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Religionspädagogik

Eine Einführung

0809
2021
978-3-8385-5628-4
978-3-8252-5628-9
UTB 
Joachim Kunstmann

Die Einführung bietet einen umfassenden Überblick über sämtliche Arbeitsfelder einer zeitgemäßen Religionspädagogik. Der Band behandelt die Grundfragen und traditionellen Themen des Faches, trägt aber auch neuesten Entwicklungen Rechnung, so der zunehmenden Hinwendung der Religionspädagogik zu Gegenwartsthemen wie der Individualisierung und Kulturbezogenheit von Religion. Eine als strukturierend für alle klassischen Orte christlich-religiöser Erziehung, Sozialisation und Bildung ausgewiesene Religionsdidaktik ist ebenso in das Konzept integriert wie die Gemeindepädagogik. Das Buch ist somit ein unentbehrlicher Begleiter für Studium, Lehre und Gemeindearbeit.

<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-cfgcij! ISBN 978-3-8252-5628-9 Joachim Kunstmann Religionspädagogik 3. Auflage Dieses Einführungswerk bietet einen umfassenden Überblick über sämtliche Arbeitsfelder einer zeitgemäßen Religionspädagogik. Neben Grundfragen und traditionellen Themen des Faches werden neueste Entwicklungen behandelt, wie die zunehmende Hinwendung der Religionspädagogik zu Gegenwartsthemen wie der Individualisierung und Kulturbezogenheit von Religion. Eine als strukturierend für alle klassischen Orte christlich-religiöser Erziehung, Sozialisation und Bildung ausgewiesene Religionsdidaktik ist ebenso in das Konzept integriert wie die Gemeindepädagogik. Somit ist das Buch ein unentbehrlicher Begleiter für Studium, Lehre und Gemeindearbeit. Theologie | Religionswissenschaft Religionspädagogik 3. A. Kunstmann Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 56289 Kunstmann_M-2500.indd 1 56289 Kunstmann_M-2500.indd 1 08.07.21 18: 37 08.07.21 18: 37 <?page no="1"?> utb 2500 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau Verlag · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Joachim Kunstmann lehrt Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. <?page no="3"?> Joachim Kunstmann Religionspädagogik Einführung und Überblick 3., überarbeitete und erweiterte Auflage <?page no="4"?> © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8252-5628-9 (Print) ISBN 978-3-8385-5628-4 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5628-9 (ePub) Coverbild: © Joachim Kunstmann Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 11 13 23 1 25 1 26 2 29 3 35 4 38 5 42 2 48 1 48 2 52 3 63 4 66 5 71 3 75 1 75 2 77 3 80 4 82 5 85 6 88 7 91 Inhalt Vorworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Religionspädagogik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologische Praxistheorie religiösen Lernens . . . . . . . . . . Die historische Entwicklung der RP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Gemeindepädagogik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . RP als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Entwürfe und grundlegende Literatur . . . . . . . . . Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung . . . . . . . . Glauben lernen: Katechetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion, religiöses Erleben und religiöses Lernen . . . . . . . Religiöse Erziehung, Sozialisation und Bildung . . . . . . . . . . Begründungsargumente für religiöses Lernen . . . . . . . . . . . Religionspädagogische Zielhorizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . Liberale RP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evangelische Unterweisung / materialkerygmatisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutische RP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemorientierte RP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialisationsbegleitende RP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen und konstruktivistische Ansätze . . . . . . . . . Subjektorientierte RP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4 96 1 96 2 98 3 102 4 105 5 113 6 115 119 5 121 1 122 2 127 3 132 4 134 6 142 1 142 2 145 3 149 4 152 5 156 7 161 1 161 2 166 3 172 8 178 1 178 2 180 3 182 4 184 5 186 Religion im Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensgeschichte und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindheit und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugend und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Entwicklungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiosität von Männern, Frauen und älteren Menschen . Wie entsteht eigentlich Religiosität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassische Szenen der Religionspädagogik in Familie, Schule und Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Sozialisation heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindheit, Familie und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinnvolle christliche Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologisieren mit Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche und ihre Einstellung zur Religion . . . . . . . . . . . Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgeschichte und derzeitige Situation des RU . . . . . . . . . . RU und die Schularten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle und Position der Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfessionelle Trennung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöses Lernen an der Hochschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Universitäts-Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachdidaktik Religion und religionspädagogisches Studium Kinder-, Konfirmanden- und Jugendarbeit in der Gemeinde . . . . . Kindergottesdienst und Gemeindearbeit für Kinder . . . . . . Kirchlicher Kindergarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfirmanden- und Firmarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Didaktische Konzepte der Konfirmanden- und Firmarbeit Kirchliche Jugendarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 9 189 1 189 2 191 3 193 4 197 199 10 201 1 201 2 206 3 208 4 214 5 216 6 222 7 225 11 231 1 232 2 236 3 242 4 245 5 248 6 251 12 260 1 260 2 264 3 267 4 269 5 274 6 280 Kirchliche Arbeit mit Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeindearbeit mit Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeindearbeit mit älteren Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirchliche Erwachsenenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirchliche Akademien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religionsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundfragen der Religionsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Didaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifika der Fachdidaktik Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kann man Religion lehren und lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . Korrelation und Elementarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interreligiöses Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfahrung als religionsdidaktisches Grundprinzip . . . . . . . Formen christlicher Religionsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibeldidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symboldidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernort Kirchenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liturgiedidaktik als exemplarischer ästhetischer Zugangsweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Performative Religionsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeinreligiöse Didaktikformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Didaktik des Religionsunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schüler und ihre Einstellung zum RU . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lehrenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrplan und Lernziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden, Medien, Sozialformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt <?page no="8"?> 13 287 1 288 2 291 3 295 4 297 5 300 6 304 309 14 311 1 312 2 319 3 324 4 331 5 335 15 340 1 341 2 345 3 351 4 353 16 357 1 358 2 364 3 369 4 371 5 375 379 17 381 1 382 2 384 Was ist religiöses Lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist ein religiöser Lernprozess? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Traditionen als Medien religiösen Lernens . . . . . Die Schlüsselrolle der Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsichten der Neurobiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Didaktik religiöser Lernprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kernprobleme der RP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Säkularisierung - Religion in der modernen Welt . . . . . . . . . . . . . . Autonomie, Pluralisierung und Optionensteigerung . . . . . Säkularisierung und religiöser Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christentum heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion in Popkultur und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Konfessionslosigkeit“: Religionsdistanz . . . . . . . . . . . . . . . Individualisierung der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individualisierung und Subjektsein heute . . . . . . . . . . . . . . Individualisierte Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der lange Weg der RP zum Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Traditionsverhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Museums-Religion - Traditionalismus als Problem der RP „Glaube“ und modernes Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Existenzielles Erleben als Kern der Religionstradition . . . . Texthermeneutik, Kulturhermeneutik, Lebenshermeneutik Tradition als Deutungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Bildung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Bildungsbegriff in der RP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 3 386 4 390 5 394 18 399 1 400 2 404 3 408 4 411 414 429 Die Bildungstheorie der Klassiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung und Religion als ästhetische Phänomene . . . . . . . . Religiöse Bildung als Aufgabe der RP . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religionsbildende Religionsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religionspsychologie: die eigene Religiosität verstehen . . Symbolische Lebensdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgeklärte Religiosität und religiöse Positionierung . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt <?page no="10"?> Religiöse Wahrheit will sinnbildende Evidenz erlangen Hermann Timm <?page no="11"?> Vorwort Die Religionspädagogik ist eine junge akademische Disziplin. Obwohl sie eine lange Vorgeschichte hat, nimmt sie am Schicksal jeder modernen Wissenschaft teil: Sie differenziert sich, tritt in Spezialgebiete auseinander und wird zunehmend zum Ort von Experten, die in der Gefahr stehen, den Überblick über das Ganze zu verlieren. Die Religionspädagogik ist mehr als jede andere theologische Teildisziplin auf die Gegenwart bezogen und darum in ständiger Bewegung. Nicht immer ist klar, was die eigentlich wichtigen Fragen sind. Der hier vorgelegte Band versucht ein umfassendes Porträt der Religions‐ pädagogik zu zeichnen. Er will Einführung und Zusammenfassung sein für Studierende, Lehrende, Erziehende und alle, die sich für religiöses Lernen interessieren. Eine Einführung muss sich neutral geben und den Stand der Forschung darlegen. Wo aber nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten religiösen Lernens unter den Bedingungen der Gegenwart gefragt wird, da kann es nicht ausbleiben, dass bestimmte Betonungen gesetzt werden - etwa bei den Fragen nach der Plausibilität religiöser Gehalte, nach der Rolle der Phantasie in religiösen Lernprozessen und nach dem Wesen religiöser Erfahrung, oder bei der Betonung psychologischer Einsichten und der religiösen Bildung. Einen besonderen Stellenwert bekommen dann auch die Herausforderungen, die die pluralisierte und individualisierte Welt an das religiöse Lernen stellen. So wie jedes Buch ist auch dieses ein Zusammenfluss von eigenen Erfahrungen, einsamer Arbeit, teilnehmender Geduld und inspirierenden Hilfen. Mein Dank gilt den Herren Prof. Dr. Rolf Schieder und Prof. Dr. Ulrich Schwab für erste Ideen und Perspektivierungen; Herrn Dr. Ingo Reuter für im besten Sinne kritisch-konstruktive Begleitung; Frau Renate und Herrn Thomas Peter für genaue Gegenlesung des Manuskripts; und nicht zuletzt Frau Kathrin Heyng vom Francke Verlag, die das Projekt ins Leben gerufen und seine Entstehung gewissenhaft begleitet hat. München, im März 2004 Joachim Kunstmann <?page no="12"?> Vorwort zur 3. Auflage Die schnellen Veränderungen der religiösen Lage haben eine Überarbeitung des Buches nötig gemacht. Die zunehmende Religionsdistanz und der prekäre Traditionsbezug von Kirche und Theologie lassen die Frage nach der Relevanz religiösen Lernens immer dringender werden. Wozu Religion? Braucht man die religiöse Tradition, um religiös zu werden? Geschieht das nicht weit eher durch religiöses Erleben? Weder die Kompetenzorientierung noch die traditionelle Texthermeneu‐ tik noch die zunehmende empirische Forschung im Fach geben hier plausible Antworten. Am ehesten dürfte die Ausweitung der Hermeneutik zur Le‐ benshermeneutik weiterführen und eine Orientierung an den Subjekten. Wenn Religion symbolische Lebensdeutung ist, muss die Religionspädago‐ gik nicht vor allem religiöse Tradition vermitteln, sondern die Grunderfah‐ rungen und -fragen des Lebens kennen. Eingegangen sind daher nicht nur neuere Forschungsfelder wie z. B. das Theologisieren mit Kindern und die Subjektorientierung. Eingearbeitet ist auch vieles von dem, was bisher zuletzt unter „Perspektiven“ zusammenge‐ fasst wurde und sich inzwischen als notwendiges Fachwissen etabliert hat. Religion ist ein hoch komplexes Phänomen. Kognitive, problemorien‐ tierte und funktionale Zugänge bekommen deren spezifische Eigenart nicht ausreichend in den Blick, und nicht alles lässt sich in angemessene Schub‐ laden packen. Gelegentliche Wiederholungen sind deshalb gewollt; sie sind mit Verweisen auf die Kapitel versehen, in denen die Dinge ausführlicher behandelt werden. Für die Neubearbeitung gilt mein herzlicher Dank Frau Dr. Gundula Rosenow, die mit ihrer einzigartigen Verbindung von fachlichem Wissen und praktischer Erfahrung in einem weitgehend säkularen Umfeld eine Gesprächspartnerin ist, wie man sie selten findet. Weingarten, im März 2021 Joachim Kunstmann <?page no="13"?> Einleitung Religiöse Bildung und säkulare Lebenswelt Religions-Pädagogik „Wer einmal versucht, sich in die Perspektive eines Schülers hineinzuversetzen, der nicht von Kindesbeinen an mit christlichen Deutemustern und Riten in Berührung gekommen ist, wird schnell feststellen, wie voraussetzungsreich strukturierte religiöse Bildungsprozesse in Schule und Gemeinde sind. Geradezu durchgängig werden religiös geprägte Sprachspiele und mehr oder weniger zustimmende Positionierungen dazu vorausgesetzt.“ (Domsgen 2018, 417) Religiöses Lernen geschieht heute nur noch zum sehr kleinen Teil in Form einer durch Autorität und Institutionen verbürgten Lehre. In einer pluralen Welt sind die Menschen längst ganz selbstverständlich persönliche Autonomie und freie Auswahl gewohnt. Darum würden Glaubens-Erzie‐ hung und Glaubens-Unterweisung als ersetzbare Möglichkeiten des Lernens unter vielen anderen erscheinen. Didaktisch gesprochen käme das einem Verlust an Plausibilität gleich, d. h. an offensichtlicher Einsicht in ihren Sinn und vor allem in ihre Notwendigkeit. Dazu aber ist religiöses Lernen für die Menschen ebenso wie für das Christentum viel zu bedeutsam und wertvoll. Es muss sich unter modernen Bedingungen also neu begründen und explizieren. Die bloße Behauptung christlicher Gehalte, die selbstverständliche Vor‐ aussetzung ihrer Gültigkeit oder das Bekenntnis reichen also nicht mehr aus. Unter Bedingungen einer umfassenden Pluralität können sie religions‐ pädagogisch sogar kontraproduktiv sein. Eine christliche Didaktik, die sich normativ gibt und deduktiv von angeblich voraussetzbaren „festen“ Wahrheiten ausgeht, verfehlt in der Regel sowohl die heutigen Menschen als auch den Sinn der christlichen Überlieferung selbst. Die Religionspädagogik (RP) hat sich mit genau dieser Einsicht als wissen‐ schaftliches theologisches Fach etabliert: Christentum, Religion überhaupt, sind für den modernen Menschen nicht mehr selbstverständlich, wenig verbindlich und manchmal kaum noch bekannt. Die RP fragt darum nach <?page no="14"?> dem Sinn religiösen Lernens unter modernen Bedingungen und nach dem Rahmen, in dem dieses geschieht - nach Religion, Kultur, Medien; nach den Erfahrungen und Bedürfnissen der Menschen heute - und nach einer entsprechend einleuchtenden Didaktik, die neue Erkenntnisse zu Lernen und Bildung aufnimmt. Schließlich fragt sie natürlich nach den Orten, an denen religiöses Lernen (vorrangig) geschieht: Familie, Schule, Gemeinde, Öffentlichkeit. Die vorliegende RP geht dezidiert davon aus, dass die Begrifflichkeiten Religion und religiöses Lernen grundsätzlich geklärt sein müssen, wenn auch christliche Gehalte plausibel vermittelt und überhaupt verstanden sein wollen. Religiöses Lernen bedeutet vor allem, Religion zu verstehen; und dafür ist deutlich mehr nötig als sachliche Information. Allzu lange ist man den umgekehrten Weg gegangen: von der christlichen Glaubenslehre (oder zumindest von der Beheimatung in einer christlichen Kultur) aus hat man versucht, die Menschen zu erreichen. Die Ergebnisse dieses Weges sind mehr als ernüchternd. Dennoch vermeidet die RP bisher ganz weitgehend eine Klärung des Phänomens Religion und betreibt unter der Hand eigentlich eine Christentumpädagogik, ohne wirklich deren Plausibilität zu bedenken. Wenn Menschen nach Religion, nach religiösem Erleben und spiritueller Entwicklung fragen, von Religionspädagogen aber nur über einen historisch geformten Glauben informiert werden, dann ist die Abwendung der Fragen‐ den von Religion überhaupt schon vorprogrammiert. Die Weitergabe eines lehrbaren Glaubens ist in der späten Moderne kein sinnvoller Weg mehr. Selbst ein so kluges und umfassendes Werk wie Bernd Schröders „Reli‐ gionspädagogik“ beginnt mit dem Satz: „Die Weitergabe des christlichen Glaubens … gehört zu den grundlegenden Aufgaben und zum Selbstver‐ ständnis der Kirche(n)“ (Schröder 2012, 1). Damit liegt dann wenig mehr vor als eine Sichtung des (schnell kleiner werdenden) christlichen Bestands. Religiöses Erleben, spirituelle Praxis und die Deutung existenzieller Fragen - also genau das, was moderne Menschen zu Recht mit Religion verbinden - kann da naheliegender Weise gar keinen Platz bekommen; und nicht einmal der Begriff „Religion“ wird zum Thema gemacht. Die epochale Neubewertung der Religion als Gefühl und tiefes Erleben bei Schleiermacher ist längst keine Position mehr, die man als Sache des theologischen Geschmacks abtun dürfte - obwohl das immer noch viel zu oft geschieht. Sie ist eine unverzichtbare Notwendigkeit im Verständnis von Religion und Christentum, deren Unkenntnis heute mit einem erheblichen Verlust an Relevanz und Plausibilität bezahlt wird. 14 Einleitung <?page no="15"?> Religion zu lehren und zu lernen ist deutlich mehr als das Begreifen einer bestimmten religiösen Traditionskultur. So wie man Kunst nur begreift, indem man über Kunstgeschichte und das Studium von Kunstwerken hinaus selbst künstlerisch produktiv wird, sich im besten Falle selbst als Künstler begreifen lernt, so hängt auch religiöses Lernen vor allem am eigenen Symbolisieren (→ 18.2); mehr noch, und im bezeichnenden Unterschied zu allen anderen Fächern: am Nachvollzug des religiösen Erlebens. Wer heute von der Offenbarung Gottes in Christus redet, vom heiligen Wort der Bibel, von Jungfrauengeburt, Himmelfahrt, Jüngstem Gericht, generell: vom „christlichen Glauben“, der muss sich klar machen, dass das als nicht überprüfbares, zum Teil auch schon als sehr seltsames Denken einer Binnengruppe verstanden wird, die offenbar den Anschluss ans moderne Leben verpasst hat - wenn diese Binnengruppe ihre Aussagen nicht als religiöse, d. h. als symbolische Aussagen einer auf das Leben bezogenen Deutung kenntlich macht. So freilich können sie gerade angesichts der wachsenden modernen Orientierungsunsicherheit neu interessant sein. Glaubensintern kann das schmerzvolle Abschiede von alten Gewissheiten und Gewohnheiten bedeuten; aber auch eine große Befreiung des Denkens und Lebens. Die RP muss also den Lebensbezug der Religion verstehen. Sie muss die mögliche subjektive Betroffenheit durch Religion begreifen, also die Frage, welche religiösen Gehalte die Menschen wann und wie ansprechen. Sie muss ferner die Bedingungen der Einsichtigkeit, Übernehmbarkeit und möglichen Akzeptanz religiöser Gehalte und Formen kennen. Das sind für die RP immer noch recht neue Fragestellungen. Damit zeigt sie sowohl einen starken Gegenwartsbezug als auch eine Angewiesenheit auf andere wissenschaftli‐ che Fächer: Kulturtheorie, Anthropologie, Biographieforschung, Pädagogik, Lerntheorie, Soziologie, Psychologie usw. RP ist notwendig interdisziplinär. Mit der Abwendung vom deduktiven Denken ändert sich auch der Blick auf die Inhalte. Christliche Themen sind weit mehr und anderes als die Bestände katechetischer oder dogmatischer Lehre. Menschen lernen das Christentum (so wie Religion allgemein) faktisch in aller Regel über ganz andere Wege kennen als über kognitive Inhalte. Darum ist hier von religiösen „Gehalten“ die Rede, die die religiösen Gestaltungsformen (sakrale Räume, Symbole, Sprache, Erzählungen, Gottesdienst, Bräuche, Personen, Bilder usw.) mit einbeziehen. Die RP fragt schließlich auch danach, wie die Logik religiöser Anschauungen und die Vollzugslogik religiöser Prozesse 15 Religiöse Bildung und säkulare Lebenswelt <?page no="16"?> einsichtig gemacht und sinnvoll strukturiert werden können; hier hat vor allem die Religionsdidaktik ihre Aufgabe. Der christliche Sprach-, Interpretations- und Ritualzusammenhang und dessen Lebensbedeutung ist grundlegender Bezugspunkt einer christlichen RP. Bezugspunkt - nicht unbedingt aber Ausgangspunkt. Da es sich hier um historische Niederschläge religiöser Erfahrung und religiöser Deutungen handelt, liegt es nahe, diese Erfahrung und Deutung selbst zum Thema zu machen. Nicht vorgegebene Inhalte also sind der „Stoff “ der RP, sondern eher die Vollzüge einer symbolischen Lebensdeutung, die sich im Rahmen einer durch das Evangelium begründete Perspektive auf das Leben vollzieht. Sie analysiert, profiliert und fördert die religiöse Kommunikation mit und in der christlichen Lebenstradition. Ihre Leitfrage ist: Wie geschieht religiöses Lernen heute, wozu ist es sinnvoll, wie soll und kann es angebahnt und gefördert werden? Die religiöse Lage als unverzichtbarer Bezugspunkt der RP Die Abwendung von einem traditionsorientierten Stoff-Lernen wird durch den Blick auf die veränderte religiöse Lage noch einmal dringlicher. Die RP findet hier ein sehr neues eigenes Aufgabenfeld vor, das sonst nur von der Praktischen Theologie bearbeitet wird. Es ist vor allem die fast durchgehende Säkularisierung (→ 14) der Lebenswelt, die Vollzug und Sinn religiösen Lernens heute zu einer offenen Frage werden lässt. Das Christentum erlebt derzeit den dramatischsten Bedeutungsverlust seiner 2000-jährigen Geschichte. Eine kulturelle Prägekraft der einstmals einzigen Kulturmacht ist heute nicht mehr auszumachen. Ein Blick in eine Fernsehzeitschrift, in die Popkultur oder eine Kunstausstellung belegt un‐ mittelbar, dass christliche Themen nur noch am untersten Rand vorkommen. Die Kirchen leeren sich in schnellem Tempo, ohne dass hier irgendwelche ernst zu nehmenden Reaktionen erfolgt wären. Religionsdistanz (→ 14.5, sog. „Konfessionslose“) und religiöses Unwissen (religiöser „Analphabe‐ tismus“) sind innerhalb weniger Jahrzehnte von Randerscheinungen zur Normalform geworden. Das Verstehen von Fakten unterliegt dem positivistischen naturwissen‐ schaftlichen Denken, das ausschließlich Beweisbares für real hält. Auch für Gedanken, Ansichten, Deutungen hat sich das Verstehen massiv verändert. Es ist genetisch, perspektivisch und psychologisch geworden (→ 16.2), d. h. es denkt historische Entstehung, subjektive Standpunktgebundenheit, 16 Einleitung <?page no="17"?> Interessen und veranlassende Emotionen automatisch mit. Gedanken sind also immer relativ, Ansichts- und Standortsache; vorgeblich allgemein gül‐ tige Wahrheiten werden nicht mehr akzeptiert und oft schon gar nicht mehr zur Kenntnis genommen - außer in Kreisen, die heute fundamentalistisch genannt werden. Gleichzeitig ist eine deutliche Sehnsucht nach religiösem Erleben und eine religiöse Sinnsuche auszumachen, die sich selbst oft gar nicht mehr als religiös versteht, sondern allenfalls dem Begriff Spiritualität zuordnet. Bemerkenswert ist auch, dass das Thema Religion unter Soziologen, Philo‐ sophen und gehobenen Journalisten seit zwei Jahrzehnten wieder einen ausgesprochen hohen Stellenwert einnimmt. In einer „postsäkular“ ( Jürgen Habermas) gewordenen Zeit, so wird hier argumentiert, hält die Religion ein unverzichtbares Orientierungswissen bereit. Aus der akademischen Theologie dagegen (→ 7.2) dringen kaum noch Impulse in die Öffentlichkeit. In einer Zeit, die sich in Projekten, Erfolgsstreben und Selbstentfaltung (→ 14.1) nahezu ausschließlich an einer offenen Zukunft orientiert, schei‐ nen Kirche und Theologie nur um alte Traditionen zu kreisen (→ 16.1). Von außen gesehen sind diese Traditionen bestenfalls ein Insider-Wissen für Spezialisten, das mit dem konkreten Leben heute aber kaum noch etwas zu tun hat; oft gelten sie aber auch schon als überholte alte Märchen. Entsprechend erlahmt das Interesse am religiösen Lernen, das Christentum erscheint zunehmend als Museum. Wer mit biblischen Geschichten, christlichen Festen und Gedanken auf‐ gewachsen ist, wird sich aus verständlichen Gründen schwer damit tun, von der Innenin die Außenperspektive zu wechseln. Die Außenperspektive auf das Christentum aber ist längst zur Normalperspektive geworden. Nicht nur für Theologie und Kirche, sondern auch für die Religionspädagogik wird diese Traditions- und Insiderorientierung immer mehr zum zentralen Problem. Aufgabenbereiche der RP „Auch wenn ein allgemeiner terminologischer Konsens derzeit nicht er‐ reichbar ist, erweist sich ein umfassendes Verständnis von Religionspäd‐ agogik als auf Religion bezogene Theorie von Erziehung, Bildung, Soziali‐ sation, Lernen und Entwicklung in Kirche, Schule und Gesellschaft doch als unverzichtbar für die wissenschaftstheoretische Konstitution eines zusam‐ menhängenden Bereichs religionspädagogischer Theorie und Praxis“ - so 17 Religiöse Bildung und säkulare Lebenswelt <?page no="18"?> schreibt Friedrich Schweitzer ganz zu Recht (NHRPG 47). Derzeit stehen in der Tat „Religionspädagogik“, Katechetik, Gemeindepädagogik und Reli‐ gionsdidaktik meist recht unverbunden nebeneinander. Nach wie vor gilt „RP“ oft als die Fachdidaktik des Religionsunterrichts (RU); das aber ist eine „Verkürzung“ (Grethlein 1998, 209), die durch neuere Veröffentlichungen im Fach auch bereits überschritten ist. Rudolf Englert bilanziert bereits 1995, „daß Religionspädagogik insgesamt mehr im Blick haben muß als nur Schule und Unterricht. So besteht heute weitgehend Konsens darüber, daß dieser nur ein Segment im Aufgabenspektrum der Religionspädagogik ausmacht, wenn auch ein nach wie vor besonders wichtiges“ (Ziebertz/ Simon 1995, 156). RP geht ferner über intentionale, d. h. absichtlich gesteuerte religiöse Lernprozesse hinaus auch zu beiläufigem religiösem Lernen, das sich - so erstmals Ulrich Hemel - unter anderem auch in der „Öffentlichkeit“ vollzieht. Auch die Gemeindepädagogik braucht religionspädagogische und -didaktische Reflexion; und die RP kann sich heute nur verständlich machen, wenn sie über Schule und Gemeinde hinausgeht und Religion in der Öffentlichkeit ebenso reflektiert wie die Bedürfnisse, Denkweisen und das Lebensgefühl der Menschen. Katechese, Gemeindepädagogik und Religionsdidaktik sollen darum als Teil-Dimensionen der RP stehen. Keine von ihnen ist ersetzbar, und keine von ihnen ist unabhängig von den anderen denkbar. „Die RP versucht die Bestimmung ihres Gegenstandes … aufgrund solcher Kriterien, die in allen Praxisfeldern zur Geltung kommen“ (Angel in Weirer/ Esterbauer 2000, 249). So gilt zunächst für die Katechetik (→ 2.1), dass sie Teil der RP bleiben muss. Auch wenn die Katechetik weitgehend von der Gemeindepädagogik beerbt und weitergeführt wird, muss die RP Auskunft geben können über die lehrende Weitergabe des Glaubens. Die Katechese kann unter modernen Bedingungen freilich nicht mehr das Konzept der RP bestimmen. Weiter gehören Gemeindepädagogik (→ 1.3, 8, 9) und schulbezogene RP aus prinzipiellen Gründen zusammen, obwohl sie fast durchgehend getrennt behandelt werden. Dafür aber kann es allenfalls pragmatische Gründe geben, sachlich ist eine Trennung kaum zu rechtfertigen. Ihre wichtigsten Handlungsfelder sind hier unter den „Orten“ zusammengestellt. Eine Aufteilung der RP in Schule und Gemeinde wäre auch insofern proble‐ matisch, als der gesamte (und heute besonders bedeutsame) Bereich der spirituellen Praxis (→ 11.6) ebenso aus dem Raster herausfällt wie die öffentlichen Orte religiösen Lernens (→ 7, 14, 15); Grundfragen religiösen Lernens (→ 13) und die religiöse Bildung (→ 17), die mit guten Gründen 18 Einleitung <?page no="19"?> als Basis der RP überhaupt gelten kann, wären nicht konsistent zuzuordnen. Der vorliegende Band begreift darum Gemeinde als gewichtigen religions‐ pädagogischen Raum neben anderen, mit eigenständigem Profil, Aufgaben und Möglichkeiten. In ihm müssen sich religionspädagogische Einsichten und Prinzipien ebenso bewähren wie andernorts. Dasselbe gilt für die Religionsdidaktik (→ 10-13, 20), die - will sie unter modernen Bedingungen wirklich überzeugen - grundsätzlich für alle Berei‐ che religiösen Lernens gelten muss, keinesfalls nur für den RU an der Schule. Die Religionsdidaktik ist hier als begleitende Grundlage religionspädagogi‐ scher Arbeit verstanden und an keiner Stelle von dieser zu trennen. Wenn gefragt wird: Wie geschieht religiöses bzw. christliches Lernen heute, wozu ist es sinnvoll, wie soll es geschehen? - dann kann die Religionsdidaktik nicht abgetrennt von der RP behandelt werden, sondern muss deren integra‐ ler Bestandteil sein. Die religionsdidaktische Frage, wie und unter welchen Bedingungen christliches Lernen sinnvoll und plausibel gelingen kann, ist nur zu beantworten durch die religionspädagogische Ermittlung des Bezugsrahmens. Umgekehrt ist eine schlüssig begründete religiöse Didaktik der Prüfstein der RP. Über die häufige und missverständliche Einschränkung auf „Methodik“ hinaus muss die Religionsdidaktik die Bildungsbedeutung allen religiösen Lernens begründen und seine Strukturierung besorgen. Sie stellt darüber hinaus die gewichtige Frage nach einem religiösen Lernen, das sich vom allgemeinen Lernen in charakteristischer Weise unterscheidet - und unterscheiden muss, will es als eigenständiges und nicht ersetzbares erkennbar sein. Damit wird deutlich, dass Religionsdidaktik wesentlich eine religiöse Didaktik sein muss, die weder nur schulische Fachdidaktik (→ 12) ist noch nur „kritisch-problemorientiertes“ Bedenken religiöser Themen noch gar die „Anwendung“ theologischer Themenvorgaben. Das wichtige 13. Kapitel (Religiöses Lernen) fungiert darum als ein weiteres Grundla‐ genkapitel und dient in seinen Bezügen auf neue Forschungsbereiche als Scharnier und Übergang zu den folgenden „Kernproblemen“. Absicht und Leitbild der RP Die hier verhandelte RP ist die christliche. Sie setzt die klassischen Themen Bibel, Jesus von Nazareth, ein Wissen um die Geschichte der Christenheit im Abendland, die katechetische Lehrtradition usw. voraus. Die Klärung dieser Themenbestände ist Sache der einzelnen theologischen Disziplinen. RP fragt demgegenüber nach den Bedingungen ihrer sinnvollen Weitergabe unter 19 Religiöse Bildung und säkulare Lebenswelt <?page no="20"?> veränderten Lebensumständen. Sie tut das so, dass manche dieser „Themen‐ bestände“ ihr Gewicht gegenüber subjektiven religiösen Erfahrungen und religiösen Bildungsprozessen verlieren können. Ein entsprechend größeres Gewicht bekommen Evidenzen und bedeutsame Erfahrungen, bei denen zunehmend nachvollziehbar wird, dass sie die christlichen Urerfahrungen und Themen je neu zu generieren und so wirklich plausibel einsichtig und übernehmbar zu machen vermögen. Zu den zentralen Fragen der RP werden darum: wie sind religiöse Erfah‐ rungen möglich? Wie entstehen religiöse Sichtweisen und Identifikationen? Damit ist etwas deutlich anderes als die „Erfahrbarkeit“ christlicher oder gar theologischer Themenvorgaben gemeint (→ 10.7, 16.3). Es rücken tendenziell eher Orte, Bilder und Vollzüge religiöser Praxis in den Blick als theologische Denkweisen und katechetisch auflistbare Themenbestände. RP ist Wissenschaft (→ 1.4), also Theorie - allerdings eine direkt auf gegenwärtige und mögliche Praxis bezogene. Sie benutzt (text- und verstehens-)hermeneutische, empirische, phänomenologische und andere Verfahren. Sie stellt Bezüge zu den Kirchen (→ 6.4), zu Gesellschaft und Kultur (→ 14), zu den Individuen und ihren Fragen, Lebensgewohnheiten und -einstellungen (→ 15, 16, 18) her. Sie verfährt normativ, d. h. sie ist an interne Standards gebunden, die sich aus der christlichen Tradition ergeben, und die sie nach innen wie nach außen hin plausibel machen muss. Sie ist an angrenzenden Wissenschaften wie Lerntheorie (→ 10), Religionspsychologie (→ 18.1), Neurowissenschaften (→ 13.5) und anderen interessiert, vor allem am Gespräch mit der Pädagogik. Sie unterscheidet zwischen religiöser Erziehung (Einweisung und Einführung in das Christ‐ liche), Sozialisation (Einführung in den christlichen, d. h. kirchlichen, ge‐ meindlichen, öffentlichen, aber auch privaten religiösen Lebenskontext) und Bildung (persönliche Entfaltung durch christlich angestoßene und erfahrene Religiosität, → 2). Ihr angemessenstes theoretisches Leitbild ist religiöse Bildung (→ 17), verstanden als der offene Entfaltungsprozess einer Person, der durch An‐ stöße aus allen Bereichen des Lebens geschehen kann (Staat, Gesellschaft, Kultur, Menschen, Natur, Medien, Arbeit usw.), in der Religion aber eines seiner bedeutendsten Reservoirs hat. Die Kernfrage der RP ist darum die nach der Bedeutung der Religion für die Ausgestaltung und Entwicklung einer „gesunden“, lebensfähigen, reifen und souveränen Persönlichkeit. Ihr Zielhorizont ist also nicht primär die Erziehung zum Glauben oder die sozialisatorische Einweisung ins Christentum, sondern zunächst schlicht 20 Einleitung <?page no="21"?> das „Interesse am Christentum“ eines Menschen (Schleiermacher), das wie‐ derum grundlegend verstehbar ist als religiöses Interesse. Die RP strebt darum religiöse Kompetenzen (→ 2, 10.2) vor einem christlichen Hintergrund und in christlichem Geist an. Leitende Annahme ist, dass die christliche Weltdeutung und Lebenssicht nach wie vor als menschlich angemessen gelten kann - wenn denn ihr provozierender Gehalt verstanden und wirk‐ lich gelebt wird. Sie ist solide reflektiert, achtet die Freiheit der Person und kann auch unter heutigen Bedingungen sinnvolle Lebensgrundlage sein. Damit orientiert sich die RP an der Idee und (immanenten) Logik des Christlichen. Sie betreibt keine direkte Anzielung christlicher Religion als integrales, Kirchlichkeit, Theologie, christliche Sitte umfassendes „Gesamt‐ paket“, sondern eher die „Kommunikation des Evangeliums“ (Ernst Lange), die in „Mitteilung und Darstellung“ (Schleiermacher) der Förderung von subjektiver Religiosität vor einem christlichen Hintergrund dient (→ 18), die Teil der persönlichen Bildung ist. Als Leitbild ergibt sich: RP ist die wissenschaftliche Analyse, Begründung und Strukturierung religiöser Lernprozesse in christlicher Verantwortung und im Interesse umfassender Bil‐ dung. Zum Aufbau des Buches Die fünf Teile des Bandes gehen unter Grundlagen von grundsätzlichen Fragen wie der wissenschaftstheoretischen Einordnung der RP, ihrer Ge‐ schichte, grundlegenden Konzeptionsvorstellungen, Begründungsfragen, Lehrbarkeit der Religion und deren Bezug zum Lebenslauf aus. Unter Orte der RP werden die „klassischen“ Orte religiösen Lernens in Familie, Schule (RU) und Gemeinde vorgestellt. Es schließt sich die Religionsdidaktik an, die neben der Fachdidaktik des RU allgemeine religionsdidaktische Modelle vorstellt und die grundsätzliche Frage nach dem Spezifikum religiösen Lernens in allen seinen Bereichen stellt. Unter Kernprobleme werden die massiven Veränderungen der modernen Lebenswelt behandelt, durch die Religion und Christentum nachhaltig betroffen sind: Plurale Gesellschaft, Individualisierung, Säkularisierung, Traditionsverlust, Erlebnisorientierung usw. Schließlich werden Perspektiven vorgestellt, die die Herausforderungen der veränderten Welt durch den bildenden Grundvollzug der Religion 21 Religiöse Bildung und säkulare Lebenswelt <?page no="22"?> darlegen: die symbolische Deutung existenziellen Erlebens und Fragens und deren Kommunikation. Die Kapitel beginnen jeweils mit einer aktuellen Hinführung bzw. einfüh‐ renden Frageformulierungen. Sie enden mit einer knappen Zusammenfas‐ sung. Die Literaturangaben sind weniger als einschlägige wissenschaftliche Werke, sondern eher als Einführungen zu verstehen, die sich für eine neue Orientierung in den jeweiligen Bereichen anbieten. Aus Gründen der Lesbarkeit werden inklusive Formen verwendet (Schüler, Lehrer - der Respekt vor den Frauen zeigt sich nicht in der eigenen Verwendung weiblicher Formen). Als Abkürzungen werden nur RP (Religionspädagogik) und RU (Religionsunterricht) verwendet. Die Literatur ist aus Platzgründen „amerikanisch“ zitiert, also nur mit Autor und Jahreszahl; häufig zitierte und abgekürzt angegebene Literatur ist zu Beginn des Literaturverzeichnisses zusammengestellt. 22 Einleitung <?page no="23"?> Grundlagen <?page no="25"?> 1 Was ist Religionspädagogik? „Die Religionspädagogik … erweist sich als Antwort auf den sich in der Aufklä‐ rung zeitigenden Modernisierungsprozess, der mit einer normativ-deduktiven Vermittlung des ‚Glaubens‘ nicht in Einklang zu bringen war.“ (Wegenast in NHRPG 41) Die RP ist die jüngste theologische Disziplin. Modernisierung kann in der Tat als Grund für ihre Entstehung angegeben werden. Denn unter modernen Bedingungen stößt die Weitergabe des christlichen Glaubens auf Schwierigkeiten durch massiv veränderte Verhältnisse der Lebenswelt. Man stelle sich - um ein Schlaglicht auf diese Veränderungen zu werfen - einen Jugendlichen vor, der angesichts eines Sonnenunterganges am Meer von einer hohen Düne herunterläuft und ins Meer springt; ihm wird dieses Erlebnis zu einer Lebenswende, denn er hat das Gefühl, in diesem Moment alles hinter sich zu lassen und die Welt in einem neuen Licht zu sehen. Auch wenn er dabei gar nicht an Gott denkt, so ist der Moment für ihn doch eine persönliche Offenbarung, die ihn im Innersten betrifft. Für die RP stellen sich da gewichtige Fragen: Handelt es sich hier um Religion, und wenn ja, inwiefern? Um christliche Religion? Kann man solche persönlichen Erfahrungen kommunizieren, und wie? Welchen Sinn kann für den Jugendlichen die Weitergabe christlicher Symbole haben, wie können sie ihn erreichen? Warum spielen Erlebnis-Sehnsüchte heute eine so große Rolle? Und wie verändern sie die Bedeutung der Religion? Mit dieser Fragenpalette wird deutlich: RP muss weit mehr sein als die Frage nach den Weitergabebedingungen theologischer Wahrheiten. Sie fragt nach der Weitergabe (christlich-)religiöser Gehalte, Einstellungen und Vollzüge und nach deren Plausibilität und Evidenz heute; darum fragt sie auch nach dem heutigen Menschen, seinen Prägungen, Bedürfnissen, Lebenseinstellungen und seiner Kultur; sie fragt nach den Orten, an denen christliches Lernen geschieht, nach der Bedeutung und dem Verständnis von Religion heute und nach einer sinnvollen religiösen Didaktik. <?page no="26"?> 1 Theologische Praxistheorie religiösen Lernens „Das Ringen um das rechte Verhältnis zwischen Tradition und Situation, Offenba‐ rung und Erfahrung, biblischem Anspruch und kindlicher Rezeption (durchzieht) die Geschichte der RP wie ein roter Faden.“ (Englert 2008, 81) Der Gegenstandsbereich der RP Seit der Aufklärung war es üblich geworden, das Christentum als „Religion“ neben anderen zu bezeichnen. Die „Religions-Pädagogik“ nimmt darauf Bezug. Der Begriff, der um 1900 eingeführt ist und sich heute durchgesetzt hat, spiegelt die massiven lebensweltlichen Veränderungen, die sich im 19. Jh. vollzogen: die Ausweitung der persönlichen Freiräume, Möglichkei‐ ten, Sicherheiten und Reichweiten durch die Technisierung der Welt; ferner durch das Auseinandertreten von kirchlich gebundener Frömmigkeit und wissenschaftlichem Denken. Religiöse, gar kirchliche Zugehörigkeit war nicht mehr selbstverständlich. Die RP hat, wie das Eingangszitat zeigt, immer eine „korrelative Grundstruktur“ (Rudolf Englert), genau diese aber wird zunehmend zu ihrem zentralen Problem. Die junge Disziplin nimmt psychologische Einsichten auf und orientiert sich in ganz moderner Weise am autonomen „Subjekt“. Sie tritt darum neben die Katechese (→ 2.1), die kirchliche Glaubensunterweisung. Nach wie vor ist umstritten, ob sich die RP in ihrem Kern auf die Glaubensunterweisung bezieht, oder auf Pädagogik, auf Religionswissenschaft, auf Psychologie oder auf Bildungstheorie - oder auf mehrere von diesen zugleich. Auf jeden Fall ist die RP theologische Wissenschaft. Sie ist Teil der Praktischen Theologie, innerhalb derer sie sich am meisten von der ursprünglich pastoraltheologi‐ schen, d. h. auf die Pfarramtsführung bezogenen Aufgabe entfernt hat. Ulrich Hemel definiert RP darum umfassend als „Theorie religiöser Vermittlung“. RP ist Theorie - aber in besonderem Maße Praxistheorie. Ihr Gegen‐ standsbereich sind alle religiösen Lern- und Bildungsprozesse im Kontext der Zeitsituation. Um diese zu verstehen und verbessern zu können, betreibt die RP die Analyse und Reflexion religiöser Vorstellungen und Vollzüge. Ihr Ausgangspunkt sind also nicht unbedingt die christlichen Traditions‐ bestände. RP muss in mindestens zwei Bereichen kompetent sein: in der Erschließung der christlichen Tradition und in der genauen Kenntnis der Situation und des Blickwinkels, aus dem Religion heute gesehen, verstan‐ den und angeeignet wird. Schließlich muss sie auch eine plausible und 26 1 Was ist Religionspädagogik? <?page no="27"?> kompetente Didaktik entwerfen (→ 10, 18), die sich weniger als Brücke zwischen Tradition und Situation versteht, sondern die eher nach der Nachvollziehbarkeit der in der Tradition gespeicherten religiösen Erfahrung und einer religiösen Selbstauslegung fragt. Die RP wird fachintern vor allem als Reflexion des RU an der Schule verstanden. Die Fachdidaktik Religion reflektiert dann dessen Faktoren: Auswahl und Begründung von Unterrichts-Inhalten, Schüler, Lehrer, Me‐ thoden usw. Eine Ausweitung über diesen Bezug hinaus nahm erstmals K.-E. Nipkow in seinen „Grundfragen der RP“ (1975 ff.) vor, die pädagogi‐ sche Handlungsfelder der Kirche einbeziehen und für die RP eine gleich‐ gewichtige Einordnung zwischen Theologie und allgemeiner Pädagogik versuchen, faktisch allerdings einen theologischen Schwerpunkt erkennen lassen. Seither erfährt die RP eine starke Ausweitung durch Einbezug von Sozialwissenschaften und Handlungstheorie, seit den 1980er Jahren durch Symboltheorien, seit den 1990ern durch den Bezug zur Populären Kultur (→ 14.4) usw. Theologisches Profil Die RP betreibt die Reflexion und Förderung religiöser Bildung im christli‐ chen Geist - dazu braucht sie die Analyse aller Formen, Orte, Prozesse und Wege christlichen und religiösen Lernens, seiner möglichen Ziele und deren Begründung. Ihr Spezifikum ist ihr Gegenwartsbezug. Sie nimmt darum von allen theologischen Fächern am stärksten an den Veränderungen der modernen Lebenswelt teil. Sie beschreibt die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft (→ 14) und die Individualisierung (→ 15) der Lebens-, Denk- und Haltungsmuster, die Veränderung der Kommunikation und des Lebensgefühls usw. Denn das Christentum und die Religion allgemein sind von allen diesen Veränderungen zutiefst betroffen. Religiöses Lernen kann sich nicht mehr an der fraglos-allgemeinen, alternativlosen und kul‐ turprägenden christlichen Lehre früherer Zeiten orientieren. Darum braucht die RP die Kenntnis der geschichtlichen, gesellschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen und der subjektiven, psychologischen Voraussetzungen und eine entsprechend bedingte Einschätzung der Religion. Wer nach dem Lebensbezug der Religion fragt, muss das Leben gut kennen. Das aber heißt für die RP, dass sie nur interdisziplinär denkbar ist. Sie bezieht Erkenntnisse der Sozialwissenschaften (→ 14.1), der Kulturtheorie (→ 16.4), der Ästhetik (→ 11.4, 17.4), der Bildungstheorie (→ 17), der 27 1 Theologische Praxistheorie religiösen Lernens <?page no="28"?> Psychologie (→ 18.1) usw. in ihre Überlegungen mit ein. Mit dieser Inter‐ disziplinarität und ihrem Gegenwartsbezug stellt sie eine unterschwellige Rückfrage an die anderen theologischen Fächer, vor allem an die Systema‐ tische Theologie, die keineswegs so eindeutig mehr ihre Bezugswissenschaft oder gar Rahmenvorgabe darstellt. Derzeit tendiert die RP zur Beschreibung - sie versteht sich oft als Empirie und Phänomenologie (Wahrnehmungslehre). Sie kann aber nicht auf Normativität verzichten, wenn sie neben Beschreibungen sinnvolle und einsichtige Angebote machen will. Was also ist ihre interne Norm? Wird der bekenntnisgebundene christliche Glaube als Norm gesetzt, dann ist RP Katechese, also Einweisung in den Bestand der christlichen Lehre. Das aber setzt eine Akzeptanz voraus, die nicht mehr allgemein gegeben ist. Der Glaube kann darum zumindest nicht die alleinige Norm sein. Vergleichbares gilt für den Bezug zur Kirche. Auch er ist ein wichtiger, aber nicht alleiniger Bestandteil religionspädagogischer Reflexion. Denn auch er würde auf Einweisung, autoritätsgeleitete Erziehung oder Sozialisation zielen, die unter heutigen Bedingungen zunächst Akzeptanz voraussetzen. Auch der normative Bezug zu bestimmten Teilen der wissenschaftlichen Theologie, etwa der systematischen, wäre eine Engführung, da hier religiö‐ ses Erleben, symbolisches Verstehen und religiöse Kommunikation, die für religiöses Lernen höchst bedeutsam sind, wenig bedacht werden (s. u. 4.). Zwar ist RP selbst Theologie, ja sie gehört sogar „in die Mitte der Theologie“ (Rothgangel / Thaidigsmann 2005, 7) und kann diese kritisch justieren. Denn eine (systematische) Theologie, die meint, in der Klärung von Lehrgehalten ihr Zentrum zu haben, betreibt ein Glasperlenspiel; sie übergeht die subjek‐ tiven Aneignungsinteressen der „Hörer“, also der Lernenden. Sinnvoll erscheint darum der offene normative Bezug zum Christentum als religiöse Form und Praxis. Glauben und Kirche sind darin Dimensionen unter anderen, etwa neben Gestaltungen, Haltungen, Vollzügen, Räumen, Bräuchen, Symbolen, Erfahrungen usw. Schleiermachers weitherzige Be‐ stimmung all derer als Christen, die „Interesse am Christentum“ haben, kann darum als Leitbild einer religionsfreundlichen RP stehen. Auch in diesen normativen Überlegungen verfährt die RP induktiv - sie begibt sich auf eine gemeinsame Suche und geht nicht von lehrbaren vorausliegenden Wahrheiten aus. 28 1 Was ist Religionspädagogik? <?page no="29"?> 2 Die historische Entwicklung der RP Vorgeschichte Bereits im Alten Testament ist die Überlieferung der Befreiungstat Gottes, seiner Selbstoffenbarung und seines Bundes mit seinem Volk der Grund‐ bestand einer religiösen „Pädagogik“. Ihre Grundform ist die mündliche Erzählung, die erst später schriftlich niedergelegt wird. Dazu tritt die Weisheitslehre als eine Vorform erzieherischer Unterweisung. Auch das Neue Testament kennt „religionspädagogische“ Elemente. Jesus wird als Lehrer dargestellt (vor allem bei Matthäus, vgl. etwa die Bergpredigt Mt 5-7); er selbst verwendet in seinen Gleichnissen anschauliche, auf die Erfahrung der Hörer abgestimmte „didaktische“ Formen, die sich als Urform religiöser Symbolisierung verstehen lassen. Grundlegende Sichtweisen und Wahrnehmungsereignisse wie die Lehre vom Reich Gottes brauchen derar‐ tige spontane Bilder mit fiktionalem Charakter. Der fundamentale formale wie inhaltliche Unterschied zwischen diesen Gleichnissen (und auch Jesu sehr eigenständigen religiösen Neuformulierungen) zu einer Glaubenslehre, wie sie sich später entwickelte, ist im Christentum kaum jemals bewusst geworden. Bereits in den neutestamentlichen Briefen wird ein zunehmend lehrhafter Ton spürbar, der die Erfahrungen und Erzählungen um Jesus sowie die ersten theologischen Deutungen als anvertraute „Überlieferung“ an die ersten Gemeinden weitergibt und später zu einer fixierbaren Glau‐ bens-Lehre ausgebaut wird. Erst der Dramatiker Lessing hat Jahrhunderte später einen markanten Unterschied zwischen der „christlichen Religion“ und der „Religion Christi“ gesehen. In diesem Zusammenhang entwickelte sich bereits früh die katechetische Lehre (vgl. Tit 1,9 u. a.), die Grundbestände des christlichen Glaubens in kurzen, oft formelartigen Aussagen zusammenfasste. Gebraucht wurde sie vor allem bei der Aufnahme von (erwachsenen) Tauf-Bewerbern in die Gemeinden, die oft ein mehrere Jahre dauerndes Katechumenat durchlaufen mussten. Dadurch kam es zur Entstehung des wichtigsten christlichen Bekenntnisses, des apostolischen Glaubensbekenntnisses. Von hier aus begann auch die altkirchliche theologische Lehrentwicklung. Sie war neben ihrem Bezug zur Taufunterweisung Lehrpredigt, die Rechenschaft gegen‐ über einer heidnischen Umgebung zu geben versuchte. Die ersten großen Katechetenschulen in Antiochien, Alexandria und Caesarea übernahmen 29 2 Die historische Entwicklung der RP <?page no="30"?> die antike Erziehungsidee der „paideia“ und hatten ausgearbeitete Katechis‐ mus-Entwürfe; diese wurden durch die Jahrhunderte weitertradiert und weiterentwickelt. Mit Durchsetzung der Kindertaufe wurde die christliche Einweisung zum Teil Sache der Erziehung in den Familien. Das christliche Wissen war allerdings bis lange ins Mittelalter hinein sehr begrenzt. Bekannt ist die Aussage Papst Gregors des Großen, der die Bilder in den Kirchen mit dem Argument verteidigte, sie seien die Lehre für diejenigen, die nicht lesen konnten - und das war der weit überwiegende Teil der Bevölkerung. Erst Karl der Große sorgte für eine umfassende, allerdings auf Fundamente wie etwa die Kenntnis des Vaterunsers beschränkte christliche Volkserziehung. Aufgrund der ganz anderen Lebenszusammenhänge konnte man „christlich“ sein, ohne genauer intellektuell zu begreifen, was das bedeutete; die Kirche, so dachte man, stand für den Glauben ihrer Mitglieder ein. Weitere Vorformen einer christlichen Pädagogik formierten sich dann in den Orden, den Domschulen (für die Klerikerausbildung) und den Kloster‐ schulen (aus denen die ersten Stadtschulen hervorgingen), seit dem 13. Jh. dann vor allem in den neuen Universitäten; hier war die Theologie fraglos die erste Wissenschaft (→ 7.1). Einen großen Schub erhielt die christliche Erziehung durch die Reformation. Martin Luthers 1520 verfasste Schrift „An den Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung“ sorgte für eine starke Verbreitung der Schulen und für eine wirksame Strukturie‐ rung der Glaubensunterweisung. Neben Luther betrieb sein Freund Philipp Melanchthon den Ausbau und die Neustrukturierung der höheren Schulen und der Universitäten. Das entscheidende Argument lautete: Jeder Mensch sollte die Bibel lesen und verstehen können zur eigenen Verantwortung sei‐ nes Heils. Das wirkte als starker Antrieb für die Entwicklung des deutschen Schulwesens. Bis zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 19. Jh. und darüber hinaus dominierten im Schulbetrieb christliche Stoffe; die geistliche Schulaufsicht bestand sogar bis zur Weimarer Republik. Höchst bedeutsam für die christliche Erziehung wurde der Kleine Ka‐ techismus Luthers (→ 2.1). Auch andere Katechismen, etwa solche der katholischen Gegenreformation, fanden weite Verbreitung. Hier spielte seit Mitte des 16. Jh. vor allem der Jesuitenorden eine gewichtige Rolle, der sich als straff organisiertes Werkzeug der Kirche verstand, und der als Erzieher im Geist des Humanismus und des katholischen Bekenntnisses unter ande‐ rem an vielen Fürstenhöfen tätig war und dadurch großen Einfluss hatte. Ein weiterer Meilenstein der christlichen Pädagogik war Comenius ( J.A. 30 1 Was ist Religionspädagogik? <?page no="31"?> Komensky, 1592-1670). Mit seiner „Didactica magna“ schuf er ein überaus bedeutsames Erziehungsbuch, das zum letzten Mal die gesamte Welt als geschlossenes Schöpfungswerk Gottes begreift und „alle Menschen alles zu lehren“ beabsichtigte. Aufklärung und Moderne Die Aufklärungszeit des 18. Jh. brachte einen neuen und starken, am Ideal der selbsttätigen Vernunft orientierten Erziehungs-Impetus, die allmähliche Einführung der Schulpflicht und die Entstehung der modernen Pädagogik - die jetzt nicht mehr religiös, sondern erstmals säkular begründet war. RU gab es jetzt als eigenständiges, von anderen Stoffgebieten getrenntes schulisches Fach. Dennoch spielten die Kirchen aufgrund ihrer institutionellen Präsenz noch für sehr lange Zeit eine dominierende Rolle im Schulwesen (Geistliche Schulaufsicht; Schulen waren fast durchgehend Konfessionsschulen; Kleri‐ ker als Schulmeister). Dadurch kam es zu einer „Verschulung“ auch der christlichen Erziehung. Da die aufgeklärten Ideen von Autonomie und Vernunft prinzipiell reli‐ gionskritisch waren oder mit Religion wenig anfangen konnten, wurde die Religion vor allem mit der „Sittlichkeit“ (d. h. der Ethik) zusammengebun‐ den. Die Katechetik der Aufklärungszeit nahm wissenschaftliche Formen an und richtete sich entsprechend auf die sittliche Volkserziehung. Vor diesem Hintergrund aufgeklärter Vernunft, Religions- und Kirchen‐ kritik kam es zur Entstehung der RP im eigentlichen Sinne. Eine wich‐ tige Rolle spielte der Aufstieg der modernen Geisteswissenschaften, vor allem der Pädagogik, auch wenn diese zunächst oft nur als Methodik aufgefasst wurde. Rousseaus Erziehungsroman „Émile“ (1762) und später Herbarts „Formalstufen“ des Unterrichtsablaufs (Klarheit, Assoziation, Sys‐ tem, Methode) hatten nachhaltigen Einfluss auf die Herausbildung einer eigenständigen religiösen Pädagogik. Gefördert wurde diese auch durch die voranschreitende Industrialisierung; moderne Technik, Medizin, Verlänge‐ rung der Lebenserwartung führten zu einer starken Differenzierung der Lebensbereiche, in deren Zuge auch die Religion - und die Prinzipien ihrer Weitergabe - als eigenständige Aufgabe erkannt wurden. Deutlich wurde hier auch, dass Religion nicht umstandslos mit „Sittlichkeit“ zusam‐ mengespannt werden kann, sondern eine eigenständige und nicht ersetzbare Dimension des Lebens ist. Hier konnte man auf Friedrich Schleiermacher zurückgreifen, den großen romantischen Theologen. Der hatte die Religion 31 2 Die historische Entwicklung der RP <?page no="32"?> gerade nicht mit der aufgeklärten Vernunft, sondern mit Anschauung, Gefühl und Bildung verbunden, also grundsätzlich vom Subjekt und seiner Religiosität aus gedacht. Wenn Religion auf Gefühl und Gesinnung gegründet ist, dann kann zu ihr nicht mehr bruchlos erzogen, ja sie kann nicht einmal mehr so einfach durch „Lehre“ weitergegeben und angestoßen werden! „Zu jenem Endzweck [nämlich der Bildung zur Religion] kennt die Religion kein anderes Mittel, als nur dieses, daß sie sich frei äußert und mitteilt.“ (Schleierma‐ cher 1981, 291) Mit diesem Gedanken wird Schleiermacher zum eigentlichen Begründer einer wissenschaftlichen „RP“ (TRE 28, 705). Da er davon ausgeht, dass Religion Grundlage jeder Bildung ist, behandelt er die religiöse Erziehung jeweils im theologischen und pädagogischen Kontext. Anfangs lehnt er einen schulischen Religionsunterricht (RU) ab (→ 10.4). Religiöses Lernen kann nur gelingen, wenn es den Menschen ergreift; darum geschieht es grundlegend im Gespräch, nicht im Vortrag - und überall dort, wo es zu innerer Beteiligung angesichts religiöser Gehalte und Vorstellungen kommt. Der Begriff „RP“ findet sich erstmals beim Systematiker M. Reischle 1889. In dieser Zeit wird es auch bei Theologen üblich, nicht exklusiv von „Kirche“ oder „Christentum“ zu sprechen, sondern den umfassenderen Begriff „Religion“ zu benutzen; seit der Aufklärungszeit war die Existenz anderer Weltreligionen in den Blick gekommen. Grundlegend für die neu getaufte Disziplin ist die Wendung von der exklusiv kirchlichen Katechetik hin zu den Einsichten der modernen Päd‐ agogik und Psychologie, d. h. zunächst die Wendung zum Kind. Man will keine christliche Nische mehr kultivieren. Damit ist auch die Einlösung der immer wieder erhobenen Forderungen gegeben, pädagogisch zu denken. Maßgeblich an dieser Umformung sind die großen liberalen Religionspäda‐ gogen Richard Kabisch und Friedrich Niebergall beteiligt, so dass man diese als Begründer der RP im engeren Sinne ansehen könnte. Ersterer stellt vor allem die Frage nach der Lehrbarkeit der Religion (→ 10.4), letzterer spannt die RP in eine übergreifende Erziehungstheorie ein, die öffentlich plausible Begründungen für ihr Tun angeben soll. Man will weg von einer reinen Stofforientierung. Die religiöse „Pädagogik vom Kinde aus“ wird bei Niebergall zunehmend ergänzt durch die Idee einer auf die Kultur und auf mündige Staatsbürgerschaft zielenden Charaktererziehung. 32 1 Was ist Religionspädagogik? <?page no="33"?> „Die RP hat sich als ‚undogmatische‘ Kulturwissenschaft gegenüber der kirchlichen Katechetik selbständig gemacht.“ (TRE 28, 700) Diese Differen‐ zierung bedeutet allerdings, dass neben der Aufklärung auch die Katechetik eine gewichtige Bedingung der RP abgibt; ohne diese und ihre moderne Ent‐ wicklung hätte die RP nicht entstehen können. In der Folge spricht man von „Katechetik“ bei der gemeindlichen Unterweisung etwa der Konfirmanden, von „RP“ beim schulischen RU. Phasen im 20. Jahrhundert Im 20. Jh. setzt eine geradezu stürmische Modell- und Gedankenentwicklung ein, die sich aus der schnell verändernden Welt und der immer schwieriger zu bestimmenden Rolle der christlichen Religion in der Öffentlichkeit (und dann auch im privaten Bereich) erklärt. Evangelische und katholische Entwicklung verlaufen weitgehend parallel; seit den 70er Jahren entsteht eine verstärkte ökumenische Kooperation. Für die katholische Seite kenn‐ zeichnend ist das Nebeneinander einer (allgemeinen) RP und einer auf kirchliches Glaubenslernen bezogenen, auch theologisch-wissenschaftlich geführten „Katechetik“. a. Eine erste Phase nach der Jahrhundertwende, die sog. Liberale RP (→ 3.1), ist geprägt durch Orientierung an den Lernenden und explizite Aufnahme von pädagogischen (Reformpädagogik u. a.) und vor allem psychologischen Einsichten, ferner durch eine Bemühung um eine plausible Vermittlung religiösen Lernens mit der gegenwärtigen Kultur. Nicht die Kirche, sondern die Religion des Menschen steht im Mittel‐ punkt. Auf katholischer Seite zeigt sich allerdings eine weitgehende Beibehaltung einer stark systematisch geordneten Lehr-Katechese (sog. Reformkatechetik). b. Seit den 20er Jahren setzt eine nachhaltige Veränderung des theolo‐ gischen Denkens insgesamt ein. Die Orientierung gibt jetzt die sog. „Dialektische“ Theologie im Gefolge von Karl Barth, Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten, Paul Althaus u. a. vor. Daraus resultiert in der RP, die sich jetzt „Evangelische Unterweisung“ (→ 3.2) nennt, eine deutliche Abgrenzung vom Kulturbezug und vom Religionsbegriff der vorangegangenen Phase, ferner eine steile theologische - nicht pädagogische oder psychologische - Begründung aller christlichen Erziehung als „kirchliche Verkündigung des Wortes Gottes“. Diese Ori‐ 33 2 Die historische Entwicklung der RP <?page no="34"?> entierung ist zusammen mit den restaurativen Bestrebungen nach dem Zweiten Weltkrieg trotz der massiven Modernisierung der Lebenswelt bis Anfang der 60er Jahre wirksam. Auf katholischer Seite zeigt sich die parallele Entwicklung der hier sog. „kerygmatischen (=verkündi‐ genden) RP“ vor allem in J.A. Jungmanns Forderung einer „materialker‐ ygmatischen Wende“: eine theologisch-deduktive Katechetik, die von der vorausliegenden Wahrheit kirchlich dokumentierter christlicher Gehalte ausgeht. c. Mit der steilen wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Krieg verän‐ dert sich der gesellschaftliche Hintergrund nachhaltig. Wissenschaft und Technik, die modernen Medien- und Kommunikationstechniken, aber auch der Verkehr, haben einen immer größeren Einfluss auf die Lebenswelt und gestalten die Lebensweise und die innere Einstellung der Menschen nachhaltig um. Die „hermeneutische“ (→ 3.3) und die „problemorientierte“ RP (→ 3.4) reagieren auf diesen fortwährenden Modernisierungsschub mit dem Versuch der Aufnahme moderner her‐ meneutischer, soziologischer und curricularer Einsichten sowie mit dem thematischen Bezug auf Problemstellungen, die sich aus der modernen Weltsituation ergeben. Auf katholischer Seite führt die Orientierung an der anthropologisch ausgerichteten Theologie Karl Rahners, an der des evangelischen Theologen Paul Tillich und an der modernen Exegese zur Entwicklung neuer Bibeldidaktiken (H. Halbfas, G. Stachel, → 11.1) und einer RP, die „Tradition und Situation“, Glaube und Erfahrung in der für lange Zeit gültigen „Korrelationsdidaktik“ (seit 1972) in gegenseitige Vermittlung bringt (G. Baudler, → 10.5). d. Spätestens seit den 80er Jahren macht sich eine breite Wendung zu äs‐ thetischen Themen (→ 17.4) wie etwa dem Symbol (Symboldidaktik seit etwa 1980, → 11.2), dem Mythos und dem Spiel bemerkbar (Bibliodra‐ mabewegung, → 11.6). „Religion“ und ihre Eigenständigkeit werden als Thema wiederentdeckt, zumal die These der „Säkularisierung“ der Welt durch die Moderne, d. h. die Annahme eines Aussterbens der Religion, als voreilig erkannt wird. Die Ästhetik orientiert sich an religiösen Gestalten, Formen und Vollzügen und geht davon aus, dass Inhalte durch diese nicht nur nachhaltig mitbestimmt werden, sondern ohne Formen gar nicht existieren. Daneben kommt es zu einer Wendung zu konkreten Lebensfragen: Identität, Sinnsuche, sinnliche Erfahrbarkeit von Religion und deren „Nutzen“ im Leben, inzwischen auch nach dem Selbstwertgefühl, bilden neue Fragehorizonte. Auch hier verläuft 34 1 Was ist Religionspädagogik? <?page no="35"?> die katholische Entwicklung weitgehend parallel. Kennzeichnend ist hier zwar die deutlich stärkere Betonung der offiziellen kirchlichen Glaubenslehre und des katechetischen Modells; gleichzeitig aber zeigt sich von Anfang an ein durchgehendes Bewusstsein um die allgemein menschliche Bedeutung der Religion und um die Bedeutung ihrer Formen, Symbole und Atmosphären. Es zeigt sich: im Abendland hatte das Christentum in allen Epochen einen nachhaltigen und maßgeblichen Einfluss auf die Erziehung, nicht nur auf die religiöse, sondern auch auf die allgemeine. Unzähligen Menschen hat sie Heimat und die Möglichkeit gegeben, sich selbst und die Welt zu verstehen. Die dunkle Seite der christlichen Pädagogik aber ist ihre oft asketische, strenge und moralisierende Grundhaltung, ferner ihre ten‐ denzielle Verabsolutierung der (dogmatischen) Lehre zum unberührbaren Heiligtum. Speziell die Vorstellung Gottes als Richter wurde für viele zum drückenden „Über-Ich“. Dadurch wurden Weltflucht, Körperfeindlichkeit, Schuldgefühle und Angst vor Strafe begünstigt, die ihrerseits die allzu große weltliche Macht der Kirche abstützten. Bei kritischem Blick muss auffallen, dass die christliche Erziehung den abendländischen Menschen nicht friedfertiger und gelassener gemacht hat. Verständlich und ernst zu nehmen ist darum Sigmund Freuds Kritik der Religion als infantile „Illusion“, die das vernünftige Erwachsenwerden blockiert - auch wenn sich diese Kritik im Einzelnen widerlegen lässt. Die Frage nach einer sinnvollen und vernünftigen RP ist mit diesen Überlegungen gerade neu eröffnet. 3 „Gemeindepädagogik“ Die Gemeindepädagogik ist eine Aufgabe von grundlegender religionspä‐ dagogischer Bedeutung. Ihr bisher ungelöstes Theorieproblem ist ihre Iso‐ lierung neben und innerhalb der Erwachsenenbildung und der RP insge‐ samt. Faktisch wird RP derzeit mit dem fast ausschließlichen Blick auf den RU in der Schule betrieben, die Gemeindepädagogik mit Blick auf die pädagogischen Handlungsfelder in der Gemeinde. Diese Nebeneinan‐ derstellung bleibt schon deshalb unzureichend, weil in beiden Bereichen grundlegend gleiche religionspädagogische Bedingungen sowie religionsdi‐ daktische Prinzipien gelten bzw. gelten müssen (→ Einleitung). 35 3 „Gemeindepädagogik“ <?page no="36"?> „Gemeindepädagogik“ wurde erstmals 1973 von Enno Rosenboom an‐ gesichts didaktisch und konzeptionell unzulänglicher Gemeindearbeit pro‐ grammatisch gefordert. Wichtigster Grund ihrer Entstehung war die Ein‐ sicht, dass das pädagogische Handeln in der Gemeinde faktisch auf den Konfirmandenunterricht beschränkt und dieser weitgehend ohne Kenntnis modernen pädagogischen Wissens und überhaupt fast ohne Theoriebildung geblieben war. Die sinnvolle und wirksame „Kommunikation des Evange‐ liums“ erfordert aber in allen ihren Bereichen pädagogische Einsichten. Die Gemeindepädagogik nimmt die alte „Katechetik“ in neuer Weise in sich auf, reflektiert darüber hinaus insbesondere die in der Gemeinde handelnden Personen (vor allem die Mitarbeiter), die religiöse Erziehung in der Familie, den kirchlichen Kindergarten, Kindergottesdienst, Konfirman‐ den- und Jugendarbeit, Evangelische Erwachsenenbildung und Altenarbeit. „Gemeindepädagogik“ ist also Überbegriff für alle Formen pädagogischer Aktivität im Bereich der Kirchengemeinde. Von Anfang an sind die Erwartungen an die neue Gemeindepädagogik sehr unterschiedlich gewesen: Soll sie den Gemeindeaufbau vorantreiben? Ist sie zur pastoralen Kompetenz-Stärkung da? Soll sie die konzeptionelle Vernetzung der Gemeindearbeit reflektieren? Oder soll sie eine entspre‐ chende gemeinde-spezifische religiöse Didaktik entwickeln? Die beiden letzteren Posten dürften zumindest als ihre Hauptaufgabe anzusprechen sein. Inzwischen hat sich allerdings auch die grundlegende und für die gesamte RP folgenreiche Einsicht etabliert, dass die Aktivitäten des Ge‐ meindelebens - einschließlich des Gottesdienstes! - eine fundamental wichtige didaktische Komponente haben, also religionspädagogisch von unverzichtbarer Bedeutung sind. In ihnen wird christliche Religion erfahren, gelebt, und darum immer auch weitergegeben und grundlegend gelernt. Die bekannte Grundformel von Ernst Lange, Aufgabe der Gemeinde sei die „Kommunikation des Evangeliums“, versucht dieser Tatsache auf mehreren Ebenen Rechnung zu tragen. Der Diskurs um die Gemeindepädagogik ist in der gesamten Praktischen Theologie eher am Rand geblieben. Grund dafür mag die schwierige und umstrittene, manchmal schlicht übergangene Zuordnung zur bzw. innerhalb der RP sein. Durch die Orientierung an den gemeindlichen Orten allein lässt sich kaum ein eigenständiges gemeindepädagogisches Konzept erkennen. Inzwischen fordern manche Autoren, die Gemeindepädagogik weiter auszubauen. Klaus Wegenast und Godwin Lämmermann (1994) schlagen für eine theoretische Grundlegung vor, bei den „Alltagserfahrungen ihrer 36 1 Was ist Religionspädagogik? <?page no="37"?> Adressaten“ anzusetzen. Altershomogene wie generationen-übergreifende Gruppen müssen in gleicher Weise im Blick sein. Die „Kommunikation des Evangeliums“ dient als Grundformel; Basis der Arbeit muss eine Erörterung des eigenen Glaubens der Menschen in den Gemeinden sein, jenseits einer kirchlich-theologischen „Behauptungskultur“, im pluralen (interkulturellen und interreligiösen) Kontext der Zeit und im Zusammenhang mit gegenwär‐ tigen Problemen und Fragen. Dafür ist vor allem eine kritische Kompetenz im Umgang mit Informationen und Medien nötig, ferner müssen vor allem neue Zugänge zur Bibel überlegt werden, die das heutige Autonomiebe‐ wusstsein der Menschen ernst nehmen. Auch Christian Grethlein (1994) versteht die Gemeindepädagogik als die „Theorie der Bildung in der Gemeinde“, sieht sie theoretisch also lediglich durch einen spezifischen Ort zusammengehalten. Grethlein stellt jeweils historische Entwicklung, derzeitige Situation, kritische Beurteilung und Handlungsperspektiven der einzelnen Felder zusammen. Aufgenommen in seinen Entwurf ist vor allem der Gottesdienst (Liturgik) als eigener Bereich, ferner sind die Mitarbeiter ausführlich reflektiert. Erstmals zusammengespannt hatte den RU und die gemeindepädagogi‐ schen Felder Karl-Ernst Nipkow 1990 in seinem Band „Bildung als Lebens‐ begleitung und Erneuerung“ ( 2 1992), ohne dort allerdings die Begriffe RP und Gemeindepädagogik breiter zu reflektieren; der Band stellt eine Reihung religionspädagogischer Aktivitäten unter dem Stichwort „Bildung“ entlang des Lebenslaufes dar. Im ersten Teil wird die christliche „Bildungsverant‐ wortung“ aus der Perspektive der Kirche, des neuzeitlichen Christentums und der Gesellschaft verhandelt. Im zweiten Teil des Buches begegnen die klassischen Felder religionspädagogischer Arbeit: Familie, Kindergarten, Kindergottesdienst, Konfirmandenarbeit, RU, Erwachsenenbildung. Die neueste gemeindepädagogische Entwicklung zeigt eine verstärkte Aufnahme des Bezugs zur Alltagswirklichkeit der Menschen in den Gemein‐ den: der Lebensweltbezug des christlichen Glaubens und Lebens scheint ein zentrales Thema zu werden. Die Gemeinde gilt dann weniger als Ziel, eher als Lern- und Lebens-Ort eines alltagsbezogenen Glaubens bzw. einer lebendigen christlichen Religiosität. Sinnvoll und notwendig scheint darüber hinaus eine Vernetzung der Gemeindepädagogik mit den weiteren Theoriefeldern innerhalb der RP. 37 3 „Gemeindepädagogik“ <?page no="38"?> 4 RP als Wissenschaft Das wissenschaftliche Selbstverständnis der RP Historisch steht die neuere RP im Zusammenhang mit der Praktischen Theologie. Diese verstand sich zunächst als Pastoraltheologie, d. h. als Refle‐ xion der pfarramtlichen Tätigkeiten innerhalb der Gemeinde. Ihre wissen‐ schaftliche Begründung hatte sie wiederum durch Friedrich Schleiermacher erhalten. In der Schrift „Kurze Darstellung des theologischen Studiums“ wird sie als „Kirchenleitung“ bezeichnet, die die „Kunstregeln“ ermittelt, die zur „Verbesserung“ des kirchlichen Lebens beitragen; dieses wird als freier religiöser Austausch der Menschen im Rahmen der christlichen Tradition verstanden. Die RP ist von dieser Auffassung nachhaltig geprägt; ihre weitere Ent‐ wicklung vollzieht sich im Wesentlichen parallel zu der der Praktischen Theologie insgesamt. Ihr wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis ist darum zunächst das einer Handlungswissenschaft, die Praxis reflektiert und verbessert. Die Handlungswissenschaft wird heute aber nicht mehr als durchgängiges Paradigma verstanden. Wichtige Bereiche wären nicht unter diesem Begriff zu fassen - etwa die Frage nach der Präsenz von Religion heute, die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Bildung und von Glaube und Lernen, die Frage nach der Besonderheit religiöser Lernprozesse, die wissenschaftstheoretische Zuordnung der RP zu Lerntheorie, Ästhetik, Neurophysiologie usw. Das wissenschaftliche Selbstverständnis der RP änderte sich bereits im zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der „Problemorientierten“ Konzeption (→ 3.4) und dem Einbezug der Sozialwissenschaften zu einer Empirischen Wissenschaft. Klaus Wegenast sprach hier von der „empiri‐ schen Wende“ der RP. Allerdings kann Empirie allein die Fragen der RP ebenso wenig lösen wie die Handlungsorientierung; sie bleibt als Teil unverzichtbar, muss aber durch Hermeneutik, d. h. Verstehen von Texten, aber auch durch Subjekt- und Lebenshermeneutik, also von Auffassungs- und Lebensweisen ergänzt werden (→ 16.4). Seit den 1980er Jahren wird die klassische Texthermeneutik erweitert und ergänzt durch eine religiöse Kulturhermeneutik (→ 16.4). Religiöse Lernprozesse können nur gelingen, wenn die religiösen Kulturtraditionen, religiöse Dimensionen der Gegenwartskultur und religiöse Lebensmuster 38 1 Was ist Religionspädagogik? <?page no="39"?> durchschaut und in ihrer Bedeutung für Menschen und Gesellschaft ver‐ standen werden; religiöses Lernen lässt sich nicht unabhängig von der Lebenswelt und von persönlichen Bezügen und Verstehensweisen betreiben. Im Zusammenhang mit dieser Neuorientierung wurde oft auch von einer Wahrnehmungswissenschaft gesprochen. Wenn RP als „Theorie der Praxis christlicher Lern- und Bildungsprozesse“ (TRE 28, 702) verstanden wird, dann ist diese Praxis vor einem gesellschaftlichen, kulturellen, lebenswelt‐ lichen und kulturreligiösen Hintergrund verstanden. RP als interdisziplinäre „Verbundwissenschaft“ RP ist der theologische Spezialfall interdisziplinären Arbeitens, da sie mehr als jedes andere theologische Fach auf Öffentlichkeit bezogen ist und die allgemeine Plausibilität christlich-religiösen Lernens zur Frage hat. Das Interesse der RP richtet sich generell nicht nur auf die „Weitergabe“ christlicher Gehalte, sondern zugleich damit notwendigerweise auch auf die Frage nach deren Verstehbarkeit, nach deren Annehmbarkeit und ihrer nach Situation und Person verschiedenen Wirkung. Sie betreibt also religiöse Kommunikation vor einem christlichen Hintergrund und Interesse, und bereits aus der mehrperspektivischen Struktur der Kommunikation lässt sich die Verwiesenheit der RP auf andere Wissenschaften gut ablesen. Welche Disziplinen sind gemeint? In der RP gilt die übliche Annahme, sie stünde vor allem zwischen christlicher Theologie und allgemeiner Pädagogik. Allerdings ist die RP weder ein Spezialfall der Pädagogik, die allgemeine pädagogische Strategien sozusagen mit theologischen Gehalten aufrüsten könnte - auch wenn die RP an manchen Hochschulen als Teilfach der Erziehungswissenschaften geführt ist und von religionspädagogischen Autoren wie Gert Otto, Günter R. Schmidt u.a wissenschaftstheoretisch so zugeordnet wurde; die Religion käme hier in ihrer umfassenden Bedeutung zu kurz, die eigenständige Herkunft und die sehr spezifische Fragestellung der RP wären unterbewertet. Noch ist sie eine Anwendung der Theologie; denn so müsste sie von der vorausliegenden Wahrheit und Gültigkeit theologischen Denkens ausgehen und könnte die religiösen Einstellungen, Bedürfnisse, Erfahrungen der Menschen immer nur als sekundär betrachten. Unklar bleibt beim Rekurs auf die Pädagogik, warum nicht die weiteren Sozialwissenschaften (Psychologie, Soziologie usw.) oder die Religionswis‐ senschaft den Bezugspartner abgeben könnten. Nicht gesehen wird meist auch, dass die Theologie in der Pädagogik faktisch kaum wahrgenommen 39 4 RP als Wissenschaft <?page no="40"?> wird. Der Bezug zur Pädagogik ist für die RP zwar konstitutiv, nicht aber als feststehender Verbund, sondern im Sinne gegenseitiger Gesprächspartner, deren Verhältnis kein exklusives sein kann. Der Begriff „Verbundwissen‐ schaft“ ist darum eigentlich unglücklich. Eine sinnvolle Einschätzung wäre: RP ist eine empirisch, hermeneutisch und kulturwissenschaftlich arbeitende theologische Disziplin, die allerdings fundamental angewiesen ist auf Bezüge zu mehreren Nachbarwissenschaften. Die Betonung liegt also auf dem zwischen: RP nimmt grundlegende Einsichten von Pädagogik und anderen Wissenschaften in sich auf, allen voran die an der Entfaltung des Menschen interessierte Bildungstheorie; dennoch darf sie als eine theologische Diszi‐ plin gelten, die in christlichem Interesse alle Formen religiösen Lernens und Bildens untersucht. Die RP und die Theologie Noch einmal komplizierter als die Einordnung der RP in den Zusammenhang der Wissenschaften ist ihre innertheologische Zuordnung. Die Katechese konnte noch relativ leicht als Anwendungsdisziplin theologischen Sachwis‐ sens verstanden werden. RP aber hat es mit Religion (→ 2.2, 18) zu tun, die mehr ist als christlicher Glaube. Geht es also um Religion oder ums Christliche? Oder um Glauben? Um dogmatisch bestimmte Lehre? Was sind die religionspädagogischen Inhalte? Muss Religion über Theologie verstanden werden oder umgekehrt? Die Zuordnung der RP zur Theologie ist also klärungsbedürftig, ähnlich wie ihr Bezug zu Kirche und Gemeinde. Sinnvoll scheint ein Bezug auf die übergeordnete Größe der christlichen Religion, verstanden als eine Dimension der Kultur, die Theologie und Kirche in sich begreift. Im katholischen Bereich lassen sich wiederum parallele Zuordnungen vornehmen. Allerdings muss eine terminologische Differenz beachtet wer‐ den: RP gilt hier oft als Teildisziplin der „Katechetik“, die dann Überbegriff über alles religiöse Lernen ist. Wenn RP als theologische Disziplin aufgefasst wird, dann stellt sich die Frage nach ihrer Bedeutung und ihrem Ort innerhalb des theologischen Fächergefüges (→ 7.2). Die RP ist zunächst Teil der Praktischen Theologie. Diese erforscht christliche Praxis, d. h. die christlichen Lebensvollzüge; sie analysiert diese Praxis und versucht sie anhand eigens reflektierter Kriterien zu fördern bzw. zu verbessern. Dazu ist der Blick auf „Religion“ auch außerhalb des Christlichen inzwischen unverzichtbar geworden. Die RP 40 1 Was ist Religionspädagogik? <?page no="41"?> bedenkt darum das Vorkommen und die Bedeutung von „Religion“ auch ganz unabhängig von christlichen Einstellungen und Interessen - etwa in ihren Analysen zur Religion in der Populären Kultur, (→ 14.4) zur Bedeutung von religiösen Einstellungen für die Lebensführung usw. Die theologischen Fächer Altes und Neues Testament kommen als di‐ rekte wissenschaftliche Partner der RP weniger in Betracht. Sie geben die biblischen Themenbereiche vor; da sie in ihrer Auslegung der Schrift (Exegese) nahezu ausschließlich „historisch-kritisch“ verfahren, tragen sie aber wenig zur Identifikation mit den biblischen Gehalten heute bei. Aus religionspädagogischer Sicht zeigt die Exegese ein markantes hermeneuti‐ sches Defizit. Eher wäre die Bibel darum als Kunde von Erfahrungen und im Sinne einer heutigen Wiedererkennbarkeit, d. h. auf mögliche aktuelle Bedeutungszusammenhänge hin zu befragen - was in den exegetischen Fächern wenig Tradition hat. Vergleichbares gilt für die Kirchengeschichte. Anders ist das bei der Systematischen Theologie, die weitgehend als direkte Bezugs- oder gar Leitwissenschaft der RP gilt - trotz der Tatsache, dass gerade Praktische Theologen dort nicht die größte Wertschätzung genießen. Primäre Bezugswissenschaft Systematik? „Die verwickelte, komplexe Korrelation von Lebenswelt und religiöser Tradition läßt sich nicht unter der Dominanz theologischer Erkenntnismuster vereindeuti‐ gen.“ (Beuscher/ Zilleßen 1998, 42) Eine Vorordnung der Systematik kann also nicht mehr überzeugen. RP hat, wie gezeigt, ein großes Gebiet, das über die „Umsetzung“ von Inhalten, die von anderen theologischen Wissenschaftszweigen „vorgegeben“ werden könnten, deutlich hinausgeht. Kann die Systematik also primäre Bezugswis‐ senschaft sein? Da sie grundsätzlich positionell denkt, wäre zunächst zu fragen: welche Systematik ist gemeint? Es ergeben sich aber auch prinzipi‐ elle Probleme der Zuordnung. Denn die RP bemerkt Wirkungslosigkeit und Plausibilitätsmangel einer hoch spezialisierten systematischen Theologie, die für Leben und Alltag bedeutungslos und fremd bleibt. Wie verhält sich etwa die „Rechtfertigung allein aus Glauben“ zu den gängigen diffusen religiösen Sehnsüchten? Was heißt „Erlösung“ für einen Hauptschüler? Die Systematik kann hier oft keine einschlägigen Antworten oder Richtungsan‐ weisungen geben. Ihre Hermeneutik, ihr methodischer Schlüsselbereich, ist 41 4 RP als Wissenschaft <?page no="42"?> faktisch stark eingegrenzt auf Texte der Vergangenheit: Bibel, Bekenntnis und vor allem die dogmatische Lehrtradition des Christentums. Hier hat die Systematik auch ihre unverzichtbare Aufgabe. Nur: müssten nicht auch Gegenwartsfragen und -erfahrungen hermeneutisch „gelesen“ werden kön‐ nen? Der Wahrheitsgehalt von Texten entscheidet heute mitnichten mehr über deren Akzeptanz und mögliche Tradierung. Systematik als sinnvolles Gegenüber der RP braucht darum eine Subjekt- und Lebenshermeneutik und muss die Relativität von Historie und Erkennen mitbedenken - das aber ist eine Kritik, die der Systematik von der RP gestellt wird. Gängige Gegenüberstellungen wie Glaube und Handeln, Inhalt und Me‐ thode, Theorie und Praxis, auch Situation und Tradition, greifen offensicht‐ lich generell zu kurz. Es gibt nicht „die“ Bezugswissenschaft für die RP. Die RP kann - und sollte! - ihrerseits Bezugswissenschaft für andere (nicht nur theologische) Disziplinen sein. An dieser Stelle liegt sogar die Vermutung nahe, dass der Geltungsverlust der klassischen Theologie als Fachwissen‐ schaft durch Gegenwartsblindheit Rückzüge ins „Eigentliche“ fördert - was zwar der internen Sicherung dient, faktisch aber zu einem weiteren öffentlichen Geltungsverlust führt und damit zum eigenen Schaden. RP wie Praktische Theologie insgesamt haben sich deshalb inzwischen zum Anwalt des Gegenwartsbezugs von Theologie gemacht, um Gehalt und Sinn christlich-religiösen Lernens und Tuns unter modernen Bedingungen zu erschließen. 5 Wichtige Entwürfe und grundlegende Literatur Die religionspädagogische Literatur ist kaum noch zu überschauen. Das verhält sich ähnlich wie in anderen Wissenschaften, ist aber doch auffällig für ein so junges Fach. Auffällig ist auch, dass sehr viele Veröffentlichungen zu Einzelfragen vorgelegt werden, in letzter Zeit verstärkt zur Religion in der gegenwärtigen Lebenswelt, vor allem natürlich zu Fragen des Religionsun‐ terrichts, und immer häufiger sind es empirische Spezialuntersuchungen. Es gibt eine Reihe von Überblickswerken, allerdings sehr wenige konzeptuell eigenständige Entwürfe, also Gesamtdarstellungen eigenen Zuschnitts. 42 1 Was ist Religionspädagogik? <?page no="43"?> Gesamtentwürfe und Kompendien Karl-Ernst Nipkow: Grundfragen der Religionspädagogik, 3 Bände, Gütersloh 1975- 1982. Lange Zeit das prägende Werk der RP und höchst verdienstvoll; hat mitge‐ holfen, die RP als eigenständige Wissenschaft zu etablieren, u. a. durch mehrfache fachliche Innovationen (z. B. den Einbezug der entwicklungspsychologischen Forschung, → 4.4). Das Plädoyer für „mehrperspektivische“ Zugänge bleibt etwas uneindeutig. Nipkow lehnt eine Begründung der RP im Religionsbegriff ab und zeigt ein deutlich kirchlich-institutionelles Begründungs-Interesse; ästhetische und wahrnehmungsbedingte Zugänge kommen (noch) nicht in den Blick. Heinz Schmidt: Leitfaden Religionspädagogik, Stuttgart 1991. Der Band stellt Grund‐ fragen der RP anhand der Begriffe Erziehung, Sozialisation, Lebensgeschichte, Religion und Religiosität mit gutem Blick für die gegenwärtige Weltsituation dar. Die Bereiche Kindererziehung, RU, Konfirmandenarbeit und Erwachsenen‐ bildung stehen gleichrangig nebeneinander. Ein kleiner, gehaltvoller Band, der mit hohem Problembewusstsein nachvollziehbar religionspädagogische Grund‐ fragen bearbeitet und zu plausiblen Orientierungen führt. Trotz Fehlen des Bildungsgedankens und ästhetischer Zugänge zur Religion nach wie vor sehr empfehlenswert zur Orientierung im Fach. Christian Grethlein: Religionspädagogik, Berlin/ New York 1998. Ein als Gesamtdar‐ stellung konzipiertes Lehrbuch, das im 1. Teil die Geschichte der RP, im 2. Teil die heutigen lebensweltlichen Bedingungen (besprochen werden: Entwicklungs‐ psychologie, Gesellschaft und Kirche, nicht aber das religiös zentral bedeutsame existenzielle Erleben und Fragen) und im 3. Teil die Orte der RP darstellt, zu denen neben Familie, Schule und Gemeinde auch die Medien gezählt werden. Stark historisch ausgerichtet, mit deutlich kirchlichem Begründungsbezug und viel statistischem Belegmaterial. Norbert Mette: Religionspädagogik, Düsseldorf 3 2006 (1994). Der katholische, öku‐ menisch offene Band beginnt beachtlich und lesenswert bei Herausforderungen durch die gegenwärtige Welt und der „manifeste(n) Erfolglosigkeit“ der RP. Die wichtigen religionspädagogischen Lernorte werden gleichberechtigt neben den RU gestellt. Ein eigener didaktischer Teil „Vermittlungen“ bringt als Pointe die religiöse „Mystagogie“. Mette sieht die Erfahrungen in der Glaubensgemeinschaft als Ausgangspunkt der RP und orientiert sich etwas einseitig an Befreiungstheo‐ logie und Handlungstheorie. Friedrich Schweitzer: Religionspädagogik, Gütersloh 2006. Eine betont evangelische und gründliche Darstellung aller einschlägigen Themenbereiche der RP, die den Bildungsgedanken ernst nimmt, allerdings stark am RU ausgerichtet ist. 43 5 Wichtige Entwürfe und grundlegende Literatur <?page no="44"?> Religion, religiöses Erleben, religiöses Lernen und Religionsdistanz werden nicht thematisiert. Martin Rothgangel/ Gottfried Adam/ Rainer Lachmann: Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 7 2012. Übersichtliches, in aufsatzähnliche Kapitel ge‐ gliedertes Standardwerk, das in seiner ausschließlichen Konzentration auf den Religionsunterricht eigentlich Kompendium des RU heißen müsste (vgl. Grethlein 1998, 190 Anm. 859). Besonders aspektreich werden die Schüler thematisiert. Der Beitrag von Domsgen streift die Frage des religiösen Lernens; Religion und Religionsdistanz kommen als eigene Themen nicht vor. Gottfried Adam/ Rainer Lachmann: Neues Gemeindepädagogisches Kompendium, Göttingen 2008. Übersichtlicher Abriss der religionspädagogischen Arbeitsfelder im Bereich der Kirchengemeinde, von Kindergottesdienst über Kirchenpädagogik bis Kirchentag unter dem Leitbild einer „Kommunikation des Evangeliums“, das allerdings ebenso wie das zu Grunde gelegte Bildungsverständnis als rationale Selbstklärung verstanden wird, während die emotionalen und ästhetischen Di‐ mensionen religiösen Lernens nicht bearbeitet sind. Problematisch ist auch die Abtrennung vom schulischen RU. Bernd Schröder: Religionspädagogik, Tübingen 2012. Ein über 700 Seiten umfassen‐ des, eindrucksvolles und sehr gründliches Werk zu allen Themen der RP, das sogar religiöses Lernen in anderen Religionen und Ländern streift, einen starken historischen Schwerpunkt setzt und eher wissenschaftlich orientiert ist. Frank Thomas Brinkmann: Religionspädagogik. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 2013. Kein anderes Buch führt auf so kluge und instruktive Weise in die grundlegenden Fragestellungen, aber auch die vielen möglichen Perspektivierungsmöglichkeiten der RP ein wie dieses. Es ist erkennbar das Werk eines versierten Didaktikers und ist vor allem für Studierende der RP wärmstens zu empfehlen, die die wichtigsten Stoffe der RP anhand der hier eröffneten Fragestellungen, aber auch durch die erhellenden Einführungen und Anekdoten erheblich besser abspeichern werden als durch ein trockenes Lehrbuch. Reinhold Boschki: Einführung in die Religionspädagogik, Darmstadt 3 2017. Mit 140 Seiten ein sehr knappes, sehr übersichtliches Werk, das auch die Gemeindepä‐ dagogik integriert und sinnvoll mit den Fragen nach Religion und religiöser Erfahrung, individualisierten Lebensverhältnissen und einem historischen Über‐ blick beginnt, Didaktik und ästhetische Zugänge zur Religion aber nur streift. Michael Domsgen: Religionspädagogik, Leipzig 2019. Eine ausgezeichnete Darstel‐ lung der gegenwärtigen Fachdiskussion, über 500 Seiten, leider mit sehr un‐ übersichtlichem Inhaltsverzeichnis. Neben problemgeschichtlichen, empirischen, systematischen und handlungsorientierten Perspektiven mit sehr vielen plausibel 44 1 Was ist Religionspädagogik? <?page no="45"?> benannten Herausforderungen stehen begrifflich irritierend im 5. Teil „religions‐ pädagogische Perspektiven“, die unter dem hier allein verhandelten Begriff „Em‐ powerment“ Teile von dem aufnehmen, was eigentlich unter Bildung verstanden werden kann. West- und ostdeutscher Kontext kommen gleichermaßen zur Spra‐ che. Die unendlich vielen beschriebenen Kontextbedingungen der RP überdecken eine klare Fokussierung der Aufgabe und einer konkreten Idee für die Praxis. Der an sich plausible Bezug zur „Kommunikation des Evangeliums“ bleibt unklar, religiöses Erleben und existenzielles Fragen erhalten keinen strukturbildenden Ort. Nachschlagewerke Lexikon der RP, hg. von Norbert Mette und Folkert Rickers, Neukirchen 2 2007. Ein Lexikon für fast alle Stichworte des Fachs. Ausgesprochen informativ; die Artikel sind allerdings von recht unterschiedlicher Qualität. Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, hg. von Gottfried Bit‐ ter/ Rudolf Englert/ Gabriele Miller/ Karl Ernst Nipkow, München 2 2002. Löst das alte „Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe“ ab. Übersichtliche Darstellung in Kurz-Essays, die bemerkenswert aktuelle Themenstellungen auf‐ greifen - z.B.: Religiöse Bildung, Ziele religionspädagogischen Handelns, Sym‐ bolhandlungen, Mythen und Märchen, Glück, Sehnsucht, Neue Medien, Religion in der Kindheit, Spirituelle Bildung, Religiöse Milieus, uva. - einschließlich der Religionsdidaktik (Erzählen, Umgang mit Bildern usw.). Sehr empfehlenswert! WiReLex (https: / / www.bibelwissenschaft.de/ wirelex/ wirelex/ ): Wissenschaft‐ lich-Religionspädagogisches Lexikon, im Internet seit 2015 mit derzeit über 500 recht umfassenden Artikeln von sehr unterschiedlicher, oft aber recht guter Qualität. Hubertus Halbfas: Das Christentum. Erschlossen und kommentiert, Düsseldorf 2 2005. Großartiger, engagierter, erstaunlich sachkundiger und im besten Sinne kritischer Überblick über Geschichte und Denken des Christentums. Eine reich il‐ lustrierte Fundgrube in hervorragenden, erhellenden thematischen Längsschnit‐ ten. Ausgesprochen empfehlenswert. Hubertus Halbfas: Der Glaube, Ostfildern 2010. In seiner kompakten und klaren Darstellung ein ähnlich reicher Fundus für die eigene Reflexion und für die Erarbeitung von Schülermaterial. 45 5 Wichtige Entwürfe und grundlegende Literatur <?page no="46"?> Empfehlenswert für Einblicke in religionspädagogische Grundfragen: Rudolf Englert: Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbildung, Stuttgart 2 2008. Ein ausgezeichneter Band mit scharfem Blick und bemerkenswer‐ ten Reflexionen zu grundlegenden Fragen und Problembeständen der RP, so z. B. zum Interreligiösen Lernen und seinen oft nivellierenden Folgen, zur Bedeutung der Zivilreligion, zum Problem der religiösen Tradition als „Resonanzraum“ für heutige Lebensdeutung, den neuen Bildungsstandards usw. Karl-Ernst Nipkow: Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, München 5 1997. Gehaltvolles kleines Bändchen vor allem zu den religiösen Fragen von Kindern und Jugendlichen und zum religiösen Lebenslauf. Noch immer sehr empfehlenswert. Hans-Jürgen Fraas: Die Religiosität des Menschen. Religionspsychologie, Göttingen 2 1993. Kompendienartige Darstellung der Entstehung und lebensgeschichtlichen Entwicklung von Religiosität, der religiösen Erfahrung, verschiedener Frömmig‐ keitsformen und des Zusammenhangs von Religion und Persönlichkeit. Unbe‐ dingt lesenswerte, unmittelbar einleuchtende und für viele Grundfragen der RP bedeutsame Überlegungen. Hartmut von Hentig: Bildung. Ein Essay, Weinheim 8 2009. Großartiges, pädagogisch klares, höchst plausibles und nachdenkenswertes Plädoyer für eine Bildung, die diesen Namen wirklich verdient. Bernd Beuscher/ Dietrich Zilleßen: Religion und Profanität. Entwurf einer profanen Religionspädagogik, Weinheim 1998. Ein hoch interessanter Entwurf, der ein‐ gespielte Sichtweisen radikal in Frage stellt, das aber mit oft überraschender Plausibilität; kommt immer wieder zu sehr ursprünglichen und religionspädago‐ gisch bedeutsamen Einsichten in das Wesen der christlichen Religion. Schauß, Uwe: Sag, wie hast du’s mit der Religion? Ein didaktischer Leitfaden für den Religionsunterricht in der Oberstufe, Stuttgart 2 2017. Das Buch ist weit mehr als ein didaktischer Leitfaden, wohl die derzeit beste Einführung in das christliche Denken überhaupt. Es verbindet exegetische Befunde erhellend und in klarer Gedankenführung mit den christlichen Grundthemen Gott, Christus usw. Ausgesprochen empfehlenswert! John Shelby Spong: Was sich am Christentum ändern muss. Ein Bischof nimmt Stellung, Düsseldorf 2004. Ein beeindruckendes Buch, das die massiven Verän‐ derungen im religiösen Feld sehr klar benennt und ausgesprochen erhellend ist. An die Stelle eines eigentlich absurden frommen Faktenglaubens stellt der tief religiöse Bischof Spong eine religiöse Deutung des Christentums, die sehr 46 1 Was ist Religionspädagogik? <?page no="47"?> überzeugend ist. Jedem Religionspädagogen ist eine derartige Aufarbeitung dringend zu empfehlen. Zusammenfassung Die RP hat sich als Reaktion auf die massiven Veränderungen durch die Moderne herausgebildet und bereits eine bewegte Geschichte hinter sich. Zwar wurde schon immer religiös gelehrt und gelernt, spätestens seit der Aufklärung aber stößt eine traditionsgeleitete Glaubenserzie‐ hung (Katechetik) an Grenzen. Die RP bedenkt darum den größeren Bereich der Religion, ihr Vorkommen in der gegenwärtigen Lebenswelt und Bedingungen und Möglichkeiten religiösen Lernens. Sie orientiert sich im christlichen Interesse am Leben der Menschen. Sie ist eine interdisziplinäre Wissenschaft und Teil der Praktischen Theologie. Zu ihr gehören auch Gemeindepädagogik und Religionsdidaktik. Literatur Zu 1: TRE 28, Art. RP - NHRPG I.6 - U. Hemel: Theorie der RP, 1984. Zu 2: B. Schröder 2012, 17-165 - M. Meyer-Blanck 2003 - TRE 28, Art. RP, 4. - C. Grethlein 1998, 1-216 - NHRPG I.5 - N. Mette 2006, 57-101. Zu 3: G. Adam / R. Lachmann 2008 - NHRPG IV.2.5. Zu 4: R. Lachmann in Ritter/ Rothgangel 1998, 36-49 (RP und Systematische Theolo‐ gie) - K. Wegenast ebd. 63-80 (RP und biblische Wissenschaft) - G. Lämmermann ebd. 81-93 (RP und Praktische Theologie) - M. Rothgangel/ E. Thaidigsmann 2005 - R. Englert 2008 Kap I. 47 Literatur <?page no="48"?> 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung „Was durch Kunst und fremde Tätigkeit in einem Menschen gewirkt werden kann, ist nur dieses, daß ihr ihm eure Vorstellungen mitteilt und ihn zu einem Magazin eurer Ideen macht … aber nie könnt ihr bewirken, daß er die, welche ihr wollt, aus sich hervorbringe.“ (Schleiermacher 1981, 293) Religion ist für die meisten Menschen heute eine Sache der inneren Einstel‐ lung und des Gefühls - also eine sehr private Angelegenheit. Ähnlich privat ist allenfalls der Bereich der Sexualität. In die eigene Privatsphäre lässt man sich nicht gern hineinreden, man gestaltet und verantwortet sie selbst. Für die Religion heißt das: religiöse Vorgaben, Verbindlichkeiten, Autoritäten und Normen haben für die meisten Menschen praktisch keinen Kredit mehr. Die traditionellen Formen religiösen Lehrens und Lernens kommen damit in massive Schwierigkeiten. Mehr noch: wenn Religion Sache der eigenen inneren Einstellung ist, dann muss bezweifelt werden, ob sie gelernt werden kann wie eine physikalische Formel oder ein historisches Datum. Beruht die ganze RP also auf einer unsinnigen Voraussetzung? 1 Glauben lernen: Katechetik Katechese und Katechismus Die Weitergabe des Glaubens war im Christentum immer katechetisch strukturiert. „Katechese“ bezeichnet die Glaubensunterweisung der Kirche, die die grundlegenden dogmatischen Inhalte und Prinzipien der christlichen Lebensführung in elementaren lernbaren Sätzen präsentiert. Dazu zählten von Anfang an vor allem das Glaubensbekenntnis (Allmacht, Schöpfertum und Heilswille Gottes, Gottessohnschaft Jesu, Erlösung am Kreuz, Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen, Hl. Geist, Trinität, Auferstehung), das Va‐ terunser, später die wichtigsten Gebote und kirchlichen Verhaltensnormen; noch später traten die Sakramente dazu. „Der Gegenstand der Katechisation ist der kanonische Text aus Bibel und Bekenntnis“ (TRE 17, 696). <?page no="49"?> Der Begriff katecho meint wörtlich „von oben herab antönen“, generell jedes religiöse Unterrichten. Die Katechese folgt einer einfachen Methodik von vorgegebener (Lehr-) Frage und Antwort und ist damit eine Art Ur‐ form der Pädagogik. Die Bezeichnung „Katechet“ für den Religionslehrer gibt es bis heute. „Katechetik“ war auch die übliche Bezeichnung für die Christenlehre in der ehemaligen DDR und für die Diskussion um den Kon‐ firmandenunterricht (→ 8.3,4). Umfassend wird der Begriff im katholischen Bereich gebraucht, wo er oft den Bereich dessen meint, der hier unter RP gefasst ist. Katechismen als Bücher gibt es seit der Reformation. Der Katechismus meint übertragen die verdichtete Zusammenfassung der Glaubensinhalte, dessen also, was Christentum bedeutet, und zugleich dessen lehrende Weitergabe. Katechismusbücher waren seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht neben der Bibel auch die Grundbücher des allgemeinen Schul‐ unterrichts. Katechismen haben aufgrund ihrer konzentrierten theologischen Aussa‐ gen auch eine identifizierende Bedeutung für die Glaubensgemeinschaft. Manche von ihnen haben den Rang von Bekenntnisschriften; so etwa der verbreitetste überhaupt, der Kleine Katechismus Luthers, oder der Heidel‐ berger Katechismus, das Grundbuch der Reformierten. Verbreitet ist auch der sehr offen und modern gestaltete „Evangelische Erwachsenenkatechis‐ mus“ (seit 1975 in vielen Auflagen). Auch in der katholischen Kirche gibt es bis heute eine ganze Reihe von ganz unterschiedlichen Katechismen. Der Kleine Katechismus Luthers (1529) sticht in dieser Reihe immer noch hervor. Er richtete sich zunächst nicht ans Volk, sondern an die Hausväter zur Unterweisung der ihnen Anvertrauten. Anlass war Luthers ernüch‐ ternde Erfahrung mit der damaligen religiösen Grundbildung, verbunden mit seiner Forderung nach eigenständigem Wissen und Verantwortung der eigenen Glaubensantwort. Er bringt darum als christliche „Hauptstücke“ die Zehn Gebote (die als „Gesetz“ vorgeschaltet sind, um dem Menschen seine Situation vor Gott zu zeigen), das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, sowie die Sakramente Taufe und Abendmahl (- nur diese zwei, so die refor‐ matorische Lehre, sind von Jesus Christus selbst eingesetzt und gewollt). Diese Auswahl der zentral wichtigsten Stücke, der geringe Umfang von wenigen Druckseiten, der durchsichtige Aufbau und vor allem der recht konkrete Lebensbezug führten zu einer enormen Verbreitung. Über 200 Jahre haben Schüler damit das Lesen gelernt. Luther gibt kurze, einprägsame Auslegungen, die die existenzielle Bedeutung der Lehrsätze herausstellen. 49 1 Glauben lernen: Katechetik <?page no="50"?> Das war für die Zeit des ausgehenden Mittelalters ein ungewohntes Vorge‐ hen, das bereits die Neuzeit ankündigte. Berühmtes Beispiel ist die Kommentierung des ersten Artikels im Glau‐ bensbekenntnis: Die theologische Vorgabe „Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde“ wird mit der katechetischen Frage verbunden: „Was ist das? “ (Was heißt das? ). Als Antwort ist formuliert: „Ich gläube, daß Gott mich (! ) geschaffen hat sampt allen Kreaturn, mir Leib und Seel, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuch (Schuhe), Essen und Trinken, … (mich) mit aller Notdurft und Nahrung dies Leibs und Lebens reichlich und täglich versorget …“ Luther übersetzt hier abstrakte Aussagen in verständliche Zusammenhänge und macht deutlich, was christlicher Glaube im konkreten Leben bedeuten kann. Bezeichnend ist auch, dass Luther die auslegenden Antworten auf die einzelnen Gebote jeweils mit dem Satz einleitet: „Wir sollen Gott fürchten und lieben…“. Alle Gebote sind Ausdruck einer Beziehung zwischen Gott und Mensch, in der der Mensch Gott in Ehrfurcht und Vertrauen zugleich begegnet. Die neuere Entwicklung der Katechetik Im engeren Sinne ist die Katechetik eine „Frucht der späten Aufklärung in Deutschland“ (TRE 17, 686); ihre altkirchlichen Wurzeln gehören dann in die Vorgeschichte der Katechetik. Seit dem 18. Jh. wurde gegen die „blinde“ Katechetik die sog. „Sokratik“ gestellt, eine Gesprächsmethode, die gegen mechanisches Auswendiglernen die vernünftige Einsicht setzte, sich methodisch aber nach wie vor am Wechsel von Frage und Antwort ausrichtete. Abgebrochen wurde diese Entwicklung durch die Altprotes‐ tantische Orthodoxie und parallel durch die katholische Neuscholastik (Katechismus von J. Deharbe 1847), die wieder normativ-deduktiv dachten und das Auswendiglernen favorisierten. Im 19. Jh. galt die Katechetik als Teil der pastoraltheologisch (d. h. pfarr‐ amtlich) denkenden Praktischen Theologie. Sie betrieb die Sicherung der kirchlichen Bestände, bedachte aber durchaus auch die religionskritischen Anfragen der Aufklärung und war nach damaligem Stand durchaus pädago‐ gisch orientiert; sie integrierte Einsichten der lehrenden Gesprächsführung; ihr Ziel war bereits die religiöse Mündigkeit. Noch eigenständiger wurde sie 50 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="51"?> gegen Ende des 19. Jh. durch Ausbildung einer eigenen wissenschaftlich-di‐ daktischen Methodik. Parallel dazu entwickelte sich die RP, die sich schon bald von der Katechetik abgrenzte und heute sehr viel weitere Bereiche als die Glaubens‐ unterweisung umfasst - die heutige Lebenswelt, Entwicklungspsychologie, subjektive Zugänge zur Religion, moderne Medien, Bildungstheorie usw. Die wachsende Verkirchlichung des Christentums im 19. Jh. führte die Katechetik zu einer Abschottung: es entstand eine problematische Distanz zur sich schnell entwickelnden, auf Schule bezogenen allgemeinen Pädago‐ gik und zur neu sich bildenden RP. Anfang des 20. Jh., zur Zeit der Liberalen Theologie, versucht die katholische „Reformkatechetik“ dem wieder entge‐ genzusteuern. Obwohl sie normativ bleibt und an den traditionellen Inhal‐ ten festhält, versucht sie, die Adressaten und die Methoden pädagogisch zu verstehen. Die „materialkerygmatische“ Wende beendet - parallel zur Evangelischen Unterweisung - auch diesen Versuch: Sie will wieder die theologischen Inhalte zentral stellen. Die Katechetik ist heute mit drei gewichtigen Problemen konfrontiert. Zunächst zeigt die Tatsache, dass es viele verschiedene Katechismen gibt, dass der Grundbestand der christlichen Lehre nicht auf wahre Sätze redu‐ zierbar, sondern grundsätzlich relativ ist - abhängig von (theologischen, kirchlichen) Interessen und historischer Situation. Noch gewichtiger ist der Umstand, dass jede Katechese ein Einverständnis mit dem Christlichen voraussetzt, das heute immer weniger gegeben ist - schon weil Kirchenzuge‐ hörigkeit, Glauben und Religiosität sich immer weniger decken. Damit hängt schließlich das Problem der Subjektivität von Religion zusammen: Wenn Religion per Lehrsatz gelernt wird, ist damit noch keineswegs sichergestellt, ob sie beim Lernenden überhaupt ankommt und religiös bildend wirkt. Schleiermacher meinte darum, der beste Katechismus sei der, den sich ein Mensch jeweils selbst mache; dazu schienen ihm weniger Lehrsätze, sondern eher das anregende und „religiöse Erregung“ kommunizierende lebendige Gespräch geeignet, in dem Religion zur „Darstellung“ gelangt und in dem jeder Teilnehmer seinen eigenen religiösen Bezug herstellen kann. Katechetisches Ziel war für ihn nicht ein Wissen, sondern „der einzelne soll fähig gemacht werden, an dem Cultus Antheil zu nehmen“ (Kurze Darstellung § 291), also den Gottesdienst zu verstehen und mitzugestalten - eine bemerkenswert moderne religionsdidaktische Idee! Die Katechese kann unter heutigen Bedingungen nicht mehr das grundle‐ gende Modell, Ausgangspunkt und Strukturprinzip religiösen Lernens abge‐ 51 1 Glauben lernen: Katechetik <?page no="52"?> ben. Denn die christlichen Glaubens- und Wissensverluste lassen sich heute weder durch vermehrte katechetische Propagierung von Glaubenswissen noch durch verstärktes Bekennen aufhalten. Nicht nur mangelndes Wissen, sondern vor allem mangelndes Interesse am Christlichen kennzeichnet die Situation. Dem aber ist allein durch den plausiblen Aufweis des Lebensbe‐ zugs des Glaubens zu begegnen, d. h. vor allem durch einladende religiöse Praxis - nicht (mehr) durch normierte Lehre: „Niemand kann Glauben leh‐ ren oder lernen. Wohl aber kann didaktisch abgebildet werden, über welche Formgestalten Gewissheitskommunikation funktioniert.“ (Klie / Leonhard 2008, 16). 2 Religion, religiöses Erleben und religiöses Lernen Was ist Religion? „Religion ist die Kultur der Symbolisierung letzter Sinnhorizonte in der alltags‐ weltlichen Lebensorientierung.“ (Gräb zit. in Hilger u. a. 2001, 111) „Eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet.“ (Nietzsche 1998 Bd. I, 296) „Religion“ war lange Zeit in der RP kein Thema. In der Evangelischen Unterweisung wurde der Begriff abgelehnt (→ 3.2). Von Karl-Ernst Nipkow bis hin zu Michael Domsgen halten ihn viele für ungeeignet für eine Grundlegung der RP. Begründet wird das mit der hohen Komplexität und schweren Greifbarkeit des Phänomens. Das ist nachvollziehbar. Allerdings muss von einer wissenschaftlichen Religionspädagogik erwartet werden können, dass sie hier auskunftsfähig ist; außerdem führt der Verzicht auf den Religionsbegriff dazu, dass nicht Religions-, sondern Christentumpädagogik betrieben wird. Das ist in sehr vielen religionspädagogischen Entwürfen und Arbeiten der Fall, in einer säkularen Wissenschafts- und Weltlandschaft aber nicht mehr überzeugend. Nur wer Religion begreift, kann auch beim religiösen Lernen kompetent sein. Und das kommt dann auch dem christli‐ chen Lernen zugute. Die obenstehende umfassende Definition von Wilhelm Gräb weist Reli‐ gion als eine Kulturform aus, beschreibt Religion also von ihrer sichtbaren, objektiven Seite her. Religion wird nur in allgemein verstehbaren kulturellen Formationen wahrnehmbar. 52 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="53"?> Der Historiker Egon Friedell hat hier den interessanten Vorschlag ge‐ macht, Kultur als dreistufige Pyramide zu verstehen. Auf der unteren Ebene steht die Versorgung. Zu ihr gehört Arbeit, Handel, Essen, Kleidung, Hausbau usw. Auf der mittleren Ebene steht die Absicherung dieser Ba‐ sis-Lebensvollzüge durch Militär, Polizei, Recht Moral und Sitte. Auf der oberen, schmalsten Etage der Kultur befinden sich die „Sinn-Agenturen“ Philosophie, Kunst und Religion. Interessant ist, dass heute die Pyramide auf dem Kopf steht, weil die Versorgung durch Ökonomie, Technik und Konsummarkt die gesamte Lebenswelt dominiert. Die drei Sinnagenturen erscheinen als abgehängt und unwichtig. Entsprechend groß ist die Erfah‐ rung von Sinnlosigkeit und das Sinnbedürfnis der Menschen. Die drei Sinnagenturen sind immer Ausdruck existenzieller Erlebnisse und Fragen. Die Kunst stellt tiefe Erfahrungen in Kunstwerken dar (in Bildern, Plastiken, Dramen, Romanen usw.), die Philosophie in rationalen Überlegungen (Gedanken, Traktaten, Systemen usw.). Religion hat an bei‐ den Anteil: Alles, was sich religiös ausdrückt, ist Kunst - Poesie, rituel‐ ler Vollzug, prachtvolles Gewand, weihevoller Sakralraum. Und religiöses Nachdenken erscheint in Bekenntnis, Glaubenslehre, Theologie. Entschei‐ dend für das Verständnis von Religion ist allerdings, dass sie, anders als Kunst und Philosophie, nicht in diesen Darstellungsformen aufgeht. Ein Kunstwerk ist Kunst, ein philosophischer Traktat ist Philosophie. Religion aber lässt sich nicht veräußerlichen. Sie erscheint „in, mit und unter“ (so Luther zum Altarsakrament) äußeren Formen. Eine lieblos-routiniert heruntergelesene Messe, ein nur kunsthistorisch betrachteter Kirchenraum oder ein Glaubenslehrsatz sind nicht per se schon Religion. Wer die Bibel auswendig aufsagen könnte, wäre noch lange nicht religiös. Religion hat eine symbolische (System-)Logik (→ 10.2, 18.2), bei ihr sind gerade nicht die Zeichen entscheidend, sondern deren Bedeutungsgehalt. Darum wird ihr weder die auf Lehre bezogene Katechetik (→ 2.1) noch die auf wahrnehm‐ bare Gestalt bezogene performative Didaktik (→ 11.5) ganz gerecht. Religion ist weder mit „Glauben“ gleichzusetzen noch, wie Nietzsche sehr klar gesehen hat, mit wissenschaftlicher Theologie - denn diese hat zwar ihr Interessengebiet in der Religion, tendiert aber immer auch dazu, sie analy‐ tisch zu sezieren. Rationale Reflexion ist etwas völlig anderes als lebendige Religion. Es empfiehlt sich ebenfalls mit Nachdruck, beim religiösen Lernen nicht mehr von „Glauben“ zu sprechen. Allzu schnell werden mit diesem Begriff Vorstellungen von Bekenntnissätzen und Dogmen assoziiert, die der Weite der Religion in keiner Weise gerecht werden. Längst ist es allgemein 53 2 Religion, religiöses Erleben und religiöses Lernen <?page no="54"?> üblich geworden, von „Religion“ zu sprechen. „Reli“ ist inzwischen eine übliche Kurzform für RU oder das Theologiestudium. Der kulturelle Niederschlag der Religion ist Bedingung für ihre Kommu‐ nikation und ihre Tradierung. Religion, die keinen kulturellen Ausdruck findet, verblasst, wird unsichtbar und unverständlich; in vereinsähnlichen oder sektiererischen Strukturen koppelt sie sich vom gegenwärtigen Leben ab. Es ist darum eine zwar verbreitete, aber gefährliche Illusion, Religion als eigene und „rein“ zu haltende Sphäre über oder neben dem normalen Leben verstehen und bewahren zu wollen. Es gibt keine lebendige Religion, die sich nicht vorbehaltlos mit den Formen des kulturellen Lebens vermischt. Es gibt darüber hinaus nicht einmal Aussagen oder Ideen, die jenseits kulturbedingten Verstehens Gültigkeit haben könnten, denn „verum et factum convertuntur“ (das Wahre und das kulturell Geschaffene bedingen sich wechselseitig; das „kulturelle Axiom“ von Giambattista Vico). Das religiöse Geheimnis scheint in ihren kulturellen Ausdrucksformen selbst auf, und es ist abhängig von der Art ihrer Präsentation und Inszenierung. Kurz gefasst ist Religion derjenige Bereich der menschlichen Kultur, in dem existenziell bedeutsame Erfahrungen und Fragen in eine übergreifende symbolische Deutung gestellt werden: die „Deutung von Erfahrung im Horizont des Unbedingten“ (Ulrich Barth 2003, 10.) Religion geht also immer von einem subjektiven intensiven Erleben aus (→ 16.3). Schleiermacher nannte die Religion ein Gefühl, das sich von „Metaphysik“ (also rationaler theologischer oder philosophischer Gedankenführung) ebenso strikt unter‐ scheidet wie von „Moral“ (Ethik, Verhalten). Sie ist „Sinn und Geschmack fürs Universum“, d. h. fürs Unendliche der umgebenden Welt und des Lebens; sie ist ferner das „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“, also das Wissen um das eigene Verdanktsein und um Unverfügbarkeit. Auch Luther hatte bereits so subjektiv gedacht: „Woran du nun dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott“. Für Paul Tillich ist Religion das, was den Menschen „unbedingt angeht.“ Spätestens hier sollte deutlich werden, dass RP nicht ohne ein tieferes Wissen um das Phänomen Religion auskommen kann. Religion transportiert kein Faktenwissen! Das scheint viel zu wenig klar; und darum hält sich trotz flächendeckendem RU hartnäckig das Missverständnis, Religion sei durch Naturwissenschaft überholt oder widerlegbar (→ 16.2). Ebenso wenig aber, wie in einem Theaterstück oder in einer philosophischen Abhandlung irgendwelche historischen Daten oder materiellen Angaben wichtig sind, so 54 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="55"?> auch nicht in der Religion - in ihr noch viel weniger. Religion kommuniziert Bedeutungsgehalte, keine Fakten. Religiöses Erleben „Jener geheimnisvolle Augenblick, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vor‐ kommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen, wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam ineinander geflossen und eins geworden sind … - ich weiß, wie unbeschreiblich er ist, und wie schnell er vorübergeht, ich wollte aber, ihr könntet ihn festhalten und auch in der höheren und göttlichen Tätigkeit des Gemüts ihn wieder erkennen. Könnte ich ihn doch aussprechen, andeuten wenigstens, ohne ihn zu entheiligen! … Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblick ihre Seele … Dieser Moment ist die höchste Blüte der Religion.“ (Schleiermacher 1981, 254 f.) Religion ist an besondere, herausgehobene Momente des tiefen Erlebens und der Bewusstwerdung gebunden, Erfahrungen des Transzendenten, Hei‐ ligen, Erhabenen oder Numinosen, existenzielle Schlüsselerlebnisse und Vergleichbares. Schleiermacher nannte das „religiöse Erregung“. Religion lässt sich nur über dieses Erleben verstehen, und daher muss sie beim religiösen Lernen mindestens zum Thema gemacht werden. Dass sie selbst nicht direkt inszeniert werden kann, hängt an ihrer Unverfügbarkeit ebenso wie am Privatschutz der Lernenden. Eine Annäherung an das religiöse Erleben aber gehört ebenso unverzichtbar zur Religionsdidaktik wie das eigene Malen zum Kunstverstehen. Religiöses Erleben ist eine Erfahrung (=gedeutetes, sichtveränderndes, prägendes Erleben; die Begriffe werden allerdings nicht trennscharf unter‐ schieden), die zu den existenziellen Grunderfahrungen gehört (Erfüllung, Befreiung, Glück, Trennungsschmerz, Todeserfahrung usw.); sie unterschei‐ det sich von diesen lediglich darin, dass sie oft zwar an besonderen Orten (Berge, Strände, Kirchen, einsame Orte) entsteht, bisweilen auch im Zusam‐ menhang mit den genannten Existenzerfahrungen, oft aber auch spontan und ohne erkennbaren Anlass. Religiöses Erleben entsteht also in aller Regel in und aus religiösen Ausdrucksformen, Räumen und Vollzügen, keineswegs aber nur hier. Sie ist in der Regel gleichbedeutend mit der Gewahrung des eigenen Ortes im Leben (Orientierung, Selbst- und Welt-Deutung) und mit der Erfahrung von Sinn. 55 2 Religion, religiöses Erleben und religiöses Lernen <?page no="56"?> Dieses Erleben ist auch in der Moderne bleibend aktuell. Verändert hat sich ihr Ort: die meisten solchen Erlebnisse werden nicht mehr innerhalb der religiösen Kultur, sondern in der Natur, der Kunst, auf Reisen und im zwischenmenschlichen Bereich gemacht. Religion als Metaphysik, Glau‐ bensinhalt und Bekenntnis wandelt sich in der Moderne zum religiösen Gefühl, zur spirituellen Sehnsucht und Suchhaltung und zur gelebten Praxis. Hier wird die Individualisierung (→ 15) deutlich, die nachlassende Bedeu‐ tung objektiv gültiger Allgemeinverbindlichkeiten und die zunehmende freie Wahl in der Optionenvielfalt. Subjektive Religiosität ist Ausdruck einer weniger auf Autorität und Schuld, vielmehr auf Erlebniswünschen und narzisstischer Bedürftigkeit, Selbstschwäche und Scham basierenden psychosozialen Situation (→ 15.2). Es ist naheliegend zu vermuten, dass religiöses Interesse vorzugsweise mit und durch solches Erleben entsteht und wächst (→ 2.5, 18.4). Religiöses Erleben zeichnet sich durch ein hellwaches Bewusstsein und eine vollkommene Präsenz aus. Ein Gefühl des eigenen Kleinseins und der Demut entsteht hier zugleich mit der grundlegenden Erfahrung des Eingebundenseins (re-ligio) in den großen weiten Zusammenhang allen Lebens (→ 2.2; 13.5). Dieses Erleben erscheint als eine Mischung aus Ergriffenheit und Staunen, aus plötzlichem Herausgerissensein und tiefer Freude, die von einem Gefühl des Erwachens begleitet ist; ein intensiv gefühlter Moment, der ein atmosphärisches inneres Bild abgibt. Der Religi‐ onswissenschaftler Rudolf Otto hat in seinem Buch „Das Heilige“ (1917, das meistgelesene religiöse Buch des 20. Jhs.) die religiöse Erfahrung als Gefühlsmischung zwischen „tremendum“ (Erschrecken) und „fascinans“ (Erstaunen) beschrieben, das von der Gänsehaut über den Traum bis hin zu Rausch und Extase reicht, und zu dem immer auch das „Kreaturgefühl“ (Empfindung der Abhängigkeit, des Geschaffenseins, des Sich-Vorfindens) gehört. Religiöses Erleben ist also das Empfinden einer grundlegenden Pas‐ sivität, eines Ergriffen-Werdens, das im Kontrast zur modernen Autonomie und Gestaltungsmacht steht, aber höchst realistisch ist: Wir haben unser Leben nicht in der Hand. Erst im Nachhinein lässt sich die Anschauung vom Gefühl trennen, und noch viel später setzt bewusste Reflexion ein, wie Schleiermacher an der zitierten bedeutsamen Stelle seiner „Reden“ zeigt („Über die Religion“, 1799). Religiöse Erfahrung kann den Gesamtblick auf das Leben verändern in Richtung größerer Gelassenheit, innere Ruhe und Dankbarkeit. Dieses neue Sehen nimmt das Leben als erstaunlich und wunderbar wahr. Es ist 56 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="57"?> „Umkehr“ (zu der Jesus direkt auffordert), Blick- und Haltungsveränderung, Bewusstwerdung, „Lebenssteigerung“ (William James), die wie ein Wunder erlebt werden kann. Naheliegende Faktoren, keineswegs aber Bedingungen für solches Er‐ leben sind religiöse Sensibilität, eine religiöse Sozialisation (→ 2.3, 5), spezifische Anlässe (die eine religiöse Erfahrung, religiöse Nachahmung und Aneignung möglich machen, → 4.2) und religiöses Interesse (Neugier oder Suchverhalten, → 15.2). Religiöse Anlage und religiöse Sozialisation und religiöse Identifikation ergibt die Chance zu religiösem Bewusstsein (Ulrich Hemel), ferner zu religiöser Ausdrucks- und Verstehensfähigkeit. Eine erhebliche, bisher unterschätzte Rolle für die religiöse Entwicklung spielt die Einbildungskraft (Phantasie) (→ 13.4). Statt missverständlich von einer anthropologischen Anlage zu sprechen, sollte man aber eher auf das Urmenschliche dieser Erfahrung verweisen, das auch von denen nachvollzogen werden kann, die selbst solche Erfahrung nicht machen. Religiöses Erleben steht in so engem Zusammenhang mit dem mensch‐ lichen Bewusstsein überhaupt, dass eine Unterscheidung beider kaum sinnvoll ist. Antonio Damasio, Pionier der Gehirnforschung, beschreibt Bewusstsein als die innere Repräsentation der Veränderungen von Körper‐ zuständen, die durch Begegnung mit (äußeren) Objekten verursacht werden. Sie sind das „mentale Muster, durch welches das Objekt und das Selbst zusammengeführt werden“ (Damasio 2000, 23), und sie sind immer mit Emo‐ tionen verbunden. Durch die weitere Verbindung dieser Körpervorgänge mit Vorstellungen, also mit Erinnerungen, Folgerungen und anderen Zu‐ ordnungen, führt das Bewusstsein zu erheblich erweiterten Möglichkeiten der Lebensregulierung. Denn anstatt z. B. Schmerzen nur zu registrieren, kann ein Individuum jetzt den Ort des Schmerzes feststellen, seine Ursache, seinen Verlauf, mögliche Gegenmaßnahmen usw. Das Bewusstsein kann also ein „weites Panorama von Dingen und Ereignissen“ gegenwärtig halten. Waches Bewusstsein erwächst „aus verstärktem Wachsein und fokussierter Aufmerksamkeit“ (221). Es kann „das gesamte Leben eines Individuums umfassen“ (236) und es kann sich „über das Diktat von Vor- und Nachteilen aus Sicht der Überlebens-Dispositionen … erheben“ (278): Es ist in der Lage, Normen und Ideale aufzustellen, Wahrheit zu suchen und Schönheit zu empfinden. Mit dieser Beschreibung des Bewusstseins liegt eine geradezu paradigma‐ tische Beschreibung religiösen Erlebens vor. Dieses ist sozusagen emotions‐ gesättigtes Bewusstsein pur - erregt durch den Eindruck der äußeren Welt 57 2 Religion, religiöses Erleben und religiöses Lernen <?page no="58"?> („Objekte“). Ebenfalls kann es zu einer Neuformation sämtlicher Vorstellun‐ gen vom Leben führen und zu einem veränderten Umgang mit den eigenen Erfahrungen. Auch das Absehenkönnen vom eigenen Überlebensvorteil und die Suche nach Wahrheit und Schönheit sind typisch für die Religion. Schließlich hat auch der Umstand, dass das Bewusstsein stammesgeschicht‐ lich älteren Gehirnregionen entstammt (und also nicht dem Neocortex, der für Rationalität, Sprache, Logik zuständig ist) seine religiöse Parallele in dem Umstand, dass dem religiösen Erleben nur bildhafte, mythische, symbolische Ausdrucksformen angemessen sind, und gerade keine rationalen Analysen. Für die Religion sind symbolische Darstellungen typisch, nicht Theologie, nicht Glaubenslehren. Die haben ihren Ort und ihr Recht in der Reflexion über Religion und in der Identitätsbildung einer religiösen Gruppe. „Das Bewusstsein ist so wirksam, weil es das Wissen über das Leben eines individuellen Organismus zentriert“ (364): Genau dasselbe gilt auch für lebendige Religion. Religion ist im Kern das wache Bewusstsein für das Leben als ganzes, das zu veränderten Haltungen führt. Religion ist daher ein klarer (Über-)Lebensvorteil — und damit das genaue Gegenteil von dem, was die klassischen Religionskritiker ihr vorgehalten haben: sie sei „Projektion“ (Feuerbach), „Opium des Volkes“ (Marx) und „Illusion“ schutzbedürftiger schwacher Menschen, die der Realität nicht ins Auge sehen wollen (Freud). Diese Kritik behält ihr Recht in Bezug auf viele Formen der religiösen Kultur, die das religiöse Erleben zwar zu konservieren versucht, sich aber allzu oft auch an dessen Stelle setzt. Vom religiösen Erleben ist sie klar zu unterscheiden. Der Kern aller Religion ist immer ein tiefes Erleben, das sich als Resonanz verstehen lässt, als Eindruck und Widerhall des Lebens auf einen Menschen. Das Leben erscheint darin als das schlechthin Heilige, als unverfügbares, Staunen erregendes Wunder. Religion ist darum grundlegend ein Bezie‐ hungsgeschehen (re-ligio heißt wörtlich: Be-zogenheit): Unsere Beziehun‐ gen (zu Geliebten, Freunden, Familie, Natur, Kunst, Kultur usw., schließlich zum Leben überhaupt) sind das, was im Leben wirklich wichtig ist, nicht Selbstverwirklichung, Arbeit, Erfolge oder Status. Reinhold Boschki hat aus diesem Gedanken eine interessante dialogisch-beziehungsorientierte Religionsdidaktik entwickelt (Boschki 2003). 58 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="59"?