die sich vor allem an der ‚Profession‘ - Ermittler oder Täter - der im Mittelpunkt stehenden Figur(en) orientieren, soll nicht als einziges, sondern als ein mögliches Raster verstanden werden, um die Hybridität und die Breite der Produktionen exemplarisch besser darstellen zu können. Die Notwendigkeit zu weiteren Beschränkungen liegt in der Natur der Sache einer solchen Einführung, etwa die Konzentration auf Texte der fiktionalen Literatur, auf fiktionale Filme und Serien fast ausschließlich deutsch- oder englischsprachiger Produktion. Eine Ab‐ grenzung zu (halb-)dokumentarischen Formaten (etwa Aktenzeichen XY ungelöst oder den CSI-Serien) kann ebenso wenig erfolgen wie eine grund‐ legende Diskussion darüber, was unter Film oder Serie zu verstehen ist. Als Film wird hier der Regelfall des Spiel- oder Fernsehfilms gesehen mit seiner durchschnittlichen Länge von 90 Minuten; unter Serie wird alles verstanden von der abgeschlossenen Miniserie bis zu über viele Staffeln gehenden Serienformaten mit mehr oder weniger abgeschlossenen Handlungen je Episode oder Staffel. Ein hier nur kurz zu erwähnendes Problem ist die Übersetzung oder Synchronisation von Kriminalerzählungen. Wohl wegen der vermuteten Trivialität des Genres lassen sich selbst bei den bekanntesten Werken Eingriffe beobachten, die philologisch nicht zu rechtfertigen sind. So stellt Monika Gripenberg zu einer Übersetzung von Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926; dt. üblicherweise Alibi) fest, dass in „der deutschen 1. Einleitung 16 <?page no="17"?> Ausgabe des Romans“ eine „etwa vier Seiten lange Konversation einfach weggelassen“ wurde, und fügt hinzu: „[…] bei den deutschen Ausgaben Agatha Christies scheint es leider ein gebräuchliches Vorgehen zu sein, alles zu streichen, was nicht zum unmittelbaren Verständnis der Handlung notwendig ist“ (Gripenberg 2005, 52 f.). Yaak Karsunke hat vergleichbare Verstümmelungen an den Übersetzungen der Romane Raymond Chandlers beobachtet (Karsunke 1978, 118). Bei englischsprachigen Texten und Filmen wird daher stets auf das Original zurückgegriffen. 1.3 Gratifikationen für Krimi-Leser*innen Lesezeit ist Lebenszeit, auch wenn sie nicht gewaltsam verkürzt wird. Von solchen gewaltsamen Verkürzungen handelt dieser Band Gott sei Dank nur in Theorie und Fiktion. Gibt es in der Realität überhaupt Fälle, in denen Bücher getötet haben? Umberto Ecos Roman Der Name der Rose (1980) schildert einen solchen Fall, dort ist es bekanntlich ein an den Seiten vergif‐ tetes Buch, das lesehungrige Mönche ihr Leben kostet. Der im Mittelalter spielende Kriminalfall - die augenzwinkernden Verweise auf Conan Doyles Figuren Sherlock Holmes und Doktor Watson sind offensichtlich - würde auch in die Reihe der zu behandelnden Bücher gehören, wenn genug Raum für alles wäre, was wichtig ist. Ebenso die Verfilmung von 1986, eine der überzeugenderen Literaturverfilmungen mit deutscher Beteiligung. Regie führte Jean-Jacques Annaud und die Hauptrolle spielte Ex-James-Bond Sean Connery. Das Beispiel zeigt, dass Tragik und Komik nah beieinander liegen: Aristoteles’ Buch über die Komödie ist es, das als verschollen gilt und aus dem die Mönche ihre verbotenen Lesefrüchte kosten. Dass das Buch mit der Bibliothek des Klosters verbrennt, ist ein wunderbarer Roman- und Film-Trick. So liefert Eco eine fiktionale Erklärung für das faktuale Fehlen eines der (vermutlich) einst realen Bücher, die grundlegend für unsere Kultur waren oder gewesen wären. Ecos metafiktionaler Roman zeigt deutlich: Fiktionen modellieren mögliche Wirklichkeiten. Es wird zu diskutieren sein, wie sie dies tun und weshalb. „Nichts entspannt so sehr wie Mord und Totschlag“, titelte der Tagesspiegel (Huber 2016). Die besondere Konjunktur des Genres erklärt Joachim Huber wie folgt: 1.3 Gratifikationen für Krimi-Leser*innen 17 <?page no="18"?> Das Publikum sucht über die Klammer aus Verbrechen und Entertainment ja seiner Alltagserschlaffung zu entkommen. Alltag, das ist zwar die gemeinhin gewollte Lebensform, gerne abgesichert über ein Kordon aus Versicherungen gegen das Nicht-Alltägliche, aber dieser Alltag hat eben seinen sehr niedrigen Thrill-Horizont. Da kommt der Fernsehkrimi gerade recht: Teilhabe und Teil‐ nahme an fremder Gefahr bis hin zum Mord, das Schlimmste, was passieren kann, sind Schweißausbruch und Angst vorm Gang in den Keller. Spannung wird Entspannung, Entspannung wird Spannung, das klingt nach Paradox und ist doch nur die Klammer, die Krimi und Krimifan umfasst. (ebd.) Antje Strubel kommt im Deutschlandfunk zu einem etwas anderen Befund: „Die Konjunktur von Krimis in einer Gesellschaft, heißt es, weise auf stei‐ gende soziale Spannungen hin“ (Strubel 2007). Bedeutet dies aber nun, dass Krimis das Animalische im Menschen verarbeiten helfen oder befördern, dass sie soziale Spannungen reduzieren oder verstärken? Wenn Strubel, die selbst Schriftstellerin ist, die Lektüre des von ihr besprochenen Bandes mit Kriminalerzählungen von Håkan Nesser als „Zeitverschwendung“ abtut (ebd.), dann wird offensichtlich, dass sie andere Maßstäbe an die Lektüre anlegt als jene nach Entspannung suchenden Rezipient*innen. Nicht zu vergessen ist, dass Krimis Waren sind. Es ist daher kein Zufall, dass sich etwa auch das Börsenblatt des deutschen Buchhandels mit der Frage der Krimi-Konjunktur beschäftigt hat. Michael Roesler-Graichen nennt Zahlen aus dem Jahr 2011, an denen sich grundsätzlich wenig geändert haben dürfte: Spannungsliteratur hat Konjunktur: mehr als ein Viertel der gesamten Belletris‐ tikproduktion der deutschen Verlage sind Krimis, Thriller oder Mischformen, die auch Elemente aus Science-Fiction und Fantasy enthalten können. Die Tendenz ist insgesamt gleichbleibend, auch wenn es laut ‚Buch und Buchhandel in Zahlen‘ für das vergangene Jahr einen leichten prozentualen Rückgang zu verzeichnen gibt (2010: 27 Prozent; 2009: 28,3 Prozent). […] Während die Zahl der Novitäten auf hohem Niveau bleibt, wird das Spektrum der Krimireihen breiter und die Genredifferenzierung immer größer. Beispiele sind die neue Reihe Polaris von Rowohlt, die Internationalisierung des Regionalkrimis (Luxemburg, Bretagne, Mallorca etc.) und die immer ausgefallenere Spezialisierung (Wein-, Kaffeehaus-, Schrebergarten-, Wilhelm-Busch-, Gänse-Krimi). (Roesler-Graichen 2011) Es gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Wenn sich Krimis nicht so gut verkaufen würden, gäbe es viel weniger davon. Die genannten Subgenres 1. Einleitung 18 <?page no="19"?> deuten an, dass Gewalt dabei nicht nur auf Menschen beschränkt bleibt. Zu den besonders originellen Beispielen gehören die millionenfach verkauften Schafskrimis (Glenkill. Ein Schafskrimi, 2005; Garou. Ein Schaf-Thriller, 2010) und der Papageienkrimi (Gray, 2017) von Leonie Swann, einer in Dachau geborenen Autorin, die unter Pseudonym schreibt. Umso dringender gestaltet sich nach der Frage, was ein Krimi überhaupt ist oder sein kann, die Frage, welche Gratifikationen Krimis bereitstellen, um so erfolgreich sein zu können. Die in den letzten Jahrzehnten boomenden Regionalkrimis beispielsweise punkten mit ihrem Bezug zu einem Ort oder einer Landschaft, wobei das Bedürfnis nach Identifikation mit einer Herkunftsregion ebenso eine Rolle spielen dürfte wie das nach lokalen Sensationen, auch wenn sie nur fiktiv sind. Besonders bekannte Orte und Landschaften bieten darüber hinaus Leser*innen Anknüpfungspunkte, die diese Gegenden vielleicht nur von Urlauben kennen. Allein die Topographie sorgt für eine erhöhte Aufmerksamkeit, vergleichbar etwa mit der früher so populären Heimatliteratur. Wenn nachfolgend bestimmte Erzähltexte, Filme und Serienfolgen aus‐ gewählt werden und der Vorschlag gemacht wird, die Geschichte der mo‐ dernen Kriminalliteratur bereits im 18. Jahrhundert und hier vor allem mit Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre und Der Geisterseher zu beginnen, dann wird dies bei einem so populären und bekannten Genre vielleicht bei einigen zögerliche Zustimmung, bei anderen aber prinzipiellen Protest hervorrufen. Nun kann ein solches Büchlein - wie jede Publikation - nur ein Diskursbeitrag sein, der im besten Falle weitere Diskursbeiträge provoziert. Wenn diese Einführung Interesse genug wecken sollte, dass das für die Produktion und Rezeption von Literatur und Film zentrale Genre weniger stiefmütterlich behandelt wird, dann ist schon viel gewonnen. ***** Mein Dank gebührt allen, die mit mir über das Thema diskutiert und mir Anregungen gegeben haben, dazu zählen Helga Arend, Renate Giacomuzzi, Klaus Kanzog, Nicole Mattern, Kirsten Reimers, Helmut Schmiedt und andere, die bitte nicht böse sind, wenn sie hier nicht namentlich genannt werden. Außerdem danke ich Kathrin Heyng von der Verlagsgruppe Narr Francke Attempto sehr herzlich für Ihre Unterstützung von Anfang an und für die wie stets umsichtige und freundliche Betreuung des Projekts. 1.3 Gratifikationen für Krimi-Leser*innen 19 <?page no="20"?> Fragen zu diesem Kapitel: Weshalb ist der Krimi ein so populäres Genre? Welches sind die wichtigsten Merkmale eines Krimis? Weshalb ist es ein Problem, die Geschichte des Genres mit Poes Erzählung über die Morde in der Rue Morgue beginnen zu lassen? Wie lässt sich der Krimi unterteilen? Weshalb sind Abgrenzungen zwischen Genrebezeichnungen mit Kri‐ minalhandlung schwierig? Inwiefern ist die Bewertung von Kriminalerzählungen historisch und kulturell variabel? Welche Überschneidungen gibt es zu Drama und Lyrik? Welche Überschneidungen gibt es zu anderen Genres? 1. Einleitung 20 <?page no="21"?> 2. Merkmale 2.1 Was ist ein ‚Krimi‘? Es gibt, wie wir noch sehen werden, viele Genredefinitionen und ver‐ schiedene Begriffe, die hier unter ‚Krimi‘ als Oberbegriff zusammengefasst werden sollen. So finden sich etwa im Reallexikon der deutschen Literatur‐ wissenschaft unter der Überschrift „Kriminalroman“ Unterkategorien wie „Detektivgeschichte“ und „Thriller“ (Wörtche 2007, 342). Das Lemma ‚Krimi‐ nalroman‘ wurde gewählt, obwohl der Autor des Artikels zugesteht: „Einen konsensfähigen Begriff des Kriminalromans gibt es nicht“ (Wörtche 2007, 343). Das ältere Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte verwendet dagegen „Kriminalgeschichte“ als strukturbildenden Begriff und erläutert, es handele sich um „eine Sammelbezeichnung für erzählende Werke, in deren Mittelpunkt Verbrechen und Verbrecher und deren gerichtliche Verfolgung und Bestrafung stehen“ (Frenzel 1984, 895). Dieser Begriff kursiert immerhin bereits, wie Edgar Marsch gezeigt hat, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Marsch 1983, 7). Richard Alewyn stellt in seinem einflussreichen Beitrag zum Thema fest, „Krimi“ sei nur die „Koseform“ für „Kriminalroman“ und es komme oft zu einer Verwechslung mit dem „Detektivroman“, den er nun seinerseits in den Mittelpunkt rückt (Alewyn 1998, 52). Die einschlägigen Definitionen konzentrieren sich auf Prosa und vor allem auf den Roman. Was aber ist mit anderen Gattungen der Prosa (unabhängig von Dramen und Balladen, auf die hier nicht eingegangen werden kann), in denen Verbrechen geschildert werden, also beispielsweise mit Märchen? Volker Ladenthin hat, mit jedem Recht, eine Anthologie der „Märchen von Mördern und Meisterdieben“ erstellt (Ladenthin 1992) - wären das keine Krimis? Und wie ist es mit jenen Texten, die das Verbrechen, aber nicht die polizeiliche oder gerichtliche Verfolgung schildern und in denen vielleicht sogar keine Bestraftung des Täters erfolgt? Das ältere Reallexikon sieht die vorgestellte Genredefinition der Kriminalgeschichte jedenfalls als „weitmaschig“ an (Frenzel 1984, 895). Peter Nusser wählt für seine grundlegende Einführung zunächst eine Unterscheidung in Verbrechens- und Kriminalliteratur (Nusser 2009, 1). Wenn die Verbrechensliteratur „nach den Motivationen des Verbrechers“ <?page no="22"?> fragt und die Kriminalliteratur die „Anstrengungen, die zur Aufdeckung des Verbrechens und zur Überführung und Bestrafung des Täters notwendig sind“, in den Mittelpunkt stellt (ebd.), dann wird man bei der Suche nach Beispielen feststellen, dass sich auch die Kriminalliteratur in der Regel für die „Motivationen des Verbrechers“ interessiert, eben um ihm auf die Spur zu kommen. Wie würde man beispielsweise eine der erfolgreichsten Krimiserien aller Zeiten einordnen - Columbo mit Peter Falk. Die legen‐ däre US-amerikanische Serie wurde in den USA von 1968 bis 1978 und dann wieder von 1989 bis 2003 in insgesamt 69 spielfilmlangen Folgen ausgestrahlt. Als Vorbild für die Filmfigur gilt eine literarische Figur: der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch aus Fjodor Dostojewskijss Roman Schuld und Sühne (1866). Lieutenant (Inspektor) Columbo, der für die Mordkommission des Los Angeles Police Department arbeitet, wird in jeder Folge mit einem Mordfall konfrontiert, bei dem ihm sehr bald klar wird, wer der Täter ist. Seine Auf‐ gabe ist es nun, die Tat auch zu beweisen - dafür beschäftigt er sich intensiv mit dem Motiv des Täters und dem Hintergrund der Tat. Die Rollen der Täter*innen wurden oft prominent besetzt, u. a. mit Faye Dunaway, Martin Landau, Janet Leigh, Vera Miles, Leonard Nimoy, Donald Pleasence, Vincent Price oder Robert Vaughn. Zu Mördern wurden auch Sympathieträger wie der Sänger Johnny Cash oder der frühe Musicalstar (Mary Poppins; 1964) und spätere Krimi-Ermittler Dick van Dyke (Diagnosis Murder, dt. Diagnose: Mord; 1993 bis 2001 in 178 Folgen). Dies nur als Beispiel für die Schwierigkeiten, denen man sich ausgesetzt sieht, wenn man sich mit Begriffsdefinitionen des Krimis beschäftigt, auch wenn Definitionen ja eigentlich in der Lage sein sollten, halt- und überprüf‐ bare Kurzcharakterisierungen zu liefern. Wer Interesse an der bisherigen ‚idealtypischen‘ (Nusser 2009, 2) Begriffs‐ bildung hat, der sei auf die älteren gängigen Einführungen verwiesen. Wer jedoch das Unbehagen über die geringe Trefferquote solcher Definitionen nachvollziehen kann, der möge mit auf die Reise gehen, den Krimi weniger aus Definitionen abzuleiten und stattdessen mehr auf die konzeptionellen Hintergründe und auf die Realisierungen in Literatur, Film und Serie zu achten - um zu einem (hoffentlich) ganzheitlicheren Verständnis des Genres zu gelangen. Es gibt einige wenige grundlegende Merkmale des Krimis, die sich in einer Minimaldefinition so zusammenfassen lassen: 2. Merkmale 22 <?page no="23"?> Ein Krimi handelt von einer im Rahmen der für die fiktionale Realität geltenden Normen strafbaren Tat (oder von mehreren solcher Taten), um die herum Figuren und Handlung organisiert sind, und von deren Aufdeckung mit Hilfe von Indizien (‚clues‘), erschwert durch falsche Fährten (,red herrings‘). Zentral für den Krimi ist Spannung, vor allem Handlungs- und Rätselspannung, die auf die Frage nach dem Täter, nach den Motiven oder nach den Folgen der Tat zielen kann. Die Bedeutung der (Handlungs-)Spannung und der Indizien bei der Aufklärung des Falles hat beispielsweise bereits der Philosoph Ernst Bloch hervorgehoben (Bloch 1998, 41). Oft falle, so stellt er weiter fest, der Krimi „mit der Leiche ins Haus“ (Bloch 1998, 45). Die Leiche könne aber auch etwas „anderes“ sein. Bloch verweist beispielsweise auf Heinrich von Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug (1808), in dem es neben der Frage, wer den Krug zerbrochen hat, vor allem darum geht, wer die junge Eve nachts besucht und damit ihre Jungfräulichkeit bedroht hat. Dennoch dürfte, außer in der Kinder- und Jugendliteratur (hier ist es, wie in Erich Kästners Emil und die Detektive von 1929, eher der Diebstahl), der Mord den Regelfall darstellen. Die Figuren, die im Mittelpunkt stehen, sind Opfer und (Straf-)Täter und solche, die die Täter verfolgen. Dabei handelt es sich vor allem um Polizist*innen oder (Privat-)Detektiv*innen, aber auch um Anwält*innen, an der Verbrechensaufklärung interessierte Bürger*innen oder Zeug*innen des Verbrechens, ebenso auf anderem Wege am Geschehen Beteiligte - wobei die Rollen wechseln und beispielsweise Ermittler*innen oder auch Täter*innen zu Opfern werden können. Breiten Raum der Handlung nimmt die Schilderung oder die Erörterung des Verbrechens bzw. der Verbrechen ein. Zum üblichen Spannungsaufbau des Detektivromans hat beispielsweise Richard Alewyn festgestellt: „Die zentrale Frage im Detektivroman ist die Frage: Wer ist der Täter? Oder: Whodunit? , wie der englische Slang die Gattung treffend bezeichnet“ (Ale‐ wyn 1998, 57). Auf der Suche nach den Täter*innen kommen dann die Indizien oder ‚clues‘ ins Spiel (Alewyn 1998, 61), dies betont auch den rätsellösenden Spielcharakter der Gattung. Nicht zufällig gibt es seit 1948 ein populäres Brettspiel namens Cluedo, bei dem ein Mordfall aufgeklärt werden muss. Denn es gilt: „Die Kunst der Detektion besteht darin, Clues zu sehen und zu lesen“ (Alewyn 1998, 62). 2.1 Was ist ein ‚Krimi‘? 23 <?page no="24"?> Zu fragen ist, was mit einer Kategorie „Verbrechensliteratur“ gewonnen ist. Welcher Krimi handelt nicht von Verbrechen, welche/ r Polizist*in oder welche/ r (Hobby-)Detektiv*in untersucht es nicht, welche Gerichts‐ verhandlung dreht sich nicht genau darum, welche Verfolgungsjagden im Thriller haben es nicht zum Anlass oder zur Wirkung? So handelt zwar der US-amerikanische Spielfilm Bonnie und Clyde von 1967 (Regie: Arthur Penn; mit Faye Dunaway und Warren Beatty) wie andere Verfilmungen dieser ‚wahren Geschichte‘ von einem Pärchen, das raubend und mordend Anfang der 1930er Jahre durch den Süden der Vereinigten Staaten zieht. Abgesehen davon, dass die „Motivationen des Verbrechers“ (Nusser 2009, 1) in den Verfilmungen ganz unterschiedlich beleuchtet werden, ist diese eine Verfilmung wohl vor allem deshalb so bekannt, weil sie das Verbrechen als Road Movie inszeniert und an der Verfassung einer von der Jugend als erstarrt und einengend empfundenen Gesellschaft der späten 1960er Jahre starke Zweifel anmeldet. Gattungsunterscheidungen wie jene zwischen Detektivgeschichte und Thriller sind selbst zum Stereotyp geronnen: „Dominiere die Zukunftsspan‐ nung in ‚Thrillern‘, so die Geheimnis- oder Rätselspannung im Detektivro‐ man, der darin dem ‚analytischen Drama‘ gleiche“ (Anz 1998, 157; vgl. u. a. auch Wörtche 2007, 342). Wenn allerdings Gattungsdefinitionen und -unterscheidungen davon abhängig gemacht werden, ob die Handlung auf die Rekonstruktion eines Geschehens in der Vergangenheit oder auf ein Geschehen in der Zukunft gerichtet ist, dann wird vernachlässigt, dass selbst die eine Rekonstruktion unternehmende Handlung eine auf die Zukunft gerichtete sein muss, weil es ja darum geht, eine*n Täter*in dingfest zu machen - dies ist nicht selten mit Momenten der Gefahr oder sogar weiteren kriminellen Handlungen bis hin zum Mord verbunden. Ähnlich schwierig ist die Abgrenzung von Thriller und Spionageroman. Nusser ordnet letzteren zwar ersterem unter: „Der Spionageroman ist thematisch, aber nicht strukturell von anderen Erscheinungsformen des Thrillers unterschieden“ (Nusser 2009, 116). Es gebe eine „wesentliche thematische Variation“ in der Behandlung von „politischen Strukturen und Machtverhältnissen, die der Leser normalerweise nicht durchschaut“ (Nus‐ ser 2009, 117). Beim paradigmatischen Beispiel des Genres - Ian Flemings Fi‐ gur James Bond - sind die Strukturen und Machtverhältnisse eigentlich nur am Anfang unklar und es dauert nicht lange, bis ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen James Bond und seinem Gegenspieler beginnt, der sich auch gern von Auftragskillern und vergleichbar ‚gewöhnlichen‘ Verbrechern helfen 2. Merkmale 24 <?page no="25"?> lässt. Dabei fällt auf, dass die Rolle des Gegenspielers oft prominent mit Schauspielern besetzt ist, die durch frühere Rollen bekannte Sympathieträ‐ ger sind, in jüngerer Zeit etwa mit Oscar-Preisträger Christoph Waltz, so dass ein reines Gut-Böse-Schema nur noch für jene funktioniert, die das Spielerische und Ironische des Konzepts ignorieren. Abgesehen davon, dass die Grenzziehung zwischen Politik und Verbre‐ chen bei vielen Krimis nicht funktioniert, gibt es auch genügend Beispiele für eine Mischung von Ermittlern und Spionen, selbst in Vorabendkrimis wie SOKO Wien. Die Folge Im Paradies (Staffel 11, Folge 7) von 2019 handelt von zwei Morden, die an einem Ort geschehen, an dem die Regierung alten Spion*innen die Möglichkeit gegeben hat, ihren ‚Ruhestand‘ zu verbringen. Der erste Mord geht dann auch auf einen früheren Einsatz zweier Spion*in‐ nen zurück und der zweite Mord dient der Sühne des ersten, denn die wichtigste Regel des Zusammenlebens lautet, die Leichen im Keller ruhen zu lassen. Dazu kommt noch die eher zufällige Ergreifung eines Wiener Unterweltbosses, so dass auch die organisierte Kriminalität in dieser Folge eine wichtige Rolle spielt. Entgegen gängigen Definitionen des Krimis könnte man generell statt von einer Gattung von einer thematischen Ausrichtung oder von einer Schreibweise sprechen. Mord und Totschlag sind schon immer gängige Bestandteile der Handlung von Texten gewesen, bereits die Literatur der griechischen und römischen Antike bietet zahlreiche Beispiele, man denke nur an Homers Odyssee. Christof Hamann beginnt seine Zusammenstellung der bedeutendsten Texte der Kriminalliteratur aller Zeiten und Kulturen mit Sophokles’König Oidipus (Hamann 2016, 33). Es gibt zahllose Dramen, die von Verbrechen handeln, auch in der deutschsprachigen Literatur, man denke etwa an Bertolt Brechts Dreigroschenoper von 1928, die wiederum den Stoff von John Gays The Beggar’s Opera von 1728 verwendet. Verbrechen ist, so kann ein Zwischenfazit lauten, auch dann grenzenlos, wenn es um Genretraditionen geht. Hierzu noch ein frühes bedeutendes Beispiel. Zu den einflussreichsten Textsammlungen der Literaturgeschichte der Welt gehört Tausendundeine Nacht (Alf laila wa-laila) mit Wurzeln in Indien und den arabischen Ländern, sie setzt bereits in der Rahmenhandlung mit Mord und Totschlag ein. Ein genauerer Blick würde zeigen, dass hier zum Teil sehr andere Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit vorausgesetzt werden. Den Anfang des Zyklus von Tausendundeine Nacht etwa bildet Die Erzählung von König Schehrijar 2.1 Was ist ein ‚Krimi‘? 25 <?page no="26"?> und seinem Bruder. Der gehörnte König Schehrijar nimmt, wie bereits sein Bruder vor ihm, blutige Rache an seiner Ehefrau - und nicht nur an ihr: Der aber ging in sein Schloß und schlug seiner Gemahlin und den Sklavinnen und Sklaven den Kopf ab. Und von nun an nahm König Schehrijar jede Nacht eine Jungfrau zu sich; der nahm er die Mädchenschaft, und dann tötete er sie, um seiner Ehre gewiß zu sein, und so trieb er es drei Jahre lang. Da geriet das Volk in Aufruhr und flüchtete mit den Töchtern, bis keine mannbare Jungfrau mehr in der Stadt war. (Zit. nach Neuhaus 2017c, 57) Bekanntlich ist es Schehrezad, die buchstäblich um ihr Leben (und das ihrer Schwester) erzählt und den König durch ihre Erzählungen nicht nur zu besänftigen, sondern zudem als Ehemann zu gewinnen weiß. Auch das Nibelungenlied, ein Epos (also ein Langgedicht), in mittelhochdeutscher Sprache tradiert, handelt von Mord und Totschlag, ebenso der Bänkelsang - Lieder, die von fahrenden Sängern etwa auf Märkten gegen Entgelt vorgetragen wurden und die grausame Geschehen farbenfroh ausmalten, von denen (es gab noch keine Zeitungen) die Zuhörer*innen annahmen, dass zumindest die zugrunde liegende Handlung in der Realität stattgefunden hatte. Wenn wir wieder zur Prosa wechseln und in der Hochliteratur bleiben, dann sind auch Franz Kafkas Roman Der Prozeß (1925) und seine Erzählung In der Strafkolonie (1919) zur Kriminalliteratur zu zählen, denn beide handeln von Verbrechen und ihrer Bestrafung - so unklar die Art der Verbrechen und die Motivation der Bestrafung auch sein mögen. Nun hilft es bei einer Genrebeschreibung wenig, alles zur Disposition zu stellen. Auch wenn man die Geschichte eines Genres neu schreiben möchte, sollte man von dem ausgehen, was man vorfindet. Aber für ein kritisches Verständnis jedes Genres ist es unabdingbar, zumindest zu überlegen, seit wann und weshalb sich jene Strukturen herauspräpariert haben, die es überhaupt erst ermöglichen, von einem Genre zu sprechen. Was wir unter Krimi verstehen oder unter einem der anderen gängigen Begriffe, ist ein Produkt vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, allerdings nicht erst des „späten 19. Jh.“ (Wörtche 2007, 342). Der Übergang vom christ‐ lichen zum naturwissenschaftlichen Weltbild, die Entstehung von Indivi‐ dualität und somit des modernen Subjekts (gefördert durch die Verbreitung von Bildung und Wohlstand), die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die Entstehung einer Literaturgeschichtsschreibung sind Voraussetzungen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. 2. Merkmale 26 <?page no="27"?> Alle Gattungen der Moderne sind Produkte des 18.-20. Jahrhunderts. Selbst die aus der Antike stammenden Begriffe wie Tragödie und Komödie wurden immer wieder neu gefasst und an die jeweiligen theoretischen wie praktischen Referenzrahmen angepasst. Bestenfalls können historische Gat‐ tungen vergleichsweise genau beschrieben werden (etwa der Minnesang), weil es sie seit Beginn der Moderne nicht mehr gibt. Die seit Beginn der Moderne im 18. Jahrhundert geänderte Literaturauf‐ fassung führt aber auch dazu, dass im Literaturbetrieb angesehene Texte immer etwas Neues bieten müssen, schließlich lassen sie sich - nach dem autonom-ästhetischen Paradigma von Literatur als Kunst - nur noch aus sich selbst heraus erklären (Luhmann 1997, z. B. 75). Hans-Dieter Gelfert bringt es in seiner Studie Was ist gute Literatur? auf die einfache Formel des ‚Prinzips der Abweichung‘: „Das heißt, das Kunstwerk muss uns mit etwas konfrontieren, das von der erwarteten Normalität abweicht“ (Gelfert 2006, 46). 2.2 Gängige Strukturen, Themen und Motive des Krimis Im Mittelpunkt eines Krimis stehen Verbrechen und der Versuch ihrer Aufklärung (natürlich kann es auch nur ein Verbrechen sein, oft sind es aber mehrere) mit Hilfe von Indizien. Auf die Genealogie und Bedeutung des Wortes Verbrechen weist etwa das Grimmsche Wörterbuch hin: „die alte sinnliche bedeutung zerstücken, verstümmeln ist in der schriftsprache nicht erhalten, sondern durch die zusammensetzung mit zer verdrängt; nur in den mundarten, in welchen die zusammensetzung mit zer unüblich ist“. Eingebürgert hat es sich, unter Verbrechen eine „rechtverletzende handlung, mit der nebenbedeutung der absichtlichen“, zu verstehen (Grimm 2019). Was jeweils unter einem Verbrechen als ‚rechtsverletzender Handlung‘ zu verstehen ist, hängt von den entsprechenden Gesetzen einer Zeit und in einer Gesellschaft ab und kann strittig sein, wie etwa die zahlreichen Krimis zeigen, die Gerichtsverhandlungen zum Gegenstand haben. Protagonist*innen der Handlung sind demnach vor allem Verbrecher- und Ermittlerfiguren, dazu kommen Helferfiguren auf beiden Seiten. Je nach Handlung können eher bereits geschehene oder zu erwartende Verbrechen im Mittelpunkt stehen. Oft wird zunächst die Vorgeschichte eines Verbrechens geschildert. Handlungen, Motive und Symbole dienen in dem Fall als Vorausdeutungen auf das kommende Geschehen und werden 2.2 Gängige Strukturen, Themen und Motive des Krimis 27 <?page no="28"?> später Teil der Ermittlung. Spannung wird auch dadurch erzeugt, dass das Verbrechen einerseits motiviert, andererseits aber durch falsche Fährten (‚red herrings‘) und irreführende Hinweise in seiner Motivierung verunklart wird. Auf die Spitze getrieben wird die Konzentration auf Indizien- und Täter*innensuche mit dem ‚locked-room-mystery‘, mit dem Geheimnis des verschlossenen Raums (vgl. Alewyn 1998, 71), wie es sich in der als Muster des Genres angesehenen Erzählung Edgar Allan Poes findet, The Murders in The Rue Morgue (1841). Die Voraussetzungen der Entwicklung eines solchen Genres im 18. Jahr‐ hundert werden in der Regel mit Begriffen wie Aufklärung und dem bereits verwendeten Begriff Moderne bezeichnet und mit der Ablösung des christlichen Weltbildes durch das naturwissenschaftliche sowie mit der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit in Verbindung gebracht. So hat Bertolt Brecht mit Blick auf den Kriminalroman von der „Annä‐ herung an den wissenschaftlichen Standpunkt“ gesprochen (Brecht 1998, 34). Im 18. Jahrhundert verändern sich die ursprünglich noch weitgehend verbindlichen, wenn auch (etwa durch Ereignisse wie den 30-jährigen Krieg) bereits erschütterten Eckpfeiler zentraleuropäischen Lebens, dies betrifft sowohl die Abhängigkeit des Individuums von religiösen wie weltlichen Rahmensetzungen. Die Stellung des Individuums innerhalb einer Ständepy‐ ramide, in die es hineingeboren wurde, hat weitgehend ausgedient. Das Bürgertum entsteht und mit ihm ein neues Konzept von Individualität, das durch eine auf gesellschaftlichen Fortschritt orientierte Bildung, für die Vernunft und Tugend zentrale Begriffe sind, nun als neues Paradigma die größtmögliche Freiheit des Individuums setzt. Nun erst kann ein Konzept „individueller Schuld“ (Luhmann 2016, 51) entstehen. Zugleich entfällt ein Anspruch auf ‚höhere‘ Gerechtigkeit, sofern die Individuen nicht weiterhin Religionen oder Ideologien vertrauen, auch wenn die Spuren solcher Konzepte bis in die normativen Ordnungen der Realität wie der Literatur weiterwirken. Die gewonnene individuelle Freiheit hat Folgen, die nicht immer absehbar sind: „Auch beste Absichten können üble Folgen haben und auch ein einwandfrei geführtes Leben kann miserabel enden“ (Luhmann 2016, 95). Es kommt in der Moderne zu einer „doppeldeutige[n] Konstellation“: Das Subjekt ist einerseits „dasjenige, das unterworfen ist, das bestimmten Regeln unterliegt und sich ihnen unterwirft“, und es wird andererseits „zu einer vorgeblich autonomen, selbstinteressierten, sich selbst verwirklichenden Instanz“ (Reckwitz 2010, 14). Das „hybride Subjekt“ (Reckwitz 2006) wird 2. Merkmale 28 <?page no="29"?> also krisenhaft geboren. Die neuen Gestaltungsspielräume implizieren Ge‐ fahren, gerade in einer nun immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft: „Diese immanenten Heterogenitäten und Fissuren machen die [post-]mo‐ dernen Subjektformen instabil und lassen sie potentiell als mangelhaft erlebbar werden: die Muster gelungener Subjekthaftigkeit enthalten damit sogleich spezifische Muster des Scheiterns der Identität“ (Reckwitz 2006, 19). In einer solchermaßen veränderten Welt wird das, was wir unter Verbre‐ chen verstehen, daher überhaupt erst möglich. Die Polizei beispielsweise, wie wir sie kennen, ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Der Wechsel vom christlichen zum naturwissenschaftlichen Weltbild, vom ausgehenden Mittelalter zur Aufklärung macht ein ganz neues Regelsystem notwendig: Dieser Wille zur Wahrheit [den die Naturwissenschaften scheinbar kultivieren und so die Aufklärung vorantreiben] stützt sich, ebenso wie die übrigen Aus‐ schließungssysteme, auf eine institutionelle Basis; er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie vor allem natür‐ lich der Pädagogik, dem System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften einstmals und den Laboratorien heute. Gründlicher noch abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird. (Foucault 2000, 15) Michel Foucault hat eine Geschichte des ‚Überwachens und Strafens‘ ge‐ schrieben (Foucault 1994). Im Mittelalter war ein Verbrechen das, was als Handlung nicht nur jemanden individuell oder eine Gruppe schädigte, sondern durch den Verstoß gegen die als göttlich angesehene Ordnung und ihre Vertreter direkt Gott beleidigte: „Das Verbrechen greift über sein unmittelbares Opfer hinaus den Souverän an; es greift ihn persönlich an, da das Gesetz als Wille des Souveräns gilt; es greift ihn physisch an, da die Kraft des Gesetzes die Kraft des Fürsten ist“ (Foucault 1994, 63). Und der hat seine Legitimation von Gott. So erklärt sich die „peinliche Strafe“ (Foucault 1994, 46) als „Teil eines Rituals“ (Foucault 1994, 47), mit dem es, als Teil der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung, auch „um die Rettung der Seele“ ging (Foucault 1994, 61). Deshalb sind die Verfahren damals andere als heute. Bereits ein Verdacht konnte eine aus heutiger Sicht unheimliche Evidenz haben: „Die Beweisführung bei Gericht gehorchte also nicht dem dualistischen System wahr/ falsch, sondern einem Prinzip der stetigen Abstufung: eine bestimmte 2.2 Gängige Strukturen, Themen und Motive des Krimis 29 <?page no="30"?> Stufe der Beweisführung bildete bereits eine Schuldstufe und hatte darum eine bestimmte Strafstufe zur Folge“ (Foucault 1994, 57). Mit der Aufklärung entsteht ein individualitätsbasiertes Konzept von Humanität, das auch dazu führt, dass das frühere Strafsystem nicht mehr ‚verstanden‘ wird. Foucault stellt wohl auch deshalb etwas ironisch fest, dass „man die Strafen, die sich ihrer ‚Gräßlichkeit‘ nicht schämten, durch solche“ ersetzte, „die sich ihrer ‚Menschlichkeit‘ rühmten“ (Foucault 1994, 75). Oder noch schärfer: „Die ‚Aufklärung‘, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden“ (Foucault 1994, 285). Es lassen sich also nicht nur Brüche, sondern auch Kontinuitäten feststellen, ebenso in der Tradierung religiöser Muster. Im deutschsprachigen Raum wirkt das christliche Weltbild sogar in der feudalen politischen Ordnung weiter. Noch 1813 ist „Mit Gott für König und Vaterland“ die Devise des von Friedrich Wilhelm III. von Preußen gestifteten Landwehrkreuzes. Dennoch verändert sich die Machtverteilung immer mehr von der ho‐ rizontalen auf die vertikale Ebene. Um unter solchen Umständen noch eine funktionierende Gesellschaftsordnung gewährleisten zu können, muss ein immer ausgeklügelteres System implementiert werden, in dessen Zentrum die Selbstdisziplinierung des Subjekts oder Individuums steht. Foucault nennt dies „eine neue ‚politische Ökonomie‘ der Strafgewalt“ (Foucault 1994, 103). Zum Modell wird das von Jeremy Bentham erdachte Panoptikum, das „die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen“ zur Folge hat (Foucault 1994, 258). Die Gefängniszellen sind kreisförmig um einen Turm herum organisiert, aus dem heraus in die Zellen gesehen werden kann - aber nicht umgekehrt. Die Strafgefangenen können also nie sicher sein, wann sie überwacht werden. Das Panoptikum wird zum Modell der neuen, individualisierten Gesellschaft: Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung. (Foucault 1994, 260) Das Panoptikum wird zum „Ei des Kolumbus im Bereich der Politik“, denn es „kann sich wirklich in jede Funktion integrieren (Erziehung, Heilung, Produktion, Bestrafung)“ (Foucault 1994, 265). In einer solchen „Disziplinargesellschaft“ (Foucault 1994, 269) gibt es erstens keinen „Raum des Privaten“ (Hamann 2016, 29), der es erlauben würde, eine Grenze zum Politischen zu ziehen, und zweitens sind auch Krimis Teil der Ökonomie der 2. Merkmale 30 <?page no="31"?> Selbstdisziplinierung, etwa indem sie den Leser*innen vor Augen führen, welche Konsequenzen bei Straftaten drohen, oder indem sie ihnen ein Ventil bieten, Figuren ihre Aggressionen stellvertretend ausleben zu lassen, also ihre Impulskontrolle in der Realität stärken. Als problematisch werden daher immer wieder Produktionen gesehen, denen etwa das Potenzial zuge‐ schrieben wird, gewaltstimulierend zu wirken - dies wäre der gegenteilige Effekt. Andererseits zeichnet es gerade die im Kulturbetrieb besonders wertgeschätzten Krimis aus, dass sie Aspekte der Disziplinargesellschaft für die Leser*innen transparent machen und so dabei helfen, die skizzierten Mechanismen kritisch zu hinterfragen, sofern sie einer ‚Unterwerfung‘ des Subjekts dienen. Ein Beispiel für eine relativ einfache, auf der Ebene der histoire angesie‐ delte Kritik wären Krimis, die Missstände in Gefängnissen thematisieren; eine ebenfalls Ende des 18. Jahrhunderts erst in der Form entstehende Einrichtung, der bereits Foucault ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellt: „Das Gefängnis kann gar nicht anders, als Delinquenten zu fabrizieren“ (Foucault 1994, 342). Er sensibilisiert insbesondere für den Effekt der neuen und ‚modernen‘ Strafordnung, tendenziell bereits „die Abweichung von einer Regel, einem Durchschnitt, einer Anforderung, einer Norm“ als möglicherweise bestrafenswert anzusehen (Foucault 1994, 386). Eine Frage bei der Interpretation und Bewertung von Krimis wird es daher sein, ob sie an der „Fabrikation des Disziplinarindividuums“ (Foucault 1994, 397) mitwirken oder in einer über Immanuel Kant, Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt geprägten aufklärerischen Tradition helfen, Normen und normative Verfestigungen in der Gesellschaft immer wieder neu zu über‐ prüfen. Gerade dafür erscheint die Kunst im Sinne Luhmanns (s. o.) - hier verstanden als Literatur, Film und Serie - als besonders geeignet. Es wird zudem an konkreten Beispielen zu zeigen sein, was es heißt, wenn Foucault feststellt: „Aber der Körper steht auch unmittelbar im Feld des Politischen“, wenn er weiter von einer „politische[n] Besetzung des Körpers“ spricht (Foucault 1994, 37) und von einer „Mikrophysik der Macht, die von den Apparaten und Institutionen eingesetzt wird“ (Foucault 1994, 38), hinter denen freilich machtvolle Subjekte stehen oder in denen solche machtvollen Subjekte agieren. Auch der Krimi legt, oft in drastischer Zuspitzung, Zeugnis ab von der „Technologie der Macht über den Körper“ (Foucault 1994, 41). Dies kann mehr oder weniger differenziert ausfallen, wobei etwa die Kritik an der Arbeitsweise der Ordnungsmächte Polizei und Justiz durch 2.2 Gängige Strukturen, Themen und Motive des Krimis 31 <?page no="32"?> vielfache Wiederholung und geringe Variation von Mustern teilweise zu Klischees geronnen ist. Wenn Ende des 19. Jahrhunderts Sherlock Holmes die Arbeit der Polizei in den Schatten stellt und Inspektor Lestrade von Scotland Yard Fälle nicht ohne ihn lösen kann, mag diese Art von Kritik noch innovativ gewesen sein. In trivialen Romanen oder gängigen Film- und Fernsehproduktionen wie den Verfilmungen nach Agatha Christies Romanen um die Hobbydetektivin Miss Marple unter dem Titel Agatha Christie’s Marple (2004-2013) wird frei‐ lich vorrangig das Bedürfnis der Zuschauer*innen bedient, sich zur Stärkung des eigenen Egos mit Alltagsfiguren identifizieren und über Repräsentanten der gesellschaftlichen Ordnung den Kopf schütteln oder lachen zu können. Auf der anderen Seite steht das gängige Sehgewohnheiten verunsichernde Verhalten von Täterfiguren, die zur Identifikation einladen - wie im Fall des intellektuellen Kannibalen Hannibal Lecter, gespielt von Anthony Hopkins, in The Silence of the Lambs (dt. Das Schweigen der Lämmer von 1991; Regie: Jonathan Demme). Wie sehr Aufklärung und Individualisierung im Mittelpunkt der sich zeitgleich mit der Moderne entwickelnden Gattung stehen, zeigt die Kon‐ zentration auf das Individuelle des Täters und seiner Tat, ebenso des Ermittlers und seiner Methoden. Nicht zufällig erinnert man bestimmte Einzelfiguren, die im Fall von Sherlock Holmes gattungsprägende Funktion haben. Ermittler wie Täter sind oft radikale Individualisten, die - als zwei Seiten einer Medaille, man denke an Holmes’ Antagonisten James Moriarty - das Geschehen bestimmen und einen Kampf ‚Gut‘ gegen ‚Böse‘ ausfechten (hierzu später mehr). Auch in der Folge sind es gerade stark individualisierte Figuren wie Jane Marple (oder Hercule Poirot) bei Agatha Christie oder der ebenfalls bereits erwähnte Hannibal Lecter, die im Gedächtnis bleiben und eine starke produktive Rezeption zeigen, vor allem im Film. So ist allein die Zahl der Verfilmungen mit Sherlock Holmes kaum mehr zu überschauen, das Spektrum reicht von den legendären Schwarzweiß-Verfilmungen (die erste aus dem Jahr 1939) mit Basil Rathbone in der Hauptrolle über herausragende und mit der Figur frei umgehende Einzelproduktionen wie The Private Life of Sherlock Holmes (dt. Das Privatleben des Sherlock Holmes) von Star-Regisseur Billy Wilder aus dem Jahr 1970 über die sich um Werktreue bemühende BBC-Produktion Sherlock Holmes mit Jeremy Brett in der Hauptrolle aus den Jahren 1984-1994 bis zu der besonders erfolgreichen, ebenfalls von der BBC produzierten Serie Sherlock (seit 2010) mit den beiden zu Stars gewordenen 2. Merkmale 32 <?page no="33"?> Schauspielern Benedict Cumberbatch und Martin Freeman als Holmes und Dr. Watson. Wenn die starke Individualität der Figur und ihres Hauptdarstellers zusammenkommen, erlangen solche Filme auch Kult-Status. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind die Poirot-Verfilmungen mit Peter Ustinov, etwa Death on the Nile (dt. Tod auf dem Nil) von 1978; ebenso die vier Miss-Marple-Filme mit Margaret Rutherford (unter der Regie von George Pollock) aus den Jahren 1961-64. Als eine Steigerung des Bekanntheitsgrades durch poten‐ zierte Individualität könnte man noch zwei Verfilmungen von Agatha Christies Roman Murder on the Orient Express (dt. Mord im Orient-Express; 1934) ansehen, die ein kaum überbietbares Starensemble aufweisen. In der Verfilmung von Sidney Lumet aus dem Jahr 1974 spielen u. a. Albert Finney (als Poirot), Lauren Bacall, Ingrid Bergman, Michael York, Jacqueline Bisset, Richard Widmark und Sean Connery. In Kenneth Branaghs Verfilmung von 2017 sind es der Regisseur selbst, der ebenso ein berühmter Schauspieler ist (hier als Hercule Poirot), Penélope Cruz, Willem Dafoe, Judi Dench, Johnny Depp und Michelle Pfeiffer. Im US-amerikanischen Typus des sogenannten ‚hardboiled detective‘ manifestiert sich eine maskuline Form der Individualität, die einen ‚homme fatal‘ mit Figuren der ‚femme fatale‘ zusammenbringt, wobei der Detektiv ein ‚lonely wolf ‘ ist und bleibt. Anders gesagt: Die Detektiv-Figur ist einerseits betont männlich und andererseits einsam und in ihrer Per‐ sönlichkeit gebrochen. Sie begegnet immer wieder ebenso mondänen wie zwielichtigen Frauen, wobei solche Bekannt- und manchmal auch Liebschaften selten dauerhafte Folgen zeitigen. Der englische Typus - von Sherlock Holmes über Hercule Poirot bis Miss Marple - wirkt dagegen entsexualisiert. Die Figur scheint größtenteils ohne eine Partner- oder Liebschaft zurecht zu kommen und sich auch keine zu wünschen. Die relative Einsamkeit ist einerseits der weitergetriebenen Individualisierung geschuldet und andererseits der Dramaturgie einer Handlung, die sich auf Verbrechen und deren Aufklärung konzentriert. Neben anderen, noch zu diskutierenden Faktoren dürfte es gerade der hochgetriebene Individualisierungsgrad der Hauptfiguren sein, der viele Krimis für heutige Rezipient*innen so attraktiv macht. Der Krimi setzt der Suche nach Ordnung in einer unübersichtlich gewordenen Welt ein ‚role model‘ entgegen, das die Unwägbarkeiten, Fährnisse und Paradoxien der Moderne meistert oder zumindest aushält. 2.2 Gängige Strukturen, Themen und Motive des Krimis 33 <?page no="34"?> Allerdings hat sich ein Bild des Krimis verfestigt, das quer zu der Ent‐ wicklung des Genres steht. Das Erbe der Aufklärung ins Zentrum rückend hat Bertolt Brecht festgestellt: „Der Kriminalroman handelt vom logischen Denken und verlangt vom Leser logisches Denken. Er steht dem Kreuzwort‐ rätsel nahe, was das betrifft“ (Brecht 1998, 33). Das trifft zu 100 Prozent allerdings nur auf triviale Beispiele des Genres zu. Selbst die Krimis, in denen die immer wieder gehandelten Prototypen auftreten, allen voran Poes Auguste Dupin und Conan Doyles Sherlock Holmes, zeigen deutlich, dass es über die Aufklärung eines Verbrechens hinaus etwas gibt, das ebenso wenig zähmbar ist wie der Gorilla bei Poe oder der Hund der Baskervilles bei Doyle. Man kann es einfangen und bannen und vielleicht sogar töten, aber höchstens für die Dauer der Erzählung, über die hinaus es weiterwirkt. Helmut Heißenbüttel hat auf diesen Kern bei Poe aufmerksam gemacht: „Der Täter ist ein Affe. In dieser extremen Polarisierung von Ratio und Unmenschlichkeit erscheint der Doppelmord in der Rue Morgue wie ein Programm, das in so reiner Ausprägung nie wieder eingeholt werden sollte“ (Heißenbüttel 1998, 111). Freilich gibt es in anderen Texten und auch in Filmen nicht weniger extreme Gegensätze, die nur anders angelegt sind und eigentlich Durchkreuzungen von gängigen Mustern darstellen. So ein Gegensatz findet sich beispielsweise in Hoffmanns Figur Cardillac in Das Fräulein von Scuderi. Der Goldschmied ist allseits beliebt und geachtet, er ist ein Künstler par excellence - und zugleich ein Mörder von gleicher Perfektion. In Patrick Süskinds Das Parfum (1985) besteht der Gegensatz in der Geruchlosigkeit des Protagonisten einerseits und seiner besonderen Geruchswahrnehmung andererseits. In Robert Hamers Kind Hearts and Coronets (dt. Adel verpflichtet) von 1949 wird der Gegensatz zwischen dem eleganten Snobismus der Hauptfigur und der Brutalität ihrer Taten für die Erzeugung schwarzen Humors genutzt. Diese Reihe ließe sich noch lange fortsetzen. Zumindest für anspruchsvollere Krimis scheinen solche Gegensätze kon‐ stitutiv. Zu ihnen passt dann auch die fundamentale Erschütterung der gesamten Ordnung und die trotz allem bleibende Verunsicherung, auf die Brecht mit der folgenden Bemerkung anspielt: „Ein Abenteuerroman könnte kaum anders geschrieben werden als ein Kriminalroman: Abenteuer in unserer Gesellschaft sind kriminell“ (Brecht 1998, 35). Er ist auf dem richtigen Weg, wenn er der „Klarheit“, die „aber erst nach der Katastrophe“ kommt, so weit misstraut, dass er seine Überlegungen genau an der Stelle abbricht (Brecht 1998, 37). 2. Merkmale 34 <?page no="35"?> Die Faszination Brechts für den Krimi lässt sich vielleicht mit einem Wort Richard Alewyns besser erklären: „Im Detektivroman dagegen wird eben die dem Leser vertraute Welt verfremdet“ (Alewyn 1998, 69). Dafür werde erst einmal eine vertraute Welt erzeugt. So komme es zu einer „Fremdheitsrelation“, die „aus dem Kontrast zwischen einer Welt der bruta‐ len Gewalttat und der domestizierten Umwelt des Lesers“ entstehe (ebd.). Die wahrgenommene Realität der Leser*innen, auf die der Krimi referiert, wird plötzlich doppelbödig, der Nervenkitzel hält Einzug mit der Frage, ob so etwas nicht jederzeit und überall passieren könnte; zugleich sagt aber die aus der Alltagsbeobachtung gewonnene Erfahrung, dass dies eine unbegründete Sorge ist. Der Krimi wäscht seinen Leser*innen den Pelz und macht sie nicht nass, er sorgt für Erregung und Anspannung im Modus des Möglichen und im sicheren Umfeld des Sessels oder Sofas. 2.3 Konzeptionelle und kontextuelle Grundlagen Auf die durchgreifenden Veränderungen von einer relativ homogenen hier‐ archischen mittelalterlichen Ordnung zu einer arbeitsteilig organisierten ‚Disziplinargesellschaft‘ (Foucault) wurde bereits hingewiesen. Der Prozess der zunehmenden Individualisierung und Ausdifferenzierung der Gesell‐ schaft führt zu einem „allgemeine[n] Druck übermäßiger Komplexität und Kontingenz, der zum Aufbau interner Strukturen der Selbstmoti‐ vation, Informationsverarbeitung und Lernfreiheit“ (Luhmann 2016, 30) führen kann, aber nicht muss, schließlich sind „fremde Perspektiven“ durch „Unzuverlässigkeit“ gekennzeichnet (ebd.). Niklas Luhmann stellt weiter fest: „Dem anderen Menschen wird nicht nur das erwartete Verhalten, sondern ineins damit auch die dazu passende Erwartungshaltung zugemu‐ tet. Der andere soll sich nicht nur komplementär verhalten, er soll auch komplementär erwarten“ (Luhmann 2016, 34). Die Entwicklung der (post-)modernen Gesellschaften hat folglich dazu geführt, dass Freiheit zunehmend als „eine zweischneidige Angelegenheit“ angesehen worden ist (Bauman 2003, 27). Dies betrifft auch das Rechts‐ wesen: „Im Laufe des Vollzugs der neuzeitlich-bürgerlichen Gesellschafts‐ vorstellung werden die Normen der Moral kontingent, historisch, gesell‐ schaftsabhängig und im Falle des Rechts durch Entscheidungen positiviert“ (Luhmann 2016, 96). Der Ständestaat wird von einer „neue[n] Ordnung“ abgelöst, „die in erster Linie in ökonomischen Begriffen definiert wurde“ 2.3 Konzeptionelle und kontextuelle Grundlagen 35 <?page no="36"?> (Bauman 2003, 10). Die Folge ist, dass Menschen ‚frei‘ auch in dem Sinn sind, dass dauerhafte Sozialbeziehungen und lineare Erwerbsbiographien die Ausnahme, soziale und berufliche Mobilität aber die Regel geworden sind. Dies führt zu Friktionen zwischen Wunsch und Wirklichkeit: „Die Selbstbehauptungsfähigkeiten individualisierter Menschen reichen in aller Regel nicht hin, um das zu erreichen, was man gemeinhin als Selbst‐ konstitution bezeichnet“ (Bauman 2003, 46). Zygmunt Bauman bringt es auch auf die Formel: „Die Freiheit kommt, wenn sie irrelevant geworden ist“ (ebd.). Die scheinbare Vielfalt der Wahlmöglichkeiten hat Orientierungslosigkeit zur Folge: Die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten ist wie ein kaltes Büffet, dessen überladene Platten die Kapazität der stärksten Esser übersteigen. Die Gäste sind Konsumenten, und ihr größtes Problem ist die Auswahl bei der Speisenfolge, das sich auf die Entscheidung reduziert: Was sollte man weglassen? Das Problem ist nicht der Mangel, sondern das Überangebot der Auswahl. (Bauman 2003, 78) Dies betrifft die Wahl von Lektüren wie die aller anderen Produkte ebenso wie die Wahl des Lebensstils, des Berufs, des Partners - soweit nicht ökonomische, soziale oder kulturelle Grenzen die Wahlmöglichkeiten stark einschränken und in bestimmte Bahnen lenken. Die Globalisierung hat die Macht der großen Konzerne und damit den Verlust des Vertrauens in frühere Strukturen gefördert. Richard Sennett fasst es so zusammen: „Das Fehlen von Vertrauen kann auch durch die flexible Ausübung von Macht entstehen“ (Sennett 2010, 195). Diese Entwicklung zu einer auf Kontingenz gestellten Gesellschaft hat zu zwei Gegenbewegungen geführt. Die erste begreift, wie dies Wolfgang Welsch gezeigt hat, Pluralität als große Errungenschaft dieser Entwicklung (Welsch 2002, 6). Sie setzt auf Kritikfähigkeit mündiger Bürger, auch bei der Auswahl und Lektüre der (massen-)medialen Angebote: „Postmoderne Auffassungen des Ich, wie zum Beispiel die Salman Rushdies, betonen Bruch und Konflikt, aber nicht die Kommunikation zwischen den fragmentierten Teilen des Ich“ (Sennett 2010, 198). Wenn aber die Verbindungen zwischen den „fragmentierten Teilen des Ich“ der Einzelne selbst herstellen muss, also eine starke Individualität gefordert ist, wird es problematisch - denn woher sollen die Angebote kommen, eine solche Stärke zu erlangen? Die zweite kultiviert ideologische, teils auch totalitäre Vorstellungen, die es ermöglichen, die Kontingenz scheinbar zum Verschwinden zu bringen. 2. Merkmale 36 <?page no="37"?> Matthias Drobinski hat es 2012 in der Süddeutschen Zeitung so formuliert: „Ob Christen, Juden, Muslime, Tierschützer oder Nichtraucher - unter ihnen allen gibt es einen Glauben, der weltweit die höchsten Zuwachsraten hat: den Fundamentalismus. Er ist der höchstpersönliche Ausweg aus der Individualismusfalle“ (Drobinski 2012). Solche Angebote sind deshalb verführerisch, weil sie den Menschen die Wahlentscheidungen und somit das Denken abnehmen. Die Übernahme von Mustern genügt, denn diese enthalten Handlungsdirektiven und basieren auf Versprechungen, die aber, weil sie der komplex gewordenen Realität entgegenstehen, illusorisch sind und bleiben. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb haben Illusionen, die für Realität gehalten werden können, Konjunktur. Es hat schließlich Tradi‐ tion (vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus bis zum Wahlprogramm der AfD), Authentizität zu suggerieren, die es nicht gibt (vgl. Bhabha 2007, 179), und das historische Gedächtnis (das zeigen würde, dass alles nicht einfach da, sondern Ergebnis von Kontingenz geprägter Entwicklungen ist) auf diese Weise zum Verschwinden zu bringen (vgl. Bhabha 2007, 237). Die Folge ist eine paradoxe Situation: Donald Trump kommt bei den Wähler*innen besonders gut an, die am meisten durch ihn verlieren; die Fremdenfeindlichkeit ist dort am stärksten, wo es am wenigsten Fremde gibt. (Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man witzeln: Der Glaube versetzt Zwerge.) Wobei der größte Teil der Bürger*innen oft gar nicht wählen geht oder sonst wie politisch handelt, weil er mit der Komplexität postmoderner Gesellschaften überfordert ist: „Apathie ist die logische Reaktion auf das Gefühl, nicht gebraucht zu werden“ (Sennett 2010, 202). Mit diesen wenigen Bemerkungen kann nur ein weitaus komplexerer Nährboden angedeutet werden, aus dem heraus - um in der Metapher zu bleiben - Krimis als Sumpfblüten oder Orchideen (oder etwas dazwischen) wachsen und ihre Fans finden (oder auch nicht). Einige weitere Aspekte des Krimis gilt es noch etwas näher zu beleuchten. 2.4 Diskurse von (poetischer) Gerechtigkeit Adolf Loos hat 1908 einen drastischen Vergleich gezogen: „Das kind ist amoralisch. Der papua ist es für uns auch. Der papua schlachtet seine feinde ab und verzehrt sie. Er ist kein verbrecher. Wenn aber der moderne mensch jemanden abschlachtet und verzehrt, so ist er ein verbrecher oder ein degenerierter“ (Loos 2019, 10). Loos macht zurecht darauf aufmerksam, 2.4 Diskurse von (poetischer) Gerechtigkeit 37 <?page no="38"?> dass die Auffassung von dem, was als Verbrechen gilt, zeit- und kulturab‐ hängig ist - und sein Text illustriert dies gleich unfreiwillig durch die höchst problematische Perspektive auf ‚das‘ Kind als amoralisch und auf ‚den‘ Papua als ‚das Andere‘. Auch literarische Texte verhalten sich entsprechend zu den Normen und Werten der Zeit, zugleich lassen sie sich aber - als der Kunst zugehörend und somit potenziell überzeitlich rezipierbar - auch auf die Normen und Werte der jeweiligen Rezeptionszeit beziehen. Literatur macht die Leser*innen immer auch zu Richter*innen über das Verhalten der Figuren: „The literary judge […] is committed to neutra‐ lity; properly understood“ (Nussbaum 1995, 86). Allerdings beeinflusst der Text mit seiner Strategie, Handlung und Figuren in (s)einer spezifischen Weise zu präsentieren, das Urteilsvermögen; manchmal wird dies - je nach Anlage des Texts - bei der Lektüre offensichtlicher, manchmal weniger offensichtlich. Schiller beispielsweise zeigt in Der Verbrecher aus verlorener Ehre deutlich, dass die Taten des Protagonisten vor allem auf die sozialen Rahmenbedingungen zurückzuführen sind, auf seine Herkunft und das Verhalten anderer ihm gegenüber. Aus dieser Sicht erscheint das Urteil am Schluss als ungerecht. Zudem ist festzuhalten, dass der Krimi auch deshalb ein besonders anspruchsvolles künstlerisches Genre sein kann, weil er durch seine Rät‐ selstruktur immer auch nach einem übergeordneten Sinn fragen und auf diese Weise nicht nur sich selbst als Literatur, sondern auch den Konstruk‐ tionscharakter von Wirklichkeit thematisieren kann: In der Detektivliteratur, die die Wahrheit künstlich unzugänglich macht, wird der besondere Zugang des fiktionalen Diskurses zu dem, was in ihm als wahr ausge‐ sagt werden kann, gewissermaßen noch einmal in die Fiktion eingeführt. Ihre Entstehungsbedingungen betreffen daher den Status des fiktionalen Diskurses selbst, nämlich die Art und Weise, in der er sich schließt. (Niehaus 2003, 375) Beispiele für die Metafiktionalität von Krimis werden immer wieder zu nennen sein, ohne dass auf diesen Aspekt genauer eingegangen werden könnte (zu Literatur und Metafiktion vgl. v. a. die Arbeit von Mader 2017). Die Dreifachstruktur ‚generelle außersprachliche Realität - konkrete ge‐ sellschaftlich-kulturelle Realität - fiktionale Realität‘ ist noch durch eine dreifache zeitliche Struktur zu ergänzen: ‚Zeit der Handlung - Zeit der Entstehung und Veröffentlichung - Zeit der Rezeption‘. Dies wird im Krimi besonders am Beispiel von Normen verhandelt. Es betrifft nicht nur Gesetze, sondern auch Verhaltensweisen, also juristische wie moralische 2. Merkmale 38 <?page no="39"?> Normen, die sich durch die Zeit verändern oder innerhalb einer Zeit als im Wortsinn frag-würdig dargestellt werden können. Schon allein die Frage nach dem, was unter Gerechtigkeit verstanden werden kann, eröffnet ein schier unermessliches Diskurspotenzial: Keine andere Frage ist so leidenschaftlich erörtert, für keine andere Frage so viel kostbares Blut, so viel bittere Tränen vergossen worden, über keine andere Frage haben die erlauchtesten Geister - von Platon bis Kant - so tief gegrübelt. Und doch ist diese Frage heute so unbeantwortet wie je. Vielleicht, weil es eine jener Fragen ist, für die die resignierte Weisheit gilt, dass der Mensch nie eine endgültige Antwort finden, sondern nur suchen kann, besser zu fragen. (Kelsen 2016, 9) Die Vokabel ‚resigniert‘ ist angesichts des ursprünglichen Veröffentli‐ chungsdatums von Hans Kelsens Schrift - 1953 - nur zu verständlich, steckte doch allen noch der Schrecken des Krieges und des Holocausts ganz unmittelbar in den Knochen. Aus heutiger Sicht scheint - abgesehen von zentralen Werten, wie sie in der UN-Menschenrechtscharta festgelegt sind - die Pluralität von Meinungen eher eine Stärke demokratisch verfasster Gesellschaften zu sein. Auch die, wie sie korrekt heißt, „Allgemeine Erklä‐ rung der Menschenrechte“, eine rechtlich nicht bindende Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948, lässt noch genug Spielraum für Interpretationen und Adaptionen. Das angesprochene Diskurspotenzial kann sich in der Literatur, die bekanntlich nicht an die Grenzen der Realität gebunden ist, noch einmal vervielfachen und es wird zu zeigen sein, dass die Antworten nicht nur zeit‐ lich und kulturell bedingt sehr unterschiedlich ausfallen können, sondern dass sie auch immer, angesichts der Individualität der Protagonist*innen des Verbrechens und seiner bei aller Vergleichbarkeit stets vorhandenen Singularität, eine gewisse Unschärfe aufweisen. Gerade Literatur hat, weil sie polykontextuell, polyperspektivisch angelegt und polyvalent ist, das Potenzial, darauf aufmerksam zu machen: „literature and the literary imagination are subversive“ (Nussbaum 1995, 2). Es hilft auch nichts, wenn eine spezifische Auffassung von Gerechtigkeit vorausgesetzt wird. Damit würde nur, wie in der Trivialliteratur üblich, überdeckt, dass es hinter dieser Setzung keine überzeugende Begründung gibt. Wenn es um Gerechtigkeit geht, lässt sich etwa die sogenannte Goldene Regel anführen: „Was du nicht willst, das man dir tue, das tue auch einem an‐ deren nicht; oder, positiv ausgedrückt: Was du willst, dass [sic] man dir tue, 2.4 Diskurse von (poetischer) Gerechtigkeit 39 <?page no="40"?> das tue du auch den anderen“ (Kelsen 2016, 34 f.). Das Problem ist nur, dass Menschen unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen haben. Das kennen wir bereits vom Schenken an Geburtstagen und an Weihnachten: Wenn wir das verschenken, das wir selber gern geschenkt bekommen würden, können wir fast sicher sein, dass die oder der Beschenkte sich nicht freut. Immanuel Kant hat mit dem Kategorischen Imperativ versucht, die Regel etwas anspruchsvoller auszuführen: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1974, 51). Doch auch hier ist die Individualität der entscheidende Störfaktor: Wenn ich möchte, dass der Staat stärker Schokolade subventioniert als Brot, dann haben nur diejenigen etwas davon, die wie ich gern Schokolade essen. Auch die Frage nach dem Einsatz von Gewalt wird so fragwürdig, etwa Gewalt gegen Frauen, die bis vor nicht allzu langer Zeit staatlich legitimiert war, etwa wenn der Ehemann sein angebliches Recht auf Beischlaf ausübte, oder Gewalt gegen Kinder, wenn es in der Schule und später dann immerhin noch innerhalb der Familie bis vor nicht allzu langer Zeit erlaubt war, Kinder körperlich zu züchtigen. Immer noch gibt es Gesetzgebungen, die fragen lassen, ob sie das Gewaltmonopol des Staates nicht missbrauchen - etwa wenn die Abtreibungsgegner weiterhin bestimmen können, dass Abtreibungskliniken und -ärzte nicht durch Werbung auf sich aufmerksam machen dürfen. Michel Foucault hat hierfür die Begriffe der Bio-Macht und der Bio- Politik geprägt: Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsni‐ veau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung. Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat. (Foucault 1983, 166) Foucault hat weiter festgestellt: „[…] verschiedenste Techniken zur Unter‐ werfung der Körper und zur Kontrolle der Bevölkerungen schießen aus dem Boden und eröffnen die Ära einer ‚Bio-Macht‘“ (Foucault 1983, 167). Nun ist es Aufgabe des Staates, der auch in den westlichen Demokratien immer noch ein Gewaltmonopol hat (wie sollte es sinnvoll an Einzelne delegiert werden? ), Regelungen zu finden, die das Individuum auch in seiner körperlichen Integrität und Selbstbestimmtheit möglichst schützen. Doch 2. Merkmale 40 <?page no="41"?> wie weit muss man das Individuum vor sich selbst schützen, etwa durch Verbote von Drogen oder durch hohe Steuern auf Tabak? Wieviel Zwang darf der Staat im Interesse der Gemeinschaft aller Bürger auf größere oder kleinere Gruppen oder auch auf einzelne Individuen ausüben? Ferdinand von Schirach, der auch berühmte Kriminalerzählungen und -romane geschrieben hat, hat in seinem Theaterstück Terror von 2015 - unter dem Titel Terror - Ihr Urteil von Lars Kraume verfilmt und 2016 in der ARD, zeitgleich im ORF und im SRF ausgestrahlt - die Frage gestellt (und durch das Publikum beantworten lassen), ob die Bundeswehr ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abschießen darf, das die Terroristen in einem vollbesetzen Fußballstadion zum Absturz bringen wollen. Darf der Staat aktiv werden und unschuldige Passagiere töten, um eine größere Zahl unschuldiger Fußballfans zu retten? Die skizzierten Fragen nach dem Verhältnis von individuellen und grup‐ pen- oder staatsspezifischen Interessen spielen bei der Motivierung und bei der Beurteilung von Verbrechen eine zentrale Rolle. Ulla Hahn schildert in ihrem Debütroman Ein Mann im Haus (1991) den Fall einer Frau, die ihren Geliebten, der ihr immer wieder vorgelogen hat, er werde für sie seine Frau verlassen, in einen Keller sperrt, vergewaltigt und foltert, bis sie ihn schließlich, solchermaßen physisch und psychisch gedemütigt, wieder freilässt. Hier stellt sich die Frage nach der poetischen Gerechtigkeit: Die Sympathien der Leserinnen, aber sicher auch der aufgeklärten Leser werden bei der Protagonistin Maria Wartmann sein, eingedenk einer langen Tradition straffreier Misshandlungen von Frauen durch Männer und des rücksichtslosen Verhaltens Hans Egons, des örtlichen Küsters und Chorlei‐ ters. Dazu kommt die bereits in der Namensgebung und Berufsbezeichnung erkennbare Ironie der Schilderung, die ebenso wie die kunstvolle Sprache gegen einen banalen Realismus arbeitet und so Reflexionsanreize setzt. Gerechtigkeit und poetische Gerechtigkeit sind demnach zu unterschei‐ den, zumal es sich bei Figuren nicht um Menschen handelt und literarische Texte oder Filme Versuchsanordnungen bieten, die vielleicht an mögliche Fälle in der Realität angelehnt sind, sich aber nicht genau so in der Realität zugetragen haben oder zutragen werden. 2.4 Diskurse von (poetischer) Gerechtigkeit 41 <?page no="42"?> 2.5 Rationalität und Emotionalität Zunächst einmal ist festzustellen, „daß Lesen von Literatur generell ein hochgradig emotionaler Vorgang ist“ (Anz 1998, 23). „Literature is in league with the emotions. Readers of novels, spectators of dramas, find themselves led by these works to fear, to grief, to pity, to anger, to joy and delight, even to passionate love“ (Nussbaum 1995, 53). Wenn schon allgemein für die Rezeptionssituation eine Analogie von Lektüre und Drogenkonsum gezogen werden kann: „Nietzsche schließlich erklärte den Rausch überhaupt zur Bedingung und Wirkung von Kunst“ (Anz 1998, 55), dann erhöhen besondere Handlungsreize wohl noch die „narkotische Wirkung“ (ebd.). Sex and Crime, Eros und Thanatos, Liebe und Tod setzen die stärksten Reize und wenn das Leben nicht sicher und mit Gefahr verbunden ist, oftmals in Tateinheit mit extremen Leidenschaften, dann sind wohl kaum stärkere Narkotika denkbar. Dazu passt auch, dass Conan Doyle seinen emotional offenbar niemals ausgelasteten Meisterdetektiv Sherlock Holmes mit Drogen Selbstexperimente durchführen lässt. Thomas Anz hat weiter darauf hingewiesen, dass Menschen so in den Stand gesetzt werden, durch die Zivilisation brachliegende anthropologi‐ sche Konstanten zu bearbeiten. Die Gattung musste sich schließlich erst etablieren: „Lust ist in auffälliger Weise mit Tätigkeiten verbunden, die aus evolutionsbiologischer Perspektive dem Überleben dienen“ (Anz 1998, 56). Aber: „Die Lustprämien bleiben freilich auch dann wirksam, wenn die durch sie motivierten Tätigkeiten zum Überleben nicht mehr oder nicht andauernd nötig sind“ (ebd.). Die veränderten Lebensweisen im Zivilisationsprozess machen es erforderlich, entweder Disziplin zu trainieren und Impulse zu unterdrücken oder Ventile zu schaffen, die im Idealfall zur zivilisatorischen Entwicklung beitragen. Deshalb wäre es auch „problematisch“, Fiktionen „als mehr oder weniger sublimierte sexuelle oder auf andere Objekte ver‐ schobene narzißtische Lust zu erklären“ (Anz 1998, 95). Das Lesen hat viele Funktionen, etwa ‚realitätsbezogene Erkenntnisse‘ zu vermitteln oder „Mittel zur Bewältigung verschiedenster Lebenssitua‐ tionen“ bereitzustellen (Anz 1998, 57). Die grundlegende und wichtigste Funktion aber ist es, eine „Simulationstechnik“ (Dieter Wellershoff) zu sein, also einen Möglichkeitsraum bereitzustellen, in dem alles Denkbare ausprobiert werden kann. Ohne diesen Frei-Raum gäbe es auch nicht die angesprochene „Bewältigung verschiedenster Lebenssituationen“, die nur in einem Lernzprozess im Rahmen eines Als-Ob stattfinden kann. Der 2. Merkmale 42 <?page no="43"?> durch Fiktionalität geschaffene Möglichkeitsraum der Literatur ist ein Spiel-Raum im besten Sinne. Im Anschluss an Friedrich Schiller, Johan Huizinga und andere hat Thomas Anz mit Blick auf die Postmoderne zusammengefasst: „,Spiel‘ steht für die lustvolle Befreiung von unlustvollen Zwängen“ (Anz 1998, 37). Freilich hängt es von den Rezipient*innen ab, von ihren Erwartungen und ihrem Vorwissen, wie weit sie bereit sind, aktiv mitzuspielen: „Wer von dem Komplexitätsgrad einer Reizkonfiguration in seiner Kompetenz überfordert oder unterfordert wird, reagiert auf die Schwierigkeiten mit Unlust“ (Anz 1998, 70). Wie bereits der Hinweis auf Schiller und somit auf sein Werk Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen von 1794 zeigt, ist das Spiel schon früh in der Moderne als Basis für eine Vermittlung von Konzepten, für eine „ästhetische Erziehung“, erkannt worden. Das Problem ist nur, Schiller diskutiert es in seiner literarhistorisch bedeutsamen Rezen‐ sion über Bürgers Gedichte, dass es Autor*innen geben müsste, die dazu in der Lage sind, ästhetisch überzeugende und gesellschaftspädagogisch wertvolle Texte zu schreiben, und - dies ließe sich hinzufügen - Leser*innen, die dazu in der Lage sind, Lust am Lesen gerade solcher Texte zu haben. In der Rezeptionsästhetik hat man von dem ‚idealen Leser‘ gesprochen. Das breit angelegte Bildungsprogramm der Aufklärung setzt - eigentlich bis heute - eine solche Lust voraus, doch zeigt die tägliche Arbeit von Deutschlehrer*innen und Dozent*innen in Schule und Universität, dass Schüler*innen und Student*innen oft ganz andere Prioritäten haben. Und das sind diejenigen, die vom System im Sinne einer staatsbürgerlichen Erziehung dazu motiviert werden, entsprechende Potenziale von Literatur zu nutzen. Für den größten Teil des Lesepublikums gibt es einen Literatur‐ betrieb, der sich immer mehr in den kommerziellen Sektor (ein Beispiel sind die Kundenbewertungen auf Amazon) und ins Internet verlagert. Dort sind es vor allem Fan-Seiten, die das Bedürfnis des Gesprächs über Literatur befriedigen, das sich freilich zum größten Teil auf die Einschätzung des Un‐ terhaltungswerts beschränkt. Allerdings war, mit Harold Bloom gesprochen, das Lesen kanonischer Literatur schon immer eine ‚elitäre Angelegenheit’. Dass und weshalb das Bildungsprogramm, wie es mit Schiller auch Wilhelm von Humboldt und andere vor mehr als 100 Jahren entworfen haben, heute offenbar so nicht mehr funktioniert, wäre ein eigenes Thema. Ein Grund dürfte sein, dass Menschen sich über ihre Emotionen, gerade wenn sie besonders stark sind, wenig Rechenschaft abzulegen pflegen und der Schritt zur Reflexion dann möglicherweise umso schwerer zu gehen 2.5 Rationalität und Emotionalität 43 <?page no="44"?> ist. Im Anschluss an Sigmund Freud stellt Thomas Anz fest: „Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit“ (Anz 1998, 73). Dies gilt aber eben auch für triebbasierte Wünsche, die man sich gar nicht gern einzugestehen wagt, etwa sexuelles Verlangen oder Aggressionen bis hin zum Wunsch, Gewalt auszuüben. Figuren und Handlungen von Kriminalromanen stellen Möglichkeiten bereit, solche Wünsche auf codierte Weise zu erfüllen: „Autoren lassen ihre Figuren sterben oder am Tod einer geliebten Person leiden, um die Lesenden zu vergnügen. Das Glück beim Lesen profitiert vom Unglück“ (Anz 1998, 114). Befriedigt werden aber nicht nur egoistische Triebe wie der Triumph, anders als die Figuren weder leiden noch bereits sterben zu müssen und das Leiden anderer dabei sogar genießen zu können (Anz 1998, 128), sondern auch moralische (Anz 1998, 123), etwa in der Bestätigung der (In-)Korrektheit bestimmter Verhaltensweisen durch Lohn und Strafe - der Täter wird überführt, der Detektiv wird bewundert (vgl. auch Anz 1998, 136). Es ist gerade dieser ‚thrill’, es ist die aus der sicheren eigenen Position genossene „Angstlust“ (Anz 1998, 129 f.), die Krimis so populär macht. Es gibt auch Fiktionen, die diesen Codierungsprozess selbst thematisieren, etwa der von einer Freud-Lektüre inspirierte Hitchcock-Film Spellbound von 1945 (auf Deutsch mit dem leider trivialen Titel Ich kämpfe um Dich). John Ballantyne (gespielt von Gregory Peck) wird Zeuge, wie sein Freund Dr. Anthony Edwardes beim Skilaufen erschossen wird und abstürzt. Weil er durch einen Militäreinsatz im Zweiten Weltkrieg traumatisiert ist, fällt Ballantyne in eine Amnesie und denkt, er sei Edwardes. Als solcher tritt er dessen neue Stelle als Leiter eines Heims für Geisteskranke an. Die Ärztin Dr. Constanze Petersen (Ingrid Bergman) hilft ihm, sein Gedächtnis wieder‐ zufinden und beide entlarven in einer dramatisch inszenierten doppelten Analyse - der Psyche Ballantynes und des mörderischen Geschehens - den bisherigen Anstaltsleiter Dr. Murchinson als Täter. Er wollte seine Stelle nicht verlieren. Zentral gesetzt sind (in Anlehnung an Freuds Konzept der Traumdeutung) Ballantynes Träume (gestaltet von keinem Geringeren als Salvador Dalí), die das Verdrängte in symbolisch codierter Form an die Oberfläche treten lassen (die Waffe des Täters sieht aus wie ein deformiertes Rad). Unschwer ist die metafiktionale Anlage des Films zu erkennen, wobei die Analyse des Patienten (der selbst Arzt ist) zur Reflexion darüber anregt, sich als Zuschauer*in über die eigenen Aggressionstriebe klarer zu werden. 2. Merkmale 44 <?page no="45"?> Die Kenntnis der Differenz von Fiktion und außerfiktionaler Realität muss bei solchen Interpretationen immer vorausgesetzt werden. Selbst Hitchcock musste seinen (legendären) Produzenten, der sich nun eigentlich mit Fiktionen auskennen sollte, entsprechend beeinflussen: Producer David O. Selznick wanted much of this movie to be based on his experiences in psychotherapy. He even brought his psychotherapist in on the set to be a Technical Advisor. Once, when she disputed with Sir Alfred Hitchcock on the workings of therapy, Hitchcock responded, ‚My dear, it's only a movie’. (Ich kämpfe um Dich 2019) 2.6 Zuschreibungen von Gut und Böse Bei der Frage danach, was aus welchen Gründen als ‚gut‘ oder ‚böse‘ einzustufen ist, handelt es sich um einen komplexen Diskurs, der hier nicht genauer nachgezeichnet werden kann (Schäfer 2014). Einige Hinweise müssen genügen. Was zugrunde gelegt werden soll, lässt sich vorab in fünf Punkten zusammenfassen: 1. Das ‚Böse‘ oder das ‚Gute‘ gibt es nicht, beides sind zeit- und kulturabhängige Diskursprodukte. 2. Es gibt dennoch jeweils einen zeit- und kulturabhängigen Kon‐ sens darüber, was als ‚das Böse‘ oder ‚das Gute‘ einzustufen ist. 3. ‚Gut‘ und ‚Böse‘ bedingt sich wechselseitig. Dies ist bereits im Chris‐ tentum Grundlage des Glaubens und wird beispielsweise im Gedanken der Theodizee (etwa bei Gottfried Wilhelm Leibniz) näher ausgeführt. Dass es ein ‚Gutes‘ gibt, setzt die Existenz des ‚Bösen‘ voraus. 4. Seit der Aufklärung setzt sich die Auffassung durch, dass sich der Mensch (mehr oder weniger) frei für ‚das Gute‘ oder ‚das Böse‘ entscheiden kann. Immanuel Kants kategorischer Imperativ fußt auf dieser Annahme. Wenn man so handelt, dass das eigene Handeln zur Maxime des Handelns aller werden könnte, dann lebt man in der besten aller Welten - vorausgesetzt, der Mensch hat und folgt (s)einem Willen zum ‚Guten‘. 5. Der Minimalkonsens aufgeklärter Gesellschaften ist in den 30 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) zusammengefasst, einer rechtlich nicht bindenden Resolution der Ver‐ einten Nationen, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris verkündet wurde. 2.6 Zuschreibungen von Gut und Böse 45 <?page no="46"?> Die Resolution stammt nicht zufällig von 1948. Nach dem 2. Weltkrieg bekommt ‚das Böse‘ eine andere Qualität und es hat ein Gesicht - Adolf Hitler und den Nationalsozialismus. Der Holocaust gilt zurecht als ‚das Böse‘, handelt es sich doch um einen millionenfachen, industriell organisierten Massenmord und um das bisher schlimmste Verbrechen der Menschheit. Der Diskurs über Auschwitz als die Tat ‚des Bösen‘ hat sich indes weiter verselbständigt, etwa in der Auseinandersetzung über Hannah Arendts Begriff der „Banalität des Bösen“ (Arendt 2015). Bisher ist der Diskurs stark polarisierend. Der des Antisemitismus beschuldigte Martin Walser (Lorenz 2005) beispielsweise hat immer wieder, wie etwa Dieter Borchmeyer am Beispiel von Walsers Essays Unser Auschwitz von 1965 und Auschwitz und kein Ende von 1979 gezeigt hat, auf einer durch den Holocaust in die Welt gekommenen und niemals endenden Schuld bestanden: Der provozierende Titel Unser Auschwitz ist eine Parallelbildung zu Thomas Manns Bruder Hitler und insistiert darauf, daß jeder von uns an Auschwitz seinen Anteil hat. [] Und die Rede Auschwitz und kein Ende beginnt mit dem denkwürdigen Satz: „Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen.“ Auch hier zählt Walser sich und „uns“ der „Volksgemeinschaft der Täter“ zu, wehrt er sich gegen den Wahn, „uns durch Strafverfolgung [] entlasten zu können“, den Versuch, die „Schuld“ an Auschwitz „auf eine Handvoll Schergen“ zu delegieren. [] Nicht zu vergessen ist die Tatsache, daß Walser es war, der 1989 in der Sächsischen Lan‐ desbibliothek von Dresden auf die Tagebücher des jüdischen Romanisten Victor Klemperer stieß und deren Publikation nachdrücklich beförderte. (Borchmeyer 2003, 46 f.) Auch in der berüchtigten Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 hat Martin Walser unmissverständlich festge‐ halten: „Ich habe es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen“ (Walser 1999, 11). Und weiter: „Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum […]“ (Walser 1999, 11 f.). Walser hat sich nicht gegen das Gedenken an den Holocaust wenden wollen, ganz im Gegenteil: Er hat sich für ein lebendiges und frisches Gedenken eingesetzt, das er allerdings von einem ritualisierten und dadurch ein Stück weit entlastenden Gedenken absetzt. In diesem Zusammenhang fällt auch der polemisch gebrauchte Begriff der „Moralkeule“: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchte‐ rungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch solche 2. Merkmale 46 <?page no="47"?> Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität Lippengebet“ (Walser 1999, 13). Die Rezeption der als tendenziell antisemitisch (miss-)verstande‐ nen Rede ist komplex (Neuhaus 2004) und zeigt, dass Walser vor allem durch die Drastik seiner Worte ein Tabu gebrochen hat. An diesem Beispiel ist gut zu erkennen, dass nicht nur die Frage, was als ‚gut‘ und ‚böse‘ gilt, diskursabhängig ist, sondern auch die Wortwahl, in der darüber gesprochen wird. Wenn man sich die Zeit vor 1933 vorzustellen versucht und den Holocaust nicht als notwendige, sondern als mögliche Folge der Entwicklungen bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten sieht, dann muss zunächst die Fluidität des Bösen in den Blick genommen werden. Dass die Grenzen zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ fließend sind, hat bereits Fritz Lang in einem seiner Kommentare zu M herausgestellt: „The only conclusion I can draw from this is that we human beings know how frail the barriers are in us between good and evil and once we understand another human being, however horrible he may be, we say, ‚There but for the grace of God go I‘“ (zit. nach Bareiter / Büttner 2010, 187). Langs Kommentar zeigt auch, dass Immanuel Kants idealistische Vorstellung vom freien Willen des vernünftig sich seines Verstandes bedienenden Menschen, der sich für das ‚Gute‘ als das sittlich und moralisch Richtige und nicht für das ‚Böse‘ zu entscheiden vermag, zu kurz greift. Dennoch hat, das demonstriert das Weltgeschehen ebenso wie das Genre des Krimis, Kants kategorischer Imperativ nichts von seiner Brisanz verlo‐ ren, so dass er hier noch einmal zitiert wird: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1974, 51). In dem Fall gäbe es, so die Annahme, einen bestmöglichen Ausgleich zwischen den Interessen der Individuen, selbstbestimmt zu han‐ deln. Allerdings stellt uns der kategorische Imperativ vor vier Probleme: 1. Nicht alle Menschen sind gleich, sie haben unterschiedliche Ziele und Interessen. 2. Wenn die Tat eines Verbrechers zum allgemeinen Gesetz würde, dann würde Chaos herrschen. 3. Wenn die Gesetze so formuliert wären und befolgt würden, dass die Interessen aller Menschen bestmöglich berücksichtigt wären, dann müsste die gesetzgebende Instanz nicht nur gottähnliche Fähigkeiten haben, sondern möglicherweise noch größere (insofern man die 2.6 Zuschreibungen von Gut und Böse 47 <?page no="48"?> bestehenden Zustände einem unwilligen Gott anlasten wollte), denn wer sollte alle Interessen aller Menschen kennen und in der Lage sein, einen solchen Ausgleich herbeizuführen? 4. Der von Kant angenommene Hang des Menschen zum Guten ist doch sehr zweifelhaft, auch und gerade, wenn man die Triebhaftigkeit des Menschen berücksichtigt. Kant hat das Problem selbst gesehen und versucht zu lösen, aber die Annahme, es sei beim Menschen prinzipi‐ ell von „einem frei handelnden Wesen“ auszugehen (Schäfer 2014, 212) und ‚böses‘ Handeln „entspringt aus der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, zu Befolgung seiner genommenen Grundsätze nicht stark genug zu sein“ (Schäfer 2014, 215), greift leider zu kurz. Friedrich Nietzsche hatte für einen solchen Idealismus nur Spott übrig: Diese Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahlfreie ‚Subjekt‘ nöthig aus einem Instinkte der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt. Das Subjekt (oder, dass wir populärer reden, die Seele) ist vielleicht deshalb bis jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil er der Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als Verdienst auszulegen. (Schäfer 2014, 281) Doch auch dies ist ‚nur‘ eine Annahme, eine Setzung, eine mögliche Sicht auf ‚das Böse‘. Die „Entdeckung der Zeichensprache des Triebs“ als „wesentliche[s] Element des Bösen“ (Alt 2010, 22) legt dagegen zweierlei nahe: Erstens, dass nicht leicht zu steuernde, egoistische Motivationen und die mit ihnen zusammenhängenden Emotionen eine große Rolle bei ‚bösen‘ Handlungen spielen; und zweitens, dass die Frage der Beurteilung dessen, was ‚böse‘ ist, von der Übersetzung in einen Code (in eine „Zeichensprache“) nicht zu trennen ist. ‚Das Böse‘ kann eigentlich nur, will man sich darüber diskursiv auseinan‐ dersetzen, als Code beschrieben, es kann nur auf der Basis seiner Codierung überhaupt als solches erkannt und eingestuft werden. Literatur und Film können insofern als „textuell vermittelte Ästhetik des Bösen“ (Alt 2010, 30) ‚das Böse‘ als dynamischen Prozess sichtbar machen und, wenn es sich um Fiktionen handelt, zugleich auch seine Kontingenz hervorheben. 2. Merkmale 48 <?page no="49"?> 2.7 Zuschreibungen des Wertes: Unterhaltung, Kunsthandwerk und Kunst Zunächst einmal kann mit den Soziologen Niklas Luhmann und Pierre Bour‐ dieu, die jeweils eine Theorie der Kunst und Literatur in der Gesellschaft vorgelegt haben, festgestellt werden, dass Literatur etwas radikal anderes ist als Alltagskommunikation: Was literarisches Schreiben vom wissenschaftlichen Schreiben unterscheidet: nichts belegt es besser als das ihm ganz eigene Vermögen, die ganze Komplexi‐ tät einer Struktur und Geschichte, die die wissenschaftliche Analyse mühsam auseinanderfalten und entwickeln muß, in der konkreten Singularität einer sinnlichen wie sinnlich erfaßbaren Gestalt und eines individuellen Abenteuers, die zugleich als Metapher und als Metonymie funktionieren, zu konzentrieren und zu verdichten. (Bourdieu 2001, 53) Luhmann unterscheidet zwischen „Information“ und „Mitteilung“ (Luh‐ mann 1997, 39). Ein literarischer Text vermittelt keine Informationen, er stellt eine komplexe Mitteilung dar, die sich auch nur so ausdrücken lässt: Die ‚Aussage‘ eines Gedichts [oder eines anderen literarischen Texts] läßt sich nicht paraphrasieren, nicht in der Form eines Satzes zusammenfassen, der dann wahr oder falsch sein kann. Der Sinn wird über Konnotationen, nicht über De‐ notationen vermittelt, über […] die ornamentale Struktur der sich wechselseitig einschränkenden Verweisungen, die in der Form von Worten auftreten, aber nicht über den Satzsinn […]. (Luhmann 1997, 45 f.) Auch einfache Texte können eine komplexe Aussage haben, aber nicht alle einfachen Texte sind komplex codiert. Bei jenen, die keine großen Anforderungen an das Reflexionspotenzial der Leser*innen stellen, spricht man von Trivial- oder Unterhaltungsliteratur. Angesehene Texte wählen anspruchsvolle Formen der Codierung, die auch Traditionen ver‐ pflichtet sind, die zu kennen vorausgesetzt wird. Dies gilt ebenso für die aus der Antike überlieferte und modifizierte Rhetorik und Stilistik wie für intertextuelle Spuren (zur Zeichenhaftigkeit und zum Begriff der Spur vgl. Kessler 2012). Auch Krimis verwenden Zitate oder Stoffe und Motive, die auf frühere Texte verweisen und so - wenn man solche Signale zu erkennen weiß - einen spezifisch literarischen Diskurs eröffnen, indem sie sich in Traditionen einschreiben, sie kritisch fortschreiben und modifizieren. 2.7 Zuschreibungen des Wertes: Unterhaltung, Kunsthandwerk und Kunst 49 <?page no="50"?> Gängige Krimis sind einfach konstruiert, sie arbeiten mit Klischees und Stereotypen, um ihre Leser*innen zu unterhalten und auf diese Weise am Markt erfolgreich zu sein. Daran ist nichts Verwerfliches: „Wer lieber King als Kafka liest, die amerikanische Gegenwartsliteratur der deutschen vorzieht oder den Krimi im Fernsehen dem im Buch, der soll sich davon nicht abhalten lassen“ (Anz 1998, 8). Dennoch gehört Unterhaltungsware gerade deshalb eben nicht zum Literatur- und Kunstbetrieb, auch wenn dieser die Aufgabe hat, keine pauschalen Ausgrenzungen vorzunehmen - sofern er sich nicht selbst auf die Stabilisierung von Machtbeziehungen und dadurch erlangte Distinktionsgewinne beschränken will. Krimis verfallen oft dem Verdikt der Trivialität, weil Spannung zum Genrekern gehört. Doch ist Spannung etwas, das viele Gesichter haben und - auch beim Krimi - nicht unbedingt oder nur als Handlungs- oder Rätselspannung auf die Handlung bezogen sein muss. Allgemein formuliert: „Spannung beruht [] auf partiellem Mangel an Information und auf dem Wunsch, ihn aufzuheben“ (Anz 1998, 163). Darüber hinaus stimuliert Lite‐ ratur „die Erfahrung eines Mangels“ und schafft so ein „Begehren [], den Mangel zu beseitigen“ (Anz 1998, 168). ‚Gute‘ Literatur und Filme zeichnet es aber aus, die Spannung auch über das (un-)glückliche Ende hinaus aufrecht zu erhalten, damit die Leser*innen über das Gelesene oder Gesehene weiter nachdenken. Um es mit dem Ende von Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan von 1943 zu sagen: Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen Den Vorhang zu und alle Fragen offen. […] Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt? Vielleicht nur andere Götter? Oder keine? […] Sie selber dächten auf der Stelle nach Auf welche Weis dem guten Menschen man Zu einem guten Ende helfen kann. Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß! (Brecht 1997, 2, 294 f.) Für die Frage der Einordnung entscheidend ist, ob man an dem potenzi‐ ellen Kunstwerk den Versuch erkennen kann, etwas Neues anzubieten: „Auch mißglückte Kunstwerke sind Kunstwerke - nur eben mißglückte“ (Luhmann 1997, 316). Davon ist die „Massenproduktion“ bzw. der „Kitsch“ zu unterscheiden (Luhmann 1997, 300). Schließlich gibt es, um Kunst, die von der Neuheit lebt, überhaupt als solche zu erkennen, „[…] einen 2. Merkmale 50 <?page no="51"?> Kunstbetrieb. Das Kunstsystem stellt Einrichtungen zur Verfügung, in denen es nicht unwahrscheinlich ist, Kunst anzutreffen - etwa Museen, Galerien, Ausstellungen, Literaturbeilagen von Zeitungen, Theatergebäude, soziale Kontakte mit Kunstexperten, Kritikern usw.“ (Luhmann 1997, 249). Was gar nicht besprochen wurde und keinen Beifall von Akteur*innen im Literatur- und Kunstbetrieb erhält, zählt daher möglicherweise - es gilt immer das Prinzip einer ständigen Revision des literarischen Kanons (Neuhaus 2002) - zur Trivial- oder Unterhaltungsliteratur. In jedem Fall gilt, dass es bei der Beschäftigung mit Literatur jenseits der reinen Unter‐ haltungsfunktion immer darum gehen sollte, „ästhetisches Vergnügen durch Reflexion darüber zu verstärken“ (Anz 1998, 10). Weshalb ist die reflexionsstimulierende Funktion von Literatur und auch von Filmen oder Serien so wichtig? Für Luhmann erbringen Kunst und Literatur einen besonderen und besonders wichtigen Beitrag für die Gesell‐ schaft: „Mehr und vor allem deutlicher als in anderen Funktionssystemen kann in der Kunst vorgeführt werden, daß die moderne Gesellschaft und, von ihr aus gesehen, die Welt nur noch polykontextural beschrieben werden kann“ (Luhmann 1997, 494). Daraus folgt: „Eine Zukunft kann es, auch für Kunst, nur geben, wenn für Differenz optiert wird […]“ (Luhmann 1997, 495). Luhmann schließt also mit einem emphatischen, in seinem Gesellschaftsbe‐ zug durchaus politisch zu nennenden Plädoyer für Kunst und Literatur. Und dies gilt genauso für Krimis, ganz gleich, wie sie (massen-)medial realisiert werden. Fragen zum Kapitel: Weshalb gibt es viele verschiedene Genredefinitionen? Was wäre Bestandteil einer Minimaldefinition des Krimis? Weshalb lohnt es sich, auf die konzeptionellen Hintergründe und auf die Realisierungen in Literatur, Film und Serie mehr zu achten? Welche Bedeutung hat Spannung? Welche Bedeutung haben der Rätsel- und der Spielcharakter? Was ist für ein kritisches Verständnis jedes Genres unabdingbar? Wann entstehen die heute verwendeten Gattungsbegriffe? Weshalb entsteht der Krimi im 18. Jahrhundert? Wie wirken Aufklärung und Moderne auf die Entstehung des Genres? Wie sieht das übliche Figurenpersonal aus? 2.7 Zuschreibungen des Wertes: Unterhaltung, Kunsthandwerk und Kunst 51 <?page no="52"?> Weshalb ist das Panoptikum ein Bild der Ordnung moderner Gesell‐ schaften? Wie setzt sich der Krimi mit der auf Selbstkontrolle gestellten moder‐ nen Disziplinargesellschaft auseinander? Was sind gängige Typen des Detektivs? Wie reagiert der Krimi auf die Komplexität (post-)moderner Gesell‐ schaften? Was bezeichnen die Begriffe Bio-Macht und Bio-Politik? Inwiefern ist zwischen Gerechtigkeit und poetischer Gerechtigkeit zu unterscheiden? Welche Rolle spielen Emotionen bei der Lektüre von Krimis? Welche Rolle spielen symbolische Codierungen? Wie können Krimis die Spiel-Räume fiktionaler Literatur nutzen? Weshalb gibt es das ‚Böse‘ oder das ‚Gute‘ nicht? Weshalb kann die Inszenierung von Verbrechen als Code beschrieben werden? Welche Anforderungen an das Reflexionspotenzial stellen triviale Beispiele des Genres im Unterschied zu anspruchsvollen Beispielen? 2. Merkmale 52 <?page no="53"?> 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 3.1 ‚Ursprungserzählung‘ und Genretraditionen Bereits die Frage, wann die Genregeschichte des Krimis beginnt, ist ein Problem - gerade weil es kein Problem zu sein scheint. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft formuliert die Ursprungserzählung des Krimis wie folgt: „Der Kriminalroman ist eine Weiterentwicklung der kurzen Kriminalgeschichte, wie sie sich im Anschluss an E. A. Poes ‚The Murders in the Rue Morgue‘ bei Autoren wie Conan Doyle und Chesterton zu einer thematisch festgelegten Erzählform ausgebildet hat“ (Wörtche 2007, 343). Und die verdienstvolle, grundlegende Zusammenstellung wichtiger Literatur über den Kriminalroman durch Jochen Vogt eröffnet mit Klaus Günter Justs Aufsatz „Edgar Allan Poe und die Folgen“ (Vogt 1971, 1, 9-32). Clemens Peck und Florian Sedlmeier konstatieren zurecht, aber leider ebenfalls zustimmend, dass es sich bei dieser Ursprungserzählung um einen „Gemeinplatz“ handelt: Es ist ein literaturhistorischer Gemeinplatz, Edgar Allan Poes Trilogie kanoni‐ scher Kriminalerzählungen als Ausgangspunkt für eine Gattungsgeschichte und eine Gattungspoetik der Kriminalliteratur oder zumindest der Detektivgeschichte zu reklamieren. Als Gründungsurkunde der detective fiction gilt dabei vor allem Poes erste Erzählung ‚The Murders in the Rue Morgue‘ (1841) […]. (Peck / Sedlmeier 2015, 7) Ihnen ist uneingeschränkt beizupflichten (auch wenn sie es so vielleicht nicht gemeint haben), dass die Tradierung von „Wissen und Klassifikation von Delinquenz“ (Peck / Sedlmeier 2015, 17) durch das, was offenbar schon früh als Wissen über Krimis ausgegeben wurde und wird, stark beeinflusst worden ist. Selbst englischsprachige Einführungen gehen davon aus, dass das Genre nur gut 150 Jahre alt ist (vgl. z. B. Scaggs 2005, 1), und schreiben die Ursprungserzählung mit Sätzen wie diesem fest und fort: „Poe was the founding father whose genius suggested the themes to be followed by other writers“ (Symons 1992, 38). Wie zu zeigen sein wird, ist aber die ‚Kriminalgeschichte‘ (gemeint ist vermutlich ‚Kriminalerzählung‘? ) älter als der Kriminalroman, man denke an Friedrich Schillers Verbrecher aus <?page no="54"?> verlorener Ehre oder E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi, die als weitere wichtige Muster des Genres noch näher vorgestellt werden. Die Kri‐ minalliteratur der Moderne beginnt eigentlich, wie Sandra Beck festgestellt hat, mit der sogenannten „Pitaval-Tradition“, die allerdings ausgrenzend „als eigenständige Variante kriminalliterarischen Erzählens“ aufgefasst wird und „durch die Causes célèbres et intéressantes avec le jugemens qui les ont décidées (1734-54; 20 Bde.) des französischen Advokaten François Gayot de Pitaval begründet“ wurde (Beck 2014, 36). Abb. 3.1: Mit dem sogenannten Pitaval fing alles an. Neben anderen Autor*innen (vgl. Beck 2014) bauen auch Schiller und Hoffmann auf dieser Tradition auf. Erstaunlich ist, dass diese beiden wohl nicht zu ignorierenden Autoren im Reallexikon der deutschen Literaturwis‐ senschaft (in Übereinstimmung mit der Generallinie der Forschung) zwar angeführt, aber der „älteren Verbrechensdichtung“ zugerechnet und in ihrer wegweisenden Modernität nicht erkannt werden (vgl. Wörtche 2007, 343). Schillers Erzählung ist der erste auch heute noch bekannte Text, der nach der Motivation von Verbrechern fragt, ihre Taten mit den sozialen 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 54 <?page no="55"?> Verhältnissen in Verbindung bringt und die Frage nach der Möglichkeit von Resozialisierung aufwirft. Damit weist diese Erzählung bereits auf die Krimis des 20. Jahrhunderts voraus - man denke an Fritz Langs berühmten Film M. - wie Hoffmanns Fräulein von Scuderi. Die Titelfigur bei Hoffmann ist eine ältere Dame, der späteren Miss Marple Agatha Christies nicht unähnlich, die weniger durch Kombinationsgabe als - wie noch später Wolf Haas’ Detektiv Simon Brenner - durch eine Mischung aus Hartnäckigkeit und Zufall eine Serie an Diebstählen und Morden aufklärt. Noch älter als Schillers Erzählung ist in jedem Fall die sogenannte Pita‐ val-Literatur aus dem 18. Jahrhundert, die auf die genannte Sammlung von dokumentierten Strafrechtsfällen des französischen Juristen François Gayot de Pitaval (1673-1743) zurückgeht. Julius Eduard Hitzig und Wilhelm Häring (unter dem Pseudonym Willibald Alexis bekannt), die ebenfalls Schriftsteller waren, haben 1842 den ersten Teil eines ‚neuen Pitaval‘ herausgegeben und (unter Berufung auf den ‚Parlamentsadvokaten Richter‘) dabei festgestellt, […] daß zwar jedermann Gayot de Pitavals Rechtsfälle gelesen, aber sich auch jedermann über seine Methode beschwert hätte, daß die Tatsachen ohne Ordnung durcheinander geworfen wären, von einem Wuste Betrachtungen, die nicht zur Sache gehörten, verschlungen und man sich oft in die Notwendigkeit gesetzt sähe, den wahren Verlauf der Sachen zu erraten sowie daß die rechtlichen Gründe mit einer unleidlichen Schwatzhaftigkeit vorgetragen würden. (Hitzig/ Häring 1986, 11) Wenn also die Schriften, die als Initiation und erste wichtige Quelle (vgl. bereits Hitzig/ Häring 1986, 12) der modernen Kriminalliteratur gelten kön‐ nen, erstens dokumentarischen Charakter haben und zweitens so gestaltet sind, „daß nur ein Jurist, und auch dieser nur mit Anstrengung, sich durcharbeitet“ (ebd.), dann lassen sie sich wohl nicht zu dem Korpuskern eines Krimi-Genres zählen. Auch davor gab es bereits immer wieder Texte, die Verbrechen zum Gegenstand ihrer Handlung hatten: „Schon Sophokles wandte im Ödipus die in der modernen Kriminalliteratur so beliebte analytische Technik an“ (Frenzel 1984, 895). Auf die Traditionen der Schilderung von Verbrechen im Drama und in der erzählenden Lyrik (etwa im Bänkelsang) wurde bereits hingewiesen. Um 1800 gibt es die ersten Texte, die im engeren Sinn zur Kriminalliteratur gezählt werden: „Als ersten ‚Kriminalroman‘ bezeichnen […] viele Autoren den Roman ‚Things as they are, or: The Adventures of Caleb Williams‘ von William Godwin aus dem Jahr 1794“ (Seeßlen 2011, 3.1 ‚Ursprungserzählung‘ und Genretraditionen 55 <?page no="56"?