Biblisches Arbeitsbuch für Soziale Arbeit und Diakonie
1213
2021
978-3-8385-5672-7
978-3-8252-5672-2
UTB
Jörg Lanckau
Thomas Popp
Anni Hentschel
Anni Hentschel
Klaus Scholtissek
Diakonie bewegt sich zwischen unterschiedlichen Polen: zwischen biblischer Botschaft und aktuellen Herausforderungen, zwischen Gottes Auftrag und gesellschaftlichen Aufgaben, zwischen professionellen Dienstleistungen und aus Glauben gespeister Motivation.
Diakonie und Soziale Arbeit der Kirchen sind also mit der Bibel verwoben. Dieses Lehrbuch erschließt die Bibel als zeitlose Quelle des Glaubens für diakonisches Handeln. Der gegenwärtige Diskussionsstand und wesentliche Themen diakonischen und sozialarbeiterischen Professionswissens werden bibelwissenschaftlich aufbereitet. Ein besonderer Akzent liegt auf anthropologischen sowie ethischen Aspekten und den damit verbundenen Themenbereichen. Aspekte von Gemeinschaft und Spiritualität betonen den für Diakonie vorausgesetzten Bezugsrahmen menschlichen Handelns.
<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-cfghcc! ISBN 978-3-8252-5672-2 Lanckau | Popp Hentschel | Scholtissek (Hrsg.) Biblisches Arbeitsbuch für Soziale Arbeit und Diakonie Diakonie bewegt sich zwischen unterschiedlichen Polen: zwischen biblischer Botschaft und aktuellen Herausforderungen, zwischen Gottes Auftrag und gesellschaftlichen Aufgaben, zwischen professionellen Dienstleistungen und aus Glauben gespeister Motivation. Diakonie und Soziale Arbeit der Kirchen sind also mit der Bibel verwoben. Dieses Lehrbuch erschließt die Bibel als Quelle für diakonisches Handeln. Der gegenwärtige Diskussionsstand und wesentliche Themen diakonischen und sozialarbeiterischen Professionswissens werden bibelwissenschaftlich aufbereitet. Ein besonderer Akzent liegt auf anthropologischen sowie ethischen Aspekten und den damit verbundenen Themenbereichen. Aspekte von Gemeinschaft und Spiritualität betonen den für Diakonie vorausgesetzten Bezugsrahmen menschlichen Handelns. Theologie Religionswissenschaft Biblisches Arbeitsbuch Diakonie Lanckau | Popp | Hentschel Scholtissek (Hrsg.) Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 56722 Lanckau_M-5672.indd 1 56722 Lanckau_M-5672.indd 1 29.10.21 09: 17 29.10.21 09: 17 <?page no="1"?> utb 5672 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau Verlag · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Jörg Lanckau ist Professor für Biblische Theologie und Kirchengeschichte an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. Prof. Dr. Thomas Popp ist Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Diakonik an der Evangelischen Hochschule Nürnberg und Ausbildungsleiter der Rummelsberger Diakone und Diakoninnen. Dr. Anni Hentschel ist Direktorin des Rudolf-Alexander-Schröder-Haus Evangelisches Bildungszentrum Würzburg. Prof. Dr. Klaus Scholtissek ist Geschäftsführer der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein und Privatdozent für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. <?page no="3"?> Jörg Lanckau / Thomas Popp / Anni Hentschel / Klaus Scholtissek (Hrsg.) Biblisches Arbeitsbuch für Soziale Arbeit und Diakonie Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5672 ISBN: 978-3-8252-5672-2 (Print) ISBN: 978-3-8385-5672-7 (ePDF) ISBN: 978-3-8463-5672-2 (ePub) Einbandmotiv: Waltensburger Meister (14. Jh.): Fußwaschung, Detail aus der Wandmalerei in der Reformierten Kirche Waltensburg/ Vuorz, Graubünden, Foto: J. Lanckau 2014. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 20 21 22 24 1 25 1.1 27 27 31 34 36 37 38 38 1.2 40 40 40 41 41 42 43 45 47 49 Inhalt Wie Sie mit BASAD arbeiten können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diakonisches Kongruieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung und Rezeptionsgeschichte von "diakonía" . . . . . . . . . . Nächstenliebe im Kontext von Gottes- und Selbstliebe . . . . . . . . . Diakonin, Diakon und Diakonisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionelle Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diakonie, helfendes Handeln, soziale Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist die Bibel? Buchwerdung und Kanonisierung . . . . . . . . . . . Das Buch der Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wort und Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftliche Zeugnisse aus dem antiken Israel und Juda (10.-6. Jh. v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Literatur aus babylonischer und persischer Zeit (6.-4. Jh. v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Literatur aus persischer und hellenistischer Zeit (3. Jh. v. - 1. Jh. n. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Griechische Schriften des antiken Judentums im Christentum (1.-2. Jh. n. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung des Neuen Testaments (1. Jh. n. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . Entstehung der christlichen Bibel (1.-4. Jh. n. Chr.) . . . . . . . . . . . . Tanach, Mischna und Talmud im Judentum (1.-6. Jh. n. Chr.) . . . <?page no="6"?> 50 50 51 52 52 1.3 54 54 55 57 58 59 1.4 60 60 61 62 63 64 65 66 2 67 2.1 69 69 70 71 72 73 73 Textüberlieferung des Tanach im Judentum (2. Jh. v.-11. Jh. n. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament . . . . . . . . . . . . Zum Verhältnis von Gottes Wort und menschlicher Textüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bibel lesen: innerbiblische, geschichtliche und aktuelle Verstehensprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auslegen und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftauslegung im Alten und im Neuen Testament . . . . . . . . . . Schrifttexte und ihre Sinnkarriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblische Texte zwischen Anspruch und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . Performative Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Gattungen - nicht verwechseln! . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblische Texte als Diskursliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Götterdämmerung in der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prüfstein der Religion: die reale Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze biblischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott als König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott als Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottes Reue - der barmherzige Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott als Vater und Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 2.2 74 74 76 77 77 78 79 79 2.3 80 80 81 82 83 84 84 2.4 86 86 87 89 90 2.5 91 91 93 93 94 94 95 95 95 3 97 Ansätze biblischer Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschöpf und Schöpfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handelnd und verantwortlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homo faber und homo absconditus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterblich und sündig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doppelte Verkörperung - Gott und Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze neutestamentlicher Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sendung Jesu im Zeichen der Gottesherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . Diakonisches Profil der Sendung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messianischer Lebens- und Todesdienst Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze biblischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblische Ethik im Kontext der Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . Grundlagen, Normen und Formen biblischer Reflexion . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begründungsansätze helfenden Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottes Menschenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube an Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrenzung der Hilfeleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verankerung im Gemeindeleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Segen und Verheißung Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte der Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt <?page no="8"?> 3.1 99 99 101 101 102 102 103 103 3.2 105 105 106 106 107 107 107 108 109 109 3.3 111 111 113 114 114 3.4 116 116 116 118 119 120 120 Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zäsuren des Alters und der Lebensepochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Ambivalenz des hohen Alters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alter und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gottesbeziehung des alternden Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ältesten im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alttestamentliche Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Deuteronomium als Lehrbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familie als Ort der Erziehung im Sprüchebuch . . . . . . . . . . . . . . . Gott als Erzieher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neutestamentliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung als „Einbildung“ Christi bei Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung durch den menschgewordenen Gott bei Johannes . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheit und Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen von Krankheit und Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeiten der Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienvorstellungen im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienvorstellungen in den Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienvorstellungen in der Briefliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 3.5 122 122 122 123 124 124 125 125 3.6 127 127 128 130 130 131 3.7 132 132 134 135 135 3.8 136 136 137 139 140 140 3.9 141 141 143 144 145 Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pädagogische Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologische Akzentuierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschen mit Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alttestamentliche Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neutestamentliche Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paulus - ein Mensch mit Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschen als Gottes irdische Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . Partizipation an Christus als idealem Menschen . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimensionen der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auslegungen der Paradieserzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte des biblischen Todesverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorstellungen von der Überwindung des Todes . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt <?page no="10"?> 4 147 4.1 149 149 150 150 151 152 152 4.2 153 153 154 154 155 157 157 4.3 158 158 159 159 160 161 162 162 4.4 163 163 163 164 165 166 166 166 Aspekte der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit und Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phänomene, Praktiken und Bewertungen von Arbeit . . . . . . . . . . Unabhängige Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abhängige Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armut und Reichtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armut als Skandal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtliche Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armutsrisiken und Folgen von Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortung der Reichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asyl, Ausländer und Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asyl - biblische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Asylstädte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausländer und Fremde - biblische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . Rechte und Pflichten von „Beisassen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderne Verkürzungen im Rückgriff auf die Bibel . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krieg und Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Welt ohne Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott als Kriegsherr? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mutige Worte wider den Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frieden als Wunsch und Idealzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frieden als Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="11"?> 4.5 168 168 169 169 170 171 172 172 172 4.6 173 173 174 174 175 176 177 4.7 178 178 179 179 180 180 181 181 4.8 183 183 184 185 186 187 5 189 Recht, Gerechtigkeit und Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottes Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Recht und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jesus auf dem „Weg der Gerechtigkeit“ bei Matthäus . . . . . . . . . . Rechtfertigung und Endgericht nach Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doppelgebot der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortung und Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schöpfungstexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortung in alttestamentlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . Neutestamentliche Erwartungen des Weltendes . . . . . . . . . . . . . . Bewahrung der Schöpfung aus biblischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaft und Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subsistenzwirtschaft und ihre sozialen Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . Geldwirtschaft und ihre sozialen Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzliche Regelungen in der Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Wohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vermehrung des Segens für alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Witwen und Waisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgen des Todes des Ehemannes und Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik an Missständen und Schutzbestimmungen . . . . . . . . . . . . . Von der Gottesnähe zur Macht des Gebets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Inhalt <?page no="12"?> 5.1 191 191 192 194 195 196 196 5.2 197 197 199 200 201 5.3 202 202 203 203 203 204 205 205 207 207 5.4 209 209 210 210 211 212 212 5.5 213 213 Ämter und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umwelt des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neutestamentliche Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansehen und Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinde als lebendiger Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konvivenz und Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konvivenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konkurrenz und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschliche Übergriffe und göttliche Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . Befristete menschliche und ewige göttliche Macht . . . . . . . . . . . . Macht als Merkmal Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diverse Konkurrenzphänomene bei Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konkurrenz in der Jesusgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht in der Jesusgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beflügelnde Konkurrenz und Bevollmächtigung . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einheit und Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alttestamentliche Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paulinische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere neutestamentliche Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung für die kirchliche und diakonische Praxis . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essen und Trinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Form der Hauptmahlzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Inhalt <?page no="13"?> 214 215 215 216 216 216 217 5.6 218 218 219 219 220 221 221 222 222 6 223 6.1 225 225 226 226 227 228 228 229 229 6.2 230 230 231 231 233 Jesus und frühchristliche Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gruppenzugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mahlgemeinschaft mit Jesus als Teilhabe am Reich Gottes . . . . . . Jüdische und nichtjüdische Jesusanhänger*innen . . . . . . . . . . . . . Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inklusion und Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inklusion im „Heiligkeitsgesetz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Göttliche Grenzüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausweitung der Heilssphäre statt Normalisierung . . . . . . . . . . . . Jesus Christus - die Verletzlichkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christliche Gemeinde zwischen Exklusivität und Inklusion . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte der Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atem des Herzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperhaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungen und Sprachformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einübung ins Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebet als diakonische Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensalltag und Kultus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube und Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Treue“ und „Bund“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Glaube“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kleinglaube“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der zweifelnde Thomas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Inhalt <?page no="14"?> 233 234 234 6.3 235 235 235 236 236 236 237 238 238 239 239 6.4 241 241 242 242 243 243 244 244 6.5 246 246 247 247 248 248 248 249 250 250 Funktionen des Zweifels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reizwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befreiende Bindung an Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenslanger Lernprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jesus als Verkörperung der Demut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannungseinheit von Milde und Schärfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umkehrung der Maßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spiritualität der Selbstzurücknahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefährdete Grundhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertiefung in verletzliches Leben (Phil 2,5-11) . . . . . . . . . . . . . . . Vertiefung in einfaches Leben (Lk 2,51) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufstieg und Abstieg (Mt 17,1-9 und Parallelen) . . . . . . . . . . . . . . Diakonische Christusmystik (Mt 25,31-46) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottes- und Nächstenliebe (Lk 10,38-42) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstsorge und Selbstliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstsorge und Sorglosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kluge und dumme Selbstsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstsorge und Zeitsensibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstsorge und Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstsorge und Unabhängigkeit (Autarkie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstsorge und Führungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Inhalt <?page no="15"?> 7 253 7.1 255 255 256 257 259 259 7.2 261 261 262 263 264 265 7.3 266 266 267 267 268 269 269 270 7.4 271 271 273 274 274 7.5 275 275 276 276 Biblische Schlüsseltexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiligkeit des Lebens (Lev 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Heiliges“ in biblischen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lev 19 - Religion und Sozialethik verbunden . . . . . . . . . . . . . . . . . Lev 19 - en détail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befreiung und Rettung (Jes 61) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nomen est omen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerechtigkeit als Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diakonischer Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerechtigkeitssinn Gottes (Gen 6,5 - 9,19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was lief schief ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott auf der Seite der Gerechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewandelter Gott, gewandelte Erde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorderorientalische Flutüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottes Gerechtigkeitssinn als biblischer roter Faden . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barmherzige und hörende Liebe (Lk 10,25 - 42) . . . . . . . . . . . . . . . Barmherzige Liebe (Lk 10,25-37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hörende Liebe (Lk 10,38-42) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weltgericht (Mt 25, 31 - 46) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Form und Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblische Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Inhalt <?page no="16"?> 278 279 279 7.6 281 281 282 284 285 285 7.7 287 287 288 289 290 291 291 7.8 293 296 297 307 307 308 308 309 310 310 320 333 333 Matthäische Akzentuierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fußwaschung (Joh 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fußwaschungen in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fußwaschung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liebe als Erkennungszeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taufe, Herrenmahl und Diakonie (1 Kor 10 - 12) . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinde und Gemeinschaft (1 Kor 1,1-9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taufe und Geistesgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leib Christi und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diakonie in der „Gemeinde Gottes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Titelbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen biblischer Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altes Testament und deuterokanonische Schriften . . . . . . . . . . . . Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außerkanonische Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriften vom Toten Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altes Testament und deuterokanonische Schriften . . . . . . . . . . . . Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außerkanonische Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriften vom Toten Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Inhalt <?page no="17"?> 334 334 335 336 Transliteration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hebräisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Griechisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Inhalt <?page no="18"?> Vorwort Wir freuen uns sehr, dass nun das Biblische Arbeitsbuch für Soziale Arbeit und Diakonie vorliegt (BASAD). Es entstand im Kontext praxisorientier‐ ten Forschens und Lehrens an der Evangelischen Hochschule Nürnberg (EVHN). Der Studiengang Diakonik ist erfreulicherweise nicht nur mit dem Studiengang Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit eng vernetzt, sondern auch mit den Studiengängen Soziale Arbeit und Sozial‐ wirtschaft korreliert. Das hängt mit der für Diakon*innen erforderlichen Doppelqualifikation zusammen. Seit geraumer Zeit gibt es für Religionspä‐ dagog*innen ein alt- und ein neutestamentliches Arbeitsbuch (1987 / 5 2019; 1993 / 4 2014). Für diakonisch besonders relevante biblische Themen gibt es für Studierende und Mitarbeitende in Sozialer Arbeit, Kirche und Diakonie kein Pendant. Diese Lücke füllen wir mit BASAD. Jörg Lanckau vertritt an der EVHN die Bibelwissenschaft in Religionspäd‐ agogik und Diakonik. Es trifft sich gut, dass er Alttestamentler ist und den Studiengang Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit leitet, wäh‐ rend Thomas Popp als gelernter Neutestamentler nun Praktische Theologie lehrt sowie den Studiengang Diakonik leitet. Er gab den ersten Anstoß zu diesem Projekt. Jörg Lanckau verantwortet nicht nur mehrere inhaltliche Beiträge, sondern auch die Buchwerdung. Anni Hentschel ist als Neutestamentlerin ausgewiesene „Diakonia“-Ken‐ nerin. Sie ist Direktorin des Rudolf-Alexander-Schröder-Hauses (Evan‐ gelisches Bildungszentrum Würzburg) und Lehrbeauftragte für Neues Testament am Institut für Evangelische Theologie der Julius-Maximili‐ ans-Universität Würzburg. Klaus Scholtissek ist Vorsitzender der Geschäfts‐ führung der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein gGmbH und apl. Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Fried‐ rich-Schiller-Universität Jena. Nicht nur die vier Herausgebenden stehen mit ihren jeweiligen Perspektiven für eine Diversität, die der Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten biblischer Texte entspricht. Wir danken herzlich den vielen, fachlich hochqualifizier‐ ten Autor*innen, die sich der Herausforderung gestellt haben, wissenschaft‐ lich fundiert und zugleich verständlich Themen zu beleuchten, die für Soziale Arbeit und Diakonie besonders relevant sind. Dass dabei keine <?page no="19"?> Vollständigkeit möglich ist, versteht sich angesichts der Themenfülle von selbst. Je nach Thema und Schwerpunkt der Autor*innen differieren die Anteile des Alten und Neuen Testaments. Wir beabsichtigen, Einstiege zu eröffnen, erste Einblicke zu ermöglichen und Impulse zur Weiterarbeit zu geben. Wir freuen uns daher sehr, dass BASAD im Verlag Narr Francke Attempto in der Reihe der utb Lehrbücher erscheint. Die Bände dieser Reihe bieten den jeweiligen Stoff kompakt, gut lesbar und didaktisch aufbereitet. Frau Kristina Dronsch, Frau Corina Popp, Frau Elena Gastring, Herrn Stefan Selb‐ mann und dem Lektorat sei herzlich gedankt. Die Evangelische Hochschule Nürnberg hat das Projekt im Rahmen der Forschungsförderung finanziell unterstützt. Für die Arbeit mit BASAD steuerte Johannes Haeffner zu Beginn