> Das komplexe Verhältnis zwischen religiösem Erleben und religiöser Kultur Wo dieses Erleben umfassend ist und seine Deutung einen zeittypischen Nerv trifft, kann eine neue (Welt)Religion entstehen, wie durch Laotse, Buddha, Jesus oder Mohammed geschehen. Der Buddhismus etwa kreist um die Urerfahrung: Das Leben ist Leid; darum müssen Mitgefühl und Sich-Enthalten gelebt werden. Der Taoismus begreift das Leben als die har‐ monische Spannung zwischen Gegensätzen, führt darum zur Gelassenheit des Nicht-Eingreifens. Das Christentum sieht das Leben als geschenkte Fülle aus der Hand des nahen Gottes an, das zur weiteren Entfaltung drängt, zum Dank und zur Weitergabe des Erfahrenen; der sog. Heilandsruf Jesu (Mk 1,15) und sein Hinweis auf die Lilien auf dem Feld (Mt 6,19ff.) - zentrale Stellen seiner Botschaft - fordern dazu auf, den Sinn zu ändern und das Leben neu zu sehen: als überreiche Gabe, als Ort des Reiches Gottes. Es kommt entscheidend darauf an, das auch wahrzunehmen. Das tiefste Lebenswissen der christlichen Religion ist: die Wirklichkeit ist unauslotbar, sie ist weder vernünftig noch gerecht, aber staunenswert schön. Religiöses Erleben ist eine emotionale Urerfahrung unbedingter Evidenz, die sich in symbolische Darstellungsformen übersetzt — zunächst in mündli‐ che und schriftliche Erzählung (Mythen, Geschichten und Lehren), dann in Riten (Kultus, weihevolles Ritual, Kultpersonal und Gemeinschaftsfor‐ men), schließlich in Ethik (eine veränderte Lebenshaltung und entspre‐ chende Gebote). Alle diese Niederschläge (sakrale Bilder, Worte, Texte, Symbole, Mythen, Räume, Personen usw.) haben eine ästhetisch-künstleri‐ sche Signatur. Am deutlichsten sichtbar ist das in der poetischen Sprache der Religion (Psalmen, Gleichnisse, Sprachbilder), der religiösen Musik und in den Sakralräumen. Sie wollen die religiöse Urerfahrung bewahren und weitergeben und können für die religiöse Sicht auf das Leben öffnen und inspirieren. Darum sind religiöse und ästhetische Erfahrung, die solche oder ver‐ gleichbare Gestaltungsformen wahrnehmen, schwer voneinander abgrenz‐ bar; das zeigt auch die Nähe von Religion und Kunst (→ 17.4). Religion ist ein Erfahrungsphänomen; sie ist darum theoretisch schwer fassbar und eigentlich nur sinnlich (ästhetisch) zugänglich, letztlich nur über praktische Beteiligung (→ 11.5, 18.2-3). Lehren, Bekenntnisse und Theologie können Religion nur sehr mittelbar abbilden. Religion will deshalb nicht erklärt oder gewusst, sondern vor allem erzählt und aufgeführt werden. Denn 59 2 Religion, religiöses Erleben und religiöses Lernen <?page no="60"?> Religion behauptet keine Tatsachen und keine Fakten, Religion ist keine Überzeugung und „Glauben“ nur im Sinne eines tieferen Vertrauens, nicht als Fürwahrhalten von Ereignissen oder Fakten (→ 16.1-2). Wer Religion als Faktenzusammenhang behauptet, denkt exakt genau so positivistisch wie die Naturwissenschaften, die die Realität erklären, aber nicht die kleinste Aussage über Lebensfragen machen können. Religion lässt sich nicht fixieren. Darin unterscheidet sie sich gravierend auch von der Kunst, ihrer nächsten Nachbarin, mit der sie doch ihre gesamten Ausdrucksformen gemeinsam hat. Religiöse Ausdrucksformen und religiöses Verhalten sind aber nicht Religion, sondern immer nur deren Niederschläge. Sie können sehr unreligiös sein - ein Priester kann die Messe mit gelangweilter Routine ablesen, Menschen können in den Kölner Dom rein aus historischem Interesse gehen, usw. Ein Erlebnis mitten in der Natur dagegen, oder auch in einem Museum, kann Religion pur sein. Religiöse Wahrheit lässt sich daher nicht in Fakten und Lehren vermitteln, sondern wird nur sinnlich evident. Religiöse Traditionen geben zwar einen wertvol‐ len und wichtigen Rahmen ab, der für religiöse Identität sorgt. Der Rahmen ist aber nicht die Sache selbst. Wo die symbolische Logik der Religion nicht klar benannt wird - und ebenso auch die historische Relativität aller ihrer Aussagen (→ 16.2) - entsteht das Bild einer traditionsfixierten, vergangenen Angelegenheit, die in krassem Gegensatz zu den heutigen Lebensprinzipien von Autonomie, Bedürfnisorientierung und Selbstentfaltung steht. Religion ist dann ein altes überholtes Märchen, und gerade nicht das, was einen Menschen im Innersten betrifft. Religiöses Erleben und religiöse Kultur (die vor allem aus der religiösen Tradition besteht) sind also klar und deutlich zu unterscheiden. Der Kern der christlichen Religion ist die Einsicht: Alles ist heilig, die gesamte Wirklichkeit, die Welt und das Leben, weil es aus Gottes Hand kommt. Vor allem der Mensch verdient unbedingten Respekt ohne Vorbehalt und Vorbedingung. Daher haben frommes Tun, religiöse Praxis, Weihen und Kirchenpersonal, und auch moralisches Verhalten, ebenso wie religiöse Traditionen keinen Vorrang vor dem Leben. Eher gilt das Gegenteil - denn die Erfahrung zeigt, dass gerade die Religiösen und Moralischen die Heiligkeit des Lebens oft genug übergehen, weil sie von der Pflicht zur Heilighaltung der Religion (d. h. der religiösen Kultur) überzeugt sind. Nicht die sichtbare Religion aber, nicht Kirche und Dogma sind heilig, sondern das Leben. Christlich gesprochen: Gott liebt die Menschen, nicht die Frommen. 60 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="61"?> Der Grundfehler aller Religion ist die Abtrennung der religiösen Kultur vom Leben, also ihre Sakralisierung, die dort als Tendenz immer angelegt ist. Die religiöse Kultur ist bedeutsam, wird geachtet und verehrt, denn schließlich geht es da um entscheidende Dinge. Wo sie sich aber in den heiligen Bezirk zurückzieht, in heiliges Wissen und heilige Pflichten, stellt sie sich neben das Leben und wirkt dann eher belastend als befreiend. Da die Vertreter der religiösen Kultur verständlicherweise zu dieser Abgrenzung neigen, stehen sie immer und grundsätzlich in der Gefahr, Religion zum Selbstzweck werden zu lassen, zum inneren und äußeren Zwang und zur Ideologie, die ihre Ideen und Anschauungen dem Leben überzustülpen versucht. Im schlechtesten Fall wird Religion zur Sekte (lat. sectum = abgetrennt). Die Trennung der Religion vom Leben ist Kern des Fundamentalismus, und er findet sich in jeder Religion - auch im Christentum. Genau darauf zielt die Polemik des Jesus, die sich radikal gegen Priester, Pharisäer, Sadduzäer und die Sakralisierung des Tempels, gegen Reinheitsvorschriften und Gesetzesbefolgung richtet. Im Gleichnis vom Samariter (Lk 10) macht er deutlich, dass es ausgerechnet die heiligen Männer sind, die diametral an dem vorbeigehen, was Gott will: nämlich das Leben, nicht die Religion. Es sind immer die wirklich religiösen Geister, die kritisch gegen die religiöse Kultur und deren fast zwangsläufige Verhärtungen einschreiten. Jesus tritt nicht im heiligen Bezirk auf, nicht unter Intellektuellen und Patriziern, son‐ dern auf dem Marktplatz unter dem einfachen Volk. Er steht in der Nachfolge der Propheten, die genauso dachten und handelten. Meister Eckhart predigte auf deutsch, ohne sich dafür eine Genehmigung einzuholen. Luther schaute „dem Volk aufs Maul“, um eine verständliche Bibelübersetzung zu machen, usw. Religiöses Erleben und religiöse Kultur stehen also in Spannung zuein‐ ander. Sie sind aber auch wechselseitig aufeinander angewiesen. Religiöse Kultur prägt, ermöglicht und fördert religiöses Erleben, und religiöses Erleben initiiert, bereichert und verändert die religiöse Kultur. Wo das nicht mehr zugelassen wird, verhärtet die religiöse Kultur zur unverständlichen und zwanghaften Sonderwelt. Religionstheorien „Substanzielle“ Religionstheorien versuchen auf das „Wesen“ der Religion einzugehen, das allerdings schwer bestimmbar und darum auf Phänomen‐ 61 2 Religion, religiöses Erleben und religiöses Lernen <?page no="62"?> beschreibungen angewiesen ist. Zu ihnen gehören die Dimensionen: Wissen (um Herkunft, Kernsätze, Praxis usw.), Weltanschauung und Denken (my‐ thologische oder rationale Deutung der Welt und des Lebens, Theologie, Lehren, Bekenntnisse), Glaube (Vertrauenshaltung, Bekenntnis), Haltung (innere Einstellung, Lebensweise), ferner ein Symbolsystem (Sprache, Bil‐ der), eine Gemeinschaft, Rituale (Liturgik, private religiöse Praxis) und eine Ethik.; Religion ist eine eigene „Kultur“ mit spezifischen Zeichen und prozessualen Formen. Jede Religion vereint in sich zwei widersprüchliche Grunddimensionen: Geborgenheit, Heimat, Gewissheit, Trost und Vertrauen auf der einen Seite (Glaube, Weltdeutung, rituelle Praxis usw.), die sich weitgehend mit der religiösen Kultur deckt; Aufbruch, Umkehr, Neuwerden, Protest und Freiheit auf der anderen (Propheten, Provokationen und Umkehrruf Jesu, Wandlungserfahrung, Ketzer, Reformatoren usw.). Die erste Seite kann zu zwanghafter Erstarrung führen, die zweite zur zersetzenden „Schwärmerei“. Nur beide zusammen machen eine lebendige Religion aus. „Funktionale“ Religionstheorien (→ 2.2) fragen heute nach dem Effekt der Religion für Menschen oder die Gesellschaft. Diese Frage tauchte erstmals in der Psychologie auf. Sigmund Freud hatte Gott als projizierte Wunsch-Vatergestalt, Religion überhaupt als Trostbedürftigkeit, Regression und Vermeidung vernünftigen Erwachsenwerdens verstanden. Carl Gustav Jung dagegen ging davon aus, dass keine Selbstfindung ohne religiösen Kontext und Symbolik möglich sei; Religion drücke sich in den seelischen Archetypen und entsprechenden Erfahrungen aus und sei unverzichtbar zur Reifung (Individuation, Selbstwerdung) eines Menschen. Funktionale Religionstheorien finden sich in Soziologie und Philosophie. Émile Durkheim hielt Religion für den Ken der sozialen Integration einer Gruppe oder Gesellschaft, da sie die grundlegenden Legitimationen des gemeinsamen Lebens bereitstelle. Religion gilt heute verbreitet als „Kontin‐ genzbewältigungspraxis“ (die Praxis, in der den nicht steuerbaren Schick‐ salsfällen wie Unfall, Leid und Tod mit Stabilisierung, Trost, Vergewisserung begegnet wird; Hermann Lübbe), als „Komplexitätsreduktion“ (Religion hat eine eigene „Systemrationalität“, die die Benennung und Symbolisierung des schwer Fassbaren und auch Bedrohlichen leistet; Niklas Luhmann) oder als „Sinngebung“, die durch verschiedene „Transzendenzen“ geschieht (Tagträume, Wünsche, große Visionen; Thomas Luckmann). Funktionale Theorien beschreiben schlüssig Kontingenz-Umgang, Stabi‐ lisierung, Orientierung, Sinnversorgung als Effekte der Religion. Diese Ef‐ 62 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="63"?> fekte sagen über den spezifischen Gehalt einer Religion allerdings wenig aus, da sie auch von anderen „Systemrationalitäten“ geleistet werden könnten. Der Begriff „Kontingenzbewältigungspraxis“ trifft am ehesten auf das Ritual einer Beerdigung zu und auf regressive Formen religiöser Vertröstung. Das zeigt deutlich, dass (abgesehen davon, dass Kontingenzen gar nicht „bewältigt“ werden können) in den funktionalen Theorien das treibende, unruhige Moment der Religion (Aufbruch, Protest, Neuperspektivierungen) klar unterschätzt wird; Religion eröffnet Kontingenz mindestens ebenso viel wie sie mit ihr umgeht. Auch wird das religiöse Selbstverständnis übergangen. Religion lebt in ihren Bildern, in einer weitgehend poetischen Sprache, im Drama des Kultus, in der Pracht liturgischer Gewänder, in der Atmosphäre von sakralen Räu‐ men und Gebäuden, in der Gestik des Rituals, in der Musik. Der Übergang von religiöser und profaner Kunst ist fließend und nicht genau abgrenzbar. Wichtig zum Verständnis von Religion ist deren Bezug zu dem, was für Menschen nicht ersetzbare Bedeutung hat. In einer Welt, in der Dinge, Waren, Ideen und auch die Menschen zunehmend austauschbar werden (im Arbeitsprozess, als Bürger, selbst in der Liebe) und vielen das Leben entsprechend bedeutungslos erscheint, wird darum untergründig nach Religion gefragt. 3 Religiöse Erziehung, Sozialisation und Bildung Die Bereiche Erziehung, Sozialisation und Bildung müssen auch in religiöser Hinsicht klar voneinander unterschieden werden, da sie keineswegs bruch‐ los ineinander übergehen. Erziehung Erziehung meint die absichtliche, geplante, teleologische (d. h. mit einem bestimmten Ziel versehene) Einwirkung eines Älteren bzw. Erfahreneren auf einen „Zögling“, die bestimmte Mittel bis hin zu Strafen benutzt. Sie bezeichnet also ein Generationenverhältnis und setzt die Anerkennung oder das Vorhandensein von Autorität und Abhängigkeit voraus - und ist daher immer missbrauchbar: Autoritäre und despotische Erziehung kann Infiltration und das Aufzwängen eines fremden Willens bedeuten. Grund‐ sätzlich ist Erziehung aber unersetzbar. Vor allem sind es die grundlegende 63 3 Religiöse Erziehung, Sozialisation und Bildung <?page no="64"?> Kulturtechniken, Wissen, Verhaltensweisen, Regeln, selbst ein bestimmtes Engagement, die Erziehung brauchen. Auch eine als persönliche Entfaltung gedachte Bildung setzt Erziehung immer voraus. Erziehung ist nötig vor allem in der Kindheit, die die Zeit der Abhängig‐ keit von den Eltern ist. Das Ziel der Erziehung ist persönliche Mündigkeit (Autonomie), die sich logischerwie paradoxerweise zunehmend gegen die anfangs notwendigen Autoritäten richtet. Erziehung muss darum von Bildung abgelöst werden. Durch die Aufklärung bekommt Erziehung einen euphorischen Beige‐ schmack und eine stark erhöhte Bedeutung. Selbstbestimmung, Selbständig‐ keit, Mündigkeit, Selbst- und Sozialerziehung gelten jetzt als oberste Lebenswie Erziehungsziele. Wenn die Gestaltung der Welt und der eigenen Person Sache der selbsttätigen Vernunft sind, dann kann zu ihnen erzogen werden - Erziehung ersetzt da nachgerade den Erlösungsgedanken. Heute fällt die elementare Erziehung der Kinder durch Eltern immer mehr aus; Kinder bleiben sich selbst oder allenfalls pädagogischen Experten überlassen (→ 5.1). Religiöse Erziehung bezeichnet die erste Einweisung in den gegebenen Bestand religiöser, hierzulande also christlicher Symbole, Bräuche, Verhal‐ tensweisen und Ansichten. Dazu gehört das Kennenlernen der biblischen Geschichten, des Betens, christlicher Feste usw. Die Katechetik verfolgt in diesem Sinne eine Erziehungslogik, nicht eine der (religiösen) Bildung. Reli‐ giöse Erziehung bleibt grundlegend wichtig für alle späteren pädagogischen Weiterführungen und eigenständigen Auseinandersetzungen, und auch für die Ausbildung einer religiösen Haltung. Zwar betreiben immer weniger Eltern eine religiöse Erziehung, da sie meinen, das Kind solle „später selbst entscheiden“. Das ist allerdings ein Scheinargument; denn entscheiden kann man sich nur für etwas, das man kennt - sonst liegt eine Ablehnung aus mangelnder Kenntnis und Interesse allzu nahe. Darum ist mit einer Erziehung zu religiösem Interesse heute schon viel erreicht. Sozialisation Sozialisation bezeichnet das Hineinwachsen in einen gesellschaftlich bzw. kulturell vorgegebenen Bestand an Wissen, Denk- und Verhaltensweisen, also die „Vergesellschaftung“ des Individuums durch Kenntnis der Lebens‐ welt, Umgangssicherheit in gesellschaftlich akzeptierten und geforderten Verhaltensweisen, Anpassung an äußere Strukturen und Denkmuster, 64 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="65"?> Kenntnis von Kultur und Technik usw. Sozialisation ist zugleich Prägung und Entwicklung; aktive und passive Anteile mischen sich. Sie ist notwendig für die Lebensfähigkeit im gesellschaftlichen Kontext, aber ähnlich proble‐ matisch wie Erziehung: Zum einen tendiert sie zum Anpassungszwang an den Status quo; zum anderen wird sie immer schwieriger, da einerseits die Welt immer differenzierter und unübersichtlicher wird, andererseits eingespielte Sozialisationsmechanismen (z. B. innerhalb der familiären Er‐ ziehung) immer mehr nachlassen. Diese Defizite werden zunehmend durch die Medien (→ 14.4) ausgeglichen, die dadurch eine eigene sozialisatorische „Wirklichkeit“ herstellen mit tendenziell primitiven Anschauungen und Verhaltensstandards. Sozialisations-Institutionen bzw. „-Agenturen“ sind Familie, Kindergar‐ ten, Schule, Freundeskreis (Peergroup), Öffentlichkeit (politische, kulturelle Ereignisse), die Medien. Sie werden von den Sozialisationstheorien unter‐ sucht. Diese gehen in der Regel von einer stark prägenden Bedeutung der Umweltbedingungen für den Menschen aus und beschreiben Nachah‐ mungsverhalten, Rollenübernahmen, Interaktionen mit Bezugsgruppen, die prägende Rolle von Medien und Kultur und den Aufbau entsprechender Verhaltens- und Identifikationsmuster. Religiöse Sozialisation bezeichnet entsprechend das Vertrautwerden mit den religiösen Verhaltens- und Denkweisen. Christlich sozialisiert ist, wer sich im Bereich des Christentums (in Gemeinde, Kirche, christlicher Lehre) einigermaßen zurechtfindet, wer also christliche Verhaltensweisen kennt (Gottesdienst, Handeln aus christlicher Verantwortung usw.) und wer fähig wäre, kirchliche Aufgaben zu übernehmen. Dem entspricht Schleiermachers Gedanke der „Kultusfähigkeit“ (s. o.). Es dürfte klar sein, dass religiöse Sozialisation weitgehend unbewusst und „automatisch“ durch gemeinsam gemachte und kommunizierte religiöse Erfahrungen geschieht. Das wurde früher durch die religiöse Erziehung in den Familien, ferner durch weitge‐ hend selbstverständlichen Kirchgang und Gemeindebezug gewährleistet, die heute massiv nachlassen. Nachweislich nach wie vor bedeutsam in dieser Hinsicht sind die Großmütter, die aber oft nicht mehr vor Ort sind. Darum wird auch die religiöse Sozialisation faktisch immer mehr von den Identifikationsangeboten der Gleichaltrigen und der Medien übernommen. 65 3 Religiöse Erziehung, Sozialisation und Bildung <?page no="66"?> Bildung (→ 17) Bildung bedeutet im deutlichen Gegensatz zu Ausbildung, auf die sich alle sog. Bildungseinrichtungen und die Bildungspolitik unserer Gesellschaft beziehen, die persönliche Entfaltung eines Menschen. Eine solche ist zwar nicht ohne von außen kommende Anstöße denkbar, sperrt sich aber gegen vorgeordnete Autorität, Zeitdruck und Effizienzdenken ebenso wie gegen vorgegebene Lernstoffe und Lernziele. Zur Bildung führen nur „Freiheit“ und „mannigfaltige Situationen“ (Humboldt, → 17.3), also möglichst viel‐ fältige Anlässe und Begegnungen mit der Welt. Alles im Leben kann bildend wirken - faktisch tut das aber vor allem die intensive Begegnung, die eine innere Resonanz auslöst und als bedeutsam erfahren wird. Spielen, reisen und lesen sind darum die hervorragendsten Bildungsmedien. Bildung ist weit weniger Wissen und Können als vielmehr entfaltete Sensibilität, Kombinationsvermögen, Gespür und Geschmack. Allerdings bestimmt Erziehung, nicht Mündigkeit nahezu die gesamte derzeitige „Bildungs“-Landschaft. Diese betreibt die Vermittlung von In‐ formation und Fähigkeiten. Sie ist berufsbezogene Ausbildung, die die Entfaltung der Person und deren Potentiale nicht beachtet, und keineswegs Bildung. Ihre Problematik zeigt sich in der Lebensferne der Stoffe und im zunehmenden Leistungsdruck. Religiöse Bildung bezeichnet entsprechend alle Begegnungen und Erfah‐ rungen mit Religion, die für das Leben eines Menschen Bedeutung haben und die ihn reicher, reifer und sensibler machen. Darum sollte man nicht von religiösen „Bildungszielen“ sprechen, sondern allenfalls von Ziel-Hori‐ zonten. Religion beurteilen, verstehen, sich in ihr bewegen können ist erst dann religiöse Bildung, wenn sie zum Teil einer religiösen Einstellung und begründeten Selbst-Positionierung wird. Religiöse Bildung meint also eine persönlich ausgeformte bzw. sich ausformende Religiosität, die sich vor allem am Bewusstsein des eigenen Verdanktseins und an der Schönheit des Lebens entzündet. So verstanden gilt, dass Religion ein nicht ersetzbarer und gewichtiger Teil jeder Bildung ist. 4 Begründungsargumente für religiöses Lernen „Nicht die Religion ist die größte Illusion, sondern der Glaube, man könne die zu großen Fragen mit den Bordmitteln der Vernunft beantworten.“ (Bolz 2008, 140) 66 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="67"?> Warum soll Religion eigentlich gelernt werden, warum soll sie Gegenstand des schulischen Unterrichts sein? Das ist in Zeiten religiöser Privatisierung und weit verbreiteter Religionsdistanz (→14.5) keine banale Frage mehr. Begründungsargumente stehen oft im Zusammenhang mit den grundlegen‐ den religionspädagogischen Konzeptionen (→ 3) und werden meist im Blick auf den RU geäußert. Wollen sie wirklich plausibel sein, müssen sie aber in allen religionspädagogischen und auch in allen religionsdidaktischen Bereichen und Vollzügen gültig und nachvollziehbar sein. Der Satz von Friedrich Schweitzer „Nur wenn Religion als allgemeines Interesse einsich‐ tig wird, kann sie einen Platz an der Schule behaupten“ (Schweitzer in Adam/ Lachmann 2003, 106), gilt darum für die ganze RP. Die vor allem von evangelischen Religionspädagogen inzwischen häufig genannte „Kommunikation des Evangeliums“ als zentrale Aufgabe der RP ist eine nur intern überzeugende Begründung, was aber kaum gesehen wird. Sie steht in erheblicher Spannung zu einer allgemein plausiblen, also bildungsbezogenen Begründung der RP, die nicht nur für den schulischen RU heute einzufordern ist. Grundsätzlich bedeutsam ist: Die Religion hat einen eigene Weltzugang, der nicht in andere Zugänge auflösbar ist, schon gar nicht in den (na‐ tur-)wissenschaftlichen. Dem immer dominanter werdenden technisch-wis‐ senschaftlichen „Verfügungswissen“ muss heute dringend ein „Orientie‐ rungswissen“ ( Jürgen Mittelstraß) an die Seite gestellt werden, das auf die Fragen des konkreten Lebens bezogen ist. Dazu gehören neben der Religion vor allem das moralisch-ethische Werte-Wissen, das ästhetisch-künstleri‐ sche Wissen, das philosophische und andere. Es gibt also verschiedene Weltzugänge ( Jürgen Baumert in Auswertungen der sog. PISA-Studie 2000), von denen der naturwissenschaftlich-analytische (d. h. die überprüfbare Frage nach Naturgesetzen) und der ökonomisch-kal‐ kulierende (d. h. die Frage nach Nutzen, Effekt und Profit) nur zwei neben anderen sind - obwohl gerade diese beiden das Leben heute immer mehr dominieren. Naturwissenschaftliche Beweisbarkeit und ökonomische Kos‐ ten-Nutzen-Berechnungen beherrschen inzwischen Politik, Kultur, Medien, und selbst Privatleben und Weltanschauung. Das aber ist eine „Kolonialisie‐ rung der Lebenswelt“ ( Jürgen Habermas), die dem Leben schadet. Möglichst alle Weltzugänge sind zu würdigen und entsprechend auch in der Bildung zu berücksichtigen. Bildung ist beileibe nicht nur Informationsweitergabe! Die „Lesbarkeit der Welt“ (Hans Blumenberg), die eine vieldimensionale und 67 4 Begründungsargumente für religiöses Lernen <?page no="68"?> aspektreiche ist, braucht entsprechend eine mehrdimensionale Bildung, zu der unverzichtbar auch Religion gehört. Religion bezieht sich auf die Gesamtdeutung des Lebens, auf grundle‐ gende Sichtweisen und Lebenshaltungen. Damit hat sie eine eigene spezi‐ fische (System-)Logik, die nur in ihrem Bereich gilt. In diesem Sinne hat Ernst Cassirer in seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ längst eindrucksvoll gezeigt, dass alle menschlichen Realitätsbeschreibungen, also Wissenschaft, Mathematik, Musik, Religion, … symbolische Formen sind, die jeweils nur eine bestimmte Dimension der Wirklichkeit beschreiben. Ihre jeweiligen Ausdrucksformen sind immer symbolische Abbildungen, nie die Wirklichkeit selbst. Das gilt auch für naturwissenschaftliche und mathematische Gleichungen. Die inzwischen sehr häufige Einschätzung, Religion sei überflüssig, ist also ebenso wenig haltbar wie das Vorurteil, sie neige zur Gewalt. Die Religionen zeigen im Gegenteil, „dass Menschen darin ihre Würde haben, dass sie etwas Höheres als sich selbst anzuerkennen vermögen“ (Schröder 2008, 96). Wer Religion bekämpft, bekämpft immer leibhaftige Menschen. Nur wer dagegen das Leben insgesamt als heilig und kostbar empfindet, wird zu den kalten Analysen der Naturwissenschaft und dem massiven Ressourcen-, Natur- und Zeit-Verschleiß der Ökonomie auf Distanz gehen. Die Naturwissenschaft ist ebenso ambivalent wie die Religion. Sie führt durch ihre technische Umsetzung einerseits zu Luxus, Sicherheit und einer enormen Entfaltung von Lebensmöglichkeiten, aber auch zu Klimaerwär‐ mung, Atomwaffen, Artensterben und Gift in Nahrungsmitteln. Der Mensch ist potentiell gewalttätig, nicht Religion oder Wissenschaft - das zeigen auch die totalitären Ideologien des 20. Jh., deren Verbrechen durch vermeintlich objektive Wissenschaften gerechtfertigt wurden. Naturwissenschaft ist, anders als die Religion, für Lebensfragen vollkom‐ men blind. Sie kennt keine Erfüllung, kein Scheitern, keine Verantwortung, keine Schönheit und keine Gerechtigkeit. Auf die verstörende Frage, warum ein Kind im Gebirge abgestürzt ist, könnte sie theoretisch nur antworten: aufgrund der Fallgesetze. Musik, die tief berühren kann, ist für sie eine Kombination aus Schallwellen. Naturwissenschaft schützt geradezu vor der Selbsterkenntnis, die auf ein ganz anderes Denken und Wahrnehmen angewiesen ist. Eine Feststellung wie „Gott wohnt im Schläfenlappen“ ist aus religiöser Sicht Ausdruck von Dummheit. Das vorausgesetzt, lassen sich folgende Begründungsargumente für Reli‐ gion und religiöse Lehre in ansteigender Plausibilität angeben: 68 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="69"?> 1. rechtlich. Im Grundgesetz (GG) Art. 7 (3) in Verbindung mit Art. 4 ist der RU als „ordentliches Lehrfach“ gesichert (→ 6.3) und sind negative (abgrenzende) und positive Religionsfreiheit (Recht auf religiöse Aus‐ übung) festgeschrieben. Das rein formale Recht auf schulischen RU gibt (ähnlich wie Senderechte im Rundfunk u. a.) nur im Grenzfall ein Argu‐ ment für religiöses Lernen überhaupt. Es lässt sich als positives Recht der Lernenden auf Religion, weit weniger als das der Institution Kirche verstehen. Ähnlich ist das beim Artikel 4, der umfassend die Ausübung jeder Form von Religion und den Schutz religiöser Anschauungen garantiert - auch damit aber lässt sich religiöse Lehre nur innerhalb institutioneller Schranken begründen. 2. katechetisch und volkskirchlich. Christliches Lehrwissen soll zum Glauben führen. Dieser ist notwendig zum Heil jedes einzelnen Men‐ schen. Dieses Argument setzt als Rahmen die christliche Überliefe‐ rungsgemeinschaft und Tradition voraus, kann darum nur als kirchlich inklusives Modell einer abgegrenzten Gruppe Gültigkeit haben. Das‐ selbe gilt für die öffentliche „Kommunikation des Evangeliums“. Dieses Argument nimmt zwar die Perspektive der Menschen ein, die aber nicht die aller Menschen sein kann, sondern immer nur wählbare Option neben anderen „Anbietern“. 3. ethisch. Religion gilt oft als „Beitrag“ zur „Wertebildung“ und zum sozialen Denken und Verhalten. Dies ist die häufigste öffentlich kom‐ munizierte Begründung für religiöses Lernen. Oft wird das Christentum regelrecht als Ethik verstanden („Zehn Gebote und Nächstenliebe“). Das ist als Argument nahe liegend, aber auch gefährlich: Hier wird eine Funktion von außen an die Religion herangetragen, die ihr nur mittelbar entspricht. Religion ist zunächst und vor allem tiefes Erleben, Haltung und Bewusstsein, aus der grundsätzlich eine auf Achtung und Respekt basierende Ethik folgt - die aber nicht auf Ethik reduzierbar ist. Ein religiöser Mensch kann auch künstlerisch tätig werden oder sich von der Welt zurückziehen. 4. kulturgeschichtlich. Das christliche Erbe prägt unsere Kultur (→ 2.2, 16.4) in hohem Maße durch seine Sprache, die biblischen Vorstel‐ lungs-Motive, Symbole, Kunst, Einstellungen zum Menschen usw.; diese sind in das Alltagsverstehen und auch in Philosophie, Kunst und Kultur eingegangen (Geschichte und Kunstgeschichte sind weit‐ gehend Kirchen- und christliche Kunstgeschichte), ebenso lassen sich grundlegende Wertvorstellungen auf die christliche Tradition zurück‐ 69 4 Begründungsargumente für religiöses Lernen <?page no="70"?> führen. Um die Kultur zu verstehen, ist Kenntnis ihres Ursprungs und ihrer Symbole notwendig. Auch wenn Menschenrechte oft gegen den Widerstand der Kirchen durchgesetzt wurden, ist dieses Hauptar‐ gument der „Hermeneutischen RP“ (→ 3.3) ausgesprochen plausibel. Allerdings muss in Rechnung gestellt werden, dass die heutige Welt zunehmend ohne kulturgeschichtliche Identifikationen auszukommen scheint. Ökonomie und funktionales Denken lassen Kultur immer mehr zum Freizeitvergnügen degenerieren. 5. gesellschaftlich-öffentlich. Religion ist sichtbarer und gewichtiger Teil der heutigen Lebenswelt. Auch wenn sie sich immer mehr als Suche und Sehnsucht zeigt, wird sie konkret in Islam und Buddhismus, aber auch in Form von Sektenbildungen, Fundamentalismen usw. ge‐ sellschaftlich einflussreich. Es ist darum unverzichtbar, hier Bescheid zu wissen und kritisch urteilen zu können. Gelebte Religion ist dar‐ über hinaus ein persönliches Orientierungs- und Entfaltungsrecht, das faktisch zum Wohl der Allgemeinheit ausschlägt: religiöse Menschen sind seelisch stabiler und deutlich überproportional sozial engagiert, stützen also die Bürgergesellschaft. Dieses Argument ist ausgesprochen plausibel, auch aus religionsdistanziert Sicht gehört ein Wissen um Religion zur sozialen Orientierung. 6. anthropologisch. Religiosität (→ 18.1) ist Teil der Anlagen des Men‐ schen und seiner Kulturarbeit, und das auch dann, wenn sie zunehmend „unsichtbar“ wird (Thomas Luckmann). Sie steht im Zusammenhang mit Sinnfindung, Selbstverwirklichung, Selbstentfaltung und Heilung, darum grundsätzlich mit Zufriedenheit und Erfüllung; sie ist gewichti‐ ger Teil der Lebensqualität und dient in hohem Maße der persönlichen Orientierung. Dieses Argument ist aus religiösen wie bildungstheore‐ tischen Gründen höchst bedeutsam, aber auch sehr vage und aus religionskritischer Sicht bestreitbar. 7. bildungstheoretisch. Dieses Argument führt das anthropologische fort. Religion bzw. Religiosität sind Teil der umfassend verstandenen Bil‐ dung (d. h. Entfaltung, → 17) eines Menschen, die ohne diesen Bereich rudimentär und aus religiöser Sicht ohne Basis bleibt. Religion macht Menschen in besonderer Weise orientierungs-, deutungs-, sprach- und lebensfähig. Bildung ist eine Aufgabe, die der Staat als Möglichkeit garantieren und anbieten muss. Darum unterhält er Schulen, Erwachse‐ nenbildung usw., und darum muss in ihnen Religion thematisch werden. 70 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="71"?> Das Argument ist sehr plausibel, zumal die Bedeutung der Bildung öffentlich stark diskutiert wird, wird aber kaum gehört. Wichtig sind in einer individualisierten Gesellschaft vor allem Argumen‐ tationen, die die Bedeutung der Religion für die eigene Lebensführung ausweisen. Der Bedeutungsverlust der traditionellen Religionsformen (Kir‐ che und Theologie) darf also nicht zu einer vorschnellen Verabschiedung der Religion überhaupt führen. Für die Menschen wäre der Verlust der Religion eine Einbuße an Lebensqualität - an Orientierung, an Selbstdeu‐ tung und Weltverstehen, an Gewissheit, an Verwurzelung in einem sie Übersteigenden, darum an Sinnerfahrung. Dies unterstützt vor allem das anthropologische und das bildungstheoretische Argument, gilt mittelbar aber auch für das kulturtheoretische und das gesellschaftliche. 5 Religionspädagogische Zielhorizonte Was soll das Ziel religionspädagogischer Bemühungen sein? Was ist sinn‐ volles religiöses Lernen? Die Frage muss schon deshalb gestellt werden, weil es nur allzu nahe liegt, vermeintlich „wahre“ vorgegebene Inhalte weiterzugeben, ohne nach deren Bedeutung für die Menschen zu fragen. Vor jeder Form von deduktiv-abbildlicher „Resultatsdidaktik“ (D. Zilleßen), die immer schon weiß, was wahr ist, kann religionspädagogisch nur gewarnt werden. Echte Religiosität, die sich die Religion innerlich zu eigen macht und sie in persönlicher Weise lebt, setzt Freiheit voraus. Zur Freiheit aber kann nicht erzogen, sie muss gebildet werden. Darum gilt: „Nicht Bevormundung, sondern die Befähigung zu kritischer Rationalität und entfalteter Emotionalität in religiösen Fragen bilden … das Ziel von Religionsun‐ terricht. Zur gelebten Demokratie gehört auch die religiöse Kompetenz, sich für einen bestimmten Lebensentwurf zu entscheiden und lebensfreundliche von lebensfeindlichen religiösen Angeboten … zu unterscheiden.“ (Hemel, in Angel 2000, 71) Was Ulrich Hemel hier vom RU sagt, lässt sich auf die ganze RP übertragen. „Entfaltete Emotionalität“, ein eigener selbst verantworteter „Lebensent‐ wurf “ - das sind Lern-„Ziele“, die sich direkt gar nicht anzielen lassen. Hemel hat darum als erster von „religiösen Kompetenzen“ gesprochen, die solche für die RP grundlegenden Dimensionen mit einbeziehen. In seinem 71 5 Religionspädagogische Zielhorizonte <?page no="72"?> Buch „Ziele religiöser Erziehung“ (1988) nennt er als Ziele Mündigkeit und Emanzipation, Reife und Identität, Menschenwürde und Humanität; als zugehörige Kompetenzen nennt er an erster Stelle religiöse Sensibilität, dann religiöses Ausdrucksverhalten, eine Kompetenz in religiösen Inhalten (erst an dritter Stelle! ) und eine religiös motivierte Lebensführung. Diese ausgesprochen plausible und weit reichende Liste ist bis heute religionspä‐ dagogisch kaum wirklich eingelöst. Vor allem geben das symbolische Ver‐ stehen (dass Religion also keine Faktenaussagen macht) und die begründete eigene religiöse Positionierung sinnvolle Zielhorizonte an, die die faktischen religiösen Lernvorgänge in Schule und Gemeinde aber nur in den seltensten Fällen kennzeichnen. Klug ist auch die Idee von Rudolf Englert, in einem „Dimensionierungs‐ modell von Religiosität einzelne Komponenten religiöser Kompetenz zu un‐ terscheiden, insbesondere: religiöse Sensibilität, religiöses Wissen, religiöse Kommunikationsfähigkeit, religiös motivierte Handlungsbereitschaft und religiöse Positionierungsfähigkeit.“ (NHRPG 54). Religiöse Bildung ist also weitaus mehr als biblisches oder theologisches Wissen. Religiöse Bildung entsteht durch verschiedene Dimensionen religiösen Verstehens, Deutens und Praktizierens, zu denen gehören: a. Sachwissen. Biblisches, religionshistorisches, symbolisches … Wissen, Information über religiöse Kultur und ihre Ausdrucksformen und Glaubenslehren, Kenntnis über (Welt)Religionen, ihre Erscheinung, ihr Wesen und ihre kulturelle, öffentliche und persönliche Bedeutung, ein Wissen um die innere Spannung zwischen religiösem Erleben und religiöser Kultur (→ 2.2) b. Hermeneutische bzw. Deutungskompetenz: Reflexion, Zuordnung und Beurteilung von religiösen bzw. religiös deutbaren Phänomenen in der gegenwärtigen und vergangenen Kultur: ihrer äußeren Erscheinung und ihrer inneren Vollzugslogik sowie ihrer Bedeutung für Kulturge‐ schichte und Leben heute c. Religiöse Sensibilität: emotionales Gespür und Sinn für die Eigenart religiöser Wahrnehmung und religiöser Weltsicht, Verständnis für reli‐ giöses Erleben d. Für religiöses Lernen entscheidend wichtig, oft aber übergangen ist eine Anwendungs-, Beteiligungs- und Inszenierungsfähigkeit, d.h.: religiöse Sprach-, Ausdrucks- und Gestaltungsfähigkeit, Befähigung zu religiö‐ ser, liturgischer und spiritueller Praxis 72 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="73"?> e. Lebensorientierung: religiöse oder religiös angestoßene Selbstdeu‐ tungsfähigkeit und Selbstentfaltung, die sich selbst mitsamt aller Fähig‐ keiten und der eigenen Autonomie als verdankt und in einem vorgege‐ benen, unverfügbaren Kontext weiß und als Reife und Lebensklugheit verstehen lässt. Dazu gehören auch sinnvolle Erwartungen an das Leben, Verstehen des Zusammenhangs der eigenen Lebensgeschichte, angemessener Umgang mit erfahrenem Leid und mit den Fragen nach Sinn, Glück und Erfüllung. Diese Dimensionen stehen nicht je für sich, sondern sind nur zugleich und als sich überlagernd denkbar. So gibt es z. B. keine religiöse Bildung ohne religiöses Gespür und ohne Selbstbezug. Insgesamt zielen diese Dimensio‐ nen auf ein religiöses Lernen, das zur Lebensfähigkeit beiträgt: „Daraus ergibt sich die Aufgabe religiöser Erziehung, einen positiven Beitrag für die Ich-Stärkung zu leisten. Religiöse Erziehung kann die Erfahrung vermitteln, dass das Leben lebenswert ist; die Überzeugung stärken, dass Heranwachsende für andere Menschen wertvoll sind; an die Kompetenz erinnern, schon öfter Schwierigkeiten gemeistert zu haben und auf diese Weise Menschen aufbauen und ermutigen; die Gewissheit verstärken, geborgen zu sein; und das Gefühl der Hoffnung vermitteln, dass das Leben gut ausgeht. Negativ ausgedrückt geht es um die Vermeidung von Angstgefühlen (Bedrohung), von falschen Schuldgefühlen (tue nichts richtig), Inkompetenzgefühlen (kann nichts wirklich), Minderwertig‐ keitsgefühlen (bin nichts wert) und Sinnlosigkeitsgefühlen (das ganze Leben ist nichts). Christlich-religiöse Erziehung ist demnach die Anleitung, mit diesen Gefühlen umgehen zu lernen und Erfahrungen mit Tod, Leere, Sinnlosigkeit und Schuld bewältigen zu können.“ (Ziebertz in Hilger u. a. 2001, 116) Der Bezug religiöser „Erziehung“ (die hier eigentlich religiöse Bildung heißen könnte) zur je eigenen Person, den Hans-Georg Ziebertz hier auf‐ zeigt, ist ausgesprochen einleuchtend. Zwar klingt er zunächst „nur“ nach psychologischer Hilfe - das entspricht aber eben zutiefst dem ur-christlichen Gedanken der Liebe Gottes zu den Menschen und der Grundidee aller Religion: der Heiligkeit des Lebens. Religiöses Lernen muss grundsätzlich der Bildung (→ 17) dienen, also der Entfaltung der Person. Angesichts des verbreiteten Desinteresses an Religion ist religiöses Lernen aber bereits dann sinnvoll, wenn religiöses Interesse (→ 18.4) geweckt ist. 73 5 Religionspädagogische Zielhorizonte <?page no="74"?> Zusammenfassung Die Katechetik ist die strukturierte Weitergabe des christlichen Glau‐ bens. Besser als von Glauben sollte man heute von religiösem Lernen, noch besser von religiöser Bildung sprechen. Diese ist zunächst und vor allem ein Wissen um Religion als kulturelle Form, die symbolische Lebensdeutung ist und in produktiver Spannung zum religiösen Erle‐ ben steht. Religiöse Erziehung und Sozialisation sind wichtig für die Kenntnis der religiösen Kultur. Vor allem aber trägt religiöse Bildung grundlegend zur Entfaltung, Orientierung und Stärkung des Menschen bei. Sie entsteht vorwiegend aus dem Gespür für die symbolische und performative (System-)Logik der Religion. Literatur Zu 1: LexRP Art. „Katechese, Katechetik“ - C. Grethlein 1998, 43-58 - N. Mette 2006, 77-78 - NHRPG III.3.3. Zu 2: W. James 1997 - W. Gräb 2006 - U. Barth 1996. Zu 3: H. Schmidt 1991, 9-26 und 168-183 - NHRPG II.4.2. Zu 4: G. Adam/ R. Lachmann 2003, 121-13 - R. Schröder 2008 - N. Bolz 2008. Zu 5: NHRPG I.8 - PrTh 36 (2001) (Themenheft religiöse Kompetenz) - H.-G. Ziebertz in G. Hilger/ S. Leimgruber/ H.-G. Ziebertz 2001 - U. Hemel 1988 - U. Hemel in Angel 2000. 74 2 Die Aufgabe der Religionspädagogik: religiöse Bildung <?page no="75"?> 3 Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik Wozu wird Religion unterrichtet? Um Gottes Wort zu verkünden, um die Tradition zu verstehen, oder um Menschen unter heutigen Bedingungen lebensfähig zu machen? Wenn einzelne Begründungen für religiöses Lernen (→ 2.4) zur Idee hinter einem größeren Zusammenhang werden, der auch weitere Rahmenbedingungen bedenkt, dann sprechen wir von einer Kon‐ zeption. Solche Modelle werden historisch oft erst im Nachhinein erkennbar. Sie reflektieren Zielhorizonte, die Rolle der Lehrenden, die wichtigsten Gehalte usw. Die grundlegenden Konzeptionen sind bisher im Blick auf den RU formulierte worden; sie müssen aber für alle Bereiche des religiösen Lernens anwendbar sein. Die Entwicklung verläuft im evangelischen und im katholischen Bereich weitgehend parallel. Überblickt man die mittlerweile klassisch gewordene Abfolge der religi‐ onspädagogischen Konzeptionen, so wird deutlich, dass jede von ihnen den typischen Stempel einer Generation trägt. Die Prägungen bestimmter Jahrgänge gehen hier sichtbar in die Vorstellungen ein, wie christlicher Unterricht zu gestalten sei. Die Abfolge lässt sich also als fortlaufender religionspädagogischer Zeitenwechsel verstehen, der bei aller historischer Relativität allerdings jeweils zu bleibenden Einsichten führt. Deutlich zeigt sich auch der Vorgang der Ent-Traditionalisierung, der parallel zur allge‐ meinen kulturellen Entwicklung verläuft. 1 Liberale RP Die Entstehung der jungen Disziplin RP fällt mit ihrer liberalen Epoche am Anfang des 20. Jh. zusammen. Die Liberale Theologie, die den Hintergrund abgab, zeichnete sich aus durch ihren Kulturbezug und ihre Hochschätzung der „Persönlichkeit“. Es war die Zeit des deutschen Kaiserreiches und der Kulturblüte des Jugendstils mit Gustav Mahler, Richard Strauss, Hugo von Hoffmannsthal, Rainer Maria Rilke, Arnold Böcklin, Gustav Klimt, und auch die Zeit von Sigmund Freud und Max Planck. Die RP nahm vor allem psychologische Einflüsse auf, die sich gegen eine einseitige Orientierung an dogmatischer Theologie richteten. Anstelle der Christologie stellte sie Botschaft und Leben Jesu in den Mittelpunkt. Ihr Ziel war nicht mehr die <?page no="76"?> Kirche, sondern die reife Persönlichkeit als Teil eines gebildeten Charakters und in ihrem Bezug zur Kultur. Richard Kabisch (1868-1914) hatte mit seinem Buch „Wie lehren wir die christliche Religion? “, das seit 1910 in mehreren Auflagen erschien, einen starken Einfluss. Er markierte die Abwendung von einer deduktiven Anwendungspädagogik kirchlich normierter religiöser Gehalte und stellte die Frage nach der Lehrbarkeit der Religion (→ 10.4) vor einem wissen‐ schaftlichen Horizont, ferner in Bezug auf alltagsreligiöse Erfahrungen. Religion ist Teil der Selbstbildung: „Der Mensch hat ein Recht auf Religion, so gut wie auf ein Dach, das ihn schützt gegen Wetter und Wind“ (Kabisch 1920, 2). Kabisch forderte darum - sehr modern! - die empirische Erforschung der Entwicklung des religiösen Bewusstseins; für sie schien ihm das Gefühl von zentraler Bedeutung. „Erlebnis-“ und „Phantasiearbeit“ sollen als Brücke zwischen Vorstellung und Gefühl gebraucht werden: „Der Religionsunterricht will objektive Religion vermitteln, um subjektive zu erzeugen … Der Unterricht schaffe Erlebnisse. Es handelt sich im Religionsunter‐ richt nie und nirgend um ein bloßes Wissen. Was aus dem religiösen Leben anderer objektiv geworden ist und nun als objektive Religion mitgeteilt wird, wird lediglich mitgeteilt, damit sich die subjektive Religion daran entzünde.“ (Kabisch 1910, 106, 120) Damit war eine psychologische Grundlegung der RP gegeben: es ging um das religiöse Selbstbewusstsein einer Person, das didaktisch und methodisch stimulierbar ist. Kabisch empfahl vor allem das emotionale Vortragen von Erzählungen. Auch wenn Kabischs Gedanken durch die nachfolgende Konzeption der „Evangelischen Unterweisung“ scharf abgelehnt wurden, so sind seine Ein‐ sichten aus heutiger Sicht ausgesprochen hellsichtig. Religion und Gefühl hängen in der Tat untrennbar zusammen. Religion sperrt sich gegen den rein rationalen Zugang, sie braucht - vor jeder rationalen Auseinandersetzung - Emotionen, Personen, Atmosphären und äußere wie innere Beteiligungen. Otto Eberhard, ein weiterer Vertreter der Liberalen RP und Gründer der Evangelischen Erziehungsschule, griff in den 1920er Jahren Ideen der Arbeitsschule (Kerschensteiner) auf. Ähnlich wie bei Kabisch standen im Mittelpunkt das Kind und Erleben und Selbsttätigkeit der Schüler. Friedrich Niebergall verband mit seinem Buch „Der neue RU“ (1922) eine wiederum auf den Einzelnen bezogene RP mit dem objektiv gegebenen Christentum, das er als Kulturgröße und „Gesinnungsmacht“ verstand. 76 3 Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik <?page no="77"?> Nachhaltiges Interesse hatte er an der Entwicklung der „Persönlichkeit“, die niemals bruchlos in die gegenwärtige Kultur eingepasst werden kann, sondern immer eine eigenständige Profilierung haben sollte. Ein reifer Charakter ist aber nie ohne Bezug auf die Kultur, und diese nicht ohne Religion denkbar. Religiöse Bildung dient also der Kulturkenntnis ebenso wie der Selbstentfaltung. Niebergall bezog sich für seine Grundlegung der RP neben Pädagogik und Psychologie vor allem auf die Religionswis‐ senschaft. Das zeigt vor allem seine zweibändige „Praktische Theologie“ mit dem Untertitel: „Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage“. Ertrag und Kritik. Die Liberale RP geht auf den Menschen ein, seine Religiosität, seine religiösen Gefühle und seine religiöse Bildung. Sie weiß um die Bedeutung des religiösen Erlebens und orientiert sich am Auftre‐ ten Jesu, nicht am christologischen Glauben. Sie ist daher ausgesprochen aktuell, auch inhaltlich, denn sie will die Entfaltung des Menschen und geht auf Distanz zur dogmatischen Lehrtradition. Letzteres muss kritisch angefragt werden: Durch die weitgehende Gleichgültigkeit gegenüber der christlichen Tradition und die Betonung des religiösen Erlebens wird der identitätsstiftende und orientierende Rahmen der Tradition christlich-reli‐ giöser Lebensdeutung unterbewertet. 2 Evangelische Unterweisung / materialkerygmatisches Konzept In den 20er Jahren bereits begann sich ein Modell christlichen Unterrichts an den Schulen zu entwickeln, das die bis dahin vorherrschende liberale, kulturbezogene RP ablösen sollte: die Evangelische Unterweisung, bzw. das im katholischen Bereich sog. materialkerygmatische Konzept. Sie war an der sog. „Dialektischen“ Theologie orientiert, die dem theologischen Denken eine Verflechtung mit dem allzu menschlichen Bereich der Kultur, also eine vorschnelle Anpassung an die Welt vorwarf. Das bedeutete für sie einen Verrat am eigenen Auftrag. Im katholischen Bereich sprach man von der „materialkerygmatischen RP“. Zeitlicher Hintergrund war die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, der Zusammenbruch des Kaiserreichs, und damit das Ende einer langen deut‐ schen Kulturgeschichte. Führende Theologen hatten sich am Ersten Welt‐ krieg beteiligt - das war erklärbar aus dem kulturellen Selbstbewusstsein 77 2 Evangelische Unterweisung / materialkerygmatisches Konzept <?page no="78"?> der Epoche, allerdings aus christlicher Einstellung heraus nicht tragbar. Der scharfe Einspruch der Dialektischen Theologen, vertreten durch Karl Barth, Rudolf Bultmann, Paul Althaus, Friedrich Gogarten u. a., war also sachgemäß. Barth hatte in seinem Kommentar zum Römerbrief (1919, wirksam die Neuauflage 1921) darum den Bezug Gottes zum Menschen in den Mittelpunkt seines theologischen Denkens gestellt. Er polemisierte scharf gegen jede Vermengung theologischer Kernaussagen mit Kultur und Welt, lehnte sogar die Idee der modernen Autonomie ab; selbst den Begriff der Religion diskreditiert er aus theologischen Gründen als rein menschliche Selbst-Ermächtigung und damit als „Sünde“ und „Hybris“ (Überheblichkeit). Christlich kann es nur um Glauben gehen, verstanden als Antwort auf Gottes Zuruf. Diese Position sorgte in ihrer steilen Klarheit auch in der intellektuellen Öffentlichkeit für eine enorme Konjunktur theologischen Denkens. Es konnte nicht ausbleiben, dass sie sich in der RP wiederfand (- auch wenn Barth selbst nicht religionspädagogisch gewirkt hat). Die Evange‐ lische Unterweisung stellte entsprechend den Begriff der Verkündigung klar in ihren Mittelpunkt; faktisch war sie weitgehend Bibelunterricht. Grundüberzeugung war die Annahme, dass es im RU nicht um Religion, sondern nur um Glauben und das Wort Gottes gehen könne. Entsprechend galt der RU als Verkündigung des Evangeliums in der Schule, war also kirchlich gebundener Auftrag. Die Fremdheit dieses Auftrags im staatlichen Schulbereich wurde durchaus gesehen, aber gerade bewusst betont. Der Religionslehrer war „Zeuge“ des Evangeliums, seine Glaubensüberzeugung wurde entsprechend hervorgehoben. Kern war der Zuspruch und Anspruch Gottes, der an den Schüler zu vermitteln sei und diesen zum Glauben bzw. zu einer Entscheidung zum Glauben führen sollte. Zentraler und fast einziger Inhalt war darum naheliegenderweise die Bibel. Starke Wirkung hatte vor allem Gerhard Bohnes Buch „Das Wort Gottes und der Unterricht“ (1929). Bohne forderte hier einen Bruch mit dem libe‐ ralen religionspädagogischen Denken. Er lehnte Kulturbezug zwar nicht ab, verstand das Wort Gottes aber als „Krisis“ und „Störung“ allen Weltbezugs. Es kann im RU nicht um Religion gehen, da diese menschliche Anlage sei; sondern allein um den von Gott gewirkten Glauben. RU ist darum als Verkündigung des Wortes Gottes zu bestimmen, der Lehrer als engagierter Zeuge des Glaubens. Das Ziel des RU war die Entscheidung der Schüler zum Glauben. 78 3 Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik <?page no="79"?> Sehr ähnlich dachte auch Oskar Hammelsbeck, ein weiterer wichtiger Vertreter der Konzeption. Nicht die Kultur, nicht der Mensch, nicht ir‐ gendein „Anknüpfungspunkt“ oder religiöses Aproiri im Menschen, keine Pädagogik kann Bedingung und Ausgangspunkt sein - sondern allein der Glaube als Antwort auf den zuvor ergangenen Anruf Gottes. RU ist darum Verkündigung des Wortes Gottes in der Schule. Wiederum ähnlich wie Bohne argumentierte Martin Rang (1939). RU ist Kirche in der Schule, er ist Teil des Katechumenats, das in der Taufe begründet ist und zur Kirche hinführen soll. Er ist „nachgeholter Taufunterricht“. Dafür kann es im strengen Sinne nicht einmal eine (religionsdidaktische) Methodik geben; denn wirksam ist letztlich nur der Heilige Geist. Helmuth Kittel legte mit seinem Buch „Religionsunterricht“ (1947) die Bilanzierung des Konzepts vor. Es beginnt mit der Aussage: „Nie wieder Reli‐ gionsunterricht! “ Die Aufgabe hieß für Kittel „Evangelische Unterweisung“. Jede Wissenschaftsorientierung (etwa an Psychologie) wird als Aberglaube bezeichnet. RU ist ein „Fremdkörper“ in der Schule, denn er wird „im Zusammenhang mit dem Leben der Kirche“ erteilt. Kittel war durchaus pädagogisch interessiert; so betonte er z. B. die Bedeutung des Lehrers und seiner Glaubenseinstellung. Dennoch favorisierte er klar ein deduktives Denken aus biblisch-christlichen Vorgaben. Kittels Buch wurde Wegbereiter für die durchschlagende Wirkung des Modells nach Ende des Zweiten Weltkriegs und prägte bis in die 60er Jahre hinein den RU, darüber hinaus auch den Konfirmandenunterricht. Ertrag und Kritik. Die Konzeption zeigt Klarheit und gläubiges Engage‐ ment. Sie hat missionarische Züge und setzt auf vorwiegend katechetische Einweisung in das Hören und Verstehen des Evangeliums. Sie kann darum als klassischer Fall religiösen Erziehungsdenkens betrachtet werden. Sie weiß um den unverzichtbaren Bezug christlichen Lehrens und Lernens zur Kirche, hat darum die kirchliche Bevollmächtigung für die Unterrichtenden eingeführt (ev. „Vocatio“, kath. „Missio“). In ihrer Betonung der Glaubens‐ entscheidung wirkt die Philosophie des Existentialismus - was bereits zeigt, dass eine Unabhängigkeit von Zeithintergrund und Kultur für die RP gar nicht möglich ist. Man hat diesem Konzept „Autoritäre Behauptungskultur“ (Wegenast, TRE 28, 710) vorgeworfen - was nicht von der Hand zu weisen sein dürfte. Völlig offen ist die Frage nach dem Recht der Kirche auf schulischen, also staatlichen RU. Vor allem aber werden die Schüler mit ihren Fragen, Sorgen, Bedürfnissen ebenso wenig reflektiert wie die gegenwärtige Lebenswirklichkeit; sie kommen vorwiegend als passive Empfänger der 79 2 Evangelische Unterweisung / materialkerygmatisches Konzept <?page no="80"?> Glaubensbotschaft in den Blick. Glauben und Lebenserfahrung bleiben getrennt. Eine spezifische Didaktik ist nicht vorgesehen. 3 Hermeneutische RP Die Evangelische Unterweisung setzte eine geschlossene christliche Glau‐ benskultur und ein allgemeines Einverständnis mit ihr voraus. Das sollte sich bald als überholte Annahme erweisen. Die Gesellschaft veränderte sich rapide. Traditionsgeleitete Unterweisung passte nicht mehr bruchlos zum „Wirtschaftswunder“ mit seinem Einzug von Technik und Konsum in die Lebenswelt. „Wissenschaft“ war öffentlichkeitswirksam und populär ge‐ worden; Auto, Flugzeug, Fernsehen, Telefon, Waschmaschine usw. wurden in wenigen Jahren selbstverständlich und veränderten das Lebensgefühl der Menschen. Die RP war jetzt deutlich herausgefordert. Die exklusive Bindung an Bibel und Bekenntnis war in einer modernen Gesellschaft nicht mehr als übergreifendes Begründungskonzept möglich. Das verlangte eine Umori‐ entierung, die einer Zerreißprobe glich: Wie konnten schultheoretische, gesellschaftliche, wissenschaftliche Bedingungen aufgenommen werden, ohne dass dabei die Zentralstellung der biblischen Tradition aus dem Blick geriet? So griff die RP zu einer Begründung des schulischen RU, die bis heute eine hohe Plausibilität hat: RU galt ihr als Einführung in die christlich geprägte Kultur. Das war die Grundlage der Hermeneutischen Konzeption (Hermeneutik = auslegendes Verstehen, das hier noch vorwiegend auf historische Texte bezogen war, → 16.4). Damit kam es erneut zu einer Anknüpfung an die führende Theologie der Zeit, diesmal an die von Rudolf Bultmann, der mit seiner Aufnahme der Existenzphilosophie und seinem Programm der „Entmythologisierung“ der Bibel für öffentliche Diskussion gesorgt hatte. Im Mittelpunkt der RP standen jetzt die Zeugen des christlichen Abend‐ landes, die bis heute kulturprägenden sittlichen und künstlerischen Über‐ lieferungen, allen voran die Texte der Bibel. Die Vertreter dieser Konzeption hielten es für unrealistisch, die Wirklichkeit Gottes im Unterricht erschlie‐ ßen zu wollen; sie gingen nicht mehr davon aus, „daß sich ein wahres Verstehen der Bibel schon deshalb ereignen könne, weil alle, auch alle Schüler, in der Gemeinschaft des Glaubens ihren Platz haben … Die Fragen, 80 3 Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik <?page no="81"?> die es … jetzt zu lösen galt, lauteten: Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, wieder einen Zugang zur Tradition zu gewinnen? Und: Wie kann solches legitim geschehen? “ (Wegenast in Zilleßen u. a. 1991, 29). RU soll nicht zum Glauben führen, sondern zum Verstehen der biblischen Überlieferung, da diese Teil unserer Kultur und zum eigenen Selbstverständnis wichtig ist. Als Grundanliegen galt jetzt interpretierendes Verstehen mit Hilfe der Wissenschaft. Das sollte auch die eigene Existenz aufschließen, konkret zu einer existenziellen Entscheidung führen (das wird bei der Kritik an dieser Position oft übersehen). Der Religionslehrer ist Ausleger, „Hermeneut“ der Überlieferung. Das bedeutet die Rückkehr der pädagogischen Begründung des RU, ferner den Bezug zur exegetisch-kritischen Auslegung der christli‐ chen Tradition, allem voran: der Bibel. Ein so verstandener RU konnte sich gleichrangig mit anderen schulischen Fächern fühlen. Den Beginn der Phase markierte Martin Stallmanns Buch „Christentum“ (1958). Hier wurde der Bezug zu Schulwirklichkeit und Bildungstheorie explizit gemacht. Die These: RU muss auslegend verfahren und verstehende Erschließung der christlichen Tradition sein, die als Bedingung des eigenen Selbst-Verstehens gesehen wird. Damit stand nicht mehr der Glaube, son‐ dern existenzielles Fragen im Mittelpunkt des Interesses. Heinrich Stock (1960) brachte zudem das Vorverständnis der Ausleger ins Spiel: der RU kann nicht (mehr) von der „Voraussetzung besonderer Gläubigkeit“ ausgehen, er würde sonst ein unwirkliches „Religionsstun‐ den-Ich“ fördern. - Gert Otto (1961) betonte vor allem die Differenz des RU zum kirchlich-katechetischen Unterricht, von dem er vor allem den Religionslehrer abgrenzte. Ertrag und Kritik. Der RU wird pädagogisch und schultheoretisch begrün‐ det, was ihn öffentlich plausibel macht. Betont wird das unverzichtbare Recht der Tradition und ihr Sinn auch unter gegenwärtigen Lebensbedin‐ gungen. Unter Einbezug moderner Wissenschaft wird die Zentralstellung der biblischen und christlichen Themen beibehalten, unter verändertem Blickwinkel und Zugang: Nicht Glaube, sondern Verstehen ist die leitende Idee. Dadurch hat das Modell eine grundsätzliche Bedeutung. Die veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit kommt ihm allerdings nicht wirklich in den Blick. Ebenso wie in der Evangelischen Unterweisung ist darüber hinaus die stark gewachsene Bedeutung der autonomen Subjektivität der Schüler zu wenig gesehen - trotz Betonung der Existenz-Entscheidung. „Das herme‐ neutische Ziel des Verstehens bzw. Selbstverständnisses des Schülers hätte eine Erschließung der Verstehensvoraussetzungen, also psychologische 81 3 Hermeneutische RP <?page no="82"?> Forschungen, nahelegen müssen“ (Schmidt 1991, 107). Das Modell bleibt deduktiv und im Rahmen vergangener Tradition, die heutige Lebenswelt kommt nur am Rande in den Blick. Sein anspruchsvolles theologisches Analysieren ist auch in methodischer Hinsicht problematisch. 4 Problemorientierte RP Das hermeneutische Konzept war nur wenige Jahre lang erfolgreich. Es konnte nicht verborgen bleiben, dass es sich nach wie vor an den traditio‐ nellen Stoffen abarbeitete, allen voran der Bibel. Wegbereiter eines neuen Konzepts wurde Hans-Bernhard Kaufmann bereits 1966 mit dem wenige Druckseiten umfassenden Thesenpapier „Muß die Bibel im Mittelpunkt des RU stehen? “, das eine fanalartige Wirkung zeitigte - die Zeit war offensichtlich reif für eine weitere Veränderung: „Die traditionelle Mittelpunktstellung der Bibel als Gegenstand und Stoff des Religionsunterrichts ist ein Selbstmißverständnis und weder theologisch noch didaktisch gerechtfertigt. (…) Die gegenwärtige Krise des Religionsunterrichts, wie sie u. a. in den epidemischen Abmeldungen in manchen Gegenden zum Ausdruck kommt, ist m. E. auch darin begründet, daß ein Religionsunterricht, der sich fast ausschließlich im Medium der biblischen Bücher und der traditionellen christlichen Stoffe bewegt, als ob es nur um ihre Auslegung und Tradierung, um ihre Übernahme und Aneignung gehe, von Schülern, die diese Texte kritisch anfechten und die von ganz anderen Themen und Fragen bewegt werden, als Fremdkörper und Getto empfunden wird. (…) Die Frage nach Gott und das Zeugnis des Neuen Testaments … gehen auf das Ganze der Wirklichkeit und des Menschen. Sie kommen deshalb in ihrer Bedeutung nur dann recht in den Blick, wenn es gelingt, sie im Kontext der geschichtlichen Welt und der menschlichen Lebenswirklichkeit sowie im Dialog mit dem Welt- und Selbstverständnis des heute lebenden Menschen zur Sprache zu bringen.“ (Kaufmann in Otto/ Stock 1968, 79 f.) Das war scharf formuliert und schlug einen neuen Ton an, und es hat bis heute Gültigkeit. Kaufmann wollte die Bibel keinesfalls ersetzen; seine Kritik richtete sich gegen einen „materialen Bildungsbegriff “, der die Bibel als Lernstoff behandelt und der eine „traditionsgeleitete Orientierung theologi‐ schen und kirchlichen Denkens“ spiegelt. Gegen solchen Formalismus stellte 82 3 Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik <?page no="83"?> er die Stichworte „Lebenswirklichkeit“ und heutiges „Selbstverständnis“. Das sind klassische Formulierungen für die moderne Aufgabe der RP bis heute. Für sie will Kaufmann die Bedeutung der Bibel gerade neu hervorhe‐ ben. Spätestens die Proteste der 68er-Generation gegen Autorität und nicht hinterfragte Tradition nötigten auch öffentlich zu einer neuen Ortsbestim‐ mung. Äußerlich zeigte sich die Nötigung in massenhaften Austritten von Schülern vor allem der höheren Klassen aus dem RU, die ihre Parallele in der ersten Austrittswelle aus den Kirchen hatte. Auf einem Transparent war zu lesen: „Unter den Talaren / Der Muff von tausend Jahren“; ein Flugblatt forderte: „Laßt euch nicht länger mit Jesus und Paulus abspeisen! … Meldet euch beim Religionslehrer ab! Scheut etwaige Konflikte mit Eltern und Lehrern nicht. Beginnt damit, den Religionsunterricht auszutrocknen. Massenhaft. Dann wird der Weg frei für einen kritischen Unterricht.“ (EvErz 2/ 1968, 484) Um diese drastische Kritik zu verstehen, muss wieder auf den Zeithinter‐ grund eingegangen werden. Russland hatte - für die Weltöffentlichkeit völlig überraschend - 1957 den ersten Satelliten um die Erde geschickt, während in deutschen Klassenzimmern nach wie vor „Faust“ und die Bibel behandelt wurden. Dieser „Sputnik-Schock“ führte Georg Picht zur Diagnose der „Deutsche(n) Bildungskatastrophe“ (1964), was eine heftige öffentliche Diskussion um die Rückständigkeit des Bildungssystems aus‐ löste. Diese mündete in die nachhaltige und breitenwirksame Rezeption der sog. curricularen Lehrplantheorie (Saul B. Robinsohn 1969, → 12.3). In den USA hatte sich zur gleichen Zeit infolge des ebenso sinnlosen wie menschenverachtenden Kriegs in Vietnam die Protestbewegung der Hippies verbreitet, die sich gegen das etablierte Bürgertum richtete und alles, was zu dieser Zeit „Ruhe und Ordnung“ versprach. Es kam zu einer neuen Subkultur des provozierenden Äußeren (Blumen, Tücher, lange Haare usw.) mit freier Sexualität, Rauschgiftkonsum, exzessiver Popmusik. Die Bewegung fand in Deutschland ihren Widerhall in den Studentenunruhen. Speziell die Popmusik und mit ihr das neue Lebensgefühl konnte sich über die neuen Medien schnell verbreiten. Elvis Presley, Beatles, Rolling Stones, das legen‐ däre Woodstock-Festival (1969) u. a. wurden zu Symbolen einer beginnenden Gegenkultur, die sich gegen Tradition, Autorität, Ordnung und Wohlstand richtete und zu heftigen Konflikten der Jüngeren mit ihren Eltern führte. Hier nahm die sog. Problemorientierte Konzeption ihren Ausgangspunkt, 83 4 Problemorientierte RP <?page no="84"?> die einen Bruch mit den vorausgehenden Entwürfen darstellte und bis heute weitgehend bestimmend geblieben ist. Der RU wurde jetzt zentral als Arbeit an den Problemen der Wirklichkeit verstanden. Er hatte konsequenterweise die Zielvorstellung, dem Schüler mit Hilfe der christlichen Religion Orientierung in der gegenwärtigen Welt zu geben, war also wiederum klar pädagogisch begründet, nicht mehr theolo‐ gisch oder gar kirchlich. Grundlegende Idee war, dass sich die Bedeutung der Bibel, des Glaubens und der christlichen Tradition nur im Rückschluss von heutigen Fragen aus ergeben kann, bei diesen ist darum (zunächst) anzusetzen. Darum sind „Themen statt Texte“ (Gloy) zu unterrichten, die die heutige „Erfahrung“ berücksichtigen müssen. Das Vorgehen muss induktiv sein und sich auf die Gegenwart beziehen. Im Umgang mit der gegenwärti‐ gen Wirklichkeit galten Emanzipation, Mündigkeit, Kritikfähigkeit als neue Leitziele. Hier zeigte sich starker ein Einfluss des modernen Öffentlichkeits‐ bewusstseins. Neben aktuelle Gesellschaftsfragen trat eine Orientierung an den Hu‐ man-Wissenschaften (Soziologie, Anthropologie usw.). Von besonderer Bedeutung waren die neuen Lernziele, die aus der allgemein breit rezept‐ ierten Curriculumtheorie (→ 12.3) übernommen wurden, und die das Unterrichtsgeschehen planbar und überprüfbar machen sollten. Der allge‐ meine Zielhorizont war nicht mehr die Hinführung zum Glauben oder Traditions-Verstehen, sondern religiöse Sozialisation, die als „Ausstattung zum Verhalten in der Welt“ verstanden wurde; das zeigt, dass der RU eine stark ethische Akzentuierung erhielt, nicht mehr eigentlich eine religiöse. Der kritisch-moderne Geist der „68er“ war hier deutlich zu spüren, ebenso das Bestreben, im RU Anschluss an die neue Zeit zu gewinnen. Vermuten lässt sich auch ein unterschwelliger Einfluss der anthropologisch akzentu‐ ierten Theologie von Paul Tillich (ev.) und Karl Rahner (kath.), die zu diesem Zeitpunkt stark verbreitet war. Sie fragte nach der Existenz des Menschen und wendete sich damit ab von einem normativen dogmatischen Denken. So kam es religionspädagogisch zur zentralen Orientierung an den Problemen der Gegenwart; der Lehrer fungierte jetzt vorwiegend als Moderator und Diskussionsleiter. Diese Grundlegung hat sich in ihrem erklärten Bemühen um kritische Auseinandersetzung weitgehend durchgesetzt und strukturiert die Lehrpläne bis heute. Neben Kaufmann und vielen weiteren Autoren hat vor allem wieder Gert Otto (1967/ 78) zum Ausbau dieser Konzeption beigetragen. Sie ist freilich weit weniger geschlossen als die vorangehenden; darum entstanden in 84 3 Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik <?page no="85"?> rascher Folge weitere Modelle mit je eigenem Profil. Otto selbst hat zusam‐ men mit anderen 1972 den RU als gesellschafts- und religionskritischen (! ) Unterricht entworfen, später wendete er sich einer RP als allgemeiner Religionskunde zu (→ 6.5). Ertrag und Kritik. Das Modell hat entschlossen den Bezug zur Gegenwart, zu Gesellschaft und Humanwissenschaften aufgenommen. Es gibt eine pädagogische Begründung des RU und versucht die Schüler angesichts der heutigen Weltlage ernst zu nehmen und zu kritischer Mündigkeit zu führen. Gleichwohl bleiben viele Fragen offen, denn hier wird die Auslegung der Tradition gleichsam ersetzt durch das Verstehen der modernen Weltsitua‐ tion. Kann man aber religiöse Inhalte als „Problemlösungspotenzial“ für heutige Problemsituationen einschätzen und so gleichsam verzwecken? Übergangen ist genau genommen auch die Situation der Schüler mit ihren Fragen, Nöten und Bedürfnissen. Verhandelt wurden nämlich grundsätzlich gesellschaftliche Probleme, deren Auswahl letztlich den Lehrplanern vorbe‐ halten blieb („das Problem der Probleme“). Der Zugang zur Wirklichkeit kann nicht ausschließlich über Problemorientierung erfolgen, denn das Leben ist mehr als ein Problemzusammenhang! Die religiöse Ur-Einsicht, dass das Leben ein unverrechenbares Heiligtum ist, wird hier vollkommen übergangen. Daran schließen sich didaktische Probleme an, etwa der alles verplanende „Lernzielfetischismus“, kognitive Überlastung und erwartbare Problemmüdigkeit. Am gravierendsten scheint der Verlust der religiösen Dimension; es gab im RU lange kaum ein Bewusstsein über deren Wesen und Eigenständigkeit gegenüber aller ethischen und gesellschaftlichen Verrechenbarkeit, und das hat sich bis heute wenig verändert. Auch die spätere Ergänzung sowohl durch biblisch-christliche als auch durch persönliche Themen führte zu sehr unbefriedigenden Misch-Modellen, die keine konsistente Begründung für religiöses Lernen mehr angeben konnten. 5 Sozialisationsbegleitende RP „Einem sozialtherapeutisch akzentuierten Religionsunterricht gelang es zweifel‐ los deutlicher als anderen Konzepten, Lernprozesse aus schulischer Enge zu öffnen.“ (Heimbrock 1998, 238) 85 5 Sozialisationsbegleitende RP <?page no="86"?> Das Zitat markiert die Sonderstellung des anfangs „therapeutisch“ genann‐ ten Modells, die sich auch daran zeigt, dass es Idee geblieben und als solche nie in die Lehrpläne eingegangen ist. Es gilt oft als Unterform des problem‐ orientierten Konzepts, was als Zuordnung allerdings beide Konzeptionen verzeichnet. Ideengeber und Entwickler des Modells war Dieter Stoodt (seit 1970). Es war das erste religionspädagogische Konzept, das weder theologische noch öffentliche Vorgaben übernahm, sondern konsequent bei den Schülern ansetzte: Es bestand als einziges auf dem Vorrang der personalen Situation vor dem Stoff. Es war darum in allem Ergänzung und Gegenstück zu der kritisch-rational (und kaum religiös) verfahrenden und auf die Gesellschaft gerichteten Problemorientierung, auch wenn diese die Absicht der „Emanzipation“ und der Humanorientierung hatte. Im Mittelpunkt stand hier der Schüler, nicht die Außenwelt, die Gesellschaft oder allgemeine Problemlagen, genauer: die Religion der Schüler, die vor allem gegen eine Naturwissenschaft verteidigt werden sollte, die „Sinn- und Zielfragen verstummen“ lässt. „Der vom RU zu leistende Beitrag ergibt sich daraus, wie die lebenspraktischen Probleme der Schüler mit der Arbeit an der religiösen Tradition verknüpft werden. Dieser inhaltlichen Hauptfrage wird niemand mehr ausweichen können.“ (Stoodt 1975, 38. Im Orig. kursiv) Grundgedanke war zum einen die wirkliche Zuwendung zum Schüler, zum anderen eine neue Wahrnehmung der Religion der Schüler, die diese meist nur in verzerrter und wenig lebensdienlicher Form kennenlernen. Stoodt erkannte hellsichtig die Gefahr fundamentalistischer Religiosität und beklagte offen, dass „durch gezielte und überzeugende Angebote aus dem Instrumentarium evangelistischer Praktiken infantil gebliebene religiöse Verhaltensweisen reaktiviert werden“, ferner eine „Reduktion komplexer Sachverhalte auf einfachste Formeln“, die er als „Hülsen ohne explizite Be‐ deutung“ bezeichnete. (Stoodt 1972, 214, 217, 218, 220) Bereits in den 1970er Jahren benannte er einen „Musealisierungseffekt“, wenn religiöse Gehalte als scheinbare Fakten weitergegeben werden. Als bisher einziger erkannte Stoodt die Lebens-Deutungsfunktion der Religion, die der „Selbstartikulation der Schüler“ durch religiöse Kommunikation dient. Er forderte, dass RU „von der Schülersituation her zu planen“ sei. Stoodt war neben den Liberalen der einzige, der auf die „Lebenspraxis Jesu“ verwies, also auf seine heilende Zuwendung zum Menschen. Stoodt verstand: Ein „schülerorientierter“ RU ist nicht dann ein solcher, wenn er theologische Inhalte auf Schüler bezieht, 86 3 Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik <?page no="87"?> sondern nur dann, wenn er die individuellen Fragen und Bedürfnisse von Schülern wirklich ernst nimmt. Religionspädagogisch ist ein Unterricht ferner nur dann sinnvoll, wenn er Religion bedenkt - und zwar wiederum so, dass sie für Schüler aufgeschlossen, wahrnehmbar und lebendig wird. Für Stoodt waren die Texte, Themen, Bekenntnisse und Formen der religiösen Tradition im besten Sinne Medien, die der Erschließung eigener heutiger Erfahrung dienen sollten (→ 13.3, 16.5). Damit nahm Stoodt eine klare Abgrenzung gegen die Lernzielorientierung vor: Unterrichtliche Interaktion kommt grundsätzlich vor jedem Themenbezug! Er ging weiter davon aus, dass Heil und Heilung nicht auseinandergerissen werden können und dass Religion nicht denkbar ist ohne Veränderung der persönlichen Sichtweise und des Lebensgefühls. Entscheidend für religiöse Lernprozesse ist immer die Innen-, nicht (primär) die Außenorientierung. Klar gesehen war auch, dass eine religiöse Sozialisation - gar eine gelungene - bei vielen Schülern nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Darum galt es zunächst, religiöses Halbwissen, Versatzstücke und Klischees zu klären und vor allem darum, den lebensdienlichen Sinn von Religion zu erschließen. Religion will kommuniziert, d. h. als Erfahrung aufgeschlossen und zugänglich gemacht werden. Stoodt ging dafür auf die „Lebenspraxis Jesu“ zurück und nannte als Aufgaben des RU Hilfe zur Selbsthilfe, zur Solidarisierung, zu stellvertre‐ tendem Handeln und zu alternativem Denken. RU ist primär die Interaktion zwischen Personen und menschlichen Grunderfahrungen; er zielt vor allem auf Lebenshilfe. Im Zentrum stand daher die Aufarbeitung von (religiösen) Sozialisations‐ defiziten. Stoodt ging von „falscher“ Religion und religiöser „Entfremdung“ aus (→ 18.1) und bezog sie auf mögliche Lebensentwürfe. Dies sollte zur Ich- und Selbstfindung der Schüler beitragen und um die Stärkung von Identität. Es war darum nahe liegend, dass das Modell den Bezug zur Psychologie herstellte. Der Lehrer hatte entsprechend eine seelsorgerliche und „therapeutische“ Funktion. Ertrag und Kritik. Das Konzept hat einen klaren Bezug zur Person und leistet als einziges wirkliche Subjektorientierung. Es ist neben der Libera‐ len RP das einzige nicht-kognitive und zusammen mit seinen Anliegen religionspädagogisch ausgesprochen bedeutsam. Es bemerkt erstmals die ambivalente Funktion von Religion, die schlechte Abhängigkeit erzeugen und neurotische Einstellungen begünstigen kann und setzt auf deren Ich-stärkende Dimension. Es weiß um die Erfahrungshaltigkeit und die persönliche Bedeutung der religiösen Gehalte, ist darum an Interaktion 87 5 Sozialisationsbegleitende RP <?page no="88"?> orientiert, dadurch grundsätzlich auch didaktisch stimmig. Auch wenn der Begriff nicht eigens reflektiert wird, liegt hier klar ein Bildungs-Konzept (→ 17) vor. Kritisch eingewandt wird immer wieder, dass der Religionslehrer nur im Ausnahmefall Seelsorger und Therapeut sein könne - wobei genau diese Funktionen gerade einen wirklich guten Lehrer ausmachen. Der Idealismus des Konzepts ist darum kritisch eher gegen die Schulwirklichkeit zu richten, weniger gegen das Konzept selbst. Für die über den RU hinausge‐ hende RP insgesamt behält das Modell eine hohe (und bisher unterschätzte) Bedeutung. 6 Offene Fragen und konstruktivistische Ansätze Faktisch bestimmt die Problemorientierung nach wie vor die RP. In den schulischen Lehrplänen wechseln Gegenwartsprobleme sich mit biblischen Stoffen und Themen der Lebenswelt ab. Sie wollen fast immer christliche Antworten auf Gegenwartsfragen, Verstehen der Überlieferung und Lebens‐ orientierung gleichzeitig anbieten - ein Sowohl-als-Auch-Modell, das keine konsistente Begründung mehr erkennen lässt. Symptomatisch ist, dass die Persönlichkeitsbildung und die klar am Menschen orientierten Anliegen der Liberalen und der Sozialisationsbegleitenden RP nicht aufgenommen werden, und das, obwohl die Individualisierung (→ 15) den Generalnenner der modernen Entwicklung angibt. Auch die an der persönlichen Religiosität orientierte religionspsychologische Forschung (→ 18.1), vor allem die Arbeiten von Bernhard Grom und Hans-Joachim Fraas, sind in der RP bisher ein Nebenschauplatz mit nur geringem Einfluss geblieben. Der Generalnenner der Erfahrungen, die die RP in ihrer bisherigen Debatte um die Konzeptionen und der sich anschließenden religionsdidak‐ tischen Modelle (→ 11) gewonnen hat, ließe sich als eine tendenzielle Hinwendung einerseits zu den Ausdrucksformen der Religion, andererseits zur religiösen Subjektivität begreifen. Die RP hat es in der Religion mit einer sehr eigenständigen, weitgehend subjektiven Dimension der Lebens‐ wirklichkeit zu tun, die keineswegs vorschnell durch Ethik und kritisches Denken ersetzbar ist. An die Stelle von Traditionsweitergabe müssen nicht nur Begegnungen mit der (christlichen) Religion treten, sondern vor allem ein Gespür für die je eigene, subjektive Religiosität. Dazu müsste konsequent die Bedeutung und Funktion der Religion für Menschen, Gesellschaft und 88 3 Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik <?page no="89"?> Kultur wiederentdeckt und entsprechend aufgearbeitet werden (→ 2.4, 18.1). In der Theoriebildung der RP wird zwar seit langem schon Erfahrungsbe‐ zug gefordert. Allerdings muss die RP vor allem klären, was eine religiöse Erfahrung ist. Erfahrung lässt sich nicht abstrakt einfordern. Und die RP muss, wenn sie auf Erfahrung setzt, immer auch den Weg zu ihr angeben, also eine entsprechende Didaktik anbieten - sonst liegt der Verdacht nahe, dass die gesuchte Erfahrung nur wieder die Erfahrbarkeit der immer schon vorhandenen und bekannten christlichen Inhalte ist, nicht die Erfahrung der Schüler. Die Erfahrung der Lernenden ist oft genug eine ganz andere als die christlich gewollte. Weder die Elementarisierung noch die Korrelation (→ 10.5) noch die viel diskutierten religiösen Entwicklungsmodelle (→ 4.4) sagen etwas aus über religiöse Interessen und Erschließungswege. Die religionsdidaktischen Modelle (→ 11), die keine eigenständigen Begründungen vorlegen, gehen einen Schritt in die gesuchte Richtung. Sie bieten Religion den Lernenden so dar, dass diese sich nicht nur selbst in ihr wiederfinden, sondern auch die Vollzugslogik der Religion verstehen können. Freilich bleiben auch diese Modelle bei der christlich-religiösen Tradition stehen. Der RU wird auch von den Kirchen längst als „Dienst am Schüler“ gesehen. Es bleibt als Frage aber: Was interessiert die Menschen eigentlich? Wie sind sie religiös ansprechbar, wie ist deren Religiosität selbsttransparent zu machen, wie ist sie kommunizierbar und förderbar? Das Problem ver‐ schärft sich dadurch, dass das Desinteresse an Religion inzwischen massiv gewachsen und durchgehend hoch ist (→ 14.5). Durch eine mögliche Ableh‐ nung hindurch Religion im Sinne der Menschen zu erschließen - das wäre die zentrale Aufgabe einer heute plausiblen RP. Hier fehlt ihr deutlich eine Reflexion der psychosozialen Verfassung der Menschen heute: Was bewegt sie? Was ersehnen sie sich? Wo finden und erhoffen sie sich Erfüllung, Glück, Sinn? Wie lässt sich Religion, ihre Tradition, das Evangelium auf solche Existenzfragen beziehen? Die Aufgabe der RP ist religiöse Bildung (→ 17). Das aber bedeutet nicht, religiöse Stoffe weiterzureichen, sondern Verständnis für Religion in einem umfassenden und entwicklungsfördernden und selbststärkenden Sinn zu wecken. Religiöse Bildung muss religiöses Lernen sein, also religiöse Erfahrung und religiöse Symbolisierung (→ 18.2) begreifen, und das ist ohne eine eigene religiöse Beteiligung nicht denkbar. Nur wer sich selbst als potenziell religiös erlebt, kann Religion überhaupt verstehen. 89 6 Offene Fragen und konstruktivistische Ansätze <?page no="90"?> Das ist auch die Einschätzung der konstruktivistischen RP. Sie nimmt seit einiger Zeit die Einsicht des philosophischen Konstruktivismus auf, dass es die Wirklichkeit nicht „an sich“ gibt, sondern immer nur in bestimmten Sichtweisen und Perspektivierungen. Diese werden subjektiv konstruiert, d. h. eigenständig und erfahrungsabhängig aufgebaut. Didaktisch gefolgert hat man daraus eine Bevorzugung selbstgesteuerter Lernprozesse (die in der schulischen Praxis allerdings oft nur bedeuten, dass man die Lernenden mit nach wie vor allgemeinverbindlichen Lernvorgaben allein lässt). Religiöses Lernen ist nur dann wirklich selbstgesteuert, wenn es sich selbst als religiös deutungsfähig zu begreifen lernt. Vor allem Dietrich Zilleßen hat in vielen Veröffentlichungen immer wieder eindrücklich deutlich gemacht, dass religiöse Stoff-Vermittlungen oder Weiterreichungen von Glaubensgehalten illusionär und konsequent als Sache erschließender Aneignung durch die Subjekte zu denken sind. Nicht Weitergabe eines Glaubens, nicht Vermittlung von Inhalten, sondern Aneignungsprozesse müssen bei der Erschließung von religiöser Wirklich‐ keit bedacht werden. Darum sind möglichst vielfältige Angebote zu machen, um den verschiedenen Sichtweisen und Verarbeitungsweisen der Subjekte entgegenzukommen. In diesem Sinne haben Bernd Beuscher und Dietrich Zilleßen schon sehr früh - und leider weitgehend unbeachtet - als Zweck der RP überhaupt formuliert: „Wir favorisieren … Religionspädagogik als wissenschaftliche Erforschung der Bedingungen für mögliche Religionsfähigkeit.“ (Beuscher/ Zilleßen 1998, 63) Auch für Hans Mendl ist Wirklichkeit nicht objektiv beschreibbar, ganz an‐ ders als die Naturwissenschaft das nahelegt. Vorerfahrungen, Sichtweisen, Verstehenshorizonte gehen in die Weltsicht immer mit ein; und das gilt selbst für die Erkenntnisinteressen von Naturwissenschaftlern. Religiös ist das von fundamentaler Bedeutung, denn Religion hat die Gesamtsicht auf die Wirklichkeit zum Grundthema. Für manche ist das Leben ein Paradies, für andere ein mühsamer Acker! Der Blick auf die Welt wird gelernt; hier gibt es keine Objektivität. Darum muss das Interesse der subjektiven Aneignung und Verarbeitung gelten. Die verschiedenen konstruktivistischen Ansätze „verbinden sich … im Prinzip der Subjektorientierung als Ausgangs- und Zielpunkt jeglichen Lernens“ (Mendl in: Grümme u. a. 2012, 106). 90 3 Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik <?page no="91"?> 7 Subjektorientierte RP „Das religionspädagogische Handeln muss sich der Aufgabe stellen, Bedingungen der Möglichkeit religiöser Deutung zu schaffen.“ (Rosenow 2016, 231) Die Subjektorientierte RP verbindet die Einsichten der konstruktivistischen und der performativen RP mit zwei weiteren, die für die RP von grundsätz‐ licher Bedeutung sind: Zum einen ist das die symbolische Aussagen- und Kommunikationslogik der Religion, die keine Fakten tradiert und keine Sachverhaltsbehauptungen meint; Religion kann darum nicht einfach durch Weitergabe ihrer Traditions-Niederschläge aufgeschlossen werden (→ 16). Zum anderen ist das die konsequente Ernstnahme der religiösen Lage, die bis in die Reihen der Traditions-Christen hinein von einer massiven Religi‐ onsdistanz (→ 14.5) gekennzeichnet ist. Sie stellt darum die Plausibilität und Relevanz religiösen Lernens ins Zentrum ihrer Überlegungen. Da sie alle Faktoren, angefangen von der Begründung über die Einschätzung religiöser Gehalte bis hin zu Zielhorizonten und zu den Lernenden und den Lehrenden in eine erheblich veränderte Sicht rückt, ist sie als eigenständige Konzeption aufzufassen. Der Grundgedanke ist: Die Inhalte religiösen Lernens sind nicht religiöse Traditionen, sondern die Lernenden selbst. Genauer: ihre existenziellen Erfahrungen und Fragen. Damit verschiebt sich die faktische Orientierung an den Lernstoffen, die bis in die Elementarisierung hinein faktisch immer vorherrschend war, klar und deutlich auf die Seite der Subjekte. Nahezu überall in der RP wird diese Subjektorientierung längst gefordert, kaum jemals aber konsequent eingelöst. Als Konzeption liegt sie inzwischen in den Entwürfen von Gundula Rosenow (2016) und des Autors (2018) vor. Die Konzentration auf das Subjekt bedeutet mitnichten eine Selbster‐ mächtigung der autonomen Persönlichkeit, sondern das Ernstnehmen der Tatsache, dass alles Lernen, das religiöse insbesondere, an Fragen, Erleb‐ nisse und unbedingt auch an Nöte der Individuen andocken muss. Es gibt keine religiöse Plausibilität an der individuellen Auffassung vorbei. Die Subjektorientierung nimmt darum direkten Bezug zu den Erfahrungen von existenzieller Not, von Beschämung, Missachtung, Sinnlosigkeitserfahrung, Traumatisierung, aber auch von Glück und Erfüllung, und nicht zuletzt von religiösem Erleben. Davon ist unser Leben heute so geprägt wie eh und je. Da es in der Öffentlichkeit praktisch keine Orte für die Kommunikation solcher existenzieller Erfahrungen gibt - und leider auch die Kirchen sich 91 7 Subjektorientierte RP <?page no="92"?> für sie nicht öffnen (→ 14.3) - ist für diese Idee eine hohe Attraktivität unter Lernenden zu erwarten, die sich in ersten praktischen Umsetzungen auch durchgehend bestätigt. Subjektorientierte RP beansprucht nicht nur, das religiöse Lernen für Menschen der Spätmoderne wieder anschlussfähig und spannend zu ma‐ chen. Sondern sie beansprucht damit auch, genau das zu tun, was lebendige Religion schon immer ausgemacht hat: die Deutung von Lebenserfahrung in einem übergreifenden, unverfügbaren Horizont. Genau das ist es, was die Bibel exemplarisch vorführt: der Brudermord des Kain, der Auszug Israels aus der ägyptischen Sklaverei, der Traum des Josef hätten so oder anders überall sonst geschehen können. Was sie zur Religion macht, ist ihre Deutung durch den Bezug zu Gott und ihr erlebter Nachvollzug. Selbst die Gleichnisse Jesu oder die theologischen Gedanken des Paulus sind nicht „an sich“ Religion, sondern sie werden es dort, wo sie Menschen überzeugen und berühren. Es war die Einsicht Ingo Baldermanns, dass die Bibel - und das gilt generell für alle religiösen Symbolisierungen - eine „implizite Didaktik“ mit sich führt: Aufbewahrt sind diese gedeuteten Erlebnisse, weil sie andere, Spätere inspirieren und dazu anstiften wollten, auch ihre Erlebnisse in eine religiöse Deutung zu stellen. Umgekehrt gilt: Religion als Wissensstoff behindert religiöse Bildung. Denn dann wirkt er unter modernen Verstehens‐ bedingungen befremdlich, abgestanden und ohne Lebensbezug. „Es geht in der Religion nicht um absurde Behauptungen, sondern darum, wie ich mich selbst verstehe, worauf ich mein Leben gründe.“ (Gräb in Domsgen/ Lütze 2013, 17; Kursivsetzung im Text) Religionsdidaktik hat darum Perspektiven zu bearbeiten, nicht (Stoff-)Inhalte. Wenn tatsächlich Orientierung am Subjekt vorausgesetzt werden soll, dann ist Unterricht vom lernenden Subjekt aus zu gestalten, und dann ist reli‐ giöses Lernen das Aufschließen der religiösen Deutungssprache aus der subjektiven Sicht eigener Erfahrung und Betroffenheit heraus. Praktisch bedeutet das, dass (zumindest in exemplarischen Lerneinheiten) intensives existenzielles Erleben aus der Erinnerung abgerufen werden muss - aus Gründen des Privatschutzes selbstverständlich anonym und mit Einholung des Einverständnisses der Lernenden. Die Erfahrung zeigt, dass an solchem „erinnernd eingebrachten Erleben“ (Gundula Rosenow) so gut wie alle Lernenden nachhaltig interessiert sind. 92 3 Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik <?page no="93"?> Wichtig ist die Einsicht, dass existenziell bedeutsames Erleben nicht als sachliches Faktum wiedergegeben werden kann, sondern nur als Symboli‐ sierung (→ 18.2). Damit ist alles gemeint, was solches Erleben (und Fragen) in eine poetische, schildernde, gestalthafte Form bringt. Symbolisierung ist darum zu lernen und zu üben, denn sie bildet den Schlüssel für das Verständnis von Religion überhaupt. Nur so stellt sich auch der von Halbfas zu Recht geforderte „Symbolsinn“ ein (→ 11.2) Religiös entscheidend ist allerdings nicht allein die Wiedergaben solchen Erlebens, sondern seine Deutung. Diese entsteht durch die Kommunikation der Symbolisierungen, die einen entscheidenden Platz einnimmt. Mehr als alle anderen Bereiche des menschlichen Lebens ist Religion auf Symbolisierung und symbolische Kommunikation angewiesen, ja sie ist diese selbst. Die Deutung kann verschieden ausfallen: Man kann von Zufall, von Schicksal, oder von einer übergreifenden, unverfügbaren Macht sprechen, von Gott, auch von einer kausalen Notwendigkeit. Überall dort, wo sie „auf Einheit und Totalität bezogen“ ist (Schleiermacher), wo also Bezug genommen wird auf übergreifende, der eigenen Verfügung entzogene Zu‐ sammenhänge, ist von Religion zu sprechen. Religion hat es immer mit der Beziehung zum Leben als Ganzem zu tun. Dabei muss offen bleiben, welche Deutung subjektiv jeweils überzeugt. Gundula Rosenow hat entsprechend von einer „Didaktik der Potenzialität“ gesprochen. Selbst wo Lernende die religiösen Optionen nicht für sich übernehmen, erhalten sie so eine dyna‐ mische Einsicht in die symbolische und kommunikative (System-)Logik von Religion. Sehr deutlich wird auch, dass die oft gehörte Einschätzung „ich entscheide selbst über meine Religion“ mindestens unangemessen ist. Religiöse Traditionen, also z. B. biblische Texte oder Glaubenslehren, erhalten in diesem Konzept den Rang von Deutungsvorschlägen (→ 16.5). Nicht sie, sondern das existenzielle Erleben und seine symbolische Kommu‐ nikation stehen im Zentrum. Die religiöse Tradition gibt für alle, die sie als kluge Erfahrungsdeutung zu verstehen beginnen, einen Hinweis auf eigene Deutungsmöglichkeiten, die in aller Regel sehr viel begrenzter sind als diejenigen des jahrhundertealten Traditionsschatzes. Religiöse Tradition gibt ferner einen orientierenden Rahmen ab, in dem man sich mit dem eige‐ nen Erleben einzeichnen kann. Wo Lernende ihre eigenen Erfahrungen und Lebensfragen darstellen und mitteilen und so einer offenen Kommunikation zuführen, lernen sie Religion verstehen, indem sie sich selbst als (potenziell) religiös verstehen. 93 7 Subjektorientierte RP <?page no="94"?> Nach wie vor kann das religiöse Lernen aber auch von den religiösen Traditionen selbst ausgehen. Es wird dann „nichts Anderes, sondern ‚anders‘ unterrichtet“ - so bringt es Gundula Rosenow auf den Punkt. Im Zentrum steht jetzt das Erleben und Fragen, das zur Tradition geführt hat, das sich in ihr also verbirgt. Dies, die „Erfahrung dahinter“ und ihre Deutung, ist der entscheidende Lerngehalt. Ein solches Verständnis von Religiositätsbildung und ein solch dynami‐ scher Umgang mit religiösen Stoffen machen das Geschäft keineswegs leichter als in Zeiten, in denen man die Menschen mit klaren Botschaf‐ ten und unbestrittenen Traditionsvorgaben belehren konnte. Man muss vermuten, dass ein erheblicher Teil der religiös Lehrenden nach wie vor Stoffvermittlung oder Theologie betreibt, nicht religiöse Bildung - nicht nur, weil man sich da gut auskennt, sondern auch, weil das schlicht einfacher ist. Die Kommunikation existenziellen Erlebens ist anspruchsvoll - so anspruchsvoll wie Religion selbst. Zusammenfassung Die Konzeptionsmodelle der RP sind ebenso zeitbedingt wie von grundsätzlicher Bedeutung. Sie betonen jeweils bestimmte Aspekte (christlich-)religiösen Lernens: Die Liberale RP fordert die emotionale Anregung der subjektiven Religiosität, die Evangelische Unterweisung bzw. das materialkerygmatische Konzept eine auf Glauben zielende Verkündigung. Die Hermeneutische RP versteht sich unter Einbezug moderner Wissenschaften als Auslegung der christlichen Tradition, die Problemorientierte RP, die bis heute dominiert, versucht über ge‐ genwärtige gesellschaftliche und ethische Fragestellungen auf Religion zurückzuschließen. Die Therapeutische RP versteht sich als Lebenshilfe durch Religion. Die massiv angewachsene Religionsdistanz, konstruk‐ tivistische Ansätze und die neu entdeckte symbolische Struktur der Religion führen zur Subjektorientierten RP, die mit der symbolischen Deutung von Existenzerfahrung die potenzielle Religiosität der Lernen‐ den ins Zentrum stellt. 94 3 Konzeptionsmodelle der Religionspädagogik <?page no="95"?> Literatur G. Adam/ R. Lachmann 2012, 37-86 - G. Hilger u. a. in G. Hilger/ S. Leimgruber/ H.-G. Ziebertz 2001, 42-66 - T. Lotz in H.G. Heimbrock 1998, 178-201 - R. Boschki 2003 - Domsgen 2019, 81-122. Zu 5: D. Stoodt 1972 und 1975. Zu 6: B. Beuscher/ D. Zilleßen 1998. Zu 7: G. Rosenow 2016 - J. Kunstmann 2019. 95 Literatur <?page no="96"?> 4 Religion im Lebenslauf Wurde die Religion früher als eine alles übergreifende Ordnung erfahren, so erscheint sie heute eher als Hintergrund der individuellen Biographie, in‐ nerhalb derer sie vor allem an den Übergängen der einzelnen Lebensphasen als konkret erfahrbares Ritual hervortritt: bei Geburt, Erwachsenwerden, Heirat, besonderen Jubiläen, beim Tod. Die Lebensgeschichte ist der eigent‐ liche „Ort von Religion“ (Friedrich Schweitzer). Religion wird nicht nur von Mensch zu Mensch verschieden erlebt und aufgefasst, sie verändert sich auch im Lauf des Lebens; entsprechende Unterschiede müssen bekannt und zunächst einmal wahrgenommen werden. Damit wird deutlich, dass indivi‐ dualisierte Religion einen konstitutiven Bezug zur Lebensgeschichte hat. Es stellt sich dann aber auch die Frage, wo Religion überhaupt herkommt: Wie entsteht Religiosität? 1 Lebensgeschichte und Religion „Stellt das bürgerliche ,Haus‘ das Muster für die Privatisierung der sozialkultu‐ rellen Lebensräume dar, so bezeichnet die ,Lebensgeschichte‘ das charakteristisch neuzeitliche Paradigma für die Individualisierung der Lebenszeit.“ (Steck 2000, 394) Dass Lebenslauf und Religion zusammenhängen, ist eine Einsicht bereits der Gegenaufklärung. Johann Georg Hamann hatte erstmals „Gott als Autor meiner Lebensgeschichte“ bezeichnet. Auch C.G. Jung sieht das Selbst mit der Gottesvorstellung verbunden. Er geht deshalb davon aus, dass wir Gott für das verantwortlich machen, was wir selbst versäumt haben oder nicht annehmen können. Das zeigt noch einmal, wie sehr auch im persönlichen Gott die eigene Lebensgeschichte verdichtet ist. Henning Luther hatte in seinem bemerkenswerten Buch „Religion und Alltag“ (1992) die Wendung der Praktischen Theologie zum Subjekt markiert. Die Lebensgeschichte ist hier erstmals als Ort der Religion verstanden worden. Die Phasen des Lebenslaufs haben einen je spezifischen Bezug zur Reli‐ gion. Die Geburt und Ankunft eines neuen Menschen wird mit der Taufe begangen. Kleine Kinder erleben Religion in der Familie, bei Festen, im <?page no="97"?> Kindergarten. Größere Kinder und Jugendliche haben RU in der Schule. Der Übergang der Jugendzeit zum ersten Auftreten als Erwachsener wird mit Konfirmation bzw. Firmung begangen. Auffällig ist, dass Junge Erwachsene von der Zeit des Berufseintritts bis zur Familiengründung keine eigenen religiösen Angebote bekommen. Die Heirat wird dann mit der kirchlichen Trauung begangen, der Eintritt in die Elternschaft mit der Taufe der eigenen Kinder; deren religiöse Erziehung stellt durch Kindergarten und Kindergot‐ tesdienst oft den Bezug zur Religion erneut her. Das Erwachsenenalter ebenso wie das höhere Alter wird in der RP allerdings praktisch nicht behandelt. Ob das ein später Reflex auf altes Erziehungsdenken ist? Das Erwachsenenalter ist durch die Übernahme von Rollen, (beruflichen) Aufgaben, Streben nach sozialer Akzeptanz und einen selbst verantworte‐ ten und konstruktiven Bezug zu Gesellschaft und Kultur gekennzeichnet. Die selbständige Gestaltung der eigenen Lebensumstände steht jetzt im Mittelpunkt, in der Regel vor allem von Partnerschaft, Familie und Karriere. Eine oft nicht verstandene und schwer zu bewältigende Grundaufgabe bleibt die konstruktive Trennung von prägenden Kindheitserfahrungen, die „Ablösung von den Eltern“, die eine grundlegende Bedingung für Selbstsein und reifes Beziehungsverhalten ist. Religion scheint hier auf den ersten Blick entbehrlich, da die grundlegende Orientierung nicht an Traditionen oder an den Älteren geschieht, sondern an eigenen Bedürfnissen. Die reife Religiosität der Älteren geht in aller Regel mit der Einsicht in das Verdanktsein des eigenen Lebens, der eigenen Kräfte, Beziehungen und erfüllten Erfahrungen einher, spiegelt also die Unverfügbarkeit des eigenen Lebens. Das Altwerden (→ 9.2), das mit der Erfahrung von Abbau, oft auch von Leid und mit Gedanken an das Sterben einher geht, markiert für viele eine neue Zuwendung zur Gemeinde und zum Gottesdienst. Das Gelingen des Alters hängt weitgehend von der Akzeptanz der eigenen Biographie ab und von der Fähigkeit loslassen zu können. Das ist mit der modernen Vorstellung ungebrochener Autonomie schwer vereinbar - verinnerlichte und gelebte Religion kann aber gerade als Voraussetzung auch für die eigene Selbständigkeit verstanden werden, im Sinne des Wissens: Es gibt etwas, das ist größer als ich. Wer im Alter vermag, Gott als Autor der eigenen Lebensgeschichte zu verstehen, gibt keine Verantwortung aus der Hand, sondern dokumentiert Dank und die Annahme des Lebens, wie auch immer es sich vollzogen hat. Vor allem am Ende des Lebens wird dann der Zusammenhang von Religion und Lebenssinn deutlich. 97 1 Lebensgeschichte und Religion <?page no="98"?> Grundlegend für jede Entwicklung - und auch für die Erfahrung von Sinn - ist der möglichst reich entfaltete Bezug zwischen Ich und Welt (→ 17). Schleiermacher hat das in die eindrucksvolle Formulierung gebracht: Die Aufgabe des Menschen sei es, „die Welt in sich aufzunehmen und sich in der Welt darzustellen.“ Dieser Bezug ist prinzipiell unabschließbar und geht darum in seiner Entfaltung nie im Nächstliegenden auf, muss also das „Umgreifende“ mit einbeziehen, die Religion. Jede Beziehungsaufnahme erfordert und sucht außerdem eine symbolische Gestaltung, die selbst wiederum tendenziell religiöser Natur ist. Hans-Joachim Fraas fasst das zusammen: „Die Lebensaufgabe des Menschen besteht darin, Autonomie zu gewinnen, indem er in Einbindung und Ausgrenzung zur Umwelt in deren dreifachem Sinn von Gegenständlichkeit, sozialen Beziehungen und Umgreifendem schlechthin sich selbst gewinnt, dieses Verhältnis gestaltet und symbolisch ausformt.“ (Fraas 1993, 157) RP, die sich als „Lebensbegleitung“ versteht (Nipkow), muss darum heute offensichtlich mehr sein als die Reflexion von Kindergarten, RU, Erwach‐ senenbildung usw. Sie muss vor allem den Sinn und die Systemlogik der Religion für das Leben der einzelnen Menschen aufschließen. Die RP sollte darum Deutungsmöglichkeiten und -angebote ebenso vermitteln wie religiöse Symbolisierungs- und Ausdrucksfähigkeit (→ 18.2-3). Sätze des Glaubens sind nicht zu glauben, sondern wahr nur als Deutungsangebote und selbst verantwortete symbolische Gestaltungen des je eigenen Lebens. 2 Kindheit und Religion Die Kindheit ist die Zeit der Abhängigkeit von den Eltern in der Grundver‐ sorgung des Lebens. Sie dauert bis zum Eintritt der Pubertät mit 12 oder 13 Jahren. Anthropologisch gilt der Mensch aufgrund dieser sehr langen Kind‐ heit als „Mängelwesen“ (Herder): Er ist abhängig und instinktarm, dafür aber enorm formbar und weltoffen. Spätestens seit der Psychoanalyse wissen wir, dass jeder Erwachsene sein Leben lang in hohem Maße rückbezogen bleibt auf die Erfahrungen in der eigenen Kindheit. Für viele ist die Verarbeitung dieser Erfahrungen eine kraftzehrende Lebensaufgabe. Die jeweiligen gesellschaftlichen Einschätzungen der Kindheit machen sich in der Erziehung der Kinder bemerkbar. Rousseau ging davon aus, das 98 4 Religion im Lebenslauf <?page no="99"?> Kind sei von Natur aus gut und würde durch gesellschaftliche Einflüsse verdorben. Im Bürgertum dagegen galt das Kind als böse, darum sollte die Erziehung vor allem seinen „Eigensinn brechen“. Bis heute wirkt die Romantik fort, die das Kind als Sehnsuchtsobjekt verstand und zur eigent‐ lichen Entdeckerin der Kindheit wurde. Reform- und Montessoripädagogik im 20. Jh. halfen mit, Kinder als eigenständige Subjekte und die Kindheit als eigene Lebensphase zu verstehen. Heute wissen wir: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie sind nicht „vernünftig“ und können Wahrneh‐ mung und Wirklichkeit noch nicht klar trennen. Sie brauchen sehr viel Aufmerksamkeit und Zeit für ihre Entfaltung. Und nicht zuletzt haben sie ein „Recht auf Religion“ (Richard Kabisch). Religion wird in der kindlichen Welt wichtig als symbolischer Raum, der im Zusammenhang mit den „Übergangsobjekten“ (Winnicott, → 13.4) steht. Diese Übergangsobjekte (der Teddy, Puppen, ein Zipfel vom Betttuch) stellen eine Mischung aus erlebtem Wirklichkeitsbezug und innerer Phantasie dar, die eine Balance herstellen zwischen Geborgenheit und Eigentätigkeit. Hier werden religiöse Figuren, Szenen, Geschichten und Vorstellungen höchst bedeutsam für die menschliche Entwicklung. Die alte Auffassung Rousseaus und anderer Pädagogen nach ihm, wonach Religion eine Sache der Erwachsenen, nichts aber für Kinder (oder für sie sogar schädlich) sei, ist mit diesen Einsichten der neueren Säuglings- und Kinderforschung klar überholt. Die kindliche Entwicklung Bereits mit der Geburt beginnt die für das Menschsein grundlegende Spannung zwischen Bindung und Selbstsein, Abhängigkeit und Freiheit, Ordnung und Wandlung, deren Gestaltung bleibende Lebensaufgabe ist - und Urthema der Religion: Geborgenheit in Gott und prophetischer Aufbruch in die Freiheit, Trost und Umkehr sind die großen Themen der Religion, die ebenfalls in polarer Spannung zueinander stehen (→ 2.2). Und sie sind zugleich die Grundbedingungen jeder menschlichen Entwicklung. Zum basalen und für das ganze Leben grundstimmenden Gefühl des Gehalt‐ enseins durch die Eltern („Grundvertrauen“, → 4.4, 18.1) kommt allmählich und immer mehr als ebenso gewichtige Lebensbedingung ein begleitendes Loslassen hinzu, das Neugier, Sich-Öffnen und Freiheitstrieb unterstützt. Starke und nachhaltige Prägung erfahren Kinder durch die ersten Be‐ zugspersonen und die sie umgebende Atmosphäre. Das Lebensgefühl, auch 99 2 Kindheit und Religion <?page no="100"?> tragende Wert- und Sinnkonzepte, werden in der Kindheit gelernt: Glückli‐ che und zufriedene Eltern lehren das Kind das Leben und sich selbst als lustvoll, stabil und interessant zu erfahren. Eine depressive Mutter dagegen lehrt das Kind, die Welt als schmerzlich, vergänglich und schwermütig zu begreifen und führt neben der Ausbildung eines entsprechenden Lebens‐ gefühls auch zu einer bestimmten Selbstauffassung. Ein schwacher, allzu liebevoller Vater führt in eine Welt ohne Halt ein - usw. Die Verdrängung von Schuld und traumatischen Erlebnissen im familiären Umfeld führen, wie wir heute wissen, zur unbewussten Übernahme solcher Belastungen durch das Kind. Es kann zur Ausbildung einer Opferrolle kommen, deren Ursachen später nur sehr schwer und meist unter Schmerzen aufzudecken sind. Eine stabile, durch Grundvertrauen geprägte Selbst- und Lebensauffassung stellt nachgerade eine Art Glücksfall dar, keineswegs die erwartbare Regel. Anfangs ist das Erleben des Kindes von einer vollständigen Einheit mit der versorgenden Mutter geprägt, eine Symbiose, die als „Paradies“, Verschmelzung, fraglose Geborgenheit, Urvertrauen erfahren wird. Die all‐ mähliche Vergrößerung des erfassten und erreichten Umfelds geschieht bei Kindern im Wortsinne immer zunächst durch Begreifen und Ausprobieren, später durch Ausreißen: Neue Räume wollen erobert werden. Die beiden menschlichen Grundtriebe des Geborgenheitsbedürfnisses (Sicherheit) und der entdeckenden Neugier (Freiheit, Antrieb) bestehen also nebeneinander und gehen je nach Situation verschiedene Mischungen ein. Das zunehmende Weltverstehen und die Ausdifferenzierung des eigenen Könnens und des Ich-Gefühls gehen also Hand in Hand, und sie machen Freude. Das ist auch die Grundidee des Bildungsgedankens (→ 17). Wichtige Schritte der kindlichen Selbst-Entwicklung beginnen mit dem Erblicken des eigenen Bildes im Spiegel: Das „Ich“, das da jubelnd begrüßt wird, gibt ein allererstes glückliches Gefühl der eigenen Identität. Später führen die krabbelnden Ausreißversuche zu ersten Entdeckungen einer Welt, die groß und lustvoll erscheint; sie müssen freilich von der Mutter durch Zurückholen begrenzt werden, wenn sich nicht das Gefühl einstellen soll, sich im Grenzenlosen zu verlieren. Dann zeigen die Fort-da-Spiele (Kinder laufen um eine Säule oder be‐ decken das eigene Gesicht mit der Hand usw.) die große Lust an der Wahrnehmung von Objektkonstanz und der Beständigkeit innerer Vorstel‐ lungsbilder: Auch was man nicht sieht, ist - für Kinder anfangs erstaunlich - noch da! Vergleichbares geschieht im Zerstören und Wiederaufbauen mit Bauklötzen. In diesen Spielen kommt es zur Ausbildung des „intermediären 100 4 Religion im Lebenslauf <?page no="101"?> Raumes“ (→ 13.4), der im Zusammenhang mit der Erweiterung des inneren Vorstellungsvermögens (Phantasie) grundlegend bedeutsam wird für die Entfaltung des Denkens, der Wirklichkeitserfahrung und des Selbstvertrau‐ ens. Nicht nur die Phantasie, sondern vor allem das freie Spiel sind darum weit mehr und anderes als kindlicher Zeitvertreib. Sie sind unverzichtbare Grundlagen für jede Entwicklung. Kindliche Gottesbilder Richard Kabisch hat von der „Religion des Kindes“ gesprochen. Diese besteht nach Kabisch immer zugleich aus einer Religion der Erfahrung, die sich aus unmittelbaren Eindrücken speist, und einer Religion der Phantasie, in der die religiösen Geschichten und Erlebnisse verarbeitet werden. Beide müssen in einen sinnvollen Bezug zueinander gebracht werden. Reale und imaginierte Erfahrung (Phantasie) gehen auch in der Religion zusammen: „Kein Kind nähert sich dem ,Haus Gottes‘ ohne seinen Lieblingsgott unter dem Arm“ (Rizzuto 1979, 8). Entsprechend ist auch die Gottesvorstellung der Kinder gebildet. „Mythologische Vorstellungen prägen die kindlichen Weltbilder. Entsprechend ist auch der Glaube, insofern er ausdrücklich wird, mythologisch-wörtlich geformt. Gott ist allmächtig, d. h. er kann alles und greift auch belohnend oder strafend in die Welt ein; er schützt aber auch in Gefahren und gibt den Menschen vor, was gut und böse ist.“ (Mette 2006, 180) Diese Gottesvorstellung verändert sich mit den Lebensphasen. Bilder von Kindern zeigen: Mystische Einheitsvorstellungen, die die Mutter-Kind-Sym‐ biose spiegeln, werden von der Vorstellung Gottes als Person (Vater und/ oder Mutter), als Teil der umgebenden Lebenswelt (Haus, Berge, Wolken) und schließlich als Abstraktum abgelöst (Licht, Sonne, ein Vogel, der die Welt umfasst, usw.). Ana-Maria Rizzuto geht aus von der „Annahme, daß jedes Kind im Alter von 2 bis 3 Jahren … aus Vorstellungsmaterial (Repräsentanzen), das es im Umgang mit seinen ersten Bezugspersonen in der Familie erworben hat, im Bereich der Übergangsobjekte eine unbewußte Gottesvorstellung bildet. Diese ist - wie andere Übergangsobjekte auch - keine Halluzination, sondern (nach Winnicott) gleichzeitig außen, in der Realwelt, und 101 2 Kindheit und Religion <?page no="102"?> innen, in der Phantasiewelt. Sie ist … notwendig für die Lebensbewältigung.“ (Grom 37) Das Elternbild, das für die Gottesvorstellung offensichtlich prägend ist, stellt also eine sinnvolle Projektion dar, die kein Argument gegen die Existenz Gottes abgibt. Diese Projektion fügt sich aus der Muttererfahrung (Gebor‐ genheit, Zuwendung, Vertrauen) und der Vatererfahrung (Selbständigkeit, Tatkraft) zusammen. Zu diesen Vorstellungsgehalten tritt dann der Gott der Bibel, des Kindergartens und der Kirche; Kinder nehmen hier ihre individuellen Verarbeitungs-Synthesen vor. Kinder stellen sich Gott sehr konkret und oft menschlich vor: Er ist freundlich, ein Mann mit Bart über der Erde, oft in der Natur. Gott hat für manche eine Frau und ein Haus. Auch andere primäre Erfahrungen gehen in das Gottesbild ein, manchmal auch einzelne christliche Symbole wie Kreuz, Regenbogen usw. Mit zunehmendem Alter werden nicht-personale Vorstellungen häufiger. Die „naive“ Gottesvorstellung denkt Gott wie einen Menschen, dem man vertrauen kann (vgl. das humoristische Buch „Hallo Mister Gott hier spricht Anna“). Erste Fragen können sich bereits im Kindesalter einstellen, vor allem wenn die Erfahrung des Todes eines geliebten Menschen, eines Haustiers oder von Krankheit gemacht wird. Warum hilft Gott nicht? Meist aber finden die Kinder selbst ihre Antworten und Lösungen für solche Fragen. Gott muss eben für so viele Menschen sorgen - da hat er eventuell im Moment keine Zeit. Die Fragen: Wer hat alles gemacht? Und wie? Was war eigentlich vor Gott? verweisen schon in die ältere Kindheit und die Jugend. Hier kann auch die Unsichtbarkeit Gottes zum Problem werden. 3 Jugend und Religion „Das Lebensthema des Menschen schlägt in der Jugendzeit konzentriert durch: in der Spannung zwischen Sich-Empfangen und Selbstbestimmung, zwischen Bindung und Freiheit ,man selbst‘ zu sein.“ (Fraas 2 1993, 229) Die Jugend ist eine historisch neue Lebensphase, die sich etwa seit der Romantik zwischen Kindheit und Erwachsenenalter geschoben hat. Sie beginnt grundsätzlich mit der Pubertät und endet mit dem Eintritt in den Beruf, dehnt sich aber inzwischen immer mehr ins junge Erwachsenenalter hinein aus, was bereits als neue Phase verstanden wird („Adoleszenz“). 102 4 Religion im Lebenslauf <?page no="103"?> Die Verschiebung nach hinten ist besonders auffällig beim Heiratsalter, das früher fast immer vor dem 20. Lebensjahr, heute im Durchschnitt knapp beim 30. liegt. Die Pubertät ist die Zeit der höchsten Belastung in den Familien. Sie gilt als eine Erscheinung, die historisch an das Bürgertum gebunden ist. Bis dahin kannte man eigentlich nur Erwachsene und Kinder, die mit der Geschlechtsreife und der Fähigkeit zur Übernahme einer eigenständigen Arbeit - also spätestens mit 15 - selbst erwachsen wurden. Die Jugend ist die beginnende Selbständigkeit und Ablösung vom Eltern‐ einfluss; Unsicherheit und Zweifel begleiten die Suche nach der eigenen Identität. Die Grundfrage: Wer bin ich? ist die grundlegende Lebensfrage nach der eigenen Identität. Sie stellt sich in vielen Facetten: Bin ich liebens‐ wert, respektabel, eigenständig, selbstbewusst (genug)? Was will ich, was kann ich? Sie muss eine Antwort finden, wenn dem Heranwachsenden das Ende seiner kindlichen Abhängigkeiten von den Eltern bewusst wird und die Notwendigkeit, einen eigenen Standpunkt und eine eigene Rolle einzu‐ nehmen. Das ist psychologisch nicht denkbar ohne die Abgrenzung von den Eltern, aber auch von alten Autoritäten, Gewohnheiten, Erziehungsidealen usw. - darum auch von der bis dahin gelernten Religion. Die Identitätsfrage verbindet sich mit der zweiten Grundfrage der Jugend: Was will ich mit meinem Leben? Was will ich erreichen, welchen Beruf will ich haben, wie stelle ich mir mein Leben vor? Religiöse Kindheitsmuster werden in Frage gestellt, vor allem, soweit sie eher kognitiv vermittelt sind und keinen tieferen Bezug zum eigenen Leben gefunden haben. Die Gottesvorstellung wird abstrakt. Verstärkt wird die Frage nach dem Sinn und Nutzen von Religion gestellt. Gleichzeitig wächst oft die Sehnsucht nach ganzheitlicher und spiritueller Erfahrung. Auf der Suche nach Antworten und Lebenskonzepten in sich selbst stößt man auf Fragen, Bedürfnisse, Sehnsüchte, nicht mehr aber auf religiös Tragfähiges. Religiöse Entwicklung ist entscheidend auf übernehmbare Vor‐ gaben angewiesen - das aber widerspricht dem jugendlichen Streben nach Autonomie und alleiniger Selbst-Verantwortung. Wo religiöse Identifikation stattfindet, zeigt sich eher eine „Exodus-Religion“ (Ingo Reuter), die sich als eigenständig versteht und nicht als Vergewisserung im Althergebrachten. Die funktionale Frage: Was „bringt mir das“, was nützt mir das für mein eigenes Leben? macht deutlich, dass der jugendlichen Religiosität nicht mit Belehrung zu entsprechen ist. Darum kommt es hier zum größten Abbruch der religiösen Tradierung. Nötig wäre da das Angebot klar erkennbarer 103 3 Jugend und Religion <?page no="104"?> und auf das eigene Leben beziehbarer religiöser Gehalte, Orte und Abläufe und eine respektvolle Begleitung, die den jugendlichen Autonomieanspruch nicht kritisiert, sondern stärkt und ihm zu echtem Selbstwertgefühl verhilft. Das freilich setzt bei den Lehrenden eigene Stabilität und strukturierte religiöse Erfahrung voraus. Die Gottesvorstellung wird abstrakt, und da sie meist nicht weiter beglei‐ tet wird, auch vage. „Also ich weiß nicht, ob man den eben als Person ansehen kann, daß er irgendwie zu Leuten gesprochen hat und so, weil das eben aus der alten Zeit ist, weil die das eben so empfunden haben. Und das ist ja auch so, daß das übertragen ist und der Vorstellung der Menschen entsprochen hat. Ja und also, da ich das halt erkannt hab, es ist halt einfach so überall das Gute, oder auch alles, was nicht böse ist, oder auch überhaupt alles, denn das mit Gut und Böse ist ja nochmal die Frage.“ (Jugendlicher, zit. in Schwab in Schreiner 1999, 89; Auszüge) Viele gehen aber davon aus, dass es „jemanden“ geben muss, der alles gemacht hat, oder vermuten „ein größeres Ganzes“ hinter allem. Gott ist vor allem ein Gefühl, steht aber weitgehend unter dem Verdacht der Fiktionalität. Dennoch wird bei Schwierigkeiten häufig gebetet. Karl-Ernst Nipkow hat diese Einschätzung zu dem Buchtitel „Erwachsenwerden ohne Gott? “ geführt (1987, 5 1997). Die häufigsten religiösen Fragen, so Nipkow, kreisen um Gott und zeigen eine individualisierte Suche nach eigenem Glauben (ebd. 43 ff.): 1. Die Theodizee-Frage nach dem Leid, dem Sinn und Gottes fehlendem Eingreifen, darum die Frage nach seiner Gerechtigkeit. Ist Gott Garant des Guten? Hilft Gott? Hilft er mir, wenn ich ihn brauche? 2. Die Frage nach Schöpfung und Evolution. Hat Gott die Welt geschaffen? Wie ist das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft? Wo kommt alles her? Wo komme ich her? Was geschieht mit mir nach dem Tod? 3. Die Frage nach Gott selbst. Existiert Gott? Ist Gott nur ein Wort, ein Symbol, eine Hypothese, eine Einbildung, gab es ihn nur früher? 4. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Überlieferung von Gott. War Gott in Jesus, am Kreuz und in seiner Auferstehung? Wie ist das zu denken? Hat Jesus wirklich gelebt? Die Fragen nach Gott, mit denen Jugendliche in der Regel allein gelassen werden, sind für viele „von der biblisch-christlichen Überlieferung abgekop‐ 104 4 Religion im Lebenslauf <?page no="105"?> pelt“ (ebd. 9). „Gott wird unter dem Gesichtspunkt begriffen, was er in umfassender Weise persönlich bedeutet“ (ebd. 68). Auch hier zeigt sich die funktionale Fragerichtung: Was hilft, was nützt mir Gottesglaube? 4 Religiöse Entwicklungsmodelle Entwicklung ist ein Merkmal des Menschlichen. Und auch die Religion unterliegt einer entsprechenden Veränderung im Lebenslauf. Untersuchungen der Kognitionsentwicklung, also der Strukturen des Verstehens, Denkens und Urteilens, haben in der RP derzeit einen hohen Kurswert. Sie gehen empirisch vor und kommen zu gegenseitig vergleich‐ baren Stufen, die sich jeweils einem bestimmten Lebensalter zuordnen lassen und einen Stand der Verstehensentwicklung spiegeln. Sie stellen implizite Strukturen dar, die das Denken eines Menschen bestimmen. Die Entwicklung insgesamt zeigt einen Bewusstseinsfortschritt von einfachen Auffassungen hin zu steigender Autonomie und Abstraktion; sie gilt als unumkehrbar. Diese Entwicklungstheorien untersuchen den Lebenslauf, die Entfaltung des Denkens, der moralischen und der religiösen Auffassung; sie gehen da‐ von aus, dass sich Entwicklung weitgehend unabhängig von der kulturellen Umgebung vollzieht. Vorformen der religiösen Entwicklungstheorien Ausgangspunkt war wie in vielen anderen Bereichen der psychologischen Forschung Sigmund Freud. Dessen Menschenbild war eine radikale und ernüchternde Reduzierung der „Persönlichkeit“ auf Abhängigkeiten: Der Mensch ist nicht einmal „Herr im eigenen Haus“. Freud sah das bewusste „Ich“ eingespannt in den Bereich des „Über-Ich“, zu dem er alle von außen kommenden Anforderungen zählte (Pflichten, Gebote, Normen, Autoritäten wie Eltern und Gott) sowie das innere „Es“ , d. h. die „Triebe“, zu denen Freud vor allem die als „Sexualtrieb“ verstandene „Libido“ (Lebensenergie) und den „Todestrieb“ (Aggression) rechnete. Wer diesem Druck nicht standhält, wird neurotisch. Eine sinnvolle Abfuhr kann durch „Sublimierung“ geschehen, d. h. durch Umwandlung in Kunst, Bewegung, usw. Vor allem aber sah Freud als Ziel jeder Entwicklung, sich durch rationale Selbststeuerung von jeder Abhängigkeit überhaupt zu befreien. 105 4 Religiöse Entwicklungsmodelle <?page no="106"?> Diese im ersten Moment einleuchtende Darstellung stellt ein tenden‐ ziell pessimistisches Menschenbild dar, das Erfüllung nur als Ausgleich von Druck kennt, vor allem aber Entwicklung schlicht auf Rationalität be‐ schränkt. Selbstannahme, Glückserfahrungen und gesundes Selbstbewusst‐ sein kommen hier nicht vor. Ausgangspunkt der neueren Stufentheorien ist das Modell der kognitiven Entwicklung von Jean Piaget. Dieser geht davon aus, dass jede Entwicklung, eigentlich jedes Lernen überhaupt, eine „Äquilibration“ (Herstellung einer Balance) durch „Assimilation“ und „Akkomodation“ ist, d. h. durch Anglei‐ chung dessen, was verstanden werden soll, an die eigenen Denkstrukturen einerseits, andererseits durch allmähliche und je begrenzte Veränderung dieser Strukturen selbst. Piaget unterscheidet nach der sensomotorischen Vorstufe (Entwicklung von angeborener Reizbeantwortung beim Säugling) drei Stufen, die vom konkreten Be-Greifen der Kleinkinder über die Ka‐ tegorienentwicklung der Logik bei Kindern zum abstrakten Denken der Erwachsenen führt: I. vor-operationale Stufe („egozentrisch“ orientierte intuitive begriffliche Zuordnungen), II. konkret-operationale Stufe („sozia‐ les“, noch anschaulich bleibendes Denken in den Kategorien von Zeit, Raum, Kausalität zwischen 7. und 11. Jahr), III. formal-operative Stufe („umfassendes“, abstraktes, formallogisches, hypothetisches Denken). Lawrence Kohlberg (1969) nahm dieses Stufenmodell zum Anlass, die Entwicklung des „moralischen Urteils“ zu untersuchen, eines ebenfalls kognitiven Bereichs, der parallel zur Denk-Entwicklung verläuft. Die drei Niveaus werden von Piaget übernommen, jetzt aber differenziert in sechs Stufen. Untersuchungsgegenstand sind moralische Begründungen, unter‐ sucht an schwierigen Entscheidungsfällen, deren bekanntester das sog. „Heinz-Dilemma“ geworden ist: Heinz braucht für seine Frau, um sie vor dem Sterben zu retten, ein Medikament, das er nicht bezahlen kann; soll und darf er beim Apotheker einbrechen? Die Begründungsantworten der Probanden ergaben eine Stufung in drei grundlegende Urteils-Niveaus: 1. „Präkonventionelle Moral“, die ihr Urteil als reine Außenvorgabe über‐ nimmt und durch Angst vor Bestrafung bzw. Suche nach Belohnung motiviert ist, darum abhängig von der unbedingten Anerkennung äußerer Autorität. Hier lassen sich eine autoritätshörige Stufe (1. „He‐ teronome Moralität“) und eine des sozialen Vergleichs unterscheiden (2. „Individualismus und Austausch“). 106 4 Religion im Lebenslauf <?page no="107"?> 2. „Konventionelle Moral“, die durch Konformität, Anpassung, Loyalität gegenüber der Gemeinschaft gekennzeichnet ist und die übliche morali‐ sche Einstellung spiegelt. Hier lassen sich eine alltagsbezogene Stufe des Gleich gegen Gleich (3. „Wechselseitige Erwartung“) und eine reifere des moralischen Bezugs zur größeren Gruppe unterscheiden (4. „Soziales System und Gewissen“). 3. „Postkonventionelle Moral“, die sich nach allgemeingültigen Prinzipien ausrichtet und als Ausgleich von Individuum und Gesellschaft (5. „So‐ zialer Kontrakt und individuelle Rechte“) bzw. in ihrer reifsten Form als Menschenrecht verstanden wird (6. „Universale ethische Prinzipien“). Religiöse Stufenmodelle Fritz Oser und Paul Gmünder übertrugen diese Stufenfolge des moralischen Urteils in die eines „religiösen Urteils“. Ihre empirische Untersuchung galt dem Verhältnis zum „Ultimaten“ (d. h. Letztgültigen, womit in aller Regel Gott bezeichnet ist), von dem angenommen wird, dass es (implizit) das religiöse Denken, Sprechen, Fühlen und Handeln bestimmt, darüber hinaus aber jedem Denken als eine Art „Mutterstruktur“ zugrunde liegt. Auch dieses Stufenmodell wurde an „Dilemmageschichten“ gewonnen. Bekannt ist das „Paul-Dilemma“: Paul erlebt einen Flugzeugabsturz und leistet ein religiöses Gelübde, das sein weiteres Leben massiv binden und einschränken wird; nachdem er überlebt, wird die Frage gestellt, ob er nun tatsächlich gebunden ist. Der Vergleich der gegebenen Antworten beobachtet einen zunehmenden Ausgleich zwischen der Autonomie Gottes und der Autonomie des Men‐ schen - was natürlich bereits das Ausgangsdilemma, also die Frage-Vorgabe selbst nahe legt. Problematisch bei den verwendeten Begriffen ist auch, dass im Prinzip das Gottesverständnis untersucht wird, nicht ein (allgemeines) religiöses Urteil. Gott erscheint im Kindesalter zunächst als der Alles-Könner (1. „Deus ex machina“), dann als beeinflussbar (2. „Do ut des“, lat.: „Ich gebe, damit du gibst“); in der späten Kindheit und beginnenden Jugend rückt Gott in kritische Distanz (3. „Deismus“, die theologische Vorstellung der Aufklärung von einem Schöpfer, der sich nicht mehr deutlich zeigt), erscheint aber auch schon als Bedingung für die eigene Existenz (4. „Apriorität“; gemeint sind Dinge, die vorgegeben und uns nicht verfügbar sind), in einer noch reiferen Form des Begreifens als Bedingung von menschlicher Beziehung 107 4 Religiöse Entwicklungsmodelle <?page no="108"?> (5. „Kommunikativität“); eine weitere Stufe sehen Oser und Gmünder zwar als denkbar, nicht mehr aber als empirisch erhebbar. James Fowler schließlich (seit 1981) hat „Stufen des Glaubens“ untersucht, den er inklusiv und umfassend versteht als Lebensvertrauen bzw. Lebens‐ einstellung, als grundsätzliche Orientierung und als Sinnbezug („faith“), der vom Menschsein nicht abtrennbar ist. Sein Modell versucht die bisher besprochenen zu integrieren, unter Einbezug psychoanalytischer Theorien, angeblich auch unter Einbezug der emotionalen Dimension; damit versucht es über die kognitive Entwicklung hinaus zu gelangen und wird der komple‐ xen Struktur religiöser Entwicklung deutlich mehr gerecht. Fowler rechnet (vergleichbar dem Urvertrauen bei Erikson oder der sensomotorischen Vor-Phase bei Piaget) mit einer Phase „undifferenzierten“ Glaubens, die die Basis für die weitere Entwicklung bleibt. Die Bezeichnungen der einzelnen Stufen sind sehr genau gewählt: 1. Der „intuitiv-projektive“ Glaube ist eine Projektion unbewusster, „kind‐ licher“ religiöser Intuitionen. 2. Der „mythisch-wörtliche“ (Kinder-)Glaube versteht mythische und symbolische Rede naiv wortwörtlich. 3. Der „synthetisch-konventionelle“ Glaube besteht aus übernommenen religiösen Einzelvorstellungen, die (noch) nicht in einen persönlich verantworteten Zusammenhang integriert sind. 4. Der „individuierend-reflektierende“ Glaube bezeichnet die eigenstän‐ dige und kritische Befragung religiöser Vorstellungen, also den begin‐ nenden Zweifel. 5. Der „verbindende“ Glaube versteht sich als spirituelle Religionsgemein‐ schaft aller Menschen. 6. Der „universalisierende“ Glaube begreift Glauben als Grundlage menschlicher Reife. Die Entwicklungsmodelle sind kognitiv-strukturelle Psychologie der ratio‐ nalen, moralischen und religiösen Auffassung. Sie beleuchtend also die aufeinander folgenden Strukturen von Verstehen in Moral und Religion. 108 4 Religion im Lebenslauf <?page no="109"?> Entwicklungspsychologische Modelle Jean Piaget Lawrence Kohlberg Fritz Oser/ Paul Gmünder James W. Fowler Entwicklung des Verstehens Angleichung von Denken und Wirklichkeit Entwicklung des moralischen Urteils Ethische Begründungen Stufen des religiösen Urteils Religiöses Verstehen, Einstellung zum „Ultimaten“ (d.h. zu Gott) Stufen des Glaubens Glauben als grundlegende Lebenseinstellung I. Präoperationales Denken Präkonventionelle Moral „egozentrisch“ 1. Heteronome Moralität 1. Deus ex machina 1. Intuitiv-projektiver Glaube Begriffe, abhängig von konkreter Anschauung (Frühe Kindheit) Reine Vorgabe von außen Gott ist mächtig, ein Zauberer, straft und belohnt (ca. 3-7 Jahre) innere Vorstellungs-Bilder gelten als real 2. Individualismus und Austausch Einhalten von Spielregeln; Orientierung am Nutzen 2. Do ut des Beeinflussbarkeit Gottes durch Riten (Gebet, rechtes Verhalten) 2. Mythisch-wörtlicher (ca. 7-12 Jahre)„Kinderglaube“; wörtlich-naives Verstehen II. Konkretoperationales Denken Konventionelle Moral „sozial“ Entwicklung der Logik (ca. 7-11 Jahre) 3. Wechselseitige Erwartung Beziehungsmoral, Konformität; vgl. die „Goldene Regel“ 3. Deismus Kritische Distanz; Selbstverantwortung - Häufigste Stufe - 3. Synthetischkonventioneller Übernommene übliche religiöse Einzelvorstellungen 4. Soziales System und Gewissen Pflichten gegen die Gemeinschaft; Gesetz und Ordnung 4. Apriorität Gott als Grund der Freiheit; sich verdankt wissen 4. Individuierendreflektierender Kritische Autonomie, Zweifel; Gott ist im Menschen III. Formaloperationales Denken Postkonventionelle Moral „umfassend“ Abstraktes und hypothetisches Denken (Jugendalter) 5. Sozialer Kontrakt und individuelle Rechte Ausgleich verschiedener Interessen; Gemeinwohl 5. Kommunikativität Gott als Grund allen Handelns und aller Beziehung 5. Verbindender Allgemeine, kulturübergreifende Religiosität, spirituelles Interesse 6. Universale ethische Prinzipien Menschenwürde, allg. ethische Prinzipien 6. (später weggelassen) Unbedingtes Angenommensein 6. Universalisierender Menschlichkeit, Weisheit und Liebe 109 4 Religiöse Entwicklungsmodelle <?page no="110"?