> 8). Schillers Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre, auf die genauer eingegangen werden soll, ist früher erschienen. Relevanter als die Frage, welches die erste Kriminalerzählung war, wird es sein, die Bedingungen der Entstehung des neuen Genres in den Blick zu nehmen und dabei sowohl nach den entstehenden Mustern als auch nach den Besonderheiten von exemplarisch ausgewählten, grundlegenden Texten zu fragen. Dazu kommt, dass es auch im Krimi Genre-Traditionen gibt, die fortgeschrieben werden, und solche, die neu gestiftet werden. Zweifellos sind Edgar Allan Poe und Sir Arthur Conan Doyle prägend für die weitere Entwicklung einer populären Auffassung von dem, was den Krimi ausmacht - „die Auflösung eines (Mord-)Rätsels“ auf der Ebene der histoire und die „Ver- und Enträtselung“ auf der Ebene des discours als die beiden Medaillen einer Seite (Wörtche 2007, 343). Krimis erzeugen Handlungsspannung, ob sie nun auf die Aufklärung eines Verbrechens gerichtet ist, das in der Vergangenheit liegt, oder auf ein Verbrechen zusteuert, das für die Zukunft zu erwarten ist - und natürlich ebenfalls aufgeklärt werden sollte. Der Krimi - so wird das Genre heute verstanden - ist ein Kind der Aufklärung und vielleicht wird ihm deshalb auch unterstellt, dass er eine einfache Struktur hat: „Die literarischen Verfahren sind dabei zunächst die des linearen Erzählens nach den Maßgaben des Realismus des 19. Jhds.“ (ebd.). Abgesehen von dem Grammatikfehler, hier Plural statt Singular zu verwenden: Dies suggeriert eine Einfachheit, die nur auf triviale Muster der Gattung zutrifft und die von komplexeren Texten durch andere ‚literarische Verfahren‘ unterlaufen wird, etwa in Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche (1842), nach deren Lektüre Zweifel daran bestehen, wer der Mörder des Juden Aaron war und wie der Protagonist ums Leben gekommen ist (vgl. Neuhaus 2017a, 169-175). Auch der Begriff des „Realismus“ wird hier in einer sehr unspezifischen Weise verwendet und die Beschränkung auf das 19. Jahrhundert ist ebenso unzutreffend. Weiter ist festzustellen, dass gängige Erzählungen über die Entwicklung des Genres übereinstimmend etwa so lauten, dass es vom 19. zum 20. Jahrhundert einen Wechsel von einem Setting in einer eher ländlichen Idylle hin zu einem in (Groß-)Städten angesiedelten, brutaleren, realistischeren Verbrechensgeschehen ebenso gegeben hat wie einen stärkeren ‚sozialen Realismus‘ als Reaktion auf die historischen Entwicklungen vor allem der beiden Weltkriege. Dazu kommt eine immer stärkere Sensibilisierung für eine ethnische, kulturelle, auf Genderfragen bezogene ‚Reformulierung‘ des Genres (vgl. Scaggs 2005, 4). 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 56 <?page no="57"?> Nun gibt es genügend Gegenbeispiele. Ist nicht bereits Poes kanonische Erzählung in der weltläufigen Großstadt Paris angesiedelt und schildert sie nicht Akte äußerster Brutalität mit größtmöglicher Nüchternheit? Auch ist mit einer solchen Verkürzung, wie sie sich oftmals in der Forschung findet, nicht ausreichend der Wandel von der Moderne zur Postmoderne be‐ rücksichtigt. Christof Hamann hat darauf hingewiesen, dass beispielsweise Umberto Eco in seinem weltberühmten Kriminalroman Der Name der Rose (1980) nicht nur das Genre ironisch-subversiv unterläuft, sondern es auch extensiv zitiert - und damit auf Conan Doyles Sherlock Holmes und auf dessen Vorläufer deutlich vor dem 19. Jahrhundert hinweist: Kenner der französischen Literaturgeschichte wissen, dass Eco mit dieser Ge‐ schichte selbst eine Spur legt, die zum Roman Zadig ou La destinée (1747) von Voltaire führt: Zadig gelingt es darin, eine Hündin und ein Pferd allein durch das Entziffern ihrer Spuren bis ins Detail zu beschreiben. Daraufhin des Diebstahls angeklagt, überzeugt er das Gericht von seiner Unschuld, indem er - wie William - seine Beobachtungen und seine Schlussfolgerungen darlegt. (Hamann 2016, 10) Christof Hamann hat auch auf andere Traditionen des Krimis aufmerksam gemacht, etwa die Newgate Novel mit so frühen prominenten Vertretern wie Daniel Defoe (Hamann 2016, 13). Hier liegt die Crux der Geschichte des Krimis und vor allem der Versuche seiner wissenschaftlichen Aufarbeitung. Zahlreiche Forschungen tradieren entweder unkritisch frühe Festlegungen oder sie kommen zu merkwürdi‐ gen partikularen Beobachtungen, für die hier nur ein Beispiel genannt werden soll. Caspar Battegay meint am Beispiel von Friedrich Dürrenmatts Der Verdacht (1958) feststellen zu müssen: „Nach Auschwitz lässt sich kein Kriminalroman mehr schreiben“ (Battegay 2015, 174). Nun ist schon das Adorno-Diktum von den Gedichten, die man nach Auschwitz nicht mehr schreiben könne, einseitig und falsch tradiert worden (vgl. Kiedaisch 1995). Auch Dürrenmatts Romane, in denen stets eine Detektivfigur einen Verbrecher zur Rechenschaft ziehen möchte, sind Kriminalromane. Sie subvertieren das Genre, indem sie seine Begrenzungen mit thematisieren, dies wird am Beispiel von Dürrenmatts Das Versprechen (1953) und seiner Verfilmung Es geschah am hellichten Tag (1958) noch zu zeigen sein. Bereits die frühen Beispiele des Krimis unterlaufen das sich etablierende Genre und selbst die als kanonisch angesehenen Texte spielen mit dem Muster, das sie zugleich etablieren. Dies ist eigentlich nichts Ungewöhnli‐ ches, sondern stets ein Kennzeichen ‚guter‘ Literatur: 3.1 ‚Ursprungserzählung‘ und Genretraditionen 57 <?page no="58"?> Another way of putting this point is that good literature is disturbing in a way that history and social science writing frequently are not. Because it summons powerful emotions, it disconcerts and puzzles. It inspires distrust of conventional pieties and exacts a frequently painful confrontation with one’s own thoughts and intentions. (Nussbaum 1995, 5) Die Festlegung von Genremerkmalen kann deshalb nur mit einer not‐ wendigen Unschärfe geschehen: „Ein erklärendes Gesetz aufzustellen wäre in etwa gleichbedeutend mit dem Anhalten oder Festschreiben des Zeichenprozesses“ (Kessler 2012, 218). Literatur, die nicht nur unterhalten will (und solche wäre lediglich als Gegenstand literatursoziologischer oder literaturpsychologischer Studien interessant), ist immer innovativ und reflexiv. Der Krimi ist ein altes Genre, das hochgradig intertextuell ist, indem es „stets intensiv - implizit und explizit - seine Vorgänger“ zitiert (Hamann 2016, 15), und das jeweils aktuell ist, weil es auf die „medialen und technischen Innovationen“ seiner Zeit reagiert (Hamann 2016, 17), ebenso auf die sozialen Fragen und politischen Probleme. Die Geschichte des Krimi-Genres beginnt daher mit der Pitaval-Litera‐ tur, die fortgeschrieben wird, aber dokumentarischen Charakter hat oder zumindest beansprucht. Hinzu kommt als konstitutives Merkmal eines jeden Genres der Literatur im engeren Sinn die Fiktionalität oder die Fiktionali‐ sierung einer Handlung, in deren Zentrum Verbrechen stehen und Figuren agieren, die (zumindest gilt dies für die Hauptfiguren) individualisiert und psychologisiert werden. Wie alle Genres verändert sich auch dieses durch die Zeit, nicht zuletzt, wenn um 1900 der Zweifel am Weltbild der Aufklärung immer größer wird. Bereits in der frühesten Phase des Films findet ein Medienwechsel statt und der Krimi gehört sehr schnell auch im neu entstehenden Leitmedium zu den populärsten Genres. 3.2 Vom Buch zum Film Die geschichtliche Entwicklung des Kriminalfilms (vgl. bereits Neuhaus 2018) ist nicht losgelöst zu betrachten von der des Films allgemein, einge‐ bettet in die jeweiligen sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Kontexte. Der Film entsteht technisch aus der Fotografie und anderen 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 58 <?page no="59"?> optischen Medien (etwa der Laterna magica), er wird beeinflusst von der Literatur, dem Theater und den anderen Künsten. 1895 führten die Brüder Lumière mit ihrem ‚Cinématographe‘ in Paris oder auch die Brüder Skladanowsky in Berlin kurze Filme vor. Bis 1912 entwickelte sich das junge Medium des Kinofilms zu einem eigenen Wirtschaftszweig, die Jahre 1913-27 gelten als Stummfilmzeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Fernsehen als Ergänzung und Konkurrenz hinzu (Monaco 2005, 232). Die ersten Vorführungen hatten eher dokumentarischen Charakter, im Laufe der Zeit stieg der Anteil an fiktionalen Filmen aber stetig an und dominierte schließlich das Kino (Paech 1997, 25). Der Spielfilm spannt einen großen Bogen und wird daher mit dem Ro‐ man verglichen, viele Spielfilme sind außerdem Verfilmungen literarischer Texte. Dazu kommen zahlreiche weitere Berührungspunkte (Erzähltechni‐ ken, Symbole…), so dass sich die „Literaturgeschichte als Vorgeschichte des Films“ verstehen lässt (Paech 1997, 45). Zugleich gibt es signifikante Unterschiede. Filme sind einerseits komplex, indem sie verschiedene Codes kombinieren (Bild, Ton, Musik, gesprochene Sprache, Kameraperspektive, Schnitt, Mimik, Gestik…) und hohe personelle wie finanzielle Anforderun‐ gen stellen; andererseits ist das Sehen etwas frühkindlich und unbewusst Gelerntes und nicht vergleichbar mit der später erst mit einem gewissen Aufwand zu erlernenden Kulturtechnik des Lesens. Die „Lust am Schauen“ (Mulvey 2001, 391) wirft weitere Fragen auf, etwa nach der Verfestigung von Stereotypen durch Visualisierung wie bei den Vorstellungen von ‚Weiblich‐ keit‘ und ‚Männlichkeit‘. Gelungene künstlerische Filme bedienen aber nicht Klischees oder Stereotype, sondern zeichnen sich durch eine komplexe, ästhetische und innovative (Bild-)Sprache aus (Neuhaus 2008a). Der Kriminalfilm stellt, wenn es um Merkmale des Genres geht, die Forschung vor die gleichen Fragen wie die Kriminalliteratur, die überwie‐ gend aus Kriminalromanen besteht. Vergleichbar zum Kriminalroman in der Literatur gehört auch der fiktionale Kriminalspielfilm, historisch und gegenwärtig, zu den populärsten Filmgenres, er gilt manchen als das quan‐ titativ bedeutsamste (Hickethier 2005, 11). Durch die neuen Serien-Formate dürfte sich dies relativiert haben. Dabei wird der weitaus größte Teil der Krimi-Produktionen in Literatur und Film zur Unterhaltungsware gezählt (Seeßlen 1998, 32). Der Grund ist, dass das in der Regel wichtigste Kriterium die Erzeugung von Handlungsspannung ist; ein Kriterium, das neben dem Fokus auf Unterhaltung im Kontext literarischer Wertung als wichtiges Verdachtsmoment für Trivialität gilt, ebenso wie das durch den Gegensatz 3.2 Vom Buch zum Film 59 <?page no="60"?> von Täter und Opfer provozierte Gut-Böse-Schema. Dass Kriminalfilme als Unterhaltungsfilme rubriziert werden, wiegt historisch betrachtet deshalb so schwer, weil spätestens seit dem Nationalsozialismus deutlich gewor‐ den ist, dass der „herrschende Massenbedürfnisse“ (Kracauer 1984, 11) befriedigende, auf Unterhaltung zielende Kinofilm an der Stabilisierung der (autoritären) gesellschaftlichen Ordnung mitwirkt, indem er auf scheinbar ‚natürliche‘ Muster zurückgreift (z. B. der als hässlich und auch sonst als ‚anders‘ markierte Täter) und so einen den etablierten Diskurs verstär‐ kenden Charakter hat. Doch auch Gegendiskurse können sich verfestigen und zu Klischees erstarren (z. B. der korrupte Polizist oder der unschuldig Verfolgte). Wie in der Kriminalliteratur geht es im Kriminalfilm um die Missachtung gesellschaftlicher Normen und die daraus resultierenden Konsequenzen, üb‐ licherweise nach dem Schema Normverletzung und Wiederherstellung der Ordnung (Hickethier 2005, 11). Allerdings sind es gerade die kanoni‐ sierten Texte und Filme der Gattung und des Genres, die keine „Bedrohung durch das schlechthin Fremde“ (Linder / Ort 1999, 4) inszenieren, sondern eine Lösung vermissen lassen, so dass die Normverletzung, der sie auslö‐ sende Konflikt oder die Problematik der Norm selbst fortdauern. Es gehört zu den Besonderheiten bereits kanonisierter oder neuerer und avancierter Kriminalfilme, komplexer strukturiert zu sein und gegen gängige Muster zu verstoßen, durch formale Experimente und durch das Unterlaufen klarer Schuldzuweisungen. Der Mechanismus von Spannung und Entspannung, der Befriedigung der „Faszination des Schrecklichen“ und der ‚bösen Lust‘ (Anz 1998, 115 u. 125) wird gebrochen, etwa durch Ironie, Parodie bzw. die Verwendung selbstreflexiver, auch metafiktionaler Elemente. Dennoch bleibt als Grundlage die Erzeugung von Nervenkitzel (engl. ‚thrill‘), mit Michael Balint verstanden als „Angstlust“, als „eine Art ‚Kata‐ strophentraining‘“ und als „lustvolles Spiel mit dem Tod“. Angst wird in mehrfacher Weise produktiv. Sie ermöglicht es, sich den Figuren, die leiden und sterben müssen, überlegen zu fühlen. Es können über die Identifikation mit dem Täter Aggressionen abgebaut und gleichzeitig durch die Bestrafung des Täters und den Erfolg des Detektivs internalisierte, als positiv begriffene Werte und Normen bestätigt werden. „Die Lust an der Angst ist eine Lust an der eigenen Fähigkeit, sie abzuwehren und zu bewältigen“ (Anz 1998, 129-133). Beim Kriminalfilm gelten analoge Unterscheidungen zur Kriminallitera‐ tur, so finden sich etwa die Kategorien Detektivfilm, Polizeifilm, Gangs‐ 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 60 <?page no="61"?> terfilm (mit der Variante „Serienkillerfilm“), Gerichtsfilm, Gefängnisfilm, Thriller (mit der Sonderform „Politthriller“), Spionagefilm und film noir, wobei sich in allen Subgenres auch Komödien finden (Hickethier 2005, 17-26). Es kann beispielsweise entweder der Detektiv und die Detektion im Mittelpunkt stehen oder aus der „Perspektive des Opfers der Intrige“ (Koebner / Wulff 2013, 10) die Handlung geschildert werden. Die meisten fiktionalen Texte und Filme mischen die genannten Muster, idealtypische Beispiele für die genannten Subgenres finden sich - wie in der Literatur - eher selten. Zu den besonders häufig genutzten Möglichkeiten von Kriminalfilmen gehört, aus der Perspektive einer ‚poetischen Gerechtigkeit‘ auf soziale Ungleichheiten aufmerksam zu machen und über die Figurencharakteri‐ sierung auch Empathie für auf die aus solchen Ungleichheiten resultieren‐ den oder auf deren Beseitigung zielenden Verhaltensweisen zu wecken (Nussbaum 1995, 87 u. 115). Dabei stehen oft verschiedene Auffassungen von Gerechtigkeit in einem produktiven Spannungsverhältnis. Auf diese Weise werden, wie in der philosophischen und philologischen Theoriebil‐ dung, juristische oder moralische Normen als Basis des (Ver-)Urteilens und Kategorien wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘ als Zuschreibungen kenntlich (Eagleton 2012, 164). Angesichts der Komplexität der heutigen Gesellschaft, die eigentlich nur noch über die audiovisuellen Massenmedien und die sogenannten Neuen Medien in einer spezifischen Medienrealität vermittelbar ist (Luhmann 2004), werden etablierte Kategorien doppelt (und im Wortsinn) fragwürdig. Das Kommunizieren ‚guter‘ Überzeugungen bedingt nicht unbedingt ‚gutes‘ Handeln und ‚gutes‘ Handeln kann ‚böse‘ Folgen haben. Das Krimi-Genre hat alle Medien erobert und die meisten bereits, sobald sie entstanden. Ein Beispiel für die beispiellose Erfolgsgeschichte ist ‚der berühmteste Comic-Detektiv aller Zeiten‘, Dick Tracy, der 1931 in einer Sonntagsbeilage des Detroit Mirror das Licht der Welt erblickte (Seeßlen 2011, 91). Zu den Comic-Ermittlern zählt auch die Hauptfigur in Les aven‐ tures de Tintin, auf Deutsch: Tim und Struppi, die weltberühmte Serie von Comics des belgischen Zeichners Hergé, in einigen ihrer Abenteuer. Im deutschsprachigen Raum sehr erfolgreich wurde Manfred Schmidts Figur Nick Knatterton, die in parodistischer Weise an Sherlock Holmes angelehnt war. Der Name spielt auf die zuvor erfolgreich in Heftromanen ermittelnden Detektivfiguren Nick Carter und Nat Pinkerton an. Zwischen 1950 und 1959 erschien Nick Knatterton als Comicserie in der Illustrierten Quick. 1959 3.2 Vom Buch zum Film 61 <?page no="62"?> und 1979 kam es zu Medienwechseln zuerst in den ‚Realfilm‘ und dann in den Trickfilm. Im Bereich von Kinderliteratur und Hörspiel besonders bekannt ist nach wie vor die von Robert Arthur und anderen geschaffene Serie The Three Investigators (Die drei ? ? ? ). Von 1968 bis heute soll die Zahl der verkauften Tonträger allein in Deutschland über 45 Millionen betragen, dazu kommen über 16,5 Millionen verkaufte Bücher. Die Geschichte des Kriminalfilms ist so alt wie die Geschichte des Films. Bereits frühe Filme thematisieren Verbrechen, etwa The Great Train Robbery, ein zwölfminütiger US-amerikanischer Film von 1903, er gilt auch als der erste Western und erste Actionfilm der Filmgeschichte. Sogar noch etwas älter ist ein einminütiger Film, der bereits im Titel unschwer als Detektivfilm zu erkennen ist: Sherlock Holmes Baffled von Arthur Marvin (1900). Holmes ist eine der ersten Starfiguren der Filmgeschichte. In Deutschland entstehen 1910 „zwei Filme, in denen Sherlock Holmes Arsène Lupin, den zweiten der großen Gentleman-Ganoven der populären Literatur (erfunden von dem französischen Autor Maurice Leblanc), zum Gegner hatte“ (Seeßlen 1998, 56). Eine Holmes ähnliche Figur zieht wenig später mit dem Meisterdetektiv Stuart Webbs in den deutschen Kriminalfilm ein (Kracauer 1984, 25). Die geheimnisvolle Villa ist der erste Film der Produzenten Joe May und Ernst Reicher aus einer Serie von 1913 bis 1929; bei den frühen Produktionen führte Joe May auch Regie. Wie Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes, der in verschiedenen Ländern zur Filmfigur wurde, ist Webbs ein Bote des Glaubens an den Sieg der Logik und des Guten: „Der Detektiv, der auf eigene Faust und kraft seines Verstands das Spinngewebe irrationaler Mächte zerreißt und Anständigkeit über dunkle Triebe siegen läßt, ist der prädestinierte Held einer zivilisierten Welt, die an das Glück von Aufklärung und individueller Freiheit glaubt“ (Kracauer 1984, 26). Nach dem Ersten Weltkrieg ist das Vertrauen in aufklärerische Positionen nachhaltig erschüttert. Es entstehen Filme wie Das Cabinet des Dr. Caligari (1920, Regie führte Robert Wiene). Die auf realen Ereignissen beruhende Mordhandlung wird durch einen unzuverlässigen Erzähler gerahmt, so dass „die Phänomene auf der Leinwand als Phänomene der Seele“ (Kracauer 1984, 77) erscheinen. Die Rahmung, das Irrationale und zugleich auf faszinierende Weise Autoritäre Caligaris, die mit Mitteln des Expressionismus erfolgte Inszenierung seines zwar lokalen, aber terroristischen und ‚wahnsinnigen‘ Regimes lassen die titelgebende Figur zu einer „Vorahnung Hitlers“ werden (Kracauer 1984, 79). Ein nicht weniger berühmtes Beispiel ist die Figur des Dr. Mabuse (Kracauer 1984, 89), wie sie Fritz Lang als Regisseur und 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 62 <?page no="63"?> seine Frau Thea von Harbou als Drehbuchautorin in Szene setzen, in den Filmen Dr. Mabuse, der Spieler (1922) und Das Testament des Dr. Mabuse (1933). Der größenwahnsinnige Verbrecher, sein Stellvertreter und ihre kriminelle Organisation sind im zweiten Film als deutliche Anspielungen auf die NS-Bewegung und ihre Führer konzipiert. Fritz Lang und Thea von Harbou haben die Filmgeschichte geprägt, auch mit dem Science-Fiction-Klassiker Metropolis (1927) und mit Spione (1928), dem genrebildenden frühen Beispiel des Spionagefilms. Ein Bankdirektor hat eine kriminelle Organisation geschaffen, die mit Staatsgeheimnissen handelt. Der Agent „No. 326“ (Willy Fritsch) und die zunächst auf ihn angesetzte Sonja Barranikowa legen Direktor Haghi (Rudolf Klein-Rogge), der zudem als Informant des Geheimdienstes gezielt falsche Informationen gestreut hat, schließlich das Handwerk. Der Film etabliert viele Motive, die später beispielsweise in Alfred Hitchcocks Spionage-Thriller Die 39 Stufen (1935) oder in den James-Bond-Verfilmungen Verwendung finden. Im Nationalsozialismus wurden Literatur und Massenmedien gleichge‐ schaltet und es gab klare Zuschreibungen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘, die ideologisch-rassistisch motiviert waren. Die meisten klugen, innovativen Filmemacher und Schauspieler kehrten dem Dritten Reich den Rücken, viele gingen, wie Fritz Lang, nach Hollywood. Nach dem Krieg setzte eine Aufarbeitung der historischen Entwicklung ein, die auch den Kriminalfilm betraf. 1959 drehte Wolfgang Staudte Rosen für den Staatsanwalt, eine Abrechnung mit der Nachkriegsgesellschaft, die von allem nichts gewusst haben wollte, am Beispiel eines Richters, der in der NS-Justiz eine hohe Position bekleidet hatte und nach 1945 weiter seiner Tätigkeit nachgehen darf. Eine Kriminalhandlung motiviert die Erzählung: Kurz vor Kriegsende wird der Gefreite Rudi Kleinschmidt (ein sprechender Name; Walter Giller spielt die Rolle) vom Kriegsgerichtsrat Dr. Wilhelm Schramm (Martin Held) wegen des angeblichen Diebstahls von Schokolade zum Tode verurteilt; nur ein Zufall rettet sein Leben. Nach dem Krieg treffen sich die beiden wieder. Schramm hat seine Mittäterschaft verschwiegen und ist Oberstaatsanwalt geworden, an seinen autoritären und rassistischen Ansichten hat sich nichts geändert. Der von der Hand in den Mund lebende Kleinschmidt stiehlt schließlich noch einmal Schokolade, er wird vor denselben Richter geführt und der beantragt, weil er sich an die frühere Verhandlung erinnert, versehentlich wieder die Todesstrafe. Der entlarvte Richter begibt sich auf die Flucht, Kleinschmidt beginnt vermutlich ein neues Leben mit seiner Freundin. Trotz des harmonisierenden Happy Ends stellt der Film, am Bei‐ 3.2 Vom Buch zum Film 63 <?page no="64"?> spiel der paradigmatischen Autoritäts-Figur eines Richters, die tabuisierte Frage nach der Mitschuld der scheinbar so respektablen und integrierten Nachkriegs-Deutschen am Nationalsozialismus. Auch Produktionen der Nachkriegszeit verarbeiten allgemeine Probleme von Kriminalität, um auf den zeitgenössischen Diskurs zu wirken. Kein Geringerer als Friedrich Dürrenmatt entwickelte den Stoff für Es geschah am hellichten Tag (1958, Regie Ladislao Vajda), ein aufklärender Auftragsfilm, der Kindesmissbrauch und Kindstötung auf die Agenda der Nachkriegsge‐ sellschaft setzte. Im internationalen Spielfilm wird die Tradition fortgesetzt und radikalisiert, die psychischen Abgründe von Figuren zu visualisieren. Der gebürtige Engländer Alfred Hitchcock, stark beeinflusst vom deutschen Vorkriegsfilm und der Psychoanalyse, experimentiert erfolgreich mit der Inszenierung menschlicher Abgründe, besonders eindrucksvoll in Psycho (1960): Der junge Motel-Betreiber Norman Bates erleidet, nachdem er seine Mutter umgebracht hat, auf die er ödipal fixiert war, eine Persönlichkeits‐ spaltung und tötet fortan, als seine Mutter verkleidet, junge Frauen, die auf der Durchreise sind. Im selben Jahr kommt Peeping Tom von Michael Powell in die Kinos und wird zum Skandal. Der deutsch-österreichische Star Karlheinz Böhm (berühmt wegen seiner Rolle als österreichischer Kaiser in den Filmen Sissi von 1955, Sissi - Die junge Kaiserin von 1956 und Sissi - Schicksalsjahre einer Kaiserin von 1957, Regie führte stets Ernst Marischka) spielt den ebenso schüchtern wie sympathisch auftretenden Mark, der junge Frauen mit dem angespitzten Stativ seiner Kamera tötet und dabei filmt. Die Perspektiven beider Kameras verschmelzen, die Zuschauer*innen sehen durch das ‚Auge‘ von Marks Handkamera und werden wenn nicht selbst zu Täter*innen, auf jeden Fall aber zu Voyeur*innen (hierfür ist ‚peeping Tom‘ der englischsprachige Ausdruck). Mark wiederholt und variiert ein Trauma, als Kind ist er von seinem Vater gequält und dabei gefilmt worden. Zu solchen psychologischen Ein-Sichten war das damalige Kinopublikum aber noch nicht bereit. Die Karriere Karlheinz Böhms wie der anderen am Film Beteiligten litt unter dem Skandal, der Film wurde erst sehr viel später von der Filmkritik und der Forschung zum Meisterwerk erklärt. Bereits in den 1930er Jahren entstanden Serien, die nicht nur ungeheuer populär wurden, sondern auch sehr einflussreich waren, wenn es um die Weiterentwicklung des Genres geht. Zu den Vorläufern von James Bond gehören Charlie Chan und Mr. Moto. Charlie Chan basiert auf einer Romanserie von Earl Derr Biggers, allerdings gingen - wie später bei James Bond - den Produzenten bald die Romane aus. 1926 entstand ein erster Film 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 64 <?page no="65"?> „als Serial in zehn Kapiteln“ (Seeßlen 2011, 77), von 1931-42 spielten in 27 Filmen zunächst Warner Oland und ab 1938 Sidney Toler die Hauptrolle des chinesischen Detektivs, der auf Hawaii lebt. Weitere Darsteller folgten im Laufe der Jahre und Jahrzehnte, unter ihnen 1980 in Charlie Chan and the Curse of the Dragon Queen auch Peter Ustinov. Chan ist Familienvater und einzelne seiner Söhne ermitteln immer wieder mit ihm zusammen. Die Filme changieren von Verbrechen zu Spionage, im Laufe der Jahre erstrecken sich die Schauplätze über die ganze Welt und der Humor spielt eine immer wichtigere Rolle. „Charlie Chans Gegner hatten indes die Tendenz, immer allmächtiger, grotesker und geheimnisvoller zu werden“ (Seeßlen 2011, 84) - noch eine Parallele zu den späteren Bond-Filmen. In Gastrollen waren prominente Schauspieler*innen wie Rita Hayworth oder Boris Karloff zu sehen (Seeßlen 2011, 81). Auch die Figur Mr. Moto stammt aus Romanen, ihr Autor hieß John Phillips Marquand. Bekannter ist der Hauptdarsteller: „Peter Lorre spielte nicht Mr. Moto, er lieh ihm seine Persönlichkeit“ (Seeßlen 2011, 86). Von 1937-39 kamen acht Filme in die Kinos. Insbesondere die US-amerikanische Filmindustrie produzierte nach dem Zweiten Weltkrieg eine solche - und immer größer werdende - Vielzahl von Detektivserien, dass es aussichtslos wäre, auch nur die wichtigsten hier aufzulisten. Einige besonders bekannte und beliebte Serien sollen kurz (teils noch einmal) Erwähnung finden, und zwar als Beispiele für die sehr unterschiedlichen Typen von Ermittlern. In The Streets of San Francisco sind es von 1972-77 zwei Polizisten, neben Karl Malden debütierte der zum Star avancierende Michael Douglas (Sohn von Starschauspieler Kirk Douglas). Die Lebens-Rolle von Peter Falk war von 1968-2003 Columbo, ein schrulliger, zerstreut und ungepflegt wirkender Inspektor mit Trenchcoat. In The Rock‐ ford Files stellte von 1974-80 James Garner einen Privatdetektiv dar, der in einem Campinganhänger lebt und sich durch die vielen kleinen Misserfolge nicht von seinem Weg und seiner prinzipiellen guten Laune abbringen lässt. Komik und Humor spielten auch eine wichtige Rolle in Magnum, p.i. von 1980-88 mit Tom Selleck, den Steven Spielberg gern für seinen (ersten) Indiana Jones-Film Raiders of the Lost Ark von 1981 verpflichtet hätte. Weil Selleck seinen Vertrag erfüllen und weiter Magnum spielen musste, bekam Harrison Ford die Rolle des Spielfilm-Helden - eines Archäologieprofessors, der in der Nazizeit einzigartige verschollene Kunstgegenstände sucht und dabei Verbrechen aufklärt. Auch Gerichtsmediziner sind immer wieder als Ermittlerfiguren in Serien zu sehen, beispielsweise Jack Klugman in Quincy, M. E. von 1976-83. 3.2 Vom Buch zum Film 65 <?page no="66"?> Auch im deutschsprachigen Raum gab und gibt es zahlreiche Detektiv- und Krimiserien unterschiedlichster Formate. Hier nur eine kleine Blüten‐ lese: Stahlnetz hieß eine von 1958-68 ausgestrahlte Reihe im NDR mit 22 Folgen mit Motiven aus wahren Begebenheiten. 1969-76 lief in 97 Folgen Der Kommissar mit Erik Ode in der Titelrolle, geschrieben von dem ungekrön‐ ten Krimidrehbuch-Serienkönig Herbert Reinecker. Er schrieb außerdem alle Drehbücher für die international sehr erfolgreiche Serie Derrick mit Horst Tappert in der Titelrolle, gesendet von 1974-98 in 281 Episoden. Die Tatort-Reihe startete 1970 und läuft bis heute, mit je nach Sendeanstalt der ARD, des ORF und des SF unterschiedlichen Ermittlerteams. In Zeiten von Netflix und Amazon prime hat sich die Zahl der Serien‐ produktionen vervielfacht. Auch künstlerisch ist versucht worden, neue Maßstäbe zu setzen, etwa mit True Detective oder mit Fargo, die ersten Staffeln beider Serien erschienen 2014. Schon im Titel zitiert Fargo von Noah Hawley den gleichnamigen Film der Starregisseure Ethan und Joel Coen von 1996. Die berühmten Coen-Brüder sind die Produzenten der Serie. In beiden Serien, die in jeder Staffel jeweils eine neue Geschichte erzählen, handelt es sich bei den Ermittlern um Polizisten. Dazu kommen sehr erfolgreiche Mini-Serien, etwa die Verfilmungen der Kriminalromane mit der vom schwedischen Schriftsteller Henning Mankell erschaffenen Figur Kurt Wallander. Wallander ermittelt als Krimi‐ nalkommissar im schwedischen Ystad, die Romanserie wurde 1994-2007 vom schwedischen Fernsehen und von 2008-15 von der BBC verfilmt, für die zwölf Folgen der britischen Produktion zeichnete Kenneth Branagh verant‐ wortlich, der auch die Hauptrolle spielte. Der von seiner Frau verlassene Wallander ist der Typus des einsamen Wolfs, des trotz persönlicher und gesundheitlicher Probleme aufrechten Kämpfers gegen das Verbrechen in einer unüberschaubar gewordenen Welt. Halt gibt dem auf seine Arbeit fixierten Kommissar die Beziehung zu seiner Tochter, allerdings nur in begrenztem Umfang, da diese immer wieder auch Partei für die Mutter ergreift. Die deutschsprachigen Produktionen sind vor allem Kriminalfilme, die sich an das traditionelle Muster des Whodunit halten. Ein legendäres Beispiel ist die Verfilmung des Francis-Durbridge-Krimis Das Halstuch in sechs Teilen, vom WDR produziert und 1962 in der ARD gezeigt. Hans Quest führte Regie, Heinz Drache spielte den Ermittler, Dieter Borsche den Mörder. Auch Horst Tappert, der bereits erwähnte Derrick-Darsteller, ist dabei. Die Verfilmung setzt erfolgreich auf größtmögliche Handlungsspannung, so 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 66 <?page no="67"?> dass die Miniserie als legendärer ‚Straßenfeger‘ mit einer der höchsten Ein‐ schaltquoten aller Zeiten gilt. Die Grenzen zwischen Kinofilm und TV-Krimi sind nicht immer leicht zu ziehen: Die TV-Produktionen entwickeln sich aus der Spielfilm-Tradition, die Kinofilme werden nach einiger Zeit auch im TV (wiederholt) gesendet und zu manchen TV-Produktionen gibt es Kinofilme. Ein Beispiel sind die im Kino gesendeten Filme Zahn um Zahn (1985) und Zabou (1987) mit dem Tatort-Kommissar Horst Schimanski (gespielt von Götz George; Regie führte Hajo Gies). Aus der unüberschaubaren Zahl von Kriminalfilmen für Kino oder Fern‐ sehen Beispiele auszuwählen ist ebenso müßig wie notwendig, will man Genretraditionen aufzeigen und das Spektrum ausloten. Zu den herausra‐ genden, das Genre erweiternden Produktionen gehört Blow up von Michelangelo Antonioni aus dem Jahr 1966, mit Vanessa Redgrave und anderen Stars der Zeit. Der Fotograf Thomas (David Hemmings) glaubt auf Aufnahmen einen Mord zu entdecken, tatsächlich findet er eine Leiche im Park. Allerdings wird bei ihm eingebrochen, die Aufnahmen und Negative werden gestohlen und auch die Leiche ist nicht mehr zu finden. Am Ende bleibt das Rätsel bestehen, ob er wirklich einen Mord fotografiert hat. Der metafiktionale und symbolische Charakter des Films wäre eine eigene Untersuchung wert. Lediglich erwähnt werden kann ein anderer offen kon‐ zipierter, mit Thriller-Elementen spielender Kult-Film: Mulholland Drive von David Lynch aus dem Jahr 2001. Solche Filme nutzen die Genre-Traditionen und verfremden sie in einer für das eigene, künstlerische Konzept passenden Weise. Ins britische wie ins US-amerikanische Kino kommen auch Kriminalfilme, die zugleich Krimiparodien sind. Bedeutende frühe Beispiele sind Arsenic and Old Lace (Arsen und Spitzenhäubchen) von 1941, der aber erst 1944 gezeigt wurde (Regie: Frank Capra, u. a. mit Cary Grant und Peter Lorre), oder Ladykillers aus dem Jahr 1955 (mit Alec Guinness unter der Regie von Alexander Mackendrick). Auch das deutschsprachige Kino setzt, wenn es um Krimihandlungen geht, oft und immer mehr auf Humor. An der Grenze von Krimi und Komödie sind die Filme Helmuth Ashleys angesiedelt, die nach Motiven der Geschichten Gilbert Keith Chestertons den als Detektiv auftre‐ tenden Pater Brown in den Mittelpunkt rücken. Die Spielfilme Das schwarze Schaf (1960) und Er kann’s nicht lassen (1962) mit Heinz Rühmann gehören zu den Dauerbrennern im deutschen Fernsehen. Radikaler verfahren die 32 Edgar-Wallace-Verfilmungen der Rialto-Film aus den Jahren 1959-72, die Horst Wendlandt produzierte; bei 14 Filmen führte Alfred Vohrer Regie. 3.2 Vom Buch zum Film 67 <?page no="68"?> In 13 Filmen spielte Joachim Fuchsberger den Ermittler, viele bekannte Schauspieler*innen der Zeit sind in unterschiedlichsten Rollen vertreten. In 16 Filmen spielte Klaus Kinski einen Bösewicht. Die Wallace-Verfilmungen sind (anders als die Romanvorlagen) zugleich Kriminalfilme und Kriminal‐ komödien. Der eigene Stil entsteht durch selbst-parodistische Elemente, die durchaus fiktionsdurchbrechend sein können, etwa wenn Figuren das Geschehen kommentieren oder sich sogar an das Publikum wenden. Wie mit Zuschauererwartungen gespielt wird, lässt sich beispielsweise an Das indische Tuch (1963, Regie Alfred Vohrer) kurz zeigen. Der Film basiert auf dem bekannten Muster des ‚locked room mystery‘. Mit Heinz Drache als Anwalt und Ermittler, Elisabeth Flickenschildt und vielen ande‐ ren bekannten Schauspieler*innen der Zeit ist er exzellent besetzt. Anders als gedacht entpuppt sich nicht der drogenabhängige Peter Ross (Klaus Kinski) als der gesuchte Serienmörder, der auf einem von der Außenwelt abgeschnittenen Schloss nach und nach eine ganze Adelsfamilie auslöscht, sondern der sympathische junge Lord Edward (Hans Clarin). Zum Schluss wird testamentarisch verfügt, dass das Erbe der Familie an Edgar Wallace fällt, und die leeren Stühle um den Familientisch verbeugen sich. Die Edgar-Wallace-Verfilmungen wirkten selbst genrebildend, als Paro‐ dien der bereits (selbst-)parodistischen Filme waren Der Wixxer (2005, Regie Tobi Baumann) und Neues vom Wixxer (2007, Regie Cyrill Boss und Philipp Stennert) an den Kinokassen erfolgreich. Oliver Kalkofe, Bastian Pastewka und Oliver Welke schrieben die Drehbücher, Kalkofe und Pastewka spielten Hauptrollen, auch der aus den früheren Wallace-Filmen bekannte Joachim Fuchsberger war im zweiten Film vertreten. Der Titel spielt parodistisch auf Der Hexer an, in der Alfred-Vohrer-Verfilmung von 1964 war Fuchsberger der Ermittler. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Grenze von Kriminalfilm und Kriminalkomödie fließend, etwa in Die Herren mit der weißen Weste (1970, Regie führte Wolfgang Staudte) mit Martin Held als pensioniertem Richter, der es nach langer Zeit und mit illegalen Mitteln vermag, den Anführer einer Bande von Kriminellen, gespielt von Mario Adorf, hinter Gitter zu bringen. Das Drehbuch von Horst Wendlandt und Paul Hengge erinnert an den Roman Der Richter und sein Henker (1952, wenige Jahre später vom Süddeutschen Rundfunk für das Fernsehen adaptiert). Bereits Dürrenmatt zeigt, dass dem Übeltäter mit rechtmäßigen Mitteln nicht beizukommen ist. Auch wenn es bei Staudte nicht um Mord, sondern um Diebstahl geht und es eine Popularisierung und Wendung ins Humoristische 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 68 <?page no="69"?> gibt, wird deutlich, dass sich auch die Grenzen zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ nicht mehr so eindeutig ziehen lassen wie vorher. Ebenso fließend ist die Grenze zur Gesellschaftssatire, dies gilt bei‐ spielsweise für Helmut Dietls Schtonk! (1992), zu dem Spielfilm schrieb Regisseur Dietl mit Ulrich Limmer das Drehbuch. Die Produktion mit Starbesetzung (Uwe Ochsenknecht, Götz George, Ulrich Mühe u. a.) beruht auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1983. Gezeigt wird, wie ein begabter Fälscher Hitlers angebliche Tagebücher an die Illustrierte HHpress (in Wirklichkeit war es der Stern) verkauft und ihm sein neues Umfeld - bestehend aus Journalisten, Verlagsleitung und exponierten Angehörigen des Besitzwie Bildungsbürgertums - mit ebenso viel Sensationswie Geldgier auf den Leim geht. Der Titel ist ein Charlie Chaplins Satire Der große Diktator (1940) entnommenes, von ‚Stunk‘ abgeleitetes Kunstwort. Nicht nur durch Komik und Ironie werden aktuelle Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung problematisiert. Ebenso wie Schtonk! ist der Thriller Der Sandmann (1995) von Regisseur Nico Hofmann, mit Götz George in der Hauptrolle, als Film über die massenmediale Verarbeitung von Verbrechen konzipiert und darüber hinaus metafiktional. Eine junge, ambitionierte Journalistin macht eine Story über den Autor Henry Kupfer, der selbst eine Haftstrafe wegen Prostituiertenmordes verbüßt hat und Bücher über Serienmörder schreibt. Kupfer wirkt immer bedrohlicher und die Journalistin glaubt immer mehr, dass er tatsächlich ein gesuchter Serienmörder ist. Es stellt sich am Ende heraus, dass er ihr, sogar mit Hilfe ihrer Kolleg*innen, nur Angst eingejagt hat, damit sie ihn und sein neues Buch besonders medien- und werbewirksam vermarktet. Der Film nutzt die Techniken der Spannungserzeugung und führt sie zugleich als Techniken vor. Es handelt sich um einen Kriminalfilm und zugleich um einen Meta-Kriminalfilm, um einen Film über die Praktiken der Inszenierung von Verbrechen in den Massenmedien, im Buch und nicht zuletzt im Film selbst. Der deutschsprachige Kriminalfilm zeigt sowohl allgemein übliche als auch für die deutschsprachige historische und kulturelle Tradition beson‐ dere Muster gesellschaftlicher Ordnung, die in Frage gestellt und, in den als besonders herausragend angesehen wie prämierten Filmen, in der Regel nicht wiederhergestellt, sondern nachhaltig erschüttert werden. Der Diskurs über die Gültigkeit von Normen und die Konsequenz von Normüberschreitungen, über Täter und Opfer tendiert nur in vor allem der Unterhaltung verpflichteten, an gängige Schemata anknüpfenden Filmen zur Schwarz-Weiß-Zeichnung, zu einer klaren Verteilung der Schuld. Die 3.2 Vom Buch zum Film 69 <?page no="70"?> konventionelle Zuschreibungspraxis von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ funktioniert in den bekannteren Beispielen der verschiedenen Sub-Genres des Kriminal‐ films nicht mehr. Dies ist schon an der Oberfläche erkennbar, wenn ein hegemonialer Diskurs, der durch geschriebene (Gesetze) oder ungeschrie‐ bene (Praktiken) Normen autoritär strukturiert ist, im Wortsinn vorgeführt wird. Es wird gezeigt, dass die ‚Dispositive der Macht‘ (Michel Foucault) den Interessen einiger Weniger dienen, die sich an Schlüsselpositionen von Staat oder Familie befinden und die ihre Macht zur Unterdrückung von Individuen oder Gruppen ge- und missbrauchen. Auch die individuelle Tat ist nicht mehr nur individuell, sie ist in vielfältige Bezüge eingebunden und Bestandteil eines Diskurses über ‚Überwachen und Strafen‘, wie er für die ausdifferenzierten modernen Gesellschaften grundlegend geworden ist. Die Ordnungsrahmen einer „Disziplinierung des Todes“ (Foucault 1983, 165) werden ebenso sichtbar wie die Grundlagen einer „Bio-Macht“ (Fou‐ cault 1983, 167), in der „das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, abgelöst [wurde] von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen“ (Foucault 1983, 165). Zwei neuere Filme können als vergleichsweise einfache Beispiele dafür dienen, wie der Kriminalfilm durch die Thematisierung von Verbrechen als Störung der bestehenden Ordnung auf das Spektrum von problema‐ tischer individueller und institutioneller, lokaler und überregionaler Macht‐ verteilung hinweist. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, insbesondere mit Nationalsozialismus und Holocaust, bleibt ein wichtiges Thema auch des Kriminalfilms. In Der Staat gegen Fritz Bauer (2015), 2016 mit dem Hauptpreis des Deutschen Filmpreises ausgezeichnet, werden wahre Begebenheiten verarbeitet und mit anderen gesellschaftlichen Problemen verknüpft, vor allem mit der seinerzeit noch geltenden Strafbarkeit von Homosexualität. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) war eine der treibenden Kräfte in der juristischen Aufarbeitung des Holo‐ caust, so trug er mit dazu bei, dass Adolf Eichmann in Argentinien gefunden und vom israelischen Geheimdienst Mossad gefangen genommen werden konnte, auch bereitete er die Frankfurter Auschwitzprozesse (1963-1981) mit vor. Burghart Klaußner spielt die Titelrolle in dem Film von Lars Kraume (Regie). Die österreichisch-deutsche Coproduktion Das finstere Tal (2014), die Verfilmung eines Romans von Thomas Willmann, knüpft an Traditionen des Western und des Heimatfilms an. Die Ende des 19. Jahrhun‐ derts spielende Geschichte über den einsamen Rächer Greider (Sam Riley) und seine Antagonisten, den reichen Bauern Brenner mit seiner Familie 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 70 <?page no="71"?> (Tobias Moretti ist als Sohn Hans einer der Hauptdarsteller), wurde mit dem Österreichischen Filmpreis 2015 in acht Kategorien prämiert. Brenner und seine Söhne regieren autoritär und gewaltsam ein abgelegenes Dorf in den Alpen, der Patriarch zwingt die jung verheirateten Frauen, mit ihm ihr erstes Kind zu zeugen. Greiders juristischer Vater wurde gekreuzigt, weil er sich dagegen wehrte, und der möglicherweise illegitime Sohn des Brenner-Bauern begibt sich nun auf einen Feldzug gegen die Exponenten der brutalen Ordnung, in der auch der Priester seine Rolle spielt. Die Kritik an solchen autoritären, feudalen und religiösen Denkmustern steht in der Tradition von anderen Literatur- und Filmproduktionen aus Österreich, die sich insbesondere mit dem ‚Alltagsfaschismus‘ auseinandersetzen. Allerdings ist zu fragen, inwieweit sich auch solche Umkehrungen der Maßstäbe der Bewertung (böse Ordnung - gutes, außerhalb der Ordnung stehendes Individuum) alter Zuschreibungsmuster bedienen. Noch inno‐ vativer sind Filme, die distanzerzeugende Mittel wie Metafiktionalität verwenden, um die Zuschreibungspraxis, die der Film selbst durch seine ei‐ gene Ordnung etabliert, ebenfalls zur Disposition zu stellen oder zumindest durchsichtig zu machen. Ein radikales Beispiel ist Orson Welles’ Verfilmung von Franz Kafkas Roman Der Prozeß. Der Roman erschien postum 1925, die Verfilmung stammt von 1962. Wie viele der bereits genannten Beispiele handelt es sich um einen sogenannten Autorenfilm - Orson Welles hatte die Idee, schrieb das Drehbuch und führte Regie, außerdem spielte er eine der zentralen Figuren und wirkte am Schnitt mit. Anthony Perkins als Josef K. war den Kinozuschauern noch als Serienmörder aus Psycho in Erinnerung. Zweifellos handelt es sich um einen Kriminalfilm, es gibt einen Täter und eine Strafe - Josef K. wird am Schluss des Films von Vertretern der Ordnung erstochen. Allerdings bleibt in Roman und Film alles Wissen verborgen, das für einen logischen Kriminalfall unverzichtbar wäre: Welche Tat soll K. überhaupt begonnen haben? Wie ist das Gericht legitimiert? Im Verlauf der Handlung entstehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dessen, was die Vertreter der Ordnung tun. Es werden nicht nur die üblichen Gut-Böse-Schemata aufgelöst, es ist nicht einmal mehr deutlich, wer nach den innerfiktional anzulegenden Maßstäben auf welcher Seite steht. Auch deutschsprachige Produktionen durchkreuzen die in primär der Unterhaltung verpflichteten Filmen gängigen Muster, etwa Der Totmacher (1995) von Regisseur Romuald Karmakar mit Götz George in der Rolle des Serienmörders Fritz Haarmann, der 1924 wegen des brutalen Mordes an mindestens 24 Jungen und Männern verhaftet, verhört und hingerichtet 3.2 Vom Buch zum Film 71 <?page no="72"?> wurde. Die Verhörprotokolle dienen als Grundlage für das klaustrophobi‐ sche Kammerspiel und George zeichnet das Bild eines zutiefst verstörten, sich nach Liebe sehnenden Mannes, der sich aber nur durch Gewalt artiku‐ lieren kann. Das Monster ist dennoch ein Mensch. Legislative und Exekutive stellen den Ordnungsrahmen bereit, doch sind die heutigen ausdifferenzierten, hochkomplexen Gesellschaften vor allem auf Selbstdisziplinierung angewiesen. Diese Selbstdisziplinierung kann entweder durch unkritische Internalisierung von Regeln erfolgen oder dar‐ auf zielen, die eigene Reflexion über sinnvolle Techniken zu aktivieren, wie sich gerade auch durch eigenes Verhalten soziales Miteinander gewährleis‐ ten lässt. Triviale Kriminalfilme zielen auf die Internalisierung von Regeln, wobei dies auch durch Kritik an etablierten Ordnungsmächten geschehen kann, etwa wenn sie korrupt sind und die ihnen zugewiesene Aufgabe nicht mehr erfüllen. Durch Verwendung solcher Muster im Kriminalfilm wird nicht die Frage nach der Legitimität von Autorität gestellt, sondern die Restitution einer prinzipiell als sinnvoll erachteten, ‚naturalisierten‘ Autorität propagiert. Die hier diskutierten Beispiele des Kriminalfilms weichen von diesem Programm des Unterhaltungsfilms ab, denn sie werfen entweder einen kritischen Blick nicht nur auf die Vertreter*innen der staatlichen Autorität, sondern auf bestehende Ordnungsstrukturen. ‚Gut‘ und ‚Böse‘ werden, bezogen auf die Rollen wie auf das Verhalten der Figuren, als Zuschreibungen entlarvt, die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen und die Kontingenzerfahrungen der (post-)modernen Gesellschaft lassen kein logisch-teleologisches Konzept von Aufklärung, hier verstanden als Aufklärung von Verbrechen, mehr zu. Das heißt nicht, dass ethisches Handeln unmöglich geworden wäre. Es ist nur schwieriger geworden, denn es muss situativ und (selbst-)verantwortlich abgesichert werden und es muss nicht mehr zur Folge haben, dass dadurch die gezeigte Welt ein Stück besser geworden ist. Kriminalfilm ist also nicht gleich Kriminalfilm, und dies betrifft weniger die viel diskutierte, schwer festzulegende Zugehörigkeit zu den diversen Subgenres (Detektivfilm, Thriller u. a.) als vielmehr die aus der filmischen Inszenierung resultierende Haltung zur „Ordnung des Diskurses“ (Foucault 2000) einer Gesellschaft. Der Kriminalfilm ist auch deshalb eines der span‐ nendsten Genres, nur auf andere Weise, als dies gängige Rezeptionsmodi vermuten lassen. 3. Literatur- und filmgeschichtlicher Abriss 72 <?page no="73"?> Fragen zu diesem Kapitel: Was ist und welche Rolle für die Entwicklung des Genres spielt ‚der Pitaval‘? Mit welchem Text gerät die Motivation des Verbrechens in den Blick der Kriminalerzählung? Wann beginnt die Entwicklung des Kriminalfilms? Welche Rolle spielen Normverletzungen? Welche Bedeutung hat der Nervenkitzel? Wie machen Kriminalerzählungen in Literatur und Film Kategorien wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘ als Zuschreibungen kenntlich? Welche Überschneidungen gibt es zwischen Kriminal-, Detektiv- und Spionagefilmen (oder -serien)? Welche die Grenzen des Genres erweiternden Filme wären beispiels‐ weise zu nennen? Inwiefern wird die Grenze von Kriminalfilm, Kriminalkomödie und Gesellschaftssatire fließend? Wie werden Ordnungsstrukturen und Kontingenzerfahrungen mitein‐ ander vermittelt? 3.2 Vom Buch zum Film 73 <?page no="75"?> 4. Kriminalerzählungen 4.1 Ein Sammelbegriff Erzählt wird (fast) immer und überall, der Begriff der Erzählung kann daher zugleich allgemein und spezifischer als Gattungsbegriff der Literatur verstanden werden. Zur Gattung der Erzählung werden in der Literatur alle Erzähltexte gerechnet, die nicht als Roman bezeichnet werden, die in der Regel kürzer als ein Roman sind, aber länger und offener als an‐ dere Gattungen wie Novelle, Kurzgeschichte, Märchen, Legende u. a. Eine Erzählung wird bestenfalls dadurch definiert, dass sie keine besonderen Merkmale hat. Die Verwendung von Gattungsbegriffen kann insbesondere bei der Erzählung differieren. Die Begriffe Erzählung und Novelle werden nicht selten synonym verwendet. Bei Novellenzyklen spricht man von Rahmenerzählungen, in die Novellen eingebettet sind. Theodor Fontane beispielsweise zog den offeneren Begriff dem der Novelle vor, während sich die Forschung gern, wenn es um Fontanes ‚Erzählungen‘ geht, des Begriffs der Novelle bedient. Kriminalerzählung wird hier, die Filmerzählungen einschließend, als Sammelbegriff für alle Krimis verstanden, die nicht Detektiverzählung oder Thriller sind. Dass es sich dabei um keine klar festlegbare Grenze handelt, soll am abschließenden Beispiel dieses Kapitels noch einmal gezeigt werden. Krimis kreisen um ein Verbrechen und sie haben Merkmale von Detek‐ tiverzählung und / oder Thriller. Während bei Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre die Detektion fehlt, spielt sie in Fontanes Unterm Birnbaum eine nicht unwesentliche Rolle, auch wenn sie - oder gerade weil sie - vom Täter beabsichtigt zu falschen Ergebnissen führt. In Nele Neuhaus’ Böser Wolf wird die Handlung auch durch die Detektion vorangetrieben, doch ent‐ faltet sich das Geschehen dynamisch und die Ermittler*innen sind oftmals überfordert und hinken der Entwicklung hinterher. Thrillerelemente, verstanden als spannungserzeugendes und auf ‚böse‘ Taten gerichtetes Handeln, gibt es schon bei Schiller und auch bei Fontane und Neuhaus. Sie sind konstitutiv für die meisten Krimis und sie sind wohl nur bei besonderen Detektiverzählungen, die sich auf die Auflösung eines zurückliegenden Falls konzentrieren, zu vernachlässigen. <?page no="76"?> Freilich bleibt es dabei, dass Krimi der Oberbegriff ist, da er alle Texte und Filme meint, die um ein Verbrechen kreisen. Insofern muss man mit der Unschärfe leben und sich stets fragen, was weshalb im engeren oder weiteren Sinn als Krimi bezeichnet werden kann. 4.2 Der Anfang im 18. Jahrhundert mit der Frage nach dem Motiv der (Un-)Tat: Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) Als der erste bedeutende moderne Krimi im engeren und im weiteren Sinn kann Schillers Erzählung gelten, die nicht nur ein Verbrechen schildert, sondern auch und besonders die Frage nach der Motivation hinter der Tat stellt und deshalb den Täter als individuelle Figur zeichnet. Schiller hatte Vorlagen, die auf einen realen Fall zurückgehen - den des sogenannten ‚Sonnenwirts‘ Friedrich Schwan (1729-60): „Es handelte sich um einen we‐ gen Mordes und Raubes im Juni 1760 in Mergentheim öffentlich geräderten Kriminellen, der auch jenseits der Grenzen Schwabens als berüchtigt galt“ (Alt 2009, 513). Der Erstdruck in der Zeitschrift Thalia trug noch den Titel Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte. 1792 erschien dann, diesmal auch unter Schillers Namen, eine zweite, im Text nur leicht veränderte Druckfassung (in den Kleineren prosaischen Schriften) mit dem geänderten Titel (vgl. Schiller 1993b, 1060 f.). Die Bewertung wird damit deutlich verändert, der Verbrecher wird nicht mehr als ‚infam‘ bezeichnet - auch wenn der ursprüngliche Titel ein Kunstgriff gewesen sein kann, um das Lesepublikum, das wenig Sympathie für Verbrecher wie den seinerzeit bekannten ‚Sonnenwirt‘ gehabt haben dürfte, im Laufe der Erzählung zu einer milderen Auffassung zu bekehren. Schließlich bezeichnet sich die Hauptfigur des Wilhelm Tell (1804) in ihrem berühmten Monolog in der ‚hohlen Gasse‘ als Mörder, obwohl das Schau‐ spiel keinen Zweifel daran lässt, dass es sich bei dem ‚Mord‘ an Landvogt Geßler um eine absolut notwendige Tat handelt, mit der Tell unschuldige Leben rettet und die Schweiz von der Tyrannei befreit (Neuhaus 2017a, 112). Dennoch ist der zweite Titel Der Verbrecher aus verlorener Ehre präziser und er macht neugieriger, weil er den Verlust der ‚Ehre‘ als zentrales Ereignis setzt und implizit die Frage aufwirft, wie es so weit kommen konnte. 4. Kriminalerzählungen 76 <?page no="77"?> Bereits der Anfang (des Zweitdrucks, dem hier gefolgt wird) setzt die Motivation der Tat zentral und betont darüber hinaus noch ihre allgemeine Bedeutung: In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen. Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnismäßig große Kraft in Bewegung. Wenn sich das geheime Spiel der Begehrungskraft bei dem matteren Licht gewöhnlicher Affekte versteckt, so wird es im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender […]. (Schiller 1993b, 13) Erstaunlich ist, dass Schillers Erzählung hier bereits, mehr als ein Jahrhun‐ dert vor den wichtigen Schriften Sigmund Freuds und lange vor den Ereig‐ nissen und Einsichten des 20. Jahrhunderts, alle Menschen als potenzielle Täter sieht, wenn die „Begehrungskraft“ nur, durch äußere Umstände und Einflüsse angestachelt, groß genug wird. Auch wenn betont wird, dass es „die republikanische Freiheit des lesenden Publikums“ sei, „selbst zu Gericht zu sitzen“ (Schiller 1993b, 14), so wird doch ebenso hervorgehoben, dass die Figur, um die es geht, zwar „durch des Henkers Hand“ gestorben sei, dass aber die „Leichenöffnung seines Lasters“ dennoch die Auffassung von „Gerechtigkeit“ modifizieren werde (Schiller 1993b, 15). Die Leserlenkung wird durch die Namensgebung fortgesetzt. Christian Wolf ist ein paradoxer Name, der das Christliche und das Kreatürliche, den Heilsbringer der Menschen und das gefürchtete Raubtier zusammenbringt. Wir erfahren, dass der Vater gestorben ist und der Sohn seiner Mutter hilft, mehr schlecht als recht die ‚schlechte‘ Gastwirtschaft zur „Sonne“ zu betrei‐ ben (Schiller 1993b, 16). Zu den sozialen Nachteilen kommen physische: „Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt“ (ebd.). Diese Ausgangssituation wird bereits bestimmend für Wolfs weiteres Leben: „Er wollte ertrotzen, was ihm verweigert war; weil er mißfiel, setzte er sich vor, zu gefallen. Er war sinnlich und beredete sich, daß er liebe. Das Mädchen, das er wählte, mißhandelte ihn […]“ (ebd.). Um sie mit Geschenken zu beeindrucken wird Wolf ein „Wilddieb“, damit konkurriert er aber auf fatale Weise mit einem seiner Nebenbuhler um die Gunst „Hannchens“. Es handelt sich um „Robert, ein Jägerpursche des Försters“ (ebd.). Der schafft es, Wolf auf die Spur zu kommen, und erreicht eine Bestrafung, die den jungen Wirt um sein ‚ganzes kleines Vermögen‘ bringt (Schiller 1993b, 17). 4.2 Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) 77 <?page no="78"?> Einmal auf dem abschüssigen Weg, macht Wolf weiter - er wird wieder von Robert überführt und muss nun für ein Jahr ins Zuchthaus (ebd.). Danach möchte er sich bessern, doch es wird ihm nicht erlaubt: Das Strafjahr war überstanden, seine Leidenschaft durch die Entfernung gewach‐ sen und sein Trotz unter dem Gewicht des Unglücks gestiegen. Kaum erlangt er die Freiheit, so eilt er nach seinem Geburtsort, sich seiner Johanne zu zeigen. Er erscheint: man flieht ihn. Die dringende Not hat endlich seinen Hochmut gebeugt und seine Weichlichkeit überwunden - er bietet sich den Reichen des Orts an und will für den Taglohn dienen. Der Bauer zuckt über den schwachen Zärtling die Achsel; der derbe Knochenbau seines handfesten Mitbewerbers sticht ihn bei diesem fühllosen Gönner aus. Er wagt einen letzten Versuch. Ein Amt ist noch ledig, der äußerste verlorne Posten des ehrlichen Namens - er meldet sich zum Hirten des Städtchens, aber der Bauer will seine Schweine keinem Taugenichts anvertrauen. In allen Entwürfen getäuscht, an allen Orten zurückgewiesen, wird er zum drittenmal Wilddieb, und zum drittenmal trifft ihn das Unglück, seinem wachsamen Feind in die Hände zu fallen. (ebd.) Die Bewertung des Verhaltens der ironisch so bezeichneten ‚Gönner‘ ist eindeutig, nicht einmal Schweine werden dem reuigen Sünder anvertraut. Man kann hier auch eine Anspielung auf die Bibel erkennen, darin lässt Jesus die Dämonen in Schweine fahren und ertrinken (Markus 5, 1-20). Christian Wolf wird aber gerade keine Erlösung zuteil wie dem Mann, der von den bösen Geistern beherrscht und von Jesus geheilt wird. Der Eindruck der Inhumanität des Verhaltens gegenüber Christian Wolf wird durch den intertextuellen Verweis noch verstärkt. Aller schlechten Dinge sind in dem Fall drei und der dritte Rückfall wird mit drei Jahren Zuchthaus bestraft, die aus Wolf endgültig einen Verbrecher werden lassen. Der Erzähler wählt, um die Glaubwürdigkeit der Schilderung zu erhöhen, die direkte Rede einer als ehrlich markierten Zeugenaussage: Auch diese Periode verlief, und er ging von der Festung - aber ganz anders, als er dahin gekommen war. Hier fängt eine neue Epoche in seinem Leben an; man höre ihn selbst, wie er nachher gegen seinen geistlichen Beistand und vor Gerichte bekannt hat. „Ich betrat die Festung“, sagte er, „als ein Verirrter und verließ sie als ein Lotterbube. Ich hatte noch etwas in der Welt gehabt, das mir teuer war, und mein Stolz krümmte sich unter der Schande. Wie ich auf die Festung gebracht war, sperrte man mich zu dreiundzwanzig Gefangenen ein, unter denen zwei Mörder und die übrigen alle berüchtigte Diebe und Vagabunden waren. Man verhöhnte 4. Kriminalerzählungen 78 <?page no="79"?> mich, wenn ich von Gott sprach, und setzte mir zu, schändliche Lästerungen gegen den Erlöser zu sagen. Man sang mir Hurenlieder vor, die ich, ein lüderlicher Bube, nicht ohne Ekel und Entsetzen hörte, aber was ich ausüben sah, empörte meine Schamhaftigkeit noch mehr. Kein Tag verging, wo nicht irgendein schändlicher Lebenslauf wiederholt, irgendein schlimmer Anschlag geschmiedet ward. Anfangs floh ich dieses Volk und verkroch mich vor ihren Gesprächen, so gut mirs möglich war, aber ich brauchte ein Geschöpf, und die Barbarei meiner Wächter hatte mir auch meinen Hund abgeschlagen. Die Arbeit war hart und tyrannisch, mein Körper kränklich, ich brauchte Beistand, und wenn ichs aufrichtig sagen soll, ich brauchte Bedaurung, und diese mußte ich mit dem letzten Überrest meines Gewissens erkaufen. So gewöhnte ich mich endlich an das Abscheulichste, und im letzten Vierteljahr hatte ich meine Lehrmeister übertroffen. Von jetzt an lechzte ich nach dem Tag meiner Freiheit, wie ich nach Rache lechzte. Alle Menschen hatten mich beleidigt, denn alle waren besser und glücklicher als ich. Ich betrachtete mich als den Märtyrer des natürlichen Rechts und als ein Schlachtopfer der Gesetze.“ (Schiller 1993b, 18) Hier wird bereits eindrücklich zu einer Zeit, in der überhaupt erst der moderne Strafvollzug entsteht, die Möglichkeit zur Resozialisierung ein‐ gefordert. Wie unzeitgemäß dies sogar heute noch sein kann, zeigt ein Blick auf den Strafvollzug in anderen Ländern, darunter auch in den USA. Wolfs Rückkehr in seinen Heimatort macht deutlich, dass er nicht nur geächtet wird, sondern auch, dass ihm nichts mehr geblieben ist. Niemand, den er einst kannte, ist noch bereit, ihn zu grüßen. ‚Seine‘ Johanne hat sich durch Prostitution in „die verworfenste Kreatur“ verwandelt. Seine Mutter ist gestorben und das Häuschen gepfändet: „Ich hatte niemand und nichts mehr“ (Schiller 1993b, 20). Wolfs Entschluss steht fest: „Ich wollte mein Schicksal verdienen“ (Schiller 1993b, 21). Immer noch ist damit die Wilddieberei gemeint, der er ohne schlechtes Gewissen nachgeht, zumal es keine andere Möglichkeit des Überlebens mehr für ihn gibt. Durch eine zufällige Begegnung wird er nun erst zum wahren Verbrecher - zum Mörder. Er sieht im Wald seinen früheren Nebenbuhler, „den Jäger Robert“ (ebd.). Er erschießt ihn, nicht ohne vom Erzähler durch die Schilderung der Tat implizit mildernde Umstände zugebilligt zu bekommen: „Eine unsichtbare fürchterliche Hand schwebte über mir, der Stundenweiser meines Schicksals zeigte unwiderruflich auf diese schwarze Minute. Der Arm zitterte mir, da ich meiner Flinte die schreckliche Wahl erlaubte - meine Zähne schlugen zusammen wie im Fieberfrost, und der Odem sperrte sich erstickend in 4.2 Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) 79 <?page no="80"?> meiner Lunge. Eine Minute lang blieb der Lauf meiner Flinte ungewiß zwischen dem Menschen und dem Hirsch mitten inne schwanken - eine Minute - und noch eine - und wieder eine. Rache und Gewissen rangen hartnäckig und zweifelhaft, aber die Rache gewanns, und der Jäger lag tot am Boden.“ (Schiller 1993b, 21 f.) Die Schilderung zeigt, dass sich Christian Wolf im Moment der Tat gar nicht bewusst ist, was er tut, und dass er erst im Angesicht des Toten beginnt, seine neue, viel größere Schuld zu realisieren. Und noch einmal wird deutlich, dass er seine Tat nicht bewusst und mit Vorsatz ausgeführt hat: „Etwas ganz besonders Schreckbares lag für mich in dem Gedanken, daß von jetzt an mein Leben verwirkt sei. Auf mehreres besinne ich mich nicht mehr. Ich wünschte gleich darauf, daß er noch lebte. Ich tat mir Gewalt an, mich lebhaft an alles Böse zu erinnern, das mir der Tote im Leben zugefügt hatte, aber sonderbar! mein Gedächtnis war wie ausgestorben. Ich konnte nichts mehr von alle dem hervorrufen, was mich vor einer Viertelstunde zum Rasen gebracht hatte. Ich begriff gar nicht, wie ich zu dieser Mordtat gekommen war.“ (ebd.) Selbst in diesem Moment der größten Schuld - immerhin hat er einem Menschen das Leben genommen - versucht Wolf, Reste von Anstand zu bewahren: „Unwillkürlich verlor ich mich tiefer in den Wald. Auf dem Wege fiel mir ein, daß der Entleibte sonst eine Taschenuhr besessen hätte. Ich brauchte Geld, um die Grenze zu erreichen - und doch fehlte mir der Mut, nach dem Platze umzuwenden, wo der Tote lag. Hier erschreckte mich ein Gedanke an den Teufel und eine Allgegenwart Gottes. Ich raffte meine ganze Kühnheit zusammen; entschlossen, es mit der ganzen Hölle aufzunehmen, ging ich nach der Stelle zurück. Ich fand, was ich erwartet hatte, und in einer grünen Börse noch etwas weniges über einen Taler an Gelde. Eben da ich beides zu mir stecken wollte, hielt ich plötzlich ein und überlegte. Es war keine Anwandlung von Scham, auch nicht Furcht, mein Verbrechen durch Plünderung zu vergrößern - Trotz, glaube ich, war es, daß ich die Uhr wieder von mir warf und von dem Gelde nur die Hälfte behielt. Ich wollte für einen persönlichen Feind des Erschossenen, aber nicht für seinen Räuber gehalten sein.“ (Schiller 1993b, 23) Nun wird der „Sonnenwirt“ (Schiller 1993b, 25) auch Mitglied und sogar Anführer einer Räuberbande (Schiller 1993b, 28) - ähnlich wie Karl Moor in Schillers erstem Drama Die Räuber von 1981, dessen Verhalten ebenfalls durch die Umstände motiviert erscheint und der letztendlich erfolglos 4. Kriminalerzählungen 80 <?page no="81"?> versucht, ein ‚edler‘ Räuber zu werden. Die Begegnung Wolfs mit einem ‚wilden Mann‘ (Schiller 1993b, 24), die Bemerkung: „In dem Zustande, worein ich versunken war, hätte ich mit dem höllischen Geiste Kamerad‐ schaft getrunken, um einen Vertrauten zu haben“ (Schiller 1993b, 25), der „Abgrund“, in dem die Räuberbande haust (Schiller 1993b, 26) und weitere Anspielungen deuten auf einen Teufelspakt. Doch führt gerade das Räuberleben bei dem ‚Verbrecher aus verlorener Ehre‘ zu einem immer stärker werdenden Gefühl von „Reue“ (Schiller 1993b, 30) und er beschließt, den Ausbruch des Siebenjährigen Krieges für einen letzten Versuch der Rückkehr in die gesellschaftliche Ordnung zu nutzen: Der Unglückliche schöpfte Hoffnung von diesem Umstand und schrieb einen Brief an seinen Landesherrn, den ich auszugsweise hier einrücke: „Wenn Ihre fürstliche Huld sich nicht ekelt, bis zu mir herunterzusteigen, wenn Verbrecher meiner Art nicht außerhalb Ihrer Erbarmung liegen, so gönnen Sie mir Gehör, durchlauchtigster Oberherr. Ich bin Mörder und Dieb, das Gesetz verdammt mich zum Tode, die Gerichte suchen mich auf - und ich biete mich an, mich freiwillig zu stellen. Aber ich bringe zugleich eine seltsame Bitte vor Ihren Thron. Ich verabscheue mein Leben und fürchte den Tod nicht, aber schrecklich ist mirs zu sterben, ohne gelebt zu haben. Ich möchte leben, um einen Teil des Vergangenen gutzumachen; ich möchte leben, um den Staat zu versöhnen, den ich beleidigt habe. Meine Hinrichtung wird ein Beispiel sein für die Welt, aber kein Ersatz meiner Taten. Ich hasse das Laster und sehne mich feurig nach Rechtschaffenheit und Tugend. Ich habe Fähigkeiten gezeigt, meinem Vaterland furchtbar zu werden, ich hoffe, daß mir noch einige übrig geblieben sind, ihm zu nützen.“ (Schiller 1993b, 30) Doch wird der Fürst nicht „Gnade für Recht ergehen“ lassen (Schiller 1993b, 31). Wolf bekommt keine Antwort, auch nicht auf weitere Bittschriften und er verlässt die Räuberbande, um „aus dem Land zu fliehen und im Dienste des Königs von Preußen als ein braver Soldat zu sterben“ (Schiller 1993b, 31). Unterwegs wird er in einer „kleine[n] Landstadt“ (ebd.) durch eine Passkontrolle aufgehalten und macht schließlich einem „Richter“, der ihn „mit ziemlich brutalem Ton“ ausfragt (Schiller 1993b, 33), das Geständnis seiner wahren Identität, denn: „Ich glaube, daß Sie ein edler Mann sind“ (Schiller 1993b, 34). Mit Wolfs Worten „Ich bin der Sonnenwirt“ (Schiller 1993b, 35) endet die Erzählung. Doch wissen die Leser*innen durch deren Anfang bereits, dass es für Christian Wolf kein Happy End geben wird - anders als am Schluss von Wilhelm Hauffs Märchen-Almanach Die Karawane (1825), der mit dem inter‐ 4.2 Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) 81 <?page no="82"?> textuell auf Schillers Erzählung verweisenden Geständnis endet: „Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber Orbasan“ (Hauff 1981, 684). Selim Baruch alias Orbasan ist ein Beispiel für gelungene Resozialisierung und offenbart mit dem positiven Beispiel einer mehrfach als ‚fremd‘ markierten Figur die Defizite einer späteren Zeit (Neuhaus 2017, 88b). Schillers kurze Erzählung hat, das kann hier nur angedeutet werden, eine kaum zu überschätzende Wirkung entfaltet. Sie ist unzeitgemäß modern, auch durch die verwendeten Techniken, die viel weiter gehen als die sonst bekannten und verbreiteten Schriften über Kriminalfälle: „Ihre besondere Wirkung entfaltet Schillers ‚wahre Geschichte‘ zumal durch die Technik des Perspektivwechsels, die es gestattet, neben der Stimme des Erzählers auch jene Christian Wolfs zu Gehör zu bringen“ (Alt 2009, 521). So etwas war im Kontext der Zeit unerhört. 4.3 Der Einbruch von Kontingenz: Theodor Fontanes Unterm Birnbaum (1891) Die 1890 in der populären Zeitschrift Die Gartenlaube gekürzt vorabge‐ druckte und 1891 in Buchform erschienene Erzählung (Fontane 1969, 315) zeigt eine durch und durch egoistische, auf Wohlstand und Zeitvertreib achtende, Zivilisation als Fassade wahrende Dorfgemeinschaft, die als Mikrokosmos der Gesellschaft gelesen werden kann. Als erste bekannte Kriminalerzählung kommt Unterm Birnbaum ohne positive Figuren aus. Die Hauptfigur entpuppt sich als gerissener Mörder, seine scheinbar gläubige Frau als scheinheilige Mittäterin und die Vertreter der öffentlichen Ordnung sind unfähige Ignoranten oder Säufer (oder beides). Dies ist nicht nur für die Literatur des (ausgehenden) 19. Jahrhunderts ungewöhnlich. Fontanes Erzählung inszeniert ein soziologisches Experiment und weist nach, dass der Firnis der Zivilisation ausgesprochen dünn ist. Wie so oft dient Fontane ein reales Ereignis als Schreibanlass: „Der Letschiner Mord wurde 1836 tatsächlich an einem Handelsreisenden im Dorfkrug verübt. […] Der vermeintliche Mörder ist auch der Gastwirt, der von der Justiz nicht gefaßt wird, aber trotzdem zugrunde geht“ (Sagarra 2000, 557). Über die Erzählung ist viel geschrieben worden und es wäre einiges zurechtzurücken. Dass „das Verbrechen unerzählt bleibt“, sei ‚auf‐ fällig‘, meint Michael Bohrmann (Bohrmann 2001, 27). Dabei gehört es zu Fontanes Stil und zur Praxis der Andeutung in der Literatur bis zur Moderne 4. Kriminalerzählungen 82 <?page no="83"?> um 1900, gerade das Wesentliche auszusparen. Schon bei Kleist wird die Vergewaltigung der Marquise von O… (1808) gerade nicht erzählt und auch Effi Briests Ehebruch, um den Fontanes berühmtester Roman kreist, bleibt ausgespart. Ebenso wenig nachvollziehbar ist, dass Gerhard Friedrich Glaubwürdigkeit bei der Zeichnung der Hauptfigur der Erzählung vermisst, deren „Innenwelt“ sich zu wenig zeige (Friedrich 1991, 134), obwohl genau darin ein Teil der Modernität der Erzählung begründet liegt. Abb. 4.1: In der Zeitschrift „Daheim“ erschien Fontanes Erzählung Unterm Birnbaum zum ersten Mal. 4.3 Der Einbruch von Kontingenz: Theodor Fontanes Unterm Birnbaum (1891) 83 <?page no="84"?> Wie bei Fontanes Romanen und Erzählungen üblich, steckt der Anfang voller Vorausdeutungen: Vor dem in dem großen und reichen Oderbruchdorfe Tschechin um Michaeli 20 eröffneten Gasthaus und Materialwarengeschäft von Abel Hradscheck (so stand auf einem über der Tür angebrachten Schilde) wurden Säcke vom Hausflur her auf einen mit zwei mageren Schimmeln bespannten Bauernwagen geladen. Einige von den Säcken waren nicht gut gebunden oder hatten kleine Löcher und Ritzen, und so sah man denn an dem, was herausfiel, daß es Rapssäcke waren. (Fontane 1969, 223) Das Dorf ist groß und reich, es steht Pars pro Toto für das durch die sogenannte Gründerzeit prosperierende Wilhelminische Kaiserreich. Der Wirt ist ein Zugereister, allerdings aus der Nachbarschaft, seinen Namen hat er von seinen böhmischen Vorfahren (Fontane 1969, 258). Seine ursprüng‐ lich katholische Frau Ursel kommt aus der Nähe von Hildesheim (ebd.), ihr Verhalten wird immer wieder als „Vornehmtun“ (ebd.) charakterisiert. Innerhalb des reichen Dorfes ist Hradschek, wie sich herausstellen wird, ein vergleichsweise armer Wirt und Händler, allerdings aus eigener Schuld, auf die bereits die schlecht gebundenen Rapssäcke hinweisen. Es ist, wie seine Frau ihm vorhält, „das verdammte Spiel“ und „dazu das Trinken“, das ihn um „Haus und Hof “ bringen könnte (Fontane 1969, 226): „Du bist kein guter Kaufmann, denn du hast das Kaufmännische nicht gelernt, und du bist kein guter Wirt, denn du spielst schlecht oder doch nicht mit Glück und trinkst nebenher deinen eigenen Wein aus“ (Fontane 1969, 233). Dabei steckt in seinem Namen das tschechische Wort für ‚Spieler‘ (Bohrmann 2001, 17), als der er sich auch im Mordgeschehen erweisen wird. Die am Anfang „trotz seines Verbotes mal wieder offen stehende Falltür“ (Fontane 1969, 224) weist auf Hradscheks Tod unter eben dieser Falltür am Ende der Erzählung voraus. Aus eigener Schuld wird er sie nicht mehr öffnen können, denn er hat, um seine finstere Tat zu tarnen, das eine Reihe Ölfässer an ihrem Platz haltende Brett genommen, um das Licht im Keller nach außen abzuschirmen (Fontane 1969, 309). Im Garten steht ein alter Birnbaum (Fontane 1969, 224), unter dem Hradschek die Leiche eines offenbar wäh‐ rend der sogenannten Befreiungskriege gegen Napoleon hier verscharrten Franzosen findet, was ihn erst auf die Idee zum Mord bringt (Fontane 1969, 230). Das Skelett hilft ihm bei seinem Täuschungsmanöver. Nachdem er den Reisenden Szulksi, der für die Krakauer Firma Olszewski-Goldschmidt und Sohn Geld eintreiben soll (Fontane 1969, 241), aus Habgier ermordet hat, tut 4. Kriminalerzählungen 84 <?page no="85"?> er so, als wolle er unterm Birnbaum etwas begraben (Fontane 1969, 250 f.). Hradschek geht davon aus, dass seine Nachbarin, die „alte Hexe“ Witwe Jeschke (Fontane 1969, 276), ihn beobachten und dies früher oder später dem Dorfgendarmen Geelhaar (einer der vielen sprechend-ironischen Namen der Erzählung) melden wird, wenn die Suche nach dem verschwundenen Reisenden, dessen „Fuhrwerk unten in der Oder“ gefunden wird (Fontane 1969, 253), erfolglos bleibt. Da die Leiche jedoch im Keller vergraben ist, suchen Justiz und Polizei an der falschen Stelle. Hradscheks Erklärung, dass er nur verdorbene Speckseiten vergraben wollte und dabei zunächst selbst das Skelett fand, führt schließlich, wie offenbar von ihm geplant, zu seiner Entlastung und Entlassung, denn an einer von ihm bezeichneten Stelle im Garten werden die Speckreste gefunden (Fontane 1969, 273). Die Handlung beginnt 1831 und erstreckt sich über zwei Jahre. 1830 war das Jahr der Julirevolution, wir befinden uns in der unruhigen Zeit des Vormärz, diese Zeit des Umbruchs bildet nicht zufällig den Hintergrund für die Geschehnisse (vgl. Sagarra 2000, 557). So kann der Reisende Szulski von dem „polnischen Aufstand“ erzählen (Fontane 1969, 244), wobei die ausgeschmückten „Grausamkeiten“ (ebd.) auf sensationslüsterne Zuhörer treffen. Passenderweise ist der Hasardeur Hradschek zwar „für Freiheit und Revolution“, doch: „Wenn es aber Revolution nicht sein konnte, so war er auch für Tyrannei. Bloß gepfeffert mußte es sein. Aufregung, Blut, Totschießen“ (Fontane 1969, 281). Symbolischerweise beginnt und endet die Handlung im Herbst. Nach dem ersten Jahr stirbt Hradscheks Frau an Gewissensbissen, nach dem zweiten Jahr Hradschek durch selbst herbeigeführte, aber letztlich ungeklärte Um‐ stände (es ist von einem Spuk die Rede und eine Todesursache wird nicht festgestellt; Fontane 1969, 310 f.). Der Herbst weist schon am Anfang auf Tod und Untergang. Hradschek spaziert „rechnend und wägend“ im Garten (ebd.), will aber seine eigenen Birnen nicht ernten und beschwert sich bei seiner Nachbarin Jeschke lieber über seinen Angestellten Ede. Dass Faulheit nicht belohnt wird, weiß man nicht erst seit Grimms Märchen Frau Holle. Zum Herbst mit seinen herabfallenden Birnen passt die schwarze Klei‐ dung von Hradscheks - allerdings für ihren Stand zu sehr „auf Figurmachen und Toilettendinge“ achtender - Frau, die um ihre beiden toten Kinder trauert, für deren „Sterbetag“ sie Kränze vorbereitet (Fontane 1969, 226). Der Tod der Kinder liegt symbolische „sieben Jahre“ zurück (Fontane 1969, 234). „Sieben also! “, triumphiert der abergläubische Hradschek bei einem Wurf auf seiner Kegelbahn, bevor er ein Schreiben erhält, das zu seinem Mordplan 4.3 Der Einbruch von Kontingenz: Theodor Fontanes Unterm Birnbaum (1891) 85 <?page no="86"?> gehört und mit dem er die Tschechiner noch vor dem Mord Glauben machen wird, dass seine Frau geerbt hat (Fontane 1969, 237 f.). Dass ausgerechnet die positiv besetzte Zahl sieben ihm nicht helfen wird, zeugt eher von poetischer Gerechtigkeit, allerdings mit einer großen Prise erzählerischer Ironie. Nichts ist so, wie es zu sein scheint. Unterm Birnbaum liegt nicht der falsche Pole, sondern der (echte? ) Franzose (Fontane 1969, 271 u. 277). Hradschek ist kein Ausländer, er hat lediglich böhmische Vorfahren und es wird angedeutet (allerdings aus der Sicht missgünstiger Dorfbewohner), dass er, als er noch in Neu-Lewin lebte, seine frühere Freundin Rese nicht nur hat „sitzen lassen“: „Und mit eins war sie weg, und keiner weiß wie und warum. Und war auch von Ausgraben die Rede […]“ (Fontane 1969, 240). Vielleicht liegt hier der Grund, weshalb er nach Amerika auswandern wollte (Fontane 1969, 258). Seine Frau war „mutmaßlich Schauspielerin“ (ebd.) und scheint bereits schwanger gewesen zu sein, als Hradschek sie kennenlernte (Fontane 1969, 235). Es bleiben nicht nur in den Lebensläufen dieser beiden Figuren „einige dunkle Punkte“ (Fontane 1969, 259), über die, wenn überhaupt, bis zum Ende der Erzählung nur Vermutungen angestellt werden. Hradschek gibt sich als Atheist: „Ich denke, leben ist leben, und tot ist tot. Und wir sind Erde, und Erde wird wieder Erde. Das andere haben die Pfaffen sich ausgedacht. Spiegelfechterei sag ich, weiter nichts“ (Fontane 1969, 288). Er erschrickt unmittelbar darauf aber „heftig“, als seine sterbende Frau die Rache der Toten heraufbeschwört (Fontane 1969, 289). Auch versucht er gern sein Glück und gibt dabei viel auf Zeichen, wenn er Lotterie spielt (Fontane 1969, 227 f.) oder wenn er eine Leiche ausgräbt; dabei soll ihn Farnkrautsamen unsichtbar machen (Fontane 1969, 229 u. 305 ff.). Dass er die Kirche kritisiert, aber ausgerechnet der „alte[n] Hexe“ (Fontane 1969, 276) Jeschke die Mär von dem Farnkrautsamen glaubt, „als ob es ein Evangelium wär“ (Fontane 1969, 229), ist die andere Seite des so klugen und rationalen Verhaltens, mit dem er glaubt, aus dem Mord ökonomisches wie symbolisches Kapital schlagen zu können. Der „beständig zwischen Aber- und Unglauben hin und her schwankende Hradschek“ (Fontane 1969, 228) hat in diesem unguten Verhalten Vorläufer bei Schiller (Fontane kannte ‚seinen‘ Schiller gut), und zwar in Franz Moor (in den Räubern) und in der Figur des Wallenstein. Auch Hradscheks Frau handelt äußerst gewissenlos; weshalb sie „die einzige reflektierte Gestalt im Werk“ sein soll (Sagarra 2000, 563), erschließt sich daher nicht. Aus Angst vor Armut spielt sie ihre „Rolle“ (Fontane 1969, 4. Kriminalerzählungen 86 <?page no="87"?> 242) als den Gasthof in aller Frühe verlassender Szulski (Fontane 1969, 252 f.), der dann schon erschlagen und begraben im Keller liegt. Ursel Hradschek geht sogar so weit, dem Pastor zu schreiben, dass sie ihren Mann nicht im Gefängnis besuchen wolle: „Wenn er schuldig sei, so sei sie für immer von ihm geschieden“ (Fontane 1969, 264). Die angeblich gläubige Frau belügt ihren Pastor und ihren Gott, ebenso wie ihr Mann sie betrügt, wenn er ihrem letzten Willen, für sie Messen lesen zu lassen, durch eine Intrige nicht nachkommt und von ebendem Geld (vgl. Fontane 1969, 293 f.), ohne diesen Umstand gegenüber der Dorföffentlichkeit zu erwähnen, mehr sich selbst als seiner toten Frau ein veritables Grabdenkmal setzen will: „Die ganze Rede hatte Hradschek mit bewegter und die Dankbarkeitsstelle sogar mit zitternder Stimme gesprochen, was eine große Wirkung auf die Bauern gemacht hatte“ (Fontane 1969, 278). Ursel Hradschek wird von ihrem perfekt schauspielernden Mann mani‐ puliert, der sein Mitgefühl, wie alles andere, nur vorspielt (vgl. dagegen Bohrmann 2001, 17 f.). Er weiß, dass es für sie das Schlimmste wäre, wieder arm zu sein (Fontane 1969, 231). Dafür macht er ihr ein schlechtes Gewissen, auch wenn ihr Anteil an der prekären finanziellen Situation gering sein dürfte. Ihr ganzer Stolz, ihre ‚feinen‘ Möbel, wurden aus ei‐ ner Konkursmasse erworben und sie wusste nichts davon, dass sie „von geborgtem Gelde“ gekauft werden mussten - falls es überhaupt stimmt und Hradschek es nicht nur so darstellt (Fontane 1969, 234). Auch könnte es sein, dass Hradschenks Vergangenheit, seine frühere Liebschaft, Anteil an der schwierigen finanziellen Ausgangssituation gehabt hat (vgl. ebd.). Immerhin warnt sie ihren Mann: „Es ist nichts so fein gesponnen…“ (Fontane 1969, 236). Dieser Satz wird am Ende der Erzählung von Pastor Eccelius bei seinem Eintrag ins Kirchenbuch wiederholt (Fontane 1969, 313). Allerdings hat sich gerade der treuherzige, auf seine Glaubessätze fixierte Pastor gegen alle Verdachtsgründe bis zuletzt überzeugt von der Unschuld des Ehepaars gezeigt. Auch gegenüber dem leitenden Ermittler, seinem „Duz- und Logenbruder“ (Fontane 1969, 257 f.) Justizrat Vowinkel, macht Ecclesius seinen Einfluss geltend, um die Unschuld des Ehepaars nachzuweisen. Dabei ist es, wie sich später herausstellt, ein Teil von Abel Hradscheks Plan, erst verhaftet und dann von dem Verdacht reingewaschen zu werden. Das Ehepaar Hradschek ist keine Ausnahme, wenn es um negative Charak‐ tereigenschaften geht. Alle anderen Figuren, soweit sie näher charakterisiert werden, scheinen es mit den gesellschaftlichen Regeln nicht so ernst zu nehmen. Über die Frau des reichen Bauern Quaas beispielsweise erfahren 4.3 Der Einbruch von Kontingenz: Theodor Fontanes Unterm Birnbaum (1891) 87 <?page no="88"?> wir, dass sie „aus dem Umstande, daß sie zwanzig Jahre jünger war als ihr Mann, ihr Recht zu fast ebenso vielen Liebschaften herleitete“ (Fontane 1969, 239). Der leichtgläubige Pastor (vgl. Fontane 1969, 291), der selbstgerechte „Kriminalist“ (Fontane 1969, 263) Justizrat Vowinkel, die Trinkrunde um Hradschek mit dem Dorfschulzen und den reichen Bauern, die „ihre blonde Nichte, die Line“ (Fontane 1969, 265) sowohl dem Dorfgendarmen Geelhaar als auch dem Witwer Hradschek anbietende Witwe Jeschke, der eingebildete Alkoholiker Geelhaar mit seinem „gedunsenen Kopf“ (Fontane 1969, 268) - sie alle kommen nicht gut weg, wenn es um die seit der Aufklärung propagierten bürgerlichen Werte wie Tugend und Anstand geht. Der höchste Wert der Gemeinschaft ist, wie sollte es anders sein, das Geld: „Denn Geld ausgeben (und noch dazu viel Geld) war das, was den Tschechinern als echten Bauern am meisten imponierte“ (Fontane 1969, 295). Auch das Opfer, der offenbar selbst recht wohlhabende Reisende Szulski, erscheint nicht als sonderlich sympathischer Zeitgenosse. Zu den Finten der Erzählung gehört, ihn als Polen vorzustellen, der „eigentlich ein einfacher Schulz aus Beuthen in Oberschlesien war und den Nationalpolen erst mit dem polnischen Samtrock samt Schnüren und Knebelknöpfen angezogen hatte“ (Fontane 1969, 243). Auch bei diesem „Pseudopolen“ (ebd.) ist offenbar - wie bei allen Hauptfiguren der Erzählung - zwischen Sein und Schein kaum zu unterscheiden. Darin ähnelt er Hradschek, der einen böhmischen Namen trägt und doch aus dem benachbarten Neu-Lewin kommt (Fontane 1969, 258). Wenn Szulski von einer ‚schönen Frau‘ erzählt, die mit ihren beiden Kindern auf der Flucht vor den Russen in die Weichsel sprang, dann kommentiert er dies mit den zweideutigen Worten, er hätte „ihr was Bessres gewünscht“ (Fontane 1969, 245). Die Bemerkung wird jedenfalls als Zweideutigkeit verstanden, wie das Schmunzeln Kunikes und die Erregung des „an einer Liebesader leidende[n] Mietzel“ zeigen (Fontane 1969, 246). Eine noch deutlichere Zweideutigkeit ist die dem gerade zum Witwer gewordenen Hradschek erzählte Geschichte „von einem alten Hauptmann von Rohr, der vier Frauen gehabt“ habe (Fontane 1969, 292). Das Phallische des Namens ist nicht zu übersehen, ebenso wie der Phallus die zentrale Rolle in folgender Episode spielt: „Diese Romanze behandelte die berühmte Geschichte vom Eckensteher, der einen armen Apothekerlehrling, ‚weil das Räucherkerzchen partout nicht stehen wolle‘, Schlag Mitternacht aus dem Schlaf klingelte, welche Geschichte damals nicht bloß die ganze vornehme Welt, sondern auch […]“ Hradschek begeistert (Fontane 1969, 299), was ebenso viel über Hradschek wie über die ganze vornehme Welt aussagt. 4. Kriminalerzählungen 88 <?page no="89"?> Die erzählerische Ironie ist allgegenwärtig. Als Szulski stirbt, gibt es natürlich „Sturm“ (Fontane 1969, 250), der, wie die Hausangestellte Male sagt, „‘nen Doden uppwecken“ könnte (Fontane 1969, 251). Weil er nicht rechtzeitig aufsteht, attestiert der Hausangestellte Jakob dem Reisenden „‘nen Dodensloap“ (Fontane 1969, 252). Ironisch sind die Namen, die Figu‐ rencharakterisierungen und die Symbolik. Ein Beispiel ist die folgende Stelle über die Witwe Jeschke: „Zugleich warf sie reichlich Kienäpfel auf, an denen sie nie Mangel litt, seit sie letzten Herbst dem vierjährigen Jungen vom Förster Notnagel, drüben in der neumärkischen Heide, das freiwillige Hinken wegkuriert hatte“ (Fontane 1969, 249). Jeschke ist also keine echte „Hexe“, sondern eine Scharlatanin, doch auch ihre ‚Patienten‘, die entweder freiwillig hinken oder Notnagel heißen, werden ironisiert oder komisiert. Nicht weniger eindrucksvoll als die Bezeichnung Förster Notnagel ist „Totengräber Wonnekamp“ (Fontane 1969, 271). Das möglicherweise unehe‐ liche Kind des Mörderpaars trägt den Namen Hermann Hradschek und wird „Lütt-Hermann“ genannt (Fontane 1969, 281). Zu der symbolisch-his‐ torischen Bedeutung des Namens Hermann (Hermann der Cherusker alias Arminius) und der hier offensichtlichen Ironisierung musste den aufmerk‐ samen zeitgenössischen Leser*innen wohl nichts gesagt werden. Der Vers des Spottliedes „Abel schlug den Kain tot“ (Fontane 1969, 257) trifft den Nagel auf seinen ironischen Kopf - die Bibelanspielung ist deutlich, die Verhältnisse werden aber umgekehrt, wie dies für Ironie eben typisch ist. Die Bibel-Erzählung von den feindlichen Brüdern Kain und Abel ist für Richard Alewyn der „älteste[n] und berühmteste[n] Kriminalfall unserer Überlieferung“ (Alewyn 1998, 53) und man kann davon ausgehen, dass Fontanes Erzählung nicht zufällig gerade darauf anspielt. Zumindest der Umgang mit dem Glauben, vielleicht auch der Glaube selbst gerät so in den Treibsand des fontaneschen Skeptizismus. Der Schluss desavouiert alle mit der Frage: „Warum hatte man sich hinters Licht führen lassen? “ (Fontane 1969, 311). Die Honoratioren sind „peinlich“ berührt durch ihr eigenes Versagen (ebd.), aber sie sind schlau genug, nicht darüber zu reden und gleich alles möglichst pragmatisch zu regeln. Weil nichts bewiesen ist, darf der Leichnam des Wirtes am Rand des Friedhofs verscharrt werden und dass die Dorfbewohner, wenn sie von der Leiche im Keller erfahren, das Grab der Frau schänden und das Denkmal „umreißen“ werden, ist in Kauf zu nehmen. Die beiden höchsten Vertreter der weltlichen und der geistlichen Ordnung am Ort, Schulze und Pastor, sind sich einig: „der Mensch verlangt auch seine Ordnung“ (Fontane 1969, 312). Geelhaar 4.3 Der Einbruch von Kontingenz: Theodor Fontanes Unterm Birnbaum (1891) 89 <?page no="90"?> resümiert: „Was war es denn auch groß? Ein Fall mehr. Darüber ging die Welt noch lange nicht aus den Fugen“ (ebd.). Ein solcher Schluss könnte, wenn man ihn auf die gezeigten Verhältnisse bezieht, kaum ironischer sein. Da Satire mit solcher Ironie arbeitet, ließe sich die Erzählung auch, wenn man alle entsprechenden Signale zusammennimmt, als satirisch bezeichnen. Das Repräsentative des Mikrokosmos und zugleich die satirische Skep‐ sis gegenüber dem zum Kaiserreich vergrößerten Preußen zeigt sich auch darin, dass Hradschek das mit Blutgeld errichtete Denkmal „auf der Kö‐ niglichen Eisengießerei bestellt hatte“ (Fontane 1969, 294) - und zwar jenes Denkmal, das die Tschechiner aller Voraussicht nach später zerstören werden. Hradschek vergnügt sich nach dem Tod seiner Frau in Berlin und übernachtet gern im „Gasthofe zum Kronprinzen“ (Fontane 1969, 296). Er schmiedet Heiratspläne, seine Angebetete ist „[…] die Tochter aus einem Destillationsgeschäft, groß und stark, mit etwas hervortretenden, immer lachenden Augen, eine Vollblut-Berlinerin. ‚Forsch und fidel‘ war ihre Losung, der auch ihre Lieblingsredensart: ‚Ach, das ist ja zum Totlachen‘ entsprach“ (Fontane 1969, 298). Auch die weitere Charakterisierung dieser Nebenfigur ist nicht schmeichelhaft und erweitert so die Satire auf die Provinz um die Groß- und Hauptstadt. Fontanes Kriminalerzählung hat alles, was üblicherweise zu einem Krimi gehört - Ermittler, Täter, einen Mord, eine Detektion, eine Auflösung. Doch bleibt, untypisch für den Krimi (vor allem bis zur literarischen Moderne), viel im Dunkeln und die hintergründig-schonungslose satirische Zeichnung der Figuren macht letztlich fast alle wenigstens zu Mitläufern. Es wäre sicher übertrieben, dies als Diagnose und Prognose für eine gesellschaftliche Entwicklung zu sehen, die in den Nationalsozialismus führt. Aber die Anzeichen sind da und Fontane zeigt sich einmal mehr als der über sein Jahrhundert hinausdenkende, hellsichtige Erzähler, auch und gerade im Krimi-Genre. 4.4 Die unbeantwortbare Frage nach der Schuld: Fritz Langs M (1931) „Im Nachhinein wissen wir, dass 1931 das eigentliche Jahr war, in dem die Demokratie verloren ging“, hat Anton Kaes in seiner „Spurensuche“ zu Fritz Langs M festgestellt (Kaes 2010, 7 f.). Am 1. Januar 1931 zieht die NSDAP-Reichsleitung in das sogenannte Braune Haus in München ein; am 4. Kriminalerzählungen 90 <?page no="91"?> 11. Oktober wird die rechtsextreme Harzburger Front gegründet; am 16. Dezember folgt die Gründung der gegen dieses Bündnis gerichteten linken Eisernen Front. Bereits diese wenigen Daten illustrieren einen Prozess, in dem sich die von Hannah Arendt so benannte „Banalität des Bösen“ (Arendt 2015) immer deutlicher institutionell und politisch bemerkbar machte. In diesem gesellschaftlichen Klima entstand der nach Einschätzung inter‐ nationaler Filmexperten beste deutschsprachige Film aller Zeiten (auf Platz 6 aller jemals gedrehten Filme weltweit, vgl. Top 100 films of all time 2019) mit dem wohl kürzesten Filmtitel aller Zeiten (der längere Titel M - Eine Stadt sucht einen Mörder etablierte sich erst später). Er beruht auf authentischen Fällen. Lang war passionierter Zeitungsleser und wurde so auf eine zunehmende Zahl von Gewaltverbrechen an Kindern aufmerksam. Vor allem war es die Berichterstattung über die Verfolgung des ‚Vampirs von Düsseldorf ‘, des Serienmörders Peter Kürten, der 1930 verhaftet und unter großem Medienecho zum Tode verurteilt wurde, die Lang und seine Co-Drehbuchautorin, seine Noch-Ehefrau Thea von Harbou, in dem Film mit verarbeiteten. In Berlin (der Name der Stadt wird nicht genannt, aber es gibt genügend Hinweise) wird bereits seit acht Monaten (M 2003, 0: 36: 46) ein Kindermörder gesucht, Plakate versprechen eine Belohnung von 10.000 Mark (z. B. M 2003, 0: 04: 36f.). Die Bevölkerung wird aufgefordert, Kinder nicht allein auf die Straße zu lassen. Durch Presseartikel und Fahndungsplakate entsteht eine aufgeheizte, fast hysterische Stimmung, in der alle verdächtig sind und selbst Bekannte einander grundlos verdächtigen, sogar gegeneinander gewalttätig werden (M 2003, 0: 11: 14ff.). Weil die Polizei überall Razzien durchführen lässt, um nicht untätig zu erscheinen (M 2003, 0: 21: 20ff.), be‐ schließen Vertreter der Verbrecherorganisationen, selbst nach dem Mörder zu suchen, um wieder in Ruhe den eigenen ‚Geschäften‘ nachgehen zu können (M 2003, 0: 39: 14ff.). Der Mörder Hans Beckert (Peter Lorre) spricht die kleine Elsie Beckman auf der Straße an (M 2003, 0: 04: 56ff.). Das Kind ist auf dem Rückweg von der Schule, seine offenbar alleinerziehende und hart arbeitende Mutter wartet auf es zuhause (M 2003, 0: 03: 29ff.). Beckert kauft dem Mädchen bei einem Bettler einen Luftballon (M 2003, 0: 05: 52ff.). Die Leiche des Mädchens wird gefunden; die Tat selbst, offenbar mit einem Messer begangen, wird nicht gezeigt, stattdessen rollt der Ball des Mädchens ins Bild und sein Luftballon fliegt davon (M 2003, 0: 08: 06ff.). Der Mörder schickt ein Bekennerschreiben an eine Zeitung, die es veröffentlicht (M 2003, 0: 09: 01ff.). Das Schreiben 4.4 Die unbeantwortbare Frage nach der Schuld: Fritz Langs M (1931) 91 <?page no="92"?> wird von der Polizei, die sich Erkenntnisse über den Täter erhofft, auf alle denkbaren Spuren hin untersucht (M 2003, 0: 14: 36ff.). Angeführt von dem ‚Schränker‘ (kein Geringerer als Gustaf Gründgens), einem Geldschrankknacker und Polizistenmörder, suchen die Verbrecher zeitgleich mit der Polizei nach dem Mörder. Über die Organisation der Bettler erfahren die Verbrecher von dem Kauf des Luftballons (M 2003, 0: 40: 54ff.). Es ist schließlich der blinde Luftballonverkäufer, der den Mörder am wiederholten Pfeifen seiner Melodie erkennt und so die Verbrecher auf seine Spur setzt (M 2003, 0: 54: 48ff.). Beckert hat wieder ein kleines Mädchen angesprochen, das er nun zurücklassen muss. Einer der zunächst unauffälligen Verfolger hat es geschafft, Beckert auf dem Rücken mit einem „M“ aus Kreide zu markieren (M 2003, 0: 57: 50ff.). Als Beckert die Markierung entdeckt, flieht er auf den Speicher eines Bürogebäudes (M 2003, 1: 02: 40ff.) und wird dort, nachdem die Suche erhebliche Zerstörungen bis hin zu einem Deckendurchbruch verursacht hat, von den Verbrechern gefunden und mitgenommen (M 2003, 1: 17: 08ff.). Der Blick des wie ein Tier in einem Verschlag in die Enge getriebenen Beckert zeigt größtmögliche Angst und Panik (M 2003, 1: 16: 38). Der leitende Ermittler, Kriminalkommissar Karl Lohmann (Otto Werni‐ cke), ist mittlerweile auch auf Beckerts Spur gekommen. Er hat Beamte die Wohnungen von klinischen Fällen mit dem Täterprofil durchsuchen lassen (M 2003, 0: 39: 42ff.). In der Wohnung des Mörders werden wichtige Indizien für die Täterschaft gefunden (M 2003, 0: 49: 28ff.; 0: 54: 08ff.; 0: 58: 56ff.). Die Verbrecher haben Beckert in eine stillgelegte Schnapsfabrik gebracht (M 2003, 1: 30: 40ff.) und machen ihm, vor einer Versammlung von weiteren Verbrechern, einen Schauprozess (M 2003, 1: 31: 46ff.). Der Schränker, der ‚Vorsitzende‘ der Versammlung, formuliert es sarkastisch so: „Dir soll Dein Recht werden. Hier sitzen lauter Sachverständige in Rechtsfragen“ (M 2003, 1: 34: 51ff.). Der Schränker hat auch kein Problem damit, auf die Frage des ‚Angeklagten‘, ob die Verbrecher ihn „umbringen“ wollen, die scheinbare Gerichtsverhandlung als Farce zu entlarven: „Wir wollen Dich unschädlich machen, das wollen wir. Und ganz sicher unschädlich bist Du nur, wenn Du tot bist“ (M 2003, 1: 34: 54ff.). Beckert wird wie ein Tier in die Enge getrieben und er drückt seine Hilflosigkeit gegenüber seinen eigenen Taten aus. Der grandiose Monolog Peter Lorres zeigt deutlich, dass Beckert psychisch krank und nicht verant‐ wortlich für seine Taten ist (M 2003, 1: 36: 53ff.). Von der Versammlung wird er enthumanisiert: „Das ist ja kein Mensch“, lautet ein Zwischenruf (M 4. Kriminalerzählungen 92 <?page no="93"?> 2003, 1: 44: 02f.). Andererseits werden seine Taten auch nicht verharmlost. So wird gerade am Anfang, durch das erst freudige und dann besorgte Warten der Mutter Elsies, auf das Furchtbare der Tat zuallererst vorausgedeutet. Über einen im Bürogebäude unabsichtlich zurückgelassenen, dort gefan‐ genen Verbrecher kommt die Polizei dem Tribunal auf die Spur (M 2003, 1: 18: 46ff.). Lohmann und seine Kollegen können gerade noch verhindern, dass Beckert gelyncht wird (M 2003, 1: 44: 20ff.). Am Ende des Films wird das Urteil gegen den Kindermörder verkündet, es ist aber nicht zu hören. Nach der Inquit-Formel „Im Namen des Volkes“ erfolgt ein Schnitt und die trauernden Frauen sind zu sehen, von denen die mittlere sagt: „Davon werden unsere Kinder auch nicht wieder lebendig. Man muss eben noch besser auf die Kinder achtgeben“ (M 2003, 1: 45: 05ff.). Mit dem letzten Satz schlägt der Film einen Bogen zurück zum Anfang - die Bedrohung ist nur in diesem Fall gebannt. Der Film entwickelt einen unverwechselbaren Stil. Die Möglichkeiten des frühen Tonfilms nutzt Lang auf eine ganz besondere Weise - er verzichtet auf die übliche Musik zugunsten der (innerfiktional vom Täter, tatsächlich von Lang selbst) gepfiffenen Melodie des Bergkönigs aus Edvard Griegs Peer Gynt und der Geräuschkulisse einer Großstadt. Dazu zählt auch die Leierkastenmusik der Bettler, die immer dann aufhört, wenn ein Bettler sich die Ohren zuhält (M 2003, 0: 46: 11ff.). Um einen etwas schiefen Vergleich zu wagen: Was Walter Ruttmann 1927 in seinem episodenhaften Stummfilm Berlin - Die Sinfonie der Großstadt mit suggestiven Bildern erreichte, das erzeugt Lang mit seiner Geräuschkulisse, und das ganz nebenbei, denn vor allem geht es ja um die Jagd nach einem Täter. Auch wird auf originelle Weise die Arbeit der Polizei dargestellt: Der Polizeipräsident rechtfertigt sich in einem Telefonat mit dem Minister für den bisher fehlenden Fahndungserfolg mit einer Darstellung der Fahndung, seine Stimme ist dann nur noch aus dem Off zu hören und im Bild ist die Vielfältigkeit der Polizeiarbeit zu sehen (M 2003, 0: 16: 15ff.). Die Kameraeinstellungen sind extrem beeindruckend, nicht zuletzt, weil sie die Frage nach der Schuld auf der symbolischen Ebene verhandeln. Dies kann durchaus plakativ geschehen: Gleich am Anfang schlägt die Uhr der Mutter Elsies, die ihr Kind verlieren wird, zwölf (M 2003, 0: 03: 29ff.). Als die Mutter aus dem Off nach ihrem Kind ruft, ist der leere Teller Elsies auf dem gedeckten Mittagstisch zu sehen (M 2003, 0: 08: 00). Der offenbar unter einer Persönlichkeitsspaltung leidende Täter wird zuerst als ein Schatten 4.4 Die unbeantwortbare Frage nach der Schuld: Fritz Langs M (1931) 93 <?page no="94"?