des Buches dankenswerterweise didaktische Überlegungen bei. Er ist Diakon, Pädagoge, Professor für Diakoniewissenschaft / Pädagogik an der EVHN und bildet mit Thomas Popp die Ausbildungsleitung der Rummelsberger Diakone und Diakoninnen. Die in ihrem Umfang variierenden Impulse im Anschluss an die jeweiligen Artikel werden von den Herausgebenden verantwortet. Für inhaltliche und methodische Resonanzen sowie neue Ideen sind wir sehr dankbar. Wir wünschen Ihnen eine gewinnbringende, dem Leben in Sozialer Arbeit und Diakonie dienende Lesereise. Dabei hat BASAD nicht zuletzt das Ziel, zum Lesen der biblischen Texte und deren Übersetzung in den Alltag zu animieren. Oder wie Martin Luther es auf den Punkt gebracht hat (sprachlich angepasst): In der Bibel sind „Lebeworte, nicht zum Spekulieren und Grübeln, sondern zum Leben und Tun.“ Jörg Lanckau Thomas Popp Anni Hentschel Klaus Scholtissek 19 Vorwort <?page no="20"?> Wie Sie mit BASAD arbeiten können Johannes Haeffner Dieses Arbeitsbuch ist für alle gemacht, die sich im Feld von Sozialer Arbeit und Diakonie bewegen - von der Ausbildung bis zur Leitungsebene. Wir denken z. B. an Studierende in theologisch orientierten, sozialpädago‐ gischen, managementbezogenen und pflegerischen Studiengängen sowie an Fach- und Leitungskräfte. Sie können sich wissenschaftlich fundiert einen Überblick über für sie bedeutsame Themen aus biblischer Perspektive verschaffen. Folgende Methode ist eine Möglichkeit, um die Artikel dieses Buches in Gruppen zu lesen und ins Gespräch zu kommen: ? Bei Textstellen, die fragwürdig oder unklar sind, setzen Sie ein Frage‐ zeichen an den Rand. ↯ Ein Blitz signalisiert, dass eine Aussage bei Ihnen Widerspruch auslöst oder Sie eine andere Sicht der Dinge haben. ! Ein Ausrufezeichen markiert, dass eine Aussage für Sie wesentlich ist. Tauschen Sie sich zunächst über die Fragezeichen, dann über die Blitze und schließlich über die Ausrufezeichen aus. Daraus können sich weitergehende Gespräche entwickeln. Jeder Beitrag bietet Ihnen einen oder mehrere Impulse und Literaturver‐ weise, die weitgehend durch die Herausgebenden verantwortet wurden. Darüber hinaus ermöglichen weitere Nachschlagewerke einen kompakten Überblick, z. B. das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (siehe Litera‐ tur). Die Beiträge können keine umfassende und abschließende Darstellung leisten. Sie haben aber den Anspruch, den Einstieg in die mit dem Thema angesprochenen Fragen zu ermöglichen und wichtige biblische Aspekte des Themas zu reflektieren. Die Vielfalt der Interpretationen soll nicht überdeckt, sondern sichtbar werden und so den Diskurs anregen. <?page no="21"?> Diakonisches Kongruieren Diakoniewissenschaft nimmt helfendes Handeln in Kirche und Diakonie in den Blick. Dies geschieht durch Einbeziehung der Theologie mit ihren Teildisziplinen und Bezugnahme auf die Human-, Pflege-, Sozial- und Wirt‐ schaftswissenschaften. Diakoniewissenschaft ist interdisziplinär konzipiert: Unterschiedliche Disziplinen begegnen sich, um ihre Erkenntnisperspektive und fachliche Kompetenz einzubringen. Die in der Diakoniewissenschaft etablierte Methode des „Diakonischen Kongruierens“ lässt sich gut mit BASAD verknüpfen. Dabei steuert BASAD die bibelwissenschaftliche Perspektive zu dieser multiperspektivi‐ schen Methode bei. Das diakoniewissenschaftliche Proprium, diakonische Theologie mit allen Fachwissenschaften in Beziehung zu setzen, fassen wir in dem Begriff des „diakonischen Kongruierens“ (Rainer Merz). Er meint ein „In-Übereinstimmung-Bringen“ von unterschiedlichen wissenschaftlichen Handlungslogiken, Zugängen und Perspektiven zu einem Thema, z. B. Theologie und Pädagogik, Theologie und Ökonomie, Theologie und Pflege (M E R Z 2007: 71). Wir sind uns bewusst, dass das diakonische Kongruieren in Einrichtungen der Diakonie seit langem zum Alltag diakonischen Handelns gehört. Diakonische Einrichtungen sind multirationale Organisationen, in der täglich unterschiedliche Handlungslogiken von beispielsweise Verwal‐ tung, Betriebswirtschaft, Medizin, Pädagogik und Psychologie zum Wohle der Klient*innen ausgelegt werden müssen. Dies tun Fachkräfte immer wieder in Konferenzen und Einzelfallbesprechungen. BASAD hilft dabei, zu bestimmten Themen und Anliegen die bibelwissenschaftliche Perspektive zu berücksichtigen. In der interdisziplinären Diakoniewissenschaft geschieht Wesentliches im Zwischen: Kommunikation und Vernetzung stehen im Blickpunkt dia‐ konischen Nachdenkens und Handelns. Es geht nicht nur darum, für die Menschen sozial-karitativ zu wirken, sondern mit den Menschen zu handeln und zwischen ihnen und ihren jeweiligen persönlichen und fachlichen Per‐ spektiven im Sozialraum zu vermitteln. Gefragt ist also das Brückenbauen durch Beraten, Befähigen und Begleiten. Soziale und diakonische Arbeit „wirkt im Dazwischen, um dort zwischen Laie und Fachkraft, Disziplin und Disziplin, Unwissen- und Informiertheit, Einsamkeit und Gemeinschaft, Angst und Geborgenheit - letztlich zwischen Mensch und Mensch - Gräben zu vermeiden, zu überwinden und Brücken zu schlagen“ (K A R G 2019: 32). 21 Diakonisches Kongruieren <?page no="22"?