> Sinn und Grenzen der Stufenmodelle Die Kenntnis der Entwicklungsmodelle ist für das Verstehen und die Einschätzung der Auffassung religiöser Gehalte sinnvoll. Das religiöse Verstehen kann je nach Alter und „Stufe“ sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Entwicklungstheorien können darum die Sicht schärfen für bestimmte Vorstellungen, Wertungen, Erklärungs- und Argumentationsmuster. Die Modelle sind also eine heuristische (= Such-)Hilfe, darum sinnvoll für das didaktische und methodische Vorgehen bei religiösen Lern- und Unter‐ richtsprozessen. Sie machen deutlich, dass bei Überforderung des Verstehens (etwa durch zu große Abstraktion) kein Lernen stattfindet, sondern eher Verunsicherung eintritt. Allgemein wird deshalb empfohlen, die vorgefun‐ dene Stufe zunächst zu bestätigen und gleichzeitig behutsam weiterführen („+ 1“-Prinzip). Eine didaktische Grenze dieses Vorgehens ist allerdings bereits da erreicht, wo innerhalb einer Lerngruppe verschiedene Stufen gleichzeitig vorhanden sind, was der Regelfall sein dürfte. Vor allem aber ist die affektive Seite, die gerade für religiöse Einstellungen entscheidend bedeutsam ist, deutlich unterbelichtet. Auch Fowler beschreibt „Glauben“ nicht als Haltung und innere Einstellung, sondern weitgehend als Auffassung. Und religiöses Lernen umfasst mehr als einen Glauben. Weitere Anfragen betreffen die angebliche Allgemeingültigkeit der Stufen. Rückfragen provoziert bereits der Umstand, dass bei Oser der kritische Einbruch auf der dritten, bei Fowler auf der vierten Stufe erfolgt. Erfah‐ rungsgemäß bestehen verschiedene Frömmigkeitsauffassungen und -stile (-typen) auch in gleichen Altersstufen nebeneinander; religiöse Erfahrungen können sehr unterschiedlich verarbeitet werden. Skepsis ist auch gegen die behauptete Stetigkeit der Entwicklung angebracht: Religiöse Lernwege verlaufen allzu oft unstetig. Weiter muss eine Anfrage an die implizite Bewertung der Stufen vorge‐ nommen werden: Sie legen automatisch die Annahme einer Höherentwick‐ lung nahe, die die unteren Stufen als defizitär erscheinen lassen. Das ist theologisch wie menschlich problematisch. Jeder „Fortschritt“ zu höheren (kritischeren, abstrakteren) Stufen kann immer auch Verlust und Verarmung bedeuten. Oser und vor allem Fowler haben diese Kritik zurückgewiesen: Es handele sich um Statistik, die das nicht aussagen soll. Ganz ausgeblendet sind negative Entwicklungen von Religiosität, etwa zunehmende religiöse Distanz (→ 14.5) oder neurotische oder narzisstische (→ 18.1) Religiosität. Plötzliche Konversionen, das Überspringen von Stufen 110 4 Religion im Lebenslauf <?page no="111"?> und vor allem Rückentwicklungen (Regressionen) sind nicht „vorgesehen“. Das Vorhandensein von sinnvoller Religiosität wird hier einfach vorausge‐ setzt. Grundsätzlich liegt bei den kognitiven Modellen die Annahme nahe, dass zunehmende Autonomie und Abstraktion erstrebenswerte Ziele der religiösen Entwicklung seien. Allerdings lassen sich auch ganz andere Ziele religiöser Entwicklung annehmen, die in diesen Modellen kaum als Mög‐ lichkeiten gestreift werden: z. B. wachsende Offenheit, Neugier, Interesse an Religion und die zunehmende angemessene Reaktionsfähigkeit allem Religiösen gegenüber; oder: die grundsätzliche Fähigkeit und Bereitschaft sich zu verändern aufgrund des Gefühls religiöser Geborgenheit; oder: religiös bedingte zunehmende Gelassenheit, Souveränität, Wertschätzung anderer und der Dank für das eigene Leben usw. Nicht beachtet ist auch die für religiöse Entwicklung konstitutive Symbolfähigkeit (→ 11.2, 18.2). Eine weitere Frage, die eher eine Folgefrage ist, ist die nach dem Entstehen dessen, was sich da entwickelt: wo, wann und wie entstehen eigentlich Religion bzw. Religiosität? Wie wird ein Mensch religiös? Prägende Faktoren wie erste Eindrücke, die Rolle bestimmter Personen und Bezugsgruppen, Wertesysteme, Institutionen, der ökonomischen und kulturellen Situation, die Rolle religiöser Erfahrung, schließlich die der Phantasie und der indi‐ viduellen Bedürfnisse, die über die Entwicklung von Religion immer mit‐ entscheiden, sind nicht weiter berührt. Offen bleibt bei den Entwicklungs‐ theorien darum auch die Frage, welche Faktoren die religiöse Entwicklung fördern oder hemmen können. Gerade hier aber wären genaue Kenntnisse für die RP dringend wichtig (→ 4.6, 13.4-5, 18.1). Sehr viel weniger von diesen kritischen Rückfragen betroffen ist das psychoanalytisch begründete Modell von Erik Erikson, das für die reli‐ giöse Entwicklung sehr aufschlussreich ist. Für Erikson ist Entwicklung Prinzip des Lebens überhaupt; sie dauert das ganze Leben lang an, ist nicht mit dem Erwachsen- oder Vernünftigwerden abgeschlossen. Bekannt gewordene Stichworte Eriksons sind das Grundvertrauen („basic trust“) als Basis und Hintergrund der gesamten Entwicklung und „Identität“ als deren späterer personaler Kern. Das Leben ist eine Abfolge von „Krisen“, d. h. von entscheidenden Phasen, die jeweils positiv oder negativ bewältigt werden und die weitere Entwicklung dadurch immer mit beeinflussen. Besonders nachvollziehbar ist das beim Grundvertrauen, das bereits im Säuglingsalter vermittelt wird, und das grundsätzlich prägend wird für das Selbstwertgefühl und das Vertrauen sowohl in die eigene Person als 111 4 Religiöse Entwicklungsmodelle <?page no="112"?> auch in die umgebende Welt. Fällt es positiv aus, so sind Selbstvertrauen, Gelassenheit, Lebensfreude, Akzeptanz des Lebens usw. die Folge; fällt es ne‐ gativ aus („Grundmisstrauen“), so kommt es zu Selbstzweifel, Unsicherheit, Unzufriedenheit, innerer Anspannung, Vermeidungsverhalten, Passivität usw. Bemerkenswert und in seiner Bedeutung kaum auszudenken ist dabei, dass unser Lebensgefühl also regelrecht „gelernt“ wird. Prägungen sind ent‐ scheidend für unsere Art und Weise, mit uns selbst und der Welt umzugehen. Grundvertrauen oder Grundmisstrauen werden in der frühesten Kindheit gelernt und prägen unser Lebensgefühl und damit auch unser faktisches Leben. Die Krisen in der frühen Kindheit, im Spiel- und im Schulalter nennt Erikson „Autonomie gegen Schamgefühl und Selbstzweifel“, „Initiative gegen Schuldgefühl“, „Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl“. Sie alle sind Ausdruck des Grundvertrauens: Wo das gegeben ist, wird ein Kind das Gefühl entwickeln, sein Recht zu beanspruchen, seinen Willen zu entwickeln und dann vor allem im Zusammensein mit anderen Kindern Selbstvertrauen beim Spiel und bei äußeren Anforderungen zu zeigen. Die zweite entscheidende Krise ist dann die Ausbildung der Identität in der Pubertät. Erikson fasst Identität in einem weiten Sinn auf, der über ein eigenes Rollenbewusstsein auch Selbstwertgefühl und Zutrauen in die eigene Kraft einschließt. Wer keine stabile Identität aufbauen kann, wird unsicher wirken, Entscheidungsschwierigkeiten haben und eher verschlos‐ sen, leistungsschwach, bedrückt, rat- und rastlos und ein Suchender bleiben („Identitätskonfusion“). Es ist klar, dass die psychische Energie, die ein solches Lebensgefühl kostet, nicht zur gesunden Entwicklung des nächsten Lebensschritts zur Verfügung steht. Im frühen Erwachsenenalter folgt als Krise die Ausbildung von „Intimität gegen Isolierung“, d. h. vor allem die Fähigkeit zu Partner- und Freund‐ schaftsbindung. Im Erwachsenenalter folgt die Krise der „Generativität“, also des Hinterlassens von Kindern, Wohltätigkeit oder kulturellen Spuren, gegen „Stagnation“. Und auch im hohen Alter gibt es eine Krise, die Erikson „Integrität gegen Ekel und Verzweiflung“ nennt. Sie besteht in der Fähigkeit und Bereitschaft, das zurückliegende Leben mit all seinen Brüchen und Umwegen akzeptieren zu können. Wenn eine gelingende Entwicklung grundsätzlich gebunden ist an das Gefühl des Gehaltenseins, dann liegt hier auch eine Bedeutung für die religiöse Entwicklung. Glaube lässt sich nämlich als Grundvertrauen verste‐ 112 4 Religion im Lebenslauf <?page no="113"?> hen, als Zuspruch und umfassende Geborgenheit, christlich gesprochen: als Gottes bedingungslose Annahme und Liebe. Auch die zweite grundlegend wichtige Phase der Identitätsbildung ist religiös bedeutsam: Religion will das Leben, also die freie Entfaltung des Menschen, christlich gesprochen: Sie zeigt Gottes Gnade und Rechtfertigung ohne jede Vorleistung. Erikson selbst geht davon aus, dass Religion mit ihren Bildern und Ritualen bei der Bewältigung der Krisen hilfreich sein kann: Sie kann zur Ausbildung von Grundvertrauen und Identität (und natürlich auch von Autonomie, Generativität usw.) maßgeblich beitragen. Eriksons Modell ist nicht nur aufgrund dieser religiösen Parallelen für die RP interessant. Es zeigt, dass mögliche Leitziele einer gesunden menschli‐ chen Entwicklung auch für religiöses Lernen immer mitbedacht werden sollten - etwa ein gesundes Selbstbewusstsein, Offenheit anderen Menschen gegenüber, Akzeptanz der Lebensumstände, Fähigkeit zum Genuss, Gelas‐ senheit und Reife. 5 Religiosität von Männern, Frauen und älteren Menschen Religion hat auch eine geschlechtsspezifische Dimension. Immer ist zwar der Einzelfall zu betrachten und Verallgemeinerungen sind mit Vorsicht zu handhaben. Tendenziell und auch was Beteiligung angeht, ist Religion aber weit eher Sache der Frauen. Generell neigen Männer mehr zum Erfolgsstreben, zur Verteidigung von sozialem Rang und entsprechendem Konkurrenzverhalten, Frauen dagegen eher zu Aushandeln, Einfühlung und Konsens. Das prägt auch die Religiosität. Vor allem junge Männer neigen eher zu aggressiver Auseinandersetzung, Mutproben und Wettbewerbssitu‐ ationen. Sie suchen aber nach körperlichen Herausforderungen, die es in einer digitalen Gesellschaft kaum noch gibt. Frauen ebenso wie Männer leben inzwischen ihre Erotik offen aus, erwarten von Partnern Initiative und Souveränität, verstärkt auch ein gutes Aussehen. Das verunsichert und überfordert viele, weil hier keine Verhaltenssicherheiten mehr zur Verfügung stehen. In der Religionssoziologie kam es zu ersten empirischen Forschungen geschlechtlich unterschiedlicher Auffassungen von Religion in den 1990er Jahren. Die religiöse Einstellung (Gebet, Kirche, Gottesdienstbesuch usw.) hat bei Frauen deutlich höhere Werte (20-50% mehr als bei Männern). Ihr Verständnis von Religion ist metaphorischer und symbolischer; Versöh‐ 113 5 Religiosität von Männern, Frauen und älteren Menschen <?page no="114"?> nung, Liebe, Mitgefühl und Geborgenheit sind ihnen deutlich wichtiger als den Männern, die tendenziell eher in Kategorien des Einflusses (Kraft, Stärke, Macht), der Unabhängigkeit und der Sicherheit denken. Die weibli‐ che „Affinität“ zu Religiosität überhaupt ist so deutlich, dass Bernhard Grom bereits davon ausgeht, dass die Förderung allgemeiner weiblicher Merkmale Religiosität fördert, während die der männlichen für die Entwicklung von Religiosität eher hinderlich ist ( 5 2000, 288). Erklärungen befinden sich noch im Anfangsstadium. Diskutiert werden Veranlagung (Vererbung), soziale Beeinflussung und psychologische Projektionen. Auffällige Unterschiede zeigen sich in der Religiosität etwa in der Gottes‐ auffassung: Frauen haben eher eine Beziehung zu Gott, die von Gespräch und Vertrautheit gekennzeichnet ist; Männer empfinden eher seine All‐ macht und Größe. Die Erforschung solcher Zusammenhänge ist im Zuge der feministischen Theologie entstanden. Sie untersucht soziokulturelle Zuschreibungen und Prägungen, Rollenmuster, Verhaltensspielräume der Geschlechter („gender“ im Gegensatz zum engl. Begriff „sex“, d. h. biologi‐ sches Geschlecht). Feministisch orientierte RP fragt nach der Rolle der Frauen in der Religion und nach den „geschlechtsspezifische(n) Besonderheiten religiöser Soziali‐ sation“ (Grom ebd. 280). Viele biblische Frauengestalten sind für heutige Frauen Identifikationsfiguren; es gibt bedeutende Mystikerinnen, und bis heute wird ein Großteil der Arbeit in den Gemeinden von Frauen geleistet (nach Schätzungen: 70 %). Sehr viele Frauen arbeiten als religiöse Erzie‐ herinnen (Mütter, Kindergärtnerinnen, Grundschullehrerinnen), während die wichtigen religiösen Ämter in der Regel nach wie vor den Männern vorbehalten bleiben. Gott hat bereits im Alten Testament sehr mütterliche Züge; das Gottesbild Jesu ist ein Vater, der Verlorenes aufsucht und dem vertraut werden kann, kein machtvoller Despot also. Die feministische RP übernimmt aus der feministischen Theologie die Kritik am patriarchalen theologischen Denken und kirchlichen Strukturen, an Leibfeindlichkeit und Gefühlsverschlossenheit. Sie geht davon aus, dass religiöses Erleben und Entwicklung von Mädchen und Frauen anders als die von Jungen und Männern verlaufen. Auffallend ist, dass auch bei Mädchen und Frauen (vor allem in den Zeichnungen von Kindern) das Gottesbild, wenn anthropomorph dargestellt, weit überwiegend männlich ist. Die Ergebnisse zeigen, dass der „weiblichen Seite“ der Religion mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. 114 4 Religion im Lebenslauf <?page no="115"?> Eine nur sehr kleine Aufmerksamkeit gehört in der RP den älteren Menschen. Dabei wäre es ausgesprochen sinnvoll, die Religiosität in ihrer erfahrungsgesättigten, reifen Form zu kennen; denn das würde auch ein verändertes Licht auf das religiöse Lernen mit jungen Menschen werfen. Vereinfacht und annähernd wird man sagen können, dass die späte Reli‐ giosität die subjektive Prägung von Religion noch deutlicher hervortreten lässt. Religiosität im Alter hat zu tun mit der Akzeptanz des eigenen Lebens, mit der Annahme von Lebensgeschichte und eigenem Schicksal, konkret also von allen Erfahrungen von Schicksal, Schmerz und Erfüllung. Wo das gelingt, wird die reife Religiosität sich als eine Haltung der Gelassenheit, der Dankbarkeit und des zunehmenden Staunens darüber zeigen, dass es das eigene Leben und dass es überhaupt Leben gibt. Das Leben als Wunder ist genau diejenige Erfahrung und Haltung, die die eigenen Sorgen und Leiden, im besten Fall auch das eigene Sterben gelassen und dankbar zurückgeben kann. 6 Wie entsteht eigentlich Religiosität? Grundsätzlich wird man davon ausgehen müssen, dass selbst die besten religiösen Angebote und Bedingungen nicht zu einer Ausformung von Religiosität führen müssen, so wie umgekehrt ein Aufwachsen ohne jeden religiösen Einfluss nicht unbedingt bedeuten muss, dass ein Mensch nicht dennoch eine eigene Religiosität ausbilden kann. Die Entwicklungstheorien machen aber sehr deutlich, dass die entscheidenden Fragen in der RP nicht beantwortet und oft noch nicht einmal gestellt sind: Wie entsteht eigentlich Religiosität? Was ist für einen (heutigen) Menschen eigentlich religiös „attraktiv“, was also ist für ihn nachvollziehbar und übernehmenswert? Und schließlich: wie kommt es zu einer eigenen religiösen Positionierung? Größter Gewinn der Entwicklungstheorien ist neben der Schärfung des Blicks für die RP darum die Aufmerksamkeit für neue Fragestellungen, deren weitere Verfolgung für religiöses Lernen höchst bedeutsam und lohnend erscheint. Ausgesprochen spannend werden diese Fragen angesichts neuester Er‐ kenntnisse der Genetik. Dort gilt inzwischen als gesichert, dass die gene‐ tische Ausstattung eines Menschen zu weit überwiegendem Anteil nur unter bestimmten Voraussetzungen „aktiviert“ wird, darum in verblüffend hohem Maße von Situation, Umstand und Verarbeitungsstrategien abhängt 115 6 Wie entsteht eigentlich Religiosität? <?page no="116"?> - Erfahrungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der einzelnen Person haben darum einen weit größeren Einfluss auf die eigene Entwicklung, als das die alte Diskussion um Erb-Veranlagung und Umwelteinflüsse (philosophisch: um Determinismus und Freiheit) je ahnen ließ. Und es zeigt sich eine erstaunliche Nähe zum Kern der religiösen Erfahrung, die als Bewusstwerdung, neues Sehen und „Umkehr“ erfahren wird. 1. Grundsätzlich wird man vermuten dürfen, dass Religiosität aus einer Mischung von Veranlagung, Prägungen und Eindrücken, sowie von spezifischen Verarbeitungsweisen entsteht - also aus Erfahrungen, die sehr früh liegen können. Eine religiöse „Anlage“ sollte man sich dabei allerdings nicht als eine Art religiösen „Keim“ vorstellen, der nur auf seine Entwicklung wartet - sondern eher im Sinne einer allgemeinen Veranlagung, vergleichbar mit der Veranlagung zur Sprache, oder mit Musikalität. Die Erfahrung zeigt, dass es Menschen gibt, die weniger zu logisch-kausalem und abstraktem Denken, sondern eher zu Gefühl, Kunst, menschlichen Beziehungen und Religion neigen - wobei hier natürlich keine klaren Grenzen zu ziehen sind. Prägungen geschehen si‐ cher zunächst durch die Atmosphäre der Säuglingszeit und später durch Angebote, die die Erziehung macht. Dazu gehört die Bereitschaft der Familie für symbolisches Denken, ihre Akzeptanz und Wertschätzung von Geheimnis, Sinn, Gespür und Phantasie, ferner ihre Bereitschaft zum Gespräch über Lebensfragen (→ 4.2). Prägungen religiöser Art können freilich auch durch unvorhergesehene Ereignisse geschehen. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ein Kind beim eindrucksvollen Anblick des riesigen Vollmondes vor dem nächtlichen Fenster das Gesicht des lieben Gottes vermutet (so dem Autor geschehen), dann liegt es ausgesprochen nahe, dass seine Gottesvorstellung auch später gesichtshafte und geheimnisvolle Züge behalten und von der Vorstel‐ lung des Himmels und der Nacht begleitet sein wird, eher vielleicht als die Assoziation mit der Sonnenseite rational aufgeklärten Verstandes. Diese Überlegung markiert den entscheidenden Einfluss von Erlebnissen und emotionalen Eindrücken für die Religiosität: „Ausgangspunkt aller Religiosität ist das religiöse Erleben“ (Fraas 37; → 18.2). Hierfür wiederum lässt sich als ausschlaggebend vermuten, dass zunächst und vor allem Begegnungen mit Religion stattfinden, d. h. mit religiösen Personen (Pfar‐ rer, Nonne, Nikolaus …), Kirchenräumen, religiösen Bräuchen und Feiern, Anschauungen, Atmosphären usw. Höchst bedeutsam für die Entstehung 116 4 Religion im Lebenslauf <?page no="117"?> und Entwicklung von Religiosität ist also ein religiöses „Angebot“. Dieser Zusammenhang ist in der RP merkwürdig unterbelichtet und praktisch nicht erforscht; spätestens nach der Grundschulzeit geht man hier von einer „problemorientierten“, also kognitiven Auseinandersetzung mit Infor‐ mationen über religiöse Gehalte aus, die in der Regel als Themen oder als Inhalte eingeführt werden, die aber genau besehen ein stark erfahrungs- und gefühlsabhängiges Phänomen betreffen. 2. Auch die andere Frage ist in der RP weitgehend Terra inkognita: „Wann kommt es eigentlich zu religiösen Positionierungen (also Iden‐ tifikationen; → 18.4), oder überhaupt erst zu religiösem Interesse? Wann erscheinen religiöse Gehalte als einleuchtend, stimmig, relevant und lebensdienlich? Eine förderliche Atmosphäre ist hier sicher sehr wichtig, gibt aber natürlich noch keine Garantie dafür ab. Eine nahe liegende Annahme, die auch in den Modellen der Religionsdidaktik (→ 11) verfolgt wird, ist, dass die Begegnung mit Religion in allen ihren Formen und die Teilnahme an religiösen Vollzügen sehr gut geeignet sind, Interesse zu wecken und die lebensbezogene (System-)Logik der Religion für Menschen aufzuschließen. Die häufig geäußerte Ableh‐ nung von Religion durch den fehlenden Lebensbezug zeigt weiter sehr deutlich, dass religiöses Interesse vor allem dort zu erwarten ist, wo sie als Symbolisierung existenzieller Erfahrungen und Fragen eingeführt wird (→ 3.7, → 18.2) Die RP sollte darum sehr viel mehr auf die privaten, in aller Regel le‐ bensgeschichtlich bezogenen religiösen Vorstellungen und Bedürfnisse der Menschen eingehen. Nicht nur in der Schule hängt der Erfolg ihres Arbeitens zunehmend vom Situations- und Lebensbezug ab. Religiöse Gehalte, Ideen, Deutungen, Orientierungen müssen wirklich kommuniziert werden, d. h. sie müssen nicht nur in die Erfahrungswelt der Beteiligten übersetzt werden, sondern von dieser auch ausgehen. Religion kann dann zum Aufbau des Selbstwertgefühls, als Einspruch und Hilfe gegen die technisch-funktionale Verrechnung des Menschen und als Basis seines Lebensmutes und seiner Lebensfreude dienen. Zusammenfassung Religion wird in den verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich aufgefasst, ändert darum jeweils ihre Bedeutung. Sie beginnt mit atmosphärischen Eindrücken in der Kindheit, muss sich in der Jugend 117 6 Wie entsteht eigentlich Religiosität? <?page no="118"?> der Frage nach Wert und Rolle der eigenen Person stellen und hat auch einen Bezug zum Lebenslauf insgesamt. Die religiösen Entwicklungs‐ modelle (Oser/ Gmünder, Fowler) sind sinnvoll für eine Einschätzung des Entwicklungsstandes, in ihrer Aussagekraft aber begrenzt. Sie setzen Religiosität einfach voraus. Bedeutsam aber ist gerade die Frage nach deren Entstehung, bei der frühe Prägungen eine entscheidende Rolle spielen dürften; ferner die nach dem religiösen Interesse und religiösen Identifikationen. Literatur K.-E. Nipkow 1997. Zu 1: H. Luther 1992, bes. 160-182 - H.-J. Fraas 1993, 57-73 - R. Englert in Adam/ Lachmann 2008, 85-110 - NHRPG II.41 - W. Gräb 1998. Zu 2: LexRP Art. „Kind“ - H. Hanisch 1996 - R. Oberthür 1995 - NHRPG II.4.5 - A. Biesinger u. a. 2005 - F. Schweitzer 2001 und 2019. Zu 3: NHRPG II.4.6 - W. Ferchhoff 2007, bes. 174 ff. - B. Grom 2000, 265-279. Zu 4: J. Fowler 1981 - B. Grom, bes. Kapitel 4, 6 und 7 - N. Mette 2006, 164-172 - H. Schmidt 1991, 56-87. - Schröder 2012, § 19. Zu 5: EvErz 45 (1993), Heft 4 - Evers in Pohl-Patalong 2003 - Charbonnier 2013. 118 4 Religion im Lebenslauf <?page no="119"?> Klassische Szenen der Religionspädagogik in Familie, Schule und Gemeinde <?page no="121"?> 5 Religiöse Sozialisation heute Die moderne Lebenswelt unterliegt einem tiefgreifenden Wandel, der sich immer weiter beschleunigt. Zunehmender Verkehr, flächendeckende Ein‐ führung der digitalen Medien, ein immer weiter gesteigerter Wohlstand, die Normalisierung von Stress und eine massiv ansteigende soziale Isolie‐ rung prägen das Bild. Früher selbstverständliche Dinge wie das Lesen von Büchern, ein Bezug zur Kultur und die Bewegung in frischer Luft werden zu Ausnahmen. Wo noch vor einer Generation die meisten Kinder und Jugendlichen in dörflicher Umgebung, inmitten der Natur und in selbstverständlichem Kontakt zu Gleichaltrigen aufwuchsen, sind heute Kontakte durch Internet‐ medien die Regel. Schulische Anforderungen und Leistungsbewertungen und die Erwartung eines erfolgreichen Lebens, d. h. vor allem von Geld, sozialer Anerkennung und intensiven Erlebnissen, werden zu immer aus‐ schließlicheren Lebensinhalten. Das moderne Leben bietet den Heranwach‐ senden sehr viele Möglichkeiten, einen hohen Sicherheitsstandard und eine ausgezeichnete Versorgung, aber ohne entsprechende Angebote aus dem familiären oder sozialen Umfeld wenig Berührung, verlässliche Kontakte und in der Konsequenz weniger Lebensfreude. Religion scheint in einer Welt der individuellen Ansprüche und des technischen Funktionierens immer weniger Platz zu haben. So schwankt sie für viele bereits zwischen Unsichtbarkeit und Überflüssigkeit. Religiöses Desinteresse (→ 14.5) ist zur durchgehenden Normalform geworden, Vor‐ urteile beherrschen das Bild. Offensichtlich kann die RP trotz flächendeckendem RU an den Schulen ihre Aufgabe (→ 2) nicht einmal ansatzweise erfüllen. Zwar werden in der RP die heutigen Kontexte durchaus bearbeitet. Weder die Perspektivik der christlichen Religion, wie sie zentral in der Reich-Gottes-Botschaft Jesu erscheint, noch die symbolische, auf Bedeutung (und nicht auf Faktizität und Inhalte) gerichtete System-Logik der Religion aber sind hier strukturbildend. Der weit verbreiteten Auffassung, Religion stelle absurde Behauptungen auf, stehen in der RP nach wie vor in erstaunlichem Umfang „Glaubensinhalte“ und Theologie gegenüber. <?page no="122"?> 1 Kindheit, Familie und Religion Kinder scheinen alles zu haben - materiellen Wohlstand, medizinische und pädagogische Versorgung - und doch das Wichtigste nicht mehr zu bekommen: Aufmerksamkeit, Liebe, Zeit und Orientierungssicherheit. Die religiöse Erziehung, die ebenfalls viel Zeit, Pflege und Betreuung braucht, scheint immer mehr zum Freizeitangebot zu verkommen und aus der Welt der Kinder zu verschwinden. Kindheit heute Die Kindheit unterliegt heute einem raschen und problematischen Wandel. Kinder sind heute auf der einen Seite bestens abgesichert. Fast alle sind geplante „Wunschkinder“; und niemand käme heute auf die Idee, einen Säugling, so wie das früher üblich war, einer Amme zu übergeben. Möglich‐ keiten und Bildungschancen sind so groß wie nie. Auf der anderen Seite aber gehört das unbesorgte „Kinderglück“ tendenziell der Vergangenheit an. Kinder werden, schon weil oft beide Elternteile berufstätig sind, sehr früh in die Funktionszusammenhänge des durchgeplanten Erwachsenenlebens eingespannt. Mütter, die ihre Kleinkinder noch mit dem Kinderwagen spazieren fahren, haben oft nur eine Hand am Kinderwagen, die andere am Handy; was nach allem, was über die frühe Kindheit bekannt ist (→ 4.2), er‐ hebliche seelische Folgen nach sich ziehen kann. Kinder werden sehr früh an Konsum- und Leistungsdenken herangeführt, Durchsetzungsfähigkeit wird zum Erziehungsziel - während gleichzeitig „kindliche“ Verhaltensweisen bei Erwachsenen zunehmen (Spaß haben, nur für den Moment leben usw.). Bereits seit dem 19. Jh. geht in Deutschland die Geburtenrate stetig zurück. Nach der Öffnung der Mauer 1989 sank die Geburtenrate in den Neuen Bundesländern drastisch um mehr als die Hälfte innerhalb von drei Jahren. Heute gibt es statistisch nur 1,4 Kinder pro Ehepaar, Kinder sind in der überwiegenden Zahl also Einzelkinder; um 1900 waren vier und mehr Kinder die Regel. Die Kleinfamilie wird oft zur Kleinstfamilie: Insgesamt wachsen inzwischen 25 % aller Kinder mit alleinerziehender Mutter auf. Etwa ein Drittel aller Geburten sind nichtehelich. Die Verwandtschaftsnetze sind ausgedünnt, Großeltern leben oft weit entfernt. Die vielen Trennungen durch Scheidung (inzwischen 35 % aller geschlossenen Ehen) werden fast immer als besonders einschneidend erlebt und gehen auf Kosten von Geborgenheit und sozialer Sicherheit. 122 5 Religiöse Sozialisation heute <?page no="123"?> Nur noch sehr wenige Kinder haben ein unberührtes Dorf, einen unbe‐ grenzten Wald und andere Kinder vor der Haustür. Kontakte zu Spielgefähr‐ ten müssen schon früh mit Terminkalender und Handy organisiert werden. In aller Regel spielen selbst kleine Kinder nicht mehr so häufig außerhalb der Wohnung, sondern sitzen vermehrt vor Bildschirmen. Der Verlust von Primärerfahrung entsteht auch durch die wachsende Verstädterung und die Verkleinerung der Spielräume („Verhäuslichung“ und „Verinselung“ der Kindheit). Die wenigen Spielplätze sind nur Reservate für Kinder, Kinder selbst wirken in den modernen Lebensabläufen durchgehend wie Störfakto‐ ren. Die Flexibilitätsanforderungen der Berufe der Eltern führen zu häufigen Ortswechseln und deutlich eingeschränkter Zeit, die Eltern mit Kindern verbringen. Eine Folge davon kann sein, dass Kinder emotional immer mehr sich selbst überlassen sind. Fettleibigkeit, Apathie und Konzentrationsstörungen (ADHS) durch Bewegungsarmut, schlechte Ernährung, digitale Medien und mangelnde Zuwendung nehmen schnell zu. Der routinemäßige Konsum von Psychopharmaka, vor allem von Ritalin, steigt stark an (Verdoppelung innerhalb von 15 Jahren). Soziologen sprechen nachgerade von einem „Verschwinden“ der Kindheit, die auch durch deren „Pädagogisierung“ nicht aufgehalten wird: Eltern überlassen ihre Kinder immer mehr den pädagogischen Einrichtungen (Kita, Kindergarten, Schule, Freizeitangebote usw.). Vor allem in kinderreichen Familien nimmt die Kinderarmut zu. In den Schulen setzt der Leistungsdruck immer früher ein. In Deutschland sind Grundschulklassen mit durchschnittlich über 29 Kindern die Regel (im europäischen Durchschnitt fast 10 weniger! ); die staatlichen Ausgaben für das Bildungssystem werden immer weiter gedrosselt, Schulen bieten immer weniger Gestaltungsraum. Kinder wachsen heute in einer technisierten Welt auf: Fernsehen, Auto, Handy und Computer prägen ihren Alltag. Die Technisierung der Lebens‐ welt fördert zwar das Machbarkeitsdenken, weniger aber die Zufriedenheit; und sie schürt Zukunftsängste durch das Gefühl, in viele bedrohliche Entwicklungen nicht eingreifen zu können. Das Bewusstsein der Relativität und Austauschbarkeit aller Dinge wächst. Kinder finden eine hoch komplexe Welt vor, die gegen spielerische Veränderungen und eigene Gestaltung weitgehend resistent ist. Wie soll man da eine Heimat finden? Auffällig ist die frühe Selbständigkeit und Versiertheit vieler Kinder. Sie wissen in manchen Bereichen mehr als Erwachsene, ihre Medienkompe‐ tenz ist früh entwickelt. Gleichzeitig scheinen sie ihre „kindliche“ Naivität 123 1 Kindheit, Familie und Religion <?page no="124"?> weitgehend verloren zu haben. Auffällig ist ferner eine hohe Anspruchshal‐ tung, die oft von Disziplinlosigkeit, Bequemlichkeit und Unlust begleitet ist (sog. „Wohlstandverwahrlosung“). Die psychische Stabilität der Kinder lässt deutlich nach. Depressionen unter Kindern, vor einer Generation noch für undenkbar gehalten, liegen inzwischen schon im zweistelligen Prozentbereich. Familienreligion „Religiöse Erziehung wird heute von vielen Eltern unabhängig von ihrer Kirchen‐ bindung für wertvoll gehalten und als eine Grundlage angesehen, das Leben auch in schwierigen Situationen zu bewältigen. Freilich sind viele Eltern ratlos, wie sie eine gute religiöse Erziehung unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen praktizieren können.“ (Harz in NHRPG 298) Die Familie genießt hohe Wertschätzung. Sie soll Heimat und Geborgenheit geben und gilt für viele nachgerade als „heilig“. Auch öffentlich wird die Familie hochgeschätzt. Im Gegensatz zu dieser Einschätzung steht aber ihre nur noch geringe Stabilität und der Mangel an gesellschaftlicher Unterstützung. Von den Familienmitgliedern wird die Familie oft nur noch als Basis für die eigene Lebensversorgung gesehen. Vorläufer der bürgerlichen Familie ist das „Haus“, in dem es klar verteilte Rollen gab: Der Vater galt als Vorstand in allen Dingen, die Mutter kümmerte sich um die interne Versorgung („Kinder, Küche, Kirche“), die Kinder beteiligten sich an der Hausarbeit. Oft wohnten drei Generationen mitsamt dem Gesinde unter einem Dach. Heute dagegen nehmen Kleinstfamilien, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Gemeinschaften auf Zeit und Singles zu. Mobilitätsanforderungen und deren Folgen tragen zur Instabilität der Familien bei. Kinder werden immer funktionaler betrachtet: Man „leistet“ sich Kinder und plant sie in die eigene Karriere ein. Kinder sollen den eigenen Lebensent‐ wurf abrunden. Gleichzeitig herrscht Toleranz vor, die auf Aushandeln setzt, keine Regeln vorgibt und oft auch in generelles Desinteresse aneinander übergeht. Das bedeutet für Kinder das Fehlen klarer Vorgaben und den Ver‐ lust von Grenzen, aber auch das verstärkte Gefühl: ich muss allein für mich sorgen. Das führt zu Verunsicherung angesichts einer als unübersichtlich erfahrenen Welt. Oft ist die Unsicherheit bereits bei den Eltern spürbar: 124 5 Religiöse Sozialisation heute <?page no="125"?> Kinder werden als emotionaler Puffer für deren Krisen missbraucht, als Ersatzpartner, als Platzhalter für den Lebenssinn. Die Erwartungen an die Familie sind hoch, aber oft ungedeckt durch ei‐ genen Einsatz: Man hofft auf funktionale Arbeitsteilung, auf Geborgenheit, Gespräch und Anerkennung, gleichzeitig aber geht man von der Freiheit aller Familienmitglieder aus. Das Ideal der Selbstverwirklichung aller ist ein zusätzlicher Herd für Konflikte. Die Individualisierung (→ 15) hat längst die Familien erfasst. Zersetzt wird das Familienleben und seine Kommunikation auch durch die digitalen Medien. In vielen Familien gibt es nach wie vor eine „Familienreligiosität“ (Ulrich Schwab), die immer weniger kirchlich, nach außen hin wenig verbindlich und insgesamt vage bleibt. Sie orientiert sich vor allem an der Familienge‐ schichte (Geburtstage, Jubiläen, besonders Kasualien) und an den Festen im Jahreszyklus. Taufen - die als Familienereignis gelten, nicht als kirchliches - und das Weihnachtsfest sind für sie die wichtigsten Stationen. Familienre‐ ligiosität zeigt sich auch in einer bestimmten Frömmigkeitspraxis, etwa im Tisch- und Abendgebet, in Kinderliedern usw., die für die religiöse Einstel‐ lung der Kinder oft prägend werden. Sie hat eine eigene religiöse „Färbung“ und Stimmung, ähnlich der „civil religion“, und kann über Generationen hinweg konstant sein. Die meisten Familien haben eine wachsende Distanz zu Kirche und Chris‐ tentum. Eine bewusste christliche Familienkultur mit gemeinsamen Gebe‐ ten, Liedern, Gottesdienstbesuch und christlichen Bräuchen wird immer seltener. Ein konfessionelles Bewusstsein gibt es nur noch im Ausnahmefall; meist sind die Unterschiede zwischen der evangelischen und katholischen Konfession nicht mehr bekannt. Selten ist inzwischen eine bewusst christ‐ liche Erziehung. Christliche Sozialisation und religiöse Kenntnisse bleiben immer mehr dem Kindergarten und vor allem dem schulischen RU überlas‐ sen, die das allein aber kaum leisten können. Kirchengemeinden haben nur wenige Angebote für Familien (Familiengottesdienste, Gemeindefeste und manche Freizeiten; → 8.1). Die Eltern haben eine grundlegende Bedeutung für die religiöse Entfal‐ tung. Ihre Lebenseinstellung, Freundlichkeit oder Feindlichkeit der Welt gegenüber wird gelernt, vor allem im entscheidenden ersten Jahr (→ 4.2). Am einflussreichsten ist die emotionale Zuwendung der Mutter - ihr Halten, später ihr Loslassen und ihre Förderung von Neugier, noch später ihre Unterstützung des Eintritts in eine symbolische Ordnung (vgl. Schäfer 1995, Kap. 3). 125 1 Kindheit, Familie und Religion <?page no="126"?> Die zunehmende religiöse Unsicherheit der Eltern und der Wegfall von religiösem Brauchtum führen zu einer spirituellen Leere und zunehmendem religiösen Analphabetismus, die an die nächste Generation weitergereicht werden. Eine weitgehend unsichtbar gewordene Religion scheint - so sieht das zumindest aus - nicht wirklich bedeutend zu sein. Vor allem in den digitalen Medien scheinen religiöse und speziell christliche Symbole und Weltdeutungen regelrecht zu verschwinden. Die Individualisierung (→ 15) führt auch bei der Religion zu der allgemein üblichen Einstellung, die bereits bei den meisten Kindern um acht Jahre herum vorherrscht: Jeder solle das glauben, was er für richtig hält. Die Religion verliert ihre Konturen und ihren lebensfördernden Einfluss. Die religiöse Skepsis verstärkt sich im Übrigen auch durch das wachsende Relativitätsbewusstsein (→ 16.2). Erste Begegnungen mit dem Christentum Umso bedeutsamer sind die ersten Erfahrungen und Eindrücke, die Kinder mit der Religion machen. Sehr häufig wird die Frage: „Warum bin ich Christ“ oder „religiös“ später damit beantwortet, dass die eigenen Eltern es auch waren. Auch grundsätzlich gilt, dass erste Eindrücke oft lebenslang prägend bleiben. Sie sind deshalb religionspädagogisch von hohem Gewicht. Was Erzieher intuitiv wissen, bedarf einer eigenen Erwähnung: Kinder haben ein emotionales und mythisches Weltverstehen, das sich von dem der Erwachsenen grundlegend unterscheidet. Sie leben in Bildern, geheim‐ nisvollen Erlebnissen und Geschichten, die nicht einer rationalen Prüfung unterzogen werden. Das erlaubt einen sehr viel engeren Kontakt zur Wirk‐ lichkeit als das analytische rationale Denken. Und es erklärt, warum Kinder Märchen, Sagen und biblische Geschichten lieben und sehr unmittelbar in sie eintauchen können. Kinder mögen Religion - wenn sie ihnen denn angeboten und gezeigt wird. Zuallererst begegnen Kinder religiösen Festen, Bräuchen und im Zu‐ sammenhang damit bestimmten Figuren: vor allem dem Nikolaus, dem Christkind, den Engeln am Weihnachtsfest. Die Geschichte der Geburt Jesu führt in symbolischer Verdichtung Krippe, Weihnachtsbaum, Kerzen, später die Geschenke als Zeichen des Besonderen und auch des Geheim‐ nisvollen vor. Das Weihnachtsfest zeigt deutlich den Symbolcharakter der Religion (→ 2.2), der an bestimmte Atmosphären gebunden ist, die sich der Erinnerung nachhaltig einprägen können. Das gilt auch für das Erleben 126 5 Religiöse Sozialisation heute <?page no="127"?> von Kirchenräumen, bei denen man bereits im sehr frühen Alter einen prägenden Eindruck vermuten kann. Ähnlich früh begegnen Kinder religiösen Familienbräuchen; allen voran dem Gute-Nacht-Gebet, seltener dem Tischgebet, und damit der allerersten Gottesvorstellung, die sich aus dem automatisch vorgestellten Gegenüber des Gebets ergibt. Zur gemeinsamen rituellen Praxis der Familie können fer‐ ner der Kirchgang (anfangs mit dem Kindergottesdienst) und die Teilnahme am Gemeindeleben zählen. Ein weiterer Bereich religiöser Begegnung sind die Geschichten der Bibel. Wo die Erfahrungen und Begebenheiten um Mose, Noah, Josef, David, Jona, Daniel, Jesus und den Jüngern erzählt werden, lernen Kinder weit mehr als nur biblische Inhalte. Sie lernen die Welt unter der Voraussetzung des besonderen Vertrauens auf etwas zu verstehen, das größer ist als sie selbst. Ferner erhalten sie einen Zugang zum tiefen Sinn von Mythologie und symbolischer und szenischer Darstellung, die zu einer imaginären Rollenübernahme und Identifikation einladen und dadurch die Grenzen des eigenen Ich zur umgreifenden Welt hin erweitern. Prägend sind schließlich immer auch bestimmte Personen, die mit der Religion in Verbindung stehen. Das können neben den Eltern Tanten und Onkel sein, natürlich die Erzieherin, der Pfarrer usw. Eine gewichtige religiöse Bedeutung und Funktion können die Großeltern haben, vor allem die Großmütter - Kinder haben Glück, wenn sie vor Ort und bereit sind, ihre Religion zu kommunizieren. 2 Sinnvolle christliche Erziehung Kinder brauchen gerade angesichts der modernen Lebenssituation Raum und Gelegenheit zur Ausbildung symbolischer Bilder und Ordnungen, denn diese sind grundlegend bedeutsam für die weitere Entwicklung - nicht nur die religiöse. Grundsätzlich denken Kinder in Bildern, an denen die Phantasie einen hohen Anteil hat. Damit haben sie auch eine deutlich höhere spontane Nähe zur Religion, sie sind religiös ansprechbar. Die kindliche Vorstellungswelt Die kindliche Entwicklung beruht auf der freien Entfaltung von affektiven Dispositionen (Gefühlsveranlagungen). Kinder sind ihre Gefühle! Sie ge‐ 127 2 Sinnvolle christliche Erziehung <?page no="128"?> hen ganz in Gefühlen wie Freude oder Angst auf, die sie nicht rational relativieren oder wegschieben können wie Erwachsene. Diese emotionale Abhängigkeit macht verständlich, warum sie Ermutigung, Unterstützung und Bestätigung brauchen. Das aber setzt die emotionale Stabilität der Eltern voraus, und vor allem deren Präsenz. Für die religiöse Entwicklung gilt das noch einmal in besonderem Maße. Gewissheit und Ur- oder „Grundvertrauen“ (Erikson, → 4.4) wollen ge‐ lernt sein und können nur emotional, allenfalls gestisch und symbolisch vermittelt werden, nicht durch Argumente. Dafür brauchen Kinder - neben der Präsenz der Bezugspersonen - dann auch Angebote geistiger Art: Geschichten über Wunderbares, den Schutzengel, Gute-Nacht-Geschichten, Abendgebete und andere Rituale. Kinder leben in hohem Maße in inneren Phantasie-Bildern für Macht, Schutz, Recht, Selbständigkeit usw. (- was auch für Erwachsene mehr gilt als es scheint); darum ist ihr Denken „mythologisch“. Der Phantasie, die zum intermediären Bereich (→ 13.4) zählt, kommt bei diesen mythologischen Bildern die Rolle einer Vermischungs-Agentur von Bedeutungs- und Wirk‐ lichkeitserfahrung zu. Sie verbindet Dinge und Eindrücke mit persönlichen Bedeutungen und baut sich so ihre eigenen bildhaften Sinnwelten und Erfahrungen auf. Etwas Vergleichbares geschieht im Spiel. Darum wäre es völlig unsinnig, von Kindern ein „vernünftiges“ abstraktes Verstehen zu erwarten. Pädagogisch geboten ist vielmehr, Phantasie, Spiel und Neugier zu fördern. Bruno Bettelheim folgerte bereits vor Jahren: „Kinder brauchen Märchen“, was in der modernen Welt lange Zeit verkannt worden war. Sie brauchen aber eben auch religiöse Geschichten und Symbole, Mythen und Wunder. Da Phantasie und reale Eindrücke in allem, was Kinder erfahren, ein Mischungsverhältnis eingehen, ist alles, was die Phantasie stärkt und anregt, auch für die religiöse Entwicklung gut. Wunder und Geheimnis, religiöse Bilder und kirchliche Räume sind in der Kindheit von entsprechend hoher Bedeutung. Wenn später die Frage „ist das wahr? “ auftaucht, also der Realitätsgehalt religiöser Symbole und Vorstellungen überprüft wird, dann liegt es ausgesprochen nahe anzunehmen, dass eine konstruktive Verarbeitung dieser Frage vor allem dann gewährleistet ist, wenn solche Erfahrungen in der Kindheit auch wirklich gemacht wurden. Dasselbe gilt für die existenziellen Fragen, die sich anschließen können, etwa die Theodizee-Problematik (also die Frage nach Gott angesichts des Leides) oder für Vergänglichkeitserfahrungen. Wo Kinder keine echten Begegnungen mit 128 5 Religiöse Sozialisation heute <?page no="129"?> Religion machen konnten, werden sie später in der Regel auch kein Interesse an ihr ausbilden. In den Kirchen hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine restaurative und traditionslastige Haltung etabliert, die Gottesdienste, Gesangbücher und religiöse Lehre am scheinbar Alt-Bewährten ausrichtete, die Lernenden aber kaum eigens wahrnahm. Willi Loch sprach 1964 von der „Verleugnung des Kindes in der evangelischen Pädagogik“. Seither ist das pädagogische und psychologische Wissen stark gewachsen. Wir wissen heute viel über die Mechanismen des Lernens, die Rolle von Motivation, Lust und Unlust, über die Lern-Atmosphäre und über die Rolle der Einsicht in die Bedeutung des Gelernten, schließlich über die Bedeutung spielerischen Lernens, das ein besonderes Augenmerk auf die (innere) Beteiligung lenkt. Es hat sehr lange gedauert, bis die RP die Eigenständigkeit und das Recht der kindlichen Religion wahrgenommen hat (dazu s. u.). So hat Friedrich Schweitzer darauf hingewiesen (Schweitzer 2019), dass Kinder Fragen stellen, die einen offenen Rand zu religiösen Fragen und Anschauungen haben und ohne diese nicht bearbeitet werden können - z. B. die Frage nach sich selbst (wer bin ich? ); oder die nach dem Sinn angesichts des Todes; nach Geborgenheit und Schutz und im Zusammenhang damit nach Gott; nach gerechtem Handeln; nach fremden Religionen. Darum ist eine Erziehung, die Kindern Religion vorenthält, pädagogisch ebenso fragwürdig wie der früher häufige Missbrauch religiöser Erziehung zu moralischen Zwecken. Dieser darf also nicht als Argument verstanden werden, Religion in der Erziehung gar nicht mehr vorkommen zu lassen. Kindliches Lernen (→ 2.2, 13) ist zunächst immer Nachahmung. Kinder setzen Erfahrenes schnell in (Nach-)Spiel um. Dadurch entsteht neben neuem Können auch das Mit-Fühlen, der Aufbau von „Verhaltensdispositionen“ und grundsätzliches Interesse. Und darum sind Vorgaben und Angebote unverzichtbar für jede Entwicklung. Neben die zwei Grundbedingungen „Gehaltensein“ und „Neugier“ (oder anders: Geborgenheit und Ablösung, Sicherheit und Selbständigwerden; vgl. Schäfer 1995) tritt die hohe Bedeutung der „Übergangsobjekte“ (Winnicott), zu denen neben Puppen usw. auch Märchen und religiöse Erzählungen gehören, die unmittelbar die Phantasie stimulieren. Kinder erleben solche Geschichten oft als ausgesprochen dramatisch. Die beiden Grundbedingungen Geborgenheit und Neugier zeigen die Not‐ wendigkeit von stabilisierendem Ritual (Kinder sind „Ritualisten“) und von Veränderung (Kinder sind neugierig). Beide werden verarbeitet in Phantasie und Spiel. Diese wiederum brauchen stimulierende symbolische Angebote: 129 2 Sinnvolle christliche Erziehung <?page no="130"?> Mythen, Märchen und religiöse Geschichten, und natürlich Spielzeug und Spielgefährten. Religion kann gerade dann in ihrer Bedeutung verstanden werden, wenn bereits Kinder die Chance erhalten, sie sich auf ihre Weise anzueignen. Dabei sind alle kindlichen Naivitäten erlaubt, sogar erwünscht. deutungen und baut sich so ihre eigenen bildhaften Sinnwelten und Erfahrungen auf. Etwas Vergleichbares geschieht im Spiel. Darum wäre es auch völlig unsinnig, von Kindern ein „vernünftiges“ abstraktes Verstehen zu erwarten. Pädagogisch geboten ist vielmehr, Phantasie, Spiel und Neugier zu fördern. Bruno Bettelheim folgerte bereits vor Jahren: „Kinder brauchen Märchen“ - was in der modernen Welt lange Zeit verkannt worden war. Sie brauchen aber eben auch religiöse Geschichten und Symbole, Mythen und Wunder. Kinder sind religiös ansprechbar. Die beiden Grundbedingungen Geborgenheit und Neugier zeigen die Notwendigkeit von stabilisierendem Ritual (Kinder sind „Ritualisten“) und von Veränderung (Kinder sind neugierig). Beide stehen der inneren Verarbeitungstätigkeit der Kinder in Phantasie und Spiel gegenüber. Diese wiederum brauchen stimulierende Angebote: Mythen, Märchen und religiöse Geschichten, und natürlich Spielzeug und Spielgefährten. Sicherheit: Geborgenheit, Ritualisierungen, Gewohntes, Vertrautes Freiheit: Neugier, Entdeckungsdrang Phantasie: Vermischung von Bekanntem und Neuem INTERMEDIÄRER RAUM INNERE BILDER Spiel: Vermischung von Regel und Freiheit, Nachahmung und Eigentätigkeit Leitende Ideen für eine christliche Erziehung Leitendes Ziel christlicher Erziehung, die das Leben als Gottes Geschenk versteht, ist die bewusste, dankbare und selbstbewusste Annahme und Ent‐ faltung des je eigenen Lebens, also Bildung durch Förderung von Religiosität (→ 18). Das heißt: 1. Grundvertrauen stärken. Der drohende Gott, der als Mittel zum Wohl‐ verhalten missbraucht wurde („Der liebe Gott sieht alles“), gehört zum Glück der Vergangenheit an. Christliche Erziehung soll der Entfaltung des Lebens dienen, also an Vertrauen, Wachsen und Liebe orientiert sein. Bernhard Grom (Grom 2000) nennt entsprechend als Ziele einer so verstandenen christlichen Erziehung 1. das Grundvertrauen (= Be‐ jahtsein), 2. positive Lebenseinstellung (= Freude, Dankbarkeit), 3. prosoziales Empfinden (= Mitleid und Liebe); erst an 4. Stelle kommen dazu Kognition, Reflexion und Deutung, die im Kindesalter tatsächlich ganz sekundär ist. Kinder stellen ihre Fragen von selbst - wenn die Atmosphäre das zulässt. 2. Religiöse Angebote machen. Christliche Erziehung muss Kindern etwas anbieten. Sie bringt ihre Schätze ins Spiel. Kinder sind auf Begegnung mit den Formen und dem „Zeichengebrauch“ (Michael Meyer-Blanck) 130 5 Religiöse Sozialisation heute <?page no="131"?> der Religion angewiesen. Am Anfang steht die schlichte Begehung von Sakralräumen. Das zeigt, dass religiöse Erziehung nicht anstrengend sein muss. Dann folgen die Feste (vor allem Weihnachten), sodann und oft ineins damit religiöse Figuren und Zeichen: der Schutzengel, der Nikolaus, das Christkind, der Regenbogen, die Arche, das Kreuz usw. Das Gute-Nacht-Gebet sorgt für Schutz und Sicherheit an dem für Kinder schwierigen Übergang in die Nacht. Es lässt die Vorstellung Gottes als eines persönlichen Gegenübers entstehen. Geformte Gebete können individuell erweitert und frei weiter formuliert werden. Dazu treten dann die biblischen Geschichten von Befreiung und Rettung, von Wundern, Heilung und Schutz. Sie ermöglichen die Vorstellung von sinnvollen Abläufen und von Gottes manchmal dramatischem Handeln und seiner Zuwendung. Vor allem in den Psalmen und den Gleichnissen Jesu, die Kinder auf ihre Art verstehen, werden das Leben und die Welt in eine neue Perspektive gestellt. 3. Symbolisches Handeln. Christliche Erziehung soll Religion nicht in Glaubens- und Lehrsätzen, sondern in Bildern, Geschichten, Ritua‐ len und Gefühlen kommunizieren. Die biblischen Geschichten, die christlichen Gestalten, Riten und Räume sind symbolische Träger von existenziellen Erfahrungen (→ 16.3), also von Bedeutungen. Solche Bedeutungen können nicht rational erschlossen werden, sondern sind Sache des Nach-Erlebens. Kinder stehen diesem Bedeutungsdenken noch sehr nah. Sie übernehmen entsprechende Angebote so, dass sie entwicklungsfördernd werden. Aber auch Erwachsene bilden innere Repräsentanzen von Geborgenheit, Schutz, Vertrauen aus. „Daher ist symbolische Abstinenz ebenso gefährlich wie Zuwendungsmangel oder Machtorientierung“ (Schmidt 1991, 131). Die christlichen Themen, Räume und Bräuche sind darum der Erfahrung zugänglich zu machen - in dem Wissen, dass ihr tiefer Erfahrungsschatz sich oft ganz von selbst der Phantasie, den inneren Bildern, der Bedeutungs‐ vorstellung der Kinder zu verstehen gibt und so ihre religiöse Entfaltung stimuliert. Nicht nur für die kindlichen Gottesbilder heißt das, dass die Phantasien und Projektionen der Kinder ernst zu nehmen sind, und nicht mit christlichen Lehren konfrontiert oder gar durch sie ersetzt werden dürfen. Eine symbolische Dimension haben auch religiöse Rituale, allen voran das Gebet. Ausgesprochen sinnvoll ist daher die rituelle Gestaltung konkreter Erfahrungen und Anlässe im Lebenslauf: Geburt, Tod, Ereignisse in Öffent‐ 131 2 Sinnvolle christliche Erziehung <?page no="132"?> lichkeit und naher Umwelt bieten sich solcher Gestaltung innerhalb der Familien, aber auch im Kindergarten an. Schließlich ist das behutsam vor‐ bereitete Abendmahl mit Kindern aus religionspädagogischer Sicht ausge‐ sprochen empfehlenswert. Es ist kaum einzusehen, warum es Erwachsenen vorbehalten bleiben sollte. 3 Theologisieren mit Kindern „Früher dachte ich, Gott ist auf einer Wolke, er hat einen langen grauen Bart und er ist sehr alt, um ihn rum schweben lauter Engel. Jetzt denke ich, Gott ist um die ganze Welt rum und schaut auf uns runter.“ (Schüleräußerung) Diese Aussage wirkt durch ihre Konkretheit naiv. Wie soll die RP mit solchen „kindlichen“ Anschauungen umgehen? Religiöse Fragen der Kin‐ der sind ernst zu nehmen, aber nicht rational zu beantworten, sondern zunächst zurückzuspielen: „Was denkst du denn? “ Hinter Fragen stehen häufig Kommunikationswünsche. Darum geht es beim religiösen Lernen nicht primär um Antworten auf Fragen - sondern um das Angebot sym‐ bolischer Verdichtungen für die Erfahrung der Lernenden. Die häufigsten Zweifels-Fragen „Ist das auch wirklich passiert? “ „Gibt es Gott eigentlich? “ führen dann ganz offensichtlich weniger weg von Religion überhaupt, wenn wirklich religiöse Erfahrungen angeboten und diese individuellen Deutungen zugeführt werden. Der Austausch über religiöse Fragen und Themen im gemeinsamen Gespräch ist erst um den Eintritt in die Grundschule herum zu erwarten. Es zeigt den Kindern, dass ihre Fragen und religiösen Motive ernst genommen werden und einen Platz beanspruchen dürfen. Voraussetzung dafür ist genaues Zuhören und oft auch Geduld. Wo das nicht geschieht, werden Kinder sich in der Regel dauerhaft verschließen. Tabea (7jährig): „Sag mal, Papa, kommen alle Menschen in den Himmel, auch die Räuber? “ Tobias (5jährig, ihr Bruder): „Ja, die kommen auch in den Himmel, aber in den Räuberhimmel.“ (EKD 1995, 69) Dieses Zitat zeigt die religiöse Einstellung von Kindern wie in einem Brennspiegel: Sie sind nicht an Logik interessiert, sondern eher daran, dass alle religiösen Symbole, die sie kennen, nebeneinander gültig bleiben dürfen. Kinder haben eine eigene „Theologie“. Denn sie sind Konstrukteure ihrer 132 5 Religiöse Sozialisation heute <?page no="133"?> eigenen Wirklichkeit (→ 3.6, 4.2, 10.1), auch der religiösen, die sie sich aktiv aneignen. Sie leben nicht in einem kausal-logisch geordneten, sondern in einem mythologischen Weltbild. Aus diesem ergeben sich automatisch Fragen, die religiöser Art sind. Kinder sind insofern kleine Theologen; der Kinderglaube ist religionspädagogisch grundlegend ernst zu nehmen. Kleinkinder erfahren in den biblischen Geschichten, den christlichen Festen, in mythischen Figuren von der geheimnisvollen Tiefenschicht des Lebens (→ 5.2). Dabei verstehen sie die Metaphorizität religiöser Aussagen von selbst. Und zwar lange bevor sie das nach dem Schema der religiösen Entwicklungstheorien (→ 4.4) eigentlich verstehen dürften. Erst das ratio‐ nale Denken verdrängt diesen Verstehensmodus, der ein sehr viel engeres Einssein mit der Welt spiegelt als das analytische (wörtl.: auf-lösende) rationale Denken. Seine Grenze hat das kindliche Religionsverständnis ausschließlich dort, wo es zu einer offensichtlichen Selbstbestätigung naiven und vom Leben abgesonderten oder gar lebensschädlichen Glaubens kommt. Die Abwendung von der mythologischen Weltwirklichkeit in der späte‐ ren Kindheit verläuft in der Regel undramatisch, sofern die Mythologie wirklich ihre Zeit gehabt hat, also angeboten und kommuniziert wurde. Die Erfahrung lehrt, dass beim Gespräch über religiöse Zweifel Kinder oft ihre eigenen Kompromisslösungen suchen und finden; das zeigt auch das oben stehende Zitat mit aller Deutlichkeit. Auch hier muss Kommunikation angeboten werden - nicht fertige Antworten aus der Erwachsenenwelt. Im Übrigen darf daran erinnert werden, dass im sog. Kindheitsevangelium (Mk 10,13-16) von Jesus keineswegs nur die kindliche Vertrauens-Naivität gepriesen wird, sondern ganz offensichtlich auch das selbstbewusste Vor‐ drängeln, das sich nicht vorschnell abfertigen lässt Diese Überlegungen haben dazu geführt, dass sich in der RP seit einigen Jahren das Theologisieren mit Kindern bzw. die Kindertheologie als eigenes Arbeitsgebiet etabliert hat. Für diesen Bereich erscheint mit dem „Jahrbuch für Kindertheologie“ sogar eine eigene wissenschaftliche Zeitschrift. Ob der Begriff „Theologie“ hier ganz angemessen ist, ist fraglich; Theologie ist eine Wissenschaft, die eine entsprechende Expertise fordert. Vorläufer sind die „Pädagogik vom Kinde aus“ der Reformpädagogik und die Kinder‐ philosophie. Grundlegendes Interesse ist, das theologische Denken und Fragen von Kindern nicht durch Vorgaben zuzudecken, sondern ihm einen eigenen Raum zur Verfügung zu stellen. Die Aufmerksamkeit gilt daher der Frageweise, Themenwahl und subjektiven Sicht der Kinder - was durch den teils sehr deutlichen Bezug auf den christlichen Glauben und eine systema‐ 133 3 Theologisieren mit Kindern <?page no="134"?> tisch-theologische Denktradition bei manchen Autoren zum Teil wieder relativiert wird. Entscheidend für das Gelingen solchen Theologisierens ist aber nicht die Vermittlung „richtiger“ Inhalte, sondern eine wertschätzende Kommunikation, die subjektive Einschätzungen zulässt. Friedrich Schweitzer hat eine Theologie von, mit und für Kinder un‐ terschieden. Nur die erste gibt ganz offenen Raum und Impulse für die Kindertheologie, also für kindliche Fragen und Ansichten. Da bei solchen Äußerungen aber auch allzu naive oder nicht zuzuordnende Vorstellungen erscheinen, ist ein Theologisieren mit Kindern sinnvoll: eine theologische Kommunikation, die auch traditionelle Impulse, christliches Wissen und Gehalte einspielt und damit einen ordnenden Rahmen anbietet. Sie will Kin‐ der wahrnehmen, ihre Äußerungen deuten und sie schließlich weiterführen in Richtung einer theologischen Selbstklärung. Inzwischen haben sich hier spezifische Gesprächs-, Lehr- und Erzählmethoden etabliert. Das Theologisieren mit Kindern hängt weitgehend an spontanen Äuße‐ rungen und entsteht eher zufällig als geplant. Dafür gelten die einschlägigen Regeln einer guten Gesprächsführung (→ 12.6, 18.3): Wertschätzung, Ver‐ zicht auf (vorschnelle) Bewertungen, Einbezug aller, Zentrierung auf die im Raum stehende Thematik bzw. Frage. In der Theologie mit Kindern sind alle Gesprächsteilnehmer gleichwertige Partner. Ausgesprochen wichtig und der Wertschätzung religiöser Äußerungen von Kindern angemessen ist ein offener Ausgang. Genau dieser ist das grundsätzliche didaktische Problem einer Theologie für Kinder, die Kindern und ihren Wahrnehmungen einen deutenden Rahmen zur Verfügung stellen will. Das ist sinnvoll, muss aber Angebot bleiben und darf nicht in die (leider allzu nahe liegende, weil aus Sicht der Lehrenden einfachere) Belehrung oder Stoffvermittlung abgleiten 4 Jugendliche und ihre Einstellung zur Religion Im Leben der Jugendlichen spiegeln sich die massiven gesellschaftlichen Veränderungen brennpunktartig ab. Nur wer diese versteht und ernst nimmt, wird heute eine sinnvolle RP betreiben. Darum sind die später behandelten Kernprobleme (→ 14, 15, 16) von entscheidender Bedeutung für die religionspädagogische Arbeit. Die pluralen Möglichkeiten und die individualisierten Lebensstile führen zu maximalen Freiheiten, die aber auch Isolation und Verunsicherung be‐ deuten. Jugendliche haben weniger finanzielle Mittel, Unabhängigkeit und 134 5 Religiöse Sozialisation heute <?page no="135"?> stabilisierende Erfahrungen zur Verfügung als Erwachsene. Überforderun‐ gen, Frustrationen und Versagensängste wiegen deshalb besonders schwer. Jugendliche leiden heute zwar kaum noch unter aggressiven Grabenkriegen mit Eltern und Autoritäten, außerdem sind sie materiell in der Regel sehr gut versorgt. Da sich Sensibilität, Authentizitätsgespür und Toleranz allerdings deutlich erhöht haben, verstärken sich die immer komplexeren Leistungs- und Orientierungs-Anforderungen der modernen Welt mit den kaum noch vorhandenen Orientierungshilfen. Wo es sie gibt, werden sie in aller Regel gar nicht übernommen. Weit eher verlässt man sich auf die „Likes“ in den sozialen Medien, die aber oft nur die eigenen, von Soziologen so genannten „Echokammern“ verstärken. Dazu kommen immer mehr anwachsende Bedürfnisansprüche, die durch die technischen Möglichkeiten und den Konsummarkt bedingt sind. Jugendliche Lebenswelt: komplexere Anforderungen, abnehmende Orientierung „Alles fließt, ist verhandelbar geworden, es gibt keine verbindlichen Vorgaben für die Lebensgestaltung mehr. Den heranwachsenden Jungen und Mädchen fehlen Bindungen und Anbindungen. Gewissheiten und Grenzen, wichtige Vorausset‐ zungen für die persönliche Identitätsfindung, sind weitgehend verschwunden. Welchen Beruf die Jugendlichen ergreifen, mit wem sie wie und wo zusammen‐ leben wollen - alles müssen sie heute selbst entscheiden. Je mehr gesellschaftliche Normen wegfallen, desto mehr müssen sich die Jugendlichen eigene Normen schaffen. Der Leistungszwang, unter dem jeder Einzelne steht, wird stärker.“ (Kirbach in Die ZEIT 33/ 2002, Dossier) Wer bin ich? Was will ich mit meinem Leben? (→ 4.3) Antworten auf die grundlegenden Fragen des Jugendalters sind nicht mehr so leicht zu geben wie früher. Sich in manchen Lebensbereichen nicht oder nicht sofort zu entscheiden, unklar zu bleiben und keine Position zu beziehen, ist vielfach zur Überlebensstrategie geworden, die der Forderung nach Flexibilität ent‐ spricht. Soziale Wärme, Geborgenheit und Verbindlichkeit fehlen im selben Maße, wie die Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe steigt. Zusammen mit Konsumansprüchen führen sie zu einem „narzisstischen“ (→ 15.2) Krei‐ sen um sich selbst: Bin ich schön, motiviert, erfolgreich, souverän (genug)? In diesen Fragen spiegeln sich die gesellschaftlichen Veränderungen, vor 135 4 Jugendliche und ihre Einstellung zur Religion <?page no="136"?> allem der Verlust fragloser Anerkennung und Würde und ein prekäres, an Leistung, Erfolg und Ansehen gemessenes Selbstwertgefühl. Das hohe Maß an Selbstbespiegelung zeigt sich nicht nur im dauernden Nachdenken über sich selbst, sondern z. B. auch darin, dass viele ihre Versäumnisse nicht mehr als eigene Schuld einschätzen, sondern etwa mit einer schlechten Betreuung durch die eigenen Eltern „entschuldigen“. Die permanent lauernden Fragen „Wie bin ich ‚drauf ‘? “ oder „Bin ich eigentlich motiviert? “ zeigen eine stark angewachsene Innenaufmerksamkeit, zugleich aber auch hohe Stimmungsabhängigkeit und Labilität. Das durchgehende Ideal des „Coolseins“ verdeckt eine hohe Verletzlichkeit, die nicht mehr durch innere Stabilität, Disziplin und Selbstvertrauen abgefedert wird. Starke Harmoniebedürfnisse und wachsende innere Leere sind die Folgen. Viele Jugendliche reagieren auf Anforderungen mit Rückzug, bei den Jungen vor allem in die oft exzessive Nutzung der Computerspiele; aber auch mit der Suche nach starken Reizen („Koma-Saufen“), denn Gefühle entscheiden darüber, wer man sein will (→ 13.5). Darum lieben Jugendliche laute Musik, „Action“ und schnelle Reize. Das Gefühl von Druck verbreitet sich immer mehr: der schulische ist zu einem Kennzeichen der „Leistungsgesellschaft“ geworden, in der aus‐ schließlich beruflicher Status und finanzielles Vermögen zählen. Gutes Aus‐ sehen bedeutet einen weiteren Anpassungsdruck. Immer schwieriger wird auch die Partnerfindung, bei der sich die alltäglich gewordene Erfahrung der Instabilität von Beziehungen (→ 5.1, 15.1) mit oft stark überhöhten Erwartungen kreuzt. Vor allem führt die Individualisierung (→ 15) dazu, dass zwar jeder seine eigenen Ziele verfolgen kann, damit aber auch ganz auf sich gestellt ist. Soziale Abgrenzungen und Mobbing nehmen massiv zu; jeder vierte war bereits Opfer von Beleidigungen und Demütigungen, die in der Regel anonym über das Netz kommen. Verschärft wird der Druck auch durch das Wissen um die fortschreitende Umweltzerstörung und die hohe Ar‐ beitslosigkeit. Auch gute Prüfungsergebnisse sind heute keine Garantie mehr dafür, Arbeit zu bekommen. Die Selbstläufigkeiten der Ökonomie, die zunehmende Unbeherrschbarkeit und Undurchschaubarkeit der Tech‐ nik, eine komplizierter werdende und ökonomisch gesteuerte Politik, der Geltungsverlust fester Verhaltensformen und ethischer Verbindlichkeiten, die in allen Lebensbereichen zunehmende Geschwindigkeit und der fast vollständige Verlust der Muße führen vermehrt zu diffusen Ängsten und Ohnmachtsgefühlen. Die Chance, im Leben an einer schweren Depression 136 5 Religiöse Sozialisation heute <?page no="137"?> zu erkranken, hat sich bei Jugendlichen in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdreifacht. In der Einstellung der Jugendlichen dominieren immer mehr die Prinzi‐ pien von Konkurrenz und Erfolg. Die Medien verstärken mit ihrem starken Einfluss diesen Trend. Sie lassen zwar durchaus auch sinnvolle Identifizie‐ rungen zu, erhöhen aber durch ihre schrillen Töne, ihr Tempo und die Schamlosigkeit vieler ihrer Bilder und Themen in kaum abschätzbarer Weise die Erwartungshaltung der Jugendlichen, die vom „realen Leben“ fast nur noch enttäuscht werden können. Das gilt vor allem für die unteren sozialen Schichten. Verwöhntsein, hohe Anspruchshaltung, Spaßsucht und Erlebnisorientie‐ rung erhöhen den Druck sozusagen noch einmal von innen her. Sie gehen oft auf Kosten von Verantwortung und Solidarität. Sie fördern Konzentrati‐ onsschwäche, Lustlosigkeit, mangelnde Motivation, Passivität und schnelle Frustration. Das Bewusstsein für Verhaltensregeln, Kommunikationsbereit‐ schaft und -fähigkeit (Sprachfähigkeit, Argumentationslust, Zuhören usw.), Lese- und Schreibfähigkeit sind deutlich rückläufig. Bei sehr vielen verbrei‐ tet sich die Haltung: Halte den Mund, bring deine Leistung und versuche nicht aufzufallen. In einer komplexen, kaum noch zu begreifenden Welt wird es immer schwerer, einen eigenen Platz zu finden. Deshalb ziehen sich immer mehr auch ältere Jugendliche ins „Hotel Mama“ zurück, in dem sie versorgt sind und für sich bleiben können. Selbstverletzungen („Ritzen“) und Essstörun‐ gen (bes. Magersucht und Fettleibigkeit durch Fast-Food, fehlende Sorge für angemessene Ernährung, dafür Ausstattung mit Geld) verbreiten sich geradezu epidemisch. Offenbar sind Jugendliche besonders anfällig für das Leiden an der wachsenden Empfindungslosigkeit, das sich aus der Abnahme von verlässlichen Bindungen, der steigenden Anforderung an störungsfreies Funktionieren und der rasanten Zunahme von äußeren Reizen erklären lässt (→ 15.1). Sie schwächen das ohnehin labile Selbstwertgefühl und begünstigen Suchtverhalten. Zwar hat das Rauchen deutlich abgenommen, der Alkohol- und Tablettenkonsum dagegen steigt massiv an. Die früheren Jugendkulturen, die durch gemeinsame Treffen, bestimmte Verhaltensweisen, Stile und Moden gekennzeichnet waren, haben sich inzwischen weitgehend zu „Szenen“ verflüchtigt, die spontan entstehen und wenig Verbindlichkeit kennen. Die jugendlichen Lebensstile spiegeln die gesellschaftliche Pluralisierung (vgl. Ferchhoff 2007): Neben den familien‐ orientierten Jugendlichen, die vorhandene Kulturmuster schätzen, ist die 137 4 Jugendliche und ihre Einstellung zur Religion <?page no="138"?> inzwischen größte Gruppe die der „hedonistischen Genießer“, die sich an „fun“ und Konsum orientieren und dafür die nötigen Mittel mitbringen. Daneben gibt es körperorientierte Jugendliche, die Sport praktizieren und auf Fitness und gutes Aussehen Wert legen; weiter die spirituellen Sinnsu‐ cher; sodann die kleine, aber wachsende Gruppe der fundamentalistisch Orientierten, die rigide Sicherungen durch enge religiöse oder politische Gruppen-Anschauungen verfolgen, die jeder Kritik entzogen werden und die Welt außerhalb der eigenen Gruppe als feindlich betrachten. Kleiner wird die Gruppe der kritisch Engagierten mit ihrer alternativen Verhaltenskultur, die für Umwelt, soziale Gerechtigkeit u. a. eintritt. Da es kaum noch Erwachsene gibt, die sich Zeit für Jugendliche nehmen, und da die Jugendlichen selbst frei und unbeeinflusst sein wollen, gibt es praktisch keine orientierenden oder gar verbindlichen Leitlinien, Hilfen und Begleitungen mehr. Der Wegfall von Tabus und Grenzen lässt ein Gefühl von Desorientierung und von Verschwimmen im Grenzenlosen zurück, die vor allem durch die privat eingerichteten Räume der sozialen Medien gefüllt werden. Die Freiheit des Einzelnen ist mit der Last der Verantwortung für die eigenen Entscheidungen, das eigene Scheitern und Leiden verbunden. Das führt aber auch dazu, dass viele Jugendliche sich ins Lernen stürzen und ihre schulische Leistung über alles stellen. Der Eintritt in Ehe oder Beruf, der früher mit Initiationen begangen wurde (Gesellenstreich u. a.) und klar gekennzeichnet war, ist heute durch einen sehr lang andauernden Übergang des Lernens und Ausprobierens ersetzt. So erhalten Jugendliche keine öffentliche Bekräftigung und Akzeptanz als Erwachsene mehr, die die Ablösung vom Elternhaus und die Demonstration der Selbständigkeit erleichtern würde. Ein schwächeres Äquivalent hat die Initiation noch in Firmung und Konfirmation (→ 8.3). Existenzielle Fragen und religiöse Einstellungen „Für das, was in ihrem Leben Sinn ausmacht, wollen die Jugendlichen selbst Ver‐ antwortung übernehmen. Von diesen allgemeinen Merkmalen des Jugendalters sind auch die religiösen Einstellungen betroffen“ (Baumann in NHRPG 199) Jeder kann tun, was er will. Nur: was soll er wollen? Die Konsum- und Freiheitsfrage geht an dieser Stelle nahtlos über in die existenzielle Frage: Was soll ich überhaupt, und was soll das alles? Das Gefühl von Überfor‐ derung (Lustlosigkeit, Motivationsmangel, Stress, Burnout, Depressivität; 138 5 Religiöse Sozialisation heute <?page no="139"?> → 15.1) ist nicht nur die psychische Negativseite unserer Gesellschaft, es ist auch unter Jugendlichen verbreitet. Die Individualisierung (→ 15) lässt die Lebensfragen immer mehr ohne Antworten und macht die Suche nach Sinn zu einem der größten Bedürfnisse. Diese Suche wird durch zwei Faktoren erschwert: Zum einen lassen sich Jugendliche kaum noch von anderen sagen oder gar vorschreiben, wie sie ihr Leben zu meistern hätten. Zum anderen fehlen Sprache und Ausdrucksfähigkeit für die Lebensfragen, die als Privatsache angesehen werden und deshalb ohne Kommunikation bleiben. Die moderne Gesellschaft bietet nirgendwo mehr eine öffentliche Diskussion über sie, und auch die Kirchen stellen sich hier nicht zur Verfügung (→ 14.3). Die Shell-Jugend-Studien zeigen einen deutlichen und fast vollständigen Wegfall von Ideologien und großen Welt-Erklärungskonzepten. Stattdessen herrscht ein starker Pragmatismus vor, dem Berufserfolg und eigene Le‐ bensziele vorrangig wichtig sind. Dazu zählen vor allem Selbstentfaltung und Lebensgenuss. Religiöse Einstellungen können durchaus akzeptiert werden - sie bleiben aber die von anderen (nach dem Motto: „Schön für dich“! ) und werden nur in seltensten Fällen übernommen. Gottesdienst und Gebet sind „Praktiken von kleinen Minderheiten“ geworden (so schon die Shell-Jugendstudie 2000). Eine engere Bindung zur Kirche gibt es nur noch bei einem sehr kleinen Teil. Der Anteil derer, die den Glauben an Gott als „unwichtig“ einstufen, stieg von 2002 bis 2019 von 30 auf 41 %. Es ist die Generation der pragmatischen Nihilisten und der Sinnsucher. Die einen stellen kaum noch tiefergehende Fragen und arrangieren sich mit den gesellschaftlichen Prämissen. Die anderen haben eine Sehnsucht nach Liebe und spüren als diffuse und offene Frage hinter allem die nach dem Sinn des Tuns und des Lebens überhaupt. Durchgehend gelten existenzielle Fragen als rein persönliche Angelegenheiten. Trotz der durchgehenden Konsumorientierung erwarten die Jugendlichen in dieser inzwischen kaum noch eine echte Erfüllung; hier sind sie inzwischen realistischer geworden als viele Erwachsene. Sinn wird darum in den gesellschaftlichen Standards vermutet: in Erfolg und Spaß. Die etablierte christliche Religion wird von den Jugendlichen kaum noch für die Sinnsuche befragt. „In der gegenwärtigen Jugendkultur stellen Kirche und Christentum nur noch für eine verschwindende Minderheit eine bedeutungsvolle Größe dar.“ (Mette 2006, 182) Bei ihnen zeigt sich der religiöse Traditions- und Bindungsverlust am deutlichsten. Auch Religion 139 4 Jugendliche und ihre Einstellung zur Religion <?page no="140"?> gilt als Privatsache. Wo eine christliche Sozialisation noch stattfindet, wird die Pubertät meist zur biographischen „Einbruchstelle“: „Insgesamt haben wir eine Entwicklung hinter uns, die den Kirchen wenig Chancen beläßt, unter den derzeitigen Bedingungen und in den bisherigen Formen Einfluß auf die junge Generation zu gewinnen.“ (Dt. Shell 2000, Bd. 1, 21) So ist es inzwischen zu einem weitgehenden Ausfall religiösen Wissens, religiöser Praxis und religiöser Artikulationsfähigkeit gekommen. Konfes‐ sionelle Grenzen zwischen katholisch und evangelisch sind kaum noch feststellbar. Begriffe wie Luther, Offenbarung, Weihnachten oder Pfingsten können die meisten nicht mehr konsistent zuordnen, die Rede von Sünde und Erlösung liegt weit außerhalb des jugendlichen Deutungshorizonts. Die multireligiöse Präsenz (Islam und Buddhismus im eigenen Land) und die Medien verstärken das Grundgefühl der Relativität aller Überzeugungen. Vor allem aber widerspricht das naturwissenschaftlich geprägte Denken (→ 16.2) in der Ansicht der meisten Jugendlichen der Religion diametral. Die erhellende und ausgezeichnet ausgewertete empirische Studie „Gesucht wird: Gott? “ von Holger Oertel (2004), die in der Sekundarstufe II durch‐ geführt wurde, zeigt neben einer massiven Kirchen- und Dogmendistanz eine klar vorherrschende materialistisch-positivistische, an der Naturwis‐ senschaft orientierte Grundeinstellung der Jugendlichen. Das Christentum wird durchgehend als eine mittelalterliche magisch-naive Illusion (! ) einge‐ schätzt. Glaube gilt als Fiktion, die nur Menschen brauchen, die sich anders nicht zu helfen wissen - also als Ausdruck menschlicher Schwäche. Dennoch gibt es unter Jugendlichen auch ein gewisses religiöses Interesse, das allerdings sehr undeutlich bleibt. Religion wird kaum noch so generell abgelehnt wie noch in den 1970er Jahren, sondern weitgehend tolerant und manchmal sogar mit Neugier betrachtet. Am deutlichsten ist das Interesse an erlebbarer Spiritualität. Religiös attraktiv sind freilassende atmosphärische Erfahrungen, wie sie etwa bei Taizéfeiern oder an Kirchentagen gemacht werden können. Allerdings ist die Zeit vorbei, in denen man religiöses Lernen anhand von grundlegenden religiösen Fragen betreiben könnte; dafür ist das Interesse inzwischen einfach zu gering. Hier am deutlichsten zeigt sich, dass die RP an einer Art Nullpunktsituation angekommen ist. Das nötigt dazu, statt alte Traditionen weiterzuschleppen, grundlegende Fragen zu stellen. Die noch recht neue Jugendtheologie der RP fordert darum in Anlehnung an die Kindertheologie eine stärkere Wahrnehmung jugendlicher Fragen 140 5 Religiöse Sozialisation heute <?page no="141"?> ein sowie deren Kommunikation und Weiterführung. Sie unterscheidet ebenfalls Theologie von, mit und für Jugendliche, will sich als Jugendtheo‐ logie aber von allgemeiner Jugendreligiosität unterscheiden. Damit bleibt sie wiederum sehr bei theologischen Fragen stehen, bisweilen sogar bei Fragen zu theologischen Themen, die faktisch oft gar nicht mehr gestellt werden. Der WiReLex-Artikel „Jugendtheologie“ verzeichnet unter den praktischen Methoden ausschließlich „Glaubensvorstellungen“. Glauben und Christentum müssen sich als Religion (→ 2.2) ausweisen, und Religion muss als symbolische Lebensdimension (→ 18.2) verständlich gemacht werden, als eine Deutung existenzieller Erfahrung, die gerade dem modernen Leben eine plausible und hoch relevante Orientierung und Bewusstseinssteigerung zuführt. So grundlegend argumentieren bisher nur die Sozialisationsbegleitende und die Subjektorientierte RP (→ 3.5, 3.7). Zusammenfassung Kindheit und Jugendzeit haben sich massiv verändert. Die Familien werden immer kleiner, digitale Medien bestimmen das gesamte Leben und ersetzen zunehmend reale Bezüge zu Menschen, Natur, Kultur und Nahwelt. Die Welt erscheint als komplex und unübersichtlich. Einer guten materiellen Versorgung der meisten stehen seelische Vernach‐ lässigung, Vereinzelung, Überforderung und das Gefühl gegenüber, alles Entscheidende im Leben selbst aushandeln und verantworten zu müssen, auch religiöse Fragen. Nur wenige Kinder werden noch durch die Familie religiös sozialisiert. Wo das der Fall ist, spielen mythologische Figuren, Geschichten, Rituale und Bezugspersonen eine prägende Rolle. Unter Jugendlichen aber ist Religionsdistanz zum Normalfall geworden. Literatur Zum Ganzen: B. Schröder 2012, § 20. Zu 1: U. Schwab 1995 - LexRP Art. „Familie (Elternhaus)“ - Domsgen 2019, 6.2. Zu 2: Grom 2000, 15-31. Zu 3: Zeitschrift für Kindertheologie - WiReLex Art. Kindertheologie - M. Scham‐ beck 2012. Zu 4: K.-E. Nipkow 1997 - Deutsche Shell 2000 und ff. - H. Oertel. 2004 - C. Gennerich 2010. 141 Literatur <?page no="142"?> 6 Religionsunterricht Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden - etwa in einem Restaurant - durch Zufall dem Kultusminister Ihres Bundeslandes begegnen und mit ihm ins Gespräch kommen. Dabei erfahren Sie, dass der RU, für den Sie sich beruflich engagieren, abgeschafft werden soll, und zwar aus ganz naheliegenden Gründen, nämlich aus finanziellen. Der Staat muss sparen. Zugegeben: eine hypothetische Situation. Wie aber würden Sie argumentieren, um das Fach Religion in der Schule zu verteidigen? 1 Vorgeschichte und derzeitige Situation des RU Zur Vorgeschichte des RU an der Schule Die Schule dient der Sozialisation, der Reproduktion des Wissens, der Qualifikation für die weitere Ausbildung und den Beruf, schließlich der Selektion, d. h. der Auslese der Besseren. Sie erhebt den Anspruch, für Werteerziehung und Charakterformung zu sorgen. Sie ist die bedeutendste Bildungsinstitution der modernen Gesellschaft. Ihre Hauptkennzeichen sind jahrgangsgestufte Klassenverbände, eine professionelle Lehrerschaft, nach Fächern getrennter Unterricht, staatlich verantwortete Lehrpläne. Menschen verbringen einen Großteil ihrer Jugend in der Schule. Die ursprüngliche griechische Wortbedeutung von „Schule“ meinte die zweckfreie Hingabe an eine Sache oder Beschäftigung in beschaulicher „Muße“. Die heutige Schule stellt nahezu das Gegenteil dieses Ideals dar. Sie dient dem Erlernen der Kulturtechniken, insgesamt fast ausschließlich aber der Vermittlung von Wissen (Information) und dem Erwerb von Zeugnissen. Dadurch entsteht erheblicher Leistungsdruck, nicht nur in den oberen Klassenstufen. Die moderne Schule betreibt eine funktional gesteuerte und durch gesellschaftliche Anliegen geprägte Erziehung, kaum jedoch eine im ursprünglichen Sinne verstandene Bildung, d. h. eine freie, vielgestaltige Entfaltung der Person (→ 17). Ängste und Unlust vieler Schüler stellen heute ein massives Problem dar, aus dem aber kaum jemals pädagogische Konsequenzen gezogen werden. Der weit überwiegende Teil der Schüler geht ungern zur Schule. Abgesehen <?page no="143"?> von der Primarstufe haben Erkenntnisse der modernen Pädagogik und Lerntheorie bisher nur sehr zögerlich Anwendung gefunden. Die vielen Schulreformen, die „von oben“ verordnet sind, erhöhen ihrerseits den bereits vorhandenen Druck. Ernste Versuche alternativer Schulen (Hartmut von Hentig, Montessori-Pädagogik usw.) bleiben ohne Auswirkungen auf die staatliche Schule. Die Schule ist eigentlich eine kirchliche Idee. Im Mittelalter gab es nur sehr wenige, ausschließlich kirchlich getragene Schulen, vor allem die „Latein‐ schulen“. Alle Schüler wurden gemeinsam unterrichtet. Biblische Geschich‐ ten, christliche Legenden, Bräuche und Lehren bildeten den Schwerpunkt des Unterrichtsgeschehens, denn sie stellten die wesentlichen kulturellen Inhalte der Zeit dar. Erst relativ spät bildete sich das Fächersystem heraus. Noch später erkannte man, dass ein effektives Lernen voraussetzt, dass altersgemäß, also in Klassenstufen unterrichtet wird. Erst im 19. Jh. wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt; bis dahin war der Schulbesuch weitgehend abhängig vom Stand und von den finanziellen Mitteln der Eltern. Nachhaltig gefördert wurde das Schulwesen durch die Reformation (→ 1.2): die Schüler sollten die Heilige Schrift lesen können, da dort ihr Heil zur Verhandlung stand. Martin Luther hatte in einer seiner großen Reformationsschriften (An den Adel, 1520) dafür plädiert, dass möglichst alle Jungen und Mädchen - auch diese: das waren neue Töne - Lesen und Schreiben lernen sollten; er hatte seinen Aufruf bezeichnenderweise nicht an die Kirche, sondern an die Landesherren gerichtet, da er der Kirche in diesem Punkt nicht mehr viel zutraute, und auch, weil er von der öffentlichen Bedeutung dieses Gedankens überzeugt war. Seither hat sich das Schulfach RU in der Stundentafel allmählich eingebürgert. Seine Inhalte waren zunächst klar auf das kirchliche Leben bezogen. Die erziehungs-euphorische, aber religionskritische Aufklärung stellte dann die Forderung nach einem auf das Leben bezogenen, in Inhalten und Lehrmethoden an den Kindern ausgerichteten Unterricht. Seither ist zwar zunächst nicht der RU, aber vor allem die geistliche Schulaufsicht zunehmend in die Kritik geraten - die Kirche war nach wie vor Trägerin der Schulen. Das zeigte sich vor allem darin, dass die meisten Lehrer Pfarrer oder Küster waren. Die geistliche Schulaufsicht bestand dennoch bis fast zum Ende des 19. Jh. 143 1 Vorgeschichte und derzeitige Situation des RU <?page no="144"?> RU heute: das umstrittenste Fach Im Jahr 2020 ist die Zahl der kirchengebundenen Grundschüler erstmals unter 50 % gesunken. Kann man RU da als Pflichtfach für alle fordern? RU wird in fast allen Bundesländern in den meisten Klassen zweistündig erteilt. Ebenso ist fast überall das Ersatzfach „Ethik“ (auch „Werte und Normen“, „Philosophie“ u. ä.) für Schüler eingeführt, die aus Gewissensgründen religiöses Lernen ablehnen. Ethik wird als eigenständiges Fach immer mehr geschätzt, auch von den Kirchen. Seine Inhalte überschneiden sich mit denen des RU weit mehr als oft angenommen. So werden im RU Fremdreligionen, Atheismus und ausführlich auch ethische Fragen bearbeitet, in Ethik auch sozial sichtbare religiöse Einstellungen. Schule dient der Reproduktion, Qualifikation und Selektion. Welche Rolle kann der RU da spielen? Plausible Begründungen für religiöses Lernen (→ 2.4) zielen weniger auf die Reproduktion von Wissen, sondern aus reli‐ gionsdidaktischen Gründen eher auf Orientierung und persönliche Bildung. Die allgemeine Erwartung an den RU ist, er solle der Wertebildung dienen. Diese eigentlich ethische Zielsetzung kann aber nur von untergeordneter Bedeutung sein! Im RU muss es um Religion gehen. Verbreitet ist leider immer noch die Einschätzung, der RU diene der Bestandssicherung der Kir‐ chen. Die Kirchen selbst lehnen das aber ab; und die meisten Religionslehrer stehen auf Seiten ihrer Schüler, weit weniger der Kirchen. Religion ist mehr als andere Unterrichtsbereiche - vergleichbar nur mit den künstlerischen Fächern - eine Sache der inneren Einstellung und Betroffenheit, darum auch nur eingeschränkt im herkömmlichen Sinne un‐ terrichtbar (→ 10.2). Angesichts der faktischen Bedeutung von Religion für die Menschen und die Gesellschaft ist das aber kein Argument gegen den RU an der Schule. Es erklärt allerdings die anhaltende Diskussion um das Fach. So behält der RU eine Sonderstellung. Aus einer technisch-funktionalen Perspektive heraus kann er als „überflüssig“ erscheinen, andererseits birgt er die große Chance, Schülern in einer komplexen und unsolidarischen Welt bei der Orientierung zu helfen. Welche Begründungen für den RU können heute überzeugen? Das kul‐ turgeschichtliche Argument ist zwar plausibel (→ 2.4), genau genommen aber auch durch andere schulische Fächer einzulösen; zudem trifft es Sinn und Anliegen des RU nicht vollständig. Das gilt noch mehr für das ethische Argument; Religion und Ethik sind nicht dasselbe. Darum sollte man vor allem anthropologisch argumentieren (Orientierung; Lebenshilfe), obwohl 144 6 Religionsunterricht <?page no="145"?> diese Begründung eher vage und dem Staat möglicherweise schlicht zu teuer ist, da nicht unmittelbar nutzbringend. Eindeutig und stichhaltig ist allein die rechtliche Begründung nach GG Art. (7). Nur sorgt ein positives Recht natürlich auf Dauer nicht für gesellschaftliche Akzeptanz. Die Begründung des RU muss öffentlich plausibel sein. Darum führt zunächst an einer allgemein-pädagogischen Begründung nichts vorbei. Eine kirchliche oder exklusiv christliche Begründung kann also nicht (mehr) ausreichen. Der RU nimmt am Bildungsauftrag der Schule teil. Religion aber ist ein unverzichtbarer Teil der Bildung, so wie andere schulische Inhalte auch. Sie dient nicht nur der Entfaltung der Person (Orientierung, Selbst‐ bestimmung, Nachdenkenkönnen über das Leben, Lebensqualität usw.), sondern ist auch sozial wichtig (Kenntnis der verschiedenen Religionen, Wissen um die Bedeutung von Religion für Menschen und Gruppen, um Sekten, Fundamentalismen usw.). Die sinnvollste und plausibelste Begründung für den heutigen RU geht also, wenn sie denn eine pädagogische sein will, von den Schülern aus. Sie sollte aufzeigen können, dass ohne genaue Kenntnis des Phänomens Religion wichtige gesellschaftliche und lebensbezogene Kompetenzen feh‐ len und das Verstehen der Wirklichkeit eingeschränkt ist. Daraus ergeben sich religionsdidaktische Konsequenzen. Zu solcher „Kenntnis“ gehört näm‐ lich in jedem Fall, dass über Religion nicht nur informiert wird. Eine Grundeinsicht in den Vollzugssinn und die (System-)Logik der Religion ist unverzichtbar zu ihrem Verständnis. Diese Logik wiederum lässt sich am besten an einer anschaulich-konkreten Religion gewinnen, d. h. für den RU: an der christlichen. Der Vergleich mit dem Erlernen einer Sprache dient hier in der RP als beliebtes Argument für einen konfessionellen RU. Hier ist aber Vorsicht geboten, denn das Argument neigt dazu, die gelernte Sprache mit der Über‐ nahme der christlichen Religionsform zu identifizieren. So wie gelerntes Englisch-Sprechen aber dazu dient, im Ausland eigene Wünsche und Fragen zu formulieren, sollte religiöses Lernen die eigene Religiosität formen. 2 RU und die Schularten Schule ist eine „Institution des Vereindeutigungszwanges“ (Bernhard Dress‐ ler), was im RU immer wieder dazu führt, Religion wie Faktenwissen zu unterrichten. Das aber fördert das Missverständnis von Religion. Dem RU 145 2 RU und die Schularten <?page no="146"?> fehlt offensichtlich eine fundierte theoretische Grundlage. Er schwankt zwischen Laberfach, Glaubensfrömmigkeit, Langeweile, Theologenwissen, Traditionskritik und Selbstdeutung hin und her. Grundschule und Sekundarstufe I Die Grundschule dient der Elementarerziehung. Themen sind die elemen‐ taren Kulturtechniken, wichtige soziale Beziehungen und die Systematisie‐ rung des ersten Weltzugangs. Der RU gibt erste weltanschauliche Orien‐ tierung, kommt dem Bedürfnis nach ritueller Ordnung und mythischer Erzählung nach (vor allem der biblischen Geschichten) und ist sehr beliebt. Die Grundschüler „stufen ihn als beglückend und als wichtig für ihr Leben ein; auch attestieren sie ihm hohe Lerneffekte“ (Bucher 2000, 52). Grund dafür ist ganz offensichtlich die in diesem Alter ansprechende symbolische und mythische Dimension der Religion. Kinder haben mit ihrem mythischen Weltverstehen (→ 4.2) einen direkten „Draht“ zur Religion, ihren Geschich‐ ten und Atmosphären. Die Hauptschule wurde nach dem schlechten Abschneiden deutscher Schüler in den PISA-Studien zum Auslaufmodell, ist z. T. bereits abgeschafft und mit den Realschulen zu den neuen Sekundar- oder den Gesamtschu‐ len, die alle Bildungsniveaus nebeneinander anbieten, zusammengelegt; ein reiner Verwaltungsakt ohne jede bildende Wirkung. (Qualifizierender) Hauptschulabschluss und Mittlere Reife werden in den Bundesländern unterschiedlich gehandhabt. Die Sekundarstufe I umfasst in immer stärkerem Maß die sozial Schwä‐ cheren, die geringere Chancen haben und oft wenig Arbeitsdisziplin. Der inzwischen hohe Anteil an Kindern aus Migrantenfamilien (an manchen Schulen über 80 %) führt vermehrt zu sozialen Problemen, aggressiv ge‐ führten Auseinandersetzungen und oft bereits dazu, dass deutsche oder leistungsbereite Schüler angefeindet werden. Die Beliebtheit des RU sinkt in den Durchschnittsbereich, er ist aber etwas beliebter als die Schule insgesamt (Bucher 2000; → 12.1). Sekundarstufe II (gymnasiale Oberstufe, Berufsschule) Das Gymnasium war einst Eliteschule, heute ist es Normalschule. Dadurch kam es zu einer deutlichen Absenkung des Niveaus. Das Gymnasium ist stark leistungsorientiert und unterrichtet fast nur kognitiv. RU ist in der 146 6 Religionsunterricht <?page no="147"?> Oberstufe Wahlpflichtbestandteil des Kurssystems. Seine Beliebtheit liegt am unteren Ende der Skala, nur die Physik liegt noch darunter. Der RU gibt zwar Anstoß zur intellektuellen Auseinandersetzung mit Religion, oft auch für eine spätere Berufswahl als Religionslehrer, Pfarrer usw. Seine Inhalte sind theologische Themen, Religionskritik, Weltanschauungen, Weltreligio‐ nen und Wertfragen (Ethik), also vorwiegend rationale Theologie, nicht Religion. Das erklärt auch die Unbeliebtheit. Auch wenn das mythische Verstehen bei den Schülern durch das rationale abgelöst ist, bleiben mythi‐ sche, symbolische, bildhafte und atmosphärische Verstehensformen für die Lebensfragen unverzichtbar, werden aber nicht mehr angeboten. Ein großer Teil der Jugendlichen besucht die Berufsschule. Die Bezeich‐ nung „Berufsschule“ ist seit 1921 etabliert; sie entstand aus dem pädagogi‐ schen Gedanken einer Bildung durch den Beruf. Die Schüler sind junge Erwachsene, die eine praktische Berufsausbildung durchlaufen, die größten‐ teils in Betrieben stattfindet. In der Schule erhalten sie dazu eine theoretische Fundierung und Allgemeinwissen. Wenn nicht im Block unterrichtet wird, ist oft nur ein Schultag pro Woche vorgesehen. Die Berufsschule hat, ähnlich wie die Hauptschule, mit mangelnder Motivation und Disziplin in den Klas‐ sen zu kämpfen. RU wird in Vollzeitklassen im Regelfall einstündig erteilt. Bei der derzeitigen Reduzierung der Schultage und stärkerer Gewichtung der Ausbildung in den Betrieben zeigt sich eine Tendenz, zuerst die „Kern‐ fächer“ (Deutsch, Mathematik) abzudecken. Der RU wird immer mehr in fächerübergreifende Projekte eingebunden; das bedeutet lebenspraktische Ausrichtung, aber auch die Gefahr eines Profilverlustes. Das Interesse der Schüler am RU ist vergleichsweise gering, der Stundenausfall hoch (ca. 40 %). Die Lehrpläne des Berufsschul-RU sind deutlich an ethischen und gesell‐ schaftstheoretischen Fragestellungen ausgerichtet. Daneben besteht eine betonte Orientierung an den Lebensproblemen und Fragen der Schüler: Für die Ablösung vom Elternhaus, die Berufs- und Rollenfindung, für Beziehun‐ gen usw. sollen die Auszubildenden Orientierungsangebote erhalten. Förderschulen Förderschulen (früher: Sonderschulen) sind Pflichtschulen für Kinder und Jugendliche mit körperlichen oder geistigen Behinderungen. Die größte Gruppe sind lernbehinderte Schüler, dann auch gehör-, seh- und sprach‐ behinderte, körper- und geistig behinderte. Die Klassen sind mit durch‐ schnittlich 11-12 Schülern sehr klein und ermöglichen Betreuung und 147 2 RU und die Schularten <?page no="148"?> pädagogische Zuwendung. Oft können Abschlüsse erreicht werden, die de‐ nen der Sekundarstufe I entsprechen. Die Förderschule geht heute weniger von Beeinträchtigung oder gar Makel ihrer Schüler aus, sondern versteht sich als Bereitstellung eines Erfahrungs- und Lebensraumes und immer mehr als Versuch einer Förderung ihrer spezifischen Fähigkeiten, Stärken und Kompetenzen. Eine spezifische Schwierigkeit ist die soziale Isolation behinderter Kinder und Jugendlicher, also ihre faktische Ausgrenzung. Dadurch leiden sie häufig unter schlechtem Selbstwertgefühl, zeigen folglich oft wenig Leistungsbereitschaft und Motivation. RU ist ebenso wie an allen anderen Schularten ordentliches Lehrfach. Ein der Evangelischen Unterweisung angelehntes Konzept hat sich hier relativ lange erhalten. Aus praktischen Gründen wird RU oft konfessionell gemischt unterrichtet. Die Themenvorgaben sind mitbestimmt durch die Frage der Auffassungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Schüler. Zentral wichtige Inhalte sind Jesus Christus und Gott als schützendes persönliches Gegenüber. Kirchliche Schulen Kirchliche Schule sind Schulen in kirchlicher Trägerschaft. Vergleichbar z. B. den kirchlichen Kindergärten werden sie zum größten Teil vom Staat finanziert, sind allerdings durch ein bestimmtes Profil, meist eine gute päd‐ agogische Atmosphäre und eine engagierte Lehrerschaft gekennzeichnet. Ihr christlicher Geist zeigt sich vor allem im Schulleben, das oft eine bemer‐ kenswerte pädagogische Kultur aufweist. Die christliche Lebens- und Welt‐ anschauung wirkt hier als ein Hintergrund, der eine „corporate identity“ und ein entsprechendes Gemeinschaftsgefühl bei Lehrern und Schülern ausbil‐ det. Die ca. 1000 kirchlichen Schulen in Deutschland (Tendenz anwachsend), die in der Mehrzahl berufsbildende Schulen sind, sind aufgrund ihres Schul‐ klimas, ihres geistigen Hintergrunds, schließlich ihrer oft weit über den schulischen Standard hinausgreifenden Bildungsangebote ausgesprochen beliebt und haben oft größere Wartelisten für Schüleraufnahmen. Für die kirchliche Bildungsarbeit kommt ihnen eine und wachsende Bedeutung zu. 148 6 Religionsunterricht <?page no="149"?> 3 Rechtliche Rahmenbedingungen RU ist „keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloß Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Reli‐ gionskunde“. (Bundesverfassungsgericht, Febr. 1987) Die Kenntnis der rechtlichen Bedingungen für den RU ist unverzichtbar für jeden, der RU erteilt oder sich an der Diskussion beteiligt. RU gilt als eine rechtliche „Res mixta“ (juristisch gemischte Angelegenheit), in der der Staat ebenso zuständig ist wie die Kirchen. Seine Besonderheit ergibt sich, wie das Zitat des BVG deutlich macht, aus der Eigenständigkeit des Phänomens Religion, das nicht durch informelle Erkundung zugänglich ist. Einschlägig sind vor allem zwei Artikel des Grundgesetzes (GG), die Art. 4 und 7. In Art. 4 sind „Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, Kriegsdienstverweigerung“ geregelt: GG Art. 4 1. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. 2. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. 3. Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. (…) Hier sind die grundlegenden Freiheitsrechte gewährt, die eigentlich Bürger‐ rechte sind. Die „Ausübung der Religion“ wird eigens genannt. Darunter sind neben der Vertretung religiöser Überzeugungen auch die Ausübung re‐ ligiöser Bräuche zu verstehen, etwa der Gottesdienstbesuch, das islamische Gebet usw. Wer sich z. B. durch die Glocken eines nahen Kirchturms gestört fühlt und vor Gericht geht, der muss damit rechnen, dass seine Klage mit GG Art. 4 (2) abgewiesen wird - Glockengeläut ist Teil der „Ausübung“ der christlichen Religion. Dasselbe gilt prinzipiell auch für einen Muslim, der für das Freitagsgebet die Arbeit unterbricht. Juristisch lassen sich hier eine negative Religionsfreiheit (Schutz vor religiösem und ideellem Zwang) und eine positive unterscheiden (Schutz des Angebots und der Praktizierung von religiösen und ideellen Überzeugungen und Handlungen). Der Staat garantiert hier, dass die Person rechtlich vor der staatlichen Institution steht. Der Staat ist in Sachen Religion ebenso wenig zuständig und auch kompetent wie etwa in der Medizin oder in der Wissenschaft - in allen diesen Bereichen benötigt er Spezialisten, die sich auskennen. Der Staat 149 3 Rechtliche Rahmenbedingungen <?page no="150"?> verpflichtet sich daher in allen Bereichen der Überzeugung und Haltung zu strikter Neutralität; darüber hinaus garantiert er deren Schutz. Hinter diesem Schutz stehen die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus: seine Verfügbarmachung und Unterwerfung des persönlichsten Bereichs unter staatliche Kontrolle. Diktaturen beginnen mit genau diesen persönlichen Bereichen ihre Macht zu entfalten: mit Kunst und Religion. Hier sind Freiheit und Persönlichkeit der Menschen am schnellsten und nachhaltigsten block‐ ierbar. Das sollte auch noch einmal im Sinne einer Begründung für religiöses Lernen zu denken geben (→ 2.4). Heute herrscht in Sachen Religion oft Gleichgültigkeit - was faktisch anfällig macht für schleichende Ideologien, etwa den heute so beherrschenden Konsumzwang. Jedes religiöse Bekenntnis und jede religiöse Handlung ist erlaubt und geschützt, auch religiöse Splittergruppen wie Sekten oder die „Scientology Church“, die eigentlich ein totalitäres Wirtschaftsunternehmen ist. Das Religionsrecht ist missbrauchbar, so wie jedes Recht. Faktisch kommt es bisher aber vor allem zum Schutz kultureller Üblichkeiten. Religiöse Gemeinschaften haben das Recht, sich zu versammeln, ihre Religion auszuüben und sich entsprechend zu organisieren. Geregelt ist das im Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung (WRV), der ins Grundgesetz übernommen ist. In Abs. (3) ist festgehalten, dass die „Religionsgesellschaf‐ ten“ sich selbständig verwalten und „ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates“ verleihen. Kirchen dürfen also Angestellte beschäftigen, die einen beamtenähnlichen Status haben. Dieselben Rechte haben wiederum auch andere öffentliche Organisationen, die den Status einer „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ innehaben, etwa die jüdische Kultusgemeinde, die Städte, Universitäten, das Rote Kreuz usw. Für den RU ist GG Art. 7 zum „Schulwesen“ höchst bedeutsam: GG Art. 7 1. Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. 2. Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. 3. Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Überein‐ stimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. 150 6 Religionsunterricht <?page no="151"?> Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religions‐ unterricht zu erteilen. 4. Das Recht zur Errichtung privater Schulen wird gewährleistet. (…) Abs. (1) bestätigt das Ende der kirchlichen Schulaufsicht; Schule ist Ange‐ legenheit des Staates. Sie ist durch die Kultusministerien der Bundesländer und die Schulämter organisiert. Der Staat sorgt also dafür, dass Schulen eingerichtet, Lehrer ausgebildet und bezahlt werden - auch Religionslehrer - und die Schulpflicht eingehalten wird. Dass nach Abs. (4) kein Lehrer zur Erteilung von RU gezwungen werden darf, entspricht ganz dem Art. 4 GG. Die Eltern können nach Abs. (2) bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres bestimmen, ob und welchen RU das Kind besucht. Schüler können aber bereits mit Vollendung des 14. Lebensjahres selbständig aus der Kirche austreten, und in aller Regel auch ohne dies den RU wechseln. So bestimmt es die Regelung im „Reichsgesetz über die religiöse Kindererziehung“ von 1921, das nach wie vor gültig ist. Dort heißt es im entscheidenden § 5: „Nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahres steht dem Kinde die Ent‐ scheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will.“ Da es sich hier um das denkbar persönlichste Recht überhaupt handelt, ist dieser Schritt bereits so früh möglich. Auch ohne den Austritt aus der Kirche kann die Teilnahme am RU aus Gewissensgründen verweigert werden. Dafür gibt es das „Ersatzfach“ Ethik, das besser Alternativfach genannt werden sollte. Erstmals ist dies in der Bayerischen Verfassung Art. 137 (2) geregelt (ein „Unterricht über die allgemein anerkannten Grundsätze der Sittlichkeit“) und dann durch die meisten anderen Länder übernommen worden. Das Nebeneinander von RU und Ethik bedeutet ein Zerreißen des Klas‐ senverbandes, eine (wegen der beiden Konfessionen) in der Regel dreifache Lehrerschaft, darum die größte Schwierigkeit bei der Stundenplanerstellung der Schulen: RU wird wegen dieser Komplexität noch vor dem Sportunter‐ richt eingeteilt. Finanziell bedeutet das einen erheblichen Aufwand. Abs. (3) ist der für den RU entscheidende Absatz. Oft wird er einfach zitiert als „Sieben drei“. Einzig das Fach RU wird im GG erwähnt. „Ordentliches Lehrfach“ bedeutet: RU ist regulärer Teil der Stundentafel und versetzungs‐ erheblich - man muss theoretisch wegen einer Note 6 im RU die Klasse wiederholen. Die „Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften“ bezeichnet die grundsätzliche Zuständigkeit der Kirchen in Sachen RU. 151 3 Rechtliche Rahmenbedingungen <?page no="152"?> Faktisch bedeutet das die Zusammenarbeit von Kirche und Staat bei der Lehrplangestaltung, den Schulbüchern für den RU und bei religionspädago‐ gischen Prüfungen. Außerdem sprechen die Kirchen den Religionslehrern eine Bevollmächtigung aus (kath. die „missio“, ev. die „vocatio“). Kirchliche Lehrkräfte können an staatlichen Schulen unterrichten. Für den RU bedeutet das, dass der Staat die äußere Form zur Verfügung stellt (Klassenzimmer, Lehrer, Schulbücher usw.) und dass er den Kirchen die inhaltliche Gestaltung überlässt. Das stimmt allerdings nur im Prinzip; denn bei der Erstellung der Lehrpläne für den RU sind keineswegs die Kirchen allein gefragt, sie haben eher ein Mitspracherecht. Der Staat lässt sich hier auch die inhaltliche Ausgestaltung des Faches nicht wirklich aus der Hand nehmen. Praktisch werden die Lehrpläne von gemischten Kommissionen erstellt, in denen Vertreter von Staat und Kirchen mitarbeiten. Dieses Verfahren hat sich für beide Seiten bewährt. Auch andere Religionsgemeinschaften ( Juden, Muslime, Buddhisten) können einen eigenen RU einrichten, was aber bisher oft an ungeklärten Zuständigkeiten scheitert. Hier zeigt sich für die Christen ein deutlicher Vorteil der Institution Kirche. 4 Rolle und Position der Kirchen Die Grundsätze der Religionsgemeinschaften Die „Grundsätze“ werden für den RU ausschließlich von den Kirchen selbst bestimmt. Sie sind in den beiden großen Konfessionen in Deutschland zwar sehr ähnlich, aber die bleibenden Differenzen zwischen ihnen sind der Grund, warum der RU bisher meist nach Konfessionen getrennt unterrichtet wird. Die Evangelische Kirche geht vom Grundsatz der Alleingültigkeit der Hei‐ ligen Schrift aus, die als „norma normans“ (normierende Norm, Grundnorm) für Dogmatik und Kirchenrecht gilt und die ihr Zentrum in der befreienden Botschaft Jesu von Nazareth hat. Natürlich muss es immer eine zeitbezogene Auslegung der Schrift geben; diese ist in den „Bekenntnissen“ festgehalten, die als norma normata (normierte, abgeleitete Normen) gelten. Zu diesen Bekenntnissen zählen das apostolische Glaubensbekenntnis, die beiden Ka‐ techismen Luthers, die Confessio Augustana, die Schmalkaldischen Artikel u.a. 152 6 Religionsunterricht <?page no="153"?> Grundsätzlich gilt das Prinzip „sola scriptura“ - allein die Schrift ent‐ scheidet in den Fragen der Lehre und des Heils, nicht die Kirche. Davon sind weitere gewichtige „Allein“-Bestimmungen abgeleitet: „solo Christo“ bedeutet, dass allein durch Christus das Heil zu den Menschen gelangt; er ist „Mitte“ und Auslegungsprinzip der Schrift und zeigt die geschenkte Zuwendung Gottes. Der Mensch kommt zum Heil ferner „sola gratia“ und „sola fide“, d. h. allein aus Gnade und allein aus dem Vertrauen des Glaubens an Gott. Der Mensch kann sich also sein Heil nicht verdienen, auch nicht durch frommes Bemühen. Er lebt allein von der geschenkten Gnade Gottes, die an keine Bedingung gebunden ist und durch nichts und niemanden vermittelt werden muss, auch nicht durch die Kirche. Diese zentrale Aussage wird auch als „Rechtfertigungslehre“ bezeichnet. Sie ist in der „Confessio Augustana“ im Art. 4 festgelegt und gilt als der Artikel, mit dem „die Kirche steht und fällt“. Der Mensch kann nur antworten mit seinem Vertrauen auf Gottes Zuwendung, d. h. mit seinem Glauben, mit dem er unmittelbar vor Gott steht. Die katholische Kirche geht dagegen vom doppelten Grundprinzip „Schrift und Tradition“ aus. Mit „Tradition“ ist die Lehrtradition der ka‐ tholischen Kirche gemeint, zu der die Dogmen, Beschlüsse der Konzilien, das kirchliche Recht und Verlautbarungen des Papstes gehören. Schrift und Tradition stehen gleichberechtigt nebeneinander. Darin drückt sich die Auffassung aus, dass das Verständnis der Schrift einer fortlaufenden Enthüllung bedarf. Damit ist zum einen die religiöse Autorität des Papstes und der Priester begründet; zum anderen ist die Unverzichtbarkeit der Kirche ausgesagt, außerhalb derer es nach katholischem Verständnis „kein Heil“ geben kann. Für die katholischen Christen ist die Kirche nicht einfach die „Versammlung der Gläubigen“, sondern das „corpus mysticum“, ein geweihter und heiliger Bereich. Die entscheidenden Differenzen zwischen den beiden großen Konfessio‐ nen bestehen in der Auffassung von Amt und Sakrament. Die Pfarrer der evangelischen Kirche sind grundsätzlich Laien, denen nur eine bestimmte Funktion in der Gemeinde übertragen ist. Jeder getaufte evangelische Christ darf im Prinzip predigen oder eine Taufe vornehmen. Die katholischen Pries‐ ter dagegen sind geweihte, in der Sukzession (der unmittelbaren Nachfolge) der Apostel stehende Personen; diese Sukzession wird für die evangelischen Pfarrer nicht anerkannt. Außerdem ist das Priesteramt ausschließlich Män‐ nern vorbehalten, die zudem nicht heiraten dürfen (Zölibat). 153 4 Rolle und Position der Kirchen <?page no="154"?> Aus dieser Auffassung heraus wird auch verständlich, dass die katholische Kirche die Teilnahme an der Eucharistie nur den katholischen Christen vorbehält, deren Teilnahme am evangelischen Abendmahl dagegen verbie‐ tet. Diese Trennung wird immer wieder als „Skandal“ angesehen, und tatsächlich steht es dem an keine moralische oder religiöse Bedingung gebundenen Umgang Jesu mit den Menschen diametral gegenüber; trotz aller ökumenischen Bemühungen bewegt sich hier kirchenoffiziell aller‐ dings nichts. Das ist an der Basis anders: dort kümmert man sich immer weniger um kirchliche Beschlüsse. Das Sakramentsverständnis ist auch insgesamt verschieden: die evangelische Kirche kennt nur die zwei von Jesus selbst eingesetzten Sakramente Taufe und Abendmahl, die katholische Kirche dagegen sieben: neben Taufe und „Eucharistie“ Firmung, Beichte, Eheschließung, Priesterweihe und Krankensalbung („letzte Ölung“). Denkschrift und Bischofswort Die evangelische Kirche verfasst immer wieder sog. Denkschriften zu aktuellen Zeitfragen (so zum Arbeitsmarkt, zur Frage nach dem Status der östlichen Bundesländer zu Zeiten der ehem. DDR, zur Friedensfrage usw.). Die Denkschrift „Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität“ (Gütersloh 1994) war damals mit ihren 91 Seiten die bisher umfangreichste. Der RU dient demnach keinesfalls einer kirchlichen Bestandssicherung, sondern ist pädagogisch begründet. „Das Fach hat es mit Religion zu tun, mit Erfahrungen ganz eigener Art. Reli‐ gion ist eine unverwechselbare Dimension des Lebens, die nicht mit Moral oder Philosophie gleichzusetzen ist. … Ohne Religionsunterricht würden viele Heranwachsende Religion nicht wirklich kennenlernen und in religiösen Dingen sprachlos bleiben.“ (30) Religion und die Frage nach Gott sind Teil der Bildung des Menschen. Das betont die Eigenständigkeit und Unersetzbarkeit des Faches RU. Wenn der Staat die Religion als Bürgerrecht akzeptiert, dann muss er auch den christlichen Glauben an die Offenbarung Gottes respektieren, den Bereich also, in dem er selbst keine Zuständigkeit haben kann. Kurzgefasst: der Staat muss den RU garantieren, kann ihn selbst aber nicht verantworten. Die bisherige konfessionelle Trennung des RU soll beibehalten werden, und zwar wiederum aus pädagogischen Gründen - was mit dem Grundrecht auf positive Religionsfreiheit in Verbindung gebracht wird. Konfessionelle 154 6 Religionsunterricht <?page no="155"?> Identität und ökumenische Verständigung (vgl. die Titelformulierung) sind dabei wechselseitig aufeinander angewiesen und schließen sich gerade nicht aus. Nur ein RU, der sich seines eigenen Profils gewiss ist, kann (und soll) sich ökumenisch öffnen. Darum ist „das Gemeinsame inmitten des Differenten zu stärken, in einer Bewegung durch die Differenzen hindurch, nicht oberhalb von ihnen.“ (S. 65). Das bedeutet: kein allgemeiner RU für alle, der die Differenzen verwischt! Sondern ein RU, der auf „konfessionelle Kooperation“ setzt, d. h. der die Zusammenarbeit und den Austausch mit der anderen Konfession, darüber hinaus den mit dem Fach Ethik bewusst sucht und praktiziert. Hier ist von einer „Fächergruppe“ die Rede, in der auch die Eigenständigkeit des Fachs Ethik betont wird. Die Katholische Kirche hat auf diese Denkschrift mit dem Bischofswort „Die bildende Kraft des Religionsunterrichts“ (1996) geantwortet, die weit‐ gehend parallel argumentiert. Der entscheidende Unterschied besteht in der sog. „Konfessionellen Trias“, die erhalten bleiben muss: Schüler, Religions‐ lehrer und Bekenntnis des katholischen RU müssen katholisch sein. Hier ist eine sehr viel engere Bindung an die Kirche vorgenommen. Ein Gaststatus anderskonfessioneller Schüler ist nur in Ausnahmefällen vorgesehen: „Für die Identität des katholischen Religionsunterrichts sind und bleiben die drei Bezugsgrößen Lehrer, Schüler und Inhalt konstitutiv. Diese Trias bildet auch weiterhin die Grundlage für die kirchliche Prägung dieses Unterrichtsfaches.“ (78) Die evangelische Denkschrift „Religiöse Orientierung gewinnen“ von 2014 führt diese Linie fort und bezieht mehr die inzwischen multireligiöse Lage ein. Betont wird dort einerseits das pädagogische „ein Recht auf Religion“ von Kindern und Jugendlichen. Andererseits heißt es: „Voraussetzung dafür ist eine Religionsdidaktik, die es versteht, die christliche Glaubensüberlie‐ ferung so einzubringen, dass sie Kinder und Jugendliche in ihrer heutigen Lebenswelt erreicht“ (37). Immer wieder ist so massiv von „Glaubensinhal‐ ten“, „Glaubensüberzeugungen“ und sogar von „Bekenntnis“ die Rede, dass man die pädagogische Absicht in Zweifel ziehen und hier eher von der Absicht einer Traditionswahrung ausgehen muss. 155 4 Rolle und Position der Kirchen <?page no="156"?> 5 Konfessionelle Trennung? „RU hat nicht die Aufgabe, eine Konfession neben anderen oder ,Religion‘ neben anderen Gegenständen zu lehren, sondern er hat die Aufgabe, die menschliche Lage … sichtbar zu machen.“ (Paul Tillich 1973, 233) Konfessioneller und gemeinsamer christlicher RU Welche Form, d. h. welche konzeptionelle Gestalt kann und soll der RU haben? Die beiden großen Kirchen wollen aus naheliegenden Gründen den konfessionell getrennten RU beibehalten. Das ist die übliche Form des RU auch in den meisten europäischen Ländern; in der Regel gibt es jeweils auch ein Alternativfach (Ethik). Ausnahme ist Frankreich, wo (wie in den USA) religiöse Erziehung an der öffentlichen Schule generell nicht betrieben werden darf - hier wirkt das Erbe der religionskritischen französischen Revolution bis heute nach. Religion hat es mit Lebensfragen, mit grundlegenden Gefühlen, Haltun‐ gen und Anschauungen zu tun, die nicht wirklich verstanden werden, wenn nur aus der unbeteiligten Außenperspektive über sie informiert und reflektiert wird. Allerdings ist daraus nicht die konfessionelle Identität des RU abzuleiten: Seine Gestalt nicht kann auch eine christliche sein, was öffentlich weit eher verstanden und akzeptiert würde. In der gegenwärtigen Situation sollte man dankbar sein, wenn Schüler überhaupt ein Interesse am Christentum entwickeln; Umfragen zeigen, dass etwa der Sinn des Pfingst- und Osterfestes nur einem Bruchteil der Schüler bekannt ist. Konfessionelle Differenzen sind noch viel weniger bekannt oder gar prägend, spielen also kaum noch eine erkennbare Rolle. Auch unter evangelischen Erwachsenen mehren sich Kirchenaustritte, die durch Schwierigkeiten mit dem Papst oder katholischen Verlautbarungen begründet sind. Dazu kommt das finanzielle Argument, das in seiner Bedeutung nicht mehr zu unterschätzen ist: Ge‐ trennter RU ist teuer. Positiv gewendet hieße das: die Konfessionen sollten in schwierigen Zeiten nicht auf alten Pfründen beharren, sondern besser ihre Kräfte bündeln. Differenzen sollen und dürfen nicht aufgegeben oder überspielt werden; nicht umsonst ist in und nach der Reformation heftig um sie gerungen worden. Nur: können sie heute noch die konfessionelle Trennung des Fachs begründen? Konfessionelle Grenzen sind nicht nur weitgehend unbekannt, sondern die Gräben innerhalb des Christentums verlaufen heute weit mehr 156 6 Religionsunterricht <?page no="157"?> zwischen bestimmten Gruppen (liberale, evangelikale, charismatische usw.) als zwischen den Konfessionen. Ein gemeinsamer ökumenischer RU, der seiner Erkennbarkeit halber dann besser christlicher RU hieße, könnte eine christliche Identität darum weit eher stärken. Die Gemeinsamkeiten zwi‐ schen den Konfessionen sind immerhin stark überwiegend: Gott, Christus, Bibel, Glaubensbekenntnis, Vaterunser usw. Gegen einen gemeinsamen RU spricht nach wie vor die hierarchische Glaubensverwaltung der katho‐ lischen Amtskirche, die nach evangelischem Verständnis dem Evangelium widerspricht. Da der RU aber ja keine Veranstaltung der Kirche ist, könnten Schüler gerade in einem gemeinsame christlichen RU sinnvolle Einblicke in die andere Konfession erhalten. Die Formulierung in GG Art. 7 (3) „in Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften“ erlaubt das. Als pragmatisches, übrigens auch pädagogisches Argument käme ferner hinzu, dass die Klassenverbände im RU nicht aufgelöst werden müssten. Für einen gemeinsamen christlichen RU wären die Fragen nach der Konfession der jeweiligen Religionslehrer (Wer soll den RU halten? Prägt die konfessionelle Einstellung den Unterricht? ) und nach ihrer (ökumenischen) Ausbildung, ferner die nach der Ausgestaltung der Lehrpläne gemischte Gremien denkbar, so wie in anderen Bereichen auch. Das sind also letztlich Verfahrensfragen. Die bleibenden katholisch-evangelischen Differenzen im Verständnis von Amt (Priester, Papst, Ordination von Frauen) und Sakra‐ ment (Zahl der Sakramente und kirchliche Weihe), darüber hinaus die in der Frömmigkeit (Maria, die Heiligen, das Kirchenverständnis; Luther, Laienpriestertum, Betonung der Predigt usw.) sollten wiederum aus pädago‐ gischen Gründen, so wie in anderen Fächern auch, nebeneinander stehen und so gerade Grund zur konstruktiven Auseinandersetzung bilden. Inzwischen verbreiten sich Modellversuche „interkonfessioneller Koope‐ ration“ („KoKo“), die in diese Richtung gehen und die sicher die weitere Entwicklung vorzeichnen. Hier wechseln evangelische und katholische Lehrkraft meist im Halbjahresrhythmus. Religionskunde und multireligiöser RU Für starke Diskussion hat das Fach „LER“ (Lebensbegleitung, Ethik, Reli‐ gionskunde) gesorgt, das vor einigen Jahren in Brandenburg für die Jahr‐ gangsstufen 7 bis 10 als allgemeines Pflichtfach eingeführt wurde. Da nur noch etwa 20 % der Bevölkerung Brandenburgs kirchlich gebunden waren und eine kirchliche Mitbestimmung am RU daher nicht sinnvoll schien, 157 5 Konfessionelle Trennung? <?page no="158"?> hat man RU durch eine allgemeine, d. h. neutrale Religionskunde ersetzt, die mit anderen ethischen und Orientierungsthemen verbunden wurde. Die Kirchen haben gegen diese Auslegung Verfassungsklage eingelegt, die aber zurückgereicht wurde. Religionskunde betreibt Überblicks-Informationen über Religion(en). Es soll nicht nur bekenntnisfrei, sondern auch weltanschaulich und religiös neutral allein durch staatliche Lehrer unterrichtet werden. Lebensbedeut‐ same Inhalte können didaktisch aber nicht „neutral“, als kognitive Informa‐ tion und ohne Stellungnahme und Positionierung vermittelt werden; so kann Religion nicht wirklich verstanden werden. Unterricht in Deutsch oder Kunst ist kaum sinnvoll als Grammatikkunde und Kunsttheorie, also ohne Übung im Lesen und Schreiben und im künstlerischen Gestalten. Das gilt für alle schulischen Fächer, für das existentiell bedeutsame Fach RU aber ganz besonders. Ausgerechnet im RU wird auch in der RP nach wie vor für eine kognitiv-problemorientierte, d. h. also religionsdistanzierte Verfahrensweise plädiert, die dem Gegenstandsbereich des Faches nur ganz eingeschränkt gerecht werden kann. LER sah darum die zeitweise Beteiligung „authentischer Religionsvertreter“ vor - ersichtlich eine didak‐ tisch wenig überzeugende Hilfskonstruktion. Der Versuch unterstreicht die Schwierigkeit mehr als er sie löst. Religion bleibt hier Vorgabe von außen; ihre Bedeutung für das eigene Leben ist didaktisch dem Zufall überlassen. Aller Voraussicht nach werden sich regionale Lösungen für die Länder einspielen. Sinnvoll erscheint darum vorerst das Vorantreiben der fächer‐ übergreifenden Kooperation im RU und die weitere Ausbildung einer über‐ zeugenden religiösen Didaktik. Auch der multireligiöse Unterricht, der von verschiedenen Glaubensge‐ meinschaften gemeinsam verantwortet wird, ist nur auf den ersten Blick sinnvoll. Es gibt ihn in England, bedingt auch durch das dortige Bevölke‐ rungs- und Religionsgemisch (ehem. Commonwealth), inzwischen auch in Hamburg. Die Bedenken gegenüber seiner pädagogischen Tauglichkeit mehren sich, denn er führt faktisch mehr zur religiösen Verwirrung als Klärung. Kenntnisse über die Religionen sind wichtig für die Orientierung in der modernen, vernetzten Welt. Aber religiöses Lernen braucht mehr als Kenntnisse. 158 6 Religionsunterricht <?page no="159"?> Die didaktische Aufgabe Diese formalen Überlegungen zeigen: das Grundproblem des RU ist nicht ein rechtliches, sondern ein didaktisches. Wenn heute christliche Elementaria oft kaum noch bekannt, geschweige denn in ihrer Lebensbedeutung ver‐ ständlich und nachvollziehbar sind, und wenn zugleich eine katechetische Einweisung in den christlichen Glauben als Modell nicht mehr überzeugen kann, dann stellt sich die didaktische Frage nach dem Vermögen des RU, Religion ansichtig werden zu lassen. Nur im Zusammenhang mit der allgemein verständlichen Systemlogik der Religion macht auch das Angebot christlicher Gehalte längerfristig einen nachvollziehbaren Sinn. Der RU müsste darum zeigen, was die Logik religiöser Anschauungen, Haltungen und Vollzüge ist und was sie für das Leben des Einzelnen bedeuten kann. Dann wäre er über die einzelnen Individuen hinaus auch gesellschaftlich plausibel. Dass er das aus didaktischen Gründen innerhalb eines perspekti‐ vierenden christlichen Rahmens tun sollte, ergibt sich aus dem Vorsprung gewachsener Deutungsstrukturen (→ 16.5). RU dient nicht der moralischen Belehrung, und er ist keine Sozialkunde; sondern er muss zu einem begründeten Urteil in Sachen Religion befähigen. Auch eine begründete Ablehnung von Religion ist deshalb ein sinnvoller Lernerfolg. Kein Schüler aber sollte sich jemals gegen eine Religion entschei‐ den, die er gar nie kennengelernt hat. Unverzichtbar ist darum der Bezug des RU zur religiösen Lebenspraxis, zur symbolischen Kommunikation der Religion und zur alltäglichen Lebenserfahrung. Eine vergleichende Religionskunde wird zu dieser Dimension nicht vordringen können. RU muss die Vollzugslogik, die Welt- und Lebensdeutungsperspektive der Religion anhand des Christentums bzw. der Religion aufschließen. Darum ist er einerseits angewiesen auf eine ästhetische, d. h. wahrnehmende, performative und in aller Regel unmittelbar einleuchtende Erschließung christlich-religiöser Erzählungen und Darstellungsformen (→ 11.4-6), fer‐ ner aber und vor allem auf eine kommunikative Deutung existenziellen Erlebens und Fragens der Lernenden (→ 18.3). In einer Leistungsgesellschaft, deren technisches, funktionales, effizienz‐ bezogenes und oft genug entseeltes Denken sich permanent und umstands‐ los auf die Frage „Was nützt …? “ („Was bringt mir das? “) eingespielt hat, in der Zukunftsängste und mangelndes Selbstwertgefühl ebenso verbreitet sind wie wachsender innerer Druck, Unzufriedenheit und Sehnsucht, hat eine solche Ausrichtung des RU eine hohe Chance. RU ist nicht (allein) 159 5 Konfessionelle Trennung? <?page no="160"?> dann individuell und öffentlich plausibel, wenn er Glaubensüberzeugungen oder „Wertfragen“ bedenkt. Seine didaktische Bedingung, Religion auf Existenzfragen zu beziehen - auf Sinn, Glück, Leid, Ängste, Selbstwertge‐ fühl, Erfüllung und Angenommensein - würde dagegen Religion in ihrer Lebensdienlichkeit ansichtig werden lassen und wirklich zur Orientierung beitragen, und das heißt: zur religiösen Bildung. Zusammenfassung Der RU ist als einziges Schulfach durch das Grundgesetz Art. 7 (3) rechtlich abgesichert und in allen Schularten Pflichtfach. Religion gilt als vorrangiges Freiheitsrecht. RU muss um seiner Plausibilität willen aber pädagogisch, nicht rechtlich begründet werden. So sehen das auch die Kirchen. Ihnen räumt der Staat, der in Sachen Religion nicht kompetent sein kann, für den RU ein Mitspracherecht ein. Schüler können sich aus Gewissensgründen dem RU entziehen und ein Alternativfach (meist „Ethik“) besuchen. Umstritten ist der RU heute aufgrund des kirchlichen Einflusses und der schwindenden Bedeutung der Religion. Religionskunde und multireligiöser RU sind didaktisch nicht sinnvoll, sie erschließen Religion nur oberflächlich. Ein gemein‐ samer christlicher RU würde Kräfte bündeln und könnte konfessionelle Differenzen gut bearbeiten. Eine entscheidend wichtige Aufgabe bleibt die Ausbildung einer überzeugenden religiösen Didaktik. Literatur Zum Ganzen: B. Schröder 2012, Teil C und 2014 - Grümme u. a. 2012 - Domsgen 2019, 6.4 - (empfehlenswert! : ) B. Dressler 2018. Zu 1: NHRPG IV.3.1. Zu 2: NHRPG IV.3.2, 4, 5, 6, 7, 8, 9 - A. Battke u. a. 2002 - M. Kumlehn / Th. Klie 2011 - A. Pithan/ G. Adam/ H. Kollmann 2002 (Förderschule). Zu 3: B. Schröder 2012, § 39. Zu 4: Kirchenamt der EKD 2000 und 2014. Zu 5: J. Woppowa 2017. 160 6 Religionsunterricht <?page no="161"?> 7 Religiöses Lernen an der Hochschule „In Bezug speziell auf das Theologiestudium stellen sich … Fragen nach der Einheit der Theologie und dem Zueinander der einzelnen Disziplinen. So genügt es nicht, wenn jedes Fach für sich die Frage nach der Verbindung von Forschung und Lehre, die dem Lernort eigentümlich ist, klärt; im Sinne einer Hochschuldidaktik der Theologie gilt es vielmehr, das Zueinander von Wissenschaftsorientierung, Berufsorientierung und Persönlichkeitsbildung fächerübergreifend zu bedenken.“ (Güth in NHRPG 425) Was trägt das Studium der Theologie aber zur Persönlichkeitsbildung bei? Ist das als Aufgabe überhaupt erkannt und anerkannt? Die Frage darf auch an die RP gestellt werden. Religiöses Lernen an der Hochschule wird hier bisher kaum eigens bedacht. 1 Die Universität Zur Geschichte der Universität Universitäten gibt es seit dem 11. Jahrhundert. Sie entstanden im Zusam‐ menhang mit der Scholastik, der mittelalterlichen Hochblüte theologischer Gelehrsamkeit, und haben sich unter anderem aus den alten Domschulen entwickelt. Es liegt darum auf der Hand, dass die Theologie von Anfang an die erste Fakultät abgab, neben der Juristischen, der Medizinischen und (in der Regel) einer weiteren vierten Fakultät, die mathematische und musika‐ lische Fragen bearbeitete. Die Anfänge waren klein - die Gebäude hatten die Größe alter Dorfschulen - aber geistesgeschichtlich höchst bedeutsam. Denn zum ersten Mal wurde gelehrtes Wissen einem öffentlichen Kreis zugänglich, war also nicht mehr auf den Klerus beschränkt. Bücher mussten zu dieser Zeit noch mühsam von Hand geschrieben werden und waren auch wegen des kostbaren Materials für einen normalen Menschen unbezahlbar. Darum stellten die Vorlesungen der Universität eine erste Ausbreitung des Wissens dar. Vorlesungen wurden übrigens im Wortsinne abgehalten: Der Dozent las aus kompendienartigen Büchern einfach vor, die Studenten machten sich Aufzeichnungen. <?page no="162"?> Eine eigenständige Veranstaltungsform etablierte sich in den Disputati‐ onen. Dozenten, die eine eigene Lehrmeinung vertraten - in der Regel eine Auslegung eines „kanonisch“ vorgegebenen Textes (Konzils- oder Bekenntnistexte, Bibelstellen, Aristoteles) - stellten Thesen zusammen und forderten mit diesen einen Kollegen zur Diskussion, die (ebenso wie die Vorlesungen) in Latein abgehalten und von den Studenten neugierig beob‐ achtet wurde. Eine Jury stellte am Ende der Disputation den „Gewinner“ fest. Da konnte es vorkommen, dass die Studenten ihren Lieblingsdozenten nach einem akademischen Sieg ausgiebig in der Wirtschaft feierten. Übrigens hatte Martin Luther mit seinen berühmten 95 Thesen gegen den Ablass, die er 1517 an der Wittenberger Schlosskirche anschlug (dem „Schwarzen Brett“ der Universität), genau so eine Disputation anregen wollen, keinesfalls einen Streit von dem Ausmaß, den die Sache dann angenommen hatte. Erst Wilhelm von Humboldt führte bei der Neugründung der Universität 1810 in Berlin das „Seminar“ ein. Die Studierenden sollten hier auf Zeit an der Verbindung von „Forschung und Lehre“ teilhaben, die seither als akademisches Ideal für die Dozenten gilt. Humboldt verstand das Studium nicht als Ausbildung und bloßes Fachwissen, sondern es sollte Anteil geben an einem „Gelehrtentum“, das die Prinzipien des Faches so weitergab, dass bei den Studierenden echte Eigenständigkeit und Verantwortung für ihr Fach zu erwarten waren - und Bildung, d. h. persönliche Entfaltung (→ 17). Die Universitäten sind heute Massenuniversitäten geworden, vor allem seit dem Bildungsschub Anfang der 1970er Jahre. Es gibt eine kaum noch überschaubare Vielzahl von Studienrichtungen. Die Verbindung von For‐ schung und Lehre wird immer mehr unterlaufen, vor allem durch anwach‐ sende Lehrverpflichtungen in oft überfüllten Hörsälen, ferner durch die weitere akademische Funktion der Qualifikation sowohl des wissenschaft‐ lichen Nachwuchses als auch der Studierenden, d. h. ein immer weiter ausgreifendes Prüfungswesen. Die alte professorale Selbstherrlichkeit geht hier in das andere Extrem einer totalen Verplanung über. In der Hochschullandschaft fallen derzeit zwei höchst bedenkliche Trends auf. Der erste ist die Verknappung der Finanzen. Das „Bildungsland“ Deutschland, das kein Agrarland ist und über wenig Bodenschätze verfügt und einst als Land der „Dichter und Denker“ galt, liegt bei den Ausgaben für seine Hochschulen (gemessen am Bruttosozialprodukt) regelmäßig im hinteren Drittel im europäischen Ländervergleich, vergleichbar mit Portugal und Griechenland. Zwischenzeitlich sind weitere drastische Sparmaßnah‐ men zu verkraften, die das Arbeiten an den Hochschulen nachhaltig behin‐ 162 7 Religiöses Lernen an der Hochschule <?page no="163"?