> auf einem Fahndungsplakat gezeigt, der auf die kleine Elsie heruntersieht (M 2003, 0: 04: 52ff.). Der Film arbeitet auch mit symbolisch wirkenden Überblendungen. So wird der Täter gezeigt, wie er sich im Spiegel ansieht, als gerade ein Psy‐ chologe auf der Basis seines Bekennerschreibens ein Gutachten diktiert, in dem ihm „Schauspielerei“ bescheinigt wird (M 2003, 0: 15: 33ff.). Wenn er ihm dabei außerdem attestiert, dass sich in der Schrift der „Wahnsinn“ des Täters spiegele, während Lorre dabei seine Mundwinkel mit den Fingern nach unten zieht und große Augen macht, dann ist dies einer der ebenfalls häufig vorzufindenden, ironisch-verfremdenden, das Bemühen um die Erzeugung von Distanz unterstützenden Momente, mit denen die Zuschauer*innen dazu gebracht werden sollen, sich eigene Gedanken über das Geschehen zu machen. Der Mörder spiegelt sich außerdem in Schaufenstern, so wird seine Doppelnatur filmisch eingefangen. Eines dieser Schaufenster gehört einem Messer-Geschäft und der Blick des Mannes spiegelt (im Spiegel der Scheibe und in der Reflexion der Messer) seine innere Zerrissenheit. Zunächst sieht er wie ein normaler Passant aus, der einen Apfel isst und flüchtig die Auslage betrachtet. Doch nach und nach ändern sich Gesichtsausdruck und Verhalten beim immer genaueren Anblick der Messer, von der Kamera eingefangen in der Symbolik gebrochener Spiegelungen (M 2003, 0: 49: 50ff.). Dabei wird das Gesicht von einem gespiegelten Messer-Viereck gerahmt (M 2003, 0: 50: 15). Die Symbolik ist vieldeutig: Das Viereck kann ein Fadenkreuz sein, in das der Täter immer mehr gerät, es kann aber auch für die innere Gefangenschaft in der Gewaltspirale stehen und als metafiktionaler Verweis auf das Künstlich-Künstlerische des Films ‚gelesen‘ werden. Auch ein Kind, das Beckert sieht und das ihm dann entkommt, weil es auf seine Mutter trifft, erscheint zuerst in der Spiegelung dieses Messer-Vierecks (M 2003, 0: 50: 20ff.). Dies ist nur ein Beispiel für die komplexe visuelle Symbolik des Films. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Schwarz-Weiß-Dichotomisierungen in der Gesellschaft ist besonders bedeutsam, dass der Film mit den angespro‐ chenen Strategien sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der formalen Ebene die Kategorien von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ konsequent durchkreuzt. Dies betrifft sowohl die kleine Mädchen mordende Hauptfigur - „Peter Lorre zeichnet den Täter als Opfer“ (Töteberg 2005, 395) - als auch ihre Verfolger: „Gleiche Gesten und die gleiche Kameraposition unterstreichen die Identität zwischen Verbrechersyndikat und Staatsorgan: Ordnungsmächte sind sie 4. Kriminalerzählungen 94 <?page no="95"?> beide“ (Töteberg 2005, 394). Der Film ist somit nicht nur, aber auch ein Kommentar zur Zeit: „‘M‘ zeigt dem Publikum eine Welt, in der viele ökonomische Tauschgeschäfte nahe der Kriminalität angesiedelt sind und umgekehrt dann selbst die schlimmsten Verbrechen (wie ein Mord) die ökonomische Logik funktionalisieren“ (Hall 2010, 138). Diese Analogie wird vom Film bis ins Detail ausgestaltet: „Ironischerweise ist es ausgerechnet die paternalistische Geste eines Polizisten, die Elsie den Händen ihres Mörders ausliefert“ (Hall 2010, 143). Wie beispielsweise auch in Erich Kästners aus dem selben Jahr 1931 stammenden Roman Fabian, der mit einer vergleichbaren Szene eröffnet, werden Ereignisse durch ihren Konsumcharakter ethisch vollkommen beliebig: „Der zweite Steckbrief, diesmal mit der Beschreibung von Elsies Tod, klebt zwischen Plakaten für Boxkämpfe, Kabarettvorstellungen und sogar für einen zeitgenössischen Heimatfilm“ (Hall 2010, 144). Auch durch seine Symbolik spielt der Film auf den zeitgeschichtlichen Kontext an, etwa wenn der Mörder Edvard Griegs „Bergkönig“-Melodie pfeift - dies ist die einzige Musik, die im Film zu hören ist. Urs Büttner hat nachgewiesen, „[…] dass das ‚Peer Gynt‘-Bild in der Weimarer Republik stark von der Übertra‐ gung Dietrich Eckarts geprägt war, die nationalsozialistisches Gedankengut vermitteln will“ (Büttner 2010, 43). Insofern müsse dieser intermediale Bezug „als eine subversive Kritik am nordischen Heldenbild der Nazi-Ideologie interpretiert werden“ (ebd.). Wie Maria Tatar nachgewiesen hat, wird aber nicht nur im deutschspra‐ chigen Film die Praxis problematisiert, Täter buchstäblich zu Monstern werden zu lassen, um sie als Projektionsfläche für die eigenen Ängste nutzen zu können. Dies gilt etwa auch für […] James Whales ‚Frankenstein‘ von 1931, aus demselben Jahr wie Fritz Langs ‚M‘. Ohne dies zu beabsichtigen, tötet das unschuldige Monster ein ebenso unschuldiges Mädchen, indem es dieses mehr spielerisch als mörderisch ins Wasser schleudert und ertränkt. Es ist wenig verwunderlich, dass diese Szene der Zensur zum Opfer fiel und erst in jüngster Zeit wieder dem restaurierten Film beigefügt wurde. (Tatar 2010, 115) Schließlich ist Langs Film hochgradig metafiktional. Er stellt sein eigenes filmisches Gemachtsein aus und nutzt es, um den Konstruktionscharakter der gezeigten verbrecherischen Versuchsanordnung umso mehr zu betonen (vgl. Harst 2010, 55). Der Film beginnt nicht zufällig mit einem Abzählreim, in dem ein Kind andere Kinder auszählt, die vom „schwarzen Mann“ mit 4.4 Die unbeantwortbare Frage nach der Schuld: Fritz Langs M (1931) 95 <?page no="96"?> seinem „Hackebeilchen“ geholt werden (M 2003, 0: 01: 09ff.). Das Spiel der Kinder korrespondiert mit dem filmischen Licht-Spiel: Wie im Spiel aus dem Ring der Kinder der Schuldige produziert wird, so führt der Film die Produktion eines Schuldigen nach den ihm immanenten medialen Gesetzmäßigkeiten vor. Damit wird die Frage nach Verbrechen und Schuld nicht ausgeräumt, sondern mit größerer Komplexität neu gestellt, da sie nicht mehr der Tat, sondern den von ihr erzählenden Strukturen verbunden ist. (Harst 2010, 61 f.) Auch die Komik vieler Szenen betont den Spiel-Charakter und erinnert dabei an das Theaterkonzept Bertolt Brechts. So spielt beispielsweise der mit Brecht privat und beruflich eng verbundene Theo Lingen, der später einer der bekanntesten Komödien-Darsteller des deutschen Sprachraums werden sollte, eine der größeren Verbrecher-Rollen. Wie alles andere hat auch die Zusammenkunft der Vertreter der „Ring-Organisationen“, der Verbrecher-Zünfte, gerade in ihrer Zeichnung als Kleinbürger, die auf Pünktlichkeit Wert legen und sich mit dem Schränker die Rückkehr „ge‐ ordnete[r] Verhältnisse“ wünschen und sich über ihr „Renommee“ Sorgen machen, komisch-ironische Untertöne (M 2003, 0: 29: 15ff.). Es gibt viele weitere hintergründige Pointen, wie das in der Unterkunft der Bettler aufgehängte Schild „Betteln und Hausieren verboten“ und der den Börsen‐ handel parodierende Handel der Bettler mit Lebensmitteln wie Broten und Würsten (M 2003, 0: 42: 13ff.). Die Produktion des Films spiegelt die Produktion der Verbrechen und umgekehrt, wobei es vor allem um das Verbrechen der Verbrecher geht, den Triebtäter vor ein Tribunal zu stellen - die Mordtaten sind nur der Auslöser und entsprechend Leerstellen, sie zeichnen sich durch eine Präsenz in der Absenz aus. Die Frage nach der Schuld und nach einer für alle Beteiligten angemessenen Auffassung von Gerechtigkeit wird durch die Suche nach dem Täter, seine Verhaftung und Bestrafung nicht nur nicht beantwortet, sondern überhaupt erst gestellt. Der Höhepunkt der bitterbös-ironischen Konzeption ist das Urteil des kalkulierten und seine Emotionen beherrschenden, aber „wegen Totschlags in drei Fällen“ gesuchten (M 2003, 1: 41: 11ff.) Verbrecheranführers Schränker über den Triebtäter: „Dieser Mensch muss ausgelöscht werden […], dieser Mensch muss ausgerottet werden, dieser Mensch muss weg“ (M 2003, 1: 40: 46ff.). Allerdings darf der ‚Verteidiger‘ noch erwidern, und er wird dafür von der Versammlung ausgelacht und angefeindet: „Einen Menschen zu töten, der für seine Taten nicht verantwortlich zu machen ist, dazu hat 4. Kriminalerzählungen 96 <?page no="97"?> niemand das Recht, auch nicht der Staat. Und Sie schon gar nicht“ (M 2003, 1: 42: 28ff.). Anschließend wird der Ruf nach „Totschlagen“ immer lauter, immer mehr Figuren mit zu Grimassen verzerrten Gesichtern drängen nach vorne - und nur das Eingreifen der Polizei kann die Selbstjustiz der Menge verhindern (M 2003, 1: 44: 20ff.). Bitterböse Ironie der Geschichte: Die suggestive symbolische Kraft des Films wirkt weit über seine direkten Kontextbezüge hinaus. So wie der Täter mit einem „M“ markiert wird, so werden später zahlreiche Menschen, die allerdings nichts Böses getan haben, markiert und unschuldig ermordet. Das Verhältnis von Tätern und Opfern, von Mördern und Verfolgten wird sich auf radikale Weise weiter umkehren. 4.5 Die schwierige Abgrenzung von Kriminalerzählung, Detektiverzählung und Thriller: Nele Neuhaus’ Böser Wolf (2012) An einem abschließenden, im Untertitel mit „Kriminalroman“ bezeichneten Beispiel aus der Literatur soll noch einmal exemplarisch das Problem der Unterteilung des Genres und der Klassifizierung von Krimis verdeutlicht werden. Abgesehen davon, dass es die idealtypischen Beispiele, die dem Genre zugeschrieben worden sind, so gar nicht gibt, hat das ohnehin schon immer hybride Genre zu unterschiedlichsten Synthesen gefunden, und das noch einmal mehr in der Muster und Modelle collagierenden Postmoderne. Dazu kommt, dass in der Rezeption die Grenzen zwischen Trivial- und Höhenkammliteratur verschwimmen. Zu den besonders populären und in der Literaturkritik zumindest beach‐ teten Krimi-Autor*innen der Gegenwart zählt Nele Neuhaus (geb. 1967 und mit dem Autor dieser Zeilen nicht verwandt; ihr Geburtsname ist Cornelia Löwenberg). Seit 2005 veröffentlicht sie Kriminalromane (zunächst im Selbstverlag; dazu kommen seit 2007 auch Kinderbücher), ihre bekanntesten Figuren sind das Ermittlerduo Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff. Seit 2013 ermitteln die beiden Figuren auch im ZDF im sogenannten „Taunus‐ krimi“, die Serie basiert auf den Romanen von Neuhaus. Böser Wolf erschien Ende 2012 und war sechs Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Die bekannte Internet-Plattform Lovelybooks gibt ihm 4,7 von 5 Sternen aus 727 Bewertungen (Stand vom 17. März 2020). Die Verfilmung unter der Regie 4.5 Nele Neuhaus’ Böser Wolf (2012) 97 <?page no="98"?> von Marcus O. Rosenmüller wurde 2016 in zwei Teilen gezeigt. Hier soll es aber nur um den Roman gehen. In ihrer „Danksagung“ am Ende des Buches weist Neuhaus auf den Schreibanlass hin - ihr Engagement für ein Mädchenhaus, die Kenntnis und die Lektüre von authentischen Berichten: „Mir wurde bewusst, wie aktuell das Thema Kindesmissbrauch und wie groß die Not und die Angst der missbrauchten Mädchen ist“ (Neuhaus 2013, 474). Dass sie in einer langen Tradition der Beschäftigung mit dem Thema in Literatur und Film steht, von denen Fritz Langs Film M und Friedrich Dürrenmatts Roman Das Versprechen zu den prominentesten gehören, wird nicht erwähnt und auch im Roman findet sich kein intertextueller Verweis darauf. Der Roman selbst ist vor allem auf Handlungsspannung ausgerichtet. Durch die Verwendung von Schemata, Stereotypen und Klischees in der Figurenzeichnung wie in der Handlungskonstruktion und durch das Ziel, möglichst starke Emotionen bei den Leser*innen hervorzurufen, bleibt er, wie zu zeigen sein wird, in seiner Behandlung des Themas inkonsistent. Den Schluss könnte man durchaus als zynisch interpretieren: Einer der Haupttäter - ein Vergewaltiger, Folterer und Mörder eines Mädchens, Organisator eines Kinderschänderrings - entkommt nach Schweden und die letzten Worte des ‚Epilogs‘ lauten, nachdem er ein Mädchen von fünf oder sechs Jahren (also im bevorzugten Alter der Kinderschänder) am Sturz auf einer Rolltreppe gehindert hat: „,Ist doch nichts passiert‘, lächelte Frey, strich dem Kind übers Haar und ging weiter. Was für ein süßes kleines Mädchen, auch wenn es jetzt weinte. Kinder gaben dem Leben erst einen Sinn“ (Neuhaus 2013, 472 f.). Dass Frey den Sinn kleiner Mädchen darin sieht, ihm und anderen als Missbrauchsopfer zu dienen, führt zu einer perfiden Doppeldeutigkeit, die aber weniger dieser schablonenhaft konstruierten Figur als vielmehr dem auf Effekt berechneten Roman anzulasten ist. Auch der komische Akzent am Schluss des letzten Kapitels (also vor dem „Epilog“) ist Teil des Wechselbads extremer Gefühle, das der Roman inszeniert und in dem Komik ansonsten so gut wie nicht vorkommt. Das entführte und aus der Gefangenschaft Freys befreite Mädchen Lilly sagt zu ihrem Großvater und ihrer ‚Stiefgroßmutter‘ Pia, dass sie ihren in Australien lebenden Eltern nichts erzählen wird. Pia und Christoph denken, so wie vermutlich die Leser*innen, an die traumatischen Erlebnisse des Kindes in den letzten Stunden. Der comic relief folgt als letzter Satz dieses letzten Romankapitels (vor dem Epilog): „‚Dass ich Kaffee trinken darf natürlich‘, erwiderte Lilly und grinste“ (Neuhaus 2013, 471). 4. Kriminalerzählungen 98 <?page no="99"?> Der Roman erzählt die komplexe Handlung um einen Kinderschänderring aus der Perspektive unterschiedlicher Figuren. Allerdings handelt es sich nicht um personale Erzähler und somit multiperspektivisches Erzählen, wie für den Roman der Postmoderne durchaus üblich, sondern um einen auktorialen Erzähler, der in der Lage ist, sich in die Gedanken- und Erleb‐ niswelt der Figuren hineinzuversetzen, selbst dann, wenn sie kurz danach sterben (Neuhaus 2013, 267 f. u. 288). Für diese Omnipräsenz muss es in der Trivialliteratur bekanntlich keine Erklärung geben, denn der Sinn der Erzählanlage liegt in der Funktion, Spannung zu erzeugen. Die Leser*innen werden selbst zu Detektiv*innen, indem sie die Puzzleteile zusammensetzen müssen und im Verlauf der Handlung lernen, richtige von falschen Fährten zu unterscheiden. Dabei ist vermutlich nicht beabsichtigt, die Leser*innen auf dem bis kurz vor Schluss defizitären Erkenntnisstand der Ermittlerfigu‐ ren zu lassen. Allerdings bleibt unklar, ob die Detailfülle eher der Erzeugung weiterer Spannung dienen oder an die kombinatorischen Fähigkeiten der Le‐ ser*innen appellieren soll (oder beides). Das Ermittlerduo ist unbestechlich (auch wenn es zwischendurch an Bodensteins Integrität Zweifel gibt; vgl. Neuhaus 2013, 345) und versucht stets, moralisch einwandfrei zu handeln. Die Ermittlerin Pia ist immer wieder ihrem Chef Bodenstein (sie wird im Roman meistens mit ihrem Vornamen, er mit seinem Nachnamen bezeich‐ net) in ihren Erkenntnissen voraus. Allerdings handelt sie, im Unterschied zu ihm, oft affektgesteuert und es wird immer wieder ihr (gutaussehendes) Äußeres beschrieben: „Noch immer trug sie das Sommerkleidchen und die Slingpumps […]“ (Neuhaus 2013, 448). Männerfiguren wird zugestanden, dies auf traditionelle Weise würdigen zu dürfen: „Jeder Kollege, der ihr auf dem Weg nach oben begegnet war, hatte sie anerkennend gemustert, einer hatte ihr sogar spaßeshalber nachgepfiffen“ (Neuhaus 2013, 382). Zu fragen ist daher, ob nicht in dem Roman ein traditionelles Bild von ‚Weiblichkeit‘ lediglich etwas modernisiert worden ist. So wird Pia am Ende der Ermittlungen von ihrem Kollegen Kröger, der auch Lilly gerettet hat (obwohl sie dies unbedingt selbst tun wollte), nach Hause geschickt, als gerade einer der wichtigsten Mittäter sich stellen will. Dies geschieht im Befehlston: „,Du fährst jetzt nach Hause.‘ Kröger schob sie ins Auto. ‚Darum kümmere ich mich. Wir sehen uns am Montag‘“ (Neuhaus 2013, 470). Die Fürsorge angesichts ihrer Erschöpfung weist auf Schwäche und Passivität der Frauenfigur. Schon kurz vorher hatte er ihr bei der Sorge um Lilly attestiert: „Jede Frau hat einen Mutterinstinkt“ (Neuhaus 2013, 468). Und der Schluss, die idyllische Szene mit Pia, ihrem Partner und Lilly, 4.5 Nele Neuhaus’ Böser Wolf (2012) 99 <?page no="100"?> lässt das typische Bild der Kleinfamilie aufscheinen, wenn auch in neuer Kombinatorik des Patchworks. Nicht weniger problematisch ist die Figurenzeichnung der Moderatorin Hanna Herzmann, die den Kinderschänderring auffliegen lassen will und die, weil sie sich ihrem guten Freund Wolfgang Matern (der den Wolf im Namen trägt, sich aber eher wie ein Schaf verhält) anvertraut, vergewaltigt und beinahe getötet wird. Matern ist Sohn des Medienmoguls Hartmut Matern, der ebenfalls zu den führenden Köpfen des Kinderschänderrings gehört und schließlich von Michaela - der totgeglaubten Tochter des Familienpatriarchen Dr. Josef Finkbeiner, an dem sie sich vor allem rächen will - erschossen wird (Neuhaus 2013, 420). Die als männerverschleißende und selbstverliebte Egomanin geschilderte Hanna, die auch ihre eigene Tochter immer vernachlässigt hat (Neuhaus 2013, 35 u. a.), entdeckt spät nicht nur mütterliche Gefühle, sie verliebt sich auch in Kilian Rothemund, einen wegen Kindesmissbrauchs fälschlich zu drei Jahren Haft verurteilten ehemaligen Anwalt, der schon lange kein Problem damit hat, auf seinen früheren großen Wohlstand zu verzichten (Neuhaus 2013, 87). Dass Hanna selbst vergewaltigt wird, wirkt wie eine Strafe für ihr Ver‐ halten gegenüber Missbrauchsopfern, die sie häufig interviewt und damit ihre Quote gesteigert hat: „Sie hatte Mitgefühl und Verständnis geheuchelt, aber insgeheim hatte sie diese Frauen verachtet und gedacht: selbst schuld, wenn euch das passiert. Wer so aufreizend herumläuft wie eine Nutte auf dem Straßenstrich oder geduckt wie ein ängstlicher Hase, der muss damit rechnen, überfallen und vergewaltigt zu werden“ (Neuhaus 2013, 233). Die Buße als Teil eines hochproblematischen Konzepts poetischer Gerechtigkeit macht den Weg frei für ein stereotypes Liebespaar-Happy End: „Kilian war da. Ihm war es egal, wie sie aussah. Selbst wenn sie ihre makellose Schönheit nie mehr hundertprozentig zurückerlangte, so würde er zu ihr stehen“ (Neuhaus 2013, 453). Die Ausrichtung auf Spannung und Effekt sorgt für eine Mischung aus, auf die Vergangenheit bezogener, Detektivarbeit und auf die Zukunft gerichteter, weitere Untaten verhindernder Polizeiarbeit. Dabei gibt es viele neue Opfer - darunter eine ermordete Frau, eine vergewaltigte Frau und zum Schluss ein Akt der Selbstjustiz mit mehreren Opfern. Pia Kirchhoff ist als Gast der Schwiegertochter Emma bei dem Fest für Familienpatri‐ arch Dr. Josef Finkbeiner zufällig zugegen, als die totgeglaubte Tochter Finkbeiners, Michaela, auf ihren Vater und auf zwei andere Täter schießt. Finkbeiner, der seinen 80. Geburtstag feiert, ist Gründer des nunmehr 40 4. Kriminalerzählungen 100 <?page no="101"?> Jahre alten Hilfswerks für ledige Mütter „Sonnenkinder e. V.“ (Neuhaus 2013, 413) und Oberhaupt der Kinderschänder-‚Familie‘. Pia kann nicht nur die Tat nicht verhindern, sie durchschaut auch nach der Tat immer noch nicht die Zusammenhänge und lässt den schlimmsten Täter unbehelligt - Oberstaatsanwalt Markus Frey, der später Lilly entführen wird. Dass ihr vom Roman zugestanden wird, ihr ‚treudoofes‘ (Neuhaus 2013, 442) Verhalten einzusehen und kurz zu bereuen, ändert nichts an ihrem weiterhin selbstbewussten und zielstrebigen Auftreten: „Ihre Angst hatte sich in kalten Zorn verwandelt“ (Neuhaus 2013, 448). Allerdings kann es sich durchaus, wie bereits beschrieben, durch Fürsorglichkeit ‚starker‘ Männer wieder in (dann aber als positiv begriffene) Schwäche verwandeln. Der Roman beginnt mit einem „Prolog“, in dem ein namenloser Mann in seinem Wohnwagen auf ein Kind wartet, das er wie folgt schildert: „Wie wunderschön sie war, wie zart und zierlich! Ein kleiner, süßer Engel“ (Neu‐ haus 2013, 6). Der Mann ist allerdings nicht, wie suggeriert wird, ein Mitglied der Kinderschänderbande, sondern Ex-Anwalt Dr. Kilian Rothemund, der auf seine Tochter Chiara wartet, die er eigentlich nicht sehen darf (Neuhaus 2013, 370). Rothemund wollte seinerzeit schon den Kinderschänderring hochgehen lassen und wurde selbst Opfer, auch weil er nicht wusste, dass sein Freund Oberstaatsanwalt Frey schon damals Teil der kriminellen Organisation war (Neuhaus 2017, 410). Hier wird also am Anfang eine falsche Fährte gelegt (der das Ermittlerduo über lange Zeit folgen wird), ebenso mit dem Fund einer Leiche. Jugendliche haben zu viel getrunken und entdecken zufällig ein im Main liegendes totes Mädchen. Es handelt sich dabei nicht um eines der feiernden Mädchen (Neuhaus 2013, 11), sondern um das Missbrauchsopfer Oksana, das von Markus Frey getötet und von einem anderen Adoptivsohn Finkbeiners, Helmut Grasser, in den Fluss geworfen wurde (Neuhaus 2013, 439 u. 457). Auf falsche Fährten lockt der Roman seine Ermittlerfiguren und die Leser*innen immer wieder, auch wenn durch das Aufdecken der Hintergründe der Taten die Verbindungen immer deutlicher und manche der früheren Vermutungen immer unwahrscheinlicher werden. Dass Pias Freundin Emma bei ihrem Mann Florian, dem Sohn des Patriarchen Josef Finkbeiner, eine leere Kondompackung findet und ihn verdächtigt, die gemeinsame Tochter Louisa missbraucht zu haben, obwohl Florian ‚nur‘ einmal mit einer Prostituierten geschlafen hat und dies bereut, woraufhin Emma ihm gern verzeiht (vgl. Neuhaus 2013, 400), macht die Handlung und ihre Figuren nicht glaubwürdiger. Um es mit einer Meiste‐ rin des Detektivromans, Dorothy L. Sayers, zu sagen, die hier wiederum 4.5 Nele Neuhaus’ Böser Wolf (2012) 101 <?page no="102"?> Aristoteles zitiert: „Viele [Autor*innen] freilich verknüpfen gut und lösen schlecht auf “ (Sayers 1998, 22). Die scheinbar verwirrenden Perspektiven und Informationen dienen nicht zuletzt dem Zweck, das Unwahrscheinliche der Handlung durch die verblüffende Auflösung der Zusammenhänge vergessen zu machen. So ist Michaela, die Zwillingsschwester Florians, durch ihren Vater Josef Finkbeiner jahrelang missbraucht worden (wie später auch Louisa). Sie hat sich als Drogensüchtige prostituiert und ist nur durch den Chef einer Rockerbande gerettet worden, der sich in sie verliebt, ihren scheinbaren Tod inszeniert und sich dann mit ihr zur Ruhe gesetzt und zwei Kinder bekommen hat. Der allwissende Erzähler charakterisiert den von Kopf bis Zeh tätowierten Ex-Rockerchef Bernd Prinzler - ein sprechender, aber wohl unironisch gemeinter Name - unter anderem so: „Dieser beinharte Hüne, der nicht Tod und Teufel und schon gar nicht die Polizei fürchtete, machte sich große Sorgen [um seine Frau]. Er würde es nie zugeben, aber unter Muskelbergen und tätowierter Haut schlug ein weiches Herz“ (Neuhaus 2013, 408). Unfreiwillig ironisch ist es auch, dass ausgerechnet der Ex-Rocker über die Häupter der Kinderschänderbande so urteilt: „,Echte Saubermänner, die Spitzen der Gesellschaft.‘ Er schnaubte verächtlich. ‚Aber in echt sind das alles miese, abartige Schweine, missbrauchen Kinder. Sogar ihre eigenen! “ (Neuhaus 2013, 409). Wie uninformiert (und eigentlich inkompetent, obwohl der Roman anderes suggeriert) die Ermittlerfiguren sind, zeigt folgende Reaktion: „Bodenstein, der eine völlig andere Geschichte erwartet hatte, hörte schweigend und mit wachsender Fassungslosigkeit zu“ (ebd.). Einige der wichtigen, an der weiteren Handlung beteiligten Figuren werden im Wechsel vorgestellt und ihre Geschichte wird nach und nach erzählt. Die Angaben von Datum und Uhrzeit erzeugen Dynamik; einen erkennbar darüber hinausgehenden und für Höhenkammliteratur üblichen, symbolischen Sinn haben sie nicht. Wie überkonstruiert das Geschehen ist, sieht man auch daran, dass Figuren unterschiedlichster Berufe, die in die Handlung involviert werden, durch Herkunft und frühere gemeinsame Bekanntschaften miteinander zu tun haben und die Aufdeckung des Kinder‐ schänderrings auch dadurch lange Zeit ver- oder behindert wird. Der Kern der Handlung wird von Bodenstein nach der Zeugenaussage Prinzlers so zusammengefasst: Hanna Herzmann hat über das Thema Kindesmissbrauch recherchiert. Prinzlers Frau wurde als Kind von ihrem eigenen Vater missbraucht und wollte mit der 4. Kriminalerzählungen 102 <?page no="103"?> Wahrheit an die Öffentlichkeit, nachdem sie über das Fernsehen von unserer Nixe [eine problematische Bezeichnung für das im Main gefundene, von Frey getötete Mädchen Oksana] erfahren hat. Leonie Verges [ein weiteres Mordopfer] war ihre Therapeutin, über Jahre hinweg. Über sie entstand der Kontakt zu Hanna Herzmann, Rothemund und Prinzler. Das hängt tatsächlich wohl alles zusammen. Und die ganze Sache geht noch viel weiter zurück, als wir je gedacht hätten. (Neuhaus 2013, 419) Schließlich wird sogar die Vorgesetzte des Ermittlerduos, Dr. Nicola Engel (ein ironisch-sprechender Name), der Mittäterschaft überführt. Sie hat einen Mitarbeiter dazu gebracht, einen V-Mann und zwei Angehörige der Frank‐ furt Road Kings, der Rockerbande von Prinzler, zu erschießen (Neuhaus 2013, 465). Allerdings erscheint diese Tat als unmotiviert, die Hintergründe der Mittäterschaft bleiben unklar. Weder ist die Figur konsistent noch gendergerecht, so erweist der Roman mit ihrer Zeichnung dem Thema Frauen in Führungspositionen einen Bärendienst. Dazu kommt, dass Stellen wie die folgende auch sprachlich nicht gelungen und vielmehr unfreiwillig komisch sind: Immer wieder begingen Leute den fatalen Fehler, sie zu unterschätzen, und der junge Staatsanwalt gehörte zu der überheblichen Sorte Mann, der Frauen prinzi‐ piell unterschätzte. Nicola Engel konnte sehr lange schweigend eine Diskussion verfolgen, aber wenn sie schließlich etwas sagte, dann trafen ihre Worte mit der unfehlbaren Präzision einer computergesteuerten Interkontinentalrakete auf den Punkt, meist mit ähnlich vernichtender Wirkung. (Neuhaus 2013, 74) Der folgende Vergleich - der Erzähler tritt einmal mehr hinter die Figur Pia zurück - ist ähnlich verunglückt: „Denn es gab kaum etwas Würdeloseres als eine namenlose Leiche, einen seiner Identität beraubten Menschen, der irgendwo verscharrt oder einfach liegengelassen worden war wie ein Stück Biomüll“ (Neuhaus 2013, 85). Abgesehen davon, dass der Vergleich einer Leiche mit Biomüll für die Leiche nicht sehr schmeichelhaft ist (die hier doch aufgewertet werden soll), wird Biomüll weder verscharrt noch irgendwo liegengelassen. Die Bewertungen und Beurteilungen zum Thema Kindesmissbrauch durch den Roman fallen ebenso klischeehaft aus. Die beiden Organisa‐ toren des Kinderschänderrings, die Adoptivkinder Corinna Wiesner und Markus Frey (Neuhaus 2013, 435), und die anderen Täter*innen werden als ‚wahnsinnig‘ dargestellt. Der von ihr kurz zuvor noch wegen seiner Affekt‐ 4.5 Nele Neuhaus’ Böser Wolf (2012) 103 <?page no="104"?> kontrolle bewunderte Frey ist für Pia nur noch eine „unbarmherzige Bestie in Menschengestalt“ mit dem „Lächeln eines Wahnsinnigen, eines kranken Gemüts, das ihn hoffentlich für den Rest seines Lebens peinigen würde“ (Neuhaus 2013, 457). Auch über die anderen fällt Pia ein abschließendes und eindeutiges, im Roman unwidersprochenes Urteil: „Sie [Corinna] ist krank. Genau wie Helmut Grasser und all diese Pädophilen“ (Neuhaus 2013, 469). Mit der Dichotomie ‚gesund - krank‘ ist es möglich, die Täter*innen als die ‚Anderen‘ erscheinen zu lassen, die mit dem ‚Normalen‘, dem ‚Eigenen‘, dem sich die Leser*innen zweifellos zurechnen werden, nichts zu tun haben. Nicht erst seit Sigmund Freuds Studien ist die Grenze zwischen ‚gesund‘ und ‚krank‘ aber nicht mehr so eindeutig zu ziehen. Und Michel Foucault hat gezeigt, dass mit Beginn der Moderne „[…] der Wahnsinn der Erkenntnis in einer Struktur angeboten wird, die von Anfang an entfremdet ist“ (Foucault 1973 479). Kurz gesagt: Der ‚Wahnsinn‘ ist das verdrängte Eigene der bürgerlichen Gesellschaft (Foucault 1969, 477 u. a.). Hierzu passt, dass es sich bei den Haupttätern, von den Familienpatriarchen abgesehen, um Adoptivkinder handelt - die also schon durch das Verlassen- und Wegge‐ gebenwordensein als entfremdet gekennzeichnet und somit stigmatisiert werden. Dass Pia Frey unterstellt, trotz seines ‚Wahnsinns‘ und seiner Zugehörigkeit zu den ‚Bestien‘ zu Reue fähig zu sein, ist zwar eine logische Inkonsequenz, dient aber der Verstärkung des skizzierten Musters, die Figur als möglichst abweichend zu klassifizieren. Auch die Zeichnung der anderen Täter*innenfiguren ist sehr einfach und teilweise unfreiwillig komisch: „Grasser schilderte seine widerwärtigen Taten in einer so genussvollen Ausführlichkeit, dass Pia schlecht wurde. Er kam ihr vor wie ein brünstiges Gorillamännchen, das mit den Fäusten auf den Brustkasten trommelt“ (Neuhaus 2013, 437). Weder ist hier ein intertextueller Verweis auf Poes berühmte Erzählung mit einem Gorilla als Täter intendiert noch wären einem Gorilla solche Taten zuzutrauen. Vergleicht man die Motivierung der Handlung der Figuren (einschließlich des Verhaltens des Gorillas) in Poes schmaler Erzählung mit diesem Roman, dann werden die Qualitätsunterschiede sehr deutlich. Auch ein Vergleich etwa mit der Figur des Cardillac bei Hoffmann würde sehr zuungunsten des psychologisch sehr einfach konzipierten Bösen Wolfs ausfallen. Schon der Titel verweist auf das Strickmuster - angespielt wird auf den bösen Wolf im Märchen, als der sich Michaelas Vater im erotischen Spiel mit seiner kleinen Tochter verkleidet, während sie ein rotes Prinzessinnenkleid tragen darf (Neuhaus 2013, 57 ff.). Abgesehen davon, dass kleine Kinder vor 4. Kriminalerzählungen 104 <?page no="105"?> Wolfsverkleidungen selbst bei Vätern Angst haben dürften (obwohl doch der Vater das Vertrauen des Kindes behalten will), ist die Symbolik in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm deutlich weniger plakativ und zusammengesucht (wie passen ein rotes Kleid, ein Prinzessinnenkostüm und eine Wolfsverkleidung zusammen? ). Außerdem bedient eine solche Dämonisierung des Wolfs altbekannte Klischees. Die der Spannungserzeugung geschuldeten und ethisch fragwürdigen Konstruktionen werden ergänzt durch Platitüden, die ein problematisches Menschen- und Gesellschaftsbild verraten, wie es für die Erfolgskrimis der jüngeren Vergangenheit nicht untypisch ist. So stellt Bodenstein fest, er finde es bedenklich, dass Eltern ihren Kindern vorleben würden, wie einfach es sei, „Verantwortung für seine Verfehlungen abzuschütteln“. Und weiter: „Dieser Reflex, jegliche Schuld sofort von sich auf andere abzuwälzen, ist ein Indiz für den kompletten Niedergang der Moral unserer Gesellschaft“ (Neuhaus 2013, 76). Bodenstein wird, wie alle in seinem Team, als durch und durch moralische Figur gezeichnet. Abgesehen von dem entwischten Frey werden alle Schuldigen ermittelt und wohl offenbar auch bestraft. So unmoralisch kann die gezeigte Gesellschaft dann doch gar nicht sein, wenn - besser spät als nie - (fast) alles wieder ins Lot kommt. Die Zeichnung der verdorbenen Superreichen geht eine problematische Symbiose ein mit dem Lob auf das einfache Leben, etwa durch den Ex-An‐ walt Rothemund: „Alles überflüssig. Das Glück lag in der materiellen Beschränkung, denn wenn man nichts mehr hatte, musste man auch nicht mehr befürchten, etwas zu verlieren“ (Neuhaus 2013, 209). Die größte Sehnsucht der Figuren wird er (so wie auch Pia) stillen können - sie richtet sich auf eine dauerhafte, eine romantische Liebesbeziehung. Bodenstein wird sie zwar verwehrt bleiben, aber er darf zumindest davon träumen (vgl. Neuhaus 2013, 166). Aller Inkonsistenzen und Klischees ungeachtet erzeugt der auf Effekt be‐ rechnete Roman auf durchaus raffinierte Weise Spannung und unterhält sein Publikum, das ihn sonst nicht in so großer Zahl kaufen und positiv bewerten würde. Seinem Thema Kindesmissbrauch wird er durch die geschilderte Art der Darstellung aber wohl deutlich weniger gerecht als beispielsweise Fritz Langs M oder Dürrenmatts Das Versprechen. 4.5 Nele Neuhaus’ Böser Wolf (2012) 105 <?page no="106"?> Fragen zu diesem Kapitel: Weshalb ist ‚Kriminalerzählung‘ ein Sammelbegriff ? Wie lässt sich die Kriminalerzählung auch als Subgenre beschreiben? Weshalb steht Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre am Anfang der modernen Kriminalliteratur? Wie zeigt Theodor Fontanes Unterm Birnbaum, dass die Gesellschaft nur scheinbar zivilisiert ist? Weshalb ist Fontanes Erzählung ironisch oder auch satirisch zu nen‐ nen? Welche Zeitbezüge finden sich in Fritz Langs M? Weshalb gilt Langs Film als einer der bedeutendsten der Filmge‐ schichte? Wie setzt der Film seine akustische und visuelle Symbolik ein? Wie durchkreuzt der Film traditionelle Vorstellungen von ‚gut‘ und ‚böse‘? Weshalb ist Nele Neuhaus’ Böser Wolf ein Beispiel für die Hybridität, aber auch für die Trivialität populärer Kriminalromane der Gegenwart? 4. Kriminalerzählungen 106 <?page no="107"?> 5. Detektiverzählungen 5.1 Typen des Detektivs Auch wenn es tautologisch klingen mag, muss es gesagt werden: In De‐ tektiverzählungen steht immer ein Detektiv im Mittelpunkt, der einen Fall zu lösen versucht - es ist das konstitutive Merkmal dieser Variante des Krimi-Genres. Die Persönlichkeit der Detektivfigur(en) spielt eine be‐ sondere Rolle. Dazu kommt die Aufgabe, die sich dem Detektiv stellt: „In Detektivgeschichten geht es um Probleme, Rätsel, die gelöst werden, von einem, der vor allem das Interesse hat, das Problem zu lösen, weil es ihn fasziniert, nicht, weil er etwas davon hat“ (Seeßlen 2011, 7). Freilich gibt es ganz unterschiedliche Detektivtypen, vor allem die Ermittlerin oder den Ermittler bei der Polizei (oder einer anderen Strafverfolgungsbehörde), die Privatdetektivin oder den Privatdetektiv, die Hobbydetektivin oder den Hobbydetektiv. Für sie ist zunächst einmal das Lösen von Fällen die ökonomische Lebensgrundlage, es sei denn, dass sie finanziell unabhängig sind und sich mit den Fällen aus anderen Gründen beschäftigen, etwa weil sie persönlich betroffen sind, weil sie zufällig Zeuge werden oder weil man sie wegen ihrer detektivischen Fähigkeiten darum bittet. Nach und neben E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1819) und Edgar Allan Poes The Murders in The Rue Morgue (1841) gibt es zweifellos eine große Zahl von Autor*innen und Texten bereits im 19. Jahrhundert, die näher zu betrachten wären. Georg Seeßlen hat in seiner instruktiven und mit einer höchst beeindruckenden Zahl von Beispielen aufwartenden Einführung in die Detektivliteratur und den Detektivfilm beispielsweise auf Charles Dickens verwiesen (Seeßlen 2011, 8.ff.), der auch sonst zu den bedeutendsten und einflussreichsten Autoren der Weltliteratur im 19. Jahrhundert gehört, ebenso auf den heute weitgehend vergessenen Wilkie Collins, der „ein Freund und Mitarbeiter“ von Dickens war und „dem Detektiv, mittlerweile eine vertraute, aber wenig heroische Figur in der Unterhaltungsliteratur, in seinem 1868 publizierten Roman ‚The Moonstone‘ (Der Mondstein) ein neues Denkmal setzte“ (Seeßlen 2011, 10). Die Detektivfigur ist im 19. Jahrhundert noch stark dem Ethos und Pathos der Aufklärung verpflichtet, allerdings kommt mit dem Element <?page no="108"?> des Verbrechens etwas Unerklärliches, nur fallweise zu Erklärendes hinzu: „Der angestrebte ideale Zustand der Unschuld bleibt also eine wenn auch rationale Metaphysik. Das Paradox ist nicht aufzulösen […]“, es bleibt offen, „warum man die Welt verstehen könnte, und warum man sie doch nicht versteht“ (Seeßlen 2011, 15). Der oft gezogene Vergleich mit einem Kreuzworträtsel (vgl. ebd.) ist daher falsch. Die Rechnung geht nur teilweise auf, selbst wenn eine Täterin oder ein Täter gefasst wird. Die Auf‐ klärung baut auf einen sich immer mehr als naive Vorstellung entpuppenden ‚natürlichen‘ Hang des Menschen zum Guten, also auf eine als ontologische Kategorie verstandene bürgerliche Moral. Frei nach Brecht lässt sich aber sagen: Doch der Mensch, er ist nicht so. Dies lässt sich bereits in Das Fräulein von Scuderi beobachten, während Poe dadurch, dass er einen Orang-Utan zum Täter macht, dem Problem scheinbar aus dem Wege geht. Doch wenn man das Tier als Verkörperung der animalischen Triebe auch des Menschen liest, als Rückkehr des Verdrängten, dann öffnen sich plötzlich Abgründe ins Unerklärliche. Die Entstehung der modernen Massenliteratur führt im 20. Jahrhundert zu einer Inflation der Detektivfigur, die immer stärker auf „Action“ setzt (Seeßlen 2011, 24). Serien werden populär, zu den frühesten und erfolg‐ reichsten Beispielen gehört die 1886 von Ormond G. Smith und John R. Coryell erfundene Figur Nick Carter mit dem bescheidenen Attribut „Ame‐ rikas größter Detektiv“ (ebd.). Die billigen „Dime-Novels“ (Dime ist eine 10-Cent-US-Münze) werden Ende der 1910-er Jahre durch die „Pulp“-Novels mit ihrem billigen, „holzhaltigen Papier“ abgelöst (vgl. Seeßlen 2011, 26 f.), die Taschenbuch-Detektive der ‚hardboiled novels‘ kommen wenig später auch dazu - die bekanntesten Figuren, sogenannte ‚Private Eyes‘, sind Dashiell Hammetts Sam Spade und Raymond Chandlers Philip Marlowe (Seeßlen 2011, 45-49). Doch nicht nur die US-Amerikaner sind führend im Erfinden von Detektivfällen. In den 1920-er und 1930-er Jahren schreiben in England neben Agatha Christie auch Gilbert Keith Chesterton - mit der Figur des Pater Brown - und Dorothy L. Sayers mit Lord Peter Wimsey (Seeßlen 2011, 30 f.) berühmt gewordene Kriminalerzählungen. Beider Er‐ mittlerfiguren lösen ihre Fälle nicht aus Gründen des Gelderwerbs. Dazu kommt Edgar Wallace als „Meister des schlechten Geschmacks“: „In seinen Büchern wimmelt es von abartigen Mördern, tierähnlichen Wesen, Geheim‐ bünden und sadistischen Wiedergängern“ (Seeßlen 2011, 37). Bekanntlich sind zahlreiche Romane der genannten Autorinnen und Autoren auch verfilmt worden, auf einzelne Beispiele wird noch einzugehen sein. 5. Detektiverzählungen 108 <?page no="109"?> In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet sich ein breites Spektrum von preiswerten und teuren Druckerzeugnissen, sensationalistischen und betont literarischen Detektiverzählungen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Der in New York ermittelnde FBI-Agent Jerry Cotton darf seit 1954 als Held von mittlerweile über 3200 Heften im deutschen Bastei-Verlag ermitteln, die Gesamtauflage wird auf rund 850 Millionen Exemplare geschätzt. Auf der anderen Seite der qualitativ anspruchsvollen Literatur kann Friedrich Dürrenmatt genannt werden, der in den 1950-er Jahren seine ebenso kri‐ tischen wie bei einem bildungsbürgerlichen Lesepublikum erfolgreichen Romane Der Richter und sein Henker (1952), Der Verdacht (1953) und Das Versprechen (1958) publiziert. Die ersten beiden - mit Kriminalkommissar Hans Bärlach als Hauptfigur - werden zunächst in Zeitschriften vorveröf‐ fentlicht, während der zuletzt genannte Roman mit dem Untertitel „Requiem auf den Kriminalroman“ aus der Arbeit an dem Drehbuch für den mit Heinz Rühmann und Gert Fröbe prominent besetzten Film Es geschah am hellichten Tag (ebenfalls 1958) entsteht. Dürrenmatts Skepsis gegenüber den Möglichkeiten von Aufklärung und Moral verstärkt ein Moment, das sich absichtsvoll oder unabsichtlich bereits in der früheren Detektivliteratur und auch in vielen Detektivfilmen findet. In der Postmoderne wird diese Skepsis zum selbstverständlichen Bestandteil. Der Detektiv ist eine gebrochene Figur, die Detektion schwierig und mit unvorhersehbaren Problemen behaftet. Allerdings kann, wie die Figur des Privatdetektivs Simon Brenner aus den Romanen von Wolf Haas zeigen wird, aus solchem Konfliktpotenzial auch spielerisches und sogar humoris‐ tisches Kapital geschlagen werden. Die Zahl der Filme mit Detektivfiguren ist Legion und es soll nicht einmal der Versuch gemacht werden, eine Auswahl zu präsentieren - dies hat auf beeindruckende Weise Georg Seeßlen getan (Seeßlen 2011) und dabei auf Filme wie Roman Polanskis Chinatown von 1974 mit Jack Nicholson in der Hauptrolle (Seeßlen 2011, 128) hingewiesen, in dem der ‚hardboiled detective‘ wiederaufersteht und zugleich parodiert wird. Dead Again (Schatten der Vergangenheit) von Kenneth Branagh aus dem Jahr 1990 beispielsweise ist, wie zu zeigen sein wird, sehr viel mehr als ein Detektivfilm (Seeßlen 2011, 184), denn dieser unterschätzte Film sprengt alle Genrekonventionen - er ist Kriminalfilm und Krimiparodie. Zuallererst aber ist er ein intertextuelles und augenzwinkerndes Spiel mit der Filmgeschichte. Dieser Film soll neben eini‐ gen anderen exemplarisch vorgestellt und diskutiert werden. Doch zunächst gilt es, einen Blick auf einige herausragende Texte der Literatur zu werfen. 5.1 Typen des Detektivs 109 <?page no="110"?> 5.2 Eine moderne Detektivfigur vor der Moderne: E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1819) Die erste moderne Detektiverzählung vor der sogenannten klassischen oder literarischen Moderne um 1900 ist nicht erst Poes Erzählung The Murders in The Rue Morgue, sondern - mehr als zwei Jahrzehnte früher - E.T.A. Hoffmanns 1818/ 19 entstandene und 1819 veröffentlichte Erzählung Das Fräulein von Scudéri. Eine bemerkenswerte Wirkung verzeichnet bereits die zeitgenössische Rezeption: „Die Erzählung wurde ein außerordentlicher Erfolg und ihr Verfasser einer der umworbensten Dichter der Zeit“ (Hoffmann 2001, 1511). Es gab sehr früh Übersetzungen ins Russische, Polnische und Französische, dazu kamen Dramatisierungen für das Theater und im weiteren Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts zahlreiche Verarbeitungen des Stoffes um den Fall des Mörders und Juwelenschmieds Cardillac, etwa die seinen Namen im Titel tragende Oper von Paul Hindemith (Hoffmann 2001, 1513). Auch die Hauptfigur von Patrick Süskinds Das Parfum (1985) ist in dieser Tradition zu sehen, denn wie Cardillac ist Jean-Baptiste Grenouille ein triebgesteuerter, sich seiner Obsessionen dabei durchaus bewusster Serienmörder. Hoffmanns Erzählung hat nicht nur alle Zutaten eines Krimis, sie überschreitet zugleich auch jene klischeehafte Ausprägung, die erst noch kommen sollte, und weist somit bereits auf die Krimis des 20. und 21. Jahrhunderts voraus. Wenn Andreas Reckwitz urteilt, das Subjekt sei im 18. Jahrhundert bereits krisenhaft geboren worden (Reckwitz 2006, 14), so lässt sich für das Krimigenre analog feststellen, dass das Detektivsubjekt mit Hoffmanns Erzählung in seiner ganzen Brüchigkeit und Krisenhaftigkeit entsteht und schon hier in seiner ganzen Modernität, Komplexität und Kontingenz erfahrbar wird. Dies gilt nicht, obwohl (wie in der Forschung kritisch vermerkt worden ist), sondern gerade weil das Fräulein nicht die analytischen Fähigkeiten „einer echten Detektivin“ zeigt (so der Kommentar von Hoffmann 2001, 1516), was immer eine ‚echte Detektivin‘ sein mag. Selbst Agatha Christies Miss Marple vertraut ihrer Intuition und entdeckt manche Indizien nur durch Zufall oder Mithilfe anderer Figuren. Es ist gerade das Moderne an der Figur, dass sie wie eine Ururahnin des von Wolf Haas erfundenen Grazer Privatdetektivs Simon Brenner erscheint. Abgesehen davon ist der Befund auch vom Text selbst nicht gedeckt, in dem - wie zu zeigen sein wird - mehrfach betont wird, dass nur das Fräulein von Scudéri die glückliche Auflösung des Falls herbeiführen konnte. 5. Detektiverzählungen 110 <?page no="111"?> Hoffmann bewies bekanntlich auch in anderer Hinsicht ein Gespür dafür, bestehende Tendenzen der Literatur aufzugreifen und daraus Modelle für künftige Genres zu entwickeln, hier sind vor allem das Kunst- und Wirk‐ lichkeitsmärchen und die Fantastik zu nennen. Der Begriff der Fantastik bzw. der Fantasy geht auf eine Fehlübersetzung des Titels seiner Fantasiestücke in Callot’s Manier von 1814/ 14 zurück (Neuhaus 2017c, 15). Dazu kommt, dass Hoffmanns Werke die wegweisende Besonderheit haben, ausgesprochen selbstreflexiv und darüber hinaus metafiktional zu sein, indem sie die Literatur selbst zum Thema machen. Im Zuge der Entwicklung der Moderne und der Postmoderne wird die Selbstreflexivität von Literatur, die im‐ manente Reflexion des eigenen Konstruktionscharakters, immer wichtiger. Deshalb ist das Fräulein von Scudéri vor allem „Künstlerin“ (Hoffmann 2001, 1526), aber als solche eben auch Detektivin. Sie trägt nicht nur zur Aufklärung der Taten bei, sie ermöglicht diese Aufklärung sogar erst (vgl. dagegen ebd.). Es ist daher nicht so, dass die „Kunst [] ihr den Zugang zum Leben“ verstellt (Hoffmann 2001, 1517). Vielmehr ist es die Kunst, die sowohl für die bösen Taten des Künstlers Cardillac als auch für die Aufklärung seiner Taten durch die Künstlerin Scudéri verantwortlich ist, und der Kunstcharakter gilt für den Text selbst natürlich auch, weil beide ‚nur‘ Figuren in ihm sind. Auf der Ebene der Erzählung reflektieren sowohl der Erzähler als auch beide Figuren als Fokalizer über ihren Status als Künstlerin oder Künstler, dabei nutzen sie ihre künstlerischen Fähigkeiten in entscheidend unterschiedlicher Weise. Cardillac ist nicht nur ausgesprochen ‚männlich‘ konnotiert, ausgerüstet mit einem phallusartigen Dolch, mit dem er seine Opfer ins Herz sticht, er wird auch in die Nähe eines gefährlichen Tiers gerückt: „Wie ein Tiger auf seinen Raub, stürzt sich Cardillac aus seinem Schlupfwinkel auf den Mann, der in demselben Augenblick röchelnd zu Boden sinkt“ (Hoffmann 2001, 827). Als tierhaft erscheint bereits die Beschreibung der Figur bei ihrer ersten Vorstellung durch den Erzähler: René Cardillac war damals der geschickteste Goldarbeiter in Paris, einer der kunstreichsten und zugleich sonderbarsten Menschen seiner Zeit. Eher klein als groß, aber breitschultrig und von starkem, muskulösem Körperbau, hatte Cardillac, hoch in die funfziger Jahre vorgerückt, noch die Kraft, die Beweglichkeit des Jünglings. Von dieser Kraft, die ungewöhnlich zu nennen, zeugte auch das dicke, krause, rötliche Haupthaar und das gedrungene, gleißende Antlitz. Wäre Cardillac nicht in ganz Paris als der rechtlichste Ehrenmann, uneigennützig, offen, ohne 5.2 E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1819) 111 <?page no="112"?> Hinterhalt, stets zu helfen bereit, bekannt gewesen, sein ganz besonderer Blick aus kleinen, tiefliegenden, grün funkelnden Augen hätte ihn in den Verdacht heimlicher Tücke und Bosheit bringen können. (Hoffmann 2001, 799) Der gedrungene und breitschultrige, muskulöse Körperbau, die große Kraft und die roten Haare lassen die Vorstellung eines Orang-Utans nicht weit entfernt erscheinen, wie sie der Hoffmann-Leser Poe in seiner als Ursprungs‐ erzählung gehandelten Krimiversion eines Pariser Doppelmordes entwickeln wird. Poe radikalisiert die unerklärlich-kreatürlich-bösen Taten, die (wie noch zu zeigen sein wird) in seiner Erzählung nicht mehr, wie bei Hoffmann, noch durch ein pränatales Trauma ansatzweise rationalisiert werden können. Die Schilderung des Traumas - aus der Perspektive Oliviers, der die Per‐ spektive Cardillacs wiedergibt, also als Erzähltes im Erzählten des Erzählten - macht allerdings auch einen wichtigen Teil der Modernität des Texts aus, denn hier gesteht eine Figur, dass sie trotz ihrer Bildung und Fähigkeit zur Selbstanalyse nicht in der Lage ist, ihre Triebe zu beherrschen: Weise Männer sprechen viel von den seltsamen Eindrücken, deren Frauen in guter Hoffnung fähig sind, von dem wunderbaren Einfluß solch lebhaften, willenlosen Eindrucks von außen her auf das Kind. Von meiner Mutter erzählte man mir eine wunderliche Geschichte. Als die mit mir im ersten Monat schwanger ging, schaute sie mit andern Weibern einem glänzenden Hoffest zu, das in Trianon gegeben wurde. Da fiel ihr Blick auf einen Cavalier in spanischer Kleidung mit einer blitzenden Juwelenkette um den Hals, von der sie die Augen gar nicht mehr abwenden konnte. Ihr ganzes Wesen war Begierde nach den funkelnden Steinen, die ihr ein überirdisches Gut dünkten. Derselbe Cavalier hatte vor mehreren Jahren, als meine Mutter noch nicht verheiratet, ihrer Tugend nachgestellt, war aber mit Abscheu zurückgewiesen worden. Meine Mutter erkannte ihn wieder, aber jetzt war es ihr, als sei er im Glanz der strahlenden Diamanten ein Wesen höherer Art, der Inbegriff aller Schönheit. Der Kavalier bemerkte die sehnsuchtsvollen, feurigen Blicke meiner Mutter. Er glaubte jetzt glücklicher zu sein als vormals. Er wußte sich ihr zu nähern, noch mehr, sie von ihren Bekannten fort an einen einsamen Ort zu locken. Dort schloß er sie brünstig in seine Arme, meine Mutter faßte nach der schönen Kette, aber in demselben Augenblick sank er nieder und riß meine Mutter mit sich zu Boden. Sei es, daß ihn der Schlag plötzlich getroffen, oder aus einer andern Ursache; genug, er war tot. Vergebens war das Mühen meiner Mutter, sich den im Todeskrampf erstarrten Armen des Leichnams zu entwinden. Die hohlen Augen, deren Sehkraft erloschen, auf sie gerichtet, wälzte der Tote sich mit ihr auf dem Boden. Ihr geltendes Hilfsgeschrei 5. Detektiverzählungen 112 <?page no="113"?> drang endlich bis zu in der Ferne Vorübergehenden, die herbeieilten und sie retteten aus den Armen des grausigen Liebhabers. Das Entsetzen warf meine Mutter auf ein schweres Krankenlager. Man gab sie, mich verloren, doch sie gesundete, und die Entbindung war glücklicher, als man je hatte hoffen können. Aber die Schrecken jenes fürchterlichen Augenblicks hatten mich getroffen. Mein böser Stern war aufgegangen und hatte den Funken hinabgeschossen, der in mir eine der seltsamsten und verderblichsten Leidenschaften entzündet. Schon in der frühesten Kindheit gingen mir glänzende Diamanten, goldenes Geschmeide über alles. (Hoffmann 2001, 832 f.) Die Schilderung der Szene suggeriert das Unmögliche der grausigen Verge‐ waltigung durch einen Toten. Die Fixierung auf Juwelen spielt ebenso auf die mythologisch grundierte Faszination für Edelmetalle in der Literatur der Romantik an wie auf das, was Freud die anale Phase des Menschen nennen wird und in der Cardillac durch das pränatale Trauma steckengeblieben zu sein scheint: Seine Produkte kann er nicht hergeben, zumindest nicht dauerhaft. Erst das Zurückholen und das gleichzeitige Bestrafen der Käufer, die für ihn die Diebe seines Eigentums sind, verschafft ihm Erleichterung: „Eben hatt’ ich einem Herrn vom Hofe einen reichen Schmuck abgeliefert, der, ich weiß es, einer Operntänzerin bestimmt war. Die Todesfolter blieb nicht aus - das Gespenst hing sich an meine Schritte - der lispelnde Satan an mein Ohr! - Ich zog ein in das Haus. In blutigem Angstschweiß gebadet, wälzte ich mich schlaflos auf dem Lager! Ich seh’ im Geiste den Menschen zu der Tänzerin schleichen mit meinem Schmuck. Voller Wut springe ich auf - werfe den Mantel um - steige herab die geheime Treppe - fort durch die Mauer nach der Straße Nicaise. - Er kommt, ich falle über ihn her, er schreit auf, doch, von hinten festgepackt, stoße ich ihm den Dolch ins Herz - der Schmuck ist mein! - Dies getan, fühlte ich eine Ruhe, eine Zufriedenheit in meiner Seele, wie sonst niemals. Das Gespenst war verschwunden, die Stimme des Satans schwieg.“ (Hoffmann 2001, 834) Der Mörder in Fritz Langs M (1931), in dem aus Kritiker*innensicht bedeu‐ tendsten deutschsprachigen Film aller Zeiten (vgl. Top 100 films of all time 2019), wird sich mit ganz ähnlichen Worten verteidigen. Das „Rätsel“ (Hoffmann 2001, 831) der Motivierung der Taten wird damit freilich nur bedingt gelöst, denn was die Figur antreibt und weshalb Selbsterkenntnis, also das Bewusstsein des freien Willens (nach Kant) sie nicht an ihren Taten hindern kann, das bleibt offen - rund ein Jahrhundert vor Sigmund Freuds oft wiederholter Erkenntnis, der Mensch könne nicht einmal über sich 5.2 E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1819) 113 <?page no="114"?> selbst bestimmen. So hat Freud 1917 in seinem Aufsatz Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse festgestellt, „[…] daß der allgemeine Narzißmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt drei schwere Kränkungen von seiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren hat“ (Freud 1999, 7). Die erste Kränkung ist die „Zerstörung der narzißtischen Illusion“, die Erde und damit der Mensch selbst sei im Zentrum des Universums, hierfür steht der Name Kopernikus (ebd.). Die zweite Kränkung ist die durch Charles Darwin und andere formulierte Erkenntnis: „Der Mensch ist nichts anderes und nichts Besseres als die Tiere, er ist selbst aus der Tierreihe hervorgegangen […]“ (Freud 1999, 6). Die dritte und finale Kränkung der „Eigenliebe“ des Menschen schreibt Freud der Psychoanalyse selbst zu, sie besteht in der Erkenntnis, „[…] daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“ (Freud 1999, 11). Die Erfindung der modernen Detektiverzählung durch Hoffmann ge‐ schieht dabei keineswegs voraussetzungslos. Er kennt nicht nur „den Pitaval, die berühmte Sammlung sensationeller Rechtsfälle“ (Hoffmann 2001, 1511), er hat sich auch literarischer und historischer Quellen der Zeit bedient (vgl. Hoffmann 2001, 1508-1511). Den Stoff entnimmt er der Nürnberger Chronik von Johann Christoph Wagenseil (die Episode aus der Quelle ist abgedruckt in Hoffmann 2001, 1525-1527). Dort wird erzählt, dass das historische Fräulein Madeleine de Scudéry (1607-1701), eine „Verfasse‐ rin umfangreicher Gesellschaftsromane“ (Hoffmann 2001, 1522), bekannte Schriftstellerin ihrer Zeit und Vertraute des französischen Königs Louis XIV. (1638-1715), eine Diebstahlserie kommentiert habe mit den Versen: „Un amant qui craint les voleurs / n’est point digne d’amour“ (Hoffmann 2001, 795), zu Deutsch: „Ein Liebhaber, der die Diebe fürchtet, / ist der Liebe nicht würdig“ (Hoffmann 2001, 1527). Den kriminalistischen Kern der Erzählung bildet aber nicht eine Serie von Diebstählen von Geldbörsen oder das Pariser Lokalkolorit, sondern eine Mordserie mit deren Ursache und Aufklärung, und dafür „hat man bisher kein Vorbild gefunden“ (Hoffmann 2001, 1511). Cardillac, Olivier, Madelon, die Motive des Täters und die Umstände, die zu seinem Tod und zur Entdeckung aller Hintergründe führen, sind offenbar Hoffmanns ureigenste Erfindung. Wer Hoffmanns andere Werke kennt, der wird in Cardillac Züge anderer Figuren entdecken, etwa der Doppelgängerfiguren, wie sie sich in Die Elixiere des Teufels (1815/ 16) oder in Der Sandmann (1816) finden. Die (so der Untertitel) „Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vierzehn‐ ten“ beginnt, nicht untypisch für Hoffmann, mit den Angaben von Ort und Zeit wie ein Bericht: 5. Detektiverzählungen 114 <?page no="115"?> In der Straße St. Honoré war das kleine Haus gelegen, welches Magdaleine von Scuderi, bekannt durch ihre anmutigen Verse, durch die Gunst Ludwig des XIV. und der Maintenon, bewohnte. Spät um Mitternacht - es mochte im Herbste des Jahres 1680 sein - wurde an dieses Haus hart und heftig angeschlagen, daß es im ganzen Flur laut widerhallte. (Hoffmann 2001, 780) Dieses kleine Haus in der ‚honorigen‘ Straße wird mit dem großen Haus Cardillacs kontrastieren, das einen Geheimgang und andere Geheimnisse verbirgt, die dem Goldschmied sein mörderisches Werk erleichtern. Das Ereignis am Anfang der Erzählung ist ein verhindertes mit aufschiebender Wirkung: Cardillacs Geselle Olivier Brusson soll (wie sich erst gegen Ende der Erzählung herausstellt) dem Fräulein im Auftrag des Goldschmieds, der sich über ihre Verse zu Liebe und Diebstahl besonders gefreut hat, einen kostbaren Schmuck als Dank überbringen und möchte die Gelegenheit nutzen, sie um Hilfe zu bitten, er wird aber nicht vorgelassen. Schon zu dem Zeitpunkt scheint Olivier, der einstige Pflegesohn des Fräuleins (seine Mutter war mit Mann und Sohn nach Genf gezogen, die Eltern waren dort in Armut verstorben), unbegrenztes Vertrauen in die Fähigkeiten seiner einstigen Pflegemutter zu haben: „Ganz gegen Cardillacs Willen wollt’ ich bis zu Euch dringen. Als Anne Brußons Sohn, als Euer Pflegling gedacht ich, mich Euch zu Füßen zu werfen und Euch Alles - Alles zu entdecken. Ihr hättet, gerührt von dem namenlosen Elend, das der armen, unschuldigen Madelon drohte bei der Entdeckung, das Geheimnis beachtet, aber Euer hoher, scharfsinniger Geist fand gewiß sichre Mittel, ohne jene Entdeckung der verruchten Bosheit Cardillacs zu steuern. Fragt mich nicht, worin diese Mittel hätten bestehen sollen, ich weiß es nicht - aber daß Ihr Madelon und mich retten würdet, davon lag die Überzeugung fest in meiner Seele, wie der Glaube an die trostreiche Hilfe der heiligen Jungfrau. - Ihr wißt, Fräulein, daß meine Absicht in jener Nacht fehlschlug. Ich verlor nicht die Hoffnung, ein andermal glücklicher zu sein.“ (Hoffmann 2001, 837 f.) Der Fall wird dadurch verkompliziert, dass Olivier Madelon, die Tochter Cardillacs, liebt und nicht möchte, dass sie etwas von den Untaten des allseits geachteten und bewunderten Goldschmieds erfährt, auch nicht nach dessen Ableben. Tatsächlich war Cardillac, der den von ihm hergestellten Schmuck von seinen Käufern zurück raubte und die Käufer dabei häufig auch tötete, drauf und dran, den geschenkten Schmuck vom Fräulein zurückzuholen - 5.2 E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1819) 115 <?page no="116"?> und dabei möglicherweise das Fräulein umzubringen. Olivier wollte dies verhindern, ihm kam aber ein glücklicher Umstand zugute, so dass er seinen potenziellen Schwiegervater nicht selbst zur Strecke bringen musste. Graf von Miossens, Obrist der Garde des Königs, spricht beim Fräulein von Scudéri vor und gesteht, Cardillac erdolcht zu haben: „Längst war es mir aufgefallen, daß die unglücklichen Schlachtopfer der abscheu‐ lichsten Raubgier alle dieselbe Todeswunde trugen. Es war mir gewiß, daß der Mörder auf den Stoß, der augenblicklich töten mußte, eingeübt war und darauf rechnete. Schlug der fehl, so galt es den gleichen Kampf. Dies ließ mich eine Vorsichtsmaßregel brauchen, die so einfach ist, daß ich nicht begreife, wie andere nicht längst darauf fielen und sich retteten von dem bedrohlichen Mordwesen. Ich trug einen leichten Brustharnisch unter der Weste. Cardillac fiel mich von hinten an. Er umfaßte mich mit Riesenkraft, aber der sicher geführte Stoß glitt ab an dem Eisen. In demselben Augenblick entwand ich mich ihm und stieß ihm den Dolch, den ich in Bereitschaft hatte, in die Brust.“ „Und Ihr schwiegt, fragte die Scuderi, Ihr zeigtet den Gerichten nicht an, was geschehen? “ „Erlaubt, sprach Miossens weiter, erlaubt, mein Fräulein, zu bemerken, daß eine solche Anzeige mich, wo nicht geradezu ins Verderben, doch in den abscheulichsten Prozeß verwickeln konnte.“ (Hoffmann 2001, 844) Aus dieser Stelle erklärt sich auch der lange Vorspann der Erzählung, in der die Enstehung der besonderen, besonders gefürchteten Kammer der Strafverfolgung geschildert wird, denn erst durch die Folter einschließende, lieber Unschuldige tötende als möglicherweise Schuldige verschonende Art der Strafverfolgung wird das Verhalten des Obristen verständlich. Er möchte dennoch helfen und weil er gehört hat, dass sich das Fräulein für Olivier einsetzt, hat er ihr die Geschichte erzählt. Es ist nun an ihr, sowohl das Geheimnis Oliviers als auch das Geheimnis des Obristen zu schützen. Zusätzlich wird die Suche nach einem die bisherige Praxis der Strafverfolgung umgehenden Weg motiviert durch den professionellen Rat, den sich das Fräulein bei dem führenden Pariser Anwalt holt: D’Andilly sah schweigend einige Augenblicke vor sich nieder, dann sprach er: „Auf gewöhnlichem Wege ist Brußon aus den Händen der Justiz nun ganz und gar nicht zu retten. Er will Madelons halber Cardillac nicht als Mordräuber nennen. Das mag er tun, denn selbst, wenn es ihm gelingen müßte, durch Entdeckung des heimlichen Ausgangs, des zusammengeraubten Schatzes dies nachzuweisen, würde ihn doch als Mitverbundenen der Tod treffen. Dasselbe Verhältnis bleibt 5. Detektiverzählungen 116 <?page no="117"?> stehen, wenn der Graf Miossens die Begebenheit mit dem Goldschmidt, wie sie wirklich sich zutrug, den Richtern entdecken sollte. Aufschub ist das Einzige, wornach getrachtet werden muß. Graf Miossens begibt sich nach der Concierge‐ rie, läßt sich Olivier Brußon vorstellen und erkennt ihn für den, der den Leichnam Cardillacs fortschaffte. Er eilt zu la Regnie und sagt: In der Straße St. Honorée sah ich einen Menschen niederstoßen, ich stand dicht neben dem Leichnam, als ein anderer hinzusprang, sich zum Leichnam niederbückte, ihn, da er noch Leben spürte, auf die Schultern lud und forttrug. In Olivier Brußon habe ich diesen Menschen erkannt. Diese Aussage veranlaßt Brußons nochmalige Vernehmung, Zusammenstellung mit dem Grafen Miossens. Genug, die Tortur unterbleibt, und man forscht weiter nach. Dann ist es Zeit, sich an den König selbst zu wenden. Euerm Scharfsinn, mein Fräulein! bleibt es überlassen, dies auf die geschickteste Weise zu tun. Nach meinem Dafürhalten würd’ es gut sein, dem Könige das ganze Geheimnis zu entdecken.“ (Hoffmann 2001, 845 f.) Sowohl Olivier als auch der bedeutendste Pariser Anwalt schätzen also den „Scharfsinn“ der Schriftstellerin - und dies zurecht. Auch der König wird später betonen, dass die glückliche Lösung des Falles einzig dem Fräulein zu verdanken ist: „Geht, geht! Fräulein, Ihr solltet Parlamentsadvokat sein und meine Rechtshändel ausfechten, denn, beim heiligen Dionys, Eurer Beredsamkeit widersteht Niemand auf Erden“ (Hoffmann 2001, 851). Mit dem Motiv des Erzählens wird die Erzählung selbstreflexiv, und dies gleich auf mehrfache Weise, ist sie doch in den Kontext des geselligen Erzählens der ‚Serapions-Brüder‘ eingebunden. Sie verhandeln die möglichen Leistungen des Erzählens diskusiv, während die Erzählung selbst ein schlagendes Beispiel dafür gibt: Der König, hingerissen von der Gewalt des lebendigsten Lebens, das in der Scuderi Rede glühte, gewahrte nicht, daß von dem gehässigen Prozeß des ihm abscheulichen Brußons die Rede war, vermochte nicht ein Wort hervorzubringen, konnte nur dann und wann mit einem Ausruf Luft machen der innern Bewegung. Ehe er sich’s versah, ganz außer sich über das Unerhörte, was er erfahren, und noch nicht vermögend, alles zu ordnen, lag die Scuderi schon zu seinen Füßen und flehte um Gnade für Olivier Brußon. (Hoffmann 2001, 847 f.) Das Rätsel des Krimis, das seinen Kern bildet, ist zugleich auch das Rätsel der Literatur und beides ist, auf der Ebene der Erzählung und durch die Erzählung, nur scheinbar und vorübergehend lösbar, eben so lange, wie die Lektüre des Texts mit ihrem fiktionalen Pakt dauert und die Leser*innen 5.2 E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1819) 117 <?page no="118"?> das Erzählte für die Dauer der Lektüre als ‚wahr‘ ansehen. Eben dies wird nach dem Ende der Erzählung in der Rahmenhandlung von Hoffmanns Die Serapions-Brüder zum Gegenstand des Gesprächs der Serapions-Brüder Sylvester (von dem diese Erzählung in der Erzählung stammt), Lothar, Ottmar und Theodor. Die Produktionsprinzipien von Literatur werden diskutiert, hier findet sich auch der Hinweis auf „Wagenseils Chronik von Nürnberg“ (Hoffmann 2001, 854 f.) und andere Quellen, von denen eine - die Geschichte „von einem alten Schuster zu Venedig“ (Hoffmann 2001, 853) - bisher noch nicht identifiziert werden konnte (Hoffmann 2001, 1531), so dass offen bleiben muss, ob sie von Hoffmann selbst stammt, um die Grenze zwischen den Kategorien Fiktionalität und Faktualität weiter verschwimmen zu lassen. 5.3 Das Muster des Genres: Edgar Allan Poes The Murders in The Rue Morgue (1841) Poes zuerst in Graham’s Magazine veröffentlichte Erzählung wird wohl auch deshalb als so wegweisend angesehen, weil sie nicht nur einen Doppelmord und seine Aufklärung schildert und dabei das Motiv des ‚locked room mystery‘ etabliert (Seeßlen 2011, 13), sondern den Vorgang der Detektion breit reflektiert. Dies zeigt bereits der Anfang: The mental features discoursed of as the analytical, are, in themselves, but little susceptible of analysis. We appreciate them only in their effects. We know of them, among other things, that they are always to their possessor, when inordinately possessed, a source of the liveliest enjoyment. As the strong man exults in his physical ability, delighting in such exercises as call his muscles into action, so glories the analyst in that moral activity which disentangles. He derives pleasure from even the most trivial occupations bringing his talent into play. (Poe 2005, 4) Hier wird das Muster des klugen, naturwissenschaftlich gebildeten Detek‐ tivs geprägt, der seinen scharfen analytischen Verstand ausgebildet hat wie Kraftsportler ihre Muskeln und der das Lösen von intellektuellen Rätseln als willkommene Möglichkeit sieht, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Auch wenn der Detektiv bei Poe den Namen C. Auguste Dupin trägt und seinen Fall in Paris löst, so wird es doch Sir Arthur Conan Doyle sein, der mit Sherlock Holmes den ‚great detective‘ in der Literatur etablieren wird, freilich nicht, ohne ihn - mit seiner Drogensucht, seinem Narzissmus und anderen wenig positiven Eigenschaften - bereits als rationalistische 5. Detektiverzählungen 118 <?page no="119"?> Figur auch zu brechen. Wie eng verwandt Dupin und Holmes sind, zeigt sich beispielsweise darin, dass 1908 ein (leider verschollener) Film mit dem Titel Sherlock Holmes in the Great Murder Mystery den Plot von Poe übernahm und die Detektivfigur Dupin durch Holmes ersetzte. Abb. 5.1: Aus der Ursprungserzählung der Kriminalliteratur wurden auch populäre Theaterstücke und Filme, hier ein Filmplakat aus dem Jahr 1932. 5.3 Das Muster des Genres: Edgar Allan Poes The Murders in The Rue Morgue (1841) 119 <?page no="120"?> Die der Handlung vorgeschaltete Erläuterung der analytischen Fähigkeiten macht das Lesen von Poes Text aus heutiger Sicht zu einer etwas mühsamen Angelegenheit, vermutlich soll der Duktus das wissenschaftliche Schreiben imitieren und so den Gegenstand mit der Form verbinden. Der letzte Satz der langen Anfangsreflexion zieht eine Metaebene ein: „It will be found, in fact, that the ingenious are always fanciful, and the truly imaginative never otherwise than analytic“ (Poe 2005, 10). Hier wird der Text kurz metafiktional, bevor er in die Schilderung des konkreten Falles einsteigt mit den Worten: „The narrative which follows will appear to the reader somewhat in the light of a commentary upon the propositions just advanced“ (Poe 2005, 10/ 12). Nun meldet sich ein Ich-Erzähler zu Wort, der die Bekanntschaft Dupins machte, mit ihm zusammenzog und ihm bei der Aufklärung des Falles zur Seite stand - so wie später bei Dr. Watson und Sherlock Holmes. Allerdings handelt es sich um einen, wie er selbst erläutert, unzuverlässigen Erzähler: „Let it not be supposed, from what I have just said, that I am detailing any mystery, or penning any romance. What I have described in the Frenchman, was merely the result of an excited, or perhaps of a diseased intelligence“ (Poe 2005, 16). An solchen Stellen wird der Text doppelbödig und im Wortsinn als Erzählung frag-würdig - damit ist er zumindest stellenweise deutlich komplexer als die spätere Produktion Conan Doyles. Auch die Schilderungen der Grausamkeiten, die der Täter - wie sich herausstellt, handelt es sich um einen ausgebrochenen Orang-Utan (Poe 2005, 76 ff.) - an einer Mutter und ihrer Tochter in der Wohnung verüben wird, in die er auf seiner Flucht klettert, dürfte sich noch der sogenannten schwarzen Romantik und dem Einfluss von Autoren wie E.T.A. Hoffmann verdanken. Zugleich finden sich Anspielungen auf die Zeitgeschichte, so wird von Dupin der Name Vidocq erwähnt (Poe 2005, 42). Eugène François Vidocq (1775-1857) machte eine bemerkenswerte Karriere zunächst als Verbrecher, dann als Kriminalbeamter. Er war Gründer und erster Direktor der franzö‐ sischen Sûreté und arbeitete später als vermutlich erster Privatdetektiv. Seitenweise werden Zeugenaussagen wiedergegeben und Dupin betont immer wieder, dass es ihm nur um die Wahrheit gehe: „My ultimate object is only the truth“ (Poe 2005, 64). An sie will er, in guter aufklärerischer Tradi‐ tion, durch den ‚Gebrauch der Vernunft‘ („usage of reason“) gelangen (ebd.). Es wird zur Genrekonvention gehören, dass der geniale Individualist ein Rätsel löst, dem die Polizei vermutlich nie auf die Spur gekommen wäre und dass der zuständige Beamte - in diesem Fall der Dupin eigentlich gewogene Polizeipräfekt - das eigene Versagen durch den Hinweis, der Detektiv solle 5. Detektiverzählungen 120 <?page no="121"?> sich besser „um seine eigenen Angelegenheiten […] kümmern“ („minding his own business“), zu kaschieren versucht (Poe 2005, 90 f.). 5.4 Das Muster der Detektivfigur: Sherlock Holmes in Sir Arthur Conan Doyles The Hound of the Baskervilles (1902) Um Sherlock Holmes das Licht der literarischen Welt erblicken zu lassen, müssen einige glückliche Umstände zusammenkommen: „Arthur Canon Doyle hatte Medizin in seiner Geburtsstadt Edinburgh in Schottland studiert, und dort hatte ein gewisser Joseph Bell die chirurgische Abteilung geleitet […]“; von ihm soll Holmes den ‚diagnostischen Blick‘ und das prägnante Aussehen haben, während Doyle sich selbstironisch in Dr. Watson porträ‐ tiert haben soll (Seeßlen 2011, 17). Auch habe Doyle „ganz bewusst in seinen Erzählungen an Poe“ angeknüpft: „Schließlich verbindet Holmes mit Dupin die Idee, dass das Unheimliche oder Ungewöhnliche viel leichter zu durchschauen sei als das Alltägliche, scheinbar Normale“ (ebd.). Das stimmt allerdings nur begrenzt, war Conan Doyle doch zunehmend ein Anhänger des Spiritualismus und sah das Verfassen seiner Detektivgeschichten eher als ungeliebten Broterwerb (Coren 1996, 4 u. 104). Abb. 5.2: Der Schöpfer von Sherlock Holmes: Sir Arthur Conan Doyle. 5.4 Das Muster der Detektivfigur: Sherlock Holmes in The Hound of the Baskervilles 121 <?page no="122"?> Das für die Holmes-Geschichten grundlegende naturwissenschaftliche Interesse verdankt sich Conan Doyles Erfahrungen im Studium: „Dr Joseph Bell made a lasting impression on most of his students, but particularly on Conan Doyle“ (Coren 1996, 22). Dazu kamen aber auch noch andere Lehrer, etwa „the atonomist Professor John Rutherford“ (Coren 1996, 23), die ihn auch wegen ihres exzentrischen Verhaltens faszinierten. Der Wissenschaft und der Tradition der Aufklärung verpflichtet ist die scheinbare „Abschaffung, eher die Absetzung des Zufalls“ (Seeßlen 2011, 18), die Holmes zum ‚Helden des Positivismus‘ werden ließ (Seeßlen 2011, 19). Allerdings kommt mit den exzentrischen Eigenschaften und der Vorliebe für Nacht- und Abseitiges auch etwas hinzu, das ihn als „Spätromantiker“ zeigt (Seeßlen 2011, 20), freilich wohl eher in der Nachfolge der sogenannten schwarzen Romantik. In der Figur Holmes kommt es für Seeßlen zu einer „Versöhnung von Romantik und Positivismus“ (ebd.). Das kann man auch anders sehen. Holmes ist einerseits Teil der „Mikrophysik der Macht, die von den Apparaten und Institutionen eingesetzt wird“ (Foucault 1994, 38), und er weist andererseits mit seinen ‚dunklen‘ Seiten auf das Verdrängte der Aufklärung: „Was die Klassik [d. h. die Zeit der Aufklärung in Frankreich] eingeschlossen hatte, war nicht nur eine abstrakte Unvernunft, in der sich Irre und Freigeister, Kranke und Verbrecher vermischten, sondern auch eine gewaltige Reserve an Phantastischem, eine schlafende Welt von Monstren […]“ (Foucault 1973, 367). Diese Monster werden zu Wiedergängern in der Literatur, von Mary Shelleys Frankenstein; or, The Modern Prometheus (1818) über Robert Louis Stevensons Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde (1886) und Bram Stokers Dracula (1897) bis hin zu Conan Doyles The Hound of the Baskervilles, dem dritten der vier Romane mit Sherlock Holmes und Dr. John Watson, in Fortsetzungen zunächst 1901-02 in The Strand Magazine und dann 1902 auch in Buchform veröffentlicht. Shelleys Monster existiert auf der Ebene der Narration wirklich, allerdings repräsentiert es die andere, verdrängte Seite seines Schöpfers Dr. Franken‐ stein. Holmes kann das scheinbare Monster als Täuschung entlarven und den mit Phosphor angestrichenen Hund töten (Conan Doyle 2003, 149 f.). Allerdings verschwindet der Täter Jack Stapleton im Moor und wird nicht mehr gesehen. Dass er darin versunken ist, wird angenommen - dennoch ist es auf der symbolischen Ebene eine bezeichnende Absenz. Ebenso verschwindet seine Helferfigur, ein Diener, von dem Holmes vermutet, dass er Antonio heißt (Conan Doyle 2003, 162). Über den Verbleib von Beryl Stapleton wird gar nicht berichtet. Die fundamentale Verunsicherung durch 5. Detektiverzählungen 122 <?page no="123"?> das Monster bei Shelley ist größer, doch auch der monströse Hund wird zum Repräsentanten von Ängsten, die über die Erzählung hinaus wirken. Aller aufklärerischen Detektion zum Trotz gibt es offene Fragen, die sicher zur dauerhaften Attraktivität und Adaptierbarkeit der Holmes-Geschichten im Film beigetragen haben. So ließe sich die Figur Holmes mit ihrem Drogen‐ konsum, ihrer merkwürdigen Fixierung auf räselhafte Fälle und ihrem idio‐ synkratischen Verhalten als brüchig lesen und die letztlich stets verblüffend einfache Lösung eines kompliziert scheinenden Rätsels als unvollkommene Camouflage der dunkleren Unterströmungen der Erzählung deuten. Dazu passt die spektakuläre Atmosphäre, im Baskerville-Fall mit den „dark secrets of the moor, and of the ancestral curse“ (Frayling 2003, viii). Ein Wort zu den Hintergründen. Ein Riss lief durch die Zeit wie durch das Leben des Schöpfers von Sherlock Holmes. Conan Doyle, der als Schüler körperlich gezüchtigt wurde und dessen Eltern sich vor Beginn seines Erwachsenenlebens trennten (Coren 1996, 15 u. 24), wurde mit zunehmendem Alter ein immer überzeugterer und mit großer Vehemenz bekennender ‚Spiritualist‘, der Séancen besuchte und mit ‚Medien‘ arbeitete, also mit Menschen, die davon überzeugt waren oder so taten, Verbindungen zum Übernatürlichen zu haben. Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass seine Neigung zum Übernatürlichen 1886/ 87 und damit genau in der Zeit beginnt, in der er sich die erste Holmes-Geschichte ausdenkt (Coren 1996, 3). Dass die Holmes-Geschichten nicht so einfach sind, wie sie zu sein scheinen, lässt sich auch mit Blick auf andere Genres und Literatur der Zeit vermuten. Der irische Schriftsteller Bram (eigentlich Abraham) Stoker (1847-1912) veröffentlicht Dracula 1897, also fünf Jahre vor Conan Doyles Roman über den monströsen Hund. Auch wenn bei Stoker die wichtigste Vampirfigur der Literaturgeschichte das Licht der lesenden Welt erblickt: Vampirgeschichten gab es vorher schon viele und Stoker hat eine größere Zahl anderer Romane geschrieben, die in keiner Weise an Dracula heranrei‐ chen. Dass ausgerechnet ein ansonsten trivialer Autor, durch die originelle Variation von Stofftraditionen, einen solchen nachhaltigen Erfolg nicht nur beim Publikum, sondern auch bei der Kritik und in der Wissenschaft erzielen kann, ist wohl nur durch eine Kombination verschiedener Umstände zu erklären. Dracula traf den Nerv der Zeit. Auch bei Conan Doyle geht es um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Bändigung des Unheimlichen in der Nachfolge der Aufklärung. Der sagenhafte Hund liefert den Stoff für eine Mischung aus „neo-Gothic novel“ und „detective story“ (Frayling 2003, xxxiii), das mit ihm in die Welt 5.4 Das Muster der Detektivfigur: Sherlock Holmes in The Hound of the Baskervilles 123 <?page no="124"?> gekommene Bild „was so strong that it still colours public perceptions“ (Frayling 2003, xxvii). Nicht zufällig hat Umberto Eco die Hauptfigur seines weltberühmten Romans Der Name der Rose (1980) William von Baskerville genannt (vgl. Frayling 2003, xxxv). Wie Shelley und Stoker adaptiert Conan Doyle moderne, seit der Roman‐ tik üblich gewordene Erzählverfahren. Er etabliert mit Dr. Watson einen personalen Erzähler und schaltet in The Hound of the Baskervilles beispiels‐ weise Zeitungsartikel (Conan Doyle 2003, 16 ff.), Briefe (Conan Doyle 2003, 75 ff.) oder Tagebucheinträge (Conan Doyle 2003, 99 ff.) ein, sogar ein altes Manuskript (Conan Doyle 2003, 13 ff.), das die Geschichte des Fluchs und der Bestie erzählt. Es ist wohl die mit der Variabilität der Form einhergehende besondere Balance aus Verunsicherung und Sicherheit, aus Nervenkitzel und Beruhigung, die Conan Doyles Detektivgeschichten so interessant für die unterschiedlichsten Publika und damit so erfolgreich macht. Dazu kommt: Holmes ist vor allem ein Serienheld. Er ermittelt in nur vier Romanen, aber dafür in 56 Erzählungen, die von 1891-1927 im Londoner Strand Magazine veröffentlicht werden und ihren Autor innerhalb kurzer Zeit berühmt machen. 1893 lässt Conan Doyle Holmes sterben, um ihn 1903 wieder auferstehen zu lassen - Holmes hatte, so die Erklärung in The Adventure of the Empty House, seinen Tod nur vorgetäuscht, um auch die Spießgesellen seines Erzrivalen Professor James Moriarty (den er in The Final Problem mit sich in den Tod gerissen hatte) zur Strecke bringen zu kön‐ nen. Die Angebote für das Wiederaufleben der Figur waren zu lukrativ, als dass Conan Doyle hätte widerstehen können (Coren 1996, 106), selbst wenn der Baskerville-Roman zunächst ‚nur‘ eine weitere Episode aus Holmes‘ früherem Leben erzählt, bevor es zur säkularen Wiederauferstehung kommt. Das Serielle trägt zu dem dauerhaften Erfolg bei, von den zahlreichen abgeschlossenen Verfilmungen bestimmter Teams bis hin zu weitgehend eigenständigen Serien-Fortsetzungsformaten wie Elementary (2012-19; 154 Folgen in sieben Staffeln), dessen Titel einen immer wieder von Holmes gebrauchten (z. B. Conan Doyle 2003, 6) Ausdruck zitiert. Während Elemen‐ tary in der Erzählgegenwart in New York spielt und auf eher traditionelle Detektivarbeit setzt, arbeitet die noch erfolgreichere, im London der Erzähl‐ gegenwart spielende Serie Sherlock (2010-17; 13 Folgen in vier Staffeln) mit den besonderen technischen Möglichkeiten etwa des World Wide Web. Benedict Cumberbatch (als Sherlock Holmes) und Martin Freeman (als Dr. Watson) wurden durch die Serie zu Weltstars. 5. Detektiverzählungen 124 <?page no="125"?> Die besondere Leistung von Conan Doyle wird aus vielen Quellen gespeist. Neben den erwähnten eigenen Erfahrungen mit den dunklen Seiten des menschlichen Lebens, zu denen auch Tod und Krankheit naher Angehöriger gehören (seine erste Frau litt 13 Jahre an Tuberkulose, bevor sie starb; Coren 1996, 80 f.), sind es Bildungstraditionen, in die der schon als Junge begeisterte Leser eingeführt wird, etwa als ihn sein Onkel Richard mit nach London nimmt, um ins Theater zu gehen und dort, neben anderen Stücken, Hamlet zu sehen (Coren 1996, 17). Der Vielleser hat früh mit dem Schreiben begonnen und immer wieder überlegt, wie er seinen Beitrag zum Genre des Krimis leisten kann: „Poe’s masterful detective, M. Dupin, has from boyhood been one of my heroes. But could I bring an addition of my own? “ (zit. nach Coren 1996, 49). Dazu kommen andere Einflüsse: „Lord Macaulay influenced his sense of history and Sir Walter Scott his sense of fiction“ (Coren 1996, 54). Der persönliche Kontakt mit Oscar Wilde, dessen einziger Roman The Picture of Dorian Gray zugleich mit The Sign of the Four an Lippincott’s Magazine verkauft wird, beeindruckt den jungen Autor sehr (Coren 1996, 56 f.). Wildes Figur Dorian Gray gehört in die Reihe der Monster, denn sie wird auf unheimliche Weise zu einem Mörder, so wie dies bei den Vampiren und anderen Untoten der Fall ist. Später ist Conan Doyle auch mit James M. Barrie befreudet (Coren 1996, 79), dem Schöpfer von Peter Pan. Abb. 5.3: Sherlock Holmes wurde ein Star in allen Medien, auch im Comic (hier von 1955). 5.4 Das Muster der Detektivfigur: Sherlock Holmes in The Hound of the Baskervilles 125 <?page no="126"?> Bereits die Namen der Figuren Sherlock Holmes und John Watson werden auf den beabsichtigen Erfolg hin entworfen (Coren 1996, 50). Es geht Conan Doyle mehr ums Geld als um die Literatur; Fehler werden in Kauf genommen (Coren 1996, 59). Dennoch profitieren die Erzählungen vom Literaturwissen ihres Autors, sie werden komplex erzählt und sind intertex‐ tuell aufgeladen. Am Schluss der endgültig letzten Holmes-Geschichte findet sich beispielsweise ein unmarkiertes Zitat - das Lob der Freundschaft, das Watson seinem Gefährten Holmes ausspricht, verwendet Platos Nachruf auf Sokrates (Coren 1996, 84). Einen weiteren wichtigen Einfluss haben Conan Doyles Auslandsaufent‐ halte und Reisen, die ihn mit anderen Traditionen und Kulturen vertraut machen. 1875 wird er auf eine Schule nach Feldkirch geschickt (ebd.). 1880 entschließt er sich, als Bordarzt an einer Schiffsreise in die Arktis teilzunehmen (Coren 1996, 24), die erste von vielen sehr unterschiedlichen Reisen in weiter entfernte Länder und Erdteile. Seine Neugier treibt ihn beispielsweise auch dazu, nach Berlin zu fahren, um ein Interview mit dem berühmten Dr. Robert Koch zu führen (Coren 1996, 65). Prägend ist die Suche nach dem Nicht-Alltäglichen, auch wenn der gebürtige Schotte immer ein überzeugter Brite und Royalist bleiben wird (Coren 1996, 27). Coren formuliert es so: „For Conan Doyle the flavour of the extraordinary was to be captured within the taste of the most ordinary“ (Coren 1996, 25). Die Erfahrungen mit Fremdheit, Tod und Leiden führen aber auch dazu, dass sich der Arzt und Autor endgültig vom katholischen Glauben seiner Herkunft ab- und dem Geisterglauben zuwendet (Coren 1996, 31). Vermutlich ist so auch seine Begeisterung für die Sage vom Fluch und dem großen schwarzen Geisterhund zu erklären, die nur eine von vielen ähnlichen Sagen und Legenden auf den britischen Inseln ist (Frayling 2003, ix). Der besondere Erfolg gerade dieses Romans hat damit zu tun, dass Bertram Fletcher Robinson bei einem Golfurlaub Conan Doyle davon als „an old country legend“ erzählt hat (Coren 1996, 104) und die beiden sogar nach Dartmoor gereist sind, um weiter zu recherchieren (Coren 1996, 105). Briefe bezeugen, dass Conan Doyle zunächst gemeinsam mit Robinson eine Horrorgeschichte schreiben wollte: „The Hound of the Baskervilles - a real creeper“ (zit. nach Frayling 2003, xv). Der Anteil von Robinson, der schließlich doch nicht als Co-Autor genannt wird, ist ungeklärt. Jedenfalls gilt The Hound of the Baskervilles, von August 1901 bis April 1902 wieder im Strand Magazine und dann als Buch veröffentlicht, als „the best of the Sherlock Holmes stories“ (ebd.). „The Hound of the Baskervilles is the most 5. Detektiverzählungen 126 <?page no="127"?> filmed, because the best loved, the most popular and most horrific, of all the Sherlock Holmes stories […]“ (Frayling 2003, x). Das Magazin konnte kurzfristig seine Auflage von 180.000 Exemplaren auf 300.000 erhöhen (Frayling 2003, xii). Der Ruhm klingt noch in Billy Wilders besonderer Hommage The Private Life of Sherlock Holmes (1970) nach, wenn der Direktor des Russischen Staatsballets Holmes erzählt, die Primaballerina Madame Petrova habe alle Geschichten über ihn gelesen: „‚Her favourite is Big Dog from Baskerville‘; to which the detective replies, ‚I’m afraid it loses something in translation‘“ (zit. nach Frayling 2003, ix). Ob der Roman der beste aller Kriminalromane ist (vgl. Frayling 2003, xxxv), sei dahingestellt, zumindest darf er in einer Retrospektive von Kri‐ minalromanen nicht fehlen. Dabei lässt sich auch etwas genauer feststellen, wie gerade die Grenzüberschreitung zum Genre des Horrors funktioniert, eine Grenze, die in Conan Doyles Roman auf der Ebene der erzählten Realität dann doch nicht verletzt wird, anders als dies bei Shelley, Stevenson, Stoker oder Wilde der Fall ist. Bei Conan Doyle kommt noch etwas dazu, das bei Shelley, Stevenson und Stoker (aber nicht bei Wilde) fehlt und auch einen Teil des Erfolgs erklärt - Humor. Watson ist ein unzuverlässiger Erzähler, er weiß dies eigentlich selbst und lässt sich doch immer wieder dazu verführen, sich als ein Holmes ebenbürtiger Beobachter und Indiziendeuter zu fühlen (vgl. Conan Doyle 2003, 6). Er bietet damit auch die perfekte Stellvertreterfigur für die Leser*in‐ nen, denn wenn Holmes seinem Freund Watson etwas erklärt und dieser über die Brillanz der Schlussfolgerungen staunt, dann erklärt Holmes es den Leser*innen gleich mit und Watson nimmt ihr Staunen vorweg, etwa so wie bei einer Comedy-Sendung im Fernsehen das eingespielte Gelächter nicht vorhandener Zuschauer*innen. Komik wird in der Handlung erzeugt, etwa wenn sich der geheimnisvolle Verfolger von Henry Baskerville und James Mortimer gegenüber dem von Holmes gefundenen Droschkenkutscher als „Mr Sherlock Holmes“ vorstellt (Conan Doyle 2003, 51). Holmes und die Nebenfiguren werden ebenfalls komisiert, indem sie als - um im englischen Kontext zu bleiben - spleenig dargestellt werden. So kommt es immer wieder zu komischen Situationen, etwa wenn Holmes die Aussage des Arztes James Mortimer, er habe seinen Spazierstock von Freunden aus Anlass seiner Verheiratung bekommen, kopfschüttelnd mit den Worten kommentiert: „,Dear, dear, that’s bad! ‘“ (Conan Doyle 2003, 9), weil er vermutet hatte, dass das Geschenk zum Abschied aus dem Kranken‐ haus überreicht worden sei. Als Mortimer feststellt, seine Verheiratung habe 5.4 Das Muster der Detektivfigur: Sherlock Holmes in The Hound of the Baskervilles 127 <?page no="128"?> auch seinen Abschied aus dem Krankenhaus bedeutet, ist Holmes wieder zufriedengestellt. Es ist gerade dieser komisierende Zug, der nicht nur Conan Doyles Detektivgeschichten, sondern auch die seiner Landsfrau Agatha Christie ausmacht, wobei die Komik bei Christie, wie zu zeigen sein wird, bissig ist und oft die Schwelle zur Satire überschreitet. Conan Doyles Holmes-Ge‐ schichten sind viel weniger satirisch und insgesamt konservativer, auch in der Betonung von Traditionen, etwa wenn Henry Baskerville aus der Perspektive Watsons so beschrieben wird: „I felt more than ever how true a descendant he was of that long line of high-blooded, fiery, and masterful men“ (Conan Doyle 2003, 55 f.). In The Hound of the Baskervilles gibt es die für viele Holmes-Geschichten typische Ausgangssituation, dass ein Gast erwartet und empfangen wird, über dessen Herkunft durch Indizien Aussagen getroffen werden können, in diesem Fall mit Hilfe des erwähnten und beim ersten, erfolglosen Vor‐ sprechen zurückgelassenen Spazierstocks Mortimers. Dr. James Mortimer besucht Holmes und Watson, weil er einen Rat möchte. Sir Charles Basker‐ ville ist unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen, möglicherweise ist er das Opfer eines Familienfluchs geworden. Sein Erbe Henry Baskerville wird aus Amerika erwartet (Conan Doyle 2003, 18), ihn könnte der Fluch ebenfalls treffen. Ein Manuskript aus dem Jahr 1742 schildert die Entstehung des Fluchs. Zur Zeit des englischen Bürgerkriegs in der Mitte des 17. Jahrhunderts feiert Sir Hugo Baskerville mit seinen Zechkumpanen stets bis tief in die Nacht. Hugo - „a most wild, profane, and godless man“ (Conan Doyle 2003, 13) - hat Gefallen an der Tochter eines Pächters gefunden, entführt sie und sperrt sie ein, wohl um sie später zu vergewaltigen. Das Mädchen entkommt und stürzt im Moor zu Tode, sie wird aber von einem riesigen schwarzen Hund gerächt. Hugo und seine Spießgesellen hatten das Mädchen über das Moor gejagt wie ein Wild und der Hund dreht nun den Spieß um: Er stellt den Verfolger und beißt ihm die Kehle durch. Der Hund wird als montröses und gespenstisches Tier beschrieben: „a foul thing, a great, black beast, shaped like a hound yet larger than any hound that ever mortal eye has rested upon“ (Conan Doyle 2003, 15). Die Tat hat offenbar einen Familienfluch zur Folge: „Nor can it be denied that many of the family have been unhappy in their deaths, which have been sudden, bloody, and mysterious“ (ebd.). Auch hier wirkt die Komik wieder als Gegengift, wenn ein Nachfahre mit dem gleichen Namen Hugo diese seine Erzählung der Entstehung des Fluchs mit dem 5. Detektiverzählungen 128 <?page no="129"?> Zusatz beschließt, seine beiden Söhne möchten bitte ihrer Schwester nichts davon sagen (Conan Doyle 2003, 16) - wohl um ihre Nerven zu schonen. Sir Charles nun, der herzkrank war (Conan Doyle 2003, 65), fürchtete die populäre Sagengestalt des Geisterhundes und starb nach einem abendlichen Spaziergang im Park seines Herrenhauses - nach dem Versuch wegzulaufen und mit einem offenbar vor Entsetzen verzerrten Gesicht, während in der unmittelbaren Nähe die Abdrücke eines riesenhaften Hundes zu sehen waren (Conan Doyle 2003, 21). Weil Dr. Mortimer dies bei der Untersuchung des Todesfalls verschwiegen hat, um die neue Prosperität, die durch den reichen Sir Charles in die verlassene Gegend gekommen war, nicht zu gefährden, will er nun von Holmes wissen, ob der Erbe ebenfalls Opfer des Geisterhundes werden könnte (Conan Doyle 2003, 26). Schließlich ist Mortimer auch der Vermögensverwalter und Testamentsvollstrecker des Verstorbenen (Conan Doyle 2003, 25). Charakteristisch für den Roman und seinen Erfolg sichernd sind, wie in der Schilderung des Hundes bereits erkennbar, Komparative und Super‐ lative („so gigantic a sum“, heißt es z. B. über das Erbe; Conan Doyle 2003, 47) und andere Formulierungen, die der Erzeugung von Spannung dienen. Das Heulen des Hundes beschreibt Watson als „,the weirdest, strangest thing that I have ever heard in my life‘“ (Conan Doyle 2003, 69). „,He was running, Watson - running desperately, running for his life, running until he burst his heart and fell dead upon his face‘“ (Conan Doyle 2003, 30), erläutert Holmes den Tod von Sir Charles. „,It’s an ugly business, Watson, an ugly, dangerous business, and the more I see of it the less I like it‘“, beschreibt Holmes den Fall (Conan Doyle 2003, 52). Und weiter, nicht ohne Witz: „,There is nothing more stimulating than a case where everything goes against you‘“ (Conan Doyle 2003, 50). Dazu kommen starke Kontraste in der Schilderung, etwa zwischen dem wie die Moorlandschaft grau wirkenden Stapleton und seiner „tropical and exotic“ wirkenden angeblichen Schwester bzw. eigentlichen Frau (Conan Doyle 2003, 76) oder in der Wahrnehmung. Schilderungen werden teilweise stark personalisiert und in den Gefühlen der Figuren verortet, etwa wenn Watson und Henry Baskerville den Abend der Ankunft als düster und erschreckend empfinden, am nächsten Morgen aber die Schönheit des Ortes und der Landschaft wahrnehmen: „,I guess it is ourselves and not the house we have to blame! ‘, said the baronet“ (Conan Doyle 2003, 62). Der Riss geht tiefer durch die Geschichte, denn auch die objektiven Tatbestände führen zu teils unvereinbaren Gegensätzen. Auf der Seite der 5.4 Das Muster der Detektivfigur: Sherlock Holmes in The Hound of the Baskervilles 129 <?page no="130"?> Wissenschaft sehen sich Holmes und Watson; Dr. Mortimer gehört dazu, ist aber nicht frei vom Aberglauben an den Hund; die Täterfigur Stapleton wird als „naturalist“ eingeführt und die Freundschaft zwischen Mortimer, Sir Charles und ihm besteht in ihrem gemeinsamen Interesse an der Natur‐ wissenschaft (Conan Doyle 2003, 19). Dennoch sind alle drei (Stapleton als Verursacher natürlich nur zum Schein) der Meinung, der Hund könnte ein übernatürliches Wesen sein, zumal verschiedene Bewohner der Gegend ihn gesehen haben wollen: „They all agreed that it was a huge creature, luminous, ghastly and spectral“ (Conan Doyle 2003, 24). Interessanterweise macht Holmes Mortimer deshalb einen Vorwurf, den man als Selbstironie des Autors lesen könnte (schließlich traf es auf in selbst zu): „I see that you have quite gone over to the supernaturalists“ (Conan Doyle 2003, 25). Holmes ist begeistert, er sieht „a congenial task before him“ (Conan Doyle 2003, 27). Dafür benötigt er „hours of intense mental concentration“ (ebd.), um alle Fakten miteinander in Beziehung zu setzen und mögliche Erklärungen durchzuspielen. Das inszenierte Rätsel-Spiel von Verhüllen und Zeigen, von falschen Fährten und richtigen Hinweisen beginnt am Anfang und endet am Schluss. Holmes’ Einschätzung pendelt von einer immer wieder als außergewöhnlich komplex und schwierig bezeichneten Aufgabe einerseits - „,This case is very complex‘“ (Conan Doyle 2003, 45); „Holmes himself had said that no more complex case had come to him in all the long series of his sensational investigations“ (Conan Doyle 2003, 64) - zu der dahinter stehenden Klarheit und Einfachheit andererseits, die mit Hilfe einer außergewöhnlichen, das Gewöhnliche beachtenden Auffassungsgabe erschlossen werden kann. Wie Holmes retrospektiv feststellt, waren die Handlungen des Täters „simple and direct“ und alles sah nur so aus, als sei es „exceedingly complex“ gewesen (Conan Doyle 2003, 156). Des Rätsels Lösung liegt für Holmes in der Fähigkeit zur genauen Beobachtung: „,The world is full of obvious things which nobody by any chance ever observes‘“ (Conan Doyle 2003, 28). Sir Charles starb im Juni (Conan Doyle 2003, 16). Die Handlung spielt im Herbst und die rätselvollen Ereignisse setzen mit einem gestohlenen neuen Stiefel ein, der allerdings zurückgebracht und für den ein anderer, gebrauchter gestohlen wird (Conan Doyle 2003, 36, 44 u. 49). Holmes wird später erläutern, dass er bereits zu dem Zeitpunkt vermutet hat, dass er es mit einem Hund zu tun habe (Conan Doyle 2003, 161). Der Stiefel wird von Stapleton verwendet, den von ihm trainierten Hund auf die Fährte von Sir Henry zu setzen. Die Entwendung des Stiefels wird einen Toten zur Folge 5. Detektiverzählungen 130 <?page no="131"?> haben, allerdings nicht Sir Henry. Die in Baskerville Hall als Dienerpaar beschäftigten Eheleute Eliza und John Barrymore versorgen heimlich einen entsprungenen Sträfling und Mörder (Conan Doyle 2003, 57), der sich im Moor versteckt, mit Essen und Kleidung, denn es handelt sich bei dem gesuchten Mörder Selden um den jüngeren Bruder der Frau (Conan Doyle 2003, 91). Der mit dem Stiefel von Sir Henry auf seinen Geruch abgerichtete Hund wird irrtümlich Selden töten, weil dieser von seiner Schwester die abgetragenen Kleider Sir Henrys bekommen hat (Conan Doyle 2003, 129). Selbst in der Schilderung dieses gefürchteten und geflüchteten mehrfa‐ chen Mörders, dessen Taten wie er im Nebel bleiben, wird die Ambivalenz von ‚gut‘ und ‚böse‘ deutlich. Für die Gesellschaft ist er ein mit allen Mitteln zu jagender Schwerstkrimineller, doch für Eliza Barrymore ist er immer noch der kleine verwöhnte Bruder, der ihre Hilfe braucht (Conan Doyle 2003, 92 u. 135). Watson und Sir Henry nehmen die Verfolgung auf und Watson sieht dem Verbrecher in sein „evil yellow face, a terrible animal face, all seamed and scored with vile passions“; und doch lässt er ihn entkommen, denn er hält es nicht für richtig, einem Unbewaffneten und Fliehenden in den Rücken zu schießen (Conan Doyle 2003, 96). Noch interessanter ist die Figur des eigentlich gesuchten Täters, der von Holmes als würdiger Gegenspieler gesehen wird: „we have never had a foeman more worthy of our steel“ (Conan Doyle 2003, 132). Die Präparierung des Hundes wird Holmes sogar als „a flash of genius“ bezeichnen (Conan Doyle 2003, 158): Das Alter ego des genialen und ‚guten‘ Detektivs ist der geniale und ‚böse‘ Täter. Die Beschreibung passt dazu: Wie Holmes Fälle und Täter sammelt, sammelt Stapleton Insekten, die er klassifiziert und in sein kleines Museum integriert. Nach ihm (nach seinem früheren Namen, denn Stapleton ist ein Pseudonym) ist sogar, wie Holmes herausfindet, eine von ihm erstmals beschriebene Motte benannt (Conan Doyle 2003, 157 f.). Während Holmes versucht, ein Netz um den Täter zu ziehen (Kap. 13 heißt sogar „Fixing the Nets“; Conan Doyle 2003, 135), und Watson fühlt, dass sich um ihn und Sir Henry ein Netz zuzieht (Conan Doyle 2003, 119), ist Stapleton mit einem Schmetterlingsnetz unterwegs (Conan Doyle 2003, 65) und verfolgt mit allen Mitteln seine ‚Opfer‘, von denen ihm eines, als Watson ihn kennenlernt, trotz größter Anstrengungen entgeht (Conan Doyle 2003, 69 f.) - so wie ihm Sir Henry und das Erbe entgehen werden. Was Stapleton für Holmes ist, darauf weist die Metapher, die Watson bei seiner Beobachtung von Stapletons Insektenjagd macht, denn der zickzack laufende, hin und her hüpfende Botaniker sieht dabei selbst aus wie eine große Motte (Conan 5.4 Das Muster der Detektivfigur: Sherlock Holmes in The Hound of the Baskervilles 131 <?page no="132"?