> Diakonisches Kongruieren ist somit eine Methode wechselseitigen Ver‐ stehens. Beispielsweise sind nicht nur sozialarbeits- und pflegewissen‐ schaftliche Erkenntnisse theologisch zu interpretieren und zu transformie‐ ren. Auch theologische Perspektiven brauchen Zuspitzung, Ergänzung und Transformierung durch soziale, pflegerische und andere Wissenschaften. Diakonisches Kongruieren stellt also keine Einbahnstraße dar: Es geht um einen interdisziplinären Dialog zwischen diakonischer Theologie und anderen relevanten Fachwissenschaften für Kirche und Diakonie. Die Art und Weise, wie Mitarbeitende in Sozialer Arbeit, Kirche und Diakonie soziale Wirklichkeit wahrnehmen und beurteilen, entscheidet maßgeblich über ihr berufliches Handeln. Wie Soziale Arbeit ist auch die Diakoniewissenschaft eine Hybridwissenschaft. Sie ermöglicht einen multiperspektivischen Blick auf helfendes Handeln in Kirche und Diakonie. Wahrnehmen, Urteilen und Handeln im Kongruieren wird damit zur Kernkompetenz diakonisch-pro‐ fessionellen Handelns. Die Aufgabe des diakonischen Kongruierens ist keine einmalige Aufgabe. Vielmehr stellt sie sich mit jedem fachlichen Konzept, mit jeder neuen Methode, aber auch in jeder individuellen Handlungssitu‐ ation in kirchlich-diakonischen Kontexten neu. Sie stellt somit eine nie abgeschlossene Aufgabe für Berufsgruppen und ehrenamtlich Engagierte in Kirche und Diakonie dar. BASAD steuert, wie bereits erwähnt, die bibelwissenschaftliche Perspektive zu diesem multiperspektivischen Ansatz bei. Methodik Folgende Schritte zeigen, wie Sie mit den BASAD-Artikeln im Sinne des diakonischen Kongruierens arbeiten können. 22 Wie Sie mit BASAD arbeiten können <?page no="23"?> Stellen Sie sich vor, dass Sie als Mitarbeitende einer Berufsgruppe in Kirche und Diakonie einen Impuls in einem Kirchenvorstand oder bei einer Mitarbeitendenklausur zum Thema Inklusion verantworten. ■ Vorverständnis: Fragen Sie sich zunächst selbst, welches Vorverständ‐ nis Sie zum Thema Inklusion haben. Was wissen Sie über dieses Thema? Welche Einstellung und Haltungen, evtl. auch Vorbehalte haben Sie? Welche Erfahrungen haben Sie selbst schon gemacht? ■ Fachwissenschaftliche Perspektiven: Was versteht die Soziologie unter Inklusion, die Pädagogik, die Pflegewissenschaft usw.? Welche Kernaussagen treffen die sozialbzw. humanwissenschaftlichen Per‐ spektiven zu diesem Thema? ■ Bibelwissenschaftliche Perspektive: Lesen Sie nun Urte Bejicks Beitrag zum Thema Inklusion. Welche bibelwissenschaftlichen Beob‐ achtungen macht der Text? Ergänzen und vervollständigen Sie diese Kernaussagen unter Umständen durch eigene und aus der weiterfüh‐ renden Literatur gewonnene Kenntnisse. 23 Methodik <?page no="24"?> ■ Didaktische Grundfrage: Vergleichen Sie nun die bibelwissenschaftli‐ chen Erkenntnisse mit denen der sozial- und humanwissenschaftlichen Perspektiven zum Thema Inklusion (= Diakonisches Kongruieren). Wo können Sie Gemeinsamkeiten entdecken, wo Unterschiede? Was fällt auf ? Wo bereichert unter Umständen die eine wissenschaftliche Erkenntnis die andere und umgekehrt? ■ Zusammenfassung: Welche zentralen Erkenntnisse zum Thema In‐ klusion haben Sie gewonnen? ■ Schlussfolgerungen: Welche Folgerungen könnten diese Erkennt‐ nisse für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln haben? Literatur A L K I E R , Stefan, B A U K S , Michaela & K O E N E N , Klaus (Hg.) 2007 ff: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ wibilex/ . F R I E D R I C H , Norbert u. a. (Hg.) 2015: Diakonie-Lexikon. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. K A R G , Franziska 2019: „Und er starb alt und lebenssatt.“ Würdevolles Sterben in Altenpflegeheimen - ein Beitrag der Sozialen Arbeit zu einer diakonischen Ab‐ schiedskultur. Bachelor-Thesis, Evangelische Hochschule Nürnberg, Studiengang Soziale Arbeit. M E R Z , Rainer 2007: Diakonische Professionalität. Zur wissenschaftlichen Rekonstruk‐ tion des beruflichen Selbstkonzeptes von Diakoninnen und Diakonen; eine berufsbi‐ ographische Studie. Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 33. Heidelberg: Winter. R U D D A T , Günter & S C HÄF E R , Gerhard K. (Hg.) 2005: Diakonisches Kompendium. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. 24 Wie Sie mit BASAD arbeiten können <?page no="25"?> 1 Einführung <?page no="27"?> 1.1 Begriffsklärungen Anni Hentschel Die Begriffe „Diakonie“ und „diakonisch“ sind nicht nur im protestantischen Kontext geprägte Lehnworte für das soziale Engagement der Kirche, für den nächstenliebenden Dienst von Christinnen und Christen. Verkündigung (martyría), Gottesdienst (leitourgía), Gemeinschaft (koinōnía) und der Dienst an den Nächsten (diakonía) werden mit Bezug auf im Neuen Testament ver‐ wendete griechische Begriffe konfessionsübergreifend als Wesensmerkmale von Kirche angesehen. Doch sowohl mit dem Begriff „Diakonie“ als auch mit den damit verbun‐ denen Phänomenen verbinden sich zahlreiche Anfragen: Unterscheidet sich das helfende Handeln von Christ*innen vom Helfen anderer Menschen? Stellt die Rede vom christlichen (Liebes-)Dienst nicht eine Überhöhung dar, die mit der Verschleierung des Machtgefälles zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen, mit der Gefahr der Selbstausbeutung durch grenzenlose Hilfeleistung und mit der sachlich unangemessenen Abwertung anders motivierten Helfens verbunden ist? Und wird der griechische Begriff diako‐ nía im