> dern. Überfüllte Hörsäle, schlecht ausgestattete Bibliotheken, Mittelkürzun‐ gen, Abbau von Stellen, ungepflegte Gebäude usw. gehören inzwischen zum normalen Bild. Die Einführung der W-Besoldung für Professoren 2005 bedeutete eine drastische Absenkung der Eingangsgehälter; versprochene „Leistungszulagen“ werden von den Universitäten oft Regel einfach ein‐ gespart und gar nicht gewährt. Das macht die Unikarriere zunehmend unattraktiv für die wirklich Guten. Die Dozenten müssen sich verstärkt mit hohem Aufwand um die Einwerbung von „Drittmitteln“ (aus Firmen, priva‐ ten oder öffentlichen Etats) kümmern; gleichzeitig leiden sie unter einer stetigen und geradezu exponentiellen Zunahme von Verwaltungsaufgaben, die bei vielen Dozenten bereits knapp die Hälfte der Arbeitszeit ausmacht. Die geforderten Qualifikationsarbeiten (Promotion, Habilitation) und Be‐ werbungsverfahren bedeuten einen jahrelangen erheblichen Aufwand. Vor allem im akademischen Mittelbau (Assistenten, akademische Räte u. a.), aber auch bei jüngeren Professoren sind wöchentliche Arbeitszeiten von über 60 Stunden oft der Regelfall. In keinem anderen Bereich der Gesellschaft sind Familiengründungen so selten und so spät wie hier. Der zweite Trend ist die massive Ökonomisierung und Funktionalisierung der „Bildung“, die so eigentlich nicht genannt werden dürfte, denn es geht meist schlicht nur noch um Ausbildung, die konzeptionell nicht das geringste Interesse an der Entfaltung der Studierenden hat. Die Ökonomie gibt zunehmend die erforderlichen Ziele vor: Es geht um Effizienz, Output, Mithaltenkönnen im internationalen Konkurrenzkampf. Unausgesproche‐ nes, aber faktisches Ideal ist inzwischen der hoch qualifizierte, flexible, anpassungsfähige, disziplinierte und innovativ denkende geistige Arbeiter, der sich die Erfordernisse der Ökonomie kritiklos zu eigen macht - eigent‐ lich ein menschlicher Roboter. Die Studienreform „Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdauli‐ chen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln … Das Wissen, das im Uebermasse ohne Hunger, ja wider das Bedürfniss aufgenommen wird, wirkt jetzt nicht mehr als umgestaltendes, nach aussen treibendes Motiv … Unsere moderne Bildung ist eben deshalb nichts Lebendiges, … sie ist gar keine wirkliche Bildung, sondern nur eine Art Wissen um die Bildung.“ (Friedrich Nietzsche, KSA 1, 272 f.) 163 1 Die Universität <?page no="164"?> Diese kritische Einschätzung erscheint angesichts eines Wissenschaftsbe‐ triebs, der mehr an Daten als an kritischem Denken interessiert ist, als erstaunlich aktuell. Nietzsche verspottete das Wissen der „Bildungsphilis‐ ter“, das nur auf praktische Nutzbarkeit gerichtet war, als „lärmende After‐ bildung“. Die „zur Schau getragene Unbetheiligtsein“ solcher „anatomischen Studien“ erschien ihm unerträglich, weil sie keinen Bezug mehr zum Leben der Menschen hatte: „Auswendig hat der Buchbinder so etwas darauf gedruckt wie: Handbuch innerlicher Bildung für äusserliche Barbaren“ (ebd.). Die sog. „Bologna-Reform“ führt genau dieses unbeteiligte Stofflernen weiter fort. Sie sollte ein europaweit vergleichbares Studiensystem schaffen, das der größeren Transparenz, einem leichteren internationalen Wechsel des Studienortes, der internationalen Vergleichbarkeit und einem effektive‐ ren (vor allem schneller zu absolvierenden, d. h. billigeren) Studium dienen sollte. So wie alle bildungspolitischen Maßnahmen der letzten Jahrzehnte ist auch diese Reform vor allem eine Sparmaßnahme. Mit enormem Aufwand an Zeit und Kraft werden an den Hochschulen inzwischen überall BA- und MA-Studiengänge (Bachelor: die ersten meist sechs Semester; Master: das Hauptbzw. Aufbaustudium mit ca. vier Semestern) eingerichtet, deren Handbücher oft über 200 akribisch erarbeitete Seiten umfassen, und die von privaten Organisationen begutachtet werden - für enormen Aufwand an Zeit und für teures Geld, das den Hochschulen allenthalben dringend fehlt, und oft nach ganz uneinheitlichen Kriterien (sog. Akkreditierung). Die neuen Studiengänge sind nach „Modulen“ aufgebaut, die das Studium in die immergleichen Einheiten packen und drastisch verschulen; auch die studierten Inhalte werden immer mehr vorgegeben. Der Begriff Modul meint ursprünglich ein funktional handhabbares, d. h. gut kombinierbares und schnell auswechselbares (Maschinen-)Teil. Tendenziell geht es immer mehr um Abspeicherung von Informationen, nicht um kritisches Denken, Zuordnungsfähigkeit oder eigenständige Positionierungen. Der Philosoph Norbert Bolz sieht hier einen allgemeinen gesellschaftlichen Trend: „Daten ersetzen das Denken.“ Da jedes Modul am Ende des Semesters abgeprüft wird, orientieren sich die meisten Studierenden nur noch an ihren Vorlesungsmitschriften oder an Skripten und lernen mit Hilfe des Kurzzeitgedächtnisses (das sog. „Bulimielernen“: fressen, dann ausspucken, übrig bleibt nur Übelkeit). Viele Studierende haben die Lektüre wissenschaftlicher Texte praktisch einge‐ stellt. Problembewusstsein, fachlicher Überblick und allgemeines fachliches 164 7 Religiöses Lernen an der Hochschule <?page no="165"?> Niveau sinken entsprechend rapide nach unten, und mit ihnen die Idee der Bildung (→ 17). Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass kein einziges der anvisierten Ziele der Reform erreicht wurde. Selbst die Zahl der Studienabbrecher in den neuen Studiengängen ist deutlich höher als in den bisherigen. Da es sich bei der Reform um ein von oben verordnetes bildungspolitisches Pres‐ tigeprojekt handelt, das gegen den starken Widerstand der Universitäten selbst durchgesetzt wurde, wird allerdings nichts zurückgenommen; statt einer fälligen Umkehr wird inzwischen die Reform der Reform der Reform versucht. Der Vorgang ist in mehrfacher Hinsicht symptomatisch: Er zeigt das umfassende Diktat von Ökonomie und Finanzwesen, das inzwischen auch den Bildungsbereich dominiert; er führt die zunehmende Ohnmacht der Intellektuellen vor Augen; und er zeigt das Desinteresse an einer Bildung, die diesen Namen wirklich verdient und die im Interesse der Entfaltung und Stärkung des Menschen stünde. Stattdessen wird der Mensch auch an der Hochschule zunehmend fremden (ökonomischen) Kalkülen und Zwecken unterstellt. Das entsprechende Denken ist utilitaristisch platt und seelenlos. Symptomatisch ist schließlich auch die Übertragung technischen Den‐ kens auf die Hochschulbildung, die sich im Streben nach quantitativ messbarer Effektivität zeigt. Kreatives Denken wird auch in den Geistes‐ wissenschaften immer mehr durch empirische Forschung (also: Sammeln von Daten) überholt, deren Bedeutung zunehmend an ihrer methodischen Korrektheit gemessen wird, während die Deutung der Erhebungen und ihr Zusammenhang mit übergreifenden Fragen als methodisch unsauber und dilettantisch gilt und deshalb oft gar nicht mehr angegangen wird. Natürlich sind diese Veränderungen nicht nur unsinnige Anpassungen an ökonomische Vorgaben. So können z. B. die neu geforderten und auch für das Studium geltenden Bildungs-Standards durchaus als Gelegenheit zur internen Reflexion verstanden werden. Wer sie formuliert, muss Rechen‐ schaft geben über Begründungen, Ziele und Geltungsansprüche fachlicher Ideen und Ansprüche. Standards engen allerdings ein. Auch die neu gefor‐ derten Kompetenzen, die recht unterschiedlich definiert werden (→ 10.2), gelten zumeist als erlernte, verfügbare kognitive Fähigkeiten, verbunden mit der Bereitschaft zur situationsangemessenen Problemlösung. Damit sind schnell transparent zu machende und überprüfbare Funktionsdispositionen gemeint, die weder auf komplexe Verarbeitung noch auf Hintergrundwissen noch auf persönliche Beteiligung oder subjektiven Darstellungsstil Wert 165 1 Die Universität <?page no="166"?> legen - und schon gar nicht auf kritische Prüfungen. Sie ergeben sich nicht aus den Stärken und Motivationen des Menschen, sondern aus den Erfordernissen des Systems: aus Arbeitsmarkt und Ökonomie. Auch hier ist das unausgesprochene Ideal das einer möglichst gut funktionierenden Maschine. Zur kritischen Überprüfung und Bilanzierung von Studiengän‐ gen und Studienleistungen haben sie ein gewisses Recht; sie engen aber den Horizont programmatisch von einem Erfassen der Welt auf passende Erfordernisse hin ein. Entsprechend gleichgültig ist, ob man so verstandene Kompetenzen durch mathematische Formeln, durch Google oder durch die Beschäftigung mit dem Buch Hiob erlangt. Für religiöse Bildung scheinen sie daher denkbar ungeeignet, werden gleichwohl aber auch in die theolo‐ gischen Studiengänge eingezogen. Neben der Universität gibt es heute weitere moderne Hochschultypen, vor allem die Fachhochschulen, die eine tendenziell berufspragmatische und schulnähere Ausbildung anbieten, ferner die Pädagogischen Hochschulen, die sich nur in Baden-Württemberg erhalten haben und ausschließlich die Lehrer-Ausbildung betreiben, die in den anderen Bundesländern in den 1970er Jahren in die Universitäten integriert wurden. Da die Lehrer‐ ausbildung für alle Schularten wissenschaftlich sein soll, ist auch für die Pädagogischen Hochschulen die Didaktik (→ 10.1), d. h. die Analyse, Be‐ gründung und Aufbereitung von fachwissenschaftlichen Gehalten und die Bestimmung aller beteiligten Faktoren von Lernen und Unterricht von besonderem Gewicht. 2 Universitäts-Theologie Theologie „Wenn nicht alles trügt, scheinen gegenwärtig die Lebensfragen des Glaubens in der Theologie nicht hinreichend Raum zu finden und der Bedarf an theologischer Orientierung in der Praxis deshalb drastisch zurückzugehen. Das mag viele Gründe haben, die nicht allein von der Theologie zu verantworten sind, aber doch eben auch von ihr. Offensichtlich trägt die gegenwärtige Theologie in ihrer komplexen Fülle mehr zur Desorientierung als zur Klärung bei.“ (Fischer 1992, 245 f.) 166 7 Religiöses Lernen an der Hochschule <?page no="167"?> Dieses höchst kritische Votum stammt von einem systematischen Theo‐ logen, der die offensichtliche Wirkungslosigkeit der heutigen Universi‐ täts-Theologie bemerkt. Warum hat sie so viel von ihrer Bedeutung verlo‐ ren? Die evangelische bzw. katholische Theologie, an den alten Universitäten nach wie vor die ersten Fakultäten, sind an der Universität regelrecht „zu Hause“. Die Theologie ist heute hochgradig spezialisiert und in wis‐ senschaftliche Einzelforschungsbereiche differenziert, die kaum noch eine zentrale Mitte erkennen lassen. Sie ist konzentriert auf kognitive Versteh‐ barkeit, die ein hohes intellektuelles Niveau voraussetzt. Die Universitäts‐ theologie dient der theologischen Ausbildung, ist darüber hinaus nach außen zur Gesellschaft hin aber nahezu wirkungslos geworden. Theologie ist wörtlich verstanden die „Lehre von Gott“. Sie versteht sich als wissenschaftliche Selbstklärung des christlichen Weltverstehens. Vor allem die Systematische Theologie hat eine lange intellektuelle Tradition und zeigt eine deutliche Nähe zum oft hoch schwierigen Diskurs der Philosophie. Im Mittelalter war es vor allem Aristoteles, der als Grundlage jeden theologischen Denkens überhaupt galt; später wurden Bezüge zum philosophischen Denken der Aufklärung, zur Religionskritik, zum Teil zur Psychoanalyse aufgenommen, im 20. Jh. zur Philosophie des Existen‐ tialismus, zu Phänomenologie, Sprachphilosophie, Metaphern-, Symbol- und Ritualphilosophie, Kulturphilosophie, Positivismus, Strukturalismus, Konstruktivismus, Philosophie der Postmoderne usw. Große Zeiten hatte die Theologie zur Zeit der Kirchenväter der Alten Kirche (Origenes, Tertullian, Augustin u. a.), in der von den Dominikanern geprägten Scholastik des Hochmittelalters (Thomas von Aquin, Bonaven‐ tura u. a.), in der Reformation (Martin Luther, Jean Calvin, Ulrich Zwingli u. a.), dann noch einmal mit Schleiermacher in der Romantik; dann kam Ende des 19. Jh. eine Zeit, in der die protestantische Theologie aufgrund ihrer historisch-kritischen Textforschung die Vorhut der Geisteswissenschaft bildete und weit in andere Fachbereiche hinein ausstrahlte. Eine weitere hohe Blüte erlebte sie im 20. Jh. vor allem in der Protestantischen Systematik: Paul Tillich, der Theologie, existenzielle Fragen und Kultur auf moderne Weise in „Korrelation“ brachte; Karl Barth, dessen monumentale „Kirchliche Dogmatik“ die Lehre vom dreifachen Wort Gottes ins Zentrum stellte; Rudolf Bultmann, ein Neutestamentler, der mit seiner Idee der „Entmythologisie‐ rung“ des Neuen Testaments Anschluss an das moderne Denken suchte; aber auch der katholische Theologe Karl Rahner, der die Theologie auf 167 2 Universitäts-Theologie <?page no="168"?> eine anthropologische Basis stellte. Sie und viele andere sorgten oft für nachhaltige Diskussion auch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. der Sys gie - auch sie denkt von den bib schen Zeug sen aus, reflektiert die Dogmengeschichte und die Entwicklung des theologischen Verstehens und bezieht sich dabei ganz wesentlich auf Tradition, vor allem auf ihre eigene dogmatische Tradition. Die „andere“ Aufgabe der Systematik, das christliche Leben und Verstehen der Gegenwart zu bedenken, kommt dem gegenüber oft sehr kurz und bleibt der Praktischen Theologie überlassen. Anders ist das bei den Theologen, die innerhalb und außerhalb des Faches eine größere Wirkung erzielten. Etwa bei Luther, Schleiermacher und vielen der bekannten Theologen im 20. Jh. zeigt sich der Bezug zum Denken und Leben ihrer Zeit mit aller Deutlichkeit. Heute ist die Praktische Theologie (neben der Ethik) die einzige vorwiegend gegenwartsbezogene theologische Disziplin. Biblische Wissenschaften Kirchengeschichte Systematische Theologie (Dogmatik und Ethik) Praktische Theologie: Liturgik, Homiletik (Predigtlehre), Poimenik (Seelsorge), Gemeindeleitung u.a.; vor allem: RP inkl. Religionsdidaktik, religiöse Kultur-Hermeneutik usw. In einer Welt der Wahlmöglichkeiten werden auch alt-ehrwürdige Gehalte auf ihre „Tauglichkeit“ befragt, oft mit einfachen Kosten-Nutzen-Rechnungen. Die intellektuelle Theologie sperrt sich gegen solche Funktionsfragen. Gleichzeitig kommen aber auch Vergangenheitslasten des Christentums in den Blick, die weitgehend durch das rationale, gegen jedes sinnliche und leibliche Wahrnehmen distanzierte theologische Denken bedingt sind. Dazu gehört zunächst die recht negative Einschätzung des Menschen, die sich vor allem von einem wörtlich und moralisch verstandenen Gedan- Anfragen „Mehr als die Hälfte der evangelisch-theologischen Disziplinen arbeitet histo‐ risch … Hier liegen Probleme zutage, die ihre Wurzeln in der augenfälligen Abkoppelung universitärer Wissenschaft von der Praxis des Evangeliums in der Gesellschaft besitzen.“ (Wegenast in Ritter/ Rothgangel 1998, 69, 75 f.) Klaus Wegenast bezieht sich mit diesem Votum auf die theologischen Teilfächer Altes und Neues Testament und Kirchengeschichte, wie sie an den Universitäten gelehrt werden. Es gilt darüber hinaus auch für weite Teile der Systematischen Theologie - auch sie denkt von den biblischen Zeugnissen aus, reflektiert die Dogmengeschichte und die Entwicklung des theologischen Verstehens und bezieht sich dabei ganz wesentlich auf Tradition, vor allem auf ihre eigene dogmatische Tradition. Die „andere“ Aufgabe der Systematik, das christliche Leben und Verstehen der Gegenwart zu bedenken, kommt dem gegenüber oft sehr kurz und bleibt der Praktischen Theologie überlassen. Die Theologie selbst erweckt den Eindruck: ihr Gegenstand ist etwas Vergangenes. Anders war das bei den Theologen, die innerhalb und außerhalb des Faches eine größere Wirkung erzielten. Etwa bei Luther, Schleiermacher und vielen der bekannten Theologen im 20. Jh. zeigt sich der Bezug zum Denken und Leben ihrer Zeit mit aller Deutlichkeit. Heute ist die Praktische Theologie (neben der Ethik) die einzige vorwiegend gegenwartsbezogene theologische Disziplin. In einer Welt der Wahlmöglichkeiten werden Gehalte auf ihre „Taug‐ lichkeit“ befragt, oft mit einfachen Kosten-Nutzen-Rechnungen. Wenn die 168 7 Religiöses Lernen an der Hochschule <?page no="169"?> intellektuelle Theologie keinen erkennbaren Gewinn für die Öffentlichkeit erbringt, und nicht einmal einen für die eigene religiöse Selbstklärung, dann ist die wachsende Skepsis ihr gegenüber verständlich. Damit kommen dann auch Vergangenheitslasten des rationalen theologischen Denkens ans Licht, die heute keine Akzeptanz mehr finden; so vor allem die recht negative Einschätzung des Menschen, die sich vor allem von einem wörtlich und moralisch verstandenen Gedanken der „Erbsünde“ herleitet, allerdings wohl auch von einer zweifelhaften Demutshaltung vor Gottes „Allmacht“, die sehr viel mehr die Furcht vor Gottes richtendem Zorn als seine vergebende Liebe thematisierte. Rationalität und strenger Wille waren die Dominanten dieses theologischen Denkens. Die intellektuellen Theologen und die asketischen Mönche galten da immer als die Besonderen und Auserwählten. Die theologischen Kernthemen Sünde, Erlösung durch Gottes Zuwen‐ dung in Christus und Glauben lassen kein Gespür für die heutigen Problem‐ lagen von Sinnfindung, Überforderung und innerer Leere entstehen. So gibt die Theologie auch bisher keine überzeugenden Antworten auf das verbreitete mangelnde Selbstwertgefühl der Menschen und ihre Sehnsucht nach Liebe, Anerkennung und Geborgenheit entwickeln (→ 15.1, 16.3). Die elementare Grundannahme aller dogmatischen Theologie, das Chris‐ tentum sei im Kern der Glaube an Christus als den Mensch gewordenen Sohn Gottes als Herrn der Welt, ist keineswegs so eindeutig wie sie scheint. Es sollte zu denken geben, dass in dieser Grundlegung Leben und Botschaft Jesu vollständig übergangen werden. Die totale und umfassende Nähe und Liebe Gottes, die Jesus vor allem in seinen Gleichnissen der Wahrnehmung (also: dem veränderten Blick) empfiehlt, ist nicht priesterlich, dogmatisch oder kirchlich vermittelbar. Die Begriffe „Liebe“ und „Reich Gottes“, bei Jesus zentral, fehlen auffälliger Weise bereits im nicänischen Glaubensbekenntnis. Sie haben auch das christliche Denken nicht geformt - an seine Stelle sind absichernde juristische Begriffe und Vorstellungen getreten: Sündenschuld, Verdammnis, Verwerfung, Gerechtigkeit Gottes, Barmherzigkeit, Gnade, Gericht, Rechtfertigung, Erlösung usw. (→ 16.2). Die alte sinnenfeindliche und asketische Tendenz der Theologie und die generelle Leibfeindlichkeit des Christentums, die in der Weltflucht und asketischen Praxis der Mönche, einer rigiden Sexualmoral und einem oft mit Angst und inneren Zwängen verbundenen Glauben ihren Ausdruck fand, ist einer spaßorientierten (und darin oft genug latent verzweifelten) Welt nicht mehr zugänglich; ebenso wenig ist es inzwischen die Vorstellung eines in Lehrsätzen und Bekennt‐ nissen niedergelegten Für-Wahrhalte-Glaubens. 169 2 Universitäts-Theologie <?page no="170"?> Beides geht auf Kosten einer nachvollziehbaren Frömmigkeitspraxis und der Wahrnehmung der ästhetischen Gehalte der christlichen Religion (Räume, Gestalten, Vollzüge usw.), aber auch des Lebens selbst. Die Neigung der Kirche zur Gewalt lässt sich zwar durchaus als Neigung des Menschen interpretieren. Die brutale Verfolgung der Ketzer in den eigenen Reihen, Kreuzzüge, Inquisition und Hexenverbrennungen gehören längst der Ver‐ gangenheit an, lasten aber als Schatten bis heute auf der christlichen „Reli‐ gion der Liebe“. Das muss gerade einer Zeit auffallen, die hohe Ansprüche an Versorgung, Information und Luxus stellt und die daher von der Religion keine Selbstbezüglichkeit, sondern nachvollziehbare Aussagen über das Leben erwartet. Vor allem die führende systematische Theologie ist eine hoch intellektu‐ elle Angelegenheit, die sich aber kaum jemals mit der faktisch vorfindlichen Religion beschäftigt. Stattdessen gibt es viel Philosophie, vor allem aber: (Text-)Hermeneutik, also Auslegung (→ 16.4). Die permanente Neu-Inter‐ pretation der Urkunden und der Kirchentradition führt dazu, dass die Theologie eine Art Kulturarchäologie betreibt und für die existenziellen und religiösen Fragen der Gegenwart kaum noch Antennen und Interesse hat: „Auf der Abstraktionsebene der Theologie ist die Kommunikation über Gott an die Stelle der Erfahrung des Heiligen getreten“ (Bolz 2008, 96). Theologie ist kompliziert, Expertenwissen, voraussetzungsreich und er‐ fahrungsfern. Das erinnert an die Scholastik: ein Glasperlenspiel, bei dem methodische Genauigkeit bei weitem wichtiger war als das Wagnis einer aktuellen Einschätzung oder der Mut zur echten Kritik. Die grundlegenden Lebensfragen der Zeit scheinen im Umkehrschluss mit Religion nichts zu tun zu haben. Wenn Studierende der Theologie am Ende theologisch versiert, aber religiös inkompetent sind, dann wächst der Graben zwischen Religion und den Menschen, ähnlich wie das in den Kirchen der Fall ist (→ 7.3, 14.3, 16.1-2). Erklärungsversuche Die Theologie hat schon früh, offensichtlich in der Abwehr der „heidni‐ schen“ Gedankenwelt, ihre Anstrengung in Verstand und Willen gelegt, dagegen Mythologie, Gefühl, Bild und Traum immer abgewertet. An Philo‐ sophie, Aufklärung, Religionskritik u. a. hat sie ihre Argumentationskraft geschärft, hat dabei allerdings weite Bereiche der rational nur bedingt fassbaren Religion aus dem Auge verloren - so die religiöse Erfahrung, die 170 7 Religiöses Lernen an der Hochschule <?page no="171"?> Formen religiöser Praxis, religiöse Sehnsüchte und Bedürfnisse usw. Reli‐ gion ist ein Phänomen des Bewusstseins (→ 2.2), und dieses ist rational nur schwer erfassbar. So wird verständlich, warum eine Wissenschaft, die sich vorwiegend als Hermeneutik von Texten begreift (also als Übersetzung und Auslegung für das gegenwärtige Verstehen), wenig Übersetzungsleistungen für das heutige religiöse Leben erbringt. Fragen, die in der Theologie zu wenig beachtet werden, sind: Welchen Sinn hat die gegenwärtige Frömmigkeits- und Religions-Praxis? Wie kann man Zugang zu ihr finden? Wie lässt sich neues Interesse an christlichen Themen anbahnen und eine Motivation zur Beschäftigung mit ihnen? Wie ist eigentlich deren Plausibilität „nach außen“ hin? Wie geschieht die (sprachliche, gestische, liturgische usw.) Kommunikation christlicher Gehalte, wie kann zu ihr angeleitet werden? Diese Fragen werden inzwischen von RP und Praktischer Theologie in ihrer Bedeutung zunehmend erkannt. Initiiert wurde dieses Denken durch Friedrich Schleiermacher, der die Theologie als „positive“ Wissenschaft verstand, die immer auf eine konkrete religiöse Praxis bezogen, also Pra‐ xisreflexion, dann aber auch Rückwirkung auf eine veränderte Praxis zu sein hat. Schleiermacher hatte alles praktisch-theologische Denken auf die „Kirchenleitung“ bezogen, also als Pastoraltheologie verstanden - allerdings mit einem weiten Blick, denn die Laien und die gebildete Öffentlichkeit galten ihm für jede Leitung von Kirche als konstitutiv. Schleiermacher hat klar gesehen: das Schlimmste, was einer Religion passieren kann ist, dass sie sich vom konkreten Leben abschottet. Heute gilt zunehmend, dass vor allem die RP (als größter Teilbereich der Praktischen Theologie) aufgrund ihres Gegenwartsbezugs die anderen theologischen Fächer kritisch zu befragen vermag, und dass ein gegenseiti‐ ger Dialog ausgesprochen sinnvoll und wünschenswert wäre. Die RP stellt damit die Frage nach Relevanz und Plausibilität der Theologie insgesamt, denn diese tritt bei der Analyse und Profilierung religiösen Lernens offen zutage. Dazu aber müsste sie innerhalb des theologischen Fachverbandes ernster genommen werden, als das bisher der Fall ist (Karl Barth etwa sprach von den „sanften Auen der Praktischen Theologie“). Klaus Wegenast sieht nach wie vor eine „künstliche Trennung der Inhalts- und Vermittlungs‐ frage“ in der Theologie; Theologie hat aber grundsätzlich eine „didaktische Verantwortung“ (TRE 28, 702), derer sie sich oft nicht bewusst ist. Die RP erhält darum eine grundsätzliche theologische Bedeutung (→ 1.4). Sie übernimmt mit ihrer gegenwartsbezogenen Hermeneutik Aufgaben, die 171 2 Universitäts-Theologie <?page no="172"?> bisher der Systematik vorbehalten waren; sie reflektiert gegenwärtiges Leben und Denken und weitet damit den eigenen Bereich deutlich über das Christentum hinaus aus in Richtung Kultur (→ 2.2, 16.4), Subjekt- und Religions-Psychologie (→ 18.1), Ästhetik (→ 11.4, 17.4) und weitere Bereiche. 3 Fachdidaktik Religion und religionspädagogisches Studium „Religionspädagogische Kompetenz [heißt] heute nicht allein, dass man als Leh‐ rer/ in oder Katechet/ in die in Traditionen gebundenen Formen von Religiosität sachgemäß zu erschließen versteht, sondern auch, dass man die Operationen nachvollziehen kann, mittels derer Kinder, Jugendliche und Erwachsene heute ihren eigenen Glauben konstruieren.“ (Englert in Schweitzer u. a. 2002, 41) Fachdidaktik Religion Die einst führenden Geisteswissenschaften stehen heute unter Druck. In einer Welt der ökonomischen „Systemzwänge“ und kaum noch steuerbaren Selbstläufigkeiten, in der zugleich Essstörungen, Depressionen, Vereinsa‐ mung, Süchte usw. dramatisch anwachsen, sind ausgerechnet sie es, die sich plausibel machen müssen. Was ist ihre „Funktion“ für die Gesellschaft heute? Das gilt für die Theologie in besonderem Maße, die einen deutli‐ chen Verlust des Ansehens in der Öffentlichkeit, aber auch unter Christen erfahren hat. Theologie gilt als sperrig, „abgehoben“, schwer verständlich, selbstbezogen und lebensfremd. Noch einmal mehr als für die Geisteswissenschaften insgesamt gilt das für die Fachdidaktiken, die fälschlich oft als eine Art methodisches Anhängsel zu den „eigentlichen“ Fachwissenschaften gelten und darum wenig angese‐ hen sind. Sie stehen bei Sparmaßnahmen schnell im Visier. Da sie alle für Lehr- und Lernprozesse (also im engeren Sinne für „Unterricht“) bedeutsa‐ men Faktoren analysieren - begründete Auswahl der Gehalte, Frage nach deren lehrender Erschließung, beteiligte Personen, deren Erwartungen, Vorverständnisse, Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit u. a., Methodik des Unterrichtens, Lern-Umgebung - Räume, Gesellschaft, Denkhorizonte, Kultur usw. - haben sie faktisch eine hohe Bedeutung, und zwar auch für die Fachwissenschaften selbst. Sie sind kein „Zusatz“ zur Fachwissenschaft, 172 7 Religiöses Lernen an der Hochschule <?page no="173"?> sondern reflektieren deren zentrale Gehalte, Zugänglichkeit, Vermittlung, öffentliche Bedeutung und Wirksamkeit, müssen darum in aller Regel komplexer denken als die Fachwissenschaften. Man hat sie als „Spezialisten für das Allgemeine“ bezeichnet. Die Fachdidaktiken garantieren die Ausbildung der Lehrer (des trotz aller oft unberechtigten Kritik wichtigsten Berufsstandes der Gesellschaft überhaupt! ), widmen sich aber darüber hinaus (wie die vorliegende Ein‐ führung für die RP deutlich machen soll) einer sehr eigenständigen und umfangreichen wissenschaftlichen Analyse mit deutlicher Tendenz zur In‐ terdisziplinarität. Sie stehen für die Kommunikation der Fächer ein, d. h. für die begründete Darstellung und Vermittlung des Fachwissens nach außen hin, und leisten dadurch einen unverzichtbaren Teil der Kultur-Vermittlung. Die Fachdidaktiken lassen derzeit eine Diskussion um ihr Leitbild vermis‐ sen. Die Zuständigkeit für die Lehrerausbildung reicht offensichtlich nicht aus für ihre Standortbestimmung. Die Erforschung von Lehr- und Lernpro‐ zessen sollte mehr in ihr Selbstverständnis eingehen; dann aber müssten Lernpsychologie, Neurobiologie usw. mehr Gewicht erhalten, ferner die Analyse von Bildungsprozessen, zu denen sowohl gesellschaftliche Institu‐ tionen als auch individuelle Entfaltung, also Bildungstheorie, Soziologie und Psychologie gehören. Religionspädagogische Lehrstühle sind an vielen wichtigen deutschen Universitäten erst in den 1970er Jahren gegründet worden. Etwa noch einmal so viele Professoren gibt es an religionspädagogischen Instituten (in‐ nerhalb von Erziehungswissenschaft, Kulturwissenschaft, Pädagogischen Hochschulen usw.). Die RP analysiert heute, was für die gesamte Theolo‐ gie eigentlich zentral bedeutsam ist, nämlich den Gegenwartsbezug, die Plausibilität und die Weitergabe christlich-religiöser Gehalte. Der Rückzug der Theologie auf Spezialfragen, der eine „Theologen-Theologie“ in einer „akademisch abgekapselten Sonderwelt“ (Falk Wagner) ausgebildet hat, könnte durch eine Stärkung und bewusstere Wahrnehmung der Didaktik deutlich ausgeglichen werden. Faktisch bildet die Theologie bereits weit mehr Studierende für das Lehrals für das Pfarramt aus. Nicht nur die katholischen Priesterkandidaten, sondern auch die Studierenden-Zahlen der „Volltheologie“ sind seit Anfang der 1990er Jahre drastisch zurückgegangen (z. T. betragen sie nur noch ein Zehntel im Vergleich mit den Höchststän‐ den); faktisch werden die Lehramtsstudierenden aber an den theologischen Fakultäten nach wie vor als unwichtiger eingestuft. 173 3 Fachdidaktik Religion und religionspädagogisches Studium <?page no="174"?> Theologisches und religionspädagogisches Lernen an der Hochschule Das Studium der Theologie wird inzwischen auch von der Tatsache behin‐ dert, dass viele Studierende selbst einfachste Kenntnisse der christlichen Religion vermissen lassen. Sie studieren eher aus persönlichem Interesse oder einer Suchhaltung heraus, oft auch mit einem pragmatischen Berufs‐ ziel, nicht mehr aufgrund vorangegangener religiöser Sozialisation. Die Hochschul-Theologie kann natürlich keine Katechese nachholen. Sie muss Wissenschaft sein, um des Fächervergleichs ebenso willen wie um der eigenen Seriosität. Das bedeutet aber kein uneingeschränktes Plädoyer für kausal-logische Rationalität, denn diese kann den innersten Gehalt und die Vollzugslogik der Religion nur eingeschränkt erfassen. Darum ist es in der RP, die die theologische Fachdidaktik vertritt, inzwischen zu einer starken Ausweitung des wissenschaftlichen Denkens in Richtung Kulturhermeneutik (→ 16.4), Ästhetik, Semiotik, Phänomenologie, Prozessualität usw. gekommen, d. h. zu beschreibenden, an Form, Vollzug und Gestalt orientierten Zugangsweisen. Das religionspädagogische Studium dient in erster Linie der Befähigung zum religiösen Lehren, konkret der Religionslehrer-Ausbildung. Genau dafür aber braucht man nicht nur ein vertieftes Wissen um die Eigenlogik religiöser Erfahrungen und Vollzüge, man braucht vor allem auch eine möglichst klare eigene Position; und das nicht zuletzt deshalb, weil der RU im Klassenverband keine leichte Übung ist, sondern ein gutes Stehvermögen voraussetzt (→ 12.6). Nach wie vor erscheint darum als problematisch, dass das theologische und religionspädagogische Studium nur am Rande und kaum geplant der „Persönlichkeitsbildung“ dienen, wie das Eingangszitat vermerkt. Wissenschaft sollte zur Bildung, d. h. zur persönlichen Entfaltung beitragen. Das ist gerade für die Theologie von unverzichtbarer Bedeutung, da sie existenzbestimmende Fragen und Gehalte traktiert. Darum ist die Frage nach einer spezifisch religiösen Hochschuldidaktik heute aktuell, wird aber noch kaum bemerkt. Wenn theologisches Lernen, das sich auf einen persönlich bedeutsamen und emotional grundierten Bereich bezieht, wissenschaftlich betrieben werden soll, wie kann dann eine angemessene Didaktik aussehen? Natürlich muss sie rational, kognitiv und evtl. empirisch verfahren; dennoch muss sie, wenn sie ihrem „Gegenstand“ und seiner Bedeutung gerecht werden will, auch Emotionen aufzuschließen verstehen. Genauer: sie muss die spezifische Logik der Religion aufschlie‐ 174 7 Religiöses Lernen an der Hochschule <?page no="175"?> ßen, was nicht möglich ist ohne den Bezug zu faktisch gegebener Erfahrung und persönlicher Betroffenheit. Welche religiösen Kompetenzen brauchen Studierende der RP? Wenn man Kompetenzen (→ 10.2) als Dimensionen echter Bildung versteht, nicht also als anzustrebende und überprüfbare Lernziele, dann müssten sie immer auch plausibler Ausdruck einer Haltung sein, die sich aus der intensiven, immer auch emotionalen und den Menschen innerlich berei‐ chernder Begegnung und gedanklicher Auseinandersetzung mit Religion ergibt. Für die religiöse Bildung hat in diesem Sinne Ulrich Hemel bereits 1988 von „religiösen Kompetenzen“ gesprochen, die er gerade nicht auf kritische Unterscheidungsfähigkeit religiöser Phänomene und ethischer Konflikte einschränkt, sondern vor allem als Fähigkeit zum Umgang mit der eigenen Religiosität begreift; als das also, was man religiöse Versiertheit nennen könnte. Er zählt dazu neben der religiösen Inhaltlichkeit vor allem die religiöse Sensibilität, das religiöse Ausdrucksverhalten, religiöse Kom‐ munikation und eine religiös motivierte Lebensgestaltung. Das alles sind Kompetenzen, die einen Menschen beschreiben, der die spezifische Logik der Religion kennt, sich in ihren Ausdrucksgestalten zu bewegen weiß und sie sich in persönlich bereichernder und prägender Weise zu eigen gemacht hat. So verstanden sind unverzichtbare und übergreifende religiöse Grund‐ kompetenzen folgende wenigstens anfangsweise Fähigkeiten und Bereit‐ schaften: 1. Gespür und Aufgeschlossenheit für religiöse Erfahrungen 2. das Wissen um die eigenständige und unersetzbare Logik (bzw. Ratio‐ nalitätsstruktur) religiöser Formen (mythische, symbolische, expressive Aussagen; religiöse Erfahrungen; religiöse Lehren; Religion als kultu‐ relle Form usw.) 3. der selbst verantwortete Umgang mit der eigenen religiösen Tradition 4. ein Wissen um fremde religiöse Aussagen, Gehalte und Formen 5. eine eigenständige Deutung des Lebens und der Welt mit Hilfe religiöser Tradition und Erfahrung 6. eine begründete religiöse Selbstzuschreibung, Positionierung und Iden‐ tifikation Vor allem die religiöse Wahrnehmungsfähigkeit, die religiöse Lebensdeu‐ tung und die religiöse Identifikation (→ 18.2, 18.4) sind von grundlegender religionspädagogischer Bedeutung. Wie sie zu Stande kommen, ist religi‐ 175 3 Fachdidaktik Religion und religionspädagogisches Studium <?page no="176"?> onspädagogisch bemerkenswerter Weise kaum bekannt. Und sie entziehen sich weitgehend der standardisierten Festlegung. Religionspädagogische Kompetenzen im theologischen Studium sind darum nicht denkbar ohne den Einbezug eigener Erfahrungen. Theologische Gehalte lassen sich nicht vermitteln ohne ihren Bedeutungsgehalt für die jeweilige lernende Person. Darum müssen neben den religiösen Grundkom‐ petenzen drei theologische Kompetenzen zusammenkommen: 1. Fachwissenschaftliche Kenntnisse. Dazu gehören vor allem die Fun‐ damente des Christentums, nämlich die zentralen Gehalte der Bibel und die möglichen Schlüssel ihrer Interpretation (historisch-kritische Exegese, Auslegung durch die Bekenntnisse, literarische und psycho‐ dramatische Zugänge usw.), ferner die grundlegenden Gehalte der christlichen Geschichte (Alte Kirche, Mittelalter, Reformation, Christen‐ tum in und seit der Aufklärung), der christlichen Lehre (die wichtigen Bekenntnisse, Aufbau und zentrale Inhalte der Dogmatik, Grundzüge der christlichen Ethik). Ebenso gehören dazu aber auch Kenntnisse der christlichen Kultur des Abendlandes, seiner Kunst, seiner Lebens‐ weisen, seiner Weltanschauungen, seiner Sprache und seines Rechts‐ verständnisses, schließlich die Kenntnis der christlichen Kultur der Gegenwart: die Veränderungen in der Präsenz des Christlichen, die heutige Rolle der Kirchen, die Religion in der populären Kultur, der reli‐ giöse Markt zwischen Esoterik und fundamentalistischen Einstellungen usw. Alle diese Gehalte müssen als Ausdrucks- und Darstellungsformen von Religion verstanden sein. 2. Grundkompetenzen theologischen Denkens und Argumentierens. Der Zugang zu den skizzierten Bereichen ist theologisch ein grundsätz‐ lich hermeneutischer. Hermeneutik bezeichnet primär das verstehende Auslegen von Texten, inzwischen aber auch das Verstehen von Gegen‐ wartshorizonten (→ 16.4); zu diesen gehört nicht nur die Kenntnis, sondern auch ein Gespür für die Gesellschaftslage und die gegenwärtige Kultur, ferner das Vermögen, Denkrichtungen, Vorstellungshaltungen, typische Einstellungen, existenzielle Fragen und gängige Bedürfnisse „lesen“ und in Beziehung zum Christentum setzen zu können - also das religiöse Verstehen zu verstehen. 3. Didaktische Kompetenzen. Diese sind für Theologen generell unver‐ zichtbar, nicht zuletzt, weil sich an ihnen das wirkliche Verstehen ent‐ scheidet. Nur was ich lehren kann, habe ich selbst wirklich verstanden. 176 7 Religiöses Lernen an der Hochschule <?page no="177"?> Dazu gehören zunächst Kenntnisse der an religiösem Verstehen und Lernen beteiligten Faktoren (Personen, Orte, Inhalte, Begründungen, Interessen, Auffassungsweisen usw.), Wissen um die Entstehung, die Entwicklung und die persönliche wie gesellschaftliche Bedeutung von Religion und Religiosität, Kenntnis der Interessen und Motivationen zu religiösem Lernen, Wissen um die Besonderheit einer religiösen Didaktik und Einsicht in den Sinn religiöser Bildung. Dazu kommen Kompetenzen des Ausdrucks, der Darstellung und der Prä‐ sentation, die mehr sind als methodische Fähigkeiten, und die nicht denkbar sind ohne ein wirkliches Gespür für Religion, ihre Gestaltungsformen, ihre Vollzugslogik und ihre persönliche Bedeutung. Religionsdidaktische Kompetenzen setzen in besonderem Maße Erfahrung, vor allem religiöse Erfahrung voraus. Zusammenfassung Die Universität, hervorgegangen aus der kirchlichen Gelehrtenschule, steht heute zunehmend unter ökonomischem Druck. Die wissenschaft‐ liche RP hat hier ihren traditionellen Ort, aber auch an vielen au‐ ßeruniversitären Instituten, wo sie vor allem die Ausbildung der Religionslehrer betreibt. Als Teildisziplin der weitgehend vergangen‐ heitszentrierten und allzu oft lebensfernen Theologie übernimmt die RP immer mehr deren Gegenwartsbezug. Das Aufgabenfeld Hoch‐ schule und die fachdidaktischen Kompetenzen im Studium werden im Fach bisher noch kaum eigens reflektiert. Sie gründen in einem Verstehen religiöser Vollzugs- und Ausdruckslogik und in einer erfah‐ rungsgesättigten Didaktik. Literatur NHRPG IV.4.5 - M. Rothgangel/ E. Thaidigsmann 2005 - U. Schauss 2017. 177 Literatur <?page no="178"?> 8 Kinder-, Konfirmanden- und Jugendarbeit in der Gemeinde „Ähnlich wie dies schon Ernst Troeltsch formuliert hatte, geht es auch heute um eine Anerkennung des religiösen Individualismus der Moderne bei gleichzeitigem Festhalten an der Notwendigkeit einer institutionellen Bindung.“ (Schwab in Schweitzer u. a. 2002, 175) Das Zitat benennt die doppelseitige Aufgabe einer religionspädagogischen Arbeit in der Gemeinde. Die Gemeinde muss der religiösen Entfaltung der Person dienen, und die Person muss wissen, dass Religiosität nicht im Alleingang lebbar, sondern auf größere Bezüge angewiesen ist. Wie kann dieser gegenseitige Bezug jeweils hergestellt werden? Das wird wohl nur so gehen, dass die Gemeinde nicht als Selbstzweck agiert, sondern als Forum für den Austausch existenzieller und religiöser Erfahrungen bereitsteht. Kinder und Jugendliche müssten die Möglichkeit haben, die christliche Tradition als deutenden Rahmen ihrer eigenen Lebens‐ fragen zu erleben. Die Realität in den Gemeinden ist von dieser Vorstellung allerdings meist sehr weit entfernt. 1 Kindergottesdienst und Gemeindearbeit für Kinder Der Kindergottesdienst ist ein Gottesdienst in einfacher Form, angelehnt an den Ablauf des Hauptgottesdienstes, gehalten meist von Mitarbeitern der Gemeinde, die oft ein festes Team bilden. Oft beginnen die Kinder mit den Erwachsenen im Hauptgottesdienst und gehen dann in ihre Gruppe. Statt der Predigt gibt es in der Regel eine Erzählung. Das Abendmahl wird immer noch selten gehalten, stattdessen gibt es meist eine kreative Phase (malen, basteln oder spielen). Der Kindergottesdienst hat sich aus der pädagogisch orientierten, vor allem in England seit der Aufklärungszeit verbreiteten Sonntagsschule entwickelt, die sich vorwiegend aus sozialen Gründen etabliert hatte. Er verbindet religiöses Lernen, Gemeinschaftserfahrung und Spiel. Einer ge‐ wachsenen Wertschätzung stehen heute große Probleme gegenüber, denn <?page no="179"?> es kommen immer jüngere Kinder; vor allem aber ist die Teilnahme so rückläufig, dass Kindergottesdienst immer seltener angeboten werden kann. Religionspädagogische Konzepte schätzen den Kindergottesdienst recht verschieden ein. Gemeinde-missionarisch gilt er als Vorstufe und Hinfüh‐ rung zum Hauptgottesdienst; damit ist er aber theologisch abgewertet. Dagegen steht eine pädagogisch ausgerichtete Einschätzung, die ihn als Ort für das Aufwachsen im Rahmen der Gemeinde versteht, der am kindlichen Erleben ausgerichtet ist; schließlich eine sozialpädagogische Einschätzung, die ausschließlich nach den Bedürfnissen der Kinder fragt. Religionspäda‐ gogisch stellt der Kindergottesdienst eine bedeutsame Chance dar, da er ein Vertrautwerden mit der Gemeinde und mit christlichen Themen und Vollzügen möglich macht. Er kann eine prägende Wirkung haben, sollte daher wesentlich mehr Aufmerksamkeit erfahren als bisher. Er ist ein guter und wichtiger Ort, Kindern einen spielerischen Zugang zu den religiösen Erzählungen der Bibel und damit zu Religion überhaupt zu ermöglichen. Im Familiengottesdienst besuchen Kinder mit ihren Familien und der Gemeinde zusammen den Hauptgottesdienst, der dann kindgerecht gestal‐ tet ist und den Charakter eines kleinen Festes hat. Diese Form hat sich überall eingebürgert und wird gut angenommen. Sie ist eine der wenigen Anlaufstellen für Familien mit Kindern in den Gemeinden. Die normalen Gottesdienstbesucher empfinden den Familiengottesdienst für sich aber oft als unpassend. Außerdem gibt es meist wenig konzeptionelle Zusammen‐ bindung mit anderen Gemeindeaktivitäten. Speziell auf die Kinder zielt die relativ neue Angebotsform der Kinderbi‐ belwoche, die sehr beliebt ist. Sie dauert mehrere Tage (inzwischen gibt es auch einzelne Kinderbibeltage). Im Zentrum steht meist ein biblisches Buch ( Jona; Jesusgeschichten; Josef usw.). Der Tag (bzw. Nachmittag) beginnt in der Kirche mit der Geschichte des Tages und Liedern, dann folgt eine kreative Gruppenarbeit; am Ende sind wieder alle zusammen in der Kirche, präsentieren ihre Arbeiten und schließen gemeinsam ab. Die Kinderbibel‐ woche ist religionspädagogisch ausgesprochen sinnvoll, denn sie vereint die Begegnung mit biblischen Geschichten mit den Elementen einer Feier und dem Erleben der Kirche. Sie benötigt allerdings viel organisatorischen Aufwand. Weitere Angebote mancher Gemeinden für Kinder sind Mut‐ ter-Kind-Gruppen (Krabbelgruppen), die eher der Betreuung und der Begeg‐ nung mit anderen dienen als der religiösen Kommunikation. Schließlich werden Familienfreizeiten angeboten, die neben der Gemeinschaft mit 179 1 Kindergottesdienst und Gemeindearbeit für Kinder <?page no="180"?> anderen auch ein gemeinsames religiöses Tun möglich machen, z. B. in Liedern, Tageszeitengebeten, Andachten usw. Die Situation der Kinder in der Gemeinde kann insgesamt nicht als besonders günstig eingeschätzt werden. Gemeindearbeit und Gottesdienst sind grundsätzlich auf Erwachsene zugeschnitten. Die Angebote bleiben punktuell und meist ohne konzeptionelle und nachvollziehbare Verbindung zum Gemeindeleben. Dabei hat die Arbeit mit Kindern in der Gemeinde hohe Bedeutung, einmal für die Gemeinde, dann aber auch für die Kinder. Wichtig ist neben der faktischen Begegnung mit Religion vor allem die Erfahrung, dass Religion nicht allein gelebt wird. Die Orts-Kirche als Raum und Gebäude sollte in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden, sie ist bewusst einzubeziehen (→ 11.3). Gemeinde sollte als gute Heimat erfahrbar werden. 2 Kirchlicher Kindergarten „In allen Bundesländern sind Bildungsempfehlungen … entstanden. Die religiöse Thematik allerdings ist dort weitgehend ausgeblendet.“ (Harz in Adam/ Lachmann 2008, 194) Der Kindergarten hat sich in seiner heutigen Form in den 1930er Jahren herausgebildet. Vorläufer sind die „Kinderbewahranstalten“ und die „Klein‐ kinderschulen“ des 19. Jh. Starken Einfluss hatten die Gedanken der italieni‐ schen Ärztin und Kinderpädagogin Maria Montessori, die für Motivierung, Anregung der Selbsttätigkeit und Sinnesschulung der Kinder eintrat. In der Erziehung machte sie keinerlei Inhaltsvorgaben. Der Erzieher sollte Begleiter, wohlwollender Beobachter und individueller Berater sein. Damit vertrat sie im Grunde ein echtes Bildungskonzept. Der Kindergarten steht heute allen Kindern ab Vollendung des 3. Lebens‐ jahres bis zum Schuleintritt offen. Er ist der „Jugendhilfe“ zugeordnet, soll die Familienerziehung ergänzen und die Sozialisation beginnen. Der Staat will so die Selbständigkeit und Bedeutung der Familie betonen. Kinder lernen zum ersten Mal soziales Verhalten (die andern sind anders - darum muss der Umgang mit ihnen geregelt sein). Obwohl er eine öffentliche Einrichtung ist, stehen weit über 50 % der Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft. Für die RP, die ihn lange Zeit nur am Rande beachtet hatte, ist er bedeutsam; denn oft werden 180 8 Kinder-, Konfirmanden- und Jugendarbeit in der Gemeinde <?page no="181"?> hier erste Begegnungen mit christlich-religiösen Gehalten gemacht, die prägend bleiben (→ 4.2): der Nikolaus, Weihnachtsvorbereitungen, der St-Martins-Laternen-Umzug usw. Die Möglichkeiten des Gestaltens und Feierns bergen eine besondere erzieherische Chance. Das gilt auch für die Gemeinden, da der Kindergarten eine frühe Kontaktaufnahme mit dem kirchlichen Leben ermöglicht. Dazu wären allerdings organisatorische Konzepte für die Gemeinde- und Familienarbeit (Familiengottesdienste, Freizeiten, Gemeindefeste) anzustreben. Frieder Harz stellt konzeptionell einen „diakonischen Auftrag“ einem „Beitrag zum Gemeindeaufbau“ gegenüber (ebd. 106 f.). Heute vorherr‐ schend ist der sog. „Situationsansatz“, der Lebenssituation und Umwelt der Kinder aufnimmt und keine Lerninhalte mehr vorgibt. Für den kirchli‐ chen Kindergarten fehlt im Grunde eine einleuchtende und anwendbare religionspädagogische Konzeption. Die Arbeit geschieht pragmatisch, ist pädagogisch orientiert und an christlichen Geschichten, Bräuchen und Festen ausgerichtet. Praktische Anlässe für die Kindergartenarbeit aus Sicht der RP sind vor allem biblische Geschichten, die Feste des Jahreskreises (Advent, Weih‐ nachten, Ostern, Erntedank) und der eigene Geburtstag, schließlich die grundlegenden christlichen Rituale und Bräuche (Gebete, Lieder, Kinder‐ gottesdienst usw.). Sinnvoll wäre ein Ausbau der Tauferinnerung, da er den christlichen Zuspruch mit der Erfahrung der eigenen Bedeutung als Person verbindet. Besonders wichtig ist der Umgang mit Symbolen (→ 11.2) wie Kerze, Engel, Kreuz, Brunnen, Regenbogen usw. Denn sie entsprechen nicht nur den Bedürfnissen der Kinder, sondern sie kommen in besonderer Weise auch ihrem mythischen Verstehen (→ 4.2) entgegen; damit fördern sie ihren religiösen Sinn. Hier wie grundsätzlich im Kindergarten geht es um erfahrungsbezogenes Bedeutungs-Erleben, also um Belebung des Symbolverstehens. Auch die Gotteserfahrung sollte Thema des kirchlichen Kindergartens sein. Über und von Gott muss erzählt und gesprochen werden. Ausgesprochen sinnvoll scheint schließlich eine ortsangemessene Kirchenraumpädagogik (→ 11.3), die den Sakralraum sinnlich erschließt und als religiösen Heimatboden zugänglich macht. Diese Überlegungen werden in der religiösen Elementarbildung angestellt, die sich inzwischen als eigenständiges Arbeitsgebiet in der RP etabliert hat. Auch bei mehr als 50 % der deutschen Kindertagesstätten (Kitas) sind die Kirchen Träger. Insgesamt wächst die Zahl der Kitas immer weiter an, vor allem aus ökonomischen Gründen: Mütter wollen immer früher wieder in 181 2 Kirchlicher Kindergarten <?page no="182"?> den Beruf einsteigen. Deshalb gibt es inzwischen höchst kritische Stimmen gegen die frühe Fremdbetreuung von Kindern. Psychologisch ist eindeutig nachgewiesen, dass sie selbst bei guter Kita-Betreuung erheblich schlechtere spätere Entwicklungsverläufe zeigen. 3 Konfirmanden- und Firmarbeit „Konfirmanden leiden an dem Tatbestand, daß … häufig Fragen bearbeitet werden, die niemand gestellt hat, daß eine vorbehaltlose kritische Auseinan‐ dersetzung mit der Tradition eher selten ist und daß der Glaube oft nur als unverständliches Lehrgebäude, nicht aber als Grundlage eines sinnvollen Lebens in der Gesellschaft erscheint.“ (Wegenast in Adam/ Lachmann 2 1994, 315 f.) Konfirmanden- (KU) und Firmunterricht stehen am stärksten in der immer schwieriger werdenden Spannung zwischen christlicher Traditionsvermitt‐ lung einerseits und den Fragen nach der eigenen Identität und Lebenser‐ wartung andererseits. Jugendliche kommen hier nah mit ihrer Gemeinde in Berührung; doch wird der Kontakt mit ihr nach dieser Zeit nur in seltenen Ausnahmefällen aufrecht erhalten. Es wundert nicht, dass man heute nicht mehr von Unterricht redet, sondern von Konfirmanden- und Firmarbeit. Beide haben eine ähnlich bewegte Geschichte hat wie der RU; in ihrem Be‐ reich sind die konzeptionellen Veränderungen und Experimentierversuche sogar noch größer ausgefallen. Die Firmung ist in der katholischen Kirche ein Sakrament. Sie ist aus dem zweiten Teil der altkirchlichen Taufhandlung heraus entstanden, der Hand‐ auflegung und Stirnsalbung, die der Bischof vornimmt. Die Reformation lehnte eine Ergänzung der Taufe zunächst ab. Da sie aber die Eigenverant‐ wortung im Glauben zentral stellte, wurde die Konfirmation als bewusste Tauf-Bestätigung erstmals 1538/ 39 in Hessen durch den Reformator Martin Bucer eigeführt. Vor der Konfirmation waren Katechismusunterricht und gemeindeöffentliche Prüfung bis ins späte 20. Jh. üblich. Vor allem durch den Pietismus und später dann durch den Ausbau des staatlichen Schulwesens im 18. Jh. hat sie sich allgemein durchgesetzt, denn sie war nun verbunden mit der Schulentlassung und dem Eintritt in den Beruf und wurde auch als ein gesellschaftliches Ereignis verstanden. Die Firmung wird derzeit stark diskutiert. Zum einen aufgrund der Span‐ nung zwischen selbstverantworteter Glaubensbestätigung und Sakrament, 182 8 Kinder-, Konfirmanden- und Jugendarbeit in der Gemeinde <?page no="183"?> das als Gabe gilt; zum anderen aufgrund des schwierigen Alters um 14 Jahre herum, weshalb manche für die Zeit der Einschulung, andere für das Alter zwischen 16 und 18 plädieren. Firm- und Konfirmandenarbeit dauern in der Regel ein Jahr (oder zwei) und werden meist wöchentlich zweistündig in kleineren Gruppen gehal‐ ten. Anstelle einer katechetischen „Einweisung“ haben sich zunehmend offene Gestaltungsformen ausgebildet, die vor allem um die christlichen Kerngehalte und den Versuch kreisen, mit dem Leben der Gemeinde, vor allem dem Gottesdienst bekannt zu machen. Oft gibt es Intensivseminare und gemeinsame Aktivitäten in der Gruppe. Trotz methodischer Öffnung erreichen sie nach wie vor nur in den seltensten Fällen eine religiöse Öffnung oder Inspiration. Biographisch ist das die Zeit der Pubertät und ihrer altersspezifischen Probleme (→ 4.3), was die Arbeit schwierig macht. Wichtige Themen der Jugendlichen sind der schulische Druck und der Kontakt zum anderen Geschlecht. Die Gruppen sind oft heterogen aus verschiedenen Schularten zusammengesetzt. Die Teilnahme ist oft nur durch Gruppeninteresse und die bei der Feier erwarteten Geschenke motiviert, gilt grundsätzlich aber als Akt der Selbstbestimmung. Der Unterricht liegt außerdem meist am Nachmittag, gehört also prinzipiell dem Freizeitbereich an. In den neuen Bundesländern ist zudem die säkulare Jugendweihe, die zu Zeiten der ehemaligen DDR eine Entscheidung für oder gegen den Staat (und dadurch eine gegen die Kirche) bedeutete, heute wieder ausgesprochen beliebt. Das religiöse Interesse, das durchaus vorhanden ist, ist in aller Regel keines an Glaubensfragen mehr, sondern geht in Richtung tieferen Erlebens und eigener Entfaltung. Es bleibt oft vage und wird nur selten bewusst kommuniziert. Theologisch gesehen ist die Konfirmation Tauferinnerung, die die eigene bewusste Zustimmung mit einer Segenshandlung verbindet, die zur Selbst‐ annahme beitragen soll, ebenso wie der Kontakt mit dem christlichen Leben der Gemeinde als persönlicher Orientierungsrahmen und Lebensbegleitung dienen soll. Der Bezug zum kirchlichen Bekenntnis und zur Eingliederung in die Gemeinde lockert sich immer mehr. Auch die früher mit der Konfirma‐ tion verbundene Zulassung zum ersten Abendmahl/ Eucharistie lockert sich heute mehr und mehr auf; die früher übliche Buße wird durch Einstimmun‐ gen am Vorabend und andere Formen ersetzt. Die katholische Firmung ist eine Weihehandlung, für die aber in jüngster Zeit ähnlich modernisierende Deutungen eingespielt werden. 183 3 Konfirmanden- und Firmarbeit <?page no="184"?> Für die meisten Eltern sind Konfirmation und Firmung familienreligiöse (→ 5.1) Feiern, die das Erwachsenwerden der Jugendlichen begehen. Das feierliche Im-Mittelpunkt-Stehen wird auch von diesen als ein Schritt zum Erwachsensein erlebt - als Rest eines in unserer Gesellschaft sonst nicht mehr vorhandenen und für die eigene Entwicklung eigentlich höchst bedeutsamen Initiations-Ritus. Hier kommen manche Jugendliche oft zum ersten Mal überhaupt mit religiösen Handlungen in Verbindung, immer mehr von ihnen werden erst in dieser Zeit getauft. Die Segenshandlung wird in der Regel als bewegend erfahren. 4 Didaktische Konzepte der Konfirmanden- und Firmarbeit Konzepte Der volkskirchliche Charakter von Konfirmation und Firmung ist trotz der genannten Probleme plausibel und sinnvoll. Nach wie vor erfahren hier eine relativ hohe Zahl von jungen Menschen eine erste intensivere Begegnung mit dem Christentum und damit mit Religion. Der Anteil ist gleichbleibend deutlich höher, als das die allgemeine Entkirchlichung erwarten ließe. Die Zeit wird überwiegend als positiv erlebt; auch wenn der Kontakt zur Kirche fast immer danach abbricht, gibt es viele Hinweise darauf, dass Konfirmation und Firmung als prägend erlebt werden. Im Rückblick äußern allerdings sehr viele der Konfirmanden, die gemachten Erfahrungen hätten wenig mit ihrem Leben zu tun. Häufigster Themenwunsch ist „Freundschaft“, der Gottesdienst dagegen gilt als langweilig. Die didaktischen Konzepte folgen zum größten Teil denen des RU (→ 3), sind aber methodisch variabler und offener. Sie sind durchgehend von der Intention bestimmt, sowohl der christlichen Tradition als auch der lebensgeschichtlichen Situation der Jugendlichen zu entsprechen. Sie nutzen die Chance erfahrungsbezogenen religiösen Lernens tendenziell deutlich mehr als der RU. Oft haben sich Kursmodelle herausgebildet mit Freizeitcharakter, in die manchmal auch die Eltern einbezogen werden. Partizipation wird immer wichtiger. So ist der Katechismusunterricht einem lebensgeschichtlich orientierten und erlebnisnah gestalteten Vorgehen ge‐ wichen, dessen Schwerpunkt zunehmend Erfahrung in der Gemeinde vor Ort ist. Die Konfirmandenfolgt der Firmarbeit darin, dass zunehmend ältere Jugendliche und Erwachsene in die Leitung aufgenommen werden. 184 8 Kinder-, Konfirmanden- und Jugendarbeit in der Gemeinde <?page no="185"?> Tendenziell „kommt unter gegenwärtigen Bedingungen dem Moment einer längerfristigen Begleitung der Jugendlichen hervorgehobene Bedeutung zu“ (Henrik Somojoki, WiReLex, Art. „Konfirmandenarbeit“), was z. T. zu einer zusätzlichen Gruppenperiode während der 3./ 4. Schulklasse führt. Didaktik Grundsätze einer Didaktik des KU folgen immer auch den allgemeinen religionsdidaktischen Überlegungen (→ 10 bis 13), haben aber eigene Schwerpunkte. Für die Inhalte des KU hat Klaus Wegenast einen „Minimal-Lehrplan“ vorgeschlagen, der die Urkunden des Glaubens, die Praxis der Kirche, verantwortliches Leben (dazu die Themen: Lebenssinn, Krankheit und Leiden, Liebe und Partnerschaft u. a.) und Gemeinschaft umfasst. Für diese Aufteilung, die allerdings keine religiösen Vollzüge bedenkt, bietet sich auch heute noch der Kleine Katechismus Martin Luthers an (→ 2.1), da er das elementare christliche Wissen mit der persönlichen Erfahrung verbindet. Die Zehn Gebote stehen hier für das, was uns zwingt, fordert, manchmal bedrückt. Sie geben Anlass für die jugendspezifischen Themen (Erwachsen‐ werden, Umgang mit dem anderen Geschlecht, Frage nach der eigenen Identität usw.), mit denen die Gruppe gut beginnen kann. Das Glaubensbe‐ kenntnis informiert zunächst nur darüber, was und wie (viele, keineswegs mehr alle) Christen denken; dazu wäre dann die eigene Einstellung zu Gott, Religion und Kirche zur Sprache zu bringen. Das Vaterunser zeigt Gott als Frage und persönliches Gegenüber und lädt zu einer eigenen Gebetspraxis ein. Die Taufe ist Gottes Zuspruch von Anfang an, der sich gegen den Leistungsdruck und die funktionale Verrechnung des Menschen in der modernen Welt stellt und eng mit dem Segen, also dem eigentlichen Sinn der Konfirmation verbunden ist; hier liegt auch der Bezug zum Segensspruch als Lebensbegleitung nahe, ferner zur jugendlichen Grundfrage: Wer bin ich? Abendmahl bzw. Eucharistie stehen nicht nur als sichtbares Zeichen dieses Zuspruchs, der Geborgenheit und Kraft durch Gemeinschaft und Feier geben kann, sondern lassen auch religiöse Vollzüge miterleben. Zu diesen Themenbereichen sollte die Erkundung der Gemeinde, ferner möglichst auch eine Einführung in das Kirchenjahr hinzukommen, das als Anlass für weitere christliche Grundthemen stehen kann (Weihnachten als Beginn des Jesus von Nazareth, Ostern als Fest der Auferstehung usw.). Seine Chance nutzen Firm- und Konfirmandenarbeit am besten, 185 4 Didaktische Konzepte der Konfirmanden- und Firmarbeit <?page no="186"?> wenn sie die Jugendlichen beteiligen an religiösen Vollzügen und sie darin wirklich ernst nehmen. Jugendliche sollen religiös ernst genommen und angesprochen werden. Eine besondere Rolle spielt hier der Kirchenraum, ferner der Gottesdienst, mit dem allerdings experimentell verfahren wer‐ den muss und der die eigene Beteiligung braucht (eigene Andachten, freie Mitgestaltung). Sehr sinnvoll sind integrative Formen: der Einbezug der Eltern und anderer Personen aus der Gemeinde, gemeinschaftliches Leben, Feiern, Bezug zum Gemeindeleben und zum Gottesdienst. Projekte, Wochenenden, gemeinsame Wochen haben hier eine weit größere Chance als Einzelstunden am Nachmittag. Neben den Pfarrern sind möglichst weitere Personen zu beteiligen. Wo es möglich ist, sollte eine Zusammenarbeit mit der Schule vor Ort und den anderen Aktivitäten der Gemeinde stattfinden. Die bleibende Problematik ist auch die der Religionsdidaktik insgesamt: Das Interesse an Religion ist ganz offensichtlich an existenzielles Erleben und Fragen und an plausible, zugängliche und lebensnah erfahrbare religiöse Vollzugsformen gebunden. Der Sonntagsgottesdienst aber ist sperrig, und insgesamt gibt es nur wenige persönlich praktizierbare spirituelle Formen im Christentum. 5 Kirchliche Jugendarbeit Für manche schließt sich an die Firm- und Konfirmandenzeit die kirchli‐ che Jugendgruppe an, vor allem, weil hier Bekanntschaften und Gruppen‐ gemeinschaft weitergeführt werden können. Merkmale der kirchlichen Jugendarbeit sind freiwillige Teilnahme, Altershomogenität und weitgehend offene Strukturen. Sie ist an die einzelnen Gemeinden gebunden; es gibt aber auch überregionale Jugendpfarrämter und Gremien, z. B. die Landesju‐ gendkonvente. Die kirchliche Jugendarbeit entstand etwa gleichzeitig mit der Volksbildungsbewegung im 19. Jh. Anlass waren damals die durch die Industrialisierung bedingten sozialen Schwierigkeiten vieler Jugendlicher, die ein sozial-diakonisches Engagement der Kirchen, Hilfsprojekte und eine „Jugendpflege“ auf den Plan riefen. Bekannte Verbände sind der CVJM (Christlicher Verein junger Männer, heute: „Menschen“, 1883 gegründet) und die katholische Pfadfinderschaft (seit 1929). Neben der gruppenbezogenen „geschlossenen“ Form, in der häufig eine tiefe soziale und erlebnishafte Dynamik entsteht, gibt es die sog. „offene“: 186 8 Kinder-, Konfirmanden- und Jugendarbeit in der Gemeinde <?page no="187"?> Treffpunkte, Partys, Einzelveranstaltungen wie Filmvorführungen usw.; letztere sind gegenüber den geschlossenen zunehmend beliebt. Für viele wird die Jugendarbeit aufgrund der Gemeinschaftserfahrung prägend für das eigene Christsein. Die kirchliche Jugendarbeit verzeichnet allerdings einen deutlichen Rückgang an Beteiligung, denn sie steht heute in Kon‐ kurrenz zu den Angeboten freier und öffentlicher Träger, meistens von Vereinen (Sport, Musik usw.), und den alltagsbeherrschenden digitalen Medien. Jugendliche legen sich in der Regel auf keinen alleinigen Anbieter mehr fest. Generell sind punktuelle Angebote beliebter, die keine längere Verpflichtung mit sich bringen, ferner erlebnisorientierte. Man kann von einer diffusen religiösen Erwartung und spirituellen Sehnsucht ausgehen, die in den Gemeinden aber kaum passende Angebote findet. Wichtigste konzeptionelle Ansätze der kirchlichen Jugendarbeit sind der sozial-integrative, der sich um eine Eingliederung in die Gemeinschaft bemüht; der emanzipatorische, der vor allem die Selbständigkeit der Jugend‐ lichen anzielt; der erlebnisorientierte, der Jugendlichen zunächst schlicht Spaß bescheren will; schließlich der lebensweltorientierte, der sich an der Lebensfähigkeit der Jugendlichen orientiert. Die konzeptionelle Grundfrage, die in den Gemeinden oft strittig ist, betrifft darum das kirchliche Profil der kirchlichen Jugendarbeit. Welchen Ort haben neben allgemeinen Lebensfra‐ gen Glaubensfragen und religiöse Fragen? Die kommen in den meisten Jugendtreffs in den Gemeinden gar nicht vor. Für Jugendliche sind Stimmigkeit, unmittelbare Evidenz und Lebensbe‐ zug wesentlich wichtiger als die Übereinstimmung mit einer bestimmten Tradition. Die spezifischen Themen der Lebensphase wären also mit der Frage nach der Religion in Verbindung zu bringen. Die „Kommunikation des Evangeliums“, die heute oft als religionspädagogischer Grundsatz ge‐ nannt wird, kann sich auch in offenen Einladungen in die Räume der Gemeinde aussprechen; diese sind Orte für Inszenierung, Selbstdarstellung und Begegnung, nicht für kirchliche Rekrutierung. Eine Vernetzung des oft zersplitterten, pragmatisch zu Stande kommenden Angebots mit dem Gemeindeleben sollte zumindest versucht werden. Auch hier sollte die Möglichkeit der Beteiligung an religiöser Praxis bestehen. Ob das jeweils gelingt, hängt oft von tatkräftigen Personen, aber auch von Räumen und deren Gestaltung ab. 187 5 Kirchliche Jugendarbeit <?page no="188"?> Zusammenfassung Kindergottesdienst und Kindergarten sind traditionelle religionspäda‐ gogische Aufgabenbereiche in den Kirchengemeinden. Ebenso wie die Konfirmanden-, Firm- und kirchengemeindliche Jugendarbeit, die mit weitgehend säkularisierten Jugendlichen zu tun haben, sind sie auf ähnliche religionsdidaktische Prinzipien verwiesen wie jedes religiöse Lernen: Die Vermittlung von religiösem Traditionswissen muss der zeitgemäßen Bearbeitung von Lebensfragen nicht nur zugeführt, son‐ dern von dieser aus erschlossen werden. Kindergottesdienst, Religion im Kindergarten, Firmung und Konfirmation zeigen, dass religiöses Erleben nachhaltig prägend wirken kann. Literatur Zu 1: C. Grethlein in: Adam/ Lachmann 2008, 215-236 - NHRPG IV.2.6 - LexRP, Art. „Kindergottesdienst, Sonntagsschule“. Zu 2: F. Harz in: Adam/ Lachmann 2008, 191-21 - ZPT 69 (2017), Heft 4 (289 ff.). Zu 3 und 4: W. Ilg u. a. 2009 - G. Adam in: Adam/ Lachmann 2008, 255-281 - B. Schröder 2012, § 31 - K. Meyer 2012 - H. Somojoki u. a. 2018 - Domsgen 2019, 6.3. Zu 5: U. Schwab in Adam/ Lachmann 2008, 283-303 - E. Siggelkow 2008 - S. Kaiser-Creola 2003. 188 8 Kinder-, Konfirmanden- und Jugendarbeit in der Gemeinde <?page no="189"?> 9 Kirchliche Arbeit mit Erwachsenen Religion ist nicht nur ein unverzichtbarer Teil der Bildung (→ 17); Reli‐ gion ist selbst auch auf Bildung angewiesen. Religion braucht die eigene Selbstklärung, wenn sie nicht kindlich bleiben oder fundamentalistisch sein will. Deshalb ist die Bildung schon immer ein enger Begleiter der Religion gewesen, oft ist sie aus dieser erst hervorgegangen (→ 1.2, 7.1). Dafür gibt es in Kirche und Gemeinde das Feld der Arbeit mit Erwachsenen. Für Christen, die heute bereits eine „kognitive Minderheit“ (Rudolf Englert) darstellen, gilt: sie sollen ihr Christsein so reflektieren können, dass sie es für sich selbst und nach außen hin eigenständig und überzeugend vertreten können. 1 Gemeindearbeit mit Erwachsenen Ganz ähnlich wie bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen müssen auch für die Erwachsenen christliche Traditions- und heutige Lebenswelt‐ orientierung ineinander greifen und sich gegenseitig aufschließen. „In zunehmendem Maße wird [im Erwachsenenalter] die Frage wichtig: wer bin ich eigentlich, und zwar aufgrund meiner Lebensgeschichte? Was ist das Kontinuierliche in dieser Biographie? Was ist der Kern dessen, der dieses Leben lebt? “ (Fraas 1993, 264) Die christlichen Überlieferungen und Gehalte müssen darum in eine stimmige Beziehung zur Lebenserfahrung gebracht werden. Kirche sollte ein Ort sein für die existenziellen Fragen des Lebens von Erwachsenen, die Fragen nach Sinn, gelingenden Beziehungen, Erfüllung, Leid und Tod. Erwachsensein bedeutet, auf der Höhe der eigenen Kraft und Leistungs‐ fähigkeit im Leben zu stehen. Heute ist die wichtigste Aufgabe des mittleren Alters, eine Balance herzustellen zwischen der eigenen Selbstbestimmung und den äußeren Anforderungen, zu denen vor allem Beruf und Familie (Partnerschaft und Erziehung von Kindern), aber auch die Pflege von Be‐ kanntschaften, der Bau eines Hauses usw. zählen. Dazu kommt immer mehr die eher unterschwellig empfundene Aufgabe, ein sinnvolles Verhältnis zu unserer Konsumkultur und zum Umgang mit der Zeit herzustellen - eines der Hauptprobleme des gegenwärtigen Lebens scheint darin zu liegen, dass <?page no="190"?> die Menschen in einem Meer von Möglichkeiten „keine Zeit“ mehr haben für das, was ihnen wirklich wichtig ist. Die lebensgeschichtliche Voraussetzung der kirchlichen Arbeit mit Er‐ wachsenen ist, dass der Abschied vom Kinderglauben erfolgt ist, und dass in aller Regel Zweifel an althergebrachten religiösen Praktiken oder Vorstellungen bestehen. Der Informationsbedarf über die Grundlagen der christlichen Kultur wächst. Gravierendes Problem ist, dass es eigentlich keine kirchlichen Angebote gibt, in denen sich die längst autonom gewor‐ dene individuelle Religiosität weiter entwickeln könnte. Die Arbeit mit Erwachsenen in der Gemeinde geschieht in Gruppen, in Themenveranstaltungen und in der Beteiligung an der Gemeindearbeit. Zu den Gruppen gehören vor allem die Bibel- und Gesprächskreise, die ein Erbe des Pietismus sind; ferner Liturgiekreise oder Glaubenskurse („Alpha-Kurs“, „Gottesdienst leben“ usw.), die gut nachgefragt sind. Sie lassen einen intensiven Austausch unter Menschen zu, die sich kennen, wirken darum aber nach außen hin auch oft abgeschlossen und wenig einladend. Alters-spezifische Gruppen wie Mutter-Kind-Gruppen und die Seniorentreffs, die es in fast allen Gemeinden gibt, sind soziale Betreuung, so gut wie nie aber religiöser Erfahrungsaustausch. Etwas anders ist das bei offenen Themenveranstaltungen, die auf bestimmte Abende oder Kurse begrenzt sind und dadurch einen offeneren Charakter haben. Da die Bereitschaft zur Verpflichtung sinkt, werden immer mehr punk‐ tuelle Angebote gewünscht, z. B. Gesprächsabende über aktuelle Zeitfragen oder über christliche Themen. Ein erheblicher Teil der Gemeindearbeit wird durch ehrenamtliche Mit‐ arbeiter geleistet: Kindergottesdiensthelfer, Lektoren, Besuchsdienste (für Geburtstage, Kranke, neu Zugezogene usw.), Mithelfer für Feiern und Freizeiten usw. Diese Arbeit erfährt aber wenig Anerkennung und meist noch weniger Förderung und Training. Pfarrherrliche Leitungsbefugnisse behindern oft das gemeindliche Leben; viele Pfarrer meinen, alles selbst tun, steuern und verwalten zu müssen. Konflikte mit Pfarramtsführern treten gerade dann auf, wenn Mitarbeiter weiterreichende Verantwortungen über‐ nehmen wollen; geradezu typisch sind die Konflikte zwischen Pfarrern und Kantoren. Bewusste Delegation von pfarramtlichen Aufgaben an Personen der Gemeinde stellt aber zusammen mit einer kompetenten Anleitung das wirkungsvollste Instrument für eine intakte Gemeindearbeit dar. Mitarbeiter sollten mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut und wirksam angeleitet und begleitet werden. Nur wo Erwachsene Aufgaben im Gottesdienst, im 190 9 Kirchliche Arbeit mit Erwachsenen <?page no="191"?> Konfirmandenunterricht, in der Anleitung anderer übernehmen, kann sich ein Klima entfalten, in dem eine lebendige religiöse Kommunikation möglich wird. Weit mehr, als das fast überall der Fall ist, müssten die religiösen Themen und Einstellungen der Menschen kommuniziert werden, ihre religiöse Praxis und Entwicklung. Die Befähigung zum persönlichen Umgang mit Religion sollte Grundbestand der kirchlichen Arbeit mit Erwachsenen sein. 2 Gemeindearbeit mit älteren Menschen Überalterung ist ein Phänomen der Gesellschaft, noch mehr aber der Ge‐ meinden. Auch lebensgeschichtliche Gründe erklären die Präsenz der Alten in Gemeinde und Gottesdienst: Im Alter kann die gesellschaftliche Verdrän‐ gung des Todes durch Technik, Apparate-Medizin und vor allem durch das Ideal des Jung-, Dynamisch- und Vital- Seins meist nicht mehr aufrecht erhalten werden; der Gedanke an das eigene Sterben taucht spätestens dann auf, wenn Bekannte und Verwandte sterben. Die Arbeit mit alten Menschen stellt auch eine starke Erwartung an die Kirche von außen dar: dass sie sich um Alte und sozial Schwache kümmern soll, ist eine der meistgeäußerten Einstellungen zu Kirche überhaupt. Alte Menschen sind langsamer, vorsichtiger und bedächtiger, sie orien‐ tieren sich zunehmend an der Vergangenheit. Schon äußerlich gehen sie nicht mehr „mit der Mode“, hängen an Gegenständen, Kleidungsstücken, Gewohnheiten und Erlebnissen, die in einer schnell sich verändernden Zeit „von gestern“ wirken. Ihre Erinnerungen und Lebenserfahrungen finden in einer mediengesättigten Zeit kein Interesse mehr. Damit verliert das Alter nachhaltig an der Würde - das ist neben dem Nachlassen von Kraft und Gesundheit die gravierendste Beeinträchtigung des Alters. Der Abbau von Kräften und Fähigkeiten, das „Nicht-mehr“ und Loslassen-Müssen von gewohnten Leistungen fällt gerade in einer Zeit nicht leicht, die Vitalität, Jungsein und Dynamik nachgerade zu absoluten Werten erhoben hat. Altwerden ist darum oft begleitet von Trauer und depressiver Stimmung. Das Nachlassen der Lernleistung macht alte Menschen weniger offen für neue Eindrücke, lässt sie dagegen in Gedanken und Erlebnissen der Vergan‐ genheit verweilen; das kann zu kraftzehrendem Grübeln führen. Das verstärkte Alleinsein durch die Entfernung der Kinder, den Tod des Partners und die fehlende Kraft, Kontakt zu anderen Menschen aufzu‐ 191 2 Gemeindearbeit mit älteren Menschen <?page no="192"?> nehmen und zu unterhalten führt sehr häufig in soziale Isolation und zu dem Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden und deshalb nichts wert zu sein. Das verstärkt depressive Neigungen. Bereits die oft lange ersehnte Verrentung führt viele in eine unerwartete Depression. Viele haben Angst davor, „Pflegefall“ zu werden - denn in einer Zeit, in der jeder für sich selbst sorgt, wird das Angewiesensein auf Hilfe als besonders bitter erlebt und entsprechend gefürchtet. Nur noch den Tod vor sich zu haben ist eine Lage, die Kraft, Gelassenheit, verlässliche soziale Unterstützung und ein tiefes Vertrauen erfordert. Wo das nicht gegeben ist, führt die Vergangenheits- und Gewohnheitsorientierung oft zu einem wenig sinnvollen Ausfüllen der Zeit (Fernsehen, Zeitung lesen, Zeitschriften, Kreuzworträtsel usw.). Die Zeit kann als immer länger empfunden werden, so dass der gesamte Lebensvollzug einem unbestimmten Warten gleicht - obwohl die Lebenszeit insgesamt immer schneller zu vergehen scheint. Die Aufgabe, die sich mit dem Altwerden unvermeidlich stellt, ist die nach der Bejahung und Akzeptanz des eigenen Lebens (→ 4.5) Viele leiden allerdings unter dem Gefühl, das Leben sei letztlich unsinnig, erfolglos, gar „verpasst“, und wichtige Lebensaufgaben seien nicht bewältigt worden. Die australische Krankenschwester Bronnie Ware hat 2011 in einem Buch festgehalten, was Sterbende in ihrem Leben vermisst haben. Ihre Liste der meistgenannten Sätze ist ein eindrucksvoller negativer Spiegel unserer Kultur: 1. „Ich hätte mehr mein eigenes Leben leben, mehr meiner inneren Stimme folgen sollen.“ 2. „Ich hätte mehr Gefühle zeigen sollen.“ 3. „Ich hätte weniger arbeiten sollen“. - Faktisch verhalten wir uns in diesen meist genannten Bereichen genau umgekehrt. Die relativ neue Gerontopsychologie bestätigt durchgehend den sehr langen Erhalt von Fähigkeiten und Lebendigkeit, wenn Menschen wertge‐ schätzt werden, sozial eingebunden sind und sich vor allem gebraucht wissen. Studien über Kulturen, in denen die Alten je nach ihren Kräften so lange wie möglich an den gemeinsamen Arbeiten und Beschäftigungen beteiligt werden, zeigen, dass hier alle Mitglieder der Gemeinschaft am wenigsten von Stress belastet und insgesamt am glücklichsten sind. Falsch ist darum die übliche Betreuung der Alten durch Unterhaltung, wie sie leider in Altenheimen ebenso wie in Gemeinden die Regel ist. Sie wird den Menschen nicht gerecht. Weit besser wären Anregungen und Anleitung zu sinnvoller Alltagsgestaltung, besonders zur Unterhaltung menschlicher Beziehungen. Besonders wichtig ist es, Geschichten von sich selbst erzählen zu können und Menschen zu haben, die das interessiert. 192 9 Kirchliche Arbeit mit Erwachsenen <?page no="193"?> Alle diese Überlegungen - Wertschätzung, Fragmentarität des Lebens, die Lebensgeschichte überhaupt - haben eine Nähe zur Religion. Nur die Religion bietet einen Ort an, über das eigene Leben auch aus einer anderen als der eigenen Perspektive nachzudenken, christlich gesprochen: es unter den Augen Gottes zu sehen und Gott als den eigentlichen „Autor“ der eige‐ nen Lebensgeschichte zu begreifen. Das kann von eigenen Anstrengungen entlasten, das Gefühl der Geborgenheit und des Friedens aufkommen lassen und das „Abgeben“ des Lebens leichter machen. Das erklärt das zunehmende Interesse an Religion, das sich bei alten Menschen zeigt. Die Alters-Religiosität hängt insgesamt sehr eng mit dem eigenen Lebenslauf und frühen Prägungen zusammen, die jetzt wieder stär‐ ker hervortreten. Die Akzeptanz der eigenen Lebensgeschichte, umfassende Geborgenheit und die Fähigkeit, auch das Fragment Gebliebene abgeben zu können, sollten die Themen der Arbeit mit den Älteren sein. 3 Kirchliche Erwachsenenbildung Allgemeine Erwachsenenbildung Die Erwachsenenbildung (EB) umfasst alle organisierten Lern- und Wei‐ terbildungsbemühungen neben und nach der Berufstätigkeit. Ihre Ziele sind Erweiterung des Wissens, berufliche Fortbildung, Emanzipation und Gesellschaftsfähigkeit; sie beruht auf politischer und weltanschaulicher Neutralität. Die EB entstand im Zusammenhang mit der Industrialisierung, die zu einer nachhaltigen Veränderung und Komplizierung der Lebenswelt führte und der Bewegung der „Volksbildung“, die sozial benachteiligten Gruppen Anschluss an die bürgerliche Bildung gewähren wollte. Letztere hatte sich in den sog. „Lesegesellschaften“, in der „Gesellschaft zur Verbrei‐ tung der Volksbildung“ (1871) und in Vereinen zur „sittlichen Erhebung“ ebenfalls eine breite öffentliche Wirkung verschafft. Ferner etablierten sich die Arbeitervereine, die Wurzeln der späteren Gewerkschaften und der SPD. Der steigende Bedarf an Weiterbildung ist durch die rasante Vermehrung des Wissens, die immer differenzierter werdenden Lebensverhältnisse, be‐ rufliche Anforderungen, anwachsende Freizeit bedingt; in letzter Zeit kom‐ men vermehrt persönliche Fragen nach Orientierung, Heilung und Lebens‐ führung hinzu, für die immer weniger, Selbstverständlichkeiten gelten. Die EB dient deshalb heute neben der beruflichen Fortbildung zunehmend der 193 3 Kirchliche Erwachsenenbildung <?page no="194"?> persönlichen Weiterbildung (persönliche Interessen und Fragestellungen, politische und gesellschaftliche Bildung). Die Arbeit geschieht vorwiegend in Gruppen und ist teilnehmerorientiert. Themenbereiche sind Politik (Macht, Verantwortung, Demokratie, Eu‐ ropa, Globalisierung.), Gesellschaft als größter Bereich (Arbeitsmarkt, Ethik, Philosophie, Umwelt, Strafrecht, Medizin, Medien, Freizeit, Kunst, Kultur), und der persönliche Bereich (Partnerschaft, Lebensfragen, Selbstbestim‐ mung, Life-Style, therapeutische Themen wie Beratung, Umgang mit Trauer, Selbsthilfe, Yoga, Meditation) usw. Explizit religiöse Themen beginnen aber auch in freier Trägerschaft an Bedeutung zu gewinnen. Kirchliche Erwachsenenbildung „Hier tritt eine leider noch viel zu wenig gesehene Aufgabe in den Blick: Die Beantwortung der Frage nach den Bedingungen, unter denen bei der Erörterung aktueller Lebensfragen Glaube und christliche Tradition sinnvoll in einen Kom‐ munikationsprozeß einkommen können.“ (Wegenast in Adam/ Lachmann 2 1994, 387) Klaus Wegenast macht mir diesem Zitat deutlich, dass die Grundfrage der RP auch für alle anderen Bereiche religiösen Lernens gilt: Wie verbinden sich Religion und Lebenserfahrung? Sicher nicht nur, indem die religiöse Tradition erlebbar und für Lebensfragen und gegenwärtige Bedürfnisse (Sehnsüchte, Wünsche, Ängste usw.) geöffnet wird. Sondern vor allem, indem existenzielles Erleben und Fragen Anlass zu religiöser Deutung werden. „Christliche Erwachsenenbildung ist so alt wie die Kirche selbst“ (Wege‐ nast ebd. 379): die frühkirchliche Taufunterweisung, die Beichterziehung im Mittelalter, die Katechismen der Reformation, die private Herzensfrömmig‐ keit des Pietismus usw. sind Bildung Erwachsener aus christlichen Motiven heraus gewesen. Als Institution gibt es die kirchliche EB aber erst im 19. Jh. Sie etablierte sich parallel zur allgemeinen Volksbildungsbewegung. Vor allem die katholische Kirche war hier engagiert; Borromäus-Verein, Kolping-Verein, katholischer Verein Deutschlands u. a. hatten hohe Mitglie‐ derzahlen. Die evangelische EB hatte nachhaltige Inspiration durch Pfarrer Nicolai Grundtvig (1783-1872) erhalten, der in Dänemark aus christlicher Motivation heraus zum Anstoßgeber des Volkshochschulwesens wurde, wo er bis heute als eine Art Nationalheiliger verehrt wird. Die kirchliche EB 194 9 Kirchliche Arbeit mit Erwachsenen <?page no="195"?> hat sich zum eigenen Schaden meist gegen die Arbeiterbewegung und deren Bildungsbemühungen abgegrenzt. Nach 1945 entstanden die kirchlichen Akademien (s. u.) und kirchlichen Bildungszentren. Seit 1970 besteht ein staatlicher Gestaltungsauftrag an die kirchliche EB. Neben den Landeskirchen gibt es weitere Organisati‐ ons-Träger: Gemeinden, Kirchenkreise, Werke und Verbände, vor allem das Diakonische Werk (ev.) und die Caritas (kath.); dazu kommen Heimvolks‐ hochschulen und Familienbildungsstätten, die vorwiegend psychologische, soziale, alltagspraktische Themen und praktische Lebensfragen in Kursen anbieten. Zu diesen gehören vor allem Evangelisches und Katholisches Bildungswerk. Die Situation der kirchlichen EB ist derzeit vor allem durch eine drü‐ ckende Finanzlage bestimmt. Die Landeskirchen neigen angesichts rückläu‐ figer Kirchensteuern zu rigorosen Kürzungen in den übergemeindlichen Arbeitsfeldern, während sie die Versorgung in den Kerngemeinden aufrecht erhalten wollen - ein höchst bedenkliches Vorgehen insofern, als es das Christentum auf kleiner werdende, öffentlich unsichtbare und gesellschaft‐ lich wie kulturell unproduktive isolierte Kreise einschränkt. Begründungsargumente und Probleme der kirchlichen EB „Religiöse Bildung Erwachsener steht für uns im Schnittpunkt von Religion und Theologie: Einerseits erwachsen die thematischen Bezüge aus der Religion, andererseits ist von der Theologie erst eine auf diese Religion bezogene Struktu‐ rierungsleistung zu erwarten.“ (Lück/ Schweitzer 1999, 71) In der Tat wäre das theologisch strukturierte Angebot religiöser Themen die plausibelste Aufgabe der kirchlichen EB. Die Themenwahl richtet sich faktisch aber an den allgemeinen Interessen und Bedürfnissen der Menschen heute aus. Vortrag und offene Diskussion, kreative Arbeit in Gruppen (Malen, Tanz, Psychodrama usw.) sind gängige Formen. Wichtige religiöse Themen sind die plurale Religionslage (besonders der Islam, auch Judentum, Multikulturalität usw.), allgemein religiöse Themen (heilige Orte, religiöse Symbole, Fundamentalismus usw.), ferner persönliche und spirituelle The‐ men. Karl-Ernst Nipkow hat betont, die Bildungsverantwortung der Kirche sei „doppelseitig“, nach innen und nach außen hin zu begründen. Nach innen ist der Bildungsauftrag der Kirchen klar: Christen sollen ihren Glauben mündig 195 3 Kirchliche Erwachsenenbildung <?page no="196"?> leben können. Nach außen hin aber ist das immer schwerer einsichtig zu machen. Die Kirche hat zwar, so wie andere öffentliche oder private Träger auch, ein Recht auf Beteiligung an der Gestaltung der Gesellschaft und kann auf entsprechende staatliche Unterstützung rechnen. Aus der Außen‐ perspektive erscheint die Arbeit der Kirche aber als grundsätzlich ersetzbar. Was also ist ihre öffentliche Legitimation? „Plurale“ Begründungsmodelle sind oft eher Anzeichen von Unsicherheit als wirklich überzeugend. Für die kirchliche EB fehlt offensichtlich eine plausible Leitidee. Geht sie volksmissionarisch vor (an Evangelium, Bibel und christlichen Grundsätzen orientiert), bleibt die öffentliche Begründung fraglich. Geht sie dialogisch vor im Sinne einer Verständigung der Kirche mit der Welt, bleibt ebenso wie beim problemorientierten Konzept des RU (→ 3.4) der Sinn von Religion ungeklärt. Auch der gesellschaftsdiakonische Ansatz ist nicht allgemein plausibel, da er mit der sozialen Integration nur einen kleinen Teil der Gesellschaft betrifft; er geht auf Ernst Lange zurück, der das Evangelium als „Sprachschule für die Freiheit“ verstand und als erster davon ausging, dass der moderne Mensch nicht von der Arbeit, sondern eher von der Sinnfrage geprägt ist, also „vom Sisyphus zum Tantalus“ geworden ist. Vergleichbares gilt für eine Begründung durch Theologische Information. Interessant ist eine subjektorientierte Begründung durch Lebenshilfe: Lebens- und Identi‐ tätsfragen, soziale Rolle, kritische Urteilskraft, Sinn- und therapeutische Fragen sind unter der Voraussetzung plausibel, dass die kirchliche EB sich hier aus religiösen Gründen als kompetent zeigt. Für die kirchliche EB gilt dasselbe wie für die RP insgesamt: sie sollte erkennbar kompetent sein in Fragen der Religion und Religiosität, und sie sollte das als (unverzichtbaren) Teil der Bildung kenntlich machen. Solche religiöse Kompetenz besteht leider nur in geringen Ansätzen. So wird verständlich, warum die kirchliche EB (ähnlich wie der RU, → 6.) zu Unrecht nach wie vor mit kirchlicher Bestandssicherung assoziiert wird. Die religiöse Frage scheint neben der finanziellen Notlage derzeit das größte Problem der kirchlichen EB zu sein. Dazu kommen als weitere Schwierigkeiten die eher punktuellen Einzelveranstaltungen, die meist keinen integrierenden Zusammenhang erkennen lassen. 196 9 Kirchliche Arbeit mit Erwachsenen <?page no="197"?> 4 Kirchliche Akademien Die kirchlichen Akademien haben sich in der Nachkriegszeit überall in Deutschland etabliert, die erste in Bad Boll 1945. Sie reagierten auf den da‐ maligen akuten Bildungsbedarf, parallel mit den gleichzeitig entstehenden politischen Akademien. Sie bieten anspruchsvolle Information und bilden heute eine Art dritte christliche Bildungs-Kraft zwischen der Universität und den Aktivitäten der EB auf Gemeindeebene. Die Akademien sind Tagungshäuser, die in kirchlicher Trägerschaft stehen und im Unterschied zu den Stadtakademien überregional agieren. Sie sind stark zur Gesellschaft hin orientiert und organisieren die Begegnung gesellschaftlicher Gruppen, von Kirche und Gesellschaft, von Einzelnen oder bestimmten Berufsgruppen mit Vertretern der Wissenschaft usw. Sie haben darum den Charakter eines offenen gesellschaftlichen Forums. Leiter und Studienleiter der einzelnen Ressorts können Theologen oder Laien sein. Die Kirchen sind Geldgeber und Träger, überlassen aber die Gestaltung des Programms der Autonomie der Akademien. Die Angebote sind in der Regel Tagungen, die Themen aus den Bereichen Religion und Christentum (Religiöser Dialog, christliche Themen heute, Islam), Erziehung und Bildung, Gesellschaft (Politik, Lebenswelt, Arbeit, Me‐ dizin, Umwelt, Forschung), Kunst und Kultur und dem persönlichen Bereich der Lebensführung anbieten (Selbstfindung, Körperarbeit und Tanz, Männer und Frauen, Meditation usw.). Damit umfasst das Spektrum der Themen denselben Bereich wie in der EB insgesamt. Er wird in den Akademien aber meist auf dem höheren Niveau universitärer Wissenschaft angeboten. Dazu kommt das Angebot von Studienreisen, öffentlichen Diskussionsforen, von Predigtreihen u.a. Die Akademien bieten eine einzigartige Möglichkeit der niveauvollen Information über bestimmte, meist aktuelle Themenbereiche, ferner der Begegnung mit aufgeschlossenen Menschen und einen oft intensiven Aus‐ tausch, für den es in der Gesellschaft heute kaum vergleichbare Orte gibt. Sie stellen einen der wertvollsten Aspekte kirchlicher Präsenz in der Öffentlichkeit überhaupt dar. Zusammenfassung Die kirchliche Arbeit mit Erwachsenen und älteren Menschen ge‐ schieht vorwiegend in Gruppen- und Einzelveranstaltungen. Sie hat eine Tendenz zur Betreuung und lässt oft zu wenig Platz für eigene 197 4 Kirchliche Akademien <?page no="198"?> Initiativen und Beteiligungen. Anspruchsvoll sind die Angebote der kirchlichen Erwachsenenbildung und vor allem der kirchlichen Akade‐ mien. Weit mehr noch sollte die kirchliche Arbeit mit Erwachsenen die Auseinandersetzung mit Lebensfragen und echte religiöse Kommuni‐ kation ermöglichen. Nur so bleibt sie öffentlich plausibel. Literatur Zu 2: R. Evers in U. Pohl-Patalong 2003, 203-219 - NHRPG II.4.8 - LexRP, Art. „Alte, Altenbildung“. Zu 3: NHRPG IV.4.4 - T. Bornhauser 2002 - LexRP, Art. „Erwachsenenbildung“ - J. Wolff in Adam/ Lachmann 2008, 381-411 - R. Rogell-Adam ebd. 425-449. 198 9 Kirchliche Arbeit mit Erwachsenen <?page no="199"?> Religionsdidaktik <?page no="201"?> 10 Grundfragen der Religionsdidaktik Eine deduktive, am Offenbarungsverständnis orientierte Weitergabe christ‐ licher Inhalte ist inzwischen kontraproduktiv geworden, für das Christen‐ tum ebenso wie für die Menschen. Sie wird als „von außen“ kommend verstanden und darum auf Distanz gehalten. Im Bereich der Religion, auch der geistigen Orientierung insgesamt, geht es grob gesprochen nicht mehr um „Wahrheit“, sondern um „Betroffenheit“. Das lässt sich als Folge der „Optionsgesellschaft“ (Kunstmann 1997) verstehen, deren kaum noch zu überblickende Angebote in allen Bereichen des Lebens zu einer Relativie‐ rung der Positionen führt. Man mag das als Verfall beklagen - kommt aber an dieser Veränderung des Denkens und der Einstellung religionsdidaktisch nicht mehr vorbei. Religiöse Gehalte müssen heute plausibel, d. h. möglichst unmittelbar einleuchtend sein. Wie werden sie das? Grundfrage der Religionsdidaktik ist heute: welche sind die Bedingun‐ gen, unter denen (christlich-)religiöse Gehalte überhaupt akzeptiert, für interessant befunden und möglicherweise übernommen werden? Welche Motivation führt eigentlich zu religiösem Lernen? Völlig unverzichtbar scheint da zumindest die unmittelbare Verbindung religiöser Gehalte zur individuellen Erfahrung und der Aufweis ihrer Bedeutung für das Leben. 1 Allgemeine Didaktik Didaktik als Teil der Pädagogik Die Didaktik umfasst alle Faktoren von Lern-, Unterrichtsbzw. Bildungs‐ vorgängen sowie deren mögliche Begründung und Verantwortung. Sie ist darum Bestandteil jeder Pädagogik und keineswegs nur Lehr-Kunst oder gar nur angewandte Methodik. Die Bedingungsfaktoren von Lehr- und Lernprozessen entscheiden darüber, ob Lernen gelingen kann. Zu ihnen gehören die beteiligten Personen (Lehrende und Lernende), die Inhalte bzw. Lernprozesse und deren Auswahl und Begründung, Lernziele, Methodik, Präsentationsformen und Unterrichtsführung. Eine nicht unterschreitbare Einsicht ist die „didaktische Reduktion“: Kein Lerninhalt kann eins zu eins aus dem Leben übernommen werden. Immer sind angemessene Vereinfa‐ <?page no="202"?> chungen und Darstellungsweisen zu überlegen, die ein sinnvolles Lernen ermöglichen. Didaktik gilt als „Theorie bzw. Organisation des Unterrichts“ oder, allge‐ meiner und umfassend, als „Theorie des Lehrens und Lernens“ - daher gehören zu ihr auch empirische, lerntheoretische, psychologische, neuro‐ biologische (usw.) Analysen und Reflexionen von Auffassungsvermögen, Lernvorgängen, Lehrformen und Lehrerverhalten, d. h. die Überprüfung und Optimierung des Lehrens und Lernens. Die „Fachdidaktik“ bezieht sich in der Regel auf ein bestimmtes schulisches Unterrichtsfach (Fachdidaktik Deutsch, Religion, Musik usw.). Sie geht im besten Fall davon aus, dass jedes Fach nicht nur eigene Inhalte, sondern auch spezifische Voraussetzungen und Möglichkeiten des Lernens aufweist. Allgemeindidaktische Positionen lassen sich unterteilen in ■ erziehungstheoretische Didaktik, die vor allem Erzieher, „Zögling“ und deren gegenseitiges Verhältnis reflektiert (den „pädagogischen Bezug“) ■ sozialisationstheoretische Didaktik, die an der Einweisung bzw. dem Hineinwachsen in Gesellschaft und Kultur interessiert ist ■ curriculare Didaktik, die sich als Lehrplantheorie versteht und von der zentralen Bedeutung der Lernziele ausgeht ■ lerntheoretische Didaktik, die (umfassend, aber auch etwas formal) die Bedingungen und die Operationalisierbarkeit (Überprüfbarkeit) von Lern- und Lehrvorgängen durch Lernpsychologie und Unterrichtsfor‐ schung reflektiert ■ bildungstheoretische Didaktik, die nach Wolfgang Klafki die gegensei‐ tige Erschließung von Subjekt und Welt-Wirklichkeit durch „Schlüs‐ selprobleme“ der Gegenwart im Sinne einer „kategorialen“ Bildung bedenkt, d. h. ein Lernen anhand exemplarischer, auf andere Fälle über‐ tragbarer und allgemein anwendbarer Einsichten. Diese didaktische Form wurde in der RP oft recht vorbehaltlos übernommen. Sie geht allerdings ganz offensichtlich von einem halbierten Bildungsbegriff aus, denn sie kann weder Kriterien für die Auswahl der Schlüsselpro‐ bleme angeben noch eine Begründung für Bildung durch rationales Problem-Denken noch bedenkt sie irgendwelche Motivationslagen. Zweifelhaft ist auch ihre Unterscheidung von formaler (charakterlicher) und materialer Bildung (Bildungs-„Stoffe“, die eigentlich nur Lernstoffe sind; → 17). 202 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="203"?> Alle diese Formen sind Variationen der didaktischen Grundfragen, die alle voneinander abhängen: Wer Schüler und ihre Interessen, Vorwissen, Motivation usw. Lehrer und ihre Vorlieben Was Gehalte, Themen, Problemstellungen, Erfahrungen, Prozesse Wozu Lernziele, Kompetenzen Wie Methoden, Verfahren, Kommunikation Didaktische Grundformen und Modelle Den folgenden didaktischen Grundformen lassen sich jeweils ausgearbeitete unterrichts-didaktische Modelle zuordnen: 1. Die Inhaltsorientierte Didaktik bedenkt „Bildungs-“Inhalte bzw. -gehalte, also Themenvorgaben und deren Vermittlung. Eine Überschreitung dieses Vorgabe-Denkens kann erst in einer „wechselseitigen Erschlie‐ ßung“ (Formel von Wolfgang Klafki) zwischen Inhalten und Lernenden, zwischen Objekt und Subjekt stattfinden. Die offene Frage, die zumin‐ dest durch Klafki bisher keine Antwort gefunden hat, ist dann, wie eine solche Erschließung eigentlich zustande kommen kann und was zu ihr motiviert. Das ist eine Frage, die sich nicht nur mit Methodik beantworten lässt. Das Vorgehen stellt die Lernenden nach wie vor vorwiegend als „Adressaten“ und Empfänger dar, lässt wenig Raum für Spontanität und die Entstehung von Bedeutungsbezügen. Ein Modell, das die genannte Problematik zu bearbeiten versucht, ist die bekannte Didaktische Analyse von Wolfgang Klafki. Sie gilt als „bil‐ dungstheoretische“ Didaktik, die eine verantwortliche Persönlichkeit anstrebt. Ihre Pointe liegt in der Vorstellung einer „kategorialen“ Bil‐ dung: fundamentale und elementare Kategorien des Denkens sollen zu einem verantwortlichen Verhältnis des Menschen zu seiner (vor allem sozialen und politischen) Umwelt führen. Klafki spricht vom „Bildungs‐ gehalt“, nicht vom Bildungsinhalt, der durch exemplarische Bedeutung, Gegenwartsbezug, Zukunftsbedeutung, Struktur gekennzeichnet ist 203 1 Allgemeine Didaktik <?page no="204"?> und bestimmte Zugangswege nahe legt. Das ist ein sinnvoller Schritt weg von der reinen Stoff-Orientierung früherer Zeiten. - Kritisch anzumerken ist, dass die Inhalte so vollständig funktionalisiert werden, dass ihre Eigenwertigkeit aus dem Blick gerät. Das ist besonders für die Religionsdidaktik problematisch; der gesamte Bereich von Kultur, Ästhetik und Religion ist bei Klafki denn auch ohne jede Bedeutung. Über die „Bildungs-Ziele“ bestimmen sicher nicht die Lernenden. Und über das, was als fundamental und elementar zu gelten hat, wird immer Uneinigkeit bestehen. Die Vorgabe von Stoff verlagert sich hier in die Vorgabe von Strukturen; die didaktisch entscheidende Frage, wie Gehalte Bedeutung für die Lernenden erhalten können, ist nicht reflektiert. 2. Die Lernzielorientierte Didaktik dreht darum das Vorgehen um und setzt die Betonung auf die Lernziele, also das Ende des Lernprozesses. Auch die Lernziele aber bleiben Vorgaben und werden nicht von den Lernenden gemacht. Insofern entkommt auch diese didaktische Form nicht einem deduktiven Denken, bei dem immer bereits feststeht, was beim Unterrichten herauskommen soll, in diesem Fall „vom anderen Ende her“. Die „kategoriale“ Didaktik Klafkis und ihre Weiterführung zur „kri‐ tisch-konstruktiven“ ließe sich auch hier zuordnen, da sie am Lernziel „Kritikfähigkeit“ sowie an der von Klafki stark betonten „Selbstbestim‐ mungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit“ orientiert ist. Lernzielorientiert ist vor allem die Curriculare Didaktik (nach S.B. Robinsohn). Sie geht von der Priorität der Frage nach der Anwend‐ barkeit des gelernten Wissens aus und nennt als übergreifendes Ziel jeden unterrichtlichen Lernens die „Ausstattung zum Verhalten in der modernen Welt“. Das erfordert bestimmte Qualifikationen. Der Weg zu ihnen führt über Lernziele, die den Unterrichtsinhalten vorgeordnet und in curricularen Spalten-Lehrplänen verankert sind. - Auch hier zeigt sich der Versuch, von traditionslastigen Stoffvorgaben und The‐ menstellungen weg zu kommen. Auch übergreifende Lernziele bleiben aber eine Vorordnung; auch hier besteht die Gefahr einer Verzweckung der Inhalte. Man hat diesem Modell darum einen „Lernzielfetischismus“ vorgeworfen. 3. Die Lerntheoretische Didaktik wendet sich vom deduktiven Vorga‐ ben-Denken ab und beschreibt die faktischen Vorgänge beim Lehren und Lernen inklusive ihrer Voraussetzungen (Was geschieht in Unter‐ 204 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="205"?> richtssituationen, was bleibt „hängen“, wie wird Lernen vom Verhalten der Teilnehmenden beeinflusst, von ihren Voreinstellungen usw.? ). Dazu nimmt sie wissenschaftliche Erkenntnisse über das Lernen auf (Lerntheorien, Lernpsychologie). Sie ist eher pragmatisch am Verfahren und an Methoden interessiert und betreibt empirische Unterrichtsfor‐ schung. Lerntheoretisch argumentiert z. B. das Berliner Modell. Es geht von ei‐ ner Gleichwertigkeit der vier didaktischen Grundfaktoren Intentionen (Absichten, Lernziele), Inhalte, Methoden und Medien aus und bedenkt jeweils die soziokulturellen und anthropologischen Voraussetzungen, sowie die soziokulturellen und anthropologischen Folgen von Lehr- und Lernprozessen. Damit nimmt es die Lernenden aus dem Fakto‐ ren-Gefüge heraus und stellt sie zentral. - Hier liegt ein pragmatisch orientiertes Modell vor, das einen sinnvollen Einbezug der grundlegen‐ den Bedingungs-Faktoren und der Folgen bei Lehr- und Lernprozessen vornimmt. Es bleibt allerdings etwas unbestimmt. Problematisch ist auch die behauptete Gleichrangigkeit von Methoden und Medien mit den Inhalten und Intentionen. 4. Die Kommunikative Didaktik geht von der grundlegenden Bedeutung der personalen Faktoren aus, also der Interdependenzen und komplexen Zusammenhänge bei allen Lehr- und Lernvorgängen. Sie ist darum der pädagogischen Wirklichkeit besonders angemessen. Sie stellt die beteiligten Personen in den Vordergrund. Ihr zentrales Interesse gilt den Interaktionen bei Lernvorgängen. Sie bedenkt neben den Inhalten auch die Lernatmosphären usw. Das Hamburger Modell, eine Weiterentwicklung des curricularen, geht von einer Partnerschaft der beteiligten Personen aus, also im Unterricht von Lehrer und Schüler. Inhalte und Lernziele werden zusammenge‐ sehen, Unterricht gilt als Raum für Erfahrungen. - Das ist eine sehr sinnvolle Aufnahme neuerer pädagogischer, psychologischer und kom‐ munikationstheoretischer Einsichten; Lehr- und Lernprozesse sind als Interaktionen zwischen Personen und Themen beschrieben, die zu Be‐ deutungserfahrungen führen sollen, an denen immer auch Emotionen beteiligt sind. 5. Die neuere Konstruktivistische Didaktik (→ 3.6) betont die Selbstorga‐ nisation allen Lernens und geht vom subjektiv je eigenständigen Aufbau von Wirklichkeitsverstehen aus. Lehren ist darum dann sinnvoll, wenn Lehrende Lernumgebungen schaffen, die zu solchen eigenständigen 205 1 Allgemeine Didaktik <?page no="206"?> Aneignungen Anlass geben. Kommunikation und das Aushandeln von Bedeutungen erhalten einen wichtigen Stellenwert. - Hier sind wichtige didaktische Aspekte des Lehrens und Lernens berücksichtigt, wenn‐ gleich gegenüber der Eigenständigkeit der Weltkonstruktion die Objek‐ tivität sinnvoller Lerngehalte allzu sehr zurückgenommen scheint. Die Modelle zeigen eine deutliche Tendenz weg von Deduktion (feste Vorga‐ ben) hin zu einer Reflexion, die den komplexen Interaktionszusammenhän‐ gen des Unterrichtens und Lernens und seiner begleitenden Umstände und Bedingungen gerechter zu werden versucht. Sie spiegeln die grundlegende Einsicht: Lehren ist nicht Lernen! Was „ankommt“, ist oft etwas ganz anderes als das, was intendiert war. Lernen ist sehr viel eher (eigene) Konstruktion statt Instruktion (erzieherische Unterweisung). Darum muss jeder Unter‐ richt so induktiv wie irgend möglich verfahren, d. h. Erschließungswege bereitstellen. Speziell für den schulischen Fachunterricht gilt: Die „andere Aufgabe“ der Schule wird immer wichtiger; neben Information und Wissensvermitt‐ lung muss die Ermöglichung von Erfahrung, Orientierung, Kommunika‐ tionsfähigkeit und Lebensfähigkeit treten. Fachliches Spezialwissen und Informationsvermittlung stehen dem eher entgegen. Jede Fachdidaktik muss darum vor allem die Perspektive der Lernenden und ihrer Erfahrungswelt einnehmen. 2 Kompetenzorientierung Auf Vorgaben der Kultusministerien wurden unlängst sämtliche Schul- und Hochschulgehalte bestimmten, für alle Fächer je eigens ausgehandelten Kompetenz-Zielen unterstellt. Kompetenzen sind Befähigungen, die Wissen, Beurteilungsfähigkeit und ein „versiertes“ Verhalten („Sich-bewegen-Kön‐ nen“ in etwas) mit einer grundsätzlich interessierten Haltung (Einstellung) zusammenschließen. Sie sollen sich aus bestimmten Bildungs-Standards er‐ geben, die die alten, allzu oft wirkungslosen und in der Praxis unbeachteten Lehrpläne ersetzen und der in den PISA-Ergebnissen sichtbar gewordenen Bildungsmisere aufhelfen. Standards und Kompetenzen sind ergebnisorien‐ tiert, verzichten also auf eine inhaltliche Festlegung. Der Kompetenzbegriff ist eine kultusbürokratische Sollens-Vorgabe, die zu einem erstaunlich eilfertigen Nachsprechen nahezu aller Pädagogen und 206 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="207"?> einer inzwischen inflationären Verwendung geführt hat. Kaum reflektiert wird, dass es sich hier um ein ökonomisches Denken handelt, das am Output interessiert ist, und entgegen der Behauptung nicht an den Lernenden. Kompetenzen werden verordnet; sie sind für alles passend zu haben; und in der Praxis haben sie nahezu keine Bedeutung - man unterrichtet wie bisher, fügt aber verschämt irgendwelche vorgegebenen Kompetenzziele an: „Diese Richtlinien lassen sich mit Sollerfüllungsansprüchen vergleichen, wie sie die Planwirtschaft des untergegangenen Ostblocks kannte: Alles steht nur auf dem Papier. Man weiß, dass man sich gegenseitig belügt.“ (Halbfas 2012, 116) Mit der inhaltlichen Beliebigkeit zeigt sich so wie überall ein Verlust der Würde des Vorgegebenen zu Gunsten von verfügbaren und schnell abrufbaren Funktionen. Und es zeigt sich auch noch einmal der Abschied von der alten, auf die Entfaltung der Person bezogenen Bildungsidee (→ 17): Standards arbeiten einer Pauschalisierung zu und stellen sich in krassen Gegensatz zur allenthalben diagnostizierten Individualisierung (→ 15), der man so pädagogisch gerade nicht gerecht wird - ohne dass dieses Problem aber irgendwo breiter diskutiert würde. Standards und Kompetenzen sind an individuellen Verarbeitungsweisen und Positionierungen gar nicht interes‐ siert. Die eigentliche Idee der Kompetenzziele ist ein Abstandnehmen von bloßer Wissensvermittlung - die in Schule und Hochschule aber immer weiter vorangetrieben wird. Religiöse Kompetenz müsste also immer zweiseitig sein: einerseits als Verstehen religiöser Traditionen, Symbole und Kommunikationsformen auf Seiten der religiösen Kultur, andererseits als religiöse Wahrnehmung, religiöses Erleben und religiöse Entwicklung auf Seiten der Subjekte. Die Expertengruppe des Comenius-Instituts, deren religionspädagogische Kompetenzziele in der RP immer wieder genannt werden, formuliert als prinzipielle Grundkompetenz, „sich in der sozialen Wirklichkeit von Reli‐ gion(en) zurechtfinden zu können“ (Fischer / Elsenblast 2006, 14) - und eben typischerweise kein religiöses Selbst- und Wirklichkeitsverständnis. Auch Kompetenzen schützen also nicht davor, Religion nur als Sachgegenstand zu behandeln. Echte religiöse Kompetenz - wenn man diesen sehr technisch gebrauchten Begriff denn verwenden will - wäre ein Verständnis für die Aussagen- und Vollzugslogik der Religion, also für ihre symbolischen Codes und für ihre performativen (=prozesshaften) Kommunikations- und Darstel‐ lungsformen, die sich letztlich nur in der eigenen prozessualen Beteiligung und der eigenen Inszenierungsfähigkeit erschließt. 207 2 Kompetenzorientierung <?page no="208"?> Religiöse Kompetenzen werden in der Kirche und bei ihren Mitarbeitern vermutet - dort aber oft nicht vorgefunden. Hier gibt es eher theologisches und kulturhistorisches christliches Wissen. Volker Drehsen hat das zu dem skeptischen Buchtitel „Wie religionsfähig ist die Volkskirche? “ veranlasst (1994). Insofern ist eine Reflexion religiöser Kompetenzen bei allen genann‐ ten Einschränkungen grundsätzlich sinnvoll. Religion (ähnlich wie Ethik und Kunst) sperrt sich aber aus sachlogischen Gründen gegen Kompetenzformulierungen. Da sie zentral um Unverfüg‐ barkeit kreist, stellt sie jeden „Output“ gerade in Frage. Sie führt eher zu einem erweiterten Bewusstsein und stellt daher oft mehr Fragen als sie „Fertigkeiten“ vermittelt - existenzielle Fragen, bei denen es operatio‐ nalisierbare Fähigkeiten kaum geben kann. Der Begriff Kompetenz ist deshalb so, wie er heute gebraucht wird, für religiöses Lernen nur sehr bedingt geeignet. Er eignet sich dafür, Zielhorizonte anzugeben und eine gewisse Überprüfbarkeit zu gewährleisten, nicht aber durch Erziehung und vorgegebene Autorität direkt anvisierbare und überprüfbare „Ergebnisse“ religiösen Lernens zu kennzeichnen (→ 2.2; 7.1,3). Daher wäre weit besser von religiöser Bildung (→ 17) zu sprechen, vorausgesetzt, man versteht unter Bildung nicht (berufliche) Ausbildung, sondern die Entfaltung der Person. Solche religiöse Bildung wäre zunächst ein generelles Interesse an Religion, das als bereichernd erlebt wird. Denn „Bildung geschieht überall, wo der Dunstkreis des eigenen Lebens verlas‐ sen wird“ (Theißen 2003, 31). Religiöse Bildung wäre also zunächst nur das Interesse an den oft fremden Perspektiven religiöser Gehalte und Sichtweisen, und die Fähigkeit und Motivation zu einem entsprechenden Perspektivenwechsel. Es wäre die Neugier darauf, die Welt mit anderen Augen sehen zu lernen. Insofern ist Religion ein herausragendes Bildungsmedium: Sie macht die Weise der Weltsicht selbst zum Thema. 3 Spezifika der Fachdidaktik Religion Religionsdidaktik und Allgemeine Didaktik „Didaktik ist keine angewandte Kunst, sondern gründet in der Struktur der jeweils zu erschließenden Sache.“ (Halbfas 2012, 220) 208 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="209"?> Das ist Problem, Chance und didaktisches Strukturprinzip religiösen Ler‐ nens gleichermaßen: Nur wenn Religion als symbolische Lebensdeutung verstanden ist, als ein tiefes Erleben, das ohne persönliche Beteiligung gar nicht denkbar ist, ist die Religionsdidaktik bei ihrer Sache. Religion transportiert kein Faktenwissen! Fakten und historische Begebenheiten sind in ihr immer nebensächlich (→ 2.2) Religion ist neben der Sexualität der per‐ sönlichste Lebensbereich überhaupt. Religionsdidaktik kann darum nicht (mehr) als „Vermittlung“ christlicher Traditionen oder als „Anwendung“ theologischer Reflexionseinsichten betrieben werden. Sie muss induktiv vorgehen und einen Erschließungsweg anbieten: zeigen, hinweisen, ansto‐ ßen, teilnehmen lassen, neugierig machen, zur Selbstdeutung und einer entsprechenden Kommunikation anleiten. In der Religionsdidaktik (vgl. auch → 7.3) wurden bisher allgemeindidak‐ tische Modelle weitgehend kritiklos übernommen. Dabei gerät aber immer wieder die spezifische Eigenheit der Religion aus dem Blick. Das war etwa in der flächendeckenden Rezeption der curricularen Didaktik der Fall; da wurde kaum beachtet, dass die Curricula mit ihrer betonten Frage nach dem überprüfbaren Nutzen von Unterrichtsinhalten die Religionsdidaktik eigentlich in ihrem Selbstverständnis herausfordern müssen. Ähnliches gilt für die problemorientierte und die kompetenzorientierte Erschließung: Religion, die vor allem Bewusstwerdung und „Feier des Lebens“ (Fulbert Steffensky) ist, lässt sich nur sehr begrenzt als „Problembereich“ einstufen und rational erschließen: „Eine Didaktik des Religionsunterrichts an öffent‐ lichen Schulen wird sich davor hüten müssen, ihre Aufgaben aus vermeint‐ lichen Schlüsselproblemen abzuleiten und auf diese hin die Kompetenzen zu definieren, die durch Religionsunterricht zu vermitteln sind“; dagegen müssen die „Möglichkeiten und Grenzen des religiösen Weltverhältnisses“ im Zentrum stehen - das muss sich die Religionsdidaktik vom Pädagogen Dietrich Benner (Benner in: Battke 2002, 69) sagen lassen! Religionsdidaktisch zentral ist die Eigenart und Eigenwertigkeit religiöser Phänomene und die ihnen zu Grunde liegende spezifische Erfahrungsqualität. Die Religionsdidaktik muss einen Sinn für Religion entwickeln. Religiöse Gehalte lassen sich weniger als alle anderen fachlichen Gehalte als „The‐ men“, „Inhalte“, „Stoffe“ oder „Probleme“ begreifen; leider fällt die religiöse Lehre aus naheliegenden Gründen immer wieder in dieses schlichte und unpassende Schema zurück, benutzt weitgehend unreflektiert dogmatische Sprache und transportiert lediglich christliche Traditions-Stoffe. Religion wird dann faktisch als Stoffsammlung religiöser Niederschläge und Kultur 209 3 Spezifika der Fachdidaktik Religion <?page no="210"?> betrieben. Man kann aber auch Kunst nicht durch bloße Kunst-Geschichte oder Kunst-Theorie lehren, sondern man versteht sie nur, wenn das Studium von Kunstwerken übergeht in eigene künstlerische Produktivität; und man kann Englisch nicht verstehen, wenn man es selbst nicht spricht. Ganz genauso würde religiöses Lernen zur Religionskunde und zur Theologie, wenn sie nicht sich in ihrer spezifischen Weltsicht erschließt. Religionsdidaktik hat daher Perspektiven zu bearbeiten, nicht Inhalte (→ 3.7). Es muss klar werden, dass Religion eine eigene Logik, Performanz und Sprache hat: eine symbolische, nicht eine der Faktenbeschreibung. Andernfalls liefert man gegen die eigene Absicht Religion unter modernen Verstehensbedingungen der Unglaubwürdigkeit aus. Religion hat einen eigenständigen und nicht auflösbaren Weltzugang (→ 2.2). Entscheidend für ihre didaktische Erschließung sind Fragen wie: was ist die „Logik“ von Religion, also ihre spezifische Weltsicht, Darstellungs- und Kommunikati‐ onsweise? Warum gibt es sie, wie funktioniert sie - insbesondere: wie geschieht religiöse Deutung, wie religiöse Kommunikation? , was sagt sie aus? Das ist etwas sehr anderes (und auch Anspruchsvolleres) als Glaubens- oder religiöses Stofflernen. Weder Belehrung noch bloßes Faktenwissen, und erst recht kein übernatürliches Sonderwissen wird dem gerecht, son‐ dern nur ein innerer Nachvollzug, eine (freibleibende! ) innere Beteiligung und Selbsttätigkeit. Virulent werden diese religionsdidaktischen Besonderheiten angesichts verbreitetem religiösen Analphabetismus und massiver religiöser Vorur‐ teile. Bernhard Dressler hat das Christentum bereits als „Fremdreligion“ im eigenen Kulturbereich bezeichnet; Religion gilt weitgehend als überholte Kulturdimension. Ein sinnvoller Diskurs über Religion scheint da kaum noch möglich. Zuerst einmal muss das Phänomen Religion im Sinn einer bedeutsamen Lebensdimension erschlossen werden. Unverzichtbar ist dafür ein Wissen um das heutige genetische, perspek‐ tivische und psychologische Denken (→ 16.2); ferner die Unterscheidung eines magischen, mythischen und rationalen Denkens innerhalb der Religi‐ onsentwicklung, wie sie Hubertus Halbfas vorgenommen hat. Magisches Denken gehört in den Bereich der archaischen Religion, das seine Spuren im Alten Testament hinterlassen hat und bis heute wirkt (Abraham meint seinen Sohn opfern zu müssen; Rebekka nimmt ihre Hausgötter mit auf die Flucht; die katholische Wandlung macht das Brot zum leibhaftigen Christus usw.). Das mythische Denken und Verstehen ist nur scheinbar überholt. Es hat in der modernen Philosophie einen hohen Stellenwert und ist bleibend 210 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="211"?> die Sprache der Religion (→ 2.2). Diese drückt sich in Bildern, poetisch, symbolisch aus, da sie wesentlich Bedeutungsgehalte transportiert. Diese lassen sich nicht in rationales Denken überführen. Für die Darstellung und Mitteilung von Gefühlen, Erlebnissen und tieferen Einsichten, sind bildhaft-mythische Vorstellungsbilder bleibend unverzichtbar. Das rationale Denken schließlich ist die Grundlage des vorausschauenden Planens und der differenzierten Analyse, etwa der der Theologie. Es liegt der modernen Technik und Wissenschaft zu Grunde. Für Lebensfragen ist es allerdings denkbar ungeeignet. Der große Hirnforscher Antonio Damasio meint, es sei entstanden, um das emotionale System vor Übererregung zu schützen. Das ist eine plausible Einschätzung: Vernunft kann das eigene Gefühl beobachten und relativieren. Alle wirklich wichtigen Dinge und Entscheidungen im Leben aber sind untrennbar mit Gefühlen verbunden. Religionsdidaktik und Theologie (→ 7.2-3) „Die Religion wird heute primär über ‚Begehung‘ gelernt.“ (Bizer 1995, 183) - „Grundlegend für diesen Vorschlag [der Begehung] ist die Einsicht, daß Religion nur am Gegenstand ihres Lebensvollzuges wahrgenommen und auch gelernt werden kann.“ (Gutmann 2000, 233) Exegetische Spezialuntersuchungen und kirchenhistorische Analysen las‐ sen sich ebenso wenig auf Unterrichtsprozesse übertragen wie dogmatische Inhalte. „Deduktiven Theologieentwürfen wird da vorgeworfen, durch ihr statisches Verständnis von Offenbarung, Glaube und Lehre in einem un‐ billigen Positivismus, der niemandem hilft, erstarren und im Grunde zur Ideologie ohne Lebensbezug verkommen zu lassen“ (Wegenast in Adam/ Lachmann 21994, 395) - wenn denn der Vorwurf überhaupt noch erhoben wird und nicht bereits bloßes Desinteresse herrscht. Die Aufgabe der Theologie ist um der internen Klärung willen unverzichtbar, theologisches Denken taugt aber nur wenig für religiöse Didaktik. Die Religionsdidaktik hält hier der eigenen Disziplin den Spiegel vor: Der massive Geltungsverlust der Theologie ist durch einen Erfahrungsverlust bedingt, der die Bedeutung theologischen Denkens für das Leben aus dem Blick verloren hat. Theologie darf kein Glasperlenspiel interner Selbstklärungen sein, sondern muss sich am konkreten Leben orientieren. Entsprechend darf Religionsdidaktik weder Abbilddidaktik noch „Resul‐ tatsdidaktik“ (Dietrich Zilleßen) sein, also nicht deduktiv verfahren. Was 211 3 Spezifika der Fachdidaktik Religion <?page no="212"?> Christentum bedeutet, wird nicht durch Reflexion der dogmatischen Trini‐ tätslehre gelernt, sondern durch den Austausch existenzieller Erfahrungen, die auf die Bilder, Symbole und Lehren der christlichen Religion bezogen werden. Aus dem konstitutiven Bezug der religiösen Gehalte zur Lebenswelt, der für religiöses Lernen ebenso gilt wie für Predigten und theologische Erkenntnisse, ergeben sich gewichtige religionsdidaktische Folgerungen: Religiöses Lernen kann weder theologisch noch kirchlich, sondern muss pädagogisch, d. h. bildungstheoretisch begründet sein. Es muss also der Ent‐ faltung und Lebensfähigkeit von Menschen zufließen. Das gilt für alle Orte der RP, nicht nur für die Schule, und ist selbst für die Gemeindepädagogik anzunehmen. Die „Hermeneutik des schon gegebenen und des noch zu suchenden Einverständnisses“, die Karl-Ernst Nipkow unterschieden hatte, lässt sich keineswegs so leicht auf Kirchenzugehörige und „die draußen“ aufteilen - sie geht längst auch durch jeden einzelnen Christen hindurch. Niemand ist ohne Zweifel und Fragen; Einverständnis wird heute generell nicht mehr absolut und für immer erteilt, sondern situationsabhängig, auf Zeit, und wird immer wieder überprüft (→ 14.5, 15). In einer nachchristlichen Gesellschaft, in der Christentum und Religion nicht mehr selbstverständlich und schon gar nicht mehr verbindlich sind, kann religiöses Lernen keine Einweisung in bestehende religiöse Bestände mehr sein. Sonst würde ein religiöses Getto, zumindest ein Privatbereich mit Vereinscharakter entstehen. Verbindliche Wahrheitsansprüche werden heute nicht mehr übernommen, sondern auf Distanz gehalten: „Schön für dich! “ Sie sind relativ geworden und abhängig von Erfahrung, Einstellung und Interessen. Das bedeutet keineswegs, dass nicht mehr von Wahrheit die Rede sein darf. Sie muss aber als Angebot einer nicht nur fachlich, sondern auch persönlich erfahrbaren Position ausgewiesen sein. Die Religionsdidaktik muss von der grundlegenden und für alle Bereiche religiösen Lernens gültigen Annahme ausgehen, dass die spezifische Logik der Religion, ihre symbolische Kommunikation, ihre Sicht des Lebens und ihre Vollzüge (religiöse Bilder, Symbole, Mythen, Sprache, Räume, Rituale usw.) wichtiger sind als biblische, kirchenhistorische und dogmatische In‐ halte. Es sind nicht primär Inhalte (Texte, Themen, Problemstellungen usw.), die zur Religion hinführen, sondern sinnlich erfahrbare Atmosphären und Vollzüge; noch mehr aber sind es die Vollzüge eigener Existenzdeutungen. Der Schlüssel der Religionsdidaktik sind religiöse Evidenzen. Dazu ist Religi‐ onsdidaktik auf gute religiöse Praxis angewiesen, also auf spirituelle Praxis, 212 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="213"?> liturgische Vollzüge, religiöse Kommunikation usw., die sie wenigstens andeutungsweise selbst inszenieren sollte (→ 3.7, 11, 18). Prägung, Vorbild, Erfahrung und potentielle Religiosität Wann werden religiöse Gehalte und Vorstellungen eigentlich übernommen? Immer wieder wird gesagt, die Lehrenden müssten Vorbilder sein. Vorbilder dienen nach wie vor der Orientierung und der Identitätsfindung. Grund‐ legend verändert hat sich allerdings die Auswahl und die Übernahme von Vorbildern, die früher automatisch erfolgte, wenn ein Vorbild etwas Heldenhaftes hatte, eine Autorität darstellte oder eine wichtige Rolle für die Gemeinschaft übernahm - also Kämpfer, Feldherren, Könige, Menschen mit humaner Tätigkeit usw. Längst werden Vorbilder heute nicht mehr durch Würde oder soziale Funktionen bestimmt, sondern nach emotionalen und stilistischen Kriterien, also: nach privaten Interessen. Faktische Vorbilder sind vor allem die Eltern, die Nestwärme und Zugehörigkeit verbürgen sollen, und Figuren aus den Medien, vorwiegend Stars der Popmusikszene, Schauspieler, Models und Influencer. Sie verkörpern Reichtum, Ansehen und Selbstsicherheit. Vorbilder sind also nicht mehr Menschen, die die Welt bewegen, sondern die für die eigene Selbstdarstellung und Entwicklung attraktiv sind. Sie sind stark individualisiert. Sie haben keine moralische Funktion mehr, und entgegen der vorherrschenden Meinung ist auch „Glaubwürdigkeit“ eher eine allgemeine Bedingung der Akzeptanz, aber kaum besonders attraktiv. Authentizität (man selbst sein, selbstbewusst auftreten usw.) wird vorausgesetzt. Was aber vorwiegend interessiert, ist die pragmatische Übernehmbarkeit ins eigene Leben. Vorbilder dienen also nicht mehr als Repräsentanten kollektiver Werthaltungen, Handlungsmuster, moralischer, ethischer oder weltanschaulicher Verbindlichkeiten, sondern der konkreten privaten Lebensbewältigung. Darum sind vor allem Stilisierungen, Formen des Auftretens und des Ausdrucks, Zugehörigkeitsmotive und Gefühlserzeu‐ gungen attraktiv. Dafür passen Heilige, biblische Figuren oder Reformatoren nur noch sehr bedingt. Man wird davon ausgehen dürfen, dass religiöses Lernen in hohem Maße implizit erfolgt, durch (frühe) Prägung (→ 4.1-2, 13.2), durch Nach‐ ahmung, durch Lernen am Modell - wenn die vorgeführten Anlässe denn atmosphärisch stimmig und emotional passend erscheinen. Wir haben bereits gesehen, dass das bei Kindern aufgrund von deren „mythischem“ 213 3 Spezifika der Fachdidaktik Religion <?page no="214"?> Verstehen (→ 4.2) noch weitgehend automatisch der Fall ist, wenn religiöse Feste, Figuren, Geschichten, Räume usw. überhaupt angeboten und gezeigt werden. Bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen muss die Religionsdidaktik die Art der Präsentation und Inszenierung religiöser Gehalte immer mitbedenken. 4 Kann man Religion lehren und lernen? Aus theologischen Gründen ist Glaube nicht lehrbar. Er ist Sache der Gnade und des Hl. Geistes, also Gottes freie Zuwendung, und er lässt sich weder durch guten Willen noch durch „Werke“ erreichen - nicht durch gute Taten und Wohlverhalten, nicht durch religiöse Praxis, nicht einmal durch besondere Frömmigkeit. Glaube ist unverfügbar. Das ist auch psychologisch nachvollziehbar: Glaube als Haltung des Vertrauens kann man nicht selbst herstellen. Gilt das aber auch für die Religion überhaupt, zu der der Glaube gehört? Und was ist dann Sinn und Zweck der „RP“, vor allem der Religionsdidaktik? Gegen das theologische Argument steht die Einsicht, dass es ja schon immer eine christliche Lehrpraxis gab. Die Weitergabe der christlichen Überlieferung machte von Anfang an die selbstverständliche Annahme: Glauben ist lehrbar; selbst im Auswendiglernen von Glaubenssätzen sah man lange kein besonderes Problem. Heute gesellt sich zu dieser alten Annahme noch ein ganz anderes Argument: Glauben kann immer nur unter den kulturell gebräuchlichen Zeichen (Sprache, Symbole, Ausdrucksverhal‐ ten usw.) kommuniziert werden, also in der Gestalt von Religion. Zu dieser sichtbaren Religion aber kann erzogen werden. Nicht eigentlich aus einem theologischen, sondern aus einem subjek‐ tiv-religiösen Grund hatte Schleiermacher noch in seinen „Reden“ einen (schulischen) Unterricht in Religion abgelehnt (was er später allerdings revidiert hat): „Aus dem Innersten seiner Organisation aber muß alles hervorgehen, was zum wahren Leben des Menschen gehören und ein immer reger und wirksamer Trieb in ihm sein soll. Und von dieser Art ist die Religion … Alles, was, wie sie, ein Kontinuum sein soll im menschlichen Gemüt, liegt weit außer dem Gebiet des Lehrens und Anbildens. Darum ist jedem, der die Religion so ansieht, Unterricht in ihr ein abgeschmacktes und sinnleeres Wort.“ (Schleiermacher 1981, 294) 214 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="215"?> Religion, auch und gerade die christliche, ist ein umfassendes, existenzbet‐ reffendes Gefühl, eine Anschauungshaltung, ein emotionales Bewusstsein. Das kann nicht Gegenstand einer Lehre sein. Es ist eine Grundeinsicht der RP, dass Religion nicht per Lehrsatz oder Bekenntnis weitergegeben werden kann. Denn so wird Religion in unangemessener Weise reduziert, ja eigentlich verzerrt. Lebendige, inspirierende Religion zeigt sich im Vollzug von symbolischen Deutungen und rituellen Prozessen. Religion erschließt sich also nur in einem Gespür für symbolische Wahrheit und Performanz (→ 11.5) Trotz deutlicher Bezugnahme auf Schleiermacher vertrat der liberale Religionspädagoge Richard Kabisch aus diesem Grund die gegenteilige Position. Sein Buch „Wie lehren wir Religion? “, 1910 erschienen und bis 1931 in sieben Auflagen verbreitet, wurde zu einer Art gehobenem Standardwerk, das für mehrere Jahre die RP bestimmte. Das Kind stand im Mittelpunkt des Interesses. Kabisch war pädagogisch ausgerichtet und kritisch gegen die Kirche als Institution eingestellt. Sein zentrales Anliegen: die erfahrene Religion und die innere „Phantasiereligion“ der Lernenden dürfen nicht auseinanderfallen! Religion war hier ähnlich wie bei Schleiermacher als (erhebendes) Gefühl verstanden. Gefühle aber sind durchaus lehrbar: „Es sollte eigentlich etwas Selbstverständliches sein: Vorstellungen lehrt man durch Darstellung seiner Vorstellungen, Gefühle durch Darstellung seiner Ge‐ fühle.