> Doyle 2003, 70). Holmes ist natürlich am Ende derjenige, der es schafft, alle Fäden in der Hand zu behalten - „so that I was able to keep my hands upon all the strings“ (Conan Doyle 2003, 163). Diese Metapher ist spätestens seit Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater (1810) auch eine gängige für das Erzählen selbst. Und Watson als Alter ego des Autors vermag es mit seiner Narration durchaus, sein selbstgestecktes Ziel zu erreichen, „to make the reader share those dark fears“ (Conan Doyle 2003, 153). Watson trifft Stapleton zum ersten Mal am großen Moor von Grimpen, das Stapleton wie seine Westentasche kennt und wo er auch, in einer verlassenen Mine, den Hund untergebracht hat (Conan Doyle 2003, 158). Watson hört hier den Hund zum ersten Mal heulen (Conan Doyle 2003, 68). Diese erste Begegnung von Watson und Stapleton liefert zahlreiche Anhaltspunkte und enthält viele Vorausdeutungen, allerdings weiß man dies erst am Ende der Lektüre. Auf seiner späteren Flucht auf dem Weg in die Mine wird Stapleton, so vermutet es später Holmes, im Moor versinken. Der Nebel in der Nacht des Anschlags auf Sir Henry spricht dafür, Stapletons genaue Kenntnis des Moors aber dagegen. Um die Zeit, als Watson Stapleton begegnet, versinken zwei Ponys im Moor und Stapleton macht sich über die Dummheit der Tiere lustig (Conan Doyle 2003, 67 ff.). Auch wenn Holmes am Ende keine Zweifel am Tod Stapletons hat - die Indizien, die der Text für seinen Tod liefert, sind uneindeutig. Stapleton hat sich zwei Jahre zuvor in Dartmoor niedergelassen, kurz nach der Ankunft von Sir Charles (Conan Doyle 2003, 67) und mit seiner angeblichen Schwester, die sich als seine Frau entpuppt (Conan Doyle 2003, 124). Sie hat bereits in London versucht, Sir Henry mit einem anonymen Schreiben zu warnen, und sie warnt bei der ersten Begegnung auch Dr. Watson, weil sie ihn für Sir Henry hält, vor einem längeren Aufenthalt in Baskerville Hall (Conan Doyle 2003, 70). Der selbsterklärte Zoologe und Botaniker Stapleton besaß zuvor in Nordengland eine Schule, die er aber, auch aus eigener Unfähigkeit, wieder aufgeben musste (Conan Doyle 2003, 72). Der frühere Name der Stapletons lautete Vandeleur (Conan Doyle 2003, 142), doch selbst dieser Name war ein angenommener. Stapleton war eigentlich der Sohn des jüngeren Bruders von Sir Charles, der angeblich in Südamerika ohne Frau und Kind gestorben sein sollte. Sein Sohn nun heiratete mit „Beryl Garçia“ eine der Schönheiten von Costa Rica und zog mit ihr nach England (Conan Doyle 2003, 157). Vor dem Mord an Sir Charles, mit dem er an das Erbe der Baskervilles kommen wollte (Holmes vermutet, dass er nichts von dem weiteren Erben Henry wusste), hat er bereits, um 5. Detektiverzählungen 132 <?page no="133"?> seinen Lebensstil zu finanzieren, vier große Einbrüche ausgeführt und dabei einen Diener kaltblütig ermordet (Conan Doyle 2003, 161). Eine der Hauptrollen spielt das Moor selbst. Die Atmosphäre von Dart‐ moor in Devon wird immer wieder in effektvollen, sich immer mehr ins Unheimliche steigernden, die Stimmung des Übernatürlichen stärkenden Beschreibungen eingefangen, beginnend mit dem ersten Blick, den der Sir Henry begleitende Watson (Holmes ist angeblich in London zurückgeblie‐ ben) aus dem Zug auf die Landschaft wirft: „Over the green squares of the fields and the low curve of a wood there rose in the distance a grey, melan‐ choly hill, with a strange jagged summit, dim and vague in the distance, like some fantastic landscape in a dream“ (Conan Doyle 2003, 55). Schon am Abend der Ankunft steigert sich die Beschreibung durch Verwendung von aussagekräftigen Adjektiven wie „gloomy“ und „sinister“ (Conan Doyle 2003, 56). Merripit House, wo die Stapletons wohnen, erscheint Watson beim ersten Anblick als „mean and melancholy“ (Conan Doyle 2003, 71). Der atmosphärische wie dramatische Höhepunkt ist die Schilderung des ‚dämonischen‘ Angriffs auf Sir Henry. Holmes hat Stapleton eine Falle gestellt, mit dem herbeibeorderten Inspector Lestrade und Watson wartet er in der Nähe von Stapletons Haus auf Sir Henry, der von dort heimgeht und von der Falle nichts weiß. Wie von Holmes erwartet hetzt Stapleton den präparierten Hund auf den Erben. Im letzten Moment können Holmes und Watson das Tier erschießen (Conan Doyle 2003, 149 f.). Weil sie seine Tat nicht decken wollte, hat Stapleton seine Frau, die er schwer körperlich misshandelt hat, im Haus eingesperrt, ist ins Moor geflüchtet und darin offenbar versunken (Conan Doyle 2003, 152 ff.). Die Rätselhaftigkeit vieler Beobachtungen trägt zur Spannung bei. Dazu gehören auch Annahmen, die sich später als irreführend herausstellen. So hat der entsprungene Sträfling nichts mit dem Tod von Sir Charles zu tun und die merkwürdig ablehnende Haltung von Stapleton gegen eine Verbindung seiner Schwester mit Sir Henry, der sich in die schöne Frau verliebt hat (Conan Doyle 2003, 77 ff.), erklärt sich aus dem schlichten Umstand, dass der Botaniker mit seiner angeblichen Schwester verheiratet ist. Zwar geschah dieser Schachzug zunächst offenbar ohne konkreten Plan. Doch kann er so selbst Beziehungen zu einer Frau namens Laura Lyons anknüpfen, die für ihn Sir Charles mit einem Bettelbrief in die tödliche Falle lockt, und die Anziehungskraft seiner eigenen Frau auf Sir Henry ausnutzen, um diesem eine Falle zu stellen (Conan Doyle 2003, 142 f.). 5.4 Das Muster der Detektivfigur: Sherlock Holmes in The Hound of the Baskervilles 133 <?page no="134"?> Die Aussprache von Stapleton und Sir Henry, in der Stapleton die enge Bindung an seine angebliche Schwester schildert, Sir Henry bittet, drei Monate zu warten, und ihm verspricht, einer Verbindung von ihm mit ihr dann keinen mehr Stein in den Weg zu legen, hat keineswegs, wie Watson meint, eines der kleinen Geheimnisse aufgeklärt (Conan Doyle 2003, 88). Dies ist nur eine weitere falsche Fährte. Und der zweite mysteriöse Mann, den Watson neben dem flüchtigen Mörder im Moor sieht (Conan Doyle 2003, 97), wird nicht des Rätsels Lösung sein, so wie Watson es vermutet (Conan Doyle 2003, 100). Dennoch wird dieser Mann das Rätsel lösen - es handelt sich um Holmes selbst, der nur vorgegeben hat, in London geblieben zu sein. Die Spannung wird immer wieder durch Kommentare gehalten wie: „the events are now crowding thick and fast upon us“ (Conan Doyle 2003, 82), oder: „I was completely puzzled myself “ (Conan Doyle 2003, 87). Die Qualität der Erzählung dieses mörderischen Spiels besteht nicht zuletzt darin, dass es sich selbst immer wieder als Erzählung („to frame some scheme into which all these strange and apparently disconnected episodes could be fitted“; Conan Doyle 2003, 49) und als Spiel thematisiert. So lässt der Erzähler Holmes mit dem Blick auf eine Landkarte sprechen: „,Between and around these scattered points extends the desolate, lifeless moor. This, then, is the stage upon which tragedy has been played, and upon which we may help to play it again‘“ (Conan Doyle 2003, 29). Henry Baskerville drückt es so aus: „,I seem to have walked right into the thick of a dime novel‘“ (Conan Doyle 2003, 36). Das ist erfrischende Selbstironie für alle, die es wahrnehmen. Der Roman kann - bei aller Zufriedenheit, die Holmes über seine Clever‐ ness an den Tag legt - nicht darüber hinwegtäuschen (und will es auch gar nicht), dass er von Brüchen und Umbrüchen kündet. Sir Hugo kommt in revolutionären Zeiten ums Leben, Sir Charles und Sir Henry versuchen mit finanziellen Mitteln eine positive Zeitenwende herbeizuführen (Conan Doyle 2003, 58 f.), bedroht durch Fluch, Sage und kriminelle Energie. Das prototypische „old family home“ (Conan Doyle 2003, 59) wird vermutlich, wenn Henry seinen Schock überwunden hat, in neuer Glorie erstehen, aber ohne die von ihm gewünschte Frau an seiner Seite (Conan Doyle 2003, 84 u. 163 f.) und mit einer bis in die jüngste Vergangenheit reichenden blutigen Familiengeschichte. Wenn Holmes meint, der Fall sei „entirely cleared up“ (Conan Doyle 2003, 157), dann gilt dies wohl nur für ihn und Watson. Ansonsten hätte die Erzählung auch nicht ihre besondere Attraktivität behalten. 5. Detektiverzählungen 134 <?page no="135"?> 5.5 Holmes im Film: The Hound of the Baskervilles (1939) Die Theater- und Filmadaptionen des Romans setzen sehr bald ein, als „the first major version“ gilt eine deutsche Verfilmung von 1914 (Coren 1996, xi). Die englischsprachige Seite von Wikipedia verzeichnet über 20 Verfilmungen (Stand: 26.03.2020). Die erste heute noch populäre ist die Verfilmung unter der Regie von Sidney Lanfield mit Basil Rathbone in der Rolle des Detektivs aus dem Jahr 1939. Es handelt sich um den ersten von 14 Hollywood-Spielfilmen mit dem Duo Rathbone als Holmes und Nigel Bruce als Dr. Watson. Abb. 5.4: Basil Rathbone als Sherlock Holmes. Der Film setzt einerseits auf Superlative und Effekte und will andererseits, in einer Krisenzeit (Beginn des Zweiten Weltkriegs), beruhigend auf die Zu‐ schauer*innen einwirken, hierzu später mehr. Bevor die Handlung beginnt, informiert ein Insert über Zeit und Ort: „1889. In all England there is no district more dismal than that vast expanse of primitive wasteland, the moors of Dartmoor in Devonshire“ (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 01: 19). Das Plakative des Films wird schon hier deutlich, denn wenn die Region so ist, wie sie hier beschrieben wird, weshalb will dann Sir Henry in Baskerville Hall bleiben, statt das Erbe anders zu nutzen? Und weshalb ist das Erbe dann so wertvoll, dass jemand dafür Morde begeht? Bereits in der ersten Szene mit Holmes prognostiziert dieser nach der Lektüre einer Zeitungsmeldung, 5.5 Holmes im Film: The Hound of the Baskervilles (1939) 135 <?page no="136"?> dass Sir Henry Baskerville, der das Erbe antritt, ermordet werden wird: „that he’ll be murdered“ (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 04: 26). Wie Holmes vor dem Besuch Dr. Mortimers auf eine solche Idee kommt, bleibt offen. Auch Dr. Mortimer gibt sich, anders als im Roman, von Anfang an davon überzeugt (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 06: 54), ohne dass er dies begründet. Die Frage, weshalb jemand den Erben umbringen möchte und wer davon profitieren würde, stellt sich erst am Ende des Films (Der Hund von Baskerville, 01: 13: 25). Dafür wird am Anfang eine falsche Fährte gelegt und der Verdacht auf Dr. Mortimer gelenkt, der die großen Biss-Spuren an seinem Spazierstock nicht erklären kann und nur auf seinen früheren, verstorbenen Hund verweist, „a small Spaniel“ (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 12: 00). Der Film hält sich dennoch - anders als der Rest der Serie - vergleichs‐ weise eng an die Vorlage, auch wenn es zu einigen substantiellen Verän‐ derungen kommt. Die wichtigste ist, dass Beryl Stapleton tatsächlich die Schwester des auf das Erbe der Baskervilles spekulierenden Jack Stapleton ist, dessen Herkunft allerdings - abgesehen von der festgestellten Ähnlich‐ keit mit dem Ahnherrn Sir Hugo Baskerville - ungeklärt bleibt. Beryl weiß nichts von der dunklen Seite ihres Bruders (Der Hund von Baskerville 2012, 01: 15: 00) und darf deshalb auch Henry heiraten. Diese Veränderung dient der Glättung der Vorlage, ein Happy-Ending dürfte beim Publikum besser angekommen sein. Der Film setzt durch kleinere weitere Veränderungen seine Möglichkeiten der Spannungserzeugung durch Visualisierung konsequent ein, etwa indem er mit dem Todeslauf von Sir Charles beginnt. Die anonyme Warnung an Sir Henry in London ist an einem Stein befestigt, der in die Kutsche mit Dr. Mortimer und Sir Henry fliegt und dabei das Glas des Kutschenfensters zerstört (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 14: 32). Wer weshalb die Warnung geschrieben hat, bleibt ungeklärt. Der noch unbekannte Mörder zielt in London mit einem Revolver auf den Erben. Holmes kann den Anschlag wie selbstverständlich in letzter Sekunde verhindern (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 17: 42) und zeigt sich bis zum Schluss durchgängig als Herr der Lage. Eigentlich wären Zweifel angebracht, vor allem als Stapleton Holmes in die Gruft sperrt (eine weitere Änderung gegenüber der Vorlage), in der er den Hund versteckt hatte, und Holmes sich gerade rechtzeitig mit Hilfe eines Messers aus der Gruft befreit (Der Hund von Baskerville 2012, 01: 10: 28ff.), um erfolgreich den letzten Mordanschlag (durch Gift) auf Sir Henry verhindern zu können (Der Hund von Baskerville 2012, 01: 12: 25). Es 5. Detektiverzählungen 136 <?page no="137"?> geht dem Film um Spannung und nicht um Logik und schon gar nicht um Zweifel, auch wenn - eine interessante Zugabe und vielleicht eine Hommage an den Autor - Dr. Mortimer mit seiner Frau eine Scéance arrangiert, um Kontakt zu dem verstorbenen Sir Charles aufzunehmen (Der Hund von Baskerville, 0: 37: 52ff.). Watson als Erzähler zu inszenieren hätte nicht zu der direkten Art des Films gepasst. Es wird darauf verzichtet, eine Stimme aus dem Off oder eine andere filmadäquate Erzählerfigur einzuführen. Allerdings gibt es aufschlussreiche Substitute: Die Geschichte in der Geschichte von Sir Hugo und dem Familienfluch wird zwar visuell inszeniert, aber vor dem Hintergrund des Manuskripts, das als Rahmen im Bild erhalten bleibt und das Dr. Mortimer vorliest (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 08: 10ff.). Wir haben es hier also sogar mit einer zweifachen Rahmung zu tun. Außerdem wird Watson mehrfach beim Verfassen seiner Briefe an Holmes gezeigt und die Zuschauer*innen können mitlesen (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 25: 14ff. u. a.). Die Ankunft von Sir Henry in London wird durch eine im Bild gezeigte Zeitungsmeldung angekündigt (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 04: 16). Der Film adaptiert auf seine Weise das komplexe Erzählverfahren der Vorlage und er wird sogar metafiktional, wenn Holmes Watson erklärt, dass er von Mord ausgehe, zumindest in seiner Vorstellung („imagination“). Denn in der Vorstellung würden Morde entworfen (Der Hund von Basker‐ ville 2012, 0: 51: 46ff.). Der solchermaßen um Mehrdimensionalität bemühte Film erzeugt eine der Vorlage durchaus ebenbürtige atmosphärische Spannung, und das, obwohl er den Hund einen Hund sein lässt - ohne Phosphor oder andere optische Tricks, die ihn zu einem Geisterhund werden ließen (vgl. bereits die erste Szene mit Sir Hugos Tod: Der Hund von Baskerville 2012, 0: 10: 50). Die schnelle Handlungsfolge und der auch so schon wütende, lebensgefähr‐ liche Angriff des Hundes lassen solche Zutaten als verzichtbar erscheinen. Immer wieder wird das (oft neblige) Moor gezeigt, das wie im Roman eine der Hauptrollen spielt. Wie in der Vorlage wird auch Komik erzeugt, allerdings durch einige Veränderungen der Figurencharakterisierung. Watson stimuliert in der Vorlage Holmes zu Erläuterungen. Im Film dagegen wird er immer wieder als begriffsstutzig dargestellt und dem Verlachen preisgegeben. Als Holmes Sir Henry durch Watson begleiten lässt, beauftragt er Sir Henry - und nicht Watson: „guard him well! “ (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 22: 32). Das betroffene Gelächter Watsons legt nahe, dass er vielleicht wirklich 5.5 Holmes im Film: The Hound of the Baskervilles (1939) 137 <?page no="138"?> mehr Hilfe benötigt als das potenzielle Opfer. Watson stört das junge Glück von Sir Henry und Beryl bei seinem ersten Kuss und gleich darauf macht sich Holmes, der sich als Landstreicher verkleidet hat, einen Spaß daraus, die drei zu ärgern (Der Hund von Baskerville, 0: 44: 26ff.). Als Watson von dem verkleideten Holmes in eine alte Steinhütte beordert wird, gibt sich Watson sogar, wie zuvor der Verfolger in London, als Holmes aus, die Pointe mit der falschen Identität des Detektivs wird also variiert wiederholt (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 50: 04ff.). Als Holmes Stapleton überführt hat und der Mörder versucht zu flüchten, stößt dieser vor der Tür mit Watson zusammen, der sich dafür noch bei ihm entschuldigt (Der Hund von Baskerville, 01: 14: 24ff.). Die Streitsucht der im Roman unbedeutenden Nebenfigur Frankland wird im Film zu einer Quelle komischer Szenen (Der Hund von Baskerville, 0: 35: 30ff.), zugleich aber auch zum Katalysator der ernsten Handlung: Frankland ist der erste, der - während der Untersuchung des Todes von Sir Charles am Anfang des Films - von Mord spricht (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 03: 44). Die für den Roman zentrale Figur von Franklands verstoßener Tochter Laura Lyons fehlt dafür ganz. Gelungen sind einige klug konzipierte Filmsequenzen, etwa wenn der Mörder Stapleton grimmig schweigend im Hintergrund in der Mitte zwi‐ schen den sich ansehenden Holmes und Sir Henry steht, während Holmes Sir Henry über die Hintergründe der Taten aufklärt (Der Hund von Baskerville 2012, 01: 13: 35). Gelungen sind auch die prägnanten Dialoge, die zur Strategie des Films beitragen, eine Atmosphäre des Zweifels und des Unheimlichen zu erzeugen. So stellt Dr. Mortimer zwar während der Untersuchung des Todes von Sir Charles fest, dass dieser an Herzversagen gestorben sei, fügt aber hinzu: „Something was preying on his mind“ (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 02: 46f.). Das englische Verb ‚to prey‘ wird auch für die Jagd von Wildtieren auf Beutetiere verwendet, hier wird also auf den Geisterhund angespielt. Die Komik wird teilweise auch mit Worten erzeugt. Watson verkündet angesichts der altertümlich-düstereren Empfangshalle von Baskerville Hall, er würde nicht sagen, dass das der fröhlichste Ort sei, den er jemals gesehen habe (Der Hund von Baskerville 2012, 0: 24: 36). Einen deutlichen Zeitbezug zeigt der Schluss, wenn Dr. Mortimer seiner Bewunderung Ausdruck verleiht und Holmes im Namen aller dankt. Holmes sei der bedeutendste Detektiv nicht nur Englands, sondern der ganzen Welt und ihn bei der Arbeit zu sehen und zu wissen, dass es einen solchen Mann in England gebe, „gives us all a sense of safety and security“ (Der Hund von Baskerville 2012, 01: 15: 20ff.). Als der Film am 31. März 1939 uraufgeführt 5. Detektiverzählungen 138 <?page no="139"?> wurde, stand Hitlers Überfall auf Polen (1. September 1939) und damit der Zweite Weltkrieg noch bevor. Dass es ein Bewusstsein der drohenden Katastrophe gab, davon zeugt auch dieser Film, der - wie unvollkommen auch immer - vorführen möchte, dass es möglich ist, gegen Verbrecher erfolgreich vorzugehen. Die bleibende Bedeutung des Films als Spiel- und Detektivfilm dürfte aber wohl eher den exzellenten Darstellern, der klugen Kameraführung, der gelungenen Mischung aus Spannung und Humor sowie der vergleichsweise ambitionierten, in Ansätzen sogar metafiktionalen Erzählstruktur zu verdanken sein. Die zweite besonders bemerkenswerte Verfilmung ist The Hound of the Baskervilles von 1959 von Regisseur Terence Fisher im Stil der für ihre reißerische Art berühmt gewordenen Hammer Film Productions, es handelt sich um die erste Verfilmung des Romans in Farbe. Peter Cushing spielt den Detektiv, André Morell ist Dr. Watson. Prominent besetzt ist die Rolle von Sir Henry mit Christopher Lee, einem der berühmtesten Dracula-Darsteller. Die bisher letzte besonders beachtete Verfilmung dürfte die entsprechende Folge The Hounds of Baskerville der spielfilmlangen Serie Sherlock mit Benedict Cumberbatch in der Titelrolle und mit Martin Freeman als Dr. Watson aus dem Jahr 2012 sein (Regie führte Paul McGuigan). Der Stoff wird zitiert und postmodern variiert. Baskerville ist nun eine in Dartmoor gelegene, geheime Forschungseinrichtung des Militärs, Dr. Stapleton ist lediglich eine Mitarbeiterin dort und der aufzuklärende Tod liegt bereits 20 Jahre zurück, er betrifft den Vater von Henry Knight (sic! ). Henry ist, weil er Zeuge des Todes war, schwer traumatisiert und will nun herausfinden, was damals wirklich geschah. Wie sich herausstellt, hat ein Freund seines Vaters, Dr. Robert Frankland, verbotenerweise mit einem biologischen Kampfstoff experimentiert - Frankland steigt nicht nur zu einer Hauptfigur, sondern zur Täterfigur auf. Den riesigen Hund, den Henry gesehen haben will, als der seinen Vater anfiel und tötete, gab es nur in seiner durch die Droge hervorgerufenen Einbildung. H.O.U.N.D. ist ein Akronym, gebildet aus den Namen der seinerzeit am Projekt beteiligten Wissenschaftler. Die Inszenierung ist zeitgemäß und orientiert sich doch erkennbar an der Vorlage, vielleicht sogar mehr als andere. Holmes ist gefühlskalt und eingebildet, aber Watson eng verbunden. Martin Freeman als Dr. Watson darf Holmes ergänzen und wird nicht, wie so oft in den Verfilmungen, weitgehend auf eine Figur des comic relief reduziert. 5.5 Holmes im Film: The Hound of the Baskervilles (1939) 139 <?page no="140"?> 5.6 Muster der Variation: Hercule Poirot in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926) Dame Agatha Mary Clarissa Christie, Lady Mallowan, geb. Miller (1890-1976), ist die mit einer weltweiten Auflage von über zwei Milliar‐ den Exemplaren neben Shakespeare erfolgreichste Autorin aller Zeiten (Hamann 2016, 26). „Allein ihr deutscher Verlag verkauft jährlich gut 750000 Christie-Krimis“ (Gripenberg 2005, 7). Die öffentliche Beachtung, die Christie und ihren Werken zuteil wurde, kann hier nur mit drei Beispielen angedeutet werden: In England ist sie schon früh eine Berühmtheit, so schreibt sie 1947 im Auftrag der BBC zum 80. Geburtstag der Königinmutter ein Hörspiel (Gripenberg 1994, 98). „Der ‚New York Times‘ war der Tod Hercule Poirots 1973 einen Nachruf auf der Titelseite wert, eine Ehre, die zum erstenmal überhaupt einer fiktiven Gestalt zuteil wurde“ (Gripenberg 1994, 74). Christies Theaterstück The Mouse Trap (dt. Die Mausefalle) wurde bis zur Corona-Pandemie 2020 seit 1952 täglich im Londoner West End auf‐ geführt und ist das am längsten ohne Unterbrechung gezeigte Theaterstück der Welt. Allerdings hat der Erfolg in dem populären Genre des Krimis auch dazu geführt, dass die deutschsprachigen Übersetzungen oftmals sehr zu wünschen übrig lassen. Sie konzentrieren sich auf die Handlung und nicht auf die Sprache. Es gibt zahlreiche, der Erhöhung der Handlungsspannung geschuldete Veränderungen und sogar Kürzungen (vgl. Gripenberg 1994, 52 f.). Am Beispiel des vielleicht berühmtesten, sechsten Romans von den 66 Kriminal- und vor allem Detektivromanen (dazu kommen Erzählungen, anderen Genres zuzurechnende Romane sowie Theaterstücke) aus Christies Feder soll ihre besondere Leistung für das Genre exemplarisch dargestellt werden. The Murder of Roger Ackroyd von 1926 gilt als der Roman, der sie zu einer weltweiten Berühmtheit machte, auch durch die Popularisierung im Medienwechsel. Zunächst wurde der Roman 1928 als erster Christie-Text für die Bühne adaptiert, die sehr erfolgreiche Produktion erlebte 250 Auf‐ führungen und kein Geringerer als Charles Laughton spielte die Rolle des Poirot. Nicht nur Christies Texte und Theaterstücke, ebenso deren Verfilmungen (als Kinofilme, Fernsehfilme und Serien) waren und sind außerordentlich populär und ihre Zahl ist kaum noch zu überblicken. Zu den besonders bekannten Spielfilmproduktionen gehören die vier Miss-Marple-Filme mit Margaret Rutherford unter der Regie von George Pollock aus den Jahren 5. Detektiverzählungen 140 <?page no="141"?> 1961-64, Sidney Lumets Verfilmung von Murder on the Orient Express (dt. Mord im Orient-Express) aus dem Jahr 1974 mit Albert Finney in der Hauptrolle (und zahlreichen Stars wie Ingrid Bergman, Lauren Bacall, John Gielgud und Sean Connery in Nebenrollen), Sir Peter Ustinovs Verkörperung der Poirot-Figur vor allem in Death on the Nile (dt. Tod auf dem Nil; 1978) und in Das Böse unter der Sonne (1982) sowie zahlreiche Serien, etwa Agatha Christie’s Poirot mit David Suchet in der Hauptrolle in den Jahren 1989-2013 (70 Folgen in 13 Staffeln). Die Grenzen zwischen den Genres sind auch bei den Werken Christies und ihren Verfilmungen fließend, ein Beispiel sind das Theaterstück und seine Verfilmung mit dem Titel Witness for the Prosecution (dt. Zeugin der Anklage). Billy Wilders Spielfilm von 1957 mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle wurde 1958 für sechs Oscars nominiert und 2008 vom American Film Institute auf Platz 6 der Liste der ‚besten Gerichtsdramen aller Zeiten‘ gesetzt. Als Christie in „der Blütezeit des Detektivromans“ (Gripenberg 1994, 37) in den 1920er Jahren zu schreiben beginnt, gibt es bereits verschiedene Merkmale und Register, aus denen sie auswählen, die sie variieren und ändern und denen Sie neue Ideen hinzufügen kann. In ihren Romanen ist der Detektivfigur nur manchmal eine Helferfigur - nach dem Muster von Conan Doyles Sherlock Holmes und Dr. Watson - beigesellt; wie zu sehen sein wird, spielt sie mit solchen Mustern und parodiert sie sogar. Auch wirken ihre Figuren komplex, sie haben verschiedenste Eigenschaften und sind selten ‚nur‘ sympathisch oder unsympathisch. Besonders bemer‐ kenswert ist die Ironie, mit der Christie erzählt. Die Figurenzeichnung überschreitet manchmal die Grenze zur Satire oder gar zur Karikatur. Bei den Hauptfiguren handelt es sich in der Regel - Hercule Poirot ist eine Ausnahme - um Briten, die bei aller oberflächlichen Liebenswürdigkeit und Kultiviertheit als borniert, verklemmt, narzisstisch und nationalistisch dargestellt werden. Die besondere britische Lebensweise wird oft genug als Klischee, als Strategie der Verdrängung oder als Tarnung für niedere Triebe entlarvt. In Christies Romanen, Erzählungen und Theaterstücken geht es oft um das „Whodunit“, eigentlich genauso aber auch um das immer populärer werdende „Whydunit“ (vgl. Gripenberg 1994, 37) und so gut wie gar nicht um die Darstellung von Gewalt. „Ein besonderes Merkmal von Agatha Christie ist, daß sie die ‚unsauberen‘ Mordarten gar nicht schätzt und es ihr mit Hilfe präziser Kenntnisse über Gifte gelingt, Dutzende meiner Opfer auf eine saubere und möglichst gepflegte Weise loszuwerden“ (Gripenberg 5.6 Muster der Variation: Hercule Poirot in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926) 141 <?page no="142"?> 1994, 37). Zentral sind die Figuren und ihre Motive. Die Spannung bezieht sich zu einem guten Teil auf das Ergründen der sozialen Beziehungen von Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn. Poirot, aber auch die anderen Detektivfiguren entsprechen nicht „der Idealvorstellung des ‚Great Detective‘“ (Gripenberg 1994, 65) und sind ebenso mit Schwächen und vor allem mit Idiosynkrasien ausgestattet wie die anderen Figuren bis hin zu den Täter*innen. Dr. Sheppard, der Mörder und Ich-Erzähler von The Murder of Roger Ackroyd, formuliert es mit bestem britischem Understatement so: „[…] in King’s Abbott we permit people to indulge their little idiosyncrasies freely“ (Christie 2013, 188). Insofern geht es keineswegs, wie noch bei Conan Doyle, um „die Niederlage des Bösen und den Sieg des Guten“ (Gripenberg 1994, 67), weil die Grenzen zwischen Gut und Böse oft genug verschwimmen und eine Kleinigkeit den Ausschlag geben kann, dass eine eigentlich ‚gute‘ Figur eine ‚böse‘ Tat begeht. Ebenfalls modern und kennzeichnend für die Literatur des 20. Jahrhun‐ derts ist der sparsame Einsatz auktorialen Erzählens. Der Dialog dominiert oder die Fokalisierung über einzelne Figuren macht durch ihr unzuver‐ lässiges Erzählen die Handlung noch undurchschaubarer. Außerdem her‐ vorzuheben sind die Intertextualität, Selbstreflexivität und teilweise auch Metafiktionalität, die beim Genre des Krimis eher nicht vermutet werden. „Agatha Christie zitiert in ihrem Werk sehr oft Shakespeare und bezieht sich dabei am häufigsten auf ‚Macbeth‘, wobei sie die Machtkonstellationen zwischen den Personen des Stückes besonders fasziniert haben“ (Gripenberg 1994, 87). Der für eine Charakterisierung von Christies Schreibweise, die Zeichnung der Figuren und die auf das Genre bezogenen Besonderheiten ausgewählte Roman The Murder of Roger Ackroyd wurde 1926 veröffentlicht, in dem Jahr, an dessen Ende Christie, auf dem Höhepunkt ihrer Ehekrise, für elf Tage verschwand und mit einem großen Polizeiaufgebot in Großbritannien gesucht wurde (Gripenberg 1994, 56-58). Da nie ganz geklärt wurde, was sie in der Zeit tat, gab es viele Spekulationen. 1978 drehte Michel Apted den ersten Spielfilm darüber: Agatha (dt. Das Geheimnis der Agatha Christie), und dies mit Starbesetzung (Vanessa Redgrave, Dustin Hoffman). Im Mittelpunkt steht Agathas Racheversuch an ihrer Nebenbuhlerin, für die sich ihr Mann von ihr scheiden ließ (Seeßlen 2011, 64 f.). 2018 folgte, weniger melodrama‐ tisch und mehr spannungsbetont, Tom Daltons Agatha and the Truth of Murder; hier darf die Figur Agatha Christie selbst einen Mord aufklären. 5. Detektiverzählungen 142 <?page no="143"?> Abb. 5.5: Das Denkmal für Agatha Christie in London, Great Newport Street Ecke Cranbourn Street. Die 600 Mitglieder der britischen Crime Writers’ Association (CWA) wählten 2013 The Murder of Roger Ackroyd (dt. Alibi) zum besten Kriminalroman aller Zeiten. In dem Roman schildert der Landarzt Dr. James Sheppard als personaler Ich-Erzähler das Geschehen um den Mord an einem Gutsbesitzer - und entpuppt sich am Ende selbst als der Mörder. Neben ihm wohnt Hercule Poirot, der sich auf dem Land zur Ruhe setzen wollte. Über ihn sagt Caroline, die Schwester des Landarztes, er sei: „,The greatest [detective] the world has ever known‘“ (Christie 2013, 192). Sheppard assistiert Poirot wie sonst sein früherer Gefährte Arthur Hastings (Christie 2013, 101) und ist nicht zuletzt deshalb bis zum Schluss eigentlich unverdächtig, auch wenn ihn Poirot - wie wir erst gegen Ende erfahren - schon früh im Verdacht hatte. Ein Vergleich des mörderischen Erzählers zeigt, welche Figurenkons‐ 5.6 Muster der Variation: Hercule Poirot in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926) 143 <?page no="144"?> tellation hier außerdem aufgerufen und zugleich parodiert wird: „As I say, up till Monday evening, my narrative might have been that of Poirot himself. I played Watson to his Sherlock“ (Christie 2013, 163). Wie zu zeigen sein wird, ist diese Bemerkung aber ebenso ironisch-falsch wie die ganze Darstellung des Doktors. Der Arzt wollte ursprünglich durch seine Schreibarbeit das Versagen des berühmten Meisterdetektivs und seinen eigenen Triumph dokumentieren (Christie 2013, 296). So wird seine Arbeit zu einer irreführenden Rechtferti‐ gungsschrift, wie es sie zwar schon in der Literatur, aber wohl noch nicht in der Kriminalliteratur gegeben hat. In E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels (1815/ 1816) beispielsweise schreibt der alte Mönch Medardus die Geschichte seiner Verfehlungen auf. Ob Christie Hoffmann gelesen hat, sei dahingestellt. Jedoch ist es gut möglich, dass sie den folgenden berühmten Text gekannt hat: Von besonderer Bedeutung in der Vorgeschichte des Kriminalromans ist indes Fjodor Michailowitsch Dostojewskijs Преступление и наказание (1866; Verbre‐ chen und Strafe, auch Schuld und Sühne), ein Text, der weit über die Tradition der Fallgeschichte hinausgeht, sowohl im Hinblick auf seinen Umfang als auch auf die Komplexität des ‚Falls‘. Dostojewskijs Roman über den Studenten Raskolnikow, der einen Doppelmord verübt, erzählt dominant aus der Perspektive des Mörders, sodass die Leserinnen und Leser zu unfreiwilligen Zeugen und Mitwissern der Bluttat werden. (Roehl 2017, 537) Christie verrätselt diese besondere Erzählperspektive. Es ist die Pointe, dass der Täter, nach dem alle suchen, der Erzähler selbst ist, also der Assistent des Detektivs und damit, neben Poirot, die unverdächtigste Figur des Romans. Es werden zwei Personen gehandelt, denen Christie diese Idee verdanken soll (Gripenberg 1994, 50), doch dürfte dies unwesentlich sein für die Einschätzung des Romans - schließlich wird auch niemand Goethes Leistungen relativieren, nur weil er den Stoff zum Faust bereits vorgefunden hat oder weil von Herder bereits eine sehr ähnliche Fassung des Heidenröslein stammt. Christies Texte sind dafür bekannt, dass sie ihre Leser*innen mit der Täterin oder dem Täter überraschen; selten ist vorhersehbar, wer die Tat begangen hat. The Murder of Roger Ackroyd ist nicht das einzige Beispiel für eine besonders extreme Variante, auch in ihrem berühmtesten Theaterstück Die Mausefalle ist eine gänzlich unverdächtige Figur am Ende schuldig. (Da nach jeder Aufführung das Publikum zum Schweigen aufgefordert wird und 5. Detektiverzählungen 144 <?page no="145"?> der Autor dieser Zeilen bereits zwei Aufführungen gesehen hat und zweimal zum Schweigen aufgefordert wurde, wird an dieser Stelle allerdings nicht mehr verraten. Wer es wissen möchte: Wikipedia gibt das Geheimnis preis.) Dies hat Schule gemacht, beispielsweise entpuppt sich auch in Thomas Glavinics Roman Der Kameramörder der personale Ich-Erzähler am Ende als der Mörder - perfiderweise von zwei kleinen Jungen, die er beim erzwungenen Sprung in den Tod von einem Baum gefilmt hat, um über die mediale Berichterstattung sein übertriebenes Geltungsbedürfnis zu befrie‐ digen. Der 2001 erschienene Roman wurde ein Jahr später mit dem Fried‐ rich-Glauser-Preis ausgezeichnet, der neben dem Deutschen Krimi-Preis als die wichtigste Auszeichnung ihrer Art im deutschsprachigen Raum gilt und nach dem Schweizer Schriftsteller Friedrich Glauser benannt wurde. Glauser wird zu den ersten bedeutenden deutschsprachigen Krimiautoren gezählt. Der Ort des Geschehens in The Murder of Roger Ackroyd, das fiktive englische Dorf King’s Abbott, ist prototypisch für alle Dörfer in Christies Kriminalromanen, darunter St. Mary Mead, in dem Miss Marple wohnt. Die Handlung setzt ein mit dem Bekanntwerden des Selbstmordes einer reichen Witwe, Mrs. Ferrars, der gerüchteweise unterstellt wird, ihren Mann ermor‐ det zu haben. Roger Ackroyd war Mrs. Ferrars mehr als freundschaftlich verbunden, er warb um ihre Hand. Mrs. Ferrars wurde aber offenbar erpresst und sah keinen Ausweg mehr, als es zunächst - vergeblich - mit einem Geständnis bei dem ob ihrer Tat mehr als schockierten Roger Ackroyd zu versuchen und sich dann das Leben zu nehmen, nicht ohne ihrem treuen Freund in einem Brief den Namen des Erpressers mitzuteilen. Bevor Roger Ackroyd den Brief lesen oder zumindest bevor er Konsequenzen aus der Lektüre ziehen kann, wird er erstochen und der Brief verschwindet. Des Mordes verdächtig sind zunächst alle Mitglieder des Haushalts von Roger Ackroyd - seine verwitwete Schwägerin Cecil Ackroyd, deren Toch‐ ter Flora Ackroyd, sein Stiefsohn und wohl auch Adoptivsohn Ralph Paton, sein Hausmädchen Ursula Bourne, der Butler John Parker, die Haushälterin Elizabeth Russell und ihr drogensüchtiger Sohn Charles Kent, der allerdings erst später als Besucher auf dem Anwesen zur Zeit des Mordes identifiziert wird. Am wenigsten verdächtig erscheinen der Sekretär Geoffrey Raymond und der Freund des Toten, Major Hector Blunt, ein immer wieder dort zu Besuch verweilender Großwildjäger, der heimlich in Flora verliebt ist - die sich allerdings, dem Wunsch ihres Onkels gemäß, mit Ralph verlobt hat. Cecil, Flora und Ralph sind offenbar von dem Gutsbesitzer einerseits finan‐ 5.6 Muster der Variation: Hercule Poirot in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926) 145 <?page no="146"?> ziell abhängig und andererseits immer an der kurzen Geldleine gehalten worden. Wie sich ebenfalls erst später herausstellt, hat Flora am Abend des Mordes Geld aus dem Zimmer ihres Onkels gestohlen und deshalb eine Falschaussage gemacht, die dazu beitrug, den richtigen Todeszeitpunkt zu verschleiern. Poirot wird von Flora gebeten, sich des Falles anzunehmen, um den verschwundenen Ralph von dem vorhersehbaren Verdacht, er sei der Mörder, zu befreien. Poirot macht es sich zur Aufgabe, alle Geheimnisse des Umfelds des Toten zu ergründen, um so ein Gesamtbild nicht nur der Tat, sondern auch der möglichen Motive aller, die von dem Tod des Gutsbesitzers profitieren, zu erstellen. Wie sich beispielsweise herausstellt, ist Flora Ralph lediglich loyal erge‐ ben, liebt ihn aber nicht. Ralph seinerseits ist bereits mit Ursula verheiratet, die sich als Hausmädchen ausgegeben hat, um ihrem Gatten nahe zu sein. Die beiden halten ihre Eheschließung geheim, um nicht die finanzielle Unterstützung Ackroyds zu verlieren und außerdem enterbt zu werden. Hector Blunt - ein ironisch-sprechender Name (Hektor ist der Name eines bedeutenden Kriegers in der griechischen Mythologie und ‚blunt‘ heißt soviel wie ‚auf beleidigende Weise direkt‘ sein) für eine eher sympathisch wirkende Figur - ist in Flora verliebt und kann sie, mit Poirots Hilfe, tatsächlich für sich gewinnen. Am Ende präsentiert Poirot - eine klassische Detektivsituation - in einem Gespräch mit allen Beteiligten seine Erkenntnisse, allerdings ohne den Namen des Täters zu nennen. In einem Vieraugengespräch eröffnet er dann dem Arzt und Erzähler die Möglichkeit, Mrs. Ferrars’ Vorbild folgend sich mit einer Überdosis Schlafmittel das Leben zu nehmen. Der Doktor lebt mit seiner neugierigen und lebhaften Schwester Caroline zusammen und möchte nicht, dass sie von seinen Taten erfährt (Christie 2013, 294). Hier ist freilich zu fragen, ob nicht sein Selbstmord als Schuldeingeständnis gewertet wird und Poirot, der verkündet hat, dass er am nächsten Tag den Namen des Täters preisgeben werde, sollte dieser sich nicht melden (ebd.), in der Pflicht ist, das Rätsel zu lösen. Wie kann es sein, dass die Schwester des Mörders nicht von seiner Schuld erfährt? Die aufklärerische Tradition, für die Poe und Conan Doyle als Gründungs‐ väter stehen, scheint zwar auch Poirot zu verfolgen: „,Everything is simple, if you arrange the facts methodically‘“ (Christie 2013, 88). Immer wieder hebt der Detektiv in diesem Zusammenhang die Leistung seiner ‚kleinen grauen Zellen‘ hervor: „,Method, order, and the little grey cells‘“ (Christie 5. Detektiverzählungen 146 <?page no="147"?> 2013, 96). Doch gibt es zwei deutliche Unterschiede: Erstens verweist das Zitat vom Arrangieren der Fakten wie viele Zitate im Roman metafiktional auf die Konstruktion der erzählten Welt (jede Konstruktion suggeriert, dass sie auch anders sein könnte) und zweitens bleibt durch das unzuverlässige Erzählen und den angesprochenen Tod des sich selbst überschätzenden Erzählers doch allzuviel offen, um noch im Sinn der angesprochenen ‚Aufklärung‘ von einem ‚befriedigenden‘ Ende sprechen zu können. Der Roman ist in 27 Kapitel unterteilt und das erste beginnt bereits mit dem Namen des Täters, könnte aber nicht harmloser klingen: „Dr Sheppard at the Breakfast Table“ (Christie 2013, 1). Dr. Sheppard unterhält sich mit seiner Schwester über den Tod von Mrs. Ferrars und die Möglichkeit, dass sie ihren Mann vergiftet hat. Es gehört zu der besonderen Ironie der Erzählsituation, dass Dr. Sheppard vorgibt, seiner Schwester gegenüber diskret zu sein und so suggeriert, dass er gerade dies den Leser*innen gegenüber nicht ist - obwohl er sie, als Erpresser der Toten mit sehr viel mehr Wissen ausgestattet, an der Nase herumführt: As a professional man, I naturally aim at discretion. Therefore I have got into the habit of continually withholding all information possible from my sister. She usually finds out just the same, but I have the moral satisfaction of knowing that I am in no way to blame. (Christie 2013, 2) Die Ironie der Erzählung könnte kaum größer sein: Der Erzähler ist natürlich „to blame“ und seine „moral satisfaction“ ist definitiv nicht moralisch, sondern amoralisch zu nennen, schließlich hat er Mrs. Ferrars um die zur Entstehungszeit des Romans enorme Summe von 20.000 Pfund erleichtert (Christie 2013, 207). Mit seiner Schwester führt der Arzt auch seine Leser*innen in die Irre, wenn er Mrs. Ferrars verteidigt, obwohl er es, als ihr Erpresser, besser weiß: „Mrs Ferrars, though not in her first youth, was a very attractive woman and her clothes, though simple, always seemed to fit her very well, but all the same, lots of women buy their clothes in Paris, and have not, on that account, necessarily poisoned their husbands“ (Christie 2013, 2 f.). Auch seine Erklärung zu ihrem Tod ist eine Lüge: „,She died of an overdose of veronal. She’s been taking it lately for sleeplessness. Must have taken too much‘“ (Christie 2013, 4). Immer wieder wird der Arzt seiner Schwester und den Leser*innen gegenüber die Wahrheit auf doppelt- oder dreifachbödige Weise verschleiern, etwa wenn er den Tatabend so erinnert: „I had to make up a slightly fictious account of the evening in order to satisfy her, and I had 5.6 Muster der Variation: Hercule Poirot in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926) 147 <?page no="148"?> an uneasy feeling that she saw through the transparent device“ (Christie 2013, 45). Wenn seine Schwester Caroline sein Verhalten bei einem Spiel wie folgt kommentiert: „,You’ve no conception of the spirit of the game‘“ (Christine 2013, 193), dann ist dies auch ein ironischer Verweis der Erzählung auf das böse Spiel, das der Arzt mit ihr treibt. Freilich kann sein betont harmloses Verhalten - seine Schwester nennt ihn zum Beispiel „,weak as water, if I weren’t to look after him‘“ (Christie 2013, 209) - erst am Ende der Lektüre des Romans durchschaut werden. Der Name des Täters ist ebenfalls ironisch, steckt in ihm doch der ‚Schafhirte‘, eine Bezeichnung, die oft auf Priester angewandt wird und die zu einem Arzt, der seine Patienten nicht umbringt, sondern rettet, gut passen würde. Es geht vor allem um die Kommunikation der Figuren, die der Roman metafiktional durch die skizzierte Anlage wiederum selbst ausstellt und ironisch kommentiert, etwa wenn der Erzähler Miss Russell gegenüber abschätzig feststellt, um so ihre Vorstellungen als klischeehaft zu entlarven: „,You’ve been reading detective stories‘“ (Christie 2013, 15). Seiner Schwester gegenüber wird er sogar regelrecht beleidigend: „,You read too many trashy novels, Caroline. I’ve always told you so‘“ (Christie 2013, 140). Die Ironie wirkt aber auch in Richtung des Erzählers, wenn er sein Leseverhalten als Beleg für seine Expertise nimmt, freilich wohl auch, um die eigene Beteiligung seinen Leser*innen gegenüber herunterzuspielen: „I do not see why I should be supposed to be totally devoid of intelligence. After all, I read detective stories, and the newspapers, and am a man of quite average ability“ (Christie 2013, 68). Auch andere Figuren verwenden ähnliche Vergleiche. Flora sagt über Poirot, damit zunächst ihre Naivität unter Beweis stellend: „,They say he’s done the most wonderful things - just like detectives do in books‘“ (Christie 2013, 74). Es gehört zur raffinierten und durchaus selbstironischen Konstruktion des Romans, den metafiktionalen Verweis auf das Lesen von Detektivgeschichten zur Erschütterung des Vertrauens in die Urteilsfähigkeit der Figuren zu nutzen. In die metakommunikative Struktur wird auch das Medium Telefon eingebunden, es spielt sogar eine ganz wesentliche Rolle. Der Arzt bekommt einen Anruf, der es ihm ermöglicht, die Leiche zu finden und Beweise für seine Tat zu beseitigen. Es wird allgemein angenommen, dass Ralph (den der Arzt versteckt hält) diesen Anruf vor seinem Verschwinden getätigt hat. Der Anruf ist, wie Poirot erkennt (Christie 2013, 144), der Schlüssel zur Lösung und es wird sich herausstellen, dass der Arzt einen Patienten beauftragt 5. Detektiverzählungen 148 <?page no="149"?> hatte, diesen Anruf zu tätigen, bevor er seinen ‚Freund‘ Ralph überredete, sich in einer nervenärztlichen Einrichtung zu verstecken (Christie 2013, 279), um den Verdacht auf ihn zu lenken. Die ironische Metafiktionalität zeigt sich auch nach dem Gespräch am Frühstückstisch im zweiten Kapitel mit einer Einführung in das „Who’s Who in King’s Abbott“: „Our hobbies and recreations can be summoned up in the one word, ‚gossip‘“ (Christie 2013, 7). Alle reden übereinander und demonstrieren dabei vorzugsweise ihre Ichbezogenheit und Ignoranz. Der mörderische, harmlos erscheinende Ich-Erzähler vermerkt bei neuen, die Figurenkonstellation in ein anderes Licht tauchenden Informationen: „Now there has been a rearrangement of the kaleidoscope“ (Christie 2013, 10). Der Roman funktioniert wie ein Kaleidoskop, das immer wieder geschüttelt wird (vgl. auch Christie 2013, 236). Ständig setzen sich die sozialen Beziehungen neu zusammen und deren Bewertungen werden in ein neues Licht getaucht. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Frage nach der Konstruktion von Wirklichkeit - durch die Figuren, durch den Erzähler und darüber hinaus durch die Leser*innen. Es zeigt sich, dass der Kontingenz der erzählten Welt nur begrenzt mit Analytik beizukommen ist. Insofern ist Poirot auch deshalb - bei aller Wert‐ schätzung innerhalb und außerhalb der fiktiven Realität - eine komische Figur. In den Roman wird er als solche eingeführt, dies schützt ihn aber eher vor zuviel Vorsicht und Misstrauen: „His name, apparently, is Mr Porrot - a name which conveys an odd feeling of unreality“ (Christie 2013, 18). Noch komisierender wirkt folgende Vermutung: „,He’s a retired hairdresser. Look at that moustache of his‘“ (ebd.). ‚Porrot‘ selbst - ein pensionierter belgischer Polizeibeamter - bekennt, sich vor allem dem ‚Studium der menschlichen Natur‘ verschrieben zu haben (vgl. Christie 2013, 20). Poirot ist als Figur der komischen Camouflage eine Kippfigur. Es ist nicht zu entscheiden, ob er sich als komische Figur inszeniert, um nicht ernstgenommen zu werden, wenn er Ankündigungen wie diese macht: „I shall go through with it to the end“, um gleich in seinem gebrochenen Englisch hinzuzufügen: „The good dog, he does not leave the scent, remember! “ (Christie 2013, 78). Der Ich-Erzähler kommentiert beispielsweise: „He looked ridiculously full of his own importance. It crossed my mind to wonder whether he was really any good as a detective. Had his big reputation been built up on a series of lucky chances? “ (Christie 2013, 95). Solche Beobach‐ tungen wiederholen sich: „He swelled his chest out importantly, looking so ridiculous that I found it difficult not to burst out laughing“ (Christie 5.6 Muster der Variation: Hercule Poirot in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926) 149 <?page no="150"?> 2013, 156). Hätte der mörderische Doktor ihn ernster genommen, hätte er möglicherweise Pläne zu seiner Beseitigung gemacht. Jedenfalls kommt seine Einsicht, Poirot unterschätzt zu haben, viel zu spät (Christie 2013, 220). Dass Poirot Humor und Cleverness im Umgang mit anderen besitzt, stellt er immer wieder unter Beweis, etwa wenn Inspector Raglan, gerade erst mit anderen Polizisten eingetroffen, jede Hilfe von ‚Amateuren‘ ablehnt und verkündet: „,The case is going to be plain as a pikestaff ‘“ (Christie 2013, 80), und Poirot mit Charme das ablehnende in ein zustimmendes Verhalten umzukehren vermag: „,I admire enormously your English police. If Inspector Raglan permits me to assist him, I shall be both honoured and flattered‘“ (Christie 2013, 81). Die Abgründe der von Poirot angesprochenen ‚menschlichen Natur‘ werden in den verschiedenen Figurenbiographien im Rahmen einer Skalie‐ rung von ‚harmlos‘ bis ‚mörderisch‘ sichtbar, wobei auch hier die Grenzen verschwimmen. Zu fragen wäre beispielsweise, ob die neugierige und dennoch fürsorgliche Caroline durch ihre Art ihren Bruder, der ihr Verhalten kritisch bewertet, mit dazu gebracht hat, ein mörderisches Doppelleben zu führen. Offen bleibt auch, wie Mrs. Ferrars, bei allem Verständnis für ihre schwierige Ehe-Situation, in der Lage war, einen Mord zu planen und zu vertuschen - in den Worten Roger Ackroyds: „,She - told me everything. Her hatred of her brute of a husband, her growing love for me, and the - the dreadful means she had taken. Poison! My God! It was murder in cold blood‘“ (Christie 2013, 39). Es gehört zur bösen Ironie des Romans, dass Ackroyd so naiv ist, dieses Geständnis dem Mann zu machen, der ihn kurz darauf kaltblütig umbringen wird, und dass der Mörder sogar sein Opfer für dessen moralische Integrität lobt: „Ackroyd is not the type of the great lover who can forgive all for lover’s sake. He is fundamentally a good citizen“ (Christie 2013, 40). Die Einsichten in die menschliche ‚Natur‘ könnten desillusionierender nicht sein. Sie kommen von verschienenen Figuren, etwa wenn Major Blunt kurz und nüchtern feststellt: „,Oh! money! All the troubles in the world can be put down to money - or the lack of it‘“ (Christie 2013, 120). Eine Einschätzung, die Poirot teilt: „‚It all depends on what sum is sufficient to break a man. A question of relativity, is it not so? ‘“ (Christie 2013, 182). Es ist gerade die Figurenrede, die auf unterschiedlichste Weise die Schat‐ tenseiten der menschlichen Natur ins Licht bringt, nicht zuletzt in dem, was nicht gesagt oder verschleiert wird. Poirot bringt die Schwächen dieser Natur, ihre prinzipielle Anfälligkeit für Versuchungen auf den Punkt: 5. Detektiverzählungen 150 <?page no="151"?> „Let us take a man - a very ordinary man. A man with no idea of murder in his heart. A man with a strain of weakness - deep down. It has so far never been called into play. Perhaps it never will be - and if so he will go to his grave honoured and respected by everyone. But let us suppose that something occurs.“ (Christie 2013, 211) Es hilft wenig, dass der Arzt sich zum Schluss selbst richtet und dies zuvor ironisch so kommentiert: „,And then - what shall it be? Veronal? There would be a kind of poetic justice‘“, zumal er sich gleich beeilt hinzuzufügen: „,Not that I take any responsibility for Mrs Ferrar’s death. It was the direct consequence of her own actions. I feel no pity for her‘“ (Christie 2013, 299). Das Konzept der poetischen Gerechtigkeit wird hier nur aufgerufen, um es zu verwerfen, denn der Täter zeigt keinerlei Reue, zumal er an den Mord, den er tatsächlich begangen hat, nicht einmal einen Gedanken verschwendet. Das Beunruhigende ist, dass offenbar jede und jeder zum Mörder werden und dann auch noch sehr erfolgreich die Tat verbergen kann. Schließlich wohnt nicht immer ein Poirot nebenan. Der Roman The Murder of Roger Ackroyd ist mit dieser Erkenntnis seiner Zeit weit voraus. 5.7 Poirot im Film: The Murder of Roger Ackroyd (2000) The Murder of Roger Ackroyd wurde bereits 1928 als erster Christie-Roman, unter dem Titel Alibi, für das Theater adaptiert. Und 1931 gab es, ebenfalls unter diesem Titel, die erste Verfilmung, mit Austin Trevor als Poirot (Regie: Leslie S. Hiscott), der Film gilt allerdings als verschollen. Zur Rezep‐ tionsgeschichte gehört ein 1939 von keinem Geringeren als Orson Welles produziertes Radiohörspiel. Welles sprach sowohl Dr. Sheppard als auch Hercule Poirot, eine geniale Idee - die ‚gute‘ und die ‚böse‘ Figur werden als Kippfigur gezeigt. Welles führte selbst Regie, Herman J. Mankiewicz schrieb das Drehbuch. Zwei Jahre später kam Citizen Kane in die Kinos, der berühmteste Film aller Zeiten, für den beide gemeinsam das Drehbuch verfassten. Die Zahl der Verfilmungen von Christies Roman hält sich - anders als bei vergleichbar berühmten Kriminalromanen - in Grenzen, vermutlich wegen der Identität von Erzähler und Täter. Agatha Christie’s Poirot ist die einzige Serie, mit der versucht wurde, alle zum sogenannten Poirot-Kanon gehörenden Romane und Erzählungen in das Medium Film zu ‚übersetzen‘, also alle wichtigen Texte, in denen 5.7 Poirot im Film: The Murder of Roger Ackroyd (2000) 151 <?page no="152"?> die Figur Hercule Poirot ermittelt. Von 1989 bis 2013 wurden 70 Folgen ausgestrahlt, die Hauptrolle spielt der britische Theaterschauspieler und Charakterdarsteller David Suchet. Zahlreiche bekannte Schauspieler*innen bekamen Gastauftritte, darunter Michael Fassbender, Elliott Gould, Sarah Miles und Zoë Wanamaker. Die Serie erfreute sich großer Beliebtheit, was man auch daran sehen kann, dass nach etwa der Hälfte der Folgen die Episoden nicht mehr nur 50 Minuten dauerten, sondern Spielfilmlänge bekamen. The Murder of Roger Ackroyd unter der Regie von Andrew Grieve hat mit rund einer Stunde und 39 Minuten Spielfilmlänge und ist die erste Folge der siebten Staffel (von 13 Staffeln). Nach vierjähriger Drehpause wurde die Folge in Großbritannien am 2. Januar 2000 ausgestrahlt, das besondere Datum kann vielleicht als Hommage an diesen besonderen Stoff gesehen werden. Zur Drehpause passt auch, dass Poirot im Film wie im Roman als Detektiv im Ruhestand gezeigt wird - er ist deshalb von London in das Dorf gezogen. Die größte Herausforderung für die Verfilmung - die Erzählerfigur, die auch die Täterfigur ist - wird durch eine Rahmung gelöst: Poirot liest ein Journal des mörderischen Doktors, in dem dieser die Geschehnisse bis zu seiner Überführung festgehalten hat, in dem Tresorraum einer Bank. Poirot hat das Journal dort in einem Schließfach deponiert, um, wie zum Schluss seine Stimme aus dem Off erklärt, die Schwester des Doktors zu schützen, indem er das Andenken an den Bruder wahrt (Alibi 2014, 01: 38: 05ff.) - obwohl die Schwester am Schluss noch zur Mittäterin geworden war, indem sie ihrem Bruder dessen Waffe zuspielte (Alibi 2014, 01: 34: 59ff.). Wie nach dem dramatischen Finale die Identität des Täters den Dorfbewohner*innen verborgen geblieben sein soll, bleibt auch in der Verfilmung offen. Die Rahmung wird optisch unterstützt durch eine Tür, die sich am Anfang in einem black screen plötzlich öffnet (Alibi 2014, 0: 0: 04) und in der, von hinten beleuchtet, die Umrisse Poirots zu sehen sind, der nun, begleitet von einem Angestellten der Bank, den Raum betritt. Zum Schluss wird er so den erneut dunkel werdenden Raum wieder verlassen und der black screen bildet das sichtbare Ende der Geschichte (Alibi 2014, 01: 38: 54). Nicht mehr der Täter Dr. Sheppard, sondern Poirots Stimme aus dem Off ist also nun der Erzähler. Allerdings ist er der Vorleser des Journals des Doktors, von den eigenen Kommentaren einmal abgesehen. Poirots Stimme aus dem Off meldet sich immer wieder zwischen den Dialogszenen zu Wort. Dabei wird (dem für The Hound of the Baskervilles von 1931 beschriebenen 5. Detektiverzählungen 152 <?page no="153"?> Verfahren ähnelnd) das Tagebuch immer wieder kurz eingeblendet und mit der Figurenhandlung überblendet (Alibi 2014, 0: 01: 10ff.). Dr. Sheppard ist zwar in den meisten Szenen präsent und dürfte dadurch erst spät von den Zuschauer*innen verdächtigt werden. Die Rolle der mit Poirot ermittelnden Figur übernimmt aber nun sein alter Freund Inspektor Japp von Scotland Yard (Alibi 2014, 0: 35: 30). Zu den weiteren wichtigeren personellen Veränderungen gehört, dass Major Blunt fehlt. Flora wird als relativ unbedarft porträtiert. Sie glaubt ihrem Cousin Ralph Paton, dass er sie heiraten will. Als Poirot alle Beteiligten darüber aufklärt, dass Ralph bereits mit Ursula Bourne verheiratet ist, gratuliert sie der Nebenbuhlerin anstandslos (Alibi 2014, 01: 18: 16ff.). Ebenfalls neu ist ein weiterer Mord: Parker, der Butler, wird vom Täter überfahren (Alibi 2014, 0: 51: 45ff.). Poirot vermutet als Grund, dass der Butler die Veränderungen, die Dr. Sheppard am Tatort vorgenommen hat, bemerkt hat (Alibi 2014, 0: 54: 40ff.). Dies scheint zwar etwas weit hergeholt, um einen solchen brutalen Mord zu rechtfertigen, doch bedient die Zutat die Schau- und Grusellust der Zuschauer*innen und verstärkt den Kontrast zwischen der englischen Idylle und ihren Abgründen. Roger Ackroyd wird als Fabrikbesitzer dargestellt. Die Fabrik - es handelt sich eigentlich um ein britisches ‚National Monument‘, das Kempton Steam Museum - wird oft und gern in Szene gesetzt (Alibi 2014, beginnend mit 0: 04: 14), insbesondere während der Verfolgungsjagd und Schießerei am Schluss, die mit dem Selbstmord des Täters endet (Alibi 2014, 01: 35: 10ff.). Als visueller Kontrast dient eine für die Zeit avantgardistisch moderne, nicht weniger spektakuläre Villa (Alibi 2014, 0: 06: 55). Der Film spielt nicht in der Zeit der Romanhandlung, aber in einer Zeit nicht lange danach - mit entsprechenden Oldtimern als weiteren optischen Genüssen für Liebhaber*innen der Industriegeschichte. Dazu wird eine als typisch anzusehende englische Szenerie mit ihrer dörflichen Struktur und ihrer Gartenpracht in Szene gesetzt (darunter das für Dreharbeiten beliebte Castle Combe in Wiltshire). Die vom Journal als typisch bezeichnete, ländliche Idylle („very much like any other English village“; Alibi 2014, 0: 01: 14ff.) entlarvt sich als trügerisch: „Everything is not as it seems, just scratch the surface and you will find more jealousies and rivalries than in ancient rome“ (Alibi 2014, 0: 01: 35ff.). Das Journal bezeichnet die Verwandten Ackroyds auch als „vultures eagerly awaiting his demise“ (Alibi 2014, 0: 07: 15), dadurch vom Täter ablenkend, die Doppelbödigkeit verstärkend und die Spannung erhöhend. 5.7 Poirot im Film: The Murder of Roger Ackroyd (2000) 153 <?page no="154"?> Abgesehen von den genannten und anderen, kleineren Veränderungen und dem Versuch, die filmischen Mittel möglichst optimal für die Erzeu‐ gung von Atmosphäre und Spannung zu nutzen, hält sich die Verfilmung erstaunlich eng an die Romanvorlage. Die Indizien oder das Verbergen derselben, die falschen Fährten, die Suche nach den Zusammenhängen - im Großen und Ganzen bleibt es bei der von Christie vorgegebenen Abfolge von Ereignissen und Detektion. So ist es wie im Roman auch im Film das Rätsel des Telefonats, das - wie Poirot ahnt - die Lösung bringen wird (Alibi 2014, 0: 42: 40ff.). Essentiell für die Handlung ist, dass die Abläufe des Abends der Ermordung und die Alibis der Figuren immer wieder neu überprüft werden. Die Bedeutung der Zeit für den Abend wird durch die von der Kamera, teils in Großaufnahme, hervorgehobenen Uhren unterstrichen (Alibi 2014, z. B. 0: 24: 00). Für den Spannungsaufbau spielt die Frage, wer der Täter sein könnte, trotz der Veränderungen natürlich immer noch eine ganz wesentliche Rolle. Die Verwandten Ackroyds hatten offenbar am meisten zu gewinnen, auch wenn es schon bald eine Fährte gibt, die zu dem unbekannten Erpresser von Mrs. Ferrars führt. Schließlich ist der Brief, den sie Ackroyd geschrieben hatte und den er unmittelbar vor seiner Ermordung las, verschwunden (Alibi 2014, 0: 041: 30ff.). Als Hauptverdächtiger gilt von Anfang an der Stiefsohn Ralph Paton (Alibi 2014, 0: 30: 14ff.), der allerdings ebenfalls verschwunden ist, bis Poirot ihn zum Schluss in einem Pflegeheim findet, in das ihn der Doktor eingeliefert hatte, angeblich um ihn vor der ungerechtfertigten Verfolgung durch die Polizei zu schützen. Die Täterschaft des Doktors wird den Zuschauer*innen erst offenbart, als am Schluss der Ermittlungen seine Schwester Caroline das Journal in seinem Auto findet (Alibi 2014, 01: 23: 25). Poirots einleitenden Worte aus dem Off stimmen die Zuschauer*innen auf einen besonderen Fall und einen besonderen Täter ein: „Rarely have I come across such bitterness, such envy and contempt of others“ (Alibi 2014, 0: 01: 00ff.). Der Ruheständler Poirot wird als enger Freund des Opfers gezeichnet, er hat ihm offenbar sogar früher einmal Geld geliehen, damit dieser seine industriellen Unternehmungen beginnen konnte (Alibi 2014, 0: 05: 24f.). Dass Poirot in der Schlussrunde der Verdächtigen nicht offenlegt, wer der Mörder ist, sondern dessen Verhaftung für den folgenden Tag ankündigt (Alibi 2014, 01: 23: 58ff.), wird nur vage durch die Freundschaft auch zum Täter erklärt (Alibi 2014, 01: 38: 16); vor allem aber bietet es die Möglichkeit zur visuellen Inszenierung einer Verfolgungsjagd in der Fabrik. 5. Detektiverzählungen 154 <?page no="155"?> Teile der Handlung sind nicht ausreichend motiviert. Nachdem Mrs. Ferrars sich umgebracht hat, lädt Roger Ackroyd, vor dem Haus der Toten, Dr. Sheppard zu sich zum Abendessen ein, ohne ihm dafür einen Grund zu sagen (Alibi 2014, 0: 12: 14). Die Einladung ist notwendig, um dem Arzt Gelegenheit für den Mord zu geben. Roger Ackroyd spricht an dem Abend zuerst mit seinem alten Freund Poirot, den er aber nicht zum Essen einlädt - das ist eigentlich unhöflich und es ist nicht ersichtlich, weshalb dem Doktor und nicht Poirot die Ehre zuteil wird. Vermuten lässt sich, dass Ackroyd den Doktor über den Tod von Mrs. Ferrars ausfragen will. Nur weil er nicht vor Ort ist, kann Poirot, der sich sehr besorgt über die Enthüllungen zeigt (dass Mrs. Ferrars erst ihren Mann und dann sich selbst umgebracht hat und schließlich erpresst wurde), den Mord nicht verhindern. Seine Ermahnung „Roger, you must be careful! “ (Alibi 2014, 0: 17: 14) dient, wie vieles andere auch (etwa der erste, kurze und vergebliche Versuch Poirots, in einer Runde der Verdächtigen etwas über den Aufenthalt von Ralph Paton zu erfahren; Alibi 2014, 0: 55: 30ff.), vor allem der Erzeugung von Handlungsspannung. Typisch für Christies Romane wie für die Verfilmungen ist die mitlaufende Komik, wobei die Verfilmungen typischerweise eher Situationskomik prä‐ ferieren, auf die Mimik der Figuren setzen und die sprachliche Komik eine geringere Rolle spielt. Ein Beispiel ist die Einführung Poirots, als er in seinem Garten den nach ihm suchenden Dr. Sheppard und Butler Parker aus Ärger über den Misserfolg seiner Züchtungen aus Versehen einen Kürbis vor die Füße wirft (Alibi 2014, 0: 02: 47). Poirot scheint von Anfang an sichtlich unzufrieden mit seinem Ruhestand zu sein, auch wenn er immer wieder vorgibt, dass es anders ist (Alibi 2014, z. B. 0: 02: 26ff.). David Suchet spielt Poirot als die von Christie angelegte pedantische Figur mit ihren Marotten auf liebe- und humorvolle Weise, etwa wenn er, nachdem er trotz sorgfältigen Ärmelhochkrempelns beim Herausfischen eines Rings aus einem Teich (Ursula Bourne hat ihren Ehering im Ärger über Ralph Paton dort hineingeworfen), etwas Wasser auf seine Manschette bekommt und Inspektor Japp fragt, ob das Wasser wohl einen Fleck machen werde, oder wenn er sich gleich danach, immer noch am Teich stehend, mit Spiegel und Bürste der Bartpflege widmet (Alibi 2014, 0: 48: 02ff.). Auch Inspektor Japp hat, nicht zuletzt im Zusammenspiel mit Poirot, seine komischen Seiten, etwa wenn der bodenständige, fleischhaltige englische Kost gewohnte Inspektor von dem Angebot des von Poirot ausgesuchten italienischen Lokals - anders als der begeisterte Anwalt Ackroyds, der sie begleitet - vollkommen überfordert ist und feststellt: „There is nothing I can eat here“ 5.7 Poirot im Film: The Murder of Roger Ackroyd (2000) 155 <?page no="156"?> (Alibi 2014, 01: 0: 20ff.). Poirot und Japp sind, was ihre Freundschaft und gleichzeitige Unterschiedlichkeit betrifft, ein Duo nicht nur in der Nachfolge von Holmes und Watson, sondern auch von Laurel und Hardy. Als Vera Ackroyd ihre Tochter Flora fragt: „Isn’t this exciting? “, und Flora antwortet, weil ihr gerade Tee angeboten wurde: „What, tea? “, erwidert Vera, dass sie die bevorstehende Verlobung Floras mit Roger Ackroyds Stiefsohn Ralph Paton gemeint habe (Alibi 2014, 0: 07: 26ff.). Die Komik der Szene hat eine vorausdeutende Funktion, denn die heimlich mit Ralph verheiratete Ursula Bourne will gerade den Tee einschenken und gießt einen Teil daneben. Dass und weshalb sie durch die Nachricht aufgeregt wird, erklärt sich erst später. Der Film baut immmer wieder solche Vorausdeutungen ein, auch bei Indizien - etwa indem die Kamera langsam auf das Briefpapier von Mrs. Ferrars zoomt (Alibi 2014, 0: 11: 38ff.). Die Komik kann die Grenze zum schwarzen Humor überschreiten, etwa wenn das von Poirot vorgelesene Journal nach der Szene mit dem überfahre‐ nen Butler fragt, ob der Täter keine Gnade kenne - und keine Ahnung habe, wie schwierig es sei, gutes Personal zu bekommen (Alibi 2014, 0: 52: 20ff.). Der schwarze Humor wird mit Poirots letzten Worten noch einmal gesteigert. Poirots Stimme aus dem Off erklärt, als der Detektiv den Tresorraum verlässt, dass er dachte, der „wickedness of the city“ durch den Umzug auf das Land mit seinen grünen Feldern, singenden Vögeln und lächelnden Menschen entkommen zu können (Alibi 2014, 01: 38: 20ff.). Aber nun hat er erkannt, dass alles eine Täuschung ist: „The birds only sing briefly before some idiot in tweeds shoots them“ (Alibi 2014, 01: 38: 38ff.). Der subtile Humor der Vorlage wird zwar durch die vielfach auf visuelle Effekte setzende Verfilmung nicht erreicht. Dafür besticht der weitgehend als Kammerspiel inszenierte Film durch seine Dialoge und die schauspiele‐ rischen Leistungen, allen voran von David Suchet als Poirot. 5.8 Das Muster des Kinder-Detektivs: Erich Kästners Emil und die Detektive (1929) Erich Kästners (1899-1974) literarhistorische Bedeutung wird immer noch unterschätzt (vgl. auch Neuhaus 2017a). Kästner ist einer der weltweit bekanntesten Autoren deutscher Sprache und zugleich einer der meistüber‐ setzten und meistgelesenen Kinderbuchautoren aller Zeiten und Literaturen. Er hat beispielsweise Astrid Lindgren (1907-2002) beeinflusst, die eine ihrer 5. Detektiverzählungen 156 <?page no="157"?> bekanntesten Figuren nach Emil aus Emil und die Detektive benannt hat. In der deutschen Übersetzung ist die Analogie verloren gegangen. Da der Name Emil so eindeutig mit Kästner verbunden ist, hat man Lindgrens Figur in Michel umbenannt. Auch für Lindgrens dreiteilige Reihe um den Kinderdetektiv Kalle Blomquist dürfte Kästners Emil Pate gestanden haben (Mästerdetektiven Blomkvist, dt. Meisterdetektiv Blomquist, 1946; Mästerde‐ tektiven Blomkvist lever farligt, dt. Kalle Blomquist lebt gefährlich, 1951; Kalle Blomkvist och Rasmus, dt. Kalle Blomquist, Eva-Lotte und Rasmus, 1953). Allerdings entwickelt Lindgren die Figur des Kinderdetektivs weiter, auch dadurch, dass sie Kalle Blomquist im zweiten Band einen Mord aufklären lässt. In der Kinder- und Jugendliteratur gibt es einen anderen, sehr viel früheren und berühmten Roman, in dem Mord und Todesgefahr eine Rolle spielen und in dem der Täter durch zwei Kinder überführt wird: Mark Twains The Adventures of Tom Sawyer von 1876 (dt. Tom Sawyers Abenteuer). Die Geschichte des Kinderdetektivs in der Literatur gilt es noch zu schreiben. Kästners Werke wurden verfilmt, teils mehrfach, und sie waren auch im Massenmedium Film sehr erfolgreich. Kästner hat nach Möglichkeit die Dreh‐ bücher selbst verfasst oder an ihnen mitgeschrieben. Gerhard Lamprechts (1897-1974) Verfilmung von Emil und die Detektive aus dem Jahr 1931 gilt „als einer der bedeutendsten deutschen Filme der frühen Tonfilmzeit“ (Tornow 1998, 34). Der ursprüngliche Drehbuchentwurf von Kästner und einem Freund stellte die Produktionsfirma nicht zufrieden, der schließlich umgesetzte Ent‐ wurf stammt von dem späteren Starregisseur Billy Wilder (1906-2002), der kurz darauf nach Hollywood ging (vgl. Hanuschek 2004, 53). Kästner hat Emil und die Detektive mit dem programmatischen Untertitel „Ein Roman für Kinder“ versehen (Kästner 1998, 193), denn Romane sind bis zu der Zeit vor allem für Erwachsene bestimmt. Kästners Emil und die Detektive gilt daher auch als der erste moderne Kinderroman und nicht nur als der erste Kriminal- und Detektivroman für Kinder. Kästners Leistung ist es, in einem erfolgreichen Roman Kinder zu autonom handelnden Sub‐ jekten werden zu lassen, die in einem modernen, großstädtischen Umfeld ihre Probleme selbst lösen. Außerdem werden soziale Fragen verhandelt, die bis dahin für die Kinder- und Jugendliteratur weitgehend tabu waren. Emils Mutter ist alleinerzie‐ hend und muss den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn als Friseuse verdienen, außerdem spart sie von ihrem wenigen Geld noch für ihre bedürftige Mutter. Lakonisch wird festgestellt: „Emil hatte keinen Vater 5.8 Das Muster des Kinder-Detektivs: Erich Kästners Emil und die Detektive (1929) 157 <?page no="158"?> mehr“ (Kästner 1998, 218). Die soziale Lage der Angestellten wird, noch vor der Weltwirtschaftskrise im Jahr des Erscheinens von Emil, für kindliche Verhältnisse sehr deutlich angesprochen, die Leser*innen werden sogar direkt adressiert: „Und wer pro Woche fünfunddreißig Mark verdient, der muß, ob es euch gefällt oder nicht, hundertvierzig Mark, die er gespart hat, für sehr viel Geld halten“ (Kästner 1998, 218). Der Erzähler verwendet die Hochsprache, aber die Figurenrede der Kinder steht, und auch das ist innovativ, im Soziolekt der Berliner Großstadt- und Jugendsprache: „,Nicht die Bohne‘, meinte Pony Hütchen […]“ (Kästner 1998, 261). Die Kriminalhandlung spielt in der Gegenwart der Erstrezeption und wird, was für die zeitgenössische Kinder- und Jugendliteratur ungewöhnlich ist, nicht mit einer pädagogischen Botschaft verbunden. Über die üblichen, Kinder zu Objekten der Erziehung degradierenden Moralvorstellungen macht sich der Roman abschließend sogar lustig - im letzten, 18. Kapitel, das den dazu passenden Titel trägt: „Läßt sich daraus was lernen? “ (Kästner 1998, 300). Die Geschichte könnte zu vielen moralischen Überlegungen Anlass bieten, hat sich Emil doch von dem Dieb Grundeis die für seine Großmutter bestimmten 120 Mark und die für seine weitere Reise vorgesehenen 20 Mark abknöpfen lassen, auch wenn er das Geld mit Hilfe seiner in Berlin neu gewonnenen Freunde zurückbekommt und sogar eine Belohnung von 1000 Mark für das Ergreifen des Diebes erhält, weil der ein gesuchter Bankräuber ist (Kästner 1998, 292 f.). Emil selbst kommt zu dem düsteren Schluss, er habe gelernt, dass man keinem Menschen trauen solle, und seine Mutter meint, sie habe gelernt, dass man Kinder nicht allein verreisen lassen könne (Kästner 1998, 301). Doch Emils Großmutter zieht eine ganz andere, den Roman abschließende Lehre: „,Geld soll man immer nur per Postanweisung schicken‘, brummte die Großmutter und kicherte wie eine Spieldose“ (Kästner 1998, 302). Die unaufdringliche Moral des Romans steckt im Verhalten der kindlichen Figuren, die zwar Streiche machen und Kinder sein dürfen, aber den Erwachsenen in ihrem Gerechtigkeitsempfinden und in ihrer Empathie voraus sind. Vor allem gilt dies natürlich für Emil, der bei der Aussicht auf Belohnung nur daran denkt, die Situation seiner Mutter zu verbessern: „,Mutter soll sich einen Trockenapparat kaufen und einen Mantel, der mit Pelz gefüttert ist‘“ (Kästner 1998, 300). Emil ist, so heißt es entschuldigend, ein „Musterknabe“ (Kästner 1998, 219). Doch auch sein Musterknabentum hat Grenzen. Emil hat ein schlechtes Gewissen, als er auf dem Weg zum Bahnhof Polizeiwachtmeister Jeschke sieht, denn er hat, mit Schulfreunden, das „Denkmal des Großherzogs, der 5. Detektiverzählungen 158 <?page no="159"?> Karl mit der schiefen Backe hieß“, etwas ‚verschönert’ (Kästner 1998, 221), also eigentlich eine Straftat begangen und er fürchtet, von Wachtmeister Jeschke erkannt worden zu sein. Diese ‚böse‘ Tat ist der Grund für Emils spätere Zurückhaltung, den Diebstahl im Zug der Polizei zu melden (Kästner 1998, 235). Zugleich ist sie ein deutliches Zeichen für den antiautoritä‐ ren Charakter des Kinderromans, in dem Repräsentanten der früheren (Großherzog) und jetzigen Ordnung (Polizei) versagen. Schließlich sind es die Kinder, die den Dieb fangen. Das subversive Unterlaufen gesellschaftli‐ cher Autoritäten betrifft auch andere Instanzen, Institutionen und deren Repräsentanten. Die Eltern des kleinen Dienstag oder des Professors haben angesehene Stellungen und sind wohlhabend, aber sie haben kaum Zeit für ihre Kinder (Kästner 1998, 271 u. 266). Die Kinder sind die starken Figuren, ohne oder sogar gegen die Erwachsenen, die mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt sind. Der Dieb und Bankräuber, der sich selbst Grundeis oder später Kießling nennt (Kästner 1998, 281), ist schließlich auch ein Erwachsener. Er bietet Emil Schokolade an (Kästner 1998, 224), danach wird Emil sehr müde, schläft ein und hat einen Traum, in dem er versucht, dem Polizeiwachtmeister zu entkommen, der ihn wegen des großherzoglichen Schnurrbarts verfolgt (Kästner 1998, 228 ff.). Ohne dass dies explizit gesagt wird, liegt die Vermu‐ tung nahe, dass Grundeis Emil mit der Schokolade Drogen verabreicht hat. Der Erzähler markiert einen deutlichen Unterschied zwischen der Erfah‐ rungswirklichkeit der Kinder und der defizitären Welt der Erwachsenen: Prachtvoll war das! Die Mutter hatte umsonst gespart. Die Großmutter bekam keinen Pfennig. In Berlin konnte er nicht bleiben. Nach Hause durfte er nicht fahren. Und alles das wegen eines Kerls, der den Kindern Schokolade schenkte und tat, als ob er schliefe. Und zu guter Letzt raubte er sie aus. Pfui Spinne, war das eine feine Welt! (Kästner 1998, 234) Emil war so klug, das Geld mit einer Nadel in der Innentasche seines Jacketts zu fixieren (Kästner 1998, 226). In der Bank schenkt man Emil später Glauben, weil das Geld die entsprechenden Einstiche aufweist (Kästner 1998, 279 f.). Im Zentrum der Handlung steht die Verfolgung des Täters durch Emil und seine neu gewonnenen Freunde, auch seine Cousine Pony Hütchen beteiligt sich. Die Verfolgungsjagd durch die anonyme, moderne Großstadt, sogar mit Autos (Kästner 1998, 257 ff.), schafft eine für die Kinder- und Jugendliteratur ungewöhnliche Dynamik: 5.8 Das Muster des Kinder-Detektivs: Erich Kästners Emil und die Detektive (1929) 159 <?page no="160"?> So ein Krach! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen! Und von allen Seiten Straßenbahnen, Fuhrwerke, zweistöckige Autobusse! Zeitungsverkäufer an allen Ecken. Wunderbare Schaufenster mit Blumen, Früchten, Büchern, goldenen Uhren, Kleidern und seidener Wäsche. Und hohe, hohe Häuser. / Das war also Berlin. (Kästner 1998, 238) Die erste Erfahrung mit und in der Großstadt ist eine ebenso überwältigende wie beängstigende: „Die Stadt war so groß. Und Emil war so klein. […] Emil schluckte schwer. Und er fühlte sich sehr, sehr allein“ (Kästner 1998, 241). Das Gefühl der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ (Georg Lukács) der Moderne wird hier thematisiert, es wird aber zugleich auch gezeigt, dass Emil nicht ohne Hilfe bleibt. Ein freundlicher Herr, der sich später als Alter ego Erich Kästners und als der Erzähler der Geschichte entpuppen wird, kauft ihm einen Fahrschein für die Straßenbahn. Ein Portier leiht ihm etwas Geld (Kästner 1998, 282) und Emil lernt Gustav mit der Hupe und die anderen Kinder kennen, die für ihn sammeln und ihm helfen, das gestohlene Geld zurückzubekommen (Kästner 1998, 248). Die Erfahrung der Großstadt wird mit der Erfahrung der Massenme‐ dien kombiniert. Der Erzähler ist Journalist, seine Zeitungsdruckerei kommt vor und der Roman nimmt Anleihen beim filmischen Erzählen. So urteilt Gustav, als er Emils Geschichte gehört hat: „,Na Mensch, das ist ja großartig! ‘ rief der Junge, ‚das ist ja wie im Kino! ‘“ (Kästner 1998, 246). Und Emil selbst stellt später fest: „,Berlin ist natürlich großartig. Man denkt, man sitzt im Kino‘“ (Kästner 1998, 264 f.). Allerdings ist es für die Kinderfiguren auch wichtig, den Unterschied von Kino und Realität zu kennen: „Petzold hatte schon zweiundzwanzig Kriminalfilme gesehen. Und das war ihm, wie man merkt, nicht gut bekommen“ (Kästner 1998, 252). Die Gruppe, die sich zusammenfindet, besteht aus Kindern mit indivi‐ duellen Eigenschaften und Qualitäten, die ihre Fähigkeiten bündeln und bereit sind, für das gemeinsame Hilfsprojekt die eigenen Wünsche zurück‐ zustellen. Paradigmatisch hierfür steht der ‚kleine Dienstag‘, der lieber bei der Verbrecherjagd dabei wäre, als zuhause den - aber wichtigen - Telefondienst zu übernehmen. Er wird für seinen Verzicht später von der Großmutter ausdrücklich gelobt (Kästner 1998, 299). Wer wie Petzold die eigenen Interessen über die der Gruppe stellt und damit den Erfolg der Aktion gefährdet, kann ‚verwarnt‘ werden, wenn er nicht freiwillig geht. Emil möchte nicht der Auslöser für eigenwilliges (Petzold) oder autoritäres Verhalten (der Professor) sein und schlägt demokratische Maßnahmen vor, 5. Detektiverzählungen 160 <?page no="161"?> wenn bei der Selbstorganisation der Gruppe Probleme auftreten: „,Wir wollen wie im Reichstag abstimmen‘“ (Kästner 1998, 267). Dass es um das Entwickeln einer klugen Strategie geht, zeigt schon der Spitzname desjenigen, der die Federführung bei der Organisation über‐ nimmt: „der Professor“ (Kästner 1998, 251). Er weiß auch, dass man den Dieb nicht einfach wieder bestehlen kann, weil dies illegal wäre. Ebenso wird der Wunsch nach einer Waffe, einem „Revolver“ (Kästner 1998, 253), von ihm zurückgewiesen. Die Selbstorganisation der Kinder besticht daher durch Reflexivität, die sich nicht zuletzt in der Fähigkeit zeigt, zu sich selbst in Distanz zu treten: „,Ordnung! ‘ rief der Professor, „,keilt euch morgen! Was sind das für Zustände? Ihr benehmt euch ja wahrhaftig wie … wie die Kinder! ‘ / ‚Wir sind doch auch welche‘, sagte der kleine Dienstag. Und da mußten alle lachen“ (Kästner 1998, 254). Der Professor hat gelernt, eigenverantwortlich zu handeln, und diese Fähigkeit verdankt er nicht pädagogischen Anleitungen, sondern dem Vertrauen, das in ihn als autonomes Individuum gesetzt wird: „,Ich habe meinem alten Herrn versprochen, nichts zu tun, was unanständig oder gefährlich ist. Und solange ich das Versprechen halte, kann ich machen, was ich will. Ist ein glänzender Kerl, mein Vater. […] Er hat gesagt, ich solle mir immer ausmalen, ob ich genauso handeln würde, wenn er dabei wäre. Und das täte ich heute‘“ (Kästner 1998, 255 f.). Das ist Kants kategorischer Imperativ, in kindliche Worte und Taten umgemünzt. Doch auch die Eltern des Professors taugen nur bedingt als Vorbilder: „,Wenn ich wirklich zeitig nach Hause komme, kann ich wetten, sie sind im Theater oder eingeladen‘“ (Kästner 1998, 266). Der Vater des Professors gehört als „Justizrat“ (Kästner 1998, 251) zu den Repräsentanten gesellschaftlicher Ordnung. Der von der Polizei langgesuchte Dieb und Räuber wird überführt, weil die Kinder dazu in der Lage sind, sich selbst zu organisieren; nicht als Mob, sondern als Gruppe, in der Zuständigkeiten ausgehandelt werden und die Aufgabe, den Dieb zu stellen und der Polizei zu übergeben, gewaltfrei gelöst wird. Die Freiheit des Individuums wird durch eine demokratische Selbstorganisation wiederhergestellt, darin der Rütli-Vereinigung in Schil‐ lers Wilhelm Tell vergleichbar; das Drama wird nicht zufällig im ersten Kapitel genannt (Kästner 1998, 197). Die Anspielung auf Schillers Drama kann allerdings auch so gedeutet werden, dass die Freiheit des Individuums in der gezeigten Gesellschaft eine sehr begrenzte und die gesellschaftliche Ordnung immer noch eine defizitäre ist. 5.8 Das Muster des Kinder-Detektivs: Erich Kästners Emil und die Detektive (1929) 161 <?page no="162"?> 5.9 Emil im Film: Emil und die Detektive (1931) Acht Verfilmungen listet Wikipedia (Stand: 04.05.2020), die drei deutschen stammen aus den Jahren 1931, 1954 und 2001. Auch wenn Erich Kästner das Drehbuch der Verfilmung von 1954 allein verantwortet hat (Regie führte Adolf Stemmle) und in der clever gegenderten (Emil wächst bei einem allein erziehenden Vater auf, Pony Hütchen wird zu einer Hauptfigur) Verfilmung von 2001 Jürgen Vogel als Dieb Grundeis glänzt (für Buch und Regie, wie bei anderen Kästner-Verfilmungen der Zeit, zeichnet Franziska Buch verantwortlich), ist die erste Verfilmung immer noch die bekannteste (Regie führte Gerhard Lamprecht). Die kommentierte Veröffentlichung des Drehbuchs zeichnet die kompli‐ zierte Entstehungsgeschichte nach, vom Drehbuchentwurf Erich Kästners gemeinsam mit seinem Freund Emmerich Preßburger (vgl. auch Tornow 1998, 8) bis zur finalen Fassung des jungen Billy (damals noch: Billie) Wilder, der kurz darauf nach Hollywood ging, um einer der erfolgreichsten Regisseure der Filmgeschichte zu werden (vgl. Wilder 1998). Wer von denen, die involviert waren, welchen Anteil am Skript hatte, lässt sich heute nicht mehr genau rekonstruieren (vgl. Jatho 1998, 161 ff.). Im Vorspann zum Film wird nur Wilder genannt (Emil und die Detektive 2009, 0: 00: 26). Auch wenn Fritz Rasp als Dieb Grundeis aus dem kollektiven Filmge‐ dächtnis nicht mehr wegzudenken ist, so ist es doch interessant zu erfahren, dass Kästner urprünglich einen ganz anderen Besetzungsvorschlag hatte: „Erich Kästner läßt das Böse nicht ganz so häßlich aussehen. Er wollte ja deswegen, daß der Dieb Grundeis von Theo Lingen gespielt wird“ (Schütz 1998, 14). Der Brecht-Schauspieler Lingen wird hier vielleicht etwas in seiner Vielseitigkeit unterschätzt, so ist er im selben Jahr in Fritz Langs M in einer Verbrecherrolle zu sehen. Auf der anderen Seite sind bei Kästner deutliche Linien gezogen, die Wilder aufweicht: „Darf man zurückholen, was einem gehört? Ist das Diebstahl? Im Roman äußert sich Emil so: Wenn ich jemandem heimlich was wegnehme, bin ich ein Dieb. Ob es ihm gehört, oder ob er es mir erst gestohlen hat, ist egal. Wilders Emil darf zurückholen, was ihm gehört, er darf es versuchen“ (Schütz 1998, 18). Wilder geht offenbar in seiner ursprünglichen Laxheit gegenüber Recht und Gesetz noch weiter und für Kästner definitiv zu weit, der gegen einzelne Szenen beim Produzenten interveniert: „Kästner kann sich durchsetzen. Im fertigen Film klaut Emil weder Blumentopf noch Fahrschein. Der kleine Schwarzfahrer zieht sich nun mit Cleverness aus der Affäre […]“ ( Jatho 1998, 5. Detektiverzählungen 162 <?page no="163"?> 160). Im Roman bezahlt Erich Kästner als Romanfigur der Hauptfigur den Fahrschein (Kästner 1998, 240 u. 286). So wird der väterreiche Emil-Film zu einem Kompromiss unterschiedlicher Konzepte, wobei die Unterschiede vor allem aus den verschiedenen Blickwinkeln auf die Erfordernisse des Mediums und des Medienwechsels resultiert haben dürften. Auch die Rolle des im Roman bereits vorhandenen ‚Störenfrieds‘ Petzold wird von Wilder aus dem Entwurf von Kästner und Preßburger gestrichen (vgl. Schütz 1998, 19). Die Figur diente dazu, die friedliche und gewaltfreie Position der Gruppe um Emil und Gustav stärker zu betonen. Der von Wilder verantwortete Drehbuchentwurf reduziert Komplexität und ist stärker auf Wirkung berechnet. Doch der Erfolg sollte ihm Recht geben. Das utopische Potenzial der gemeinsam agierenden Kinder bleibt den‐ noch erhalten, es scheint ein common ground aller Beteiligten gewesen zu sein. Die Szene, in der Grundeis von einer Kindermenge verfolgt wird, woraufhin er sich entschließt, in eine Bank zu flüchten und das Geld dort zu wechseln, ist eindrücklich genug, die Dynamik erzeugende Visualisierung macht die Sequenz womöglich noch eindringlicher als im Roman (vgl. Emil und die Detektive 2009, 0: 56: 00ff.). Damit kontrastiert aus späterer Sicht die Schluss-Szene einer die Detek‐ tive empfangenden, jubelnden Menge: „Jubelnd erhobene Arme, linke zwar meist, aber dennoch. Es scheint, als laste mehr auf den Figuren, als die Schöpfer ihnen aufgeben wollten - es lastet der Makel der Verführbarkeit“ (Schütz 1998, 22; vgl. auch Emil und die Detektive 2009, 1: 05: 36ff.). Danach wird allerdings, auf dem Film gemäße Weise durch Überreichen eines Siegeskranzes, der kleine Dienstag besonders ausgezeichnet (Schütz 1998, 22). Zunächst reicht der in seinem Heimatort mit bzw. von Blasmusik, Menschenmenge und Honoratioren empfangene Emil, der nicht allein als „Held“ dastehen will, mit dem Hinweis, dass alle mitgeholfen haben, den Kranz weiter, bis ihn Pony Hütchen dem kleinen Dienstag mit den Worten umhängt: „Nein, der kleine Dienstag ist der größte Held! “ (Emil und die Detektive 2009, 1: 07: 35ff.). Die im Roman anders realisierte, aber ebenso vorhandene Geste der Auszeichnung des Kleinsten unterstreicht, dass es in einer Gruppe nicht darum geht, welche Rolle einem zufällt, sondern dass alle ihre Stärken, also ihre Individualität einbringen müssen, um ein Ziel zu erreichen, und dass gerade die scheinbar undankbarsten Aufgaben die besonders wichtigen sein können. Wie im Roman so auch im Film ‚verschönert‘ Emil, der eine Wette mit zwei anderen verloren hat, am Anfang ein Denkmal, auf dessen Sockel im Film 5.9 Emil im Film: Emil und die Detektive (1931) 163 <?page no="164"?> nun aber geschrieben steht: „Dem großen Sohne, die dankbare Vaterstadt“ (Emil und die Detektive 2009, 0: 03: 01ff.). Wie im Roman motiviert diese ‚Täterschaft‘ die weitere Handlung, denn sonst hätte Emil, der wegen der ‚Schändung‘ des Denkmals ein schlechtes Gewissen hat, den Diebstahl des Geldes einfach melden können. Während im Roman ein Filzhut zum Einsatz kommt und Emil „dem Großherzog mit Buntstiften eine rote Nase und einen pechschwarzen Schnurrbart ins Gesicht“ gemalt hat (Kästner 1998, 221), bekommt der namenlose Herr im Film eine Mütze aufgesetzt, ein Notizbuch ins Revers gesteckt und einen dicken Schnurrbart angeklebt (Emil und die Detektive 2009, 0: 03: 15). Eine solche Denkmals-‚Verschönerung‘ ist eine Tat, die damals zweifellos ungleich rebellischer war als heute - wie beispielsweise noch 1936 Heinrich Spoerls humoristischer Roman Der Maulkorb bezeugt. Auch im Emil-Film wird diese ‚Untat‘ der Denkmalsschändung auf humoristische Weise betont, wenn Wachtmeister Jeschke Emils Mutter von dem Streich erzählt und Emil erschrocken zuhört: „An dem Denkmal hat man sich vergriffen. Einer von den Lausejungen hier. Na wenn ich den erwische! Der kriegt zehn Jahre Zuchthaus“ (Emil und die Detektive 2009, 0: 08: 12ff.). Dass das natürlich vollkommen übertrieben ist und der Wachtmeister zu scherzen beliebt, versteht der Junge noch nicht. Er hält dem Wachtmeister die Hände hin, damit er ihm Handschellen anlegen kann, doch der versteht die Geste nicht und schüttelt ihm nur die rechte Hand. Kästners witzige Sprache ist zwar nicht in ein anderes Medium übersetz‐ bar, doch ist, wie in dieser Szene gesehen, auch der Film ausgesprochen geist‐ reich. Im Film gibt es zudem die besondere Pointe, dass das ‚verschönerte‘ Denkmal nun aussieht wie der Wachtmeister, der kurz darauf auftaucht und überrascht seinem eigenen Spiegelbild ins steinerne Antlitz blickt (Emil und die Detektive 2009, 0: 03: 50ff.). Und schon die ersten Worte des Films zeugen von einem Wortwitz, der dem Roman in nichts nachsteht. Emil kommt von seinem Streich nach Hause zurück und hört (zusammen mit den Zuschauern) seine Mutter sagen: „Dem Jungen werde ich den Kopf schon einseifen. Wo der wieder steckt? In einer Stunde geht der Zug“ (Emil und die Detektive 2009, 0: 04: 32ff.). Die Pointe besteht darin, dass Emils Mutter, die Friseuse, gerade dabei ist, den Kopf einer Klientin zu waschen. Der Streit von Emil und Gustav um Pony Hütchen (Emil und die Detektive 2009, 0: 05: 55; 0: 49: 32ff.; 1: 04: 10ff.; 1: 08: 03ff.) zeigt (neben anderen Szenen), dass die Kinder eben doch Kinder sind. Pony Hütchen antwortet auf die Frage, wen von beiden sie haben möchte, und behält damit das letzte 5. Detektiverzählungen 164 <?page no="165"?> Wort im Film: „Das werde ich Euch dann in zehn Jahren sagen. Aber solange Ihr Lausejungs seid, nehme ich Euch alle beide! “ (Emil und die Detektive 2009, 1: 08: 17ff.). Das herausgestellte Kindlich-Altkluge Emils und der anderen relativiert die Aufwertung etwas, die die Kinder im Roman erfahren. Dies gilt ebenso für die Sozialkritik, die im Film weitgehend fehlt. So kommen beispielsweise die Eltern des kleinen Dienstag zwar spät in festlicher Kleidung nach Hause, kümmern sich aber liebevoll um ihren Sohn (Emil und die Detektive 2009, 0: 52: 28ff.). Der Film spielt seine visuellen und akustischen Möglichkeiten aus. Das Pfeifen und Rattern der Eisenbahn, das Hupen und das Stimmengewirr der Großstadt gehören dazu, auch wenn die musikalische Untermalung viel von dem Realismus überdeckt, der in Fritz Langs M - der auf solche unterlegte Musik verzichtet - deutlich ausgestellt wird. Besonders eindrucksvoll und mit damals neuer Tricktechnik inszeniert gestaltet sich Emils (drogenindu‐ zierter, denn Grundeis gibt ihm „einen Bonbon“) ‚Traum‘ während der Zugfahrt (Emil und die Detektive 2009, 0: 15: 02ff.). Zuerst sieht Emil Augen, die sich durch eine Zeitung brennen, die Grundeis vor sein Gesicht hält (Emil und die Detektive 2009, 0: 15: 48). Dann weitet sich das Abteil in die Breite und in die Höhe, Emil fliegt flüchtend vor dem Dieb im Abteil in die Luft und hängt an einer überdimensionalen Notbremse. Schließlich steigt er wie der fliegende Robert aus Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter mit einem Regenschirm in den Himmel auf; bei der Landung auf dem Alexanderplatz versucht ihn Wachtmeister Jeschke zu fangen (Emil und die Detektive 2009, 0: 17: 41ff.). Die Bedrohungssituation wird mit spätexpressionistisch anmu‐ tenden und originellen visuellen Einfällen verdeutlicht. Als Emil aufwacht, sind der Dieb und das Geld fort (Emil und die Detektive 2009, 0: 18: 14ff.). Die Verfolgungsjagden (Emil und die Detektive 2009, 0: 20: 00ff. u. a.) geben Gelegenheit, Berlin erneut als ‚Sinfonie der Großstadt‘ zu zeigen (Berlin - Die Sinfonie der Großstadt heißt der berühmte Stummfilm Walther Ruttmanns von 1927). Das Ganze wird zum Abenteuer einer großen Menge an Jungen, so dass sich Gustav schon am Anfang der Suche zurecht freut: „Jungs, endlich mal ’ne Sache, was! “ (Emil und die Detektive 2009, 0: 26: 56f.). Für Spannung sorgt auch der Kleidertausch von Emil und dem Pagen im Hotel Biedermann (! ). Der vergebliche Versuch, das eigene Geld von dem sich zur Ruhe betten‐ den Dieb zurückzustehlen, ist die wohl längste Handlungssequenz eines mit knapp 70 Minuten nicht sehr langen Films (Emil und die Detektive 2009, 0: 40: 15-0: 48: 35). Der Dieb hat Emil mit seinen eigenen Waffen geschlagen und das Geld im Hut versteckt. Dies wird aber erst offenbar, nachdem die 5.9 Emil im Film: Emil und die Detektive (1931) 165 <?page no="166"?> enttäuchten Kinder entdeckt haben, dass die von Emil erbeutete Brieftasche leer ist (Emil und die Detektive 2009, 0: 48: 30ff.). So wird der Film zu einer gelungenen Mischung aus einem mit Thrillerelementen ausgestatteten Detektiv-, Kriminal-, Abenteuer- und Großstadtfilm für Kinder. Nach der Ergreifung kann der Kommissar, allerdings etwas paternalistisch, zu Emil und seinen Freunden sagen: „Das habt Ihr ja fein gemacht, wie die richtigen Detektive! “ (Emil und die Detektive 2009, 1: 01: 56ff.). Erhalten bleiben nur wenige metafiktionale Verweise des Romans, etwa wenn Gustav, nachdem er Emil kennengelernt und von dem Diebstahl erfahren hat, feststellt: „Mensch, das ist ja wie im Kino! “ (Emil und die Detektive 2009, 0: 24: 36f.). Es fehlen Äquivalente zu den Rahmungen der Vorlage, „Die Geschichte fängt noch gar nicht an“ (Kästner 1998, 195) und „Zehn Bilder kommen jetzt zur Sprache“ (Kästner 1998, 202). Kästners Roman ist von seiner Anlage her, mit den Zeichnungen Walter Triers, bereits hochgradig intermedial und selbstreflexiv. Dies in das visuelle Medium zu übersetzen hätte möglicherweise das Genre Kinder- und Jugendfilm überfordert oder den Film seinen Erfolg an den Kinokassen gekostet. Roman und Film haben einen gemeinsamen Kern: Der promovierte Ger‐ manist und selbsternannte „Urenkel der Aufklärung“ (Neuhaus 2008, 267 ff.) Erich Kästner stellt sich mit seinem Entwurf eines gruppendynamischen Prozesses in die Tradition der Utopie einer sozialen Gemeinschaft, wie sie Friedrich Schiller im Wilhelm Tell (1804) beispielhaft entworfen hatte. Vielleicht auch deshalb musste der Versuch der Nationalsozialisten, den Tell für sich zu vereinnahmen, später scheitern (vgl. Neuhaus 2017a, 105-114), ebenso wie sie der Popularität von Kästners Emil und die Detektive - in Roman und Film - wenig anhaben konnten. 5.10 Der bekannteste ‚hard-boiled detective‘: Philip Marlowe in Raymond Chandlers The Big Sleep (1939) Neben Dashiell Hammett gilt Raymond Chandler (1888-1959) als der wich‐ tigste ältere Vertreter und Mit-Erfinder des sogenannten ‚hard-boiled detec‐ tive ‘, des hartgesottenen Detektivs. Es sind US-amerikanische Autor*in‐ nen und es ist der US-amerikanische Film, die diese besondere Ausprägung der Detektiv-Figur hervorbringen und ihr zu andauernder Popularität ver‐ helfen, und zwar in der Prosa eben wie im Film. Insbesondere der als Roman- 5. Detektiverzählungen 166 <?page no="167"?> wie als Drehbuchautor erfolgreiche Chandler „was central to the birth of what became known as film noir“ (Hiney 1998, ix). Wie viele andere grundlegende Entwicklungen des Genres trägt auch diese zur Entwicklung der Kriminal- und Detektivliteratur in der Weise bei, dass es für spätere Krimis selbstverständlich wird, ‚hartgesottene‘ Detektivfiguren zu zeichnen oder mit der zum Muster gewordenen Figur zu spielen; so wie es beispielsweise die Krimis von Wolf Haas tun, auf die noch näher eingegangen wird. Chandlers Biographie wäre einen genaueren Blick wert, sie hat wohl mehr als bei anderen Autor*innen Spuren im Werk hinterlassen. Die eigenen Erfahrungen haben zu einer kritisch-sarkastischen Weltsicht beigetragen, wie sie sich auch in den Romanen niederschlägt. So heißt es in einem Brief vom November 1940: „Funny thing civilization. It promises so much and what it delivers is mass production of shoddy merchandise and shoddy people“ (zit. nach Hiney 1998, 33). Als Chandler seinen ersten Roman - mit der Detektivfigur Philip Marlowe - veröffentlichte, war er bereits 50 Jahre alt und hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Die Ehe seiner Eltern brach früh entzwei und seine Mutter beschloss, als er sieben Jahre alt war, mit ihm von Chigaco nach England zu ziehen (Hiney 1998, 6). Mit 24 Jahren kehrte der bis dahin in London lebende, als Journalist arbeitende und Gedichte schreibende Chandler wieder in die USA zurück (Hiney 1998, 30). In der Spätphase des Ersten Weltkriegs erlebte er als Soldat und Zugführer in Frankreich das Grauen der Schützengräben (Hiney 1998, 42). Nach zahlreichen Umzügen, einer langen Zeit finanzieller Notlagen und einer mehr als gut bezahlten Stellung im kalifornischen Ölgeschäft, die er nicht nur, aber auch wegen seines Alkoholismus verlor (Hiney 1998, 52 u. 69), hatte er sich auf das wenig einträgliche Schreiben von Detektivgeschichten für Zeitschriften verlegt (vgl. Hiney 1998, 75 ff.). Auch The Big Sleep war zunächst kein großer Erfolg, ebensowenig wie die folgenden Romane mit Marlowe als Detektivfigur. Erst die Arbeit als Drehbuchautor in Hollywood und die Verfilmung der Marlowe-Romane mit Humphrey Bogart sorgten für Ruhm und die lang vermisste finanzielle Absicherung (Hiney 1998, viii u. 131 f.). Starregisseur Billy Wilder gehört zu jenen, die Chandlers Fähigkeiten besonders zu schätzen und zu nutzen wussten (Hiney 1998, 141). Die Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock dagegen schlug fehl, auch wenn sie Chandler ein fettes Honorar einbrachte (vgl. Hiney 1998, 192 f.). 5.10 Chandlers The Big Sleep (1939) 167 <?page no="168"?