“ (Kabisch 1910, 50) Lehren ist mehr „als bloßes Gedankenübertragen“ (ebd. 59). Darum kann auch Religion gelernt werden, die Grenzen sind hier die des allgemeinen Lernens. Die religiöse „Anlage“ jedes Menschen ist durch Erlebnisse zu stimulieren, zu entwickeln und zu fördern. Auch Vorstellungen sollen in Gefühle überführt werden! Dazu ist die Phantasie anzuregen als Vermitt‐ lungsinstanz, was vor allem durch emotional spannende religiöse Erzählung geschieht. Dieser Ansatz nimmt (lern-)psychologische Erkenntnisse auf und ist darin religionsdidaktisch geradezu vorbildlich. Objektive Religion soll subjektive erzeugen. Man wird also sagen können: Religion ist lehrbar, allerdings nur in einem begrenzten Maße: als Wissen um Inhalte, um Formen und Einstellungen (Lehre, Dogmatik, Geschichte, Symbole, Weltsicht usw.), um Formen der Inkulturation (Kirchenbauten, religiös begründete Kunst, Sprachformen, Rechtsauffassungen usw.), und als religiöse Verhaltensweise (Bräuche, Ri‐ 215 4 Kann man Religion lehren und lernen? <?page no="216"?> ten, Haltungen usw.). Nicht oder nur sehr begrenzt lehrbar ist Religiosität als innere Einstellung und als Form von Bewusstheit. Die Unverfügbarkeit religiöser Lern- und Bildungsprozesse muss man also grundsätzlich im Blick behalten. Sie sind nicht direkt lehrbar - aber anstoßbar! Ähnlich wie auch Gefühle gelernt werden - vgl. die Prägungen in der frühen Kindheit - ist Religion immer auch gelernt; sie geht in dem Gelernten aber nie auf. Der Anstoß muss also erfolgen, und zwar passend, wahrnehmbar, verarbeitbar. Allerdings wird religionsdidaktisch entscheidend immer das bleiben, was sich einem planbaren und operatio‐ nalisierbaren Lehren und Lernen letztlich entzieht. Religion wird in aller Regel angestoßen durch die Begegnung mit Religion. Wo keinerlei religiöses Wissen, Leben und Praxis bekannt sind, können kaum religiöse Identifika‐ tionen stattfinden. Auch Glaube ist kein unbeschreibbares und didaktisch im Niemandsland liegendes Wunder, sondern vollzieht sich „in, mit und unter“ (so Luthers einleuchtende Formulierung zum Abendmahlssakrament) dies‐ seitiger Materie und Erfahrung. 5 Korrelation und Elementarisierung Viele Jahrhunderte lang bestand das religiöse Lernen im Christentum in der Übernahme von Vorgaben; oft war es nichts anderes als Auswendigler‐ nen. Seit das katechetische Modell immer mehr in Begründungsnot geriet (→ 2.1), versucht die neu entstehende RP das religiöse Lernen im Sinne einer didaktisch geplanten „Vermittlung“ zu strukturieren. Die fortlaufende Individualisierung (→ 15) führt dann zur Idee der „Aneignung“ religiöser Gehalte durch die Subjekte, der eine plausible Religionsdidaktik zuarbeiten muss. Sichtbar wird hier das bleibende Grundproblem aller RP: die Frage nach dem Verhältnis und der Verschränkung von Tradition und Subjekt, also von Bibel, Bekenntnis, Lehre, Brauchtum, generell: von religiöser Kultur auf der einen Seite und von den Lernenden auf der anderen. Das Problem erhält seine Schärfe vor allem dadurch, dass die Niederschläge religiöser Kultur praktisch durchgehend vergangene sind, weshalb der Sammelbegriff „religiöse Tradition“ naheliegt (→ 16). In einer auf Erfolge, Selbstoptimierung, Wachstum, Projekte und Innovation - also: auf Zukunft hin - ausgerichteten Zivilisation erscheinen diese religiösen Traditionen automatisch als alt, veraltet und überholt. Da die Religion sich offensichtlich 216 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="217"?> in ihren Traditionen ausspricht und in diesen „zuhause“ ist, muss beim religiösen Lernen in irgendeiner Weise korreliert werden. Nur wie? Kontraproduktiv, allerdings in RU und Kirche leider sehr verbreitet, ist das, was man als schlechte Korrelation bezeichnen muss: Wenn bei einer existenziellen Frage oder bei der Schilderung einer Lebenssituation am Ende dann noch „die christologische Kurve“ genommen oder ein biblischer Inhalt angehängt wird, nach dem Motto: da gibt es übrigens eine christliche Parallele - die dann aber gar nicht mehr wirklich interessiert. Korrelation „Die Methode der Korrelation erklärt die Inhalte des christlichen Glaubens durch existentielles Fragen und theologisches Antworten in wechselseitiger Abhängigkeit.“ (Paul Tillich, Systematische Theologie Bd. 1, Stuttgart 1956, 74) Seit dem folgenreichen Beschluss der Würzburger Synode (1974), die sich am 2. Vatikanum orientierte, ist im katholischen Bereich die sog. Korrelations‐ didaktik eingeführt und bis heute das grundlegende religionspädagogische Modell geblieben. Sie wurde vor allem durch Georg Baudler entwickelt. Im Hintergrund steht die „Korrelationsmethode“ des großen evangelischen Theologen Paul Tillich, der die Vorgaben der christlichen Tradition als Antworten versteht, die ihre Bedeutung nur im Zusammenhang mit heute gestellten Fragen entfalten können und sollen. Christliche Antworten müssen sich auf Existenzfragen beziehen, da sie sonst nicht gehört und verstanden werden; umgekehrt müssen Fragen der Ausgangspunkt für religiöse Vorgaben sein. Diese Auffassung zieht eine deutliche Kritik und eine bestimmte Auswahl der „Antworten“ nach sich. Für die Korrelationsdidaktik wird „Erfahrung“ (→ 10.7) ein Schlüsselbe‐ griff; die Tradition ist Niederschlag von Erfahrung und soll in einen wech‐ selseitigen Austausch- und Befragungsprozess mit heutigen Erfahrungen und Fragen gebracht werden. Es geht um die Verschränkung von religiöser Tradition (biblische Texte, Bekenntnisse, Ereignisse der Kirchengeschichte usw.) mit heutigen Fragen und Interessen, von Glaube und Leben, Tradition und Situation, Tradition und Subjekt, die sich wechselseitige erhellen und kritisieren sollen. Manche der heutigen Fragen finden in der religiösen Tradition allerdings keinen konkreten Anhalt; z. B. gilt das weitgehend bei den Fragen nach dem Lebenssinn, nach der Lebensenergie, nach Isolation oder Selbstentfaltung. 217 5 Korrelation und Elementarisierung <?page no="218"?> Umgekehrt sind weite Teile der religiösen Tradition unverständlich gewor‐ den und für das moderne Leben kaum noch hilfreich, etwa die Idee einer jungfräulichen Geburt oder einer Erlösung von Sündenschuld. Daher gilt: Korrelation ist unverzichtbar. Nur im Ausnahmefall kann eine Erfahrung oder Frage für sich stehen. Korrelation führt die Religion allerdings ad absurdum, wenn heutige Erfahrungen und Fragen mit einer scheinbar allzeit gültigen Glaubenstradition verbunden werden sollen - oder wenn schlicht nur Parallelen aufgerufen werden, deren Bedeutung für das Leben heute nicht einleuchtet. Die Korrelation soll also nicht Wahrheiten transportieren, sondern hermeneutische Prozesse (durchaus im christlichen Geist; → 16.4) anregen. Eine weitere Grenze stellt die Frage nach der religiösen Erfahrung dar. Wo findet sie in der Korrelation eigentlich Rücksicht? Neben der heutigen Lebenswelt wurde darum als dritte Korrelationsgröße die „existenzielle Da‐ seinsdimension“ eingefügt. Aber es gibt auch eine praktische Grenze bei der Korrelation, nämlich den permanenten Rückfall in Traditions- und Stoffler‐ nen, da die Lehrenden sich da einfach gut auskennen, Stoffunterricht also schlicht einfacher ist als die Frage nach den Existenzerfahrungen von Lernen‐ den. Der Korrelationsgedanke steht darum praktisch wie grundsätzlich in der Gefahr, die Trennung zwischen Tradition und Situation/ Subjekten gerade zu verschärfen, statt sie zu überbrücken. Rudolf Englert hat denn bereits für einen „ehrenvollen Abschied“ von der Korrelationsdidaktik plädiert. Duale Zuordnungen (Tradition - Situation; Frage - Antwort usw.) unter‐ schreiten die Komplexität des didaktischen Problems. Weit angemessener erscheint darum ein prozessuales didaktisches Denken, das nach der Entste‐ hung von Einsicht, Erfahrung und Evidenzen fragt: Wann kommt eigentlich etwas „an“? Wann leuchtet etwas ein? Wann wird etwas so gelernt, dass es Folgen für das eigene Leben hat? Wann entstehen beim Subjekt religiöse Ideen, Strukturen, Haltungen? Hier besteht Nachholbedarf, denn die RP weiß wenig kompetente Antworten auf die hier gestellten Fragen zu geben. Korrelation ist religionsdidaktisch ein Erfordernis, dem nicht auszuwei‐ chen ist. Sie entspricht der Notwendigkeit der didaktischen Reduktion. Die Überforderung der Lernenden durch zu komplexe Darstellungen ist ein fachdidaktischer Kardinalfehler. Er führt dazu, dass Lernende gar nichts verstehen, blockieren oder demotiviert werden. Gleichzeitig stellt die Korre‐ lation aber das bleibende Grundproblem der RP dar: Ohne die Niederschläge der Religion in ihren Traditionen ist Religion nicht sichtbar; und ohne die existenziellen Fragen und Erlebnisse der Lernenden bleibt Religion toter 218 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="219"?> Stoff. Das aber kann gerade bei der Religion nicht überzeugen, die ja im Kern die Deutung grundlegender Lebensfragen betreibt. Nicht ob, sondern wie zu korrelieren ist, ist daher die entscheidende Frage der Religionsdidaktik. Elementarisierung Im Anschluss an Wolfgang Klafki, der für eine Bildung an „Kategorien“ und „elementaren Strukturen“ plädiert hatte, wird im evangelischen Bereich das Modell der Elementarisierung diskutiert und für die Unterrichtsvor‐ bereitung benutzt. Die Frage nach dem Elementaren hat didaktisch inspi‐ rierend gewirkt: Was ist das Ursprüngliche, Authentische, Anfängliche, Charakteristische, Unverzichtbare, und dann vor allem das Übertragbare eines Lerngehalts? So schien nicht nur eine Reduktion des immer mehr anwachsenden Wissens möglich zu werden, sondern so konnten komplexe Lernvorgänge auch einsichtig strukturiert werden. Elementarisierung bedeutet also die (immer notwendige) Konzentration auf das wesentlich Wichtige, das auch eine Aussage über grundlegende Strukturen und Aussagen macht. Sie folgt der Idee einer „wechselseitigen Erschließung“, die Wolfgang Klafki populär gemacht hat, die aber in der Bildungstheorie W. v. Humboldts (der pädagogisch wie religionspädago‐ gisch kaum rezipiert wurde; → 17.3) längst von grundlegender Bedeutung ist: möglichst vielfältige und nicht eingeschränkte Begegnungen mit der Wirklichkeit führen in einem sich gegenseitig verstärkenden Prozess zu persönlicher Entfaltung. Das Elementare kann religionsdidaktisch als das der Theologie verstan‐ den werden: Gott, Kirche, Bibel usw. sind wichtige christlich-religiöse Elemente. Ebenso ist deutlich, dass es auch elementare Fragen gibt: Existiert Gott? Warum gibt es Leid? Was geschieht nach dem Tod? Elementarisierung muss also als wechselseitige Erschließung konzipiert werden, entsprechend dem Korrelationsgedanken. Beide Seiten werden nun aber so differenziert, dass sich vier Faktoren gegenüberstehen. Das „Tübinger Modell“ von Karl-Ernst Nipkow und Friedrich Schweitzer unterscheidet elementare ■ Erfahrungen (Biblische Erfahrungen, Schülererfahrungen, Relevanz für die Lernenden usw.), ■ Strukturen (Kategorien der Tradition, des Verstehens, das „grundlegend Einfache“, die sachgemäße Konzentration aufs Wesentliches, das mit Hilfe der Fachwissenschaft geklärt wird), 219 5 Korrelation und Elementarisierung <?page no="220"?> ■ Zugänge (vor allem entwicklungspsychologische Lernvoraussetzungen und angemessener Zeitpunkt) und ■ Wahrheiten (des christlichen Glaubens, seine Gewissheitserfahrungen); Schweitzer hat dazu als fünfte Dimension noch die elementaren Formen des Lernens angefügt. Diese Überlegungen sind sehr hilfreich für die didaktische Analyse, Struk‐ turierung und Planung von Unterricht. Allerdings ist kaum verkennbar, dass das Nebeneinander von Tradition und heutigem Zugang allenfalls differenzierter wahrgenommen, das Grundproblem der Korrelation also gar nicht beantwortet, sondern eher einfach übergangen wird. Unterschätzt wird auch die Bedeutung elementaren religiösen Ausdrucks und der Fähig‐ keit zu eigener Symbolisierung, was wiederum deutlich macht, dass die religiöse Tradition auch hier in der Praxis oft weitgehend nach wie vor als „Stoff “ stehen bleibt. Auch die Elementarisierung gibt keinen Hinweis auf eine überzeugende konzeptionelle Überbrückung zwischen Tradition und Person und für die Entstehung religiöser Evidenzen. Sie steht in der Gefahr einer bloßen Reduktion und Vereinfachung, wenn sie nicht grundlegend Beziehungen und Kommunikationsprozesse mitbedenkt. Heinz Schmidt ging darum bereits von den zentralen religiösen Symbolen, den Überlieferungen und der menschlichen Beziehungsqualität im Alltag als Ebenen der „Elementaria“ aus. Dazu kommen bei ihm als weitere Ebenen die der gesellschaftlichen Aneignung und die der Lernprozesse. Es liegt also nahe, das Elementare in den religiösen Anstößen, Aus‐ drucksgestalten und Beziehungen zu lokalisieren. Welche vorfindlichen oder überlieferten religiösen Erfahrungen können elementare und weiter‐ führende religiöse Erfahrungen heute anstoßen? Hier wären vor allem die elementaren Bilder symbolischer religiöser Erfahrungen aufzusuchen, die die ur-menschlichen sind und darum von sich aus Evidenzen hervorrufen. Dafür aber wäre dann eigentlich ein anderer Begriff sinnvoll, oder aber die Überführung in eine experimentelle religiöse Didaktik: „… Glaube begleitet ein Lernen, das sich nicht auf theologische Inhalte fixiert, also inhaltlich absichert, sondern … dessen Ziele nur labil und fragmentarisch sein können. Deshalb heißt Elementarisierung: Elementares religiöses Lernen als Umgang mit dem Aufbruch, Fremdsein, Andersheit, Suchen und Versuchen, Unsicherheit, Fragwürdigkeit. [Das ergibt] ein Bild für Bildung, das sich durch Nebensächlichkeiten und Zufälligkeiten realisiert.“ (Beuscher/ Zilleßen 1998, 134) 220 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="221"?> Völlig zu Recht hat Dietrich Zilleßen immer wieder die Ungreifbarkeit religiöser Aussagen herausgestellt. Religion besteht nicht in Fakten, sie ist kein Wissensstoff. „Vermittlung“ ist als didaktische Kategorie nicht geeignet, nur Aneignung, die es aber immer nur subjektiv gibt; Aneignung ist abhängig von Interessen, Vorerfahrungen, Begehren usw. Das hat zur konstruktivistischen Religionsdidaktik geführt (→ 3.6). Elementare Bilder, Ausdrucksformen, prozessuale Gestaltwerdungen und Kommunikationsformen der Religion müssen ins Zentrum religionsdidak‐ tischen Denkens rücken und der subjektiven Aneignung zugeführt werden: (christlich-)religiöse Rituale, Formen der Klage, Meditation, Glückserfah‐ rungen, die sich im Gebet niederschlagen, der Jubel über das überraschende Bewusstwerden der eigenen Lebendigkeit, die Wahrnehmung von Kirchen‐ räumen als Gestalt gewordener Ausdruck von Frömmigkeit usw. Das wäre eine Elementarisierung, die ihren Namen verdient, und nicht nur als Rückzugsformel für einen kleinsten gemeinsamen Nenner christlicher Problembestände herhielte. Sie wäre weiterzuführen zu einer mimetischen Religionsdidaktik (Ingo Reuter), die um die Prozesse religiöser Angleichung und Nachahmung weiß. Was ist eigentlich elementar christlich? Die Elementarisierung darf für die christliche Theologie und die kirchliche Lehrauffassung einmal zu der Frage führen, was eigentlich christlich ist. Das ist weit weniger klar als es scheint. Ist das grundlegende Merkmal des Christlichen der Glaube an Christus, den Sohn Gottes, der von Gott gesandt wurde, um die Menschen von ihren Sünden durch seinen Tod am Kreuz zu erlösen und dermaleinst im Gericht über Himmel und Verdammnis zu entscheiden? Oder wäre es zu suchen in der Nachfolge, also in dem, was sich in der Sicht auf das Leben und in der eigenen Haltung an der Botschaft und am Auftreten Jesu orientiert? Es muss doch eigentlich auffallen, dass der Kern der Lehre Jesu, die Reich-Gottes-Botschaft, der gütige Vater und die Liebe, weder im Glaubensbekenntnis vorkommen noch in den Dogmatiken thematisiert werden. Jesus, so kann man knapp formulieren, hat die gesamte Wirklichkeit ra‐ dikal aus der Perspektive des nahen und gütigen Gottes betrachtet. Mit zwei Konsequenzen, die in ihrer Radikalität und Klarheit nie in das Christentum eingegangen sind. Zum einen: Gott ist überall; in jedem Feigenbaum und in jedem Gesicht eines Menschen kann man ihn wahrnehmen - wenn man 221 5 Korrelation und Elementarisierung <?page no="222"?> denn die Augen aufmacht. Darum erfindet Jesus Gleichnisse, die die Augen öffnen sollen. Wer Gott ernst nimmt, kann niemals davon ausgehen, dass er sich nur oder auch nur vorzugsweise im Tempel, in der Kirche oder im Altarsakrament befindet. Die Trennung der Welt in heilig und profan ist ein eklatanter Widerspruch gegen Gott selbst, und sie wird gerade im Namen der Religion betrieben. Daraus folgt bei Jesus eine Religionskritik, die an Schärfe ihresgleichen sucht, unter Christen bis heute aber nahezu unbekannt geblieben ist: Priester gelten ihm als „übertünchte Gräber“, der Tempel als profanes Bauwerk (das man abreißen und wieder aufbauen kann), ersichtlich fromme Leute stellt er weit hinter Kleinkriminelle mit aufrechtem Herzen, religiöse Vorschriften und Erfordernisse lehnt er in Bausch und Bogen ab, religiöse Vorschriften (Sabbatgebot, Reinigungen) übergeht er souverän usw. Zum anderen: alles kommt von Gott, so auch jeder Mensch. Die klare Konsequenz daraus ist es, jeden Menschen ohne Vorbedingung gelten zu lassen, vollkommen unabhängig von seinem moralischen oder religiösen Verhalten, seiner „Sündhaftigkeit“ oder gar seiner Kirchenzugehörigkeit. Gott ist Geber des Lebens, folglich will er dessen Entfaltung. Liebe, nicht Glaube ist dafür von zentraler Bedeutung. Wenn das aber als christlich gelten sollte, wäre es sicher erheblich schwieriger und weit weniger gut kirchlich verwaltbar als ein Für-Wahr‐ halte-Glauben; dann müssten Christentum und Kirche bei Jesus erst wieder in die Lehre gehen (→ 14.3; 16.2). 6 Interreligiöses Lernen „Religiöse Pluralität stellt nicht nur die Aufgabe religiöser Verständigung auf eine verschärfte Weise, sondern auch die Aufgabe religiöser Beheimatung.“ (Englert 2008, 57) Zwei Umstände haben dafür gesorgt, dass das interreligiöse Lernen inzwi‐ schen eingeführt und breit diskutiert wird: Der Anteil der Menschen „mit Migrationshintergrund“ beträgt in großen Städten wie Frankfurt, München oder Berlin deutlich über 20 % der Einwohnerschaft; dadurch kommt es zum einen zu einer multireligiösen Präsenz, vor allem durch den Islam, der mit deutlichem Abstand inzwischen die drittgrößte „Konfession“ in Deutschland ist. Zum anderen macht die Globalisierung die Welt immer 222 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="223"?> mehr zum „Dorf “, vor allem durch die Medien. Fremde Kulturen und Reli‐ gionen werden dadurch immer bekannter, manchmal fast schon vertraut. Religiös interessant wirkt für viele heute der Buddhismus (Dalai Lama, Yoga, Meditation, buddhistische Gelassenheit usw.). Das Christentum hat seine Monopolstellung abgegeben (→ 14.3) und muss sich konstruktiv mit anderen Religionen auseinandersetzen. Viele politische und soziale Spannungen, vor allem durch den fundamentalisti‐ schen Islam, sind ohne religiöses Wissen nicht verstehbar. In Verbindung mit der interkulturellen Pädagogik, die die Folgen des Zusammentreffens verschiedener Kulturen für das Lernen bedenkt, ist das interreligiöse Lernen inzwischen eine ersichtliche Notwendigkeit. Es hat zu Begegnung und gegenseitiger Befragung geführt. Wie aber kann ein echter Bezug zwischen den Religionen hergestellt werden, der fremdreligiöse Gehalte in ihrer Eigenwertigkeit respektiert? Ein religionskundlicher Lerninhalt „Fremdreligionen“, der über andere Weltre‐ ligionen lediglich informiert, dürfte dafür kaum geeignet sein. Und auch die bloße Begegnung macht zwar vertrauter, führt aber nur in den seltensten Fällen zu einer tieferen Auseinandersetzung. Es ist also fraglich, ob die Begegnung der „Königsweg“ (Stephan Leimgruber) interreligiösen Lernens sein kann. Ganz im Gegenteil liegt hier sogar die Gefahr einer Relativierung und die Nivellierung religiöser Gehalte. Wer aufmerksam den interreligiösen Dialog beobachtet, der wird bemerken, dass hier weit eher freundliche Begegnung gepflegt wird als echte, gar kritisch engagierte Auseinanderset‐ zung. Die theologisch gewichtigen Fragen werden umgangen, da sie auf Empfindlichkeiten stoßen. Als weiteres Problem kommt hinzu, dass (nicht nur in der Schule) die Gehalte der christlichen Religion inzwischen schon weitgehend unbekannt sind - vom Wissen um konfessionelle Differenzen ganz zu schweigen. Es braucht daher nicht allzu viel pädagogisches Gespür um einzusehen, dass viele eifrige, oft aber etwas schlichte Bemühungen um interreligiöses Lernen zu Effekten führen, die der eigenen Absicht völlig widersprechen. Sofern das interreligiöse Lernen nämlich nicht in der Lage ist, die scharfen religiösen Differenzen transparent zu machen, die die (Welt-)Religionen faktisch be‐ stimmen, unterstützt es gegen die eigene Absicht eher die modisch-bequeme Gleichgültigkeit gegenüber der Religion. Es arbeitet dann den allgemein üblichen Einstellungen zur Religion zu, die sich als tolerant geben, faktisch aber Ausdruck von Unwissen und Desinteresse sind: Wenn jede Religion etwas anderes sagt, kann eigentlich keine recht haben; oder einfach: Das 223 6 Interreligiöses Lernen <?page no="224"?> muss jeder selbst wissen. So aber wird die Einsicht in die spezifische Logik und Bedeutsamkeit der Religion gerade nicht gefördert. Grundaufgaben der interreligiösen Pädagogik sind daher: ■ das Kennenlernen anderer Religionen, das heute unverzichtbar zur Ori‐ entierung in der modernen Welt ist, wichtig auch zum Verständnis von interkulturell bedingten Konflikten und ein entsprechender Respekt; ■ die zentral bedeutsame Fähigkeit zum Perspektivwechsel, d. h. konkret der Nachvollzug der Selbst- und Weltdeutung einer anderen Religion, also von deren anderer Perspektive auf die Welt und das Leben. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die nicht mit freundlichen Begegnungen allein zu lösen ist, und die zu einem echten Verstehen von Religion überhaupt führen kann. Sie macht andere Religionen aber auch inter‐ essant; ■ die Einsicht in die bleibende Fremdheit anderer religiöser Deutungswei‐ sen und Kulturen. Nur so kann ein wirkliches religiöses Verständnis angebahnt werden; ■ schließlich eine bewusste und profilierte Neuwahrnehmung der eige‐ nen religiösen Position und deren begründete Vertretung. Die interreligiösen Bemühungen sind bislang allzu sehr auf Vergleich und Verständigung ausgerichtet, umgehen aber Konfliktpotentiale und Wahrheitsansprüche. Was irritiert und ärgert an anderen Religionen? Differenzen, Konfliktlinien, Unterschiede sind erkenntnisfördernder als harmonische Benennung von Gemeinsamkeiten; allmählich verbreitet sich diese Einsicht in der RP. Echtes interreligiöses Lernen sollte zu der Einsicht führen: Religionen stellen gar keine Wahrheitsansprüche, sondern sind verschiedene Deutungen des Lebens. Die können sich durchaus gegenseitig bereichern. Das Ziel interreligiösen Lernens müsste sein, vom Verstehen zu echter Toleranz, d. h. zu Wertschätzung und Respekt zu führen, die zur eigenen Bereicherung beitragen und zu einer Klärung und Vertiefung des eigenen religiösen Verstehens und Empfindens. Viele Menschen wissen heute so wenig von der eigenen religiösen Herkunft, dass im interreligiösen Lernen oft eher Verwirrung und Synkretismen gefördert werden. Wie also kann die Begegnung mit anderen Religionen die eigene religiöse Identität klären und stärken? Diese Frage ist eine didaktische, und wieder einmal ist sie von besonderem Gewicht. Überzeugende Antworten stehen bislang aus. 224 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="225"?> Unverzichtbar ist dafür eine Didaktik religiöser Sprache, religiöser Weltdeu‐ tungen, Bräuche (Vollzüge) und Symbole. 7 Erfahrung als religionsdidaktisches Grundprinzip „Mit einem Verständnis von Lernen, ‚das im voraus geplant und organisiert werden kann‘, haben sich Schule und Religionsunterricht aus dem Leben von Kindern und Jugendlichen wie auch von gelebter Religion faktisch bereits seit langem verabschiedet.“ (Heimbrock in Failing/ ders. 1998, 240) Religion und Erfahrung Glaube und Religion sind nicht ohne Erfahrung denkbar; sie lassen sich gerade als das Erleben oder die Weitergabe und Kommunikation von verdichteter Existenzerfahrung verstehen. Das gilt in der modernen Welt in verschärftem Maße, und es bezeichnet ein unverzichtbares Erfordernis der RP. Peter Biehl bezeichnet Erfahrung als „die Schlüsselkategorie der RP“ überhaupt (LexRP 421). Erfahrung ist, anders als ein Erlebnis, über sinnliche Erregung hinaus mit einer mehr oder weniger bewussten Deutung und verfügbaren Erinnerung verbunden. Erfahrungen sind persönlich zugeordnete Erlebnisse. Sie kom‐ men so zu Stande, dass ein Mensch das Gefühl von Betroffenheit hat: ein Vorgang, Ereignis, Tatbestand etc. erhält eine Bedeutung und ragt darum über andere Ereignisse hinaus. Bedeutungen sind nicht nur Bedingungen jeden Lernens, da ohne sie unser Gehirn keine Einordnungen vornehmen könnte; auch gilt umgekehrt: genau das, was als bedeutsam eingestuft wird, wird gelernt. Bedeutungen haben darüber hinaus auch einen hoch interessanten Bezug zum Gefühl von Sinn (→ 13.4-5): Genau das, was als bedeutend erlebt wird, wird auch als sinnvoll erlebt. Das Gefühl, nichts habe besondere Bedeutung, das in einer mit Luxus und offenen Möglichkeiten gesättigten Welt genährt wird (→ 14.1, 15.1) scheint zu korrespondieren mit der Empfindung von Sinnlosigkeit. Darum dürfte Begeisterungsfähigkeit eines der sinnvollsten didaktischen Ziele überhaupt sein. Aus diesen Überlegungen ergeben sich Folgerungen für die Religion, die der Bereich der umfassenden und letztgültigen Bedeutungen ist. Religion ist ein Erfahrungsphänomen. Dem wirklich religiösen Menschen gilt Wahrheit weniger als das Betroffensein von etwas für ihn unbedingt Bedeutsamen. 225 7 Erfahrung als religionsdidaktisches Grundprinzip <?page no="226"?> Paul Tillich hat das in den Satz gefasst: „Religion ist das, was uns unbedingt angeht.“ Auch historisch und genetisch gilt: Religiöse Erfahrung ist der Ursprung jeder Religiosität (→ 2.2, 18.1). Die religiöse Entwicklung ist generell die (auch implizite) Verarbeitung von Vorerfahrungen. Kein anderer Bereich des menschlichen Lebens ist so sehr an Erfahrungen gebunden wie die Religion! Darum kann Religion auch nur sehr eingeschränkt als Faktenwissen und über kognitive „Informationen“ gelernt und verstanden werden. Der Erfahrungsbegriff in der RP „Vielleicht besteht das große Versäumnis der Religionsdidaktik gerade darin, dass sie es intensiv unternommen hat, von Theologumena aus Erfahrungen herbei zu suchen, aber kaum versucht hat, durch Erfahrungen hindurch analoge Semantiken aufzudecken, wie sie in christlichen Einstellungen und Haltungen, Werten und Normen vorhanden sind.“ (Ziebertz in Schweitzer u. a. 2002, 62) Der Erfahrungsbegriff wird in der RP seit langem angemahnt, aber sehr unspezifisch gebraucht. Erfahrung ist in der Tat ein Schlüsselbegriff der RP. So hatte bereits Richard Kabisch (→ 3.1) gesagt, dass „objektive“ Religion so angeboten werden müsse, dass sie „subjektive Religion“ erzeuge - Religion ist also in Erfahrung zu überführen, und eine gelungene Religionsdidaktik ermöglicht religiöse Erfahrung. Ein Missverständnis wäre dagegen die Auffassung, Religion sei lediglich erfahrungskonform zu präsentieren. So aber wird religiöses Lernen leider allzu oft inszeniert: als Lernstoff, bei dem man überlegt, wo ein Erfahrungsbezug auf Seiten der Lernenden bestehen könnte. Nimmt man den Begriff wirklich ernst, dann müssen vor allem folgende Dimensionen geklärt werden: 1. Welchen Gehalt haben Erfahrungen? Sie sind selten eindeutig. In sie gehen in starkem Maße Atmosphären, Anschauungen und Bedürfnisse ein, deren unbewusste Anteile kaum jemals restlos aufzuklären sind. „Die Klarheit der banalen Erfahrung täuscht darüber hinweg, daß sie der unklare verstellte Ausdruck von Widersprüchlichkeit, Wünschen und Ängsten, von Begehren nach Halt, Sicherheit und Evidenz ist.“ (Zilleßen in ders. u. a. 1991, 59 f.) 226 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="227"?> 2. Welche Rolle spielt die einschneidende Erfahrung, die in der Regel eine negative ist (Schmerz, Leid, Erschrecken, Ohnmacht, Verlust, Sinnlosig‐ keit)? Die prägenden Erfahrungen sind meist die traumatischen. 3. Wie kann man schmerzliche Erfahrungen loswerden? Erfahrungen können die Offenheit von Wahrnehmungen blockieren: sie stehen in der Gefahr, sich gegen neue Erfahrungen zu immunisieren, können aber das Verhalten ebenso wie das Lebensgefühl nachhaltig bestimmen: „Mit einem zentralen Topos der Psychoanalyse formuliert rückt ins Bewußt‐ sein, daß Kindheitsleiden zum Schema der Existenz werden. Sicher sind wir in der Wahrnehmung von unseren Erfahrungen geleitet. Die Grundfrage wird sein, wie wir verhindern, daß unser Erkennen zu einem bloßen Wiederer‐ kennen degradiert wird, wie man also ‚neue Erfahrung mit der Erfahrung‘ ermöglichen könnte.“ (Beuscher/ Zilleßen 1998, 88) Damit ist die Frage nach Heilung gestellt - die Urfrage der Psychothera‐ pie, die der Religion keineswegs unbekannt sein darf. Heil und Heilung hängen zusammen. Die heilenden Möglichkeiten der Religion sind der Theologie und mit ihr der RP aber nahezu unbekannt. 4. Was ist eigentlich eine religiöse Erfahrung? (→ 2.2, 16.3, 18.1) Proble‐ matisch ist der oft zitierte Ausdruck, die christliche (bzw. religiöse) Erfahrung sei eine „Erfahrung mit der Erfahrung“ (Eberhard Jüngel). Das legt das Missverständnis nahe, die religiöse Erfahrung sei eine, die den „normalen“ Erfahrungen gegenüber qualitativ anders und überlegen sei. Religion ist aber keine heilige Sonder-Erfahrung, sondern eher eine verdichtete Erfahrung. Sie wird in aller Regel (aber keines‐ wegs ausschließlich! ) an religiösen Gestaltungen und im Feld religiöser Symbolisierungen gemacht. Ebenso kann sie sich in der Natur, in der Kunst oder zwischen Menschen einstellen, oder einfach im Alltag. Religionsdidaktisch zentral bedeutsam ist also gerade nicht die Erfahr‐ barkeit traditioneller Vorgaben, sondern jedes tiefe Erleben, das in einen übergreifenden und der eigenen Verfügung entzogenen Horizont gestellt wird. Das kann Gott sein, aber auch das Schicksal, das Leben usw. Die explizit religiöse Erfahrung (Visionen, Träume, Lichterlebnisse, Erfahrungen des Heiligen, spirituelle und mystische Erfahrungen usw., → 2.2) unterscheidet sich davon nur durch ihre Umfassende Intensität und gehört ganz in diese Reihe des tiefen Erlebens, das auch in der Erfahrung von Glück oder von Schmerz gemacht werden kann. An 227 7 Erfahrung als religionsdidaktisches Grundprinzip <?page no="228"?> dieser Stelle zeigt sich auch, dass die RP um ihrer religiösen Kompetenz willen nachhaltig an die Religionspsychologie (→ 18.1) verwiesen ist. Wahrnehmung und Beteiligung Für religiöses Lernen sind zunächst die Bedingungen des Lernens über‐ haupt zu beachten. Religiöses Lernen ist exemplarisch bedeutungs-geleitetes Lernen. Es hängt in hohem Maße ab von der Anregung und Förderung der Phantasie, im Wortsinne der Ein-Bildung. Sonst bleiben die religiösen Gehalte „draußen“ und werden nicht wirklich angeeignet. Resonanzen, Ein‐ drücke und innere Bilder haben religionsdidaktisch einen herausgehobenen Stellenwert und müssen alle religiösen Lernprozesse strukturieren (→ 13). Zur Anregung der Phantasie, aber auch zur Erfassung religiöser Gehalte (die ja oft Perspektiven, Sichtweisen, Deutungen sind, seltener klar kon‐ turierte „Gegenstände“) muss die Religionsdidaktik vor allem offene und differenzierte Wahrnehmungen (→ 16.4, 17.4) anstiften und nach deren Perspektivierung fragen: Was wird wie wahrgenommen? Der Sinn für Religion ist grundlegend gebunden an Sinneswahrnehmungen und eine entsprechende Sensibilisierung. Dietrich Zilleßen und Uwe Gerber haben darum ihr Religionslehrbuch „…und der König stieg herab von seinem Thron. Religion elementar“ so eingeführt: „Religion ist nicht Ansammlung autorisierter Lehrsätze und normierter Verhal‐ tensregeln, sondern Kompetenz, vertrauensvoll mit dem labilen und fragmentari‐ schen Leben umzugehen … Darum orientiert sich das Buch an der Lebenswelt und ihren Phänomenen. Sie ist nicht objektiv wahre Welt, sondern Wahrnehmungs‐ welt.“ (Zilleßen/ Gerber 1997, 11 und 10) Religion gibt es nicht als Wissen um feste Inhalte, sondern nur als innere Einstellung, die sich an Erfahrungen orientiert. Darum ist religiöse Didaktik die „Inszenierung von Lernspielen“, die eine innere Beteiligung, entspre‐ chende Motivation und so die wirkliche Chance auf religiöse Bildung mit sich führt. Religionsdidaktik muss die Möglichkeit religiösen Erlebens, das unverre‐ chenbar ist und subjektiv verschieden bleibt, durch Beteiligung an religiöser Praxis anbieten. Damit ist sie an stimmig und kompetent vollzogene religiöse Praxisformen verwiesen (→ 11.4-6) und an die Befähigung zum religiösen Selbstausdruck. In der Begegnung mit der Religion und ihren Vollzügen kann exemplarisch klar werden, was Religion eigentlich bedeuten kann und 228 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="229"?> wie sie „funktioniert“. Ebenso wie für Sprache, Mathematik, Kunst usw. gilt für die Religion: Religion wird durch Religion gelernt (Schleiermacher) - und nicht durch Problemdenken und theologisches Wissen. Religiöses Lernen dient dabei nicht der Sicherung der Tradition, sondern der jetzt gelebten religiösen Selbst-Explikation. Neben den religiösen Vollzügen erhalten auch die daran beteiligten Per‐ sonen eine zentrale Bedeutung, diejenigen Menschen also, die an religiöser Praxis teilnehmen oder sie anleiten. Auch hier sind es zunächst nicht Inhalte, sondern Interaktionen und Beziehungen, die religiöses Lernen anstoßen. Die Religionsdidaktik kann sich also nicht mehr an vermeintlich klaren Inhalten orientieren - schon deshalb nicht, weil jeder diese Inhalte anders auffasst. Damit werden die (christlich-)religiösen Gehalte keineswegs preis‐ gegeben. Sie kommen aber erst dann wirklich ins Spiel, wenn Religionsdi‐ daktik als religiöse Kommunikation (→ 18.3) begriffen wird. Sie ist das Zentrum religiöser Didaktik, denn sie ist der Kern religiöser Praxis. Zu ihr gehören Information, Mitteilung, Ausdruck, Darstellung, Gespräch und weitere kommunikative Formen, etwa das Spiel - also alle Formen religiöser Symbolisierung (→ 18.2). Existenzbedeutsame, verändernde, umfassend be‐ deutsame Lebens-Erfahrungen wollen dargestellt und ebenso kommuniziert werden wie die Perspektive der (christlichen) Religion auf das Leben und wie explizit religiöse Erfahrungen, die in der religiösen Praxis oder anderswo gemacht werden. Dafür muss freilich eine religiöse Sprache gefunden und eingeübt werden - und zwar eine eigene, persönliche -, denn Erfahrungen religiöser Art lassen sich weder mit der Sprache des Alltags noch mit der der Wissenschaft noch im Berichtsstil austauschen. Die prägende und nicht ersetzbare Kraft religiöser Worte, etwa von Psalm- oder Liedversen, belegt das zur Genüge. Der Austausch von Erfahrungen, die die Beteiligten wirklich betreffen, erfordert eine religiöse Gesprächskultur; zu dieser gehört neben einer eher erzählerisch-poetischen Sprache auch ein Raum, in dem Menschen sich für solche Gespräche öffnen können. Auch hier sind religiöse Vorgaben niemals Selbstzweck, sondern Medien (→ 13.3, 16.5). Zusammenfassung Religionsdidaktik kann sich weder umstandslos an der allgemeinen Didaktik noch an der derzeitigen Kompetenzorientierung ausrichten. Ihr „Gegenstand“ ist von so spezifischer Eigenart, dass sich aus ihm heraus auch die Didaktik ergeben muss. Lehr- und lernbar sind nur 229 7 Erfahrung als religionsdidaktisches Grundprinzip <?page no="230"?> äußere Formen, nicht das religiöse Erleben selbst. Korrelation und Elementarisierung bearbeiten zwar das Grundproblem der RP, die Zuordnung von religiöser Tradition und Subjekt, nehmen aber weder die eigenständige „Logik“ der Religion auf noch das religiöse Erleben. Religionsdidaktik muss die individuelle Aneignung von Religion er‐ möglichen. Das geschieht am ehesten durch religiöse Wahrnehmungen und Erfahrungen und deren Kommunikation, und durch Anleitung zu religiöser Symbolisierung. Literatur Zu 1: M. Lehner 2019 - H. Gudjons/ S. Traub 2020. Zu 2: A. Feindt u. a. 2009. - ZPT 70 (2018), Heft 4 (337 ff.). Zu 3: JRP 18 (2002) - S. Leimgruber/ H.-G. Ziebertz in G. Hilger/ S. Leimgruber/ H.-G. Ziebertz 2001, 29-41 und 42-66 - C. Grethlein 2005 - C. Bizer 2008 ( JRP 24). Zu 4: NHRPG V.1.1 - F. Schleiermacher 1928 - R. Kabisch 1910 - R. Englert 2008, Kap VI. - B. Schröder 2012, § 12. Zu 5: R. Englert 2008, Kap IV - NHRPG V.1.4 - F. Schweitzer 2003 - R. Englert/ E. Hennecke/ M. Kämmerling 2014. Zu 6: S. Leimgruber 2007 - R. Englert 2008, 48-58 - W. Haussmann/ J. Lähnemann 2005 - J. Willems 2011 - G. Langenhorst 2016 - M. Kraml u. a. 2020. Zu 7: / B. Beuscher/ D. Zilleßen 1998 - LexRP Art. „Erfahrung“ - JRP 16 (1999). 230 10 Grundfragen der Religionsdidaktik <?page no="231"?> 11 Formen christlicher Religionsdidaktik „Um Religion zu finden, braucht es keine vorgängige familiale Sozialisation, keine Zeugen mit frommem Selbstbewusstsein, keine Meditationsübungen, und keine kritische Selbstreflexion, keine Erfahrung mit dem Unbedingten und kein Verständnis für Metapher und Symbol. Hingehen, mitmachen - das wäre zunächst alles. Und wenn es mit Unterricht zu tun haben soll, dann würde sich noch anschließen: Beobachtungen austauschen, Befremdliches in Worte fassen, über Lächerliches lachen und sich an Eigenartiges herantasten, schließlich - wo es lockt - in der Aneignung, im Ausfüllen und im Zurechtschleifen der vorgegebenen Formen sich selbst erproben.“ (Bizer in JRP 5/ 1988, 84) Diese ausgesprochen plausible Bemerkung Christoph Bizers ist von grund‐ sätzlicher Bedeutung für alle Formen der Religionsdidaktik. Sie zeigt näm‐ lich, dass sich religiöses Lernen noch vor aller rationalen Klärung und kritischen Reflexion an sinnlich wahrnehmbaren Formen, also genau ge‐ nommen an einem Erleben orientiert (→ 2.2, 13.2), an Texten, Bildern, Symbolen, Sprachformen, Räumen, Ritualen, Figuren, Szenen usw., die einen bestimmten Blick auf das Leben und die Welt zum Ausdruck bringen. Glaubensinhalte, Lehren und Bekenntnisse können nicht mehr die zen‐ trale Idee einer christlichen Didaktik abgeben. Sie setzen ein Einverständnis voraus, das sie eigentlich erst anzielen müssten. Unsinnig ist auch jede Resultatsdidaktik, die immer schon weiß, was am Ende herauskommen darf. Auch die „Problemorientierung“ kann nicht das Grundprinzip einer religiösen Didaktik abgeben, da sie religiöse Erfahrungen auf Rationalität begrenzt und ausblendet, worum es eigentlich gehen müsste: religiöse Be‐ deutungen, Erfahrungen und Evidenzen. Der rationale Zugang zur Religion ist unverzichtbar; aber er schränkt diese auf das rational Fassbare ein. Er verkennt das Geheimnis, das Heilige und die unverrechenbaren religiösen Erfahrungen. Didaktisch zentral sind darum die Formen und Gestalten der (christlichen) Religion. Sie lassen es zu, die kulturell sichtbare Religion in eigene Erfahrungen zu überführen. Schon immer haben sie die Weitergabe und Tradierung des Christlichen maßgeblich bestimmt. <?page no="232"?> 1 Bibeldidaktik „‚Die Erde ist voll der Güte des Herrn‘, so steht es im Psalm 33,5 … Wir könnten die Erde auch ganz anders beschreiben; niemand könnte die Wahrheit meiner Worte bestreiten, wenn ich sagte: Die Erde ist voll von Tränen, von Ungerechtigkeit, von Gewalt und Unterdrückung … Anleitung zu einer neuen Wahrnehmung der Wirklichkeit: das ist der erste grundlegende Schritt, den uns die Didaktik der Bibel gehen läßt.“ (Baldermann 2007, 17 und 19) Die Bibeldidaktik ist die erste wirklich religiöse didaktische Form, die nicht feststehende Wahrheiten zu Lernenden transportiert. Zu vielfältig sind die biblischen Zeugnisse, und zu unverrechenbar die Weisen ihrer Aneignung. Wilhelm Gräb sagt lapidar, aber treffend: „Eines ist das Bibelbuch, ein anderes sein Vorkommen und Ankommen bei den Menschen“ (Gräb in ebd., 182). Außerdem wurde immer deutlicher, dass die historisch-kritische Exegese der biblischen Bücher den „garstigen breiten Graben“ (Lessing) zwischen damals und heute eher vertieft als überwindet. Dazu kommt die Erfahrung, dass vor allem Kinder sehr offen sind für biblische Geschichten - allerdings auch für die Stories der Medien. An der Bibel, also an einer zentral bedeut‐ samen Stelle christlicher Lehre, kommt es darum zu der Einsicht, dass religiöse Didaktik heute weder durch Katechese noch durch theologische Lehre strukturiert werden kann. Die Bibeldidaktik ist die erste didaktische Form, die die Eigenlogik der christlichen Religion ins Zentrum stellt und zum eigenständigen und unverrechenbaren Mitvollzug einlädt. Ingo Baldermann verweist in seinem Zitat direkt in die Art, wie Religion „funktioniert“: als eine bestimmte Sehweise und Perspektive auf die Welt und das Leben insgesamt. Religion hat eine eigene „Logik“ gerade darin, dass sie grundlegende Deutungen kommuniziert (→ 2.2, 16.5). Dazu gehört z. B. die Einsicht, dass das Leben unverrechenbar ist, ein Geschenk, über das man eigentlich nur staunen kann; dass wir mit einem tiefen Vertrauen leben dürfen und keine Angst vor unserer eigenen Hingabe, Liebe, Begeisterung zu haben brauchen usw. Religion traktiert grundlegende Erfahrungen und Fragen, die alle angehen. Ingo Baldermann hatte Mitte der 1970er Jahre als erster Einspruch gegen die Vorrangstellung der Lernziele des problemorientierten Konzepts erhoben und für eine neue Aufwertung der „Inhalte“ (d. h. hier der religiösen Formen der Tradition) plädiert: Die Bibel ist für das Christentum unverzicht‐ 232 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="233"?> bar. Und zwar nicht als wissenschaftlich zu verstehendes Buch, und nicht als Problemlösungsfundus, sondern als ein Buch der Erfahrungen, die aus der Beziehung zwischen Menschen und Gott resultieren, und die auch heute ohne große Umwege nachvollziehbar sind. Die Bibel ist Buch menschlicher Urerfahrungen. Darum gilt der einfache, aber treffende Satz: „Biblische Didaktik ist zuallererst die der Bibel eigene Didaktik, ihre Art zu reden“ (Baldermann 2007, XIII). Die Bibel enthält eine „implizite Didaktik“, denn sie wurde „durchweg in ausdrücklich didaktischer Absicht“ aufgeschrieben (ebd. 3). Sie ist ein „Buch des Lernens“, und zwar des Lernens einer neuen und anderen Wahrnehmung und eines deutlicheren Sehens, nicht ein Lehrbuch im Sinne einer „Belehrung“, die zu wissen und zu glauben wäre. Ihre Didaktik „ist nicht die der Unterwerfung unter Stoff- und Lernzwänge, sondern eine, die den Menschen zu sich selbst bringt“ (ebd. 197). Baldermann geht von der schlichten Erfahrung aus, dass die Bibel Men‐ schen direkt anzusprechen vermag. Verstehen ereignet sich dann spontan in einem dialogischen Prozess, der ein didaktischer Vorgang ist. Vor allem die Psalmen lassen sich als emotionale Erfahrungen in einer religiösen Sprache verstehen, die zu eigenen Erfahrungen und eigenem Ausdruck verleiten wollen. Die Psalmen, in denen die Ur-Erfahrungen der Bibel ihren deutlichsten Ausdruck finden, leiten zu einer eigenen religiösen Sprache an, durch die Menschen religiös mündig werden können - weit eher als durch rationales Begreifen religiöser Inhalte. Biblische Texte haben also schon immer eine didaktische Absicht: Sie wollen Erfahrungen mitteilen, anstecken, zu einer bestimmten Sicht verlocken. Die Bibel ist ein Buch der Erfahrungen mit Gott; sie erzählt von Rettung und Befreiung, Leid und Klage, Schönheit der Welt, Lob und Dank. Baldermann verhandelt das unter den Stichworten „Worte zum Leben“, „Geschichten gegen den Tod“, „Die Sprache der Gerechtigkeit“ und „Auferstehung lernen“. Horst Klaus Berg legt dann in „Ein Wort wie Feuer“ (2000) und „Grundriß der Bibeldidaktik“ (2003) eine ganze Reihe verschiedener Zugangs- und Auslegungsarten vor, die er in einer „Hermeneutik der Befreiung“ im Kontext einer „erfahrungsbezogenen Auslegung“ zusammenfasst. Die Bibel lehrt und inspiriert Hoffnung und Widerstand, man könnte also sagen: sie macht selbstbewusst. Auch Berg ist kritisch gegen eine einseitig rationale historisch-kritische Exegese eingestellt, die die Lebendigkeit und Wirkungs‐ kraft der biblischen Texte nicht mehr sieht. Er spricht von biblischen „Grundbescheiden“: Gott schenkt Leben, stiftet Gemeinschaft, leidet mit und an seinem Volk, Gott befreit, usw. und versucht eine praxisnahe Verschrän‐ 233 1 Bibeldidaktik <?page no="234"?> kung mit dem rationalen Zugang: Bibelorientierte Problemerschließung und problemorientierte Texterschließung gelten für ihn als die beiden Grundtypen biblischen Lernens. Die „kritische und befreiende Dynamik“ der Bibel soll erkannt werden. Gerd Theißen hat mit seinem Buch „Zur Bibel motivieren“ 2003 einen Entwurf vorgelegt, der nach Gründen und Motivationen für eine biblische Didaktik fragt. Sie ist eine „offene Bibeldidaktik“, die auch für Nicht-Reli‐ giöse plausibel sein will. Denn kein anderes Buch neben der Bibel ist eine so reichhaltige Sammlung nicht einholbarer menschlicher Grunderfahrungen, die sich prinzipiell an alle Menschen wenden. Nicht um Glauben geht es, sondern um „Verstehen und Achtung“. Neben dem Herrschaftswissen der Naturwissenschaften gibt es ein Kooperationswissen der Sozialwissen‐ schaften und ein Selbstverständigungswissen der Geisteswissenschaften; vor allem im letzten Bereich ist die Bibel von allgemeiner Bedeutung, und das schon aufgrund ihrer enormen Wirkungsgeschichte. Darum orientiert sich Theißen grundsätzlich an religiösem Erleben und Religionswissenschaft. Elementarisierung der Bibel im Blick auf ihre Grundmotive, Dialogisierung im Sinne ihrer Präsentation für Menschen heute und Motivationen zur Auseinandersetzung gliedern den Entwurf. Die Bibel hat so wie kein anderes Buch das ethische Bewusstsein des Menschen geschärft und dazu verholfen, dass auch einfache Menschen eine konsequente und aufrechte Lebenshal‐ tung einnahmen. Die Bibel bewahrt ein anti-selektionistisches Gedächtnis, d. h. sie hilft dem Hilflosen und Durchsetzungsschwachen zu Leben und Würde. Dabei ist ihre tiefste Einsicht das Staunen über das Leben. Gerade darin, dass sie dem, worüber wir nicht verfügen, eine Sprache gibt, ist sie von allgemeinem Interesse. Mit dieser Überlieferung ist eine offene und weiterlaufende „Story“ eröffnet, in die man sich heute so gut wie damals hineinstellen kann. Die Idee der Bibeldidaktik ist: Die Bibel ist für das Christentum unver‐ zichtbar, darum auch für christliches Lernen. Sie lässt sich keinen Zwecken unterordnen, da sie als Erfahrungsbuch gelesen werden will, das Menschen anspricht und inspiriert und darum eine eigenständige Didaktik mit sich führt. Eine von außen heran getragene allgemeine Didaktik wird ihr also nicht gerecht. Biblische Texte sind nicht „Lehren“, sondern die Eröffnung eines Erkenntnis-Weges. Die „implizite Didaktik“ biblischer Texte gibt also die Kriterien des Unterrichtens bereits vor. Biblisch fundierte Lehren, Bekenntnisse und Theologie stehen am Ende eines Einsichts-Prozesses, der sich durch die Bibel zu eigener Erfahrung inspirieren ließ. 234 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="235"?> Inzwischen liegen neben dem historisch-kritischen Zugang der wissen‐ schaftlichen Theologie mehrere ästhetisch, d. h. an der äußeren Gestalt inspirierte Zugänge zur Bibel vor. Der linguistische Zugang, der sich auch in der Systematik verbreitet, geht von den Einsichten der Rezeptions- und Lese- Ästhetik aus. Der Sinn von Texten ist nicht objektivierbar, nicht einmal vorgegeben. Sondern: Die Leser schaffen Sinn im Vollzug des Lesens (oder auch des Hörens), sie sind die eigentlichen „Autoren“ dessen, was sich da zu lesen gibt. Dadurch lassen sich z. B. Gleichnisse als poetische Bilder und „Inszenierungen“ von Lebensperspektiven verstehen; Wundergeschichten spiegeln die Erfahrung des Überraschenden, Befreienden durch Gottes Zuwendung, die beim Lesen je neu möglich wird. Die Lese-Ästhetik betont den Bildgehalt der Texte: „Die Schrift hat ein Gesicht“ (Klaas Huizing), sie blickt den Leser sozusagen an. Der tiefenpsychologische Zugang geht ebenfalls in sehr plausibler Weise von der Einsicht aus, dass die biblischen Geschichten gerade nicht aus historisch-dokumentatorischen Gründen aufgezeichnet wurden, sondern Niederschläge dramatisch-bewegender Erfahrung sind, die einem mensch‐ heitlichen Erfahrungsschatz zuzurechnen sind. Anders könnte man sich auch ihre starke Wirkungsgeschichte gar nicht erklären. Die Erfahrung z. B., die die Jünger bei der Sturmstillung auf dem See machen, ist nicht die eines historischen Moments an einem bestimmten Datum vor 2000 Jahren; sie erschließt sich in ihrer Bedeutung erst, wenn sie als Niederschlag einer das verschlingende Chaos beruhigenden Gotteserfahrung verstanden wird, die Menschen zu allen Zeiten im Innersten zu berühren vermochte und durch das Medium des textlichen Niederschlags hindurch eine vergleichbare Erfahrung je neu wieder auslösen kann - so wie das durch die Jahrhunderte ganz offensichtlich immer der Fall war. Zugänge zur Bibel sind darum vor allem spielerischer Art (→ 11.6), weil so ihre Dramatik am ehesten aufleuchten und zu je neuen Erfahrungen der Betroffenheit führen kann. Die Bibel ist nicht sakrosankt (d. h. „absolut“ heilig im Sinne von unbe‐ rührbar). Das zu glauben führte faktisch zur Gleichgültigkeit ihr gegenüber. Sondern sie ist heilige Schrift, weil und insofern sie in ebenso dichter wie alltäglicher, jedenfalls nicht ersetzbarer Weise von Gottes- und Lebenser‐ fahrungen erzählt. Sie ist also als Buch ur-menschlicher Erfahrungen zu verstehen. Sie setzt die Lebenserfahrung der Lehrenden voraus und eine didaktische Erschließung ihres Erfahrungsgehaltes, die darauf vertraut, dass auch und gerade in einer auf Erlebbarkeit und Betroffenheit ausgerichteten Zeit diese Erfahrungen selbst zu sprechen beginnen, wenn sie nur wirklich 235 1 Bibeldidaktik <?page no="236"?> kommuniziert werden. Emotionales, engagiertes Erzählen und ästhetische Erschließungswege wie symbolischer Zugang und Bibliodrama (→ 11.6) scheinen dafür gut geeignet. Eine der Formen, die die Einsichten der Bibeldidaktik aufnimmt, ist der Bibliolog. Hier wird ein Textabschnitt der Bibel vorgelesen und immer wieder zum Einschwingen der Teilnehmer unterbrochen. Die Teilnehmer versuchen sich dann in die Rolle einer bestimmten Gestalt des Textes zu begeben und in Ich-Form deren Gedanken, Gefühle und Worte auszudrü‐ cken. Dadurch kommt es zu starken Identifikationen und religionsdidaktisch stimmigen religiösen Erfahrungen. Biblische Texte eignen sich grundsätzlich für persönliche Identifikatio‐ nen, und diese können auch den didaktischen Weg des Umgangs mit Bibel und generell mit Religion weisen. Was mag Petrus während des Verhörs von Jesus für Gefühle gehabt haben? Wie ging es dem Volk Israel, nachdem es die Flucht aus der Sklaverei überstanden hatte, sich dann aber in der Wüste vorfand? Was denkt der gelähmte Mann, den seine Freunde zu Jesus bringen? Gundula Rosenow hat das „Rückübersetzungen“ genannt: Religiös bedeutsam an biblischen Texten sind weder der historische Vorgang noch sonst irgendwelche Ereignisdaten, sondern es sind die Erfahrungen von Menschen. Sie müssen religionsdidaktisch erschlossen werden. Denn sie sind den Lernenden ebenso bekannt wie allen Menschen sonst; zumindest sind sie bestens nachvollziehbar, da es sich immer um menschliche Grunder‐ fahrungen handelt. Genau deshalb wurden sie aufgeschrieben, überliefert und immer wieder erzählt. 2 Symboldidaktik Symbol und Religion „Es gibt keine Religion ohne Symbole. Wo dies nicht berücksichtigt wird, gilt, dass mit den Symbolen auch die Religion schwindet. Religiöse Überlieferungen bieten ganze Symbolwelten an, die von den Religionsgemeinschaften tradiert werden.“ (Hilger 2001, 330) Die Symboldidaktik war lange die meist diskutierte spezifisch religionsdi‐ daktische Konzeption. Auch wenn sie sich nicht in ganzer Breite durchsetzen konnte, kann sie als symptomatisch für die religionspädagogische Entwick‐ 236 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="237"?> lung gelten. Denn offensichtlich sind Symbole und symbolisches Verstehen (→ auch 18.2) der angemessenste Zugang zur Religion. Die Symboldidaktik wendet sich den Ausdrucksgestalten der Religion selbst zu und entfaltet - noch deutlicher und folgenreicher als die Bibeldidaktik - ihre Didaktik aus diesen heraus. Die alternative Logik dieses Zugangs wird im Titel „Das dritte Auge“ von Hubertus Halbfas deutlich, die didaktische Eigenständigkeit in der Titelformulierung von Peter Biehl: „Symbole geben zu lernen“. Ein Symbol (griech. symbolon = Zusammenfügung) ist ein Zeichen mit einem nicht ablösbaren Bedeutungsgehalt, eine Synthese aus Materie und Bedeutung. Ein Zeichen ist Sache der Vereinbarung und lässt sich erset‐ zen; ein Symbol dagegen hat einen Verweis-Charakter und eine eigene Aura, die vom Symbol selbst nicht trennbar ist. In Symbolen verdichten sich persönliche oder gruppenspezifische bedeutsame Erfahrungen oder Einstellungen. Ein Symbol ist nicht eindeutig, sondern weitgehend offen für verschiedenartige subjektive Assoziationen und Bedeutungen. Es hält diese Bedeutungen präsent und kommunikationsfähig für alle, die den Sym‐ bolsinn verstehen, d. h. seine Bedeutung nachvollziehen können. Ein Ring aus Metall etwa, der Freundschaft oder Liebe bedeutet, kann für Menschen weit mehr als ein entsprechendes Zeichen Anlass für tiefe Emotion sein. Oder: Das Verbrennen einer Nationalflagge wäre etwas ganz anderes als die Vernichtung eines Stücks Stoff oder eines Hinweiszeichens, das man ersetzen könnte; es wäre für Angehörige der Nation eine symbolische Aktion, die als Beleidigung empfunden werden und Aggression auslösen könnte. Weitere Symbole, die ganze Lebenseinstellungen markieren können, sind der Baum, das Kreuz, die (Friedens-)Taube oder Warensymbole wie der Mercedesstern, aber auch das Hakenkreuz usw. Symbole können ihre lebendige Bedeutung verlieren und werden dann zu leeren Klischees. Symbolbildung geschieht vor der Sprachbildung, diese vor dem rationalen Verstehen. Symbole sind die erste Form des Weltverstehens und darin un‐ verzichtbar für die menschliche Entwicklung. Symbole sperren sich darum auch gegen rationale Verrechenbarkeit; sie zielen auf Wahrnehmung und Mitvollzug. Die Religion lebt in hohem Maße in ihren Symbolen, die die religiöse Erfahrung präsent halten. Sie sind darum nicht ersetzbar etwa durch argumentative Sprache. Symbole sind aber nicht eindeutig; und ihr Verstehen erfordert einen „Symbolsinn“ (Halbfas), der sich weniger aus der kritischen Bearbeitung eines isolierten Einzelsymbols ergibt, sondern eher aus seinem symbolischen Kontext und aus seiner lebendigen Verwendung, ferner aus symbolischer Sprache und einem symbolisch-bildlichen Denken. 237 2 Symboldidaktik <?page no="238"?> Symbole lassen sich als Ausdruck jener Dimension des Unverfügbaren verstehen, die der Religion wesentlich ist, und die als ein Aufscheinen oder „Angesprochensein“ erfahren werden kann. Symbole präsentieren sich gleichsam selbst; das bedeutet aber, dass sie gezeigt, angeboten, eingeführt werden müssen. „Der distanziert-kritischen Behandlung der Religion im Unterricht, dem der Moderne verhafteten und der Rationalität verpflichteten Theoriediskurs über Funktion und Struktur von Religion und Christentum in der neuzeitlichen Kultur und Gesellschaft, tritt damit die unmittelbare Praktizierung der Religion im Medium symbolischer Wirklichkeitskonst‐ rukte zur Seite“ (Steck 2000, 467). Ernst Cassirer hat den Menschen als animal symbolicum bezeichnet. Denn symbolische Repräsentation befreit aus der Unmittelbarkeit von Erleben und instinktiver Reaktion. Sie ermöglicht Kreativität und bewusstes Handeln. Damit hat sie eine Parallele zum menschlichen Bewusstsein (→ 2.2): Beide sind die höchsten Fähigkeiten des Menschen; beide sind Grundmerkmale von Religion. „Symbolsinn“: Hubertus Halbfas Der katholische Religionspädagoge Hubertus Halbfas hat in „Das dritte Auge“ 1982 den Begriff „Symboldidaktik“ eingeführt, in „Der Sprung in den Brunnen“ 1987 den Begriff „Symbolsinn“. Religion, verstanden als Dimension der Tiefe, des Betroffenseins und der Transzendenz, hat für Halbfas einen „apriorischen“ Charakter, d. h. sie ist im Menschen angelegt und immer schon vorhanden. Religiöse Erfahrungen sind zwar individuell verschieden, weisen aber bestimmte Grundmuster auf und lassen sich darum miteinander vergleichen. Das gilt auch für Symbole: Sie sind nicht überzeitlich, sondern haben eine vergleichbare archetypische (d. h. vorge‐ prägte, überall gegebene) Grundstruktur. Halbfas orientiert sich hier an der Symbol-Deutung von C.G. Jung. Er geht davon aus, dass die Psyche des Menschen symbolisch strukturiert ist, dass sie also in symbolischen Bildern und Gehalten „denkt“; insofern ergibt sich hier einer der wenigen expliziten Berührungspunkte der RP mit der Psychologie. Das Symbol „konkretisiert“ sich im Ritual; auch der Mythos ist ein „Symbolzusammenhang“. Symbole haben eine Entlastungs-, Vermittlungs- und Orientierungsfunktion. Symbolische Erfahrung ist für religiöses Lernen unverzichtbar. Religiöse Sprache ist immer symbolisch, sonst würde sie wortwörtlich missverstanden - rationale Theologie unterstützt das ebenso wie die moderne Reizüberflu‐ 238 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="239"?> tung. „Mit der Zerschlagung der symbolischen Bilderwelt erfolgt … immer auch eine Verkarstung der eigenen Seele, so daß die innere Unbehaustheit wächst.“ (Halbfas 1982, 113) Darum ist nicht der rationale Zugang, sondern die Schulung des Symbolsinns Aufgabe des RU. Er muss eine Partizipation am „Sinnstiftungspotential des Symbols“ anbahnen, also nicht Symbole erklären oder gar kritisch einordnen, sondern sie zu erfahren geben und eine regelrechte Einübung anbieten. Zuerst ist der Symbolsinn zu entwickeln, dann erst kommt die Interpretation. Dazu müssen Lehrende der Religion ein „drittes Auge“ besitzen, das Symbole wirklich versteht. Schon seit dem 14. Jh. diagnostiziert Halbfas einen Verlust an religiösem Brauchtum, an Sagen, Märchen, Geschichten, damit an Symbolsinn. Das bedeutet eine geistige und seelische Verarmung und zugleich eine Zerstö‐ rung der Grundlagen des religiösen Verstehens. Die lehrhafte Tendenz verdeckt das spirituelle Element ebenso wie die persönliche Betroffenheit. Halbfas sieht auch ein „spirituelles Defizit“ im RU. Hier müsste es zu einer Verschränkung von Selbsterfahrung und Gotteserfahrung kommen - eine „noch unbekannte didaktische Dimension“. Sehr kritisch geht er nicht nur gegen die Funktionalisierung von Inhalten in der Problemorientierung vor, sondern auch gegen eine planbare „Symbolkunde“. Symbole müssen ganz‐ heitlich erschlossen werden. Vor allem das Erzählen ist ihnen angemessen, da es auf die menschliche Tiefenschicht treffen kann. Das erfordert aber auch eine Längsschnitt-Thematik, die wiederholend auf bereits gelegte Erfahrungen aufbaut und diese schrittweise weiterführt - statt der üblichen Verzettelung in Einzelthemenbereiche. Dazu müssten Kurse in religiöser Sprachlehre treten. Symbole sind wirklichkeits-erschließend. Sie lassen die Welt in neuem Licht sehen. Sie sind für religiöses Verstehen zentral, und darum grundle‐ gend und unverzichtbar für jeden RU. Halbfas zeigt mit seinen das Mystische streifenden Überlegungen ein typisch katholisches Gespür für die Eigen‐ ständigkeit der Religion, ihre Lebendigkeit und Faszination. Er zeigt ferner, dass ein echter Symbolsinn nicht nur sensibel für Religion, sondern auch kritischer macht als jeder rationale Zugang zu ihr. In diesem Sinne hat auch Paul Tillich darauf verwiesen, dass alles in der Religion Symbol ist - oder Aberglaube. 239 2 Symboldidaktik <?page no="240"?> „Kritische Symbolkunde“: Peter Biehl „Andere theologische Disziplinen mögen sich auf das ‚reine Wort‘ zurückziehen können; die Praktische Theologie muß berücksichtigen, daß der Streit um die Auslegung der Wirklichkeit immer auch ein Streit um die Bilder ist, die Macht über den Menschen gewinnen.“ (Biehl 1989, 44) Biehl stellt den Ideen von Halbfas eine „kritische Symbolkunde“ gegenüber. Im Anschluss an Merleau-Ponty, der formuliert hatte: Symbole geben zu verstehen, sagt er: Sie geben zu lernen. Denn Symbole schaffen ein „Mehr an Sinn“. Sie haben einen Hinweischarakter, sind Elemente eines kollektiven Bewusstseins, immer aber auch historisch und gesellschaftlich bedingter Niederschlag von Erfahrungen. Auch Sprache hat eine unverzichtbare symbolische Funktion: „In symbolischer Rede kommt die Verwandlung der Sprache von einem instru‐ mentellen zu einem medialen (poetischen) Gebrauch exemplarisch zur Geltung. Symbolische Rede hat eine darstellende, eine anredende und kommunikative sowie eine expressive Funktion.“ (Biehl 1989, 11; dort kursiv) Für die Religion haben Symbole eine zentrale Bedeutung, denn sie eröff‐ nen einen Zugang zum Zentrum der Glaubenslehre. Sie ermöglichen eine ganzheitliche Wahrnehmung, die Erfahrungen anstößt. Symbole haben eine konfliktbearbeitende, therapeutische und kompensatorische Funktion. Sie dienen der Sprachfähigkeit und können Sinn stiften. Es gibt aber auch dämonische Symbole. Darum ist eine „kritische Symbolkunde“ notwendig, die ein kritisches Verstehen von Symbolen anstößt. Dazu ist der hermeneutische Zirkel zwischen Symbol und Erfahrung zu reflektieren, der der kritischen religiösen Urteilsbildung dient. Biehl führt das an den allgemeinen Symbolen Hand, Haus, Weg und an den christlichen Symbolen Brot, Wasser und Kreuz breiter aus. Die biblischen Symbole gelten ihm für eine christliche Religionsdidaktik als zentral. Sie haben eine Verankerung in der Geschichte; andere Symbole müssen sich laut Biehl am Wahrheitsanspruch der biblischen Verheißung messen lassen. Biehl führt eine typisch protestantische Position vor, die von der Bibel ausgeht und die Rationalität auch im Zugang zur Religion zu bewahren versucht. Damit erreicht er aber auch nicht die Weite und umfassende religiöse Bedeutung eines Symbolverstehens im Sinne von Halbfas. 240 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="241"?> Bedeutung, semiotische Kritik und weitere Ergänzungen Die Symboldidaktik ist die erste didaktische Form, die im allgemein reli‐ giösen Bereich arbeitet. Damit kommt ihr eine Pionierfunktion zu. Ihre wichtigste Einsicht ist, dass Religion, auch das Christentum, symbolisch kommuniziert wird; ohne symbolisches Verständnis kann Religion nicht aufgeschlossen und gelernt werden. Dabei ist mit den genannten beiden Autoren nicht nur die je spezifische katholische und evangelische Zugangsweise zum Thema benannt, sondern gleichzeitig zum einen auch die eher tiefenpsychologisch orientierte, die religiöse Symbole als meditativ zu erschließende archetypische Urbilder versteht (Halbfas), zum anderen die eher verständigungsorientierte, die zu einer „kritischen“ Symboldidaktik führt (Biehl). Biehl bleibt damit in relativ deutlicher Form weiterhin der problemorientierten Tradition verbunden. Hans-Martin Gutmann hat in seiner religionspädagogischen Untersuchung des Symbols (Gutmann 2000) eine entsprechende Kritik an Biehl geübt. Er wirft ihm vor, die Symbole didaktisch zu funktionalisieren und darum deren unverrechenbare und wirklichkeitssetzende Macht zu übergehen. Nicht belegt ist auch die Voraussetzung, die Biehl für das symbolische Lernen macht: dass nämlich die ursprüngliche Erfahrung oder Einstellung, die sich in einem Symbol verdichtet hat, durch die Bearbeitung des Symbols auch für diejenigen wieder erfahrbar werden kann, die die Erfahrung selbst gar nicht gemacht haben. Hier ist Halbfas nachvollziehbarer, der die „kritische“ Bearbeitung von Einzelsymbolen ablehnt (da sie sich den Symbolen gegenüber von vornherein als überlegen aufdrängt) und für einen Symbolsinn plädiert. Der oft gemachte Vorwurf an Halbfas, er sei den Symbolen gegenüber unkritisch, überzeugt nicht, denn der Symbolsinn weckt gerade eine der Religion gegenüber angemessene Form der Kritik, die sehr viel schärfer sein kann als die eines rationalen Verstehens. Eine Kritik an der Symboldidaktik generell hat Michael Meyer-Blanck vorgelegt. Er hält die Auffassung von Halbfas und Biehl für falsch, Symbole hätten einen „Mehrwert“ gegenüber profanen Zeichen oder seien gar als unmittelbare Repräsentationen des Göttlichen oder Heiligen zu verstehen, an denen nur Anteil zu geben wäre. Was ein Symbol „ist“, erschließt sich nur durch die Analyse der entsprechenden Zeichenprozesse. Damit ist den Symbolen nichts von ihrer Bedeutung genommen. Die „Selbstmächigkeit der Zeichen“ (Meyer-Blanck in: Dressler/ ders. 1998, 272) drängt sich dem Bewusstsein auf und nötigt zur Wahrnehmung. Um das genauer zu verste‐ 241 2 Symboldidaktik <?page no="242"?> hen, verweist Meyer-Blanck auf die Semiotik, die die Formen und Abläufe der Kommunikation als die Mitteilung und das Verstehen von Zeichen beschreibt. Es gibt keine Mitteilung ohne den Gebrauch irgendwelcher Zeichen. Zu diesen gehören neben konkreten Zeichen und Symbolen auch Sprachen, Begriffe usw., die durch gemeinsame „Codes“, d. h. eine bestimmte „Grammatik“ der Auffassung bedingt sind, welche Mitteilung und Verstehen überhaupt erst möglich machen. Da also „religiöse Traditionen und Lern‐ inhalte nicht unabhängig von den Zeichen zu denken sind, mittels derer sie kommuniziert werden“ (ebd. 6), sollte nicht Symbolkunde betrieben, sondern „Zeichenkompetenz“ entwickelt werden. Das begreift „Unterricht als eine Inszenierung, die Lehrende als Regisseure und Lernende als Akteure in Zeichenprozesse verwickelt“ (ebd.). Denn „die Aufgabe einer ‚kritischen Symbolkunde‘ besteht gerade darin, funktionierende Codes symbolischer Kommunikation zu erproben“ (ebd. 18). Allerdings kann man fragen, ob diese Zeichentheorie nicht genau das leisten will, was eine echte Symboldidaktik bereits versucht. Die Symboldidaktik hat eine bleibende Einsicht in die „Macht der Sym‐ bole“ gegeben und ihre grundlegende Bedeutung für die Religion wie für religiöses Lernen. Sie ist religionsdidaktisch höchst produktiv und zeigt eine deutliche Nähe zur Gestaltseite der Religion (→ 2.2). Ihre Grenzen liegen dort, wo sie sich auf Einzelsymbole beschränkt und dann nicht frei von einem deduktiven didaktischen Denken bleiben kann. Eine umfassend ausgearbeitete Symboldidaktik müsste schließlich eine gewichtige Ergän‐ zung vornehmen, nämlich die zu einer Symbolisierungs-Didaktik (→ 18.2). Symbolisierung aber wäre genau das, was in der Konsequenz einer religiös angemessenen Didaktik wirklich dazu führt, Religion zu verstehen. Eine weitere, eigentlich zu erwartende Fortschreibung wäre eine Ritu‐ aldidaktik, die ebenfalls bisher noch ein didaktisches Neuland darstellt; schließlich eine auch methodisch ausgearbeitete Didaktik der religiösen Sprache, die über die vorhandenen Ansätze in der Bibeldidaktik hinaus das (weitgehend mythologische, gleichnishafte) religiöse Sprechen lehren müsste. 3 Lernort Kirchenraum Kirchen sind „Benutzungsorte, geronnene Spielräume des Glaubens, weil sich Liturgie und Ritus aus Symbol und Spiel entwickelt haben. Die Bauwerke ‚predi‐ 242 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="243"?> gen‘ ihre Geschichte und zugleich den Sinn, der hierbei in ihnen zur Darstellung fand.“ (Degen in JRP 13/ 1997, 153) Die „Kirchen(raum)pädagogik“ ist eine neue religionsdidaktische Bewe‐ gung, die sich - ähnlich wie Bibel- und Symboldidaktik - an der religiösen Form orientiert und auf Erfahrungsbezug setzt. Sie entstand im Zusammen‐ hang mit dem Rückgang des Gottesdienstbesuchs und der Verwaisung vieler alter Kirchengebäude in den Großstädten. Was sollte man mit den ehrwürdigen großen alten Gebäuden tun? Hier hatte die sog. „City-Kir‐ chen-Arbeit“, die in den 1980er Jahren entstand, vorgedacht. Sie präsentierte eine Neu-Entdeckung: die großen alten Kirchen hatten auch früher schon oft weit mehr Plätze als ihre Städte Einwohner; sie hatten darum eine andere Funktion als (nur) die des Gottesdienstes. Sie wurden als Agora (Marktplatz und Forum) der Städte genutzt. Überdies spiegeln sie wie nichts sonst den „Genius loci“ der Städte. Es ist darum völlig unangemessen, Kirchen nur für religiöse Zeremonien zu öffnen und sie ansonsten geschlossen zu halten. St. Lorenz in Nürnberg und St. Petri in Lübeck (die bislang erste gemeindefreie Veranstaltungskirche) waren Vorreiter einer Arbeit, die das zunehmende kunsthistorische Interesse der Kirchentouristen, aber auch die allgemein wachsende Neugier den alten Gebäuden gegenüber konstruktiv durch neue Veranstaltungsformen in diesen Räumen aufgegriffen hatte (nächtliche Jazz-Meditationen, Gebetsnischen, Ausstellungen, Turmführungen usw.). Dabei kam es zu einer Neuentdeckung der Raum-Qualität von Sakral‐ bauten. Räume sind nie nur Funktionsräume, sondern immer auch Stim‐ mungsräume; denn sie können bergend und beschützend wirken. Sie geben in besonderer Weise Orientierung. Das lässt sich gerade am Sakralraum ablesen, der in exemplarischer Weise Orientierung, d. h. Ostung vorgibt: Die alten Kirchenbauten sind in der Regel zum Orient hin ausgerichtet, zum Morgenland und nach Jerusalem hin, aus dem das Heil kam und in dem alter Vorstellung nach auch die Vollendung der Welt anbrechen soll. Entsprechend kann etwa auch die Vierung in einem Kreuzbau das Gefühl eines besonderen Raumpunktes vermitteln, der als Mittelpunkt der umgebenden Welt und des eigenen Lebens erfahren werden kann. Räume ermöglichen in ganz besonderer Weise Resonanzerfahrungen. Denn ganz offensichtlich korrespondiert die Raumerfahrung mit der Kör‐ pererfahrung. Kirchliche Räume sind nicht Behälter für theologisch ge‐ formte Lehre, sondern eher Phänomene einer Aura-gefüllten Leere, die in besonderer Weise - ähnlich wie die Wüste - das Bewusstsein erfüllter 243 3 Lernort Kirchenraum <?page no="244"?> Gegenwart ermöglicht. Sie geben, wenn man sie durchschreitet, einen „Weg ins Leben“ (Manfred Josuttis) zu erkennen. Die Religion scheint an heiligen, kraftgeladenen Stätten regelrecht zu Hause zu sein. In ihnen wird etwas „entdeckt, gewonnen, erschlossen. Das ist deshalb möglich, weil Räumen auch ein spezifischer Aufforderungscharakter, eine Atmosphäre, Gestimmtheit eigen ist“ (Failing in: Ders./ Heimbrock 1998, 114). Aus religionsdidaktischer Perspektive lassen sich Kirchenräume darum als „Biotope“ der Religion (Christoph Ricker) ansprechen. Sie führen ihre Religionsdidaktik immer schon mit sich. Sakralen Räumen wird weder eine funktionale Interpretation noch eine historische, kunstgeschichtliche oder problemorientierte Erschließung gerecht. Da sie die Atmosphäre des Reli‐ giösen spürbar werden lassen, laden sie ganz von selbst zur Empfindung von sinnlichen Resonanzen ein. Sakralräume erfordern ein prozessuales Durch‐ schreiten, das die komplexe Struktur des Raumes und seine atmosphärischen Gehalte wirklich aufnimmt. Die „Begehung“ (Christoph Bizer, → 20.1) von Kirchenräumen als Orten gelebter und formgewordener Religion bringt sinnlich-körperliche Wahrnehmung und subjektive Resonanzen (d.h.: Erfah‐ rungen! ) durch teilnehmenden Mitvollzug zusammen: das erhobene Auge erfährt im Gang die Verschiebungen der Gewölbe und die räumlichen Ver‐ bindungsstrukturen eines Sakralraumes als gleichsam selbst in Bewegung. Darum weisen neuere Veröffentlichungen zum Kirchenraum immer wieder darauf hin, dass diese Bauten keineswegs als Sitz-Räume konzipiert waren; in früheren Zeiten waren sie Orte der städtischen Versammlungen und vor allem der kultischen Prozessionen. Die Kirchenraumpädagogik hat die Absicht, religiöses Lernen an den Orten gelebter Religion festzumachen. Religiöses Lernen wird als ein Aneig‐ nungsprozess begriffen, der einen Erschließungsweg notwendig macht, wie er sich aus einer neuen Wahrnehmung der Semantik heiliger Räume selbst ergibt. Kirchenräume sind Erfahrungen anstoßende Sinnbilder, die die Logik religiösen Ausdrucks und religiöser Gestaltungsvorgänge zum Thema machen und insofern immer auch einen Einblick in die Entstehung und die Semantik von Religion überhaupt geben. Religionsdidaktische Konzepte setzen inzwischen nicht mehr auf eine kulturhistorische Erschließung, sondern verstehen die Kirchengebäude als Entdeckungsraum und Spiel-Platz. Vor allem für Kinder, aber keineswegs für sie allein, ergibt es wenig Sinn, Kirchen über Jahreszahlen und Einzelsym‐ bole zu erschließen. Die Begehung ist darum die zentrale Kategorie, und sie hat eine prinzipielle religionsdidaktische Bedeutung. Sie gibt der spirituellen 244 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="245"?> Dimension Raum, d. h. der Erfahrbarkeit von Religion und ihrer Orientie‐ rungskraft. Sie macht darüber hinaus aufmerksam auf die „Vollzugslogik“ der Religion, die allein in dynamisch-prozessualen Verfahren erschlossen werden kann. Da wir heute wissen, dass jedes Bewusstsein an Leiblichkeit gebunden ist (→ 13.5), Leiblichkeit wiederum in herausgehobener Weise in Räumen und den ihnen zugehörigen Atmosphären erlebt wird, ist die „Begehung“ zu ei‐ nem Grundbegriff der neuen religionsdidaktischen Orientierung geworden. Sie lässt sich über ein konkretes Beschreiten von Kirchenräumen hinaus auch übertragen verstehen: als die „Besichtigung“ von bzw. die Teilnahme an religiösem Geschehen überhaupt. „Begehung“ ist ein Begriff, der der Er-fahrung verwandt ist. Bizer verweist assoziativ auf den „Gedankengang“ und den Kirchgang, an den sich viele vor allem aus ihrer Kindheit erinnern, ferner auf die Verbindung von religiöser Erfahrung mit dem alten christli‐ chen Thema des Heils-Weges. Lange Zeit haben auch Prozessionen und Wallfahrten zum Grundbestand des religiösen Lebens gehört. Die Konsequenzen aus dem Begehungs-Gedanken sind weitreichend. Er lässt Erfahrungen, Resonanzen und selbsttätige Verarbeitungen zu; nur im eigenen Ausprobieren lässt sich wirklich lernen. Gerade in Zeiten des „Tra‐ ditionsabbruchs“ wird das zur Grundfrage christlicher Religionsdidaktik. 4 Liturgiedidaktik als exemplarischer ästhetischer Zugangsweg „Wer alles erklären und übersetzen … will, degradiert die andern zu dummen Besuchern.“ (Volp in Grözinger/ Lott 1997, 236) Religion wird durch Religion gelernt (Schleiermacher), also durch religiöse Darstellungsweisen und Vollzüge - und nicht durch Lehren und Inhalte. Ähnlich wie die Kunst stellt Religion verdichtete Erfahrungen von Wirk‐ lichkeit dar und auch her. Der Umgang mit der religiösen Wirklichkeit geschieht darum nicht primär durch Erkenntnis, sondern durch Erfahrung (→ 10.7; 16.3), die an dramaturgischen Gestaltungen gewonnen wird. In jeder Erfahrung spielen Atmosphären, kulturelle Deutungen, Konventionen, ei‐ gene Interessen, Einstellungen, momentanes Körpergefühl, Emotionen und vorausliegende Erfahrungen zusammen; die moderne Hirnforschung bestä‐ tigt dieses Zugleich durch die Beschreibung der Gehirntätigkeit als pattern 245 4 Liturgiedidaktik als exemplarischer ästhetischer Zugangsweg <?page no="246"?> matching (komplexer Mustervergleich, → 13.5). Religiöse Wirklichkeit zeigt und erschließt sich performativ, bildlich, symbolisch und rituell. Damit werden Phänomenologie und Ästhetik (→ 16.4, 17.4) zum neuen Erschlie‐ ßungsweg der RP. Sie führen zu einer Reihe von neuen religionsdidaktischen Zugangs-Ideen zur Religion, die bei aller Neuerung oft auf altbekannte, aber vergessene Strategien zurückverweisen. Religion kommuniziert in ihren Gestaltungsformen und Vollzügen unbedingte Bedeutungs- und Sinnerfah‐ rungen (→ 13.2). Sie wurde darum schon immer weit mehr über ihre Bilder und Räume, kultischen Vollzug, heilige Spiele und die Teilnahme an ihren Mysterien weitergegeben als über Katechese und diskursive Rationalität. Mit dieser Überlegung, die sich an der spezifischen Logik der Religion orientiert, ist wiederum eine deutliche Abkehr von einer inhalts- und problemorientierten religiösen Didaktik markiert, die sich auf eine kognitive Kommunikation über Religion beschränkt, statt sie selbst aufzusuchen. Das Interesse gilt einer Didaktik christlich-religiöser Formen, wie sie die Symboldidaktik (→ 11.2) begonnen hat und wie sie von der Performativen Religionsdidaktik fortgeführt wird (→ 11.5): „Der Gebrauch christlich-religiöser Zeichen, nicht ihr Inhalt ‚an sich‘ sollte im Vordergrund eines solchen Unterrichts in der christlichen Religion stehen … Texte, Lieder, Bilder, Bewegung und Begehungen sind probeweise, quasi experi‐ mentell zu inszenieren.“ (Meyer-Blanck in Gräb 1996, 91) Das führt zur Aufgabe, Wahrnehmungen religiöser Art anzubieten bzw. möglich werden zu lassen. Wahrnehmungskompetenz und Sprachfähigkeit sind Bedingungen der Einsicht in die Systemlogik der Religion, und sie stehen vor jeder Handlungsorientierung und rationalen Kritik: „Die Religionspädagogik ist darauf angewiesen, die christliche Religion da auf‐ zusuchen, wo sie anschaulich und konkret ausgeübt wird.“ (Bizer 1995, 7) Wenn Religion aufgesucht, „begangen“ und wahrgenommen werden soll, so ist sie mit dieser Idee auf das Zentrum ihres rituellen Vollzugs verwiesen, der zugleich ihr bedeutendster Selbst-Ausdruck ist: auf den Kultus, d. h. auf Gottesdienst, Andacht und liturgische Rituale. Hier kann „Religion im Vollzug“ (Christoph Bizer) erlebt werden. Im liturgischen Vollzug zeigen sich die grundlegenden Erfahrungen der (christlichen) Religion in symbolisch und rituell verdichteter Gestalt. Sie lassen sich hier so konzentriert erschließen wie nirgendwo anders. Gottesdienst ist der symbolische „Weg in das Leben“ (Manfred Josuttis), 246 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="247"?> er transportiert elementare menschliche Erfahrungen, die aber aufgeschlos‐ sen werden müssen. Eine solche Erschließung bringt automatisch eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Formen verdichteter symbolischer Kommu‐ nikation mit sich, die zugleich ein neues Gespür für die Bedeutung der Ästhetik für religiöses Lernen nach sich zieht. Außerdem wird hier auch noch einmal sichtbar, dass die bisherige fast exklusive Ausrichtung der RP am RU eine Engführung ist; sie muss Kirche, Gemeinde und religiöse Praxis mit einbeziehen. Wer Religion lehrt, muss darum etwas von Religion verstehen; genauer: vom Gebrauch religiöser Form: „Am Anfang ausdrücklicher Religiosität steht das kultische Handeln, das gemeinschaftliche Vollziehen der Selbst‐ darstellung des Glaubens“ (Fraas 2 1993, 136). Liturgiedidaktik sucht Religion da auf, wo sie in konzentrierter und in lebendiger Form eigene Erfahrungen zulässt. Hier können Prozesse zum Mitmachen und zum eigentätigen Ge‐ stalten von Religion erschlossen werden, die Religion wirklich verständlich machen. Liturgiefähigkeit ist darum die religiöse Kompetenz schlechthin; Schleiermacher, der das ebenso sah, nannte die „Kultusfähigkeit“ das Ziel jeden religiösen Lernens. Die besondere Pointe dieses Ansatzes ist also nicht eine liturgische Didak‐ tik, die den Gottesdienst erklären will; sondern sie liegt in einer generellen Horizonterweiterung der religiösen Didaktik überhaupt, die aus liturgischen Vollzügen heraus zu ästhetischen Erschließungswegen zur Religion und damit zur subjektiven religiösen Gestaltungs- und Ausdrucksfähigkeit führt. Die Liturgik zeigt mit aller Deutlichkeit, dass ein ästhetisch geschultes bildendes Lernen Wahrnehmung, Erfahrung, Einsicht und Gestaltungsvoll‐ züge nicht voneinander abtrennen kann. Freilich wird auch erkennbar, dass die Entdeckung der Liturgik für die religiöse Didaktik bisher nur eine (allerdings folgenreiche) Rahmenvorgabe abgibt. Liturgisch-didaktische Konzepte lassen noch auf sich warten. Wie eine entsprechende „Mystagogie“ aussehen könnte, lässt sich allenfalls in ersten Umrissen erkennen. Die Formen, Gestalten, Räume und Vollzüge der Religion gehören ins Zentrum einer religiösen Didaktik (→ 13). Denn sie zeigen oft sehr viel genauer die „Eigenlogik“ des Religiösen, die allem Re-Flektieren (d. h. Nach- Denken) voraus gehen muss; und sie wären vor allem in der Lage, der heu‐ tigen Erfahrungsarmut und dem religiösen Traditionsverlust zu begegnen. Liturgiedidaktik ebenso wie Kirchenraumpädagogik sind keine bloß mo‐ dische Erlebnispädagogik. Auch der Vorwurf der Irrationalität greift zu kurz. Eine echte und tiefe Begegnung mit religiösen Formen und Vollzügen hat 247 4 Liturgiedidaktik als exemplarischer ästhetischer Zugangsweg <?page no="248"?> - neben der persönlichen Bereicherung - gerade die Bedeutung, einen Sinn für Religion zu entfalten und ein Gespür für sie zu entwickeln, das oft sehr viel empfindsamer und darum kritischer zu sein vermag als ein rationaler Zugriff, der die Religion immer zunächst nur „von außen“ ansieht. Schließlich kann auch nicht von Inhaltsvergessenheit die Rede sein, da die Religionsdidaktik hier lediglich bestimmte, dogmatisch-lehrhafte Inhalte relativiert, deren religiöse Bedeutung und Inspirationskraft oft als zweifelhaft gelten muss. Theologische Dogmatik ist unverzichtbar für die interne, kritisch-intellektuelle Klärung - sie taugt darum aber noch nicht automatisch als Inhalt religiöser Lehre. Sie war vor allem in früheren Jahrhunderten einem sehr kleinen Kreis von Spezialisten vorbehalten - und sie ist es heute wieder. Man kann aber davon ausgehen, dass das Christliche schon immer weit mehr über seine Formen und Gestaltungen vererbt wurde als über das Wissen von Inhalten. Denn Voraussetzung für seine Weitergabe ist seine Kommunikation, und deren Voraussetzung ist Erfahrbarkeit, d. h. eigene Betroffenheit, eigener Bezug und ein „inneres“ Verstehen, das sich über die Wahrnehmung von religiösen Formen und die Teilnahme an religiösen Vollzügen herstellt. 5 Performative Religionsdidaktik „Religiöse Bildung, die Religion wie einen Sachverhalt zu erschließen versucht, bringt ihren Gegenstand zum Verschwinden, bevor sie auch nur eine Ahnung von ihm vermitteln konnte.“ (Dressler in Leonhard/ Klie 2008, 90) Die Performative Religionsdidaktik, die erstmals 2003 von Silke Leonhard und Thomas Klie programmatisch gemacht wurde, setzt diese Überlegungen zum „Vollzugssinn“ der Religion (Bernhard Dressler) konsequent um. Sie bringt in eine übergreifende religionsdidaktische Überlegung, was bisher zu den religionsdidaktischen Modellen gesagt wurde. Sie spiegelt ferner den „performative turn“ in den Kulturwissenschaften, der auf die eigen‐ ständige und unverzichtbare Vollzugsdimension geistiger Gehalte aufmerk‐ sam geworden ist und in der allgemeinen Pädagogik längst seine Spuren hinterlassen hat. Performative Religionsdidaktik ist im Grunde gar keine eigenständige und abgrenzbare Form religiöser Didaktik, sondern stellt eher die gedankliche Konsequenz aus den Einsichten in die Struktur religiöser 248 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="249"?> Lernprozesse dar, genau besehen aber auch in die Struktur und Verfassung von Religion überhaupt. Friedrich Schleiermacher hatte längst darauf verwiesen, dass die religiöse Mitteilung grundsätzlich an ihre Darstellung gebunden ist; dass es eine objektivierte Religion also gar nicht geben kann. Religion tradiert keine Sachverhaltsbehauptungen und objektiven oder gar ab-soluten (d. h. wört‐ lich: losgelösten) Wahrheiten, sondern elementare Erfahrungen und Deu‐ tungsmöglichkeiten. Daher lebt sie vor allem in ihren Bildern, Gleichnissen und ereignishaften Geschehensabläufen. Die Performative Religionsdidak‐ tik nimmt das ernst. Damit ist sie eine Art genereller Tendenzanzeiger für die Religionsdidaktik und religionspädagogisch entsprechend bedeutsam. Konsequenzen zieht sie außerdem aus der Einsicht in die weitgehend abgebrochene christlich-religiöse Sozialisation und versucht, erst einmal einen Zugang zur Religion anzubieten. Wer Religion verstehen will, muss ihre symbolischen Kommunikations‐ wege erschließen. Konsequenter Weise ist daher auch meist von „Lernge‐ genständen“, nicht von Inhalten die Rede. Gerade die Texte, die für das Christentum so wichtig sind, sind ja keine objektiven Vorgaben. Diese Texte waren und sind in konkreten Situationen „zu Hause“ und wollen nach-gesprochen und nach-vollzogen werden, damit je eigene und neue religiöse Erfahrungen angestoßen werden. Eine kognitiv-kritische Annähe‐ rung allein wird dem nicht gerecht; sie operiert sozusagen im luftleeren Raum. Ein liturgischer oder biblischer Text etwa verändert seine Qualität ganz erheblich, wenn er statt von einem Arbeitsblatt vorgelesen gemeinsam und feierlich in einer Kirche gesprochen wird. Neben der klassischen Texthermeneutik (→ 16.4), wie sie vor allem in der Exegese praktiziert wird, wird hier die unverzichtbare Notwendigkeit der Inszenierung und Präsentation, also einer gekonnten Dramaturgie der Religion, neu bewusst. Performative Religionsdidaktik geht von der Einsicht aus, dass Lernen an sinnliche Wahrnehmung gebunden ist und religiöses Lernen an die sinnliche Wahrnehmung religiöser Prozesse. Religion wird durch Religion gelernt (Friedrich Schleiermacher), also nicht durch Reflexion über sie, sondern vorwiegend durch ihre „Gebrauchszusammenhänge“. Damit sind Rituale, Haltungen, Gesten und andere Ausdrucksformen der Religion gemeint, aber auch Sprechvollzüge, Liturgie oder die prozessuale Erschließung von Sakralräumen. Hier wirkt der Gedanke der „Begehung“ von Christoph Bizer in grundlegender Form weiter; aber auch die neueren Einsichten in die 249 5 Performative Religionsdidaktik <?page no="250"?> ästhetische Struktur religiöser Gehalte und Ausdrucksformen, die selbst für ihre Texte und deren Rezeption gültig ist (→ 17.4). Damit verfolgt die Performative Religionsdidaktik eine doppelte Absicht: einmal die Anbahnung einer Einsicht in die Vollzüge, Abläufe und damit in die Vollzugslogik der Religion. Und zum anderen ein zumindest anfängliches Wissen darum, wie „es geht“ - also ein Wissen um religiöse Ausdrucksmög‐ lichkeiten und eine erste praktische Annäherung an solche. Ihre grundle‐ gende methodische Idee ist die eines (freibleibenden) Probehandelns, das neben der Möglichkeit eines intensiveren Kennenlernens und Verstehens von religiösen Prozessen auch die der Identifikation anbietet. In jedem Fall ist hier eine innere Beteiligung angezielt, die die störende Distanzierung von der Religion durch historische Echtheitsfragen überspringt und diese Fragen in die erst im Nachhinein sinnvolle Re-flexion, also ins Nach-Denken, stellt. Beides muss zusammenkommen: „Beobachtung ohne Teilnahme ist leer, Teilnahme ohne Beobachtung ist blind“ (Klie/ Dressler ebd. 233). Auch biblische Erzählungen, Gleichnisse, Symbole, Zeichen, Prozesse, Liturgie versteht man am besten dann, wenn man sie aufsucht und mitvoll‐ zieht und noch besser, wenn man sie selbst gestaltet. Wer Kunst verstehen will, muss künstlerisch arbeiten; wer Englisch lernen will, muss englisch sprechen. Für Religion gilt das ganz ebenso. Hier darf keine falsche Scheu vorherrschen. Alle religiösen Formen sind kulturelle Produkte, was Manfred Josuttis zu dem Buchtitel „Religion als Handwerk“ geführt hat. Der Unter‐ schied ist lediglich der, dass es in der Religion um das Ganze des Lebens geht: „(Christlich) religiöse Formen interpretieren Wirklichkeit, indem sie sie als Got‐ teswirklichkeit inszenieren und darüber Interpretationsspielräume gewinnen.“ (Klie, in: Kumlehn/ Klie 2011, 267) Religiöse Sprache ist performative Sprache; sie macht wirklich, was sie aussagt, so wie das etwas bei einem Versprechen der Fall ist (s. u.). Dieser Zusammenhang wird in der performativen RP kaum thematisiert. Die inzwischen vorgebrachte Kritik, dass hier vor allem der schulische RU einerseits seine Grenzen überspringe und andererseits Religion zu pragmatischer Spielerei verkommen lasse, trifft nicht. Probehandeln ist eine pädagogische Grundkategorie und in allen schulischen Fächern einge‐ führt und selbstverständlich im Gebrauch. Die Tatsache, dass man sich ausgerechnet im RU so schwer mit ihr tut, lässt sich einerseits aus den heiklen Freiheitsgrenzen, die dieses Fach berührt, erklären; andererseits 250 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="251"?> aus dem verbreiteten Gefühl der besonderen Heiligkeit religiöser Dinge, die scheinbar der eigenen Verfügung entzogen sind. Allen Beteiligten muss immer daher die Möglichkeit der Distanzierung eingeräumt werden. Die Unterscheidung religiösen Probehandelns von authentischer Religionspra‐ xis muss deutlich sein. Lebendige Religion aber lädt, wie wir gesehen haben, gerade dazu ein, sich in ihren Inszenierungen und Deutungsvollzügen selbst auszuprobieren. Performative Religionsdidaktik zielt denn auch keineswegs eine Ein‐ übung in vorgegebene Schemen an, sondern vielmehr ein freies Experi‐ mentieren und Ausprobieren. Sie geht davon aus, dass prinzipiell alles zum Anlass für religiöse Einsicht und Erfahrung werden kann, dass das vorrangig aber natürlich die geprägten Bilder und Rituale der Religion sind. Es ist darum kein Zufall, dass neben einer Vielzahl von unterschiedlichen performativen Ideen vor allem biblische Erfahrungswege, Kirchenräume und liturgische Elemente im Blick sind. Im Grunde müsste auch das Studium der Theologie an der Hochschule (→ 7) primär ein Studium religiöser Vollzüge sein, und nicht (nur) ein Studium von deren theologischer Verarbeitung und historischer Wirkung - ein ebenso ungewohnter wie folgenreicher Gedanke. Das theologische Studium ist wenig sinnvoll, wenn seine Abgänger theologisch versiert, aber religiös inkompetent sind. 6 Allgemeinreligiöse Didaktikformen Religion wird durch Religion gelernt - und eben nicht nur durch die Nie‐ derschläge religiöser Erfahrung in christlichen Traditionsbeständen. Diese können durchaus religiös inspirierend sein, müssen heute um der allgemei‐ nen Plausibilität willen aber erweitert werden zu einem religiösen Lernen, das Religion nicht mit der christlichen Glaubenstradition kurzschließt. Die behandelten religionsdidaktischen Modelle sind dafür durchaus hilfreich; sie müssen heute aber überschritten werden in Richtung eines religiösen Lernens, das Religion umfassend versteht und durch religiöses Erleben (→ 2.2, 18.1) aufschließt. Dafür gibt es Ideen, die in der RP bisher noch kaum zur Kenntnis genommen werden. 251 6 Allgemeinreligiöse Didaktikformen <?page no="252"?> Religiöse Sprachlehre Allererste Ansätze zur Realisierung dieser religionsdidaktischen Forderung finden sich in einer religiösen Sprachlehre, wie sie erstmals Hubertus Halbfas vorgelegt hat. Wer jemals selbst eine religiöse Erfahrung gemacht hat, dem muss klar sein, dass die sich nicht in rationaler Sprache ausdrücken lässt. Sie braucht eine bildhafte, plastische, poetische Sprache, die das Erlebte nicht genau, sondern prägnant wiedergibt: Nur komplexe Bildsprache ist einem solchen Erleben angemessen, und das Erleben wird nur und gerade durch eine solche Sprache auch für andere verständlich. Neue Aufmerksamkeit sollte darum auf die Eigenart der religiösen Spra‐ che gelegt werden. Sie ist zum Verstehen und inneren Nachvollziehen von Religion zentral bedeutsam. Ingo Baldermann geht in seiner Bibeldidaktik deshalb sinnvollerweise von den Psalmen aus, deren emotionale Sprachge‐ walt nicht nur unmittelbar nachvollziehbar ist, sondern fast von selbst ins Weitersprechen und in die (gestische) Darstellung führt. Für die religiöse Sprache sind an dieser Stelle Einsichten der Sprachanalyse fruchtbar zu ma‐ chen, die die „pragmatische“ Dimension der Sprache herausstellt. Neben der Informationsvermittlung (Inhalte) ist Sprache auch als Handlung begreifbar. Die „Sprechakttheorie“ ( J.L. Austin) betont, dass Sprache das herstellt, was sie sagt: Sie hat eine performative Dimension. Das gilt etwa bei Beleidigung, Beschuldigung, Lob, Aufforderung, Ernennung, Entschuldigung usw., die mehr und anderes sind als Information. In der Religion ist die performative Funktion der Sprache verbreitet, z. B. im Segen, in rituellen Formeln, in Gleichnissen. Auch hier zeigt sich, dass eine inhaltsbezogene theologische Auslegung oder Didaktik diese entscheidend wichtige Dimension nicht in den Blick bekommt. Für das religiöse Verstehen ist darum ein Grundwissen über symbolische Formen unverzichtbar. Eine Sage kreist um einen historischen Kern, eine Legende erzählt einen historischen Bedeutungsgehalt in Überhöhungen und Übermalungen; Märchen kreisen um wichtige existenzielle Erlebnisse und Entwicklungserfahrungen; Gleichnisse verdeutlichen bestimmte Sicht‐ weisen; Apokalypsen sind Visionen eines Eingreifens Gottes angesichts erfahrener Not; Mythen versuchen grundlegende Zusammenhänge der Weltwirklichkeit (Schöpfung, Weltverständnis, Götter u. a.) erzählend zu erklären. Weiterhin gibt es Briefe, Predigten, Gebetstexte u. v. a., die alle einen bestimmten „Sitz im Leben“ haben, also einen bestimmten Ort und 252 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="253"?> einen entsprechenden Funktionszusammenhang, der eine Aussage über die Intention des Textes macht. Die jeweiligen Formen können mehr oder weniger passend und ange‐ messen sein. Ihr Wahrheitsgehalt aber ist immer auf der Bedeutungsebene zu finden. Deshalb werden solche Geschichten oft lange überliefert und immer wieder ausgelegt; was nicht erforderlich wäre, wenn es sich um schlichte Informationsmitteilungen handelte. Zeitungsmeldungen sind oft schon am Folgetag veraltet. Das historische Für-Wahrhalten solcher Formen ist religiöse Naivität, das wörtliche Verstehen Aberglaube. Eine religiöse Sprachlehre muss allerdings immer übergehen in ein allgemeines religiöses Symbolverstehen. Denn Religion drückt sich nicht nur in Texten aus. Spirituelle Praxis Religion wird verständlich durch religiöses Erleben; und dieses erschließt sich für die weitaus meisten Menschen heute primär durch das Feld der Spiritualität, d. h. der religiösen Praxisformen Askese (Fasten u. a.), Pilgern, Atmen (Meditieren u. a.) und schweigender Rückzug (Kloster-Retreat, Auf‐ enthalt in einsamer Natur u. a.), das immer eine alltags-unterbrechende methodisch bestimmte Praxis mit einem bestimmten Bewusstsein verbindet. Wer wenig isst, auf den Atem hört, Schritt für Schritt geradeaus geht usw., kann in diesen schlichten, oft als befreiend erfahrenen Vollzügen ein neues Gespür für das eigene Leben entwickeln und entsprechende Kräfte freisetzen. Spiritualität ist die paradoxe Verbindung von Übung und Unverfügbar‐ keitserfahrung. Der Begriff bezeichnet sowohl gelebte, phänomenologisch beschreibbare Formen von Frömmigkeit als auch eine Einstellung. Er löst den christlichen Begriff der „Frömmigkeit“ (Einstellung und Praxis des Glau‐ bens) ab und ist heute allgemein gebräuchlicher Ausdruck für persönliche religiöse Ausdruckshaltung, Suche und Entfaltung. Das spirituelle Wirklichkeitsverständnis steht einer funktionalen, tech‐ nisierten Welt gegenüber und denkt in umfassenden, „ganzheitlichen“ Kategorien, die neben der Vernunft vor allem die Sinne mit einbeziehen und auch für übersinnliche Erfahrungen offen sind. Das Interesse an Spiritualität (u. a. an buddhistischen Formen, Klöstern, Meditation) ist derzeit hoch. Es lässt sich als Gegenbewegung zur zunehmenden Unübersichtlichkeit, Ungeborgenheit, mangelnder Emotion und Vitalität der Moderne begreifen (→ 14.1-2, 15.1-2), aber auch als Folge einer Enttäuschung durch die 253 6 Allgemeinreligiöse Didaktikformen <?page no="254"?> traditionellen Religionsformen. Spiritualität ist individuell frei und kommt Erlebniswünschen entgegen. Spezifisch christliche Formen sind Gebet, Traum, Wallfahrt (Pilger‐ schaft), gottesdienstliche Liturgik, Segenshandlungen (die als Zuspruch von Kraft erfahren werden) usw. Christliche Spiritualität ist konfessionell unterschiedlich ausgeprägt. Evangelische Tendenzen sind schlicht und auf Wort und Musik zentriert; sie zeigen sich in Bibellektüre, Predigthören, Gemeindegesang und einer entfalteten Kirchenmusik. Katholische sind eher auf sinnliche Wahrnehmung bezogen, weihevoll und feierlich, etwa in der Messfeier (Kirche gilt hier als corpus mysticum), der Verehrung von Heiligen und der Maria, in spezifischen Formen wie Rosenkranzgebet, ignatianischen Exerzitien usw. Die orthodoxe Spiritualität kennt vor allem die Ikonenverehrung und eine reich ausgeprägte Liturgie. Eine interessante Mischform aus allen drei christlichen Konfessionen stellt die Spiritualität von Taizé mit ihren Kerzen, Ikonen, litaneiartigen Gesängen, Predigten und Gemeinschaftserfahrungen dar, die für individualisierte Religion ein hohes Maß an freiem Einschwingen erlaubt und entsprechend geschätzt wird. In der Theologie wird die (christliche) Spiritualität kaum beachtet, obwohl sie doch eigentlich als Kern gegenwärtig gelebter Frömmigkeit gelten kann. Hier besteht dringender Nachholbedarf. Spirituelle Kompetenz kann als religionspädagogische Grundkompetenz gelten. Denn Religion kann eigentlich nicht verstanden und entsprechend nicht gelehrt und gelernt werden ohne den Vollzug religiöser Praxis. Für die RP ist Spiritualität deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie als Niederschlag der Vollzugslogik der Religion verstanden werden kann, die den Zugang zur Religion möglich macht wie nichts sonst. Im RU sind inzwischen Stilleübungen eingeführt, die einen ersten spirituellen Anfang bilden, an dessen fernem Ende mystische Erfahrungen stehen können. Religiöses Spiel „Das Leben ist ein Spiel. Nicht eins, das wir spielen oder nicht spielen können. Sondern eins, in das wir verwickelt sind … Didaktik und Methodik nicht nur des Religionsunterrichts, sondern auch der anderen Unterrichtsfächer können nur dann sinnvolle Lernprozesse anregen, wenn sie dem Spiel des Lebens ent‐ sprechen … Immer geht es … um neue Perspektiven, neue Sehweisen, das Leben wahrzunehmen, es für wahr zu nehmen. Leben wird auf die Bühne gebracht, um es mit anderen Augen zu sehen.“ (Beuscher/ Zilleßen 1998, 17 und 127) 254 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="255"?> Das Spiel stellt neben dem religiösen Erleben die höchste Form innerer Beteiligung dar. Es macht Lust, lässt andere Sichtweisen und Perspektiven erleben und kann zu tiefen Einsichten, Veränderungen und zu Heilung führen. Es ist deutlichster Ausdruck des Welt- und Selbstbezugs bei Kindern: Sie sind ganz bei der Sache, und zugleich ganz bei sich selbst. Jedes Spiel ist das probeweise Eintauchen in ein Netz von Regeln, den Freiheiten, mit diesen Regeln umzugehen und der Erfahrung eines spannungsvollen Ablaufs, dessen Ende - so sehr es auch vom eigenen Mittun abhängt - immer offen ist. Das Spiel erlaubt die Erfahrung von unmittelbarer Präsenz. Wer spielt, kann die Erfahrung machen, dass nicht er selbst es ist, der handelt, sondern dass er sich inmitten eines geheimnisvollen Vollzugs befindet: „Das Spiel hat ein eigenes Wesen, unabhängig von dem Bewußtsein derer, die spielen … Das Subjekt des Spieles sind nicht die Spieler, sondern das Spiel kommt durch die Spielenden lediglich zur Darstellung … Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird.“ (Gadamer 1960, 108 und 112) Das Spiel kommuniziert in verdichteter Form Grunderfahrungen des Le‐ bens. Das Leben überhaupt lässt sich als Spiel verstehen, in dem wir uns immer schon vorfinden. Echtes Spiel ist immer dramatisch (Theater, Rollenspiel, therapeutisches, sportliches und religiöses Spiel). Es erlaubt eine starke Identifizierung mit Rollen, aber auch mit Geschichten und Mythen und deren Erfahrungspotenzial, gleichzeitig mit der Rolle aber auch eine schützende innere Distanzierung. Es ermöglicht ein „szenisches Verstehen“ (Alfred Lorenzer) und dadurch eine Bewusstwerdung, die die Welt und das eigene Leben in ein neues Licht stellen und darum zu nachhaltigen Veränderungen und Umorientierungen führen können. Das Spiel ist darum alles andere als Spielerei; es kann eine deutliche Nähe zur religiösen Erfahrung haben und ist darüber hinaus das Grundphänomen einer als Entfaltung verstandenen Bildung des Menschen: „Spiel könnte ein Modell für alle Formen von sozialen und sachlichen Beziehun‐ gen abgeben, in denen Räume der Freiheit im Verhältnis zwischen Subjekt und Welt verwirklicht werden. Es wäre damit auch der wesentliche Bildungsbereich.“ (Schäfer 1995, 175) Spiel ist grundsätzlich mit Lust verbunden, da es Neugier mit Spannung, Körpererfahrung, eigenem Ausprobieren und wacher Aufmerksamkeit ver‐ bindet. Es ist darum auch ein grundlegender Ausdruck für Lernen überhaupt. 255 6 Allgemeinreligiöse Didaktikformen <?page no="256"?> Vom antiken Theaterspiel über die Mysterienkulte und die Mysterien‐ spiele im Mittelalter zeigt sich die Bedeutung des Spiels für das existenzielle und religiöse Erleben. Religion ist immer aufgeführt worden. Auch Kultus und Liturgie sind Spiel: Religiöse Rituale sind Kult- Spiele. Wiederentdeckt hat man das erst mit der Bibliodramabewegung in den 1970er Jahren. Diese versteht die biblischen Texte als inspirierende Erfahrungen (nicht also als Niederschlag historischer Daten) und will diese im Spiel neu für die Gegenwart erschließen. Sie erlauben so einen Nachvollzug und ein Eintauchen in religiöse Gehalte, die dazu führen kommen, „daß Menschen hier etwas wie eine ‚seelische Wiedergeburt‘ erleben“ (Kiehn 1987, 114 f.). Biblische Texte stehen da jenseits jeder dogmatischen Verrechenbarkeit. Es zeigt sich jedoch auch, dass die großen theologischen Themen sich auch auf solche unkonventionelle Weise oft wie von selbst herstellen. Im Bibliodrama hat das Körper-Erleben eine besondere Bedeutung. Bibli‐ sche Texte gelangen, wie im Theater, zu einer Aufführung, die spontane Impulse und freie Entfaltung erlaubt. Bei der szenischen Umsetzung des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg z. B. (Mt. 20) ist damit zu rechnen, dass keineswegs die Anerkennung des unverschuldet gegebenen Lohns zum Ausdruck kommt, sondern angesammelte Wut aus Enttäuschun‐ gen, Kränkungen und Ohnmachtserfahrungen. Das Bibliodrama ist eine Korrektur einseitiger Zugangs- und Verstehensweisen zu den Gehalten der christlichen Religion. Es füllt religiöse Formen mit neuem Leben und überschreitet die starke Traditions- und Vergangenheitsausrichtung der Theologie. Es kennt nach Gerhard M. Martin, einem seiner Protagonisten, nicht nur die Form des tragischen „Dramas“, sondern auch die der „göttli‐ chen Komödie“ und des absurden Theaters. Antje Kiehn hat die dramatische Seite des religiösen Spiels besonders betont. Die „großen Augenblicke“ (Tillich) sind jene Erfahrungen im Bibli‐ odrama, die Aspekte des „dunklen Gottes“ ans Licht bringen können; oft tauchen abgespaltene und verdrängte Erfahrungen und psychische Inhalte auf. Immer wieder kommt es zu Wandlungs- und Durchbruchserfahrungen durch Identifikation, die dogmatische Sicherungen unterlaufen können: „In diesen ‚großen Augenblicken‘ wird durch das Alltagsbewußtsein hindurch eine Bresche geschlagen“ (Kiehn 1987, 110 f.). Solche Erfahrung kann als die Erfahrung von Sinn erlebt werden, sie kann zu größerem Einverständnis mit dem Leben und zu Reifung führen. Für den Ablauf eines Bibliodramas hat sich ein gewisses Schema etabliert. Die Gruppe, die einen biblischen Text zur Aufführung bringen will, beginnt 256 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="257"?> im Sitzkreis mit einer Meditation über den Text (meist ein kürzerer Ab‐ schnitt); dann werden Rollen zugeteilt und es beginnt das Spiel. Es endet mit einem Gespräch über die Erfahrungen, die sich eingestellt haben. Der Verlauf des Spiels selbst ist unplanbar und führt oft zu überraschenden Aussagen, Wendungen, neuen Szenen und starken Emotionen. So kann es etwa vorkommen, dass bei einem Spiel zwischen Jesus und Judas Jesus in die Defensive gerät. Die Spieler spielen aufgrund der starken Identifika‐ tionsmöglichkeiten sich selbst, ihre oft unbewussten Anschauungen und Fragen. Die Bedeutung des religiösen Spiels für religiöses Lernen „Das Spiel erklärt nicht, aber es führt dazu, daß die Geschichte nochmals Geschichte wird. Wenn jemand den mythischen Schock auch nur einmal ahnend erfahren hat, dann ist ein Stück Bewußtsein erweckt worden. Das Erwachen des Bewußtseins ist der Anfang der Verwandlung.“ (Laeuchli in Kiehn 1987, 39) Was in Lektüre, Lehre oder Verkündigung ein fremdes Geschehen bleibt, kann im religiösen Spiel zu einer tief bewegenden religiösen Erfahrung werden. Der „mythische Schock“, von dem Samuel Laeuchli spricht, ist der Moment der Bewusstwerdung, der die Dramatik der alten religiösen und mythischen Szenen bei sich selbst erkennt und entdeckt. Solche Erfahrung kann als Gnade, Wunder und Erlösung erlebt werden; denn nichts vermag einen Menschen so zu bewegen wie eine Wandlung seiner selbst. Heil und Heilung sind sich im religiösen Spiel so nahe wie nirgends sonst. Kultus und religiöses Spiel sind exemplarische Orte für religiöse Erfah‐ rung. Sie haben darum eine nicht zu ersetzende Bedeutung für religiöses Lernen. In kaum einem anderen Lebensbereich kommt es so schnell und mit oft so nachhaltiger Wirkung zu Perspektivveränderungen und neuen Erfahrungen wie im rituellen Spiel. Existenzielle und religiöse Grundthemen wie das menschliche Begehren, die Angst, der Wunsch nach Gemeinschaft und die Sehnsucht nach Wandlung finden hier zugleich mit der Emotion, die sich als Freude am Spiel und als unmittelbares Berührtsein zeigen, zu einer herausragenden Bildungswirkung. Das Spiel ist gleichermaßen Ausdruckswie Wahrnehmungs- und Bewusstwerdungsphänomen. Die Grundeinsicht des Spiels ist einer Grunderfahrung des Lebens selbst vergleichbar: Mir wird mitgespielt - ich muss und kann aber wieder ins Spiel kommen: 257 6 Allgemeinreligiöse Didaktikformen <?page no="258"?> „Verändern kann ich überhaupt nichts, wenn ich es will. Erst wenn mir klar geworden ist, daß die einzige Chance ist, das, was ich nun schon bin, auch zu spielen, dann kann sich alles verändern.“ (Zilleßen in Beuscher u. a. 1996, 34) Wer die mythischen und religiösen Szenen spielt, macht eine im Wortsinne dramatische Erfahrung, die eine Bewusstwerdung durch „Somatisierung des Verstehens“ (Samuel Laeuchli) bedeuten kann, eine Überbrückung zwischen damals und heute durch unmittelbares Nacherleben. „Historische“ Wahrheit hätte deren lange Überlieferung und ihre bis heute erfahrbare Wirkung niemals erklären können. Religionsdidaktisch interessant und bezeichnend ist Samuel Laeuchlis „mimetisches Spiel“, das das religiöse Spiel in ganz na‐ heliegenderweise auf die Bereiche von Märchen, Sagen und fremdreligiösen Mythen und Figuren hin ausdehnt. In diesen zeigen sich die dramatischen Konstellationen der Existenzthemen oft in ganz derselben Weise wie in den Traditionen der eigenen Religion. Inszenierung und Leitung religiöser Spiele setzt eine solide Ausbildung und auch therapeutische Erfahrung voraus, ferner sorgfältige Inszenie‐ rungskompetenz. Diese lässt sich lernen. Dabei ist klein anzufangen, mit knappen Szenen und wenigen Spielern, und mit Einbezug der eigenen Selbsterfahrung im Spiel. Bei unerfahrenen Gruppen sind klare Absprachen wichtig. Erst wenn sich eine gewisse Sicherheit und Routine einstellt, kann das Spiel vergrößert und freigegeben werden. Vorgaben brauchen nur knapp zu sein: Eine kurze Einführung in Text oder Szene genügt. Wichtig ist der Austausch im Gespräch hinterher, der allerdings auf „Erklärungen“ verzichten und lediglich der Mitteilung von Erfahrungen dienen sollte. Das religiöse Spiel orientiert sich nach wie vor an Traditionsvorgaben, weitet diese aber aus und nimmt sie vor allem in die eigene Regie. Es ist nicht nur teilnehmendes Probehandeln, sondern selbst religionsbildend. Damit setzt sich die von Laeuchli begonnene Linie in Richtung einer eigen‐ ständigen religiösen Produktivität fort, die der Autonomie des modernen Menschen gerecht wird und zu einem zentralen Erfordernis einer heute plausiblen Religionsdidaktik. Zusammenfassung Die spezifische Eigenlogik der Religion hat sich in einer Reihe von re‐ ligionsdidaktischen Modellen niedergeschlagen, die in den Ausdrucks‐ formen der Religion den Niederschlag von tiefen Erfahrungen se‐ hen und darum eine implizite didaktische Absicht. Die Bibeldidaktik 258 11 Formen christlicher Religionsdidaktik <?page no="259"?> schließt biblische Texte so auf, dass neue Erfahrungen und Sichtweisen möglich werden. Die Symboldidaktik versteht Religion als Symbolkon‐ text und öffnet den Zugang zu ihr durch symbolisches Verstehen. Kirchenraumpädagogik, Liturgiedidaktik und religiöses Spiel erschlie‐ ßen Religion ästhetisch, sodass gleichzeitig mit dem Nachvollzug reli‐ giöser Formen Selbsterfahrungen möglich werden. Die Performative Religionsdidaktik fasst das im Sinne eines religiösen Probehandelns zusammen. Literatur Zu 1: G. Lämmermann u. a. 1999; bes. M. Baumann, 33-43 - I. Baldermann 2006 und 2007 - H.K. Berg 2000 und 2003 - G. Theißen 2003. Zu 2: H. Halbfas 1982 - P. Biehl 1989 - G. Hilger in: G. Hilger/ S. Leimgruber/ H.-G. Ziebertz 2001, 330-339 - B. Dressler/ M. Meyer-Blanck 1998 - NHRPG V.1.5. Zu 3: C. Bizer 1995 - T. Klie 1998 - R. Degen/ I. Hansen 1998 - M.L. Goecke-Sei‐ schab/ J. Ohlemacher 1998. Zu 4: C. Bizer in: JRP 5 (1988), 83-111 - NHRPG III.3.2. Zu 5: S. T. Klie/ S. Leonhard 2008 - Leonhard/ T. Klie 2009 - H. Mendl 2016. Zu 6: A. Kiehn 1989 - S. Laeuchli 1988 - H. Aldebert 2001 - G.M. Martin 2001. 259 Literatur <?page no="260"?> 12 Didaktik des Religionsunterrichts „Als Resultat … ergibt sich das magere Fazit, daß die Schülerorientierung des Re‐ ligionsunterrichts von der Religionspädagogik bisher kaum theoretisch realisiert werden konnte. Sie bleibt Lehrern überlassen.“ (Lotz in Heimbrock 1998, 185) In der Tat werden die Einstellungen, Bedürfnisse und Erfahrungen von Schülern - gar ihre religiösen Erfahrungen - in der RP bisher keineswegs als konstitutiver Ausgangspunkt der Religionsdidaktik eingesetzt. Der RU richtet sich in der Praxis des Schulalltags an den Lehrplänen aus, und diese gehen bisher nur wenig auf die Eigenart religiösen Erlebens, Denkens und Ausdrucks ein. Vorausgesetzt ist hier wieder, dass Religion ein symbolischer Bedeutungs‐ träger ist (→ 2.2), daher eher als Ort und Medium von Erfahrungen auftreten sollte: als Sprache, Bild, Symbol, Atmosphäre, Ausdruck usw. (→ 10.7, 16.3). Die Frage ist jetzt: wie kann am Ort Schule guter RU gehalten werden? Was gehört zum „Handwerkszeug“ eines guten Religionslehrers? 1 Schüler und ihre Einstellung zum RU Schüler und Schulklasse „Im Geschichtsunterricht einer Münchner Hauptschule fällt ein Fünftkläßler ohne jeden Grund und mit lautem Knall vom Stuhl. ‚So was‘, berichtet die Leh‐ rerin …, ‚passiert immer wieder, die Kinder haben sich körperlich einfach nicht mehr unter Kontrolle.‘ … ‚Früher‘, sagt sie, habe sie ‚vielleicht zwei, drei unruhige Fälle gehabt‘, heute sei ‚die Hälfte der Schüler undiszipliniert.‘ … An allen Schulen mangelt es den Schülern an einfachen Grundfertigkeiten: Gedächtnis, Ausdauer, Einfühlungsvermögen, innere Disziplin.“ (Der SPIEGEL, 11.4.1988, 28 f.) Ist diese Schilderung übertrieben? Der Bericht, der unter dem Titel „Gestört und seelisch tot. Gewalt und Gefühlsarmut verändern das Klima an den Schulen“ immerhin bereits 1988 (! ) erschien (und immer wieder Nachfolger hatte), bearbeitet ein Tabu. Weder Lehrer noch Eltern gestehen gern ein, was an unseren Schulen passiert. Der Befund gilt zunächst für die sozia‐ len Brennpunkte der großen Städte; Medien und Mobilität gleichen das <?page no="261"?> Verhalten aber auch in den übrigen Bereichen immer mehr an. Zwar lässt sich inzwischen wieder eine leicht ansteigende Leistungsbereitschaft bei Schülern feststellen, aber kaum eine Verbesserung des allgemeinen Trends (→ 4.3). Schüler heute sind individualisiert, haben viele Freiheiten und Mög‐ lichkeiten, aber oft wenig Disziplin. Reizüberflutung durch die Medien, geringe Verarbeitungszeit und vor allem mangelnde soziale Begleitung kennzeichnen ihre Situation. Dazu kommt meist eine konsumbedingte hohe Anspruchshaltung, die sich auch auf Reiz- und Impuls-Erwartungen auswirkt. Verbreitet ist die Einstellung: Man muss sehen, dass man zu etwas kommt; man darf sich nichts gefallen lassen. In internationalen Lernvergleichen („PISA-Studie“) erscheinen deutsche Schüler auf den hinteren Plätzen. Das schafft Aufregung in der Bildungspoli‐ tik und in der Öffentlichkeit. Die bisherigen Unternehmungen - Einführung von Lernstandards, Erhöhung der Leistungsanforderungen - führen aus pädagogischer Sicht allerdings glatt in die falsche Richtung: Anstatt den (auch im Leben allgemein) bereits vorhandenen Druck noch zu erhöhen, müsste die Motivation von Schülern und Lehrern verbessert werden. Darum gibt es zwei Gründe für schlechte Schülerleistungen: Die Schüler der Kon‐ sumgesellschaft sind saturiert und müde. Und: Schulisches Wissen ist allzu oft tote Information mit erstaunlich wenig Lebensbezug. Woher soll da die Motivation zum Lernen kommen? Es geht an der Feststellung kein Weg vorbei: Die gegenwärtige Schule stellt aus pädagogischer Sicht ein gravierendes Problem dar. Der Leistungs‐ druck steigt, die in der Schule verbrachte Lebenszeit wird immer länger, in Deutschland sind die Klassen mit oft über 30 Schülern erheblich zu groß. Bewegung, Kreativität, Spontanität, Ausdruck sind gegenüber kognitiven Informations- und Denkaufgaben vollkommen untergewichtet. Schüler ge‐ hen bedenklich selten gern in die Schule - und wenn, dann vor allem, weil sie ihre Freunde treffen. Wenn Schüler der Schule etwas abgewinnen, dann oft auf deren „Hinterbühne“: in Pausen, Exkursionen und Wahlkursen. Alternative Schulen (Montessori- und kirchliche Schulen, von Hentigs La‐ borschule u. a.) haben bisher keinen Einfluss auf das staatliche Schulsystem. Unglaublich, aber wahr: Motivation und Freude am Lernen spielen keine strukturierende Rolle. Sie bleiben den Lehrern überlassen. Der Umgang mit Schülern ist schwieriger geworden. Er erfordert neben der Lernmotivation eine klare Führungsrolle, die abhängig ist vom Selbst‐ bewusstsein und der natürlichen Autorität der Lehrer. Diese entscheiden 261 1 Schüler und ihre Einstellung zum RU <?page no="262"?> über das Wohl und Wehe einer Klassenführung, und oft auch eines ganzen Lehrerlebens - werden aber praktisch nirgendwo gelehrt und trainiert. Eine Schulklasse ist aus verhaltenspsychologischer Sicht ein „Rudel“, in dem bestimmte Strukturen und Hierarchien gelten: Es gibt Dominante und Unterlegene, Außenseiter, Angeber, „Klassenkasper“. Die Abwehr einer Klasse gegen einen Lehrer, der seine Führungsrolle aus der Hand gegeben (oder nie eingenommen) hat, ist oft nur sehr schwer zu korrigieren. Einstellungen der Schüler zum RU „Der Religionsunterricht ist nicht zuletzt deshalb heute kein Fremdkörper in der Schule, weil sein didaktisches Niveau dem der übrigen Unterrichtsfächer vergleichbar ist.“ (Feifel in Ziebertz/ Simon 1995, 86) Die Debatte um die Konzeptionen (→ 3) hat Früchte getragen. Das didak‐ tische Niveau des RU ist oft genug vorbildlich. RU ist längst nicht mehr das, wofür ihn viele noch halten: kirchliche Mission. Das gilt für den evangelischen RU durchgehend, für den katholischen erfahrungsgemäß nicht immer. Der RU vermag die religiöse Sozialisation zu verstärken, sofern sie durch die Eltern begonnen wurde, kann aber nur selten einen eigenen religiösen Grund legen. Der RU ist bei den Schülern keineswegs so unbeliebt, wie oft behauptet wird. Nach Untersuchungen von Anton Bucher ist die Beliebtheit bei Grundschülern sogar sehr hoch (eines der Lieblingsfächer neben Kunst und Sport), bei älteren Schülern nimmt sie allerdings kontinuierlich ab und landet in den oberen Klassenstufen auf den hintersten Rangplätzen. „Bei den 12-15-Jährigen ist … ein deutlicher Einbruch zu verzeichnen.“ Hier zeigt sich ein Unterschied zu den anderen Schulfächern. Die Religionslehrer werden dagegen sehr positiv bewertet. Geschätzt wird die „Aktivität mit als lebensnah eingeschätzten Themen … Entscheidend ist jeweils, ob es gelingt, die SchülerInnen in Aktivität zu bringen.“ Einen schweren Stand hat der RU an den Berufsschulen. Auf alle Schularten bezogen liegt die Beliebtheit des RU im oberen Durchschnittsbereich. Bedenklich muss allerdings stimmen, dass das Alternativfach „Ethik“ bessere Bewertungen durch die Schüler erhält als der RU. Jedoch: „Mittelmäßig ist die dem RU bescheinigte Effizienz. Am ehesten wird ihm attestiert, Kenntnisse über andere Religionen zu vermitteln, zur Allgemeinbildung beizutragen … Deutlich geringer ist jedoch - von 262 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="263"?> der Grundschule abgesehen - die Lebensrelevanz“ (Bucher in KatBl 2000, 368 ff.) Das gibt zu denken - offensichtlich wird der Grundschul-RU, der dem mythologischen Verstehen der Kinder mit seinen erzählenden, spiele‐ rischen, gestaltenden Elementen angemessen ist, geschätzt, während das theologische Wissen und Reflektieren in den oberen Klassenstufen offenbar ohne Lebensbezug bleibt. Die meisten Schüler der höheren Klassenstufen stehen in Distanz zur Kirche, ebenso zur christlichen Glaubenstradition. Allerdings zeigen sie ein Interesse an religiöser und spiritueller Erfahrung. Ihre Einstellung zum RU beruht oft auf singulären persönlichen Erfahrungen und ist stark abhängig von der Lehrperson sowie von der Qualität des Unterrichts. Erwartet werden pragmatisches, lebensbezogenes Vorgehen und ein gutes soziales Klima. Niveau ist durchgehend erwünscht - Schüler wollen keineswegs eine „Gaudistunde“ oder ein „Laberfach“, ebenso wenig wie straffe Kirchlichkeit. Die beliebtesten Themenbereiche sind entsprechend die lebensbezogenen (Freundschaft und Liebe, Umgang mit der Zeit, Tod und Sterben, die Frage nach dem Sinn des Lebens usw.), auch Fremdreligionen u. a.; am wenigsten beliebt sind traditionelle biblische und theologische Themen. Zusammengefasst sind die gravierendsten Probleme des schulischen RU, die sich auch empirisch gut belegen lassen: ■ nach wie vor eine viel zu starke und selbstverständliche Voraussetzung religiöser Sozialisation, die es faktisch längst kaum mehr gibt; ■ ein Sachkundeunterricht Religion, der Religion wie einen Faktenzusam‐ menhang behandelt und dabei die Frage nach ihrem Realitätsgehalt aufwirft; das erklärt auch, warum sich erstaunlich viele Schüler weder an Lernerfolge im RU erinnern noch sich ihre oft vorurteilsbehaftete Sicht auf Religion und Christentum verändert; ■ eine zu geringe gedankliche Durchdringung der Lerninhalte, die ten‐ denziell alles gelten lässt, kaum kognitiv fordert und wenig kritisch hinterfragt; das zeigt sich auch in einer Vernachlässigung der Ergebnis‐ sicherungen. Umgekehrt machen Befragungen deutlich, dass Schüler einen RU gut finden, der sie gedanklich fordert, eine klare Struktur hat, die eigene Meinung gelten lässt und Bezug zum konkreten Leben hat; darüber hinaus spielen fachlich kompetente und engagierte Religionslehrer eine sehr wichtige Rolle. Statt (vereinfacht gesagt) Bibel und Theologie zu unterrichten, sollten daher 263 1 Schüler und ihre Einstellung zum RU <?page no="264"?> erheblich mehr der Sinn von Religion, ihre Funktion der Lebensdeutung und ihre symbolische und mythologische Struktur geklärt werden. Dazu gehört unbedingt auch die Frage nach denen, die Religion für sich ablehnen. Religion darf keine abgeschlossene Ecke der Kultur sein, sie muss dem Leben dienen. 2 Die Lehrenden Die Religionslehrer kommen den Erwartungen der Schüler weitgehend entgegen. Untersuchungen (Feige u. a. 2000) zeigen, dass die Religionslehrer zum größten Teil in einer „kritischen Verbundenheit“ mit ihren Kirchen stehen. Sie betrachten sich aber keineswegs als deren Agenten. Eine Ableh‐ nung der Kirche ist ebenso selten wie eine starke Anbindung an sie; meist herrscht eine volkskirchliche, allgemeinchristliche Einstellung vor. Andreas Feige nennt das „symbiotische Distanz“. Damit werden die Religionslehrer zum prominentesten Beispiel der „Entkoppelung“ von kirchlicher und gesellschaftlicher Religionsauffassung. Religionslehrer wollen weder kirchliche Lehre verbreiten noch einer vagen, gesellschafts-stabilisierenden Zivilreligion das Wort reden. Ihr erstes Ziel ist es, die Schüler bei ihrer eigenen Religiosität abzuholen und diese zu fördern. Die Autonomie der Schüler, der Bezug zu ihrer Biographie und Lebenswelt, wird also - zumindest den Selbsteinschätzungen der Lehrer nach - durchgehend ernst genommen. Vor allem sind sie sich darin einig, dass alle Themen der christlichen Religion aus der Perspektive der Schüler heraus gesehen und entsprechend für sie aufgeschlossen werden müssen. Die Offenheit für ökumenische Kooperation ist bei fast allen gegeben, ferner ein Interesse an spirituellen Fragen. Religionslehrer vereinigen in sich eine Reihe von verschiedenen Rollen mitsamt deren Erwartungen. Sie haben (sofern sie nicht im kirchlichen Auftrag oder in Teilzeit unterrichten) in der Regel Beamtenstatus und sind einem Kollegium und einem Schulleiter verbunden. Die Gesellschaft hat ebenso bestimmte Erwartungen an die Religionslehrer (vor allem Werte‐ vermittlung) wie die Kirchen. Diese beauftragen die Religionslehrer mit der sog. „Vocatio“ (evang.) bzw. „Missio“ (kath.); niemand darf ohne diese kirchliche Genehmigung Religion unterrichten. Die Kirchen unterstützen die Religionslehrer z. B. durch die religionspädagogischen Zentren; der RU hat hier bemerkenswert viele und auch viel genutzte Fortbildungsmög‐ 264 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="265"?> lichkeiten. Schließlich gibt es die eigenen Erwartungen, die sich auf das eigene Selbstkonzept, Selbstbewusstsein, Ehrgeiz, Anerkennungswünsche und nicht zuletzt auf das eigene religionsdidaktische Konzept richten: Was will ich eigentlich erreichen? Religionslehrer sind ferner immer zugleich Theologen und Pädagogen. Die Erinnerung an den eigenen RU kann zeigen, dass die Person des Religionslehrers höchst bedeutsam für das religiöse Lernen ist - mehr als in anderen Schulfächern. Oft bleibt nur sie im Gedächtnis haften. Die Frage ist also religionsdidaktisch von Gewicht: Wann ist ein Religionslehrer anerkannt? Dann, wenn er sachliche, personale und didaktische Kompetenz vorweisen kann. Das heißt im Einzelnen: a. Sachliche Kompetenz. Religiöses und theologisches Wissen und eine nachvollziehbare religiöse Positionierung machen einen Religionsleh‐ rer anerkannt. Höchst bedeutsam ist darüber hinaus die Fähigkeit, das eigene Wissen auf das gegenwärtige Leben zu beziehen, was wiederum in aller Regel mit einer gewissen Begeisterung für die (christliche) Religion und die eigene Tätigkeit einhergeht. b. Personale Kompetenz. Anerkannt ist ein Lehrer generell, wenn er bereit und fähig ist, die Führungsrolle vor der Klasse zu übernehmen. Das wird oft unterschätzt. Schüler mögen keineswegs liebe, harmonie‐ bedachte und nachlässige Lehrer, die sich nicht durchsetzen können. In einer unübersichtlichen Welt werden Strukturen, klare Abmachungen und Konzentration (nicht: autoritäres Verhalten! ) geschätzt. Für Religi‐ onslehrer sind neben solcher natürlichen Autorität ferner Authentizität (Echtheit statt gekünsteltes Auftreten) und Zuwendungsbereitschaft, also Beziehungsfähigkeit, Achtung vor den Schülern und einfühlendes Verstehen besonders wichtig. Eine gute Leitung muss also Kontrolle und Zuwendung in Balance halten. Beides zusammen macht Souveränität aus, die entsprechend geschätzt wird. Mangelnde Kontrolle führt zur Unstrukturiertheit und wird bei den Lernenden als unbefriedigend emp‐ funden; mangelnde Zuwendung wirkt sich negativ auf die Motivation aus. c. Didaktische Kompetenz. Ein Religionslehrer muss die Erfahrungen, Bedürfnisse und Einstellungen seiner Schüler kennen und sich auf sie einlassen können. Er muss ebenso das Wesentliche an den religiö‐ sen Gehalten verstehen, herauskristallisieren und so anbieten und präsentieren können, dass alte Erfahrungen neue anstoßen oder deuten 265 2 Die Lehrenden <?page no="266"?> können. Er sollte religiöse Gehalte so kommunizieren, dass sie bei Schülern Nachdenklichkeit, neue Sichtweisen oder gar Begeisterung anstoßen. Erreicht wird das, wenn er nicht nur informiert, sondern existenzielles Erleben aufgreift und die Moderation religiöser Erfahrung betreibt (→ 3.7, 16.3, 18.3), wenn er anspruchsvoll unterrichtet und seine Stunden gut strukturiert. Schüler orientieren sich heute nicht mehr an klassischen Vorbildern (→ 10.3). Sie schätzen weniger die „Glaubwürdigkeit“ einer bestimmten Glaubensüberzeugung und Lebenspraxis (diese gilt heute als Privatangele‐ genheit! ), sondern eher Authentizität, Lebenserfahrung, Stil des Auftretens und persönliche Ausstrahlung. Die klassischen Konzeptionen der RP (→ 3) stellen jeweils eigene Erwar‐ tungen an die Religionslehrer. Diese sollen Verkündiger und Zeugen des Wortes Gottes sein (Evang. Unterweisung), wissenschaftlich kompetente Ausleger der Urkunden des Christentums (Hermeneutische RP), Modera‐ toren für die Diskussion von Gesellschaftsfragen (Problemorientierung), Lebensbegleiter und psychologisch geschulte Förderer der religiösen Sozia‐ lisation (Therapeutische RP), Anwälte existenzieller Erfahrungen und deren religiöser Deutung (Subjektorientierte RP). Hier zeigt sich eine Veränderung des Rollenverständnisses, die vom kirchlichen Glaubenszeugen über Gegen‐ wartsfragen hin zum religiösen Anwalt der Schüler geht. Sinnvoll scheint die folgende Einschätzung: „Religionslehrer sollen und können in gleichsam gebrochener Authentizität in einem deiktischen, d. h. zeigenden Sinne nicht sich selbst, sondern Religion zeigen - und die Welt zeigen, wie sie sich aus der Sicht des Glaubens darstellt, ohne zu meinen, als ‚Glaubenszeugen‘ Glauben ‚lehren‘ zu sollen und zu können.“ (Dressler/ Feige in NHRPG 403) Religionslehrer sollten also nicht nur theologische Gehalte präsentieren und Texthermeneuten sein, und auch nicht nur religiöse Kulturhermeneuten, die die Spuren von Religion in der Lebenswelt aufspüren; sondern vor allem sollten sie Lebenshermeneuten (→ 16.4) sein, die die tiefen Erfahrungen kennen, aus denen heraus Religion entsteht. 266 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="267"?> 3 Lehrplan und Lernziele Lehrpläne Die Lehrpläne (auch „Bildungspläne“, „Rahmenrichtlinien“ u. a.) werden durch die Kultusministerien der einzelnen Bundesländer erstellt. Die Funk‐ tion des Lehrplans ist die Strukturierung, Steuerung und Kontrolle des fachlichen Lernens. Er gibt ein Raster vor, das einen Überblick über mögliche Themen, deren sinnvolle Abfolge und ihre Altersangemessenheit darstellt. Er hat also eine Koordinierungs- und Steuerungsfunktion: Für die Lehrer stellt der Lehrplan keineswegs nur eine Pflicht dar, sondern auch eine Anre‐ gung und dadurch eine Entlastung davon, die gesamten Unterrichtsthemen selbst ausdenken und strukturieren zu müssen. Außerdem: wo der Lehrplan nicht die Richtlinie vorgibt, entsteht automatisch ein „privater Lehrplan“, der sich aus unterschwelligen Einflüssen wie Lieblings- und Modethemen zusammensetzt. Die Lehrplanentwicklung spiegelt den Stand der pädagogischen Diskus‐ sion. Früher waren die Lehrpläne schlicht Stoffverteilungspläne. Seit der Curriculum-Diskussion (lat. curriculum = „Ablauf “), die durch Saul B. Robinsohns Programmschrift „Bildungsreform als Revision des Curriculum“ (1967) angestoßen wurde, ist die Analyse von Lernprozessen, die Reflexion von „Qualifikationen“ für bestimmte Lebenssituationen, von „Bildungsin‐ halten“, vor allem aber die Operationalisierung von Lern- und Unterrichts‐ abläufen durch Lernziele Teil der Lehrplangestaltung geworden. Sie dienen der Überprüfung des Erreichten und tragen zu einer Begründung und Legitimation von Lernprozessen bei. Dieselbe Funktion haben heute die Kompetenzziele (→ 10.2). Die Curriculum-Diskussion führte zunächst zu den sog. „Curricularen Lehrplänen“; diese waren Spaltenpläne, die das Unterrichtsverhalten des Lehrers und erwartetes Schülerverhalten, Methoden, Medien und didakti‐ sche Hinweise und Vorschläge in Spalten nebeneinander stellten, dadurch den Unterricht stark verplanten. Im katholischen Bereich haben sich seit den 1970er Jahren die sog. „Zielfelderpläne“ an dieser Struktur orientiert, sie aber relativ offen gehandhabt. Seit den 1980ern gibt es die „Grundlagenpläne“, die eine verbindliche kirchliche Rahmenvorgabe für die Erstellung der jeweiligen RU- Lehrpläne vornehmen. Im evangelischen Bereich gibt es dafür kein Pendant. 267 3 Lehrplan und Lernziele <?page no="268"?> Abgelöst wurden die curricularen Lehrpläne vom Modell der Rahmen‐ richtlinien, die statt der genauen Angaben in Spalten generelle Leitthemen und Hinweise zur Schülersituation und zu weiter reichenden Leitzielen gaben und auf weitere Lernzieldifferenzierungen verzichteten. Diese Lehr‐ pläne sind im Laufe der letzten Jahre immer mehr auf wenige zentrale Hin‐ weise zusammengeschrumpft, die den Lehrern wesentlich mehr Freiheit in der Unterrichtsplanung lassen, allerdings aber auch weniger Hilfestellungen geben. Einführende Überlegungen zu den Themenbereichen beschränken sich auf die Reflexion der Schülersituation und grundlegend wichtiger in‐ haltlicher Gehalte. Großer Wert wird auf fächerübergreifende Kooperation gelegt - ohne dass die Schulen dafür allerdings die nötigen Voraussetzungen bieten. Üblich ist inzwischen eine Aufteilung in wenige übergreifende Pflicht-Themenbereiche pro Jahrgangsstufe, zu denen in der Regel (wenn nicht alle Themen verpflichtend sind) einige Wahlpflichtthemen kommen, aus denen meist zwei auszuwählen sind, so dass pro Jahrgang und Fach etwa 5 oder 6 Themenbereiche abzudecken sind. Bei 52 Wochen pro Jahr, von denen etwa 35 Schulwochen sind, fallen für den meist 2-stündig erteilten RU damit etwa 70 Unterrichtsstunden an. Bedenkt man die Stunden, die für Feste, Besprechung unvorhergesehener Tagesereignisse u. a. benötigt werden oder die ausfallen, dann bleiben für die 5 oder 6 Themen des Jahres - je nach Bearbeitungszeit - jeweils ca. vier bis sieben Wochen (also 8 bis 14 Unterrichtsstunden). Lernziele Sinn der Lernziele ebenso wie für angestrebte Kompetenzen ist weniger eine „Qualifikation“, sondern sehr viel eher die Schärfung des didaktischen Bewusstseins: Was soll im Unterricht erreicht werden? Das ist genau zu überlegen; die Erfahrung zeigt, dass Unterrichtsstunden, deren Lernziel nicht eindeutig klar erkennbar ist, bei den Schülern für Verwirrung sorgen und sehr häufig undiszipliniert ablaufen. Mit einem Unterrichtsinhalt können sehr verschiedene Ziele angesteu‐ ert werden. Am Beispiel der Zachäus-Geschichte (Lk 19,1-10): sollen die Schüler das Gefühl des Außenseiters nachvollziehen? oder Gottes Annahme der Ausgestoßenen durch Jesus erfahren? oder verstehen, warum Jesus die etablierte Religion provoziert? oder die Möglichkeit von Veränderung im 268 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="269"?> eigenen Leben durch die Begegnung mit Gott entdecken? usw. Je nach Lernziel wird der Stundenverlauf sehr anders aussehen müssen! Für Lernziele lassen sich verschiedene Ebenen unterscheiden: das Global‐ ziel, das die übergreifende Aufgabe eines Schulfaches angibt; Richtziele für die einzelnen Jahrgangsstufen; Grobziele (die eigentlichen Stundenziele) für eine Unterrichtsstunde, evtl. auch für eine Einheit aus zwei oder drei Stunden; schließlich Feinziele, die den einzelnen Unterrichtsschritten zuge‐ ordnet sind. Unterscheiden lassen sich operationalisierbare (überprüfbare) und intentionale Lernziele, die eine Einstellungsveränderung oder eine Empfindung bezeichnen; letztere sind für den RU besonders bedeutsam. Wichtig ist für die Unterrichtspraxis vor allem die genaue Reflexion des Stunden-, also des Grobzieles. Sehr sinnvoll ist die Unterscheidung in kognitive, affektive (emotionale) und pragmatische Lernziele, auch wenn sich manche Lernzielformulierungen zwischen diesen Ebenen bewegen und nicht genau zuordnen lassen. Kognitiv sind Lernziele, wenn sie Wissen anstreben (kennenlernen, verstehen, einsehen, wissen usw.). Affektiv sind sie, wenn sie auf eigene Erfahrung oder Betroffenheit zielen (nachvollziehen, sich hineinversetzen, empfinden können usw.). Dieser Bereich ist religions‐ didaktisch der mit Abstand wichtigste! Denn er allein garantiert, dass wenigstens der Versuch gemacht wird, dass Lerninhalte nicht „draußen“ bleiben, sondern in die Erfahrungswelt der Schüler Eingang finden, oder, besser noch, aus ihr selbst kommen. Affektive Lernziele sorgen für die höchste Aufmerksamkeit. - Pragmatische Lernziele sind solche, die ein prak‐ tisches Tun oder Können anzielen (malen, Fortsetzung schreiben, szenisch darstellen, religiöse Symbolisierungen und Vergleichbares). Das wichtigste Lernziel überhaupt ist für den RU die Entschlüsselung des symbolischen Verstehens und des zu Grunde liegenden existenziellen Erlebens. Das erschließt sich in den ersten Klassen durch spannendes Er‐ zählen von selbst, in den höheren Klassen muss es präsentiert, thematisiert und eingeübt werden. Dazu sind religiöse Traditionen als Niederschläge von Erfahrungen zu entschlüsseln, eigenes Erleben ist der symbolischen Deutung zuzuführen (→ 3.7, 16.3, 18.2). 4 Unterrichtsvorbereitung „Weil unterrichtliche Wahrnehmungsprozesse wie Rollenspiele strukturiert sind und etwas vom Theaterspiel an sich haben, kann Unterricht als eine Art 269 4 Unterrichtsvorbereitung <?page no="270"?> Inszenierung und Dramaturgisierung von Lernprozessen verstanden werden.“ (Beuscher/ Zilleßen 1998, 131) Unterricht will gut geplant sein - am besten im Sinne dieser bedeutsamen Bemerkung. Unter Didaktikern gibt es den scherzhaft gemeinten Ausdruck der „Schwellenstunde“ - ein Lehrer überlegt sich beim Übertreten der Schwelle zum Klassenraum, was er denn in der kommenden Stunde machen will. Bei erfahrenen Lehrern können solche Stunden im Ausnahmefall gut gelingen; bei Anfängern dürften sie gründlich schief gehen. Es geht also nicht ohne Unterrichtsplanung, und diese braucht Strategie. Solide Vorbereitung ist eines der besten Mittel für gute Klassenführung. Die Beobachtung von Unterrichtsabläufen zeigt die Ideen und Folgerichtigkeit der Vorbereitung sehr deutlich. Ausführliche selbst erstellte Unterrichtsentwürfe werden unterschiedlich gehandhabt. Wichtige Elemente sind immer a. die persönliche Begegnung des Lehrenden mit dem Lerninhalt (Text, Thema, Symbol, Szene, Problemstellung, Erfahrung usw.) und dem Lernziel. Wo die persönliche Einstellung (Vorurteil, Ablehnung, Begeis‐ terung) unbewusst bleibt, mischt sie sich oft unterschwellig ein. b. die Analyse der Lernvoraussetzungen und der Lebens- und Erfahrungs‐ welt der Schüler. Dazu gehören vermutetes Vorwissen und Vorerfah‐ rungen, Interesse am Thema und am Fach, beobachtbares Verhalten, kultureller und sozialer Hintergrund, Lebensfragen, prägende Erfah‐ rungen usw. c. die fachwissenschaftliche Analyse mit Hilfe von wissenschaftlichen Lexika, Monographien, Aufsätzen und Kommentaren (bei biblischen Texten) d. die Begründung des Lerninhalts, die sich auf b. und c. beziehen und eigentlich von diesen abgeleitet werden muss e. die didaktische Strukturierung, die zu einer Modifikation des Lernziels führen kann; ihre Aufgabe ist die „didaktische Reduktion“ bzw. Ele‐ mentarisierung (→ 10.5) eines komplexen Gehalts auf übersichtliche unterrichtliche Abläufe und die Strukturierung des Stundenverlaufs durch sinnvoll aufeinander folgende einzelne Unterrichtsschritte und durch die begründete Wahl von Methoden, Medien und Sozialformen. Sie endet in der Erstellung eines Verlaufsplans. 270 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="271"?> Entscheidend bei der Unterrichtsvorbereitung ist die genaue Bestimmung des Lernziels und seine schrittweise Umsetzung, nicht die Vermittlung von Inhalten. Dabei kann der Gedanke der Elementarisierung hilfreich sein: Was an dem, was ich vorhabe, ist elementar wichtig, bedeutsam, spürbar und übertragbar auf andere Bereiche? Das Lernziel soll affektiv formuliert sein, da nur so der Erfahrungsbezug bei den Schülern zum Tragen kommt. Für den RU ist ferner zu beachten, dass das Lernziel einen religiösen Gehalt spiegeln sollte, nicht einen allgemeindidaktischen, soziologischen oder historischen. Das wird oft übersehen. Die besten Stunden sind solche, die existenzielle Themen und tiefes Erleben in eine übergreifende, also religiöse Deutung stellen; oder die umgekehrt religiöse Traditionsbestände (z. B. biblische Texte) aus ihrem heute verstehbaren Erfahrungsgehalt heraus verstehen lassen („Das kenne ich! “). Der Aufbau soll nachvollziehbar und unmittelbar einleuchtend sein. Er soll einen Spannungsbogen darstellen. Eine Unterrichtsstunde erfordert ebenso wie ein gutes Theaterstück eine gute Dramaturgie und sollte darum eine regelrechte Dramatik haben. Für die praktische Unterrichtsvorberei‐ tung empfiehlt sich daher das für alle Klassenstufen bewährte fünfstufige Schema, das hinreichend komplex, zugleich aber noch überschaubar ist. Vier Schritte sind zwar möglich, erreichen aber weniger Differenzierung; sechs Schritte können bereits verwirren. Die fünf Stufen sind auch aus pragmati‐ schen Gründen der Vorbereitung ausgesprochen nützlich und empfehlens‐ wert, denn sie geben ein solides Raster für die einzelnen Planungsschritte an die Hand. Sie entsprechen dem sog. „lernpsychologischen Modell“, und nicht zufällig auch dem antiken Rhetorikschema (Einleitung, Positi‐ onsdarstellung, Gegenposition, Lösung, Bekräftigung), dem Grundschema des klassischen Dramas (Exposition, Konflikt, Verschärfung, dramatischer Höhepunkt, Ausklang) und dem Aufbau guter Kinofilme - mit dem einen Unterschied, dass die Pointe von Schritt vier nach Schritt drei vorverlagert ist; der „Anmarschweg“ wird dadurch kürzer, die Schüler erhalten außerdem mehr Raum für eigene Betätigung. I. Motivation Sie führt unter Bezug auf die Schülererfahrung kurz und direkt in die anstehende Problematik (- nicht in den Inhalt! noch besser: in einen lebenshermeneutischen Prozess; → 16.4) ein, richtet sich also klar am Lernziel aus. Geeignet sind Karikaturen, Bilder, graffitiartige Tafelan‐ 271 4 Unterrichtsvorbereitung <?page no="272"?> schriften, Impuls-Geschichten, Kurzfilme usw., die für Aufmerksamkeit sorgen und sozusagen die Antennen ausrichten. II. Information Im Normalfall: eine Erzählung (oder: ein Bericht, ein Text usw., noch besser: ein [erinnertes] tiefes Erleben), die wiederum so direkt als möglich das Lernziel ansteuert. Sie endet nicht mit einer Frage, sondern idealerweise mit einem echten Impuls, d. h. einer Herausforderung zur Stellungnahme. III. Diskussion Hier wird das Lernziel erreicht. War der Impuls am Ende von II gut gesetzt, sorgt er nun dafür, dass ein (möglichst gut gelenktes) Gespräch bzw. eine Diskussion eröffnet und das Lernziel von den Schülern selbst eingelöst wird („Aha-Moment“, didaktische Pointe). Religionsdidaktisch am besten wäre hier die Kommunikation über ein tiefes Erleben. IV. Verarbeitung Sie gibt den Schülern anhand einer Arbeitsanweisung Gelegenheit zur eigenständigen Weiterführung dessen, was sie eingesehen oder erfahren haben (Weiterdenken, Transfer, Übertragung; z. B. anhand eines Arbeitsblattes, einer Fortsetzung, eines Rollenspiels usw.). Hier kann die Einbettung eines Erlebens in einen übergreifenden Kontext stattfinden (naheliegenderweise die christliche Glaubenstradition, aber auch Gott, das unverfügbare Leben usw.). V. Ergebnissicherung Eine kurze Phase zum Abschluss, klassischerweise ein Hefteintrag, der die Ergebnisse der Stunde (möglichst in der Formulierung der Schüler! ) knapp zusammenträgt; oft eignet sich das Tafelbild oder eine nachgetragene Überschrift. Im Planungsschema werden (so knapp und übersichtlich wie möglich) ange‐ geben: Die einzelnen Schritte - beabsichtigtes Lehrerverhalten und mögli‐ che Schüleräußerungen - Methoden/ Medien und Sozialformen - geplante Zeitdauer. Impulse und Arbeitsanweisungen sollten wörtlich formuliert werden. Entscheidend wichtig sind die Klärung des Lernziels und der Bezug aller einzelnen Schritte darauf, gute Impulssetzung (die ebenso schwierig wie loh‐ 272 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="273"?> nend ist) und die unbedingte Beachtung des Erfahrungsbezugs, besser noch einer Grunderfahrung als Thema selbst. Didaktischer Grundsatz ist: Die Schüler sollen den Verlauf als nachvollziehbar und spannend erleben - es soll „ihr“ Thema und ihre Erfahrung sein. Also kein Informations-Unterricht, keine „Resultatsdidaktik“, kein Lehrermonolog! Sondern ein entwickelnder, nachvollziehbarer Unterricht, der die Schüler auf einen spannenden Entde‐ ckungsweg mitnimmt: „Alle methodische Kunst liegt darin beschlossen, tote Sachen in lebendige Handlungen zurückzuverwandeln, aus denen sie entsprungen sind: Gegenstände in Erfindungen und Entdeckungen, Pläne in Sorgen, Verträge in Beschlüsse, Lösungen in Aufgaben.“ (Roth 15 1976, 123 f.) Merkregeln 1. Eine Pointe, die wirklich klar sein muss. Problemstellung und mögliche Erfahrung (die im Lernziel formuliert sind) sind wichtiger als jeder Lernstoff. 2. Die Pointe soll von den Schülern kommen. Es ist ganz uninteressant, wenn der Lehrer selbst nennt, was (angeblich! ) entscheidend ist; so kommen keine neuen Erfahrungen zu Stande. Deshalb: klare Impulse setzen, keine geschlossenen oder schnell beantwortbaren Fragen, oder gar Stichwort-Abfragen! Lehrerlastigkeit (fehlende Impulse; zu wenig aktive/ kreative/ mündliche Beteiligung der Schüler) macht Unterricht langweilig. 3. Erfahrung ist zentral wichtig, also Lebenserfahrung und existenzielles Erleben, nicht kognitive Information, die niemanden wirklich angeht. Die (wichtigsten) Lernziele sind möglichst affektiv zu gestalten. 4. Einfacher, jederzeit leicht nachvollziehbarer Aufbau. Jede Phase darf nur einmal vorkommen; also keine Doppelungen! Die Abgrenzung der einzelnen Arbeitsschritte wird durch Wechsel von Methode und Sozialform deutlich markiert. 5. Jedes Medium wird nur einmal verwendet und soll dem Verlaufspunkt angemessen sein. Medien haben einen Eigenwert; sie sollen darum aus‐ führlich behandelt werden. Das wiederholte weiterführende Aufgreifen eines bereits verwendeten Mediums ist allerdings empfehlenswert. 273 4 Unterrichtsvorbereitung <?page no="274"?> 5 Methoden, Medien, Sozialformen Methoden und Medien Medien sind Inhaltsträger. Man unterscheidet Print- und elektronische Medien, ferner auditive (Musik, Hörspiel), visuelle (Bilder) und audiovisuelle (Film, Fernsehen, Computer). In einem umfassenden Sinn sind alle religiösen Traditionsniederschläge als Medien zu verstehen, nicht schon als Religion (s 2.2; 16.3). Methoden sind Unterrichtsverfahren (z. B. Rollenspiel, Textarbeit, Erzählung, Bildbetrachtung, Gespräch). Die Arbeit mit einem Text oder eine Bildbetrachtung kann also Medium oder Methode sein, je nachdem, ob der Datenträger oder der unterrichtliche Umgang mit ihm gemeint ist. Der Einfachheit halber ist hier von „Methoden“ die Rede. Die methodische Grundregel ist: Methoden dienen nicht der Illustration, sondern der Evokation, d. h. sie sollen eine neue Ansicht und Wirklichkeit hervorrufen, also: Erfahrung ermöglichen. Das heißt im Umkehrschluss: Methoden werden missbraucht als Unterstützung oder Umsetzungen von Stoff, ebenso als bloße Auflockerungen. Methoden und Medien sind in ihrer Eigenwertigkeit zu beachten. Prinzipiell gibt es unendlich viele von ihnen, in der Praxis aber nur wenige. Die wichtigsten Methoden für den RU sollen kurz dargestellt werden. 1. Erzählung. „Wer Kindern Geschichten erzählt, bereitet ihnen Vergnü‐ gen, ermöglicht spielerisches Lernen, fördert die Entwicklung ihrer Gefühlswelt und ihres prosozialen Verhaltens, aktiviert ihre Imagina‐ tion und Kreativität und regt sie an, selbst zu erzählen“ (Zimmer in NHRPG 483 f.). Das entspricht einer modernen Einsicht: Unsere Biographien sind aus Erzählungen gewebt, nicht aus Fakten und klar abgrenzbaren Erlebnissen. Erzählungen sind der menschliche Grund‐ modus der Verständigung über existenzielle Bedeutsamkeit, vor allem über Vergänglichkeit und Tod, aber auch über prägende Erfahrungen. Sie können als „Laboratorien der Existenz“ verstanden werden (Martina Kumlehn); deshalb ist ein fiktionaler Anteil für sie gerade nicht Ausdruck von Unwahrheit, sondern konstitutiv. Für Religion ist das Erzählen von zentraler Bedeutung: Religion will erzählt, nicht erklärt werden. Die gesamte abendländische Kultur beginnt mit Erzählungen, die von bleibender Bedeutung sind: denen Homers und der Bibel. Wichtige 274 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="275"?> Überlieferungen sind über viele Jahrhunderte hindurch erzählend wei‐ tergegeben worden. Erzählen ist ein menschlicher Grundvorgang, der Ereignisse mit Hilfe von Phantasie und dichterischer Kraft in Szenen der Bedeutung über‐ setzt, in denen sich Menschen wiederfinden; die Erzählung überbrückt den Abstand zwischen damals und heute durch Einbezug der Einbil‐ dungskraft, sie schafft so eine „Horizontverschmelzung“ (Gadamer). Gleichzeitig fördert sie die Einbildungs- und Vorstellungskraft so wie nichts sonst. Erzählen ist bis heute eine nicht ersetzbare Grundform menschlicher Kommunikation. Wo es ausfällt, erleiden die Menschen Einbußen an Phantasie und an Bedeutungserleben: Das Leben wird ärmer. Die Erzählung ist die Hauptmethode im RU, gekonntes Erzählen darum ein großes Kapital. Vor allem müssen die biblischen Geschichten nach‐ erzählt werden, und zwar möglichst frei - angemessene Ausschmü‐ ckungen sind erlaubt und sinnvoll, da sie die ursprünglichen Erzählun‐ gen begleitet haben; lange Überlieferung und Verschriftung führten erst zu einer oft drastischen Verkürzung. Erzählen ist zwar nicht jedermanns Sache, lässt sich aber gut üben. Dazu ist zu beachten: Eine Erzählung ist kein Bericht. Sie will nicht sachlich sein, nicht einmal informieren; es geht ihr primär nicht um Fakten, sondern um emotionale Beteiligung. Darum ist so lebendig wie möglich zu erzählen, möglichst in Ich-Perspektive und Gegenwarts‐ form, mit ausbordenden Schilderungen von Gefühlen, Stimmungen und Atmosphären, mit direkter Rede („Willst du denn…“), Ausrufen („Tu das! “, „Plötzlich …“, „Da! “, „Du bist gemeint! “), Gesten, variabler Stimmführung (laut, leise, flüsternd), Spannung erzeugenden Pausen usw. Die freie Erzählung braucht nur am Anfang etwas Mut. Erzählen kann Spaß machen und vermag wie nichts sonst die Aufmerksamkeit von Schülern zu wecken, und zwar bis in hohe Klassenstufen hinein. Beim Aufbau ist auf Dramatik und einen Spannungsbogen zu achten. Am besten eignet sich darum die Abfolge von drei bis vier Einzel-Sze‐ nen, die leicht gemerkt werden und relativ geschlossen jeweils für sich ausgeschildert werden können und gar keine Überleitungen brauchen. 275 5 Methoden, Medien, Sozialformen <?page no="276"?> 218 Didaktik des Religionsunterrichts Beim Aufbau ist auf Dramatik und einen Spannungsbogen zu achten. Am besten eignet sich darum die Abfolge von drei bis vier Einzel-Szenen, die leicht gemerkt werden und relativ geschlossen jeweils für sich ausgeschildert werden können und gar keine Überleitungen brauchen. Szene 3: Höhepunkt und „Umschlag“, Überraschung/ Pointe Szene 2: Konflikt, Problem ... Szene 4: kurzer Schluss Szene 1: Einführung 2. Bildbetrachtung. Wichtig ist hier eine sinnvolle Auswahl. Gute Bilder sind offene, verweisungskräftige Bilder, die nicht Informationen transportieren, sondern Emotionen wecken und etwas zeigen. Neben einer angemessenen Präsentation des Bildes sind immer drei Schritte zu beachten: a. Abwarten - und zwar so lange, bis die ersten Schüler ihre Beiträge anmelden! b. Zeit lassen, um alle (zunächst assoziativen) Wahrnehmungen einzusammeln. Schüler entdecken auf Bildern oft viel mehr als man selbst. c. Dann erst sind gezielte Fragen und Hinweise zu geben, die vorher überlegt sein wollen. Bei Bildern ist besonders wichtig, sie nicht nur zu Illustrationszwecken einzusetzen. Gute Bilder (vor allem Gemälde, aber auch gute Fotos usw.) können durch ihren atmosphärischen Gehalt sehr viel anstoßen; sie fördern die kreative Eigenleistung der Schüler, lassen viele Perspektiven zu, geben keine eindeutige Richtung vor - sind religionsdidaktisch also sehr wichtig. Bilder müssen für alle gut sichtbar sein, am besten über den Tageslichtprojektor. 3. Arbeit mit Texten und (Lehr-)Büchern stellen leider oft die Hauptbeschäftigung des RU dar, sind dann anstrengend, kognitionslastig und meist wenig kreativ. Natürlich ist Textarbeit wichtig, vor allem mit biblischen Texten, aber auch mit Dokumenten von Zeitgeschehen, religiösen Erfahrungen usw. - Religionsbücher waren früher nur (Schul)Bibel und Katechismus. Spätestens seit der Wende zur Problemorientierung gibt es Jahrgangsbücher mit zunehmend besserer Ausgestaltung und deutlichem Lebensweltbezug, die inzwischen viele Medien, kritische Texte, Anstöße zur Diskussion und Fragen bringen. Sie sind heute nicht mehr theologische Stoff-Bücher, sondern deutlich an den möglichen Verarbeitungen der Lernenden orientiert. Die Arbeit mit dem Religionsbuch kann durch verteilte 2. Bildbetrachtung. Wichtig ist hier eine sinnvolle Auswahl. Gute Bilder sind offene, verweisungskräftige Gemälde, Zeichnungen oder Fotos, die nicht Informationen transportieren, sondern Emotionen wecken und etwas zeigen. Neben einer angemessenen Präsentation des Bildes sind immer drei Schritte zu beachten: a. Abwarten - und zwar so lange, bis die ersten Schüler ihre Beiträge anmelden! b. Zeit lassen, um alle (zunächst assoziativen) Wahrnehmungen ein‐ zusammeln. Schüler entdecken auf Bildern oft erstaunlich viel, und sie brauchen Zeit, Bilder zuerst einmal zu „lesen“. c. Dann erst sind gezielte Fragen und Hinweise zu geben, die vorher überlegt sein wollen. Bei Bildern ist besonders wichtig, sie nicht zu Illustrationszwecken einzusetzen. Gute Bilder können durch ihren atmosphärischen Gehalt sehr viel anstoßen; sie fördern die kreative Eigenleistung der Schüler, lassen viele Perspektiven zu, geben keine eindeutige Richtung vor - sind religionsdidaktisch also sehr sinnvoll. Bilder müssen für alle gut sichtbar sein. 3. Arbeit mit Texten und (Lehr-)Büchern stellen leider oft die Hauptbe‐ schäftigung des RU in höheren Klassenstufen dar, sind dann anstren‐ gend, kognitionslastig und meist wenig kreativ. Natürlich ist Textarbeit wichtig, vor allem mit biblischen Texten, aber auch mit Dokumenten von Zeitgeschehen, religiösen Erfahrungen usw., sie muss neben der Reflexionsschulung aber vor allem der Deutung von Lebenserfahrung dienen. Spätestens seit der Wende zur Problemorientierung gibt es Jahrgangsbücher mit zunehmend besserer Ausgestaltung und deutli‐ chem Lebensweltbezug, die inzwischen viele Medien, kritische Texte, Anstöße zur Diskussion und Fragen bringen. Sie sind heute nicht mehr theologische Stoff-Bücher, sondern deutlich an den möglichen Verar‐ beitungen der Lernenden orientiert. Die Arbeit mit dem Religionsbuch 276 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="277"?> kann durch verteilte Leserollen und eigenständige Strukturierung der Texte (Absätze, Zwischenüberschriften, Skizzen etc.) gefördert werden. Bei Textarbeit sind unbedingt Fragestellungen und Arbeitsaufträge zu überlegen. 4. Arbeitsblätter sollen eine angemessene Form haben und nie nur Text‐ blätter sein. Sie sollen Raum lassen für eigenständige Bearbeitungen und Weiterführungen: Überschriften finden, Ergänzungen anbringen, Fragen beantworten, Zeichnungen erstellen, Fortsetzungen schreiben usw. Sinnvoll ist hier die Wiedergabe von zuvor verwendeten Bildma‐ terialien oder von Textauszügen, die jetzt (weiter) bearbeitet werden. 5. Die Tafel wird oft als Stichpunkt- und Notizensammlung missbraucht, obwohl sie sich ausgezeichnet zur entdeckenden Erarbeitung komple‐ xer Themenstellungen eignet (entwickelnder Unterrichtsaufbau). Die Tafel eignet sich auch sehr gut als „mind-map“ zur Visualisierung von gedanklichen Zusammenhängen (Skizzen, Zuordnungen), ferner für die Ergebnissicherung. Kein anderes Medium ist so gut für die ganze Klasse sichtbar und so gut kreativ verwendbar. Tafelanschriften müssen übersichtlich und vorstrukturiert sein. Sie sollten dennoch Platz lassen für die spontanen Beiträge der Schüler. 6. Rollenspiele sind eine für den RU höchst lohnende und wirksame Methode, die sehr viel Spaß machen kann und szenisch Wirklichkeit werden lässt, was sonst oft nur im Kopf besteht. Allerdings sind sie sehr anspruchsvoll. Rollenspiele müssen deshalb bekannt sein und schrittweise eingeübt werden. Am besten ist mit wenigen motivierten Schülern und kleinen, überschaubaren Szenen zu beginnen, evtl. mit Pantomimen. Erst wenn die Schüler mit der Methode vertraut sind, kann das Spiel ausgeweitet werden; sonst ist die Gefahr von Peinlichkeit und Durcheinander groß. Spielregeln müssen eindeutig vorgegeben (d. h. vorbesprochen) sein und beachtet werden. Szenische Spiele eignen sich für nahezu alle Geschichten, Problemstellungen und Fragen. Ihre „Lösungen“ sind oft ebenso verblüffend wie für alle Beteiligten auch überzeugend (→ 11.6). 7. Meditative Formen sind für den RU besonders angemessen, generell alle Formen wenigstens anfänglicher spiritueller Praxis. Sie fördern Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Konzentration und sind, wo sie eingeführt sind, ausgesprochen beliebt. Sie müssen ähnlich wie Rollen‐ spiele wiederholt und geübt werden. Möglich sind Atembeobachtung, Mandala-Malen, Körperreisen und auch die Meditation, bei der es auf 277 5 Methoden, Medien, Sozialformen <?page no="278"?> reine Aufmerksamkeit durch die Entleerung von allen Gedanken an‐ kommt. Vor allem einfache Stilleübungen haben sich inzwischen einge‐ bürgert. Sie wurden von der bedeutenden italienischen Pädagogin Maria Montessori entwickelt und bieten in der lauschenden Konzentration auf die Umgebung ein Gegenstück zur allgemeinen Reizüberflutung. Weitere Methoden sind Phantasiereisen, Hören von Musik, kreatives Schreiben, Verbildlichungen, Collagen, Kurz-Comics mit Sprechblasen, Schreiben von (fiktiven) Briefen, Um-Schreiben von Texten aus einer anderen Perspektive, Einschätzungen auf einer Punkteskala (etwa von 1 bis 10 Punkten für schlecht bis gut bzw. unbeliebt bis sehr beliebt), Pro-Contra-Tabellenstände und deren Korrektur nach einer Diskussion oder Bearbeitung, Kurz-Kommentare reihum u. v. a. Für Lehrer emp‐ fiehlt sich die Erstellung eines persönlichen „Methoden-Pools“, um Ideen zur Verfügung zu haben. Sozialformen und Sonderformen „Frontalunterricht“ (Unterricht im Plenum) ist die häufigste Unterrichts‐ form, obwohl sie die Schüler wenig beteiligt. Anregend kann darum Ein‐ zelarbeit sein, da sie die Eigenaktivität fördert und auf den individuellen Leistungsstand Bezug nimmt. Im Frontalunterricht ist allerdings der Lern‐ erfolg nachweislich oft deutlich höher; außerdem haben Lehrer hier den besten Überblick über die Klasse. Partnerarbeit und Gruppenarbeit fördern soziale Kommunikation durch Arbeitsteilung, Aushandeln von Aufgaben usw. und lassen für kreative Ideen Raum. Sie sind darum sehr empfehlenswert, sollten aber auf bestimmte Phasen des Unterrichtsverlaufs begrenzt werden. Aufgabenstellung und Vorgehen müssen genau geklärt sein. Wichtig ist die Rückführung der Ergebnisse von Gruppenarbeiten in die Klasse. Auch dies muss vorher methodisch überlegt werden; eine nacheinander gesetzte Präsentation von Ergebnissen ermüdet, darum ist Auswahl, ein gegenseitiger Bezug z. B. über ein Tafelbild, eine Collage, Anschlagszettel usw. sinnvoll. Bei Erzählungen und gegenseitigem Erfahrungsaustausch ist ein Sitzkreis empfehlenswert, nicht nur in den unteren Klassenstufen. Neben methodi‐ scher Abwechslung sorgt er für erhöhte Aufmerksamkeit und eine sichtbare Gleichberechtigung in der Kommunikation. Stationenlernen (auch „Lernzirkel“) ist eine Form der Gruppenarbeit. An vorbereiteten „Stationen“ im Klassenraum liegen Arbeitsaufgaben, die 278 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="279"?> bearbeitet werden; dann geht die Gruppe zur nächsten Station. Vorteil der Arbeitsform ist die Bewegung und die variable Reihenfolge der Aufgaben, ferner die Beschränkung der Vorbereitung auf die Stationen (statt auf einzelne Schüler); dadurch werden umfangreichere Medienformen möglich. Der Überblick über alle Gruppen und die Steuerung der Beteiligung erfordert allerdings didaktisches Geschick. Freiarbeit bezeichnet die weitgehend freie Wahl von Themenstellung, Arbeitsniveau, Methode, Zeiteinteilung usw., bedeutet darum eine eigen‐ verantwortliche Gestaltung von Lernprozessen und eine Erhöhung der Lernmotivation. Ihre Wurzeln hat die Freiarbeit in der Reformpädagogik (Montessori, Freinet); Lernen wird dort als offener, selbst gestalteter Prozess verstanden und entsprechend stukturiert. Die Freiarbeit nimmt grundle‐ gende Einsichten der neueren Pädagogik auf und wird darum nachhaltig diskutiert und praktiziert. Sie kann allerdings auch dazu führen, dass einzelne Schüler „abtauchen“. Projektarbeit ist eine sinnvolle Erweiterung des herkömmlichen Unter‐ richtsstils. Sie vereint in sich die Vorteile von Stationenlernen und Freiarbeit, führt darüber hinaus aber zu noch intensiverer Eigenverantwortung und Kommunikation in der Gruppe. Eigene Zielformulierung und praktisches Problemlösungsverhalten motivieren den Lernprozess; das gemeinsame Arbeiten (Aufgabenverteilung, Kontrolle und Präsentation) fördert soziales Lernen. Statt zeitlicher Zerstückelung kommt es zu intensiver Beschäfti‐ gung. Themenauswahl, Problemanalyse und -beschreibung, Zielangaben, Festlegung der Arbeitsschritte und der einzelnen Arbeitsaufgaben werden der Arbeitsgruppe überlassen, die entsprechend motiviert sein kann: Es geht dann, wenn die Ausgangslage stimmt, wirklich um das eigene Thema. Projekte schließen mit einer Ergebnisformulierung und einer angemessenen Form der Präsentation (vor der Klasse oder auch in der Öffentlichkeit) ab. Projekte verbinden in der Regel mehrfache Themenstellungen miteinander. Sie ermöglichen genuine Erfahrungen weit eher als sonstige Unterrichts‐ formen. Vor allem aus den letzten beiden Gründen bieten sie sich sehr für religiöses Lernen an. Themenstellungen könnten hier sein: Erstellung eines Prospekts für eine Kirche, Darstellung von religiösen Lebenslinien, Erforschung kirchengeschichtlicher Spuren vor Ort usw. Hier kommt es oft dazu, dass Orte der Religion aufgesucht werden: Gottesdienste, Friedhöfe, Kirchenräume, Klöster usw. Projekte erfordern sorgfältige Planung, die Bereitstellung von angemessenem Informationsmaterial und oft auch die Kooperation mit anderen Klassenlehrern. Ihre Durchführung richtet sich 279 5 Methoden, Medien, Sozialformen <?page no="280"?> nach dem Schema: 1. Brainstorming, Arbeitsvorschläge und -aufgaben sammeln, 2. Arbeitsgruppen bilden mit konkreten Arbeitszuweisungen (oft eine zeitaufwändige Phase), 3. Zeit- und Arbeitsplan in der Gruppe erstellen inkl. Leitfrage und Präsentationsart (schriftlich), 4. Durchführung, 5. Präsentation, 6. Nachträgliche Auswertung. Exkursionen sind für den RU ausgesprochen sinnvoll. Der Besuch eines Klosters, die Begegnung in einer Moschee, der Besuch einer Kapelle auf einem heiligen Berg usw. zeigen oft mehr von Religion als viele Unterrichts‐ stunden und können nachhaltig wirken. Oft vernachlässigt wird die Aufmerksamkeit für den Ort, an dem RU geschieht. Die Atmosphäre des Klassenraumes hat nachhaltige Folgen für das Lernen, denn Lernen ist immer emotional bedingt. Darum sollte, so weit das irgend möglich ist, für eine angenehme Lernumgebung gesorgt werden; dafür können Teppiche, Sofas, Matten und anderes dienen. Ein eigener Religions-Fachraum ist sehr sinnvoll. Die Ausgestaltung des Raumes sollte unter Einbezug der Ideen und Kreationen der Schüler geschehen. Methode und Medium gleichermaßen ist das „erinnernd eingebrachte Erleben“ (Gundula Rosenow) und seine Deutung, also die religiöse Kommu‐ nikation (→ 18.3). Sie benötigt besonderes religionsdidaktisches Geschick. 6 Unterrichtsführung „Lehrende unterscheiden zwischen ziel- und methodenkonformem oder stören‐ dem Verhalten. Lernende unterscheiden zwischen akzeptablen Informationen bzw. Aufgaben und inakzeptablen, denen sie auszuweichen suchen.“ (Schmidt 1991, 207) Das Zitat zeugt von unterrichtspraktischer Erfahrung. Es zeigt: Lehren ist nicht gleich Lernen! Darum sind für die Unterrichtsführung vor allem die Lernbarrieren der Schüler zu beachten; oder positiv formuliert: gute Unterrichtsführung ist die richtige Mischung aus ebenso sicherer wie ein‐ fühlsamer Führung, interessanten Angeboten und didaktischer Kompetenz, die den Schülern motivierende und stimulierende Einsichten ermöglicht. Das Problem des Unterrichtens ist es, dass Lehrer mehrere Ebenen gleich‐ zeitig im Auge behalten und steuern müssen: Ablauf des Unterrichts, eigener Vortrag, Medieneinsatz, Konzentration auf das Klassengeschehen (Reaktio‐ nen, Beteiligung, Unruhe, Störungen), die zur Verfügung stehende Zeit, 280 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="281"?> schließlich das eigene Auftreten (Haltung, Gestik, Sprechweise, Selbstge‐ fühl), das die Aufmerksamkeit eher unterschwellig fordert. Oft sind schnelle Entscheidungen nötig, die nicht lange überlegt werden können, sondern routinemäßig zur Verfügung stehen müssen. Das braucht Erfahrung - aber immer auch bewusste Reflexion. Auftreten Auftreten ist Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Es zeigt an unterschwel‐ ligen, aber sehr deutlich wahrnehmbaren Signalen, ob ein Mensch seiner sicher ist - für den Lehrberuf eine (vor allem in der Ausbildung) stark unterschätzte Grundbedingung. Nicht jeder ist für diesen Beruf geeignet. Auch wenn das oft ohne Absicht geschieht, können Klassengemeinschaften Lehrern gegenüber erbarmungslos sein; das Austesten von Grenzen (wie weit kann man gehen, bis eine Reaktion erfolgt? ) und massive Frontstellun‐ gen durch Verweigerung oder durch Disziplinlosigkeit sind verhaltenspsy‐ chologisch im Prinzip leicht erklärbare Vorgänge, die Lehrern allerdings Kraft und Nerven rauben können. Höchst bedenklich muss da die Tatsache stimmen, dass in Deutschland mehr als 80 % (! ) aller Lehrer frühpensioniert werden, die meisten von ihnen aus psychosozialen Gründen. Darum: Lehren will gelernt sein, und es ist mehr und anderes als fachliches Wissen. Lehren setzt die bewusste Annahme einer Führungsrolle voraus. Gute Führung ist die Doppelung von echter Autorität und Empathie. Sie zeigt sich in einem sicheren Auftreten (dessen Bedeutung keinesfalls unterschätzt werden darf) und im Kontakt zu den Schülern. Ausgesprochen lohnend ist es beim Erstkontakt mit neuen Klassen, schnell die Namen der Schüler zu lernen (auswendig, nach Klassenspiegel - eine Mühe, die sich lohnt, da sie für Sicherheit sorgt und für Respekt). Autorität und Souveränität eines Lehrers zeigen sich generell darin, dass er bereit und fähig ist, seine natürliche Führungsrolle zu übernehmen. Er soll Autorität sein, nicht autoritär sein. Das drückt sich in der Regel in Klarheit aus: darüber was gilt, was zu tun ist, was erwartet wird. Solche Klarheit sorgt weit mehr für Akzeptanz als weiche Nachlässigkeit. Die Körperhaltung sollte bewusst sein und geübt werden, wenn nicht unter Kollegen, dann vor dem Spiegel. Die Körpersprache (hoch gezogene Schultern, vorgeneigter Kopf, verschränkte Arme, nervöse Bewegungen usw.) sendet Signale aus, die sofort deutlich werden. Wichtig ist es vor allem am Anfang von Unterrichtsstunden, aber auch beim Beginn neuer Phasen, 281 6 Unterrichtsführung <?page no="282"?> am zentralen Punkt vor der Klasse zu stehen, um die Aufmerksamkeit aller zu versammeln. Dazwischen sollte man sich im Raum bewegen, um Präsenz zu zeigen und keine „toten Räume“ entstehen zu lassen. Bedenklich, aber leider häufig sind unsicheres seitliches und abgewandtes Stehen, Bewegungslosigkeit, Sich-Festhalten an der Tafel, verschränkte Arme usw. Nicht zu unterschätzen ist auch der Stil der Kleidung. Sie sollte ein gewisses Maß an Sorgfalt und nicht Nachlässigkeit zu erkennen geben (- was nicht gegen einen eigenen Stil spricht). Die Haltung sollte grundsätzlich freundlich, ruhig und bestimmt sein. Lebendige, aber sparsame Mimik, gerader Blick und eine grundsätzlich leise Stimme unterstützen das. Eine ruhige und tiefe Stimme trägt weiter und wirkt souveräner als eine laute und hohe. Wird sie laut, rückt der Geräuschpegel in der Klasse automatisch nach! Stimmbildung und gute Atemtechnik sind für Lehrer ausgesprochen empfehlenswert, nicht zuletzt, da sie enorm energiesparend wirken. Völlig unverzichtbar ist Konsequenz. Wo Lehrer unklar wirken und die eigenen Forderungen nicht überprüfen, können sie schnell ihren Kredit vor der Klasse verspielen. Wenn das einmal geschehen ist, ist eine Korrektur höchst mühsam. Darum müssen alle Forderungen und Anweisungen (und erst recht alle Maßnahmen) gut überlegt sein und mit Ruhe, bestimmt und mit Nachdruck erfolgen. Dazu tragen Pausen, Abwarten, ruhige Stimme und möglichst präzise Formulierungen bei, die erkennen lassen, dass keine Wiederholung erfolgt. Unterrichtsdidaktisch sind Lehrer anerkannt, die ein entdeckendes und entwickelndes Lehren betreiben, das auf Erfahrungsbezug und induktives statt deduktives Verfahren setzt und gut geplant ist. Ein guter Unterrichts‐ stil ist weniger durch Information, sehr viel mehr dagegen durch gute Moderation gekennzeichnet, d. h. durch die Förderung der Kommunikation zwischen Lerninhalten, Erfahrungen und der gegenwärtigen (Weltund) Lebenssituation. Gesprächsführung Gute Gesprächsführung ist im RU besonders wichtig. Auch sie will gelernt sein. Hier vor allem gilt das Grundprinzip der Moderation: Bei einer guten Moderation hat der Lehrer die Fäden des Gesprächs in der Hand, hält sich selbst aber vollkommen zurück - wie ein Dirigent, der leitet, aber selbst keine Musik macht. Lehrer sollen in Gesprächen nicht selbst Beiträge 282 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="283"?> liefern, erst recht nicht die „richtigen Ergebnisse“, sondern hervorlocken, leiten, aufeinander beziehen und dabei das Thema im Auge behalten und zu ihm immer wieder Brücken schlagen (Was meint ihr dazu? ; hätte das, was … sagt, nicht Folgen für …? ). Betonungen von Beiträgen durch Gesten, Abwinken oder Lob („eine sehr gute Idee! “) sind unverzichtbar, um den Schülern Orientierung zu geben - es verwirrt, wenn Lehrer unterschiedslos alle Beiträge mit einem Nicken quittieren. Wichtig ist allerdings: kein Lehrerecho! Wiederholungen von Schülerbeiträgen machen den Eindruck eines Zweiergesprächs und enthalten die Botschaft, dass eigentlich keine Beteiligung nötig ist; alles wird ja noch mal präsentiert. Auch die Fragetechnik will gelernt sein. Grundregel: keine geschlossenen Fragen (die mit Ja/ Nein oder wenigen Worten beantwortbar sind)! Ebenso schlecht sind Ergänzungs-, Suggestiv- und Entscheidungsfragen. Sie dienen in der Regel der Überprüfung eines „abfragbaren“ Wissens und behindern Motivation und Selbstbeteiligung. Das gilt auch für viele „W-Fragen“ (Wer tut, wo ist usw.), sofern sie nicht auf Einstellungen und Haltungen bezogen sind - dann erst werden sie zu echten Fragen: Was bedeutet … (für dich)? Welche Konsequenzen hat …? Welche Möglichkeiten stehen jetzt offen? Wie könnte man … erklären? Was hat … wohl motiviert? Wie sinnvoll ist …? Wie kann man verbessern oder helfen? usw. Unbedingt zu vermeiden sind Mehrfachfragen (Was hat … und warum … ja und wozu …? ); sie verwir‐ ren. Grundsätzlich sollten Fragen klar und präzise formuliert werden. Am sinnvollsten sind echte Impulsfragen, die zur Stellungnahme herausfordern; meistens sind das „Fragen“ in Form von Aussagen, die provozieren (Der ist ja verrückt! Das verstehe ich jetzt überhaupt nicht mehr! Ach -! Oder einfach ein stummer Impuls, der das Gesagte wirken lässt). Gut gesetzte Impulse haben eine hervorragende didaktische Wirkung; man kann sich dann oft sehr viel Zeit lassen in dem Wissen, dass die Schüler sich - manchmal nach einer Denkpause - unweigerlich zu Wort melden werden. Abweichende und unpassende Beiträge dürfen sehr wohl ignoriert wer‐ den, sonst besteht die Gefahr des Sich-Verlierens, das die Klasse eher verwirrt. Besonders bei Grundschülern führen spontan eingebrachte unpas‐ sende Erlebnisse schnell in eine unkontrollierbare Richtung. Möglich ist dann eine gestische Form für das Ankommen der Botschaft, die gleichzeitig deren Nicht-Passen signalisiert (nicken, abwinken, „na ja …“). Dasselbe gilt für manche kleineren Störungen: Unterhalb einer gewissen Schwelle sollte man sich und die Klasse nicht ablenken lassen. 283 6 Unterrichtsführung <?page no="284"?> Am Gespräch ebenso wie am Unterricht überhaupt sind möglichst alle Schüler zu beteiligen, nicht nur die fleißigen und die Lieblingsschüler. Das verführt andere dazu „abzuschalten“. Der Umgang mit schwächeren Schülern erfordert Sensibilität (Aufrufen bei einfacheren Fragen und leichte Arbeitsanweisungen, besonderes Lob). Benotung und Disziplin RU ist ein staatlich garantiertes und bereitgestelltes Fach, das ebenso wie an‐ dere Fächer der Benotung unterliegt. Das ist auch im RU sinnvoll. Bewertung ist als Honorierung zu verstehen, die einen Wert zuerkennt. Natürlich lassen sich nicht religiöse Einstellungen bewerten; bewertet werden dagegen die Leistungen und vor allem die Beteiligung der Schüler. Phasenweise (etwa bei sehr privaten Themen) sollte die Benotung ausgesetzt werden. Klassendisziplin kommt allen zugute. Sie hängt vom Klima zwischen Lehrern und Schülern ab, von der Stimmung in der Klasse (Gruppenzwänge, sozialer Umgang), vom Interesse am Unterrichtsgehalt (spannendes Thema oder „kognitive Dissonanzen“ durch Fremdheit und Überforderung) und (sehr viel öfter als diese meinen) von didaktischen Fehlern der Lehrer. Wo zu schnell Maßnahmen ergriffen werden, können Schüler zu Recht gekränkt sein und entsprechend reagieren. Darum sollte als Grundregel gelten: so viel Lob als möglich! Lob motiviert wie sonst nur der unerwartete Erfolg und schafft ein gutes persönliches Klima, vorausgesetzt natürlich, es kommt nicht inflationär, und der Lehrer ist anerkannt. Und: klare, von allen akzeptierte Regelungen! Solche einzuführen ist anstrengend und will genau überlegt und eingeübt sein, ist aber höchst wichtig, denn Regelungen erübrigen die dauernde Anstrengung zu weiteren Maßnahmen, die in einer störungsanfälligen Atmosphäre entsteht. Unver‐ zichtbar sind Regelungen beim Unterrichtsgespräch (Melden, Zuhören beim Lehrer ebenso wie bei den Mitschülern), bei Toilettengängen, Essen und Trinken, Stundenbeginn und -ende, Pflichtverweigerung. Die Regelungen können bei jedem Lehrer durchaus verschieden ausfallen, sollten sich aber am Üblichen orientieren. Tadel und Strafen sind aus pädagogischer Sicht grundsätzlich problema‐ tisch, da sie die Lernmotivation mehr stören als fördern. Darum darf Tadel niemals allgemein oder gar aggressiv sein. Der einzelne Schüler soll direkt, ruhig und freundlich angesprochen werden. Hier ist Nachdruck besonders wichtig. Es muss deutlich sein: Nicht der Schüler, sondern sein Verhalten 284 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="285"?> wird getadelt bzw. bestraft. Kein Tadel und keine Strafe darf Respekt verweigern. Strafen sollten so sparsam wie möglich angewendet werden, sind aber manchmal unvermeidlich. Abstufung, Durchsichtigkeit (Gerechtigkeit), Konsequenz und die klare Vermeidung von Bloßstellungen sind unver‐ zichtbar. „Persönliche“ Maßnahmen sind die weitaus sinnvollsten: das gilt vor allem für das Versetzen (das oft nachhaltige Wirkung zeigt) und die Aufforderung zum Einzelgespräch; da verändern Schüler ihr „Gesicht“ oft grundlegend und sind dankbar für die geschehende Zuwendung. Der folgende Katalog von Regelungen und Maßnahmen kann nur eine Anregung sein, die immer eigenständig zu handhaben, zu ergänzen und mit der eigenen Person ebenso zu decken ist wie mit der Situation der Schule. Lob Vor allem von Gesprächsbei‐ trägen, Beteili‐ gung, Ideen, gu‐ ten Arbeitsergebnissen Regelungsbereiche Unterrichtsbeginn Sitzordnung Gesprächsverhal‐ ten Nebentätigkeiten Vergessen von Bü‐ chern, Heften, nicht gemachte Hausaufgaben etc. Essen, Trinken Formen des Tadels Unterbrechung Unerwartete Zwi‐ schenfrage Anruf mit Namen Namentliche Er‐ mahnung Verwarnung Formen der Strafe Versetzen von Schülern auf an‐ dere Plätze Einzelgespräch nach der Stunde Nacharbeit Gespräch mit Klas‐ senleiter oder El‐ tern Verweis Bemerkungen: Lob motiviert! Regelungen entlas‐ ten Lehrer und Schüler Nie allgemein ta‐ deln, sondern kon‐ krete Schüler, deut‐ lich, bestimmt und freundlich - nicht emotionslos, aber mit klarer innerer Distanz Das Verhalten, nicht der Schüler wird bestraft! Darum darf eine Strafe niemals bloßstellen Strafen müssen einsichtig sein Konsequenz ist ent‐ scheidend wichtig Für regulierende Maßnahmen gilt allgemein: am sinnvollsten sind Wechsel. In der psychologischen Gruppenführung ist das Phänomen bekannt, dass Gruppenkonflikte wie von selbst verschwinden, wenn eine zerstrittene Gruppe den Raum wechselt - das ist in der Schule leider nicht möglich. Aber der Wechsel von Plätzen (des Lehrers selbst, dann eines Schülers), der Arbeitsform, auch von Themen schafft das Gefühl, dass es wieder neu 285 6 Unterrichtsführung <?page no="286"?> „losgehen“ kann. Bei größeren Schwierigkeiten kann es ratsam sein, das Problem zum Thema eines Klassengesprächs zu machen. Die Zeit dafür sollte aber klar begrenzt sein. Zusammenfassung Die Beliebtheit des RU bei den Schülern liegt im guten Durchschnitts‐ bereich, sinkt aber aufgrund der theologischen Abstraktheit in den höheren Klassen stark ab. Da die Schüler undisziplinierter werden, sind an die Lehrenden heute hohe Anforderungen gestellt. Religi‐ onsdidaktische Kompetenz zeigt sich vor allem darin, dass sie die symbolische Logik der Religion erschließen; ferner darin, dass sie sich bei der religionsdidaktischen Umsetzung von Lernzielen auf die Erfahrungswelt der Schüler einstellen, was vor allem heißt, dass sie erfahrungsbezogene und spannende Unterrichtsstunden entwerfen, angemessen mit Medien umgehen und bereit sein müssen, vor der Klasse eine Führungsrolle zu übernehmen. Literatur A. Feige u. a. 2001 (zu 2.) - G. Hilger u. a. 2001 - C. Grethlein 2005 - J. Bauer 2008 - C. Kalloch/ S. Leimgruber/ U. Schwab 2014 - H. Mendl 2018 - M. Kumlehn 2018 - A. Schulte 2018 - JRP 35 (2019), bes. R. Englert, 62 ff. - U. Kropac/ U. Riegel 2020. 286 12 Didaktik des Religionsunterrichts <?page no="287"?> 13 Was ist religiöses Lernen? „Wenn [es] die Wirklichkeit der Religion ist, durch einen … Zeichengebrauch konstituiert zu sein, dann … wird Religion lehrbar durch Anleitung zu diesem Zeichengebrauch, der im kulturellen System der Religion geübt wird.“ (Gräb 1996, 72) Dieser scheinbar banale Satz stellt die herkömmliche Form religiösen Ler‐ nens auf den Kopf. Nicht Inhalte oder Lehren sind es, die religiöses Lernen ausmachen, sondern ein „Zeichengebrauch“: wer Religion verstehen und sich aneignen will, muss ihre Symbole, Bilder und Rituale verstehen und nachvollziehen, noch besser: selbst handhaben können. Dafür wiederum muss man nicht nur im Kulturbereich Religion kundig sein, sondern vor allem in den grundlegenden Erfahrungen und Fragen des Lebens, aus deren symbolischer Deutung Religion immer erst entsteht. Darin unterscheidet sich religiöses Lernen vom allgemeinen Lernen. Dieser Unterschied wird in der bisherigen Religionsdidaktik und selbst bei ihren eingeführten Formen (→ 11) allenfalls implizit bedacht, noch kaum aber eigens bearbeitet. Wie aber wird ein Mensch eigentlich religiös? Wie entsteht religiöses Interesse? Und welche Rolle spielt dabei die „vorhandene“ Religion, also die religiöse Tradition? Dazu kommt die grundsätzliche Frage: was ist eigentlich Lernen, wie geschieht es? Lehren und Lernen sind zweierlei (→ 10)! Was gelernt wird, hängt ab vom Lernklima, der inneren Einstellung usw. Wirkliche Einsicht, ohne die es keine echte Religion gibt, kann kaum direkt gelehrt werden, sie erfolgt subjektiv sehr verschieden nach Situation und Vorerfahrung, oft spontan und ungeplant. Für die Religion ist das ganz besonders wichtig: Emotionen, Existenzerfahrungen, Betroffenheiten werden sehr verschieden erlebt und jeweils anders aufgefasst; das gilt zum Teil selbst für einfache Informationen. Wie also lassen sich Möglichkeiten und Wege der Aneignung beschreiben? <?page no="288"?> 1 Lernen Lernen ist ein Grundvorgang des menschlichen Lebens, ein Aneignungs‐ prozess, bei dem Umweltreize und interne Verarbeitungsreaktionen zu‐ sammenspielen. Es geschieht bei Kindern zunächst als Wahrnehmen von Atmosphären (also: ästhetisch), dann als Be-Greifen, später als Zuordnen zu bereits Erfahrenem, dann erst als Abstraktion. Eine bedeutende Rolle spielen außerdem mimetische, d. h. angleichende Prozesse. Es ist klar, dass im Erwachsenenalter das abstrakt-rationale Denken das Lernen dominiert - allerdings bleiben Lernen und vor allem Erfahrungen (d. h. Lernen von Einsichten, die die Person betreffen) nach wie vor in hohem Maße an Wahrnehmung und Emotion gebunden. Lernen geht, wenn es die Person betrifft, immer über kognitive Prozesse hinaus in Bildung (→ 17) über. Lernen gibt es nicht ohne Motivation, die Beteiligung der Phantasie und den Aufbau von Bedeutung. Motivation, Phantasie und Bedeutung lassen die stärksten Lernleistungen entstehen; sie sind dort am höchsten, wo der Zusammenhang mit dem eigenen Leben deutlich wird. Wer Lernen verweigert, wird unbeweglich und alt. Deshalb spricht man heute vom lebenslangen Lernen - was oft allerdings nur noch Informationen und flexible Einstellung auf neue Situationen meint, also ökonomisch verzweckt ist, an den Grundbedürfnissen des Menschen vorbei geht und entsprechend anstrengt. Übersehen wird da eine pädagogische Grundein‐ sicht: Lernen ist grundsätzlich mit Lust verbunden. Denn Neugier ist dem Menschen angeboren und macht Freude: das zeigt das kindliche Spiel und jedes Experimentieren, Ausprobieren und Tüfteln. Das Leben wird schal, wo Neugier und Begeisterung erlahmen oder nicht befriedigt werden. Das gilt ebenso für jedes Begreifen: der „Aha-Moment“, der die „kognitive Dissonanz“ auflöst, macht ebenso Freude wie jede gedankliche Ordnung und jedes Geschick. Darum gilt umgekehrt: Interesse und Motivation sind die Grundbedingungen für die Verarbeitung von Information. Sie hängen von der inneren Einstellung (Lernmotivation und innere Bereitschaft oder Stress-Blockaden), der Lernatmosphäre (Personen, Raum, Zeit) und von reizvollen Angeboten und Präsentationen ab; generell also davon, dass man der Neugier freien Lauf lässt und gute Möglichkeiten weist. Hier zeigt sich, dass entgegen der Annahme Sigmund Freuds (die auch in unserer Gesellschaft nahezu unbefragt gilt) nicht die Befriedigung von Be‐ dürfnissen Grundlage aller Handlungsmotivation ist, sondern die Erfahrung von Kompetenz. Diese ist nicht nur mit einer tieferen Befriedigung verbun‐ 288 13 Was ist religiöses Lernen? <?page no="289"?> den, sondern hat auch eine stärkende Wirkung auf das Selbstwertgefühl eines Menschen (s. u.). An kleinen Kindern kann man sehen, dass ein neu erworbenes Können glücklich macht; und Menschen wenden oft weit mehr Zeit und Mühen an das Erlernen von Können (etwa des Radfahrens, oder des Klavierspielens) als auf Bedürfnisbefriedigungen. Wo sich dieses Verhältnis umkehrt, sinken Motivierung und Lebenslust. Es gibt zwei Grundtypen von Lerntheorien. Zum einen die behavioris‐ tische, die von der klassischen Konditionierung (nach Pawlow) ausgeht und Reize als Bedingungen für assoziative Verknüpfungen versteht; Lernen gilt hier als Informationsverarbeitung durch Herstellen von Verbindungen. Zum anderen die Theorie der kognitiven aktiven Organisation, die die innere Beteiligung hervorhebt; sie bezieht sich auf Jean Piaget, der das kognitive Lernen als „Äquilibration“ (d. h. als Ausgleich und Herstellen einer Balance) von „Akkumulation“ (Angleichung des Verstehens an das, was erfahren wird) und „Assimilation“ (Angleichung des Lerninhalts an das eigene Begreifen) beschreibt. Lernen geschieht aber vor allem „am Modell“. Der Mensch ist ein „reflexiv-epistemiologisches Subjekt“ (Bandura), d. h. er lernt in der Regel durch unbewusste Nachahmung, also durch spontane Reaktion auf Personen, Szenen, Dinge usw.; so kommt es zu Übernahmen und Identifikationen. Auffällig an den Lerntheorien ist, dass die Rolle der Motivation oft nur als Nebensache behandelt wird. Lernen sollte aber nicht nur die Verarbeitung von „Information“, sondern vor allem die Änderung von Einstellungen beschreiben, denn nichts hat so weit reichende Folgen für das Begreifen und Leben insgesamt wie diese. Gelernt werden nicht nur Kognitionen und Verhaltensmöglichkeiten, sondern eben auch Einstellungen! Das ist offensichtlich höchst bedeutsam für das Begreifen und Nachvollziehen von Religion. Darum muss man sich klar machen, dass Betroffenheit der Beginn jeden Lernens ist, sei sie als mimetische Angleichung (s. u.) verstanden, als angeregtes Interesse oder als echtes Erstaunen. Betroffenheit ist weiter die Bedingung dafür, dass Dinge eine (subjektive) Bedeutung erhalten (s. u.), ohne die unser Verstehen ebenso leer bleibt wie unser Weltbezug und unser Lebensgefühl. Bedeutungen im umfassenden Verständnis sind ein Äquivalent für die Erfahrung von Sinn. Sinnvolles Lehren (also: eine gute Didaktik) versucht darum den Erfah‐ rungsbezug zu beachten und vor allem einen Entdeckungsweg zu eröffnen (→ 12.4), weil so Neugier stimuliert und Lernen als bedeutsam erfahren wird. Aus Lernpsychologie und Neurobiologie wissen wir, dass das mensch‐ 289 1 Lernen <?page no="290"?> liche Gehirn kein Ablageschrank ist; „ein Kind ist kein Aktenordner“ ( Joachim Bauer). Lernen ist ein hoch komplexer Vorgang, der als Ausbau von Vernetzungen geschieht. Reine Rationalität gibt es nicht. Sie beruht immer auf Abstraktionsvorgängen, an denen Gefühle, Stimmungen und Atmosphären beteiligt sind. Diese werden bei jedem Lernen mit-codiert, sie lassen sich nur künstlich und im Nachhinein voneinander trennen. Darum sollte Lernen immer möglichst mehrkanalig geschehen, keinesfalls nur kognitiv. Gelernt wird nur, was auch „abgespeichert“ werden kann. Ob das ge‐ schieht, hängt weitgehend von inneren Strukturen und Ordnungsschemen ab, über die die Lernenden entweder bereits verfügen, oder die ihnen mit dem zu Lernenden mitgeliefert werden. Lehrende müssen darum immer Ver‐ netzungsmöglichkeiten schaffen, Assoziationen bereitstellen, an bereits be‐ stehendes Wissen, Können, Einstellungen und Erfahrungen anknüpfen und vor allem Zuordnungsmöglichkeiten und Strukturen „mitliefern“, und keine Wissensaddition und -anhäufung betreiben. Sie sollten Lernatmosphäre und Motivation durch Beachtung von Raum, „Klima“, Zeit, Pausen, kreativen und spielerischen Elementen usw. sehr bewusst gestalten. Welche Bedeutung Assoziationen für das Lernen haben, zeigt das folgende instruktive Beispiel: Ein Kind, das beim versonnenen Malen Wasser verschüttet und von der nervösen Mutter eine Ohrfeige bekommt, lernt: ‚Malen ist gefährlich! ‘ Es wird jetzt möglicherweise keinen Spaß am Malen mehr haben. (Vester 1975, 44) Darum ist das Wissen um Lernblockaden durch negativen Stress ein didaktisches Grunderfordernis. Stress ist die Ausschüttung von Hormonen, die bei störenden, befremdlichen oder erschreckenden Wahrnehmungen geschieht - ein sinnvoller biologischer Mechanismus, der den Körper bei Gefahr schlagartig für Kampf oder Flucht präpariert. Das Blut wird dem Gehirn und dem Magen-Darmbereich entzogen und läuft dort hin, wo es jetzt gebraucht wird: in die Muskeln, deren Spannung sich erhöht. So kommt es bei Schrecken zu Gesichtsblässe, Zittern, Herzklopfen usw., bei anhaltendem Stress zu Darmproblemen und Infarkten. Auslöser von Stress sind heute kaum noch akute Gefahrensituationen, sehr viel mehr aber Bedrohungen, die ganz unterschwellig bewusst sein können. Bereits das Ticken eines Weckers im Schlaf löst Stresshormone aus. Mehr noch geschieht das bei Unruhe durch innere Anspannung und äußeren Druck oder unbewältigte Probleme, oder etwa durch eine depressive Lebensein‐ stellung; oder natürlich durch (Lern)Situationen, die als schwierig, fremd, 290 13 Was ist religiöses Lernen? <?page no="291"?> überfordernd erlebt werden, und erst recht natürlich in Prüfungssituationen. Dann kann es zum gefürchteten „Black out“ kommen, der am besten eigentlich durch körperliche Betätigung abzubauen wäre. Höchst bedenk‐ lich erscheint angesichts der nachhaltigen Individualisierung (→ 15) die Erkenntnis der Neurobiologen, dass der Entzug sozialer Unterstützung und der Wegfall zwischenmenschlicher Beziehungen den höchsten Stressfaktor überhaupt darstellen. Darum wirken stabile menschliche Beziehungen dem Stress entgegen, ferner das Gefühl von Übersicht, bewusste Entspannung, Kreativität und Bewegung. Sinnvolles Lernen wird also gefördert durch den Einbezug von Gefühlen und Erfahrungen, durch die Transparenz des Lerninhalts auf seine Struktur hin und auf seinen Sinn (- wie häufig ist das in unseren Schulen anders! ), durch die angenehme Gestaltung der Lernatmosphäre, durch mehrfache Annäherungen und Zugänge, schließlich durch Beteiligung und selbstgesteuertes Arbeiten, wodurch Neugier und Motivation erhöht werden. Auch für die eigene Strukturierung des Lernens kann man eine Menge tun: Ordnung durch Übersicht am Arbeitsplatz, feste zeitliche Abläufe und Pausen, Abschirmung vor fremden Einflüssen, thematische Übersicht durch Skizzen (Mind-Maps) usw. vermindern Stress ebenso wie den Aufwand an Energie, den man zum Arbeiten braucht; ebenso natürlich Bewegung und die Verfolgung vielfältiger Interessen. Nach wie vor spannend und ganz ausgezeichnet beschreibt diese Zusammenhänge Frederic Vester (1975 und 1976). 2 Was ist ein religiöser Lernprozess? „Auch heute … laufen religiöse Lernprozesse nur da letztlich nicht ins Leere, wo sie aus der Distanz des Zur-Kenntnis-Nehmens von Religion irgendwann und irgendwie hinüberführen in die ‚Leidenschaft des Religiösen‘ und schließlich einmünden in eine Form personal integrierter Religiosität. Religiöses Lernen muß mehr sein als ein Gang durch das ‚Mausoleum der Religion‘.“ (Englert 2008, 286) Die scheinbar banale Frage nach dem religiösen Lernprozess und seinem „irgendwann und irgendwie“ hat ein bedeutendes religionspädagogisches Gewicht. Herkömmlich fand religiöses Lernen durch die lehrende Weiter‐ gabe eines (gebündelten) religiösen Wissens oder Verhaltens statt, in der Regel durch den Katechismus. Der Katechismus aber kann totes Wissen sein, 291 2 Was ist ein religiöser Lernprozess? <?page no="292"?> eine Kunst-Erfahrung etwa kann dagegen religiös bedeutsam sein. Denn Religion ist alles, was den Menschen „unbedingt angeht“ (Paul Tillich). Auch der inzwischen häufig verwendete Begriff „Kommunikation des Evangeli‐ ums“ denkt hier trotz seiner sympathischen Offenheit noch zu sehr aus einer internen Perspektive heraus. Wie also entsteht Religiosität? Grundsätzlich durch die Übernahme und Nachahmung religiöser Gehalte und Vollzüge; diese Übernahme geschieht faktisch lange bevor sie bewusst und beabsichtigt ist, durch mimetische Angleichung (mimesis, griech = Nachahmung), also durch schlichte Ge‐ wöhnung; d. h. durch mehr oder weniger unbewusste Angleichung des Verhaltens und auch des Empfindens an bestimmte Vorgänge und vor allem an Bezugspersonen und deren religiöses Verhalten. Das erklärt, warum die Eltern (→ 4.2, 5.1), die Religionslehrer (→ 12.2) und das Spiel (→ 11.6) so bedeutsam und folgenreich sind für religiöses Lernen. Nicht die Gehalte also, sondern die mit ihnen verbundenen und durch sie ermöglichten Betroffen‐ heits-Erfahrungen sind es, die Religiosität entstehen lassen. Darum müssen Erfahrungen (→ 10.7) die Grundlage bewusster religiöser Lernprozesse sein, die in einen religiösen Kontext gestellt und in ihm gedeutet, oder aus diesem Kontext als bereits gedeutete übernommen werden. Religionsdidaktisch gilt es also, bedeutsame Erfahrungen aufzuspüren, anzubieten, anzubahnen, zu gestalten und zu reflektieren. Geschehen kann das natürlich in allen Bereichen des Lebens, denn selbst ein simpler kogni‐ tiver Inhalt kann eine emotional besondere Erfahrung auslösen. Vorwiegend aber wird das im Bereich der kulturell gestalteten Religion selbst geschehen. Das bloße Informiertsein über die Gehalte der Religion reicht in der Regel keineswegs aus für ein echtes religiöses Lernen, oder gar für die Ausbildung von Religiosität (→ 18). Nachdenken über Religion leistet das schon eher; es kann sich nämlich mit einer bestimmten Sicht auf die Welt und das eigene Leben verbinden, möglicherweise also mit einer religiösen Überzeu‐ gung oder einem Glauben, der allerdings sehr Verschiedenes meinen kann: abstraktes Interesse, fundamentalistisches Denken oder Lebensvertrauen. Bewusstes religiöses Lernen ist symbolisches Verstehen (→ 11.2, 18.2). Am ehesten findet deshalb echtes religiöses Lernen im religiösen Handeln statt, das neben diakonisch-menschlichem, helfenden Verhalten vor allem spirituelle Praxis ist: Gebet, Gottesdienstbesuch, Meditation usw. Solche Praxis ist in der Regel Folge einer inneren Haltung - kann diese aber auch erst herstellen. Alle diese Komponenten sind planmäßig lern- und beeinflussbar; jeder Bereich kann je für sich trainiert werden. 292 13 Was ist religiöses Lernen? <?page no="293"?> Der innerste motivierende „Kern“ eines religiösen Lernprozesses ist eine Grund-Erfahrung, die einen Menschen so trifft oder berührt, dass sich ihm eine neue Sichtweise auf das Leben und die Welt erschließt und sich dadurch seine gesamte Haltung verändert; eine solche Einstellungsände‐ rung ist fast immer verbunden mit einer Veränderung des Verhaltens. In diesem Sinne kann die Kernbotschaft des Jesus von Nazareth, sein Ruf zur Umkehr angesichts der Nähe Gottes (Mk 1,15), als Aufforderung zur Totalveränderung der Lebenseinstellung verstanden werden. Der Begriff „meta-noete“, der hier gebraucht ist, bedeutet nicht „Buße“, sondern neue Sicht, Meta-Perspektive und Bewusstwerdung. Offensichtlich beruht dieser Aufruf selbst auf der Grunderfahrung Jesu, dass angesichts der Nähe Gottes das Leben ganz anders, leicht, frei, selbstverständlich und unbeeindruckt von falschen Rücksichten sein kann; das Leben ist geschenkte Fülle und voller ungeahnter Möglichkeiten. Der häufige und gewichtige Satz Jesu: „Dein Glaube hat dir geholfen“ ist im Übrigen nicht auf religiöse Lehren, Autoritäten, Priester, nicht einmal auf Gott bezogen; er meint schlicht den Lebens-Glauben eines Menschen. Solche Ur-Erfahrungen liegen auch den anderen großen Religionen zu Grunde. Sie werden von den Menschen intuitiv als höchst bedeutsam erkannt, können sie doch Menschen und das Leben einer Gemeinschaft völlig verändern. Darum werden diese Erfahrungen aus verständlichem Grund entsprechend durch Traditionen und Institutionen geschützt - durch heilige Texte, Lehren, Regeln, Personen, usw. - und oft sind sie gar Anlass zur Gewalt. In den Gestaltungen der Religion (→ 2.2) kann deren ursprüng‐ liche Kernerfahrung immer wieder neu freigelegt, entdeckt und angeeignet werden. Die sekundären Gestaltungen der Religion können diese Erfahrung freilich auch ersticken und pervertieren, besonders dann, wenn sie sich selbst als sakrosankt (unberührbar und absolut heilig) setzen, wie das im his‐ torischen Lauf der Religionen nur allzu oft geschieht - auch im Christentum. Um die religiöse Inspiration neu anzufachen, müssen Propheten, Heilige, Reformatoren und Ketzer auftreten, Menschen also, die die Ur-Erfahrung der Religion in besonderer und zeittypischer Weise erneuern. Das Wissen um diese Ambivalenz der Religion gehört ebenso unverzichtbar zum religiösen Lernen wie die Fähigkeit zum Symbolverstehen und zum Symbolisieren (→ 18.2). Religiöse Lernprozesse beziehen sich auf religiöse Formen, Inhalte und Vollzüge, vor allem aber auf das, was in diesen an persönlicher Erfahrung aufscheint. Sie lassen sich nach Rudolf Englert einer Typologie zuordnen: 293 2 Was ist ein religiöser Lernprozess? <?page no="294"?> a. Formation: Verinnerlichung von religiösen Erfahrungen durch traditio‐ nelle Lehre und Unterweisung, die Glaube als Haltung anzielt, b. Inkulturation: traditionelle Form der religiösen Sozialisation, also des Hineinwachsens in die religiösen Prägungen einer Gesellschaft, c. Konversion: Bewusstwerdung, Sinneswandel und plötzliche Umkehr; heute wird dieser Begriff, der den Kern der eigentlichen und umfassen‐ den religiösen Erfahrung meint, allgemein nur für den Wechsel der Konfession gebraucht, d. Expedition: offener, meist allein unternommener Suchprozess, der im‐ mer mehr die Regel wird und zusammen mit anderen (nicht-religiösen) Sozialisationsfaktoren abläuft. Sie bleibt fast immer unabgeschlossen und führt kaum noch zu Verbindlichkeit, nur sehr selten auch zu religiöser Identifikation und Gewissheit (Englert 2008, 282 f.). Behindert wird religiöses Lernen durch religiöse Traditionen, die sich selbst als absolut gebärden, die ohne Bezug zur Gegenwart und zum eigenen Leben bleiben, die zu früher Gelerntem in Widerspruch treten, ohne dass das artikuliert werden kann, oder die ohne eigenes Interesse gelernt werden. Letzteres ist vor allem dann der Fall, wenn Religion als Zwang (auch als unterschwelliger und Gruppenzwang) und in Form nicht einsehbarer Auto‐ rität auftritt - dann also, wenn sie nicht um der Menschen willen, sondern um ihrer selbst willen besteht. Aus der Sicht lebendiger Religion liegen hier religiöse Fehlformen vor. Aber auch der weitgehende Verlust der Selbstver‐ ständlichkeit von religiösem Leben und der faktische Geltungsverlust der Kirchen und der christlichen Religions-„Experten“ (Pfarrer, Priester und Theologen) verringern heute die faktische religiöse Kommunikation. Darum werden immer weniger religiöse Gehalte und Erfahrungen weitergegeben - auch wenn das Interesse an Religion hoch ist. Weder Belehrung noch „Verstehen“ wird der Religion ganz gerecht, sondern nur der Mitvollzug eines wechselseitigen kommunikativen Gesche‐ hens, der sich aus einem tiefen Erleben speist. Religion braucht „Darstellung und Mitteilung“ (Schleiermacher), während die rationale Analyse sie ge‐ nauso zerstört wie einen Kunstgenuss oder ein Naturerlebnis. 294 13 Was ist religiöses Lernen? <?page no="295"?> 3 Religiöse Traditionen als Medien religiösen Lernens „Nicht ob das Evangelium an sich wahr ist, ist die entscheidende Frage, sondern ob es in einer konkreten Situation für konkrete Menschen wahr wird, ob es tröstet, lehrt, orientiert, begeistert, zum Handeln hilft.“ (Meyer-Blanck in WzM 49/ 1997, 4) Die christliche Tradition (→ 1.2, 16) hat das gesamte Abendland geprägt, seine Denkweise, seine Kultur und seine Mentalität. Die christliche Überlie‐ ferung der Erfahrungen mit Gott, der Botschaft Jesu und seiner Sicht auf das Leben als von Gott geschenkte Fülle, hat durch seine kulturelle Dominanz und durch die abstrakte Denkform der Theologie oft zu einer unbewussten Verabsolutierung der christlichen Lehre geführt. Aus der verständlichen Angst heraus, gewichtige Inhalte preiszugeben, hat sie sich allzu oft gegen eine lebendige Nachvollziehbarkeit und eine plausible Übersetzung in die Lebenspraxis gesperrt. Ohne diese ist aber auch die Tradierung selbst blockiert. Durch die Abwertung von Sinnlichkeit, Traum und Mythologie ist die ursprüngliche religiöse „Idee“ und spezifische Logik des Christen‐ tums immer wieder verschüttet worden (→ 7.2). Traditionsbrüche sind im Christentum daher keineswegs selten (vgl. vor allem die Reformation). Inzwischen erleben wir allerdings einen Bruch mit der Tradition, der sich von der religiösen Überlieferung und ihren Institutionen überhaupt abkoppelt. Traditionen haben kaum noch Einfluss auf das moderne Leben. Wie lassen sie sich unter diesen Bedingungen sinnvoll für religiöses Lernen nutzen? Das Verhältnis der lernenden Subjekte zur Tradition ist die bleibende Grundfrage der RP, und sie ist nicht geklärt. Es liegt auf der Hand: Religiö‐ ses Lernen ist heute an eine konsequente Subjektorientierung gebunden. Allerdings nicht an eine Verabsolutierung des Subjekts! Sonst würde die RP den alten Fehler der Einseitigkeit auf der anderen Seite der Tradition nur wiederholen. Subjekt und Tradition sind dagegen in ein stimmiges Verhältnis zu bringen - so allerdings, dass Menschen dabei sich selbst neu sehen und die Welt in einem neuen Licht erfahren können. Es kann also nicht primär um Traditionspflege gehen. Die gelungenste Subjektorientierung ist die, die Religion wirklich anbietet, und zwar so, dass Lernende aus ihren Lebens-Er‐ fahrungen heraus Interesse entwickeln können und in ihrer Entfaltung gefördert werden. Das kann wiederum nur gelingen, wenn die Menschen nicht sich selbst überlassen, sondern in Auseinandersetzung und Bezug zu 295 3 Religiöse Traditionen als Medien religiösen Lernens <?page no="296"?> anspruchsvollen Gehalten der religiösen Tradition gebracht werden, oder noch besser: wenn sie sich selbst als potentiell religiös erleben können. Religiöse Traditionen sind religionsdidaktisch als Medien der Selbst-Bildung zu verstehen. Für die RP legt sich eine Hermeneutik des werbenden Verstehens und Heranführens nahe, die Angebote zur versuchsweisen und zeitlich begrenz‐ ten Identifikation macht. Sie orientiert sich vor allem an den Möglichkeiten der Aneignung, zu denen persönliche Fragen und Bedürfnisse, aber auch Lebenskontexte und Vorerfahrungen gehören. Die Prozesse lebens- und personenbezogenen Lernens sind heute nahezu vollständig selbstbestimmt; sie richten sich an der Vorstellung uneingeschränkter Autonomie aus und vorwiegend an den Filtern der Brauchbarkeit und des unmittelbar einleuchtenden Situationsbezugs, oft auch der Erlebnisintensität. Das gilt entsprechend für die Annahme, Akzeptanz und Verarbeitung von religiöser Tradition. Die christliche Tradition ist für christlich-religiöses Lernen gewichtig und unverzichtbar. Freilich sind es vor allem jene Gehalte der Tradition, die den oft genug faszinierenden Einblick in das religiöse Leben mit einer eigenen Beteiligung und Betroffenheit verbinden, die das Leben in ein neues Licht stellen und zur Entfaltung kommen lassen. Was Christsein bedeutet, wurde schon immer am wenigsten über seine theologisch reflektierten Inhalte und Lehrbekenntnisse gelernt. Bis weit über das Mittelalter hinaus wurde lateinisch gepredigt, es gab praktisch kein religiöses Wissen (Luther fand Klöster vor, in denen das Vaterunser unbekannt war); weitergegeben wurde die Religion über schlichte Nachahmung, über die Bilder in den Kirchen und über religiöse Spiele. Darum ist es auch heute noch (bzw. wieder) sinnvoll, auf die ästhetischen, d. h. sinnlich-leiblich wahrnehmbaren und spürbaren Gehalte der christlichen Tradition zu setzen, also auf ihre Formen, Gestaltungen, rituellen Praktiken und Vollzüge (→ 11, 17.4). Man darf davon ausgehen, dass diese Formen ihre je eigene Didaktik und ihre Erschließungswege immer schon mit sich führen, dass sie also zunächst nicht „reflektiert“, sondern angeboten und mitvollzogen werden wollen. Grundsätzlich aber muss der Erfahrungskern in und hinter der Tradition zum Thema werden, mehr als die Tradition selbst. Wie das Eingangszitat vermerkt, ist der Zeichengebrauch einer Religion der Zugang zum religiösen Lernen. Er ist vor allem an der liturgischen Praxis, an den Räumen und künstlerischen Gestaltungen des Christentums zu erfahren und zu studieren. Er führt in die Systemlogik der Religion 296 13 Was ist religiöses Lernen? <?page no="297"?> ein und schließt mehr als alle Inhalte die persönlich erfahrbaren Bedeu‐ tungsgehalte auf. Das setzt freilich religiöse Praxisangebote voraus, die gut inszeniert und nachvollziehbar sind. Die Probe auf diese Einschätzung macht die anhaltende Attraktivität der Gemeinschaft von Taizé, die in ihren aus der Ostkirche übernommenen Ikonen, ihren Liedern, den Kerzen und der meditativen Stimmung die Ästhetik der Religion ins Zentrum stellt; oder die feierlichen Gottesdienstformen wie Weihnachtsfeiern und Osternächte oder Gebetsnächte, die City-Kirchen-Arbeit etc., bei denen die religiöse Stimmung oft wichtiger ist als die Inhalte. Sie verbinden den neugierig-motivierten Zugang zur Religion mit deren Erlebnisgehalt und einer persönlichen Erfahrbarkeit und eignen sich darum exemplarisch für religiöses Lernen. Dazu muss dann die Anleitung zu einer Symbolisierung eigener existenzieller Erfahrungen und Fragen kommen, die die Tradition als Beispiel nimmt (→ 16.5). Nicht die Tradition soll gelernt werden, sondern es so (oder ähnlich) zu machen wie sie. 4 Die Schlüsselrolle der Phantasie „Wenn die Phantasien Ausdruck der persönlichen und emotionalen Bedeutung sind, die die Dinge für uns haben, dann darf es wohl beim Lernen nicht nur darum gehen, die Grenze zwischen der Sachlichkeit und der Phantasie immer enger und strenger zu ziehen und die Phantasien aus dem Umgang mit der Welt (und die besteht aus Dingen, Ideen und Menschen) herauszuhalten. Denn das könnte dann nichts anderes bedeuten, als daß die Welt an persönlicher Bedeutung zunehmend verlöre.“ (Schäfer 1995, 132) Das Kardinalproblem der Religionsdidaktik lässt sich auch so formulieren: wenn die christlichen Gehalte nicht mehr selbstverständlich sind, nicht mehr praktiziert werden und oft nicht einmal mehr bekannt sind, und wenn die Übernahme und Aneignung fremder geistiger Gehalte heute nur noch unter großen, an die Person gebundenen Vorbehalten geschehen, wie können dann (christlich-)religiöse Gehalte Relevanz, also Bedeutung gewinnen für die Person, wie können sie plausibel und erfahrbar werden? Für entsprechende Bedeutungserfahrungen ist die Phantasie (Imaginati‐ onsfähigkeit, Einbildungskraft) von großer Wichtigkeit. Sie ist nicht nur die Basis der Intelligenzentwicklung, denn offensichtlich stellt sie die Grund‐ fähigkeit des Gehirns, den „spielerischen“ Abgleich von Mustern (pattern 297 4 Die Schlüsselrolle der Phantasie <?page no="298"?> matching) in Reinform dar. „Phantasiebilder können das Gehirn in fast demselben Maße formen wie echte Erfahrungen“ (Klein 2002, 73). Sie sind auch verantwortlich für den Aufbau von persönlichen Bezügen. Darum ist gerade das religiöse Lernen nicht ohne sie denkbar. Das ergibt einen weiteren starken Einspruch gegen die religiöse „Prob‐ lemorientierung“, die die Rolle der inneren Verarbeitungsmechanismen und entsprechender Gefühle verkennt. Ohne den Bezug zur eigenen Person, ohne Betroffenheit, ohne Evidenzen wird Religion nicht wirklich verstanden und gelernt, sondern tendenziell zur Äußerlichkeit. Wo keine Bedeutung ist, gibt es auch keine Erinnerung. Phantasie ist derjenige Bereich des Lernens, der die von außen kom‐ menden, zunächst immer sinnlichen Wahrnehmungen und Eindrücke mit den eigenen Vorerfahrungen, Verstehenskategorien, Körpergefühlen und Bedeutungsgehalten so vermischt, dass sie zu einem subjektiv eigenständi‐ gen Lern- und Erfahrungsgehalt werden. Der englische Psychiater und Kin‐ derarzt Donald W. Winnicott hat dafür den Ausdruck „Intermediärer Raum“ (= medialer Zwischen-Raum) eingeführt (Winnicott 1971). Er bezeichnet die innere Verarbeitungsinstanz von Selbst und Welt. Ein enger Zusammenhang besteht hier mit den dinglichen sog. „Übergangsobjekten“: Kleine Kinder brauchen einen Teddy (→ 4.2), ein Schmusekissen oder einen Bettzipfel, die für sie die (noch) fremde Welt mit dem (bereits) Vertrauten (d. h. mit der Nähe der Mutter) verbinden. Übergangsobjekte symbolisieren Vertrautheit und Sicherheit, und sie erweitern, da sie beweglich sind, zugleich die Welterfahrung. Sie stellen im Kindesalter die Verbindung zwischen dem ursprünglich ganz aus Phantasie und Intuition bestehenden Verstehen und neuen Erfahrungen der Welt draußen her, darum auch den Übergang zwischen dem ursprünglichen Gefühl des Einsseins mit der Mutter und der nach draußen drängenden Neugier und größer werdenden Freiheit. Übergangsobjekte sind aber auch Eindrücke aus dem Bereich der Kultur und dem der Religion. Das Gute-Nacht-Gebet, religiöse Bilder, selbst die Gottesvorstellung, fungieren als solche „Übergangsobjekte“, die die abneh‐ mende Geborgenheit durch den Mutterschoß und die sich erweiternde Freiheit so miteinander vermitteln, dass Freiheit und Geborgenheit zugleich bestehen können. Kein Zufall ist es darum, dass Gott Geborgenheit ebenso wie Freiheit ermöglicht; in der lebendigen Religion stehen immer ein bergendes, tröstendes, schützendes Grundelement und ein provozierendes, bewusst machendes, in die Freiheit führendes nebeneinander (→ 2.2). 298 13 Was ist religiöses Lernen? <?page no="299"?> Der Intermediäre Raum der Phantasie wird im Fortgang der Entwick‐ lung keineswegs überflüssig. Er ist zunehmend strukturiert, bleibt aber unverzichtbar für den internen Vergleich mit bereits gemachten Erfahrun‐ gen und mit spontanen Gefühlsreaktionen auf neue Eindrücke. Daher ist Phantasie die Grundlage für jedes Lernen. Sie hat eine grundlegende Bedeutung vor allem für subjektiv bedeutsame, und darum insbesondere für die religiösen Lern- und Bildungsprozesse, da sie über die Bedeutung von Wahrnehmungen entscheidet. Als „bedeutsam“ wird erfahren, was als bekannt (vertraut) und/ oder neu und wichtig erscheint - vorwiegend also das, was auf die eigene Person beziehbar ist. Bedeutungen kommen zu Stande durch Wiedererkennen und Vertrautheit (diese sind, wie z. B. der Anblick eines bekannten Gesichts zeigt, immer lustvoll; woraus sich erklärt, warum Lust beim Lernen für nachdrücklichere Erfahrungen sorgt) oder durch Neuigkeiten (woraus sich die Bedeutung von Neugier und Interesse erklärt). Bedeutung hat, was mir wichtig erscheint. Bedeutungsvoll wird ein Gehalt umgekehrt auch durch den Bezug, den eine Person zu ihm einnimmt. Lerntheoretisch ist die Phantasie dafür verantwortlich, dass Phänomene überhaupt wahrgenommen, ausgewählt und angeeignet werden können. Sie ist der Raum der Resonanzen, den Wahrnehmungen auslösen. Ist dieser Raum klein und wenig entwickelt, wird wenig wahrgenommen, angeeignet und als bedeutsam erfahren. Die Folge kann eine Einstellung und Grund‐ haltung sein, die das ganze Leben als bedeutungs-, d. h. sinnlos erscheinen lässt. Die Religion nun ist der Bereich umfassendster Bedeutungen. In keinem anderen Bereich des Lebens, allenfalls in dem der Kultur, werden so intensive Bedeutungserfahrungen tradiert und kommuniziert wie in der Religion. Sie ist darum mehr als andere Bereiche auf eine leistungsfä‐ hige Phantasie angewiesen. Das bedeutet: Religiöse Gehalte, die nicht der spontanen, poetisch-fiktionalen, unverrechenbaren, immer persönlichen Phantasie zugeführt und von ihr durchdrungen sind, werden tendenziell zu toten Hülsen und leeren Formen, die das Leben mehr behindern als fördern. Interessanterweise sind es weniger die Theologen, sondern weit eher die Ketzergestalten, die die Religion mit ihren oft verrückten Ideen und Interpretationen lebendig gehalten haben (Äußerst lesenswert dazu ist Nigg 1949). Förderung und Anregung der Phantasie ist darum ein Grundgeschäft der Religionsdidaktik. Sie muss wissen, dass dabei nicht nur „schräge“ religiöse Ideen entstehen, sondern Synkretismen (= Vermischungen religiöser Geh‐ alte, die ursprünglich nicht zusammengehören) und „Ketzereien“ erlaubt, ja 299 4 Die Schlüsselrolle der Phantasie <?page no="300"?> sogar erwünscht sind. Das Vertrauen darauf ist hoffentlich vorhanden, dass so nicht die Religion verunstaltet, sondern eher gefördert wird. Die großen tragenden Vorstellungsmuster der Religion stellen sich machtvoll ganz von selbst her, wenn man ihnen nicht die Lebendigkeit nimmt. Für die Religionsdidaktik ist Phantasie schon deshalb bedeutsam, da es ihr grundlegend nicht um Dinge und „Sachverhalte“, sondern vor allem um Existenzfragen, um Gott, um das Heilige, um das Geheimnis des Lebens geht. Hier setzen Begreifen und Erfahren mehr als anderswo eine strukturierte Phantasie voraus. Das sei in Kürze an der Gottesvorstellung verdeutlicht. Friedrich Schleiermacher hatte in der ersten Ausgabe seiner „Reden“ den wahrhaft ketzerischen (und später revidierten) Satz geschrieben: „Ob (der Mensch) zu seiner Anschauung einen Gott hat, das hängt ab von der Richtung seiner Phantasie“ (Schleiermacher in Braun/ Bauer 1981, Bd. 4, 286). Das heißt: nicht klare Vorstellungen oder Inhalte sind Grundlage der Religion, sondern Gefühle, innere Bilder und Einstellungen. Von ihnen hängt auch die Gottesauffassung ab; sie ist in keiner Weise normierbar und diktierbar, sondern immer Sache der persönlichen Erfahrung - wenn sie denn nicht steriles und unlebendiges „Wissen“ sein will. Die Phantasie ist neben der Vernunft die höchste Möglichkeit des Menschen und Bedingung jeder Religiosität. Dieser Gedanke schließt das Risiko und die Möglichkeit einer Religion ohne Gott ein; an diesem Risiko aber hängt religiöses Lernen insgesamt. Die Probe darauf kann eine einfache Beobachtung geben. Wenn Kinder Gott zeichnen (→ 4.2), ist immer eine gute Portion kindliche Phantasie im Spiel. Niemand käme heute auf die Idee, diese Phantasie zu korrigieren zu Gunsten eines dogmatisch korrekten Gottesbildes. Denn wir wissen, dass dann die Lust, sich mit Gottesvorstellungen überhaupt zu beschäftigen, schnell erlahmen würde. Umgekehrt aber liegt die Einsicht auf der Hand, dass die phantasievolle, persönlich-eigenständige Ausgestaltung dieser Vor‐ stellung gerade die Garantie dafür abgibt, dass „Gott“ für das Leben eines Menschen wirklich Bedeutung erhält. Diese Überlegung kann unschwer auf den gesamten Bereich des religiösen Lernens übertragen werden. 5 Einsichten der Neurobiologie Unsere gängige Vorstellung von der Entwicklung des Denkens beruht auf einer Vereinfachung, eigentlich auf einer Verzerrung; sie wird nämlich 300 13 Was ist religiöses Lernen? <?page no="301"?> den tatsächlichen Vorgängen im Gehirn nicht gerecht. Wir gehen meist davon aus, dass die Instinkte des Kindes (angeborene Reaktionen auf äußere Reize) allmählich vom Vorstellungsvermögen und vom abstrakten Denken abgelöst werden. Das ist eine stark korrekturbedürftige Ansicht, die Folgen für das Lernen und für die Entstehung von Bewusstsein hat, damit mittelbar auch für das Verständnis von Religiosität. Unser Gehirn arbeitet nicht nach den Prinzipien kausaler Logik, und streng genommen ist unser Denken nicht einmal „rational“. Der amerikanische Hirnforscher Antonio R. Damasio (1994, → 2.2) hat gezeigt, dass die Trennung von Gefühl und rationalem Verstand Illusion ist. Damit widerspricht er der abendländischen Tradition des philosophischen Denkens (und ebenso dem alten Denken der Pädagogik), die das Gefühl immer als Störung des Denkens angesehen hat. Der Verstand ist dagegen auf die Fähigkeit angewiesen, Gefühle zu empfinden - ohne sie gibt es kein ratio‐ nales Denken. Denn Gefühle sind (ebenso wie die Phantasien) unverzichtbar für einen Abgleich zwischen sinnlichen Wahrnehmungen und inneren Ver‐ arbeitungen. Die Trennung zwischen Denken und ausgedehnten „Körpern“, die der Philosoph Descartes als Grundprinzip aller Philosophie annahm, ist also ein Irrtum. Faktisch werden unsere Handlungsentscheidungen durch Affekte gesteuert: „Es gibt keine Handlung und keinen Gedanken, der nicht affektiv motiviert ist“ (Basch 1992, 72). Emotionen funktionieren wie Erkenntnis- und Entscheidungsfilter, die die Vorstellung einer objektiven Rationalität als überholt erscheinen lassen. Damasio kommt zu diesen faszinierenden Einsichten durch die Untersuchung von Hirnverletzungen, bei denen Menschen zwar weiterhin die Fähigkeit des Sehens, Sprechens und Denkens behalten, dagegen die Fähigkeit verlieren, Entscheidungen zu treffen oder moralische und soziale Verbindlichkeiten zu befolgen. Diese Patienten sind oft emotionslos und sehr sachlich; sie wägen stundenlang Argumente hin und her, ohne zu einer Folgerung zu gelangen, können Einsichten also nicht mehr auf reale Lebenssituationen übertragen. Persönliche und soziale Entscheidungen sind offenbar so komplex und risikobehaftet, dass zu ihrer Organisation eine ganze Reihe von im Gehirn räumlich getrennt abgespeicherten Daten abgerufen und kombiniert wer‐ den müssen: Gedächtnis (also: bisherige Erfahrungen), sinnliche Wahrneh‐ mungen, Aufmerksamkeit, momentanes Körperempfinden usw. Die Kom‐ bination geschieht mittels komplexer „Vorstellungsbilder“ („dispositionelle Repräsentationen“), die für Damasio die „Grundlage geistiger Funktionen bilden“ (Damasio 1994, 130) - eine für Lernprozesse höchst wichtige Ein‐ 301 5 Einsichten der Neurobiologie <?page no="302"?> sicht! Unser Gehirn verfügt also nicht über eine zentrale Verstandes-Instanz, sondern arbeitet mit bildlichen Muster-Vergleichen. Wahrnehmung ist dabei immer schon vorstrukturiert durch Erfahrungen, die einem Menschen gezeigt haben, wie er sich bisher in seiner Umgebung orientieren und bewegen konnte. Wahrnehmungen und Erinnerungen werden emotional codiert. Das ist eine glatte Bestätigung der neueren pädagogischen Auffassung, nach der eine stimmige Atmosphäre, sinnliche Wahrnehmungen und Erfahrungsbe‐ zug die Grundlage gelingender Lernprozesse bilden. Wahrnehmungen sind vom Gehirn in der Regel nur verwertbar, wenn sie als „bekannt“ bzw. „vertraut“ eingestuft werden können; andernfalls werden sie ausselektiert. Neurologisch gesehen funktioniert der Mustervergleich des Gehirns nach dem Prinzip des dauernden Feedbacks. Die Ergebnisse neuronaler Veränderungen werden ständig mit den sinnlich wahrgenommenen Ein‐ gangssignalen verglichen, überprüft und so lange angeglichen, bis ein Gleichgewichtszustand erreicht ist. Die Tätigkeit des Gehirns ist also ein fortwährendes Schaffen und Aufrechterhalten von Ordnung. Das Gehirn lernt immer, selbst im Schlaf. Und es lernt leichter, wenn Ordnungen erkenn‐ bar und Kompetenzen erreichbar sind. Bei diesem Prozess spielen Imagination (Phantasie) und symbolische Repräsentation eine zentrale Rolle, denn sie sind Ausdruck der Grundtätigkeit des Gehirns: des Mustervergleichs. Die Motivation allen Verhaltens - also auch jeden Lernens - ist durch das Streben nach Kompetenz bedingt, die sich in der Fähigkeit zu Kontrolle, Anpassung und Selbstachtung äußert (Basch 1992, 32 f.). Dem entsprechen die Ergebnisse der berühmten Glücksforschung von Mihály Csíkszentmihályi: Das Gefühl des „flow“ stellt sich in weit überwiegender Zahl der Fälle während der Arbeit ein, für die man von anderen geschätzt wird. Ein- und Übersicht bedeuten die Erfahrung von Kompetenz (d. h. von angemessener Reaktions-, Anpassungs- und Handlungsfähigkeit) und sind immer mit Lust verbunden; und sie sind Grundlagen des Selbstwertgefühls. Sie bilden sich in der Erfahrung der „Selbstwirksamkeit“ ab, die ein Schlüsselbegriff der neueren Therapieforschung ist. Gelernt wird vorwiegend das, was Spaß macht - und Spaß machen Dinge, die die eigenen Fähigkeiten stärken. Selbstachtung, Entscheidungsfähigkeit, Verhaltensweisen und Kompetenz beeinflussen sich gegenseitig und bauen aufeinander auf - können freilich umgekehrt, wenn sie nicht ausreichend vorhanden sind, auch zu einer wechselseitigen Schwächung führen. 302 13 Was ist religiöses Lernen? <?page no="303"?> Daraus lassen sich einige grundlegende Einsichten für die Gestaltung von Lernprozessen ableiten. Lernen ist zunächst abhängig von sinnlich wahrnehmbaren Eingangssignalen. Durch diese konstruiert sich das Gehirn regelrecht seine Wirklichkeit. Signale werden in einem Mustervergleich nach den Empfindungen „neu“ und „wichtig“ sortiert, einem nicht kausal‐ logischen, sondern komplexen und bildhaften Geschehen, bei dem Gefühle eine Schlüsselrolle spielen (auch Abstraktionen sind, ebenso wie Phantasien, bildhafte, mehrfach ineinander liegende Mustervergleiche). Emotionen sind also überlebenswichtig, da sie jedes Lernen strukturieren. Stimmung und Atmosphäre werden (durch bestimmte Botenstoffe im Gehirn) immer mit verarbeitet - was einer erfahrungsorientierten Pädagogik längst bekannt ist: „So eng hängen Begehren und Begreifen zusammen. Lust macht klug, und ohne Lust ist schwer lernen“ (Klein 2002, 111). Neugier und Interesse steigern die Lebenslust, mehr als jedes passive Konsumieren. Das Gehirn ist ständig damit beschäftigt, übergeordnete Strukturen her‐ zustellen. „Metakognitive Kompetenzen“ wie z. B. Problemlösungsfähigkeit lassen sich darum nur sehr eingeschränkt rational und direkt trainieren, sondern entstehen eher durch das stimmige Angebot sinnlicher Wahrneh‐ mungen. Von den tausenden von Wissensdetails aus der Schule z. B. sind später meist nur sehr wenige direkt verfügbar; dennoch sind Menschen nach der Schule oft gut orientierungsfähig und wissen sehr viel mehr als das, was sie konkret gelernt haben. Strukturen entstehen allerdings vorwie‐ gend dann, wenn Wissen mit Motivation zusammenfällt, also beim Gefühl von „Neu“ und „Wichtig“. Angst und Stress dagegen und Faktenwissen ohne Bedeutungsbezug, die in unseren Bildungsinstitutionen verbreitet sind, erschweren die Assoziationsfähigkeit, blockieren die verarbeitende Phantasie und erleichtern nur eingelernte Routinen. Emotionen werden in einer technisierten Welt zunehmend als störend empfunden (cool sein ist längst zur Mode geworden; → 4.3, 15.1) und nirgendwo geübt. Dabei wären sie Basis einer gesunden, wirklich auf den Menschen bezogenen Bildung. Sinnvollste Organisation von Lernprozessen ist darum gestalthaft-sinnliche, d. h. ästhetische Erfahrung, die über die Einbildungskraft zu bildhaft und emotional codierten Ordnungsstrukturen führt und auf ein gebildetes, d. h. kompetentes Selbst bezogen ist. Lernen lässt sich insgesamt als Zuweisung von Bedeutungen beschreiben. Das Aufmerksamkeitssignal des Gehirns für „neu“ und „wichtig“ ist dabei gleichbedeutend mit Bewusstsein; waches, strukturiertes Bewusstsein ist ein Überlebensvorteil, da es für schnelle und angemessene Entscheidungen 303 5 Einsichten der Neurobiologie <?page no="304"?> sorgt. Interessanterweise lässt sich Religion als eine bestimmte Form und Ausprägung von Bewusstsein beschreiben (→ 2.2) - in ihr werden die Momente der höchsten, auf das ganze Leben und die Welt bezogenen Bewusstheit überhaupt erlebt und kommuniziert. Darum ließe sich mit gutem Grund eine genealogische Abfolge von einfachen Instinkten über Emotionen hin zu bewusster Religiosität (statt zu abstrakter Rationalität) als menschlich angemessen vermuten, die freilich alle immer mit kognitiver Rationalität verbunden sind bzw. sein sollten. Die Nähe von Bewusstsein und Religion zeigt sich in der religiösen Erregung, in Meditation und spirituellen Erfahrungen. Die Beschaffenheit des Gehirns ermöglicht religiöse Erfahrung, legt sie sogar nahe. Das sagt zwar noch nichts über die Natur religiöser Phänomene aus, kann aber zumindest deutlich machen, dass geistige Zustände immer abhängig sind von leiblichen und emotionalen Bedingungen. Es legt auch die Einsicht nahe, dass Religion (als höchste Form des Bewusstseins verstanden) zur Orientierung, Selbststärkung und Lebenskompetenz, darum zum entfalteten Menschsein beiträgt. 6 Didaktik religiöser Lernprozesse Religiöses Bewusstsein ist nicht direkt lehrbar. Auch Religiosität und Glaube sind nicht lehrbar - dennoch aber lernbar, da sie sich vorbereiten und anzielen lassen (→ 10.4). Das gilt allerdings vor allem für die hinter religiösem Wissen, Fakten, Einstellungen liegende Motivation, d. h. für das religiöse Interesse. Dieses vor allem sollte angeregt und gefördert werden, und zwar durch nachvollziehbaren Lebens- und Erfahrungsbezug. Wie kann das geschehen? Grundsätzlich gilt für alle Bildungsprozesse: „Wenn man menschliche Entwicklung als einen Weg versteht, auf dem ein Individuum seine eigenen Möglichkeiten in der Auseinandersetzung mit der umgebenden Wirklichkeit gewinnt, dann benötigt es auch in allen späteren Bildungsprozessen dieses Zusammenspiel dreier Dimensionen: einer förderlichen Umwelt, eines inneren Raumes, in dem sich ein subjektiver Wunsch und ein innerer Prozeß der Auseinandersetzung entfalten kann, sowie einer ‚Sprache‘ (auch im übertragenen Sinn), in der sich Subjektives und Objektives (innere Welt und äußere Welt) artikulieren und mitteilbar machen lassen.“ (Schäfer 1995, 32) 304 13 Was ist religiöses Lernen? <?page no="305"?> Für Religion gilt entsprechend, dass eine „förderliche Umwelt“ (anregende Angebote, Möglichkeiten der Beteiligung, spielerische und kreative Zu‐ gänge usw.) einen inneren „intermediären“ Raum eröffnen und anregen soll, und zwar durch Anleitung zu einer differenzierten Wahrnehmung und Anregung der Phantasie; das geschieht vor allem in religiösen Geschichten, Mythen, Symbolen und Bildern und in der eigenen spielerisch-experimen‐ tellen Beschäftigung mit ihnen, also in Nachahmungen, Symbolisierungen und anderen Formen des eigenständigen Ausdrucks und der Darstellung. Zu diesem Ausdrucksbereich gehört auch die religiöse Sprache, die in Klage, Dank, Hymnus, Lied usw. eine eigenständige Form des Ausdrucks zeigt, dazu die religiöse Kommunikation, ferner religiöse Gestik, wie sie z. B. in der spirituellen und liturgischen religiösen Praxis vorkommt. Die Bedeutung der religiösen Sprache und der religiösen Ausdrucks- und Symbolisierungs‐ fähigkeit ist religionspädagogisch von zentraler Bedeutung. Alle diese Einschätzungen haben einen unmittelbaren Bezug zum Gefühl. Das ist alles andere als Zufall, denn Religion ist tiefes Erleben, seine symboli‐ sche Deutung und Darstellung und deren Kommunikation. Richard Kabisch hat deshalb treffend formuliert: „Darauf allein kommt es an, … daß die Schüler in der Religionsstunde bewundern und verehren, hassen und lieben, sich entrüsten und befreit fühlen. Ist das nicht erreicht, so ist alles Wissen um die religiösen Tatsachen tot.“ (Kabisch 1920, 123) Religiöses Lernen muss seine Lebensdienlichkeit offensichtlich machen. Plausibilität, Nutzen, Anwendbarkeit religiösen Lernens sind nicht mehr selbstverständlich und müssen darum religionsdidaktisch „mitgeliefert“ werden. Ausgewiesen werden muss also ihre Bedeutung, was in der Regel durch Erfahrungsbezug und Mitvollziehbarkeit geschieht und dadurch, dass die Vollzugslogik der Religion nachvollziehbar wird. Darum sind nicht Teil‐ stücke der religiösen Tradition zu „elementarisieren“ und an heutige Erfah‐ rungen „anzuschließen“, sondern es ist die (christlich-)religiöse Sichtweise und Perspektive auf Leib, Menschen, Welt und Gott zu kommunizieren und mit der heutigen Sicht auf das Leben in Verbindung zu bringen. Genau dies meint Hubertus Halbfas mit seinem allzu oft kritisch abgewerteten „Dritten Auge“: Lernende sollen einen Sinn und ein Gespür für Religion bekommen, die das eigene Leben neu sehen lassen. Entsprechende Wahrnehmungs- und Deutungsstrukturen lassen sich anhand der Überlieferung, aber ebenso gut auch anhand eigener Fragen, Ausdruckshaltungen und Ideen erschließen. Das heißt: 305 6 Didaktik religiöser Lernprozesse <?page no="306"?> 1. Religionsdidaktisch zentral sind nicht Lehre und Wissen, sondern die Kommunikation von religiösen und Lebens-Erfahrungen. Lebensbe‐ deutsame Erfahrungen, Erlebnisse, Schicksale, die Fragen nach Leid, Erfüllung, Sinn usw. regen das Fragen nach dem an, was über bloße Informationen, über das funktionale Denken und lebensweltliche All‐ tagsgewohnheiten hinaus geht. Solche Erfahrungen können (ebenso wie religiöse Erfahrungen) in der Regel nicht direkt „angeboten“ werden - es sei denn über die Präsentation von religiöser Tradition und Kultur (s. u.). Darum sollte ein Rahmen für sie geschaffen werden, in dem Er‐ lebnisse, Nachdenken und spontane Befindlichkeiten abgerufen werden können. Die Atmosphäre eines Kreises in einer mit Kerzen erleuchte‐ ten Kapelle bringt mehr und anderes zu Tage als ein Klassenzimmer oder ein weiß gekalkter Gemeindesaal. Oder: Wesentlich sinnvoller als der übliche Konfirmanden-Unterricht, in dem die Grundgehalte des christlichen Denkens vermittelt werden, sind Konfirmandenwochen, in denen sinnvolle Elemente religiösen Lebens kommuniziert und neue Erfahrungen möglich werden: von Gemeinschaft, von eigener liturgischer Gestaltung, von gemeinsamen Gebeten usw. 2. Nicht die Deduktion von feststehenden Wahrheiten (wie sie Lehrsätzen zu eigen ist) ist religionsdidaktisch und lerntechnisch angemessen, son‐ dern Angebote von lebensbezogenen, als stimmig und sinnvoll erleb‐ baren Erschließungs-Wegen, die die eigenständige Logik der Religion erfahren lassen. Das geschieht durch erfahrungsbezogene Begegnung mit Religion - religiöse Texte (Bibel, theologische Texte), Orte (Kirchen‐ räume), Personen (Pfarrer, Religionslehrer) usw. können Fragen und Lebensgefühl der Lernenden in Bezug zu Phänomenen stellen, die Gestalt gewordene Antwort-, Denk- und Verhaltensangebote zu ihnen darstellen. Voraussetzung für lebendiges religiöses Lernen ist dabei, dass diese Phänomene nicht als sakrosankt oder fremd erlebt werden, sondern ihrerseits als Niederschlag des Umgangs mit Lebensfragen. Traditionen sind Medien der religiösen Selbst-Bildung (→ 13.3, 16.5). 3. Das geschieht am besten durch Inszenierungen, Arrangements und Dramaturgien religiöser Erfahrungen und Gehalte und durch Teilnahme an und Mitgestaltung von religiösen Vollzügen. Religiöse Lernprozesse müssen also sorgsam gestaltet werden. Mehr als allem anderen Lernen ist ihnen ein persönlicher Bezug zu eigen. Sie können darum nur gelingen, wenn sie so präsentiert werden, dass dieser Bezug auch wirklich deutlich wird. Das geschieht - abgesehen von der spannenden 306 13 Was ist religiöses Lernen? <?page no="307"?> und stimmigen methodischen Umsetzung - am ehesten durch teilneh‐ menden Mitvollzug und durch eigenständige Ausdrucksgestaltung, ferner durch eine eigene religiöse und spirituelle Praxis. Der religiöse Ausdruck (Sprache, Symbolisierung, Kommunikation usw.) müsste re‐ ligionsdidaktisch weit mehr entwickelt werden. Vor allem aber in der religiösen Praxis kommen Lebenserfahrung und religiöse Erfahrung zusammen. Solche Praxis ist auf eine gewissenhafte Anleitung und auf gute Lehrer angewiesen, ferner auf konstante Übung. Es ergibt sich als Leitsatz: Die Quellen der religiösen Tradition (Symbole, Bilder, Sprache, Deutungen, Räume, Personen, Rituale, Vollzüge) sind als gestalthaft vorgegebene reli‐ giöse Erfahrungen zu erschließen und in stimmiger und angemessener Form der individuellen, experimentierenden Selbsterfahrung, Selbstdeutung und Selbst-Verortung zuzuführen. Bei aller religionsdidaktischen Kriteriensuche ist natürlich nicht zu verges‐ sen, dass religiöses Lernen letztlich nicht operationalisierbar ist. „Nur dann, wenn die Differenz, die Fremdheit, die Irritation Raum haben dürfen, erstarrt das Leben nicht in endlosen Bestätigungen des Gleichen, sondern bleibt lebendig … Religionsunterricht hat ins Spiel zu bringen, was marginalisiert, tabuisiert, verdrängt ist.“ (Zilleßen/ Gerber 1997, 38 und 40) Der Zielhorizont solcher Bemühungen sollte darum ein möglichst offener sein und nicht mehr und nicht weniger als religiöses Interesse und eine eigenständige und begründete - möglicherweise auch kritische oder ableh‐ nende (! ) - religiöse Einstellung anstreben. Deren Weckung und Förderung stellt das höchste religionsdidaktische Ziel dar (→ 2.5, 18.4); das zu verfolgen ist weitaus sinnvoller als Wissensvermittlung, bei der allenfalls zufällig (und immer seltener) Bedeutungen entstehen. „Interesse am Christentum“ war denn auch die Formel, die für Friedrich Schleiermacher einen Christen ausmachte. Solches Interesse ist ganz natürlich da zu erwarten, wo im christlichen Rahmen wirklich religiöse Erfahrungen angeboten werden, wo also unter Beachtung von persönlichen Fragen über christliche Gehalte kommuniziert wird. Religiöses Interesse schafft die Motivation zu religiösem Weiterfragen und Lernen, und dies kann im besten Fall zu einer eigenständig verantworteten religiösen Identifikation, also einer religiösen Haltung oder gar Leidenschaft werden. Es ist klar, dass das ebenso wenig direkt lehrbar ist wie religiöse Erfahrungen überhaupt. Im Übrigen gilt Meister Eckharts 307 6 Didaktik religiöser Lernprozesse <?page no="308"?> kritisch-weise Bemerkung, die die hohe Bedeutung der lehrenden Personen und deren Lebenserfahrung unterstreicht: „Auf hundert Lehrmeister kommt ein Lebemeister.“ Zusammenfassung Lernen ist die aus Neugier entstehende Verarbeitung von Wahrneh‐ mungen, die durch Assoziation geschieht und an Motivation und Bedeutungs-Erleben gebunden ist. Neurophysiologisch ist Lernen der bildhaft-komplexe Mustervergleich des Gehirns, an dem Gefühl und Phantasie in hohem Maße beteiligt sind. Religiöses Lernen zielt über die Aneignung religiöser Kenntnisse hinaus auf die höchste Möglichkeit des Lernens überhaupt, nämlich auf existenzbedeutsame Erfahrungen, die eingespielte Sichtweisen und selbst die Lebensführung verändern können. Angestoßen werden solche Erfahrungen in der Regel nicht durch traditionelle religiöse Lehren oder Lernstoffe, sondern durch religiöse Gestaltungen und Ausdrucksformen, die als Medien und Anlässe religiöser Selbsterfahrung fungieren - nicht als Selbstzwecke. Literatur Zu 1: F. Vester 1975 und 1976. Zu 2: R. Englert 2008, 272-286 - B. Porzelt 2009. Zu 3: D. Stoodt 1972 - J. Kunstmann 2019. Zu 4: G.E. Schäfer 1995, bes. Kapitel 7, 8, 9, 15. Zu 5: M. Spitzer 2012 und 2020 - A. Damasio 1995 und 2000. Zu 6: D. Zilleßen/ U. Gerber 1997. 308 13 Was ist religiöses Lernen? <?page no="309"?> Kernprobleme der RP <?page no="311"?> 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt „Während in traditionalen Ordnungen die Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt durch standardisierte Verhaltens- und Handlungsregeln bestimmt waren, die so etwas wie eine ‚ontologische Sicherheit‘ garantierten, bleibt den Mitgliedern moderner Gesellschaften nichts anderes als die Hoffnung, daß die Funktionssysteme die Erwartungen erfüllen mögen. Doch am Grund lauert das Wissen um ihre Instabilität und Gefährdung, die mit der reflexiven Dynamisierung wächst.“ (Beck 1996, 293) Das Zitat benennt eine Veränderung der Weltsituation und des Lebensge‐ fühls, die in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Im Mittelalter waren den Menschen Ort, Sinn und Lebensaufgaben nahezu vollständig durch Kirche, Adelsherrschaft und für jedermann gültige Tradition und Sitte vorgegeben. Die Welt hatte einen geheimnisvollen Zauber, den wir heute kaum noch nachvollziehen können; sie konnte aber auch Angst auslösen. Heute hat sich die Situation in ihr glattes Gegenteil verkehrt. Wir leben seit der Aufklärung, vollends seit der Technisierung der Welt im 20. Jh., in einer entzauberten Welt zwischen Nüchternheit und zunehmender sozialer Kälte. Die Ansprüche an persönliche Freiheit und Luxus sind hoch. Vorga‐ ben und Verbindlichkeiten werden immer mehr als störend empfunden. Flexibilität, Dynamik, Vitalität, Selbstentfaltung und Kaufkraft sind die Ideale des Lebens geworden, dessen Sinn nicht mehr in der geduldigen Pflege altbewährter Beziehungen und der umgebenden Welt liegt, sondern in Selbstverwirklichung, Erfolg und intensivem Erleben. Damit wurden freilich auch alte Sicherheiten gegen neue Bedrohun‐ gen eingetauscht. Spätestens seit dem „ästhetischen Jahrzehnt“ (Hermann Timm) der 1980er Jahre zeigt sich eine deutlich veränderte Wirklichkeits‐ auffassung, die sich nicht mehr an vorgegebenen Wahrheiten orientiert, sondern an Möglichkeiten, Optionen und Intensitäten. Technik und Medien machen die Wirklichkeit manipulierbar. Die Religion findet sich in einer drastisch veränderten Welt vor. <?page no="312"?> 1 Autonomie, Pluralisierung und Optionensteigerung Der Weg der Neuzeit „Fragmentierung, Szenenwechsel, Kombination des Diversen, Geschmack an Irritation sind heute allgemein, von der Medienkultur über die Werbung bis zum Privatleben. Penthouse und Öko-Hütte, Zweitbürgerschaft und Halbgeliebte, Termininversionen und Freizeitsprünge gehören zum Setting. Unser Alltag ist aus inkommensurablen [= nicht miteinander vereinbaren] Bausteinen zusammenge‐ setzt, und wir haben die Fähigkeit entwickelt, diese so zu verbinden, daß das Heterogene [= Verschiedenartige] uns mehr belebt als anstrengt.“ (Welsch 3 1991, 194) Pluralisierung ist das Grundmerkmal der modernen Entwicklung. Sie hat historische Wurzeln, aus denen sie sich recht genau erklären lässt. Sie beginnt mit der sog. „Neuzeit“, die das Mittelalter ablöst; mit der italieni‐ schen Renaissance und der deutschen Reformation erwacht - auf weltli‐ cher und geistlicher Ebene - das bewusste „Ich“, das sich erstmals aus festen Ordnungen und Hierarchien herauslöst. Das Mittelalter war eine vollkommen geschlossene Welt des einheitlichen Denkens und Glaubens. Erste Schocks für das Einheitsbewusstsein kündigten sich auf mehreren Ebenen an: geistig etwa in Abaelards (1079-1142) frecher Schrift „Sic et Non“ (eine Zusammenstellung widersprüchlicher Konzilsaussagen) und bei den Occamisten, die den „Nominalismus“ verbreiteten (die Auffassung, dass die Vernunft nicht mit der Welt übereinstimmt, sondern sie lediglich benennt - auch Gott ist also gedanklich nicht erreichbar). Im Schisma der Päpste (1309-1377) konkurrierten zwei Päpste gegeneinander in Rom und in Avignon. Umberto Eco hat in seinem Roman „Der Name der Rose“ (1980) ausgesprochen realistisch und spannend gezeigt, wie die Einheit des mittelalterlichen Kosmos zerbricht und dies die Menschen unsicher, verbissen und gewalttätig macht. Hier vollzieht sich die große Wende vom deduktiven Denken (das von festen Wahrheiten und Ursprüngen ausgeht) zum induktiven (d. h. suchen‐ den, experimentellen), das später die Wissenschaft möglich macht. Es öffnet das Tor zur individuellen Freiheit. Das lässt sich bereits an der ersten der 95 Thesen Luthers von 1517 ablesen, die die Reformation auf den Weg brachten: „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ,Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‘, wollte er, dass das ganze Leben 312 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="313"?> der Glaubenden Buße sei.“ Damit war die revolutionäre Idee ausgesprochen, dass Religion nur als subjektiv verantwortete Haltung wahr sein kann, nicht als (an Kirche, Priester, Ablass, Sakrament …) veräußerlichtes Geschehen. Wenn aber die Wahrheit nicht mehr voraus liegt, sondern immer erst in einem langen, anstrengenden, grundsätzlich offenen Prozess selbst gesucht werden muss, stellt sich große Verunsicherung ein. Auch die religiöse Wahrheit ist nicht mehr garantiert. Man kann jetzt nicht mehr einfach auf die Autorität eines Priesters verweisen, und auf lange Sicht auch nicht mehr auf die gültige Wahrheit der Bibel. Symbolische Konfrontation gegen die alten religiösen Autoritäten ist Luthers (historisch nicht gesicherter) Satz, mit dem er sich 1521 in Worms vor Kaiser und Reich verantwortete: „Hier stehe ich, ich kann nicht an‐ ders …“ Luther konnte aus Gewissensgründen nicht mehr Konzilsaussagen, Kirchenrecht oder päpstliche Autorität für sich gelten lassen, sondern allein vernünftig einleuchtende Gründe und Aussagen der Schrift. Luthers gesam‐ tes theologische Denken ist durchzogen vom Prinzip des existenziellen Bezugs, aus dem sich auch seine enorme Wirkung erklärt. Das Heil ist „pro nobis“ (für uns) gegeben; der Glaube ist persönlich verantwortet: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat …“ (→ 2.1), „Woran du nun dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott …“ Die Zeit war offenbar reif für ein solches Denken. Damit war eine enorme persönliche Freiheit eröffnet, aber auch eine fundamentale Verunsicherung. Konnte, ja: musste denn nun jeder selbst entscheiden, was religiös gültig war? Wie soll da Gewissheit entstehen? Bereits der Reichstag in Augsburg 1555 zeigte, dass das neue Nebeneinander der verschiedenen Religionsauffassungen sich nur noch durch rechtliche Regelungen schlichten ließ. Die religiöse Selbstverantwortung lässt keine für alle gültige Auffassung mehr zu. Sie führt automatisch zur Pluralisierung, die hier ebenfalls im Bereich der Religion beginnt. Die religiöse Spaltung belastete die Menschen. Sie entlud sich im Drei‐ ßigjährigen Krieg (1618-1648). Dessen Verwüstungen waren so schrecklich, dass sich im 18. Jh. die Aufklärung entwickelte, die die Idee der Autonomie ganz umfassend gegen jede Beherrschung durch Kirche, Fürsten und Könige stellte und damit die erste religionskritische Bewegung überhaupt darstellt. Die „beste aller möglichen Welten“ (Leibniz) ist Anlass zu optimistischem Zupacken; eigentätige, mündige Vernunft wird zum tragenden Prinzip des Denkens und des Lebensgefühls. Als Symbolfigur für diese Grundidee wurde der himmelsstürmende Prometheus gesehen, der den Menschen das Feuer 313 1 Autonomie, Pluralisierung und Optionensteigerung <?page no="314"?> brachte und sich von den Göttern abwandte. Damit schien das Verblassen oder gar das Ende der Religion unvermeidlich. Ihr symbolisches Fanal haben diese Gedanken im politischen Ereignis der Französischen Revolution (1789). Gleichzeitig kommt es zu einer Entfesselung von Kräften, deren Unheimlichkeit Goethe im „Zauberlehrling“ beschrieben hat, die aber auch zur „Industrie“ (lat. = Fleiß) führen und zu den neuen Staatsverträgen. Beides ermöglichte später den Wohlstand ganzer Nationen. Eine politische Rückwendung zu alten Herrschaftsformen geschieht vor‐ übergehend durch Napoleon; vor allem aber stellt die Romantik (Kernzeit ca. 1820-1840) eine Art Gegenschlag gegen die Vernunft-Euphorie und die Fort‐ schritts-Gläubigkeit der Aufklärung dar. Der Mensch ist wesentlich Gefühl, nicht Rationalität! Die technische Vernunft kann großen Schaden anrichten, da sie den Menschen fremden Zwecken unterwirft; Vernunft ist außerdem angewiesen auf Motivationen, für die die Aufklärung wenig einleuchtende Gründe angeben kann. Denn der Mensch ist gefühlsabhängig und bequem, er braucht vertraute Szenen (Märchen, Rituale, Heimat), Anerkennung und Liebe, wiedererkennbare Orte und Verwurzelung. Die Romantik stellt neben der Aufklärung eine zweite enorme Erweiterung des Bewusstseins dar, bleibt aber trotz ihrer hellsichtigen Diagnosen in Theologie und Pädagogik bis heute merkwürdig unberücksichtigt - unsere Welt folgt der Aufklärung; sie ist rational, technisch geprägt und gefühlsarm. Das Leben wird immer nachhaltiger ökonomischen Berechnungen unterstellt. Die Moderne Die Moderne beginnt mit der Aufklärung, im engeren Sinne im 19. Jh. Sie verändert alle Lebensbereiche rasant und von Grund auf, vor allem durch die Naturwissenschaft und die durch sie ermöglichte Technik (Dampfmaschine, Telegrafie, Elektrizität usw.) und die Industrialisierung (Kohlebergbau, Ei‐ senbahn, Fabriken usw.). Materielle Versorgung, Hygiene und moderne Medizin lösen den Hunger ab, der bis zur Mitte des 19. Jh. für einen großen Teil der Bevölkerung Normalzustand war, führen zum Ende der großen Epidemien, zu stark ansteigender Lebenserwartung und Bevölke‐ rungswachstum (etwa Verzehnfachung seit der Aufklärung). Vorandrän‐ gende Naturwissenschaften, die Neuordnung Europas durch Napoleon, das Ende der Kirchen- und Klosterherrschaft 1806 (dafür wurde der Begriff „Säkularisierung“ ursprünglich gebraucht, s. u.), der Leibeigenschaft und der Kleinfürstentümer, führen zu einem Erstarken der Nationalstaatlichkeit, 314 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="315"?> einem Ausbau des Rechtswesens, aber auch zu einer massiven sozialen Umschichtung und einer dramatischen Zerstörung gewachsener Ordnun‐ gen. Vor allem die neue Arbeiterklasse bringt neues Elend mit sich; die Standeswird zur Berufsgesellschaft, das Haus wird zur Familie (→ 5.1). Die geistige Entwicklung, die vorwiegend durch das Bürgertum getragen wird, zeigt einen Ausbau der rationalen Vernunft, die zur Letztbegründung allen Denkens und Lebens wird (Descartes, Kant, Hegel); die Kritik an der Religion verbreitet sich. Dennoch bleibt die Lebenswelt eine deutlich christlich, genauer kirchlich geprägte („Verkirchlichung“ des Christlichen im 19. Jh.). Das 20. Jh. erlebt zunächst eine kulturelle Blüte im Jugendstil. Das Zeitgefühl ist zunehmend linear, nicht mehr zyklisch (Fortschrittsgläubig‐ keit und Leben nach der Uhr). In Deutschland folgt auf das Ende des Kaiserreiches und der liberalen Kultur nach dem Ersten Weltkrieg (1918) die Weimarer Republik mit einer weiteren Kulturblüte, die seit 1931 durch das Nazi-Regime und den Zweiten Weltkrieg (1939-1945) abgelöst wird; Masseneuphorien, Regression und Rückfall in alte Pseudomythen und Einheitsmuster, verbunden mit brutalster Gewalt und nie dagewesenen Verheerungen lassen sich schlüssig nur als Folgen der modernen Entwur‐ zelungen verstehen. Nach 1945 sorgt das deutsche „Wirtschaftswunder“ für einen rasanten Wiederaufbau, die schnelle Verdrängung der NS-Zeit und Wohlstand. Weltweit verändern sich Kultur und Gesellschaft durch die neue Popkultur, die 68er-Revolte, amerikanische Einflüsse und die immer stärkere Vorherrschaft der Ökonomie, die Politik, Denken und Leben zunehmend bestimmt. Auto, Flugzeug, Telekommunikation und Computer gehören seit den 1980er Jahren zum Alltag. Das Leben wird durch Auswahl unter kaum übersehbaren Konsum- und Erlebnisoptionen bestimmt. Zeit‐ gleich zur Luxus-Sättigung kommt es zu nachhaltigen Umweltzerstörungen (Klimakollaps, Raubbau an Bodenschätzen, Tschernobyl 1986, Dezimierung der Tierwelt, Vergiftung von Luft, Wasser, Böden und Nahrung usw.) und massiv anwachsenden Zivilisationskrankheiten (Sucht, Neurodermitis, Asthma, Krebs, Burnout, Depressivität u. a.), ferner zu einer Destabilisierung der Partner- und Familienbindung. Die Globalisierung macht mit ihren weltweiten Vernetzungen die Welt zum Verfügungsraum des Menschen. Das Lebensgefühl wird zunehmend von Zeitknappheit, Anspannung, Ein‐ samkeit, Erschöpfung und diffusen Sehnsüchten bestimmt und vom Gefühl der alleinigen Verantwortung für das eigene Lebensgeschick und -gefühl. 315 1 Autonomie, Pluralisierung und Optionensteigerung <?page no="316"?> Das Christentum verliert seinen gesellschaftlichen und kulturellen Einfluss innerhalb weniger Jahrzehnte fast vollständig. Die Pluralisierung ist der Grundnenner dieser Veränderungen, und sie schlägt auch auf das Denken durch: Lebensstile, Denkhaltungen, Werte, Überzeugungen usw. gelten als unverrechenbar und relativ (→ 15.3, 16.2). Durch die Zunahme des Wissens, Forschens und der planmäßigen Erfindun‐ gen, durch massive Beschleunigung des Informationsaustauschs usw. stellt sich eine immer größere Anzahl von Dingen, Informationen, Angeboten, Ansichten und Möglichkeiten her. Die Welt wird zum Markt. Waren, aber auch Informationen und geistige Güter werden als Angebote, Optionen und Spielräume zur freien Wahl verstanden, bei denen Vorschriften, Vorga‐ ben oder Traditionen nur störend wirken. Waren, Fernsehprogramme, Ur‐ laubsziele, Berufswege, selbst Partner gelten in einer „Optionsgesellschaft“ (Kunstmann 1997) prinzipiell als austauschbar. Exklusivitätsansprüche wer‐ den kaum noch verstanden; sie gelten als fundamentalistisch. Das Denken wird zunehmend nutzenorientiert und funktional (d. h. berechnend; „was bringt mir das? “). Die Moderne ist hochgradig ambivalent. Die enormen Verfügungsräume, die jeder Einzelne heute zur eigenen Selbstverwirklichung besitzt, führen auch eine Entwertung der Eigenwertigkeit der Dinge und ihrer Bedeutung (→ 13.4) mit sich. Technik und Ökonomie verbreiten ihre „Systemrationali‐ täten“ (Niklas Luhmann) und bedingen eine „Kolonialisierung“ der Lebens‐ welt ( Jürgen Habermas, → 2.4) durch Rationalisierung (d. h. Reduzierung auf Effizienzen, und keineswegs Vernunft-Werdung! ). Temposteigerung, An‐ passungsdruck und Stress sind die Folgen. Es entstehen Selbstläufigkeiten und wachsend unkontrollierbare Risiken, die zu Angst und Verunsicherung führen und sich gegen die Würde der Person richtet. Der Mensch wird zum Mittel, zur „Arbeits-Kraft“ und zum ersetzbaren Lebensabschnittspartner. Die Idee der Autonomie schlägt um in das Gefühl, Teil eines „Räderwerks“ zu sein in einem keineswegs freien, sondern „stahlharten Gehäuse“ (Max Weber). Pluralisierung bedeutet maximale Auswahlmöglichkeiten, aber auch das Gefühl: alles ist relativ, alles ist veränderbar, nichts ist wirklich bedeutsam. Konsum und Unterhaltungsindustrie füllen die entstehenden seelischen Löcher, befriedigen die Menschen aber nicht wirklich. Die maximale Freiheit, die durch Bildungschancen, reiche Versorgung und durch Abstreifen alter äußerer Zwänge, Beschränkungen, Begrenzun‐ gen, Verbindlichkeiten und Autoritäten entstanden ist, führt zu einem Grundgefühl der Haltlosigkeit, Unbegrenztheit, Unentschlossenheit und 316 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="317"?