> Chandler war sehr belesen und er hatte seine Konkurrenz genau studiert. Insbesondere Ernest Hemingway war ein Vorbild, aber auch der fast gleich‐ alte und mit seinen Gerichtsromanen sehr erfolgreiche Ex-Anwalt Erle Stanley Gardner (Hiney 1998, 74). Chandler wollte ‚ehrliche‘ Geschichten schreiben, die näher an der Realität waren als beispielsweise die Sher‐ lock-Holmes-Geschichten von Sir Arthur Conan Doyle (vgl. Hiney 1998, 75). Dies erreichte er vor allem durch genaue Beobachtung und Beschreibung selbst kleinster Einzelheiten (vgl. Hiney 1998, 93 u. a.). Die Zusammenhänge der die Handlung treibenden Ereignisse waren ihm dabei nicht so wichtig. So fragte ihn Howard Hawks, der den Roman als Erster verfilmte, wer General Sternwoods Chauffeur umgebracht habe: „Chandler sent a wire back saying: ‚NO IDEA‘“ (Hiney 1998, 163). Den eigenen Stil entwickelte Chandler nur langsam, doch galt er insbe‐ sondere mit den Marlowe-Romanen noch zu Lebzeiten auch in Kolleg*in‐ nenkreisen als einer der besten zeitgenössischen US-amerikanischen Auto‐ ren: „Described by Evelyn Waugh in the late 1940s as no less than ‚the greatest living American novelist‘, he was admired by the likes of T. S. Eliot, W. H. Auden and Edmund Wilson“ (Hiney 1998, viii). The Big Sleep (dt. Tote schlafen fest) wird nicht zuletzt deshalb als Wende in der Detektiv-Literatur gesehen, weil der Fokus von der Auflösung von Verbrechen auf die Motivierung der Figuren und ihre Weltsicht verschoben wird (vgl. Hiney 1998, 101). Die Metapher des Titels verweist bereits auf die Bedeutung des Themas Tod in einem weniger konkret-handlungsbezogenen als vielmehr existenziell-philosophischen Sinn. So wird die im Kontext eines solchen Romans ungewöhnliche Metapher auch erst am Ende des Romans, aus der Perspektive Marlowes, näher beleuchtet: „What did it matter where you lay once you were dead? In a dirty sump or in a marble tower on top of a high hill? You were dead, you were sleeping the big sleep […]“ (Chandler 2011, 250). Dennoch war es gerade die Handlung, die für Probleme bei der Rezep‐ tion sorgte: „Apart from murder, blackmail and crooked cops, The Big Sleep featured several alcoholics, a drug-taking psychotic nymphomaniac, a pornography racket, multiple adultery, lavishly described corpses and a homosexual assassin“ (Hiney 1998, 107). Starker Tobak für die an der Oberfläche puritanisch sein-wollenden westlichen Gesellschaften, die den Roman teilweise zensierten und ihm negative Besprechungen einbrachten (vgl. Hiney 1998, 164 f.), aber neben der existenzialistischen Note auch einer der Gründe für den Beginn eines Kults (vgl. Hiney 1998, 113). Sogar 5. Detektiverzählungen 168 <?page no="169"?> Autorengrößen wie John Steinbeck ermutigten Chandler, diesen Weg weiter zu verfolgen (Hiney 1998, 114). Und Schriftstellerkollegen wie der aus Nordengland stammende J. B. Priestley kamen zu Besuch (Hiney 1998, 195). Es erschienen bis zu Chandlers Tod folgende weitere Marlowe-Romane (abgesehen von einem unvollendeten Roman und diversen Kurzgeschichten mit der Figur): Farewell, My Lovely (dt. Lebwohl, mein Liebling; 1940), The High Window (dt. Das hohe Fenster; 1942), The Lady In The Lake (dt. Die Tote im See; 1943), The Little Sister (dt. Die kleine Schwester; 1949), The Long Good-bye (dt. Der lange Abschied; 1953) und Playback (Spiel im Dunkel; 1958). Auch sie waren mehr oder weniger große Erfolge - doch soll hier vor allem der bis heute vielbeachtete Erstling diskutiert werden. The Big Sleep gilt als einer der besten und wichtigsten US-amerikanischen Romane überhaupt: „Die französische Zeitung Le Monde wählte ihn 1999 zu den 100 prägenden Romanen des 20. Jahrhunderts und das US-amerikanische Magazin Time wählte ihn zu den besten englischsprachigen Romanen, die zwischen 1923 - dem Gründungsjahr von Time - und 2005 erschienen sind“, heißt es beispielsweise auf Wikipedia (Stand: 10.04.2020). Schon der Anfang ist programmatisch: „It was about eleven o’clock in the morning, mid October, with the sun not shining and a look of hard wet rain in the clearness of the foothills“ (Chandler 2011, 1). Es wird eine Stimmung der Vergänglichkeit erzeugt: Der Herbstanfang steht kurz bevor, die Sonne scheint nicht und es wird starken Regen geben. Dass dieser starke Regen auch noch explizit als nass klassifiziert wird, hat eine verstärkende Wirkung und die Klarheit der Sicht wirkt als Kontrast. Am Ende des ersten Kapitels wird es heißen: „Thunder was crackling in the foothills now and the sky above them was purple-black. It was going to rain hard“ (Chandler 2011, 20 f.). Dies ist natürlich auch eine Vorausdeutung auf die sich überschlagenden, für einige Figuren tödlichen Ereignisse der nun folgenden Handlung. Das Wetter wird während der Ermittlungen von solchem harten Regen dominiert: „Rain filled the gutters and splashed knee-high off the pavement“ (Chandler 2011, 32). Nach den ersten Sätzen über Jahreszeit und Wetter beschreibt der Ich-Er‐ zähler seine Kleidung, er trägt einen Anzug mit Krawatte und stellt fest: „I was neat, clean, shaved and sober, and I didn’t care who knew it“ (ebd.). Dass er ausdrücklich betont, dass er sauber und vor allem nüchtern ist, deutet an, dass üblicherweise das Gegenteil der Fall ist. Und dass es ihm eigentlich egal ist, gehört zur Pose, die der Privatdetektiv Philip Marlowe den ganzen Roman über einnehmen wird, obwohl sein Insistieren auf seine 5.10 Chandlers The Big Sleep (1939) 169 <?page no="170"?> moralischen Maßstäbe, die er selbst gegen seinen von ihm geschätzen Klienten verteidigen wird, immer wieder die Sensibilität der Figur zeigen wird. Hartgesotten sind die Haltung und das Verhalten, nicht aber die Persönlichkeit. Der 33-jährige und allein lebende, früher für die Polizei arbeitende Marlowe (Chandler 2011, 9) wird zu General Guy Sternwood gerufen, der ihn beauftragt, einen Fall von Erpressung zu untersuchen. Zunächst trifft Marlowe auf dessen jüngste, etwa 20-jährige Tochter Carmen, die sich später nicht nur als kindhaft auftretende Nymphomanin (sie lutscht ständig am Daumen), sondern auch als nervenkranke und geistig minderbemittelte Mörderin ihres verschwundenen Schwagers herausstellen wird. Die von Marlowe beobachteten „sharp predatory teeth“ (Chandler 2011, 3) deuten ebenso darauf voraus wie ihr nicht gesund aussehendes Gesicht (ebd.) und ihr Verhalten. Interessanterweise wird die Persönlichkeitsspaltung der jungen Frau bereits gespiegelt vorweggenommen - Marlowe stellt sich ihr als „Doghouse Reilly“ vor (ebd.) und wird ihr gegenüber auch später, wenn sie weiß, dass er Marlowe heißt, diesen Namen verwenden (Chandler 2011, 169). Solche Zeichen sind allerdings erst zu deuten, wenn man den ganzen Roman kennt. Marlowe besucht den aus einer reichen Familie von Ölproduzenten stammenden General, offenbar der letzte männliche Familienerbe, in seinem Gewächshaus voller tropischer Orchideen. Auch hier wird durch die Wahl des Schauplatzes eine Atmosphäre der Vorausdeutungen erzeugt, etwa wenn der Erzähler findet, dass die Orchideen „nasty meaty leaves and stalks like the newly washed fingers of dead men“ hätten (Chandler 2011, 6). Auch der alte und im Rollstuhl sitzende, mehr tot als lebendig wirkende General hat eigentlich nichts für Orchideen übrig, er sitzt dort wegen der tropischen Wärme: „‚They are nasty things. Their flesh is too much like the flesh of men. And their perfume has the rotten sweetness of a prostitute‘“ (Chandler 2011, 8). Wieder dienen solche Assoziationen als unheilschwangere Vorausdeutungen und zur atmosphärischen, zugleich aber auch moralischen Charakterisierung jener Welt, in der sich Marlowe und die Figuren bewegen. Marlowe und der General sind sich, das zeigt bereits ihre übereinstim‐ mende Meinung zu Orchideen, trotz der äußerlich großen Verschiedenheit ähnlich. Marlowe ist jung, der General ist alt; Marlowe ist fit, der General sitzt im Rollstuhl; doch beide können miteinander reden, weil sie die ‚Herrschaft des Diskurses‘ (Foucault) nicht anerkennen. „,Do I have to be 5. Detektiverzählungen 170 <?page no="171"?> polite? ‘ I asked. ‚Or can I just be natural? ‘“ (Chandler 2011, 12), fragt Marlowe und der General antwortet sehr offen, etwa wenn es um seine beiden Töchter Carmen und Vivian und um seine Familie geht: „,Neither of them has any more moral sense than a cat. Neither have I. No Sternwood ever had‘“ (ebd.). Dabei ist der General genauso wenig hartgesotten wie der Detektiv, so hat er der Stadt seine alten Ölfelder gestiftet und sie vorher in einen öffentlichen Park umgewandelt (Chandler 2011, 20). Auch hat er seinen ‚Stolz‘ (Chandler 2011, 13), der ihn dazu bringt, Marlowe damit zu beauftragen, einen Mann namens Arthur Gwynn Geiger ausfindig zu machen und dafür zu sorgen, dass ihn dieser nicht erpresst. Geiger hat ihm offenbar von seiner Tochter Carmen unterschriebene Schuldscheine zukommen lassen und um deren Begleichung gebeten (Chandler 2011, 11). Für Philipp Marlowe ist es Ehrensache, nicht mehr als seine üblichen 25 Dollar am Tag plus Spesen zu verlangen und die prompte Erledigung des Auftrags in Aussicht zu stellen (Chandler 2011, 14). Immer wieder verweist er darauf, dass es für ihn eine Frage der Integrität ist, seinen Auftrag zu erfüllen: „,I don’t like it,‘ I said. ‚But what the hell am I to do? I’m on a case. I’m selling what I have to sell to make a living. What little guts and intelligence the Lord gave me and a willingness to get pushed around in order to protect a client‘“ (Chandler 2011, 123). Selbst die erotischen Angebote beider Sternwood-Töchter weist er zurück. „,You’re easy to take - too damned easy‘“ (Chandler 2011, 164), sagt er zu Vivian und die nackt auf dem Bett in seiner Wohnung liegende Carmen wirft er kurzerhand vor die Tür mit der Begründung, dies sei schließlich sein Zuhause und er müsse weiter hier mit seinen Erinnerungen leben können (Chandler 2011, 172). Das einzige Laster, das er sich erlaubt, ist sein Whisky-Konsum (vgl. Chandler 2011, z. B. 139). Der Fall stellt sich schnell als kompliziert dar, denn Marlowe wird gleich nach seinem Gespräch mit dem General von Vivian Regan, geb. Sternwood, gefragt, ob er beauftragt worden sei, ihren verschwundenen Ehemann zu suchen: „,Rusty was earthy and vulgar at times, but he was very real. And he was a lot of fun for Dad. Dad feels badly about it, although he won’t say so‘“ (Chandler 2011, 15). Am Ende des Romans wird sich herausstellen, dass Carmen ihn in einem psychotischen Schub ermordet hat. Der Roman spielt mit der doppelten Identität seiner Figuren - kaum jemand ist so, wie sie oder er zu sein scheint. Geiger gibt vor, mit seltenen Büchern zu handeln (Chandler 2011, 21), dabei verleiht er selbst angefertigte Sammlungen von Nacktfotos, mit denen er seine Klienten auch noch er‐ 5.10 Chandlers The Big Sleep (1939) 171 <?page no="172"?> presst. Wie er es geschafft hat, dass Carmen Sternwood für ihn posiert, bleibt offen; jedenfalls wird Geiger von Owen Taylor, einem früheren Liebhaber Carmens und dem ihr immer noch gewogenen Chauffeur der Sternwoods, erschossen, während sie nackt ‚Modell‘ sitzt (Chandler 2011, 38). Marlowe wird Ohrenzeuge des Geschehens und kann Carmen rechtzeitig in Sicher‐ heit bringen, allerdings verschwindet die Leiche und stattdessen wird später der tote Chauffeur in und mit dem Auto der Sternwoods aus der Bucht geborgen (Chandler 2011, 52 ff.). Eine als blond und gutaussehend beschriebene Frau, die später noch eine wichtige Rolle spielen wird, hält sich in dem vorgeblichen Antiquariat Geigers auf und versucht Marlowe abzuwimmeln (Chandler 2011, 23). Nach dem Tod Geigers versucht sie, die sich als Geigers Sekretärin Agnes Lozelle entpuppt (Chandler 2011, 129), zusammen mit Joe Brody, der den General bereits einmal erpresst hat, das Geschäft mit Pornographie fortzuführen. Allerdings wird Brody von Carol Lundgren, dem Lebensgefährten des schwulen Geiger, erschossen, weil dieser ihn fälschlicherweise für den Mörder seines Lebensgefährten hält (Chandler 2011, 104 ff.). Agnes beauftragt den kleinen, aber sympathischen Harry Jones damit, Philip Marlowe ein Angebot zu unterbreiten: Gegen die Zahlung von 200 Dollar erfährt er den Aufenthaltsort von Eddie Mars’ Frau Mona, die angeblich mit Rusty Regan durchgebrannt sein soll (Chandler 2011, 178 ff.). Der Gangster Mars, der hinter den Erpressungen die Fäden zieht, hat aber - weil er befürchtet, dass man ihn des Mordes an Rusty beschuldigen könnte (Chandler 2011, 244) - seinen Handlanger fürs Grobe mit Namen Lash Canino damit beauftragt, Mona an einen geheimen Ort zu bringen, so dass es aussieht, als sei sie mit Rusty durchgebrannt. Canino nimmt seine Aufgabe, auf sie aufzupassen und alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, auf tödliche Weise ernst - dazu gehört, dass er den von Marlowe gemochten Jones umbringt, indem er ihn mit Zyankali vergiftet (Chandler 2011, 191). Der Roman nutzt die Gelegenheit, Marlowe im Angesicht des Toten zeigen zu lassen, dass er gar nicht so hartgesotten ist, wie er tut: „,You died like a poisoned rat, Harry, but you are not a rat to me‘“ (Chandler 2011, 193). Freilich entbehrt diese Stelle nicht unfreiwilliger Komik - der Vergleich mit der Ratte lässt die Szene etwas lächerlich wirken. Marlowe findet den Aufenthaltsort von Mona, wird von Canino überwäl‐ tigt und von Mona befreit (Chandler 2011, 205 ff.); schließlich stellt er Canino und erschießt ihn (Chandler 2011, 220). Dem General erklärt er, dass er weiter ermittelt habe, weil er nicht der Meinung gewesen sei, dass er seinen 5. Detektiverzählungen 172 <?page no="173"?> Auftrag erfüllt habe - und tatsächlich beauftragt ihn der zuerst skeptische General mit weiteren Nachforschungen nach Rusty Regan, für die er ihm 1.000 Dollar bezahlen will (Chandler 2011, 232). Allerdings muss Marlowe feststellen, dass Carmen die Mörderin ihres Schwagers ist. Als er ihr ihre Waffe zurückgibt, bittet sie ihn, ihr das Schie‐ ßen beizubringen (Chandler 2011, 235). Dabei versucht sie ihn umzubringen. Marlowe hat vorher die Waffe mit Platzpatronen geladen, um sie zu testen (Chandler 2011, 238 ff.). Philip Marlowe bleibt am Ende seiner ritterlichen Gesinnung treu, indem er Vivian die Möglichkeit gibt, Carmen in eine Nervenheilanstalt einzuweisen, ohne dass das Verbrechen an Rusty offiziell aufgeklärt wird (Chandler 2011, 247 ff.). Das Ende ist insofern offen, als dass Marlowe verspricht, sich auch noch darum zu kümmern, dass Eddie Mars die Sternwoods nicht mehr erpresst (Chandler 2011, 250). Marlowe begegnet dem Geschehen wann immer möglich mit Distanz und Ironie, etwa wenn er vor Geigers Geschäft bemerkt - so gut wie immer im Selbstgespräch, in einem stream of consciousness: „I didn't know whether it was any good not being a collector of antiques, except unpaid bills“ (Chandler 2011, 22). Er verhält sich, wo immer er kann, kühl und bestimmt und wird deshalb auch, hier von Vivian Regan, als kalt beschrieben oder auch beschimpft: „,You’re as cold-blooded a beast as I ever met, Marlowe‘“ (Chandler 2011, 66). Allerdings gehört es zur Ambiguität des Romans, dass solche Äußerungen genauso Ausdruck von Bewunderung sein können. Schließlich versucht Vivian später vergeblich, ihn zu verführen: „,Hold me close, you beast‘, she said“ (Chandler 2011, 163). Subversiv ist zweifellos die Darstellung der Polizei gemeint, die aller‐ dings keine eindeutigen Zuweisungen von ‚gut‘ und ‚böse‘ zulässt. Bernie Ohls, der leitende Ermittler des Staatsanwalts (Chandler 2011, 46), ist mit Marlowe befreundet, versorgt ihn mit Informationen und hilft ihm bei der Zusammenarbeit mit den zuständigen Stellen. Kritisch, wenn auch eher schablonenhaft gezeichnet werden Taggart Wilde, der District Attorney, und Captain Cronjager (Chandler 2011, 114 ff.). Tatsächlich entspricht von dem, was die Polizei dann der Öffentlichkeit mitteilt, nur wenig der Wahrheit: „‚It was a nice write-up. It gave the impression that Geiger had been killed the night before, that Brody had been killed about an hour later, and that Captain Cronjager had solved both murders while lighting a cigarette‘“ (Chandler 2011, 129). Der nasse Tod des Chauffeurs wird als Selbstmord ausgegeben (ebd.). 5.10 Chandlers The Big Sleep (1939) 173 <?page no="174"?> Wenn Marlowe zweimal Captain Gregory von der Vermisstenstelle der Polizei aufsucht, schöpft er Misstrauen gegenüber dem Beamten, der mög‐ licherweise geholfen hat, das Verschwinden von Mona Mars zu vertuschen. Seine Beteiligung wird aber bis zum Schluss nicht nachgewiesen und nur angedeutet. Gregory darf immerhin einen der entscheidenden Sätze des Romans sagen. Er sei nur ein einfacher Polizist: „,Reasonably honest. As honest as you could expect a man to be in a world where it’s out of style‘“ (Chandler 2011, 222). Die subversive Kritik trifft also vor allem die Mächtigen, und das auf durchaus differenzierte Weise, schließlich wird der General ebenso wie sein ihm treu ergebener Butler Norris positiv gezeichnet. Seine Töchter aber veranlassen Marlowe zu folgendem Ausbruch: „To hell with the rich. They made me sick“ (Chandler 2011, 70). Der eigentliche Gangster des Romans, Eddie Mars, wird als - wie man heute sagen würde - gut vernetzt beschrieben: „‚The Cypress Club at Las Olindas. Flash gambling for flash people. The local law in your pocket and a well-greased line into LA. In other words, protection‘“ (Chandler 2011, 78). Der Roman bricht Tabus, auch und gerade in Fragen der political correctness. Dabei kommt es zu Tabubrüchen, die sich heute als weniger positiv darstellen. Problematisch ist beispielsweise die Beschreibung einer männlichen jüdischen Figur, die einen Ring von neun Carat an ihrer rechten Hand trägt (Chandler 2011, 22). Hier wird das Klischee des reichen Juden bemüht. Der Lebensgefährte des toten Geiger wird ebenso negativ gezeichnet wie der Tote, etwa indem der Ich-Erzähler die Schläge des jungen Mannes wie folgt kommentiert: „It was meant to be a hard one, but a pansy has no iron in his bones, whatever he looks like“ (Chandler 2011, 109). Angesichts der vom Roman als moralisches Vorbild ausgegebenen Detektivfigur kann ein solches Klischee von Schwulsein auch nicht mehr durch den Hinweis auf die personale Erzählperspektive relativiert werden. Der Roman ist an dieser Stelle eindeutig diskriminierend. Selbst wenn der Diskurs der Zeit Homosexualität nicht nur stigmatisiert, sondern unter Strafe stellt (als Hinweis darauf heißt es an anderer Stelle: „He was afraid of the police, of course, being what he is“; Chandler 2011, 119), hat die Literatur schon lange vorher andere Texte aufzuweisen, die sich über solche Diskriminierungen hinwegsetzen. Das Frauenbild des Romans ist weitgehend als ‚chauvinistisch‘ zu klassifizieren, etwa wenn Marlowe beim ersten Anblick von Vivian Regan feststellt: „‚She was worth a stare. She was trouble‘“ (Chandler 2011, 16). 5. Detektiverzählungen 174 <?page no="175"?> Später meint Marlowe, Vivian auf den reinen erotischen Genuss reduzie‐ rend: „‚She’d made a jazzy weekend, but she’d be wearing for a steady diet‘“ (Chandler 2011, 137). Als Marlowe Carmen nackt bei Geiger entdeckt, heißt es: „She had a beautiful body, small, lithe, compact, firm, rounded. Her skin in the lamplight had the shimmering lustre of a pearl“ (Chandler 2011, 38). Später wünscht Marlowe Carmen zwar einen Mann, der sie besser behandelt, doch auch diese Bemerkung reduziert die Frau auf einen Objektstatus, insbesondere der Vergleich mit dem Angeln spricht Bände: „,I hoped that the next grifter who dropped the hook on her would play her a little more smoothly, a little more for the long haul rather than the quick touch‘“ (Chandler 2011, 140). Seinen negativen Höhepunkt erreicht das Frauenbild, wenn Marlowe nach dem ungebeteten Besuch Carmen Sternwoods feststellt: „,You can have a hangover from other things than alcohol. I had one from women. Women made me sick‘“ (Chandler 2011, 174). Allerdings wäre es zu einfach, den Roman für ein misogynes Frauenbild abzustrafen, denn es gibt auch hier Ambivalenzen. Agnes Lozelle ver‐ schwindet mit 200 Dollar, um ein neues Leben anzufangen und Marlowe stellt nicht ohne Bewunderung fest: „Three men dead, Geiger, Brody, and Harry Jones, and the woman went riding off in the rain with my two hundred in her bag and not a mark on her“ (Chandler 2011, 197). Vivian Regan darf auf eine Äußerung Marlowes etwas durchaus Bedenkenswertes sagen: „,But strictly speaking a loogan is on the wrong side of the fence.‘ ‚I often wonder if there is a wrong side‘“ (Chandler 2011, 160). Auch hat sie ihre kleine Schwester beschützt, obwohl diese ihren Mann umgebracht hat. Frauenfiguren werden also häufig auf das Äußere reduziert und lassen sich oft auch selbst darauf reduzieren. Sie geben sich einerseits schwach und verführerisch, untreu und betrügerisch, werden andererseits aber auch wieder als selbstbewusst und integer geschildert. Dies gilt vor allem für die Frau von Eddie Mars, „a singer named Mona Grant“ (Chandler 2011, 179), die angeblich mit Terence ‚Rusty‘ Regan durchgebrannt sein soll (Chandler 2011, 65 u. 132). Sie wird in einer Krisensituation aktiv und rettet Marlowe das Leben (vgl. Chandler 2011, 213). Der zeigt sich im entscheidenden Moment, Angesicht zu Angesicht mit dem Killer Canino, schwach - er lässt die Möglichkeit vorübergehen, Canino zu überwältigen und will eigentlich nur wieder verschwinden, obwohl er sich solche Mühe gegeben hat, Monas Aufenthaltsort zu finden (vgl. Chandler 2011, 203 f.). 5.10 Chandlers The Big Sleep (1939) 175 <?page no="176"?> Auf ihre Weise ist Mona genauso integer wie Marlowe, etwa indem sie zu ihrem Mann hält, solange sie annehmen kann, dass er kein Mörder ist. Der letzte Gedanke des Detektivs und der letzte Satz des Romans sind Mona gewidmet - Marlowe bedauert, dass er sie nie wiedersehen wird (Chandler 2011, 251). Positiv hervorzuheben sind die Selbstironie und die oft damit verbundene Metafiktionalität des Romans. Als Marlowe seinen Scheck über 500 Dollar erhalten hat und den Fall abschließen könnte, beschließt er, Eddie Mars aufzusuchen, weil er mehr über den Verbleib von Rusty Regan erfahren möchte: „The smart thing for me to do was to take another drink and forget the whole mess. That being the obviously smart thing to do, I called Eddie Mars and told him I was coming down to Las Olindas that evening to talk to him. That was how smart I was“ (Chandler 2011, 141). Als Vivian Regan Philip Marlowe kennenlernt, heißt es: „,So you’re a private detective,‘ she said. ‚I didn’t know they really existed, except in books‘“ (Chandler 2011, 17). Geiger trägt einen „Charlie Chan moustache“ (Chandler 2011, 30). Den Gangster Joe Brody beschreibt der Ich-Erzähler wie folgt: „His voice was the eleborately casual voice of the tough guy in pictures. Pictures have made them all like that“ (Chandler 2011, 85). Ähnlich heißt es über den Killer Canino, dass er seine Fingernägel in einer Weise studierte „as Hollywood has taught it should be done“ (Chandler 2011, 202). Die selbstironische Metafiktionalität wird auch durch intertextuelle Verweise erzeugt, etwa wenn Marlowe die junge Carmen in seinem Bett findet und vermutet: „,You came through the keyhole, just like Peter Pan.‘ ‚Who’s he? ‘ ‚Oh, a fellow I used to know around the poolroom‘“ (Chandler 2011, 168). Als General Sternwood ihn für seine Vorgehensweise kritisiert, stellt Marlowe fest: „,I’m not Sherlock Holmes or Philo Vance. I don’t expect to go over ground the police have covered and pick up a broken pen point and build a case from it‘“ (Chandler 2011, 231). Vivian Regan besucht Marlowe in seinem Büro und bemerkt, weil sie lange hat warten müssen: „,I was beginning to think perhaps you worked in bed, like Marcel Proust.‘ ‚Who is he? ‘ I put a cigarette in my mouth and stared at her. […] ‚A French writer, a connoisseur in degenerates. You wouldn’t know him.‘ ‚Tut, tut‘, I said“ (Chandler 2011, 60). Marlowe ist belesen genug, die Unkenntnis vielleicht nur zu spielen; Vivian Regan ist sarkastisch genug, ihm zu unterstellen, dass er Autoren mit einem Faible fürs Degenerierte 5. Detektiverzählungen 176 <?page no="177"?> nicht kennt - und eigentlich das Gegenteil zu meinen. Dialoge wie dieser öffnen interessante Assoziationsspielräume. 5.11 Marlowe im Film: The Big Sleep (1946) Für Chandlers dauerhafte Berühmtheit sorgte nicht zuletzt dieser Film (Hiney 1998, 161) mit dem deutschen Titel Tote schlafen fest, ein „echter Kultfilm“ ( Just 1999, 780), bei dem Howard Hawks Regie führte und der mit Humphrey Bogart als Philip Marlowe auch aus Chandlers Sicht ideal besetzt war (Hiney 1998, 161). Nicht weniger überzeugend spielte an Bogarts Seite Lauren Bacall, die beiden waren seit kurzer Zeit privat ein (Ehe-)Paar und der Regisseur nutzte die Anziehungskraft zwischen ihnen für seinen Film: „Although mention of drugs, nymphomania, and pornography were dropped, the eroticism was instead re-created through double-entendre banter between Bogart and Lauren Bacall“ (Hiney 1998, 162). Spätere Verfilmungen blieben stets im Schatten dieses im kollektiven Filmgedächtnis verankerten Werks: Howard Hawks’ Verfilmung […] gehört zu den beispielhaften Werken der ‚Schwarzen Serie‘ Hollywoods und spiegelt - indem sie ein Klima der allgegen‐ wärtigen Bedrohung, Amoralität und Korruption evoziert - die gesellschaftlichen Umbrüche im Amerika der vierziger Jahre. (Brüne 1991, Bd. 8, 3863 f.; vgl. auch Hiney 1998, 280) Bogart war, nach langen Jahren in der dritten oder zweiten Reihe auf der Bühne und im Film, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten bereits eine Berühmtheit und er ist es auch geblieben: „1999 wählte ihn das American Film Institute zum ‚größten männlichen amerikanischen Filmstar aller Zeiten‘“, so Wikipedia (Stand: 11.04.2020). Sein endgültiger Durchbruch kam mit der Rolle des Privatdetektivs Sam Spade in der Verfilmung von Dashiell Hammetts klassischem Hard-boiled-Krimi The Maltese Falcon (dt. Der Malteser Falke; 1930; die Verfilmung von 1941 trägt den deutschen Titel Die Spur des Falken); mit diesem John-Huston-Film (Drehbuch und Regie) beginnt die Richtung des Film noir. 5.11 Marlowe im Film: The Big Sleep (1946) 177 <?page no="178"?> Abb. 5.6: Lauren Bacall und Humphrey Bogart in The Big Sleep (1946). Auch für The Big Sleep zitiert Wikipedia einen Superlativ: „Laut Steven Jay Schneider habe das Werk das Anrecht darauf, der größte Kriminalfilm aller Zeiten genannt zu werden, auch wenn die Handlung sehr verwickelt sei“ (Stand: 11.04.2020). Für das Drehbuch zeichnete, neben zwei anderen, kein Geringerer als William Faulkner verantwortlich (Tote schlafen fest 2016, 0: 0: 40). Dabei orientiert sich der gesprochene Text stark an den Dialogen des Romans. Auch in der Handlung gibt es (von Kleinigkeiten abgesehen: so ist Marlowe im Roman 33, im Film 38, dabei war Bogart bereits 46; The Big Sleep 2016, 0: 04: 18) vergleichsweise wenige, dafür aber signifikante Veränderungen. Die Rolle von Lauren Bacall als Vivian wird stark aufge‐ wertet, sie kommt in zahlreichen Szenen vor, in denen Marlowe im Roman allein auftritt. Der vermisste Regan ist nun nicht mehr ihr Exmann, sondern ein guter Freund und Angestellter ihres Vaters mit Vornamen Shawn, den Marlowe von früher her kennt (Tote schlafen fest 2016, 0: 05: 19ff.). Vivian heißt nun Rutledge, sie ist von dem Mann, den sie zwei Jahre vorher geheiratet hat (und über den man nichts weiter erfährt), getrennt oder geschieden (vgl. The Big Sleep 2016, 0: 04: 48ff.). Damit Vivian und Marlowe zusammenkommen können, wird die Anziehungskraft von Agnes und Mona auf Marlowe deutlich abgewertet. Am Ende ist es Vivian und nicht Mona, die Marlowe hilft, Canino zu erschießen, bevor dieser ihn töten kann (Tote schlafen fest 2016, 1: 42: 48ff.). Filmtypische Szenen nehmen breiten Raum ein, die den Erwartungen der Zuschauer*innen entgegenkommen, etwa die 5. Detektiverzählungen 178 <?page no="179"?> Verfolgungsjagd mit Schießerei von Marlowe und Lundgren (Tote schlafen fest 2016, 0: 56: 43) oder die Gesangseinlage von Vivian (Tote schlafen fest 2016, 1: 06: 49ff.). Die beiden wichtigsten Fragen, die der Roman offengelassen hat, werden weitgehend beantwortet. Es scheint evident, dass der windige Joe Brody den Chauffeur getötet hat, auch wenn er es abstreitet (Tote schlafen fest 2016, 0: 54: 12ff.). Eddie Mars, der von Carmens Tat wusste (wie und wo genau sie Regan getötet hat, wird nicht mehr gesagt oder gezeigt), hat Vivian und die Familie Sternwood erpresst und wird am Ende das Opfer der Falle, in die er Philip Marlowe locken wollte (Tote schlafen fest 2016, 1: 46: 25). Der Film gönnt den Zuschauer*innen ein Happy End. Statt des am Romanende offenbar mit einer Mischung aus Sehnsucht und Bewunderung an Mona denkenden, allein bleibenden Detektivs dürfen sich im Film Vivian Rutledge und Philip Marlowe ihre Liebe gestehen (Tote schlafen fest 2016, 1: 44: 34ff.) und sogar ein Paar werden. Als Marlowe sie, vor dem akustischen Hinter‐ grund sich nähernder Polizeisirenen, fragt: „What’s wrong with you? “, antwortet sie: „Nothing you can’t fix“ (Tote schlafen fest 2016, 1: 53: 30ff.). Marlowe wird der Polizei eine Geschichte mit Eddie und Canino als Mördern auch von Shawn Regan erzählen, die es ermöglicht, die tatsächliche Mörde‐ rin von Shawn, Carmen, in einer Nervenheilanstalt unterzubringen, und Vivian ist ihrer Sorge enthoben, ständig auf die Schwester aufpassen und die von ihr verursachten Probleme regeln zu müssen. Allerdings entstehen bei der Drehbucharbeit zwei neue konzeptionelle Probleme, verursacht durch die Zensur: Die homosexuelle Beziehung zwi‐ schen Geiger und Lundgren, die Lundgrens Ermordung von Brody recht‐ fertigt, ist ebenso der Schere zum Opfer gefallen wie Geigers Handel mit Pornographie (Töteberg 2005, 73). Carmen Sternwood wird von Philip Mar‐ lowe bei der Leiche und vor der Kamera nicht nackt aufgefunden, sondern bestenfalls leicht bekleidet (Tote schlafen fest 2016, 0: 21: 44) und es bleibt das Geheimnis des Films, weshalb die so aufgenommenen Fotos einen Skandal verursachen könnten. Von der subversiven Kritik an der Polizei bleibt nicht viel übrig, abgesehen von der Bemerkung des Generals Marlowe gegenüber zum Geruch der Orchideen: „Their perfume has the rotten sweetness of corruption“ (Tote schlafen fest 2016, 0: 04: 09), oder Marlowes Bemerkung dem General gegenüber, er sei wegen „insubordination“ aus der Polizei entlassen worden (Tote schlafen fest 2016, 0: 04: 32). Marlowes Freund Bernie Ohls wirkt integer und kompetent. Die anderen, die öffentliche Ordnung repräsentierenden Figuren des Romans kommen im Film nicht vor. Dennoch 5.11 Marlowe im Film: The Big Sleep (1946) 179 <?page no="180"?> bleibt Marlowe als Repräsentant der Moral erhalten, etwa wenn er Vivian gegenüber seine ärmliche Büroeinrichtung rechtfertigt mit den Worten, dass man, wenn man ehrlich ist, in dem Geschäft nicht viel verdienen kann: „There isn’t much in this business if you’re honest“ (Tote schlafen fest 2016, 0: 32: 45f.). Das Frauenbild des Films ist nicht weniger problematisch als das des Romans, auch wenn Bacalls Leistung ein starkes Gegengewicht darstellt und die Inszenierung oft bewusst überzeichnet wirkt. Jede Frau, der Marlowe begegnet, reagiert auf ihn, als sei er ein unwiderstehliches Sexobjekt. Nun ist Bogart trotz seiner drei Ehen wohl eher ein Charakterdarsteller und sieht nicht aus wie Cary Grant (der es sogar auf acht Ehen brachte) oder Sean Connery (der 1999 vom People Magazine zum ‚Sexiest Man of the Century‘ gewählt wurde). Mit der geringen Größe Bogarts spielt der Film gleich am Anfang auf selbstironische Weise, wenn Carmen Sternwood Marlowe, als sie ihn zum ersten Mal sieht, sofort fragt: „You’re not very tall, are you? “ (Tote schlafen fest 2016, 0: 01: 46), und Marlowe, an sich herabsehend, erwidert: „Well, I try to be“ (Tote schlafen fest 2016, 0: 01: 50). Carmen setzt auch gleich hinzu, ihn abschätzend betrachtend: „Not bad looking though you probably know it“ (Tote schlafen fest 2016, 0: 01: 54ff.). So etabliert der Film den Status der Figur als Sexobjekt gegen die oder gerade wegen der offensichtlichen Abweichungen vom Schönheitsideal. Das ironische Spiel der Geschlechter hat in Hollywood-Filmen eine lange Tradition und findet sich auch hier in der einerseits selbstbewussten, andererseits selbstironischen Zeichnung des Chauvinisten, etwa wenn Mar‐ lowe der blonden Bibliothekarin gegenüber, die sich über sein Interesse an Erstausgaben wundert (er recherchiert für seinen Besuch bei Geiger), feststellt: „I collect blondes in bottles, too“ (Tote schlafen fest 2016, 0: 13: 40). Und als Marlowe einer jungen Taxifahrerin, die gleich mit ihm zu flirten begonnen hat, ein Trinkgeld gibt mit der Bemerkung, sie solle sich davon eine Zigarre kaufen, gibt sie ihm ihre Visitenkarte mit der doppeldeutigen Bemerkung, wenn er sie wieder einmal gebrauchen könne, solle er sie anrufen; vorzugsweise nachts, da sie tagsüber ja arbeite (Tote schlafen fest 2016, 0: 39: 58ff.). Neu ist die angedeutete amoröse Beziehung zwischen Marlowe und der sehr jung aussehenden und wie fast alle weiblichen Figuren koketten Antiquarin aus dem Laden gegenüber, die er nach Geiger ausfragt und auf dessen Ankunft er bei ihr wartet. Sie schließt sogar den Laden, um mit Marlowe allein sein zu können (Tote schlafen fest 2016, 5. Detektiverzählungen 180 <?page no="181"?> 0: 17: 30). Was die beiden während der Wartezeit im Hinterzimmer tun, bleibt der Fantasie der Zuschauer*innen überlassen. Bemerkenswert ist vielleicht weniger, was der Film verändert als das, was er beibehält. So stellt sich auch am Anfang des Films Marlowe Carmen Sternwood gegenüber gleich als „Doghouse Reilly“ vor und die kindhaft-kokett das Haar in den Mund nehmende Carmen erwidert: „That is a funny kind of name“ (Tote schlafen fest 2016, 0: 01: 51ff.). Auch hier wird also schon ganz am Anfang auf die Persönlichkeitsspaltung Carmens wie auf die Doppelbödigkeit und Scheinheiligkeit der gezeigten ‚Realität‘ hingewiesen. Neben der (selbst-)ironischen wird auch die metafiktionale Ebene beibehalten. So stellt Vivian Marlowe gegenüber fest: „So your’re a private detective? I didn’t know they existed, except in books“ (Tote schlafen fest 2016, 0: 10: 08ff.). Auch die Dialoge mit Vivian über Marcel Proust (Tote schlafen fest 2016, 0: 32: 28) und mit Carmen über Peter Pan (Tote schlafen fest 2016, 1: 17: 28) bleiben im Skript erhalten. Das theatererprobte schauspielerische Können insbesondere Bogarts und Bacalls, die geschliffenen Dialoge und die besondere, durch das Schwarz‐ weiße des Films (das zu der Zeit des beginnenden und teuren Farbfilms freilich noch der Standard war) unterstützte Atmosphäre machen den Film zweifellos nicht nur zu einer gelungenen ‚Übersetzung’ eines bedeutenden Romans in das Medium Film, sondern auch zu einer eigenständigen und sehenswerten Leistung. 5.12 Requiem für den Detektiv: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958) Das nun folgende Beispiel ist in doppelter Hinsicht besonders bemerkens‐ wert: Die Verfilmung wurde vor dem Roman geplant und der Roman hat eine gegenläufige Tendenz, wenn es um die Bedeutung und Bewertung der Figur des Detektivs geht. Die Hintergründe stellen sich so dar: „1957 bestellte der Filmproduzent Lazar Wechsler bei Dürrenmatt eine Filmerzählung zum Thema Sexualverbrechen an Kindern. Das Thema war akut. Der Spielfilm sollte Eltern und Kinder vor der zunehmenden Gefahr warnen“ (Goertz 1998, 76; die genauen Entstehungsbedingungen von Film und Roman finden sich bei Möbert 2011). Friedrich Dürrenmatt schrieb zuerst eine „Erzählung“ als „Vorfassung des Romans“, der kurz darauf entstehen sollte (Dürrenmatt 2005, 156). In Zusammenarbeit vor allem mit Filmregisseur Ladislao Vajda 5.12 Requiem für den Detektiv: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958) 181 <?page no="182"?> wurde aus der Erzählung das Drehbuch für den Spielfilm Es geschah am hellichten Tag, wobei der Titel nicht Dürrenmatts Zustimmung fand: Der Filmemacher Vajda arbeitete zwei Monate lang mit Dürrenmatt am Dreh‐ buch, dann gewann der Produzent Heinz Rühmann als Hauptdarsteller. Dieser setzte durch, dass der bewährte Autor Hans Jacoby, der bis zu diesem Zeitpunkt bereits 200 Drehbücher verfasst hatte, das Drehbuch nach Rühmanns Wünschen umschrieb. Der von Vajda gedrehte Film kam 1958 unter dem Namen Es geschah am hellichten Tag in die Kinos. Dürrenmatt selbst hatte sich im Nachwort von diesem Titel distanziert; sein eigner Vorschlag „Gott schlief an einem Nachmittag“ (franz. „Dieu a dormi un après-midi“) war aber nicht akzeptiert worden. (Grimm 2008, 158 f.) Auch beim Schluss beugte sich Dürrenmatt den Erwartungen des Regisseurs und der anderen Beteiligten am Film, denn der Roman endet nicht - anders als der Film - mit der Ergreifung des Täters. Der Roman ist eine Korrektur des Films, weil Dürrenmatt zwar nicht an der guten Absicht des Films zweifelte (vor Kinderschändern zu warnen), seine geradlinige Konstruktion aber für naiv und die künstlerische Qualität für gering hielt. Deshalb gab er dem Roman auch den Untertitel „Requiem auf den Kriminalroman“. Dürrenmatt hatte bereits Erfahrung mit dem Schreiben von Kriminal- und Detektivromanen. Der von Finanznöten geplagte Familienvater hatte sich um „des Geldes willen“ auf das Genre verlegt (Goertz 1998, 33). Die beiden zuerst erschienenen Genre-Romane mit dem alternden Kommissär Hans Bärlach aus Bern gehören zu den kanonischen deutschsprachigen Romanen des 20. Jahrhunderts. Schon in diesen beiden Romanen stellt Dürrenmatt die Frage, ob das etablierte Schema des Kriminalromans aufgeht. In Der Richter und sein Henker von 1950/ 51 wird Hans Bärlach selbst schuldig, um die beiden Mörder Gastmann und Tschanz zu überführen, dabei nimmt er nicht nur deren Tod, sondern auch den Tod von zwei anderen Männern, die für Gastmann gearbeitet haben, in Kauf. Von 1951/ 52 und als Fortsetzung angelegt ist der Roman Der Verdacht. Bärlach hat eine Krebsoperation überstanden und erfährt von seinem Freund, dem Arzt Samuel Hungertobel, von einem NS-Kriegsverbrecher. Ein Arzt namens Nehle hat im Konzentra‐ tionslager Stutthof bei Danzig Häftlinge ohne Narkose operiert, gefoltert und getötet. Er ist aber nicht, wie angenommen, 1945 durch Selbstmord umgekommen. Der Arzt Fritz Emmenberger, der sich angeblich während des Krieges in Chile aufhielt, stellt sich als der Arzt heraus, der unter dem Namen Nehle die grausamen Experimente durchführte. Er bringt den für Bärlach 5. Detektiverzählungen 182 <?page no="183"?> arbeitenden Journalisten Fortschig um und will auch Bärlach töten, der sich unvorsichtigerweise in seiner Klinik in seine Hände begeben hat. Im letzten Moment wird Bärlach von Gulliver gerettet, der eines der überlebenden Opfer aus Stutthof ist. Anders als in Der Richter und sein Henker hat Bärlach keine Kontrolle mehr über die Situation und überlebt nur durch Zufall. Der ‚Kommissar Zufall‘ spielt auch in der doppelten Konzeption von Es geschah am hellichten Tag und Das Versprechen die zentrale Rolle, allerdings wird dies im Film weniger deutlich, während der Roman explizit darauf hinweist. Im Film kann Matthäi, obwohl er die Kontrolle über die Situation zu verlieren scheint, den Täter gerade noch überführen; doch hätte das ihm anvertraute Mädchen durchaus zum Opfer des Kindermörders werden können. Im Roman wird der Täter zufällig, bevor er in die von Matthäi aufgestellte Falle tappen kann, durch einen Verkehrsunfall getötet und nur durch die ‚Beichte‘ der Frau des Täters auf dem Sterbebett kann der Fall noch aufgeklärt werden - zu spät für Matthäi, der zum teilnahmslosen Alkoholiker geworden ist. Der Roman unterscheidet sich vom Film bereits durch eine metafiktionale Rahmenerzählung. Der pensionierte Kommandant der Kantonspolizei Zürich, ein „Dr. H.“ (Dürrenmatt 2005, 6), der außerdem „Nationalrat“ ist (Dürrenmatt 2011, 11), trifft an der Bar eines Hotels einen namenlosen Schriftsteller, bei dem es sich um ein Alter ego Dürrenmatts handelt. Der hohe Beamte erzählt nun dem Schriftsteller eine Geschichte - eben jene von seinem ehemaligen Kommissär Matthäi und dem Versuch, einen Kin‐ dermörder zu fangen. Die Ironie der Rahmenhandlung wird auf mindestens zweifache Weise deutlich. Erstens ist der Binnenerzähler (der paradoxerweise nicht der Schriftsteller ist, also der Erzähler von Beruf, sondern ein Polizeikomman‐ dant a.D.) ein unzuverlässiger Erzähler, wie er selbst deutlich macht und wie durch seine Schilderungen immer wieder deutlich wird. Zweitens finden sich zahlreiche Übertreibungen und Zuspitzungen. Die ironische Erzählhaltung erstreckt sich sowohl auf die Rahmenhandlung als auch auf die Binnenerzählung mit dem Höhepunkt des Besuchs des Polizeikomman‐ danten bei der alten Dame, der Frau des Mörders, die von den Untaten ihres Mannes wusste und sie immer noch verhamlost. In der Binnenerzählung hat die Ironie allerdings eine etwas andere Funk‐ tion. Die Rahmenhandlung verweist, indem sie den Konstruktionscharakter der erzählten Welt offenlegt, auf die Konstruiertheit der außerliterarischen Realität und auf die Subjektivität von Wahrnehmung und Urteil. Die 5.12 Requiem für den Detektiv: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958) 183 <?page no="184"?> Binnenerzählung konzentriert sich am Beispiel der Mordermittlung darauf, immer wieder die Kontingenz des Geschehens vor Augen zu führen, vor allem durch den erwähnten Zufall. Dazu dienen überdies, wie noch zu zeigen sein wird, wichtige Kommentare des Binnenerzählers. Auf beiden Ebenen des Erzählens wird in Zweifel gezogen, ob Menschen überhaupt von sich aus ‚gut‘ sind und ob es ‚Gerechtigkeit‘ angesichts der Triebhaftigkeit und des Egoismus der gezeigten Figuren geben kann. Die ironische Metafiktionalität wird bereits durch den Gebrauch der Metaphorik und Symbolik deutlich, etwa bei den Jahreszeiten. Der Roman beginnt im „März dieses Jahres“, allerdings ist es ein kalter März, es „war alles vereist“ (Dürrenmatt 2005, 5). Als die ermordete Gritli Moser gefunden wird, herrscht eine „bösartige Wärme“, die „die Menschen kaum atmen“ lässt (Dürrenmatt 2005, 16). Dies gilt auch für Orts- und andere Bezeichnungen. Der Rahmenerzähler wohnt im „Hotel Steinbock nahe beim Bahnhof “ (Dürrenmatt 2005, 5). Der Kommandant a.D. fährt - wie könnte es angesichts seiner herausgehobenen Stellung und beruflichen Arroganz anders sein - einen „Opel Kapitän“ (Dürrenmatt 2005, 6). Die Ironisierung der Erzählerperspektive betrifft zuerst das Alter ego Dür‐ renmatts, den Rahmenerzähler. Dieser erklärt, dass er vor der (erfundenen) „Andreas-Dahinden-Gesellschaft in Chur über die Kunst, Kriminalromane zu schreiben, einen Vortrag zu halten“ hatte (Dürrenmatt 2005, 5). Allerdings sei der Vortrag, anders als die ebenfalls an dem Abend im Gymnasium statt‐ findende Lesung von „Emil Staiger über den späten Goethe“, nur „spärlich“ besucht gewesen. „Weder ich noch sonst jemand kam in Stimmung, und mehrere Einheimische verließen den Saal, bevor ich den Vortrag beendet hatte“ (ebd.). Die anwesenden Vorstandsmitglieder und Gymnasiallehrer wären „auch lieber beim späten Goethe gewesen“ (ebd.). Hier wird aber nicht nur der Erzähler mit seiner Erfolglosigkeit im (mündlichen) Erzählen ironisiert, sondern auch der seinerzeit berühmte Schweizer Germanist Emil Staiger, der mit der zitierten Formulierung mit Goethe in eins gesetzt wird. Weitere Spitzen erreicht die Ironie, wenn der Kommandant dem Schriftsteller mit brutaler Ehrlichkeit bescheinigt: „,Sie tragen ziemlich ungeschickt vor‘“ (Dürrenmatt 2005, 6), und wenn er ihm später unterstellt, er werde „eine Variante meiner Geschichte“ erzählen, die „erhebend ist und positiv, daß sie demnächst einfach erscheinen muß, als Roman oder als Film“ (Dürrenmatt 2005, 133). Dabei wertet der Binnener‐ zähler den Rahmenerzähler immer wieder ab, etwa wenn er meint, dass ihm 5. Detektiverzählungen 184 <?page no="185"?> „Max Frisch näher liegt“ (Dürrenmatt 2005, 134), also der neben Dürrenmatt andere zeitgenössische Schweizer Schriftsteller von Weltrang. Der Romananfang erinnert an den Anfang von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1912). Die Stimmung entspricht nicht der Jahreszeit des beginnenden Frühlings. Das Wetter, die Orte, die Menschen, alles deutet auf „Trostlosigkeit“ (Dürrenmatt 2005, 5) und auf Tod, die Stadt Chur beispielsweise erscheint als „unermeßliches Grab“ (Dürrenmatt 2005, 7). Es wird eine extrem negative Atmosphäre erzeugt, die zugleich die Erzählung selbst mit einschließt, hier durch eine Analogie: „Es ging wie in einem bösen Traume zu, wie verhext […]“ (ebd.). Als Matthäi sich bei dem Leiter einer psychiatrischen Klinik Rat holt, herrscht auf dem Anwesen eine „Totenstille“ (Dürrenmatt 2005, 72) und im Nebel werden die Konturen von „irgendeinem Monument oder Grabmal“ sichtbar (Dürrenmatt 2005, 74). Matthäi hat den Spitznamen „Matthäi am Letzten“ (Dürrenmatt 2005, 14), was als Redewendung soviel heißt wie ‚nicht mehr zu retten sein‘. Das Mädchen Annemarie, das Matthäi als Köder benutzt, singt später „Maria saß auf einem Stein“ (Dürrenmatt 2005, 123), eigentlich ‚Mariechen saß auf einem Stein‘, eine alte Volksballade von einem Kindermörder. Der Kommandant erzählt dem namenlosen Schriftsteller die Geschichte Matthäis auf eine ungewöhnliche Weise. Er fährt zunächst auf dem Weg von Chur nach Zürich an der Tankstelle vorbei, an der Matthäi arbeitet und er zeigt dem Autor so die aktuelle Situation. Bevor er mit der Erklärung beginnt, wen die beiden da gesehen haben und welche Geschichte sich dahinter verbirgt, erläutert er noch, welchen Unterschied er zwischen einem Krimi und der ‚wirklichen‘ „Welt“ (Dürrenmatt 2005, 13), also zwischen Fiktion und Realität sieht. An der Tankstelle im Tal sitzt „ein alter Mann auf einer Steinbank. Er war unrasiert und ungewaschen“, wirkt „verblödet“ und riecht nach „Schnaps“, das Pflaster vor ihm ist „mit Zigarrenstummeln bedeckt“ (Dürrenmatt 2005, 9). Kurios ist, dass der Mann eine alte und verdreckte Smokinghose trägt (ebd.). In der Tankstelle befindet sich eine kleine Wirtschaft, auf die „ein Wirtshausschild, eine rote Blechscheibe“ hinweist (ebd.). Das Rot deutet, wie die Erscheinung der älteren und der jüngeren Frau, bereits auf das Gewerbe der Prostitution; die Farbe deutet aber auch auf das später oft zitierte Märchen vom Rotkäppchen und auf Blut. Die Wirtsstube ist „armselig und dunkel“ und die beiden Frauen machen einen ähnlich verkommenen Eindruck wie der Mann vor der Tür. Die „schlampige Kellnerin“ mit „halb offene[r] Bluse“ sieht aus wie 30, ist aber erst 16 (Dürrenmatt 2005, 10). „Der 5.12 Requiem für den Detektiv: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958) 185 <?page no="186"?> Kaffee war entsetzlich“ (ebd.). Als sie die Tankstelle wieder verlassen, „ballte der Alte seine Hände zu Fäusten, schüttelte sie und flüsterte, die Worte ruckweise hervorstoßend, das Gesicht verklärt von einem unermeßlichen Glauben: ‚Ich warte, ich warte, er wird kommen, er wird kommen‘“ (Dür‐ renmatt 2005, 11). Dabei hatte der Kommandant ihn doch nach der zufälligen Aufklärung des Falles durch die Beichte der alten Frau Schrott besucht und versucht, ihm die Zusammenhänge zu erklären (Dürrenmatt 2005, 154). Die kuriose Szenerie (schließlich wissen die Leser*innen noch nicht, was dahintersteckt) soll neugierig machen und die folgenden Worte des Kommandanten können als Lesedirektive verstanden werden, die allerdings durch die noch zu Tage tretende Unzuverlässigkeit des Erzählers relativiert wird. Der Kommandant erklärt, es gebe keine „lausigere Hoffnung“ als die Hoffnung der Menschen, „daß wenigstens die Polizei die Welt zu ordnen verstehe“, und er beschuldigt pauschal alle Krimi-Autor*innen, damit „Schwindel“ zu betreiben (Dürrenmatt 2005, 11): „Denn dieses schöne Märchen ist wohl moralisch notwendig. Es gehört zu den staatserhaltenden Lügen, wie etwa auch der fromme Spruch, das Verbrechen lohne sich nicht - wobei man doch nur die menschliche Gesellschaft zu betrachten braucht, um die Wahrheit über diesen Punkt zu erfahren […].“ (Dürrenmatt 2005, 12) Krimi-Autor*innen wie sein Beifahrer auf dem Weg nach Zürich würden die „Handlungen logisch auf[bauen]; wie bei einem Schachspiel geht es zu, hier der Verbrecher, hier das Opfer“. Am Ende werde „der Gerechtigkeit zum Siege verholfen. Diese Fiktion macht mich wütend. Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen“ (Dürrenmatt 2005, 12). In der Realität werde „der Zufall“ wichtig, der in Romanen „keine Rolle“ spiele: „[…] und wenn etwas nach Zufall aussieht, ist es gleich Schicksal und Fügung gewesen; die Wahrheit wird seit jeher von euch Schriftstellern den dramaturgi‐ schen Regeln zum Fraß hingeworfen. Schickt diese Regeln endlich zum Teufel. Ein Geschehen kann schon deshalb nicht wie eine Rechnung aufgehen, weil wir nie alle notwendigen Faktoren kennen, sondern nur einige wenige, meist recht nebensächliche. Auch spielt das Zufällige, Unberechenbare, Inkommensurable eine zu große Rolle. Unsere Gesetze fußen nur auf Wahrscheinlichkeit, auf Statistik, nicht auf Kausalität, treffen nur im allgemeinen zu, nicht im besonderen. Der Einzelne steht außerhalb der Berechnung.“ (Dürrenmatt 2005, 12 f.) In der Literatur werde „eine Welt“ gezeichnet, „die zu bewältigen ist. Diese Welt mag vollkommen sein, möglich, aber sie ist eine Lüge“ (Dürrenmatt 5. Detektiverzählungen 186 <?page no="187"?> 2005, 13). Dennoch gebe es keine Alternative, dass man in der Realität „eben trotzdem handeln“ müsse, „selbst wenn wir Gefahr laufen, falsch zu handeln“ (Dürenmatt 2005, 13 f.). Hier wird das Programm der literarischen Moderne seit etwa 1900 gegen das konservative Programm einer älteren Ästhetik gesetzt, die in der Trivial- oder Unterhaltungsliteratur bis heute gilt. Dass ausgerechnet ein Polizei‐ kommandant einem bekannten Schriftsteller erklärt, wie Literatur aussehen sollte, wenn sie nicht eine ‚staatserhaltende‘ „Lüge“ sein will, ist natürlich hochironisch und gegen die weiterhin andauernde Tendenz der (Trivial-)Li‐ teratur gerichtet, die Rätselstruktur von Krimis so anzulegen, dass es am Ende eine Lösung gibt, die nicht, mit Brecht gesprochen, nach geschlosse‐ nem Vorhang noch alle Fragen offen lässt - um so die Rezipient*innen zur Reflexion darüber anzuregen, wie sie ihr eigenes Leben gestalten wollen, ohne von außen bereits vorgefertigte Muster übergestülpt zu bekommen. Dieses große und unabgeschlossene Programm der Literatur lässt sich auf den Begriff der (individuellen) Freiheit bringen (vgl. Neuhaus 2017a). Hier wird auch deutlich, dass die Figur des Rahmenerzählers von Dürrenmatt zu unterscheiden ist, der ja bereits Kriminalromane veröffentlicht hatte, in denen die Kontingenz von Wahrnehmung und Ereignis wichtig werden - auch wenn sie in diesem Roman nun zentral gesetzt sind. Um es vorwegzunehmen: Das hier entwickelte kritische Programm eines Anti-Krimis ist nicht ganz stimmig. Am Ende wird zwar nicht Matthäi wissen, wie die Lösung aussieht und dass er mit seiner Detektion vollkom‐ men recht gehabt hat, hätte nicht ein dummer Zufall das Erscheinen des Täters für immer verhindert. Aber die Leser*innen werden es wissen. Zwar geht die Gleichung für Matthäi nicht auf, aber er glaubt weiterhin daran, selbst in seinem ‚verblödeten‘ Zustand, und die Leser*innen, die klüger sind als er, wissen, dass er recht hat mit seinen logischen Schlüssen. Der Vorgang der Detektion führt zumindest zu einer befriedigenden Auflösung auf der Ebene der Lektüre (für eine andere Bewertung vgl. z. B. Knopf 1976, 58). Insofern ist auch Riedlinger nicht zuzustimmen, der befindet: „Durch sein konsequent negatives Ende verweigert der Autor dem Leser die übliche Befriedigung der klassischen Detektivgeschichten“ (Riedlinger 2007, 217). Abgesehen davon, dass hier nicht der Autor aktiv etwas vollbringt, sondern der Text im Akt der Rezeption: Die Leser*innen kennen die ganze Wahrheit, das Rätsel wird für sie gelöst. Es bleibt dennoch die zweifellos ernstzunehmende Kritik an der ‚üblichen‘ Krimihandlung bestehen, für die nun die Geschichte des Kommissärs Mat‐ 5.12 Requiem für den Detektiv: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958) 187 <?page no="188"?> thäi steht. Der brillante Beamte war „mein fähigster Mann“ und er sollte „vor nun bald neun Jahren“ (Dürrenmatt 2005, 14) im Alter von 50 Jahren nach Jordanien entsandt werden, um dort die Polizei zu reorganisieren (Dürrenmatt 2005, 15). Da Matthäi „am elften November 1903“ geboren wurde (Dürrenmatt 2005, 76), spielt die Binnenhandlung also 1954. Das würde aber bedeuten, dass die Rahmenhandlung - der Roman erschien 1958 - im Jahr 1961 und damit in der Zukunft angesiedelt ist. Gerade weil Matthäi von ‚überragendem‘ Verstand war, der „den Poli‐ zei-Apparat wie einen Rechenschieber“ (Dürrenmatt 2005, 14 f.) handhabte und „nichts im Kopf [hatte] als seinen Beruf “ (Dürrenmatt 2005, 15), kam er - der Einzelgänger, der zudem „keiner Partei angehörte“ - als möglicher „Nachfolger“ des Kommandanten nicht in Frage (ebd.). Der Bruch im Leben Matthäis wird aber nicht die Reise in ein ihm fremdes Land sein, die er nicht antreten wird, sondern dass er in einen „Fall verwickelt wurde, der ihn plötzlich leidenschaftlich werden ließ“ (ebd.). In Mägendorf ist die achtjährige Gritli Moser ermordet worden, jemand hat ihr die Kehle mit einem Rasiermesser durchgeschnitten. Ein Hausie‐ rer hat das Mädchen im Wald gefunden und die Polizei benachrichtigt (Dürrenmatt 2005, 16 ff.). Wie sich später herausstellt, ist es der „dritte[n] Kindermord dieser Art“, nach einer Tat vor fünf und einer weiteren vor zwei Jahren in anderen Kantonen (Dürrenmatt 2005, 39). „Richtiges Handeln war notwendig“ (Dürrenmatt 2005, 16) und Matthäi tut zwar eigentlich das Richtige, indem er den Hausierer vom Dorfpolizisten bewachen lässt. Es erweist sich aber in der konkreten Situation als unvorhersehbarer „Fehler“ (Dürrenmatt 2005, 17). Der Polizist vor Ort ist eine Urlaubsvertretung und er verhält sich so, dass er den Verdacht der Dorfbevölkerung auf den wegen eines Sittlichkeitsdelikts vorbestraften (ebd.) Hausierer lenkt. Allerdings ist die Frage, ob Matthäi dies nicht hätte voraussehen können, denn: „Hausierer sind immer verdächtig“ (Dürrenmatt 2005, 27). Einen interessanten Subtext (wie später, nur weniger raffiniert, in Nele Neuhaus’ Böser Wolf) bilden die intertextuellen Anspielungen auf Märchen, insbesondere auf Rotkäppchen. Als Gritli Moser im Wald ermordet wird, ist sie mit einem „Korb mit […] Brezeln“ (Dürrenmatt 2005, 23) auf dem Weg zu ihrer Großmutter (Dürrenmatt 2005, 24). Sie trägt ein „rote[s] Röcklein“ (Dürrenmatt 2005, 23). Die Treffen mit dem Täter haben im „Rotkehlertälchen“ stattgefunden (Dürrenmatt 2005, 70). Später wird Mat‐ thäi dem Mädchen Annemarie „Märchen“ erzählen, darunter „den ganzen 5. Detektiverzählungen 188 <?page no="189"?> Grimm“ (Dürrenmatt 2005, 108). Annemarie schließlich wird den Mörder als „Zauberer“ beschreiben (Dürrenmatt 2005, 113). Der durch die Todesnachricht geschockte Vater Gritlis meint zu Matthäi, ein „Beil in der Hand, als wollte er zuschlagen“, dass es „keine solche Teufel geben“ könne, während Matthäi bestätigt, dass es sie gebe (Dürrenmatt 2005, 25). Einerseits wird hier auf die für Märchen nicht ungewöhnliche Figur des Teufels angespielt, andererseits wird durch das Verhalten des Vaters - wie wenig später der Dorfbewohner, die den Hausierer lynchen wollen (Dürrenmatt 2005, 27 ff.) - Zweifel an einer einfachen Gut-Böse-Dichotomie gesät. Die religiösen Konnotationen setzen sich fort, so wird etwa die Grenze vom Märchen zur Legende überschritten, wenn die Mutter Matthäi das Versprechen abringt, den Täter zu fassen, und dies bei seiner „Seligkeit“ (Dürrenmatt 2005, 26) - eine der vielen Vorausdeutungen auf das für Matthäi böse Ende. Die Schilderung der Dorfgemeinschaft relativiert den Gegensatz von Gut und Böse weiter. Sie will „Rache, Gerechtigkeit“ (Dürrenmatt 2005, 28) - gerade diese Gleichsetzung stimmt bedenklich. Selbst der „Gemeindepräsi‐ dent“, der „ein kleiner, schwerer Mann mit ungesundem Aussehen“ ist, stellt sich auf die Seite des Lynchmobs. Matthäi stellt sich mit seinem Motto „Ordnung muss sein“ (Dürrenmatt 2005, 29) dagegen und er hat Erfolg: „Weil Matthäi sie ernst nahm, nahmen sie ihn auch ernst“ (Dürrenmatt 2005, 32). Das Verhör im Wirtshaus zeigt, dass die wenigen Zeugenaussagen wertlos sind und die Dorfbewohner sehen ein, dass sie nicht genug Beweise haben. Der Staatsanwalt sieht Matthäis Verhalten dennoch skeptisch, denn der Kommissär hatte den Dorfbewohnern versprochen, den Hausierer heraus‐ zugeben, sollten sie ihn von dessen Schuld überzeugen können: „‚Hoffentlich geben Sie nie ein Versprechen, das Sie einhalten müssen‘“ (Dürrenmatt 2005, 37). Wie unschwer zu erkennen ist, wird auch hier wieder auf den negativen Ausgang vorausgedeutet. Zunächst nimmt die Geschichte für den Hausierer ein schlechtes Ende. Obwohl der Polizei, wie Matthäi den Dorfbewohnern versichert hat, „ein Riesenapparat zur Verfügung“ steht (Dürrenmatt 2005, 36), legt sich Mat‐ thäis Nachfolger Heinzi früh auf den vorbestraften Hausierer als Täter fest, der sich beim Dauerverhör in Widersprüche verwickelt (Dürrenmatt 2005, 50 ff.). Daran ist der Kommandant nicht ganz unschuldig, weil er den Hausierer, obwohl er eigentlich ‚nur‘ ein Zeuge ist, „abführen“ lässt: „Vielleicht nicht ganz korrekt. Der Staatsanwalt hatte die Untersuchungshaft nicht angeordnet, doch hatten wir keine Zeit, zimperlich zu sein“ (Dürren‐ 5.12 Requiem für den Detektiv: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958) 189 <?page no="190"?> matt 2005, 40 f.). Dies ist einer der Hinweise auf die Unzuverlässigkeit des Binnenerzählers, der auch zu seinen Untergebenen sagt: „‚Ich glaube nicht, daß der Mann etwas mit dem Mord zu tun hat‘“ (Dürrenmatt 2005, 43). Der Kommandant beteiligt sich an den Recherchen vor Ort und besucht mit Matthäi die Schulklasse, in die Gritli Moser gegangen ist. Die „Kinder‐ zeichnungen“ an der Wand (Dürrenmatt 2005, 45) werden später noch eine wichtige Rolle spielen. Vorerst erzählt Gritlis beste Freundin Ursula, dass das tote Mädchen „einen Riesen getroffen“ habe, der „ganz schwarz“ gewesen sei (Dürrenmatt 2005, 47) und der Gritli ‚kleine Igel‘ gegeben habe, ein „Igelriese“ eben - so habe es ihr Gritli erzählt (Dürrenmatt 2005, 48). Auch hier wird die Erzählung märchenhaft, selbst wenn sich die ‚kleinen Igel‘ später als Schokoladentrüffel herausstellen (Dürrenmatt 2005, 117). Obwohl Matthäi angesichts des Fundortes der kleinen Leiche vermutet, dass es sich „um einen Automobilisten handeln“ müsse (Dürrenmatt 2005, 49), und obwohl er seinen Flug nach Jordanien nicht antritt, weil er einen Schwarm Kinder am Flughafen sieht (Dürrenmatt 2005, 62), unternimmt Matthäi nichts, um den Hausierer vor dem zu schützen, was zu seinem falschen, aus Zermürbung entstandenen Geständnis führt. Auch der Kom‐ mandant lässt das „zwanzig Stunden“ lange und eigentlich illegale (Dürren‐ matt 2005, 58) Verhör zu, wohl „weil ich endlich den Schuldigen zu finden hoffte“ (Dürrenmatt 2005, 53). Dass im Verhör Foltermethoden verwendet werden wie „die geschlossenen Fenster“, die bei all dem Rauch und den Anwesenden dazu führen, dass die Luft „zum Ersticken“ wird (Dürrenmatt 2005, 56), gehört zu den Faktoren, die das Geständnis als erpresst und wenig glaubwürdig erscheinen lassen. Der Hausierer „konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten“ (Dürrenmatt 2005, 59). Der Kommandant sagt zu Matthäi: „,Diese Methode hat Heinzi von Ihnen übernommen, Sie waren in Ihren Verhören auch so hartnäckig‘“ (ebd.). Beide haben ein „schlechtes Gewissen“ und müssen kurz darauf erfahren, dass sich der Hausierer in seiner Zelle erhängt hat (Dürrenmatt 2005, 60). Die Reaktionen darauf wirken wie Hohn: „Die Zeitungen hatten den Tod von Guntens schon berichtet; allgemein war man erleichtert. Die Gerechtigkeit hatte gesiegt“ (Dürrenmatt 2005, 61). Es sind die Kinder am Flughafen, die Matthäi - der von Gritlis Mutter bestätigt bekommt, er habe sein „Versprechen gehalten“ (ebd.) und der auf dem „Höhepunkt seiner Karriere“ steht (Dürrenmatt 2005, 62) - dazu bewegen, alles aufzugeben, um den wahren Täter zu fassen. Er sei geblieben, „um die Kinder zu schützen“, um künftige Morde durch den Täter zu verhindern, 5. Detektiverzählungen 190 <?page no="191"?> erklärt er dem Kommandanten (Dürrenmatt 2005, 65). Der versucht ihm die Sache auszureden. Der Täter sei gefasst und selbst wenn er nicht der Täter sei: Die Gefahr für die Kinder „müsse man hinnehmen“, bis „er, im schlimmsten Fall, bei seinem nächsten Verbrechen für uns brauchbare Spuren hinterlassen werde“ (Dürrenmatt 2005, 66). Man könne sich eben nie ganz sicher sein und jetzt an der Schuld des Hausierers zu zweifeln sei „reiner Dilettantismus“ (ebd.). Wenn der Kommandant noch hinzufügt, ein zu dichtes „Polizeinetz“ bedeute „einen Polizeistaat“ (Dürrenmatt 2005, 67), dann klingt das schon wie das Pfeifen im Walde - schließlich würden die ‚Methoden‘ zur Überführung des Hausierers durchaus zu einem Polizeistaat passen. Matthäi sieht ein, dass er offiziell nicht weiterkommt und scheidet aus dem Dienst aus, um den Täter ‚privat‘ (ebd.) weiter zu verfolgen. Dabei wird er, um in der Erzählung die Veränderung deutlich zu markieren, mit einem „Gespenst“ oder einem „Wiederauferstandene[n]“ verglichen (Dürrenmatt 2005, 68). Außerdem lässt er sich nun gehen, so beginnt er zu rauchen und exzessiv Alkohol zu trinken. Er ist „wie ausgewechselt“ (Dürrenmatt 2005, 71). Er fährt nach Mägendorf und wird von Ursula auf Gritlis Zeichnung des ‚Igelriesen‘ an der Wand im Schulzimmer hingewiesen (Dürrenmatt 2005, 70). In einer „Privatklinik“ (Dürrenmatt 2005, 72) holt er sich Rat bei dem Leiter, dem Psychiater Dr. Locher (Dürrenmatt 2005, 74 ff.). Auch der Psychiater, der vom Kommandanten angewiesen wurde, Matthäi „nach Symptomen einer beginnenden Erkrankung“ hin zu untersuchen (Dürrenmatt 2005, 78), ist ein „Sonderling“ und „Phantast“ (Dürrenmatt 2005, 79), so dass er schließlich für Matthäis Anliegen Verständnis zeigt und ihm hilft, die Psyche eines Kindermörders besser zu verstehen und die Kinderzeichnung zu deuten. Im Roman werden die Sonderlinge aufgewertet, wenn Matthäi zu Locher sagt: „ich habe genau hingeschaut und nicht weggeblickt wie mein Nach‐ folger Heinzi, der Normale“ (Dürrenmatt 2005, 81). Das Problem Matthäis besteht darin, dass er, wie er jetzt einsieht, zu lange ein ‚Homo faber‘ gewesen ist (eine Parallele zu dem Roman Homo faber von Dürrenmatts Schriftstellerkollegen Max Frisch aus dem Jahr 1957), „ein Routinier“, der die Welt „zwar bewältigen“ wollte, „aber nicht mit ihr leiden. Ich wollte ihr gegenüber überlegen bleiben, den Kopf nicht verlieren und sie beherrschen wie ein Techniker“ (ebd.). Dies sieht er nun als Fehler und der Versuch, den Mörder zu finden, kann als Akt der Wiedergutmachung gesehen werden. Allerdings ist Matthäi nicht konsequent, er lässt sich gehen und wird auf seine Weise ebenfalls ‚wahnsinnig‘. 5.12 Requiem für den Detektiv: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958) 191 <?page no="192"?> Die Zeichnung und der Psychiater helfen Matthäi zunächst weiter. Der Täter fährt einen „schwarzen amerikanischen Wagen“ (Dürrenmatt 2005, 84), er ist „mehr oder weniger schwachsinnig“, ist „zur Gewalttat neigend“ und hat „gegenüber den Frauen Minderwertigkeitskomplexe oder Impotenz“ (Dürrenmatt 2005, 86). Er ist auch kein ‚Lustmörder‘, denn die Kinder wurden nicht vergewaltigt: „,Weil der Mörder sich nicht an Frauen wagt, wagt er sich an kleine Mädchen. Er tötet sie anstelle der Frau‘“, an der er sich auf diese Weise „rächen“ möchte (Dürrenmatt 2005, 87). Er hat vermutlich eine Frau, die „eine höhere soziale Stellung“ einnimmt (Dürrenmatt 2005, 88). Und die Abstände zwischen den Taten „werden von Fall zu Fall geringer“ (ebd.). Weshalb sich der Psychiater „getäuscht“ fühlt (Dürrenmatt 2005, 90), weil Matthäi seine Vermutungen als konkrete Ausgangspunkte für seine weiteren Ermittlungen annimmt, ist nicht ganz ersichtlich; allerdings wird der Arzt auch mit der Prognose Recht behalten, dass Matthäi am Ende „nur noch der Wahnsinn bleibt“ (Dürrenmatt 2005, 91), wobei es ja nur ein dummer Zufall ist, der dafür sorgt, dass Matthäi nicht erfolgreich ist. Der Binnenerzähler erweist sich einmal mehr als unzuverlässig, indem er nach dem Bericht des Arztes an den bisherigen Ermittlungsergebnissen zweifelt und Matthäi insgeheim zustimmt (ebd.). Es lässt Zweifel an seiner moralischen Integrität und an der von Matthäi aufkommen, wenn der ehema‐ lige Kommissär seinem Kommandanten einige Zeit später berichtet, weshalb er eine Tankstelle in Graubünden zwischen Chur und Zürich gepachtet und eine Frau Heller, die ein Kind hat, als Haushälterin zu sich genommen hat (Dürrenmatt 2005, 93 ff.; 99 ff.). Matthäi benutzt das Kind als „Köder“ (Dürren‐ matt 2005, 104), um den Täter zu fangen. Auf dem Bild Gritli Mosers war ein Steinbock zu erkennen, der als „Wappentier Graubündens“ (Dürrenmatt 2005, 100) auf jedem Nummernschild abgebildet ist. Deshalb hat Matthäi die Tankstelle gepachtet - in der Hoffnung, dass der Täter hier auf das Mädchen aufmerksam wird. Dass er nicht nur das Mädchen in Gefahr bringt, sondern auch seine Mutter benutzt, die - wie der Kommandant vermutet - sich vielleicht erstmals in ihrem Leben bei ihm „geborgen“ fühlt und sich „Hoffnungen“ macht (Dürrenmatt 2005, 110), spielt für ihn keine Rolle. Wenn der Kommandant Matthäi fragt, ob er nicht „eine Teufelei“ begehe, und der Angesprochene erwidert, dies sei ‚möglich‘ (Dürrenmatt 2005, 105), dann wird hier eine Parallele zu der Szene mit dem Vater des Mädchens und seiner Frage sichtbar, ob es denn ‚solche Teufel‘ gebe. Matthäi begibt sich auf die Seite des ‚Bösen‘ und der Kommandant billigt es nicht nur, er befindet sogar: „[…] seine Methode war ungewöhnlich, hatte etwas Grandioses. Ich 5. Detektiverzählungen 192 <?page no="193"?> bewunderte ihn auf einmal, wünschte ihm Erfolg, wenn auch vielleicht nur, um den gräßlichen Heinzi zu demütigen“ (Dürrenmatt 2005, 106). Zum Konzept des unzuverlässigen Erzählers gehört auch, dass der Kom‐ mandant nicht schlau genug ist, Matthäis Plan sofort zu durchschauen, als er das Mädchen Annemarie das erste Mal bei ihm sieht, „sieben- oder achtjäh‐ rig, eine Puppe im Arm. Es war blondzöpfig und hatte ein rotes Röcklein an. Das Kind kam mir bekannt vor, doch wußte ich nicht, weshalb“ (Dürrenmatt 2005, 97). Die einigermaßen aufmerksamen Leser*innen wissen, auch bevor Matthäi es dem Kommandanten erklärt, dass das Mädchen den bisherigen Opfern zum Verwechseln ähnlich sieht. Matthäi und seine Kollegen degenerieren auf der Jagd nach dem Mörder selbst zu erst gewaltbereiten, dann zu gewalttätigen Männern, die sogar vor einem kleinen Kind nicht haltmachen. Zunächst stellt sich Matthäi vor, wie es auf der Lichtung im Wald, auf der sich Annemarie aufhält, „[…] zum wilden blutigen Kampfe von Mann zu Mann käme, zur Entscheidung, zur Erlösung, und wie der Mörder dann vor ihm liegen würde, zerschlagen, winselnd, gestehend“ (Dürrenmatt 2005, 109). Es zählt für Matthäi nur noch, den Täter zur Strecke zu bringen, „alles andere war ihm gleichgültig geworden“ (Dürrenmatt 2005, 114). Als Matthäi die Trüffel findet, die der Mörder dem Mädchen geschenkt hat, ist er überzeugt, dass die Falle zuschnappen wird, und er kann auch den Kommandanten überzeugen: „,[…] der Mörder gab dem Gritli Moser Trüffeln, und es machte daraus Igel. Die Kinderzeichnung ist enträtselt‘“ (Dürrenmann 2005, 117). Der Kommandant hilft Matthäi nun, die Falle aufzustellen - er beordert seine Leute zur Lichtung, sie überwachen das spielende Kind und warten: „Alles war aufs peinlichste organisiert“ (Dürrenmatt 2005, 118). Und weiter: „Es gab für uns nichts mehr in der Welt als diesen durch den Herbst verzauberten [Symbolik! ] Wald mit dem kleinen Mädchen im roten Rock auf der Lichtung. Wir warteten auf den Mörder, entschlossen, gierig nach Gerechtigkeit, Abrechnung, Strafe“ (Dürrenmatt 2005, 119). Als der Täter auch nach vielen Tagen noch nicht kommt, beginnen Matthäi und die Polizisten einschließlich des Staatsanwalts „auf das Kind einzuschlagen“, sie „verprügelten den kleinen Leib, der zwischen den Kon‐ servenbüchsen in Asche und rotem Laub lag“ (Dürrenmatt 2005, 125) - hier wird gleich auf zwei Märchen angespielt, auf Aschenputtel und Rotkäppchen. Die eigentlich ‚Guten‘ werden dabei zu den ‚bösen‘ Wölfen: „,Wir sind Tiere, wir sind Tiere‘, keuchte ich“ (ebd.). Das Geschehen ist ebenso „absurd“ (Dürrenmatt 2005, 128) wie sinnlos - hier stellt sich der Roman in die 5.12 Requiem für den Detektiv: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958) 193 <?page no="194"?> Tradition der Literatur des Existenzialismus. Angesichts ihrer Enttäuschung über Matthäis Verhalten beginnt Annemaries Mutter wieder, ihrem alten Gewerbe nachzugehen (Dürrenmatt 2005, 129), und ihre Tochter macht es ihr später nach (Dürrenmatt 2005, 132). Zum Schluss folgt noch die „schäbige Pointe“, die laut Kommandant „einfach nicht zu verwenden ist, in keinem anständigen Roman oder Film. Sie ist so lächerlich, stupid und trivial, daß sie kurzerhand übergangen werden müßte“, wobei für sie spreche, dass sie „für Matthäi spricht“ (Dür‐ renmatt 2005, 135), weil sie zeige, dass selbst ein „Genie“ wie er „über etwas Idiotisches“ stolpern könne (Dürrenmatt 2005, 136). Der Epilog zur Geschichte hat sich ein Jahr vor der die Rahmenhandlung bestimmenden Autofahrt des Kommandanten mit dem Schriftsteller zuge‐ tragen. Eine alte, harmlos scheinende Frau liegt im Kantonspital im Sterben und der Priester, der ihr die Beichte abgenommen hat, hat den Kommandan‐ ten informiert (Dürrenmatt 2005, 137 f.). Die „offenbar schwerreich[e]“ Frau (Dürrenmatt 2005, 138) erzählt umständlich und offenbar widerwillig das, was sie erfolgreich verdrängt zu haben scheint: Dass ihr zweiter und viel jüngerer Mann, der früher Chauffeur und Mädchen für alles war, die Morde an den Mädchen begangen und auf dem Weg zum Mord an Annemarie einen tödlichen Autounfall hatte (Dürrenmatt 2005, 152). Die Taten trugen sich auf Botenfahrten zu, er musste „jede Woche Eier nach Zürich zu meiner Militaristenschwester“ bringen (Dürrenmatt 2005, 147). Die alte Frau lügt sich eine „harmonische Ehe mit dem lieben Seligen“ zurecht (Dürrenmatt 2005, 144) und aus ihrem Verhalten erklärt sich, wie er so werden konnte. Er war 23 und sie 55, als sie heirateten (ebd.) und das habe eben bedeutet, dass sie „nie etwas mit Albertchen selig hatte, auch in der Ehe nicht; das versteht sich ja bei dem Altersunterschied“ (Dürrenmatt 2005, 145). So entwickelte der geistig minderbemittelte Gatte ersatzeshalber eine „Leidenschaft“ für „Teigwaren und Schokolade“ (ebd.). Mit der Zeit müsse aber „etwas in seinem Kopf schadhaft geworden“ sein und er sei auch „immer gefräßiger“ geworden (Dürrenmatt 2005, 146). Die Morde an den kleinen Mädchen, die sie ihm zwar stets nach der Tat für die Zukunft verboten, aber nicht angezeigt hat (Dürrenmatt 2005, 147 ff.), wirken wie eine Steigerung dieser Entwicklung, die von der alten Frau vollkommen relativiert wird, wohl um ihre eigene Schuld daran herunterzuspielen: „Albertchen ist ein braver Mensch, herzensgut im Grunde“ (Dürrenmatt 2005, 149). In das Muster passt nicht nur der Diminutiv, den sie für den monströsen Gatten verwendet, sondern auch die folgende Schuldzuweisung: „nicht zu glauben, wie unvorsichtig die 5. Detektiverzählungen 194 <?page no="195"?> Mütter ihre Kinder kleiden“ (Dürrenmatt 2005, 151), so als wäre das Aussehen eines kleinen Kindes schon Grund genug dafür, es bestialisch zu ermorden. Zur Ironie der Geschichte gehört, dass der Auslöser für die Beichte der „rein zufällig[e]“ Besuch der „Enkelin“, des „einzigen Patenkindes“ der alten Frau gewesen ist, die „mit Blumen“ gekommen sei „und dabei ein rotes Röcklein getragen habe“ (Dürrenmatt 2005, 140) - auch hier kommt also wieder das Rotkäppchen-Motiv vor. Der Priester, der immer wieder von der noch anstehenden „Letzten Ölung“ spricht und „wie ein Moses durch seinen wilden grauen Bart“ streicht, dabei „einen deutlichen Knoblauchgeruch verbreitend“, und die Herkunft der Sterbenden aus der früher mit dem „Kaiser Wilhelm“ verbundenen Schweizer Honoratiorenschaft (Dürrenmatt 2005, 141) gehören zu den ironisch-satirischen Zugaben. Die kleine alte Frau wird, im Vergleich zu ihrem triebgesteuerten Mann, als das vermutlich größere menschliche Monster gezeichnet, so hat sie einen „Wutausbruch“ und es kommt „eine unflätige Kaskade von Schimpfwörtern aus dem Munde des sterbenden Mütterchens“ (Dürrenmatt 2005, 142). Die lange aufgestaute Wut richtet sich einzig gegen ihre zehn Jahre ältere, 99-jäh‐ rige Schwester (ebd.). Nur aus Konkurrenzneid zur Schwester, der sie an allem die Schuld gibt, hat sie ihren Mann nicht angezeigt (Dürrenmatt 2005, 148). Allerdings gibt sie selber zu, dass in ihrer Familie die „Boshaftigkeit“ herrsche und „Höflichkeit“ nur „die Methode“ sei, mit der sich die Familienmitglieder „gegenseitig quälten und bis aufs Blut folterten“ (Dürrenmatt 2005, 142). Die Grenze zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ wird weitgehend aufgelöst. Der Täter selbst, der im Roman als handelnde Figur gar nicht vorkommt, wird vom Kommandanten als „krank“ bezeichnet (Dürrenmatt 2005, 46), ein Befund, den der Leiter einer Nervenklinik wenig später bestätigt. Das Verhalten seiner Frau trägt erheblich zum Ausbruch seiner ‚Krankheit‘ bei. Die Polizeibeamten bringen den Falschen mit Foltermethoden zu einem Geständnis, sie degenerie‐ ren später und verhalten sich wie „Tiere“. Die Repräsentanten der ‚guten‘ Gesellschaft und der Ordnungsbehörden sind selbst amoralische Wesen. Der Rahmenerzähler schließt seinen Bericht damit ab, dass er vermutlich die 99-jährige Schwester der alten Frau beim Verlassen des Krankenhauses gesehen hat, die ebenfalls von einem Chauffeur begleitet worden ist, „ein gewaltiger, feierlich dunkel gekleideter Mann mit rundem Kindergesicht und Hut“ (Dürrenmatt 2005, 153); nach diesem Erlebnis braucht er erst einmal in seinem Stammlokal „Kronenhalle“ eine „Leberknödelsuppe“ (Dür‐ renmatt 2005, 154). Nachdem er mit seiner Frau, die „wie gewohnt, nie im Bilde war“ (Dürrenmatt 2005, 154), und seiner Tochter Matthäi besucht und 5.12 Requiem für den Detektiv: Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958) 195 <?page no="196"?> erfolglos versucht hat, ihm die Auflösung des Falls mitzuteilen, bestellt seine Frau in einer Confiserie in Chur Trüffel, die er sich aber weigert zu essen (Dürrenmatt 2005, 155). Dürrenmatt als Autor von einigen der bedeutendsten Tragikomödien deutscher Sprache hat mit diesem Anti-Krimi eine Tragikomödie in Prosa geschrieben. Darauf deutet auch der ironische, metafiktionale Verweis: „das Ganze war nichts weiter als eine lausige, hundserbärmliche Komödie“ (Dür‐ renmatt 2005, 126). Zur „Vernunft“ ist weder der früher so rationale Matthäi (Dürrenmatt 2005, 127) noch sonst jemand im Roman zu bringen. Der mächtige Kommandant kann nur die „Katastrophe“ (Dürrenmatt 2005, 127) bilanzieren. Der Kriminal- oder Detektivroman ist mit Das Versprechen nicht an ein Ende gekommen, wie es der Untertitel postuliert, sondern er hat einen neuen ironisch-satirischen Höhepunkt erreicht. Die Detektion hat Erfolg, wenn auch ‚nur‘ im Nachhinein und nicht für Matthäi, der das Puzzle zusammengesetzt hat. Viel wichtiger sind das - nach dem Zweiten Weltkrieg - desillusionierte Menschenbild und die dem Roman inhärente Zivilisations‐ kritik, denen eine warnende Funktion zukommt. Es ist die „Banalität des Bösen“ (Arendt 2015), über die zur Reflexion aufgefordert wird, stimuliert durch distanzierende Mittel wie Ironie und Metafiktionalität. 5.13 Matthäi im Film: Es geschah am hellichten Tag (1958) Es gibt mehrere Verfilmungen des Stoffes: Chronologisch steht am Anfang die filmische Fassung von Vajda, an der Dürren‐ matt mitgearbeitet hat, es folgt sein Roman Das Versprechen mit einem veränderten Schluss. Der Film hat mehrere Remakes erlebt, etwa 1994 durch den niederländi‐ schen Regisseur Rudolf van den Berg als englisch-niederländische Produktion, 1997 durch den deutschen Regisseur Nico Hofmann. Dürrenmatts Roman wurde 2001 vom amerikanischen Regisseur Sean Penn verfilmt (Grimm 2008, 159), mit keinem Geringeren als Jack Nicholson in der Hauptrolle. Diese bisher letzte Verfilmung verlegt die Handlung in die USA, orientiert sich aber stärker am Roman und an dessen Schluss: „Im Film erfährt nur der Zuschauer die Lösung des Falls: weder der Protagonist Jerry noch die Polizei gelangen zur Kenntnis der wahren Ereignisse“ (Grimm 2008, 173; zu einem Vergleich der beiden Verfilmungen vgl. auch Schwarz 2011). 5. Detektiverzählungen 196 <?page no="197"?> Bereits der erste Film - um den es hier gehen soll, weil der Roman den direkten Gegenentwurf darstellt - wartet mit Starbesetzung auf. Einer der bedeutendsten Sympathieträger des deutschsprachigen Films, Heinz Rühmann, spielt Matthäi und Gert Fröbe spielt den Kindermörder mit dem sprechenden Namen Schrott. Fröbe machte seine Sache so gut, dass die Produzenten des James-Bond-Films Goldfinger (1964) auf ihn als verbreche‐ rische Titelfigur verfielen (als Gegenspieler von Sean Connery als James Bond) und ihm damit die wohl bekannteste Rolle seines Lebens verschafften. Siegfried Lowitz (als Heinzi) sollte später mit der ZDF-Krimiserie Der Alte einem größeren Publikum bekannt werden. Der versierte Theater- und Filmdarsteller spielte den ersten ‚Alten‘, den Kriminalhauptkommissar Erwin Köster, in den Folgen 1-100 von 1977-1986. Abb. 5.7: Plakat zu dem Film, für den Dürrenmatt das Drehbuch schrieb. 5.13 Matthäi im Film: Es geschah am hellichten Tag (1958) 197 <?page no="198"?> Der Film Es geschah am hellichten Tag konzentriert sich ganz auf die gestellte Aufgabe, mit einer spannenden Handlung für Verbrechen an Kindern zu sensibilisieren. Diesen aufklärerischen Anspruch unterstreicht, dass der Vorspann Experten als Mitarbeiter anführt: „Kriminalistische Beratung a.o. Staatsanwalt Dr. H. Walder“ und „Psychologische Beratung Prof. Dr. med. A. Glaus“ (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 00: 40). Zur dramatischen Musik von Bruno Canfora wird gleich im Vorspann ein bedrohlich wirkender Wald gezeigt, bevor der Hausierer, der hier Jaquier heißt (vermutlich angepasst an den Akzent des Schauspielers), über die Leiche des kleinen Mädchens stolpert und in die Dorfwirtschaft läuft, um die Polizei anzurufen. Während es im Wald zwar neblig, aber trocken ist, gibt es im Dorf einen kräftigen Wolkenbruch (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 02: 10) - auch dies unterstreicht die Dramatik der Situation. Abgesehen von einer Reihe von Kleinigkeiten, die für die Interpretation des Films und den Vergleich mit dem Roman keine große Rolle spielen, fin‐ den sich einige wesentliche Veränderungen. Die Rahmenhandlung fehlt und der Täter tritt als Figur nicht nur auf, er wird auch zur zweiten Hauptfigur neben Matthäi. Die Inszenierung Schrotts ist überzeugend gemacht und gibt dem Film eine eigene Prägung. Genau nach der Hälfte des Films tritt die Figur erstmals physisch in Erscheinung und das genau nach der Szene, in der sich Matthäi mit seinem Freund, dem Psychiater, berät und der ihn fragt, was er denn tun würde, wenn der „Riese nur in der Phantasie der armen Gritli“ existieren würde (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 46: 30ff.). Es folgt der Auftritt des Mörders, allerdings ist zunächst nur seine Stimme zu hören und seine sich ineinander verkrampfenden Hände (mit denen er die Mädchen getötet hat) werden gezeigt, er ist im Dialog mit seiner ihn herumkommandierenden und ihn kritisierenden Frau, die im Unterschied zu ihm groß ins Bild gesetzt wird (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 46: 44ff.). Schrotts beeindruckende körperliche Präsenz und die Zeichen seines Wahnsinns, ausgelöst oder gefördert durch das Verhalten seiner Frau, werden von der Kamera bald darauf routiniert in Szene gesetzt. Er spielt den ‚Zauberer‘ mit Hilfe einer Kasperle-Figur (Es geschah am hellichten Tag 2012, 1: 10: 20ff.). Es ist anzunehmen, dass der Film auch auf die Darstellungs‐ weise von Fritz Langs M referiert, etwa in der Szene mit dem Schaufenster: Schrott sieht sich kindgroße Puppen an und verzieht sein Gesicht zu einem den Wahnsinn andeutenden Lächeln, dabei wird er von Matthäi durch das andere, rechtwinklig abgehende Schaufenster beobachtet (Es geschah am hellichten Tag 2012, 1: 27: 25ff.). Die entscheidende Änderung gegenüber 5. Detektiverzählungen 198 <?page no="199"?> der Romanhandlung ist, dass Matthäi den Mörder mit einer solchen Puppe überführen kann, wobei er selbst mit dem Rasiermesser des Mörders an der Hand verletzt wird, bevor Heinzi mit seinen Leuten bei ihm sein und der Mörder durch Schüsse gestoppt werden kann (Es geschah am hellichten Tag 2012, 1: 31: 46ff.). Mätthai zeigt tätige Reue, indem er, nachdem er von der Bedrohung Annemaries durch den Mörder weiß, Frau Heller gesteht: „Ich wollte es anders. Aber ich habe einen Fehler begangen“ (Es geschah am hellichten Tag 2012, 1: 23: 55ff.). Es sei nicht möglich gewesen, wie er es vorgehabt habe, Annemarie die ganze Zeit zu überwachen. Matthäi schickt die (anders als im Buch) integer wirkende und auf Sauberkeit und Ordnung achtende Frau Heller und ihre Tochter fort, damit Annemarie in Sicherheit ist. Die zunächst schockierte Frau Heller dürfte durch die Rettung ihres Kindes - es läuft verbotenerweise zum verabredeten Ort, allerdings hat Matthäi da gerade den Mörder gestellt - mit Matthäi versöhnt worden sein. Das Happy End einer neu entstehenden Kleinfamilie Matthäi, Frau Heller und Annemarie - die Matthäi wie einen Vater liebt (Es geschah am hellichten Tag 2012, 1: 24: 18ff.) - wird durch das Verhalten der Figuren zumindest angedeutet (Es geschah am hellichten Tag 2012, 1: 34: 10ff.). Die Figuren werden anders als im Roman, und natürlich vom Mörder abgesehen, nicht als gebrochene gezeichnet. Matthäi lächelt viel, er ist sympathisch und immer selbstbewusst, er trifft mit einer Ausnahme die rich‐ tigen Entscheidungen. Die falsche Entscheidung, Annemarie als Köder zu verwenden, darf die Figur bereuen und sie darf dafür - durch die Verletzung mit dem Rasiermesser - Buße tun. Dass die Figur humanisiert wird, zeigt sich auch darin, dass sie, anders als im Roman, einen Vornamen bekommt, und zwar den geläufigsten aller deutschsprachigen männlichen Vornamen: Hans (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 41: 37). Hans Matthäi ist, dem Image Rühmanns entsprechend, eine positive Leitfigur, so beispielsweise, wenn niemand den Mosers die Nachricht von der Ermordung ihrer Tochter überbringen will und er lakonisch feststellt: „Na dann muss ich’s mal wieder selber machen“ (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 09: 08ff.). Der Vater hat kein Beil in der Hand und wirkt nur verzweifelt (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 10: 10ff.). Das Versprechen wird gegeben (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 10: 08), aber es wird im weiteren Verlauf nicht mehr thematisiert - es ist ja auch nicht titelgebend wie im Roman und seine Problematik stünde, wie jede größere Verwischung der Grenzen 5.13 Matthäi im Film: Es geschah am hellichten Tag (1958) 199 <?page no="200"?> zwischen dem ‚wahnsinnigen‘ Täter und den ‚normalen‘ Menschen - der geradlinigen Erzählweise des Films entgegen. In der Szene im Gasthof wirken die Dorfbewohner nicht mehr dämonisch, sondern betroffen. Matthäi bekundet Verständnis für die Wut: „Wir verste‐ hen Euch. Wir sind auch entsetzt. Viele von uns haben auch Kinder“ (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 12: 47ff.). Die Guten sind die Guten, selbst Heinzi, obwohl er fälschlicherweise auf den Hausierer als den Täter setzt, aber er glaubt ihm von Anfang an nicht (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 07: 34). Beim „Dauerverhör“, unter dem der Hausierer leidet, ist nicht von „zwanzig Stunden“ (Dürrenmatt 2005, 58), sondern nur von „zwei Stunden“ die Rede (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 23: 48ff.), auch wenn das Verhör danach fortgesetzt wird - die tatsächliche Länge wird aber nicht mehr thematisiert. Der Hausierer wird gut behandelt und bekommt sogar, mit dem befragenden Beamten zusammen, „Abendessen“ aus der Polizeikantine (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 29: 03). Heinzis Rolle wird viel positiver bewertet als im Roman und sie wird aufgewertet, die Figur des Kommandanten hingegen spielt kaum eine Rolle. Er möchte, nach der in Romanen und Filmen stereotypen Art von leitenden Beamten, den Fall schnell abschließen (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 34: 22ff.). Es gibt wenige Tendenzen wie diese, die in die kritische Richtung des Romans gehen und deshalb umso bemerkenswerter sind; etwa wenn Heinzi Polizisten losschickt, um einschlägig Vorbestrafte nach einem Alibi zu fragen und diese Figuren wie ganz ‚normale‘ Bürger wirken (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 16: 48ff.). Allerdings dient eine solche Darstellung der mahnenden Absicht des Films. Dabei ist es wohl auch Teil der Strategie, den Ermittler an Matthäis Seite trotz seiner Fehleinschätzung vertrauens‐ würdig wirken zu lassen. Die Ermahnung „folgt nie einem Unbekannten! “ darf in der Schule Heinzi aussprechen, also der sympathische Lowitz mit seiner eindrucksvoll modulierten Stimme (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 20: 30). Zu der vom Roman abweichenden, positiven Inszenierung der Hauptfi‐ guren passt, dass Matthäi bereits in der Befragung der Schulkinder von den Igeln erfährt und Gritlis Zeichnung sieht (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 22: 25). Deshalb kann er, als er im Flugzeug Platz nehmen will, eine Verbindung zu den Trüffeln herstellen, die der Mann neben ihm gerade isst (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 36: 00ff.). Sein Gepäck muss nun allein reisen. 5. Detektiverzählungen 200 <?page no="201"?> Matthäis Umkehr am Flughafen wird anders motiviert als im Roman, sie ist Teil einer stringenten und letztlich erfolgreichen Detektion. Es wird sogar vereinzelt Situationskomik erzeugt, mit der die Dramatik des Geschehens aufgelockert wird, etwa wenn Matthäi den mit ihm befreunde‐ ten Polizeipsychiater besuchen will und ihn die Schwester fragt: „,Wo haben Sie Ihr Gepäck? ‘ - ‚In Jordanien.‘ - ‚In Jordanien, ich verstehe‘“ (Es geschah am hellichten Tag 2012, 0: 40: 59ff.). Der Roman zeigt eine Welt der Abgründe; hinter der Fassade der Norma‐ lität verbergen sich die brutale Natur des Menschen und die Kontingenz von Erfahrung. Der Film hingegen zeichnet eine weitgehend heile, von den Erfahrungen mit Gewalt und Kontingenz zumindest immer wieder heilbare Welt. 5.14 Der Detektiv als Stehaufmännchen in der späten Postmoderne: Simon Brenner in Wolf Haas’ Das ewige Leben (2003) Wolf Haas (geb. 1960) hat mit Simon Brenner eine Detektivfigur geschaffen, mit der die genannten Entwicklungen fortgesetzt, aber noch einmal radika‐ lisiert werden und die dennoch ein eigenes Gepräge hat, dies aber vor allem durch die sehr besondere Sprache der sogenannten Brenner-Romane. Der mit Sprache spielende Stil ist zweifellos dem Sprachbewusstsein und Sprachvermögen des Autors geschuldet, der an der Universität Salzburg mit einer Arbeit über Sprachtheoretische Grundlagen der konkreten Poesie promovierte (1990 veröffentlicht im Stuttgarter Verlag Heinz als Band 233 der Reihe „Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik“) und der, nach seiner Tätigkeit als Lektor in Swansea, in Wien als Werbetexter arbeitete, bevor er sich als Schriftsteller selbständig machte. So erfand und sprach Haas den Werbeslogan für den ersten Sender des Österreichischen Rundfunks: „Ö1 gehört gehört“, der später vom Südwestrundfunk abgewandelt wurde in „Eins gehört gehört - SWR1“. 5.14 Simon Brenner in Wolf Haas’ Das ewige Leben (2003) 201 <?page no="202"?> Abb. 5.8: Wolf Haas auf der Frankfurter Buchmesse 2018. 1996 erschien der erste Roman mit der Figur Simon Brenner unter dem Titel Auferstehung der Toten, es folgten Der Knochenmann (1997), Komm, süßer Tod (1998), Silentium! (1999) und Wie die Tiere (2001). 2003 wollte Haas mit Das ewige Leben, dem sechsten Roman der Brenner-Reihe (in dem von Publikum und Kritik weniger beachteten Kriminalroman Ausgebremst von 1998 kommt diese Figur nicht vor), eigentlich seinen beliebten Detektiv in den Literatur-Ruhestand schicken. Allerdings dürfte später - wie einst bei Sir Arthur Conan Doyle mit der Wiederauferstehung des Sherlock Holmes - der Vorteil des sicheren Erfolgs überwogen haben, wenn er die Figur in Der Brenner und der liebe Gott (2009) und Brennerova (2014) noch einmal ermitteln ließ, diesmal ohne (vorläufiges) Ende, also mit der Lizenz zur Fortsetzung. Das ewige Leben ist gerade deshalb so interessant, weil in diesem Roman das Geheimnis um die Erzählerfigur gelüftet und die Reihe (wie sich dann aber herausstellte: vorläufig) abgeschlossen wird. Auferstehung der Toten wurde 1997, Komm, süßer Tod 1999 und Silentium! 2000 mit dem Deutschen Krimi-Preis ausgezeichnet. Wolf Haas hat auch den erfolgreichen Medienwechsel vollzogen. Mit Annemarie Mitterhofer hatte er die Idee für die erfolgreiche ORF-Fernsehserie Vier Frauen und ein Todesfall (im Titel wird die bekannte britische Filmkomödie Vier Hochzeiten und ein Todesfall von 1994 zitiert), die zunächst von 2004-2008 entstand und seit 2011 weitergeführt wird. Für das vorliegende Kapitel interessanter sind die Verfilmungen von vier der Brenner-Romane: Komm, süßer Tod (2000), Silentium! (2004), Der Knochenmann (2009) und Das ewige Leben (2015). Wolf Haas hat ebenso am Drehbuch für die Verfilmungen mitgearbeitet wie der Regisseur Wolfgang Murnberger und der bekannte österreichische Kabaret‐ tist Josef Hader, der auch die Rolle des Simon Brenner spielte. Mit der Wahl 5. Detektiverzählungen 202 <?page no="203"?> und dem Interesse Haders wurde unterstrichen, dass die Brenner-Romane nicht nur spannend und tragisch, sondern auch ausgesprochen komisch sind. Simon Brenner ist wie Philipp Marlowe ein aus dem Polizeidienst ausge‐ schiedener Privatdetektiv, der an seinen moralischen Prinzipien festhält, auch und gerade in einer Umwelt, die dies nicht tut, in der vielmehr die anderen Figuren - insbesondere die Vertreter*innen der Macht (aus den Ordnungsinstanzen oder der Ökonomie) - vor allem daran interessiert sind, ihren eigenen Vorteil zu suchen und abzusichern. Brenner hilft meist der Zufall, ohne dass dies - wie noch bei Dürrenmatt - problematisiert würde, eher im Gegenteil. Der Zufall wird Teil eines großen intertextuellen (vgl. hierzu Braito-Indra 2012) und metafiktionalen Spiels, an dem die Leser*in‐ nen der Romane oder die Zuschauer*innen der Verfilmungen teilhaben. Die Kontingenz der Existenz wird als gegeben vorausgesetzt, sie wird allerdings auch immer wieder in teils ausführlichen Passagen reflektiert und sie wird letztlich bewältigt - mit dem Glück der Literatur. Brenner ist zugleich das exemplarische postmoderne ‚hybride Subjekt‘ (Andreas Reckwitz), in der Formulierung von Josef Hader (der am Drehbuch der Verfilmung beteiligt war): Er ist bereits mehr oder weniger in einem gewissen Frieden mit sich selbst, weil er eine ganz klare Haltung der Welt gegenüber hat. Er betrachtet alles Mehrheitsfähige skeptisch. Er ist stolz und trotzig und gern Individualist. Er begreift sich nicht als jemand, der inmitten anderer ist, sondern als jemand, der den anderen diametral gegenübersteht. Das kann er nicht ändern: Es ist das Einzige, das ihm einen Halt gibt. (zit. nach Kuzmany 2015) Die scheinbare Schwäche in eine Stärke umzuwandeln und so allen Gefahren zu trotzen, das zeichnet die Figur aus, es macht sie aber auch zu einer idealen, zumindest zu einer paradigmatischen Vorbild-Figur der heutigen Zeit - gerade wegen der Verletzungen und Brüche des Lebens. Der 53 Jahre alte (Haas 2008, 46) Simon Brenner kehrt „nach fünfund‐ zwanzig Jahren im Polizei- und Detektivdienst“ (Haas 2008, 14) in das Haus seiner verstorbenen Großeltern nach Graz zurück, nachdem er sich vorher in Wien und in anderen österreichischen Städten aufgehalten hat. Wie sich später herausstellt, wohnt dort auch noch der „Hausgeist“, eine ältere Person, die von den Großeltern als Mieter aufgenommen worden ist, seit Brenners Kindheit „das Mansardenzimmer“ bewohnt (Haas 2008, 19) und aus deren Perspektive bisher alle Brenner-Romane erzählt worden 5.14 Simon Brenner in Wolf Haas’ Das ewige Leben (2003) 203 <?page no="204"?> sind. Es ist also (dies die innerfiktionale Auflösung am vorläufigen Ende der Romanreihe) der Stil dieses alten, kauzigen Mannes, der den Romanen ihre besondere sprachliche Prägung gibt. Dass es ein Mann ist, wird zwar nicht eindeutig gesagt, aber die starke Identifikation mit Simon Brenner (die Perspektiven scheinen oftmals zu verschmelzen, nicht zuletzt dann, wenn es um Frauen geht) und vor allem die Bezeichnung „alte[r] Bewohner“ (Haas 2008, 222) in dem den Roman abschließenden Zeitungsartikel lassen darauf schließen. Der „Hausgeist“, ohne den Brenner mit der Kugel im Kopf wohl nicht überlebt hätte (er hat ihn „ins Spital gebracht“; Haas 2008, 120), wird am Ende, als er die Tür zur Küche aufreißt, an Brenners Statt von Major Heinz erschossen - mit dieser Pointe sollte die Reihe der Brenner-Romane enden. Das Eingreifen des ‚Hausgeists‘ rettet Brenner zum zweiten Mal das Leben, weil Brenner nur so den Major erschießen kann (Haas 2008, 218 ff.). Die mörderische Handlung setzt (nicht in der Chronologie der Erzählung, aber in der Chronologie der Ereignisse) nicht zufällig mit der Rückkehr Brenners nach Graz ein, der Privatdetektiv ist über weite Strecken der Katalysator des Geschehens. Sein Besuch bei seinem Bekannten Köck und dessen Anruf bei dem Grazer Polizeichef Aschenbrenner lässt die Erinnerung an eine Jugendsünde lebendig werden. Sie hatten vor 30 Jahren (Haas 2008, 45) gemeinsam als Polizeischüler eine Bank überfallen und der Vierte im Bunde war auf der Flucht mit seinem Motorrad tödlich verunglückt (Haas 2008, 35, 212). Der Tote, Brenners damals bester Freund, wurde von allen nach dem drei Monate später tödlich verunglückten finnischen Motorrad-Rennfahrer Jaaro Saarinen nur Saarinen genannt (Haas 2008, 44 f.). Der Fall wurde nie aufgeklärt. Köck, der zunächst als Spitzel für Aschen‐ brenner arbeitet und dann selber Drogen verkauft (Haas 2008, 139 ff.), hat irgendwann begonnen, den Polizeichef mit der gemeinsamen Vergangenheit zu erpressen und er wird deswegen nicht, wie Brenner lange vermutet, von Aschenbrenner, sondern von dessen junger Frau Soili getötet. Soili ist möglicherweise sogar, auch dies stellt sich erst zum Romanende heraus, die Tochter Köcks oder ihres Mannes Aschenbrenner gewesen (Haas 2008, 214). Ihre Mutter Maria Maric hat ihr den beim Banküberfall gestorbenen ‚Saarinen‘ als Vater angegeben und sie Soili genannt, nach der „hübschen Witwe von seinem Liebling“ (Haas 2008, 194), also der Witwe des Motor‐ rad-Rennfahrers. Die Beichte der Mutter, dass nicht der tote Geliebte, sondern Köck den Schuss in der Bank abgegeben haben muss, weshalb alle in Panik flüchteten und es überhaupt erst zu dem tödlichen Unfall kam, war 5. Detektiverzählungen 204 <?page no="205"?> Soilis Motiv, Köck zur Rede zu stellen und schließlich, mit der Waffe ihres toten Vaters, zu erschießen (Haas 2008, 195 ff.). Der Roman baut geschickt Spannung auf, er beginnt deshalb auch achro‐ nologisch: Simon Brenner erwacht nach einer schweren Operation wider Erwarten zu neuem Leben. Er glaubt, dass Aschenbrenner in dem Haus der Großeltern auf ihn in der Küche gewartet und ihm dann eine Kugel in den Kopf geschossen hat (Haas 2008, 11 ff., 27). Es wird sich später herausstellen, dass es Brenner selbst war, weil seine Migräne unerträglich wurde (Haas 2008, 129 ff.). Sein Vater hatte, als er „noch kein Jahr alt war“, ebenfalls Selbstmord begangen (Haas 2008, 119). Als Brenner seinen Bekannten „Captain Köck“ (eine Anspielung auf Captain Kirk aus der Serie Star Trek), der als „Hausmeister im Arnold-Schwarzenegger-Stadion“ arbeitet (Haas 2008, 30), vor Aschenbrenner warnen will, findet er ihn mit einer Kugel im Kopf. Als er versucht, die Kugel herauszuoperieren, um einen Beweis zu haben, dass die Kugel mit der in seinem eigenen Kopf übereinstimmt (immer noch in der Annahme, dass Aschenbrenner der Täter ist), wird er überrascht (Haas 2008, 49 ff.). Er fährt zu Aschenbrenner und präsentiert ihm die aus seinem eigenen Kopf stammende Kugel als jene aus Köcks Kopf und damit als Beweismittel für Aschenbrenners doppelte Täterschaft. Doch der bereits kranke Polizeichef erleidet genau in diesem Moment einen Schlaganfall, an dessen Folgen er stirbt (Haas 2008, 77 ff.). Zwei Roma haben Soili Aschenbrenner ganz aufgelöst aus der Wohnung des Stadionwarts kommen sehen. Sie hat ein Verhältnis mit Aschenbrenners designiertem Nachfolger, dem Major Heinz, und erzählt diesem von ihrer Mord-Tat, weil sie sich stellen will. Heinz rät ihr davon ab, verfolgt ohne ihr Wissen die beiden Zeugen über die Grenze zur Slowakei und tötet sie (Haas 2008, 171, 201 ff.). Brenner erfährt von dem Aufenthaltsort der beiden durch seinen Pfleger Tomas, aber Tomas und er finden nur die Leichen inmitten der sich vor Angst versteckenden kleinen Roma-Gemeinschaft (Haas 2008, 124). Tomas hilft Brenner später, Soili zu verstecken, will sich aber an Major Heinz rächen. Tomas entführt Heinz, doch der entkommt und lauert Brenner und Soili in der Küche des großelterlichen Hauses auf. Durch den Schusswechsel, in dem der „Hausgeist“ und Major Heinz getötet werden, kann Brenner von Soili als möglicher Täterin ablenken, die in dem den Roman abschließenden Artikel des „GratisGrazer“ besonders gelobt wird: „Denn nichts hätte den vom Bürgermeister geforderten völligen Neubeginn deutlicher unterstreichen können als das positive Vorbild der leidgeprüften Witwe Aschenbrenners […]“ (Haas 2008, 222). 5.14 Simon Brenner in Wolf Haas’ Das ewige Leben (2003) 205 <?page no="206"?> Wie etwa die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm setzen auch die Brenner-Romane auf Wiedererkennungseffekte durch besondere Formulierungen. Dazu gehört bereits die Inquit-Formel: „Jetzt ist schon wieder was passiert“; ebenso der zweite Satz: „Und ob du es glaubst oder nicht“ (Haas 2008, 5). Es finden sich immer wieder formelhafte Leseranreden (z. B. auch „ja was glaubst du“; Haas 2008, 34), die man - wie bereits in den Texten E.T.A. Hoffmanns - als ironisch lesen kann. Häufig finden sich Ellipsen und auch die Satzstellung ist ungewöhnlich, so beginnen beispielsweise immer wieder Sätze mit: „Weil interessant […]“ (Haas 2008, 7). Dafür enden viele Sätze in elliptischen Teilsätzen mit „Hilfsausdruck“, etwa „Explosion Hilfsausdruck“ (Haas 2008, 33). Charakteristisch sind außerdem Formulierungen mit „quasi“, beispielsweise „quasi Killer“ (Haas 2008, 173), oder mit dem Platzhalter „ding“, beispielsweise „immer ein bisschen ding“ (Haas 2008, 24). Der Roman endet mit einer Wiederholung des Wortes „ding“, die über eine Seite geht; mit ihr verstummt der soeben erschossene „Hausgeist“ (Haas 2008, 220 f.). Das Sprachbewusstsein äußert sich auch in der Namensgebung, die sogar thematisiert wird, als es um die Namesverwandtschaft von Brenner und Aschenbrenner geht: „Manchmal glaube ich überhaupt, es ist nur an ihren ähnlichen Namen gelegen, dass die beiden ihr Leben lang so ungut übereinander gestolpert sind. […] Brenner. Aschenbrenner. Als dürfte nicht beides existieren. Das war von Anfang an so“ (Haas 2008, 72). Besondere Formulierungen werden verwendet, um immer wieder, vorzugsweise am Ende eines Kapitels, als Cliffhanger Spannung aufzubauen (vgl. z. B. Haas 2008, 80, 107, 183 etc.). Komik wird durch Gegensätze, Widersprüche oder, in der Summe, durch für Komik charakteristische Inkongruenzen aller Art erzeugt, etwa wenn Schwester Corinna den gerade aus dem Koma erwachenden Brenner in einer unangenehmen Lautstärke anredet, „sprich Tote aufwecken“ (Haas 2008, 9). Konzentrierte Komik entsteht durch Verballhornungen: „Feng Sushi“ (Haas 2008, 84), oder durch Missverständnisse. Eine Handleserin, die nur gebrochen Österreichisch spricht, sagt zu Brenner: „Brena abgraz ibermorgen“ (Haas 2008, 92). Wie sich herausstellt, sagt sie aber nicht das ‚Abkratzen‘, also den Tod Brenners voraus, sondern meint, dass er einen Zug ‚ab Graz‘ nehmen soll (Haas 2008, 94). Dazu kommen ironische, teils sarkastische und teils satirische Passagen. Zu den Spekulationen um Brenners angeblichen Selbstmord meint der Erzähler: „Schließlich weiß heute jedes Kind, wie man sich korrekt umbringt 5. Detektiverzählungen 206 <?page no="207"?> […]“ (Haas 2008, 13). Und Brenners der Schussverletzung geschuldete Mü‐ digkeit kommentiert der Erzähler wie folgt: „Das erste Mal wollte er schon beim Zentralfriedhof aufgeben, weil natürlich ansteckend, wenn so viele Leute faul herumliegen, und da hätte er sich wahnsinnig gern dazugelegt“ (Haas 2008, 40). Der Selbstmord von Brenners Vater durch Erhängen wird als „Hanfallergie“ apostrophiert (Haas 2008, 119). Mit der komisierenden Sprache einher geht ein desillusioniertes Welt‐ bild, das allerdings durch das angedeutete Happy-End von Simon Brenner und Soili Aschenbrenner wieder relativiert wird. Schon am Romananfang bei der Frage, wer das Erwachen des nach seinem Schuss in den Kopf totgeglaubten Brenner vorausgesehen hat, meint der Erzähler: Im Grunde kann man ihnen allen miteinander nicht trauen. Weil interessant, oft wissen die Leute, die selber dabei waren, am allerwenigsten, wie es wirklich war. Und leider sind wir heute so weit, dass die Menschen nicht mehr wissen, was sie spüren. Jeder redet sich alles auf seine Weise ein […]. (Haas 2008, 7 f.) Als ein Ergebnis von Wohnungsdurchsuchungen stellt der Erzähler stellver‐ tretend für seine Ermittlerfigur fest: „Im Leben eines jeden Menschen über‐ wiegen die sinnlosen Momente“ (Haas 2008, 178). Oder: „Das Private kann man ganz leicht daran erkennen, dass einem meistens schlecht davon wird“ (Haas 2008, 185). Der Erzähler gibt sich, als Brenner die Frau Aschenbrenners sieht, davon überzeugt, dass „das Paradies sich nur den brutalsten Typen öffnet“ (Haas 2008, 70). Andererseits entwickelt sich zwischen Brenner und der Frau des Sterbenden „ein gewisses dings“ (Haas 2008, 99) und am Ende werden sie möglicherweise sogar ein Paar (Haas 2008, 222). Die in der Gesellschaft höher gestellten Figuren werden kritisch bewertet. So heißt es bereits über den Arzt Professor Hofstätter, der Brenner operiert hat, dass er nicht sehr erbaut war über die Berichterstattung. Dass er mit der Operation eine „chirurgische Meisterleistung“ vollbracht habe, hat nur im „Kleingedruckten“ gestanden und man hat ihn auch nicht, „wie er gehofft hatte“, mit seinem „schwarzen Porsche“ abgebildet (Haas 2008, 11). Real existierende Prominenz kommt in dem Namensgeber des Stadions vor. Der Erzähler erläutert, dass Arnold Schwarzenegger drei Jahre älter als Brenner gewesen sei, diesen aber um seine Muskeln beneidet und deshalb überhaupt erst mit dem Krafttraining begonnen habe (Haas 2008, 31). Arnold Schwarzenegger, der als einer der bekanntesten Österreicher weltweit gilt, verfällt hier nicht als Person, sondern als Stellvertreter seiner 5.14 Simon Brenner in Wolf Haas’ Das ewige Leben (2003) 207 <?page no="208"?> (ehemaligen) Landsleute der Ironie - und der Roman bekommt einmal mehr selbstironische Züge, wenn es um nationale Stereotype geht. Kritik am österreichischen Nationalismus ist der gesellschaftskritische Schwerpunkt dieses Brenner-Romans (alle Romane der Serie kreisen um Korruption und Machtmissbrauch in Politik, Kirche und Wirtschaft). Über Brenner heißt es mit erzählerischer Ironie, er sei Mitte der 1970er Jahre „weg aus Graz, weil weite Welt, Linz, Salzburg, alles“ (Haas 2008, 189). Über die Trafiken, die österreichischen Kioske, ist zu lesen: „Du mußt wissen, bei einem Trafikanten gibt es nicht nur die Zigaretten, da gibt es nicht nur die Zeitungen, da kriegst du nicht nur im Hinterzimmer das Hitlerbild mit persönlicher Widmung […]“ (Haas 2008, 56). Und weiter: „Heute kann ja in Österreich schon jeder eine Trafik betreiben, da zahlst du einem Beamten eine gewisse Schmiergeldsumme, und du hast ganz regulär deine Trafik“ (Haas 2008, 57). Der Auffassung, dass „früher alles besser“ gewesen sei, wird dabei eine klare Absage erteilt (Haas, 58). Allerdings scheint sich auch nicht viel zum Besseren oder überhaupt etwas in der Mentalität verändert zu haben. Würnitzer, der wie ein Aspirant auf den Titel „Manager des Jahres“ aussieht (Haas 2008, 58) und nun als Nachfolger seines Großvaters die Trafik neben dem Stadion betreibt (Haas 2008, 59), schwingt wie sein Großvater rechte Parolen. Er gehört zur „Wehr-Initiative Grazer Sicherheit“ (Haas 2008, 60), beschuldigt pauschal Bettler und Ausländer, am „Drogenproblem“ schuld zu sein, spricht von einem „Zigeunerproblem“ und kritisiert die „Bettelei“ (Haas 2008, 61). Major Heinz schleust Brenner als Spitzel in die Wehr-Initiative ein, das 12. Kapitel des Romans ist eine Satire auf die rechte Szene. Die ihr Publikum mit Parolen, haltlosen Anschuldigungen und emotionaler Erpressung manipulierenden Anführer der Bewegung tragen militärische Bezeichnungen. Ironischerweise werden zwei von Brenner be‐ gangene Taten - er hatte einen aufdringlichen Fotografen krankenhausreif geschlagen und dem anwesenden Weblinger, der ihn bei dem ermordeten Köck überrascht hatte, die Waffe über den Kopf gezogen - der „Zigeuner‐ mafia“ und der „Drogenszene“ zur Last gelegt (Haas 2008, 153). Brenner widerstrebt es selbst undercover, „so einem Idiotenverein beizutreten“ (Haas 2008, 157). Er kann es schließlich auch nicht, weil er, als er auf der Bühne seine Baseballkappe abnehmen muss, von „Oberst Weblinger“ erkannt wird, der ihm „die Hand mit seinem Militärmesser derart an die Bibel genietet“ hat, dass Brenner „das heilige Buch an der Hand geklebt ist wie einem vergoldeten Evangelisten“ (Haas 2008, 158 f.). 5. Detektiverzählungen 208 <?page no="209"?> Hier ist, etwa neben dem titelgebenden ‚ewigen Leben‘, einmal mehr der ironische Bezug zur Religion festzustellen. Brenners zweites Leben nach dem unabsichtlich versuchten Selbstmord wirkt wie eine Wiederauferste‐ hung und er wird zum Schluss mit zwei Narben in den Handtellern - in den einen hat ihm Weblinger sein Messer gerammt, durch den anderen erschießt Heinz den „Hausgeist“ - endgültig zu einer ironischen Jesusfigur, denn seine Hände sehen aus „wie beim reinsten Jesus“ (Haas 2008, 219). Mit den satirischen Anspielungen auf Religiösität nimmt der Roman den zweiten Eckpfeiler des österreichischen Konservatismus aufs Korn. Die gezeigte Gesellschaft verfällt der Kritik und die Figur Brenner wird zum Vertreter einer höheren, einer poetischen Gerechtigkeit, indem er Heinz aus Notwehr tötet und Soili deckt. Für den Erzähler steht fest: „Aber wahrscheinlich ist es mit der Gerechtigkeit genau gleich wie mit allen anderen Sachen. Wenn du sie zu sehr aus der Nähe kennst, glaubst du nicht mehr recht daran“ (Haas 2008, 204). Etwas problematisch, wenn auch durch die ironische Erzählperspektive gebrochen, ist das Frauenbild des Romans. Über Brenners Vorliebe für sein „altes Moped“ meint der Erzähler: „Ich kann es verstehen, von so einem Moped kriegst du Liebe und Zuneigung, wie es eine Frau nicht einmal geben kann, wenn sie möchte. Und genügsam. Für fünf Liter Gemisch fährt es dich um die halbe Welt“ (Haas 2008, 35 f.). Als Brenner Soili Aschenbrenner kennenlernt, kommt er sich vor wie im „Paradies“ (Haas 2008, 71): „Der Brenner hat sich gefragt, wo der Kripochef so eine Frau hernimmt“ (Haas 2008, 72). Soili sieht aus wie ein „Schneewittchen mit den prächtigen schwarzen Haaren, mit den roten Lippen, mit der weißen Haut, mit diesen dunklen Augen, wie man so gut als Rasierspiegel verwenden kann“ (Haas 2008, 74). Allerdings sei es oft so, dass Frauen „aus der Distanz“ schön aussähen und sich „der Vorteil wieder um“ drehe, wenn sie näher kämen: „da sind die Poren meinetwegen größer als bei einem Tiefkühlhuhn, und diese Person soll lieber in der Ferne bleiben“ (ebd.). Allerdings finden sich im hier inszenierten Spiel der Geschlechter genauso Stereotypen über Männer, etwa der „Naturgesetzblick“: „Jetzt hat es aber die Natur beim Mann so eingerichtet, dass ihm das Naturgesetz einen recht blöden Blick verleiht“, wenn er eine schöne Frau ansieht (Haas 2008, 96). Simon Brenner ist eine gebrochene und ironisierte, aber dennoch po‐ sitive Detektivfigur. Abgesehen von dem unverzichtbaren Zufall hat er den Erfolg seiner Beharrlichkeit und Professionalität zu verdanken. Auch unter extremen Bedingungen handelt er so, als sei „irgendein Instinkt in 5.14 Simon Brenner in Wolf Haas’ Das ewige Leben (2003) 209 <?page no="210"?> ihm aufgewacht, quasi Killer“ (Haas 2008, 173). Den „Qualitätsunterschied“ zum „Billigdetektiv“ erkenne man, so der Erzähler, „eben erst in haarigen Situationen“ (Haas 2008, 181). Daran hat sich auch in der Postmoderne wenig geändert. 5.15 Brenner im Film: Das ewige Leben (2015) Die Verfilmung war zumindest in der Rezeption nicht weniger erfolgreich als der Roman, so erhielt sie das Prädikat „Besonders wertvoll“ der Deutschen Film- und Medienbewertung und wurde 2016 mit dem österreichischen Fernseh- und Filmpreis Romy in der Kategorie „Bester Kinofilm“ ausgezeich‐ net. Kommerziell handelt es sich aber nicht, nach den Worten Josef Haders, um einen Erfolg, sondern eher um ein ambitioniertes (Kunst-)Projekt: Diese Filme sind sehr unangenehm zu drehen, weil sie ein geringes Budget haben und trotzdem große Filme sein wollen. Der Markt für solche Filme ist einfach zu klein, weil sich österreichische Filme von einem ZDF-/ ORF-Hauptabendfilm unterscheiden müssen, das macht sie sehr authentisch. Diese Besonderheit behindert sie aber dann außerhalb. In manchen Gegenden Deutschlands sind wir ein ethnologisches Phänomen. Keiner der bisherigen Filme hat seine Entste‐ hungskosten eingespielt. Jetzt gerade sagen alle: nie wieder. Aber das ändert sich manchmal nach zwei, drei Jahren wieder. (zit. nach Kuzmany 2015) Interessant ist zunächst, dass die Drehbuchautoren die Handlung des Ro‐ mans nur teilweise übernommen haben, wohl um die professionellen Co-Autoren stärker einzubinden und die Möglichkeiten des Films wie der Schauspieler*innen besser auszunutzen. Aschenbrenner ist im Roman eher eine Nebenfigur. Der Grazer Polizeichef wird im Film nun zum Gegenspieler Brenners und - neben seiner Frau - zur dritten Hauptfigur aufgewertet. Dies ist möglicherweise auch der Besetzung der Figur Aschenbrenners geschuldet: Tobias Moretti ist einer der bekanntesten zeitgenössischen österreichischen Schauspieler und passt vom Alter her gut zu Josef Hader (Moretti ist 1959 geboren, Hader 1962). Eine Konsequenz ist, dass die Rivalität der Polizeischul-‚Freunde‘ im Film deutlich stärker betont wird als im Roman. 5. Detektiverzählungen 210 <?page no="211"?> Abb. 5.9: Wiener Premierenfoto von Das ewige Leben mit (v.l.) Wolf Haas, Josef Hader, Nora von Waldstätten, Wolfgang Murnberger und Tobias Moretti. Der Film folgt der Chronologie der (abgeänderten) Handlung, das heißt, dass er nicht mit dem überraschenden Erwachen Brenners aus dem Koma beginnt, sondern mit einer Szene, in der sich Brenner bei der zuständigen Behörde über seine Pension informiert und erfährt, dass er, um mehr als die Mindestpension zu erhalten, noch bis 84 arbeiten müsste. Die Sachbearbeite‐ rin fragt ihn, ob er „irgendwelche Ersparnisse“ habe (Das ewige Leben 2015, 0: 01: 21ff.). Brenner erklärt: „Ich hab gerade beruflich a bisserl a schlechte Phase“ (Das ewige Leben 2015, 0: 02: 56ff.). Dabei ist er sowohl arbeitsals auch obdachlos, hat keine Sozialversicherung und kein Bankkonto. „Sie san a U-Boot. Das würde ich nicht als schlechte berufliche Phase bezeichnen“, erwidert die Sachbearbeiterin (Das ewige Leben 2015, 0: 03: 03ff.). Da fällt ihm ein, dass er ein Haus geerbt hat. Die zweifelnde Sachbearbeiterin meint trocken: „Sie ham a Haus. Auf dem Mond? “ - „Nein, in Graz“ (Das ewige Leben 2015, 0: 03: 37ff.). Die Eröffnungsszene soll bereits die ökonomische wie soziale Ungleichheit in der Gesellschaft beispiel‐ haft verdeutlichen, denn dieser Aspekt rückt in den Mittelpunkt der Konzep‐ tion des Films, während der österreichische Fremdenhass eine Nebenrolle spielt, um die gesamtgesellschaftliche Misere noch deutlicher werden zu lassen (Das ewige Leben 2015, z. B. 0: 20: 00ff.; 1: 09: 30ff.); durch die besondere Komik des Dialogs andeuten, dass es sich um eine österreichische Krimi-Tragikomödie handelt, auf die der Kabarettist Josef Hader seit Jahrzehnten spezialisiert ist (als moderner Klassiker des 5.15 Brenner im Film: Das ewige Leben (2015) 211 <?page no="212"?> österreichischen Films gilt Indien von 1993 mit Hader und seinem ebenso berühmten Kabarettisten-Kollegen Alfred Dorfer, unter der Regie von Paul Harather); durch die Erinnerung an das Haus und die Erwähnung von Brenners Kopfschmerz in die Handlung einführen, die Brenner nun zurück in den Grazer Stadtteil Puntigam führt. Eine Stimme aus dem Off kommentiert Brenners Reise, beginnend mit den bekannten Roman-Worten: „Jetzt ist schon wieder was passiert“. Auch das Roman-Zitat mit der ‚weiten Welt‘, die bisher nur für Brenner gezählt habe, und der hierfür ebenso beispielhaft wie ironisch Geltung beanspruchenden Aufzählung österreichischer Städte kommt vor (Das ewige Leben 2015, 0: 03: 54ff.). Die Stimme aus dem Off ist die Stimme des Roman-Erzählers, die sprachlichen Eigenheiten von „pass auf, was ich Dir sage“ bis „ein bisschen ding“ kommen auch hier vor (Das ewige Leben 2015, 0: 04: 38ff.). Allerdings wird die Erzählerfigur des Romans nicht erwähnt - es gibt keinen „Hausgeist“ und es wird auch niemand mit einer solchen Funktion am Ende erschossen. Änderungen und Übernahmen von Handlungsmustern und Textteilen halten sich die Waage. So wird der Film zu einer eigenständigen und dennoch dem Ausgangsmedium treu bleibenden Roman-Adaption. Das geerbte Haus entpuppt sich - zuerst ist es im strömenden Regen zu sehen (auch im weiteren Verlauf des Films wird es immer wieder heftig regnen) - als veritable Bruchbude (Das ewige Leben 2015, 0: 04: 51ff.). Die Symbolik ist überdeutlich. Brenner ist, auch im Vergleich mit seinem spießigen, aber netten Nachbarn, eine Verliererfigur. Doch verhindern die Überzeichnungen und die Durchkreuzungen von Stereotypen (auch naiv-spießige Nachbarn können offenbar nett sein) die Klischeebildung. Als Brenner mit der Motorsäge des Nachbarn einen auf das geerbte Haus gefallenen Baum umsägt, dabei nicht auf die gut gemeinten Ratschläge des Nachbarn hört und der Baum auf dessen Auto fällt, meint der schockierte Nachbar mit österreichischem Understatement: „Des is aber jetzt a blöde Geschicht“, und er fragt nach einer Versicherung - die Brenner höchstwahr‐ scheinlich nicht hat (Das ewige Leben 2015, 0: 08: 18ff.). Was aus dieser Episode wird, ob und wie Brenner die Schuld bezahlt, bleibt offen. Die Szene dient vor allem der Komikerzeugung und hat mit der Haupthandlung nichts zu tun. Ebenfalls nicht erzählt werden die Konsequenzen aus der Kontrolle des betrunken und mit einem selbst gemalten Versicherungsschild 5. Detektiverzählungen 212 <?page no="213"?> Schlangenlinien fahrenden Brenner durch die Streifenpolizei (Das ewige Leben 2015, 0: 16: 30ff.). Als Brenner sein Moped in Ordnung gebracht hat, gibt es die erste Rück‐ blende. Auch die dazu spielende Rockmusik (zu hören ist von Eric Burdon & The Animals When I Was Young aus dem Jahr 1967) stimmt mit darauf ein, dass die weitere Handlung Brenners Vergangenheit betreffen wird (Das ewige Leben 2015, 0: 09: 11ff.). Brenner findet seine alte Pistole auf dem Dachboden des Hauses und in einer Rückblende wird nun der Banküberfall der früheren Freunde angedeutet (Das ewige Leben 2015, 0: 11: 20ff.). Brenner besucht seinen alten Freund Köck in dessen Antiquitätengeschäft (Das ewige Leben 2015, 0: 12: 00ff.). Weil Köck selbst pleite ist und Brenner kein Geld borgen kann, bittet der ihn, die alte Pistole für ihn zu verkaufen. Köck ruft Aschenbrenner an, um ihn - wie sich herausstellt: einmal mehr - zu erpressen (Das ewige Leben 2015, 0: 14: 03ff.; 0: 18: 50ff.; 0: 35: 25ff.). Aschenbrenner sucht Brenner auf und bedroht ihn mit seiner Pistole, vor allem aber will er seine Pläne erfahren. Im Gespräch wird deutlich, wie wenig Brenner seinen alten Kumpanen mag (Das ewige Leben 2015, 0: 20: 56ff.). Als Aschenbrenner, der ebenfalls krank wirkt (beide nehmen Tabletten gegen ihr Leiden ein), das Haus verlassen hat, bekommt Brenner so starke Migräne, dass er sich mit seiner Waffe in den Kopf schießt (Das ewige Leben 2015, 0: 25: 56f.). Damit ist der Tiefpunkt erreicht. Als Brenner in der Klinik wieder zu sich kommt, wird er, ohne ihre Identität zu kennen, von Aschenbrenners junger Frau mit dem sprechenden Namen Dr. Irrsiegler wegen seiner Amnesie behandelt. Ihr erklärt er, dass er nicht Selbstmord begangen hat, sondern dass ihn jemand umbringen wollte - und zwar Aschenbrenner, wegen des früheren gemeinsamen Bankraubs. So bringt er die junge Frau überhaupt erst auf die Spur seines alten Kumpels Köck (Das ewige Leben 2015, 0: 32: 30ff.), die diesen in dessen Laden aufsucht und erschießt (Das ewige Leben 2015, 0: 37: 25ff.; 0: 41: 49ff.). Brenner hält Aschenbrenner fälschlicherweise für den Attentäter auf sein Leben und er entlässt sich selbst, um ihm auf die Spur zu kommen (Das ewige Leben 2015, 0: 39: 25ff.). Dabei findet er den toten Köck. Eine witzige Idee ist, dass dessen Leiche in einem barocken Bilderrahmen liegt, nach einem solchen Rahmen hatte die junge Frau gefragt - ein metafiktionales Spiel mit Stoff und Genre (Das ewige Leben 2015, 0: 44: 54ff.). Brenner glaubt natürlich wieder, dass Aschenbrenner der Täter ist. Derweil wird Pinto - Köcks Mitarbeiter, der Aschenbrenners Frau dort nach der Tat gesehen hat und mit dem restlichen Geld aus der Kasse 5.15 Brenner im Film: Das ewige Leben (2015) 213 <?page no="214"?> geflüchtet ist - von der Polizei verhaftet und verhört (Das ewige Leben 2015, 0: 54: 00ff.). Er sieht im Verhör mit Aschenbrenner ein Bild von dessen Frau auf dessen Laptop, identifiziert sie als Täterin und besiegelt damit sein eigenes Todesurteil (Das ewige Leben 2015, 0: 56: 25ff.). Aschenbrenners Frau ist emotional abhängig und wollte ihrem Mann helfen (Das ewige Leben 2015, 0: 48: 50ff.; 1: 15: 16ff.). Sie will zur Polizei gehen, doch ihr Mann regelt die Angelegenheit nun auf seine, nicht weniger blutige Weise. Er tötet den Mitwisser Pinto und wird also, nachdem ihn Brenner zunächst fälsch‐ licherweise verdächtigt hat, nun tatsächlich zum Mörder. Der bei seiner Mutter wohnende, junge Ausländer wird von ihm regelrecht hingerichtet (Das ewige Leben 2015, 1: 07: 30ff.). So bestätigt sich doch noch Brenners Einschätzung von Aschenbrenners Charakter. Polizist Heinz, der - anders als im Roman - kein Verhältnis mit Aschen‐ brenners Frau hat, kommt über die verschiedenen Waffen und ihre mögliche Herkunft dem alten Fall und den neuen, miteinander verbundenen Fällen auf die Spur (Das ewige Leben 2015, 1: 10: 15ff.). Währenddessen sucht Brenner eine alte Jugendliebe auf, die auch die Jugendliebe seiner Freunde war, vor allem die Geliebte seines bei einem Unfall getöteten besten Freundes Franz (genannt Saarinen). Sie entpuppt sich als Mutter Frau Dr. Irrsieglers (Das ewige Leben 2015, 1: 11: 28ff.; 1: 18: 05ff.). Die Ärztin holt ihre Mutter ab und erklärt: „Ich feiere einen runden Geburtstag. Mein Mann macht ein großes Überraschungsfest für mich“ (Das ewige Leben 2015, 1: 19: 15ff.). Brenner folgt den beiden, um die ältere Frau zu konfrontieren: „Was bist denn Du für a Mutter? “ Schließlich wissen beide, dass Aschenbrenner vielleicht der Vater der jungen Frau sein kann, auch wenn, wie sie erwidert, die Chance nur bei „30 Prozent“ liegt (Das ewige Leben 2015, 1: 24: 05ff.). Damals hatte sie ein Verhältnis mit dreien der Freunde: Aschenbrenner, Brenner und Franz (Saarinen). Brenner vermutet: „Damit hat ihn der Köck erpresst“, denn er glaubt immer noch, dass Aschenbrenner der Mörder von Köck ist und auch versucht hat, ihn umzubringen (Das ewige Leben 2015, 1: 24: 45ff.). In der Zwischenzeit wertet Heinz die Aufzeichnungen einer Überwa‐ chungskamera aus und entdeckt, dass Dr. Irrsiegler die Besucherin von Köck vor dessen Ermordung war (Das ewige Leben 2015, 1: 21: 31ff.). Heinz kommt mit einer Vorladung zur Geburtstagsfeier und streitet sich einmal mehr mit Aschenbrenner, den er und der ihn nicht mag (Das ewige Leben 2015, 1: 25: 55ff.). Anschließend konfrontiert Brenner seinen alten Kumpanen: „Ich find des lächerlich, wenn sich alte Männer junge Frauen nehmen, 5. Detektiverzählungen 214 <?page no="215"?> die ihre Töchter sein könnten.“ Daraufhin wird er von Aschenbrenner niedergeschlagen, der ihm gleich wieder die Hand zur Versöhnung reicht - die Brenner nicht nimmt (Das ewige Leben 2015, 1: 27: 32ff.). Major Heinz hilft Brenner und der erklärt ihm den alten Fall - den Bankraub der Freunde, der eigentlich ‚nur‘ eine Art Mutprobe war und Brenners besten Freund Franz das Leben kostete (Das ewige Leben 2015, 1: 28: 35ff.). Während Heinz erzählt, dass die junge Frau des Chefs Köck erschossen hat, kommt Aschenbrenner in die Küche von Brenners Haus (Das ewige Leben 2015, 1: 30: 32ff.). Heinz droht seinem Chef, den alten Fall publik zu machen, falls er nicht als Leiter des Landeskriminalamts zurücktrete. Aschenbrenner erschießt ihn und will es so aussehen lassen, als ob Brenner den Mord und danach, diesmal erfolgreich, Selbstmord begangen hat (Das ewige Leben 2015, 1: 31: 30ff.). Aschenbrenner wird nicht als kalter Mörder, sondern als oft sehr emo‐ tionale und ambivalente Figur gezeichnet. Über Brenners Erinnerungen und über das ebenso herzliche wie rücksichtslose Verhalten seines alten ‚Freundes‘ bekommt der Film eine starke nostalgische Prägung. So meint Aschenbrenner zu Brenner: „Früher hätte ich viel dafür gegeben, dass Du mein Freund warest“ (Das ewige Leben 2015, 1: 33: 45ff.). Während Brenner das Verhalten des anderen so kommentiert: „Du kannst mich erschießen oder sentimental sein, aber beides gleichzeitig finde ich echt Scheiße“ (Das ewige Leben 2015, 1: 33: 55ff.). Brenner kann Aschenbrenner zunächst entkommen, doch bekommen beiden die Anstrengung der Verfolgung und die Aufregung des Streites nicht. Der ohnehin kranke Aschenbrenner stirbt, vermutlich an einem Herzinfarkt; mit Blick auf die durch ein (von ihm organisiertes) Feuerwerk noch besonders erleuchtete Festhalle mitten im Fluss, in der seine Frau Geburtstag feiert und tanzt (Das ewige Leben 2015, 1: 44: 07ff.; 1: 46: 34ff.). Damit ist der Weg frei für eine Erklärung der Mordserie, die Dr. Irrsiegler nicht mit den Taten in Verbindung bringt. Auch ihr Versuch, die Tat noch zu gestehen, wird nicht ernstgenommen, weil Brenner Köcks Tod als Unfall darstellt (Das ewige Leben 2015, 1: 50: 05ff.). Der Film schließt mit einem gemeinsamen Bier Brenners mit seiner möglichen Tochter an einem Imbiss mit dem ironischen-plakativen und symbolischen Namen „Endstation“ (Das ewige Leben 2015, 1: 51: 25ff.). Bren‐ ner empfiehlt der Therapeutin, die nicht weiß, wie sie ohne ihren Mann und mit der Schuld weiterleben soll: „Dann machen’s a Therapie.“ Sie erwidert: „Ja, aber bitte mit wem? Therapeuten sind doch alle gestört“ (Das ewige 5.15 Brenner im Film: Das ewige Leben (2015) 215 <?page no="216"?> Leben 2015, 1: 51: 52ff.). Brenner erklärt, öfter nach ihr schauen zu wollen, denn ihr amtlicher Vater sei der einzige Freund gewesen, den er je gehabt habe (Das ewige Leben 2015, 1: 52: 20ff.). Die Verfolgungsjagd Brenners und Aschenbrenners durch das nächtliche Graz balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Genre-Spannung und Genre-Persiflage. Sie wird zu einer teils lächerlichen und teils wehmüti‐ gen Wiederholung des früheren Kräftemessens (Das ewige Leben 2015, 1: 36: 21ff.). Der nostalgische Charakter des Films wird von Brenner an einer Stelle auf den Punkt gebracht: „Ist vielleicht gar nicht so schlecht. […] Dass man stirbt, wenn’s am schönsten is“ (Das ewige Leben 2015, 1: 05: 20ff.). Und die kritische Komponente des Films wird ebenso symbolisch wie ikonographisch visualisiert, den Roman zitierend, wenn während der Verfolgungsjagd auf der Seitenwand eines schlichten vierstöckigen Hauses ein überlebensgroßes Bild des noch jungen Arnold Schwarzenegger zu sehen ist, überschrieben mit: „Stark. Steirisch! “ (Das ewige Leben 2015, 1: 40: 13ff.). Wie im Roman ruft auch der Film Klischees auf, um sie zu brechen; er evoziert Stereotype, um sie zu durchkreuzen. Dass der Film andere Wege als der Roman geht, ist ebenso verständlich wie notwendig. Dass dabei nach dem äußerst regnerischen Anfang auch die Schönheiten der Grazer Altstadt ins Bild gesetzt werden und zum Schluss ein Happy-End für Brenner und seine mögliche Tochter aufscheint, wird man einer Produktion nicht verübeln können, die Probleme hat, ihre Kosten wieder einzuspielen. Mit der österreichisch-typischen launigen und schwarzhumorigen, dabei aber differenzierten Darstellung der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander erreicht der Film jedenfalls mehr als viele andere, viel teurere Produktionen. Fragen zu diesem Kapitel: Welche Typen des Detektivs gibt es? Wie hat sich die Detektivfigur entwickelt? Inwiefern sind Detektivfiguren der Aufklärung verpflichtet? Welche Bedeutung hat die Wiederkehr der ‚schlafenden Welt von Monstren‘ (Foucault) für die Konzeption von Ermittler- und Täterfigu‐ ren? Weshalb ist E.T.A. Hoffmanns Titelfigur in Das Fräulein von Scuderi (1819) bereits eine moderne Detektivin? Wie werden die Taten des Goldschmieds motiviert? 5. Detektiverzählungen 216 <?page no="217"?> Edgar Allan Poes The Murders in The Rue Morgue (1841) gilt als wegweisend - weshalb? Welche Eigenschaften machen Sherlock Holmes zu der wohl bekann‐ testen Detektivfigur? Wie werden im Baskerville-Roman Nervenkitzel und Verunsicherung einerseits, Beruhigung und Sicherheit andererseits in eine Balance gebracht? Welche Bedeutung hat Komik für die Sherlock-Holmes-Erzählungen und -Filme? Welche anderen Akzente als der Roman setzt die Verfilmung The Hound of the Baskervilles von 1939? Weshalb ist Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926) ein so besonderer Roman? Wie werden die Abgründe der menschlichen Existenz inszeniert? Welche Gemeinsamkeiten und Veränderungen im Vergleich mit dem Roman finden sich in der Verfilmung The Murder of Roger Ackroyd von 2000? Wie verläuft die Detektion in Erich Kästners Emil und die Detektive (1929)? Welche Stellung hat der Roman aus welchen Gründen innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur? In der Verfilmung Emil und die Detektive (1929) gibt es welche Verän‐ derungen der Vorlage und aus welchen Gründen? Raymond Chandlers Figur Philip Marlowe gilt weshalb als hard-boiled detective? Was bringt Chandlers The Big Sleep (1939) an Neuem in die Entwicklung des Genres ein? Welche Tabus bricht der Roman und wie ist sein Frauenbild? Welche Veränderungen gegenüber der Vorlage finden sich aus welchen Gründen in der Verfilmung The Big Sleep von 1946? Weshalb lautet der Untertitel von Friedrich Dürrenmatts Das Verspre‐ chen (1958) „Requiem auf den Kriminalroman“? Welche Rolle spielt die Rahmenerzählung? Handelt es sich um einen Anti-Detektivroman oder um eine Weiter‐ entwicklung des Detektivromans? Welche anderen Absichten als der Roman verfolgt der Film Es geschah am hellichten Tag (1958)? Simon Brenner ist weshalb eine postmoderne Detektivfigur? 5.15 Brenner im Film: Das ewige Leben (2015) 217 <?page no="218"?> Weshalb sind Erzählsituation und Sprache von Das ewige Leben (2003) besonders? Welche unterschiedlichen gesellschaftskritischen Schwerpunkte set‐ zen der Roman und seine Verfilmung von 2015? Weshalb sind Roman und Verfilmung eine Weiterentwicklung der Detektiverzählung und zugleich auch deren Persiflage? 5. Detektiverzählungen 218 <?page no="219"?> 6. Thriller 6.1 Es geht um den Nervenkitzel Thriller (von engl. to thrill) bedeutet so viel wie „Nervenkitzel“ oder „heftige Erregung“ (Koebner / Wulff 2013, 9). Der Thriller als Genre (hier des Films, es gilt aber auch für die Literatur) „will eben nicht, dass sich die Betrachter gelassen […] in ihrem Stuhl zurücklehnen, damit sie sich aus kritischer Distanz […] Gedanken machen“ (ebd.). Und weiter: „Der Begriff ‚Thriller‘ ist umgangssprachlich mit ‚Reißer‘ zu übersetzen. […] Der Thriller will hineinreißen in die Aufregungen, die die fiktiven Personen erleben und erleiden, somit auch mitreißen und fortreißen, damit die Zuschauer […] nicht zu Atem kommen“ (ebd.). Um dies zu erreichen, setzt der Thriller auf Action, also auf eine tempo- und ereignisreiche Handlung und, weil es um noch kommende Ereig‐ nisse geht, auf ‚Zukunftsspannung‘ (Nusser 2009, 56). Dabei kommt es in der Regel zu temporeichen Ortswechseln, wobei die Orte - insbesondere die Großstadt (vgl. Nusser 2009, 67) - Teil der Inszenierung des Verbrechens werden. Spionageerzählungen beispielsweise, auf die noch eigens eingegan‐ gen wird, können als Variante gesehen werden, so dass der Thriller sich, wenn überhaupt, dadurch abgrenzen lässt, dass er nicht zu den anders bezeichneten Sonderformen gehört (für die Thriller aber durchaus als Oberbegriff gelten kann). Ansonsten sind die Unterschiede zu den anderen Subgenres gering. Wie merkwürdig Unterteilungen sein können, zeigt beispielsweise Wiki‐ pedia mit den vier Varianten Psychothriller, Politthriller, Erotikthriller und Ökothriller (Stand: 20.03.2020). Thomas Koebner und Hans Jürgen Wulff unterscheiden ganz ähnlich in Action-Thriller (eigentlich eine tautologische Formulierung), Politthriller, Psychothriller und Erotik-Thriller (Koebner / Wulff 2013, 13 ff.). Doch auch Spionagethriller, die in der Auflistung nicht vorkommen, handeln von Politik und auch für sie sind, man denke an James Bond, Liebesszenen zentral. Allerdings spielen - das steckt ja bereits in der Bezeichnung -Thriller vor allem mit der Angst der Figuren und des Publikums. <?page no="220"?> Als vielleicht weltweit erfolgreichster Meister der Erzeugung dieser Angst gilt Stephen King (geb. 1947), dessen Romane (und die oft nicht we‐ niger bekannten Verfilmungen) die Grenzen zum Horror- und Science-Fic‐ tion-Genre überschreiten und dabei psychologische Elemente integrieren. Ein Beispiel ist The Shining (1977; verfilmt 1980 von Kultregisseur Stanley Kubrick mit Jack Nicholson in der Hauptrolle): Ein Familienvater wird zum brutalen Angreifer, offenbar unter dem Einfluss von Geistern in einem leeren Spukhotel. Als einer der bekanntesten neueren Vertreter des Genres Psychothriller in deutscher Sprache gilt Sebastian Fitzek. Sein erster Roman Die Therapie (2006) inszeniert ein Spiel mit Identitäten rund um einen möglichen, sich später als Erfindung entpuppenden Mord an einem Mädchen. Auch die anderen zahlreichen Romane Fitzeks erreichen Millionenauflagen. Für den Thriller gilt der wie für den Krimi allgemein charakteristische „Dreischritt von Verbrechen, Fahndung und Überführung“ (Nusser 2009, 50), wobei die Fahndung nicht im Zentrum stehen muss und der Spannungs‐ aufbau auch so sein kann, dass das Verbrechen erst später geschieht. Das Verbrechen ist „nicht Rätsel, sondern Ereignis, gegen das man sich wehren kann und muss“ (Nusser 2009, 51), wobei auch die Abwehr nicht immer so wichtig ist, sondern vielmehr das dynamische Geschehen: „Detektiv‐ geschichte und Thriller können kaum eindeutig voneinander abgegrenzt werden; unter dem Blickpunkt der Kriminalliteratur geht es stattdessen um das Verhältnis von detection und action, das die jeweiligen Texte bestimmt.“ (Roehl 2017, 541) Keineswegs ist der Thriller immer nur „die Geschichte eines möglichen Opfers und darum auf eine einzelne Figur fokussiert“ (Koebner / Wulff 2013, 11). Im Thriller kann es Ermittlerfiguren geben, die eine so große Rolle spielen, dass die Grenze zur Detektiverzählung fließend wird. Ein populäres Beispiel ist die seit 2014 in loser Folge ausgestrahlte Serie von abendfüllenden Kriminalfilmen unter dem Titel Nord bei Nordwest in der ARD, in der ein Tierarzt und ehemaliger Polizist namens Hauke Jacobs (gespielt von Hinnerk Schönemann) in Morden ermittelt, die in dem fiktiven kleinen Ostsee-Ort Schwanitz geschehen. Liebesgeschichten, die oft zum Teil der Spannungserzeugung gehören, müssen nicht immer mit einer erotischen Inszenierung einhergehen. Im Fall der genannten Serie steht Jacobs zwischen zwei Frauen, seiner Tierarzthelferin und der Polizistin Lona Vogt, die allerdings in der elften, 2020 ausgestrahlten Folge In eigener Sache getötet wird. Am Ende der Folge bringt der Täter Jacobs und seine 6. Thriller 220 <?page no="221"?> Tierarzthelferin, die ihm eine Falle gestellt haben, fast auch noch um und wird nur kurz vorher von dem Vater Lona Vogts erschossen. Jacobs ist als gebrochene und sich selbst überschätzende Hauptfigur eher untypisch, so versucht sich die Serie wohl auch von den anderen Formaten abzusetzen. Ein berühmtes Beispiel für die Dominanz von Action mit der dafür stets relevanten Inszenierung von „Kampfszenen“ (Nusser 2009, 53) ist Bonnie und Clyde (1967), ein US-amerikanischer Thriller, der dem Untergenre des Gangsterfilms zugerechnet wird (Regie: Arthur Penn, mit Faye Dunaway und Warren Beatty in den Hauptrollen). Der Film basiert auf einer wahren Begebenheit. Ein verbrecherisches Pärchen wurde in den 1930er Jahren berühmt durch seine Raubzüge und Morde, bis es schließlich gestellt und bei einem Schusswechsel erschossen wurde. Der Film adaptierte filmische Erzählweisen aus Europa, machte aus dem Mörderpärchen sympathische Rebellen und ebnete so den Weg für ein ‚neues‘ Hollywood-Kino. Die übliche Einteilung von ‚gut‘ und ‚böse‘ funktioniert nicht mehr, auch wenn die Taten der beiden nicht beschönigt dargestellt werden. In der hier begründeten Tradition stehen beispielsweise die Filme von Quentin Tarantino. Bonnie und Clyde ist auch ein sogenanntes Road Movie, deren es viele gibt, zu den besonders berühmten Beispielen zählt Dennis Hoppers Easy Rider von 1969, ein Film, der wie kaum ein anderer das Aufbruchsgefühl der Generation von 1968 in Szene setzt - von dem Bonnie und Clyde freilich auch schon handelte. Thriller zeigen sich, wie alle anderen künstlerischen Produktionen, von den Diskursen der Zeit beeinflusst und retrospektiv ist zu entscheiden, ob sie eher sozialgeschichtliche Bedeutung oder auch noch als eigenständiges (literarisches, filmisches…) Kunstwerk Bestand haben. Ein gutes Beispiel für die Relevanz von Zeitgeschichte und künstle‐ rischem Format zugleich ist The Third Man (dt. Der dritte Mann), ein britischer, noch in Schwarzweiß gedrehter Thriller von Carol Reed aus dem Jahr 1949. Das Drehbuch schrieb Graham Greene, einer der bekanntesten britischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Der US-amerikanische Autor Holly Martins ( Joseph Cotten) reist unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in das zerstörte und besetzte Wien, um seinen alten Freund Harry Lime (Orson Welles) zu treffen, der ihm eine Arbeit verschaffen will. Der angeblich kurz vor Hollys Ankunft von einem Auto überfahrene, getötete Harry entpuppt sich aber nicht nur als äußerst lebendig, sondern auch als Mörder und Chef eines Medikamentenschmugglerrings. Orson Welles spielt seine Rolle mit einer unnachahmlichen Mischung aus Charme und Bosheit. Die dem Film unterlegte Zither-Melodie entwickelte sich schnell zum Ohrwurm. 6.1 Es geht um den Nervenkitzel 221 <?page no="222"?> Die Szene mit dem Riesenrad im Prater und die Verfolgungsjagd durch die Wiener Kanalisation gehören zu den kanonischen Sequenzen der Film‐ geschichte. Es ist die hier nur angedeutete Kombination verschiedener Faktoren, die solche Filme so vielschichtig und damit zu bleibenden und immer wieder diskutierten Exemplaren des Thriller-Genres machen. Thriller im Film haben sich schnell als eines der erfolgreichsten und zu‐ gleich angesehensten Genres etabliert. Einer der wegbereitenden Regisseure war zweifellos Alfred Hitchcock, der über Jahrzehnte eine Reihe der auch heute noch bedeutendsten Thriller aller Zeiten inszenierte. Schon sein erster erfolgreicher Film, The Lodger: A Story of the London Fog (1927), gehört zu den frühen Beispielen des Genres, gefolgt von Blackmail (1929), dem ersten britischen Tonfilm, über The 39 Steps (1935) und The Lady Vanishes (1938) bis zu den nach Hitchcocks Umzug folgenden US-amerikanischen Produktio‐ nen, die teilweise weiterhin in Großbritannien spielen, etwa Rebecca (1940), die Verfilmung des gleichnamigen Romans (1938) der englischen Autorin Daphne du Maurier (1907-89), ausgezeichnet mit dem Oscar für den besten Film. Nicht weniger legendär sind Spellbound (1945), Strangers on a Train (1951), Dial M For Murder (1954), Rear Window (1954), To Catch a Thief (1955), Vertigo (1958), North by Northwest (1959) und Psycho (1960). Hitchcock entwickelte einen eigenen Stil der Spannungserzeugung und Überraschung. Dafür steht auch der von Hitchcock geprägte Begriff des ‚MacGuffin‘, der eine Variation der falschen Fährte (engl. ‚red herring‘) be‐ zeichnet, mit der die Handlung vorangetrieben wird (ohne für die Handlung selbst von besonderer Bedeutung zu sein). In Psycho beispielsweise lässt Hitchcock, was ebenso neu wie schockierend war, die weibliche Hauptfigur schon nach kurzer Zeit auf dramatische Weise sterben. Die Mord-Szene un‐ ter der Dusche gehört wohl zu den bekanntesten Szenen der Filmgeschichte. Andere angesehene Regisseure setzten die Reihe der aufsehenerregenden Thriller-Produktionen fort. Zu den Thriller-Spezialisten gehören so unter‐ schiedliche Persönlichkeiten (mit einem entsprechend unverwechselbaren Stil der Inszenierung) wie der bereits erwähnte Quentin Tarantino, etwa mit Pulp Fiction (1994), Kill Bill (Teil 1: 2003; Teil 2: 2004) und Once Upon a Time in Hollywood (2019), oder David Fincher mit Filmen wie Seven (1995), Fight Club (1999), Panic Room (2002) und Gone Girl (2014). Fincher hat auch mit The Girl With The Dragon Tattoo (2011) einen der Romane des weltweit erfolgreichen schwedischen Thriller-Autors Stieg Larsson verfilmt. Thriller in Buchform gehören in der Regel zur Trivial- oder Unterhal‐ tungsliteratur, so verwendet Bertolt Brecht den Begriff als Bezeichnung 6. Thriller 222 <?page no="223"?> für minderwertige Krimi-Ware: „Die Amerikaner haben weit schwächere Schemata und machen sich, vom englischen Standpunkt aus, der Originali‐ tätshascherei schuldig. Ihre Morde geschehen am laufenden Band und haben Epidemiecharakter. Gelegentlich sinken ihre Romane zum Thriller herunter, das heißt der Thrill ist kein spiritueller mehr, sondern nur noch ein rein nervenmäßiger“ (Brecht 1998, 33). Das Genre kann im Film deutlich anspruchsvollere Produktionen aufweisen. Dies dürfte an der Actionlastigkeit liegen, die im Film viel variabler und eindrucksvoller in Szene gesetzt werden kann. Im Roman wird oft Handlungsspannung um ihrer selbst willen erzeugt und es fehlt die symbolische Ebene. Es fehlt also das, was Pierre Bourdieu als besonderes Merkmal von Literatur im engeren Sinn so beschrieben hat: Was literarisches Schreiben vom wissenschaftlichen Schreiben unterscheidet: nichts belegt es besser als das ihm ganz eigene Vermögen, die ganze Komplexi‐ tät einer Struktur und Geschichte, die die wissenschaftliche Analyse mühsam auseinanderfalten und entwickeln muß, in der konkreten Singularität einer sinnlichen wie sinnlich erfaßbaren Gestalt und eines individuellen Abenteuers, die zugleich als Metapher und als Metonymie funktionieren, zu konzentrieren und zu verdichten. (Bourdieu 2001, 53) Metapher und Metonymie werden im Thriller in der Regel durch Action überdeckt oder gar ersetzt. Handlungsspannung und ästhetische Spannung schließen sich in der Literatur offenbar weitgehend aus, während sie im Film durch experimentelle Formen des Erzählens eher zusammenkommen. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Als Thriller und zugleich einer der angesehensten wie erfolgreichsten Romane aller Zeiten kann Patrick Süskinds Roman Das Parfum (1985) gelten, während die Verfilmung nicht sehr überzeugend ausgefallen ist. Das Parfum - Die Geschichte eines Mörders von 2006 (Regie: Tom Tykwer) besticht zwar durch exzellent besetzte Nebenrollen (z. B. Dustin Hoffman) und zählt zu den teuersten deutschen Filmproduktionen. Allerdings fehlt weitgehend die beim Roman vorhan‐ dene symbolische Ebene. Tykwer beschränkt sich auf die Kraft der Bilder, die allerdings bei der Inszenierung des Geruchs nicht mehr funktioniert. Ständig die Nase des Hauptdarstellers Ben Whishaw in Großaufnahme zu zeigen kann den Anspielungsreichtum des Olfaktorischen im Roman nicht ersetzen. Dagegen sollen die für dieses Kapitel ausgewählten Filmbeispiele zeigen, dass es durchaus Methoden gibt, mit denen Anspielungsreichtum 6.1 Es geht um den Nervenkitzel 223 <?page no="224"?> erzeugt und die Reflexion über das Gezeigte auf innovative Weise angeregt werden kann. Thriller-Serien gibt es ebenfalls in einer so großen Zahl, dass hier nur ei‐ nige genannt werden können. Sie verhalten sich ähnlich zur Zeitgeschichte wie der Thriller im Film und sind, was die Themen und die Formate angeht, außerordentlich vielfältig. Dazu kommt, dass die Abgrenzung schwierig ist. Bereits Mr. Moto (1937-39) und Charlie Chan (1931-49) zeigen viel Action und es ist schwer zu entscheiden, ob man sie zu den Thriller-, zu den Detektiv- oder den Spionageserien rechnen soll - oder zu allen dreien. Diese Serien gehen, wie viele andere auch, auf krimiliterarische Vorlagen zurück. Dazu kommen zahlreiche Polizeiserien wie die US-amerikanische Produktion The Streets of San Francisco (Die Straßen von San Franzisco) von 1972-77, mit der Michael Douglas aus dem Schatten seines Vaters Kirk Douglas treten konnte. Auch hier dominiert die nervenkitzelnde Action. Während solche Serien additiv vorgehen und es keine nennenswerte Entwicklung der Figuren über einzelne Folgen hinaus gibt, gibt es auch Produktionen wie die mit Thriller-Elementen arbeitende Privatdetektivserie Remington Steele (1982-87), die Pierce Brosnan berühmt machte und die eine durchgängige Liebesgeschichte erzählt. Es geht um die Liebe des sich als Remington Steele ausgebenden Hochstaplers zu Laura Holt (Stephanie Zimbalist), die für ihre Detektei den wohlklingenden Namen erfunden hatte, um ein männliches Aushängeschild in einer Gesellschaft zu haben, die Frauen die Detektivarbeit nicht zutraut. Bis zum Schluss werden die Zuschauer*innen im Dunkeln gelassen, ob sich aus der Zusammenarbeit der beiden ein Liebespaar entwickeln kann - die Auflösung erfolgt in den letzten Minuten der letzten Folge. Serien wie Nic Pizzolattos True Detective (2014-15 u. 2019) erzählen eine Geschichte über eine Staffel, die nächste Staffel erzählt die nächste Geschichte. Ob die bereits am Titel zu erkennende Ermittlungsarbeit von je zwei Polizeibeamten ausreicht, um von einer Detektivserie zu sprechen oder ob der im Vordergrund stehende Thrill, das Dominieren von Spannungs‐ erzeugung und Action, eher die Bezeichnung Thrillerserie rechtfertigt, sei dahingestellt. Zu verhandeln wäre außerdem das deutlich ausgestellte ‚Mystery‘-Element. Cross-Over-Produktionen sind heute vielleicht eher die Regel als die Ausnahme. Fantasy-Serien (Game of Thrones; 2011-19), Politik-Serien (House of Cards; 2013-16) und Spionage-Serien (Homeland; seit 2011) arbeiten ebenso mit Thriller-Elementen wie Horror-Serien (American Horror Story; 6. Thriller 224 <?page no="225"?> seit 2011) oder Science-Fiction-Serien (Westworld; 2016). Sie alle - und viele, viele mehr - werden heute in Medienangeboten unter dem Begriff Thriller zusammengefasst, obwohl es geraten wäre, stärker zu differenzieren, will man den Begriff überhaupt noch sinnvoll verwenden. Abgesehen von solchen Grenzphänomenen gibt es auch eindeutig als Thriller zu klassifizierende Fernsehserien, in denen die Action unangefoch‐ ten im Mittelpunkt steht. Zu den Straßenfegern der Nachkriegszeit zählt die Thriller-Serie The Fugitive (Dr. Kimble auf der Flucht), eine US-amerika‐ nische Krimi-Fernsehserie (1963-67) mit David Janssen in der Rolle eines Arztes, der zu Unrecht des Mordes an seiner Frau angeklagt wird und nach langer Flucht seine Unschuld beweisen kann. Über 120 Folgen wird der Spannungsbogen gehalten, ob Richard Kimble seinem Verfolger von der Polizei, Philip Gerard (Barry Morse), entkommen oder doch noch entlastet werden kann. Auch Phoebe Waller-Bridges Serie Killing Eve (seit 2018) inszeniert ein Katz-und-Maus-Spiel, das die Hauptfiguren unter ständiger Lebensgefahr sogar über alle Erdteile scheucht. Neben solchen erfolgreichen Blockbuster-Serien gibt es auch immer wieder kleinere, sich bei der Kritik und auch beim Publikum durchsetzende Thriller-Serien. In drei Staffeln erlaubt Chris Chibnalls britische Thriller-Se‐ rie Broadchurch (2013, 2015 u. 2017) spannend-desillusionierende Blicke hinter die schöne Fassade einer kleinen Küstenstadt, die Folgen werden zu‐ sammengehalten durch die Ermittlungen zweier Polizeibeamter. Quicksand - Im Traum kannst du nicht lügen (Originaltitel: Störst av allt; Regie: Per-Olav Sørensen) ist eine sechsteilige schwedische Miniserie von 2019 nach einem Roman von Malin Persson Giolito, sie beleuchtet die Hintergründe eines Amoklaufs in einer Schule. Solche Beispiele zeigen, dass auch der Thriller, wie das Krimi-Genre allgemein, ein Interesse an sozialen Problemen hat, die zeitgenössische westliche Gesellschaften umtreiben. 6.2 Der Vorläufer: Friedrich Schillers Der Geisterseher (1789) Wie bereits dargestellt, gibt es Individualität im heutigen Sinn überhaupt erst seit Beginn der Moderne. Das von Beginn an „hybride Subjekt“ (Andreas Reckwitz) ist Teil wie Produkt der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlich‐ keit und der Durchsetzung des Paradigmas der Vernunft in der Aufklärung. Unsicherheiten werden gespeist aus der zunehmenden Erfahrung von Kon‐ 6.2 Der Vorläufer: Friedrich Schillers Der Geisterseher (1789) 225 <?page no="226"?> tingenz, also von dem, was außerhalb der Logik und des der unmittelbaren Wahrnehmung verpflichteten Weltbildes liegt. Mit Individualität entsteht auch erst individuelle Schuld, bei der nach differenten Tatumständen und Motiven gefragt wird. Das Interesse an Verbrechen setzt ein: Erstens aus dem Bedürfnis einer Fortsetzung der Aufklärung über die bisherigen Grenzen hinaus; zweitens aus der Notwendigkeit, das Gefährliche solcher Tendenzen in irgendeiner Form (auch in und mit der literarischen) zu bannen; und drittens aus dem Verlangen nach Zerstreuung und Unterhaltung. Devianzen und Sensationen vermögen wie kaum etwas anderes Emotio‐ nen zu wecken. Selbst grausame Handlungen werden nun auch wegen des Nervenkitzels in Fiktionen integriert. Entsprechende Schilderungen werden gezielt eingesetzt, um die Intention des Texts zu stützen - man denke an die grausige Schilderung des Selbstmordes am Ende von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther. Der europäische Schauerroman setzte neue Akzente in dramatischer Spannungserzeugung und Drastik insbesondere von Schilderungen erotischer Verstrickungen und sexueller Handlungen. Der solche Strömungen seismographisch aufnehmende Schiller erkennt früh diese Tendenz und versucht sein Publikum mit einem Projekt zu locken, das sich der populärsten Gattung - des Romans - bedient und maximalen Nervenkitzel verspricht. Das Romanfragment Der Geisterseher entsteht als „schriftstellerische Zweckarbeit, um den Leser- und Abonnentenkreis seiner Zeitschrift ‚Tha‐ lia‘ durch einen attraktiven, über mehrere Fortsetzungen hin fesselnden Unterhaltungsstoff zu erweitern“ (Schiller 1993a, Anm. 1062). Nicht zufällig gilt der Text als „ein Roman, der ‚Modelle und Strukturen der späteren Kriminaldichtung vorgebildet habe‘ […]. Die detektivische Struktur zeigt sich darin, daß der Prinz allmählich die Geschichte des Sizilianers als Lü‐ genwerk entlarvt: zweifellos ein kriminalistisches Moment […]“ (Koopmann 1998, 707). Zwar erfüllt der Prinz im ersten Buch die Rolle eines Detektivs und erklärt dem Erzähler die Zusammenhänge der rätselhaften vorherigen Ereignisse. Allerdings durchschaut der Prinz nicht, dass er das Opfer einer Intrige wird, die ihn vernichten wird; so jedenfalls führt es der Erzähler am Ende des ersten Buches aus (Schiller 1993a, 104). Es geht weniger um Detektion als vielmehr um thrill, wenn der letzte Absatz einen cliffhanger erzeugt, der kaum dramatischer sein könnte: So endigte sich eine Unterredung, die ich darum ganz hieher gesetzt habe, weil sie die Schwierigkeiten zeigt, die bei dem Prinzen zu besiegen waren, und weil sie, 6. Thriller 226 <?page no="227"?> wie ich hoffe, sein Andenken von dem Vorwurfe reinigen wird, daß er sich blind und unbesonnen in die Schlinge gestürzt habe, die eine unerhörte Teufelei ihm bereitete. Nicht alle - fährt der Graf von O** fort -, die in dem Augenblicke, wo ich dieses schreibe, vielleicht mit Hohngelächter auf seine Schwachheit herabsehen und im stolzen Dünkel ihrer nie angefochtenen Vernunft sich für berechtigt halten, den Stab der Verdammung über ihn zu brechen, nicht alle, fürchte ich, würden diese erste Probe so männlich bestanden haben. Wenn man ihn nunmehr auch nach dieser glücklichen Vorbereitung dessenungeachtet fallen sieht; wenn man den schwarzen Anschlag, vor dessen entferntester Annäherung ihn sein guter Genius warnte, nichtsdestoweniger an ihm in Erfüllung gegangen findet, so wird man weniger über seine Torheit spotten als über die Größe des Bubenstücks erstaunen, dem eine so wohl verteidigte Vernunft erlag. (ebd.) Schiller mischt retrospektives und vorausdeutendes Erzählen, analytische Spannung und Zielspannung, um die größtmögliche Wirkung zu erzeugen. Entsprechend heißt es abschließend: „Er war ein edler Mensch, und gewiß wär er eine Zierde des Thrones geworden, den er durch ein Verbrechen ersteigen zu wollen sich betören ließ“ (ebd.). Dies wird freilich nicht mehr ausgeführt, am Ende des zweiten Buches und des ersten Teils bleibt offen, wie dieses Verbrechen hätte aussehen sollen. Auch wenn Schiller sein Vorhaben nicht fortsetze, weil er selbst mit dem Projekt zunehmend unzufrieden war, es sogar als „Schmiererei“ bezeichnete (vgl. Koopmann 1998, 706): Die Wirkung war ungeheuerlich, die intertextuellen Anspielungen auf das Romanfragment sind nicht zu überblicken. Man denke etwa an E.T.A. Hoffmanns Werke, an den Roman Die Elixiere des Teufels oder an jene Erzählungen, in denen sogenannte Magnetiseure eine Rolle spielen, die als Hypnotiseure und Veranstalter von Séancen auftreten. Auch Wilhelm Hauff und viele andere mehr verdanken dem Romanfragment entscheidende Anregungen. Hier geht es vor allem um das, was diesen Text zu einem der ersten (vielleicht zu dem ersten? ) Thriller der modernen Literatur macht. Der Geisterseher erzählt in seiner Rahmenhandlung und in seinen Binnenerzäh‐ lungen von Liebe und Tod, von Begehren und Mord, von Leidenschaft und Gier, von Intrigen und Machtspielen. Figuren verfolgen einander und werden verfolgt. Nicht zufällig kommt Glücksspiel vor, als Katalysator des Begehrens und der Zügellosigkeit. Vor allem geht es um Geld und Macht und selbst die romantische Liebe ist dem Kampf um das Macht verleihende Geld in einer feudal-ökonomischen Ordnung unterworfen, die nur das 6.2 Der Vorläufer: Friedrich Schillers Der Geisterseher (1789) 227 <?page no="228"?> Recht des Stärkeren kennt, wobei sich Stärke einerseits aus Geburt und Geschlecht, andererseits aus Gerissenheit und Rücksichtslosigkeit speist. Die hervorgerufenen Emotionen bei den Figuren sind extrem, ebenso deren Folgen. Abb. 6.1: Der Prinz aus Friedrich Schillers Der Geisterseher, als Stahlstich von Conrad Geyer (um 1859) nach einer Zeichnung von Arthur von Ramberg. Wie beim Thriller später üblich, knüpft Der Geisterseher an zeitgenössische Diskurse an, die auf einer eher abstrakten Ebene Fragen der Moral und des moralischen Handelns betreffen und sich auch ganz konkret direkt auf berühmte Fallbeispiele der Zeit beziehen lassen, etwa auf das im Titel zentral gesetzte Motiv des Übersinnlichen, das eng mit Geheimbünden und anderen populären Ausprägungen parallelgesellschaftlicher Strukturen verknüpft 6. Thriller 228 <?page no="229"?> war (so wie heute beispielsweise Verschwörungstheorien in bestimmten Online-Foren): Am sensationellsten wirkte der ehemalige Apothekergehilfe Guiseppe Balsamo, geb. 1743 in Palermo, der sich den Namen Alexander Graf von Cagliostro zulegte und aus Trapezunt zu stammen vorgab, halb Europa in Unruhe brachte, durch seine Machenschaften in Frankreich auch den Hof und den höfischen Klerus kompromittierte, als Schwindler entlarvt wurde und nach abenteuerlichem Leben 1795 als Gefangener in einer Festung bei Urbino starb. (Schiller 1993a, Anm. 1063) Die Handlung dreht sich um die Erbfolge des Prinzen, der vom Protestan‐ tismus zum Katholizismus konvertiert (Schillers Vorbild war die Situation in seinem heimatlichen Württemberg, vgl. ebd.). Gleich am Anfang des Romanfragments bekommt er von dem an Cagliostro angelehnten, als verkleideter Armenier auftretenden Boten die geheimnisvolle Nachricht, dass ein Thronfolger gestorben ist, und der bereits zitierte Schluss des ersten Buches deutet darauf hin, dass der Prinz später versuchen wird, auch jene zu beseitigen, die ihn noch von der Thronfolge trennen - ein Motiv, das wir beispielsweise in Kind Hearts and Coronets (1949), ins Paro‐ distische gewendet, wiederfinden werden. Da es sich um Umsturzpläne handelt, die Ordnungen von Staaten betreffen, geht vom Geisterseher auch ein Impuls für die späteren Spionagethriller aus. Tatsächlich gibt es in Schillers Romanfragment zahlreiche Motive, die wir beispielsweise in Ian Flemings Goldfinger (1959) wiederfinden, vom Gift- und sonstigen Mord aus strategischen Gründen bis hin zum Glücksspiel. Viele Krimis arbeiten mit komplexen Erzählstrukturen, die Texte und Filme metafiktional werden lassen. Eine so komplexe Anlage wie die des Geistersehers ist aber äußerst selten. Schiller gibt seinem Romanfragment den Untertitel „Aus den Memoiren des Grafen von O**“ und beginnt wie folgt: „Ich erzähle eine Begebenheit, die vielen unglaublich scheinen wird, und von der ich selbst größtenteils Augenzeuge war“ (Schiller 1993a, 48). Der Erzähler lässt keinen Zweifel daran, dass er selbst, wenn man dies liest, nicht mehr unter den Lebenden weilt (ebd.), ebenso wenig wie die Hauptfigur, der Prinz „von **“ (ebd.): „Sein schreckliches Schicksal ist geendigt; längst hat sich seine Seele am Thron der Wahrheit gereinigt, vor dem auch die meinige längst steht, wenn die Welt dieses lieset […]“ (Schiller 1993a, 104). Das zweite Buch besteht überwiegend aus Briefen nicht von dem, sondern an den Grafen von O**, geschrieben von „Baron von F***“ (Schiller 1993a, 112 ff.). In die Erzählungen des Grafen wie des 6.2 Der Vorläufer: Friedrich Schillers Der Geisterseher (1789) 229 <?page no="230"?> Barons sind mehrere Binnenerzählungen eingeflochten, die das Geschehen der Haupthandlung vorantreiben und zusätzliche Spannung erzeugen. Doch hinter all dem steckt noch ein Rahmenerzähler, der sich nebenbei zu Wort meldet: „Nicht lange nach diesen letztern Begebenheiten - fährt der Graf von O** zu erzählen fort - fing ich an, in dem Gemüt des Prinzen eine wichtige Veränderung zu bemerken“ (Schiller 1993a, 104). Das Motiv des Täuschens und der unsicher werdenden Wahrnehmung wird bereits im Motiv des Karnevals deutlich, dazu spielt die Handlung ausgerechnet in Venedig: Es war auf meiner Zurückreise nach Kurland, im Jahr 17** um die Karnevalszeit, als ich den Prinzen von ** in Venedig besuchte. Wir hatten uns in **schen Kriegs‐ diensten kennenlernen und erneuerten hier eine Bekanntschaft, die der Friede unterbrochen hatte. Weil ich ohnedies wünschte, das Merkwürdige dieser Stadt zu sehen, und der Prinz nur noch Wechsel erwartete, um nach ** zurückzureisen, so beredete er mich leicht, ihm Gesellschaft zu leisten und meine Abreise solange zu verschieben. Wir kamen überein, uns nicht voneinander zu trennen, solange unser Aufenthalt in Venedig dauern würde, und der Prinz war so gefällig, mir seine eigne Wohnung im „Mohren“ anzubieten. (Schiller 1993a, 48) Die kurze beabsichtigte, aber tatsächlich lange Dauer des Aufenthalts und des Wartens deutet auf Thomas Manns Roman Der Zauberberg (1924) voraus, das Geheimnisvolle und Lebensverändernde der Begegnung mit der Stadt Venedig auf Manns Novelle Der Tod in Venedig (1912). Allerdings wird im Geisterseher sehr schnell deutlich, was im Mittelpunkt der Handlung steht und sie vorantreibt - das Rätsel. Zunächst ist es die Frage, wer der geheim‐ nisvolle, als Armenier maskierte Mann ist, weshalb er den Grafen und den Prinzen verfolgt und was seine Worte zu bedeuten haben: „Wünschen Sie sich Glück, Prinz (indem sie [die Maske] ihn bei seinem wahren Namen nannte). ‚Um neun Uhr ist er gestorben‘“ (Schiller 1993a, 50). Die wenigen Worte könnten nicht rätselhafter sein: Wer ist der geheimnisvolle Fremde, woher kennt er die Identität des Prinzen, wer ist gestorben und weshalb die genaue Zeitangabe? Auf der tagelangen Suche nach dem Verkleideten erleben die beiden Freunde ein lebensgefährliches Abenteuer. Beim Glücksspiel zuschau‐ end gerät der Prinz mit einem Venezianer in Streit, der will ihn ermorden lassen und wird von der Staatsinquisition dafür, vor den Augen der Freunde, in einem Saal unter der Erde hingerichtet (Schiller 1993a, 53 f.). Ob diese Episode etwas mit dem geheimnisvollen Fremden zu tun hat, bleibt offen, 6. Thriller 230 <?page no="231"?> doch spielt es auch keine Rolle, denn es dient der Spannungserzeugung, so wie der Thriller später Nebenhandlungen aus Spannungsgründen zu einem gängigen Verfahren weiter entwickeln wird, bis sie - etwa in Serienformaten - die eigentliche Haupthandlung zu einem roten Faden degradieren, an dem solche für sich selbständigen Handlungssequenzen aufgereiht sind. Schon am Anfang des Romanfragments wird das Paradigma des neuen Genres - der thrill - deutlich: Ich erzähle eine Begebenheit, die vielen unglaublich scheinen wird, und von der ich großenteils selbst Augenzeuge war. Den wenigen, welche von einem gewissen politischen Vorfalle unterrichtet sind, wird sie - wenn anders diese Blätter sie noch am Leben finden - einen willkommenen Aufschluß darüber geben; und auch ohne diesen Schlüssel wird sie den übrigen, als ein Beitrag zur Geschichte des Betrugs und der Verirrungen des menschlichen Geistes, vielleicht wichtig sein. Man wird über die Kühnheit des Zwecks erstaunen, den die Bosheit zu entwerfen und zu verfolgen imstande ist; man wird über die Seltsamkeit der Mittel erstaunen, die sie aufzubieten vermag, um sich dieses Zwecks zu versichern. Reine, strenge Wahrheit wird meine Feder leiten; denn wenn diese Blätter in die Welt treten, bin ich nicht mehr und werde durch den Bericht, den ich abstatte, weder zu gewinnen noch zu verlieren haben. (Schiller 1993a, 48) Die konventionelle Herausgeberfiktion wird einerseits mit dem Anspruch auf Individualität („Ich“) und andererseits mit Objektivität („Reine, strenge Wahrheit“) verbunden. Spannung erzeugende Vokabeln wie ‚Betrug‘, „Ver‐ irrungen“, „Kühnheit“, „Bosheit“, „Seltsamkeit“ wirken in einer solchen Häufung und Zusammenstellung superlativisch. Der angekündigte Tod des ‚Herausgebers‘ sorgt für einen Gruselfaktor - es spricht eine Stimme aus dem Grab zu uns. Auch das titelgebende Motiv des ‚Geistersehens‘ steigert die Rätselhaftigkeit noch einmal ins Jenseitige - und fängt es in dem konkreten Umgang mit übersinnlichen Phänomenen wieder ein, denn es wird gezeigt, dass sie natürliche Ursachen haben und dazu dienen, die Figur des Prinzen umso sicherer ins Verderben zu stoßen. Die Naturgesetze werden nicht verletzt, es wird nur vorgespielt, dass es so ist - so wieder Text selbst die kundigen Leser*innen mit der Nase darauf stößt, dass er sich ein Spiel des Thrills mit ihnen erlaubt. Der als Magier auftretende Sizilianer wird als Scharlatan und Illusionist entlarvt (Schiller 1993a, 65 ff.) und der ihn benutzende, scheinbar magische Fähigkeiten besitzende (Schiller 1993a, 77), die Identitäten wechselnde ‚Armenier‘ agiert wie ein Repräsentant der Autorfigur, denn er leitet offenbar das Geschehen 6.2 Der Vorläufer: Friedrich Schillers Der Geisterseher (1789) 231 <?page no="232"?> an unsichtbaren Fäden: „‚Eine höhere Gewalt verfolgt mich. Allwissenheit schwebt um mich. Ein unsichtbares Wesen, dem ich nicht entfliehen kann, bewacht alle meine Schritte. Ich muß den Armenier aufsuchen und muß Licht von ihm haben‘“ (Schiller 1993a, 57). Doch dieser verweigert das Licht der Aufklärung und erst am Schluss des Romanfragments wird nicht dem Prinzen, der dem mittelalterlichen Dunkel des Katholizismus verfallen ist, sondern den Leser*innen klar gemacht, weshalb die Intrige gesponnen wurde; auch wenn die Einzelheiten weiter rätselhaft bleiben, um eine - zumindest von Schiller nie geschriebene - Fortsetzung zu ermöglichen. In die Rahmenhandlung sind Binnenerzählungen eingebettet, die selbst‐ ständige Thriller sein könnten und zugleich die Spannung der Haupthand‐ lung weiter steigern. Die Erzählung des Sizilianers (Schiller 1993, 79 ff.) ist das vielleicht eindrucksvollste Beispiel. Es geht um einen Brudermord aus Habgier (mit der Erbfolge steht nicht nur das Vermögen der Familie, sondern auch die Ehe mit einer besonders schönen Frau auf dem Spiel), wobei der Mörder Lorenzo bis zum Schluss als Ermittler auf der Suche nach seinem verschollen geglaubten älteren Bruder auftritt: „‚Ging es auch bis ans Ende der Welt. Ich muß meinen Bruder finden‘“ (Schiller 1993a, 85). Fast eineinhalb Jahrhunderte vor Agatha Christie (in The Murder of Roger Ackroyd) wird Sympathie für eine Figur erweckt, die sich dann als abscheulicher Brudermörder entpuppt. Die Figur vermag seine Verwandten und Freunde ebenso zu täuschen wie der Text seine Leser*innen - umso sensationeller ist die Pointe, die wiederum mit einer Geistererscheinung zu tun hat: „‚Das ist meines Mörders Stimme‘, rief eine fürchterliche Gestalt, die auf einmal in unsrer Mitte stand, mit bluttriefendem Kleide und entstellt von gräßlichen Wunden“ (Schiller 1993, 91). Da der ‚Armenier‘ als Mönch verkleidet zugegegen gewesen sein, den Sizilianer bei der Ausübung seines Tricks getäuscht und überführt haben soll, liegt eine natürliche Erklärung nahe - sofern die Binnenerzählung überhaupt glaubwürdig ist, kommt sie doch von einer höchst fragwürdigen Figur. Der Sizilianer verschwindet spurlos aus dem Gefängnis, in dem ihn der Prinz und der Baron besucht und die Geschichte von ihm gehört haben, und auch hierfür ist aller Wahrscheinlichkeit nach der geheimnisvolle Fädenzieher verantwortlich (Schiller 1993a, 101). Schillers Spiel mit Emotionen und Rätseln, Tätern und Opfern, Verklei‐ dungen und Täuschungen ist zu komplex, um hier befriedigend aufgearbei‐ tet zu werden. Doch sollten die wenigen Bemerkungen eine Spur gelegt haben, die über die Kriminalliteratur des 19. Jahrhunderts in das als Thriller 6. Thriller 232 <?page no="233"?> bezeichnete Genre führt, das sich im 20. Jahrhundert konstituiert, in der Literatur und dann vor allem im Film - bis hin zur inflationären Verwen‐ dung des Begriffs. Schlaglichter sollen nun vor allem auf einige besonders bekannte Vertreter*innen des Genres und ausgewählte Produktionen ihrer Arbeit geworfen werden, beginnend mit dem ‚Master of Suspense‘. 6.3 Liebe, Tod und Wahnsinn: Alfred Hitchcocks Rebecca (1940) Dieser erste in Hollywood gedrehte Spielfilm Alfred Hitchcocks übertraf trotz der bereits nicht geringen Berühmtheit des Regisseurs alle Erwartun‐ gen. Es war nach Jamaica Inn (dt. Riff-Piraten) von 1939 Hitchcocks zweite Verfilmung eines (in dem Fall aktuellen Bestseller-)Romans der von ihm sehr geschätzten südenglischen Autorin Daphne du Maurier. 1963 sollte noch die ebenfalls berühmte Verfilmung einer Kurzgeschichte mit dem Titel The Birds (dt. Die Vögel) folgen (die eher zum Horror-Genre zu zählen ist). Das Drehbuch von Rebecca hat eine komplizierte Entstehungsgeschichte, die eine relative Originaltreue und die Eigenständigkeit von Hitchcocks Umgang mit seinen Stoffen auf letztlich gelungene Weise miteinander verband. Wichtig für die düstere Atmosphäre war Hitchcocks Entscheidung, den Film in Schwarzweiß zu drehen. Er wurde in elf Kategorien für den Oscar nominiert, bekam letztlich zwar nur zwei, darunter aber den wichtigsten Oscar für den besten Film - und das als einziger Hitchcock-Film. Produzent David O. Selznick behielt die Trophäe für sich; das Verhältnis zwischen ihm und dem Regisseur war bereits während der Dreharbeiten sehr angespannt. Es handelt sich zunächst - Achtung: Kitschverdacht - um eine Aschen‐ puttelgeschichte mit Märchenschloss. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine schüchterne und mittellose junge Frau, die in Monaco den reichen eng‐ lischen Witwer Maximilian de Winter kennenlernt und heiratet. Doch das Verhältnis der beiden kehrt sich nach mehreren dramatischen Ereignissen um. Die Hauptrollen spielen Joan Fontaine und der hier noch junge Laurence Olivier, der in dieser Rolle erstmals für den Oscar nominiert wurde und ihn 1947, 1949 und 1976 auch erhielt. Liebe und Tod sind bekanntlich die beiden großen Themen aller Fik‐ tionen. Sigmund Freud hat nach ihnen die wichtigsten (An-)Triebe des Menschen benannt: Eros und Thanatos. Patrick Süskind hat 2006 einen postmodern-ironischen Essay darüber geschrieben: Über Liebe und Tod. 6.3 Liebe, Tod und Wahnsinn: Alfred Hitchcocks Rebecca (1940) 233 <?page no="234"?> Liebesromane und Liebesfilme leben von Gefährdungssituationen, die nicht selten auch lebensbedrohlich sein können, und Krimis handeln nicht immer, aber sehr oft von Liebesbeziehungen, die nicht selten tödlich enden. Das Aschenputtel-Motiv ist das zentrale Motiv aller trivialen Liebesro‐ mane bis hin zu leicht anrüchigen (und deshalb umso verkaufsträchtigeren) Variationen des Themas wie in den Shades of Grey-Romanen und -Verfilmun‐ gen. Das Muster ist immer das gleiche: Unerfahrene, hübsche, bescheidene und ihren eigenen Wert nicht kennende junge Frau lernt gutaussehenden, erfahrenen und wohlhabenden älteren Mann kennen und lieben. Auf dem Weg zum Happy End kommt es zu einigen Schwierigkeiten, die aber, ganz gleich, wie groß sie sind, bewältigt werden. Und wenn sie nicht gestorben sind … Die problematischen Implikationen sind offensichtlich: Frauen werden meist als in jeder Hinsicht unterlegen und passiv dargestellt. Es sind die Männer, die in ihnen die Schönheit erwecken und sie zur Reife fürs Leben führen, das zumindest historisch betrachtet oft aus Mutterschaft und Hausfrauendasein besteht. Rebecca verändert das an sich höchst anzweifelbare Muster auf originelle Weise. Die Hochzeit steht nicht am Ende, sondern am Anfang. Der ein Jahr zurückliegende Tod der ersten Mrs. de Winter liegt wie ein Schatten über Manderley, dem die Funktion des Märchenschlosses zukommt. Die Zimmer des Schlosses, die Rebecca als erste Mrs. de Winter bewohnt hat, sind so konserviert, als könnte sie jederzeit zurückkehren. Die Haushälterin Mrs. Danvers hat in Stellvertretung der Verstorbenen nun die Rolle der bösen Fee übernommen. Sie war der egozentrischen Rebecca fanatisch ergeben und sie tut alles, um das junge Glück zu zerstören (Rebecca 2002, 1: 18: 28ff.). Die junge Frau ist „Cinderella“ (Rebecca 2002, 1: 01: 38), doch in der gegenläufigen Erzählung und der ironischen Verwendung der Bezeichnung wird deutlich, dass es sich um eine innovative Variation des alten Stoffes handelt. Dass es zu einem dramatischen Finale kommt, wird bereits durch den Rahmen angedeutet, denn die Handlung wird als Rückblende erzählt. So baut Hitchcock gekonnt Spannung auf, zumal gleich nach dem düsteren Anfang des Films auf den glücklichen Anfang der Beziehung von dem zweiten Ehepaar de Winter zurückgeblickt wird. Der Film beginnt also in der Chronologie der Ereignisse mit einem Happy-End, um scheinbar auf eine Katastrophe zuzusteuern. Mit der weiblichen Hauptfigur durchleben die Zuschauer*innen ein Wechselbad der Gefühle, weil sie nicht einordnen können, was in Manderley nicht stimmt. Die Zuschauer*innen wissen zu‐ 6. Thriller 234 <?page no="235"?> dem bereits durch die Rahmung, dass das, was nicht stimmt, zur Zerstörung des Schlosses führen wird. An diesem Thriller lässt sich sehr gut zeigen, dass die Darstellung von Gewalt für das Genre nicht notwendig ist. Zentrale Elemente des Spannungs‐ aufbaus beruhen nicht auf Action, sondern auf stimulierten Emotionen und Erwartungen der Zuschauer*innen; Erwartungen, die oft genug ins Leere laufen. Hitchcock nannte die von ihm häufig verwendeten falschen Fährten M(a)cGuffin. Der recht offene Begriff bezeichnet Objekte oder Personen, die in der logischen Folge der Ereignisse keine Funktion haben werden, obwohl man ihnen zunächst eine solche zuschreibt. Sie wecken Erwartungen, deren Nichterfüllung - weil schon wieder andere Erwartungen geweckt wurden - für die weitere Handlung nicht von Belang ist. Hitchcock spielt mit den Emotionen der Zuschauer*innen und dafür reichen ihm Bilder, Gesten und Andeutungen. Auch wenn die weitere Entwicklung des Thrillergenres eher auf brutale, in ihrer Brutalität deutlich sichtbare Action setzen wird, so gibt es doch auch in der jüngeren Vergan‐ genheit immer wieder Filme, die eine ganz ähnliche Strategie verfolgen. Jonathan Demmes The Silence of the Lambs (dt. Das Schweigen der Lämmer) von 1991 beispielsweise hat nur wenige Minuten von (allerdings drastischer) Brutalität; der größte Teil des Films lebt von der Erwartungsspannung, die durch die schauspielerischen Fähigkeiten der Figuren, die Kameraführung und anderes mehr unterstützt wird. Beispiele für triviale Thriller werden in diesem Buch nicht verhandelt, aber es sei darauf hingewiesen, dass die Häufigkeit und Drastik von Gewaltakten eher darauf hindeutet, dass der Film nichts zu erzählen hat und die Fähigkeiten der Schauspieler*innen limitiert sind oder zumindest nicht genutzt werden. Ein kleiner Exkurs an dieser Stelle: Es ist interessant zu beobachten, dass die neueren James-Bond-Produktionen in ihrer Reputation oft nicht an die älteren Verfilmungen heranreichen. Die ersten, heute als Kultfilme gehandelten Produktionen mit Sean Connery wurden mit vergleichsweise geringen finanziellen Mitteln und wenig Action realisiert, während die Tendenz in der Reihe zu immer teureren Produktionen mit immer mehr und immer spektakulärerer Action unübersehbar ist. Das schlägt auch auf die Möglichkeiten bedeutender Schauspieler*innen durch, die eigenen Fähigkeiten auszuspielen. Gert Fröbe kann in der Titelrolle von Goldfinger (1964; Regie: Guy Hamilton) brillieren, für viele Bond-Fans gilt dieser dritte Film als der immer noch beste der Serie, während Oscar-Preisträger Christoph Waltz in No Time to Die (dt. Keine Zeit zu sterben von 2020, Regie: 6.3 Liebe, Tod und Wahnsinn: Alfred Hitchcocks Rebecca (1940) 235 <?page no="236"?> Cary Joji Fukunaga) von der Action buchstäblich schachmatt gesetzt wird (und nicht der erste ist, dem dies widerfährt). Zurück zu Hitchcock und Rebecca, das Beispiel James Bond sollte nur verdeutlichen, dass die Qualität von Thrillern und die Erzeugung von ‚thrills‘ keineswegs mit der Darstellung von physischer Gewalt korreliert. Hitch‐ cocks Film setzt mit der erwähnten Rückblende ein, die etwas Märchenhaftes hat: „Last night, I dreamt I went to Manderley again“, hört man eine weibliche Stimme aus dem Off sagen, die Kamera bewegt sich durch ein sich öffnendes Tor und über einen zugewachsenen Weg auf das zerstörte Schloss zu (Rebecca 2002, 0: 01: 40ff.). „We can never go back to Manderley again, that much is certain“, es sei denn im Traum (Rebecca 2002, 0: 03: 14ff.) oder, wie hier performativ vorgeführt, im Film. Die Analogie von Traum und Fiktion hat Tradition, sie findet sich in der Literatur der Romantik ebenso wie in Sigmund Freuds Schriften. Die Erzählung geht nun in der Zeit zurück auf die Anfänge der Liebesbe‐ ziehung von Maxim de Winter und seiner zweiten Frau in Südfrankreich. Vorausdeutend auf die dramatischen Ereignisse auf Manderley und gleich‐ zeitig die frühen mit den späteren Ereignissen verbindend zeigt die Kamera Wellen, die sich an schroffen Felsen brechen, und Maxim de Winter, der aussieht, als wollte er sich über die Klippen in die Wellen stürzen (Rebecca 2002, 0: 03: 22ff.). Von dem vornamenlos bleibenden ‚Aschenputtel‘ wird er durch einen Warnruf aus seinen Gedanken geholt, so lernen sich die beiden kennen (Rebecca 2002, 0: 03: 58f.). Das eltern- und mittellose (Rebecca 2002, 0: 08: 56ff.) ‚Aschenputtel‘ arbeitet als Gesellschafterin für eine ebenso arrogante wie unhöfliche ältere ‚Dame‘, nur deshalb ist sie in Monte Carlo (Rebecca 2002, 0: 04: 42ff.). Die ältere Dame ist eine komische Figur, die als humoristisch-originelles Gegengewicht zur potenziell kitschigen Liebesge‐ schichte fungiert. Der Vater der schüchternen jungen Dame war Maler und sie zeichnet auch (Rebecca 2002, 0: 09: 16ff.) - ein weiterer Verweis auf die, für Hitchcocks Produktionen alles andere als ungewöhnliche, metafiktionale Spur des Films. Wenn de Winter der neuen Bekanntschaft rät, sie solle ihr Rührei aufessen „like a good girl“ (Rebecca 2002, 0: 09: 56ff.), oder wenn er ihr später sagt, sie soll aufhören, ihre Nägel zu kauen (Rebecca 2002, 0: 15: 56f.), wird wahrnehmbar, dass er, der deutlich Ältere, nicht nur ihr Ehemann, sondern auch ein Vaterersatz für sie werden wird. Das nutzt offenbar beiden, denn es ist die Kindfrau, für die er sich interessiert: „It is a pity you have to grow up“ (Rebecca 2002, 0: 22: 16f.). Seine Schwester wird später fragen, als sie die 6. Thriller 236 <?page no="237"?> junge Frau vermisst: „Where is the child? “ (Rebecca 2002, 1: 15: 25). Solche erotischen Unterströmungen sind typisch für Hitchcocks Filme, und ebenso, dass sie in Andeutungen verbleiben. Sie erlauben keine eindeutigen Zuordnungen wie etwa die Zuschreibung ‚femme fragile‘, da die junge Frau von Anfang an als mögliche Lebensretterin des melancholischen älteren Herrn präsentiert wird. Es gehört zu Hitchcocks Kunst, durch permanentes Aufrufen und oftmals ironisches Durchkreuzen von Stereotypen und Erwartungen die Figuren und ihre Handlungen für unterschiedliche Inter‐ pretationen zu öffnen. Die junge Frau wird von dem distinguierten Herrn ausgeführt und trotz der immer weiter gehenden Annäherung gibt es kleinere Unstimmigkeiten, die offenbar mit Maxim de Winters erster Ehe zu tun haben. Bereits als seine Begleiterin bei ihrem ersten Ausflug erwähnt, dass sie auf einer Postkarte aus Cornwall das wunderschöne Schloss Manderley gesehen habe, reagiert de Winter melancholisch und mit der merkwürdigen Aussage, dass er sein Geburtshaus, in dem er sein ganzes bisheriges Leben verbracht habe, wohl nie wiedersehen werde (Rebecca 2002, 0: 10: 50ff.). Als seine Begleiterin erwähnt, dass die Meeresströmungen an der Stelle, an der sie stehen, gefährlich sind und letztes Jahr jemand dort ertrunken sei, ist die Verstimmung vollkommen (Rebecca 2002, 0: 11: 31ff.). Sie kann nicht wissen, dass de Winters erste Frau im Meer begraben liegt. Auch erfährt sie erst danach, dass de Winter seine erste Frau über alle Maßen geliebt haben und deshalb ‚ein gebrochener Mann‘ sein soll (Rebecca 2002, 0: 12: 00ff.), was sich später als falsch herausstellt. Max’ (so möchte er genannt werden) Verhalten der jungen Frau gegen‐ über, gipfelnd in dem saloppen Heiratsantrag „I am asking to marry you, you little fool“ (Rebecca 2002, 0: 21: 02ff.), legt eine zweite Spur, dass er seiner ersten Frau keineswegs nachtrauert und es einen anderen Grund für seine Melancholie geben muss. Dennoch bleibt die Melancholie als rätselhaftes Moment bestehen, etwa wenn Max während eines kleinen Disputs über die Ängste der jungen Frau in ihrer neuen Rolle feststellt, sie hätte vielleicht besser jemand in ihrem Alter geheiratet und er wisse selbst gar nicht, was Glück eigentlich sei (Rebecca 2002, 0: 58: 20ff.). Wenn das frischgebackene Ehepaar Manderley im gerade heftig einset‐ zenden Regen erreicht (Rebecca 2002, 0: 28: 08ff.), dann ist dies ebenso eine Spannung erzeugende Vorausdeutung wie ein ironisches Spiel mit konventionalisierter Wettersymbolik - schließlich wird alles für die beiden gut ausgehen. Schon die erste Begegnung mit der Haushälterin Mrs. Denvers 6.3 Liebe, Tod und Wahnsinn: Alfred Hitchcocks Rebecca (1940) 237 <?page no="238"?> inszeniert die beiden Frauen, die eine frisch und blond und die andere streng und dunkel, als ‚gute‘ und als ‚böse Fee‘ (Rebecca 2002, 0: 29: 12ff.) und auch dies kann als hintergründig-ironisches Spiel mit Konventionen ‚gelesen‘ werden. Der Film nimmt sich viel Zeit, das neue Leben der vom ‚Aschenputtel‘ zur ‚Königin‘ aufgestiegenen und dieser Rolle noch nicht gewachsenen jungen Frau zu zeigen und mit Anspielungen auf die erste Frau des Hausherrn Spannung zu erzeugen. Rebecca hat dem Film nicht nur den Titel gegeben, sie ist omnipräsent, ohne präsent zu sein, wie ein Geist. Insofern entspricht sie ganz der von Hitchcock auf allen Ebenen perfektionierten Technik des Verhüllens und Zeigens. Heitere Bemerkungen und Stimmungen wechseln mit düsteren. Immer wieder gibt es komische Szenen, etwa wenn Max’ Schwester Beatrice einen Diener fragt, ob er noch Probleme mit seinen Zähnen habe und ihm, als er bejaht, den Rat gibt, sie sich am besten alle ziehen zu lassen (Rebecca 2002, 0: 41: 58ff.). Beatrices Mann rät der jungen Frau, unbedingt reiten zu lernen, schließlich gebe es dort nichts anderes zu tun (Rebecca 2002, 0: 42: 12ff.). Solche Art von comic relief unterstützt auf raffinierte Weise den erzeugten thrill. Bruchstückweise wird immer mehr von der Vorgeschichte um Rebecca enthüllt. So entdeckt Max’ zweite Frau nur zufällig das Strandhaus, in dem seine erste Frau sich oft aufgehalten hat (Rebecca 2002, 0: 45: 58ff.). Wieder einmal ist sie so, ohne es zu wissen, in ein Fettnäpfchen getreten und ihr Mann ist verstimmt, ohne dass sie weiß, weshalb. Manderley ist, durch die Spuren der sich durch Omnipräsenz in der Absenz auszeichnenden Rebecca, emotional vermintes Gelände und es dient dazu, den gleichermaßen auf Emotionen wie Handlung bezogenen Spannungsbogen zu halten, die sym‐ pathisch-natürlich auftretende junge zweite Frau und Identifikationsfigur der Zuschauer*innen immer wieder auf eine solche Mine treten zu lassen. Deshalb muss die junge Frau auch den Eindruck gewinnen, dass Rebecca durch Schönheit, Intelligenz, Mut und repräsentatives Auftreten viel besser nach Manderley gepasst habe und sie selbst dort eher fehl am Platze sei (Rebecca 2002, 0: 50: 00ff.). Der spukhaften Atmosphäre dienen neben dem mit Spinnweben über‐ zogenen Interieur des Strandhauses auch Figuren wie der irre blickende alte Seemann Ben, der sich dort verbotenerweise aufhält und zu der jungen Frau meint: „She’s gone in the sea, ain’t she? She’ll never come back no more“ (Rebecca 2002, 0: 47: 20ff.; 0: 50: 18ff.). Allerdings bietet dieses Treffen Anlass 6. Thriller 238 <?page no="239"?> für die Nachfrage der jungen Frau beim Verwalter, was es mit dem Häuschen auf sich habe. So erfährt sie, dass Rebecca dort ihr Boot aufbewahrte, mit dem sie herausfuhr und dabei offenbar kenterte und ertrank (Rebecca 2002, 0: 50: 50ff.). Auch die geheimnisvolle Begegnung mit „Rebecca’s favourite cousin“ Jack (Rebecca 2002, 1: 03: 36f.) und die Übertretung des unausgesprochenen Verbots, Rebeccas frühere Wohnräume im Westflügel zu besichtigen (Re‐ becca 2002, 1: 04: 30ff.), gehören in das Muster, über Puzzleteilchen Spannung auf das ganze Bild zu wecken. Höhepunkt und zugleich Peripetie ist der Kostümball, den sich die junge Frau wünscht, um mit der früheren Frau konkurrieren und nun eine vollwertige Mrs. de Winter sein zu können. Wenn Sie ihrem Mann verspricht, Ihr Kostüm werde ihn überraschen - „I’ll give you the surprise of your life“ (Rebecca 2002, 1: 13: 02f.), dann verspricht sie unfreiwillig nicht zu viel. Von Mrs. Danvers wird die junge Frau so manipuliert, dass sie ein Kleid trägt, das auch Rebecca trug, wodurch sie einen Schock bei ihrem Mann provoziert und zugleich den dramatischen Heilungsprozess auslöst (Rebecca 2002, 1: 14: 00ff.; 1: 17: 24ff.). Zunächst versucht Mrs. Danvers, die junge Frau aus dem Haus und sogar in den Selbstmord zu treiben (Rebecca 2002, 1: 19: 42ff.). Durch einen deus ex machina, ein in Not geratenes Schiff, das eine Rakete abfeuert, wird der Selbstmord verhindert und Max‘ Leiche im Keller, vielmehr die Leiche Rebeccas in ihrem versenkten Boot im Meer wird entdeckt (Rebecca 2002, 1: 21: 57ff.). In einem Gespräch im Strandhaus erzählt Max nun seiner jungen Frau die ganze Geschichte (Rebecca 2002, 1: 24: 03ff.). Er hatte eine andere Frau, die angeschwemmt worden war, als Rebecca identifiziert, obwohl er wusste, dass die Leiche im versenkten Boot lag, weil er sie selbst dort hingebracht hatte (Rebecca 2002, 1: 15: 56ff.). Während die junge Frau immer dachte, Max würde ständig an Rebecca denken, weil er sie so sehr geliebt hat, war das Gegenteil der Fall: „I hated her! “ (Rebecca 2002, 1: 27: 34). Rebecca habe alles gehabt, was angeblich Bedeutung haben sollte, eine gute Erziehung, Verstand und Schönheit. Aber: „She was incapable of love and tenderness“ (Rebecca 2002, 1: 28: 20f.). Seine Ehe war: „Living with the devil“ (Rebecca 2002, 1: 29: 16f.). Rebecca hat die Fassade gewahrt, aber ihn hinter dieser Fassade verspottet und offenbar mit zahlreichen Männern betrogen; sie hat sogar den Verwalter umgarnt und mit ihrem Cousin Jack ein länger andauerndes Verhältnis gehabt (Rebecca 2002, 1: 30: 40ff.). Sie hat Max damit provoziert, dass sie ein 6.3 Liebe, Tod und Wahnsinn: Alfred Hitchcocks Rebecca (1940) 239 <?page no="240"?> Kind von einem anderen erwarte und er es dann als seines und als seinen Erben ausgeben müsse. Sie ist dann aber nicht von ihm getötet worden (zumindest in seiner Darstellung - es gibt keine Zeugen), sondern bei einem Sturz zu Tode gekommen (Rebecca 2002, 1: 33: 07). Max hat die Leiche in ihr Boot gebracht und das Boot versenkt. Er ist aber fest überzeugt, dass niemand ihm diese Geschichte glauben und Rebecca doch noch über ihn siegen werde. Deshalb war er so zögerlich in seiner Brautwerbung, obwohl er seine junge Frau genauso liebt wie sie ihn (Rebecca 2002, 1: 33: 40ff.). Nun ist es wieder an der jungen Frau, das Ruder in die Hand zu nehmen: „She hasn’t won“ (Rebecca 2002, 1: 35: 13.), gibt sie sich überzeugt. Der nächste Teil des Films ist ein kurzes Gerichtsdrama. Die in Groß‐ britannien übliche öffentliche Untersuchung des Todesfalls führt zu der Feststellung, dass das Boot absichtlich versenkt worden sein muss (Rebecca 2002, 1: 42: 30ff.). Bevor Max sich verraten kann, fällt seine junge Frau in Ohnmacht und rettet ihn einmal mehr (Rebecca 2002, 1: 44: 34ff.). Rebeccas Cousin Jack, als verlängerter Arm der Toten aus dem Grab, versucht Max mit einem Brief seiner Cousine zu erpressen (Rebecca 2002, 1: 46: 40ff.). Max lässt aber den Untersuchungsrichter holen und macht Jack damit einen Strich durch die Rechnung, der ihn dafür beschuldigt, Rebecca umgebracht zu haben. In dem Brief steht, dass sie einen Arzt besucht hat (Rebecca 2002, 1: 49: 43ff.). Mrs. Danvers soll Jack nun helfen, Max zu überführen, indem sie den Namen des Londoner Arztes nennt (Rebecca 2002, 1: 52: 42ff.). Unfreiwillig wird Max so durch den boshaften Cousin entlastet, denn Rebecca hatte kein Kind erwartet, sondern war tödlich an Krebs erkrankt (Rebecca 2002, 1: 57: 53ff.) und wollte, als Akt finaler Bosheit, Max für ihren Tod verantwortlich machen, indem sie ihn mit der angeblichen Schwangerschaft provozierte (Rebecca 2002, 2: 00: 50ff.). So wird plausibel, dass Rebecca Selbstmord begangen hat (Rebecca 2002, 1: 59: 27ff.). Jack ruft aus Bosheit gleich Mrs. Danvers an, wohl wissend, dass sie die Nachricht nicht gut aufnehmen wird (Rebecca 2002, 2: 01: 09ff.). Auch diesmal geht seine Rechnung nicht auf: Mrs. Danvers setzt das Schloss in Brand und kommt selbst - höchst dramatisch visualisiert, zweifellos eine Freude für pyromanisch veranlagte Zuschauer*innen - in den Flammen um, während Max seine junge Frau (mit Jasper, dem Hund) draußen findet (Rebecca 2002, 2: 02: 57ff.). Das Feuer hat eine reinigende Funktion, denn es verschlingt auch, ein symbolischer Abschluss, Rebeccas Lotterbett mit dem auf ihrer Bettwäsche groß eingestickten „R“ (Rebecca 2002, 2: 04: 42ff.). 6. Thriller 240 <?page no="241"?> Möglicherweise wird hier, passend zur Märchenmetaphorik, ebenso iro‐ nisch wie makaber auf die Hexenverbrennungen angespielt. Es handelt sich um ein gegenläufiges Märchen: Das Aschenputtel wird durch sein Verhalten geadelt und Rebecca war gar keine Hexe, sondern ‚nur‘ eine boshafte, narzisstisch veranlagte Frau, die alle in ihrer Umgebung für sich eingenommen und manipuliert hat, um Macht über sie zu besitzen. Berücksichtigt man die Zeit der Entstehung des Films, dann handelt es sich um eine auf das Weltgeschehen verweisende Studie über Verführbarkeit, die eben nicht, wie ein Märchen, die Menschen durch alte und neue Mythen verzaubert, sondern gerade solche Mythenbildungen entzaubert. Es gibt keinen Geist, es gibt nur die bis zum Wahnsinn gesteigerte Einbildung. Hitchcock hat einen Film über eine charismatische (Ver-)Führerfigur gedreht, deren Omnipräsenz damit beginnt, dass der Film nach ihr benannt ist, ohne dass sie ein einziges Mal im Bild auftaucht, abgesehen von einer Fotografie auf einem Sideboard. Der auf ihren Utensilien groß prangende Buchstabe „R“ ist ihre Repräsentanz und verweist auf die Zeichenhaftigkeit alles Gezeigten. Der ‚thrill‘ dieses Thrillers besteht nicht vorrangig in der mit allen Mitteln der Filmkunst erzeugten Handlungsspannung, sondern in der emotionalen und der ästhetischen Spannung, die durch den Rahmen, die Symbolik und vieles andere wirkt. Hitchcock liefert einmal mehr den Beweis, dass das Thriller-Genre nicht trivial sein muss, auch wenn es, weil es die Nerven zu kitzeln hat, zweifellos dazu tendiert. 6.4 Der lange Schatten der Vergangenheit: John Schlesingers Marathon Man (1976) Zu den bedeutendsten Thrillern der 1970er Jahre gehört Marathon Man (dt. Der Marathon-Mann) unter der Regie von John Schlesinger (1926-2003). Während einige Filmlexika ihn ignorieren, bekommt der Film von dem eher mit Lob geizenden Heyne Film Lexikon vier von fünf Sternen und den launigen Zusatz: „Nichts für Leute, die Angst vor Zahnärzten haben“ ( Just 1999, 519). Hervorzuheben ist neben der beeindruckenden Regiearbeit und Kamera‐ führung die herausragende Besetzung der Rollen, vor allem mit Dustin Hoffman und - einmal mehr - Sir Laurence Olivier. Olivier gilt als der berühmteste Hamlet-Darsteller des 20. Jahrhunderts, er wurde dreifach mit dem Oscar ausgezeichnet (1949 für seine Rolle als Shakespeares Dänenprinz) 6.4 Der lange Schatten der Vergangenheit: John Schlesingers Marathon Man (1976) 241 <?page no="242"?> und zweifach geadelt. Auch für Marathon Man bekam einer zumindest eine Oscar-Nominierung. Hoffman hat in vielen herausragenden Holly‐ wood-Produktionen mitgespielt, für Kramer vs. Kramer (1979) und Rain Man (1988) bekam er den Oscar als bester Hauptdarsteller. Die Romanvorlage und das Drehbuch zu Marathon Man schrieb William Goldman, der auch für andere herausragende Filmproduktionen mit verantwortlich zeichnete, etwa für All the President’s Men, ebenfalls von 1976, unter der Regie von Alan J. Pakula. Dabei handelt es sich um eine Adaption des gleichnamigen Buches der investigativen Journalisten Carl Bernstein und Bob Woodward (als Filmfiguren gespielt von Dustin Hoffman und Robert Redford) über die von ihnen aufgedeckte Watergate-Affäre, die US-Präsident Richard Nixon zum Rücktritt zwang. Besonders macht den Film auch sein Bezug zum Holocaust - ein für das Thriller-Genre unübliches Thema. So stellt er auf verschiedenen Ebenen der Handlung und Symbolik eine Verbindung zwischen der NS-Zeit und der US-amerikanischen Gegenwart her. Dieses kritische Interesse des Films an der Zeitgeschichte ist bereits in der Biographie der Hauptfigur angelegt, die feststellt: „I come from a family of historians“ (Der Marathon-Mann 2002, 0: 58: 43f.). In seiner kritischen Analyse der US-amerikanischen Politik ist er durchaus ein Seitenstück zu dem bereits genannten Schlüsselfilm der Zeit, All the President’s Men. Da es um US-amerikanische Politik und um einen namenlosen Geheimdienst geht, der mit Alt-Nazis Geschäfte macht, könnte man auch von einem Polit-Thriller oder sogar einem Agentenfilm oder Spionagethriller sprechen. Allerdings hat es sich in der beobachtbaren Praxis der Genrebezeichnungen etabliert, alles unter der allgemeinen Bezeichnung Thriller zu fassen, das nicht einen der Spezialaspekte besonders betont. Die James-Bond-Filme sind, weil es vor allem um Geheimdienste und ihre Mitarbeiter*innen geht, Spionagethriller; in Filmen wie Marathon Man ist die Geheimdiensttätigkeit dagegen eher ein Motiv und Teil des Hintergrundes. Olivier spielt einen ehemaligen Nazi-Arzt, der in Uruguay mit falscher Identität lebt und nach dem Unfall-Tod seines Bruders, der seine Finanzen regelte, nun seine durch Folter an Juden erbeuteten, im Schließfach einer New Yorker Bank lagernden Diamanten in Sicherheit bringen will. Christian Szell, gelernter Zahnarzt, hat von den KZ-Häftlingen in Auschwitz, an denen er grausame Experimente durchführte, wegen seines weißgrauen Haars den Spitznamen „the white angel“ bekommen. Seit Kriegsende hält er sich in Uruguay versteckt. Szell ist reich, denn er hat Juden vor der Ermordung die Goldzähne entfernt und manchen gegen Diamanten die 6. Thriller 242 <?page no="243"?