> inneren Leere, das anfällig macht für neue Zwänge und Uniformierungen. Wenn jeder seines Glückes Schmied ist, wie das heute zu einer glaubensähn‐ lichen Grundüberzeugung geworden ist, dann ist auch jeder verantwortlich für das eigene Unglück. Freiheit bedeutet automatisch auch eine Reduktion der verlässlich-stabilen sozialen Bindungen, dadurch eine programmierte Einsamkeit. Beschreibungen der gesellschaftlichen Lage (1) Ulrich Beck unterscheidet in „Die Risikogesellschaft“ (1986) Gefahr und zeitlich verzögertes, aber akkumuliertes „Risiko“, das global gilt (Bedrohung durch technische und Umweltkatastrophen, z. B. durch Atomtechnik) und sozial (Arbeitslosigkeit). Wir erleben die „Vorzeichen eines neuen Mittelal‐ ters der Gefahr“ (ebd. 8), deren Kennzeichen die Nichtwahrnehmbarkeit ist, und die sich aus dem Erfolg der Modernisierung ergibt. Hintergrund sind Technik und Individualisierung (→ 15), die Herauslösung der Menschen aus traditionellen Strukturen wie Stand, Klasse, Familie, sozialen Rollen, die nur noch auf Zeit eingenommen werden („Freisetzungsschübe“). Die gesell‐ schaftlichen Risiken werden dadurch den einzelnen Individuen aufgebürdet. Arbeit, Umweltbezug, Privatleben sind durch Freiheiten gekennzeichnet, deren Folgelasten niemand tragen hilft. Wir leben unsere Freiheiten auf Kosten der Umwelt, der Zukunft, der individuellen Beheimatung. Die frü‐ here Not wird flächendeckend durch Angst ersetzt. (2) Wolfgang Welsch hat in „Unsere postmoderne Moderne“ (1986) die „Post‐ moderne“ beschrieben. Feuilletonistisch gilt der Begriff als „Beliebigkeit“, die jedoch das Signum der Moderne ist. Postmoderne dagegen bezeichnet das Wissen um Pluralität und damit auch das genaue reflexive Wissen um die Codes, d. h. um das Zustandekommen der Dinge. Statt verlorene Einheiten zu betrauern, setzt die Postmoderne auf Neukombination der Tradition durch Zitat, Collage und Ironie. „Die Grunderfahrung der Postmoderne ist die des unüberschreitbaren Rechts hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster … Fortan stehen Wahrheit, Gerechtig‐ keit, Menschlichkeit im Plural“ (Welsch 3 1991, 5). Postmoderne ist darum ein philosophischer Begriff, der benennt, dass die Menschen faktisch längst nicht mehr an die klassischen Einheitsprinzipien der Moderne glauben. Jean-François Lyotard hat das als „Ende der Metaerzählungen“ (der großen übergreifenden Geschichtsdeutungen) bezeichnet, zu denen er Emanzipa‐ 317 1 Autonomie, Pluralisierung und Optionensteigerung <?page no="318"?> tion, Fortschritt, kommunistische Revolution, Hegelschen Weltgeist und auch die christliche Heilsgeschichte zählt. Diese Auffassung spiegelt die gängige Lebenshaltung, die keine Einheitskonzepte mehr will, sondern mit Differenzen lebt. Differenzen sind nicht zu überwinden, sondern im Sinne echter demokratischer Toleranz gerade zu stärken. (3) Gerhard Schulze hat in seiner kultursoziologischen Untersuchung „Die Erlebnisgesellschaft“ (1992) gezeigt, wie die alten gesellschaftlichen Schich‐ ten (Adel, Kaufleute/ Beamten, Arbeiter/ Handwerker/ Bauern) heute weit‐ gehend durch erlebnisorientierte Milieus ersetzt sind: Das „Niveaumilieu“ liebt Hochkultur und geht auf Distanz zu allem „Trivialen“. Das „Integrati‐ onsmilieu“ ist eine moderate Mischung von Hoch- und Trivialkultur. Das „Harmoniemilieu“ setzt auf traditionelle und einfache Werte wie Familie und Vereinswesen, Gemütlichkeit und überschaubare Ordnung. Diesen drei Mi‐ lieus, die die ältere Altersstufe betreffen, stehen zwei jüngere gegenüber: Das „Selbstverwirklichungsmilieu“, das junge Aufsteiger, Erfolgsorientierung, Dynamik, Spaß (Popmusik, Sport) und Raffinement umfasst, und das „Unter‐ haltungsmilieu“, zu dem die jungen Hedonisten (= Lust-Orientierten) gehö‐ ren, die „Action“ und schnelle Bedürfnisbefriedigung, Fußball, Motorsport, elektronische Spiele lieben. Der „erlebnisrationale Imperativ“ ist: Erlebe dein Leben! Intensiv und spannend muss alles sein. Erlebnisorientierung wird zum „Filter“ für alle materiellen und geistigen (auch religiösen) Angebote; sie bewirkt eine fortschreitende Entwertung der einzelnen Erlebnisse, eine zunehmende „Melancholie der Erfüllung“. (4) Hartmut Rosa belegt in seiner eindrucksvollen Studie „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (2018), dass Menschen auf Resonanz hin ausgelegt sind, nicht auf Erfolg, Authentizität oder Selbstverwirklichung. Dabei beschreibt er Resonanzerfahrung als das beglückende Gefühl, mit „eigener Stimme“ zu sprechen (also kreativ und offen auf die Welt zuzuge‐ hen) und eine Antwort zu erhalten, die nicht kalkulierbar, sondern unver‐ fügbar ist. Rosa beschreibt mit einer Fülle von Alltagsbeobachtungen und theoretischen Einsichten, dass entgegen der Erwartung die Moderne den Menschen nicht freier und glücklicher und das Leben nicht intensiver ge‐ macht hat. Im Gegenteil erscheinen die erfüllenden Lebensbereiche (Freund‐ schaften, Liebe, Naturerlebnisse, Kunstgenuss, Religion) zunehmend wie „Resonanz-Oasen“, die sich in einer rationalen Welt auf dem weiteren Rückzug befinden. Die Moderne versorgt die Menschen mit immer größeren 318 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="319"?> Reichweiten und Optionen, aber der Generalnenner der Entwicklung ist gerade nicht eine zunehmende Resonanz, sondern Entfremdung. 2 Säkularisierung und religiöser Markt „Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin / Und leider auch Theolo‐ gie / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. / Da steh ich nun, ich armer Tor! / Und bin so klug als wie zuvor. … / Und sehe, dass wir nichts wissen können! / Das will mir schier das Herz verbrennen.“ (Goethe, Faust I, Nacht) Dass wir „nichts wissen können“ ist nicht nur die Erkenntnis des rastlos suchenden Faust, sondern steht auch symbolisch für den enormen Wissens‐ zuwachs der Moderne, der immer neue Räume aufmacht, das Wesentliche aber aus dem Blick verliert. Sinn des Lebens, Erfüllung und Glück hängen offensichtlich nicht an Wissen, Erkenntnis und Freiheit (oder gar am Konsum)! Woran aber dann? Die Frage wird um so drängender, je mehr der Abschied von alten Strukturen und Gewissheiten vollzogen wird. „Leider“ kann offensichtlich „auch die Theologie“ keine Antworten mehr geben. Das spiegelt eine große Enttäuschung: die Religion, die einst Gewissheit und Heimat war, scheint ihren Sinn zu verlieren. Die Religion in der Moderne Der aufgeklärte Verstand steht kritisch zu allen Autoritäten, darum auch zu Kirche und Religion. Die Aufklärung nahm allenfalls eine „natürliche“, allgemeine Religion hinter allen Weltreligionen an und favorisierte Panthe‐ ismus (Göttlichkeit aller Dinge) und Deismus (Gott hat sich aus seiner Schöpfung zurückgezogen). Für den Sinn von Religion hatte sie wenig Gespür; sie verstand sie nur noch als Beitrag zur „Sittlichkeit“ (Ethik). So ist im Gottespostulat von Immanuel Kant Gott eine Forderung der Vernunft für die ausgleichende ethische Gerechtigkeit. Erst Friedrich Schleiermacher, der der Romantik nahe stand, lehrte in seinen geistesgeschichtlich Epoche machenden „Reden“ (Über die Religion, 1799), Religion als Gefühl, Anschau‐ ung und Betroffenheit zu verstehen; sie ist das Gewahrwerden des ganzen Lebens und die nicht ersetzbare Bewusstheit davon, dass ich mich vorfinde, verdanke und nicht selbst herstellen kann. Dieses Neuverstehen der Religion 319 2 Säkularisierung und religiöser Markt <?page no="320"?> ist für moderne Menschen ausgesprochen plausibel; in Theologie, Kirche und christlicher Frömmigkeit wird es bis heute aber kaum wahrgenommen. Das 19. Jh. war trotz der aufgeklärten Religionsdistanz immer noch stark christlich-kirchlich geprägt. Theologische Orthodoxie, die Spätphase des Pietismus, neu entstehende kirchliche Werke, vor allem aber die katholische Kirche mit ihrem Antimodernismus (1870 wird die päpstliche Unfehlbarkeit dogmatisiert) und einem profilierten katholischen Milieu (Marienfrömmig‐ keit, Maifeiern, katholische Vereine) wirkten gesellschaftlich stark prägend. Gegen Ende des Jh. wird jedoch die philosophische Religionskritik besonders durch Ludwig Feuerbach (Religion ist Projektion menschlicher Wünsche) und Karl Marx (Religion ist das „Opium des Volkes“, das die Falschheit der Religion ebenso zeigt wie das Elend der Menschen) immer stärker; Sigmund Freud führt diese Linie weiter durch seine Einschätzung, Religion sei re‐ gressive, aus kindlichen Wunschprojektionen entstehende und vernünftiges Erwachsenwerden blockierende „Illusion“. Der weitaus interessanteste Kritiker des Christentums ist allerdings Fried‐ rich Nietzsche. Denn seine Polemik gegen das Christentum entstammt einer eigenen stark religiösen Einstellung. Nietzsche ist Verehrer des Rausch-Got‐ tes Dionysos und zugleich fasziniert von der Christusgestalt, um deren tiefe Bedeutung er weiß; in gedanklicher Schärfe diagnostiziert er den „Tod Gottes“ im menschlichen Denken und eine erstarrte Leblosigkeit im Christentum. Nietzsche nimmt das Lebensgefühl und die heutige Einstellung zur Religion in beeindruckender Weise vorweg. Die Religion erlebt einen weiteren Verlust durch die Umstellung von der mythischen, zyklisch wiederkehrenden Zeit (mit den christlichen Festen im Jahreslauf) auf die lineare Zeitauffassung der Moderne, die die Zeit als nutzbare Quelle für vorausgreifende Planungen, „Fortschritt“ und perma‐ nentes Wachstum versteht. Dies geht faktisch auf Kosten einer intensiven, präsentischen Zeiterfahrung, wie sie für religiöses Erleben typisch ist. Säkularisierung „Die Frage nach der Bedeutung von Religion für die Partnerwahl ruft bei unseren Befragten vielfach Unverständnis oder gar Belustigung hervor.“ (Stolz u. a. 2014, 187) Das Verblassen der Religion wird unter dem Begriff der Säkularisierung (= Ver-Weltlichung) beschrieben. Der Begriff war ursprünglich Fachterminus 320 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="321"?> für die Verstaatlichung der Klöster und die Beschlagnahmung von Kirchen‐ besitz kurz nach 1800, wurde dann aber zum Generalbegriff für den Weg der Religion in der Moderne. Er enthält die Annahme, dass die einzelnen Funktionen und Teilbereiche der Religion nach und nach in weltliche Ämter und Bereiche übergehen, Religion damit überflüssig werde und absterbe. Dieser Gedanke war oft mit der Hoffnung auf zunehmende Mündigkeit verbunden (so bei Marx und Freud); der Wegfall der handlungslähmenden religiösen „Illusion“ sollte zur Verbesserung des Lebens beitragen. Diese Erwartung hat offensichtlich getäuscht. Das Leben wird in einer rationalen, technisierten, undurchschaubaren, von Religion immer mehr „befreiten“ Welt eher schwieriger. Aufklärung und Fortschritt haben eine unheilvolle „Dialektik“: „Der Einzelne wird gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annulliert … Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“ (Adorno/ Horkheimer 1971, 4 f.) Erst seit kurzem verbreitet sich wieder die Einsicht, dass Religion eine Kraftquelle und ein sinnvolles Widerlager gegen manche lebensweltlichen Erosionsprozesse der modernen Entwicklung sein kann. Sie ist vor allem eine unverzichtbare Quelle für die Auseinandersetzung mit den Lebensfragen, ohne die das Leben verarmt und auch kaum echte Bildung möglich ist. Im 20. Jh. wurde die Säkularisierungs-These auch von Theologen begrüßt. Friedrich Gogarten etwa sah in ihr die ur-christliche Idee einer Freigabe der Welt durch ihre Ent-Götterung. Heute ist ein differenziertes Urteil nötig: Teilbereiche der Religion werden in der Tat säkularisiert: Heilung, Recht, Familienbande, Ehe, Besitz usw. sind heute nicht mehr religiös legitimiert; dadurch erfährt die Religion eine starke Relativierung, den Verlust ihrer Selbstverständlichkeit und vor allem ihrer Verbindlichkeit. Sehr weite Teile der modernen Lebenswelt sind inzwischen vollkommen religionsfrei. Die Gleichsetzung von Moderne und Säkularisierung ist allerdings ein Irrtum. Die Moderne erzeugt aufgrund ihrer Destabilisierungen ein Anwachsen fundamentalistischer Religion, eine unterschwellig spürbare spirituelle Sehnsucht und eine neue Aufmerksamkeit für Religion in Philosophie, Soziologie und den gehobenen Medien. Der kanadische Philosoph und Soziologe Charles Taylor hat 2007 eine 1300 Seiten starke eindrucksvolle und sehr differenzierte Schilderung der Säkularisierung vorgelegt. Taylor nennt die Lage zwischen dem atheisti‐ schen Materialismus auf der einen und der orthodoxen Religion auf der anderen Seite einen „mittleren Zustand“. Mit ihm ist eine tiefe Unruhe und Unzufriedenheit gegeben: Man sieht, dass der Materialismus nicht alles 321 2 Säkularisierung und religiöser Markt <?page no="322"?> sein kann, weil er keine Bedeutung kennt und die Lebensfragen außen vor lässt. Die Religion aber hat man verloren; zu ihr gibt es nur noch eine Sehnsuchtsbeziehung. Allzu oft gerät man in diesem mittleren Zustand dann aus dem Gleichgewicht - in aller Regel, weil Sinnlosigkeitsgefühle auftauchen. Für Taylor ist die Säkularisierung ganz und gar nicht der Wegfall einer alten Illusion, sondern ein vollkommen ungewöhnlicher Weg, der seine Wurzeln in der Religion selbst hat. Das Mittelalter, so Taylor, war eine Zeit der magischen Verzauberung, in dem Alltag und Festzeiten, Nüchternheit und Orgien, Heiligkeit und Profanität in gegenseitiger Spannung standen. Daher haben Kirchenleute immer wieder versucht, die Kluft zwischen den Religiösen und dem einfachen Volk durch religiöse Reformversuche zu schließen. Der durchschlagendste davon, die Reformation, hat eine durchgehende Heiligung des Lebens betrieben. Ehestand, Familie, Gerichte, Schulbildung und die gesamte Lebensführung, nicht zuletzt die Arbeit („Beruf “ ist eine Wortbildung Luthers) galten jetzt als geheiligt. (Der oft missverstandene Kernpunkt von Luthers Zwei-Regimenter-Lehre ist, dass Gott in beiden Bereichen wirkt.) Gegen die mystisch-sakramental aufgela‐ dene Welt des Mittelalters reagierte man jetzt allergisch. Daraus konnte sich dann die Idee entwickeln, das Leben auch ohne Reli‐ gion in die eigene Gestaltungsregie zu nehmen: Arbeitswelt, Staatsverträge und Wissenschaft konnte man rein mit Vernunft gestalten. Disziplin, Ratio‐ nalität und eine durchgehende Berechenbarkeit aller Dinge führten jetzt Regie. Das führte zur „Entzauberung“ der Welt (Max Weber) und zu einer durchgehenden Nüchternheit, die mit dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit von allem einhergeht und die für Taylor alles andere als normal, nämlich „beunruhigend“ ist. An die Stelle der religiös verzauberten Welt tritt der existenzielle Mangel. Nach Taylor leben die meisten Menschen heute in einem unklaren Zwischenzustand des „gegenläufigen Drucks“ zwischen einer Rationalität, die nicht befriedigt und keinen Sinnzusammenhang erkennen lässt und einer offenen spirituellen Sehnsucht - einer Religion, die man verloren hat, und die zunehmend nur noch der eigenen isolierten Selbstfindung dient. In diesem Zwischenbereich gibt es ein schier unendliches Panorama verschiedener Weltanschauungen, von fundamentalistischer Frömmigkeit über Agnostizismus bis hin zum Atheismus, die zu einer gegenseitigen „Fragilisierung“ führen. Da alles offenbar relativ ist, verzichten viele ganz 322 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="323"?> auf eine Weltsicht und ziehen sich auf einen pragmatischen Nihilismus zurück. Eine religiöse Position einzunehmen wir immer schwieriger. Fundamentalisierung und religiöser Markt Die neue Tendenz zu religiösen Fundamentalismen („Fundamentalismus“ ist eine Erscheinung der Moderne; Begriff seit ca. 1910) bezeichnet den zunehmenden Rückzug auf wenige, überschaubare Grundannahmen, die als Wahrheiten rigoros (und oft mit Gewalt) gegen jede Kritik verteidigt werden. Religiöse Formen reichen vom Biblizismus bis zur Sektenbildung. Letztere garantiert klare Zugehörigkeit, innere Ordnung und Orientierung, verlangt aber Freiheitsverzicht und geht mit hoher Manipulation einher. Fundamentalismus ist die Folge der Unsicherheit in einer radikal pluralen Welt (- es wäre darum unsinnig, die Religion des Mittelalters als Funda‐ mentalismus zu bezeichnen). Er stellt eine erstmals auf religiösem Gebiet aufgetretene Regression in die längst vergangene Einheit der Vormoderne dar, die einen Verzicht auf Wissen und Vernunft und ein geistiges und soziales „Aussteigen“ bedeutet. Fundamentalistische Tendenzen sind auch im westlichen Christentum bemerkbar, das sich faktisch zunehmend auf die kleiner werdenden Inseln klassischer Frömmigkeit konzentriert. Ironischerweise trägt der Fundamentalismus selbst zur Pluralisierung der Religion bei. Er ist Teil einer multireligiösen Lage. Interesse an Spiri‐ tualität, buddhistische Praktiken, New Age und Esoterik und der kaum abgrenzbare Übergang von Religion und Therapieszene haben einen kaum noch überschaubaren religiösen Markt etabliert. Das Interesse an spiritueller Praktik (bes. Meditation) ist hoch. Dazu kommt in jüngster Zeit eine neue intellektuelle Aufmerksamkeit für Religion, etwa bei dem Philosophen Jürgen Habermas, der 2001 erstmals auf die offenen und unersetzbaren Potentiale der Religion für die Bürgergesellschaft verwies; oder bei Norbert Bolz, der in seinem Buch „Das Wissen der Religion“ (2008) die Religion mit ihrem Wissen um das Leid als differenzierter und aufgeklärter ansieht als die Aufklärung. Religion ist vor allem für die Sinnfindung der Menschen nicht ersetzbar (→ 15.3, 18.1). Diese „Wiederkehr der Religion“ verdankt sich allerdings vor allem der Bewusstwerdung ihres Verlustes. Bemerkenswert ist, dass das Christentum von der neuen Suche nach Religion nicht im mindesten profitiert. In Theologie und Kirche wird das kaum zur Kenntnis genommen. 323 2 Säkularisierung und religiöser Markt <?page no="324"?> 3 Christentum heute „Margarete: Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? … / Glaubst du an Gott? Faust: Mein Liebchen, wer darf sagen: / Ich glaub an Gott! / Magst Priester oder Weise fragen, / Und ihre Antwort scheint nur Spott / Über den Frager zu sein … / Wer darf ihn nennen? / Und wer bekennen: ich glaub ihn? … / Nenns Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch“ (Goethe, Faust I. Szene in Marthens Garten). Die Szene ist treffend für die heutige Einschätzung des Christentums. Gott ist nicht mehr fassbar. Religion ist allenfalls eine Sache des unbestimmten Gefühls, eine Privatsache, die durch dogmatische und kirchliche Vorgaben mehr behindert als gefördert wird. Zusammen mit der oben unter 2. zitierten Szene führt Goethe hier ein doppeltes religiöses Dilemma vor Augen: Wo die Vernunft (obige Szene) zur Selbsttätigkeit und zur historischen Einsicht, und damit zwangsläufig zur kritischen Distanz gegen die Religion führt, da führt das Gefühl (hier) zu einer offenen, vagen, diffusen und nicht mehr klar benennbaren Auffassung der Religion, die kaum noch kommunizierbar ist und darum als sichtbare Größe zunehmend aus dem Alltag verschwindet. Margarethe antwortet dem Faust denn auch verwirrt: „Wenn mans so hört, möchts leidlich scheinen, / Steht aber doch immer schief darum; / Denn du hast kein Christentum.“ Eine einfache Schlussfolgerung - die der komplexen Lage aber überhaupt nicht mehr gerecht wird. Geltungsverluste Nach dem Zweiten Weltkrieg war es vorübergehend zu einer starken Rückwendung zu den Kirchen gekommen. Eine erneute Wende leiteten die Austrittswellen sei Ende der 1960er Jahre ein, die zu einer in Wellen verlaufenden Entkirchlichung des im 19. Jh. verkirchlichten Christentums und zu seiner weitgehenden Privatisierung und zu einem Abbruch seiner Tradierung führen. Mitgliedschaftsbefragungen der Kirche zeigen eine immer größer werdende Distanz. Gegen Ende des 20. Jh. ist der Verlust des kirchlichen Religionsmonopols offensichtlich. Die „funktionale Differenzierung“ (Niklas Luhmann) aller gesellschaft‐ lichen Bereiche führt für die Religion dazu, dass sie ihre Zuständigkeit für das Gesamte abgibt und - wie andere Bereiche auch - zu einem Teilbereich des öffentlichen Lebens wird, der für spezifische Funktionen, 324 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="325"?> d. h. Nutzanwendungen zuständig ist, z. B. für Orientierung, Lebens- und Weltdeutung, Lebensbegleitung usw. Religion ist nicht mehr um ihrer selbst willen da. Wo sie sich nicht als kompetent und nützlich ausweisen kann, wird sie schnell übergangen. Für das Christentum heißt das, dass es zu seinen „Angeboten“ Alterna‐ tiven gibt. Steile Behauptungen und interne Sicherungen (Rückzug auf die „Kern“-Gemeinde, Dogma und Bekenntnis, Besinnung auf das „Eigent‐ liche“ usw., die in Theologie und Kirche leider häufig praktiziert werden) verstärken von außen gesehen die Einschätzung, das Christentum sei eine Möglichkeit unter anderen. Die christliche Tradition bleibt zwar zugänglich, ist faktisch aber immer mehr an eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe ge‐ bunden. Die Zugangsschwellen erscheinen nach Rückgang der kirchlichen Sozialisation als hoch. Das Christentum verliert dadurch seine kulturprä‐ gende Rolle und inzwischen auch weitgehend seinen Bezug zur Gesellschaft. Es gerät in den Sog einer gefährlichen und lähmenden Musealisierung (→ 16.1). Die Kirchen werden bei ethisch unentscheidbaren Fragen gehört, öffent‐ lich vernehmbar ist das Christentum ferner beim „Wort zum Sonntag“ und in Radio-Kurzbotschaften (zu denen die Sender gesetzlich verpflichtet sind), in den kirchlichen Akademien und den Kirchentagen. Das gemeindliche Leben gleicht aber bereits dem von geschlossenen Vereinen, zu dem nur eine bestimmte Gruppe von Mitgliedern Zugang findet. Die Vokabel „Gott“ taucht außer in der dahingesagten Alltagssprache nur noch in der Präambel des Grundgesetzes und in der Vereidigungsformel von Politikern auf („So wahr mir Gott helfe“), die oft nicht mehr gesprochen wird. Es gibt eine christliche Kunst und christliche Popmusik (sog. Sakropop), die nicht mehr öffentlich prägend sind. Der Glaube an einen persönlichen Gott ist bei älteren Menschen ver‐ breitet, bei Jüngeren immer weniger vorhanden. Der Praktische Theologe Klaus-Peter Jörns hatte bereits 1997 in einer großen Umfrage festgestellt, dass alte Glaubensgewissheiten massiv an Bedeutung eingebüßt haben, und zwar auch bei den „gottgläubigen“ Christen selbst. An eine Allmacht Gottes glaubten da noch 20 % der Gesamtbevölkerung, an Christus als Gottessohn 12 %, an ein Jüngstes Gericht 11 %, an den Tod als Folge des Sündenfalls ge‐ rade einmal 7 %, an eine Auferstehung 11 % ( Jörns 1997, 211). Unter Christen lagen die Werte nur wenig höher, meist zwischen 20 und 30 %. Hier wird das Ende des heilsgeschichtlichen Denkens deutlich, das das Grundmuster der theologischen Dogmatiken abgab (Gott, Schöpfung, Sündenfall, Christus, 325 3 Christentum heute <?page no="326"?> Erlösung, letzte Dinge usw.) - das Ende der christlichen „Metaerzählung“. Inzwischen ist eine Umstellung auf die Fragen nach Geborgenheit und Sinn erfolgt, für die Theologie und Kirche kaum überzeugende Antworten anbieten, und die sie oft noch nicht einmal wahrnehmen. Der Gesamttrend ist eine umfassende „Enttraditionalisierung“. Nicht mehr die Tradition bestimmt über Gültigkeiten, sondern der momentane Bedarf. Darum kann auch der Kursverlust der dogmatischen Lehre nicht verwundern. Inzwischen zeigt sich vor allem bei den Jüngeren der Ausfall christlichen Grundwissens (z. B. über die Bibel, den Sinn kirchlicher Feier‐ tage, den Gottesdienst, das christliche Ethos usw.). Der Monopolverlust der Kirchen spiegelt sich in stetig ansteigenden Kirchenaustrittszahlen (in beiden großen Konfessionen jeweils ca. 250.000 pro Jahr; die beiden großen Konfessionen stellen 2020 knapp 23 % der Bevölkerung, 1970 waren es noch 45-49%), einem zunehmenden Desinteresse bei gleichzeitig unterschwellig bleibenden Erwartungen an die Kirchen, vor allem im rückläufigen Gottes‐ dienstbesuch (der aber bei Festen, vor allem an Weihnachten, und bei den individuell bedeutsamen Kasualien weitgehend stabil ist). Das „beschreibt einen Prozeß, in dem Christen und ihre säkularen Zeitgenossen sich zunehmend fremd werden … [Es handelt] sich um die allmähliche Auszehrung der Plausibilität und Relevanz einer christlichen Sicht auf die Welt überhaupt.“ (Höhn 1998, 15) Die Kultur der Gegenwart von Popmusik, TV-Serien bis zur documenta ist inzwischen vollkommen frei von christlichen Symbolen. Sie folgt hier der staatlich verordneten Säkularisierung der DDR, in deren heutigem Gebiet der BRD nur noch ca. 20 % der Bevölkerung Kirchenmitglieder sind, während die weitaus meisten religiös nicht mehr ansprechbar sind: „Ob ich religiös bin? Nein, ich bin normal.“ Die Situation ist in allen westlichen Ländern weitgehend ähnlich. Von den großen Deutungsmustern der christlichen Tradition ist allenfalls die Krippe übrig geblieben, während Kreuz, Sünde, Erlösung, Christologie und Gotteslehre kaum noch nachvollzogen und meist schon gar nicht mehr gekannt werden. Die Gesellschaft vollzieht einen lautlosen Abschied vom Christentum, das den größten Bedeutungsverlust in seiner Geschichte erlebt. Die Zahl der Theologie-Studierenden hat sich in 15 Jahren, die der katholischen Trauungen in einer Generation mehr als halbiert. Die derzeit detaillierteste Untersuchung der religiösen Lage von Stolz u. a. „Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft“ (2014), eine sehr genaue 326 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="327"?> Zehnjahres-Längsschnitterhebung, spricht von einem „säkularen Driften“. Im Laufe ihres Lebens rutschen viele Menschen aus einem hochreligiösen Milieu („institutioneller Typ“) in ein distanziert religiöses (inzwischen die größte Gruppe; hierzu gehören vor allem die „spirituellen Sucher“), von hier in ein gleichgültiges, von hier in ein religionsabstinentes. Zu dieser religiösen Abwärtsbewegung ist keine Gegenbewegung zu erkennen - allenfalls ein Ausweichen in esoterische, fremdreligiöse und andere Nischen, die weitgehend unverbindlich bleiben. Überall gibt es zur Religion säku‐ lare Alternativen, vor allem im Bereich Freizeit und Selbstentfaltung. Die Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation erfolgt „mit einer Negativbilanz“ und hat jede Verbindlichkeit verloren. Noch einmal verstärkt wird der Trend durch das Alter: je jünger, desto religionsdistanzierter. Seit den 1968er-Jahren und der Wende zur Ich-Gesellschaft zeigt sich eine „noch nie dagewesene Distanzierung vom Phänomen Religion“ (150); die „Vehemenz“ der kritischen Haltung gegenüber Religion habe auch die Un‐ tersucher überrascht. Deutlich ist eine starke Assoziation von Religion mit alten Werten und mit Gewalt; das gilt für die weit überwiegende Mehrheit. Kirche ist demnach für Alte und Schwache da, gerade deshalb aber lautet die häufigste Äußerung: „für mich nicht“. Die Autoren der Studie sprechen von einem „Niedergang der institutionellen Kirchlichkeit‟ (27) und einem „Sturzflug der Kirchen“ (56). Sie sind zu Hilfswerken für die Randsiedler der Gesellschaft geworden, diejenigen also, die mit dem modernen Leben nicht zurechtkommen. Michael Domsgen bilanziert: „Von Selbstverständlichkeiten kann schlichtweg nicht mehr ausgegangen wer‐ den … Die Gesellschaft insgesamt funktioniert ohne explizite Bezugnahme auf eine unsere Wahrnehmung übersteigende Wirklichkeit.“ (Domsgen 2019, 200 und 207, dies im Orig. kursiv) Rudolf Englert spricht von einer „Inneren Auszehrung“ und einem „Zerfalls‐ prozess“. Für viele ist das Christentum eine Fremdreligion im eigenen Land geworden. Selbst-Abschottung und interne Differenzierung Eine hausgemachte Tendenz der Selbstabschottung ist unverkennbar. Die Untersuchungen von Jörns, aber auch viele immer wieder geäußerte Ein‐ 327 3 Christentum heute <?page no="328"?> schätzungen zum Christentum („Ich bin schon religiös, aber natürlich nicht so wie die Kirche“; „Ich glaube an Gott, halte aber nichts von Dogmen“; „Ich lasse mich nicht anpredigen“ usw.) zeigen, dass die Grundfragen der Menschen heute - etwa die nach Sinn, Gewissheit, Beheimatung, Anerken‐ nung, Motivation zum Leben - im Christentum allenfalls am Rand bekannt sind. Nicht Dogmenkritik und Kirchenaustritt sind daher das Problem, sie sind nur dessen Symptome. Die spezifische Logik der christlichen Religion ist kaum noch bekannt, und sie wird von Theologie und Kirche offenbar nicht mehr plausibel dargestellt und auf das konkrete Leben bezogen. Es ist nach außen hin kaum noch klar, warum es sinnvoll ist, als Christ zu leben, und was das überhaupt heißt. Das kirchliche religiöse Ideal ist nach wie vor eine vorgegebene, fest verbürgte, scheinbar objektiv und überzeitlich gültige Glaubenswahrheit, die dem gegenwärtigen Leben aber kaum noch verständlich zu machen ist. Diese Auffassung bewirkt den kulturellen Präsenzverlust des Christentums, dadurch seine erhebliche Relativierung. Durch den Ausfall des religiösen Wissens, den religiösen Markt und die Präsenz anderer Religionen wird diese Relativierung noch einmal verstärkt. Das Christentum wird zu einem kulturellen Teilbereich - den es meint verteidigen zu müssen. Daher die Tendenz des immer weiteren Rückzugs in ein kulturelles und gesellschaft‐ liches Getto. In der katholischen Kirche zeigt sich die Tendenz zum Rückzug von der Welt derzeit am deutlichsten. Sowohl der Vatikan als auch viele junge Priester sind der Auffassung, Kirche sei „nicht von dieser Welt“ und dürfe sich ihr nicht anpassen. Nach dieser Auffassung ist die Kirche heilig, nicht das Leben, nicht der Mensch - die glatte Umkehrung der Botschaft Jesu und seiner radikalen Religionskritik. Damit wird die christliche Isolierung vorangetrieben. Viele Priester sind entsprechend einsam. Noch weiter ver‐ stärkt wird der Trend, wenn offenbar wird, dass es auch in der Kirche nur allzu weltlich zugeht (Kirche als Finanzgröße, Unterdrückung Anders‐ denkender, Verweigerung der Altargemeinschaft, sexuelle Vergehen von Priestern usw.). In der evangelischen Kirche ist die Bibel das absolute, trotz historisch-kritischer Exegese kritisch faktisch nicht befragte Fundament. Hier zeigt sich eine deutliche Unsicherheit über die eigentliche Aufgabe; evangelische Pfarrer flüchten deshalb oft in den Workaholismus und sind gestresst und überarbeitet. Die vermehrten Anstrengungen um interne organisatorische Verbesserungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Suche nach dem eigenen „Profil“ nur mit wenig nachvollziehbaren 328 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="329"?> theologischen Formeln, vor allem aber im Ausweichen in Ethik und Moral („gesellschaftsdiakonische Verantwortung“) beantwortet wird und religiös immer weniger überzeugt. Die Kirche ist mit religiösen Erwartungen konfrontiert - und nicht mit dem Wunsch nach Traditionshütung, Gesellschaftsmoral und Glaubenssi‐ cherung. Nur im Bereich der Religion ist sie ohne bedeutende Konkurrenz. Das aber scheint intern kaum wirklich klar zu sein. Der Begriff „Religion“ stößt in Kirche, Theologie und Frömmigkeit nach wie vor auf Misstrauen. Hier ist von „dem“ Glauben die Rede, so als sei das ein lehrbarer Faktenbe‐ stand. Nach wie vor geht man vom apostolischen Glaubensbekenntnis als Basis des Glaubens aus, ohne zu sehen, dass der theistische, über allem thronende gütige Gott in krassem Widerspruch zur technischen Weltbe‐ herrschung des Menschen und zur persönlichen Erfahrung von Leid und Sinnlosigkeit steht, die Rede von Sünde und Erlösung in Widerspruch zum Anspruch von Autonomie, die Heilsgeschichte zum naturwissenschaftli‐ chen Weltverstehen (→ 16.2). Im Glauben vieler Christen gilt dieses Denken aber nach wie vor unbefragt, und es steht oft völlig unvermittelt neben der heutigen Wirklichkeitserfahrung. Auch in den Kirchen herrscht weit eher ein ängstliches Sicherungsbemühen um die „Glaubens-Substanz“ als eine offene, erfahrungsgesättigte und kritische religiöse Kommunikation. Die akademische Theologie denkt da zwar sehr viel offener, ist aber so sehr mit internen Spezialfragen beschäftigt, dass sie sich nicht mehr öffentlich bemerkbar zu machen vermag. So bleiben die tiefen Einsichten der christlichen Tradition immer mehr unter dem Verschluss überholter Denkschemen. Die befreienden, souverä‐ nen und provozierenden Einsichten Jesu, Sünde als Chiffre der Trennung (Sund, absondern), die Erfahrung des in allem nahen Gottes, das Kreuz als ebenso kluges wie nüchternes Symbol für das Faktum des Schmerzes und die Unfähigkeit des Menschen zur Liebe usw. werden kaum noch kommuniziert. In Korrespondenz zur allgemeinen Erlebnissuche gibt es im Christentum freilich auch ästhetische Aufbrüche, die intensive Erfahrungen anbieten (→ 11.4, 17.4). Die City-Kirchen-Arbeit hat die atmosphärische Qualität der Kirchenräume neu entdeckt und geöffnet, neue ästhetisch inspirierte Liturgien (Osternacht, Taizé, Thomas-Messe u. a.) sind gefragt, alternative Gottesdienste ziehen viele Menschen an. Alle diese Neuwendungen bleiben aber ohne strukturierende Bedeutung für die christliche Kultur insgesamt. Unreflektiert bleibt auch die deutlich erkennbare Tatsache, dass das Christentum alles andere als ein einheitlicher Glaube ist, der sich allenfalls 329 3 Christentum heute <?page no="330"?> in zwei großen Konfessionen ausspricht. Erheblich tiefer und quer zur Spaltung der Konfessionen gehen inzwischen auch hierzulande die internen Ausdifferenzierungen des Christentums in „parallele Christentümer“ (Ru‐ dolf Englert): Neben der kleiner werdenden Gruppe der Traditions-Christen, die sich an Bibel, Kirchenzugehörigkeit, Gottesdienst orientieren, gibt es die stärker werdenden Evangelikalen, deren Frömmigkeit aus einer wort‐ wörtlichen Übernahme der Bibel als des unantastbar heiligen Gotteswortes entsteht - völlig unbekümmert um Widersprüche und historische Hinter‐ gründe und um das heute allgemein gültige genetische Verstehen (→ 16.2); dazu kommt eine traditionelle Moral, Orientierung an der „christlichen Familie“ mit Scheidungsverbot und autoritärer Erziehung, die massive Verurteilung von Fehlverhalten (zu dem vor allem Abtreibung und Homo‐ sexualität zählen), die Einschätzung von Reichtum als Gottesgeschenk. Als irrtumslose Fundamente (daher „Fundamentalismus“) werden die Wahrheit der Bibel, Gottessohnschaft und Jungfrauengeburt Christi, Erlösung durch das Kreuz, leibliche Auferstehung und die Wiederkunft Christi zum Gericht angesehen. Eine Parallele zu dieser protestantischen Gruppe ist das katho‐ lische Hochkirchentum mit seiner traditionellen Mess-Auffassung, Marien- und Papstverehrung. Weiter gibt es das charismatische Erweckungs-Chris‐ tentum mit einer emotionalen Religiosität, Massengottesdiensten mit mit‐ reißender Musik, Großbildleinwänden und der geschliffenen Rhetorik ein‐ flussreicher narzisstischer Prediger. Diese Form ist vor allem in (Süd- und Nord-)Amerika und unter Freikirchen verbreitet, gilt aber soziologisch als instabiles Element, das vorwiegend dem gesellschaftlichen Aufstieg dient und dann schnell wieder an Bedeutung verliert. Das liberale Christentum orientiert sich an Jesus und seiner Botschaft, nicht an seiner Dogmatisierung zum Gottessohn. Es betreibt kritisches, wissenschaftliches Denken inklusive der historischen Exegese und hält vor allem das religiöse Erleben, das der Entfaltung der Person dient, für zentral bedeutsam. Dieses liberale Chris‐ tentum ist trotz seiner plausiblen modernen Form kaum noch aufzufinden und macht sich im Christentum zumindest praktisch nicht mehr bemerkbar. Die größte Gruppe ist inzwischen die der Spirituellen Sinnsucher, die eine kirchendistanzierte erlebnisorientierte Religiosität praktizieren, spirituelle Praxisformen schätzen, an Selbstentwicklung und -entfaltung orientiert sind, deren Religiosität aber flüchtig bleibt und oft kaum erkennbar ist. - Diese gewichtige Ausdifferenzierung wird von Kirche und Theologie ebenfalls praktisch nicht zur Kenntnis genommen. 330 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="331"?> 4 Religion in Popkultur und Medien Popkultur Die populäre Kultur oder Popkultur tritt als eigener Zweig innerhalb der Kulturentwicklung seit den 1950er Jahren in die Öffentlichkeit. Ihre Quellen liegen vor allem in der Popmusik, die sich in den USA aus der Gospelmusik der schwarzen Sklaven entwickelte. Blues, Rhythm’n’Blues, später Soul (der sich zu Funk, Disco u. a. weiter entwickelte) waren die ersten Formen. Dazu kam die „weiße“ Musik des Rock ’n’ Roll (Elvis Presley), ferner Einflüsse aus England (Die Beatles seit etwa 1960, Rolling Stones u. a.). Neben der Musik entfaltete sich der Pop vor allem in Comics und im Kinofilm. Die Hochkultur hatte schon immer hohe Zugangsschwellen, geschultes Wissen und Kenntnisse als Voraussetzung, ist darum in der Regel an aufwändige Präsentationen gebunden und an das gebildete Publikum ge‐ richtet. Die Popkultur wendet sich dagegen an ein Massenpublikum und ist entsprechend an momentanen Bedürfnissen orientiert, hat niedrige Zu‐ gangsschwellen (ansprechende Ästhetik, klare Rollen- und Identifikations‐ muster, einfache Gehalte) und ist durch die elektronischen Massenmedien stark verbreitet. Die Popkultur ist ein guter Spiegel des gegenwärtigen Lebensgefühls (→ 4.3, 14.1). In der Werbung finden sich immer wieder religiöse Zitate (Nonnen, iro‐ nisch veränderte Bibelsprüche, Symbole wie Paradies, Teufel usw.). Religion wird als Reiz-Stimulierung und Stimmungs-Hintergrund eingesetzt, da sie bekannt ist, als wichtig eingestuft wird und eine besondere Atmosphäre mit sich führt. Der Fußball kennt halbgott-ähnlich verehrte Stars, Wallfahrten der Fan-Gemeinden mit quasi religiösen Ritualen, fester Zugehörigkeit, eindeutig erkennbaren Symbolen, Gesängen usw., ferner oft eine starke Gefühls- oder gar Existenzbestimmung durch den „eigenen“ Verein. Die Popmusik bearbeitet - zumindest durch ihre ernsteren Vertreter (Genesis, Sting, U2, Peter Gabriel, Udo Lindenberg u. a.) - existenzielle Themen wie das Leiden am Leben, Zweifel, Sehnsucht nach Liebe, Sinn‐ suche. Interessant ist das Popkonzert, das dem Fußballspiel als Ereignis vergleichbar ist. Es zeigt nahezu alle gängigen religiösen Äquivalente: die Fangemeinde, ihre Wallfahrt ins Heiligtum der Szene, Extase, liturgische Gesänge (Responsorien) und Rituale. Bei Madonna, Prince, ehem. Michael 331 4 Religion in Popkultur und Medien <?page no="332"?> Jackson und anderen lässt sich eine sehr bewusste quasi-religiöse Selbst-In‐ szenierung beobachten. Das Fernsehen führt Religion ebenfalls auf mehreren Ebenen vor: Serien mit Pfarrern und Nonnen stellen Religion in mediengerechter Verformung dar. Die „Soaps“ (simple Familien-Fortsetzungsromane), aber auch die im‐ mer häufiger gezeigten Krimis, zeigen mit ihrer Darstellung von Existenzer‐ fahrungen eine quasi-religiöse Bearbeitung von Lebensgefühlen, sorgen für Orientierung bei der Suche nach Vorlagen für das eigene Leben und geben ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer „Fernsehfamilie“ und der ordnenden Lösung durch den meist sympathisch vertrottelten und zur Identifikation einladenden Detektiv oder Aufklärer. Man hat den Fernsehapparat selbst als „elektronischen Hausaltar“ (Hans-Norbert Jannowski) bezeichnet. Die Tagesschau trennt den Tag vom Feierabend wie einst das Abendläuten; Fernsehen überhaupt bringt eine „liturgische Ordnung“ mit sich (Günter Thomas). Comics thematisieren ebenso wie Krimis und der Film neben Abenteu‐ ergeschichten (Asterix) häufig Erlösergestalten (Batman, Spiderman) und traktieren Lebensprobleme (Peanuts, Die Simpsons). Religiöse Zitate und Äquivalente zeigen sich auch im Western und der Trivialliteratur mit ihren ausgeprägten Schemen für Gut und Böse, in der Science Fiction, der Mode, ferner in massenpopulären Symbolgestalten wie die kultisch verehrte Lady Diana usw. Der Kinofilm dürfte der religiös interessanteste Bereich sein. Inge Kirs‐ ner hat statt von Erlösung im Film (wie das im Happy End üblich ist) von „Erlösung durch Film“ gesprochen; genauer geht es eigentlich um Erleichterung (Peter Sloterdijk). Im Kinofilm werden die großen Fragen und Gefühle inszeniert und erzählt. Er ist darum der beste Spiegel für das gegenwärtige Lebensgefühl, für diffuse Ängste, Schwierigkeiten in der Aufnahme und Erhaltung von Beziehungen, Sehnsucht nach Liebe und Halt, ferner für das um sich greifende Gefühl von Wirklichkeitsverlust und Bedrohung (vor allem die SF-Filme wie „Terminator II“, „Matrix“ u. a., aber auch „Titanic“, „Truman Show“, Woody Allen usw.). Das Kino verlässt sich nach wie vor auf die Wirkung der klassischen Erzählstruktur (Identifikation, Konflikt und Lösung) und bietet Orientierung durch die Beschauung von lebensbedeutsamen Szenen und Geschichten, die früher in der Religion traktiert wurden. Der Kinogang lässt sich als Ritual beschreiben. Ob die religiösen Zitate, Anspielungen, Rituale, Symbole, Erzählstruktu‐ ren überhaupt als Religion zu bezeichnen sind, ist strittig. Zunächst handelt 332 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="333"?> es sich vor allem um funktionale Äquivalente zur Religion: Die Popkultur übernimmt Funktionen, die bisher die Religion innehatte. Objektiv lassen sich bestimmte Zitate, Symbole usw. sicher als „religiös“ einschätzen. Subjektiv dagegen ist schwer zu sagen, ob und inwiefern die religiösen Äquivalente und Funktionen der Popkultur (die ja in der Tat für Orientie‐ rung, Betroffenheit und die Bearbeitung von Lebensfragen sorgen können) für die Menschen tatsächlich eine religiöse Wirkung haben, oder ob man hier nur von einer Vergleichbarkeit sprechen kann. Diese ist allerdings oft verblüffend. Es lassen sich drei religiöse Dimensionen unterscheiden. Religiöse Sen‐ dungen (Gottesdienstübertragung, Wort zum Sonntag usw.) sind explizit religiös. Religiöse Zitate, Elemente, Symbole, Mythen oder die Übernahme von mythischen bzw. religiösen Erzählstrukturen (der Sieg der Gerechtigkeit im Krimi oder bei James Bond; Erlösergestalten wie Superman; der Mythos der Geborgenheit in der Arche in „Titanic“; Rituale im „König der Löwen“ usw.) lassen sich als religiöse oder religions-ähnliche Elemente und Strukturen verstehen, die nicht mehr im Kontext der überlieferten Religion stehen. Religiöse Äquivalente schließlich, vor allem die (quasi-)religiösen Funktio‐ nen (die Strukturierung des Tages durch das Fernsehen, Identifikationen, Orientierungen, Problembewältigungen, ferner der Kino-Gang als Ritual usw.) stellen einen weiteren, nur durch Analogiebildung (oder durch eigene Betroffenheit) als religiös qualifizierbaren Bereich dar. Die RP muss das Eigenrecht der Popkultur wahren und sich vor einer Vereinnahmung für eigene Zwecke hüten (Popkultur ist kein modischer „Aufhänger“ im RU! ), aber auch vor der Konstruktion von leeren und nichtssagenden Analogien. Dieser Gefahr lässt sich nicht durch den Verzicht auf die Zuschreibung „religiös“ entkommen, sondern nur durch deren explizite Handhabung. Medien Die Veränderung der Religion lässt sich auch anhand der Medien beschrei‐ ben, die heute allgegenwärtig sind. Das gilt vor allem für Fernsehen, Film, Computer (Internet) und die Smartphonekommunikation. Medien sind eigentlich Kommunikationsträger; sie formen aber die Kommunikation und darüber hinaus den Umgang mit der Welt massiv („The medium is the message“: Marshal McLuhan). Deutsche Jugendliche verbringen durch‐ schnittlich über vier Std. täglich vor Bildschirmen - mehr Zeit also als in der 333 4 Religion in Popkultur und Medien <?page no="334"?> Schule! Die stetige Beschleunigung der Schnittfrequenzen in Video-Clips und Computerspielen (bei Werbespots durchschnittlich alle 1,7 Sekunden) führt zu einer Veränderung der Wahrnehmung. Medien fördern das Sensa‐ tionelle, Grelle, Auffällige und schaffen eine eigene künstliche Wahrneh‐ mungswelt, die eine drastische Erhöhung der Reiz-Schwelle mit sich führt: Nicht mehr das Leben an sich, der Alltag, ein Mensch ist interessant, sondern nur, was sich interessant macht und entsprechend postet. Der massive Rückgang des Lesens (Romane, Erzählungen, Gedichte, und Wissenschaft zusammen machen heute nur noch 20 % des gesamten Buchmarktes aus) bedingt ein Nachlassen der Phantasie (→ 13.4), des Sprachgefühls, der Kommunikationsfähigkeit und des eigenständigen Denkens. Die Medien lassen die Welt aus zweiter Hand erleben, oft aus dritter, wenn mit „likes“ erst noch darüber abgestimmt wird, was als wichtig gilt. Sie isolieren die Nutzer faktisch von Außenbezügen und betreiben einen Abbau von menschlichen Beziehungen. Die klassischen massenmedialen Funktionen Information, Bildung und Unterhaltung (die die übrigen Fakto‐ ren längst dominiert), sind inzwischen durch die Funktion der Orientierung ergänzt worden: Sichtweisen, Stile, Vorbilder und Identifikationen ergeben sich durch Internetkommunikationen. Medien bringen auf Distanz - obwohl sie Unmittelbarkeit suggerieren. Für die Religion stellen die elektronischen Medien eine dramatische Veränderung dar. Nach der Verschriftung und dem Buch (Das Christentum ist eine Buchreligion; das zeigen die Bibel und z. B. die Rolle des Buchdrucks für die Reformation) tritt das „Wort“ in die Welt der bunten und schnellen Bilder ein, in der es sich offensichtlich nur schwer behaupten und überhaupt zu erkennen geben kann. Anzunehmen ist, dass die neuen Medien einen eigenständigen, oft an die populäre Kultur gebundenen religiösen Artikula‐ tionsbereich darstellen. Sie gehen mit religiösen Strukturen, Symbolen und Mythen inszenatorisch geschickt und ungeniert bedürfnisorientiert, darum erfolgreich um. Die Religion der Medien ist nicht (mehr) die christliche Religion. Sie hat eine andere Intention und unterliegt oft auch der Ironisierung, tritt manchmal gar als Persiflage auf (so z. B. die Filme „Das Leben des Brian“ oder „Dogma“). Religiöse oder religionsanaloge Gehalte bleiben in aller Regel im‐ manent, d. h. ohne Bezug zu Gott, und an simple Schemen gebunden, die der Komplexität, dem Wissen und dem Erfahrungsreichtum der überlieferten Religion kaum gerecht werden. Medienreligion ist prinzipiell unabhängig 334 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="335"?> von der etablierten Religion und stellt darum eher eine unterschwellige Konkurrenz zu ihr dar. Mediennutzung ist ein Ausdruck der modernen Autonomie. Freie Aus‐ wahl, spielerische Zugänge und die eigenständige Bestimmung über das, was betreffen soll, führen zu ästhetischen Präferenzen: Nur was schön, spannend, dramatisch und gut inszeniert ist, interessiert. Die Erlebnisorien‐ tierung schlägt in den Medien voll durch. Die Fiktionalität der in aller Regel künstlichen medialen Inszenierungen ist heute nicht mehr Problem, sondern Lustgewinn. Wahr ist, was betrifft. Atmosphären und Bilder sind wichtiger als Inhalte. Filme, die mehrere Wirklichkeitsschichten nebeneinander stellen, sind besonders beliebt („Jesus von Montreal“, „Truman Show“, „Matrix“, „Lola rennt“, „Bin ich schön“ usw.). Dabei stehen die großartig inszenierten Bilder einer zunehmenden Entzauberung und Abnutzung gegenüber, die auf ihre Weise eine Erhöhung der Reiz- und Wahrnehmungsschwelle zur Folge hat. Folgen für die Auffassung der christlichen Religion und Teilnahme an ihr sind offensichtlich. Das Christentum kann mit der Opulenz von Filmbildern nicht konkurrieren. Die nur noch kurzfristige Aufmerksamkeit steht im Gegensatz zum konzentrierten religiösen Erleben. Der nahezu vollständige Abbruch des Kulturbezugs (klassische Romane, biblische Szenen, geistesge‐ schichtliche Ideen sind inzwischen nahezu unbekannt) macht den Bezug zu einer in Traditionen sich ausdrückenden Religion vollends prekär. Schließ‐ lich ist das Wahrheitsempfinden erheblich verändert: Nicht Inhalte, sondern deren Ästhetik und Beurteilung durch die Empfänger sind bestimmend. Dabei entscheiden eigene Vorlieben, nicht mehr das Empfinden von Würde und gegebener Bedeutung. 5 „Konfessionslosigkeit“: Religionsdistanz „Wenn Religion sich verändert, kann religiöse Bildung nicht bleiben, wie sie ist.“ (Käbisch/ Simojoki in Heller 2018, 271) Die massiven Veränderungen der Lebenswelt durch Pluralisierung, Säkula‐ risierungen, populäre Kultur und Medien verändern die Auffassung der Religion und die Rolle des Christentums im gegenwärtigen Leben erheblich und stellen damit schwerwiegende Fragen an die RP. Pluralität und Autono‐ mie sind Bedingungen und Äquivalente von Freiheit, darum zunächst vor‐ behaltlos als Gegebenheiten zu akzeptieren. Die Frage muss also sein, wie sie 335 5 „Konfessionslosigkeit“: Religionsdistanz <?page no="336"?> als Chance für ein neues religionspädagogisches Verstehen genutzt werden können. Christliche Inhalte und Traditionen müssen unter gegenwärtigen Bedingungen keineswegs aufgegeben werden - allerdings stellt sich die Frage nach ihrer plausiblen Präsentation, also nach ihrer Kommunikation unter den Bedingungen der Gegenwart, mit ungewohnter Schärfe. Die Anzahl der religiös nicht gebundenen Mitbürger ist inzwischen grö‐ ßer als die der jeweiligen Kirchenmitglieder der beiden großen Konfessio‐ nen. Dennoch wird die christliche Religion faktisch, wenn auch methodisch modifiziert, nach wie vor in aller Regel als Traditionsbestand weitergegeben. Eine entsprechende Autoritätsleitung, konkret eine familiäre Religionser‐ ziehung, ist heute kaum noch vorhanden. Dass christliche Kernbegriffe wie Dogma, Predigt, Offenbarung, Glaube und Kirche inzwischen negativ assoziiert werden, hat zu keiner erkennbaren grundsätzlichen Besinnung auf das Christliche als einer Religion geführt. Das Christentum ist nicht mehr allgemein plausibel oder gar verbindlich. Der praktische Theologe Ernst Lange hatte vom religiösen „Bildungs‐ dilemma“ gesprochen: Kirche fördert Bildungsbemühungen, gerade die Gebildeten aber kehren der Kirche den Rücken. Das Phänomen hat für die RP eine grundsätzliche Bedeutung. Wenn religiöses Lernen nicht mehr als autoritäre Einweisung verstanden werden kann, sondern die Autonomie des modernen Menschen ernst nehmen muss, dann wird sie sich als Angebot seiner Bildung verstehen und plausibel machen müssen, nicht mehr als kirchliche Einweisung. Man muss sich klar machen, dass die Religion früher das Bildungsmedium schlechthin war: lesen und schreiben lernte man anhand der Bibel und des Katechismus. In der Neuzeit sind Religion und Bildung auseinander gefallen. Für die RP, ebenso wie für Kirche und Theologie, geht aber kein Weg an der Umstellung des religiösen Selbstbezugs auf Lebensbezug, und das heißt: an Bildung vorbei (→ 17). Inzwischen ist in der RP von einer Tradierungskrise oder sogar einem Tradierungsabbruch die Rede. Darum werden die Fragen nach dem indi‐ viduellen Interesse an Religion, der Entstehung von Religiosität (→ 4, 13), dem individuellen Aufbau von Religion, von religiösen Akzeptanzen, Identifikationen und Positionierungen (→ 18.4) zentral bedeutsam. Diese Fragen sind aber bis heute nahezu unbearbeitet geblieben. Lässt sich das als ein verstecktes Desinteresse der RP an den Subjekten auffassen, obwohl die Subjekte da doch zunehmend in den Blickpunkt rücken? Die RP muss die Generierungs-Muster individueller Religionsstile kennen. Sie muss auf die religiöse Suche und die menschlichen Orientierungsbedürfnisse im Kontext 336 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="337"?> allgemeiner Bedürfnisse eingehen. Wenn sie ihre Arbeit einsichtig machen will, kommt sie an hier einem soliden (religions-)psychologischen Wissen und Gespür nicht mehr vorbei (→ 18.1). Bildungsdilemma und Tradierungsabbruch lassen sich als Dilemma tra‐ ditionellen, eines am Lehr- und Bekenntnisglauben orientierten und ratio‐ nalen Zugangs zur Religion verstehen, der zwar nicht ersetzbar ist, der aber die oft faszinierende Eigenlogik und Lebendigkeit der Religion als eines subjektiven Erlebens übersieht und so ihre Lebens- und Bildungsbedeutsam‐ keit nur sehr eingeschränkt zu Gesicht bekommt (→ 2.2, 17). Inzwischen ist in der RP von „Konfessionslosigkeit“ die Rede. Ein prekärer Begriff, der symptomatisch für die nach wie vor verbreitete christliche Innensicht auf Religion ist. Offensichtlich lässt aber die Zugehörigkeit zu einer Konfession, also eine evangelische oder katholische Kirchenmitglied‐ schaft, keinerlei Rückschluss mehr zu über die religiöse Einstellung einer Person. Viele treten aus der Kirche gerade deshalb aus, weil sie da für ihre Religiosität oder ihre spirituelle Suche keine passende Heimat finden, und wenden sich z. B. dem Buddhismus zu. Die meisten Menschen wissen gar nicht mehr, worin sich die Konfessionen überhaupt unterscheiden. In der RP gilt der Begriff denn auch als ungenau, weil er Menschen mit Kirchendistanz und religiösem Interesse ebenso unter sich versammelt wie Agnostiker und Atheisten; verwendet wird er angeblich mangels eines Besseren. Dasselbe gilt für den Begriff „agnostische Spiritualität“ (Monika Wohl‐ rab-Sahr), der eine offene, nicht mehr christliche gefüllte religiöse Haltung bezeichnet; auch er denkt viel zu sehr aus christlich-interner Sicht heraus und wird dem Selbstverständnis der Menschen nicht wirklich gerecht. Dasselbe gilt dem „Grundlagentext“ der EKD „Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit“, der an zentralen Stellen für eine Eingliederung in die Kirche votiert und damit regelrecht missionarisch denkt. Das wird nur kirchliche Insider ansprechen - und auch die oft nicht mehr. Weit besser und klärender wäre es, (so wie z. B. Bernd Schröder) statt von „Konfessionslosigkeit“ von Religionsdistanz zu sprechen, schon deshalb, weil der Begriff weniger als alle anderen eine Bewertung suggeriert. Denn zum einen sind kirchendistanzierte Religionsinteressierte für die RP inter‐ essant und unbedingt ernst zu nehmen; RP kann sich ja nicht mehr als christliche Glaubensweitergabe verstehen, die sich an einen geschlossenen Kreis richten könnte (→ 2.1). Zum anderen zeigt Religionsdistanz sehr unterschiedliche Ausformungen und ist alles andere als homogen: Es gibt naturalistische Einstellungen, Unentschiedene, Agnostiker, Atheisten und 337 5 „Konfessionslosigkeit“: Religionsdistanz <?page no="338"?> alle Differenzierungen dazwischen. Gemeinsam ist ihnen nur eine weitge‐ hende Toleranz; Atheismus als kämpferische Anti-Haltung sehr selten (hier wird der Begriff „religionsfrei“ gebraucht). Die Religionsdistanzierten bilden allerdings längst die Mehrzahl! Distanz zur Religion oder Gleichgültigkeit ihr gegenüber ist zu einer durchgehenden Selbstverständlichkeit geworden. Die weitaus meisten Religionsdistanzier‐ ten halten sich nicht für nicht-konfessionsgebunden, sondern schlicht für normal. Ihre Selbsteinschätzung ist in der Regel: „ich brauche das nicht“; sie sehen sich auch dann, wenn sie religiös auf der Suche sind, als religiös nicht gebunden. Der entscheidende Punkt, der religionspädagogisch zur Debatte steht, ist: es bestehen für Religion keine allgemein geteilten Plausibilitätsvoraus‐ setzungen mehr. Dennoch wird nach wie vor viel zu selbstverständlich in der RP von einer vorhandenen Religiosität oder einem religiösen Interesse ausgegangen, die es so fast durchgehend kaum noch gibt. Dabei ist auch in anderen Szenerien des Lernens gar nicht vorauszusetzen, dass die Lernenden solche Voraussetzungen mitbringen: Im Kunstunterricht der Schule sitzen nicht nur künstlerisch begabte Schüler; ähnlich im Sport usw. Die RP hat für diesen fundamental wichtigen Zusammenhang inzwi‐ schen endlich Aufmerksamkeit entwickelt. Allerdings sind, abgesehen von Problembeschreibungen und Forderungen, wirklich plausible praktische Folgerungen noch nirgendwo erkennbar. Die RP muss sich grundsätzlichen Fragen zum Phänomen Religion zuwenden. Sie muss ersichtlich endlich den Bedingungen und Möglichkeiten persönlicher religiöser Sinnkonstruk‐ tionen und Selbstverantwortung zuarbeiten. Zusammenfassung Im 20. Jh. hat sich die Welt stärker verändert als in vielen Jahrhunder‐ ten zuvor. Vorgegebene Ordnungen, feste Strukturen und allgemeine Verbindlichkeiten sind einer kaum noch überschaubaren Pluralität von Möglichkeiten gewichen, die dem Einzelnen zur freien Verfügung stehen. Die Lebenswelt ist weitgehend säkularisiert. Gestaltete und institutions‐ gebundene Religion verblasst immer mehr. Das Christentum ist nicht mehr kulturprägend und erlebt einen Tradierungsabbruch. Gleichzeitig tauchen religiöse Elemente und Äquivalente in der populären Kultur und in den Medien auf, allerdings tendenziell in Form einer nur schwer kommunizierbaren Suche und Sehnsuchtshaltung. Religionsdistanz wird zur Normalität. Sie stellt die RP vor sehr grundsätzliche Fragen. 338 14 Säkularisierung - Religion in der modernen Welt <?page no="339"?> Literatur Zu 1: U. Beck 1986 - W. Welsch 1986 (bes. Einleitung und Kap. VII) - G. Schulze 1992 (bes. Kap. 1 und 6) - H. Rosa 2016 - Domsgen 2019, 3.2.2. Zu 2: N. Mette 2006, 13-42 - C. Taylor 2009 - J. Stolz u. a. 2014 - D. Käbisch/ H. Si‐ mojoki 2018. Zu 3: H.-J. Höhn 1998 - K.P. Jörns 1997 - J.S. Spong 2004 - M. Kroeger 1997 und 2005 - J. Kunstmann 2010 - J. Stolz u. a. 2014. Zu 4: NHRPG II.3.8 - K. Fechtner u. a. 2005 - H. Schroeter-Wittke 2009 - J. Kunst‐ mann/ I. Reuter 2009 - H.-M. Gutmann 2000 - I. Reuter 2020. Zu 5.: W. Gräb 2013 - D. Käbisch 2014 - M. Rose/ M. Wermke 2014 - M. Domsgen 2005, 2013 und 2018 - G. Rosenow 2016 - R. Englert 2014 ( JRP 30) und 2018. 339 Literatur <?page no="340"?> 15 Individualisierung der Religion „Von pädagogischer Seite ist vielfach kritisiert worden, daß das Kind in der theologischen Lehre vom Menschen so gut wie nicht vorkomme (A. Flitner 1958) bzw. in der evangelischen Pädagogik verleugnet werde (W. Loch 1964). Das gilt keineswegs nur für das Kind, sondern für den Menschen in seiner jeweiligen Situation überhaupt.“ (Fraas 2 1993, 11) „Wir müssen lernen, die Menschen weniger auf das, was sie tun und unterlassen, als auf das, was sie erleiden, anzusehen.“ (Bonhoeffer 1951, 17) Dietrich Bonhoeffer gibt vor der Zeit eine Antwort auf die harsche Kritik von Hans-Jürgen Fraas. Er hat mit der für sein spätes Denken typischen, skizzen‐ haften Bemerkung die Theologie in eine neue, den modernen Verhältnissen angemessenere Richtung gelenkt. Die Theologie hatte vom Menschen bisher wenig Gutes zu sagen gewusst; sie beschrieb ihn als Geschöpf Gottes, das fern von seiner Bestimmung lebt und nur im gnadenhaften Geschenk des Glaubens das Heil finden kann. Prinzipiell ist der Mensch Sünder, stolz und aufrührerisch gegen Gott, und verfällt darum dem Richterspruch Gottes. Hier wird ein „kindliches“ Abhängigkeitsverhältnis unterstellt, das dem Autonomie-Bewusstsein des modernen Menschen als überholt erscheinen muss. Vor allem aber vermag es die Not nicht mehr zu sehen und zu hei‐ len, die eben diese Autonomie bedeutet: Selbstbewusstsein und Ich-Stärke müssen oft mühsam erkämpft und durchgehalten werden. Autonomie ist eine Notwendigkeit geworden; oft aber führt sie in die Einsamkeit. Und sie verlangt ein Maß an psychischer Energie, das viele überfordert und in die Depression führt. Sie kann darum theologisch keineswegs mehr angemessen als Stolz und Überheblichkeit gegen Gott verstanden werden. Finden Selbstbewusstsein und Lebensgefühl des modernen Menschen in der RP eine angemessene Einschätzung? <?page no="341"?> 1 Individualisierung und Subjektsein heute Individualisierung „Der (unendliche) Regreß der Fragen: ‚Bin ich wirklich glücklich? ‘, ‚Bin ich wirklich selbsterfüllt? ‘, ‚Wer ist das eigentlich, der hier ich sagt und fragt? ‘, führt in immer neue Antwort-Moden, die in vielfältiger Weise in Märkte für Experten, Industrien und Religionsbewegungen umgemünzt werden. In der Suche nach Selbsterfüllung reisen die Menschen nach Tourismuskatalog in alle Winkel der Erde. Sie zerbrechen die besten Ehen und gehen in rascher Folge immer neue Bindungen ein. Sie lassen sich umschulen. Sie fasten. Sie joggen. Sie wechseln von einer Therapiegruppe zur anderen. Besessen von dem Ziel der Selbstverwirklichung reißen sie sich selbst aus der Erde heraus, um nachzusehen, ob ihre Wurzeln auch wirklich gesund sind.“ (Beck 1986, 156) Ulrich Beck hat die Individualisierung erstmals umfassend beschrieben. Er deutet sie als „Rückseite“ der gesellschaftlichen Differenzierung und Plura‐ lisierung (→ 14.1), die mit ihren unzähligen Optionen und Möglichkeiten in allen Bereichen des Lebens eine weitgehend unabhängige, flexible und anpassungsfähige Persönlichkeit fordern. Individualisierung bedeutet: der Mensch wird zum unabhängigen und selbstbestimmten Planungsbüro seiner Umstände und seines Lebens, zur „Ich-AG“ und zum „unternehmerischen Selbst“ (Ulrich Bröckling). Nicht mehr irgendwelche Vorgaben stehen im Zentrum der Lebensorientierung, sondern individuelle Bedürfnisse. Diese aber lassen sich nie vollständig und auf Dauer befriedigen. Individualisierung folgt zunächst den Freisetzungs-Schüben (→ 14.1) der Neuzeit. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich ein „gesellschaft‐ licher Individualisierungsschub von bislang unerkannter Reichweite und Dynamik vollzogen“ (ebd. 116). Eine Verstärkung dieses Trends bedeutete die 68er-Bewegung. Die sog. Hippies hatten in den 1960er Jahren in den USA scharfen Protest gegen den sinnlosen Vietnamkrieg und die fassadenhafte Bürgerlichkeit eingelegt. Erstmals gab es eine Generation von „Aussteigern“. Die „Blumenkinder“ trugen provozierende Tücher und Frisuren, gammelten durch Parks, konsumierten Rauschgift und praktizierten freie Sexualität. In Deutschland zündete der Protestfunke als Revolte der Studenten, die gegen die steife, ordnungs-, macht- und traditionsorientierte deutsche Bür‐ gerlichkeit vorging. Scharfe Diskussionen und Proteste, die Gründung von Kommunen mit gemeinsamem Eigentum und freier Sexualität führten zu 341 1 Individualisierung und Subjektsein heute <?page no="342"?> einer radikal neuen Lebensauffassung, einer gesellschaftskritischen Einstel‐ lung und zur öffentlich verbreiteten Idee der persönlichen Verantwortung. Von einer gegenläufigen Seite her wurde die Individualisierung später durch das Aufblühen der kapitalistischen Wirtschaft und des Konsum‐ markts, einschließlich der Medien gefördert. Die kapitalistische Optionen‐ landschaft braucht die freie, durch nichts behinderte Wahlmöglichkeit; Tra‐ ditionsorientierung und Bindungen aller Art können die freie, individuell verschiedene und spontane Befriedigung von Bedürfnissen durch Konsum nur einschränken. Das „Neue“ gilt grundsätzlich als das Bessere. Aus Wahlentscheidungen entstehen individuelle Auswahl- und Konsum-Stile. Auch die differenzierten gesellschaftlichen Teilsysteme mit ihrer funk‐ tionalen Logik (plurale Zuständigkeitsbereiche mit entsprechenden Dienst‐ leistern, Spezialisten und Experten, → 14.1) spiegeln sich in den Individuen ab. Oft bestehen funktional ausgerichtete und unverrechenbare „Sinnpro‐ vinzen“ in ein und demselben Individuum neben anderen. Manager mit Fahrrad und Kleinbürger mit Sportwagen, Doppelleben und Rollenwechsel, „fragmentierte Identitäten“, private Kulte und neue Religionsstile werden immer alltäglicher. Eine „feste“ Persönlichkeit, früher das Inbild von vor‐ bildlicher Verlässlichkeit, gilt heute als Unding, fast schon als lächerlich; der individualisierte Mensch hat eine „Patchwork-Identität“ (Heiner Keupp); er ist flexibel, dynamisch, aktiv, anpassungsbereit, jung und auf jeden Fall etwas Besonderes: man strebt danach, eine „Singularität“ darzustellen (Andreas Reckwitz). Das Leben war lange durch Unfreiheit und Ohnmacht, aber auch durch selbstverständliche Fügung, fraglose Geborgenheit und Gewissheit bestimmt. Lebenswichtige Entscheidungen wurden weitgehend von Tradi‐ tion und Sitte bestimmt, Unglück und Schicksal wurden als Gottes Wille verstanden und angenommen. Wo früher die Menschen „hineingeboren“ wurden in Lebensumstände, die sich meist ein Leben lang nicht wesentlich veränderten, da werden sie heute zu bewussten Konstrukteuren ihrer Umgebung, ihrer Bindungen und ihrer Biographie. Die zunehmende Auflösung der alten Milieus, die die Individualisierung möglich gemacht hat, bedeutet gleichzeitig einen Verlust stabiler Zugehö‐ rigkeiten. Beruf, Partner, Familie, Lebensort und -umstände können nicht nur, sondern müssen jetzt gesucht, ausgehandelt und gestaltet werden. Das bedingt nicht nur einen oft erheblichen Aufwand an Lebensenergie und Selbstreflexion, wie das Eingangszitat pointiert beschreibt, sondern führt vor allem die Gefahr des Scheiterns mit sich. Individualisierung bedeutet 342 15 Individualisierung der Religion <?page no="343"?> die Wende „vom Schicksal zur Wahl“ (Andreas Feige). Wenn das Leben zum selbst verantworteten Projekt wird, ist jeder allein auch für die eigene Not zuständig und tendenziell allein. Zum individualisierten Lebensgefühl „Die Gruppe der mißmutig Erfüllten wächst. Ihr Problem sind sie selbst, die Abnahme ihrer Faszinierbarkeit geht einher mit der Steigerung des Reizangebots. Wie Süchtige greifen sie nach immer mehr und haben immer weniger davon. Im Moment der Wunscherfüllung entsteht bereits die Frage, was denn als nächstes kommen soll.“ (Höhn 1998, 64) Wir dürfen alles, wissen aber oft nicht mehr, was wir wollen sollen. Der Ver‐ lust jeglicher Vorgaben und Hilfestellungen durch stabile Beziehungen kann durch Konsumangebote, boomende Beratungsdienste und Therapieszene nicht wirklich ausgeglichen werden. Wenn selbst Partnerschaften nicht mehr durch Eltern oder gesellschaftliche Standards vorgegeben, sondern Sache der Auswahl und bestimmter Stimmigkeits-Kriterien werden, ist das Leiden an Verunsicherung vorprogrammiert. Die Akkumulation immer raf‐ finierterer Reize, die Tempoerhöhung durch die modernen Verkehrsmittel, der Verlust der Primärerfahrung durch die Medien, die starke Verschiebung des Zeit- und Entfernungsbewusstseins durch die prinzipielle Erreichbarkeit aller Orte der Welt, lassen der Entfaltung freien Raum, führen aber auch ein Grundgefühl von Austauschbarkeit, Relativität und Bedeutungslosigkeit mit sich. Individualisierung bedeutet die Möglichkeit intensiver Erlebnisse und freier Entfaltung, aber auch einen hohen Aufwand an Selbstreflexion (wie fühle ich mich eigentlich? Bin ich motiviert? Bin ich schön? usw.), der zum fruchtlosen Grübeln und zu einem Kontrollzwang über das eigene Auftreten werden kann und entsprechende Unsicherheiten bedingt. Die freie Selbstgestaltung des eigenen Lebens ist nicht nur Möglichkeit, sondern auch mühsame Arbeit. Alles, was irgend von Bedeutung ist, muss selbst gewählt, gestaltet, aufgesucht werden; das aber heißt zugleich, dass nichts, was wichtig und wesentlich ist, einfach „da“ ist, vorzufinden und sicher erreichbar. Ungebundene Freiheit bedingt heute immer mehr ein Gefühl der Heimatlosigkeit (nicht zu wissen, „wo man hingehört“), der Unbestimmtheit und der Leere. Dass auch der Lebenssinn nicht mehr vorgegeben, sondern 343 1 Individualisierung und Subjektsein heute <?page no="344"?> Sache der eigenen Verantwortung ist, bedeutet für viele eine programmierte Überforderung. Zu diesen Verunsicherungen gesellt sich ein Ohnmachtsgefühl, das sich aus der Erfahrung der Überkomplexität einer nicht mehr zu begreifenden und zu steuernden Welt ergibt. Die Selbstläufigkeiten kaum noch versteh- und korrigierbarer „Systemrationalitäten“, technischer und wissenschaftli‐ cher Prozesse (Atomtechnik, Gentechnik, Globalisierung, verstärkter Druck auf dem Arbeitsmarkt, Umweltzerstörungen usw.) bedingen ein Gefühl po‐ litischer und persönlicher Ohnmacht. Politik, Wissenschaft und Ökonomie sind längst undurchschaubare Expertenarbeit, ihre Zuarbeit zur Konsumin‐ dustrie scheint alternativlos, nicht mehr steuerbar und jedem persönlichen Einfluss entzogen. Zunehmender Leistungsdruck und die Situation auf dem Arbeitsmarkt verstärken die Ohnmachtsgefühle. Wozu sich eigentlich noch anstrengen? Das Ideal der individuellen Selbstverwirklichung ist außerdem ein Herd für Konflikte; wenn für jeden das eigene Interesse im Zentrum steht, werden die Mitmenschen tendenziell zu Störern und Konkurrenten. Ulrich Beck hat eindrucksvoll gezeigt (1986), dass diese Verunsicherungen und Risiken die Zurechnung sozial und politisch bedingter Lasten auf die einzelnen Individuen sind. So wird die sozial bedingte Arbeitslosigkeit heute als persönliches Versagen erlebt, ebenso jedes Scheitern, Einsamkeit usw. Verbreitet ist darum der Rückzug in den privaten Winkel (Cocooning) und die „Echokammern“ der selbstgestalteten Medienrealität, vor allem aber ein Grundgefühl von Freudlosigkeit. Depressivität bedeutet einen Verlust des Gefühls: Die Psyche schützt sich vor Überstimulation durch emotionalen Rückzug. Verstärkt wird diese Gefühlsreduktion durch das „kühle“, berechnende funktionale Denken (Was nützt das? Was bringt das? ). Von der Krankheit bis zum Unfall kann alles „abgegeben“ werden an schnelle Knopfdrücke, Tabletten und juristische, medizinische, psychologische und andere Experten. Emotionen „erübrigen“ sich immer mehr; sie stören den funktionalen Ablauf des modernen Lebens. Auch die starke Erhöhung der Reizschwelle durch die enorme Zunahme der Reizverarbeitung (Medien, Verkehr usw.) wirkt emotions-dämpfend. Soweit Emotionen vorhanden sind, werden sie tendenziell bereits versteckt; sie widersprechen dem Ideal der individualisierten Selbstmächtigkeit und Durchsetzungsfähigkeit. „Cool“ sein ist darum Mode (→ 4.3); kühle Fassaden bedeuten auch Schutz vor Verletzlichkeit. Manche Models und Pop-Ikonen sind ein symbolischer Ausdruck für diese Entwicklung. Sie sind äußerlich schön und begehrens‐ wert, bekanntlich aber oft depressiv, angespannt, mager- und drogensüchtig. 344 15 Individualisierung der Religion <?page no="345"?> Die Theologie hat, ebenso wie die Pädagogik, lange Zeit den Tenor der Aufklärung nachgesprochen: Freiheit galt ihr als höchstes Ziel. Das ist richtig - heute wird aber immer deutlicher sichtbar, dass wir an einem Übermaß an Freiheit zu leiden begonnen haben. Die Suche nach echter Identität, nach tragender Beziehung und Bindung, nach Vergewisserung, Beheimatung und Resonanz, also nach wirklicher Erfüllung, hat längst rastlose Züge angenommen. Die Religion bekommt an dieser Stelle eine höchst wichtige Bedeutung. In Theologie und Kirche wird aber bisher noch kaum gesehen, dass (christlich-)religiöse Gehalte auf diese Situation einzustellen sind. 2 Individualisierte Religion Die Wendung vom Schicksal zur Wahl, von der Außenzur Innenorien‐ tierung, kann als Grundkennzeichen der Individualisierung gelten. Sie hat gravierende Folgen für die religiöse Einstellung. Möglichst große Freiheiten und möglichst wenige Vorgaben führen zu einer maximalen Aufmerksamkeit auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse. Unterstützt wird die Innenorientierung durch den Imperativ des Konsummarktes: „Du sollst begehren! “, der für die Weckung immer neuer Bedürfnisse sorgt. Das Begehren kann sich verselbständigen und wird dann zur Melancholie, zur dauernden Unzufriedenheit oder zur Sucht. Innenorientierung Innenorientierung bedeutet den Abschied von Autorität, damit von Schuld‐ gefühlen. Autorität und Macht waren früher der selbstverständliche Aus‐ druck des sozialen Ordnungsgefüges; sie haben auch das Verständnis der christlichen Religion geleitet. Im Mittelalter zeigen das die verbreiteten Vorstellungen vom Jüngsten Gericht, Buße, Fegefeuer und Höllenstrafen, die um das Grundgefühl einer menschlichen Schuld vor Gott kreisen. Auch die Reformation hat mit ihrer befreienden Rechtfertigungs-Lehre juristische Terminologie verwendet (Gerecht-Sprechung durch Gott). Heute dagegen weicht das Gefühl von Schuld und belastetem Gewissen immer mehr dem Ideal der eigenen Durchsetzungsfähigkeit. Schuld wird durch Scham ersetzt, das Gefühl, zu versagen, sich nicht durchsetzen zu können, nicht anerkannt, nichts wert zu sein. 345 2 Individualisierte Religion <?page no="346"?> Auch die ethische Einstellung ist durch neue Werte bestimmt, die sich von Pflichtwerten zu Selbstverwirklichungswerten gewandelt haben. Frühere Allgemeinverbindlichkeiten wie Pflicht, Treue, Disziplin, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Regelbeachtung, Höflichkeit sind im Rückzug. Die heute gelebten Werte sind Ich-orientiert: Authentizität, Dynamik, Durchsetzungs‐ fähigkeit, Flexibilität, Erfolg, Spaß, Intensität. Individualisierte Werte bedeu‐ ten ein höheres Maß an Selbst-Erfüllung und eine geringere Verlässlichkeit für andere; Treue und Verlässlichkeit werden gesucht und eingefordert - oft aber nicht selbst garantiert. Der Ehrliche ist dann der Dumme. Auch bei klarem Selbstverschulden haben immer mehr Menschen keine Schuldgefühle mehr, sondern die Einstellung: „Ich muss mich doch wehren“. Selbst-Stilisierungen werden zunehmend wichtig: Mode, Stilbewusstsein, luxuriöses Ambiente, Körperkult durch Sport, Fitness, Wellness, Schönheits‐ operationen usw. werden, trotz ihrer uniformen Vorgabe durch den Markt, als persönliche Markenzeichen erlebt, die Unterscheidung signalisieren sollen. Oberster Wert ist Erlebnisintensität: intensiv muss das Leben sein, egal fast, wodurch. Bevorzugt werden Reize, die individuell steuerbar und schnell abrufbar sind: Autos, Fernreisen, Extremsportarten, Fitnessstudios, Bungee-Sprünge. Gleichzeitig zeigen sich auch neue soziale Werte wie Au‐ thentizitäts-Bewusstsein, wachsende Sensibilität für die Umwelt, Ökumene usw. Die Innenorientierung bringt neue Nöte und Schwierigkeiten mit sich. Die Bezeichnung „Egoismus“ oder gar „Sünde“ ist darum nicht angemessen. Entscheidungsanforderungen können eine „Optionenparalyse“ bedeuten - man weiß dann nicht mehr, was man überhaupt wollen soll. Erlebnisrationa‐ lität ist auf Bedürfnisse gerichtet; Bedürfnisse aber lassen sich nie auf Dauer befriedigen. Statistiken belegen, dass das Lebensgefühl selbst von Lottoge‐ winnern sich nach wenigen Monaten wieder dem bisherigen Normalwert annähert. Faktisch wird der Erlebnishunger inzwischen weitgehend durch Handykommunikation und Internet befriedigt, findet da aber auch immer neue Angebote und Möglichkeiten. Die Steigerung der Reize bringt auto‐ matisch immer neue Bedürfnisse mit sich, was zu einer gesteigerten Suche und einer weiteren Erhöhung der Reizschwelle führt, darum zu Unrast und innerer Anspannung. Folge ist eine allmähliche Entwertung aller Reize und von Befriedigung überhaupt, die ein Gefühl der Leere hinterlässt. „Alles ist möglich“, zugleich aber ist nichts mehr etwas Besonderes, unersetzbar oder wirklich wichtig. 346 15 Individualisierung der Religion <?page no="347"?> Der materielle Reichtum unserer Zivilisation hat zu einer Kultur des psy‐ chischen Mangels geführt. Menschen sehnen sich nach Resonanz, konkret: nach Anerkennung, Zärtlichkeit, Liebe, Nähe, Heimat und Verlässlichkeit, sozusagen nach der psychischen Grundversorgung, gehen deren Bedingun‐ gen aber faktisch immer mehr aus dem Weg. Stressforscher wissen ebenso wie Lebenserfahrene: „Bindungen an andere sind einer der wenigen äußeren Faktoren, die unter praktisch allen Umständen die Lebenszufriedenheit steigern“ (Klein 2002, 172) - Individuelle Freiheits- und Selbstverwirkli‐ chungswünsche und Konsumbedürfnisse stehen ihnen aber entgegen. Stark zunehmende Essstörungen (Magersucht, Übergewicht) belegen eine unbe‐ wusste Verweigerung gegen diesen Lebensstil; das Ritzen, das sich vor allem unter Jugendlichen schnell verbreitet (→ 4.3), spiegelt eine Suche nach Empfindung, die nur noch im Schmerz gefunden wird. Der Mensch ist in zentralen Bereichen des Lebens ausschließlich sich selbst überlassen. Privatisierte Religiosität „Mit Lissa in der Kirche. Der Zwang, an A. zu denken, ist stärker. Da darf ich in meinen eigenen Worten denken. Die feierliche Amtssprache der Kirche klingt fremd. Kunstgewerbe-Vokabular. Luft aus einem Fön … Mein Leben ist in der Gebetssprache nicht mehr unterzubringen. Ich kann mich nicht mehr so verrenken. Ich habe Gott mit diesen Formeln geerbt, aber jetzt verliere ich ihn durch diese Formeln.“ (Martin Walser 1960, 354) Das traditionelle Christentum wird in Zeiten der Individualisierung als fremd erlebt. Der Bezug zum eigenen Leben wird nicht mehr deutlich; es kommt zum Zweifel am gelernten Glauben, dann zum religiösen Ver‐ stummen. Die Übernahme von Religion durch allgemein gültige religiöse Wissensbestände und Praktiken wird als unpassend erlebt und kommt an ein Ende. Individualisierung der Religion bedeutet, selbst wählen und entscheiden zu müssen. Der Soziologe Peter L. Berger hat das den „Zwang zur Häresie“ (griech hairesis = freie Wahl = Ketzerei) genannt: An der eigenen Wahl und Verantwortung geht auch Religion nicht mehr vorbei, denn unverstandene Vorgaben überzeugen niemanden mehr. Diese religiöse Individualisierung ist der entscheidende Punkt, auf den sich das kirchliche Christentum und die traditionelle Frömmigkeit nicht einstellen wollen (→ 14.3, 16.1-2); hier sind ein bekenntnisgebundener Glaube und die fromme Gemeinschaft (= Gemeinde) nach wie vor das struk‐ 347 2 Individualisierte Religion <?page no="348"?> turierende Ideal, während individualisierte Religionsstile und freie religiöse Auswahl als unernst und minderwertig gelten. Besonders irritierend ist dieses Festhalten an alten Schemen, wenn man sich klar macht, dass das Christentum als die individualisierte Religion schlechthin gelten kann. Jesus hat den Israel-Bund Gottes auf jeden einzelnen Menschen übertragen, und sein Verhalten richtet sich immer an konkreten einzelnen Menschen aus. Die Reformation hat Religion als Sache des Einzelnen verstanden, die nicht veräußerlichbar oder vertretbar ist. Schleiermacher hat Religion als tiefes subjektives Erleben gedeutet, und Ernst Troeltsch hat den Protestantismus die „Religion der Individualität“ genannt. Traditionelle Sprache, Dogmatik, geschlossene Gruppen, vorgeordnete Institutionen und passiv-stumme Teilnahme am Gottesdienst waren früher eine soziale Verbindlichkeit, heute erreichen sie die individualisierten Men‐ schen nicht mehr. Wer heute zum Gottesdienst geht, versucht zu sich selbst zu kommen. Religion gilt als Privatsache; sie ist so intim wie sonst nur die Sexualität und die private Partnerschaft. Es geht um „meine“ Religion. Menschen wählen die religiösen Gehalte und Vorstellungen aus und kombi‐ nieren sie nach persönlicher Stimmigkeit. Mit der Wahlmöglichkeit werden die alten religiösen Inhalte nachhaltig relativiert (→ 16.2). Ähnliche Folgen hat die multireligiöse Präsenz, ferner die Religionslosigkeit (→ 14.5): „Ich glaub nix, mir fehlt nix“. Die wachsende Entfremdung von kulturell gegebenen und eingespielten Kulturformen scheint im religiösen Bereich (d. h. im traditionell christlichen) größer als andernorts zu sein. Der übertrieben-pointierte Ausspruch „Was Gott ist, bestimme ich“ benennt die Situation treffend, zeigt aber auch die Schwierigkeit. Denn der Ausfall an religiöser Anleitung führt zum Wegfall kommunizierbarer Gehalte. Wo keine übernommene und gelernte religiöse Sprache, Symbolik, Ausdrucksfähigkeit und keine religiöse Verhaltenssi‐ cherheit mehr gegeben sind, wird die Religion auch für religiös interessierte Individuen undeutlich und sozial unsichtbar. Und: Religion wird zur Suche, für die es durch die christlichen Kirchen keinerlei Anleitung und Führung mehr gibt, und die nicht mehr kommuniziert wird. Die Privatisierung der Religion, also eine zu Ende gedachte religiöse Individualisierung, führt in die religiöse Sprachlosigkeit. Gleichzeitig mit dem Verblassen der institutionalisierten Religion kommt es zu einer religiösen Aufladung säkularer Lebenseinstellungen und Werte. Erfolg, Leistung, Jungsein, materieller Besitz, Selbstentfaltung usw. erhalten eine quasi-religiöse Bedeutung. Umfragen zu dem, was Schülern „heilig“ ist, 348 15 Individualisierung der Religion <?page no="349"?> ergeben die Rangfolge: allem voran die Familie, dann Freunde, Gegenstände (meist private „Schätze“), Werte, erst an unbedeutender Stelle explizit Religiöses; es folgen freie Zeiten und Orte (vor allem: das eigene Zimmer, das eigene Bett) usw. Als heilig gilt also die eigene Lebensbasis, vorwiegend die Privatsphäre und die „Kuschelecke“ des eigenen Lebens - offensichtlich eine Folge der riskanten, unüberschaubaren, „kalt“ gewordenen Welt draußen. Thesenartig könnte man sagen: (kulturell gegebene) Religion verblasst, (individuelle) Religiosität ist nach wie vor interessant. Die privatisierte reli‐ giöse Erfahrung und Haltung geht praktisch nicht mehr in den objektiven, für andere und spätere bereitgestellten Gestalt-„Fundus“ der Religion ein, sondern bleibt privat verschlossen - woran auch eine komplizierte und lebensferne Theologie Verantwortung trägt. Narzisstische Religiosität Der Begriff Narzissmus ist vom deutsch-amerikanischen Psychoanalytiker Heinz Kohut zu einer faszinierenden und höchst aktuellen Theorie ausge‐ baut worden. Demnach ist das Grundproblem des Menschseins nicht wie Freud annahm die Triebregulierung, sondern die narzisstische Befriedigung, die das „Selbst“, nicht das „Ich“ betrifft. Grundlage für alle Entwicklung ist der Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls durch die Erfahrung des Angeblickt-Seins, von Berührung, Liebe, Anerkennung. Fehlt diese „narziss‐ tische Zufuhr“, kann es zu einer Selbstschwäche (Gefühl der eigenen Wert‐ losigkeit) einerseits und einer schwachen „Objektbeziehung“ andererseits kommen, die sich in Labilität und bleibender Bedürftigkeit ausdrückt und in der Unfähigkeit, zu Dingen und Menschen wertschätzende Beziehungen aufzubauen. Kohut unterscheidet hier das „Grandiose Selbst“, das durch aufgeblähtes Verhalten und Angeberei auffällt und im Extremfall zu Allmachtsphantasien führen kann; und die „Idealisierte Eltern-Imago“, die zur Idealisierung und überzogenen Verehrung von Bezugspersonen neigt und im Extremfall zur blinden Gläubigkeit gegenüber Führern, Stars und Gurus, aber auch zum Verfolgungswahn führen kann. Enttäuschung wird unter diesen Bedingungen zunehmend als persönliche Kränkung erlebt. Die Folge ist Depressivität oder narzisstische Wut, die sich ansammeln und unvorhergesehen explodieren kann. In seiner reifen Form ist der Mensch dagegen fähig zu Selbstachtung und Selbstvertrauen, nach außen hin zur Begeisterung und zur reifen Bewunderung anderer. 349 2 Individualisierte Religion <?page no="350"?> Der Soziologe Thomas Ziehe hat in diesen Mechanismen 1975 erstmals die psychischen Bedingungen für das Heranwachsen der ganzen modernen Zivilisation gesehen und von einer „narzisstischen Sozialisation“ gespro‐ chen. In der Tat führen Konsum, Freiheitsansprüche, Luxussättigung und Individualisierung weniger zu Zufriedenheit als vielmehr zu einer durchge‐ henden Bedürftigkeit der Menschen. Eingesunkene Körperhaltungen und freudlose Gesichter zeigen ein deutlich schwaches Selbstwertgefühl, und die Objektbeziehungen (einschließlich der Partnerschaften) unterliegen immer radikaler der je eigenen Bedürfnisorientierung und werden entsprechend instabil. An die Stelle von Selbstverantwortung, Verantwortungsbereitschaft, Klarheit und Konfliktfähigkeit tritt ein narzisstischer Typus, den Hans-Jür‐ gen Fraas in religiöser Sicht eindrücklich beschrieben hat: Er ist „mutterorientiert, steht im Zeichen eher mangelnder Differenz [d. h. der Einheitssehnsucht], kreist um die Probleme der Geborgenheit bzw. Harmonie, zeigt bei Übersteigerung depressive Züge, neigt religiös zu holistischem [= ganzheitlichem] Denken, zur Mystik. … Größenphantasien werden durch die Verwöhnungstendenz der Eltern genährt. Der narzißtische Typ ist verbunden mit Idealen der antiautoritären Erziehung, nach denen der eigene Wille alle Freiheit erhält (das Allmachtsgefühl festgeschrieben wird), dem Menschen Widersprüche, Herausforderungen, Versagungen ,erspart‘ werden … Dieser Typ steht im Ex‐ tremfall in der Gefahr des Indifferentismus [= Gleichgültigkeit] als der nunmehr vorherrschenden Bekenntnis-Haltung, deren Bekenntnis darin bestünde, kein Bekenntnis zu haben, sondern die Dinge in der Schwebe zu halten. Auf der einen Seite besteht die Gefahr der Intoleranz, auf der anderen die des Absinkens des geistigen Standards auf ein Mittelmaß.“ (Fraas in Schreiner 1999, 56 f.) In der Religion sind narzisstische Motive verbreitet: Pfarramt oder die Weihe zum Priester kann durch narzisstische Bedürfnisse geleitet sein, ebenso der Auftritt von Fernsehpredigern usw.; auf der anderen Seite sind stabili‐ sierende Trostbedürfnisse verbreitet (Marienverehrung, religiöse Pflichten usw.): beides dient der „narzisstischen Zufuhr“ und blockiert eine lebendige Entwicklung. Die narzisstische Diagnose ist erhellend vor allem für die Selbsteinschät‐ zung, das Lebensgefühl und die zeittypischen seelischen Schwierigkeiten der Menschen heute, und damit auch ihrer religiösen Einstellung. Mit der her‐ kömmlichen christlichen Kultur ist sie kaum noch vermittelbar. Aus dieser Perspektive wird noch einmal deutlicher, warum die klassische christliche 350 15 Individualisierung der Religion <?page no="351"?> Religion einer so durchgehenden Ablehnung unterliegt. Umgekehrt zeigt diese Diagnose aber auch, wo Menschen religiös ansprechbar sind: bei der Frage nach dem Selbstwert, nach Scham (Beschämung), nach Liebe. Es sind die existenziellen Erfahrungen und Fragen, die den Weg der RP zum Menschen weisen müssen. 3 Religiöse Relevanz „Ich habe keine Beweise, daß es Gott gibt und alle anderen Menschen auch nicht. Und da gibt es auch noch Hindus, Moslems usw. Kann man denn da behaupten, daß diese Menschen an das Falsche und die Christen an das Richtige glauben? Ich glaube nicht! Meiner Meinung nach ist eine Religion oder ein Gott dazu da, den Menschen durch schwierige Situationen zu helfen. Da hilft nämlich nicht der angebliche ,Gott‘, sondern nur der Glaube an diesen Gott und der Wille. Bis jetzt habe ich noch nicht auf Gott zurückgreifen müssen, weil ich seither gut alleine durchgekommen bin. Aber wie gesagt: Wer Gott braucht, der soll eben! “ (Zit.: Hilger/ Reilly 1993, 222) Diese Aussage eines Jugendlichen zeigt fast alle Kennzeichen des neuen Umgangs mit Religion: Zweifel, das Bewusstsein von der Relativität aller religiösen Gehalte („keine Beweise“, „Hindus und Moslems“, „eine Religion oder ein Gott“), offene Toleranz und ein klar funktionales und nutzenorien‐ tiertes Denken („Religion ist dazu da“, „Wer Gott braucht“). Religion wird als Hilfe zur Bewältigung von Schwierigkeiten eingeschätzt - an einen Eigenwert oder eine bestimmte Würde der Religion wird gar nicht gedacht. Was hilft, ist keine religiöse Wahrheit, sondern die eigene Gläubigkeit, also die eigene Anstrengung. Jeder ist seines Glückes Schmied! Religion ist eine fiktive Vorstellung, deren Wahrheitsgehalt „am Effekt“ gemessen wird. Glaube im klassischen Verständnis dagegen ist Ausdruck persönlicher Schwäche: es glauben Menschen, die mit dem Leben Probleme haben. Ähnlich funktional und distanziert ist die Einstellung zur Kirche: die ist schon sinnvoll; aber nicht für mich, sondern für andere, die schwach und hilflos sind und mit dem Leben nicht zurecht kommen. Das Christentum gilt darüber hinaus weitgehend als ein überholter Aberglaube. Der Bezug zur christlichen Tradition ist im einst christlichen Abendland praktisch abgebrochen. Oft gibt es krasse Vorurteile, die selbst bei kritischer Einschätzung dem real existierenden Kirchen- und Glaubensleben und der 351 3 Religiöse Relevanz <?page no="352"?> faktischen religiösen Praxis keineswegs gerecht werden. Ein zunehmender Akzeptanzverlust, Vorurteile und religiöses Halb- und Nichtwissen sind zum Normalmaß geworden - eine Mischung aus Ablehnung und Gleichgültig‐ keit. Religion gilt weitgehend als illusionär, überholt und überflüssig. Ihr wird schlicht die Relevanz für das heutige Leben bestritten. Das Interesse an Spiritualität, Mystik und religiösen Erlebnissen bleibt ebenso vage wie für die einzelnen Menschen offenbar folgenlos. Hier ist eine durchgehende und grundsätzliche Veränderung geschehen: Auch in der Religion verlässt man sich zuerst und oft auch ausschließlich auf sich selbst - auf die eigene Erfahrung, die eigene Einsicht und die eigene Suche. Im Bereich der Religion hat sich „die vollständige religiöse Individualisierung und Konsumorientierung durchgesetzt“ (Stolz u. a. 2014, 15). Geistliche gelten nicht mehr als Menschen, denen ein besonderes religiöses Wissen und eine besondere Würde zukommt. „Die Pfarrer und Priester (scheinen) gemäß vielen Befragten kein spezielles Wissen mehr zu besitzen, das im Falle von Lebensproblemen weiterhelfen könnte“ (190); „Religion(en) unterstehen … ganz generell dem Primat der Gesellschaft und des Individuums“ (170). Auch die Religion wird also inzwischen auf das konkrete Leben und auf Bedürfnisse bezogen und nach ihrem Nutzen befragt: Was „bringt“ mir eine religiöse Einstellung? Hier schlägt die soziale Folge der Individualisierung durch: Der Mensch ist auf sich selbst gestellt und kann keine Hilfe erwarten - außer von sich selbst. Die Frage nach der religiösen Relevanz ist für jedes religiöse Lernen zum entscheidenden Punkt geworden. Sie muss ins Zentrum religionspä‐ dagogischen Denkens rücken. Und sie ist angesichts der durchgehenden Religionsdistanz (→ 14.5) erheblich wichtiger als die im Fach diskutierte „Pluralitätsfähigkeit“. Offenbar bleibt die RP an dieser entscheidenden Stelle derzeit noch ohne überzeugende Antwort. Die Frage entspricht zwar dem Trend zur Funktionalisierung, der bereits kritisch beleuchtet wurde. Den‐ noch ist sie sehr ernst zu nehmen, wenn Religion nicht einfach ausgegliedert werden soll. Da diese Frage eine eindeutig individuelle, also subjektive Frage ist, lässt sich die reichlich unbequeme Einsicht nicht weiter umgehen: Die Subjektorientierung wird religionspädagogisch zwar gefordert, aber nicht eingelöst. Nicht Wahrheit, sondern Bedeutung und Betroffenheit bestimmen über ein religiöses Interesse - „wahr“ ist, was betrifft. Das ist für das traditio‐ nelle christliche Denken eine höchst ungewohnte Wendung, die auf teils entrüstete Ablehnung stößt. Sie markiert allerdings eine Veränderung des 352 15 Individualisierung der Religion <?page no="353"?> allgemeinen Bewusstseins, ist also nicht rückgängig zu machen. Wo die RP nicht zu einem konstruktiven Umgang mit dieser Einstellung findet, steht sie in der Gefahr, Religion in einen unattraktiven Getto-Bereich zu stellen. Betroffenheit entsteht insbesondere auch da, wo religiöses Erleben geschieht: „Erlebnisorientierte Religiosität hält religiöse Objektivierungen (Riten, Bekennt‐ nisse) nur insoweit für belangvoll, wie sie gewünschte innere Wirkungen her‐ vorrufen: Gefühle, Stimmungen, Ekstasen, Betroffenheit, Ergriffenheit ‚durch ein Übermächtiges, das den Grauschleier des Alltags zerreißt‘.“ (Höhn 1998, 78) In der „Erlebnisgesellschaft“ (→ 14.1) führt die Sehnsucht nach religiöser Erfahrung dazu, dass sinnliche (ästhetische) Zugänge die lehrhaften ablösen. An dieser Stelle besteht ein höchst bedeutsamer Zusammenhang mit dem allgemein schwindenden Gefühl von Präsenz. Menschen klagen vermehrt darüber, nichts zu spüren, von nichts mehr wirklich ergriffen zu werden. Entsprechend groß ist die Sehnsucht nach Affiziertwerden und Berührung durch die Dinge, nach dem wirklich gespürten Erlebnis von Schönheit und des Lebens überhaupt. In diesem Zusammenhang ist die Erlebnisorientie‐ rung und die Frage nach tiefem Erleben sehr ernst zu nehmen. Das ist Gewinn und Problem gleichermaßen: „Das Leben ist nach erlebnisrationaler Vorstellung lediglich fortsetzungs-, aber nicht erlösungsbedürftig“ (Höhn 1998, 172). Nicht mehr Schuld, Versöhnung, Erlösung sind heute religiös bedeutsam, sondern die Fragen nach Sinn, Selbstwert, Erfüllung und Glück sind Schlüssel für den Zugang zur Religion, und damit für die RP. 4 Der lange Weg der RP zum Subjekt „So sehr religiöse Individualisierung Menschen einerseits die Möglichkeit eröff‐ net hat, aus kirchlicher Bevormundung herauszutreten und auch in religiöser Hinsicht sprachmündig zu werden, so sehr droht die gewachsene Tendenz zu religiöser Atomisierung auf die Dauer auch dazu zu führen, dass Menschen unfähig werden, die großen Überzeugungen ihres Lebens in Worten, Symbolen, Ritualen und mitmenschlicher Praxis zum Ausdruck zu bringen. Eine pluralitäts‐ fähige Religionspädagogik hätte Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen hier Schneisen in ihre eigene Selbst-Verborgenheit zu bahnen, ihnen Möglichkeiten zur Exploration ihres eigenen Lebensglaubens anzubieten.“ (Englert in Schweitzer u. a. 2002, 100) 353 4 Der lange Weg der RP zum Subjekt <?page no="354"?> Die RP hat nach dieser Auffassung die Aufgabe, Menschen lebensfähig zu machen. Das Interesse gilt dann der gelebten Religion, die immer nur als Ausdruck von Subjektivität, nicht als Fremdbestimmung verstanden werden kann. Denn „Religion ist … der innerste Kern einer Persönlichkeit, die Instanz, auf die sich der einzelne im Interesse seiner Selbstkonstitution beruft“ (Steck 2000, 118 f.). Die RP muss sich darum vorbehaltlos auf die Individualisierung der Religion einstellen. Das meint nicht kritiklose Anpassung, zeigt aber doch, dass hier alles andere als eine Selbstverständlichkeit berührt ist - das „Subjekt“ wird in den klassischen Konzeptionen der RP (→ 3) allenfalls am Rande bedacht. In der Evangelischen Unterweisung wird es überhaupt nicht, in der hermeneutischen Konzeption nur wenig eigenständig reflektiert; die Problemorientierung meinte das Subjekt zu beachten - faktisch wurden aber Gesellschaftsprobleme traktiert, nicht die Lebensfragen von Schülern. Das Misstrauen gegenüber den Subjekten ist theologisch bedingt: Der Mensch ist Sünder und soll Dankbarkeit und Demut gegenüber Gott lernen; und wo kämen wir hin, wenn jeder glaubt, was er will? Entsprechend wurde „Erfahrungsbezug“ (→ 10.7) allzu oft eingeschränkt auf eine Erfahrbarkeit theologischer oder traditionell christlicher Vorgaben. Aber auch praktische Gründe sprechen dafür, dass man lieber „Stoff “ weitergibt, als sich auf Menschen einzustellen; das ist offenbar leichter. In der (Praktischen) Theologie hat hier erst Henning Luther mit seinem viel beachteten Aufsatzband „Religion und Alltag. Bausteine für eine Theo‐ logie des Subjekts“ (1992) für eine Veränderung des theologischen Denkens gesorgt. Praktische Theologie gilt da als klare Zuwendung zu den heutigen Individuen. Lebenslauf, fragmentarische Identität u. a. geben die Themen ab. Ihrer Zeit deutlich voraus war auch die „Religionsdidaktik in Grundregeln“ der katholischen Autoren Engelbert Gross und Klaus König (1996), von denen vier auf Subjektorientierung, Erschließung der ästhetischen Dimen‐ sion der Religion, Beachtung der religiösen Pluralität und eine religiös angemessene Kommunikation eingehen. Religiöse Tradition muss als Anstoß und Anregung, nicht mehr als Selbstzweck angeboten werden. Das impliziert einen grundsätzlich offenen und unkalkulierbaren individuellen Ausgang des religiösen Lernens, der allerdings für echte Bildungsprozesse typisch ist. Das widerspricht dem theologischen Bedürfnis nach klarer Identifizierung von Gehalten und nach der Weitergabe des „Eigentlichen“, der „Sache selbst“ (und ähnliche Formulierungen) - die es so feststehend aber gar nicht gibt, sondern die 354 15 Individualisierung der Religion <?page no="355"?> allenfalls Ideale sind, die der eigenen internen Orientierung dienen. Die Theologie (und mit ihr die RP) darf aber ruhig das Vertrauen darauf haben, dass sich bei der offen-lebendigen Begegnung mit Religion ihre elementaren Erfahrungen und Gehalte je von selbst herstellen. Die RP verzeichnet eine schrittweise und fortlaufende Annäherung an die Lebensbedingungen der Menschen. Das kann ein Buchtitel wie „Das Recht des Kindes auf Religion“ deutlich machen (Schweitzer 2019, ein Zitat von Richard Kabisch → 3.1). Was aber sind die Erfahrungen der Menschen heute? Welche Fragen haben sie, und wichtiger noch: welche Bedürfnisse und Interessen? Das wird in der RP bisher kaum bearbeitet und noch weniger konzeptionell fruchtbar gemacht. Einzige deutliche Ausnahmen sind das Konzept des „sozialisationsbegleitenden RU“ (→ 3.5), die Subjektorientierte RP (→ 3.7) und die Religionspsychologie (→ 18.1). Die RP muss darum in drei Bereichen kompetent sein, die der Auffäche‐ rung des Christentums in einen kirchlichen, öffentlichen und privaten Bereich entsprechen (Dietrich Rössler). Zunächst muss sie die religiöse Tradition des Christentums kennen, seine Wurzeln, seine Gehalte und seine Lebensbedeutung; hier ist sie auf die Kooperation mit den anderen theolo‐ gischen Fächern angewiesen (→ 1.4). Dann muss sie die Erscheinungsfor‐ men, Funktionen, Veränderungen und Wirkungsweisen der Religion in der Gegenwart kennen; hier kommt sie nicht ohne Philosophie, Soziologie, Religionswissenschaft, Kulturhermeneutik, Medientheorie usw. aus (→ 14). Schließlich braucht sie eine besondere Kenntnis der Subjekte, also der Menschen und ihrer Denkweisen, Wertvorstellungen, Lebensziele und Le‐ bensumstände heute. Die RP hat bisher nur religiöse „Fragen“ (Nipkow 4 1992) wie die nach der Existenz Gottes, dem Leid, dem eigenen Tod usw. bearbeitet; höchst bedeutsam und entscheidend für das Verständnis und die Akzeptanz der Religion sind aber die allgemeinen Interessen und Bedürf‐ nisse der Menschen. Hier braucht die RP eine gute Portion psychologisches Wissen und Verstehen. Damit ist für den Subjektbezug der RP eine zweifache Aufgabe gestellt. Die RP muss zum einen die existenziellen Fragen, Erfahrungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen wirklich ernst nehmen, und sie zum Aus‐ gangspunkt religiöser Pädagogik machen. In einer Kommunikation, die den Menschen gerecht werden will, muss sich Religion nachvollziehbar und ori‐ entierend mit den Einstellungen und Bedürfnissen der Menschen verbinden. Die christlichen Themen, Einstellungen, Gehalte und Lebensformen werden 355 4 Der lange Weg der RP zum Subjekt <?page no="356"?> dadurch zu Medien der persönlichen Bildung - was ihrer Würde keineswegs Abbruch tut. Zum anderen stellt sich die Aufgabe, religiöse Kompetenzen anzubahnen, wiederum das also, was religiöse Bildung meint. Dafür ist allerdings eine religiöse Grundbildung nötig, die Menschen zuallererst religiös sprachfähig macht. Dafür scheint nicht nur die performative Mitgestaltung von religiö‐ ser Praxis (→ 11.5) ein guter Weg zu sein, sondern vor allem muss ein Verständnis für die symbolische Verfasstheit der Religion angezielt werden; und die ist angewiesen auf eigene Symbolisierungen (→ 18.2). Zusammenfassung Individualisierung bedeutet Befreiung von Vorgaben und die Orien‐ tierung an eigenen Bedürfnissen. Freie Selbstentfaltung und Erlebnis‐ orientierung sind zu Selbstverständlichkeiten geworden, die durch Wohlstand, Konsummarkt und die Medien bedient werden. Individua‐ lisierung bedeutet aber auch Vereinsamung und die Verantwortung für das eigene Unglück. Religion wird zur Privatsache, die nach ihrem „Nutzen“ für die eigenen Bedürfnisse und Erlebniswünsche hin aus‐ gewählt wird. Sie spiegelt zunehmend narzisstische Bedürfnisse. Im eigenen Interesse und dem der Subjekte muss sich die RP endlich vorbehaltlos und konzeptionell auf die Individualisierung einlassen. Literatur Zu 1: U. Beck 1986, bes. Kap. IV und V. Zu 2: A. Dubach u. a. 1993 - NHRPG III.4.2 - J. Stolz u. a. 2014. Zu 3: NHRPG II.3.1 - Domsgen 2019, 239ff. Zu 4: B. Schröder, § 14 - J. Kunstmann 2019. 356 15 Individualisierung der Religion <?page no="357"?> 16 Religiöse Traditionsverhaftung „Dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nämlich die mythi‐ schen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmäßigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von histori‐ schen Ereignissen systematisiert werden und man anfängt, ängstlich die Glaub‐ würdigkeit der Mythen zu verteidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu sträuben.“ (Friedrich Nietzsche, KSA 1, 74) Religion ist sichtbar nur als religiöse Kultur: in ihren heiligen Schriften, Priestern, Ritualen, Sakralgebäuden usw. Daher liegt der Fehlschluss nahe, Religion gebe es nur als historisch gewordene Form, also als etwas Vergan‐ genes. Es ist bestens verständlich, warum die Religion als Kulturdimension grundsätzlich konservativ eingestellt ist: In ihr geht es um Wahrheit, lebensentscheidende und heilige Dinge, mit denen man nicht leichtfertig umgeht. So kommt es, dass die religiöse Kultur ganz grundsätzlich in der Gefahr steht, Veränderungen der Lebensumstände, des Denkens und des Lebensgefühls zu ignorieren und stattdessen eine reine Traditionspflege zu betreiben. Wann immer die Diskrepanz zwischen Religion und Leben zu groß wird, kommt es zu Umbrüchen in der religiösen Kultur. Es treten dann Propheten, Ketzer, innovative Theologen, Reformatoren auf, die die Religion wieder an das Zeitbewusstsein anschließen. In der religiösen Kultur gelten sie (zunächst) als unliebsame oder gar diabolische Störer. Spätestens seit Schleiermacher, eigentlich aber seit Jesus, den Mystikern, Luther und vielen anderen, sollte aber klar sein, dass Religion ein Gefühl ist, das gerade nicht Vergangenes thematisiert, sondern das aus dem Erleben einer vollkommenen Präsenz kommt. Diese innerreligiöse Komplexität hat Paul Tillich in die ausgesprochen pointierte Aussage gebracht: „Alles ist profan, und alles Profane ist potentiell religiös.“ (Tillich 1962, 93) Das heißt: es gibt keinen von der Wirklichkeit abgetrennten religiösen Sonderbereich, alles ist weltlich. Immer wenn Religion sich selbst als sakral versteht, ist sie falsche Religion. Sie wird dann zur Ideologie und zum Zwang, der sich neben das Leben stellt und es unterdrückt. Potentiell, d. h. der Möglichkeit nach kann aber alles für einen Menschen religiöse Qualität bekommen, je nach Situation und Erfahrung, und ganz unabhängig <?page no="358"?> von der Selbsteinschätzung, ob es sich dann um Religion handelt oder nicht. Es ist also kein Zufall, dass Jesus sich mit Fischern und Bauern auf dem Marktplatz getroffen hat, und dass er Priester, Pharisäer, Tempel und religiöse Vorschriften einer radikalen Kritik unterzogen hat. 1 Museums-Religion - Traditionalismus als Problem der RP „Die Religion in der tradierten Form ist nichtssagend und leer geworden … Ein Prachtgebäude aus versteinerten Gedanken, in dem nur die gehorsame Gelehrtenschaft der Kirche selbst zu Hause war.“ (Drewermann 2014, 16; 29) „Wie oft habe ich einen Theologen, einen Pfarrer, einen frommen Menschen entweder gefragt oder prüfend angeschaut, ob ich ihn fragen könnte und habe erfahren: er konnte mir nicht helfen. Er war noch auf seiner gesicherten Insel und wußte nicht, wie es auf dem hohen Meer der Ungewißheit aussieht, oder er klammerte sich an den Felsblock seines Glaubens, und da konnte er nicht in den Abgrund sehen, um nicht schwindlig zu werden … Auch die zu großem Einsatz Bereiten fanden oft nicht die Tür zur Wirklichkeit des Menschen ihnen gegenüber. Sie wußten nicht, vorsichtig gesagt, daß der Gott, an den sie ihn wiesen, ihm das Gesicht nicht mehr zeigte, das sie noch sahen oder zu sehen meinten. Sie waren beim Gott der Väter um den Preis, nicht bei der Wirklichkeit zu sein.“ (v. Weizsäcker 1992, 517) Das Zitat von Weizsäckers entstammt einer Predigt. Es ist das eindrucksvolle Dokument eines Zweifels, der in der Kirche selbst geäußert wird, so wie es für eine lebendige Religion eigentlich angemessen ist. Und es zeigt, dass eine traditionsorientierte Religionsform dazu tendiert, sich vor den Menschen zu verschließen und sie mit ihren existenziellen Fragen alleinzulassen. Da Religion aber ganz grundsätzlich auf ihre Traditionen angewiesen ist und sich in ihnen ausspricht, kommt es hier zu einem Paradox: Religion schlägt sich in kulturell sichtbaren Formen nieder, in Geschichten, Mythen, Dogmen, Ritualen usw., sie lebt in diesen und gibt sich in diesen weiter; gleichzeitig aber haben genau diese kulturellen Traditionen die Tendenz, sich vom gelebten Leben, das sich ja immer weiterentwickelt und verändert, abzuschließen. Das Verhältnis von Tradition und Subjekt und die Komplexität der Religion sind die zentralen und weitgehend ungelösten Kernprobleme der RP. Es muss unmissverständlich klar sein, dass Religion sich in ihren Traditionen 358 16 Religiöse Traditionsverhaftung <?page no="359"?> niederschlägt, in ihnen und aus ihnen lebt - und dass sie paradoxerweise zugleich angewiesen ist darauf, dass lebendige religiöse Erfahrung diese Traditionen immer in Frage stellt, weiterentwickelt und hinter sich lässt. Denn: „Besteht das Christentum erst einmal aus ‚Traditionen‘, ist es eigentlich auch schon abgestorben.“ (Bizer in JRP 5/ 1988, 100) Die Ambivalenz des religiösen Traditionsbezugs Für die konservative Grundtendenz aller religiösen Kultur gibt es auch einen biographischen Grund: Nirgendwo sonst dürften sich Kindheitsprägungen so sehr durchhalten wie in der Religion. Das sorgt zwar für eine lebensge‐ schichtliche Kontinuität, heißt aber auch, dass die Religion so sehr wie nichts anderes in der Gefahr steht, kindlich und unreif zu bleiben. Wo das geschieht, setzt sich die religiöse Kultur an die Stelle der religiösen Erfahrung. Die Menschen müssen dann Rituale einhalten, die ihnen im Leben nicht weiterhelfen, sie müssen zum Priester kommen, nicht aber zu Gott; sie müssen bestimmte Dinge glauben, die der einfachsten Logik widersprechen, usw. So entsteht der doppelte Eindruck, Religion sei zum einen ein Ausdruck von Unreife; zum anderen sei sie eine Sache der Vergangenheit: Gottes „Offenbarung“ liege in der heiligen Schrift und in alten Konzilsentscheidungen vor, in der modernen Zivilisation und im eigenen Leben dagegen komme Gott offensichtlich nicht mehr vor. Damit entsteht der „garstige breite Graben“, von dem Lessing sprach. Es ist der Graben zwischen zufälligen historischen Ereignissen (Lessing nannte diese „zufällige Geschichtswahrheit“) und der Behauptung einer angeblich ewig gültigen Wahrheit („allgemeine Vernunftwahrheit“), die immer weniger überzeugend ist. Diese kognitive Dissonanz entsteht mit dem historischen Denken der Aufklärung und ist heute zu einem fundamentalen und weitge‐ hend unbearbeiteten Verstehenshindernis für Religion geworden. In einer traditionsorientierten Religion eröffnen Bibel, Dogma, Kirche und Priester immer weniger die lebendige religiöse Erfahrung. Sie sind „geron‐ nene Lösungen“ (Heinrich Roth) aus einer vergangenen Zeit, die sich an die Stelle Gottes setzen. Sie deuten das konkrete Leben nicht mehr, Religion wird zum Museum. Die Religion ist darum in ganz herausragender Weise auf interne Kritik angewiesen. Nur wo diese kritische Auseinandersetzung geschieht, ist die Religion auch lebendig. Wer sich einmal mit den Ketzern 359 1 Museums-Religion - Traditionalismus als Problem der RP <?page no="360"?> im Christentum beschäftigt, der kann nur staunen über deren religiöse Kraft und Vitalität. Das ist auch der Grund für die radikale Religionskritik Jesu von Nazareth, die im gegenwärtigen Christentum aber kaum noch bekannt ist. In den beiden großen Konfessionskirchen (→ 14.3) sind die eigenen Traditionen heute faktisch zum ausschließlichen Bezugs- und Ausgangs‐ punkt geworden. Hier geben Kirchenrecht und Moral den Ton an, während kritische Stimmen unerwünscht sind. Es gibt kaum noch eine lebendige Auseinandersetzung mit den Fragen und Nöten der Gegenwart, die an die Öffentlichkeit dringt. Stattdessen herrscht inzwischen die Sorge um den Selbsterhalt vor. Das gilt auch für die Theologie, die weit überwiegend vergangenheitsorientiert ist. Sie betreibt eine Art christlicher Kulturherme‐ neutik (→ 7.2), interessiert sich aber für das konkrete gegenwärtige Leben und seine religiöse Deutung nur am äußersten Rand. Diese theologische Historisierung aber ist paradoxerweise eine wirksame Methode, religiöse Lebendigkeit stillzustellen. Matthias Kroeger resümiert: „Die Dogmen-Bekenntnis-Verpflichtung bedeutet ein Festhalten an wichtigen, aber historisch vergangenen Formen theologischer Aussagen. Sie gewähren lediglich eine regressive Orientierung, die alle entscheidenden Orientierungs- und Weiterentwicklungsfragen den Einzelnen überlässt und ihnen aufbürdet. Von hier, aus diesen Quellen kommt jedenfalls heute keine theologische Erneuerung mehr.“ (Kroeger 1997, 201) Genau damit aber schneidet sich das kirchliche Christentum von dem ab, was die Menschen brauchen und auch suchen: eine religiöse Deutung ihrer Existenz. Die Kirchenreligion wird immer mehr zum Selbstzweck. Folge davon ist, dass die Religion aus den Kirchen auswandert. Religiöse Erlebnisse werden häufiger in der freien Natur gemacht als in Kirchen. Religion findet sich heute vor allem in individualisierten spirituellen Suchbewegungen, die der Selbsterfahrung dienen, aber ohne Kommunikation und daher sehr flüchtig bleiben. Das Problem erhält eine weitere Zuspitzung durch die moderne Lebens‐ welt. Traditionen haben früher das gesamte Leben maßgeblich bestimmt. Im Lauf der Moderne haben sie aber ihre Autorität und ihren Verpflichtungs‐ charakter vollständig eingebüßt; man kann diesen Prozess sogar als Kern von Modernisierungen überhaupt verstehen. Wo Traditionen im modernen Leben noch auftauchen (Trachtenvereine, Volksmusik, Volkstrauertag usw.), haben sie daher oft den Anstrich von bezugslosen Posen. Daher wird auch 360 16 Religiöse Traditionsverhaftung <?page no="361"?> der Traditionsbezug der Religion zunehmend prekär. Und daher kann auch die RP nicht mehr von einem Vorrang oder gar ausschließlich von christli‐ chen Traditionen ausgehen, auch wenn in diesen ein tiefes Lebenswissen aufbewahrt ist. Lange hat man versucht, Tradition und Situation (bzw. „Sub‐ jekt“) in einen Zusammenhang der gegenseitigen „Korrelation“ (→ 10.5) zu stellen: Traditionen können nur gelten, soweit sie dem Menschen heute etwas zu sagen haben; und die Menschen heute müssen mit ihren Fragen an die Tradition herantreten. In dieser Zuordnung behalten die Traditionen freilich ihr mehr oder weniger unbefragtes und unbegründetes Gewicht. Folgerungen für die RP Für die RP sind diese Zusammenhänge von fundamentaler Bedeutung. Wo Religion mit ihren Traditionsformen kurzgeschlossen wird, wo also biblische Geschichten und historische religiöse Ereignisse ohne klar ersicht‐ lichen Erfahrungsbezug gelehrt werden, da kann sich spätestens ab der Sekundarstufe nur das gängige Vorurteil verfestigen, bei der Religion handle es sich um überholte alte Märchen, die mit dem eigenen Leben nichts zu tun haben. Richard Kabisch ist einer der sehr wenigen im Fach, die das benannt haben: „Der innere Zerfall entsteht … da, wo … die Lebens-Erfahrungen solcher leich‐ ten und lächelnden Glaubenslehre widersprechen. Darum richtet die Kulturreli‐ gion … unfehlbar Verwirrung an.“ (Kabisch 1910, 84) Erfahrungsgemäß ist es für Religionspädagogen, die mit biblischen Ge‐ schichten, Psalmversen und Kirchenliedern aufgewachsen sind und darin ihre emotional oft bindende geistige Heimat gefunden haben, ausgespro‐ chen schwer, sich beim religiösen Lehren in die Lage moderner, weitgehend religionsfreier Subjekte hineinzuversetzen und entsprechend didaktisch zu agieren. Darum geschieht religiöse Lehre weitgehend nicht als Anleitung zu symbolischer Lebensdeutung, sondern als Vermittlung religiöser Tradition, anders gesagt: als Vermittlung ihrer kulturellen Form, als Stoff-Vermittlung. Bezeichnenderweise ist es der wirklich am Subjekt orientierte Religi‐ onspädagoge Dieter Stoodt gewesen, der hier - neben Richard Kabisch, Hubertus Halbfas, Wilhelm Gräb fast als einziger im Fach - höchst kritische Anmerkungen gemacht hat. Er fragt: Was wäre eine Religion, die „Erwach‐ senen angemessen ist“? Und er beklagt offen, dass „durch gezielte und überzeugende Angebote aus dem Instrumentarium evangelistischer Prak‐ 361 1 Museums-Religion - Traditionalismus als Problem der RP <?page no="362"?> tiken infantil gebliebene religiöse Verhaltensweisen reaktiviert werden“, ferner eine „Reduktion komplexer Sachverhalte auf einfachste Formeln“, die er als „Hülsen ohne explizite Bedeutung“ bezeichnet (Stoodt 1972, 214, 217, 218, 220). Damit hat er bereits bemerkenswert früh auf die Ablehnung von Religion unter Schülern reagiert. Wo aber ist heute eine so deutliche Formulierung wie „infantile Religiosität“ zu hören? Auch das Christentum muss sich als Religion verstehen, nicht als ein „Glaube“. Das schon um der Verständigung willen - denn der Begriff Religion hat sich längst für alle Formen von Glauben, Spiritualität, Kirche und Theologie etabliert. Religion aber versteht man nur dann, wenn man sich über das komplexe Verhältnis zwischen religiösem Erleben und religiöser Kultur im Klaren ist (→ 2.2). Beide unterscheiden sich oft gravierend, sind aber auch aufeinander angewiesen. Religiöse Kultur ermöglicht religiöses Erleben, dieses aber stellt die religiöse Kultur immer auch in Frage - und hält sie so gerade lebendig. Die Rede vom „Tradierungsabbruch“ (→ 14.5) in der RP übersieht, dass die Tradition in der Religion selbst schon ein Problem ist, weil sie Religion auf ihre historischen Niederschläge reduziert. Religiöses Erleben und subjektive Auffassungen kommen hier immer erst in zweiter Linie vor. Eher sollte man, wie Wilhelm Gräb vorgeschlagen hat, daher von einem „Innovationsabbruch“ sprechen. Mit Matthias Kroeger könnte man das auch „Transformationsverweigerung“ nennen. Auf jeden Fall ist das Problem zum großen Teil hausgemacht. Ohne den bewussten Abschied vom Status vorgegebener, objektiv gülti‐ ger Wahrheit wird Religion heute kaum noch gehört und übernommen. Religiöse Bildung ist definitiv mehr und anderes als nur der Gang durch das „Mausoleum der Religion“ (Friedrich Schleiermacher)! Denn „die alte Festung liegt längst in Trümmern“ (Rudolf Englert 2018, 16). Die individua‐ lisierte Wahl von Lebensmöglichkeiten und Perspektiven, die Nutzenorien‐ tierung und die damit verbundenen Nöte und Schwierigkeiten sind daher vorbehaltlos ernst zu nehmen: „Verständlich und damit wahr ist nicht unbedingt das, was in sich konsistent begründet und expliziert werden kann, sondern was lebbar ist.“ (Domsgen 2019, 222) Die Weitergabe des Christlichen kann und soll sich nach wie vor an den traditionellen Gehalten, Formen und Vollzügen orientieren. Die RP muss diese aber als Niederschläge von Erfahrung verstehen und den Lebens- 362 16 Religiöse Traditionsverhaftung <?page no="363"?> und Entfaltungsmöglichkeiten konkreter Menschen zuführen, d. h. ihrer Bildung (→ 17). Sie muss darum ein genaues Wissen - eigentlich eine Expertenkompetenz - in Sachen Religion überhaupt und in Sachen der gegenwärtigen Kultur- und Lebensverhältnisse haben. Sie muss also vor allem kulturhermeneutisch und psychologisch, also subjekthermeneutisch kompetent sein (→ 16.3). Und sie muss einen kompetenten Umgang mit den religiösen Traditionsgehalten zeigen. Das bedeutet nicht Traditionspflege, sondern die Bereitstellung attraktiver Angebote, die zur freien Verfügung zu stellen sind und durch ihre Präsentation überzeugen. Ähnlich wie das bei anspruchsvollen Theaterstücken der Fall ist, wirken schlechte religiöse Inszenierungen schnell peinlich, und sie sind im Christentum leider nicht selten. Religion braucht gut gemachte Präsentationen und ästhetische In‐ szenierungen, die verlocken und ansprechen. Überflüssig zu sagen, dass eine rationale theologische Re-flexion, also ein Nach-denken über konkrete Religion und religiöses Erleben darum nicht ihren Zweck verliert. Die Kernfrage der RP ist nicht die nach dem „Verhältnis von Glaube und Bildung“ (so Rudolf Englert), sondern die nach der religiösen Bildung. Selbst ein so sensibler und genauer Diagnostiker wie Englert kann in Säkularisie‐ rung und Individualisierung der Religion nur einen „Zerfallsprozess“ sehen. Er meint nach wie vor davon ausgehen zu müssen, dass sich die (christliche) Religion auf ein „Heilsdrama“ beziehe und beziehen müsse, um nicht einer „Atomisierung“ anheim zu fallen; eine „Prägekraft“ des Christlichen kann er nur in ihrer kirchlichen Gestalt erkennen (Rudolf Englert 2018, 70; 86; 151; 186). Dass Religion im Kern immer Sache eines tiefen Erlebens ist, das heute in aller Regel außerhalb des christlichen Kulturkontextes gemacht wird, dass Religion eine Ressource für eigene Erfahrungsdeutung sein könnte, kann da nur als Rückschritt erscheinen. Bezeichnend ist Englerts Buchtitel „Was wird aus Religion? Beobachtun‐ gen … zu einer irritierenden Transformation“ (2018). Es ist ganz offensicht‐ lich: Im Kern der gängigen RP steht nach wie vor die Kraft einer religiösen Heimat, die den eigenen religiösen Horizont nicht mehr zu überblicken vermag. Allzu viele Religionspädagogen sind in einer Glaubens- und Kir‐ chentradition großgeworden, die sie angesichts einer dramatisch veränder‐ ten Situation nach wie vor nur weitergeben wollen - ohne zu sehen und zu verarbeiten, dass religiöses Erleben und religiöse Vergewisserung sich massiv verändert haben. Das ist ebenso verständlich wie kontraproduktiv. 363 1 Museums-Religion - Traditionalismus als Problem der RP <?page no="364"?> 2 „Glaube“ und modernes Denken „Die Vorstellung eines Retters, der unseren Status vor dem Fall erneuert, ist vordarwinistischer Aberglaube und nachdarwinistischer Unsinn. Ein übernatür‐ licher Erlöser, der in eine gefallene Welt eintritt, um die Schöpfung wiederherzu‐ stellen, ist ein theistischer Mythos.“ (Spong 2004, 121) „Die größten Hindernisse im Verständnis und in der Aneignung gerade auch der biblischen und traditionell kirchlichen Rede von Gott entstehen dem zeitge‐ nössischen Bewusstsein aus der anhaltenden Verdunkelung ihres symbolischen Charakters.“ (Gräb 2006, 36) Eng mit dem zentralen Problem der Traditionsorientierung verbunden ist ein weiteres fundamentales, ebenfalls hausgemachtes Verstehenshindernis in Sachen Religion: das ungeübte und innerreligiös bisweilen sogar abgewie‐ sene symbolische Verstehen. Der traditionsbasierte „Glaube“ neigt zu einem wörtlichen Verstehen und zur Auffassung religiöser Aussagen als Fakten und Tatbestände. Damit führt er zu einem zentralen Missverständnis der Religion, die sich ebenso wenig mit Fakten beschäftigt, wie zwei Liebende ihre Gefühle zueinander mit ihrer Schuhgröße oder durch mathematische Formeln ausdrücken könnten. So aber erhält das Vorurteil Nahrung, Religion sei angesichts des historischen Wissens und vor allem durch das Denken der Naturwissenschaften überholt. Das rationale Denken, das mit der Auf‐ klärung einsetzt, schlägt aber nicht nur gegen Religion aus, sondern gegen alles, was sich naturwissenschaftlich nicht greifen lässt: Liebe, Bildung, tiefes Erleben, Empathie, Sinnerfahrung, ja das Leben selbst. Die Glaubensgrammatik und ihre Problematik Trotz der hellsichtigen Bemerkung von Friedrich Nietzsche „Es ist falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem ,Glauben‘ das Abzeichen des Christen sieht; bloß die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, ist christlich“ (Nietzsche, KSA 1, 56) hat das wortwörtliche Festhalten an Glaubensaussagen bislang alle bisher unternommenen (und durchaus eindrucksvollen) Modernisierungen der Religion wirkungsvoll verhindert, allen voran Schleiermachers Umstellung der Religion auf Gefühl und subjek‐ tives Erleben. Aber auch die historisch-kritische Exegese und ihre Erkennt‐ nisse spielen in Gemeindefrömmigkeit und kirchenleitenden Entscheidun‐ gen keine erkennbare Rolle. Die „Entmythologisierung“ biblischer Texte 364 16 Religiöse Traditionsverhaftung <?page no="365"?> und deren existenziale Interpretation, d. h. deren Verstehen als Ausdruck tiefen Erlebens, wie sie Rudolf Bultmann zu einem Grundprinzip modernen Religionsverstehens gemacht hat, ist ebenso wenig in die christliche Kultur eingegangen wie das symbolische Verstehen nach Paul Tillich. Wo unter der Vorherrschaft der rationalen Denkweise der Eigenwert der symbolischen Sprache und Logik der Religion nicht wahrgenommen und nicht konstruktiv verarbeitet wird, kommt es zwangsläufig zu einem „Leerlauf der Glaubenssprache“, einem „Glaubensverlust“ (Hubertus Halb‐ fas) epochalen Ausmaßes. Hier „ist nicht nur eine Reihe einzelner Glau‐ bensinhalte fraglich geworden, sondern die Wahrheitsfähigkeit religiöser Überzeugungen überhaupt“ (Englert 2018, 61). Damit kommt es zu einer immer weitergehenden Abtrennung der Religion vom Leben, Religion wird zunehmend selbstbezüglich. Das lässt sich an drei gewichtigen Themen des traditionellen christlichen Glaubens und Denkens ablesen, die bei den Zeitgenossen heute auf erheb‐ liche Verständnisschwierigkeiten stoßen. Die lassen sich vor allem durch die bereits vor vielen Jahrhunderten festgelegten Grundentscheidungen von Dogma und Bekenntnis erklären, die in einer Weise metaphysisch (=über-natürlich, geistig) argumentieren, die für Menschen des 21. Jahrhun‐ derts nur befremdlich sein kann. Zum einen ist das der Theismus, die Vorstellung also, Gott sei eine überweltliche, in die Geschehnisse eingreifende, allmächtige Persönlichkeit; diese Vorstellung ist mit aufgeklärtem naturwissenschaftlichen Denken nicht mehr in Einklang zu bringen. Allmacht, Allwissenheit und Güte sind religiös unangemessene rationale Begriffe, die zur unlösbaren Theodizee‐ frage führen (Wie kann ein gütiger, mächtiger Gott Leid zulassen? ) und „Gott“ unglaubwürdig machen. Welcher Theologe aber hat Gott über die Schulter geschaut, dass er ihn so genau zu bestimmen meint? Religiös mindestens sperrig ist auch die Christologie. Christus gilt da als überzeitlicher Schöpfungsmittler; seine Herabkunft aus dem Himmel auf die Erde per Jungfrauengeburt, sein Erlösertod am Kreuz und seine Himmelfahrt führen eine kosmische Mythologie vor, die nicht von dieser Welt ist, daher auch keinen Zusammenhang mit dem Leben heutiger Menschen erkennen lässt. Wie soll man sich eine Himmelfahrt im Zeitalter der Satelliten vorstel‐ len? Was soll die Rede von der Jungfrauengeburt, wenn Jesus nach Aussage der Bibel doch Brüder hatte (und wohl auch Schwestern)? Hintergrund der Christologie ist das griechische Denken, das alle Wirklichkeit in ratio‐ nal-logische Form bringen wollte. Religion aber sperrt sich erheblich gegen 365 2 „Glaube“ und modernes Denken <?page no="366"?