> Flucht aus dem KZ ermöglicht (Der Marathon-Mann 2002, 1: 14: 58ff.). Einer der Kuriere der Szell-Brüder ist ‚Doc‘ Levy, der ältere Bruder von dem durch Dustin Hoffman verkörperten Thomas Babington ‚Babe‘ Levy (Der Marathon-Mann 2002, 0: 58: 40), der eine Doktorarbeit in Geschichte über die McCarthy-Ära schreibt - sein Vater hatte wegen der Verfolgung durch das „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ Selbstmord begangen - und für einen Marathonlauf trainiert. Levy ist ein jüdischer Name. Das Training für den Marthonlauf kann als Metapher für den langen Lauf zu sich selbst gesehen werden, in der Literatur ist das Motiv etwa durch Alan Sillitoes The Loneliness of the Long Distance Runner von 1959 berühmt geworden. Die Suche nach Orientierung betrifft sowohl Babe Levy als auch die Gesellschaft und verbindet daher Mikro- und Makroebene. Der Schatten, den Babe während seines Übungslaufs gleich am Anfang wirft (Der Marathon-Mann 2002, 0: 00: 48ff.), korrespondiert mit dem langen Schatten der Geschichte, der über ihn geworfen wird, obwohl er als Vertreter der jüngeren Generation und dann noch als US-Amerikaner mit NS-Zeit und Holocaust in keiner unmittelbaren Verbindung steht. Seine Zugehörigkeit zum Judentum dient bereits zum Aufzeigen einer Kontinuität. Auch er wird zur Zielscheibe, so wie seinerzeit jüdische Mitbürger*innen vollkommen unschuldig Ofer von Nazi-Verbrechern werden konnten. Die das weitere Geschehen auslösende Szene am Anfang des Films ist bezeichnend für sein Thema. Szells Bruder hat gerade Diamanten aus einer Bank geholt und einem Kurier übergeben, als sein Auto - natürlich ein deutsches Fabrikat, ein Mercedes - in einer engen Straße liegenbleibt. Ein US-Amerikaner jüdischen Glaubens, bereits erregt durch Vorfälle in seiner Werkstatt und mit Kindern auf der Straße, muss hinter dem Mercedes halten, hupt und schreit den Fahrer vor ihm an. Der wird ebenso wütend, bezeichnet den anderen als „Jude“ und fügt hinzu: „Kein Wunder, Hitler wollte Euch alle umbringen“ (Der Marathon-Mann 2002, 0: 05: 25ff.). Der amerikanisches Englisch sprechende „Jude“ wird wütend und verfolgt den (auf Deutsch monologisierenden) „Nazi-Bastard“, wie er ihn nennt. Er fährt mit seinem Wagen immer wieder auf den Wagen des anderen auf und es kommt schließlich zu einer Kollision der beiden Autos mit einem Tanklastzug. Dieser explodiert und die beiden älteren Männer kommen ums Leben (Der Marathon-Mann 2002, 0: 07: 37ff.). Babe Levy der seine Runden um das große Reservoir am Central Park in New York läuft, wird zufällig auf den Unfall aufmerksam, den er aus der Ferne sieht. Es kommt zu einem ‚Duell‘ mit einem anderen Marathon‐ 6.4 Der lange Schatten der Vergangenheit: John Schlesingers Marathon Man (1976) 243 <?page no="244"?> läufer, der ihn überholt und mit seiner Bemerkung „behind schedule? “ ärgert, ihm dann auch noch den Mittelfinger zeigt (Der Marathon-Mann 2002, 0: 08: 40ff.). Die beiden Ereignisse (Wettrennen mit Autos, Wettlaufen) werden auf der symbolischen Ebene miteinander verknüpft. Babe wird also nicht nur durch seinen Sichtkontakt mit dem Unfall, sondern auch durch eine Verknüpfung auf der symbolischen Ebene mit dem Geschehen um Szell in Verbindung gebracht, bevor er in die Handlung hineingezogen wird. Diese Verknüpfung wird fortgesetzt, wenn Babe, zurück in seiner Wohnung, den Fernseher einschaltet und der Sprecher von dem Unfall berichtet, der am traditionellen jüdischen Feiertag Jom Kippur stattgefunden habe (Der Marathon-Mann 2002, 0: 11: 00ff.). Auch das Datum ist nichts weniger als symbolisch: Der höchste jüdische Feiertag heißt auf Hebräisch so viel wie ‚Tag der Sühne‘ und wird auf Deutsch mit ‚Versöhnungstag‘ oder ‚Versöhnungsfest‘ übersetzt. Die Fernsehübertragung hat auch die Funktion, neben Babe die Zuschauer*innen von der Identität Klaus Szells und seines verschwundenen Bruders Christian Szell in Kenntnis zu setzen. Der Kurier der Diamanten (erkennbar an der Blechdose, in der sie transportiert werden und die Klaus Szell aus dem Bankschließfach geholt hatte: Der Marathon-Mann 2002, 0: 12: 46) ist Babes Bruder, er wird in Paris gezeigt und ist gerade aus London gekommen. Eigentlich arbeitet er für die US-amerikanische Regierung, die mit Szell einen Pakt geschlossen hat, diesem zu helfen, wenn er andere Nazis verrät (Der Marathon-Mann 2002, 1: 16: 24ff.). Babe indes nimmt an, dass sein Bruder ein erfolgreicher Geschäftsmann im „oil business“ ist (Der Marathon-Mann 2002, 0: 47: 08f.). Auf Doc Levy werden in Paris zwei Attentate verübt, das erste mit einer Puppe (Der Marathon-Mann 2002, 0: 17: 30). Die Kameraperspektive, die Musik, die Details wie die sich vor der Detonation öffnenden Augen der in einem Kinderwagen liegenden Puppe sind thrillertypische Mittel des Spannungsaufbaus. Babe erläutert derweil in einem Seminar das Thema seiner Doktorarbeit: „tyranny“. Er nennt Beispiele aus der US-amerikanischen Politik (Der Mara‐ thon-Mann 2002, 0: 18: 01ff.). Sein Dozent, der ein Schüler seines Vaters war, durchschaut und warnt ihn: Die Fußstapfen seines Vaters, der auch an der Columbia Universität seinen Doktor gemacht habe, seien möglicherweise zu groß für ihn und er wolle ausgerechnet über die Zeit schreiben, die seinen Vater zerstört habe - wie eine Rückblende zeigt, hat er Selbstmord begangen -, über die McCarthy-Ära mit ihrer Hetzjagd auf Kommunisten. Eine Doktorarbeit habe wissenschaftlich objektiv zu sein und dürfe kein 6. Thriller 244 <?page no="245"?> Kreuzzug werden (Der Marathon-Mann 2002, 0: 19: 56ff.). Der Film schlägt so einen kritischen Bogen von der Tyrannei der Nationalsozialisten zum politischen Missbrauch von Macht in den USA, der ebenfalls Leben vernichtet; dafür steht der Fall von Babes Vater als einem US-Amerikaner jüdischen Glaubens, der in den Selbstmord getrieben wurde. In der Bibliothek sitzt Babe einer Mitstudentin gegenüber, die ihn an‐ spricht und in die er sich verliebt (Der Marathon-Mann 2002, 0: 32: 20ff.). Sie heißt Elsa Opel und spricht mit einem deutschen Akzent, Babe hält sie fälschlicherweise für eine Schweizerin (Der Marathon-Mann 2002, 0: 42: 25ff.). Durch Name und Akzent wird bereits darauf vorausgedeutet, dass sie sich in fremdem Auftrag an Babe heranmacht; wie sich später herausstellt, war sie auch ein Diamantenkurier (Der Marathon-Mann 2002, 1: 36: 10). Der Nachname Opel ist vom Drehbuchautor wohl bewusst gewählt. Die Rüsselsheimer Adam Opel A.G., 1862 gegründet als Nähmaschinenfa‐ brik und zum Ende der Weimarer Republik größter Automobilhersteller Deutschlands, gehörte von 1929 bis 2017 zum über lange Zeit weltgrößten US-amerikanischen Autokonzern General Motors. Die GM-Führung pak‐ tierte bis kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis. Über den Namen Opel wird eine Verbindung von Deutschland zu den USA hergestellt, die zu dem Pakt des US-Geheimdienstes mit dem Altnazi passt. Der Vorname Elsa könnte auf Elsa Bruckmann (1865-1946) anspielen, eine der wichtigsten Unterstützerinnen Adolf Hitlers. Die ostentativ ausgestellte komplexe Symbolik des Films, die sprachliche wie die visuelle und die bisher noch nicht erwähnte musikalische (Szell hört im südamerikanischen Exil deutsche Opernaufnahmen) Symbolik, wäre eine eigene Untersuchung wert. Der Überfall auf das Liebespaar Babe und Elsa im Central Park (Der Marathon-Mann 2002, 0: 41: 46ff.) ist ebensowenig ein Zufall wie das Ken‐ nenlernen der beiden, weil Babe direkt danach an seinen Bruder schreibt und ihn so ungewollt aus der Deckung lockt. In dem Brief stellt Babe aber auch fest, dass er zum ersten Mal das Gefühl habe, jemanden töten zu können (Der Marathon-Mann 2002, 0: 42: 55ff.). Die offensichtliche Brutalität auch der Jugendlichen, die ihn vor seiner Haustür stets verhöhnen und die, während Babe aus dem Off den Brief vorliest, einmal mehr eingeblendet werden, gehören in das Konzept des Films (und nicht nur dieses Films, sondern einer breiten Strömung der Nachkriegsliteratur und -kunst), die zivilisatorischen Errungenschaften als brüchig darzustellen. Dazu passen auch Szells Worte direkt nach seiner Ankunft am John F. Kennedy Airport, nachdem er die 6.4 Der lange Schatten der Vergangenheit: John Schlesingers Marathon Man (1976) 245 <?page no="246"?> Auswirkungen eines Streiks beobachtet hat und von den beiden Männern, die Babe überfallen haben, in Empfang genommen worden ist: „The Land of Plenty. They were always so confident God was on their side. Now, I think they are not so sure“ (Der Marathon-Mann 2002, 0: 44: 46ff.). Als Babes Bruder kommt und ihn und Elsa in ein teures Lokal zum Essen ausführt, macht er eine Bemerkung über Diamanten, mit der er Elsa ebenso testet wie mit einem Gespräch über die Schweiz, aus der sie angeblich kommt (Der Marathon-Mann 2002, 0: 51: 22ff.). Als sie falsche Antworten gibt, konfrontiert er sie noch beim Essen damit, dass sie eine Lügnerin ist und aus Deutschland kommt (Der Marathon-Mann 2002, 0: 52: 40ff.). Als er kurz darauf Szell zur Rede stellt, weil dieser seinen Bruder unter Druck setzt, verletzt der alte Nazi ihn tödlich mit einem Messer (Der Marathon-Mann 2002, 0: 54: 48ff.; 0: 56: 00). Doc kann noch flüchten und stirbt in den Armen seines Bruders (Der Marathon-Mann 2002, 0: 58: 16). Dies ist allerdings auch der Grund, weshalb Szell vermutet, dass Doc sich zu Babe geschleppt hat, um ihm noch etwas zu sagen (Der Marathon-Mann 2002, 1: 19: 08ff.). Szell ist paranoid, denn weder hätte Doc ihn verraten noch weiß Babe etwas. Dass Szell Doc tötet und Babe foltert, um sich selbst zu schützen, wird sogar der Grund für seinen Tod sein - im Sinn einer poetischen Gerechtigkeit. Das seine Unmenschlichkeit auf die Spitze treibende, nach der letzten, ergebnislosen Folter leicht ausgesprochene Todesurteil für Babe (Der Marathon-Mann 2002, 1: 20: 15) löst das weitere Geschehen aus, an dessen Ende Babe die Diamanten ins Wasser wirft und Szell in sein eigenes Messer fällt und stirbt. Die Ermittlungen übernimmt Peter Janeway (Der Marathon-Mann 2002, 0: 59: 35ff.), ein Geheimdienst-Kollege von Doc und zugleich, wie sich heraus‐ stellen wird, jemand, der für seine Arbeit und seine eigene Karriere (Der Marathon-Mann 2002, 1: 20: 50) bereit ist, Menschen wie Babe zu opfern, was er als Loyalität kaschiert: „I’m just doing my job. I believe in my country.“ Szell erwidert nur kühl: „So did we all“ (Der Marathon-Mann 2002, 1: 21: 16ff.). Janeway erklärt Babe, dass Doc nicht im Ölgeschäft war, sondern für „the division“ gearbeitet hat, eine geheime Organisation zwischen FBI und CIA (Der Marathon-Mann 2002, 1: 02: 48ff.). Eigentlich interessiert sich Janeway aber nur dafür, ob Doc seinem Bruder vor seinem Tod noch etwas gesagt hat (Der Marathon-Mann 2002, 1: 03: 40ff.). Er misstraut Babes Aussage, dass der Sterbende nur Babes Namen mehrfach wiederholt habe, und er spielt Babe vor, dass er ihn als Köder benutzen werde, um die Täter zu finden. Allerdings 6. Thriller 246 <?page no="247"?> wissen weder Babe noch die Zuschauer*innen zu diesem Zeitpunkt, dass Janeway Szell weiterhin schützt. Die Verfolgung des die Spuren der Folter zeigenden, flüchtenden Babe durch das nächtliche New York gerät zur unmenschlichen Hatz mit allen Mitteln. So schreit einer von Szells Schergen - die beiden haben mit einem Wagen die Verfolgung aufgenommen - den anderen an: „Run him down! Run him down! “ (Der Marathon-Mann 2002, 1: 25: 18f.). Spektakuläre Thriller-Elemente sind die Überfall-, Flucht- und Folter‐ szenen, in deren Mittelpunkt vor allem Babe steht. Mit dem Tod seines Bruders genau in der Filmmitte beginnt für ihn eine nunmehr ganz praxis‐ bezogene alptraumhafte Reise durch die US-amerikanische Geschichte und Gegenwart, seine persönliche Begegnung mit seinem Promotionsthema Tyrannei. Szell, der Babe mit seinen Zahnarztinstrumenten foltert, stellt immer wieder die gleiche Frage: „Is it safe? “ (Der Marathon-Mann 2002, beginnend 1: 10: 01), auf die Babe aber keine Antwort geben kann - und deshalb immer weiter gefoltert wird, bis Janeway kommt und vorgibt, ihn retten zu wollen (Der Marathon-Mann 2002, 1: 13: 49ff.). Dies ist aber nur ein weiterer Trick, um Babe zum Sprechen zu bringen (Der Marathon-Mann 2002, 1: 16: 14ff.). Janeway weist Szell auch an, am nächsten Tag das Land wieder zu verlassen, weil er zu viel Chaos verursacht habe - Szell sei „a relic“, das Relikt einer untergegangenen Zeit (Der Marathon-Mann 2002, 1: 21: 02ff.). Babe hat die Waffe aufbewahrt, mit der sein Vater Selbstmord begangen hat (Der Marathon-Mann 2002, 0: 49: 00ff.). Der Showdown findet symboli‐ scherweise in den Haus statt, in dem Babe aufgewachsen ist und in dem der Selbstmord des Vaters geschah (Der Marathon-Mann 2002, 1: 31: 50ff.). Für Babe und für die Zuschauer*innen wird ein Bogen geschlagen, der zugleich auch - insofern ist es eine Coming-of-Age-Geschichte - aus Babe einen aktiv Handelnden machen wird. Der letzte Kreis schließt sich, als Babe die Waffe seines Vaters an der Stelle, an der er sein Training absolviert, in das Große Reservoir wirft und - symbolischerweise gegen die Laufrichtung der anderen - ruhig fortgeht (Der Marathon-Mann 2002, 1: 57: 22ff.). Das weiße Vater-Haus auf dem Hügel, das zuletzt Szells Bruder gehörte (Der Marathon-Mann 2002, 1: 35: 00), verkörpert die US-amerikanische Idylle und wird zum Schauplatz von neuen Todesfällen. Erst versucht Karl, einer der beiden Männer Szells, Babe zu erschießen, dann tötet Janeway die beiden Männer, um selbst aus der Schusslinie zu kommen und dabei Babes Vertrauen zu gewinnen (Der Marathon-Mann 2002, 1: 39: 40ff.). Er sagt Babe, 6.4 Der lange Schatten der Vergangenheit: John Schlesingers Marathon Man (1976) 247 <?page no="248"?> wo Szell ist: „I give you Szell for your brother“ (Der Marathon-Mann 2002, 1: 39: 55ff.). Babe will sich auf den Weg machen, doch Janeway will hinter ihm her und er tötet Elsa, weil sie Babe warnen will. Daraufhin wird er von Babe erschossen (Der Marathon-Mann 2002, 1: 40: 30ff.). Szell geht in ein Juweliergeschäft, um den Wert seiner Diamanten zu ermitteln. Dabei wird er von einem früheren KZ-Insassen erkannt, der dort arbeitet (Der Marathon-Mann 2002, 1: 43: 14ff.). Außerdem erkennt ihn auf der Straße eine Frau, die dem KZ entkommen ist (Der Marathon-Mann 2002, 1: 43: 32ff.). Die Frau wird, während sie Szell verfolgt, von einem Auto angefahren (Der Marathon-Mann 2002, 1: 45: 42ff.), der ihn ebenfalls verfolgende Mann wird von ihm mit dem Messer, das in seinem Anzugärmel verborgen ist, brutal ermordet - mit einer Armbewegung schneidet er ihm die Kehle durch, um anschließend, von sich ablenkend, nach Hilfe zu rufen (Der Marathon-Mann 2002, 1: 46: 14ff.). Szell holt die Diamanten aus der Bank, er ist von ihrem Glanz geblendet (Der Marathon-Mann 2002, 1: 46: 56ff.). Aus der Bank kommend, hört er die Worte: „It isn’t safe“ (Der Marathon-Mann 2002, 1: 49: 07f.) - Babe hat vor der Tür auf ihn gewartet. Im Wasserwerk am Großen Reservoir des Central Parks kommt es zum Showdown, in dessen Verlauf Babe die Diamanten in das Wasserbecken wirft und Szell beim Versuch, die noch übrigen zu retten, in sein eigenes Messer fällt und stirbt (Der Marathon-Mann 2002, 1: 50: 00ff.; 1: 55: 36ff.). Das ist ein symbolischer Tod, denn er stirbt schließlich an seiner Gier, die ihn sein Leben lang angetrieben und die vielen Morde hat begehen lassen. Betont wird dies noch durch Babes Angebot, Szell dürfe so viele Diamanten behalten, wie er verschlucken könne (Der Mara‐ thon-Mann 2002, 1: 52: 16ff.). Szells Ausruf: „This is madness! “, verweist auf die Inhumanität seines eigenen, eines rein ökonomischen Wertesystems (Der Marathon-Mann 2002, 1: 53: 07ff.). Die Kritik an dem Fortdauern der Tyrannei in unterschiedlichen politischen Systemen wird zum Schluss also erweitert oder ergänzt durch die Kritik an einer lediglich an ökonomischem Profit orientierten Ordnung, sei sie persönlicher oder staatlicher Natur. In der Literatur hat die Auseinandersetzung mit den Gräueln des Holo‐ caust zu der Zeit lange stattgefunden, allerdings weitgehend beschränkt auf die Hochliteratur. Friedrich Dürrenmatts Kriminalroman Der Verdacht (1953) wäre dafür ein eindrucksvolles frühes Beispiel, hier ist ein ehemaliger KZ-Arzt Leiter einer Nobelklinik in Zürich. Dass ein Thriller wie Marathon Man das Thema in die Populärkultur einbringt, ist sicher auch der von der Studentenbewegung der 1960er Jahre angestoßenen Entwicklung zu 6. Thriller 248 <?page no="249"?> verdanken, die über 1945 hinaus reichenden Verstrickungen in die NS-Ver‐ gangenheit kritisch aufzuarbeiten. 6.5 Ein postmoderner Meta-Thriller: Kenneth Branaghs Dead Again (1992) Kenneth Branagh gehört zu den international bekanntesten und bedeu‐ tendsten britischen Regisseuren der Gegenwart. Fünf Oscarnominierungen, ein Ehrendoktor und ein Adelstitel gehören zu seinen Auszeichnungen, seit 2014 ist er sogar Ehrenpräsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Branagh ist international nicht zuletzt durch seine Verfilmungen von Shake‐ speare-Dramen berühmt geworden, beginnend mit Henry V (1989) über Much Ado about Nothing (dt. Viel Lärm um nichts; 1993) bis zu Hamlet (1996). 2018 verkörpert er den alternden Shakespeare sogar selbst in All Is True. Oft führt Branagh Regie, schreibt das Drehbuch und spielt die männliche Hauptrolle, so dass man ihn als Autorenfilmer bezeichnen könnte, wenn dies nicht zu kurz greifen würde, da er darüber hinaus auch Rollen in anderen Produktionen übernimmt oder selbst Filme produziert oder Filme als Regisseur verantwortet, in denen er nicht mitspielt. Seine Vielseitigkeit bewies Branagh auch mit dem betroffen machenden Spielfilm Conspiracy (dt. Die Wannseekonferenz; 2001) über die Verabredung der Pläne zum Holocaust. Dazu kommen zahlreiche andere erfolgreiche Projekte, nicht zuletzt im Krimi-Genre. So zeichnet er für eine britische Neuverfilmung von zwölf Romanen Henning Mankells über die Fälle des schwedischen Kommissars Kurt Wallander verantwortlich und spielte auch die Hauptrolle (2008-16). 2017 kam seine opulente Neuverfilmung des Agatha-Christie-Romans Murder on the Orient Express (Mord im Orient Express) in die Kinos. Daneben steht Branagh oft auf der Bühne, er hat sogar eine eigene Firma für Theaterproduktionen. Branagh war von 1989-96 mit der Oscar-Preisträgerin Emma Thompson verheiratet, die bis zur Scheidung in seinen Filmen und an seiner Seite die weibliche Hauptrolle spielt. Hier soll es um Branaghs zweite Regiear‐ beit gehen, in der Emma Thompson und er auch im Film ein Liebespaar verkörpern, und das gleich doppelt auf zwei Zeitebenen. Dead Again (dt. Schatten der Vergangenheit) von 1991 ist eine US-amerikanische Produktion, für die Scott Frank das Drehbuch geschrieben hat. Der Film, der mit SchauspielerInnen wie Hanna Schygulla und Robin Williams bis in die 6.5 Ein postmoderner Meta-Thriller: Kenneth Branaghs Dead Again (1992) 249 <?page no="250"?> Nebenrollen exzellent besetzt ist, gehört zu den nicht weniger angesehenen, aber weniger bekannten Produktionen Branaghs. An dem Film lässt sich gut die Entwicklung des Genres aufzeigen. Besonders prägnant sind die postmoderne Zitatstruktur und der iro‐ nisch-parodistische Charakter des Films. Für die vorliegende einfüh‐ rende Studie ist Dead Again auch deshalb so interessant, weil der Film starke Anleihen bei Hitchcocks Rebecca nimmt. Ein Teil des Films - jener Teil, der in der Vergangenheit und auf einem Manderley ähnelnden Anwesen spielt - ist in Schwarzweiß gedreht. Es gibt allerdings neben den Spuren, die zu Hitchcocks Filmen führen, auch solche zu dem nicht weniger herausragen‐ den Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Orson Welles und seinen Filmen, von Citizen Kane (1941) bis The Third Man (1949). Andy Garcia (geb. 1956) erinnert in der Rolle von Gray Baker - auch optisch - stark an Joseph Cotten, der in den beiden genannten Filmen an der Seite von Orson Welles spielt. Der Plot von Dead Again ist durchaus eigenständig und er hat, wie der Titel bereits vermuten lässt, originelle parodistische Züge: Ein berühm‐ ter Komponist mit dem symbolischen Namen Roman Strauss soll in den 1940er-Jahren aus Eifersucht seine Frau Margaret mit einer Schere getötet haben und er wird dafür hingerichtet, obwohl bis zum Schluss Zweifel an seiner Schuld bleiben. In der in Farbe gefilmten Erzählgegenwart rund 40 Jahre später taucht eine junge Frau ohne Gedächtnis auf (Emma Thompson), die genauso aussieht wie die verstorbene Komponistengattin Margaret Strauss. Durch Zufall begegnet ihr der Privatdetektiv Mike Church (Kenneth Branagh), der Roman Strauss zum Verwechseln ähnlich sieht (und beide Rollen spielt, so wie Emma Thompson die beiden Frauen). Mike tauft sie, weil er sie bezaubernd findet, auf den Namen Grace (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 50: 54). Er versucht Graces Identität herauszufinden und die beiden verlieben sich ineinander. Die zunächst stimmlose Grace lässt sich von Franklyn Madson (Derek Jacobi) hypnotisieren. Sie kann wieder sprechen und von ihren Albträumen erzählen, die sich als die Erinnerungen von Margaret Strauss herauszustellen scheinen, wobei es aber zu einem interessanten gender crossing kommt: Es zeigt sich immer deutlicher, dass Grace Romans und Mike dafür Margarets Erinnerungen hat. Der zweite Clou ist, dass sich Franklyn Madson als der damals minderjährige Sohn der dem Komponisten treu ergebenen Haushälterin Inga und als Mörder von Margaret entpuppt. Inga war in Roman verliebt und ihr Sohn war mit ihr eifersüchtig auf Margaret. 6. Thriller 250 <?page no="251"?> Auf Hitchcocks Filme und insbesondere Rebecca deuten bereits die Spur von Hypnose und Psychoanalyse sowie die (phallische) Symbolik der Schere. Hitchcock verwendet in Spellbound von 1945 eine Pistole und ein zur Pistole geformtes Rad in ähnlicher Weise. Die ausgestellte Symbolik des Films beginnt mit den Namen: Die beiden berühmten realen Komponisten heißen Richard und Johann Strauß; bei Grace ist an Grace Kelly zu denken; der Name des Täters erinnert an den berühmten US-Kriminellen Charles Manson; der Nachname Church gehört zum ironischen Spiel mit dem Thema Wiedergeburt. Dazu kommt der starke metafiktionale Charakter des Films. Das Erste, was die Zuschauer*innen sehen, ist leinwandgroß das Word „MURDER“. Den während des Vorspanns ins Bild gerückten Zeitungsartikeln von Gray Baker ist zu entnehmen, dass und wie Margaret Strauss umgebracht wurde (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 00: 36ff.). Schrift ist ständig im Bild zu sehen und alles dreht sich um Rollenspiele. Roman Strauss ist gekleidet und benimmt sich (wen wundert es) wie ein Shakespeare-Darsteller; kam‐ merspielartige Szenen wirken wie Bühnengeschehen; das ebenso expressive wie spielfreudige Verhalten der Figuren erinnert stark an frühere Filmzeiten (und soll dies natürlich auch tun). Die plakative Orchestrierung passt nicht nur zur Komponistentätigkeit von Strauss, sie dient auch dazu, den zugleich Spannung erzeugenden und parodierenden Charakter des Films zu unterstreichen. Noch bevor der Vorspann zu Ende ist, scheint sowohl das Whodunnit als auch das Whydunnit geklärt zu sein, denn den eingeblendeten Zeitungsar‐ tikeln ist zu entnehmen, dass Roman Strauss seine Frau mit einer Schere getötet haben soll und deshalb verhaftet worden ist. Im Dezember 1949 wird er in den USA für schuldig befunden, zum Tode verurteilt und hingerichtet (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 30: 00ff.). Strauss bestellt Baker zu sich in die Todeszelle und stellt fest, Walt Whitman zitierend, dass er keine Angst vor dem Tod habe, und er prophezeit, dass alles noch lange nicht vorbei sei. Strauss scheint Baker noch etwas ins Ohr zu flüstern - was das gewesen sein kann, bleibt lange Zeit Spekulation und erhöht beim Publikum die Spannung, ob er wirklich seine Frau umgebracht hat (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 05: 26ff.). Erst sehr viel später wird Mike Church von dem sehr alten und kranken Journalisten Baker erfahren, dass Strauss ihn lediglich aufs Ohr geküsst hat (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 23: 28ff.). Dass Strauss, dem im Gefängnis vor der Exekution die Haare geschnit‐ ten werden, eine Schere entwendet haben und damit im Gefängnis seine 6.5 Ein postmoderner Meta-Thriller: Kenneth Branaghs Dead Again (1992) 251 <?page no="252"?> Frau noch einmal umgebracht haben soll, wird gleich als Alptraum von Grace entlarvt (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 06: 58ff.), die sich, bei symbolträchtigem Gewitter, in der früheren schlossähnlichen Residenz des Komponisten befindet. Die junge Frau hat zwei Abende zuvor versucht, in die nun kirchliche Einrichtung, ein Heim für elternlose Jungen (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 12: 52), einzudringen und wurde aufgenommen, ohne dass man ihre Identität feststellen konnte. Sie schreit in ihren Alpträumen „Dysher“ oder „Disher“ (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 08: 17), dies wird sich später als Erinnerung an die Aufschrift „Die Schere“ auf dem Mordwerkzeug herausstellen (Strauss und seine Haushälterin stammen, die Namen verraten es bereits, aus dem deutschsprachigen Raum). Der Ordensvorstand schaltet nun Mike Church ein („how is this for a name you can trust“), der in der Einrichtung aufgewachsen ist, zunächst als Polizist gearbeitet und sich nun, als Privatdetektiv, auf die Suche verschwundener Personen spezialisiert hat (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 08: 55ff.). Der Antiquitätenhändler Madson (der die Rolle verkörpernde Derek Jacobi ist ebenfalls ein berühmter und geadelter Shakespeare-Darsteller) sieht die Anzeige in der Zeitung, mit der Church hofft, die Identität der Frau herauszubekommen, und bietet seine Hilfe an (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 20: 35ff.). Madson gibt an, dass er vermutet, die Frau habe durch eine traumatische Erfahrung ihr Gedächtnis verloren, und schlägt vor, sie zu hypnotisieren (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 21: 50ff.). Church reagiert erst ablehnend, lässt es aber geschehen und schon das erste Ergebnis spricht für die Methode: Grace ruft „somebody help me! “, sie kann also sprechen (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 23: 05ff.). Der Film wäre, ohne die parodistischen Elemente, ein den Kitsch strei‐ fender Liebesfilm mit Thrillerelementen. Roman schenkt seiner Frau ein altes und sehr wertvolles Fußkettchen und erklärt, dass seine Mutter gesagt habe, wenn ein Mann einer Frau so etwas gebe, dann würden beide zwei Hälften einer Person und nichts könne sie mehr trennen, auch nicht der Tod (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 38: 05ff.). Solches Pathos gleichen die parodistischen und auch komischen Züge wieder aus. Als die namenlose junge Frau aus der Hypnose geholt wird, wollten die frisch getrauten Roman und Margaret gerade miteinander schlafen - eine kalte Dusche für die romantischen Erwartungen der Zuschauer*innen (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 39: 05ff.). Madson hypnotisiert eine alte Frau wegen ihrer Schokoladensucht. Als sie wie ein kleines Kind von ihren Besuchen in Präsident Roosevelts Büro spricht, versucht er herauszufin‐ 6. Thriller 252 <?page no="253"?> den, wohin die Einrichtungsgegenstände gekommen sind, die er gern für sein Antiquitätengeschäft kaufen würde (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 25: 35ff.). Der ganze Film ist auf der Grenze zwischen Ernst und Komik angesiedelt. So ist es ein von dem Komiker Robin Williams gespielter, höchst unkonven‐ tioneller früherer Psychoanalytiker mit dem Namen Cozy (! ) Carlisle, der gegen Mikes Skepsis die Eingebungen der jungen Frau als ‚reale‘ Erfahrun‐ gen bestätigt: „It sounds to me you had a past life experience“ (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 42: 18ff.). Carlisle erklärt, es gebe eine kosmische Kraft, die für ausgleichende Gerechtigkeit sorge: „It’s a carma credit plan“ (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 44: 32ff.). Hier wird augenzwinkernd das Konzept der poetischen Gerechtigkeit aufgerufen. Unter Hypnose schildert die namenlose junge Frau, wie sich im Jahr 1948 Roman und Margaret kennengelernt haben, und der Film wechselt für die illustrierenden Bilder wieder in Schwarzweiß (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 29: 20ff.). Margaret erfährt, dass Roman seine erste Frau bei der Flucht aus Nazi-Deutschland verloren hat (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 32: 38ff.). An ihrem Hochzeitstag, der ‚so glücklich zu sein schien, als ob nichts und niemand sie wieder auseinanderbringen könnte‘ (so die kommentierenden Stimme der jungen Frau aus dem Off), lernt Margaret den für den berühmten Pulitzer-Preis nominierten (Schatten der Vergan‐ genheit 2005, 0: 36: 00) Journalisten Baker kennen, der zum Auslöser von Eifersuchtsdramen und am Ende auch zum Berichterstatter über deren Konsequenzen werden wird (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 33: 50ff.). Die Schilderung der Hochzeitsparty hat Züge von The Great Gatsby - die berühmteste Verfilmung des Romans von F. Scott Fitzgerald stammt vielleicht nicht zufällig aus dem Jahr 1949. Dead Again ist, was seinen Anspielungsreichtum betrifft, ein Hollywood-Meta-Film und es wäre zweifellos lohnenswert, dem weiter nachzugehen. Offen ausgestellt wird der metafiktionale und parodistische Charakter des Films beispielsweise, wenn ein Starlet mit anbiederndem Lächeln Roman auf einer Party fragt, ob er ‚jemand‘ sei, an den sie sich erinnere, ob er also auch zum Filmgeschäft gehöre. Als er es verneint, meint sie abschätzig, dann sei er niemand, und geht weiter (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 00: 40ff.). Während der Feier deuten sich auch die Konflikte zwischen Margaret und Inga mit ihrem Sohn Frankie an, wobei Frankie stottert (Schatten der Vergangenheit 2005, 0: 35: 07ff.). Es ist zu vermuten, dass der Film mit Stigmatisierungen spielt - Frankie wird als ‚deutsch‘, als Stotterer und 6.5 Ein postmoderner Meta-Thriller: Kenneth Branaghs Dead Again (1992) 253 <?page no="254"?> als Muttersohn markiert (solche stark stereotypisierten Markierungen sind freilich nicht unproblematisch). Frankie gießt Öl ins Feuer von Romans Eifersucht (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 00: 40ff.). Margaret ertappt Frankie beim Versuch zu stehlen, Frankie hat gerade das besondere Fuß‐ kettchen in der Hand (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 06: 20ff.). Roman will Inga und ihren Sohn aber nicht entlassen, da sie auf der Flucht aus Deutschland sein Leben gerettet haben (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 07: 30ff.). In der ‚Gegenwart‘ wird weitere Spannung erzeugt durch die irreführende Vermutung, Mike sei Roman und wolle Grace mit einer Schere töten (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 08: 98ff.). In einer Hypnosesitzung sieht Mike sein altes Ich im Spiegel - er ist Margaret (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 13: 18). Pete, Mikes Freund vom Los Angeles Police Department, platzt in die Sitzung mit der überraschenden Neuigkeit hinein, dass es sich bei Grace um Amanda Sharp (dt. scharf, spitz) handele, eine Künstlerin (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 14: 06ff.). Als Mike dem Ex-Psychiater Carlyle in einem Kühlraum zwischen Rinderhälften davon erzählt, dass er die Reinkarnation von Margaret und Grace/ Amanda die von Roman sei, meint der nur: „It all makes perfect sense. I mean, this gender switching shit happens all the time.“ Der Ex-Therapeut ergänzt, auf das Foto des früheren Paares blickend: „What a babe you were.“ Und dann gibt er ihm noch den ‚guten‘ Rat: „You do her - before she does you“ (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 15: 25ff.). Mike soll Grace/ Amanda umbringen, bevor sie ihn töten kann. Pete zeigt Grace/ Amanda ihre Wohnung, sie scheint eine Obession mit Scheren gehabt zu haben. Das erste Bild, das gezeigt wird, ist eines mit zerfließenden Scheren im Stil von Salvador Dalí (in seinen Bildern sind es vor allem zerfließende Uhren), zugleich eine Reminiszenz an Hitchcocks Spellbound. Bei diesem Film hatte der Meister des Thrills mit dem spanischen Maler zusammengearbeitet (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 17: 06ff.). So wie Carlisle Mike vor Grace warnt, so warnt nun Madson Grace vor Mike (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 17: 54ff.), freilich, wie sich später herausstellen wird, vor allem, um von seiner Täterschaft abzulenken. Er gibt ihr sogar eine Pistole, allerdings muss er erst noch das Preisschild abmachen (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 19: 10ff.). Derweil spricht Mike mit dem alten Gray Baker und erfährt, dass Roman seine Frau gar nicht umgebracht hat (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 21: 40ff.). Alle dachten, Roman hätte Baker vor der Hinrichtung etwas 6. Thriller 254 <?page no="255"?> Wichtiges ins Ohr geflüstert, dabei hat er ihm nur einen Kuss gegeben (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 23: 28ff.). Als Baker meint, dass Inga mehr wissen könnte, und erwähnt, dass sie und ihr Sohn ein Antiquitäten‐ geschäft eröffnet haben, hält Mike zunächst Inga für die Täterin (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 24: 14ff.). Mike findet Inga im Hinterzimmer des Geschäfts, sie erzählt ihm alles (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 25: 19ff.). Tatsächlich hatten sich Roman und Margaret am Abend der Tat wieder versöhnt und Roman konnte endlich seine Oper fertig komponieren. Doch genau auf dem Höhepunkt seines musikalischen Triumphs hatte Ingas Sohn Margaret aus Eifersucht mit der Schere erstochen (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 26: 58ff.). Frankies Stottern wurde von einem Hypnotiseur geheilt. Dieser gab ihm nicht nur die Idee ein, selbst einer zu werden, sondern erzählte ihm auch von der Möglichkeit der Wiedergeburt (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 28: 28ff.). Inga gibt Mike das die ewige Liebe der beiden symbolisierende Fußkettchen; doch gleich, nachdem Mike sie verlassen hat, wird sie von ihrem eigenen Sohn mit einem Kissen erstickt (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 29: 06ff.). Der offenbar wahnsinnig gewordene Madson hat auch die Tatwaffe von damals, „Die Schere“, aufbewahrt (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 31: 30). Grace ist panisch und will Mike nicht in ihre Wohnung lassen. Der verschafft sich gewaltsam Zutritt, um ihr alles zu erklären, und sie schießt auf ihn, obwohl er ihr nur das Fußkettchen geben will (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 17: 06ff.). Die Szene wird parallel geschnitten mit der Kompositionsszene vor rund 40 Jahren. Doch wiederholt sich nun, trotz aller Dramatik (Mike fällt in Zeitlupe mit einem Regal um), die Geschichte nicht: Mike ist nicht tot, auch wenn Grace es vermutet. Madson kommt durch die offene Tür und dankt Grace dafür, ihm Arbeit abgenommen zu haben. Als sie ihren Fehler erkennt und auch auf ihn schießen will, versagt die Waffe und er kommentiert dies mit einem ironisch-abfälligen: „Antiques“; schließlich stammte die Waffe aus seinem Laden (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 35: 07). Sein Versuch, nun Grace umzubringen, wird mit der Mordszene des Jungen an Margaret parallel geschnitten. Man sieht einen Schatten hinter einem Vorhang und die blutige Schere - eine deutliche Anspielung auf die berühmte Duschszene in Hitchcocks Psycho von 1960 (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 35: 15ff.). Madsons Versuch, es so aussehen zu lassen, als hätten sich die beiden gegenseitig getötet, wird von Mike durchkreuzt. Er kommt zu sich und sticht 6.5 Ein postmoderner Meta-Thriller: Kenneth Branaghs Dead Again (1992) 255 <?page no="256"?> Madson die Schere ins Bein, die dieser ihm als belastendes Indiz in die Hand gedrückt hatte (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 36: 18ff.). Nun folgen atemberaubend schnelle Kampfszenen, Schnitte und Kamerafahrten auf dem engen Raum von Graces Apartment, abwechselnd mit Schwarzweiß-Szenen des früheren Tathergangs. Pete kommt mit einer Pizza, missversteht die Situation und entwaffnet Mike - doch kann die wieder erwachte Grace dem nun wieder stotternden Übeltäter, als dieser zur Waffe greift, die mörderische Schere in den Rücken rammen (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 37: 44ff.). Der hypertrophe, Dramatik und Parodie im Wortsinn auf die Spitze treibende Höhepunkt ist, dass der noch einmal mit ‚seiner’ Schere angreifende Madson in ein von Mike schnell bereitgestelltes Kunstwerk von Grace fällt - das aus mehreren riesigen Scheren besteht. Selbst der hartgesottene Pete findet dies unappetitlich (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 38: 44ff.). Zum Abschluss werden das schlossähnliche Haus von Strauss und der Wohnblock von Grace überblendet. Wie in Rebecca ist das Tor des Herren‐ hauses zu sehen; passend dazu hatte Mike vorher gemeint, das Tor (zur Vergangenheit) habe sich gerade geschlossen (Schatten der Vergangenheit 2005, 1: 39: 28ff.). Die Kuss-Szene von Roman und Margaret geht nun in eine Kuss-Szene von Mike und Grace über - das Happy-End ist perfekt. Dead Again gilt nicht als Meisterwerk, vermutlich steht schon die zentrale Idee der Wiedergeburt einer Kanonisierung entgegen. Allerdings ist diese Idee ‚nur‘ Teil eines metafiktionalen Spiels mit Versatzstücken der Thriller- und auch ganz allgemein der Film-Geschichte Hollywoods. Dead Again ist ein Hollywood zitierender und parodierender Thriller und er führt zu‐ gleich beispielhaft vor, wie ein Thriller und wie Film überhaupt funktioniert. Fragen zu diesem Kapitel: Welches sind die wichtigsten Merkmale des Thrillers? Welche möglichen Subgenres lassen sich finden? Weshalb wird der Begriff Thriller geradezu inflationär verwendet? Wie wird mit der Angst der Figuren und der Zuschauer*innen gespielt? Welche Cross-Over-Phänomene lassen sich bei Thrillern finden? Weshalb kann Friedrich Schillers Der Geisterseher (1789) als Vorläufer des Thrillers gelten? Wie lässt sich die komplexe Erzählanlage von Schillers Romanfragment beschreiben? 6. Thriller 256 <?page no="257"?> Weshalb ist Alfred Hitchcocks Rebecca (1940) einerseits ein Paradebei‐ spiel für einen Thriller und andererseits bereits ein Spiel mit dem Genre? Welche Klischees werden in Hitchcocks Film aufgerufen und wie werden sie gebrochen? Wie verbindet John Schlesingers Marathon Man (1976) Geschichte und Zeitgeschichte? Welche thrillertypischen Mittel werden dabei eingesetzt und wie ori‐ ginell sind sie? Weshalb kann man Kenneth Branaghs Dead Again (1992) als Thriller und zugleich als intertextuelle Parodie auf Hollywood beschreiben? 6.5 Ein postmoderner Meta-Thriller: Kenneth Branaghs Dead Again (1992) 257 <?page no="259"?> 7. Erzählungen von Agenten und Spionen 7.1 Der Spion im Mittelpunkt Erzählungen von Agenten und Spionen könnte man leicht als Agenten‐ thriller zusammenfassen und dem Thriller-Genre zuschlagen. Nun wird einerseits die Bezeichnung Thriller inflationär gebraucht und es gibt ande‐ rerseits eine deutliche Schwerpunktbildung, wenn es nicht nur am Rande um internationale Verwicklungen und Agententätigkeiten geht. Die Grenze ist schwer zu ziehen, so ist Marathon Man als Thriller vorgestellt worden, obwohl grundlegend für die Handlung die Existenz eines Geheimdienstes ist, der mit ehemaligen Nazis Geschäfte macht. Allerdings ist das Agen‐ ten-Motiv Teil einer größeren kritischen Bestandsaufnahme der US-ame‐ rikanischen Gesellschaft. Nicht die Agententätigkeit steht im Zentrum, vielmehr wird die Auseinandersetzung zwischen dem unschuldig-jungen Underdog und einem teilweise repressiv-totalitär gewordenen politischen System verhandelt. Eine solche kritische Perspektive widerspricht sogar dem ‚klassischen‘ Agententhriller, der seine Vorläufer in Spionageromanen (als erster gilt Robert Erskine Childers’ The Riddle of the Sands von 1903), in Spielfilmen wie Spione (1928) von Fritz Lang und in immer noch sehenswerten Serien‐ produktionen wie der Mr.-Moto-Reihe mit Peter Lorre hat (nach Romanen von John P. Marquand; als japanischer Geheimagent ermittelte Lorre von 1937-39 in acht Folgen). Bereits Sherlock Holmes war mehrfach in interna‐ tionale Spionage-Affären verstrickt und für den Film ist vor allem neben den erwähnten Spionen von Lang (Drehbuch: Thea von Harbou) von 1928 auf The 39 Steps (dt. Die 39 Stufen) von Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1935 (nach dem gleichnamigen Roman von John Buchan) zu verweisen. Als bekannteste Ausprägung des Genres, die den Agententhriller neu definierte und bis heute Maßstäbe setzt, kann die James-Bond-Reihe gelten, auch wenn die Bücher deutlich weniger wahrgenommen worden sind und werden als die Filme, die sich - nachdem die Vorlagen erschöpft waren - von Ian Flemings Serie von Romanen und Erzählungen immer mehr emanzipiert haben. Auf einen frühen Film dieser Reihe und auf seine Vorlage soll anschließend etwas näher eingegangen werden. Das Agenten‐ <?page no="260"?> thriller-Genre hat Schule gemacht. Ein großer Erfolg beim Publikum war und ist beispielsweise die 1996 gestartete Kinofilmserie Mission: Impossible mit Tom Cruise als Ethan Hunt; die US-amerikanische Produktion geht auf zwei im englischsprachigen Original gleichnamige Fernsehserien (dt. Kobra, übernehmen Sie; 1966-1973; und In geheimer Mission; 1988-1990) zurück. Ebenfalls sehr erfolgreich sind - in Kino und Fernsehen - die Produktio‐ nen mit der von Autor Tom Clancy geschaffenen Figur des CIA-Analysten Jack Ryan. Seinen ersten Auftritt hatte die Figur übrigens 1984 in dem Roman The Hunt for Red October (dt. Jagd auf Roter Oktober), ein 1990 mit Ex-James-Bond Sean Connery verfilmtes U-Boot-Drama aus dem Kalten Krieg ( Jack Ryan wird hier von Alec Baldwin gespielt). Überhaupt hat der Ost-West-Gegensatz das Genre über Jahrzehnte ebenso geprägt wie das aus dem Zweiten Weltkrieg nachwirkende Bild des ‚bösen Deutschen‘. Dazu kommen international operierende Verbrecherkartelle oder andere inter‐ nationale Organisationen, die eine Bedrohung für die Demokratie oder gar für den Fortbestand der Menschheit darstellen. Der Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks hat dazu geführt, dass die Gefährdungen individueller geworden sind. Ein Beispiel ist die seit 2018 gezeigte und sehr erfolgreiche britisch-amerikanische Serie Killing Eve, die auf Romane von Luke Jennings zurückgeht. Jodie Comer spielt die international agierende Auftragsmörde‐ rin Villanelle und Sandra Oh gibt ihren Gegenpart, die britische Agentin Eve Polastri. Die wichtigsten Merkmale dieses Genres sind auch die des Thrillers. Der einzige Unterschied ist die Verstrickung der Hauptfiguren in interna‐ tionale Konflikte, die sie im Auftrag ihrer jeweiligen Regierung lösen sol‐ len. Über die auch in demokratischen Gesellschaften aus Sicherheitsgründen geheim gehaltenen Operationen wird zusätzliche Rätselspannung erzeugt. Das Internationale der Handlung wird in den besonders beachteten und kommerziell erfolgreichen Filmen in der Regel durch häufige Schauplatz‐ wechsel und die damit einhergehende opulente visuelle Inszenierung von sehenswerten Regionen, Orten und Bauwerken ausgereizt. Die Bewegung im Raum und über Grenzen hinweg sorgt für eine weitere Dynamisierung des Geschehens. 7. Erzählungen von Agenten und Spionen 260 <?page no="261"?> 7.2 Britische Snoblesse: Ian Flemings Roman Goldfinger (1959) Zunächst ist vorauszuschicken, dass die James-Bond-Verfilmungen dem üblichen Klischee widersprechen, das Literaturliebhaber von Literaturver‐ filmungen haben. Das Klischee will es, dass Filme nicht an das ‚Original‘ herankommen, für Laien, weil sie zu viele Veränderungen vornehmen, und für Experten, weil sie zu wenige Veränderungen vornehmen und deshalb nicht eigenständig genug wirken. Im Fall von James Bond sind die Romane, trotz aller (mittlerweile weitgehend verstummten) Versuche, sie zu verteidigen, deutlich schwächer als die Filme, und dies betrifft sowohl ihren kommerziellen Erfolg als auch die ästhetische Qualität. Die Romane ließen sich durchaus noch mit den Kritikern der Figur und ihrer Handlungen als „old-fashioned British imperialist spy thriller“ katergorisieren (Chapman 2007, 16). Die Filme hingegen sind, um es mit einer englischen Redewendung zu sagen, ‚a different cup of tea‘. Sie begründen das Kulturphänomen, das „cultural phenomenon“ (Chapman 2007, 4) James Bond, darin durchaus Sherlock Holmes vergleichbar. „One morning in February 1952, in a holiday hideaway on the island of Jamaica, a middle-aged British journalist sat down at his desk and set about creating a fictional secret agent, a character that would go on to become one of the most succesful, enduring and lucrative creations in lite‐ rature“ (Macintyre 2008, 14). Der aus einer reichen britischen Adelsfamilie stammende Fleming hatte in seinem Leben einige Berufe ausprobiert, war viel herumgekommen und er konnte Erfahrungen mit verarbeiten, die er während des Zweiten Weltkriegs als Offizier im Geheimdienst der britischen Marine gesammelt hatte. Die Figur Bond verdankt offenbar auch die Vorliebe für Golf, Frauen, Alkohol und gutes Essen ihrem Erfinder (ebd.). Fleming ist einer der ersten Schriftsteller, die Produktnamen einsetzen, um ihre Figuren näher zu charakterisieren (Macintyre 2008, 188). Die Romanfigur James Bond wird als starker und unabhängiger, allerdings auch moralisch urteilender und pflichtbewusster Brite mit, wenn es um Frauen und Ausländer geht, konservativen Einstellungen gezeichnet. Bond hat viel für schnelle Autos und für attraktive Frauen übrig, die ihn aus nicht näher bezeichneten Gründen auch stets ganz selbstverständlich so begehrenswert finden, dass sie am liebsten gleich mit ihm ins Bett gehen wollen (es sei denn, sie sind lesbisch). Seine weiteren Hobbys sind Selbstverteidigung, gutes Essen und der von Tageszeiten unabhängige, 7.2 Britische Snoblesse: Ian Flemings Roman Goldfinger (1959) 261 <?page no="262"?> großzügige Genuss von Bourbon (nicht von geschütteltem Martini, wie es sein filmisches Alter Ego kultivieren wird; vgl. Goldfinger 2007, 00: 53: 14). Wie sich die Figur bei all dem körperlich fit hält, bleibt das Geheimnis ihres Erfinders. Dass Bond in Goldfinger nicht nur die US-amerikanischen Goldreserven vor Diebstahl, sondern auch viele tausend Menschen vor dem Tod durch Vergiftung retten kann, ist ohnehin eher Zufall. Bond schätzt so manche Situationen falsch ein und er ist ein Spieler, der gern alles auf eine Karte setzt - und märchenhafterweise jedes Mal gewinnt, ganz gleich, wie unwahrscheinlich die Rettung aus der Not auch ist. Seine Gegner passen zu ihm, nur dass sie eben nicht moralisch handeln und bei allem zuerst an sich selbst denken. Im Falle von Goldfinger handelt es sich, wie wir sehen werden, um einen Gegenspieler im wörtlichen Sinn. Wie wir es von Sherlock Holmes kennen, ist der wichtigste Gegner beinahe ebenbürtig - so wird das Exzeptionelle der Hauptfigur zusätzlich unterstrichen. Der Roman ist nach einer Redewendung gegliedert, die Goldfinger - dessen schurkische Professionalität der MI6-Spion sogar bewundert - zuge‐ schrieben wird: „Goldfinger said, ‚Mr Bond, they have a saying in Chicago: ‚Once is happenstance, twice is coincidence, the third time it’s enemy action‘“ (Fleming 2015, unpag.). Die drei Teile des Romans sind also geglie‐ dert nach „happenstance“ (engl. für ‚glücklicher Umstand‘), „coincidence“ (‚Zufall‘) und „enemy action“ (‚feindliche Handlung‘), die auf Spannung angelegte Steigerung bestimmt daher bereits den Paratext. Der erste Satz des Romans sagt schon viel über die Figur des Agenten und die Qualität der Erzählung aus: „James Bond, with two double bourbons inside him, sat in the final departure lounge of Miami Airport and thought about life and death“ (Fleming 2015, 3). Es ist ein glücklicher Umstand, der Bond erst mit einem früheren Bekannten, einem Millionär, auf dem Flughafen und dann durch dessen Bitte mit Goldfinger zusammenführt. Zunächst wird die Figur aber dadurch eingeführt, dass sie über ihren ge‐ rade absolvierten Auftrag räsonniert, ein südamerikanisches Drogenkartell zu sprengen. In der Umsetzung lässt sich diese Metapher wörtlich verstehen, Bond hat das Drogenlager mit einer Bombe zerstört (Fleming 2015, 8) und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen, sich dabei auch erfolgreich gegen einen Auftragskiller verteidigt. Mitleid hat er mit einem britischen Helfershelfer, den er entkommen lässt; ebenso mit dem unterprivilegierten Auftragskiller, den er allerdings in Selbstverteidigung tötet (Fleming 2015, 9 f.). So wird gleich am Anfang die Doppelnatur der Figur deutlich, auf ihre Weise moralisch und integer zu sein und zugleich den Einsatz von 7. Erzählungen von Agenten und Spionen 262 <?page no="263"?> Gewalt perfekt zu beherrschen. Für den Roman liegt darin nicht nur kein Widerspruch, beides bedingt sich offenbar gegenseitig, um der Figur ihren säkularen Heldenstatus in einer unübersichtlich gewordenen Welt globaler Verbrechen zu verleihen. Zunächst braucht der Roman einige Zeit, um in Gang zu kommen. Ausführlich wird das zufällige Treffen Bonds mit Junius Du Pont geschildert (Fleming 2015, 14 ff.), in dessen Folge Bond den Millionär in sein Hotel in Miami begleitet und ihm, nach einem opulenten Mahl, die Bitte gewährt, am kommenden Tag zu untersuchen, weshalb der ebenfalls schwerreiche Auric Goldfinger immer im Kartenspiel gewinnt. Du Pont ist eine freundliche und freigiebige, aber dennoch keine besonders positiv gezeichnete Figur: „Bond was reminded of Charles Laughton playing Henry VIII […]“ (Fleming 2015, 28), heißt es sehr direkt für jeden, der vielleicht nicht den Film, aber zumindest den berühmten Schauspieler Charles Laughton kennt und weiß, wie er und wie Heinrich VIII. von Großbritannien aussahen - voluminös. Bond hingegen ist eher ‚puritanisch‘ eingestellt (Fleming 2015, 29), erlaubt sich aber auch, weil er dies kritisch reflektieren kann, Ausnahmen. Diese Dosierung steigert offenbar noch den Genuss. Der Canasta-Tisch ist im Freien aufgebaut und Bond merkt schnell, dass Goldfingers Begründung, an einer besonderen Form der Agoraphobie (Platzangst) zu leiden und deshalb mit dem Gesicht zum Hotel sitzen zu müssen (Fleming 2015, 44), eine Ausrede ist. Bond findet in Goldfingers Suite eine junge Frau mit einem Fernglas, die ihrem Gönner über Funk sagt, welche Karten Du Pont in Händen hält (Fleming 2015, 51). Sie verrät ihm, dass der Millionär mit dem tautologischen Namen (bereits sein Vorname von lat. aurum bedeutet Gold) selbst bei kleinen Summen nicht widerstehen kann und dass er ein Spieler ist: „He’s always getting on about the same thing, getting the odds right. […] ‚When the odds arent’t right, make them right‘“ (Fleming 2015, 53). Goldfinger reise immer mit einer Millionen Dollar in Gold herum, das er bei sich trage und in seinem Rolls Royce verstecke (Fleming 2015, 53 f.). Bond zwingt Goldfinger, das Spiel zu verlieren und Du Pont sein Geld wiederzugeben, mit einem deutlichen Aufschlag für den versuchten Betrug (Fleming 2015, 59). Zurück in London muss Bond Büroarbeit machen (Fleming 2015, 60 ff.), bis er den Auftrag erhält, mit der Bank of England zusammen den Schmuggel größerer Mengen Goldes zu unterbinden und das England dadurch verloren gegangene Gold zurückzuholen (Fleming 2015, 71). Wie es der Zufall will, ist ein neuer Bekannter ins Visier der 7.2 Britische Snoblesse: Ian Flemings Roman Goldfinger (1959) 263 <?page no="264"?> Ermittlungen geraten: „‚He’s the richest of the lot. Man called Goldfinger. Auric Goldfinger‘“ (Fleming 2015, 73). Der Rolls Royce Silver Ghost wird ebenso zu Goldfingers Markenzeichen wie der Aston Martin D.B. III zu dem Bonds (Fleming 2015, 87 u. 95). Abb. 7.1: Aston Martin DB5 Saloon von 1965, das Originalfahrzeug aus Goldfinger. Schon früh vermuten Bond und sein Vorgesetzter M., dass Goldfinger etwas mit der russischen Geheimorganisation Smersh zu tun hat (Fleming 2015, 95): „Smersh, ‚Smiert Spionam‘, Death to Spies - the murder Apparat of the High Praesidium! “ (Fleming 2015, 101). (Ein kleiner Fehler im Gewebe der Erzählung an dieser Stelle ist, dass Bond denkt, nur er wüsste davon; schließlich hatte ihn vorher M. überhaupt erst auf den Gedanken gebracht.) Goldfinger hatte Bond vage zu einem Golfspiel in Sandwich eingeladen und Bond beschließt nun, dorthin zu fahren und ein zufälliges Treffen zu inszenieren (Fleming 2015, 94 ff.). Schon vor dem Wiedersehen liegen für Bond die Karten auf dem Tisch: „Goldfinger was not making the money for himself. He was making it for the conquest of the world! “ (Fleming 2015, 98). (Dass Gold auch Goldfingers persönliche Obsession ist, spielt hierbei keine besondere Rolle, sie soll ihn nur zusätzlich als ‚fremd‘ markieren.) Der Zusammenhang zwischen der Eroberung der Welt und dem mörderischen Vorhaben, alle Spione zu töten, kann nur darin liegen, dass es die westlichen (zuallererst britischen) Spione sind, die ständig damit beschäftigt sind, die Welt zu retten. Am Ende wird man sagen können: quod erat demonstrandum. Der zweite Teil „Coincidence“ beginnt also mit dem Wiedersehen auf dem Golfplatz und mit der gelungenen Intrige Bonds, den gierigen Goldfinger zu einem Spiel um Geld zu verleiten. Es wird schnell klar, dass Goldfinger wieder einmal mogelt (Fleming 2015, 135 ff.). Bond schlägt ihn mit seinen eigenen Waffen, er schiebt ihm einen falschen Golfball unter, nachdem 7. Erzählungen von Agenten und Spionen 264 <?page no="265"?> Goldfinger seinen eigenen, schlecht geschlagenen Ball selbst ausgetauscht hatte - und so wird der siegessichere Millionär zum zweiten Mal von Bond zur Strecke gebracht (Fleming 2015, 150 f.). Auch wenn er vorher nicht wusste, wie er es schaffen würde, stand für den Supermann des MI6 der Gewinn gegen den Superschurken nie außer Frage: „Goldfinger could not have known that high tension was Bond’s natural way of life and that pressure and danger relaxed him“ (Fleming 2015, 154). Bond findet heraus, dass Goldfinger Gold in großen Mengen schmuggelt, erst wird es in seinen Rolls Royce verbaut und dann umgegossen und als Gestell von Flugzeugsitzen nach Indien verschickt (Fleming 2015, 222 f.). Bond folgt Goldfinger auf seiner Reise in die Schweiz und lernt dabei eine junge Frau kennen, die sich als Schwester von Jill Masterton (dem Mädchen mit dem Fernglas) entpuppt. Tilly will ihre Schwester rächen, denn Goldfinger hatte sie nach ihrer Affäre mit Bond und ihrer Rückkehr aus England durch vollständiges Anstreichen mit flüssigem Gold umgebracht (Fleming 2015, 230 f.). Als Bond dies erfährt, beobachten sie beide gerade die Fabrik Goldfingers, der sie mit Hilfe eines Sonars orten kann - was Bond nicht bemerkt. So werden sie beide zu Gefangenen des Großverbrechers (Fleming 2015, 230 ff.). In einer martialischen Folter-Szene versucht Goldfinger, die Identität des Agenten aufzudecken (Fleming 2015, 239 ff.). Weil Bond, der offiziell für eine Firma namens Universal Export arbeitet, Goldfinger vorschlägt, dass Tilly und er für Goldfinger tätig werden könnten, und dann nichts mehr zu sagen bereit ist, verzichtet Goldfinger darauf, die beiden zu töten, und nimmt sie mit in die USA (Fleming 2015, 259 ff.). Goldfinger erläutert Bond seine Geschäfte, etwa mit gestrecktem Penicillin, das er mit hohem Profit an die Ärmsten der Welt verkauft (Fleming 2015, 262), und schließlich seinen Plan, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte zu begehen und Fort Knox auszurauben (Fleming 2015, 263 f.). Dort lagern die Goldreserven der USA. Goldfinger schließt sich dafür mit Verbrechersyndikaten aus dem ganzen Land zusammen (Fleming 2015, 265 ff.). Bond und Tilly kommt die Aufgabe zu, Sekretariatstätigkeiten auszuführen und Goldfinger während der Verhandlungen mit den Gangsterbossen zu unterstützen. Da sich Tilly Masterton als lesbisch herausstellt und sich ebenso wie Bond zu der Gangster-Chefin Pussy (! ) Galore aus Harlem hingezogen fühlt (Fleming 2015, 279), die eine „‚Lesbian organization‘“ mit dem Namen „‚The Cement Mixers‘“ anführt (Fleming 2015, 274 f.), wird am Ende Tilly sterben (Fleming 2015, 338) und Bond die forsche Pussy als vorläufig 7.2 Britische Snoblesse: Ian Flemings Roman Goldfinger (1959) 265 <?page no="266"?> letzte Lebensabschnittsgefährtin bekommen. Wieviel beabsichtigte Komik in Bezeichnungen wie ‚Zementmixer‘ oder im Vergleich Goldfingers mit Einstein steckt (Fleming 2015, 281) ist schwer zu ergründen, da eindeutige Ironiesignale fehlen. Immerhin sind Wortspiele wie „Crime de la Crime“ (Fleming 2015, 282) oder die Bezeichnung „Operation Grand Slam“ für den Angriff auf Fort Knox (Fleming 2015, 300) durchaus Zeichen für den auch humoristischen Gehalt des eher trocken wirkenden Romans. Der Raubzug scheitert nur, weil der streng bewachte Bond alles auf die eine mögliche Karte setzt und unter dem Toilettensitz eines gecharterten Flugzeugs einen Hinweis auf das Verbrechen deponiert (Fleming 2015, 318). So kann sein Freund und CIA-Agent Felix Leiter den Tod der Anwohner als Bühnenstück inszenieren und Goldfinger mit seinen Verbrechern in die Falle tappen lassen (Fleming 2015, 339 ff.). Bond wird als Retter gefeiert und hat eine Audienz beim US-amerika‐ nischen Präsidenten. Bescheiden wie er ist, ist ihm das peinlich und er lehnt jede Auszeichnung ab (Fleming 2015, 345 f.). Damit könnte der Roman zuende sein, aber Bond muss noch Goldfinger zur Strecke bringen, denn der konnte entkommen. Wieder ist es die Kombination aus Goldfingers Spielerwillen und Bonds Spielerglück, die den Superschurken, der offenbar immer noch nicht erkannt hat, dass er dem Superagenten letztlich doch nicht das Wasser reichen kann, einen weiteren Versuch unternehmen lässt, das Spiel gegen Bond in einem letzten Versuch noch zu gewinnen. Goldfinger nimmt den Agenten als Geisel und entführt ein Flugzeug, um sein Gold in die Sowjetunion zu bringen. Ein Glück, dass er deutsche Unterstützung hat: „‚Three of my men were formerly of the Luftwaffe‘“ (Fleming 2015, 355). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Deutschen, neben den kommunistischen Russen, eine geeignete Besetzung für Schurkenrollen. Bond hat zwar noch keinen Plan, wie er aus dieser neuen Notlage wieder herauskommen soll, aber er stellt schon einmal ebenso selbstbewusst wie patriotisch fest: „‚You underestimate the English‘“ (Fleming 2015, 357). Eine größere Menge Bourbon scheint seine grauen Zellen anzuregen (Fleming 2015, 359). Jedenfalls mischt er die Karten neu, indem er ein Kabinenfenster einschlägt, durch das sein Bewacher Oddjob ins Freie gesaugt wird (Fleming 2015, 362). Den ihn angreifenden Goldfinger erwürgt er mit bloßen Händen (Fleming 2015, 363 f.). Bonds Belohnung ist erst eine in dem zerstörten Flugzeug herumrollende „unbroken bottle of bourbon“ (Fleming 2015, 365) und nach der Landung auf dem Wasser, bei dem alle außer ihm und Pussy Galore umkommen (Fleming 7. Erzählungen von Agenten und Spionen 266 <?page no="267"?> 2015, 370), die traute Zweisamkeit mit einer offenbar vom Lesbentum kurierten Gang-Chefin. Zuvor hatte er sie mit einem chauvinistischen Wortspiel zurück auf ihren Platz im Flugzeug gescheucht, um ihre Rettung zu organisieren: „‚Pussy, get back to your basket‘“ (Fleming 2015, 369). Es stellt sich heraus, dass ‚die Katze‘ Pussy nur lesbisch geworden ist, weil sie im Alter von zwölf Jahren von einem Onkel vergewaltigt wurde (Fleming 2015, 371). Bond kann sie heilen, und zwar mit seinem „Tender Loving Care treatment“ (ebd.), das allerdings harten Sex keineswegs ausschließt (Fleming 2015, 372). Mit dessen Anfang endet der Roman und der männliche Leser hat nun Raum für die weitere Ausgestaltung eigener unterdrückter Wunschvorstellungen. Probleme bereitet bei einer heutigen Relektüre, dass der Roman Kli‐ schees über Angehörige anderer Nationen als Großbritannien und den USA, über Farbige und über Frauen transportiert und sie nicht bricht, wie dies oft in den Bond-Filmen der Fall ist. So heißt es beispielsweise über die farbigen Bediensteten im Hotel in Miami: „Gardeners were working, raking the paths and picking up leaves with the lethargic slow motion of coloured help“ (Fleming 2015, 32). Auch Goldfinger ist so ein ‚Ausländer‘. Er kam 1937 als Flüchtling aus Riga und arbeitete sich dann, mit dem An- und Verkauf von Altgold und Juwelen, zum reichsten Mann des Königreichs empor (Fleming 2015, 86 ff.; 91). Sein Schurkenstatus wird bereits durch sein Äußeres signalisiert, allerdings auch das Außergewöhnliche, das ihm darüber hinaus zugeschrieben wird: „Without the red-brown camouflage the pale body would be grotesque“, der ganze Körper wird als „ugly“ beschrieben und die Summe seiner Teile als „odd combination“ (Fleming 2015, 39). Dass er nicht raucht und nicht trinkt (Fleming 2015, 178), ist im Kontext der Zeit ebenfalls ein Zeichen dafür, dass er ‚nicht normal‘ ist, ebenso dass er offenbar auch keine sexuellen Beziehungen hat, weil für ihn Gold libidinös besetzt ist und alles andere ersetzt (Fleming 2015, 260 f.). Gesteigert wird das Fremde der Figur noch durch seinen Diener und die anderen Koreaner und Deutschen (Fleming 2015, 273), mit denen er sich umgibt. Nicht zufällig kommt das tödliche Gift, mit dem die ganze Bevölkerung von Fort Knox getötet werden soll, aus alten Nazi-Beständen (Fleming 2015, 294) und auch der kleine atomare Sprengkopf, mit dem die Tresore von Fort Knox geöffnet werden sollen, stammt von einer Militärbasis in Deutschland (Fleming 2015, 197). Extreme Erfahrungen macht Bond mit Goldfingers koreanischem Diener mit dem merkwürdigen Namen Oddjob, der nur aus Muskeln besteht und 7.2 Britische Snoblesse: Ian Flemings Roman Goldfinger (1959) 267 <?page no="268"?> für das Foltern und Töten trainiert ist. Oddjob kann sich nur mit Lauten artikulieren, die niemand als Goldfinger und seine Getreuen verstehen (Fleming 2015, 156 ff.; 172 ff.). Der erste Diener Goldfingers ist aber nicht etwa eine Ausnahme, wie Bond feststellt: „This Korean matched up with what he had always heard about Koreans […]“ (Fleming 2015, 158 f.). Zwar nötigt die physische Gewalt der Gestalt Bond Respekt ab, doch ist das Lob angesichts des Vergleichs mit gefährlichen Tieren wieder eindeutig herabwürdigend: Bond looked at the man in deep awe. And only two nights ago, he, Bond, had been working on his manual of unarmed combat! There was nothing, absolutely nothing, in all his reading, all his experience, to approach what he has witnessed. This was not a man of flesh and blood. This was a living club, perhaps the most dangerous animal on the face of the earth. (Fleming 2015, 175) Die Metapher wird durch den ‚Übelkeit erregenden Zoo-Geruch‘ („The sickly zoo-smell of Oddjob“) des Handlangers später weiter gesteigert (Fleming 2015, 246). Für Bond rangieren, wie der Erzähler sympathetisch feststellt, die Koreaner auf einer Stufe der Schöpfung noch unterhalb von Affen (Fleming 2015, 257). Dabei bleibt der Roman aber nicht stehen. Als Belohnung für seine Vorführung überlässt Goldfinger Oddjob seine Hauskatze: „‚You may have it for dinner‘“ (Fleming 2015, 176). Zugleich ist es eine Warnung an Bond, der während des gemeinsamen Abendessens in Goldfingers Villa herumgeschnüffelt und die Katze als Ausrede gebraucht hatte. Alle bediensteten Koreaner werden - falls überhaupt möglich - noch unsympathischer durch ihren Wunsch, mit ‚weißen‘ Frauen zu schlafen, den Goldfinger ihnen durch Heranschaffen von Prostituierten regelmäßig erfüllt, wobei die Frauen offenbar auch misshandelt und manchmal sogar umgebracht werden (Fleming 2015, 182). Jene Frauen, die Bonds Weg kreuzen, werden dagegen in der Regel als „very beautiful“ beschrieben, Haar, Haut und Lippen werden beispielsweise erwähnt (Fleming 2015, vgl. z. B. 51 f.). Die genaue Vorstellung bleibt vor allem den Lesern (wohl weniger den Leserinnen) überlassen. Jill Masterton wird, dem Aschenputtel-Motiv gemäß, wie folgt charakterisiert: „He looked at the beautiful face, the splendid, unselfconscious body“ (Fleming 2015, 55). James Bond wird diesen Körper zum sexuellen Leben erwecken - „It had been as if the girl was starved of physical love“ (Fleming 2015, 66) - und er wird ihr dafür seine Belohnung von 10.000 Dollar schenken (Fleming 2015, 66 f.). 7. Erzählungen von Agenten und Spionen 268 <?page no="269"?> Die moderne Variation des Klischees ist allerdings, dass sich beide nach der gemeinsamen Zugfahrt zufrieden trennen und dass Jill, weil sie zu Goldfinger zurückgeht, ihre sexuelle Erweckung mit dem Leben bezahlen wird. Einerseits muss offenbar, im Sinne einer poetischen Gerechtigkeit, die Freizügigkeit der Frau bestraft werden; andererseits ist ein Zeitalter der Libertinage für beide Geschlechter angebrochen, von dem aber letztlich nur der Mann profitiert: „Neither had had regrets. Had they committed a sin? If so, which one? “ (Fleming 2015, 67). Auch Jills Schwester Tilly wird zunächst in den höchsten Tönen wegen ihrer Schönheit gefeiert, allerdings laufen bei ihr Bonds Avancen ins Leere. Dies bringt die Agentenfigur und ihren Erzähler gegen sie auf, etwa indem Bond folgendes überlegt: „He decided it would be ungallant to spank her, so to speak, on an empty stomach“ (Fleming 2015, 267). Für Bond und den Erzähler steht fest, dass bei Tilly nicht alles in Ordnung ist und dass solche Unausgeglichenheiten fatale Folgen einer vollkommen unnatürlichen Auffassung von ‚Gleichberechtigung‘ darstellen: Bond came to the conclusion that Tilly Masterton was one of those girls whose hormones had got mixed up. He knew the type well and thought they and their male counterparts were a direct consequence of giving votes to women and ‚sex equality‘. As a result of fifty years of emancipation, feminine qualities were dying out or being transferred to the males. Pansies of both sexes were everywhere, not yet completely homosexual, but confused, not knowing what they were. The result was a herd of unhappy sexual misfits - barren and full of frustrations, the women wanting to dominate and the men to be nannied. He was sorry for them, but he had no time for them. (Fleming 2015, 313 f.) Bonds Nachruf auf Tilly zeigt, dass es aus ‚männlicher‘ Perspektive um sie nicht schade ist: „‚Poor little bitch. She didn’t think much of men‘“ (Fleming 2015, 341). Offen bleibt allerdings, weshalb dann Pussy Galore eine sportliche Herausforderung darstellt: „He felt the sexual challenge all beautiful Lesbians have for men“ (Fleming 2015, 279). Jedenfalls lohnt es sich für Bond, ihr seine Zeit zu widmen, denn sie ist dem Sexappeal des Agenten gegenüber aufgeschlossen. Am allerproblematischsten ist wohl die Kapitelüberschrift „Journey into Holocaust“ (Fleming 2015, 316), weil sie den Raubzug Goldfingers mit dem schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte gleichsetzt, um die Spannung weiter zu steigern. Natürlich ist der Plan, das Leben einer ganzen Stadt auszulöschen, äußerst grausam und abscheulich - aber der Vergleich 7.2 Britische Snoblesse: Ian Flemings Roman Goldfinger (1959) 269 <?page no="270"?> hinkt, nicht nur, wenn man die Zahlen der (möglichen) Opfer betrachtet, sondern auch, wenn man die Motive berücksichtigt. Beide Protagonisten - Bond und Goldfinger - sind Spieler auf ihre Weise. Während Goldfinger glaubt: „‚You want to be certain that the odds are right and then you should hazard everything‘“ (Fleming 2015, 186), spielt Bond den Spielverderber für jeden, der sich nicht an die Spielregeln hält, und die werden (noch) von einer westlichen Gesellschaft britischer Prägung gemacht. Dann ist auch bei dem Agenten ein „hard, cold, cruel smile“ (Fleming 2015, 193) und mehr erlaubt, bis hin zum Töten des Gegners. Mit seiner modernen, direkten und zeitbezogenen Schreibweise, die an Texte von zu dieser Zeit wegweisenden US-amerikanischen Autoren wie Er‐ nest Hemingway erinnert, bereitet Fleming den Boden für die erfolgreichen Filmadaptionen. Zugleich bleibt die Konzeption der Romane aber hinter ihrer Zeit zurück. Die Figurencharakterisierung ist ebenso misogyn wie xenophob und der Phantomschmerz über das verlorene britische Weltreich ist deutlich zu spüren. Der britische Geheimdienst mit seinen Agenten gilt deshalb im Roman als überholt und muss seine Existenz rechtfertigen (Fleming 2015, 63), während gewissenlose, von der Sowjetunion beauftragte Schurken ihre großangelegten Angriffe auf die westliche Welt planen. Der Kalte Krieg hat begonnen, auch in der Literatur. 7.3 Filmische Nonchalance: Albert R. Broccolis und Harry Saltzmans Goldfinger (1964) Die Romanverfilmung, bei der Guy Hamilton Regie führte, war nach Dr No (James Bond - 007 jagt Dr. No) von 1962 und From Russia with Love (James Bond 007 - Liebesgrüße aus Moskau) (beide unter der Regie von Terence Young) der dritte Film der Reihe und ein Film der Superlative. Er ist als die Kinoproduktion, die in kürzester Zeit am meisten Geld eingespielt hat, in das Guinness-Buch der Rekorde eingegangen. Nach drei Wochen waren bereits die Produktionskosten refinanziert, sie waren allerdings mit rund drei Millionen US-Dollar auch gering, nicht nur, wenn man sie mit dem Gesamt-Einspielergebnis von über 900 Millionen Dollar vergleicht. 1965 gab es den Oscar in der Kategorie ‚Beste Toneffekte‘. Der Soundtrack und auch der Titelsong, komponiert von John Barry und gesungen von Shirley Bassey, kamen an die Spitze der Charts; für den Song gab es außerdem eine 7. Erzählungen von Agenten und Spionen 270 <?page no="271"?> Goldene Schallplatte. Erstmals wurde ein Kinofilm durch eine großangelegte Werbekampagne mit umfangreichem Merchandising eingeführt. Vielen gilt Goldfinger als der Film der Reihe, sicher auch wegen seiner Besetzung, die so erst nicht geplant war. Für die Schurkenrolle war Or‐ son Welles vorgesehen, der den Produzenten aber zu teuer war, bis sie schließlich auf Gert Fröbe verfielen - der wegen seines starken Akzents in der englischsprachigen Originalversion synchronisiert werden musste. Überhaupt hätten die ersten Bond-Filme auch ganz anders werden können, etwa wenn die Produzenten dem Vorschlag des Autors gefolgt wären, Bond mit Flemings Freund David Niven oder mit dem von ihm bewunderten Richard Burton oder gar mit Cary Grant zu besetzen, der sich aber selbst für zu alt erklärte. Stattdessen bekam der so gut wie unbekannte schottische Nachwuchs‐ schauspieler Sean Connery die Rolle (Macintyre 2008, 202), der nicht nur eine Karriere als erfolgreicher Bodybuilder (so erreichte er 1950 beim Mister-Universum-Wettbewerb den dritten Platz), sondern auch als Soldat, Milchmann und Möbelpolierer hinter sich hatte. Der 1930 geborene Connery wurde 1989 vom People Magazine zum ‚Sexiest Man Alive‘ und 1999 sogar noch zum ‚Sexiest Man of the Century‘ gewählt. Nachdem er fünfmal die Rolle gespielt hatte, gab Connery auf; die langen Dreharbeiten, die zu der Zeit noch geringe Gage und die Festlegung auf die eine Rolle sagten ihm nicht mehr zu. Abb. 7.2: Sean Connery als James Bond in Amsterdam und in Diamonds are Forever (1971). 7.3 Filmische Nonchalance: Albert R. Broccolis und Harry Saltzmans Goldfinger (1964) 271 <?page no="272"?> Nach dem kurzen Intermezzo von George Lazenby 1969 in On Her Majesty’s Secret Service (James Bond 007 - Im Geheimdienst Ihrer Majestät) kehrte Connery 1971 noch einmal in Diamonds Are Forever (Diamantenfieber von 1971) als Bond auf die Leinwand zurück. Seinen letzten Auftritt in dieser Rolle absolvierte er allerdings in einer Konkurrenzproduktion zu den Filmen mit seinem Nachfolger Roger Moore, und zwar 1983 in Never Say Never Again (Sag niemals nie). Seither wurde die Rolle noch von Timothy Dalton, Pierce Brosnan und Daniel Craig gespielt. Typisch für die frühen Bond-Filme ist der Versuch, die Romanhandlung weitgehend originalgetreu umzusetzen. Dennoch sind es die klugen Verän‐ derungen, die dafür Sorge tragen, dass sich der Film von seiner weniger humorvollen, weniger souveränen und auch sonst sehr konventionellen Vorlage so positiv abzuheben und mit die Weichen für den bis heute dauernden Erfolg zu stellen vermag. Zu vermuten ist, dass die beiden über Jahrzehnte verantwortlichen Produzenten Albert R. Broccoli und Harry Saltzman einen großen Anteil daran hatten. Bond ist im Roman ein Chauvinist ohne Humor und Selbstironie. Dagegen sind es aber gerade diese Eigenschaften, die ihn als Filmfigur für lange Zeit so unverwechselbar machen, auch wenn die Vorbilder unverkennbar sind. Anzunehmen ist, dass sich die Bond-Macher an Erfolgsschauspielern und Erfolgsrezepten wie Cary Grant in Alfred Hitchcocks North by Northwest (Der unsichtbare Dritte von 1959) angelehnt haben. Auch Grant spielt nicht nur hier Spione und andere starke Figuren mit Heiterkeit und Nonchalance. Für alle Bond-Filme erfüllt eine (bei Spielfilmen zuvor eher unübliche) Sequenz vor dem eigentlichen Vorspann verschiedene Funktionen. Sie ist ein Teaser, sie sorgt mit einem Paukenschlag für Spannung und stimmt auf den weiteren Film ein. Schon der Anfang des Films signalisiert, dass Komik eine wichtige Rolle spielen wird: Bond taucht im Wortsinn auf, er hat sich mit einem Taucheranzug unter Wasser der Destination genähert, die er durch eine Detonation zerstören wird. Auf seinem Kopf ist, als Tarnung während der Annäherung im Wasser, eine künstliche Ente montiert (Goldfinger 2007, 00: 02: 00). Bond bringt zuerst die Bombe an. Er trägt unter seinem Taucheranzug einen eleganten Abendanzug und geht in eine Bar; kurz darauf explodiert die Anlage, in der Drogen hergestellt werden. Ein Mann gratuliert ihm zu seinem Erfolg und Bond erwidert: „At least he [der Drogenboss] won’t be using heroin-flavoured bananas to finance revolutions“ (Goldfinger 2007, 00: 03: 00ff.). 7. Erzählungen von Agenten und Spionen 272 <?page no="273"?> Kurz danach soll Bond aus dem südamerikanischen Land - um ein solches handelt es sich offenbar - nach Miami fliegen. Als er sich vorher noch mit einer schönen, gerade dem Bad entstiegenen, dunkelhäutigen und mit Akzent sprechenden Frau in einem Hotelzimmer trifft und sie küsst, stößt sie sich an seiner Waffe und fragt: „Why do you always wear that thing? “ Bonds Antwort lautet: „I have a slight inferiority complex“ (Goldfinger 2007, 00: 03: 40ff.). Bond wurde bereits von dem Mann in der Bar gewarnt, dass er beobachtet wird und nicht zu seinem Hotel zurückkehren soll; tatsächlich handelt es sich bei dem Stelldichein um eine Falle. Visuell eindrucksvoll inszeniert ist, dass Bond während des Küssens der Frau in die Augen und in Großaufnahme in einem Auge den Angreifer hinter sich gespiegelt sieht (Goldfinger 2007, 00: 03: 55). Der Angreifer stirbt beim Kampf in der noch gefüllten Badewanne, weil Bond erst ihn und dann einen Heizstrahler ins Wasser wirft. Den Anblick kommentiert Bond mit: „Shocking. Absolutely shocking“ (Goldfin‐ ger 2007, 00: 04: 39ff.), also mit einem Wortspiel, denn gemeint sein kann ‚schockierend‘ ebenso wie ‚geschockt‘ durch den elektrischen Schlag. Die knapp fünf Minuten des Anfangs, der bei Bond-Filmen stets visuelle Opulenz mit einem extra dafür komponierten Titelsong verbindet, setzen also den Rahmen: Bond ist überlegen und unbesiegbar, er ist aber auch witzig und selbstironisch. Die Erzeugung von Spannung wird unauflösbar mit der Erzeugung von Komik verbunden, denn die Bond-Filme (vor allem jene mit Connery, Roger Moore und Pierce Brosnan) balancieren auf dem schmalen Grat zwischen Agententhriller und Agentenkomödie. Der Film betont das Spielerische, das Nicht-Ernsthafte, er verweist auf seine eigene Inszenierung. Metafiktionale Verweise finden sich zwar auch im Roman, aber es sind wenige und nur lose eingestreut; im Film sind sie konstitutiv für die ganze Konzeption. Die Figuren und die Handlung sind, wenn überhaupt, nur innerhalb dieses Agententhrillers ernstzunehmen und sie wollen auch gar nichts anderes sein als im älteren Wortsinn witzige (geistreiche) Unterhaltung in einer perfekten, alle Mittel des Films ausspielenden, diese Mittel ebenso offensiv wie selbstironisch ausstellenden Inszenierung. Der Titelsong stimmt auf die titelgebende Figur ein und bereits der anschließende Flug über Miami spielt die Möglichkeiten des Films aus, die extravaganten Schauplätze optisch opulent inszenieren zu können (Goldfinger 2007, 00: 07: 50ff.). Das Treffen von Bond und Goldfinger ist aber kein Zufall mehr wie im Roman, die Handlung ist im Film deutlich logischer 7.3 Filmische Nonchalance: Albert R. Broccolis und Harry Saltzmans Goldfinger (1964) 273 <?page no="274"?> aufgebaut. Schon am Anfang kommt CIA-Agent Felix Leiter ins Spiel, der Bond über seinen nächsten Auftrag aus London informiert (Goldfinger 2007, 00: 07: 43ff.). Bond kommentiert das Telegramm mit der üblichen Ironie: „Auric Goldfinger. Sounds like a French nail varnish.“ Im Film ist Goldfinger (gespielt von dem Deutschen Gert Fröbe und synchronisiert von Michael Collins) aber Brite (Goldfinger 2007, 00: 09: 17ff.). Zu den vielen Veränderungen im Vergleich zur Romanhandlung gehört, dass Goldfinger wegen seiner Sonnenbräune immer den einen Platz beim Kartenspiel beansprucht, dass sein Kartenspielgegner zu einer Randfigur wird und dass Bond innerhalb von Sekunden den Betrug begreift und Goldfingers Zimmer aufsucht (Goldfinger 2007, 00: 09: 57ff.). Das Motiv Gold‐ fingers für den Betrug erklärt Jill Masterson, die wie im Roman Goldfingers Gegner mit dem Fernglas in die Karten schaut, ganz einfach mit: „He likes to win“ (Goldfinger 2007, 00: 12: 00f.). Die kurze amouröse Beziehung zwischen Bond und der ihm wie selbstverständlich sofort verfallenden Jill wird mit einem der Sätze eingeführt, die zu den geflügelten Worten der Filmreihe gehören: „Call me James“ (Goldfinger 2007, 00: 13: 22). Im Film wird Jill noch während der gemeinsamen Nacht mit Bond umge‐ bracht und goldgefärbt; Goldfingers Diener hat zuvor den durch Champag‐ nersuche abgelenkten Bond niedergeschlagen (Goldfinger 2007, 00: 15: 20ff.). Dass man in der Regel nicht durch einen Ganzkörperanstrich sterben kann, spielt für Buch und Film keine Rolle. Das Bild der goldenen nackten toten Frau hat jedenfalls ikonographischen Status in der Filmgeschichte. Jetzt erst kommt Bond nach London und trifft sich mit seinem Vorgesetz‐ ten M, der ihn, gemeinsam mit dem Experten der Bank von England, ins Bild setzt, dass Gold im großen Stil geschmuggelt und Goldfinger verdächtigt wird (Goldfinger 2007, 00: 17: 06ff.). Colonel Smithers schlägt vor, dass Bond versucht, mit Hilfe eines einzelnen gefundenen Barrens verschwundenes Nazigold zu verkaufen (Goldfinger 2007, 00: 21: 18ff.). Auch dies ergibt mehr Sinn als Bonds scheinbar zufälliges Zusammentreffen auf dem Golfplatz im Roman. Es folgt der für den Ablauf der Filme übliche Besuch im Laboratorium von Q, der Bond mit einem besonderen Auto und einigen besonderen Extras ausstattet; mit Bond haben die Zuschauer*innen wie stets Gelegenheit, einige humorvoll inszenierte Experimente mitzuerleben (Goldfinger 2007, 00: 21: 43ff.). Es folgt das aus dem Roman bekannte Treffen auf dem Golfkurs mit dem Versuch Goldfingers zu betrügen und mit Bonds cleverem Triumph (Goldfinger 2007, 00: 24: 16ff.). Goldfinger weiß aber nun, dass das Zusam‐ 7. Erzählungen von Agenten und Spionen 274 <?page no="275"?> mentreffen mit Bond auf dem Golfplatz kein Zufall ist: „What’s your game, Mr Bond? “ Der präsentiert ihm den Goldbarren aus Nazibeständen, der nur kurz zum Spieleinsatz wird (Goldfinger 2007, 00: 25: 24ff.). Auch in der Sequenz auf dem Golfplatz gibt es wieder Gelegenheit zu Wortspielen, so meint Bond zu Goldfinger, als der einen Ball verschlägt: „Oh bad luck, you’re in the rough! “ (Goldfinger 2007, 00: 27: 08ff.). Bond ist weniger moralisch und dafür schlitzohriger als im Roman, denn er hat sich auf Goldfingers Ball gestellt und genießt es, den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen (Goldfinger 2007, 00: 28: 01ff.). Im Film ist Goldfinger auf andere Weise ein fast ebenbürtiger Gegner. Gert Fröbe spielt die Figur mit einer beeindruckenden Souveränität und der Witz bleibt nicht auf die Figur Bond beschränkt. Als Goldfinger seinen Diener Oddjob bittet, eine auf dem Gelände des Golfkurses stehende Statue mit seinem stahlverstärkten Hut zu köpfen, um Bond zum letzten Mal zu warnen, ihm nicht in die Quere zu kommen, fragt Bond, was der Verantwortliche des Klubs wohl dazu sagen würde. Goldfinger antwortet: Nichts, denn der Klub gehöre schließlich ihm (Goldfinger 2007, 00: 31: 12ff.). Den Sender für die Verfolgung hat Bond bereits am Golfkurs im Rolls Royce angebracht und der Flug geht direkt nach Genf. Eine längere Verfol‐ gungsjagd durch Frankreich, wie im Roman, gibt es nicht - allerdings muss der Film angesichts seiner relativen Kürze die Handlung der Romanvorlage ohnehin stark verdichten. Tilly Masterson versucht in den Schweizer Bergen auf Goldfinger zu schießen, doch Bond steht im Weg und verfolgt sie. Mit einer in seinem Aston Martin versteckten rotierenden Säge verursacht er, dass ihr Ford Mustang von der Straße abkommt (Goldfinger 2007, 00: 36: 10ff.). Bond bringt Tilly zu einer Tankstelle mit Werkstatt und fährt dann weiter, dem Signal des Peilsenders folgend, zu Auric Enterprises. Er beobachtet die Fabrik von einem bewaldeten Hügel aus, wartet auf die Nacht und schleicht sich an. Dabei sieht er, wie in einer Fabrikhalle der Rolls Royce demontiert wird und er hört, wie Goldfinger einem Mr. Ling erklärt, dass Schmuggeln eine ‚Kunst‘ sei und wie der Wagen für den geheimen Transport von Gold genutzt wird. Schon hier ist zum ersten Mal und vorausdeutend von der Operation „Grand Slam“ die Rede (Goldfinger 2007, 00: 40: 00ff.). Auf dem Rückweg im Wald begegnet Bond Tilly, die sich ebenfalls anschleicht. Durch Berühren eines Drahtes wird ein Alarm ausgelöst. Bei der anschließenden Verfol‐ gungsjagd mit mehreren Mercedes und vielen Koreanern darin kann Bond die Spezialvorrichtungen seines Aston Martin einsetzen (Goldfinger 2007, 7.3 Filmische Nonchalance: Albert R. Broccolis und Harry Saltzmans Goldfinger (1964) 275 <?page no="276"?> 00: 41: 10ff.). Allerdings werden Tilly und er gestellt, Oddjob tötet Tilly mit seinem Hut (Goldfinger 2007, 00: 44: 36ff.). Tilly Masterson spielt im Film also nur eine kurze Nebenrolle, sie wird nicht als unsympathisch und erst recht nicht als lesbisch gezeichnet. Vielmehr dient die Nebenfigur nun dazu, die Unerbittlichkeit und Grausamkeit Goldfingers und seines ‚Assistenten‘ zu verdeutlichen und so die Spannung weiter zu steigern. Auf solche ‚ernsten‘ Szenen folgen schnell wieder unernste. Zur schrä‐ gen Komik der Filme gehört, dass die weitere Verfolgungsjagd entschei‐ dend durch eine alte Schweizerin verhindert wird, die eigentlich nur eine Schranke bedient und sich Bonds Auto mit einem Maschinengewehr entge‐ genstellt (Goldfinger 2007, 00: 46: 45ff.). Bond liegt in seinem zerstörten Auto, wird auf eine moderne Folterbank gespannt und dramaturgisch geschickt ist etwa zur Mitte des Films der Tiefpunkt erreicht. Goldfinger kennt - anders als im Roman - Bonds Identität als britischer Geheimagent 007 und die Gefahr auf der Folterbank ist nun keine Kreissäge, sondern ein moderner Laser. Schon von dem ersten Film Dr No an haben die Filme, weit mehr als die Romane, eine so hohe Affinität zum technischen Fortschritt, dass die Grenze zur Science Fiction oftmals überschritten wird. Es sind die Worte „Operation Grand Slam“, die Bond als Bluff einsetzt und die Goldfinger davon abhalten, Bond in zwei Teile zu schneiden (Goldfinger 2007, 00: 48: 26ff.). Nun wendet sich das Blatt langsam wieder zum Besseren. Dem aus seiner Betäubung erwachenden Bond zeigt sich Pussy Galore, die (anders als im Roman nicht lesbische) Pilotin von Goldfingers Flugzeug, mit dem Bond nach Baltimore gebracht wird (Goldfinger 2007, 00: 52: 07ff.). Bond kann auf der Flugzeugtoilette einen in seinem Rasierer versteckten Peilsender aktivieren, so dass er nun von M und Leiter geortet werden kann (Goldfinger 2007, 00: 55: 50ff.). Sie denken, dass es Bond gut geht, doch sitzt der in einem Verlies und Goldfinger wirbt Gangsterbosse dafür an, mit ihm Fort Knox auszurauben (Goldfinger 2007, 01: 02: 18ff.). Während Goldfinger erklärt, dass er mit einem Nervengas die Bevölke‐ rung und die Truppen in Fort Knox betäuben will, hört der aus dem Verlies geflüchtete Bond mit und schreibt eine Nachricht, die er heimlich, obwohl er gerade von Pussy Galore ertappt worden ist, mit seinem Peilsender einem der Verbrecher namens Mr. Solo mitgibt, der sich an dem Coup nicht betei‐ ligen will (Goldfinger 2007, 01: 08: 18ff.). Solo wird ebenso ermordet wie die anderen (offenbar will Goldfinger alle unliebsame Konkurrenz ausschalten), allerdings nicht mit dem Nervengas (Goldfinger 2007, 01: 1: 28ff.), sondern auf spektakulärere Weise. Wenn Goldfinger Bond erklärt, weshalb Mr. 7. Erzählungen von Agenten und Spionen 276 <?page no="277"?> Solo fort muss: „Unfortunately he has a pressing engagement“ (Goldfinger 2007, 01: 12: 18f.), dann ist das, wie sich kurz darauf herausstellt, wieder ein makabres Wortspiel. Solo wird mit seinem Wagen in einer Schrottpresse zerquetscht (Goldfinger 2007, 01: 15: 40ff.), so dass der Metallblock einge‐ schmolzen und das im Kofferraum lagernde Gold extrahiert werden kann. Nach dem quetschungsbedingten Ausfall des Senders beobachten Felix Leiter und sein Mitarbeiter die Farm Goldfingers, von der aus das Signal zuvor kam. Bond konfrontiert Goldfinger damit, dass das angebliche Betäu‐ bungsgas 60.000 Menschen töten wird. Bond weiß auch, und hier ist der Film einmal mehr klüger als seine Vorlage, dass das Gewicht des Goldes gar keinen Ab- und Weitertransport in großem Stil ermöglicht (Goldfinger 2007, 01: 19: 10ff.). Bond erfährt, dass Goldfinger das Gold gar nicht stehlen, sondern radioaktiv verstrahlen will, damit seine eigenen Goldvorräte um das Zehnfache im Preis steigen und die kommunistisch-nordkoreanischen Partner, die ihm die Atombombe zur Verfügung stellen, Chaos im Westen produzieren können (Goldfinger 2007, 01: 20: 12ff.). Die Anspielung auf den Korea-Krieg (1950-53) und seine Nachwirkungen ist deutlich. Goldfinger ist hier nicht ausführender Teil eines sowjetischen Plans, sondern er benutzt kommunistische Partner, um sich selbst zu bereichern und zum erfolg‐ reichsten Verbrecher aller Zeiten zu werden. Durch seine ‚männlich‘ dominanten Verführungskünste schafft es Bond, Pussy Galore auf seine Seite zu ziehen (Goldfinger 2007, 01: 23: 30ff.). Die Aktion, mit der Pussy Galore als Chefin einer Reihe von Pilotinnen und einer Flotte von Flugzeugen das Nervengas über Fort Knox verteilen soll, heißt „Rockebye Baby“ (Goldfinger 2007, 01: 24: 20ff.). Dies nicht humoristisch zu verstehen wäre sicher eine Fehllektüre, selbst wenn jemand die Frage des guten Geschmacks stellen sollte - die Komiker wie die Marx Brothers oder die Mitglieder von Monty Python immer wieder neu gestellt und ihre Grenzen auf produktive Weise ausgetestet haben. Freilich könnte man auch hier fragen, weshalb die Sportmaschinen nicht durch Radar erfasst und abgefangen werden. Der ungestörte Flug ist wichtig für das Scheitern der Unternehmung - denn natürlich ist das Gas nicht mehr tödlich und das große Sterben eine Inszenierung. Dass eine Frau Goldfinger aus Liebe verrät, indem sie die CIA anruft und das Gas austauscht (Goldfinger 2007, 01: 40: 53f.), mag extrem konservativ anmuten; aber es ist natürlich auch ein Akt der Humanität, der zu der professionell agierenden Pilotin, die eigentlich ‚nur‘ genug Geld für ein einsames Leben auf einer Insel auf den Bahamas verdienen wollte, recht gut passt. 7.3 Filmische Nonchalance: Albert R. Broccolis und Harry Saltzmans Goldfinger (1964) 277 <?page no="278"?> Es ist auch ein Laser, mit dem das Tor zu Fort Knox geöffnet wird (Goldfinger 2007, 01: 29: 54ff.). Sobald die Atombombe aktiviert wird, erheben sich Leiter und seine Leute beim Signal des Geigerzählers und es geht nun um die Entschärfung. So wird größtmögliche Spannung erzeugt - sinnvoller, aber dafür deutlich weniger spannend wäre es wohl gewesen, den Transport abzufangen, bevor die Bombe deponiert wird. Goldfinger lässt Bond mit Handschellen an die Bombe fesseln. Als die US-Truppen angreifen, kann der Superschurke als US-Offizier verkleidet entkommen (Goldfinger 2007, 01: 32: 40ff.). Den Kampf gegen den ebenfalls im Tresorraum eingesperrten Oddjob, der immer noch seinem Herrn treu ergeben ist, kann Bond nur mit Hilfe eines Stromschlags gewinnen - so spannt sich der Bogen zurück zum Anfang (Goldfinger 2007, 01: 38: 22ff.). Die Bombe wird humorvollerweise genau dann entschärft, wenn ihre rücklaufende Uhr auf 007 stehenbleibt (Goldfinger 2007, 01: 40: 37). Im Flugzeug auf dem Weg zum US-amerikanischen Präsidenten, der ihm persönlich danken will, kommt es zum Showdown mit dem geflohenen Superschurken, der die Maschine gekapert hat, nach Kuba fliehen und sich vorher an Bond rächen will (Goldfinger 2007, 01: 41: 15ff.). Beim Hand‐ gemenge löst sich ein Schuss und im Film ist es Goldfinger, der durch das zerbrochene Fenster aus der Kabine gesaugt wird. Natürlich kann Bond der Pilotin Pussy helfen und sich mit ihr aus dem Flugzeug vor dem Absturz retten (Goldfinger 2007, 01: 42: 45ff.). Als Pussy dem nach ihnen suchenden Hubschrauber winken will, hindert sie Bond mit dem Satz: „This is no time to be rescued“, bevor der Fallschirm sie zudeckt und die weiteren Intimitäten durch ihn und den Abspann der Imagination des Publikums überlassen werden (Goldfinger 2007, 01: 44: 01ff.). Das Frauenbild ist im Film alles andere als emanzipiert, aber es ist zumindest nicht misogyn, wird mit mehr Humor umgesetzt und dadurch etwas gebrochen. Felix Leiter findet Bond am Pool „in good hands“, in den Händen einer jungen, gutaussehenden Dame. Bond stellt die beiden auf kurze und ironische Weise vor: „Felix, say hello to Dink. Dink, say goodbye to Felix. Man talk“, und er schickt sie mit einem Klaps auf den Hintern fort (Goldfinger 2007, 00: 08: 42ff.). Pussy Galore ist zwar eine selbstbewusste Frau, die sich allerdings gern dem maskulinen Charmeur Bond unterwirft. Dabei wirkt die ganze Inszenierung unernst. Auch wenn es beeindruckende erfolgreiche Vorbilder gegeben hat, für die Kombination aus Wortwitz und Spannung etwa die Charlie-Chan-Filme: 7. Erzählungen von Agenten und Spionen 278 <?page no="279"?> Mit den James-Bond-Filmen ist der Agententhriller in der Postmoderne angekommen. Fragen zu diesem Kapitel: Welche frühen berühmten Agententhriller hat es gegeben? Welches sind die wichtigsten Merkmale des Genres? Welche wichtigen Gemeinsamkeiten mit dem Thriller gibt es? Welche Bedeutung spielt der Kalte Krieg für die Entwicklung des Genres? Welche Klischees finden sich in Ian Flemings Roman Goldfinger (1959)? Inwieweit bricht die Verfilmung Goldfinger (1964) mit solchen Kli‐ schees? Weshalb sind die Bond-Filme prägend für die weiteren Agentenfilme? 7.3 Filmische Nonchalance: Albert R. Broccolis und Harry Saltzmans Goldfinger (1964) 279 <?page no="281"?> 8. Krimikomödien und Krimiparodien 8.1 Bunt ist alle Parodie Die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben in der ernst‐ zunehmenden deutschsprachigen Literatur einerseits dazu geführt, dass die Unterhaltung endgültig ihre Unschuld verloren hat - ihre Instrumentalisie‐ rung durch den Reichspropagandaminister war vielen Zeitgenossen noch in allzu guter Erinnerung. Andererseits waren genauso Ernst und Pathos für die Manipulation der Masse eingesetzt worden. Den früheren Produktionen fehlte oft das, was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als „Dialektik der Aufklärung“ bezeichneten und was nun zunehmend als Grundlage nicht nur künstlerischer Produktionen eingefordert wurde - das Reflexivwerden. Der Theorie-Boom der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der sich mit Begriffen wie Hermeneutik, Strukturalismus, Poststrukturalismus, System‐ theorie, Diskursanalyse und Gender Studies oder mit Namen wie Hans-Ge‐ org Gadamer, Jurij Lotman, Jacques Derrida, Niklas Luhmann, Michel Foucault und Judith Butler verbindet, ist ein groß angelegter Versuch, eine erneute Engführung der Aufklärung und ihr Totalitärwerden zumindest in und mit der Theorie zu verhindern. Parallel arbeiteten so unterschiedliche Künstler*innen wie Andy Warhol, Joseph Beuys, Gerhard Richter oder Marina Abramović daran, die kritische Reflexion als Voraussetzung jeder Kunstbetrachtung zu etablieren. In der Literatur lässt sich - dies ist durch Autor*innen der literarischen Moderne wie Thomas Mann, Franz Kafka, Else Lasker-Schüler oder Erich Kästner ebenso wie durch die Literatur des Existentialismus ( Jean Paul Sartre, Albert Camus u. a.) vorbereitet worden - nun nicht mehr nur naiv-pa‐ thetisch oder nur naiv-komisch schreiben. Die Folge ist eine Mischung von Pathos und Ironie, Tragik und Komik, die im Drama von Friedrich Dürrenmatt als Tragikomödie oder von Werner Schwab als Radikalkomödie bezeichnet wird. In der Prosa etablieren sich Ironie und Metafiktionalität als gängige Mittel, eine unreflektierte Rezeption zu verhindern. Film und Fernsehen bleiben stärker der Unterhaltung verpflichtet. Als neue(re) Massenmedien bedienen sie Bedürfnisse, für die Kunst, Literatur und Theater nun so nicht mehr zur Verfügung stehen. Aus der Popularität - <?page no="282"?> und dem Gebot des ökonomischen Erfolges angesichts hoher Produktions‐ kosten - erklärt sich wohl auch, dass es in Film und Serie unübersehbar viele erfolgreiche Krimikomödien gibt, für die in der Literatur weitgehend Fehlanzeige gemeldet werden muss. Spielfilme wie Kind Hearts and Coronets (dt. Adel verpflichtet) oder Serien wie Fargo sind ausgesprochen vielschichtig und auch am ehesten mit Begriffen wie Tragikomödie oder Radikalkomödie zu fassen, sofern man den Neologismus Schwabs als allgemeinere Bezeich‐ nung verwenden kann und möchte. Schon im Stummfilm etabliert sich die mit Ernst gemischte Komik, etwa durch Arbeiten von Charlie Chaplin, Harold Lloyd oder Buster Keaton. Bereits erwähnte Beispiele für die Mischung von Komik und Thrill sind die Mr.-Moto- und die Charlie-Chan-Reihen der 1930er-Jahre (Charlie Chan durfte bis in die 1950er-Jahre in neuer Besetzung ermitteln). In der jüngeren Vergangenheit verbindet besonders eindrucksvoll Woody Allen Komödien- und Tragödienelemente, etwa in seinem Welterfolg Annie Hall (dt. Der Stadtneurotiker; 1977). Allen ist es auch, der häufig Krimi-Elemente in seinen Filmen verwendet, etwa in Shadows and Fog (dt. Schatten und Nebel; 1991) oder in Match Point (2005), und der Krimikomödien mit tragischen Zügen schafft, etwa in Manhattan Murder Mystery (1993) oder in Bullets Over Broad‐ way (1994). Bereits früh hat Allen mit Genreparodien begonnen, so wirkte er an der wohl ersten James-Bond-Parodie Casino Royale (1967) als einer der Drehbuchautoren und einer der Bond-Darsteller ( Jimmy Bond) mit. In der von nicht weniger als fünf Regisseuren inszenierten, aber verwirrend konstruierten Produktion sind zahlreiche Stars zu sehen, darunter Peter Sellers, Ursula Andress, David Niven, Orson Welles, Deborah Kerr, John Huston, Jean-Paul Belmondo und Jacqueline Bisset. Auch sonst gibt es genügend berühmte Beispiele für die Verbindung von Verbrechen und Komik, etwa die als beste Filmkomödie aller Zeiten gehandelte Regiearbeit Billy Wilders, Some Like It Hot (Manche mögen’s heiß; 1959), mit Tony Curtis und Jack Lemmon in Femme-fatale-Verkleidung, oder die atemberaubende Aktenkoffer-Verwechslungs-Geschichte von Peter Bogdanovich What’s Up, Doc? (Is’ was, Doc? ; 1972) mit Barbra Streisand und Ryan O’Neil; eine zeitgemäße Hommage an die amerikanischen Screwball‐ komödien der 1930er und 1940er Jahre, in denen auch oft Verbrechen Teil der Handlung waren. Dass die Grenzen zwischen Theater und Film fließend sind, zeigt beispielsweise Frank Capras Regiearbeit Arsenic and Old Lace (dt. Arsen und Spitzenhäubchen; 1944) mit Cary Grant und Priscilla Lane, die auf einer sehr erfolgreichen Broadway-Produktion von Joseph Kesselring 8. Krimikomödien und Krimiparodien 282 <?page no="283"?