> rationale Verrechnung. Die frühkirchlichen Konzilien, die dem griechischen Denken folgten, haben sich daher in logische Widersprüche verwickelt: Christus ist „wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich“ (so Luthers spätere Kurzformel): Wie soll das vernünftig verstehbar sein? Diese Christologie hat an die Stelle der unmittelbar überzeugenden Wahrheit des Lebens und der Botschaft Jesu eine Glaubens-Lehre gesetzt, die zur Glaubenspflicht erhoben wurde. Die Kernbotschaft Jesu vom überall anwesenden Reich Gottes, das keinen Glauben braucht, sondern nur offene Augen und ein waches Herz, wurde damit zur verzichtbaren Nebensache. Die radikale Gleichbehandlung aller Menschen durch Jesus und seine mas‐ sive Polemik gegen alle Formen von religiöser Vermittlung wurden in eine (bestreitbare) Lehre und einen Fürwahrhalteglauben überführt, den man lernen und nachglauben sollte (Glaube an Christus, Sünde, Erlösung usw.). Schließlich stößt die Erlösungslehre mit ihrer sehr negativen Einschätzung des Menschen als Sünder, der schuldig und daher zur Demut vor Gott aufgefordert ist, frontal gegen die Autonomie, Freiheits- und Selbstentfal‐ tungswünsche des modernen Menschen (und auch gegen deren Negativfol‐ gen Isolation, Überforderung usw.). Die Erlösungslehre, die vom Heil des sündigen Menschen durch das Selbstopfer Christi am Kreuz spricht, muss da geradezu als absurd erscheinen. Die Menschen haben Schwierigkeiten genug; aber als Sünder fühlt sich kaum jemand noch. Was sollte der Tod dieses Jesus damals mit mir heute zu tun haben? Wie kann im Zentrum der „Religion der Liebe“ ein Gott stehen, dessen Zorn das Blut des eigenen Kindes zu seiner Versöhnung braucht? Moderne Menschen fühlen sich nicht schuldig vor Gott, und sie suchen weit eher nach einem erfüllten und sinnvollen Leben als nach „Erlösung“. Sünde als Abtrennung (Sund, Ab-Sonderung) von Gott und vom Leben zu verstehen, wäre ausgesprochen klug, und Sünde wäre insofern das genaue Gegenteil von Religion (re-ligio = Verbindung); dann allerdings wäre Sünde keine Schuld, sondern Selbstver‐ haftung, und sie wäre auch nicht als moralische Verfehlung zu verstehen, sondern als ungelebtes Leben - wie sie gerade in Bedürfnisbefriedigung als oberstem Wert, in Sucht, Narzissmus und Depression zum Ausdruck kommt. Wieder einmal war es ausgerechnet Friedrich Nietzsche, der den Kern der Botschaft Jesu in den Gedanken gefasst hat: Es gibt keine Sünde, also keine Abtrennung von Gott. Das freilich muss man sehen können. Und das Kreuz sollte nicht als Symbol der Sünden-Erlösung gedeutet werden, sondern als Aufklärung über Leid, Schmerz und Gewalt im umfassendsten Sinn: als der tiefste Spiegel, den die Religion dem Menschen vorhält. Das 366 16 Religiöse Traditionsverhaftung <?page no="367"?> Kreuz ist Ausdruck eines konsequenten Lebens, das aus dem Vertrauen auf den unmittelbar nahen Gott ein hohes Selbstbewusstsein ableitete, und das es einerseits erlaubte, jeden Menschen vorbehaltslos als Gottes Geschöpf anzuerkennen, andererseits denen, die das nicht taten, den Spiegel eines unerfüllten Lebens vorzuhalten. Nach dem Jesuswort „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht umgekehrt“ muss theologisch gelten: Gott liebt die Menschen, nicht die sakrale Religion, nicht Kirche, Frömmigkeit und wahre Glaubenssätze. Der Mitmensch ist der Ort Gottes, nicht der Tempel. Wer lange Gebete verrichtet, ist Gott keinen Zentimeter näher als der, der tut, was vor Augen liegt. Und es sind gerade die Vertreter der religiösen Kultur, die das nicht akzeptieren. Naturwissenschaftliches und perspektivisches Denken Paul Tillich hat dafür plädiert, die großen christlichen Deutungsbegriffe Gott, Sünde, Gnade u. a. aufgrund dieser Missverständlichkeiten einmal für einige Jahrzehnte auszusetzen. In der christlichen Kultur werden sie aber nach wie vor so gebraucht, als handele es sich da um nachweisbare Fakten. Die dogmatische Glaubenslehre folgt der Linie des Paulus, der nicht Jesus und seine Botschaft vom Reich Gottes, sondern den Glauben an ihn als den „Retter Christus“ ins Zentrum stellte. Paulus konnte deshalb einen „Glaubensgehorsam“ einfordern (Röm 1,5; 16,26), der dem Auftreten Jesu völlig fremd ist. Die spätere Dogmengeschichte ist in weiten Teilen eine verbale Akrobatik ohne Lebensbezug. Sie stellt sich damit in klaren Gegensatz zu den wichtigsten Teilen der Bibel, die existenzielle Erlebnisse in bestens nachvollziehbarer Weise in Erzählungen, Gedichte und Gleichnisse überführt, sie also gerade nicht als Fakten behandelt, sondern symbolisiert (→ 11.1). Die metaphysischen Glaubenslehren stoßen sich massiv mit dem natur‐ wissenschaftlichen Grundzug des modernen Alltagsdenkens. Dieses ist grundlegend naturalistisch und positivistisch: Man hält im Bereich von Fakten nur das für wahr, was sich belegen lässt. Als real gilt, was sich messen, zählen und kausal erklären lässt. Kaum noch bekannt ist, dass diese naturwissenschaftlich-positivistische Sicht die Lebensprobleme gar nicht berühren kann; sie bleiben deshalb sich selbst überlassen. Eine Glaubens‐ frömmigkeit, die das nicht berücksichtigt, ist allerdings ihrerseits nichts anderes als religiöser Positivismus. Der ist ebenso beschränkt wie ein naturwissenschaftliches Denken, das seine eigene Begrenzung nicht kennt. 367 2 „Glaube“ und modernes Denken <?page no="368"?> Im Bereich von Überlieferungen, Überzeugungen und Gedanken hat sich parallel dazu ein Denken herausgebildet, das sich als genetisch, perspektivisch und psychologisch kennzeichnen lässt. Genetisch, weil wir in allen Behaup‐ tungen immer den Grund von deren Entstehung mitdenken, also ihre histo‐ rische Bedingtheit, dahinter liegende Interessen und Umstände. Wir denken also immer mit, woher bestimmte Aussagen kommen. Perspektivisch, weil es längst zum Alltagsbewusstsein gehört, dass jeder die Dinge anders sieht, versteht und beurteilt, je nach Standpunkt, Situation und Bedürfnis. Auch Wahrheit ist Sache persönlicher Einstellung und Sichtweise. Schließlich psychologisch, indem wir immer schon die Intentionen und seelischen Bedingtheiten hinter allen Aussagen wahrnehmen. Nimmt man das zusammen, dann ergibt sich eine vollkommene Relativität aller Standpunkte und Sichtweisen. Das heißt keineswegs, dass die nicht mehr nachvollziehbar wären; es heißt aber, dass die Behauptung überzeitlich gültiger Wahrheit Illusion ist und einen vormodernen und überholten Blickwinkel verrät. Das aber bedeutet: religiöse Sachverhaltsbehauptungen sind Aberglaube. Es bedeutet aber auch, dass Religion ganz neu verstanden werden kann. Vom Kreuzsymbol wurde das bereits angedeutet. Christlich entscheidend ist das vertrauensvolle Vaterunsergebet, und nicht das schwierige „apostoli‐ sche“ Glaubensbekenntnis, das gar nicht von Aposteln stammt, sondern von Konzilien des 4. Jahrhunderts, und das die Reich-Gottes-Botschaft Jesu und die Liebe nicht einmal nennt. Zentral bedeutsam ist nicht die Christologie, sondern die Tischgemeinschaft Jesu, die sein wichtigstes Symbol für das Reich Gottes ist, und die die vollkommene Gleichheit aller Menschen zum Ausdruck bringt. In seinem Jüngerkreis saß auch ein Zelot, also ein poten‐ zieller Mörder; und Jesus hatte Umgang mit Kleinkriminellen, Prostituierten und verhassten Ausländern. Nimmt man seine hochgradig provokanten Abfertigungen der Religionsvertreter hinzu (das ist die eigentliche Pointe des Samariter-Gleichnisses in Lk 10), dann zeigt sich: Wer Gott ernst nimmt, kann ihn niemals ins Heiligtum sperren oder in sonstige heilige Bezirke. Und wer ihn als Geber allen Lebens versteht, muss allem Leben mit unbedingtem Respekt begegnen. Nicht die Religion ist heilig zu halten, sondern das Leben. Wer viel betet, hat nicht verstanden, dass Gott nah ist (vgl. Mt 6). Wer sich allzu viel um religiöse Pflichten kümmert, lebt nicht wirklich. Genau das aber können die Religionsvertreter nicht dulden. Die Kreuzigung Jesu ist das Symbol einer Abtrennung der Religion vom Leben. 368 16 Religiöse Traditionsverhaftung <?page no="369"?> Hier zeigen sich nicht nur hilfreiche, oft genug überraschende Perspekti‐ ven auf die Religion, sondern hier liegt auch eine Nötigung vor. Religion kann nicht nur, sie muss auch perspektivisch erschlossen werden, als Sache der subjektiven eigenen Erfahrung. Das lässt sich an der Gottesmetapher selbst zeigen: „Gott“ ist ein Wort, das ein religiöses Verstehen auch blockie‐ ren kann. Allzu schnell ist der alte Mann auf der Wolke assoziiert, der in das Leben übernatürlich eingreift und seinen frommen Anhängern hilft - was aber ja erkennbar nicht der Fall ist. Es ist erheblich nahe liegender und eigentlich auch leichter, das eigene existenzielle Erleben heute als „Einssein mit dem Universum“ (Schleiermacher) zu deuten oder Gott die „Tiefe des Seins“ (Paul Tillich) zu nennen, als zu den alten anthropomorphen und theistischen Gottesvorstellungen zu greifen. Religionsdidaktisch ist es deutlich offener, von „das, was man Gott nennen kann“ zu sprechen, als unglaubwürdig gewordene Vorstellungsbilder einzubringen. Manchmal kann das geradezu als befreiend erlebt werden. 3 Existenzielles Erleben als Kern der Religionstradition Wenn von Religion die Rede ist, ist fast immer von der religiösen Kultur die Rede, also von der sichtbaren Religion. Kern dieser religiösen Kultur, und auch ihr „Zweck“, ist aber neben und vor aller Vergewisserung immer ein tiefes Erleben, das religiös gedeutet wird und dem Leben dient. Anders gesagt: im Zentrum der Religion stehen gedeutete Lebenserfah‐ rungen, und gerade nicht religiöse Traditionen. Man kann genau das an der Bibel studieren: Hier werden Geschichten von Mord und Befreiung, von Elend und Gemeinschaft, von Feigenbäumen und suchenden Frauen erzählt, die mitten aus dem Leben stammen und deshalb auch von jedermann bestens nachvollziehbar sind. Was diese Geschichten zu religiösen macht, ist ihr Kontext, ihre Deutung: Sie werden als Erfahrungen mit Gott bzw. unter seiner Perspektive erzählt. Der Auszug der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten etwa ist eine durch und durch profane Geschichte; religiös wird diese Erfahrung genau dann, wenn gesagt wird: „Gott führte uns heraus, Ross und Reiter der Verfolger warf er ins Meer.“ Es ist also das existenzielle Erleben und seine Rahmung, die die Bibel spannend und zu einem religiösen Buch machen, und gerade nicht ihr religiöser Nimbus oder ihr theologischer Lehrgehalt. Das bedeutet zum einen, dass es das Leben ist, um das es in der Religion eigentlich geht, 369 3 Existenzielles Erleben als Kern der Religionstradition <?page no="370"?> nicht um die Religion selbst; und zum anderen, dass jeder Mensch zu jeder Zeit sein eigenes existenzielles Erleben ganz genau so deuten und kontextualisieren kann, wie es die Bibel vormacht. Religionsdidaktisch ist nicht die Bibel zu „lernen“, sondern zu lernen ist, es genauso zu machen wie sie. Das ist es, was Ingo Baldermann so treffend die „implizite Didaktik“ der Bibel nennt (→ 11.1), die ein menschheitliches Erfahrungsbuch ist. Es gilt also, das existenzielle Erleben und die entsprechenden Fragen von heute wahrzunehmen: Erfahrungen von Schmerz, Ausgestoßensein, Liebe, Erfüllung und Glück, die so alt sind wie die Menschheit. Die Fragen freilich, die diese Erlebnisse auslösen, haben sich erheblich verschoben. Es sind heute vor allem die Frage nach dem Sinn von allem („Wozu mache ich das alles überhaupt“? ), nach dem Wert des eigenen Lebens („Wer bin ich als Mensch - unabhängig von meiner Leistung, meinem Erfolg und meiner sozialen Attraktivität? “) und die Frage nach der Lebensenergie (Motivationslosigkeit, innere Leere, mangelnde Lebensfreude, Erschöpfung, Burnout, Depressivi‐ tät), die sich als ein umfassender Resonanzverlust beschreiben lassen, den frühere Zeiten so nicht kannten. Es sind genau diese Erfahrungen, die auch religionsdidaktisch zentral sind. Was nicht heißt, dass keine religiösen Traditionen mehr gelehrt und gelernt werden sollen; sondern, wie Gundula Rosenow prägnant formuliert: „Es wird nichts Anderes, sondern ‚anders‘ unterrichtet“ (Rosenow 2016, 363). Die Erfahrung in und hinter dem Text bzw. der Tradition ist entscheidend, nicht die Tradition als geronnene Form. Die Erfahrungen der Glaubenstradition lassen sich durchaus auf heutige Existenzfragen übertragen, allerdings nicht mehr bruchlos und durchge‐ hend. Im Leiden des Hiob und im Schmerz der Passionsgeschichte kann man den eigenen Schmerz sehen. Sünde kann man, wie gezeigt, als Abtrennung vom Leben verstehen, als Entfremdung oder als die Unfähigkeit, der eigenen inneren Stimme zu folgen. Schöpfung und Bund Gottes mit den Menschen spiegeln das Angewiesensein des Menschen auf Leben, Ernährung, sozialen Kontakt; sie zeigen, dass wir eigentlich nur das wenigste zur freien Verfü‐ gung und Gestaltung haben. Schleiermacher nannte das das „Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit“. Das Reich Gottes ist eine Chiffre für die Kostbarkeit des Lebens. Die Lehre von Gnade und Rechtfertigung lassen sich als Ausdruck der Würde des eigenen Selbst deuten. Als übergeordnete „Glaubenswahrheit“ aber stellt sich das Christentum in Gegensatz zu den Erfahrungen und Fragen der Menschen. Vor allem aber sind die Betonung von Schuld, Erlösungsbedürftigkeit und die Angst vor Gottes Gericht kaum noch nachvollziehbar. 370 16 Religiöse Traditionsverhaftung <?page no="371"?> Die religiöse Erfahrung (→ 2.2, 18.1) ist eine Existenzerfahrung wie andere solche Erfahrungen auch. Wo diese Erfahrung stark ist, führt sie zu einer veränderten Sicht auf die Welt und das Leben. Die Sehnsucht nach solchem Erleben ist weit verbreitet. Es erscheint paradox, aber eben auch symptomatisch, dass dieses für Religion so zentral bedeutsame Erleben im alten Glaubensdenken keinen Platz findet. Auch in der Kirche wird die entscheidend wichtige religiöse Erfahrung wie eine private Nebensache behandelt. Wer solch eine religiöse Erfahrung macht, stößt bei Geistlichen in aller Regel sogar auf Unverständnis und Ablehnung. Dabei sind es auch bei Theologen und Kirchenleuten so gut wie immer die prägenden religiösen Erfahrungen, die sie selbst in Theologie und Kirche geführt haben; und bei allen Großen der christlichen Geschichte, von Jesus über Franziskus, Eckhart bis Luther, lässt sich ein tief prägender Moment religiösen Erlebens finden. Die religionsdidaktische Konsequenz aus diesen Überlegungen ist, reli‐ giöses Lernen auf „Kultusfähigkeit“ (Schleiermacher, 11.4) hin auszurichten, was nicht nur die Teilnahme an religiösen Handlungen meint, sondern vor allem kultische Selbstgestaltung bedeutet. Religionsdidaktik hat zu re‐ ligiösem Selbstausdruck zu befähigen und damit zum „Austausch religiöser Erregung“ (so ebenfalls Schleiermacher), also zu religiöser Kommunikation. 4 Texthermeneutik, Kulturhermeneutik, Lebenshermeneutik „Religiöse Artikulationen zurückzubuchstabieren auf elementare Erfahrungen des Menschseins, um sie mit alternativen Deutungsoptionen in ein erhellendes Gespräch zu bringen, markiert das bleibend dringliche Anliegen eines korre‐ lativen Religionsunterrichts, dessen Reflexion und Realisierung eine auf die Eigenwelt des Religiösen fixierte Religionsdidaktik aus den Augen verloren zu haben scheint.“ (Porzelt 2014, 136) Text- und Kulturhermeneutik Grundmethode der Geisteswissenschaft, mithin der Theologie, ist die Her‐ meneutik: das Verstehen überlieferter Texte, deren ursprüngliche Absicht eruiert und verstanden werden soll zum Zweck einer Auslegung für die Gegenwart. Neben der Philosophie ist die Theologie das am meisten auf alte Texte gegründete Fachgebiet. Daher konnte es lange so scheinen, als 371 4 Texthermeneutik, Kulturhermeneutik, Lebenshermeneutik <?page no="372"?> sei die Theologie als kritische Auslegung von Bibel-, Bekenntnis,- Lehr- und Theologentexten zentral bei ihrer Sache. Damit aber wird Theologie zu einer Sache der Vergangenheit, bei der nur noch sehr mittelbar zu verstehen ist, wie und ob sie noch dem gegenwärtigen Leben (und auch dem gegenwärtigen religiösen Leben) dient. Nur in einer traditionellen Kultur konnte man das konkrete Leben aus traditionellen Textquellen heraus deuten und leiten. In der prozessorientierten Moderne ist das immer weniger möglich. Theologie gerät daher zunehmend in die Nische einer Altertumswissenschaft (→ 7.2). Längst ist die klassische Hermeneutik daher (auch in anderen geistes‐ wissenschaftlichen Fächern) um eine Lebenswelt- und Kulturhermeneutik ergänzt worden. Zentrale Aussagen über den Menschen sind nicht meta‐ physisch ableitbar, sondern ergeben sich im Rückschluss aus seiner Kultur. Vor allem die Religion, der Bereich der Existenzfragen, Lebensdeutungen und -einstellungen, drückt sich immer auch in der Kultur aus. Paul Tillich nahm sogar an, dass die Kultur die Form der Religion überhaupt, und dass Religion umgekehrt der tiefste Kern und Gehalt jeder Kultur sei. Religion - hierzulande vorwiegend die kirchlich organisierte christliche, aber auch bereits der multireligiöse Markt - ist zwar ein eigener Bereich der Kultur mit einer eigenen „Systemrationalität“ (Niklas Luhmann). Darüber hinaus ist Religion aber immer auch eine Dimension der gesamten Kultur. Die christlichen Ideen etwa haben immer auch die Auffassung von Kunst, Ethik, Recht und das Verständnis des Lebens und der Welt überhaupt geprägt. In der traditionellen Hochkultur waren diese Berührungs- und Vermischungspunkte relativ klar benennbar. Seit der Vorherrschaft der populären Kultur (→ 14.4), in der sich die allgemeinen Bedürfnisse, Einstel‐ lungen und das Lebensgefühl der Mehrzahl spiegeln, lässt sich Religion zunehmend nur noch in Form von kulturell sichtbaren Zitaten, Analogien, Äquivalenten oder als „implizite“ Religion aufspüren. Grundsätzlich aber muss Religion am gelebten Leben abgelesen werden. Diese Aufgabe ist für Praktische Theologie und RP zu einer neuen Forschungsrichtung geworden: „Die gelebte Religion, auch die gelebte christliche Religion, die zu verstehen insgesamt die Theologie ein Interesse hat und haben muß, geht im Leben der Kirchen und Gemeinden nicht auf. Es ist daher zur spezifischen Aufgabe der Praktischen Theologie geworden, nicht nur Kirchenkunde zu betreiben, sondern darüber hinaus eine ,religiöse Gegenwartskunde‘ aufzubauen.“ (Editorial, IJPT 1/ 1997, 7) 372 16 Religiöse Traditionsverhaftung <?page no="373"?> Eine Kulturhermeneutik stellt eine Hermeneutik eigenen Zuschnitts dar: Nicht Texte allein sind zu verstehen, sondern auch Formen, Ausdruckshal‐ tungen, Ideen, Analogien, Vollzüge usw. - allgemein: religiöse oder religiös beschreibbare Phänomene. Der analytische Zugang zu diesen braucht vor allem phänomenologische Verfahrensweisen, welche äußerlich wahrnehm‐ bare Formen beschreiben. Religion ist keineswegs vollständig erschließbar durch Texthermeneutik! Das ist für die christliche Religion interessant, denn die abendländische Kultur ist vom Christentum zutiefst geprägt. Die Kenntnis z. B. des mytho‐ logischen Weltbildes der biblischen Zeit und der symbolischen Dimension religiöser Aussagen ist eine entscheidend wichtige Leistung der Textherme‐ neutik, die das vorschnelle Einzeichnen religiöser Texte in ein naturwissen‐ schaftliches Weltbild zu verhindern hilft. Sie muss allerdings dringend um religiös aktuelle Fragestellungen ergänzt werden. Texthermeneutik kann ebenso wenig Selbstzweck sein wie Religion, sondern muss der Auslegung des Lebens durch Texte zugeführt werden. Lebens- und Subjekthermeneutik Da sich Religion bei uns über die bekannte christliche hinaus in verschie‐ denartigen Formen und Stilen zeigt, liegt eine religiöse Kulturhermeneutik ausgesprochen nahe. Diese wiederum müsste eigentlich unmittelbar zu einer Hermeneutik religiöser Wahrnehmung erweitert werden, wenn denn verstanden werden will, wie sich die Menschen in dieser Situation religiös orientieren. Was ist subjektiv als religiös zu erkennen, was ist religiös attraktiv, welche Phänomene, Ideen und Haltungen werden überhaupt als „religiös“ wahrgenommen? Für diese Fragen besteht in der RP derzeit Fehlanzeige. Es gibt keine entsprechende empirische Forschung, ausgenommen nur die Befragungen zum RU (→ 12.1) oder Bezüge zu soziologischen Studien wie etwa den Shell-Jugend-Studien. Wenn religiöse Kulturhermeneutik die Hermeneutik der „objektiv“ wahrnehmbaren religiösen Formen und Gehalte ist, dann muss eine Hermeneutik religiöser Wahrnehmung nach der subjektiven Seite religiösen Sehens und Erlebens fragen, also danach, welche Wirkung religiöse Gehalte auf die Individuen haben, mehr noch: Was interessiert die Menschen an Religion, wie nehmen sie sie wahr, welche religiösen Phantasien haben sie, wie nehmen sie eigene religiöse Deutungen vor? Welche religiösen Analogien und Orientierungsmuster werden faktisch aus‐ 373 4 Texthermeneutik, Kulturhermeneutik, Lebenshermeneutik <?page no="374"?> gebildet? Religiöse Darstellungen, Verhaltensweisen, aber eben auch Wahr‐ nehmungsweisen müssen religionspädagogisch „gelesen“ werden können wie Texte. Die RP muss wissen, unter welchen Umständen Menschen heute Erfahrungen „unbedingten Betroffenseins“ machen. Für eine wenigstens ungefähre Einschätzung eignen sich vor allem popu‐ läre Kultur und Medien (→ 14.4), da sie einen relativ genauen Spiegel von Bedürfnissen, Auffassungsweisen und gegenwärtigem Lebensgefühl abge‐ ben. Hier zeigen sich als religionsbezogene gegenwärtige Bedürfnisse die nach Überschaubarkeit, gedeuteter Ordnung und Orientierung, bei denen nach wie vor die Erklärungskraft und Spannung des mythischen Erzählsche‐ mas genutzt wird (ursprüngliche Ordnung, Einbruch des Bösen, Erwählung des Retters, Kampf, Erlösungstat, Wiederherstellung der Ordnung); die Suche nach starken Identifikationsmustern und -möglichkeiten, die meist an Einzelpersonen aus den Medien fest gemacht wird und nach Zugehörigkeit fragt; der Wunsch nach Teilnahme an etwas irgendwie Bedeutsamen (Kino‐ film, Popkonzert, Fußball usw.); das Spiel mit Apokalypse, Zeitverschiebung, Illusion, ironischen Brechungen usw., die eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeitsfrage bedeuten (Was ist real, was ist Fiktion? ); die Suche nach starken Gefühlen und ästhetisch gekonnten Inszenierungen, die die Sehnsucht nach Emotion und intensiven Erlebnissen spiegeln. Außerdem sind soziologische Untersuchungen aufschlussreich. Ungebro‐ chen attraktiv ist demnach die Frage nach der bedingungslosen Liebe, die bis zum Selbstopfer geht, und die eine Sehnsucht nach dem Unbedingten, Trag‐ fähigen und nach nicht relativierbarer Bedeutung offenbart; ferner die Frage nach dem Glück, der in einer oft rastlosen Suche nachgegangen wird (Glück als zufallende Erfüllung oder als Lohn eigener Anstrengung, im Konsum, im Erfolg, in der Liebe, als Lebenszufriedenheit usw.), und die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens. Offensichtlich ist es die Sehnsucht nach Bedeutung des eigenen Lebens und der Dinge, die die religiöse Suche motiviert. Alle diese Fragen werden oft nicht explizit, sondern eher unterschwellig gestellt. Sie entsprechen dem narzisstischen Lebensgefühl mit seiner Sensibilität, Labilität, inneren Unruhe (nach wie vor äußerst lesenswert: Skårderud 2000) und diffusen Sehnsucht nach Dingen, die über Konsum hinausgehen und wirkliche Bedeutung haben (→ 15.2). Generell sind intensive Erlebnisse und Möglichkeiten der Selbsterfah‐ rung, also der persönlichen Entwicklung, religiös attraktiv; sie spiegeln die religiöse Individualisierung (→ 15). Unattraktiv dagegen sind religiöse Überzeugungen (sie gelten als ideologisch) und feste Gemeinschaften, 374 16 Religiöse Traditionsverhaftung <?page no="375"?> Belehrungen (vor allem ohne Beteiligungsmöglichkeiten) und moralische Vorgaben. 5 Tradition als Deutungsrahmen „Heute, so scheint mir, ist nicht mehr die Tradition die lichtlose Höhle, aus der uns die vorurteilslose Vernunft in emanzipatorischer Absicht herausführen müsste; heute ist es vielmehr ein zu pragmatischem Erfolgsdenken und ökonomischer Cleverness heruntergekommener Alltagsverstand, der unserem Blick die Weite nimmt.“ (Englert 2008, 105) „Die Symboltradition der Religion spricht in Bildern und weiß viel zu erzählen.“ (Gräb 2006, 35) Religiöse Traditionen werden in der Moderne nachhaltig relativiert. Die religiöse Kultur, und mit ihr die Eröffnung von religiösem Erleben, kommt aber nicht ohne diese Traditionen aus. Sie verbürgen die kulturelle Identität einer Religion und sorgen für ihr Weiterleben. Welche Rolle kommt der religiösen Tradition also zu? Rudolf Englert hat die religiöse Tradition als „Resonanzraum“ bezeichnet, der eine bestimmte „Ansprechbarkeit“ und Prägung schafft. Das ist eine kluge Einschätzung. Grundsätzlich muss aber klar sein: Religiöse Tradi‐ tionen sind nicht selbst schon Religion, sie sind Niederschläge religiöser Erfahrung oder Deutung. Als solche können sie eine bestimmte Sicht auf die Welt vermitteln und anstiften. Auch wenn Religion faktisch nach wie vor oft über ihre Traditionen, also über ihre Texte, Räume, Gestaltungsformen, Rituale usw. gelernt wird, so ist das doch nicht mehr der einzige Weg, der zu religiöser Bildung führt. Das kann überall geschehen. Und es geschieht vor allem dort, wo Menschen selbst religiös symbolisieren und kommunizieren. Auch dafür kann die religiöse Tradition eine gute Anleitung sein. Eine Anleitung allerdings, nicht das, was es zu lernen gilt. Sie ist ein Reservoir und Angebot für solche Deutungsvollzüge, und zwar ein kluges und gewichtiges - denn ihre Deutungsvorgaben sind dem, was ein einzelner Mensch oder eine Gruppe leisten können, oft weit voraus. Sie bilden darüber hinaus einen bedeutsamen Rahmen für subjektive Deutungsvollzüge, erlauben es also, die eigene Lebensdeutung in einen breiten historischen Traditionsstrom hineinzustellen. Ihre Sprache und Formung stammt allerdings oft aus nur noch schwer nachvollziehbaren Kontexten. 375 5 Tradition als Deutungsrahmen <?page no="376"?> Religiöse Traditionen sind Medien religiöser Erfahrung, die ihren Zweck dann erfüllen, wenn sie sich überflüssig gemacht haben. Sie sind Brücken, die zum Überschreiten da sind. Der sinnvollste Moment beim Lesen der Bibel ist der, in dem man das Buch zuschlägt, weil man eine wichtige Erfahrung gemacht hat. Der beste Moment in einem Gottesdienst ist der, in dem man inspiriert nach draußen geht und die Kirchentür hinter einem zufällt. Religion hat man dann verstanden, wenn man in der Lage ist, das eigene Leben in einen Rahmen zu stellen, der der eigenen Verfügung entzogen ist. Wo ein Erleben nicht selbst schon religiöse Dimension hat, ist es die Deutung, die ein existenzielles Erleben oder Fragen zum religiösen macht. Wo immer der Bezug „auf Einheit und Totalität“ (Schleiermacher) genom‐ men wird, wo also der Deutungsrahmen in einen übergreifenden Horizont gestellt wird, in etwas, was mich „unbedingt angeht“ (Paul Tillich) und gerade darin meiner Gestaltungsmacht entzogen ist, ist die Deutung eine religiöse. Auch ein individualisierter Mensch kann einsehen, dass religiöse Tra‐ ditionen größer sind als die eigene persönliche Erfahrung. Sie haben so verstanden vor allem eine Inspirations- und Orientierungsfunktion: „Die Tradition liefert eine Grammatik zur Generierung immer wieder neuer Lesarten von Welt“ (Rudolf Englert 2008, 100), die nicht nur strukturierend, sondern auch verwandelnd wirken können. Dazu freilich müssen die reli‐ giösen Traditionen auch begehbar sein und entsprechend offenstehen, klug inszeniert und angeboten werden. Und immer ist auch an die Möglichkeit zu erinnern, sich in diesem Traditionsstrom selbst frei zu platzieren. Religiöse Traditionen sollen geachtet, dürften aber auch kritisiert und abgelehnt werden. Nichts schadet einer Religion (und damit auch der subjektiven religiösen Lebensdeutung) so sehr wie die Abwehr von innerreligiöser Kritik. Eine heute sinnvolle Einschätzung religiöser Traditionen wird daher zum einen davon ausgehen, dass deren relative Unverzichtbarkeit gerade nicht in ihrer sakrosankten Gültigkeit besteht, sondern in ihrer Lebensdienlichkeit. Diese Traditionen sind ein Erfahrungszusammenhang, der einer eigenen Logik folgt und nicht nur eine eigene „Grammatik“, sondern durchaus auch eine - allerdings nur interne - eigene Verbindlichkeit hat, die zu übernehmen Sache freier Entscheidung und eigenen Überzeugtseins bleiben muss. Sie erfüllen ihren Zweck vollkommen, wo sie zu eigener religiöser Lebensdeutung anleiten. Religiöse Traditionen müssen als Medien religiöser Selbstbildung verstanden und entsprechend didaktisiert werden. 376 16 Religiöse Traditionsverhaftung <?page no="377"?> Zusammenfassung Die Religion missversteht sich selbst, wenn sie sich über die musealen Fundstücke ihrer Traditionen weiterzugeben versucht. Lebendige Re‐ ligion ist Betroffenheitserfahrung. Sie entsteht aus einem existenziellen Erleben, das eine eigene symbolische Sprache generiert; diese ist eine lebensbezogene Alternative zum naturwissenschaftlichen Denken, und sie ist dem modernen perspektivischen Denken durchaus verständlich. Die theologische Texthermeneutik muss zu einer Kultur-, Lebens- und Subjekthermeneutik erweitert werden. Sie muss religiöse Traditionen als Niederschläge existenzieller Erfahrungen aufschlüsseln, die in einer übergreifenden Weise gedeutet sind. Die religiöse Tradition ist nicht die Sache selbst, sie bildet aber einen Resonanzraum, der nach wie vor inspirierend und orientierend sein und als Anleitung zu religiöser Selbstdeutung dienen kann. Literatur Zu 1: F. Schweitzer u. a. 2002; bes. R. Englert, 17-50 und 89-106 - Halbfas 2011. Zu 2: B. Beuscher/ D. Zilleßen 1998 - J.S. Spong 2004 - M. Kroeger 2005 - J. Kunstmann 2010 - H. Halbfas 2011 und 2012 - E. Drewermann 2014 - D. Korsch 2020. Zu 3: G. Rosenow 2016. Zu 4: W. Gräb 2006 - Dressler 2020. Zu 5: R. Englert 2008, Kap III. 377 Literatur <?page no="379"?> Perspektiven <?page no="381"?> 17 Religiöse Bildung „Das Leben bildet … Tatsächlich bildet, d. i. veredelt [den Menschen] jedoch nur weniges, fast nichts.“ (von Hentig 1996, 11 und 16) „Religiöse Bildung bedeutet erstens die Einsicht in die lebenspraktische Unum‐ gänglichkeit religiöser, in der Unbedingtheitsdimension sich bewegender Sinnre‐ flexion und zweitens gesteigerte Urteilskompetenz in der lebensdienlichen Wahl und somit dem individuellen Aufbau ihrer semantischen Gehalte. Es geht nicht um wahre oder falsche, wohl aber um mehr oder weniger sinnvolle, mehr oder weniger lebensdienliche, eine sinnhafte Kohärenz in der Lebensführung stiftende Deutung von Wirklichkeit.“ (Gräb in Faßler u. a. 1998, 157) „Bildung“ wird als Begriff derzeit für schulische Systeme und als Synonym für Wissen, Vernunft und kritische Problemorientierung gebraucht. Damit aber ist wenig anderes als die simple Idee von Erziehung zum rationalen Denken und berufsbezogener Ausbildung gemeint, die weder die Vorausset‐ zungen noch den Sinn noch die bedeutsame Tradition einer Bildung kennt, die diesen Namen wirklich verdient. Das Leben bildet, und zu ihm gehören sehr viel weitere und andere Dimensionen als Verstand und angemessenes Funktionieren: Gefühl, wache Wahrnehmung, Interesse, Bereitschaft, Kultiviertheit usw. Bildung betrifft den einzelnen Menschen; sie ist darum nicht denkbar ohne die Motivation zu ihr, ohne das Wissen um geeignete Anlässe (die wesentlich, aber keineswegs ausschließlich aus dem Bereich der gestalteten Kultur kommen), ohne ihre individuelle Unverrechenbarkeit und Nicht-Funktionalisierbarkeit (Bildung ist immer Selbst-Bildung) und nicht ohne ihren tiefen Bezug zu je subjektiver Bedeutung, Sinnerfahrung und zur Religion. Bildung ist nicht aufgeklärtes Denken - ihre hohe pädagogische Bedeu‐ tung hat sie gerade in ihrer Entfaltung gegen das Vernunft- und Erziehungs‐ denken der Aufklärung erfahren. Gemeinsam mit der Vergleichbarkeit von Religion, Bildung und Kunst, die den Bereich persönlichster Betroffenheit und Selbstentfaltung bezeichnen, liegen hier für die RP höchst bedeutsame Zusammenhänge vor, die über das Verständnis und die Ziele religiösen Lernens entscheiden. <?page no="382"?> 1 Was ist Bildung? „Die Antwort auf unsere behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit ist Bildung - nicht Wissenschaften, nicht Information, nicht die Kommunikations‐ gesellschaft, nicht moralische Aufrüstung … Für die Bestimmung der Bildung, die dies leistet, sind die Kanonisierung von Bildungsgütern, die Entscheidung für ein bestimmtes Menschenbild, die Analyse der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse (zur Ermittlung der geforderten ,Qualifikationen‘) gleicher‐ maßen untauglich.“ (v. Hentig 1996, 11) Bildung ist Antwort auf zerbrechende Selbstverständlichkeiten. Sie ist darum heute, in einer pluralen und individualisierten Welt (→ 14; 15), so aktuell wie zu Zeiten der Aufklärung, die die Menschen von alten Verbindlichkeiten und Gewohnheiten befreite. Individualisierung erfordert Bildung: Die Lebensaufgaben müssen heute selbst gestaltet werden. Dazu braucht es zwar immer eine gute Erziehung, mehr noch aber Selbstbewusst‐ sein, Kreativität, Gespür, einen weiten Horizont und gute Ideen, d. h. die Befähigung dazu, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Bildung verträgt darum (anders als Erziehung) keine vorgegebenen Ziele, sondern braucht Anlässe und „Maßstäbe“. Zu letzteren zählt Hartmut von Hentig die Abwehr von Unmenschlichkeit, die Wahrnehmung von Glück, die Fähigkeit und den Willen sich zu verständigen, das Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz, Wachheit für letzte Fragen und die Bereitschaft zu Selbstverantwortung und Verantwortung in der Öffent‐ lichkeit (ebd. 75) - ein bemerkenswerter Katalog, zu dem ersichtlich nicht erzogen werden, und für den die Ausbildung einer kritischen Rationalität nur sehr bedingt verhelfen kann. Wo wird die institutionalisierte „Bildung“ (vor allem die Schule) heute auf solche Maßstäbe hin ausgerichtet? Sie sind im gängigen Bildungsbetrieb eher Störungen und „Abfallprodukte“, die sich zwar durchaus einstellen sollen, faktisch aber dem Zufall überlassen bleiben. Schlimmer noch: Bildung ist heute zur Ausbildung degeneriert, die auf die persönlichen Belange, die vielgestaltige Bereicherung und freie Entfaltung der Individuen keinerlei Rücksicht mehr nimmt, sondern sie ökonomischen Zwecken unterwirft: „Aus Bildung ist ein Instrument gesellschaftlicher Konditionierung gewor‐ den“ (ebd. 50). Der ursprüngliche Sinn der Bildung ist damit in sein glattes Gegenteil verkehrt. Begriffszusammensetzungen wie Bildungseinrichtun‐ gen, Bildungspolitik, Bildungspläne verweisen auf eine Institutionalisierung 382 17 Religiöse Bildung <?page no="383"?> von „Bildung“, die im Prinzip funktionale Zurichtung, nicht Entfaltung bedeutet. Bilden ist immer Sich-bilden. Das verträgt keine vorgeordneten Autori‐ täten und keine festen Zielangaben - ganz dem entsprechend, wie das Leben sich in einer pluralen und freien Welt vollzieht und vollziehen muss. Bildung braucht allerdings Anlässe, d. h. Anstöße und motivierende Förderung, und sie kann nicht ohne die maßgebliche Beteiligung der Ein-Bildungs-Kraft und ohne innere Motivation gedacht werden: „,Anlässe für Einsicht und Freude‘ - dies scheint mir die knappste Formel für das zu sein, was wir den … Menschen schulden, damit sie zu sich bildenden Subjekten werden können“ (ebd. 74). Zu solchen Anlässen zählt von Hentig - in deutlichem Unterschied zu den gängigen Bildungstheoretikern - Geschichten (vor allem mythologische und religiöse), Sprache und kultiviertes Gespräch, Theater‐ spiel, Naturerfahrung, das Feiern von Festen und Musik. An diesen können sich Menschen ihren Anlagen nach entfalten und entwickeln. Anfügen kann man hier noch die (sportliche) Bewegung. Bildung meint die Entfaltung der Person. Andernfalls sollte man nicht von Bildung sprechen! Solche Entfaltung ist (wenn sie echt ist) immer verbunden mit Auswirkungen nach außen hin - auf das Umfeld des Gebildeten und auf die Gesellschaft. Bildung kann aber nicht bei der Gesellschaft ansetzen - das wäre immer Sozialisation oder Erziehung (→ 2.3). Erziehung muss der Bil‐ dung zwar immer vorausgehen. Entfaltung aber verträgt keine normierten Vorgaben, das also, was in der Erziehung die Regeln, Lerninhalte, anvisierte Kompetenzen und Curricula sind; Bildungsinstitutionen und (berufliche) Ausbildung können zur Bildung eines Menschen beitragen, sie aber nie garantieren und oft genug nur verfehlen. Bildung ist sowohl ein Prozess als auch dessen Ergebnis. Sie geschieht grundlegend über die Wahrnehmung der Sinne, also ästhetisch: Sensibilität, Empfänglichkeit, Offenheit, Aufnahmebereitschaft sind deren Grundlage; Rationalität ist durch solche Wahrnehmungsprozesse bedingt und baut auf ihnen auf (→ 13.5). Es gibt keine Bildung ohne gesellschaftliche bzw. politische Verantwortung und ohne kritische Rationalität. Sie sind logische Folge und notwendiger Ausdruck echter Bildung. Es ist aber ein prekäres Missverständnis, wenn - wie sehr verbreitet - Verantwortung und Ratio‐ nalität mit Bildung gleichgesetzt werden (denn es gibt sehr rationale, sehr ungebildete Menschen) oder wenn gar davon ausgegangen wird, Bildung sei über Rationalität anzubahnen (die mag Bildung stimulieren, nie aber 383 1 Was ist Bildung? <?page no="384"?> wirklich begründen). Sie geschieht also nicht über Problembewusstsein, sondern weit eher über Evidenzerlebnisse. Bildung ist nicht denkbar ohne die Kommunikation und das Erleben von Bedeutungen und ohne Sinnverstehen. Sie ist das nur als tiefe Emotion zu verstehende Bewusstsein davon, dass wir - trotz aller eigenen Initiative - von Vorgaben und Beziehungen leben, die wir selbst nicht garantieren, sondern nur annehmen können. Hier hat Bildung einen offenen Rand hin zur Religion. Gebildet ist ein Mensch, der interessiert daran ist, „wie die Welt aus ande‐ ren Augen aussieht“, dem das Fremde als Bereicherung gilt, der über Neugier verfügt und über ein Selbstwertgefühl, das er nicht aus dem Vergleich mit anderen beziehen muss, der eine persönliche und differenzierte Sprache spricht, und der genussfähig ist (Merkmale nach Spaemann, zit. v. Hentig 22 f.). Bildung ist Kultiviertheit, Empfänglichkeit und wacher Sinn. Solche Merkmale entstehen nicht automatisch, sondern setzen eine förderliche, d. h. kultivierte Umwelt voraus, die die Anstöße zu einer entsprechenden Entfaltung gibt, und das Interesse dessen, der sich bildet. Sie lassen sich - anders als bei Erziehung - nicht systematisieren und operationalisieren. Der Bildungsgedanke stellt neben der Religion den größten denkbaren Einspruch gegen die Funktionalisierung des Menschen und gegen Ideologie überhaupt dar. Darum kann Bildung fast gleichgesetzt werden mit Mensch‐ werdung. 2 Der Bildungsbegriff in der RP Lange hat man den Bildungsbegriff vermieden; er war durch das Bürgertum allzu sehr in Verruf geraten. Inzwischen aber ist er als grundlegende Kategorie in der RP wieder eingeführt. Bezugnahmen zur pädagogischen Bildungstheorie und zu den Bildungsinstitutionen sind inzwischen eine Selbstverständlichkeit. Bildung gilt als unverzichtbar, bisweilen sogar als Grundbegriff der RP insgesamt. Demgegenüber fällt auf, dass der Bildungs‐ gedanke in den Gesamtdarstellungen der RP allenfalls am Rand reflektiert wird. Populärster pädagogischer Bildungsdenker war Wolfgang Klafki, der die Pädagogik für mehrere Jahrzehnte bestimmt hat und zum Vorbild der RP wurde (→ 3.4), obwohl er weder die ästhetische Grundstruktur von Bildungsprozessen noch die Religion bedenkt und auch der Entfaltung des 384 17 Religiöse Bildung <?page no="385"?> Individuums keinerlei zentrale Bedeutung zumisst. Stattdessen geht Klafki von gesellschaftlichen Problemstellungen aus, gegen die die Klassiker die Bildungsidee gerade gewendet haben (s. u.). Plausibel und dem Denken der Klassiker gemäß ist seine Grundformel: „Bildung ist Erschlossensein einer dinglichen oder geistigen Wirklichkeit für den Menschen, aber auch zugleich: Erschlossensein dieses Menschen für diese seine Wirklichkeit“ (Klafki 5 1996, 43), die zu einer „kategorialen Bildung“ wird, d. h. zu Struktu‐ ren vernünftigen und übertragbaren Verstehens. Solche Bildung wird nach Klafki durch „epochaltypische Schlüsselprobleme“ erreicht, an denen im didaktischen Sinne das Elementare und Fundamentale dargestellt werden kann - also nicht mehr an fest vorgegebenen Inhalten. Klafki bearbeitet damit allerdings nicht die Fragen von Individuen („Bildungsfragen sind Gesellschaftsfragen“) und kann auch keine Auskunft darüber geben, wer eigentlich über die zu thematisierenden Probleme bestimmt. Die Rolle von Kultur (Kunst, Stil, Geschmack), Motivation, Ästhetik, Religion und individueller Erfahrung für die Bildung wird nirgendwo bearbeitet. Darum trägt Klafkis Denken eher die Züge einer Sozialisationstheorie. Den wichtigsten Anstoß zur Neuaufnahme des Bildungsbegriffs in der RP hat Karl-Ernst Nipkow gegeben. Er orientiert sich an Klafki. Religiöse Bildung bedeutet für ihn die Balance zwischen der christlichen, in der kirchlichen Überlieferung präsent gehaltenen Glaubens-„Identität“ und ih‐ rer gesellschaftsöffentlichen „Verständigung“ (vgl. den Titel der von Nipkow maßgeblich gestalteten Denkschrift zum RU, → 6.4). Nipkows Bildungsden‐ ken ist - anders als das der Klassiker (s. u.) - an aufgeklärter Rationalität und an der „Bildungsmitverantwortung“ der Institution Kirche interessiert, die angeblich „mehrperspektivisch“ entfaltet, faktisch aber nur aus einer kir‐ chenintern überzeugenden Sicht heraus begründet wird. Nipkow verwendet „Bildung und Erziehung“ fast durchgehend synonym, was deutlich macht, dass auch er, trotz seines Plädoyers für „kritische“ Religiosität, Mündigkeit und Verständigungsfähigkeit, nicht an der Bedeutung der Religion für die Entfaltung der Person interessiert ist, sondern an Sozialisation. Eine bedeutsame Weiterführung hat Peter Biehl vorgelegt: „Bildung vollzieht sich auf dem langen Weg über die sinnvermittelnden Objekti‐ vationen und Symbole der Kultur. In dieser Perspektive ist der Bildungsvorgang als Verstehensprozess zu begreifen.“ (Biehl in EvErz 43/ 1991, 577 f.; dort mehrere Kursivsetzungen) 385 2 Der Bildungsbegriff in der RP <?page no="386"?> Bildung ist also angewiesen auf Anstöße „von außen“, und die Religion lässt sich hier als Anstoß gut zurechnen. Auch Biehl spricht gern von „kritischer“ Bildung, die an „Schlüsselerfahrungen“ gebunden ist, immer aber auch mit rationalem Denken in Verbindung bleibt. Wer die Gehalte und Symbole der Kultur erschließen will, ist ferner auf deren genaue Wahrnehmung angewiesen - an dieser Stelle bemerkt Biehl als erster den Zusammenhang von religiöser Bildung und Ästhetik, dem er selbst auch ausführlich nachgegangen ist. Ein weiterer engagierter Vertreter des Bildungsgedankens in der RP ist Rudolf Englert. Er geht davon aus, dass Glaubensgeschichte und Subjekt‐ werdung auch unter modernen Zeitbedingungen nicht getrennt nebenein‐ ander herlaufen können. Darum muss die RP sie so fördern, dass sie als Bildungsprozesse erinnert werden können. „Plausibilität“ ist für Englert eine grundlegende Kategorie. In der religiösen Erwachsenenbildung müssen darum die Erkenntnistätigkeit des Subjekts und die „Relevanz der Alltags‐ welt“ beachtet werden. Erwachsenenbildung muss lebensweltorientiert und teilnehmerbezogen arbeiten. Die RP kann sich generell nicht mehr als Glaubensweitergabe verstehen, sondern muss der religiösen Bildung der Menschen zuarbeiten. Erst allmählich gewinnt der Bildungsbegriff in der RP Kontur und beginnt sich von Rationalität, Verständigungsfähigkeit und kritischer Mündigkeit (die zwar Anteile von Bildung sind, aber eigentlich Erziehungsziele darstel‐ len) zu unterscheiden. Bildung muss konsequent als Entfaltung der Person gedacht werden, wenn sie nicht durch Erziehung und Sozialisation ersetzbar sein soll. Das verlangt von der RP offenbar immer noch eine Umorientierung. Inzwischen ist man sich weitgehend einig: Die RP kann die Vermittlung der religiösen Tradition (→ 16) nicht mehr so betreiben, dass die Subjekte als deren „Adressaten“ und Empfänger gesehen werden, ihre Bedürfnisse, Alltags-Erfahrungen und Lebensorientierung aber außen vor bleiben. Reli‐ giöse Emotionen, Betroffenheiten und Interessen und deren Sinn für die einzelne Person müssen plausibel und lebensbezogen herausgearbeitet und in nachvollziehbarer Weise der Bildung der Menschen zugeführt werden. 3 Die Bildungstheorie der Klassiker „Der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die 386 17 Religiöse Bildung <?page no="387"?> höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlässliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, [nämlich eine] Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus.“ (Humboldt 1903, 106; orthograph. angepasst) Diese berühmten Sätze Humboldts von 1792 beschreiben Bildung als die freie und verantwortete Entfaltung des Menschen durch Selbsttätigkeit, die durch Anregung zwischen Selbst und Welt, zwischen Individuum und Gesellschaft geschieht. Bildung ist also die Selbstverortung des Menschen in den spannungsreichen Bezügen des Lebens, ja sie ist der Sinn („Zweck“) des menschlichen Lebens überhaupt. Sie kann nur in Freiheit gedeihen, die in Zeiten vollbrachter Aufklärung Bedingung und Anlass zugleich für die Bildung ist. Bildung antwortet also auf die große Herausforderung, die den Menschen aus alten Bindungen, Gewohnheiten, Traditionen und Gewissheiten in eine Situation entlassen hat, in der alle Horizonte offen und die Möglichkeiten der Gestaltung prinzipiell unendlich geworden sind. Die Aufklärung nötigt zur Selbstbildung. Bildung ist die Entfaltung des Menschen, seiner immer schon mitgegebe‐ nen Anlagen, zu einer größtmöglichen Blüte. Vielfältige Anlässe führen zu größtmöglicher Entfaltung. Kinder, deren Eltern selbst gebildet sind und die Welt in vielfachen Facetten vorführen, entfalten sich erheblich besser als andere. Je verschiedener die Menschen sind und sich entwickeln, desto besser für sie und für das Gemeinwesen, das nur so zu größtem Reichtum kommt. Eine bemerkenswerte Idee! Menschen, die sich frei entfalten können, stellen in der Tat ihre Fähigkeiten und Interessen gerne dar und bringen sie vor anderen ein. Freigabe und Anregung sind darum die Basis sinnvoller moder‐ ner Pädagogik - und nicht Wissensvermittlung und Vernunftschulung. Nur so lassen sich auch Antrieb und Motivation begründen. Bedingung jeden sinnvollen Lernens: „Alle Kraft setzt Enthusiasmus voraus … Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über.“ (ebd. 114/ 118) Der Dichter Friedrich Schiller (der mit Humboldt befreundet war) hat diese pädagogisch wie menschlich höchst bedeutsame Einsicht auf ein psycholo‐ gisches Fundament gestellt: „Der gebildete Mensch macht die Natur zu 387 3 Die Bildungstheorie der Klassiker <?page no="388"?> seinem Freund“ - das heißt, er verdrängt oder diszipliniert seine sinnlichen Bedürfnisse nicht; im Bildungsprozess müssen Sinnlichkeit und Vernunft vielmehr so zusammen kommen und ineinander greifen, dass der ganze Mensch in Motivation und Lust zur Entfaltung seiner selbst kommt. Nach Schiller geschieht das vor allem im Spiel, das für alle Bildungsprozesse eine tragende Bedeutung hat (→ 20.3). Humboldt antwortet mit seiner Bildungstheorie auf die mit der Aufklä‐ rung gegebene Wendung der Traditionsorientierung zur Subjektivierung des Weltbezugs: wenn Lebensorientierung und Weltdeutung nicht mehr durch autoritativ vorgegebene Tradition erfolgen kann, muss jeder Mensch selbstbewusst und autonom selbst sein Leben gestalten. Bildung geht also (ebenso wie die Religion, was Humboldt aber nicht gesehen hat) zunächst und zutiefst die einzelne Person an und muss grundsätzlich kritisch gegen alle Institutionen gerichtet sein. Diese können nur den Rahmen garantieren, Bildung selbst aber nie herstellen. Interessanterweise hat der Bildungsbegriff, der zu den geistesgeschicht‐ lich bedeutsamsten überhaupt gehört, eine religiöse Wurzel. Meister Eckhart hat ihn aus dem Gedanken des Menschen als „Ebenbild“ Gottes (Gen 1,26) abgeleitet, der seinem ganzen religiösen Denken zu Grunde liegt. Nach Eckhart setzt jede Bildung eine „Entbildung“ voraus, also das Freiwerden von geprägten Vorstellungen. Dann erst, wenn der Mensch ganz „gelassen“ und „abgeschieden“ ist, kann er die mystische Erfahrung der „Gottesgeburt“ in der Seele machen, die ihn Gott hinter allen Begriffen, Bildern und Denk‐ vorstellungen erkennen lässt; er wird dann ein wahrhaft gebildeter, d. h. nach dem Bild Gottes geformter Mensch, der Gott in und hinter allen Dingen wahrzunehmen lernt. Das meint keineswegs eine ekstatische Erfahrung in der Klosterzelle - sondern ein umfassendes Bewusstwerden, das jedem Menschen offen steht und sich (modern gesprochen) in Hingabefähigkeit und Souveränität äußert. Nach der Aufklärung hat erst Friedrich Schleiermacher wieder an den Zusammenhang von Bildung und Religion erinnert und ihn neu fundiert. Bildung und Religion sind wechselseitig aufeinander angewiesen, sonst stehen eine ungebildete Frömmigkeit und eine unfromme, pietätlose, „bar‐ barische“ Vernunft und Wissenschaft unverbunden nebeneinander - so wie das heute leider weitgehend der Fall ist. Religion hat außerdem strukturelle Parallelen zur Bildung, beide erklären sich nämlich gegenseitig: Beide meinen den Bezug des Menschen zur umgebenden Welt und ein umfassend entfaltetes Gewahrwerden, das Gespür voraussetzt und als Bewusstwerdung 388 17 Religiöse Bildung <?page no="389"?> erfahren wird. Beide leben in sinnlich wahrnehmbaren Gestaltungen. Und weder Bildung noch Religion lassen sich begreifen ohne diese innerste Empfindung einer Person, die in ihr zu einem bedeutsamen Bild ausgeformt wird - hier zeigt sich der Wortzusammenhang mit der Bildung, der sich auch in der neurobiologischen Einsicht in die grundlegende Bild-Arbeit (pattern matching = Mustervergleich, →13.5) des menschlichen Gehirns spiegelt. Friedrich Nietzsche schließlich, der gegen die hohle „Bildung“ des Bür‐ gertums polemisierte, hat vollends klar gemacht, dass es für echte Bildung keine festen Vorgaben oder gar Wahrheiten mehr geben kann. „Es giebt keine ‚materielle Bildung‘“ (Nietzsche 1999, Bd. 1, 682 f.) - Bildung kann sich an allem ereignen, und sie ist immer „formal“, d. h. Bildung des Menschen selbst. Es hat darum keinen Sinn, mit „Bildungsgütern“, gar festen „Bildungs‐ kanones“ oder festen Wertvorstellungen zu beginnen. Diese mögen Anstoß sein, können sich aber eigentlich immer erst ergeben - während oder am Ende eines Bildungsprozesses. Diesen anzustoßen wäre das Geschäft einer Bildung, die wirklich den Menschen meint, und ihn nicht zum Funktionsteil gesellschaftlicher oder technischer Mechanismen macht. Die klassische Bildungstheorie benennt folgende Grundgedanken, die miteinander zusammenhängen: 1. Bildung ist die nicht berechenbare, nicht direkt steuerbare und durch keine Inhalte vorzuzeichnende Entfaltung der individuellen Person. Alles kann einen Menschen bilden; am ehesten tun das allerdings Lebenserfahrungen und die Ausgestaltungen der Kultur, am wenigsten Wissen und Ausbildung. 2. An Bildung ist kritische Rationalität immer beteiligt, sie beruht aber nicht auf dieser. Angestoßen wird sie durch sinnliche Wahrnehmungen, die für eine Person Bedeutung erlangen - unberechenbar verschieden nach Individuum und Situation. Der Prozess der Bildung (gerade auch der rationalen und ethischen! ) ist also immer ein grundlegend ästheti‐ scher. Er ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Selbst und Welt, d. h. von Wahrnehmungen und Resonanzen (inneren Bildern, Mustern, Bedeutungen). Für ihn spielt die Einbildungskraft (Phantasie, → 13.4) eine Schlüsselrolle; ihr „Ergebnis“ ist eine immer differenziertere Wahr‐ nehmungsfähigkeit (Sensibilität, Gespür, Geschmack). 3. Es gibt keine echte Bildung eines Menschen, die nicht von einem bestimmten Moment ihrer Entfaltung an sich ganz von selbst der Gemeinschaft zur Verfügung stellt, sei es in Form von politischer 389 3 Die Bildungstheorie der Klassiker <?page no="390"?> oder ethischer Verantwortung, in der Übernahme einer Aufgabe, als kritische Sicht auf die Verhältnisse, als Belebung der Kommunikation, als künstlerische Gestaltung oder wie immer. 4. Bildung und Religion haben eine parallele Struktur und Bedeutung und sind in hohem Maße vergleichbar. Beide bezeichnen das Verhältnis zwischen Selbst und Welt, das auf Wahrnehmung aufbaut und das sich zu einem bewussten Gespür und Sinn für das Leben entfaltet. 4 Bildung und Religion als ästhetische Phänomene „Ohne Formulierung, das heißt ohne ästhetische Präsentation ist Religion nicht wahrnehmbar.“ (Beuscher/ Zilleßen 1998, 15) Auch die Religion dient, wenn man sie nicht auf dogmatische Lehre verengt, sondern als Lebensvollzug und -deutung begreift, der Entfaltung der Person. Religion ist der Bereich, in dem Menschen sich ihre Lebensorientierungen suchen und ihren existenziellen Fragen, Emotionen und Ausdrucksbedürf‐ nissen nachgehen, in dem Verhaltensmodelle und Gewissheiten erprobt, diskutiert, weitergegeben und ausprobiert werden, die sich auf das Leben beziehen und zu deren Praxis nicht erzogen werden kann, schon gar nicht allein mit aufgeklärter Rationalität. Religion ist darum ein fundamentaler Bereich menschlicher Bildung. Religion, Kunst und Philosophie sind die drei Sinn-Agenturen der Kultur (→ 2.2). Philosophie ist rational, Religion und Kunst dagegen sind ästhetisch signiert, sie sind Wahrnehmungsphänomene. In einer zweckrationalen Welt sind sie die Anwälte der Lebensfragen. Religion und Bildung Religion und Bildung verweisen aufeinander. Religion ohne Bildung wird Fundamentalismus-anfällige Gläubigkeit, die zwanghaft nachspricht, ohne den Sinn auf sich selbst zu beziehen. Bildung ohne Religion bleibt unvoll‐ ständig und ohne Fundament: niemand ist wirklich gebildet, der nicht die Symbole und Kommunikationen der Religion und deren tiefen Inhalt kennt, und der nicht um die innerste Einsicht der Religion weiß: Leben ist ein Geschenk. 390 17 Religiöse Bildung <?page no="391"?> Exemplarisch steht für diesen Zusammenhang von Religion und Bildung der Name Friedrich Schleiermacher. Wie kein anderer hat er gesehen, dass mit der Aufklärung rationaler Verstand und Religion auseinander rücken - damit beginnt sich das menschliche Leben in eine pietätlos-kalte Vernunft auf der einen Seite und eine geistlos-unlebendige Religion auf der anderen zu spalten. Vor allem der emporstrebenden Vernunft stellt Schleiermacher darum eine gebildete Religion an die Seite, die auf Gefühl und wahrneh‐ menden Anschauungen basiert. Religion ist „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“: Diese berühmte Definition aus den „Reden“ (1799) ist eine ästhetische, und sie versteht Religion ganz analog zur Bildung als Aufmerk‐ samkeit gegenüber dem umgebenden Leben, als innerlich entfalteten Bezug zur Welt. Nicht nur die Vernunft, sondern gerade auch die echte Religiosität setzt die autonome Freiheit der Person voraus - mitnichten also unmündige religiöse Hörigkeiten. Über die „Kenntnisse“, die „jämmerliche Empirie“ der Zeit, den „toten Buchstaben“ und die „Wut des Verstehens“ der Theologen und Wissenschaftler kann Schleiermacher nur spotten und trauern, und damit ist er angesichts einer bürokratisch-technischen Welt ebenso aktuell wie angesichts eines traditionalistischen und leblosen Christentums. Bildung ist immer ästhetisch grundiert. Darauf verweist der Gedanke der Ebenbildlichkeit, ihr Formungs- und Prozesscharakter, ihre Wahrnehmung von Gestaltungen und ihr Bezug zu persönlichen Bedeutungs-Erfahrungen. An Lernprozessen generell sind Wahrnehmungen, Körpergefühle, Erinne‐ rungen und Stimmungen beteiligt (→ 13.1, 13,4-5). Sie gehen eine komplexe Mischung im „intermediären Raum“ ein, wo sie über die Beteiligung der Phantasie mit Bedeutungen für die eigene Person assoziiert werden. Unter‐ stützt wird dieser Prozess durch äußere und innere Symbolisierungen und symbolischen Ausdruck (Sprache, Kreativität, Gestik usw.). Das Lernen be‐ ruht also zum überwiegenden Teil auf ästhetischen Bedingungen! Rationales Lernen bildet in diesen komplexen Prozessen nur einen Ausschnitt, der durch Abstraktionen und Verallgemeinerungen von sinnlich generierten Mustern entsteht. Weite Bereiche des Lebens (es sind gerade die wichtigsten) kommen weitgehend ohne rationale Logik aus, alle nämlich, in denen Bedeutungen verhandelt werden: Geschmack, Kunst, Liebe, Religion; selbst die ethische Entscheidung ist an Gefühle gebunden (→ 13.4,5). 391 4 Bildung und Religion als ästhetische Phänomene <?page no="392"?> Religion und Kunst Der Begriff „Ästhetik“ meint nicht „Schönheit“ oder ein kunstkritisches Urteil. Er leitet sich von griech. aisthesis ab, das „Wahrnehmung“ bedeutet. Ästhetik ist also keinesfalls nur Kunst-Theorie, auch wenn sie in der Kunst ein interessantes Feld hat. Ihre Grundbegriffe neben der Wahrnehmung sind Inszenierung, Form, Bild, Gestalt, Atmosphäre, Prozess, Resonanz usw. Die Ästhetik hat eine stark zunehmende Bedeutung in der derzeitigen Philosophie, Pädagogik und Theologie, da sie den primär sinnlichen Zugang des Menschen zur Welt zum Gegenstand hat und auf die Unhintergehbarkeit der subjektiven Erfahrung verweist. Ein Grundgedanke ist, dass Form (bzw. Vollzug) und Inhalt nicht trennbar sind, dass also alle Inhalte (Themen, Theorien, Gedanken) immer in Gestaltungen übergehen und aus ihnen heraus erschließbar sind. Genau dasselbe gilt nun auch für die Religion. Auch sie ist an Darstellung gebunden: „Niemand wird meinen können, daß für die religiöse Wahrheit die Ausführung der Kulthandlung etwas Unwesentliches sei.“ (Gadamer 1960, 110 f.) Auch im Verweis auf die Unverfügbarkeit der Dinge und der Welt hat Religion eine deutliche Nähe zur Ästhetik. Darum ist das Bilderverbot des Alten Testaments („Du sollst dir kein Bildnis machen … bete sie nicht an“, Ex 20,4) kein Kunst-Verbot; es verbietet das Götzenbild, also die ideologische Fixierung des Unaussprechlichen, und stellt diesem Verbot übrigens gleichberechtigt auch ein Sage-Verbot zur Seite („Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen“). Das Bilderverbot ist darum gerade das Gebot zu einer echten Kunst, die auf das Nicht-Darstellbare anspielt und das Geheimnis offen hält. Die Religion hat darüber hinaus schon immer eine erhebliche (und allzu oft theologisch unterschätzte) Nähe zur Kunst, dem Kernbereich der Ästhetik. Sie geht immer, wenn sie sich ausdrückt, in Kunst über. Ihre Bilder, Bauten, Räume, Symbole, Rituale, Liturgien, Sprachformen, Musik usw. zeigen das mit Deutlichkeit. Jeder religiöse Ausdruck versinnbildlicht sich in (ästhetischen) Zeichen, Prozessen und Formen. Vor allem das Bild, das anfangs Kultbild war, hat eine weit reichende Bedeutung in der Religion; auch übertragen ist es für einen religiösen Menschen wichtig, ein „Ebenbild“ Gottes zu sein oder ein „Bild“ Christi vor Augen zu haben. Die religiöse Sprache ist eine poetische, wie Psalmen, Gleichnisse, Hymnen, Klagen, Schöpfungserzählung und viele Liedtexte zeigen. 392 17 Religiöse Bildung <?page no="393"?> Die Kunst lässt ästhetische Erfahrung exemplarisch am Kunstwerk (aber auch: an Natur, Design und sonstigen Gestaltungen) zu. Echte Kunst ist nicht Abbild oder Illustration: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ (Paul Klee). Sie hat darum weniger etwas mit (handwerkli‐ chem) Können zu tun - was sie kann, ist vielmehr zeigen, erscheinen und bewusst werden lassen. Auch hier ist die Parallele zur Religion so eng, dass Schleiermacher sagte: „Religion und Kunst stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen“ (Schleiermacher 1981, 312) und die Kunst als „Sprache“ der Religion verstand. Religiöse und ästhetische Erfahrung „Das sinnlich Wahrnehmbare ist Ort der Wahrheit.“ (Werbick in RpB 1992, 20) Religion will ebenso wie Kunst sinnlich wahrnehmend, also ästhetisch erschlossen sein (→ 11, 17.4). Beide sind abhängig von ihrer Rezeption, und beide sind Bereich der tiefsten menschlichen Freiheit. Ästhetische und religiöse Erfahrung sind bezeichnenderweise kaum genau voneinander abgrenzbar, sie gehen ineinander über. Ästhetischer Genuss kann in einem sakralen Raum, religiöse Erregung an einem profanen Kunstwerk oder in einem Museum erfahren werden. Die Abgrenzung scheint schwieriger als der Vergleich; religiös sind Erfahrungen dann, wenn sie existenz-betreffend, sicht-verändernd, umfassend auf Unverfügbarkeit bezogen und „unbedingt“ sind (→ 2.2, 16.5, 18.1). Das wird je nach Person verschieden aufgefasst werden, ebenso wie die Deutung solcher Erfahrung als „religiös“ oder nicht. Religion kann allerdings, anders als Kunst, Gewissheit und Selbst‐ verpflichtung bedeuten und zu einem besonderen Symbolzusammenhang und einer eigenständigen Tradierung, ferner zur Bildung einer besonderen Gemeinschaft führen, in der die Grunderfahrungen in vielfältigen Formen aufbewahrt, weitergegeben und gelebt werden. Will man Religion verstehen, so ist man primär auf ihre (ästhetischen) Formen, Gestaltungen und Vollzüge angewiesen, muss sie aufsuchen, wahr‐ nehmen, nachvollziehen, mitvollziehen oder besser noch: symbolisieren und selbst gestalten (→ 18.2). Wollte man Religion mit dem Verstand begreifen, käme man zur Theologie - so wie in der Kunst zur Kunsttheorie. Der erste Zugang zur Religion selbst ist darum ein ästhetischer. Wer Religion begreifen will, muss seine Sinne schulen und wahrnehmen lernen. Kreative und spielerische Zugänge und Formen, in der Pädagogik längst bekannt, 393 4 Bildung und Religion als ästhetische Phänomene <?page no="394"?> müssen auch die Religionsdidaktik strukturieren. Sie folgen der Einsicht: die Sinne führen zu Empfindungen, die zusammen mit der Ein-Bildungskraft (Imaginationsfähigkeit) die Zuordnung von Bedeutungen erlauben und zu einem inneren Bild für die Verankerung als Erfahrung führen, die wiederum der bildenden Entfaltung dient. Bildung ist ein Resonanz-Phänomen; sie ist Gespür, entfaltete Sensibilität und wache Wahrnehmungsfähigkeit. Damit hat sie eine deutliche Parallele zur Religion, die sich aus der Erfahrung tiefer Resonanz mit aller Wirklich‐ keit heraus entfaltet. Religion ist Sinn für das Leben. 5 Religiöse Bildung als Aufgabe der RP Bildung als religionspädagogische Notwendigkeit „Anderen zu der ihnen eigenen Sprache zu verhelfen ist die höchste Bildungsauf‐ gabe des Christen.“ (Volp 1994 Bd. 2, 942) Religion ist unter modernen Bedingungen eine Bildungsfrage. Sie ist ge‐ bunden an die Ermöglichung einer freien Entfaltung der Person, denn ohne solche Entfaltung könnte die Religion für moderne Menschen weder plausibel noch lebendig sein. Je größer die Bildung der Menschen, je größer also ihre Wachheit für die Welt und das Leben, desto lebendiger wird auch die Religion sein. Es gibt keine Religion an den Menschen vorbei. Bildung, als Selbstformung und Entfaltung verstanden, geschieht in der Begegnung mit Phänomenen, die einen Menschen innerlich bereichern und ihm Gestalt und Ausdrucksvermögen geben. Dass die Begegnung mit Reli‐ gion hier eine herausgehobene Rolle zu spielen vermag, liegt auf der Hand. Für Religion gilt dasselbe wie für Gefühle: Gefühle verkümmern, wenn sie die Möglichkeit und Fähigkeit zum Ausdruck verlieren; sie werden erst gar nicht gelernt, wenn - bei kleinen Kindern - nicht Affekte gespiegelt und als Reaktionsmuster eingeübt werden. Religiöse Bildung zu fördern hieße darum, sowohl Wahrnehmungsals auch subjektive Ausdrucksfähigkeit zu fördern im Sinne einer inneren Bereicherung. Dass zur religiösen Bildung immer auch die kritische Reflexion (wörtl.: Nach-denken) der religiösen Gehalte und Erfahrungen gehört, braucht kaum eigens erwähnt zu werden; nur darf diese Reflexion nicht ihren eigenen Gegenstandsbereich aus den Augen verlieren. 394 17 Religiöse Bildung <?page no="395"?> Religiöses Lernen ist wenig sinnvoll, wenn Religion nur übernommen oder gar auswendig gelernt wird; sehr dagegen, wenn der lernende Mensch so motiviert und stimuliert wird, dass er selbst religiös sehen, denken, fühlen und sich ausdrücken lernt. Religion lässt sich nicht „lehren“, sie muss geweckt werden: „Was durch Kunst und fremde Tätigkeit in einem Menschen gewirkt werden kann, ist nur dieses, daß ihr ihm eure Vorstellungen mitteilt und ihn zu einem Magazin eurer Ideen macht, daß ihr sie so weit an die seinigen verflechtet, bis er sich ihrer erinnert zu gelegener Zeit: aber nie könnt ihr bewirken, daß er die, welche ihr wollt, aus sich hervorbringe … Aus dem Innersten seiner Organisation aber muß alles hervorgehen, was zum wahren Leben des Menschen gehören und ein immer reger und wirksamer Trieb in ihm sein soll. Und von dieser Art ist die Religion; … [Sie] liegt weit außer dem Gebiet des Lehrens und Anbildens.“ (Schleiermacher 1981, 294) Darum gibt es für Schleiermacher zwei unverzichtbare Voraussetzungen für religiöse Bildung, die ziemlich quer liegen zu gängigen religionspädago‐ gischen Auffassungen: „freie Mitteilung“ und „Muße“. Nur sie lassen die individuelle Entfaltung durch Religion zu ihrem Recht kommen, und nur sie verankern die Religion nicht im Kopf, sondern im Gemüt. Die „Barbarei des Nützlichen“ (das funktionale Denken) und die „Wut des Verstehens“ (die rationale Annäherung an die Religion) verhindern nach Schleiermacher religiöse Bildung mehr als sie ihr nützen. Unter Bedingungen der Individualisierung, eines pluralen religiösen Marktes, weitgehend funktionalen Denkens und der Ablehnung fragloser Autorität und Tradition ist RP konsequent auf Bildung um- und einzustellen. Nur im Bezug zur persönlichen, lebensdienlichen Entfaltung wird religiöses Lernen heute plausibel - und es hat gerade hier seine tiefste Bedeutung. Die Quintessenz aus dem religiösen Traditionsabbruch und Bildungsdilemma (→ 14.6) wäre es, die religiösen Traditionen als Medien der Selbstbildung (→ 13.3, 16.5) zu verstehen und sie nicht als Wissensstoff, sondern als bedeutsame symbolische Erfahrungen zu kommunizieren. Diese Umstellung ist auch aus christlicher Perspektive geboten; denn sie entspricht der Zusage des Evangeliums. Die „Liebe Gottes“ meint nicht eine narzisstische göttliche Selbstliebe, die Verehrung und Unterwerfung nötig hätte, sondern sie gilt dem Menschen. Die Konsequenz daraus haben viele Ketzer und religiöse Denker, und schon Jesus selbst gezogen: Nichts im Christentum, und nichts in der Welt ist sakrosankt, tabu und unberührbar, 395 5 Religiöse Bildung als Aufgabe der RP <?page no="396"?> alles aber ist heilig, sofern es in Bezug zu Gott gesehen wird, d. h. sofern es dem Leben und seiner freien Entfaltung dient. Jesu Verweis auf den suchenden und vergebenden Vater (Lk 15), seine Aufforderung zu bitten (Mt 7), keine „Pfunde“ zu vergraben, sondern frei mit ihnen zu wuchern (Lk 19), alles stehen zu lassen und selbst die Familie zu verlassen (Mk 10,29), sein Lob der energischen Witwe, die für ihr eigenes Recht eintritt (Lk 18) und der quengelnden Kinder, die sich vordrängeln (Mt 18) usw. usw. meinen die frei sich entfaltende Lebendigkeit und liegen quer zu jeder normierenden Moral. Der Weg zu einer gebildeten Religiosität „Es ist naheliegend, daß auch das Christentum dazu übergeht, das bisher vorwie‐ gend im Modus des Behauptens und Aufforderns Eingeklagte nun mit den Mitteln der Ästhetik zu erschließen und nahezubringen… als Anleitung, wie man zu querstehenden Einsichten kommt, wie man ein aufmerksamer Mensch wird.“ (Höhn 1998, 101) Religiöse Bildung muss unter modernen Lebensbedingungen zum Kern der RP werden. Das aber heißt: alles religiöse Lernen dient der Entfaltung und Orientierung des Menschen, und nicht primär der eigenen Traditionswei‐ tergabe. Die geeignetsten Anlässe für solche religiöse Bildung sind da zu finden, wo die Erfahrungen und Gehalte der Religion am ehesten zugänglich sind - in ihren Bildern und Symbolen (→ 11.2), ihrer Musik und ihrer poetischen Sprache, in Ritualen, Liturgien, Andachten, Gängen und Haltungen, in ihren künstlerischen Ausdrucksformen, Gebäuden, Räumen und Atmosphären, die immer auch übergehen müssen in die eigene religiöse Gestaltung. Es trägt wenig aus, über Religion nur zu informieren oder sie problemorientiert zu reflektieren, wenn sie nicht zuerst wenigstens in Andeutung gespürt, wahrgenommen und sinnlich erfahren und dann auch selbst praktiziert wurde! Darum ist auch die Religionsdidaktik konsequent auf ästhetische Erfahrung und Ausdrucksbefähigung einzustellen. Dies bedeutet nicht den Verrat an den Inhalten, sondern gerade den Vollzug von deren innerstem Sinn. Die Kristallisationen der christlichen Glaubenserfahrungen in Lehren, Bräuchen, Gebäuden usw. sind nicht der „Stoff “, der zu vermitteln und zu lernen wäre, sondern sie sind als Medien der grundlegenden Glaubenser‐ 396 17 Religiöse Bildung <?page no="397"?> fahrung, als Träger der „Idee“ des Christlichen so zu vermitteln, dass sie Menschen bilden. Das ästhetische Gespür für die Religion zeigt in ganz unerwarteter Weise einen oft sehr kritischen Zug gegen Verfestigungen im Bereich der Religion selbst, der einer rationalen Beurteilung überlegen ist; denn er sieht sehr genau, wo Religion ihre Lebendigkeit hat und wo sie sie zu verlieren droht. Lebendig ist sie vor allem in ihren Formen, Vollzügen und Atmosphären, tendenziell „festgestellt“ dagegen in ihren Lehren und überall dort, wo sie sich in Strukturen begibt. Auch wenn religiöse Strukturen unverzichtbar sind, ist ein Wesenskern lebendiger Religion der religiöse Protest gegen jede Vergegenständlichung (vgl. die Tempelreinigung Jesu, seine Polemik gegen Priester und Pharisäer, Franz von Assisis stillen Protest gegen kirchlichen Reichtum, Luthers Protest gegen die kirchlichen Veräußerlichungen usw.). Kirche, Theologie, Bekenntnisse und religiöse Moral dürfen sich selbst niemals absolut setzen; ein Glaube, der seine Mythen und Symbole wörtlich versteht, ist Aberglaube. Der „Protestantismus“ versucht diese Kritik an festgestellter Religion als Prinzip aufrecht zu erhalten. Religiöse Bildung wäre in diesem Sinne ein Gespür und Bewusstsein für lebendige Religion, die sich aus praktischen religiösen Vollzügen ergibt: „Religion kommt als Element der Bildung nur dann zur Geltung, wenn in ihr neben und mit dem Reden über Religion auch das religiöse Reden selbst Raum hat“ (Härle in Faßler u. a. 1998, 174). Dasselbe gilt für religiöse Symbolisierungen, für kultische Mitgestaltung, für spirituelle Praxis, für religiösen Ausdruck überhaupt. Die RP als „Agentur“ religiöser Bildung muss sich darum als ein Ensemble verschiedener, allerdings miteinander verbundener Verfahren begreifen: als Hermeneutik (→ 16.4), die Religion ebenso verstehen muss wie Religio‐ sität und religiöse Wahrnehmung; als „Deiktik“, d.h. als das Zeigen auf Gebilde, Personen, Formen, Vollzüge der Religion, also auf ihre ästhetische Ausdrucksgestalt; als Präsentation und Inszenierung von Religion, anhand derer sie Religion anbietet und sichtbar und erfahrbar macht und Beteiligung an religiösen Vollzügen und Handlungsweisen, also religiöse Praxis möglich macht; schließlich als Lehre religiösen Selbst-Ausdrucks und religiöser und spiritueller Praxis. Diese Aufgabenbeschreibung geht erkennbar weit über eine Lehre von Inhalten hinaus und versucht religiöses Interesse, religiöse Kompetenzen und Identifikationen im Sinne der Selbstentfaltung der Per‐ son, also der Bildung in einem ästhetischen Vorgehen anzubieten. Hier ist der Begriff einer religiösen „Sensibilisierung“ diskutiert worden; Albrecht 397 5 Religiöse Bildung als Aufgabe der RP <?page no="398"?> Grözinger hat im Blick auf die Ästhethik von einem „Paradigmenwechsel“ in der RP gesprochen. Zusammenfassung Bildung bedeutet die freie Entfaltung des Menschen. Sie ist mehr und anderes als Sozialisation und kritische Urteilsfähigkeit, auf die sie in der RP oft reduziert wird. Zur Bildung eines Menschen tragen trotz öf‐ fentlich und pädagogisch vorherrschender Meinung Erziehung, Schule, Bildungspolitik und Ausbildung nur im Ausnahmefall etwas bei. Die Klassiker wussten, dass Bildung immer Selbstbildung ist und darum nur Anstöße und Motivationen braucht, Autoritäten, vorgegebene Inhalte, Problemstellungen und Zielangaben dagegen nicht verträgt. Am nachhaltigsten wird Bildung durch die wahrnehmende Begegnung mit Kunst und Religion gefördert, die die Bereiche der Ästhetik und der tiefsten Bedeutungen sind. Religiöse Bildung und gebildete Religiosität sind das vornehmste Ziel der RP; sie entscheiden unter modernen Lebensbedingungen über Plausibilität und Relevanz religiösen Lernens. Literatur Zu 1: H. von Hentig 1996 - G.E. Schäfer 1995 - B. Dressler 2018. Zu 2: P. Biehl 1991 - J. Kunstmann 2002, Kap. II - T. Heller 2018 - B. Dressler 2018 und 2020. Zu 3: J. Kunstmann 2002, Kap. III. Zu 4: J. Kunstmann 2002, Kap. IV - P. Biehl in JPR 5 (1988), 3-44 - J. Herrmann/ A. Mertin/ E. Valtink 1998 (bes. Gräb, Natorp und Josuttis) - B. Beuscher u. a. 1996. Zu 5: W. Gräb 1998 - B. Schröder 2012, § 13. 398 17 Religiöse Bildung <?page no="399"?> 18 Religionsbildende Religionsdidaktik „Es wird zunehmend darum gehen, ‚strukturbildend‘ zu arbeiten, d. h. solche Kommunikationsmilieus zu stiften, in denen lebenspraktische Fragen und Sinn‐ suche mit substanzieller Religion zusammenkommen können. Der Rekurs auf substanzielle Religion allein reicht dazu heute nicht mehr hin.“ (Ziebertz in Schweitzer u. a. 2002, 74) Das aktuell grundlegende religionsdidaktische Erfordernis ist eine echte religiöse Didaktik, die mehr ist als Christentumspädagogik, also nur „Re‐ kurs auf substanzielle Religion“, oder anders: auf religiöse Vorgaben. Religi‐ ons-Didaktik kommt an der kritischen Unterscheidung und der produktiven Beziehung zwischen Religionskultur und religiösem Erleben (→ 2.2) ebenso wenig mehr vorbei wie an der Frage nach der generellen Relevanz (→ 15.3) religiösen Lernens - und die entscheidet sich maßgeblich an ihrem Bezug zu den existenziellen Fragen von Menschen heute. Unter Bedingungen einer fortgeschrittenen Individualisierung (→ 15) muss Religion unbedingt als Faktor einer sinnvollen Selbstentfaltung evi‐ dent werden. Daher muss religiöses Lernen sich im umfassenden Sinne verstehen, d. h. am Erfahrungskern aller lebendigen Religion orientieren und an ihrer symbolischen Darstellungsform, die um das tiefe Erleben existen‐ zieller Erfahrungen kreisen; sie muss religiöse Selbstdeutung und religiöse Kommunikation eröffnen und zur Lebensorientierung beitragen. Anders gesagt: sie muss religiöse Bildung (→ 17), nicht nur Sozialisation sein. Dazu muss sie über die herkömmlichen innerchristlichen religionsdidaktischen Formen (→ 11) hinauskommen. Eine sinnvolle, plausible und zukunftsfähige RP muss in einem doppelten Sinne an Religion interessiert sein: einmal an ihrem wirklichen und gründ‐ lichen Verstehen, das unverzichtbar eine Einsicht in die religiöse Erfahrung, in die symbolische Sprache, generell die ästhetische Dimension der Religion und in ihre eigenständige, auf das Leben als Ganzes bezogene Logik sein muss und das ohne eine eigene religiöse Symbolisierung und Kommunika‐ tion nicht auskommt; zum anderen in einer bildenden Fortschreibung der Religion, die sich aus der eigenen Symbolisierung automatisch immer ergibt. Nur im Bezug auf die eigene Selbstdeutung wird sie heute evident; und nur so kann heute auch eine Weitergabe des Christlichen vorgestellt werden. <?page no="400"?> Versteht man den Begriff „Religionsbildung“ im doppelten Sinn als reli‐ giöse Bildung und als Bildung der Religion selbst, dann gehören Rezeption und Produktion, Verstehen der Tradition und ihre kreative Fortschreibung beim religiösen Lernen untrennbar zusammen. 1 Religionspsychologie: die eigene Religiosität verstehen „In der religiösen Praxis … geht es grundsätzlich um Veränderungsprozesse (um Buße, Umkehr, Wachstum, Bewußtseinserweiterung), also um Lernvorgänge. Damit wird die Psychologie generell relevant … Ohne die Diskussion mit psycho‐ logischen Denkmodellen … wird man den Aufgaben der Religionspädagogik nicht mehr gerecht werden können.“ (Fraas in Ritter/ Rothgangel 1998, 127 und 131) Hans-Jürgen Fraas schlägt mit diesem Votum einen neuen Ton in der RP an, in der die Religionspsychologie (und psychologisch geschultes Denken überhaupt) immer noch ein Randdasein fristet. Ein psychologisch kompe‐ tentes Verständnis der Bedürfnisse, der Lebensfragen und des Lebensgefühls der Menschen heute ist ein Grunderfordernis jeder Subjektorientierung, ohne die die RP ihrer Aufgabe nicht mehr nachkommen kann. Die individualisierte Religion und die heutigen Fragen nach Erfüllung, Orientierung, Sinn und Glück sind auf Erkenntnisse der Psychologie unbe‐ dingt angewiesen. Kaum eine Wissenschaft ist der Theologie so benachbart wie diese, stößt hier allerdings (aufgrund einer angeblichen „Psychologisie‐ rung“ der Glaubensinhalte) meist auf erhebliche Abwehr und entsprechende Unkenntnis. Neben der recht schematischen religiösen Entwicklungspsy‐ chologie (→ 4.3) werden in der RP trotz angemahnter Subjektorientierung die gegenwärtigen Lebensfragen (nach Selbstwertgefühl, seelischen Belas‐ tungen, sozialem Empfinden usw.) aber bisher ebenso wenig einbezogen wie das religiöse Erleben. Die Psychologie selbst hat sich immer wieder mit der Religion beschäftigt (→ 14.2; 17.1). Eine deutliche Nähe zwischen Religion und Psychologie zeigt sich bei Carl Gustav Jung (→ 2.2; 4.1; 11.2), der das Unbewusste mit der Religion in Verbindung bringt; deren Symbole und Mythen sind für ihn Wi‐ derhall und notwendiges Umfeld einer sich gesund entwickelnden Psyche. Jung hielt die religiöse Einstellung jenseits der Lebensmitte für das zentrale psychologische Problem. Das „Selbst“ als Ziel der „Individuation“ (der Weg zur bewussten Ganzheit der Person) sah er als Symbol für die Erfahrung 400 18 Religionsbildende Religionsdidaktik <?page no="401"?> Gottes an (was aber keine Identifizierung meint). Eine vergleichbare Nähe zeigt sich auch bei Erik Erikson (Grundvertrauen und Identität versteht er selbst als Äqivalente von Glauben und Rechtfertigung, → 4.2) und bei Heinz Kohut (das tiefe Bedürfnis des Menschen nach Liebe und Zuwen‐ dung und die Selbstwerdung, → 16.4). Eine beeindruckende Synthese von biblisch-theologischer Erfahrung und psychologischer Sprache und Einsicht hat Eugen Drewermann vorgelegt, die für viele Christen bereits erheblich zu einem rettenden Neuverstehen der eigenen Glaubenstradition beigetragen hat. Drewermann sieht als Gegenstück zum Glauben nicht den Unglauben, sondern die (existenzielle) Angst. Sünde deutet er mit Kierkegaard als Verzweiflung; Religion lebt für ihn vorrangig in ihren heilenden Bildern. Der Mensch ist nicht böse, er wird es, wenn ihn die Existenzangst bestimmt, statt eines grundlegenden Vertrauens. Solche Perspektivierungen sind für viele Zeitgenossen religiös ausgesprochen erhellend, während Drewermann selbst von seiner Kirche ausgestoßen und theologisch vollkommen unbe‐ achtet geblieben ist. Ein besonders stimmiges Grundmuster für verschiedene Religionsstile lässt sich in Anlehnung an die Typologie von Fritz Riemann (1978) entfalten, der eine „schizoide“ und eine „depressive“ Struktur, ferner eine „zwanghafte“ und eine „hysterische“ einander paarweise gegenüberstellt. Schizoide Cha‐ rakterstruktur bedeutet die Angst vor Nähe und Abhängigkeit, die Betonung von Unabhängigkeit, Distanz und das Bedürfnis nach Freiheit, (intellektuel‐ lem, theologischen) Überblick, Geistesstärke und Neigung zu Rationalismus und skeptischer Sachlichkeit. Religion wird als Schicksal, Gott oft als fremd erfahren. Das Gegenüber bildet die depressive Struktur, die die Angst vor Distanz und Alleinsein bezeichnet, darum die Suche nach Trost und Nähe, aber auch Liebes- und Hingabefähigkeit. Die Abwertung des eigenen Selbst, Neigung zu Schuldgefühlen, Unbehaustheit und Sehnsucht nach Liebe neigen zu romantischen und mystischen religiösen Vorstellungen; Gott ist der große Weise. Zwanghafte Struktur zeigt Angst vor Veränderung und Vergänglichkeit, darum eine Betonung von Ordnung, Gesetzlichkeit und Struktur und die Neigung zu innerem Druck und zur Tragik. Hier finden sich Genauigkeit liebende Menschen, die als Bewahrer von Sicherheit und Struktur auftreten: Sie sind die Wahrer von Recht, Zeremonie und Tradition in der Religion und neigen zur Rechtgläubigkeit; Gott ist für sie die Struktur der Welt. Hysterische Struktur (das Gegenüber zur zwanghaften) hat Angst vor Fixierung, Monotonie und Endgültigkeit, neigt zu Spontanität, schneller Begeisterung, Unverbindlichkeit, Abenteuer und zum Komischen. Hier fin‐ 401 1 Religionspsychologie: die eigene Religiosität verstehen <?page no="402"?> den sich lebendige, manchmal schauspielerhafte Menschen mit religiösem Charisma, aber auch pragmatische und flüchtige religiöse Bindungen; Gott ist für sie der erneuernde Geist. Die Religionspsychologie ist ein eigenes, kleines Forschungsgebiet, das auch von einigen wenigen Religionspädagogen betrieben wird; sie unter‐ sucht „die Religiosität des Menschen: die religiöse Erfahrung und ihre Ausdrucksformen, das religiöse Verhalten des einzelnen und von Gruppen“ (Fraas 2 1993, 9), wozu auch die Unterscheidung von gesunder Religiosität und religiösen Fehlformen zählt. Sie als erstes hat das religiöse Erleben wissenschaftlich eingeführt. Klassisches Grundlagenwerk ist „Die Vielfalt der religiösen Erfahrung“ von William James (1901). James versteht das religiöse Erleben (→ 2.2) als „Enthusiasmus bei feierlicher Bewegtheit“. Religion ist „die Gesamtreaktion eines Menschen auf das Leben“ (ebd. 67); sie ist „Steigerung des Lebensgefühls“, kurz: „Lebenssteigerung“. Im Zentrum stehen bei James Berichte von religiösen Erlebnissen, die als Gefühl der Gegenwärtigkeit, einbrechender Gnade, mystischen Einsseins beschrieben werden und zu unverrechenbar verschiedenen religiösen Typen führen. Die Erscheinungsweisen des religiösen Erlebens reichen von der Natur‐ religion (Animismus, Magie, Fetischismus u. a. Formen) bis zur mystischen Erfahrung. Religiosität entwickelt sich je nach Person, Situation und Prä‐ gung verschieden. Religiöse Prägungen sind durch ihre Relativität aber keineswegs „Illusion“, sie zeigen lediglich die Bedingtheit aller Erfahrung. Die Entstehung und Entwicklung von Religiosität geschieht über Nach‐ ahmungen, Projektionen (die nicht Illusionen, sondern unverzichtbar sind. Beispiel: die kindliche Identifikation Gottes mit dem eigenen Vater) und innere Symbolisierungen. Der Prozess der Entwicklung und der Selbst-Wer‐ dung vollzieht sich von der symbiotischen Einheit mit der Mutter zu einem immer differenzierteren Weltverhältnis, das ein gereiftes Selbst mit immer größerer Freiheit verbindet (→ 4.2). Menschsein ist wesentlich Beziehung - zu sich selbst und zugleich zu einem prinzipiell immer größer werdenden Umfeld. In dieser Entwicklungsdynamik ist der religiöse Gedanke bereits präsent: Der Mensch verdankt sich; und er ist auf ein Umgreifendes, letztlich nicht Erreichbares bezogen. Er lebt aus Beziehungen (vor allem zum eigenen Körper, nahen und fernen Menschen, zu Natur und Kultur), die er trotz aller eigenständigen Gestaltung als ihm vorgegeben erfährt. Echte Autonomie gibt es darum nur im Bezug; höchste Möglichkeit des Menschseins ist die bewusste Hingabe. Religiöse Symbolisierungen spiegeln diese Beziehungsstruktur eines Menschen. 402 18 Religionsbildende Religionsdidaktik <?page no="403"?> Gesunde Religiosität hat immer an Heimat, Geborgenheit, Gewissheit ebenso teil wie an Aufbruch, Bewegung, kritischer Erneuerung. Sie ist organisch mit dem Leben verbunden, findet also im Alltag und auf dem „Marktplatz“ statt, nicht im abgetrennten Heiligtum; etwa in Vorgängen der Heilung und Reifung. Sie bedeutet Entfaltung und Steigerung des Lebens. Es gibt sie oft nur nach bewussten, oft schmerzlichen Ablösungsprozessen von alten Sicherheiten. Sie ist ausdrucks-, symbolisierungs- und kommuni‐ kationsfähig und führt zur echten Beziehung, die den Menschen über sich hinausführt und gleichzeitig bereichert. Pathologische oder neurotische Religiosität zeigt sich in der Abtrennung religiöser Praxis und Deutung vom Leben, am striktesten in der Sekte (sectum = abgetrennt; so wie „Sünde“ = Absonderung das Gegenüber zur re-ligio = Verbundenheit). Unbegründete religiöse Ängste, Übertreibungen, Verzerrungen oder Wahnvorstellungen können regressive Schutzbedürf‐ nisse befriedigen und die freie Entfaltung und Entwicklung des Menschen behindern. Verbreitet sind vor allem zwanghafte Formen, die durch Autori‐ tätsmissbrauch oder durch Moralisierung der Religion bedingt sein können. Tilman Mosers Buch „Gottesvergiftung“ (1976) beschreibt eine derartige religiöse Zwangs- und Angstneurose und hat eine ganze Generation bewegt. Auch überzogene Formen der Askese (Selbstschädigungen, aber auch Leib‐ feindlichkeit oder sexuelle Verklemmung) und religiöse Fundamentalismn sind zwanghaft bedingt, denn sie dienen der Absicherung gegen unbewusste Ängste. Die Religionspsychologie kann hier zu der Einsicht führen, dass die (christliche) Religion im Kern genau auf die Ur-Ängste des Menschen (Alleingelassenwerden, Entzug der Anerkennung, Unbehaustsein, Tod usw.) zu antworten versucht. Auch die Verdrängung oder Verleugnung von Religion kann neuro‐ tisch sein. Sie macht sich dann häufig als primitive Gläubigkeit mit Er‐ satz-Charakter bemerkbar, z. B. in Konsum, Erfolgsausrichtung, Besitz- und Machtstreben, Selbstüberschätzung, illusionären Lebensträumen, Angst vor Veränderung usw., inzwischen immer häufiger auch in einer geradezu fanatischen Wissenschafts-Gläubigkeit (ausgeprägt z. B. in Richard Dawkins Bestseller „Der Gotteswahn“). Fehlendes Vertrauen in einen tragenden Grund wird hier durch vordergründige monetäre, wissenschaftliche oder technische Sicherheiten ersetzt, deren Schattenseiten ausgeblendet werden. Religionspsychologie bedeutet für die RP keine „Psychologisierung“ von religiösen Inhalten, sondern im Gegenteil Transparenz. Psychologie fragt grundsätzlich nach den verdeckten, d. h. unbewussten Motiven hinter allem 403 1 Religionspsychologie: die eigene Religiosität verstehen <?page no="404"?> Verhalten, Denken und auch hinter dem Empfinden. Sie ermöglicht damit Einsicht in die unbewussten Anteile von religiösen Standpunkten und Kommunikationen, in Absicht, Sinn und Nutzen religiöser Traditionen und in die Bildstruktur religiösen Erlebens und religiösen Verstehens. 2 Symbolische Lebensdeutung „Symbole des christlichen Glaubens lassen sich nur dann in ihrer lebensbedeu‐ tenden und heilenden Kraft erahnen, wenn Kinder und Jugendliche selber gelernt haben zu symbolisieren, wenn sie gelernt haben, eine ,Sprache‘, einen Ausdruck dafür zu finden, was für sie in ihrem Leben Bedeutung hat, was für sie sinnvoll und sinnlos ist.“ (Hilger in Heimbrock 1998, 150) Zum religiösen Lernen durch religiöse Praxis gehört immer auch das, was zum umfassenden Verständnis von Religion überhaupt unverzichtbar ist: die Befähigung zum eigenen Ausdruck. Die englische Sprache lernt man, indem man englisch spricht. Kunst versteht man, indem man künstlerisch tätig wird. Religion versteht man, indem man religiös produktiv wird und sich selbst dabei als potentiell religiös zu verstehen lernt. Religion ist weder eine vergangene noch eine fremde Sache. Dazu muss die symbolische Dar‐ stellungsweise der Religion verstanden sein, denn „Metapher und Symbol [sind] die eigentlichen Sprachformen der Religion“ (Halbfas in NHRPG 457). Die Performative Religionsdidaktik (→ 11.6) hat hier vorgedacht. Da die Religion aber weder in ihren theologischen Lehren (diese können rein rational, philosophisch und daher ganz unreligiös sein) noch in ihren ästhetischen Darstellungsformen aufgeht (diese können auch einfach als Kunst betrachtet werden), sondern sich immer symbolisch ausdrückt, muss das symbolische Verstehen zum zentralen Kern einer religiösen Didaktik werden (so wie vom Autor in der Subjektorientierten RP ausführlich dar‐ gestellt: Kunstmann 2018). Symboldidaktik (→ 11.2) muss immer auch Symbolisierungsdidaktik sein, Liturgische Bildung (→ 11.4) auch Liturgie‐ fähigkeit, d. h. kultische Gestaltungskompetenz anbahnen und fördern. Grundsätzlich bedeutet das, dass bildendes religiöses Lernen in zentraler Weise als Anleitung und Anstiftung zur Symbolisierung zu begreifen ist: als Deutung von existenzieller Erfahrung und deren Kommunikation. Religiöse Bildung ist immer auch Religionsbildung. Es wird auch der christlichen 404 18 Religionsbildende Religionsdidaktik <?page no="405"?> Tradition (→ 16) in keiner Weise gerecht, wenn sie immer nur wiederholt wird. Sie ist im Sinne der christlichen Religion auch fortzuschreiben. „Das Interesse an der biblischen Botschaft erlischt, wenn es kein Interesse an seiner dramatischen Wahrheit wird … Nur wo jeder selbst zum Text der Botschaft wird, diese also leiblich wiederherzustellen versucht, kann ernsthaft von so etwas wie Verbindlichkeit und ‚Verkündigung des Evangeliums‘ geredet werden.“ (Volp 1994 Bd. 2, 951) Religiöse Sprache ist symbolische, d. h. metaphorische Sprache, keine Sach‐ verhaltsbeschreibung. Von einer religiösen Sprachlehre war bereits die Rede (→ 11.6). Sie ist ein wichtiger Baustein zum Verständnis von Religion, bleibt aber ähnlich wie die Performative Religionsdidaktik weitgehend im Rahmen religiöser Traditions- und Textvorgaben. Religion drückt sich grundsätzlich symbolisch aus (→ 2.2, 11.2, 18.2), das heißt in Weisen, bei denen gerade nicht die Form, sondern der in ihr codierte Bedeutungsgehalt entscheidend ist. Das ist auch der Grund, warum Religion nur sehr unzureichend über die Weitergabe religiöser Tradition gelernt werden kann (→ 16.1). So wie bei einem Einzelsymbol nicht Gestalt und Form entscheiden, sondern immer der von bestimmten Menschen daran wahrgenommene Bedeutungshof, so sind die vielgestaltigen Formen sym‐ bolischer Gestaltungen die Sprache der Religion, und diese „Sprache“ findet sich neben Texten auch in Bauten, Ritualen oder Bildern. Die Symbolsprache ist der Religion so eigen wie die Zahlen- und Formelsprache der Mathematik, wie die Notenzeichen und die zugehörigen Tempo- und Ausdruckshinweise der Musik usw. Rationale Sprache und Erklärungen werden ihr nie wirklich gerecht. Das gilt nun genau so auch für das individuelle religiöse Erleben und Deuten. „Jeder Ausdruck individuellen Erlebens kann immer nur Symbol sein“ (Rosenow 2016, 143). Symbolisierung ist also der Vorgang, der eine Ausdrucksform bzw. eine Repräsentation individuellen Erlebens entstehen lässt. Die Darstellung ist für Gefühle, innere Erlebnisse, und auch für Gedanken, Einstellungen, Haltungen, Deutungen wesentlich, darum auch für Religion generell - denn Religion ist Lebensdeutung, die sich mit einer Haltung verbindet. Darstellung ist auch eine Voraussetzung ihrer Kommunikation: Es gibt keine Mitteilung und keine Kommunikation ohne repräsentative Symbolisierung. Mitteilung ist nicht direkt, also unvermittelt und „eins zu eins“ möglich. Sie ist immer auf darstellende Medien angewie‐ sen. 405 2 Symbolische Lebensdeutung <?page no="406"?> Die symbolischen Formen der Religion sind aber nicht auf die (freilich zentral bedeutsamen) Textmitteilungen begrenzt, sondern prinzipiell unbe‐ schränkbar. Sie finden sich in religiösen Einzelsymbolen (Kreuz, Fisch, Re‐ genbogen), Bildern, Räumen, künstlerischen Gestaltungen, religiöser Musik, aber auch magischen Praktiken usw. Für deren Verständnis ist ein „Symbol‐ sinn“ (Hubertus Halbfas) erforderlich, zu dem die Religionsdidaktik unbe‐ dingt anleiten muss. Andernfalls liegt angesichts des naturwissenschaftlich geprägten heutigen Denkens (→ 16.2) das Missverstehen der Religion als einer Ansammlung unglaubwürdiger Sachverhaltsbehauptungen nur allzu nahe. Deutlicher gesagt: wo die RP nicht klar und deutlich die symbolische Logik der Religion benennt, liefert sie die Religion der Unglaubwürdigkeit aus. Hier lässt sich nahe liegender Weise einer der zentralen Gründe für die weitgehende Erfolglosigkeit der RP festmachen. Wie in allen Formen des Lernens wird auch das für das religiöse Lernen zentral bedeutsame symbolische Lernen vor allem durch die Anleitung zur eigenen Symbolisierung angebahnt. Nirgendwo so sehr wie hier lässt sich die Ausbildung einer religiösen Sensibilität, ein Gespür für Religion ausbilden; also echtes religiöses Lernen in Szene setzen. Beginnen kann man mit der Frage nach der Erfahrung, die sich in religiösen Texten und anderen religiösen Traditionssymbolen ausspricht. Was hat zu ihnen geführt? Warum wurde das aufgeschrieben, dargestellt? Wir haben sich die Menschen gefühlt, die hier agieren? Möglich sind auch Übertragungen religiöser Formen: das Glaubensbekenntnis des Fritz, das Evangelium nach Peter, der Schöpfungsmythos der Klara. Tiefergehende Anlässe dafür bieten genau wie in den religiösen Traditionsvorlagen auch existenzielle Erlebnisse und zu diesen gehörige Fragen, also die Erfahrung von Trennung, Angst, Tod, Schrecken, Krankheit, Sinnverlust, Einsamkeit, Scham, Erschöpfung (innere Leere, mangelnde Lebensfreude, Depressivität usw.), Befreiung, Anerkennung, Erfolg, Liebe, Glück und Erfüllung, und dazu die Fragen nach dem Wert des eigenen Ich, nach Welt und Wirklichkeit, nach der Lebenskraft, nach Leid und Tod, nach dem Sinn. Diese Erfahrungen und Fragen lassen sich nur wenig variieren; sie sind Grunderfahrungen, die für jeden Menschen sofort nachvollziehbar sind, auch wenn er sie selbst nicht (so) erlebt. Da solche Erlebnisse als Erinnerungen abgespeichert werden, und da sie nie „eins zu eins“ in Sprache übersetzbar sind, brauchen sie eine Symboli‐ sierung - also eine Darstellungsform, bei der von vornherein klar ist, dass es sich hier um die ungefähre Wiedergabe von Gefühlen handelt, nicht 406 18 Religionsbildende Religionsdidaktik <?page no="407"?> um Sachverhaltsbeschreibungen; die Frage nach dem genauen Datum, nach Größenverhältnissen, Wetterlage usw. wären hier völlig nebensächlich und unangemessen. Das Symbol ist immer ein Verweis. Es entsteht als Ausdruck eines zuvor erhaltenen Eindrucks. Trotz aller kulturgebundenen Vorprägungen gibt der symbolisierte Ausdruck das Erlebte subjektiv „gebrochen“, und immer mit einer kreativen, evtl. sogar bis ins Künstlerische reichenden Färbung wieder; im glücklichen Fall aber so, dass das Erlebte im Symbol einen Wiedererkennungswert erhält, der über die Bedeutung des einzelnen Erleb‐ ten hinausreicht. Das erklärt, warum Symbolisierungen immer auch eine performative Dynamik innewohnt. Sie können eine eigene Wirkung, sogar eine eigene Macht entfalten. Symbole bilden nicht ab, sie sind „prägnant“; sie sind, wo sie stimmig sind, treffend und bringen etwas zur Sprache, was sich anders nicht sagen lässt. Die symbolische Darstellung solcher Existenzerfahrungen nannte Schlei‐ ermacher „individuelles Symbolisieren“. Im Gegensatz zum gemeinschaftli‐ chen Symbolisieren ist das individuelle in Zeiten gesteigerter Autonomie besonders bedeutsam. Und es ist religiös grundlegend; denn die gemein‐ schaftlichen (wie sie in Dogmen und Bekenntnissen vorliegen) folgen immer aus dieser. Symbolisierung von tiefer Erfahrung lässt sich als Kern und Grundvor‐ gang aller Religion verstehen. Die Religion lebt aus gedeuteten Erfahrungen, deren Deutungen in symbolischer Form weitervermittelt werden. Nicht die Ereignisse sind dabei entscheidend, sondern ihre Deutung, d. h. ihre Rah‐ mung und ihr Verständnis: durch den Bezug auf eine lange Geschichte (z. B. die der biblisch-christlichen), auf Unverfügbarkeit, auf Gott. Deshalb sind religiöse Traditionen immer zurückzuübersetzen in ihren Bedeutungs- und Erfahrungsgehalt; und deshalb müssen immer auch eigene, gegenwärtige Erfahrungen symbolisiert werden. Bezogen auf das traditionelle religiöse Lernen: nicht die Bibel ist zu lernen, sondern die in ihr symbolisierten Lebenserfahrungen sind zu entschlüsseln; besser noch: es wäre selber so zu machen wie sie. Wo immer religiös Lernende die eigenen Erfahrungen symbolisieren, also schriftlich, als Bild, als Gebärde, in Musik usw. mitteilen, können sie im Rückschluss die für sie oft erstaunliche Entdeckung machen, dass die traditionellen Formen der Religion Erfahrungen transportieren, die sie selbst bestens kennen. 407 2 Symbolische Lebensdeutung <?page no="408"?> Für die eigene Symbolisierung ist immer der Schutz des Privatbereichs, also Anonymisierung zu beachten und vorheriges Einverständnis bei ein‐ zelnen Mitteilungen an die Gruppe. Religion und Lebenserfahrung sind sehr private Dinge. Das aber ist kein Grund, in bloße Kognition auszuwei‐ chen, sondern eher eine Aufforderung zur Behutsamkeit. Die Möglichkeit des Rückzugs muss bei religiösem Lernen immer gegeben sein. Die Erfah‐ rung zeigt, dass Menschen sich in aller Regel sehr bereitwillig auf solche Kommunikationen einlassen. Es ist klar, dass alle religiösen Vollzüge und Erfahrungen immer auch kritisch reflektiert und kognitiv verstanden sein wollen - aber erst im Nachhinein, wenn sie denn überhaupt erst einmal gemacht wurden. Damit verändert sich auch die Rolle der religiösen Lehrer (Religionslehrer, Pfarrer, Katecheten, → 12.2). Sie sind weniger die, die Bescheid wissen und die traditionell verbürgte Lehre weitergeben, sondern eher Moderatoren eines kommunikativen Austausches. Moderatoren haben die Aufgabe zu leiten und zu steuern, beim Thema und der Fragestellung zu bleiben, alle zu Wort kommen zu lassen - nicht aber inhaltliche Vorgaben zu machen. Die symbolische Darstellung tiefer Erfahrungen ist auch und gerade für moderne Menschen ausgesprochen attraktiv. Wo religiöse Traditionen auf ihren Erfahrungsgehalt hin dechiffriert werden, kann es zu echten religiösen Aha-Momenten kommen. Religionsdidaktisch noch bedeutsamer ist es in diesem Zusammenhang, wenn religiös Lernende sich selbst über solche Symbolisierungen als (potentiell) religiös zu begreifen beginnen. 3 Religiöse Kommunikation „Religiöse Kommunikation hat nur dann einen Sinn, wenn sie das erschließt, wovon sie spricht.“ (Höhn 1998, 130) „Es geht bei religiösem Lernen nicht um die Vermittlung von Wissen im Sinne abgeschlossener Wirklichkeitsdeutungen, sondern um die Präsentation von Deu‐ tungsvollzügen durch Lehrpersonen im kommunikativen Wechselspiel mit den Schülern.“ (Dressler in: Klien / Leonhard 2008, 223) Darstellung und Mitteilung gehören zusammen. Keine individuelle Symboli‐ sierung ohne deren Kommunikation. Wer eine tiefe Erfahrung symbolisiert, hat in der Regel auch ein Interesse daran, dass seine Darstellung kommu‐ niziert wird. Wo das nicht geschieht, bleiben Erfahrungen stumm und 408 18 Religionsbildende Religionsdidaktik <?page no="409"?> verblassen, stehen also der eigenen Bildung nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung. Oft werden eigene Erlebnisse erst „verstanden“, wenn sie mitgeteilt werden und die Resonanzen, Erwiderungen, Ergänzungen und Erweiterungen anderer auslösen. Tiefe Erlebnisse gewinnen eine prägnante erinnerbare und weiterführende Form oft erst dann, wenn sie symbolisiert und kommuniziert werden. Religion ist im Kern eine kommunikative Praxis über tiefes Erleben. Damit ist sie auch mehr und anderes als nur eine „Kommunikation des Evangeli‐ ums“ - zumal wenn diese, was immer wieder geschieht, Kommunikation sogar nur im Sinne von religiöser Belehrung und Monolog begreift. Sie lebt in ihren Mythen, Erzählungen und kultischen Ritualen. Sie überliefert keine Fakten, und auch nur sehr eingeschränkt übernehmbare Gewissheiten. Sol‐ che Gewissheiten stellen sich im kommunikativen Vollzug vielmehr immer erst her. Man ist nicht religiös, wenn man einen vorgegebenen religiösen Kulturkosmos übernimmt! Sondern nur dann, wenn man das eigene Erleben religiös zu deuten in der Lage ist. Die religiöse Kulturtradition ist dafür unbedingt hilfreich und wertvoll, aber sie ist nicht die Sache selbst. Bei der religiösen Kommunikation kann man sich also - ähnlich wie bei der Symbolisation - durchaus auf religiöse Formvorgaben beziehen: Man kann predigen, eine Patriarchengeschichte oder ein Gleichnis erzählen oder ein religiöses Ritual imitieren. Diese wären freilich nicht nur nachzu‐ machen, sondern so zu durchdringen und je für sich zu übernehmen, dass eine eigenständige religiöse Ausdrucksfähigkeit entsteht. Die Quellen der religiösen Tradition (die mit ihr verbundenen symbolischen, bildhaften, historischen und fiktiven Erfahrungen) sind also der existenziellen und experimentellen Selbst-Erfahrung der Menschen zuzuführen, ihrer Lebens‐ erfahrung, also ihrer Bildung. Nur so ist ein echtes Interesse an Religion zu erwarten. Das angemessene Ziel der Religionsdidaktik ist darum ein Sinn für die Vollzugslogik der (christlichen) Religion - nicht Wissen, nicht Problemlösungsfähigkeit. Diesem Ziel arbeitet auch die religiöse Kommunikation zu. Wo immer Menschen in existenziell bedeutsamen Zusammenhängen sich einbringen können, steigt ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse erheblich an. Noch mehr ist das dort der Fall, wo das eigene existenzielle Erleben zum Gegen‐ stand des Gesprächs gemacht wird. Dass das des persönlichen Schutzes bedarf und gut vorbereitet sein muss, wurde bereits gesagt. Auch heute kann davon ausgegangen werden, dass das Bedürfnis nach Mitteilung in diesem Bereich besonders hoch, allerdings auch sehr ungeübt ist. 409 3 Religiöse Kommunikation <?page no="410"?> Religion lässt sich als eine kommunikative Praxis beschreiben, genauer: als Praxis der Kommunikationen erinnerter symbolischer Existenzerfah‐ rung. Schleiermacher nannte das den „Austausch religiöser Erregung“ und bezog sich damit vorrangig auf das religiöse Erleben. Aber auch existenzielle Erfahrungen bilden einen gewichtigen Kern religiöser Kommunikation. Eine solche Kommunikation braucht neben einem geschützten Rahmen (in der Regel ein Kreis bekannter Menschen) Sprachregelungen, über die im Voraus Einigung hergestellt werden muss: Dazu gehört vor allem die Fähigkeit zum Zuhören, die Abweisung von Beurteilung („richtig“ oder „falsch“ oder „unsinnig“) und einen Moderator, der Verständnisfragen klärt und das Gespräch im Sinne aller in Gang hält. Er muss auch dafür sorgen, dass mitgeteilte Symbolisierungen nicht beurteilt oder gar zensiert, sondern unbedingt respektiert werden. Die religiöse Kommunikation dient mit ihrer Mitteilung existenzieller Erfahrungen ebenso dem lebensdienlichen und orientierenden Austausch über die „großen Fragen“, wie sie das Verstehen von Religion fördert. Sie lässt sich als eine Weise des religiösen Spiels begreifen (→ 11.6), bei der es bestimmte Regeln gibt, die akzeptiert werden, aber auch variiert werden dürfen und bei dem nicht klar sein kann, was am Ende herauskommt. Wo sie gelingt, kann sie die Einsicht vermitteln, dass die Religion gerade nicht als sakraler Bezirk neben dem Leben steht, sondern als Deutung des Lebens mitten in dieses hineingehört. Religiöse Kommunikation in all ihren Formen kann als Grundprinzip der RP insgesamt gelten. Diese ist an tiefe, in der Regel emotionale Einsicht gebunden, welche vor allem durch den Zeichengebrauch (Symbolik, Ritual, Bildlichkeit usw.) und die „grammatischen Regeln“ der Religion erreicht und erlernt wird. Die ebenso faszinierende wie geheimnisvolle Wirklichkeits‐ dimension der Religion ist nur dann zu verstehen, wenn Religion selbst vollzogen, erfahren und gestaltet wird. In diesem Vollzug stellen sich auch ungekannte religiöse Darstellungsformen oft von selbst her. 410 18 Religionsbildende Religionsdidaktik <?page no="411"?> 4 Aufgeklärte Religiosität und religiöse Positionierung „Sinn und Nutzen von Religion (werden) erst durch die Einsicht in ihre subjektive Deutungsleistung klar.“ (Kunstmann 2018, 74) Religionsdidaktik ist eine Kunst, die keineswegs in bekanntes und vermess‐ bares Gebiet führt, sondern im Gegenteil in die Unverrechenbarkeit des persönlichen Erlebens, in das Geheimnis, ins Staunen. Religionsdidaktik geht darum immer in Mystagogie über; sie ist Führerin in das Geheimnis des Lebens. Immer öfter geben religiöse Menschen den Hinweis (Rahner, Sölle, Zink), dass die Zukunft des Christentums in der Mystik liegt. Mystik bezeichnet die innerste Erfahrung des religiösen Geheimnisses. Sie fußt auf einer umfassenden Verschmelzungserfahrung, die die Welt in einer neuen Deutung erscheinen lässt und den Alltag durchdringt. Sie ist darum alles andere als weltabgewandt. Wer das religiöse Geheimnis erfährt, wird ins Zentrum des Lebens geführt. Religiöse Bildung beginnt mit dem Wissen um religiöse Formen als symbolische und wirklichkeitssetzende (performative) Formen. Darum sind sie keineswegs nur als verweisend oder abbildend zu verstehen. In ihnen selbst kommt das Religiöse ans Licht. Ihnen wird nur eine Ästhetik gerecht, die weiß, dass Religion aus evozierenden Formen besteht, die die religiöse Wirklichkeit selbst aber immer erst herstellen. Aufgeklärte Religion ist also erheblich mehr als das Bescheidwissen im Kontext einer überlieferten Religion. Sie ist das Wissen um den Erfah‐ rungsgehalt religiöser Traditionen, ihren symbolischen Charakter und die Fähigkeit zur Symbolisierung und Kommunikation eigenen existenziellen Erlebens. Sie schließt unverzichtbar das Wissen um die Bedeutung von Religion für die Kultur und für das eigene Leben mit ein, sowie um deren Eigenständigkeit und Nichtübersetzbarkeit in andere kulturelle Formen und Weisen des Weltzugangs. Dazu kommt selbstverständlich auch eine Unterscheidungsfähigkeit hinsichtlich lebendiger und pathologischer, also zwischen lebensdeutender und ideologischer Religion. Das lässt sich an gegebenen Religionsformen explizieren, muss aber auch grundsätzlich klar sein. Schließlich gehört zur religiösen Bildung ein Wissen um die Komple‐ xität der Religion zwischen religiöser Erfahrung und religiöser Kultur und ein Verständnis für die tendenziellen Verhärtungen der letzteren in Form von Sakralisierungen, Zwang und Selbstbezüglichkeiten und die Notwendigkeit von interner religiöser Selbstkritik. 411 4 Aufgeklärte Religiosität und religiöse Positionierung <?page no="412"?> Religiöses Interesse lässt sich als ein vornehmes Gesamtziel religionspä‐ dagogischer Bemühungen verstehen. Wo es geweckt ist, ist viel erreicht. Es wird offensichtlich durch vorauslaufende Prägungen, dann aber vor allem durch ein förderliches Umfeld und entsprechende Angebote stimuliert. Es kann explizit (wahrnehmbar) oder implizit sein (in Form einer Suche oder Sehnsucht). Es kann sich an kulturell sichtbarer Religion ebenso orientieren (z. B. Faszination buddhistischer Praxis oder religiöser Kunst) wie an religiösem Erleben (z. B. spirituelle Erfahrungen) und an Profanem. Religiöses Interesse bleibt in unserem Kulturkreis heute weitgehend privat und darum kaum sichtbar. Man wird davon ausgehen dürfen, dass religiöses Interesse vor allem dann entsteht, wenn religiöse Gehalte oder Formen und Prozesse zur eigenen Beteiligung angeboten werden und eigene Erfahrungen spiegeln. Vorrangig dürfte das dort der Fall sein, wo das eigene religiöse oder das existenzielle Erleben zur Sprache kommt und mitgeteilt werden darf. Religiös gebildet ist allerdings nur, wer einen eigenen begründeten reli‐ giösen Standpunkt erreicht und diesen kommunizieren kann. Wenig weiß die RP über das Zustandekommen eines solchen persönlichen Standpunktes und einer eigenen religiösen Positionierung. Natürlich wird sich ein solcher dann formen, wenn Religion interessiert und im Bezug zum eigenen Erleben erfahren wird. Wann das allerdings der Fall ist, ist schon aufgrund von Vorprägungen und subjektiv verschiedenen Auffassungen schwer zu sagen. Religiöse Positionierungen werden zudem heute oft nicht mehr als ein für allemal bindend verstanden, sondern unterliegen einer Entwicklungsdyna‐ mik und weitgehend auch dem Wunsch der bleibenden Offenhaltung. Die Bereitschaft zu religiöser Identifikation und Lebensorientierung scheint generell deutlich rückläufig; sie hängen heute offensichtlich in hohem Maße an lebenspraktischer Plausibilität und an Erlebnis-Intensität. Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass religiöse und nicht-religiöse Selbst- und Fremddeutung heute nicht mehr übereinstimmen; deutlich „religiöses“ Verhalten/ Empfinden kann von den Betroffenen selbst ganz säkular beschrieben werden, säkulare Phänomene dagegen (etwa in der populären Kultur) erscheinen als religions-analog. Umso wichtiger sind die oben gemachten Ausführungen zur individuel‐ len Symbolisation und zur religiösen Kommunikation. Ziel des religiösen Lehrens und Lernens sollte freilich immer eine begründete eigene religiöse Positionierung sein. Dabei darf offen bleiben, wo sie sich im Feld zwischen Glauben, religiösem Interesse, Agnostizismus und Ablehnung von Religion 412 18 Religionsbildende Religionsdidaktik <?page no="413"?> bewegt. Entscheidend ist eine konsistente und mitteilungsfähige Begrün‐ dung. Zusammenfassung Religiöses Erleben, wie es die Religionspsychologie erschließt, ist auch für moderne Menschen von bleibendem Interesse. Religiösen Lernen muss sich darum am religiösen Erleben orientieren, dieses zum Thema machen und darüber hinaus dazu anleiten, eigene existenzielle Erfahrungen zu symbolisieren und zu kommunizieren. So lassen sich religiöse Traditionsformen als Ausdruck tiefer Erfahrungen verstehen und die eigene Person als potenziell religiös; und so lässt sich auch ein eigener religiöser Standpunkt begründen. Literatur Zu 1: H.-J. Fraas 1993 - LexRP, Art. „Religiosität“ - W. James 1997 - B. Grom 2000 und 2007 - A.A. 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Abendmahl, Eucharistie 49, 132, 154, 178, 183, 185 Ästhetik 27, 34, 38, 172, 174, 204, 235, 246f., 297, 331, 335, 385f., 392, 396, 398, 411 Aufklärung 25f., 31, 33, 47, 50, 64, 107, 143, 167, 170, 176, 311, 313f., 319, 321, 323, 345, 359, 364, 366, 381f., 387f., 391 Autonomie 13, 31, 56, 60, 64, 73, 78, 97f., 103, 105, 107, 111ff., 197, 258, 264, 296, 312f., 316, 329, 335f., 340, 366, 402, 407 Baldermann, Ingo 92, 232f., 252, 370 Barth, Karl 33, 78, 167, 171 Beck, Ulrich 311, 317, 341, 344 Berg, Horst Klaus 233, 280 Bewusstsein 35, 56ff., 66, 69, 76, 85, 123, 125, 137, 171, 208, 215, 234, 238, 240f., 243, 245, 253, 268, 301, 303f., 314, 340, 346, 351, 353, 364, 382, 384, 397 Bibel 15, 19, 30, 37, 41f., 48f., 53, 78, 80-84, 92, 102, 127, 143, 152f., 157, 176, 179, 190, 196, 216, 219, 232-236, 240, 243, 263, 274, 306, 313, 326, 328, 330, 334, 336, 359, 365, 367, 369, 372, 376, 407 Bibliodrama 236, 256 Bibliolog 236 Biblische Geschichten 126, 181, 232, 361 Biehl, Peter 225, 237, 240f., 385f. Bild 56, 60, 121, 163, 170, 195, 220, 260, 336, 388f., 392, 394, 407 Bildung 13f., 17f., 20f., 26f., 32, 37ff., 45f., 48, 63f., 66f., 70, 72ff., 77, 89, 92, 94, 130, 142, 144f., 147, 154, 160, 162-166, 174f., 177, 180, 189, 193-197, 202f., 208, 216, 219f., 228, 248, 255, 288, 296, 299, 303f., 306, 321, 334-337, 354, 356, 362ff., 375, 381-391, 393-400, 404, 409, 411 Bologna-Reform 164 Bultmann, Rudolf 33, 78, 80, 167, 365 Cassirer, Ernst 68, 238 Christologie 75, 326, 365f., 368 Comenius, Johann Amos 30, 207 Curriculum 267 Damasio, Antonio R. 57, 211, 301 Deutung 14ff., 22, 46, 54f., 59, 62, 91-94, 130, 141, 159, 165, 175, 194, 210, 219, 225, 238, 266, 269, 271, 276, 280, 287, 305, 360, 369, 375f., 381, 393, 403f., 407, 410f. Drewermann, Eugen 358, 401 Eckhart 61, 371, 388 <?page no="430"?> Emotion 384, 386, 390, siehe Gefühl Emotionen siehe Gefühl Entmythologisierung 80, 167, 364 Erfahrung, Erleben, Erlebnis, auch religiöses 14-17, 22, 25-29, 34, 43-46, 49, 52-61, 69, 72ff., 76f., 84, 87, 89, 91-94, 97f., 100-104, 111, 114ff., 126, 131ff., 136, 141, 159, 170, 175, 177, 179ff., 183-186, 188, 194, 201, 206f., 209, 212f., 216ff., 225-228, 230-235, 237f., 240f., 245, 247, 251ff., 255-258, 260, 263, 266, 268-274, 280f., 288f., 292ff., 300, 302-305, 307f., 311, 320, 329f., 335, 337, 344, 348f., 352f., 357, 359, 362ff., 369ff., 373, 375ff., 384f., 388, 392ff., 396, 399f., 402, 404-413 Erfahrungsbezug 89, 226, 243, 271, 273, 282, 289, 302, 304f., 354, 361 Erikson, Erik 108, 111ff., 128, 401 Erzählung 15, 29, 59, 76, 129, 146, 159, 178f., 215, 250, 272, 274f., 278, 334, 367, 409 Ethik 31, 54, 59, 62, 69, 88, 144, 147, 151, 155ff., 160, 168, 176, 194, 208, 262, 319, 329, 372 Eucharistie 154, 183, 185 Evangelium / Kommunikation des E. 16, 21, 36f., 44f., 67, 69, 78f., 89, 157, 168, 187, 196, 292, 295, 395, 405f., 409 Exegese 34, 41, 176, 232f., 249, 328, 330, 364 Familie 14, 21, 30, 36f., 43, 58, 65, 96f., 101, 103, 116, 119, 122-125, 127, 132, 141, 179f., 189, 315, 317f., 322, 330, 332, 342, 349, 396 Fowler, James 108, 110, 118 Freud, Sigmund 35, 58, 62, 75, 105, 288, 320f., 349 Fundamentalismus 61, 195, 323, 330, 390 Gadamer, Hans-Georg 255, 275, 392 Gebet 113, 125, 127, 131, 139, 149, 221, 254, 292, 298, 306 Gefühl 14, 17, 25, 32, 48, 54-57, 73, 76, 99f., 104, 111f., 116, 123f., 127, 136, 138, 141, 170, 174, 192f., 205, 211, 215, 225, 237, 243, 251, 253, 257, 268, 276, 285, 287f., 291, 298, 301-305, 308, 314ff., 318f., 322, 324, 331f., 343-346, 349, 353, 357, 364, 370, 374, 381, 391, 402 Gemeindepädagogik 18, 35ff., 44, 47, 212 Gespräch 20, 32, 51, 114, 116, 125, 132ff., 142, 229, 257f., 272, 274, 282, 284, 371, 383, 409f. Glaube, Glaubensinhalt 13ff., 18, 20, 25, 28ff., 34, 37f., 40ff., 45, 48-53, 56, 60, 62, 66, 69, 74, 77-81, 84, 90, 94, 98, 101, 104, 108, 110, 112, 121, 131, 133, 139ff., 149, 153f., 159, 166, 169, 172, 182, 185, 194f., 210f., 214, 216f., 220ff., 225, 231, 234, 242, 247, 253, 266, 292ff., 304, 312f., 325, 327, 329, 336, 340, 347, 351, 358, 362-367, 385, 397, 400f., 404, 412 Glaubensbekenntnis 48ff., 152, 157, 169, 185, 221, 329, 368, 406 Gmünder, Paul 107f., 118 Gott, Gottesbild, Gottesvorstellung 15, 25, 29, 31, 33, 35, 46, 48ff., 54, 59-62, 68, 73, 75, 78ff., 82, 92f., 96f., 99, 101-105, 107, 113f., 116, 121, 127-132, 139f., 148, 153f., 157, 167, 169f., 181, 185, 193, 214, 219, 221f., 227, 233, 235, 252, 256, 266, 268, 272, 293, 295, 298, 300, 305, 312f., 430 Register <?page no="431"?> 319f., 322, 324f., 328f., 334, 340, 342, 345, 347f., 351, 354f., 358f., 364-370, 388, 392, 395, 401f., 407 Gottesdienst 15, 37, 51, 65, 97, 129, 139, 178, 180, 183f., 186, 190f., 246f., 279, 326, 329f., 348, 376 Grundtvig, Nicolai 194 Grundvertrauen 99f., 111f., 128, 130, 401 Halbfas, Hubertus 34, 45, 93, 207f., 210, 237-241, 252, 305, 361, 365, 404, 406 Heilige Schrift siehe Bibel Hermeneutik 38, 41, 80, 170f., 176, 212, 233, 296, 371ff., 397 Humboldt, Wilhelm von 66, 162, 219, 387f. Identität 34, 60, 72, 87, 100, 103, 111ff., 154-157, 182, 185, 224, 342, 345, 354, 375, 385, 401 Individualisierung 21, 27, 56, 88, 96, 125f., 136, 139, 207, 216, 291, 317, 340- 343, 345, 347f., 350, 352ff., 356, 363, 374, 382, 395, 399 Intermediärer Raum 101 James, William 57, 402 Jesus 19, 29, 49, 57, 59, 61, 83, 104, 127, 133, 148, 154, 169, 185, 221f., 236, 257, 268, 293, 312, 330, 335, 348, 357f., 365- 368, 371, 395 Jugendliche 25, 46, 97, 104, 121, 134- 141, 147, 155, 172, 178, 182ff., 186-189, 214, 225, 333, 347, 351, 353, 404 Jung, Carl Gustav 62, 96, 238, 400 Kabisch, Richard 32, 76, 99, 101, 215, 226, 305, 355, 361 Katechese 18, 26, 28, 33, 40, 48f., 51, 174, 232, 246 Katechetik 18, 31-34, 36, 40, 47-51, 53, 64, 74 Kind 32, 64, 68, 76, 96, 98-103, 108, 112, 116, 121-134, 141, 146f., 150f., 155, 172, 178-181, 190f., 215, 232, 244, 260, 263, 290, 298, 300f., 340, 355, 366, 387, 396, 404 Kirche 14, 16f., 20, 27f., 30-33, 35, 37, 40, 43, 48f., 55, 60, 65, 69, 71, 76, 79, 83, 89, 91, 102, 104, 113, 124f., 129, 139f., 143f., 149-158, 160, 167, 170f., 176, 179-186, 189, 191, 194-197, 208, 215, 217, 219, 222, 242ff., 247, 249, 254, 263f., 279, 294, 296f., 311, 313f., 319f., 323-330, 336f., 345, 347f., 351, 358ff., 362, 367, 371f., 385, 397, 401 Kittel, Helmuth 79 Klafki, Wolfgang 202ff., 219, 384f. Kleiner Katechismus 30, 49, 185 Kohlberg, Lawrence 106 Kohut, Heinz 349, 401 Kommunikation 16, 22, 27f., 39, 54, 86, 91, 93f., 125, 133f., 139, 141, 159, 170f., 173, 175, 179, 191, 198, 206, 209f., 212, 225, 229f., 242, 246ff., 272, 275, 278ff., 282, 294, 305ff., 329, 333, 336, 354f., 360, 371, 384, 390, 399, 404f., 408-412 Kompetenz 21, 36f., 71ff., 145, 148, 165, 172, 175ff., 196, 206-209, 228, 247, 254, 265, 268, 280, 286, 288, 302f., 356, 383, 397 Konfession 125, 151ff., 155ff., 222, 254, 294, 326, 330, 336f. Konfirmandenunterricht 36, 49, 79, 191 Kultur 14, 20, 25, 27, 32f., 40f., 52ff., 56, 58-62, 65, 67, 69, 72, 74, 76-81, 89, 97, 431 Register <?page no="432"?> 121, 141, 148, 167, 172f., 176, 190, 192, 194, 197, 202, 204, 207, 209, 216, 238, 264, 274, 295, 298f., 306, 315, 326, 329, 347, 350, 357, 359, 362f., 365, 367, 369, 372f., 375, 377, 381, 385f., 389f., 402, 411 Kunst 15, 48, 53, 56, 58ff., 63, 69, 105, 116, 150, 158, 176, 194, 197, 201, 208, 210, 215, 227, 229, 245, 250, 262, 273, 292, 325, 372, 381, 385, 390-393, 395, 398, 404, 411f. Laeuchli, Samuel 258 Lebensdeutung 16, 46, 74, 77, 175, 209, 264, 361, 372, 375f., 404f. Lessing, Gotthold Ephraim 29, 232, 359 Lübbe, Hermann 62 Luckmann, Thomas 62, 70 Luhmann, Niklas 62, 316, 324, 372 Luther, Martin 30, 49f., 53f., 61, 96, 140, 143, 152, 157, 162, 167f., 185, 216, 296, 312f., 322, 354, 357, 366, 371, 397 Magie 402 Medien 14, 20, 34, 37, 43, 45, 51, 65, 67, 83, 87, 121, 123, 125f., 135, 137f., 140f., 187, 194, 205, 213, 223, 229, 232, 260f., 267, 270, 272ff., 276, 286, 295f., 306, 308, 311, 321, 331, 333ff., 338, 342ff., 356, 374, 376, 395f., 405 Melanchthon, Philipp 30 Montessori, Maria 143, 180, 261, 278f. Motivation 129, 137, 147f., 171, 194, 201, 208, 228, 261, 265, 271, 283, 288-291, 302ff., 307f., 328, 381, 383, 385, 387f. Mythos 34, 238, 333, 364 Narzissmus 349, 366 Naturwissenschaft 54, 60, 68, 86, 90, 104, 140, 234, 314, 364 Neugier 57, 99f., 111, 125, 128f., 140, 208, 243, 255, 288f., 291, 298f., 303, 308, 384 Neurobiologie 173, 289, 300 Niebergall, Friedrich 32, 76 Nietzsche, Friedrich 52f., 163f., 320, 357, 364, 366, 389 Nipkow, Karl-Ernst 27, 37, 43, 46, 52, 98, 104, 195, 212, 219, 355, 385 Oser, Fritz 107f., 110, 118 Otto, Rudolf 56 Pädagogik 13, 15, 20, 26f., 29-32, 35, 39, 49, 51, 77, 79, 129, 133, 143, 201, 223f., 248, 279, 301, 303, 314, 340, 345, 355, 384, 387, 392f. Phantasie 57, 99, 101, 111, 116, 127ff., 131, 215, 228, 275, 288, 297-300, 302f., 305, 308, 334, 389, 391 Philosophie 53, 62, 68f., 79, 144, 154, 167, 170, 194, 210, 301, 319, 321, 355, 371, 390, 392 Piaget, Jean 106, 108, 289 Plausibilität 13f., 25, 39, 46, 68, 80, 91, 160, 171, 173, 251, 305, 326, 386, 398, 412 Populäre Kultur 176, 331, 334f., 338, 372, 374, 412 Positionierung 66, 72, 115, 158, 175, 265, 411f. Postmoderne 167, 317 Prägung 25, 65, 75, 99, 112, 114ff., 118, 155, 193, 213, 216, 294, 375, 402, 412 Praktische Theologie 16, 26, 36, 38, 40, 42, 47, 50, 77, 96, 168, 171, 240, 354, 372 Projektion 58, 102, 108, 114, 131, 320, 432 Register <?page no="433"?> 402 Rahner, Karl 34, 84, 167, 411 Reformation 30, 49, 143, 156, 167, 176, 182, 194, 295, 312, 322, 334, 345, 348 Reich Gottes 29, 59, 169, 366ff., 370 Relevanz 14, 91, 171, 219, 297, 326, 351f., 386, 398f. Religion 13ff., 17, 20f., 25ff., 29, 31-36, 38ff., 42-48, 51-56, 58-63, 66-78, 84, 86-94, 96-99, 101ff., 105, 111, 113-117, 121f., 126f., 129-132, 134, 139-142, 144-147, 149f., 154ff., 158ff., 170ff., 174-177, 179f., 184-189, 191, 193-197, 201f., 204, 207-212, 214ff., 218, 221- 232, 236-242, 244-254, 256, 258, 260, 263-266, 268, 274, 279f., 286f., 289, 291-296, 298ff., 304ff., 311, 313ff., 318- 324, 326, 328f., 331-338, 340, 345, 347- 366, 368f., 371ff., 375ff., 381, 384ff., 388, 390-412 Religionsdidaktik 16, 18f., 21, 45, 47, 55, 58, 92, 117, 155, 186, 199, 201, 204, 208- 212, 214, 216, 219, 221, 226, 228f., 231, 240, 244ff., 248-251, 258ff., 287, 297, 299f., 354, 371, 394, 396, 399, 404ff., 409, 411 Religionskritik 147, 167, 170, 222, 320, 328, 360 Religionspsychologie 20, 46, 228, 355, 400, 402f., 413 Religionsunterricht 18, 22, 32, 42, 44, 46, 71, 76, 79, 82f., 85, 142, 150, 154f., 209, 225, 254, 260, 262, 307, 371 Religiöse Erfahrung/ Erleben siehe Er‐ fahrung, Erleben, Erlebnis, auch reli‐ giöses Religiöses Lernen 13-19, 21, 26ff., 33, 39f., 42, 44, 47, 51ff., 55, 66, 69, 71-75, 85, 89, 91f., 94, 110, 113, 115, 132, 140, 144f., 150, 158, 171, 177f., 184, 188, 194, 201, 208ff., 212f., 216f., 220, 226, 228f., 231, 238, 242, 244, 247, 249, 251, 257, 265, 279, 287, 291-296, 298, 300, 305ff., 336, 352, 354, 371, 381, 395f., 398ff., 404, 406ff. Resonanz 58, 66, 318, 345, 347, 392, 394 Riemann, Fritz 401 Romantik 99, 102, 167, 314, 319 Rousseau, Jean Jacques 31, 98f. Säkularisierung 16, 21, 27, 34, 311, 314, 319-322, 326, 363 Schiller, Friedrich 387 Schleiermacher, Friedrich 14, 21, 28, 31f., 38, 48, 51, 54ff., 65, 93, 98, 167f., 171, 214f., 229, 245, 247, 249, 294, 300, 307, 319, 348, 357, 362, 364, 369ff., 376, 388, 391, 393, 395, 407, 410 Schrift 30, 38, 41, 143, 152f., 235, 312f., 357, 359 Schule 13f., 17ff., 21, 27, 30f., 35, 43, 51, 65, 67, 70, 72, 77ff., 97, 117, 119, 121, 123, 142-148, 150ff., 156, 186, 206f., 209, 212, 223, 225, 260ff., 268, 285, 291, 303, 334, 338, 382, 398 Sinn, Sinnerfahrung, Sinnfrage 13f., 16, 25, 31f., 40ff., 45, 50, 53ff., 59f., 64, 68, 71ff., 79, 81, 86f., 89f., 97f., 103f., 110, 112, 116, 127, 129, 138f., 142, 144, 150, 156, 159ff., 171f., 175, 177, 181, 185, 189, 196, 202, 209f., 214, 216, 225, 228, 233ff., 239f., 243f., 246, 248, 253, 256, 259, 263f., 266, 268, 270, 274, 289, 291, 293, 304ff., 311, 314, 318f., 326, 328, 353, 364, 366, 370, 374, 381-387, 389ff., 433 Register <?page no="434"?> 393f., 396f., 399f., 404ff., 408-411 Spiel 34, 81, 100, 112, 128ff., 178, 229, 242, 244, 246, 254-259, 277, 288, 292, 296, 300, 307, 318, 374, 388 Spiritualität 17, 140, 253f., 323, 326, 337, 352, 362 Spiritueller Sinnsucher 138 Stallmanns, Martin 81 Stoodt, Dieter 86f., 361 Stress 121, 138, 192, 288, 290f., 303, 316 Symbol 28, 34, 83, 104, 167, 181, 220, 231, 236-242, 260, 270, 305, 326, 329, 331, 334, 353, 366, 368, 396, 400, 404f., 407 Systematik 41, 167f., 172, 235 Taizé 254, 297, 329 Taylor, Charles 321f. Theißen, Gerd 208, 234 Theologie 17, 21, 27f., 30, 33f., 39-42, 51, 53, 58f., 62, 71, 75, 77, 80, 84, 94, 104, 114, 121, 132ff., 141, 147, 161, 166-174, 177, 195, 210f., 217, 219, 221, 227, 234f., 238, 251, 254, 256, 263, 295, 314, 319f., 323, 325f., 328ff., 336, 340, 345, 349, 354f., 360, 362, 371f., 392f., 397, 400 Tradierungsabbruch 336ff., 362 Tradierungskrise 336 Tradition 17, 20, 26, 34, 38, 41f., 46, 60, 69, 75, 77, 80f., 83-87, 89, 91, 93f., 97, 140, 153, 167f., 172, 175, 178, 182, 184, 187, 194, 207, 209, 216-220, 229f., 232, 241f., 258, 269, 287, 293-297, 301, 305ff., 311, 316f., 325f., 329, 335f., 342, 351, 354f., 358-362, 369f., 375ff., 381, 386ff., 395, 400f., 404f., 407ff., 411 Wahrheit 34, 39, 57f., 60, 201, 212, 215, 225, 232, 258, 313, 317, 330, 351f., 357, 359, 362, 366, 368, 392f., 405 Weber, Max 316, 322 Weihnachten 131, 140, 181, 185, 326 Winnicott, Donald W. 99, 101, 129, 298 434 Register <?page no="435"?> ,! 7ID8C5-cfgcij! ISBN 978-3-8252-5628-9 Joachim Kunstmann Religionspädagogik 3. Auflage Dieses Einführungswerk bietet einen umfassenden Überblick über sämtliche Arbeitsfelder einer zeitgemäßen Religionspädagogik. Neben Grundfragen und traditionellen Themen des Faches werden neueste Entwicklungen behandelt, wie die zunehmende Hinwendung der Religionspädagogik zu Gegenwartsthemen wie der Individualisierung und Kulturbezogenheit von Religion. Eine als strukturierend für alle klassischen Orte christlich-religiöser Erziehung, Sozialisation und Bildung ausgewiesene Religionsdidaktik ist ebenso in das Konzept integriert wie die Gemeindepädagogik. Somit ist das Buch ein unentbehrlicher Begleiter für Studium, Lehre und Gemeindearbeit. Theologie | Religionswissenschaft Religionspädagogik 3. A. Kunstmann Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 56289 Kunstmann_M-2500.indd 1 56289 Kunstmann_M-2500.indd 1 08.07.21 18: 37 08.07.21 18: 37