> beruht und in der zwei liebenswerte alte Damen alleinstehende ältere Herren vergiften, um sie von ihrem diesseitigen Leid zu erlösen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind es (Detektiv-)Serien wie Columbo mit Peter Falk (1968-2003), die dem Krimi etwas Humorvolles und damit auch Leichtes vermitteln, das sowohl der Unterhaltung dienen als auch die Reflexion über den verhandelten Fall befördern kann. In zahlrei‐ chen britischen und US-amerikanischen Serien-Formaten ist der Humor kalkulierter Bestandteil des Erfolgs, von The Rockford Files (dt. Detektiv Rockford - Anruf genügt) (1974-80) über Midsomer Murders (dt. Inspector Barnaby) (seit 1997) bis Agatha Raisin (seit 2014), um nur drei Beispiele stellvertretend für eine kaum mehr überschaubare Zahl zu nennen. An deutschsprachigen Produktionen herrscht ebenfalls kein Mangel und auch hier gibt es Serien, die Erfolg beim Publikum und bei der Kritik miteinander verbinden. Bereits von 1993-2005 ermittelte Evelyn Hamann, auch als Film-Frau an der Seite von Victor von Bülow alias Loriot bekannt, in 65 Folgen als detektivisch begabte Sekretärin in Adelheid und ihre Mörder. Die in einem fiktiven Ort mit dem sprechenden, despektierlichen Namen Hengasch (von ‚hängen‘ und ‚Arsch‘) in der Eifel spielende Serie Mord mit Aussicht nach einer Idee von Marie Reiners und mit Caroline Peters in der Hauptrolle lief von 2007-14 in der ARD und wurde seinerzeit mit 20,9 Prozent Marktanteil zur meistgesehenen Fernsehserie Deutschlands. Der hier einen biederen Polizeibeamten spielende Bjarne Mädel avancierte in der schrägen NDR-Serie Der Tatortreiniger zum Liebling der Kritik. Heiko „Schotty“ Schotte durfte von 2011-18 in 31 Folgen auf amüsante Weise und mit witzig-hintergründigen Dialogen die Spuren übelster Verbrechen beseitigen. Arne Feldhusen führte Regie nach Drehbüchern von Mizzi Meyer. Seit 2005 ermitteln, nach einer Idee von Wolf Haas, Adele Neuhauser und andere bekannte österreichische Schauspielerinnen in der komischsatirischen ORF-Serie Vier Frauen und ein Todesfall. Beim Titel handelt es sich auch um eine Anspielung auf den deutschen Titel von Agatha Christies Roman Mrs. McGinty’s Dead - Vier Frauen und ein Mord (von 1942). In der deutschen Tatort-Reihe stehen für eine Mischung von Komik und Tragik so unterschiedliche Ermittler-Teams wie Frank Thiel (Axel Prahl) und Rechts‐ mediziner Prof. Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne ( Jan Josef Liefers) aus Münster (seit 2002) oder Lessing (Christian Ulmen) und Kira Dorn (Nora Tschirner) aus Weimar (seit 2013). Ein Sonderfall sind die experimentellen und oft 8.1 Bunt ist alle Parodie 283 <?page no="284"?> intertextuell aufgeladenen, hintergründig-komischen und parodistischen Folgen mit Felix Murot (Ulrich Tukur) aus Wiesbaden (seit 2010). Ironie, Komik und Humor sind bereits wesentliche Bestandteile von vielen der vorgestellten Krimis. Hin zur Gegenwart scheint sich das Krimi-Genre allerdings zu teilen in eine eher humorvolle (parodistische bis satirische) Variante und in eine düster-ernste, in der hinter bürgerlichen Fassaden die übelsten Verbrechen geschehen. Insbesondere skandinavische Autoren wie Henning Mankell oder Stieg Larsson haben sich mit dunklen Mord-Szenarien einen Namen gemacht. Es gibt zahlreiche Durchmischungen von Krimi-, Thriller- und Agentener‐ zählungen, oft mit komischen Zügen. Solch ein deutscher Sonderfall ist beispielsweise die Low-Budget-Reihe über den ‚tollen Käfer‘ Dudu (1971-78) unter der Regie von Rudolf Zehetgruber. Parodistische Anspielungen auf Krimi- und Agentenfilme haben nur die Filme zwei bis vier: Ein Käfer gibt Vollgas (1972), Ein Käfer auf Extratour (1973) und Das verrückteste Auto der Welt (1975). Hier heißt die Hauptfigur Jimmy Bondi (Robert Mark). Der Name Dudu bedeutet auf Swahili Insekt oder Käfer; das Kfz-Kennzeichen des Wunderautos lautet DU-DU 926. Vorbild war Herbie aus dem Disney-Film The Love Bug (dt. Ein toller Käfer; 1968), doch kann Dudu noch viel mehr. Müllers Büro (1986) von Niki List ist eine Persiflage auf den hard-boiled detective und zugleich ein Musical; Kottan ermittelt (1976-84) ist eine schräge parodistische, ebenfalls österreichische Serie über einen trotteligen Polizisten. Der Agententhriller ist mit dem bereits genannten Mr. Moto und schließ‐ lich seit dem beispiellosen Erfolg von James Bond oft mit mindestens einer Prise Humor gewürzt. Doch auch dies lässt sich steigern: Agenten- und insbesondere James-Bond-Parodien sind Legion, man denke an die erfolgreiche Trilogie mit Leslie Nielsen: The Naked Gun: From the Files of Police Squad! ; The Naked Gun 2½: The Smell of Fear; Naked Gun 33⅓: The Final Insult, in Deutschland bekannt unter den Titeln Die nackte Kanone (1988), Die nackte Kanone 2½ (1991) und Die nackte Kanone 33⅓ (1994), von den bekannten Machern US-amerikanischer Slapstick-Komödien David Zucker, Jerry Zucker und Jim Abrahams. Exemplarisch etwas näher eingegangen werden soll in diesem Kapitel auf den dritten Film von Johnny English mit dem u. a. in seiner Rolle als Mr. Bean bekannten Rowan Atkinson als parodistischer James-Bond-Figur. Von den zahlreichen Einzel-Agentenkomödien sollen hier nur noch zwei neuere, absolut sehenswerte Beispiele genannt werden: Get Smart (2008) unter der Regie von Peter Segal mit Steve Carrell (exzellent besetzt bis in 8. Krimikomödien und Krimiparodien 284 <?page no="285"?> die Nebenrollen, etwa mit Bill Murray und James Caan) sowie die deutsche Produktion Agent Ranjid rettet die Welt (2012) unter der Regie von Michael Karen mit Kaya Yanar in der Titelrolle. Der Inder Ranjid rettet nicht nur die Welt, sondern auch den Ruf der Deutschen, die angeblich keinen Humor haben. 8.2 Adel vernichtet: Kind Hearts and Coronets (1949) Unter dem treffend-ironischen deutschen Titel Adel verpflichtet kann Alec Guinness seine Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellen, er spielt acht Rollen - die Mitglieder einer Adelsfamilie, darunter auch eine Frau. John Dighton und Robert Hamer, der auch Regie führte, adaptierten den Roman Israel Rank: The Autobiography of a Criminal (1907) von Roy Horniman und machten daraus eine schwarze Komödie über eine Mordserie, in der ein Adelsspross alle, die vor ihm den Titel erben und nicht aus anderen Gründen sterben, auf ebenso erbarmungslose wie witzige Weise beseitigt. Die schwarze Komödie gehört zu den sogenannten Ealing Comedies, zu einer Reihe von britischen Filmkomödien, die in den Ealing Studios in London gedreht wurden. Die berühmteste Komödie aus der Reihe dürfte Ladykillers von Alexander Mackendrick aus dem Jahr 1955 sein, ebenfalls mit Alec Guinness (neben anderen Stars wie Peter Sellers) in einer der Haupt‐ rollen. Fünf Gangster, die in London einen Geldtransport überfallen wollen, mieten sich bei der ebenso schrulligen wie liebenswerten Kapitänswitwe Mrs. Wimmerforce ein, um dort nach dem Raub in Ruhe die polizeiliche Suche nach ihnen abzuwarten. Als es darum geht, die alte Dame zu beseiti‐ gen, um keine Zeugin zu hinterlassen, versuchen sich alle zu drücken und bringen sich schließlich gegenseitig um. Weil die alte Dame auf der örtlichen Polizeiwache für ihre haarsträubend-grundlosen Räuberpistolen bekannt ist, glaubt ihr niemand und sie bleibt buchstäblich auf dem geraubten Geld sitzen. Mit den Ealing Comedies wurde eine Tradition von Filmen über sympa‐ thische (Serien-)Mörder begründet, in der etwa Michael Winners Parting Shots von 1999 steht, mit einer Starbesetzung aus Chris Rea, Felicity Kendal, Oliver Reed, Bob Hoskins, Diana Rigg, Ben Kingsley, John Cleese und Joanna Lumley. Dass dieser Film zu Unrecht als einer der schlechtesten Filme aller Zeiten gilt (dieses abfällige Urteil findet sich auf der Seite der englischsprachigen Wikipedia, einen deutschsprachigen Eintrag gibt es bis 8.2 Adel vernichtet: Kind Hearts and Coronets (1949) 285 <?page no="286"?> Juni 2020 nicht), wäre ein eigenes Kapitel wert - doch ist der Platz einer solchen Einführung leider begrenzt, will sie noch eine Einführung sein. Der Plot ähnelt durchaus Kind Hearts and Coronets: Der Fotograf Harry Sterndale (Chris Rea) erfährt, dass er in Kürze an Krebs stirbt, und stellt alle zur Rede, die ihm in seinem Leben Übles angetan haben, mit dem Ergebnis, dass er sie wegen mangelnder Einsicht umbringt. Er verliebt sich neu und erfährt, dass seine Laborergebnisse vertauscht wurden und er gar nicht krank ist. Zum Deus ex machina wird ein sentimentaler Auftragskiller, der ohnehin verhaftet wurde und nun die von Sterndale verübten Morde leichten Herzens noch mit auf seine Rechnung nimmt. Doch zurück zu Kind Hearts and Coronets. Dieser englische Originaltitel ist eine Anspielung auf ein Gedicht Alfred Lord Tennysons von 1842 (Lady Clara Vere de Vere), in dem sich die Verse finden: „Kind hearts are more than coronets, / And simple faith than Norman blood“ („Ein gutes Herz ist mehr [wert] als eine Krone, / Und ein starker Glaube mehr als blaues Blut“). Die Verse werden im Film von Edith D’Ascoyne zitiert (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 34: 38ff.) und man kann sie im Kontext des Films zunächst als Quintessenz der Abrechnung mit britischer Oberschicht-Arroganz lesen, aber viel umfassender auch als Kommentar zur Hybris des Aufsteigers Louis und selbst der sich moralisch stets im Recht wähnenden Edith. Der Film wurde, so erfährt man auf Wikipedia, im Jahr 2000 von den Leser*innen der Filmzeitschrift Total Film auf den 25. Platz der besten Komödien aller Zeiten gewählt und kam 2004 in derselben Zeitschrift auf dem siebten Platz der besten britischen Filme aller Zeiten. Es gibt eine Rahmenerzählung mit einer autodiegetischen Autor- und Erzählerfigur: Louis Mazzini D’Ascoyne (gespielt von Dennis Price), der zehnte Herzog von Chalfont (aus der Grafschaft Kent), sitzt am Anfang des 20. Jahrhunderts in der Todeszelle eines Londoner Gefängnisses und schreibt seine Memoiren; am darauffolgenden Morgen soll er hingerichtet werden. Seine Mutter, die Tochter des früheren Herzogs, hatte sich in einen italienischen Opernsänger namens Mazzini verliebt und war von ihrer Familie verstoßen worden. Weil sein Vater früh stirbt, muss Louis in ärmlichen Verhältnissen im Londoner Vorort Clapham aufwachsen. Seine Mutter erzählt dem kleinen Louis viel von ihrer Familie und so erfährt er auch, dass sie als Frau ebenfalls erbberechtigt wäre - ironischerweise dank erotischer Dienste einer früheren Herzogin für den König (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 09: 15ff.). Daher könnte nach ihrem Tod der Titel auf ihren Sohn übergehen. 8. Krimikomödien und Krimiparodien 286 <?page no="287"?> Abb. 8.1: Der Stammbaum der Familie der Dukes of Chalfont aus Kind Hearts and Coronets. Weil die adelige Familie keinen ihrer Bittbriefe beantwortet und auch Lord D’Ascoyne als Inhaber einer Privatbank ablehnt, dem jungen Verwandten zu helfen, arbeitet Louis als Verkäufer in einem Stoff- und Bekleidungsgeschäft (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 12: 50ff.). Als seine Mutter stirbt, weil sie von einer Straßenbahn angefahren wird, die sie nicht gesehen hat (sie konnte die Reparatur ihrer Brille nicht bezahlen), erlaubt der achte Herzog von Chalfont nicht, dass sie in der Familiengruft beigesetzt wird (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 13: 12ff.). Louis schmiedet Rachepläne und die weitere Filmhandlung wird durch seine erfolgreichen Versuche bestritten, alle Familienmitglieder, die vor ihm in der Erbfolge stehen und nicht eines anderen Todes sterben, auf fantasievolle Weise so zu beseitigen, dass es wie ein Unfall aussieht (Kind Hearts and Coronets 2004, beginnend mit 0: 21: 12ff.). Alle verbliebenen acht Erbfolger werden von Alec Guinness auf eine den Snobismus der britischen Oberklasse ironisch entlarvende Weise gespielt. Mit größter augenzwinkernder Virtuosität deckt Guinness das ganze denkbare Spektrum ab von einem 24jährigen Fotografie-Fanatiker über einen respektvollen Banker in den Fünfzigern und einen alten Priester bis zu einer aufrührerischen Sufragettin. Die nach den ersten beiden Morden verbliebenen sechs Figuren werden in einer Szene in einer Kirche kurz nacheinander gezeigt (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 39: 42ff.). Dazu kommt eine Liebeshandlung: Louis macht seiner Jugendliebe Sibella einen Heiratsantrag, wird aber zugunsten des Geschäftsmanns Lionel Hol‐ 8.2 Adel vernichtet: Kind Hearts and Coronets (1949) 287 <?page no="288"?> land abgewiesen (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 17: 36ff.). Sibella und er werden ein geheimes Liebespaar. Louis spekuliert allerdings erfolgreich auf die Liebe der ebenso schönen wie seinem angestrebten Status angemessenen Edith D’Ascoyne, Witwe seines Opfers Henry D’Ascoyne (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 31: 34ff.). Als Louis am Ziel seiner Wünsche ist, als er mit Edith als Braut an seiner Seite als Herzog in das Familienschloss einzieht und verspricht, sich um das Wohlergehen der Bediensteten zu kümmern, wird er von Scotland Yard wegen Mordes verhaftet (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 24: 32ff.). Ironie des Schicksals: Louis soll Lionel Holland, Sibellas inzwischen bankrotten Ehemann, zum Tode befördert haben. Sibella hat den Abschiedsbrief des Selbstmörders verschwinden lassen und will sich so an Louis rächen. Ihre Aussage vor Gericht führt zum Urteil der Hinrichtung durch den Strang (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 26: 50ff.). Edith heiratet Louis sogar im Gefängnis, um sich zu ihm zu bekennen (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 30: 00ff.). Vor seiner Hinrichtung besucht Sibella den Delinquenten und bietet ihm einen Handel an. Sie weiß, dass Louis der Mörder der D’Ascoynes ist, und er soll nun auch noch Edith aus dem Weg räumen, um Sibella zur Herzogin zu machen; in dem Fall würde der Abschiedsbrief ihres verstorbenen Mannes wieder auftauchen und Louis’ Unschuld beweisen (Kind Hearts and Coro‐ nets 2004, 1: 34: 20ff.). Louis stimmt zu, wird aber dennoch zunächst nicht aus dem Gefängnis entlassen (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 36: 05ff.). Erst auf dem Weg zur Hinrichtung wird in letzter Sekunde die Nachricht überbracht, man habe den Abschiedsbrief des Ermordeten gefunden (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 38: 40ff.). Louis wird freigelassen und draußen von einer jubelnden Menge, außerdem von beiden Frauen erwartet, ebenso von einem Reporter, der sich für seine Memoiren interessiert (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 39: 52ff.). Nun erst fällt ihm ein, dass er seine Memoiren in der Zelle vergessen hat - und die Tür des Gefängnisses hinter ihm ist bereits zugefallen. Mit einem Kamerablick auf das in der leeren Zelle auf dem Tisch liegende Manuskript endet der Film (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 40: 48ff.). Schon der Anfang stimmt auf den schwarzhumorigen Charakter des Films ein: Der Henker betritt am Abend das Gefängnis, ein harmlos aussehender älterer Herr. Er berichtet einem Wärter in alltäglicher Weise über seine letz‐ ten Exekutionen und äußert, dass er sich darauf freue, einen so besonderen Delinquenten hinzurichten. Dann verlässt er den Wärter nicht ohne die Zusicherung, dass ihn am Morgen als erstes eine Tasse Tee erwartet (Kind 8. Krimikomödien und Krimiparodien 288 <?page no="289"?> Hearts and Coronets 2004, 0: 02: 40ff.). Der Herzog gibt sich derweil gefasst, er sieht sein Manuskript durch und aus dem Off liest seine Stimme den Anfang, dass der Autor hoffe, dass die Aufzeichnungen für die Leser*innen nicht uninteressant sein werden - woraufhin eine Wache anfängt zu schnarchen (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 05: 38ff.). Die Metalepse betont sowohl den metafiktionalen als auch den (selbst-)ironischen Charakter des Films. Zwischen dem während der nun beginnenden, bis kurz vor Schluss dauernden Rückblende gesprochenen Wort aus dem Off und der gezeigten Handlung ergibt sich eine erhebliche Differenz, aus der der Film sein schwarzhumoriges Kapital schlägt. Die Stimme aus dem Off kommentiert oft genug das eigene Verhalten, etwa wenn Louis überlegt, wie er Henry umbringt und Edith für sich gewinnt, während er bei dem Ehepaar zu Besuch ist. Dabei wird sichtbar, wie er seine eigene Vorgehens- und Ausdrucksweise Schritt für Schritt kalkuliert, um durch perfekte Manipulation zum Ziel zu kommen (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 33: 00ff.). Mit größtem Witz wird immer wieder metaleptische Doppeldeutigkeit zelebriert, etwa wenn Louis in klerikaler Verkleidung den Reverend D’Ascoyne besucht und der, glücklich über die Abwechslung, lobend verkündet, dieser Besuch habe ihm etwas gebracht, was er von keinem Kirchenbruder erwartet habe. Dies sagt er, während er das Glas mit dem vergifteten Portwein zum Munde führt (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 52: 24ff.). Praktisch jede Szene und jeder Dialog des Films entlarvt auf vergleichbare Weise das geschriebene wie ungeschriebene gesellschaftliche Regelwerk als dünnen Firnis der Zivilisation. Das zwar gesetzeskonforme, aber nicht weniger antihumane Verhalten der Vertreter*innen der Ordnung wird gegen das Verhalten des die Gesetze auf radikale Weise missachtenden Subjekts ausgespielt, das im Sinne einer höheren, die sozialen Gegensätze ausgleichenden Moral handelt. Dieses Subjekt hat zudem die Lacher auf seiner Seite, denn es ist - von Edith und Sibella abgesehen - als einziges reflektiert genug, das Regelwerk als ernstes Spiel zu durchschauen und durch kreatives Falschspiel in seinem Sinn zu lenken; zumindest bis es mit dem kreativen Falschspiel seiner ehemaligen Partnerin konfrontiert wird. Der Tod ist ein sehr früher Begleiter des späteren Herzogs: Bereits sein Vater (ebenfalls gespielt von Dennis Price) stirbt bei seiner Geburt an einer Herzattacke. Die Stimme aus dem Off kommentiert im schönsten britischen Understatement: „In the circumstandes it will be understood that I have a slight memory of him“ (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 06: 23ff.). Die Versuche der jungen und mittellosen Mutter, mit ihrer Familie in Kontakt zu 8.2 Adel vernichtet: Kind Hearts and Coronets (1949) 289 <?page no="290"?> treten, entpuppen sich als vergeblich - so wird von Anfang an markiert, dass es sich nicht bei dem Heranwachsenden, sondern bei der ultrakonservativen Herzogsfamilie um die eigentlich ‚Bösen‘ handelt (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 08: 35ff.). Das stilvollendete, vornehme Verhalten von Louis hebt sich wohltuend von dem zumeist primitiven Verhalten seiner reichen Verwandtschaft ab. Dabei ist es auch wieder das aus dem Off gesprochene Understatement, mit dem das Verbrechen stilvoll maskiert und zugleich auf ironische Weise legitimiert wird: „It is so difficult to make any trouble to kill people with whom one is not on friendly terms“ (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 20: 10ff.). Und der Snobismus der Oberschicht wird auf wunderbare Weise karikiert, etwa wenn der zum nächsten Erben aufgestiegene Louis feststellt: „It was typical of Lionel that he should live on the wrong side of the park“ (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 08: 38ff.). Auf der anderen Seite ist Louis aber auch der einzige, der unbequeme Wahrheiten offen ausspricht und Heucheleien entlarvt, etwa wenn er Sibella damit konfrontiert, dass sie ihn mit falschen Darstellungen (ihr Mann habe ihr Verhältnis herausbekommen) erpressen will, damit sie sich scheiden lassen und den künftigen Herzog heiraten kann (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 14: 09ff.). Die erste Begegnung mit einem Verwandten entpuppt sich als schicksal‐ haft. Das schnöselig-arrogante Verhalten seines ersten Opfers kostet Louis seine Stelle und macht den Weg frei für die Jagd auf das Herzogtum (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 21: 18ff.). Dass er mit dem ersten Erben auch dessen Mätresse in den nassen Tod schickt, rechtfertigt er mit den Worten, dass sie bereits ein Schicksal hinter sich habe, das schlimmer als der Tod sei (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 25: 16ff.). Auf solche Weise wird die postviktorianische britische Doppelmoral parodiert; ebenso, wenn angedeutet wird, dass Louis und Sibella am Vorabend ihrer Hochzeit mit Lionel zum ersten Mal miteinander schlafen und mit der Ehe auch der Ehebruch seinen Anfang nimmt (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 36: 19ff.). Aus dieser Doppelmoral wird weiterhin, schließlich geht es um einen Serienmörder, makabres Kapital geschlagen, wenn es um die Ermordung der ahnungslosen Familienmitglieder geht. So sitzen Louis und Edith in einem wunderschönen englischen Landschaftsgarten formvollendet beim Tee und Edith erklärt, dass sie ihren Gatten zum Umzug aufs Land überredet habe, um ein gesünderes Leben zu führen als in London (wo es sein Hobby war, Zeit in seinem Club zu verbringen, vermutlich die von Edith abgelehnten alkoholischen Getränke konsumierend). Dabei ertönt zunächst 8. Krimikomödien und Krimiparodien 290 <?page no="291"?> ein dumpfer Knall und im Hintergrund steigt Rauch auf, den Louis sehen kann, aber Edith nicht (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 38: 08ff.). Während Louis mit Edith über das Leben und die möglichen zukünftigen Aktivitäten ihres Gatten spricht, hat dieser gerade das Zeitliche gesegnet. Louis hatte in der Nacht in der Dunkelkammer das Paraffin der Lampe durch Benzin ersetzt - und ist so seinem Ziel des Herzogtums und vor allem auch des Bundes mit Edith ein gutes Stück näher gekommen. Die Diskrepanz zwischen Schein und Sein wird ebenso bei den kommenden Taten deutlich, etwa wenn Louis den Ballon von Lady Agatha mittels Pfeil und Bogen zum Absturz bringt und dabei Henry Wadsworth Longfellows Gedicht The Arrow and the Song abgewandelt zitiert (Kind Hearts and Coronets 2004, 0: 55: 20ff.). Louis zeigt aber auch Mitgefühl, etwa wenn er froh ist, seinen Arbeitgeber und Förderer, den Bankier, nicht umbringen zu müssen, da dieser nach einem Herzinfarkt eines natürlichen Todes stirbt (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 04: 40ff.). Höhepunkt der Kriminalhandlung ist der inszenierte Jagdunfall, als Louis den amtierenden Herzog unter dem Vorwand besucht, ihm von seiner Verlobung mit Hen‐ rys Witwe Edith zu erzählen. Wie er bei der Besichtigungstour seines künftigen Eigentums mit Sarkasmus feststellt, hat er noch nie zuvor eine Sammlung so vieler tödlicher Waffen gesehen, die allesamt ungeeignet für die Anforderungen an Mordtaten im 20. Jahrhundert sind (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 16: 20ff.). Daher bietet es sich an, den Herzog während eines Jagdausflugs mit seiner eigenen Waffe zu töten, zumal dieser plant, erneut zu heiraten, um einen Nachfolger zu zeugen (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 17: 20ff.). Dass seine Prinzipien, wie Louis feststellt, es eigentlich nicht erlauben, an solchen blutigen Sportarten wie Jagden teilzunehmen (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 18: 50ff.), hindert ihn nicht daran, sich des Herzogs auf diese bequeme Weise zu entledigen (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 38: 08ff.). Dafür fängt er zuerst den Herzog in einer Falle, wie der illegaler‐ weise zuvor einen armen Wilderer, dessen körperliche Züchtigung er als Großgrundbesitzer außerdem noch anordnet (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 19: 10ff.). Dies lässt die anschließende Tat beinahe als einen Akt poetischer Gerechtigkeit erscheinen; ebenso Louis’ kurze Ansprache an den ihm ausgelieferten Herzog, in der er erklärt, dass und weshalb er mit seinen Taten seine Mutter rächt (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 21: 30ff.). Auch die Lacher sind auf Louis’ Seite, wenn er beim tödlichen Jagdausflug auf 8.2 Adel vernichtet: Kind Hearts and Coronets (1949) 291 <?page no="292"?> dem Weg zur Falle feststellt: „After luncheon, we went out to massacre some more unfortunate birds“ (Kind Hearts and Coronets 2004, 1: 20: 33ff.). Die schwarze Krimikomödie ist eine Satire auf die britische Gesellschaft nicht nur zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Auf selbstironische Weise werden die traditionellen sozialen Ungleichheiten ebenso entlarvt wie die nicht weniger traditionellen, ritualisierten Verhaltensweisen einer elaborierten Doppelmoral. Auf der einen Seite steht die höchste Kunst gesellschaftlichen Verhaltens wie sprachlicher Ausdrucksweise in möglichst exquisiter Umge‐ bung, auf der anderen Seite bemäntelt diese Gesellschaftskunst lediglich egoistische Interessen und antizivilisatorische Impulse. Das Verbrechen ist der ironische Platzhalter dafür und über allem steht, die metafiktionalen Verweise sind nicht zu übersehen, das Kunstwerk des Films als der alles überdauernde, lachende Dritte. 8.3 Very English: Die James-Bond-Parodie Johnny English Strikes Again (2018) Von der in britischer und US-amerikanischer Co-Produktion entstandenen Spielfilm-Miniserie Johnny English mit dem berühmten britischen Komiker Rowan Atkinson, die insbesondere die James-Bond-Reihe parodiert, gibt es bisher drei weitgehend voneinander unabhängige Folgen, die auch von jeweils einem anderen Regisseur verantwortet werden: Johnny English (Johnny English - Der Spion, der es versiebte; Regie: Peter Howitt; 2003); Johnny English Reborn (Johnny English - Jetzt erst recht! ; Regie: Oliver Parker; 2011) und Johnny English Strikes Again (Johnny English - Man lebt nur dreimal; Regie: David Kerr; 2018). Hier soll auf die vorläufig letzte Folge eingegangen werden, die sich parodistisch vor allem auf Spectre von 2015 (Regie: Sam Mendes) bezieht, in der Thematisierung von Gefahren durch Großkonzerne, die mit dem Management von Big Data Milliarden verdie‐ nen. Allerdings fällt die Antwort von Johnny English differenzierter aus als die von Spectre, weil es in dem Bond-Film ‚nur‘ um die Heraufbeschwörung einer globalen Bedrohung geht, um sie durch den Superagenten unschädlich zu machen. 8. Krimikomödien und Krimiparodien 292 <?page no="293"?> Abb. 8.2: Rowan Atkinson alias Johnny English (bei einem Theaterbesuch im Jahr 2009). Der dritte Johnny English-Film setzt mit einem Blick auf den diensthabenden Mitarbeiter des MI7 (bei Bond und im wirklichen Leben ist es MI6) ein, der gerade am Handy ein einfaches Computerspiel mit Affengeräuschen spielt und auf eine große Wand mit einer Weltkarte sieht. Man hört plötzlich einen Alarm und es stellt sich heraus, dass ein Hackerangriff dazu geführt hat, dass alle Agenten enttarnt und in der Folge auch ausgeschaltet wurden ( Johnny English 2019, 0: 01: 10ff.). Die Analogie von Computerspiel und Ha‐ ckerangriff wirkt metafiktional und etabliert, durch ihre Gegensätzlichkeit, ein komisches Grundmuster, dem der Film weiter folgen wird. Spannung wird außerdem dadurch erzeugt, dass Großbritannien eine Woche vor einem G12-Gipfel steht, wie die Premierministerin (Emma Thompson) ihrem Geheimdienstchef aufgeregt verkündet. Weil es keine aktiven Agenten mehr gibt, die nicht enttarnt worden sind, muss nun ein alter, ausgemusterter Agent gefunden werden. Hier kommt natürlich Johnny English ins Spiel, der als Lehrer arbeitet und seine Schüler*innen in Spionagetechniken unterrichtet ( Johnny English 2019, 0: 02: 00ff.). Englishs Verhalten steht seiner möglichen Eignung diametral entgegen. So ist er beispielsweise dafür verantwortlich, dass alle anderen früheren Agenten ausfallen, die mit ihm in einem Raum warten, um überprüft zu werden. Einer der alten Agenten hat einen explosiven Füller dabei, den English aus Versehen aktiviert und der detoniert, als er gerade in Eile mit einer Tasse das Wartezimmer verlassen hat, um darin die Verschlusskappe zu suchen. Die Verschlusskappe ist der Auslöser und English hat sie aus Versehen in einer Tasse Tee versenkt ( Johnny English 2019, 0: 05: 50ff.). 8.3 Very English: Die James-Bond-Parodie Johnny English Strikes Again (2018) 293 <?page no="294"?> Der Film lebt, wie jede Komödie, von Wortwitz und Situationskomik und wie jeder Film mit Rowan Atkinson von seiner Fähigkeit, sein Gesicht und seinen Körper auf die für ihn charakteristische, bizarre Weise zur Erzeugung von nonverbaler Komik einzusetzen. Der Film hat zahlreiche Slapstick-Szenen, etwa wenn English darauf besteht, dass er auf seiner Mission von seinem früheren Assistenten Jeremy Bough begleitet wird, der jetzt Büroarbeit leistet. Als sich die beiden wiedersehen und Bough voller Freude seinen alten und neuen Chef umarmt, bleiben Strickjacke und Jackett aneinander hängen und beide vollführen einen bizarren Befreiungstanz ( Johnny English 2019, 0: 08: 20ff.). Die Parodie auf Spectre ist bereits mit dem Thema Hacking eingeläutet worden. Sie wird fortgesetzt mit der Ausrüstung, die English nun erhält - der, ganz alte Schule, die üblichen Utensilien mit verborgenen Funktio‐ nen und natürlich eine Pistole erwartet. Stattdessen wird ihm lediglich ein Smartphone überreicht. Der junge Agentenausstatter stellt auf entspre‐ chende Nachfrage fest: „We don’t really do guns anymore“ ( Johnny English 2019, 0: 08: 50ff.). Bough rechtfertigt die altmodischen Interessen seines Chefs auf clevere Weise mit dem Hinweis darauf, dass so keine Datenspur gelegt würde, die zur Enttarnung dienen könnte. Auch bei der Wahl des Fahrzeugs wird es schwierig: Die Tiefgarage ist voller gleich aussehender Hybridautos ( Johnny English 2019, 0: 10: 20ff.). English wählt einen Aston Martin Vantage (dt. Vorteil), der an der Seite steht und mit einem Tuch abgedeckt ist. Die Spur führt zu einem Nobelhotel in Antibes im Süden Frankreichs und zu dem Söldner Sebastian Lynch (! ), einem ehemaligen Militäragenten. Das Überreichen eines Glases Champagner von einer natürlich Französisch sprechenden Kellnerin quittiert English mit einem „Dankeschön“ ( Johnny English 2019, 0: 13: 18). Wenn er dann - beide haben sich als Kellner verkleidet - Bough vorschlägt, wie Franzosen zu klingen, spricht English mit einem französischen Akzent ( Johnny English 2019, 0: 14: 22ff.) - und klingt wie Pe‐ ter Sellers in seiner Rolle als Inspector Clouseau in den Pink Panther-Filmen; eine komödiantische Detektivfigur, die Sellers (beginnend 1963) sehr erfolg‐ reich verkörperte. Kein Wunder, dass beim Versuch, an das Smartphone von Lynch zu kommen, die Hotelterrasse in Flammen aufgeht. Wie Clouseau ist auch English nicht nur mit einer bemerkenswerten Trotteligkeit, sondern mit mit einem ebenso bemerkenswerten Selbstbewusstsein ausgestattet und es ist gerade diese Kombination, auf der die Komik der Figur gründet. Auch andere interfilmische Referenzen sind zu finden, etwa wenn sich English der russischen Spionin Ophelia (Verweis auf Hamlet) Bhule‐ 8. Krimikomödien und Krimiparodien 294 <?page no="295"?> tova (Olga Kurylenko) als Basil Golightly vorstellt ( Johnny English 2019, 0: 30: 00ff.). Sie sagt später mit vollem Recht angesichts seines extrem merkwürdigen, Komik erzeugenden Verhaltens und unmittelbar bevor ein Cocktailschirmchen beim Trinken in seiner Nase steckenbleibt: „I’m not sure I ever met a man quite like you, Basil“ ( Johnny English 2019, 0: 36: 35ff.). Der Vorname Basil referiert möglicherweise auf die Hauptfigur einer der besten britischen Comedy-Serien aller Zeiten, Fawlty Towers (1975/ 79), und der dazu so gar nicht passende Nachname verweist wohl auf Breakfast at Tiffany’s, also auf die von Audrey Hepburn gespielte Hauptfigur in dem berühmten US-amerikanisches Spielfilm von 1961, der auf dem gleichnami‐ gen Roman von Truman Capote basiert und bei dem, wie bei den Pink Panther-Komödien mit Peter Sellers, Blake Edwards Regie führte. Eine sol‐ che interfilmische Spur verweist auf die vielfältigen Durchkreuzungen, mit denen Komik erzeugt wird und die hier auch Geschlechterstereotype betreffen. Während Ophelia Bhuletova mit Johnny English flirtet, er sich in sie verliebt und deshalb für vollkommen unschuldig hält, findet Bough in ihrem Hotelzimmer Beweise dafür, dass mit ihr etwas nicht stimmt - drei verschiedene Pässe und Waffen, die English gern mit drei verschiedenen Ehemännern und den für eine schöne Frau selbstverständlichen Vorkehrun‐ gen des Selbstschutzes erklären möchte. Während er seinem Assistenten versichert, sie könne kein Spion sein, bekommt sie telefonisch den Auftrag, ihn zu eliminieren ( Johnny English 2019, 0: 37: 25ff.). Zurück in seinem Zimmer kann English nicht schlafen und er nimmt in seiner Trotteligkeit nicht die rote Einschlafpille, sondern die grüne Muntermacherpille. Deshalb merkt er gar nicht, dass er beim Verlassen seines Apartments die mit einer Waffe mit Schalldämpfer gerade auf der anderen Seite der Tür stehende russische Spionin im Wortsinne vor den Kopf stößt ( Johnny English 2019, 0: 39: 18ff.). Schließlich verhindert er alle ihre Versuche, ihn zu töten, und schaltet sie dabei noch einmal aus, ohne dass er es merkt ( Johnny English 2019, 0: 41: 28ff.). Derweil hat der eigentliche Bösewicht Jason Volta ( Jake Lacy), ein Meister der digitalen Welt, eine Präsentation in London - ein Schelm, wer in ihm ein Alter Ego des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg sieht. Die britische Premierministerin jedenfalls möchte ihn für ihren eigenen Erfolg einspan‐ nen und baut ihm jede (digitale) Brücke ( Johnny English 2019, beginnend mit 0: 18: 40ff.). Bough findet heraus, dass die mit Servern gespickte Yacht Dot Calm, die er und English inspiziert und auf der sie die russische Spionin 8.3 Very English: Die James-Bond-Parodie Johnny English Strikes Again (2018) 295 <?page no="296"?> kennengelernt haben, Jason Volta gehört, der gerade in London mit der Premierministerin über ein Handelsabkommen spricht ( Johnny English 2019, 0: 41: 46ff.). Zwar glaubt den beiden britischen Agenten, als sie zurück in London sind, um Bericht zu erstatten, ihr Chef erst nicht, lässt sie dann aber doch gewähren ( Johnny English 2019, 0: 43: 06ff.). Zu den Slapstick-Höhepunkten gehört ein ungewöhnlicher Spaziergang, der als Metalepse inszeniert wird: English wird eine Virtual-Reality-Brille aufgesetzt, mit der er im Anwesen von Jason Volta herumgehen kann, um sich so später besser bei der Durchsuchung des Hauses zurechtfinden zu können. English geht aber nicht nur virtuell spazieren, sondern läuft mit der Brille herum, bringt den Verkehr durcheinander und attackiert Menschen in einer Buchhandlung und in einer Bäckerei, während er in seiner Vorstellung nur die Bewacher des Hauses ausschaltet ( Johnny English 2019, 0: 44: 00ff.). Während sein Chef, mit dem Rücken zum Fenster sitzend, seinen Mitar‐ beiterstab über Englishs Mission informiert, sehen die Mitarbeiter*innen aus dem Fenster, wie der digital bebrillte English einen Touristenführer auf einem Bus attackiert und vom oberen Stock des Panoramabusses auf die Straße wirft ( Johnny English 2019, 0: 48: 025ff.). So wird nicht nur ein Ebenenwechsel innerhalb der filmischen Erzählung vollzogen, sondern auch eine dreifache Wahrnehmung erzeugt (English sieht etwas anderes als sein Chef und seine Mitarbeiter sehen wieder etwas anderes). Als er die Brille wieder abnimmt, ist English genau dort, wo er den Raum verlassen hat und glaubt, er sei nur auf dem beweglichen Boden gelaufen, der allerdings gar nicht aktiviert war ( Johnny English 2019, 0: 48: 50ff.). Volta möchte von der Premierministerin, dass sie ihn alle offiziellen britischen Daten auf seinen Servern lagern lässt, um weitere Datenpannen zu verhindern - die er zwar für sie beseitigt, aber zuvor auch erst selbst erzeugt hat ( Johnny English 2019, 0: 49: 50ff.). English muss also nun einen Datenklau im großen Stil verhindern, der nicht nur die Regierung von Großbritannien vollständig entmachten würde. Es ist kein Zufall, dass ein G12-Gipfel in Großbritannien bevorsteht - schließlich hat es Volta auf die gesamten Daten der westlichen Welt abgesehen. Als English nun ‚real‘ in das Haus Voltas eindringt, trifft er auf Voltas Geliebte Ophelia Bhuletova ( Johnny English 2019, 0: 51: 14ff.). Als sie ihn bedroht, weil sie undercover für Russland spioniert und es einfach halten, sich also nicht auch noch mit ihm abgeben will: „And I like to keep things simple“, antwortet er (aus Zuschauer*innensicht doppeldeutig): „‚Simple‘ is my middle name“ ( Johnny English 2019, 0: 51: 50ff.). Beide einigen sich 8. Krimikomödien und Krimiparodien 296 <?page no="297"?> auf eine Partnerschaft auf Zeit und finden heraus, dass Volta die nächste Cyber-Attacke auf das Londoner Riesenrad ‚London Eye‘ plant. Durch Englishs trotteliges Verhalten werden die beiden entdeckt und die Spionin liefert English an Volta aus, um sich selbst zu schützen ( Johnny English 2019, 0: 52: 45ff.). Bhuletova bezeichnet English als jemand von „British intelligence“, was Volta zu der Bemerkung veranlasst, es handele sich um „two words that have no right being in the same sentence together“ ( Johnny English 2019, 0: 53: 25ff.). Wenn Volta die Frage stellt, was aus dem britischen Imperium geworden ist, dass es sich nun auf jemanden wie English und seinen Partner Bough verlassen muss ( Johnny English 2019, 0: 53: 50ff.), dann trifft diese Frage ins nationale Zentrum des Films, der mit Englishs nun einsetzender Aktivität nicht nur die Rettung des Landes vor dem Superschurken des digitalen Zeitalters inszeniert, sondern auch die Bedeutung Großbritanniens im Modus ironischer Selbstbestätigung reinstalliert. Es gehört zum Kern des britischen Humors, die Überzeugung von der eigenen Größe und die Fähigkeit des Lachens über sich selbst bruchlos miteinander verbinden zu können. Freilich ist die Schlacht noch nicht geschlagen, nur weil es English zunächst schafft, Volta zu entkommen. Er hat das Handy verwechselt, auf dem sich die Aufzeichnung befindet, die Volta überführen könnte, und niemand glaubt ihm, die Premierministerin feuert ihn sogar ( Johnny English 2019, 0: 56: 30ff.). Auch dies ist natürlich nur ein retardierendes Moment vor dem großen Finale. Bough wird zum Retter der Stunde, vielmehr seine Frau, die ein britisches Atom-U-Boot kommandiert ( Johnny English 2019, 1: 00: 20ff.). Sie nimmt die beiden mit zu dem schottischen Schloss, in dem der Gipfel stattfindet. Lustigerweise taucht das U-Boot wie das Monster aus dem Loch Ness auf, damit indirekt bestätigend, dass es eine unterirdische Verbindung zwischen dem Binnensee und dem Meer geben muss. So werden populäre nationale (hier schottisch-nationale) Mythen in den Film integriert. Freilich ankert auch die Yacht Dot Calm auf dem See, die sicher nicht durch das Schleusensystem gepasst hat. Während English mit einem hydraulisch betriebenen Kletteranzug den Turm des Schlosses erklimmt, plant Volta den Transfer aller Daten der G-12-Staaten, ausgelöst durch eine Spezialrakete. Doch auch seine angebli‐ che Geliebte Bhuletova ist nicht untätig, sie versucht ihn durch ein Mittel in seinem Getränk auszuschalten. Er weiß jedoch Bescheid und hat sie bereits überlistet. Zwar kommt English dazwischen, er stellt sich aber wieder selbst 8.3 Very English: Die James-Bond-Parodie Johnny English Strikes Again (2018) 297 <?page no="298"?> ein Bein und landet im See. Immerhin kann Bhuletova durch sein Eingreifen dem sicheren Tod entkommen ( Johnny English 2019, 1: 03: 25ff.). Als Dudelsackspieler schleichen sich English und Bough erneut ins Schloss ein. Es ist ein ebenso ernst gemeinter wie komischer Gegensatz, dass English in einer Ritterrüstung den G12-Raum betritt, gerade als Volta darüber spricht, dass die Probleme der Welt durch den richtigen Umgang mit Daten zu lösen sind und natürlich auch nur durch den richtigen Herrscher der Daten - also durch ihn selbst ( Johnny English 2019, 1: 09: 19ff.). Tradition wird hier gegen die virtuelle Post-Postmoderne gesetzt. Der konservative Kern des Films korrespondiert mit der berechtigten Kritik an der Herrschaft von Großkonzernen wie (Facebook, das bezeichnenderweise nicht genannt wird, anders als) Google oder Apple, so dass es, auch durch den ironischen Umgang mit der Tradition, keine ideologische Grundierung des Films gibt. Diese dialektische Sicht auf den digitalen Fortschritt wird dadurch bestätigt, dass Volta das Internet abschalten will, um die Welt ins Chaos zu stürzen, wenn ihm die Regierungschefs der Welt nicht die Rechte an allen ihren Daten überlassen ( Johnny English 2019, 1: 11: 10ff.). Ebenso dialektisch mutet an, dass es einmal mehr Englishs Fehlverhalten ist, das zum guten Ende führt. Aus Versehen löst er den Start einer Rakete des U-Bootes aus, die auf einen von ihm früher angebrachten Sender in der ebenfalls im Loch Ness ankernden Dot Calm reagiert und die Daten-Yacht zerstört ( Johnny English 2019, 1: 12: 50ff.). Allerdings kann Volta den Daten‐ klau auf andere Server umlenken und ist wild entschlossen, nun seine Drohnung wahr zu machen, das Internet abzuschalten ( Johnny English 2019, 1: 16: 35ff.). Ophelia Bhuletova versucht, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen: Mit Hilfe eines iPads will sie Voltas Helikopter unter ihre Kontrolle bringen. English nimmt ihr das iPad aus der Hand und Volta, am startenden Helikopter stehend, macht sich erneut über Englishs Unfähigkeit lustig, modernste Technik zu bedienen. Der verwendet das iPad als Diskus und trifft Volta am Kopf; dessen alles kontrollierendes Handy wird von English mit einem Schwert-Streich zerstört ( Johnny English 2019, 1: 17: 00ff.). Die verlogene Lob- und Rechtfertigungs-Rede der Premierministerin bringt noch einmal die dialektische Konzeption des Films auf den Punkt. Tradition wird nicht gegen Technik ausgespielt, denn die institutionalisier‐ ten Hüter der Tradition instrumentalisieren den Fortschritt nur ( Johnny English 2019, 1: 18: 00ff.). Dass English sich ganz am Ende wieder mit seinen Schulkindern solidarisiert, die das Spion-Spielen lieben, und die Ehrung durch die ‚Großen‘ hintanstellt ( Johnny English 2019, 1: 18: 55ff.), passt 8. Krimikomödien und Krimiparodien 298 <?page no="299"?> dazu, denn Narren und Kinder sagen bekanntlich die Wahrheit. Hier ist es einmal mehr der Narr, der den Mächtigen den Spiegel vorhält. Bei aller Digitalisierung hat sich an dieser Tradition des Mittelalters auch im 21. Jahrhundert offenbar wenig geändert. 8.4 Ein Fünf-Sterne-Krimi-Komödie-Parodie-Satire-Cocktail: Fargo (2014 ff.) Fargo einzuordnen ist eigentlich unmöglich und wenn jemand findet, dass dieses Beispiel besser in das Kapitel Kriminalerzählungen, Detektiverzäh‐ lungen oder (wohl vor allem) Thriller gepasst hätte, dann ist das nur zu verständlich. Dass es ausgerechnet hier steht, hat zwei Gründe: Erstens überwiegen für den Autor dieser Einführung der schwarze Humor und das Parodistische der Konzeption. Zweitens steht Fargo so am Ende des Bandes und bildet das letzte Beispiel, das auch als eine Synthese gesehen werden kann - als Beispiel für ein Zusammenführen fast aller beobachteten Tendenzen der Entwicklung des Krimis. Der Drehbuchautor und Initiator der Serie, Noah Hawley, hat den Titel und auch das Grundthema von einem Film der Coen-Brüder (Ethan und Joel Coen) aus dem Jahr 1996 übernommen. Die bisher drei Staffeln der Serie haben jeweils zehn Folgen, die erste Staffel lief 2014. Jede Staffel beginnt ähnlich, hat aber eine andere Storyline, auch wenn es Verbindungen zwischen den Handlungen der Staffeln und zwischen dem früheren Film und der Serie gibt. Die Serie spielt in einer Kleinstadt in dem US-amerikanischen Staat Missouri, die erste Staffel jeweils im Januar der Jahre 2006/ 07. Auf die zweite Staffel wird bereits angespielt, wenn der Vater von Molly Solverson als alter Mann und Zaungast mit eingebunden wird (Fargo 2015, 0: 34: 20ff.). Er ist der Ermittler in der Folgestaffel, die in der Vergangenheit im Jahr 1979 spielt. Die folgenden Ausführungen beschränken sich lediglich auf die erste Folge der ersten Staffel mit dem Titel The Crocodile’s Dilemma (dt. Kroko‐ dilschluss, Zwickmühle oder logisches Paradox). Der Name Fargo verweist eigentlich auf die gleichnamige Stadt in North Dakota, der Name der größeren Stadt wird nur einmal erwähnt, von einem Freund der Frau des ermordeten Sam Hess (Fargo 2015, 0: 36: 21ff.). Die Handlung spielt in einer nicht weit entfernten Kleinstadt namens Bemidji in Minnesota. Die Stadt gibt es wirklich, sie hat in der Realität rund 15.500 Einwohner*innen. 8.4 Ein Fünf-Sterne-Krimi-Komödie-Parodie-Satire-Cocktail: Fargo (2014 ff.) 299 <?page no="300"?> Nicht nur die Winterlandschaft, auch das Intro führt die Zuschauer*innen bereits aufs Glatteis: Zu ernster, melancholischer Musik und Bildern einer verschneiten Landstraße verkünden Inserts nacheinander: „This is a true story.“ / „The events depicted took place in Minnesota in 2006.“ / „At the request of the survivors, the names have been changed“ / „Out of respect for the dead, the rest has been told exactly as it occured“ (Fargo 2015, 0: 00: 06ff.). Bei „This is a true story“ bleibt das „true“ noch kurz stehen, während die anderen Wörter verschwinden. Was die Zuschauer*innen ohne Kenntnis der Fortsetzungen nicht wissen können - jede Staffel beginnt mit den gleichen Inserts (von der Jahreszahl abgesehen). Wir haben es mit einer Herausgeberfiktion zu tun, die scheinbar den Pakt mit den Zuschauer*innen stärkt, indem sie Authentizität sugge‐ riert; die andererseits aber genau diese Authentizität unterläuft, indem sie sie ironisch ausstellt, wenn man weiß, dass es sich jedes Mal eben nicht um eine wahre, sondern um eine erfundene Geschichte handelt. In diesem Lichte kann man die Texte der Inserts außerdem als ironisch wirkende Übertreibungen bezeichnen. Die erste Folge beginnt mit einem spektakulären Unfall - einem Mann läuft abends oder nachts ein Reh vor das Auto. In dem Kofferraum des verunglückten Autos befindet sich aber ein fast nackter Mann, der nun versucht zu flüchten (Fargo 2015, 0: 01: 22ff.). Wie sich später herausstellt, hat der Auftragskiller Lorne Malvo (Billy Bob Thornton) Phil McCormick wegen Spielschulden entführt. Der kommt vom Regen in die Traufe - er entkommt, aber erfriert. Eine Überblendung führt die Zuschauer*innen in das Haus des hasenfü‐ ßigen Versicherungsangestellten und Verlierertypen Lester Nygaard (Martin Freeman) und dessen zänkischer Frau (Fargo 2015, 0: 02: 27ff.), mit der er bereits 18 Jahre verheiratet ist (Fargo 2015, 0: 08: 48). So erzählt seine Frau beispielsweise von den Anschaffungen ihres Schwagers und meint, dass sie wohl den falschen Bruder geheiratet habe (Fargo 2015, 0: 03: 25ff.). Als das Ehepaar Lesters jüngeren Bruder und dessen Frau zum Essen besucht, erzählt der von seiner Beförderung und dem, was er sich nun alles zusätzlich leisten kann, und Lesters Frau stichelt weiter (Fargo 2015, 0: 23: 30ff.). Als sie allein sind, stellt der jüngere Bruder Lester in ähnlicher Weise zur Rede: Er hätte auch gern einen älteren Bruder, zu dem er aufsehen könne, und erzähle manchmal, dass sein Bruder tot sei. Es wird das erste Mal sein, dass Lester sich wehrt, indem er seinen Bruder schlägt (Fargo 2015, 0: 27: 00ff.). 8. Krimikomödien und Krimiparodien 300 <?page no="301"?> Lorne und Lester sind die beiden Hauptfiguren der ersten Staffel. Sie lernen sich zufällig im Krankenhaus kennen (Fargo 2015, 0: 10: 00ff.), denn Lester wird von seinem ehemaligen ‚Schulfreund‘ Sam wie früher in der Schule gehänselt und bedroht. Lester reagiert aus Reflex so, als würde er geschlagen, und bricht sich dabei die Nase (Fargo 2015, 0: 07: 03ff.; 0: 09: 50ff.). Die Szene ist bittere Situationskomik, so wie sein Versuch, mit gebrochener Nase aus einer Dose zu trinken. Da ist er schon im Krankenhaus und lernt Lorne kennen, der Lester ausfragt - mit tödlichen Konsequenzen und die Handlung der Staffel bestimmenden Folgen. Hier zitiert die Serie einen grundlegenden US-amerikanischen Mythos, der allerdings vor allem durch das Western-Genre geprägt wurde, also ein medial erzeugter Mythos ist, der nun medial zitiert und umgestülpt wird. Zu denken wäre an John Wayne oder an Clint Eastwood, dem Thornton in seiner hageren Gestalt und Wortkargheit ähnelt. Eastwood hat die Figur des einsamen Rächers von Film zu Film erst perfektioniert und dann zunehmend in ihrer Brüchigkeit gezeigt. Die Ausgangssituation des typischen Westerns, die durch Fargo bitterböse parodiert wird, ist immer die gleiche: Ein einsamer Cowboy wird durch Ereignisse in einer Kleinstadt aufgehalten und er muss erst wieder, mit Einsatz von Gewalt, Ordnung schaffen, bevor er weiterreiten kann. Lorne scheint diese Figur zu sein und verkehrt sie zugleich in ihr Gegenteil: Auch wenn er andere Figuren dazu aufstachelt, sich zu wehren und in diesem Sinn für poetische Gerechtigkeit steht, so stehen die Brutalität und Radikalität dieser Aktionen in keinem Verhältnis mehr zu dem, was sie ausgelöst haben - und die Ordnung in der Kleinstadt wird nicht nur nicht wiedergestellt, sondern überhaupt erst zerstört. Allerdings ist Lorne nicht schuld daran, er ist der Katalysator dieser Entwicklung - die Unterströmungen waren bereits da und kommen nun ans Licht, etwa wenn Lorne sich gegenüber dem älteren Sohn des von ihm ermordeten Sam Hess als dessen Anwalt ausgibt und ihm mitteilt, dass das ganze Erbe an den jüngeren Bruder gehe, und der ältere seinen ihm treu ergebenen jüngeren Bruder übel zurichtet (Fargo 2015, 0: 37: 50ff.). Auf solche Weise stachelt Lorne ein gewälttätiges Verhalten an, das in den Figuren angelegt ist, aber sonst wohl nicht ausgebrochen wäre. Die bitterböse Ironie ist offensichtlich. Schon die Szene zwischen Lorne und Lester ist von schräger Komik, etwa wenn Lester versucht mit Handbewegungen zu zeigen, was Sam ihm von dem einen Mal in der High School erzählt hat, als Lesters spätere Frau Pearl ihn mit der Hand befriedigt hat (Fargo 2015, 0: 13: 30ff.). Wie bei vielen Szenen der Serie werden 8.4 Ein Fünf-Sterne-Krimi-Komödie-Parodie-Satire-Cocktail: Fargo (2014 ff.) 301 <?page no="302"?> unterschiedliche Emotionen miteinander gekreuzt: Mitgefühl mit Lester; Wut auf den „bully“ Sam, Scham wegen Lesters feigem Verhalten; Mitgefühl mit Lornes Entrüstung, die allerdings so weit geht, dass er den Tod Sams fordert. Im Scherz meint Lester zu Lorne: Wenn er sich so sicher sei, warum er Sam dann nicht für ihn umbringe? Auf die Frage Lornes, ob er es nun tun soll, reagiert Lester aber nicht mehr, denn er wird in die Ambulanz geholt (Fargo 2015, 0: 15: 00ff.). Wenn Lorne Sam dann umbringt, werden die widerstreitenden Gefühle auf eine böse Spitze getrieben: Soll man nun mit Sam fühlen, der immerhin Familienvater ist, oder die Rache genießen, die Lorne für Lester vollzieht? Als Lorne Sam zunächst in dessen Geschäft aufsucht, ist der von seinen Männern umringt und verhält sich zu Lorne genauso anmaßend wie vor‐ her zu Lester. So fragt er Lorne, wer wissen wolle, ob er Sam Hess sei. Lorne Malvo schaut nach links und rechts hinten und erwidert, scheinbar erstaunt: „Me“ (Fargo 2015, 0: 21: 48ff.). Lorne hat ihn nur getestet - und er hat den Test offenkundig nicht bestanden. Lorne tötet ihn mit einem Messer im Hinterkopf, als er gerade mit einer Prostituierten schläft (Fargo 2015, 0: 29: 20ff.) - eine höchst unappetitliche Szene, die Gewalt drastisch darstellt und so bereits wieder überzeichnet. Das US-amerikanische Kino hat verschiedene Techniken entwickelt, Gewalt auszustellen und ironisch zu brechen, von ästhetisierenden, visuell opulenten Inszenierungen wie bei Quentin Tarantino bis hin zu solchen überraschenden und Ekel erregenden Szenen wie dieser. Auf der anderen Seite steht vor allem Deputy Molly Solverson (Allison Tolman) aus Bemidji, wohin Malvo wegen seines Unfalls kommt und Lester Nygaard lebt. Molly und ihr Chef Vern Thurman finden erst den Unfallwagen und dann die fast nackte Leiche (Fargo 2015, 0: 16: 15ff.). Molly wirkt anfangs wie das weibliche Pendant zu Lester, sie ist - wie ihr Name schon sagt - etwas mollig und unsicher, aber bemüht sich nach Kräften. Als Vern und sie zur Leiche von Sam gerufen werden, aus dessen Hinterkopf ein Messer ragt, fragt Molly ihren Vorgesetzten, welches Todesursache sie notieren soll, und er antwortet, sie soll schreiben, es sei selbsterklärend (Fargo 2015, 0: 30: 32ff.). Anders als Lester wird Molly aber mit ihren Aufgaben auf konstruktive Weise wachsen. Sie findet die Spur im Krankenhaus, die beide Fälle - den Unfall und den Mord an Sam Hess - miteinander in Verbindung bringt (Fargo 2015, 0: 44: 40ff.). Weil sie ihrem Chef Vern davon erzählt, dass sie zu Lester fahren will, um ihn zu befragen, nimmt der ihr aber den Weg ab und wird von 8. Krimikomödien und Krimiparodien 302 <?page no="303"?> Lorne getötet (Fargo 2015, 0: 52: 58ff.). Lorne wurde von Lester angerufen, um ihm zu helfen. Dabei wollte Lester eigentlich Lorne erschießen, um es so aussehen zu lassen, als ob dieser seine Frau umgebracht habe (Fargo 2015, 0: 50: 42ff.). Hier wie in vielen anderen Szenen der Serie zeigen sich der gezielt eingesetzte Einbruch von Kontingenz und die bitterböse Ironie der Figuren‐ zeichnung, mit einer Ausnahme: Molly wird Sympathieträgerin bleiben und durch ihre freundliche Unbeirrtheit zur Heldin der Serie avancieren. Lester und Molly sind underdogs und entwickeln sich spiegelbildlich - er zum immer gewaltbereiteren Täter, sie zur immer konsequenteren Ermittlerin. Doch auch auf der Seite der Polizeibeamt*innen wirken Ironie und Satire. Als Thurman während des Essens seiner schwangeren Frau erzählt, dass Molly und er erst den verunglückten Wagen und dann den erfrorenen Mann gefunden haben und dass es merkwürdig ist, dass der Tote nur eine Unterhose trug, meint sie, dass er seine Kleidung gegessen haben könnte. Der Blick, den ihr Mann daraufhin auf sie wirft (Fargo 2015, 0: 19: 50), entlarvt bereits die Kleinstadtidylle als scheinbar. Die Idylle löst sich ganz auf, wenn Vern auf brutale Weise im Dienst getötet wird. Nichts ist so, wie es scheint. Als ebenso brüchig zeigt sich die Familiensi‐ tuation von Lesters Bruder. Der aufstrebende und auf ‚Normalität‘ im Leben setzende Geschäftsmann hat, wie er gerade erfahren hat, einen autistischen Sohn (Fargo 2015, 0: 25: 02ff.). Außerdem hat Lesters jüngerer Bruder nicht nur eine Waffensammlung in einem Schrank in der Garage, sondern auch (illegalerweise) ein Maschinengewehr, das er stolz zeigt. Lester soll es halten und lässt es fallen, weil es so schwer ist (Fargo 2015, 0: 25: 35ff.). Der US-amerikanische Waffenfetischismus wird hier und an anderen Stellen der Serie satirisch dargestellt. Es gibt viele symbolische Szenen des Films, um eine herauszugreifen: Weil die Waschmaschine rumort, geht Lester in den Keller, an der Wand hängt ein Plakat mit ironischer Symbolik. Es zeigt Fische, von denen nur einer rot ist und in die Gegenrichtung schwimmt, und der Text sagt: „What if you’re right and they’re wrong? “ (Fargo 2015, 0: 04: 41ff.). Die comicartigen Fische und der Ort, an dem das Plakat hängt, tauchen die Symbolik in ein ironisches Licht. Zwar mag Lester am Anfang durchaus derjenige sein, der eigentlich im Recht wäre - aber zunehmend verwandelt er sich in das Gegenteil und zeigt, dass auch er nur von seinen eigenen, vorher unterdrückten, antizivilisatorischen Trieben beherrscht wird. Dies ist bereits in der Figur angelegt, etwa wenn er lügt, sobald ihm etwas unangenehm wird (Fargo 2015, 0: 26: 50ff.). Und es ist die von ihm erfolglos reparierte 8.4 Ein Fünf-Sterne-Krimi-Komödie-Parodie-Satire-Cocktail: Fargo (2014 ff.) 303 <?page no="304"?> Waschmaschine, die seine Frau zu einer Schimpftirade stimuliert und ihn dazu, sie mit dem Hammer zu erschlagen. Ironischerweise beginnt der tödliche Streit mit ihrem Vorwurf: „You killed it. You killed my washing mashine“ (Fargo 2015, 0: 46: 42ff.). Als Lorne den Polizeichef erschossen hat und Lester allein mit den Leichen im Haus ist, rennt er mit dem Kopf gegen die Wand, an der das Plakat klebt, um so vorzutäuschen, dass er auch nur ein Opfer war (Fargo 2015, 0: 55: 48ff.). Die Schlüsselszene der ersten Folge ist das Gespräch zwischen Lester und Lorne, als Lester den Killer zur Rede stellt und der ihm sein schlichtes, aber offenbar effektives Weltbild erklärt: „Your Problem is you spend your whole life thinking there are rules. There aren’t. We used to be gorillas. All we had is what we could take and defend. The truth is you’re more of a man today than you were yesterday.“ Es komme einfach darauf an, den Affen in sich zu befreien und sich nichts gefallen zu lassen (Fargo 2015, 0: 42: 10ff.). Dem Faustrecht steht die gekonnte Inszenierung des Films entgegen - das Kunstvolle einer Produktion, zu der Gorillas nicht fähig wären. Dieser Gegensatz ist das Fundament der Ironie der Serie und er wird mit allen denkbaren filmischen Mitteln immer wieder in Szene gesetzt. Zur Zivilisation gibt es keine Alternative - oder nur eine sehr blutige. Den Bogen von Kind Hearts and Coronets zu Fargo zu spannen ist einfach. Beide bauen ihre Satire auf einem ganz ähnlichen ästhetischen Programm auf, auch wenn Fargo durch Zeitbezug und filmische Umsetzung heute zweifellos viel aktueller erscheint. Die Johnny-English-Filme und Fargo hingegen stehen einerseits für diametral entgegengesetzte Konzepte von Komik, andererseits zeigen beide auf ihre Weise die Abgründe der mensch‐ lichen Existenz. Dabei muss man den eher auf Affektabfuhr gerichteten Slapstick des Films nicht gegen die grüblerische Vielschichtigkeit der Serie ausspielen, die so weit geht, dass der Bildschirm manchmal einfach schwarz wird (Fargo 2015, z. B. 0: 56: 50ff.). Fragen zu diesem Kapitel: Welche Beispiele für Krimikomödien und Krimiparodien gibt es bereits im Stummfilm und im frühen Tonfilm? In der Zeit nach 1945 gehen Tragik und Komik oft Hand in Hand - weshalb? In welchen Produktionen der Nachkriegszeit werden Verbrechen und Komik miteinander verbunden? 8. Krimikomödien und Krimiparodien 304 <?page no="305"?> Wie viele Rollen spielt Alec Guinness in Kind Hearts and Coronets (1949) und weshalb handelt es sich um eine schwarze Komödie? Wie entlarvt der Film soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten? Welche Tradition haben Agentenparodien? Wie ironisiert Johnny English Strikes Again (2018) Tradition und Fort‐ schritt gleichermaßen? Wie wird in Fargo die Kleinstadtidylle als scheinbar entlarvt? Weshalb handelt es sich bei der Serie um eine bitterböse Satire auf den US-amerikanischen Mythos? 8.4 Ein Fünf-Sterne-Krimi-Komödie-Parodie-Satire-Cocktail: Fargo (2014 ff.) 305 <?page no="307"?> 9. Fazit: Ein mörderisch gutes Genre „Literature was born not on the day when a boy crying wolf, wolf came running out of the Neanderthal valley with a big gray wolf at his heels: literature was born on the day when a boy came crying wolf, wolf and there was no wolf behind him. That the poor little fellow because he lied too often was finally eaten up by a real beast is quite incidental. But there is what is important. Between the wolf in the tall grass and the wolf in the tall story there is a shimmering go-between. That go-between, that prism, is the art of literature.“ Vladimir Nabokov: Lectures on Literature. Edited by Fredson Bowers. Introduction by John Updike. San Diego u.a.: Harvest Books 1982, S. 5. „Das Böse ist immer und überall! “ Erste Allgemeine Verunsicherung (EAV): Ba-Ba-Banküberfall (1985) Literatur (dies gilt analog auch für Film und Serie) erfüllt Bedürfnisse von Leser*innen und diese Bedürfnisse können ganz unterschiedlich ausfallen. Zunächst ist festzuhalten, dass Literatur als „Simulationstechnik“ (Dieter Wellershoff) mögliche Wirklichkeiten modellieren kann und ihre Fähig‐ keiten dazu nur an den Grenzen der Sprache und des Vorstellungsvermögens enden. Dann lässt sich unterscheiden zwischen Literatur, die vor allem auf Unterhaltung setzt und die keine Literatur im Sinne von Kunst ist oder sein will, und Literatur als Teil der Kunst. Über ihre Qualität entscheidet die „Neuheit“ (Luhmann 1997, 56) als Abweichung zu dem, was es vorher bereits gab. Um diese Neuheit (nicht nur in der Literatur, sondern auch in Film und Serie) zu erkennen, ist in der Regel Expertenwissen notwendig: Nur wenn man zumindest ungefähr weiß, welche Neuerungen es in der Vergangenheit gegeben hat, kann man auch die Neuheit eines neuen Texts einschätzen. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat die Mechanismen des Literatur- und Kultur‐ betriebs beschrieben, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet haben: Das Aufkommen dieser neuen Definition von Kunst und vom Handwerk des Künstlers ist unabhängig von den Veränderungen des Feldes der künstlerischen Produktion nicht zu begreifen: Die Herausbildung eines noch nie dagewesenen Komplexes von Institutionen zur Registrierung, Bewahrung und Untersuchung <?page no="308"?> von Kunstwerken (Reproduktionen, Kataloge, Kunstzeitschriften, Museen, die die neuesten Werke aufnehmen, usw.), der immer größere Personenkreis, der sich voll oder partiell der Zelebrierung des Kunstwerks widmet, die raschere Zirkula‐ tion der Werke und Künstler - mit den großen internationalen Ausstellungen und der Vermehrung von Galerien, die Filialen in diversen Ländern eröffnen -: dies alles wirkt dabei mit, daß sich ein noch nie dagewesenes Verhältnis zwischen den Interpreten und dem Kunstwerk entwickelt. Der Diskurs über das Kunstwerk ist kein bloß unterstützendes Mittel mehr zum besseren Erfassen und Würdigen, sondern ein Moment der Produktion des Werks, seines Sinns und seines Werts. (Bourdieu 2001, 275 f.) Dass es einen solchen Kunst- und Literaturbetrieb gibt, zu dem mittlerweile ebenso andere Medien wie der Film gehören, ist der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in den letzten rund dreihundert Jahren zu verdanken. Im 18. Jahrhundert entstand überhaupt erst - in der Ablösung des christ‐ lichen Weltbildes durch das naturwissenschaftliche - die für uns heute so selbstverständliche Individualität. Sie ist Voraussetzung für eine neue Art von Literatur, die Figuren in Versuchsanordnungen gestaltet, um ein mögliches Zusammenleben von Individuen zu modellieren. Die Freiheit des Individuums in ihren notwendigen, durch die Freiheit der anderen Individuen bedingten Grenzen wird nun Schwerpunktthema nicht nur des politischen Diskurses, der Philosophie und der entstehenden Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern auch der Literatur (vgl. Neuhaus 2017a). Nicht nur ein Blick auf die Schriften der Antike oder auf das Alte Testament zeigt, dass das Verbrechen selbst in seiner schlimmsten Form, dem Mord, wohl so alt ist wie die Menschheit selbst. Doch seit der Auf‐ klärung verschiebt sich der Fokus. Dank der neu gewonnenen Freiheiten können Täter*innen und Ermittler*innen als individuelle Figuren gestaltet und es kann nach den ebenso individuellen Motiven der Tat und der Täter*innen oder auch der Ermittler*innen gefragt werden. Die Taten und ihre Motivationen vervielfältigen sich und das Gebot der Neuheit bringt in der ernstzunehmenden, nicht nur der Unterhaltung verpflichteten Literatur immer neue Versuchsanordnungen hervor, die von früheren lernen - wes‐ halb sich Traditionen bilden. Die bisherige Forschung zum Krimi hat bestimmte Texte und Aspekte favorisiert, die zweifellos wichtig, aber durchaus auch ergänzungsbedürftig sind. Nun kann, angesichts der Fülle der möglichen Textbeispiele, keine Genregeschichte auch nur annäherungsweise den Anspruch auf Repräsen‐ 9. Fazit: Ein mörderisch gutes Genre 308 <?page no="309"?> tativität erheben. Dennoch hat sich an den exemplarischen Beispielen ge‐ zeigt, dass es sich lohnt, den Blick auf die Tradition des Genres auszuweiten, auch wenn es sich nicht vermeiden ließ, notwendige Einschränkungen vorzunehmen (die dennoch immer gut begründet sein sollten). Auch in der vorliegenden Einführung sind mögliche wichtige Ergänzun‐ gen der Genrebeschreibung ausgeblieben, allerdings wurden die Beschrän‐ kungen klar benannt: Es ist mit der Konzentration auf Prosatexte in der Literatur und auf die deutsch- und englischsprachige Literatur-, Film- und Serienproduktion versucht worden, einige zentrale Merkmale heraus‐ zuarbeiten, die für das Genre konstitutiv sind und deren unterschiedliche Gewichtung über die Zuordnung zu möglichen Subgenres entscheidet. Wenn es vor allem um die Tat und ihre Motivation geht, handelt es sich um Kriminalerzählungen im engeren Sinne (sonst auch als Verbrechenslite‐ ratur bezeichnet). Wenn eine Ermittlerfigur im Mittelpunkt steht, sprechen wir von Detektiverzählungen und wenn diese Ermittlerfigur international als Agent*in operiert, von Agenten- oder Spionageerzählungen. Geht es vor allem um die Erzeugung von Nervenkitzel, dann haben wir es mit einem Thriller zu tun. Überwiegen Humor, Komik und Satire, dann handelt es sich um Krimikomödien oder Krimiparodien, mit den entsprechenden Subgenres wie Agentenfilmparodien u.a. Dieser Vorschlag ist ein kleiner gemeinsamer Nenner, der flexibel genug sein und dennoch wichtige Unterschiede erhellen möchte. Ob Begriffe fehlen oder andere besser wären, ob sich klarere Grenzen zwischen den Subgenres finden lassen und wie diese Subgenres näher zu beschreiben wären, das alles und noch viel mehr wird die Forschung sicher weiter diskutieren. Die in kontextualisierenden Kurzinterpretationen vorgestellten Beispiele sollten ansatzweise gezeigt haben, welche Innovationspotenziale des Krimis zu welcher Zeit entstanden sind und wie diese dann von anderen Texten, Filmen und Serien tradiert und weiterentwickelt wurden. Vieles konnte angesichts der gebotenen Knappheit kaum oder gar nicht beachtet werden, etwa die eingesetzten filmischen Mittel oder die Abgrenzung von Serienfor‐ maten. Der Krimi ist nicht nur ein besonderes Genre, weil er das wohl populärste geworden ist. Er ist vielmehr so besonders und deshalb so populär, weil er eine solche Bandbreite an Emotionen stimuliert und ein solches Spektrum an möglichen menschlichen Eigenschaften porträtiert. Es sind vor allem die menschlichen Abgründe, die faszinieren, und der Krimi ermöglicht 9. Fazit: Ein mörderisch gutes Genre 309 <?page no="310"?> es seinen Leser*innen und Zuschauer*innen, mit den Figuren Täter und Opfer zugleich zu sein, Aggressionen stellvertretend auszuleben, also gegen gesellschaftliche Werte und Normen zu verstoßen, und zugleich auch zu bestrafen, um die eigenen moralischen Werte und Normen bestätigt zu sehen. Dazu kommt, dass man sich gefahrlos Gefahren aussetzen und einen Nervenkitzel erleben kann, der dem heutigen Leben in den westlichen Industriegesellschaften (gottseidank) weitgehend fehlt. Die menschliche Existenz ist paradox und die Literatur ist es auch. Der Krimi ist auf seine Weise paradox, indem er die sich gegenseitig ausschlie‐ ßenden Zuordnungen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ durchkreuzt. Die Widersprüche in der Literatur und auch im Leben sind aber eigentlich nur scheinbare. Sie basieren auf durch den Zivilisationsprozess hervorgerufene und notwendig gewordene Unterscheidungen, die es allerdings auch wieder in ihrer Rela‐ tivität in den Blick zu nehmen gilt, um zu erkennen, dass man als Mensch eben nicht alles unter Kontrolle hat oder haben kann. Die Kontingenz der Existenz mag beunruhigend sein, sie ist aber auch befreiend, denn Menschen sind nun mal keine Götter, so gern sie sich, im Bewusstsein ihrer Individualität und des aufklärerischen Fortschritts, selbst als Nachfolger des Prometheus gesehen haben. Gute Literatur hält einerseits Allmachtsphantasien in Schach und stärkt andererseits das Bewusstsein der eigenen, individuellen Spiel-Räume. Um solche Spielräume ausloten zu können, müssen die Regeln, nach denen Gesellschaft funktioniert, immer wieder auf den Prüfungstand gestellt werden, und das am besten am individuellen, aber auch repräsentativen Beispiel von Figuren. Und welches Genre hat mehr mit Regeln - im Sinne von Gesetzen als kodifizierten Regeln - zu tun als der Krimi? Die Leistung des Genres für die Gesellschaft lässt sich also wie folgt zusammenfassen: Um Regelverstöße definieren zu können, muss man Re‐ geln aufstellen. Die Individualität und Heterogenität menschlicher Existenz schränkt die Reichweite solcher Regeln aber immer wieder ein und nur - das wissen wir spätestens seit der Kritischen Theorie und seit der Postmoderne - die permanente Reflexion über die Grenzen und Auswirkungen von Regeln kann Gesellschaften dagegen imprägnieren, totalitär zu werden. Im Krimi werden solche Grenzen in Versuchsanordnungen ausgetestet und in denkbar vielfältiger Weise verhandelt. Krimis können wohl auch Gewalt stimulieren, aber sicher nicht bei reflektierten, kritischen Leser*innen und Zuschauer*innen. Diese Reflexi‐ onsfähigkeit gilt es zu schulen und zu bewahren und dabei die Fähigkeit der 9. Fazit: Ein mörderisch gutes Genre 310 <?page no="311"?> Literatur und des Films zur Simulation von Wirklichkeiten zu nutzen. Zu einer Fortsetzung des Zivilisationsprozesses im dialektischen Prozess einer ‚reflexiven Modernisierung‘ (Beck u. a. 1996) gibt es, wenn man die Würde jedes einzelnen Menschen achten und jedem die Möglichkeit zu einer freien Entfaltung ihrer oder seiner Persönlichkeit geben möchte, keine sinnvolle Alternative. Fragen zu diesem Kapitel: Welche Bedürfnisse von Leser*innen und Zuschauer*innen erfüllt der Krimi in besonderem Maße? Welche Bedeutung haben Individualität und individuelle Freiheit für die Entstehung des Genres? Welche Rolle spielt die Ausdifferenzierung der Gesellschaft für die Entwicklung des Genres? Weshalb ist Expertenwissen notwendig, um Krimis einschätzen und bewerten zu können? Welche Subgenres lassen sich finden (mit allem Vorbehalt)? Weshalb kann der Krimi einen wichtigen Beitrag zur Schulung von Reflexionsfähigkeit leisten? 9. Fazit: Ein mörderisch gutes Genre 311 <?page no="313"?> 10. Literaturverzeichnis Nachweise im Text mit Nachname und Jahreszahl, (ggf.) Bandnummer und Seitenzahl. 10.1 Primärwerke Brecht 1997: Brecht, Bertolt: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997. Chandler 2011: Chandler, Raymond: The Big Sleep. London u.a.: Penguin 2011. Christie 2013: Christie, Agatha: The Murder of Roger Ackroyd. London: HarperCol‐ linsPublishers 2013. Conan Doyle 1967: Conan Doyle, Arthur: Der Hund von Baskerville. Berlin u.a.: Deutsche Buch-Gemeinschaft 1967 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 2). Conan Doyle 2003: Conan Doyle, Arthur: The Hound of the Baskervilles. Another Adventure of Sherlock Holmes. Edited with an Introduction and Notes by Christopher Frayling. London: Penguin 2003. Dürrenmatt 1953: Dürrenmatt, Friedrich: Der Verdacht. Einsiedeln u.a.: Benziger 1953. Dürrenmatt 2005: Dürrenmatt, Friedrich: Das Versprechen. Requiem auf den Krimi‐ nalroman. 29. Aufl. München: dtv 2005. Fleming 2015: Fleming, Ian: Goldfinger. With exclusive material from the new 007 novel Trigger Mortis by Anthony Horowitz. London: Vintage Books 2015. Fontane 1969: Fontane, Theodor: Quitt. Erzählung. Unterm Birnbaum. Erzählung. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1969 (Nymphenburger Taschen‐ buch-Ausgabe in 15 Bänden, Bd. 7). Goethe 1998: Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. München: dtv 1998. Haas 2008: Haas, Wolf: Das ewige Leben. Roman. 9. Aufl. München u. Zürich: Piper 2008. Hauff 1983: Hauff, Wilhelm: Romane, Märchen, Gedichte. Hg. von Hermann Engel‐ hard. Essen: Magnus 1983 (Werke, Bd. 1). Hitzig / Häring 1986: Hitzig, Julius Eduard u. Wilhelm Häring (Hg.): Der neue Pitaval. Eine Sammlung interessanter Kriminalgeschichten. Frankfurt/ Main: Insel 1986 (insel taschenbuch, Bd. 819). <?page no="314"?> Hoffmann 2001: Hoffmann, E.T.A.: Die Serapions-Brüder. Hg. von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht. Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker-Ver‐ lag 2001 (Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 4). Kästner 1998: Kästner, Erich: Parole Emil. Romane für Kinder I. Hg. v. Franz-Josef Görtz, in Zusammenarbeit mit Anja Johann. München u. Wien: Hanser 1998 (Werke, Bd. 7). Kant 1974: Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/ Main 1974 (Werk‐ ausgabe, Bd. 7). Kant 1996: Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: In: Ders. u.a.: Was ist Auf‐ klärung? Thesen und Definitionen. Hg. von Ehrhard Bahr. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1996 (RUB, Bd. 9714), S. 9-17. Neuhaus 2013: Neuhaus, Nele: Böser Wolf. Kriminalroman. Berlin: Ullstein 2013. 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Foto: Arnold Genthe - PD image from www.sru.edu/ depts/ cisba/ compsci/ dailey/ 21 7students/ sgm8660/ Final/ They got it from: www.lib.utexas.edu/ photodraw/ port raits/ ,where the source was given as: Current History of the War v.I (December 1914 - March 1915). New York: New York Times Company., Public Domain, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=240887 Abb. 5.3: Umschlagabbildung von Sherlock Holmes #1, Oktober 1955, Charlton Comics Unbekannter Autor - Comic Book Plus, Public Domain, https: / / commons.wikimed ia.org/ w/ index.php? curid=76113194 Abb. 5.4: Basil Rathbone als Sherlock Holmes. Courtesy of the New York Public Library Digital Collection. Unbekannter Autor - http: / / digitalgallery.nypl.org/ nypldigital/ id? TH-45658, Public Domain, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=9956878 Abb. 5.5: Das Denkmal für Agatha Christie in London, Great Newport Street Ecke Cranbourn Street. Foto: Diagram Lajard - Own work, CC0, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index. php? curid=31582664 Abb. 5.6: Lauren Bacall und Humphrey Bogart in The Big Sleep (1946). Warner Bros. - Source archive, Public Domain, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=81693955 <?page no="328"?> Abb. 5.7: Filmplakat zum Film: Es Geschah am hellichten Tag, 1958, Familienarchiv Ellgaard, Helmuth Ellgaard (1913-1980. CC BY-SA 3.0, https: / / commons.wikime dia.org/ wiki/ File: Es_geschah_am_hellichten_Tag_1959.jpg. Abb. 5.8: Wolf Haas auf der Frankfurter Buchmesse 2018. Foto: Heike Huslage-Koch - Own work, CC BY-SA 4.0, https: / / commons.wikimedi a.org/ w/ index.php? curid=73591887 Abb. 5.9: Premiere des Films Das ewige Leben im Gartenbaukino in Wien, Österreich: Wolf Haas, Josef Hader, Nora von Waldstätten, Wolfgang Murnberger und Tobias Moretti. Foto: Manfred Werner-Tsui - Own work, CC BY-SA 3.0, https: / / commons.wikimed ia.org/ w/ index.php? curid=42095638 Abb. 6.1: Der Prinz aus Friedrich Schillers Der Geisterseher, als Stahlstich von Conrad Geyer (um 1859) nach einer Zeichnung von Arthur von Ramberg. Arthur von Ramberg; Conrad Geyer - Scan vom Original: Bernd Schwabe in Hannover, CC BY 3.0, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=1765 6282 Abb. 7.1: Aston Martin DB5 Saloon von 1965, das Originalfahrzeug aus Goldfinger. Foto: Chilterngreen, CC BY-SA 3.0, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? c urid=3426293 Abb. 7.2: Sean Connery als James Bond in Amsterdam und in Diamonds are Forever (1971). Foto: Rob Mieremet - Nationaal Archief, Nummer toegang 2.24.01.05 Bestanddeel‐ nummer 924-7001, CC BY-SA 3.0 NL, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.p hp? curid=27410412 Abb. 8.1: Der Stammbaum der Familie der Dukes of Chalfont aus Kind Hearts and Coronets. Reynardo - Own work, CC BY-SA 4.0, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.ph p? curid=91142389 Abb. 8.2: Rowan Atkinson alias Johnny English (bei einem Theaterbesuch im Jahr 2009). Foto: Standish77 at English Wikipedia, CC BY-SA 3.0, https: / / commons.wikimedia. org/ w/ index.php? curid=7546393 Abbildungsnachweis 328 <?page no="329"?> Sachregister Adelheid und ihre Mörder 283 Agatha 142 Agatha and the Truth of Murder 142 Agatha Christie’s Marple 32 Agatha Christie’s Poirot 141, 151 Agatha Raisin 283 Agent Ranjid rettet die Welt 285 Aktenzeichen XY ungelöst 16 Alibi 151 All Is True 249 All the President’s Men 242 American Horror Story 224 Angriff auf Wache 08 11 Annie Hall 282 Arsenic and Old Lace 67, 282 Aschenputtel 193, 233, 236, 268 Auferstehung der Toten 202 Auschwitz und kein Ende 46 Berlin - Die Sinfonie der Großstadt 93, 165 Blackmail 222 Blow up 67 Bonnie und Clyde 24, 221 Böser Wolf 75, 188 Breakfast at Tiffany’s 295 Brennerova 202 Broadchurch 225 Bullets Over Broadway 282 Casino Royale 282 Causes célèbres et intéressantes avec le jugemens qui les ont décidées 54 Charlie Chan 224, 278, 282 Charlie Chan and the Curse of the Dragon Queen 65 Chinatown 109 Citizen Kane 151, 250 Columbo 22, 65, 283 Conspiracy 249 CSI 16 Das Böse unter der Sonne 141 Das Cabinet des Dr. Caligari 62 Das ewige Leben 202 Das finstere Tal 70 Das Fräulein von Scuderi 11f., 34, 54f., 107f. Das Halstuch 9, 66 Das indische Tuch 68 Das Parfum - Die Geschichte eines Mörders 34, 110, 223 Das schwarze Schaf 67 Das Testament des Dr. Mabuse 63 Das verrückteste Auto der Welt 284 Das Versprechen 57, 98, 105, 109, 196 Dead Again 109 Death on the Nile 33 Der Brenner und der liebe Gott 202 Der Geisterseher 19 Der große Diktator 69 Der gute Mensch von Sezuan 50 Der Hexer 68 Der Kameramörder 145 Der Knochenmann 202 Der Kommissar 15, 66 Der Maulkorb 164 Der Name der Rose 17, 57, 124 Der Prozeß 26, 71 Der Richter und sein Henker 68, 109, 182 <?page no="330"?> Derrick 15, 66 Der Sandmann 69, 114 Der Staat gegen Fritz Bauer 70 Der Tantenmörder 15 Der Tatortreiniger 283 Der Tod in Venedig 185, 230 Der Totmacher 71 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 11f., 19, 38, 54, 56, 75 Der Verdacht 57, 109, 182, 248 Der Wixxer 68 Der Zauberberg 230 Der zerbrochne Krug 15, 23 Diagnosis Murder 22 Dial M For Murder 222 Diamonds Are Forever 272 Die 39 Stufen 63 Die Ballade vom Nachahmungstrieb 15 Die Elixiere des Teufels 114, 144, 227 Die Erzählung von König Schehrijar und seinem Bruder 26 Die Herren mit der weißen Weste 68 Die Judenbuche 56 Die Karawane 81 Die Kraniche des Ibykus 15 Die Leiden des jungen Werther 10, 226 Die Serapions-Brüder 118 Die Therapie 220 Die Wahlverwandtschaften 10 Dr. Mabuse, der Spieler 63 Dracula 122f. Dreigroschenoper 15, 25 Dr No 270 Easy Rider 221 Effi Briest 83 Ein Käfer auf Extratour 284 Ein Käfer gibt Vollgas 284 Ein Mann im Haus 41 Elementary 124 Emil und die Detektive 23 Er kann’s nicht lassen 67 Es geschah am hellichten Tag 57, 64, 109, 182 Fabian 95 Fantasiestücke in Callot’s Manier 111 Farewell, My Lovely 169 Fargo 66, 282 Faust 144 Fawlty Towers 295 Fight Club 222 Frankenstein 95 Frankenstein; or, The Modern Prometheus 122 From Russia with Love 270 Game of Thrones 224 Garou. Ein Schaf-Thriller 19 Get Smart 284 Glenkill. Ein Schafskrimi 19 Goldfinger 229, 235, 261ff. Gone Girl 222 Gray 19 Hamlet 11, 249, 294 Heidenröslein 144 Henry V 249 Hokuspokus 15 Homeland 224 Hot Fuzz 16 House of Cards 224 In der Strafkolonie 26 Indien 212 Israel Rank: The Autobiography of a Criminal 285 It 16 Jamaica Inn 233 James Bond 10, 14, 17, 24, 63f., 197, 219, 235f., 242, 259-262, 268, 270ff., 279, Sachregister 330 <?page no="331"?> 282, 284, 292 Johnny English 284, 292, 304 Johnny English Reborn 292 Kalle Blomquist, Eva-Lotte und Rasmus 157 Kalle Blomquist lebt gefährlich 157 Kill Bill 222 Killing Eve 225, 260 Kinder- und Hausmärchen 105 Kind Hearts and Coronets 34, 229, 282, 304 Komm, süßer Tod 202 König Ödipus 11, 25 Kottan ermittelt 15, 284 Kramer vs. Kramer 242 Lady Clara Vere de Vere 286 Ladykillers 67, 285 Les aventures de Tintin 61 M 47, 55, 98, 105, 113, 162, 165, 198 Macbeth 142 Magnum, p.i 65 Manhattan Murder Mystery 282 Marquise von O… 83 Mary Poppins 22 Match Point 282 Meisterdetektiv Blomquist 157 Metropolis 63 Midsomer Murders 283 Mission: Impossible 260 Mord mit Aussicht 283 Moritat von Mackie Messer 16 Mouse Trap 15 Mr. Moto 224, 282, 284 Mrs. McGinty’s Dead 283 Much Ado about Nothing 249 Mulholland Drive 67 Müllers Büro 284 Murder on the Orient Express 33, 249 Murders in The Rue Morgue 11 Naked Gun 33⅓: The Final Insult 284 Neues vom Wixxer 68 Never Say Never Again 272 Nord bei Nordwest 220 North by Northwest 222, 272 No Time to Die 235 Odyssee 25 Once Upon a Time in Hollywood 222 On Her Majesty’s Secret Service 272 Panic Room 222 Parting Shots 285 Peeping Tom 64 Peer Gynt 93, 95 Peter Pan 125 Philosophien der Kriminalliteratur 9 Pink Panther 294f. Playback 169 Psycho 16, 64, 71, 222, 255 Pulp Fiction 222 Quicksand - Im Traum kannst du nicht lügen 225 Quincy, M. E. 65 Raiders of the Lost Ark 65 Rain Man 242 Rear Window 222 Rebecca 222, 250f., 256 Remington Steele 224 Rhampsinit und der Meisterdieb 11 Rockford Files 14 Rosen für den Staatsanwalt 63 Rotkäppchen 188, 193 Ruttmann, Walter 93 Sayers, Dorothy L. 101 Schtonk! 69 Schuld und Sühne 22, 144 Seven 222 Shades of Grey 234 Sachregister 331 <?page no="332"?> Shadows and Fog 282 Sherlock 32, 124, 139 Sherlock Holmes 32 Sherlock Holmes Baffled 62 Sherlock Holmes in the Great Murder Mystery 119 Silentium! 202 SOKO Wien 25 Some Like It Hot 282 Spectre 292 Spellbound 44, 222, 251, 254 Spione 63, 259 Sprachtheoretische Grundlagen der konkreten Poesie 201 Stahlnetz 66 Star Trek 205 Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde 122 Strangers on a Train 222 Struwwelpeter 165 Tatort 66, 283 Tausendundeine Nacht 25 Terror - Ihr Urteil 41 The 39 Steps 222, 259 The Adventure of the Empty House 124 The Adventures of Tom Sawyer 157 The Arrow and the Song 291 The Beggar’s Opera 25 The Birds 233 The Crocodile’s Dilemma 299 The Final Problem 124 The Fugitive 225 The Girl With The Dragon Tattoo 222 The Great Gatsby 253 The Great Train Robbery 62 The High Window 169 The Hound of the Baskervilles 121ff. The Hounds of Baskerville 139 The Hunt for Red October 260 The Lady In The Lake 169 The Lady Vanishes 222 The Little Sister 169 The Lodger: A Story of the London Fog 222 The Loneliness of the Long Distance Runner 243 The Long Good-bye 169 The Love Bug 284 The Maltese Falcon 177 The Moonstone 107 The Mouse Trap 140 The Murder of Roger Ackroyd 16, 232 The Murders in the Rue Morgue 28, 53, 107, 110 The Naked Gun: From the Files of Police Squad! 284 The Naked Gun 2½: The Smell of Fear 284 The Picture of Dorian Gray 125 The Private Life of Sherlock Holmes 32, 127 The Riddle of the Sands 259 The Rockford Files 65, 283 The Shining 220 The Sign of the Four 125 The Silence of the Lambs 32, 235 The Streets of San Francisco 15, 65, 224 The Third Man 221, 250 The Three Investigators 62 Things as they are, or: The Adventures of Caleb Williams 55 To Catch a Thief 222 To Kill a Mockingbird 10 True Detective 66, 224 Über das Marionettentheater 132 Über die ästhetische Erziehung des Sachregister 332 <?page no="333"?> Menschen in einer Reihe von Briefen 43 Über Liebe und Tod 233 Unser Auschwitz 46 Unterm Birnbaum 12, 75 Vertigo 222 Vier Frauen und ein Todesfall 202, 283 Vier Hochzeiten und ein Todesfall 202 Westworld 225 What’s Up, Doc? 282 When I Was Young 213 Wie die Tiere 202 Wilhelm Tell 161, 166 Witness for the Prosecution 141 Zabou 67 Zahn um Zahn 67 Sachregister 333 <?page no="334"?> Personenregister Abrahams, Jim 284 Abramović, Marina 281 Adorno, Theodor W. 57, 281 Alewyn, Richard 21, 23, 35 Allen, Woody 282 Andress, Ursula 282 Annaud, Jean-Jacques 17 Antonioni, Michelangelo 67 Anz, Thomas 42ff. Apted, Michel 142 Arendt, Hannah 91 Aristoteles 17, 102 Arminius 89 Armstrong, Louis 16 Arthur, Robert 62 Ashley, Helmuth 67 Atkinson, Rowan 284, 292 Auden, W. H. 168 Bacall, Lauren 33, 141, 177f., 181 Baldwin, Alec 260 Balint, Michael 60 Barrie, James M. 125 Barry, John 270 Bassey, Shirley 270 Bauman, Zygmunt 36 Baumann, Tobi 68 Beatty, Warren 24, 221 Beck, Sandra 54 Bell, Joseph 122 Belmondo, Jean-Paul 282 Bentham, Jeremy 30 Bergman, Ingrid 33, 44, 141 Bernstein, Carl 242 Beuys, Joseph 281 Biggers, Earl Derr 64 Bisset, Jacqueline 33, 282 Bloch, Ernst 23 Bloom, Harold 43 Bogart, Humphrey 180f. Bogdanovich, Peter 282 Böhm, Karlheinz 64 Bohrmann, Michael 82 Borchmeyer, Dieter 46 Borsche, Dieter 66 Boss, Cyrill 68 Bourdieu, Pierre 49, 223, 307 Branagh, Kenneth 33, 66, 109, 250 Brecht, Bertolt 15, 25, 28, 34, 50, 96, 108, 222 Brett, Jeremy 32 Brosnan, Pierce 224, 272f. Bruce, Nigel 135 Bruckmann, Elsa 245 Brüder Grimm 105 Brüder Lumière 59 Brüder Skladanowsky 59 Buch, Franziska 162 Buchan, John 259 Burdon, Eric 213 Burton, Richard 271 Butler, Judith 281 Caan, James 285 Cagliostro, Alexander Graf von 229 Camus, Albert 281 Canfora, Bruno 198 Capote, Truman 295 Capra, Frank 67, 282 Carrell, Steve 284 <?page no="335"?> Chandler, Raymond 17, 108, 177 Chaplin, Charlie 69, 282 Chesterton, Gilbert Keith 53, 67, 108 Chibnall, Chris 225 Childers, Robert Erskine 259 Christie, Agatha 9, 12, 15f., 32f., 55, 108, 110, 128, 232, 249, 283 Clancy, Tom 260 Clarin, Hans 68 Cleese, John 285 Coen, Ethan und Joel 66, 299 Collins, Wilkie 107 Comer, Jodie 260 Conan Doyle, Arthur 12, 17, 34, 42, 53, 57, 62, 118, 120, 141, 146, 168 Connery, Sean 17, 33, 141, 180, 197, 235, 260, 271 Coryell, John R. 108 Cotten, Joseph 221, 250 Craig, Daniel 272 Cruise, Tom 260 Cruz, Penélope 33 Cumberbatch, Benedict 33, 139 Curtis, Tony 282 Cushing, Peter 139 Dafoe, Willem 33 Dalí, Salvador 44, 254 Dalton, Timothy 272 Dalton, Tom 142 Darwin, Charles 114 Defoe, Daniel 57 Demme, Jonathan 32, 235 Dench, Judi 33 Depp, Johnny 33 Derrida, Jacques 281 Dickens, Charles 107 Dietl, Helmut 69 Dietrich, Marlene 141 Dighton, John 285 Dorfer, Alfred 212 Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch 22, 144 Douglas, Kirk 65, 224 Douglas, Michael 15, 65, 224 Drache, Heinz 66, 68 Drobinski, Matthias 37 Droste-Hülshoff, Annette von 56 du Maurier, Daphne 222, 233 Dunaway, Faye 22, 24, 221 Durbridge, Francis 9, 66 Dürrenmatt, Friedrich 57, 64, 68, 98, 105, 109, 203, 248, 281 Eastwood, Clint 301 Eckart, Dietrich 95 Eco, Umberto 17, 124 Edwards, Blake 295 Eichmann, Adolf 70 Eliot, T. S. 168 Falk, Peter 22, 65, 283 Fassbender, Michael 152 Faulkner, William 178 Feldhusen, Arne 283 Fincher, David 222 Finney, Albert 33, 141 Fisher, Terence 139 Fitzek, Sebastian 220 Fitzgerald, F. Scott 253 Fleming, Ian 24, 229 Flickenschildt, Elisabeth 68 Fontaine, Joan 233 Fontane, Theodor 12, 75 Ford, Harrison 65 Foucault, Michel 29ff., 35, 40, 70, 72, 104, 122, 281 Freeman, Martin 33, 139, 300 Freud, Sigmund 44, 104, 113, 233, 236 Personenregister 335 <?page no="336"?> Frisch, Max 185 Fritsch, Willy 63 Fröbe, Gert 109, 197, 235, 271, 274f. Fuchsberger, Joachim 68 Fukunaga, Cary Joji 236 Gadamer, Hans-Georg 281 Garner, James 14, 65 Gelfert, Hans-Dieter 27 George, Götz 67, 69, 71 Gielgud, John 141 Gies, Hajo 67 Giller, Walter 63 Glauser, Friedrich 145 Glavinic, Thomas 145 Godwin, William 55 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 144, 184, 226 Goetz, Curt 15 Goldman, William 242 Gould, Elliott 152 Grant, Cary 67, 271f., 282 Greene, Graham 221 Grieg, Edvard 93 Grieve, Andrew 152 Gründgens, Gustaf 92 Guinness, Alec 67, 285, 287 Haarmann, Fritz 71 Haas, Wolf 11f., 55, 109f., 283 Hader, Josef 203, 210f. Hahn, Ulla 41 Hamann, Christof 25, 57 Hamann, Evelyn 283 Hamer, Robert 34, 285 Hamilton, Guy 235, 270 Hammett, Dashiell 108, 166, 177 Harather, Paul 212 Harbou, Thea von 63, 91, 259 Hardy, Oliver 156 Häring, Wilhelm 55 Hauff, Wilhelm 81, 227 Hawks, Howard 168, 177 Hawley, Noah 66, 299 Hayworth, Rita 65 Heinrich VIII. 263 Heißenbüttel, Helmut 34 Held, Martin 63, 68 Hemingway, Ernest 168, 270 Hemmings, David 67 Hengge, Paul 68 Hepburn, Audrey 295 Hergé 61 Herodot 11 Hindemith, Paul 110 Hiscott, Leslie S. 151 Hitchcock, Alfred 16, 44f., 63f., 167, 222, 250f., 254f., 259, 272 Hitler, Adolf 46, 139, 245 Hitzig, Julius Eduard 55 Hoffman, Dustin 142, 223, 241ff. Hoffmann, E.T.A. 11f., 34, 54f., 104, 107, 120, 144, 227 Hoffmann, Heinrich 165 Hoffmann, Josef 9 Hofmann, Nico 69, 196 Homer 25 Hopkins, Anthony 32 Hopper, Dennis 221 Horkheimer, Max 281 Horniman, Roy 285 Hoskins, Bob 285 Huber, Joachim 17 Humboldt, Wilhelm von 31 Huston, John 177, 282 Jacobi, Derek 250, 252 Janssen, David 225 Jennings, Luke 260 Personenregister 336 <?page no="337"?> Just, Klaus Günter 53 Kaes, Anton 90 Kafka, Franz 26, 71, 281 Kalkofe, Oliver 68 Kant, Immanuel 31, 47f., 113 Karen, Michael 285 Karloff, Boris 65 Karmakar, Romuald 71 Karsunke, Yaak 17 Kästner, Erich 15, 23, 95, 281 Keaton, Buster 282 Kendal, Felicity 285 Kerr, Deborah 282 Kesselring, Joseph 282 King, Stephen 16, 220 Kingsley, Ben 285 Kinski, Klaus 68 Kitt, Eartha 16 Klein-Rogge, Rudolf 63 Kleist, Heinrich von 15, 23, 83, 132 Klugman, Jack 65 Knef, Hildegard 16 Koch, Robert 126 Koebner, Thomas 219 Kopernikus, Nikolaus 114 Kraume, Lars 41, 70 Kubrick, Stanley 220 Kürten, Peter 91 Lacy, Jake 295 Ladenthin, Volker 21 Lamprecht, Gerhard 162 Landau, Martin 22 Lane, Priscilla 282 Lanfield, Sidney 135 Lang, Fritz 47, 55, 62f., 98, 105, 113, 162, 165, 198, 259 Larsson, Stieg 222, 284 Lasker-Schüler, Else 281 Laughton, Charles 263 Laurel, Stan 156 Lazenby, George 272 Lee, Christopher 139 Lee, Harper 10 Leigh, Janet 22 Lemmon, Jack 282 Liefers, Jan Josef 283 Limmer, Ulrich 69 Lindgren, Astrid 156 Lingen, Theo 96, 162 List, Niki 284 Lloyd, Harold 282 Longfellow, Henry Wadsworth 291 Loos, Adolf 37 Loriot 283 Lorre, Peter 65, 67, 91f., 94, 259 Lotman, Jurij 281 Löwenberg, Cornelia 97 Lowitz, Siegfried 197, 200 Luhmann, Niklas 13, 31, 35, 49, 281 Lumet, Sidney 33, 141 Lumley, Joanna 285 Lynch, David 67 Macaulay, Thomas Babington 125 Mackendrick, Alexander 67, 285 Mädel, Bjarne 283 Mankell, Henning 66, 249, 284 Mankiewicz, Herman J. 151 Mann, Thomas 185, 230, 281 Marischka, Ernst 64 Mark, Robert 284 Marquand, John Phillips 65, 259 Marsch, Edgar 21 Marvin, Arthur 62 Marx Brothers 277 May, Joe 62 McGuigan, Paul 139 Personenregister 337 <?page no="338"?> Mendes, Sam 292 Meyer, Clemens 11 Meyer, Mizzi 283 Miles, Sarah 152 Miles, Vera 22 Monty Python 277 Moore, Roger 272f. Morell, André 139 Moretti, Tobias 71, 210 Morse, Barry 225 Mühe, Ulrich 69 Mulligan, Robert 10 Murray, Bill 285 Nabokov, Vladimir 307 Nesser, Håkan 18 Neuhaus, Nele 75, 188 Neuhauser, Adele 283 Nicholson, Jack 109, 196, 220 Nielsen, Leslie 284 Nietzsche, Friedrich 48 Nimoy, Leonard 22 Niven, David 271, 282 Nixon, Richard 242 Nusser, Peter 21 O’Neil, Ryan 282 Ochsenknecht, Uwe 69 Ode, Erik 15, 66 Oland, Warner 65 Olivier, Laurence 233, 241f. Pakula, Alan J. 242 Pastewka, Bastian 68 Peck, Clemens 53 Peck, Gregory 10, 44 Penn, Arthur 24, 221 Perkins, Anthony 71 Persson Giolito, Malin 225 Peters, Caroline 283 Pfeiffer, Michelle 33 Pitaval, François Gayot de 54f., 114 Pizzolatto, Nic 224 Plato 126 Pleasence, Donald 22 Poe, Edgar Allan 11f., 28, 34, 53, 56f., 107, 110, 112, 121, 125, 146 Polanski, Roman 109 Pollock, George 33, 140 Powell, Michael 64 Prahl, Axel 283 Preßburger, Emmerich 162 Price, Dennis 286 Price, Vincent 22 Priestley, J. B. 169 Quest, Hans 66 Rasp, Fritz 162 Rathbone, Basil 32, 135 Rea, Chris 285 Reckwitz, Andreas 110, 203, 225 Redford, Robert 242 Redgrave, Vanessa 142 Reed, Carol 221 Reed, Oliver 285 Reicher, Ernst 62 Reinecker, Herbert 66 Reiners, Marie 283 Richter, Gerhard 281 Rigg, Diana 285 Riley, Sam 70 Robinson, Bertram Fletcher 126 Roesler-Graichen, Michael 18 Rühmann, Heinz 67, 109, 182, 197, 199 Rutherford, John 122 Rutherford, Margaret 33, 140 Ruttmann, Walther 165 Sartre, Jean Paul 281 Sayers, Dorothy L. 108 Schiller, Friedrich 11f., 15, 19, 31, 38, 43, Personenregister 338 <?page no="339"?> 53-56, 75, 161, 166 Schirach, Ferdinand von 41 Schmidt, Manfred 61 Schneider, Steven Jay 178 Schönemann, Hinnerk 220 Schwab, Werner 281 Schwan, Friedrich 76 Schwarzenegger, Arnold 205, 207, 216 Schygulla, Hanna 249 Scott, Walter 125 Sedlmeier, Florian 53 Seeßlen, Georg 109 Segal, Peter 284 Selleck, Tom 65 Sellers, Peter 282, 285, 294f. Selznick, David O. 45, 233 Shakespeare, William 9, 11, 140, 142, 249, 251f. Shelley, Mary 122, 124, 127 Sillitoe, Alan 243 Sinatra, Frank 16 Smith, Ormond G. 108 Sokrates 126 Sophokles 11, 25, 55 Spielberg, Steven 65 Spoerl, Heinrich 164 Staiger, Emil 184 Staudte, Wolfgang 63, 68 Steinbeck, John 169 Stemmle, Adolf 162 Stennert, Philipp 68 Stevenson, Robert Louis 122, 127 Stoker, Bram 122ff., 127 Streisand, Barbra 282 Strubel, Antje 18 Stuber, Thomas 11 Suchet, David 141, 152, 155 Süskind, Patrick 34, 110, 223, 233 Swann, Leonie 19 Tappert, Horst 15, 66 Tarantino, Quentin 221f. Tatar, Maria 95 Tennyson, Alfred Lord 286 Thompson, Emma 249f., 293 Thornton, Billy Bob 300 Todorov, Tzvetan 12 Toler, Sidney 65 Tolman, Allison 302 Trevor, Austin 151 Tschirner, Nora 283 Tukur, Ulrich 284 Twain, Mark 157 Tykwer, Tom 223 Ulmen, Christian 283 Ustinov, Peter 33, 65, 141 Vajda, Ladislao 64, 181, 196 van den Berg, Rudolf 196 van Dyke, Dick 22 Vaughn, Robert 22 Vidocq, Eugène François 120 Vogel, Jürgen 162 Vogt, Jochen 53 Vohrer, Alfred 67f. Wagenseil, Johann Christoph 114, 118 Wallace, Edgar 67f., 108 Waller-Bridge, Phoebe 225 Walser, Martin 46 Waltz, Christoph 25, 235 Wanamaker, Zoë 152 Warhol, Andy 281 Waugh, Evelyn 168 Wayne, John 301 Wechsler, Lazar 181 Wedekind, Frank 15 Welke, Oliver 68 Wellershoff, Dieter 307 Personenregister 339 <?page no="340"?> Welles, Orson 71, 151, 221, 250, 271, 282 Welsch, Wolfgang 36 Wendlandt, Horst 67f. Wernicke, Otto 92 Whale, James 95 Whishaw, Ben 223 Widmark, Richard 33 Wiene, Robert 62 Wilde, Oscar 125, 127 Wilder, Billy 32, 127, 141, 157, 163, 167, 282 Williams, Robbie 16 Williams, Robin 249, 253 Willmann, Thomas 70 Wilson, Edmund 168 Winner, Michael 285 Woodward, Bob 242 Wright, Edgar 16 Wulff, Hans Jürgen 219 Yanar, Kaya 285 York, Michael 33 Young, Terence 270 Zehetgruber, Rudolf 284 Zimbalist, Stephanie 224 Zucker, David 284 Zucker, Jerry 284 Zuckerberg, Mark 295 Personenregister 340 <?page no="341"?> Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de ,! 7ID8C5-cfffgf! ISBN 978-3-8252-5556-5 Stefan Neuhaus Der Krimi in Literatur, Film und Serie Ein Blick in die Programme von Verlagen, Fernsehsendern und Filmanbietern zeigt, dass es kein populäreres Genre gibt als den Krimi. Allein von Agatha Christies Romanen wurden über zwei Milliarden Exemplare verkauft. Die Figur Sherlock Holmes gehört zu den frühesten Film- und Serienhelden und am Anfang der modernen Krimiliteratur stehen Erzählungen nicht nur von Edgar Allan Poe, sondern auch von Friedrich Schiller und E.T.A. Hoffmann. Erstmals wird der Versuch gewagt, an exemplarischen Beispielen aus Literatur, Film und Serie in den ‚ganzen‘ Krimi einzuführen - in Merkmale, Geschichte und Entwicklung. Bisher hat sich die Forschung selten mit dem als trivial geltenden Genre beschäftigt. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass der Krimi genauso anspruchsvolle Beispiele bereithält wie andere Genres. Literaturwissenschaft Neuhaus Der Krimi in Literatur, Film und Serie QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 55565 Neuhaus_M-5556.indd 1 55565 Neuhaus_M-5556.indd 1 14.01.21 15: 18 14.01.21 15: 18