Neuen Testament wirklich im Sinne eines spezifisch christlichen, sich ganz den Bedürfnissen der Nächsten widmenden (Liebes-)Dienstes verwendet, wie Hermann W. Beyer in seinem Artikel im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (1935) grundlegend festhält? Bedeutung und Rezeptionsgeschichte von "diakonía" Das deutsche Lehnwort „Diakonie“ kommt vom griechischen Nomen dia‐ konía und seinen Ableitungen, die im Neuen Testament hundert Mal belegt sind. Sie werden in deutschen Bibeln v. a. mit „Dienst“, „Versorgung“ oder „Amt“ übersetzt. Die Wortgruppe steht im Altgriechischen neben weiteren Dienstbegriffen wie z. B. dem Sklavendienst (douleía), der Verehrung oder Fürsorge (therapeía) oder dem öffentlichen Dienst (leitourgía), die jeweils ihr eigenes, spezifisches Bedeutungsspektrum haben. Die verbreitete Überset‐ zung all dieser Begriffe mit „Dienst“ lässt die zwischen ihnen vorhandenen Bedeutungsunterschiede in deutschen Bibelübersetzungen nicht deutlich <?page no="28"?> werden. Da Sklav*innen in der Antike rechtlos waren und zum Eigentum zählten, stellt der Sklavendienst zum Beispiel eine grundsätzlich verachtete Form des Dienstes dar. Kein freier Mensch wollte wie ein Sklave anderen Menschen dienen müssen oder gar - zum Beispiel aufgrund von Über‐ schuldung - selbst zum Sklaven oder Sklavin werden. Wenn vermögende Bürger (selten Bürgerinnen) jedoch mit einer „Liturgie“ das öffentliche Leben unterstützten und zum Beispiel den Unterhalt eines Gymnasiums oder eine kulturelle Veranstaltung ermöglichten, so vergrößerte diese oft als finanzielle Zuwendung gestaltete Dienstleistung ihr Ansehen. Eine Übersetzung mit „Dienst“ oder „Dienen“ für die Wortgruppe diakonía ist zwar semantisch richtig und bei den meisten klassisch-griechischen oder biblischen Belegstellen problemlos möglich, gibt jedoch das spezifische Be‐ deutungsspektrum des griechischen Begriffs oft nur unzureichend wieder. In der Septuaginta ↗ LXX finden sich nur sieben Belege dieser Wort‐ gruppe in späten Texten (Est 1,10; 2,2; 6,3.5; 1Makk 11,58; 4 Makk 9,17; Spr 10,4; → 1.2 Was ist die Bibel? ). Deshalb lässt sich der alttestamentliche Wortgebrauch für das Verständnis der neutestamentlichen Wortverwen‐ dung nicht auswerten. Der jüdisch-hellenistische Historiker Josephus (ca. 37-100 n. Chr. ↗ Hellenismus) verwendet die Wortgruppe jedoch relativ oft, wiederholt auch in Paraphrasen der hebräischen biblischen Texte. Wort‐ statistische Untersuchungen zeigen, dass diakonía und seine Ableitungen in den Schriften der klassisch-griechischen und auch der jüdisch-hellenisti‐ schen Literatur von Verfasser zu Verfasser unterschiedlich häufig verwendet werden, was vermutlich mit den sprachlichen Vorlieben der jeweiligen Übersetzer*innen oder Autor*innen zusammenhängt. Die Arbeiten von Wilhelm Brandt (1931) und vor allem von Her‐ mann W. Beyer (1935) haben ein Begriffsverständnis von diakonía geprägt, das für das Diakonieverständnis im 20. Jh. einflussreich wurde. Neuere Arbeiten zur Semantik von John N. Collins (1990) und Anni Hentschel (2007) stellen diese Deutung jedoch in Frage und haben eine Diskussion um die Interpretation der neutestamentlichen Wortverwendung ausgelöst, die weit über die Übersetzung neutestamentlicher Belege hinausgeht und das Diakonieverständnis insgesamt betrifft. Hermann Wolfgang Beyer (1935) sah im Tischdienst - verstanden als eine niedrige Frauen- oder Sklavenarbeit - die Grundbedeutung von diakonía. Davon leitete er ein allgemeines Verständnis von diakonía im Sinne eines Dienstes ab, der oft zugunsten anderer zu deren Versorgung geleistet werde und üblicherweise aus einer untergeordneten oder niedrigen Position 28 1.1 Begriffsklärungen <?page no="29"?> heraus geschehe. Im Neuen Testament werde diese Wortverwendung weiter entwickelt zu einem Verständnis des selbstlosen Dienstes an den Nächsten. Diesen zur Selbsthingabe bereiten Liebesdienst an den Nächsten sah er vorbildlich von Jesus verwirklicht, der nach Mk 10,45 gekommen ist, „nicht um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen (diakonéō) und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben“. Auf dieser Grundlage interpretierte Beyer die Wortverwendung von diakonía im Neuen Testament als eine spezifisch christliche, die den Dienst im Sinne eines selbstlosen Liebesdienstes gegen‐ über den Nächsten verstehe. Er grenzte das im Neuen Testament seiner Meinung nach spezifisch christlich geprägte Wortverständnis damit sowohl vom jüdischen als auch vom klassisch-griechischen Sprachgebrauch ab - dort sei diakonía eine minderwertige, verachtete Tätigkeit. Damit hat Beyer die problematische Annahme gesetzt, dass es nur im christlichen Kontext eine selbstlose Hingabe, eine „wahre“ Diakonie gebe, während es zur Zeit Jesu und der Entstehung der neutestamentlichen Texte einen vergleichbaren Liebesdienst im griechisch-römischen Kontext nicht und im Judentum nicht mehr gegeben habe. Nach diesem Wortverständnis ist der sich selbst hinge‐ bende Liebesdienst das Zentrum und der Maßstab christlicher Lebenspraxis, was sowohl für das Individuum als auch für die christliche Gemeinde gilt. Im Anschluss an Brandt und Beyer entwickelte sich in der protestantischen neutestamentlichen Exegese ausgehend von 1Kor 12,5 die Überzeugung, dass jedes Amt oder Ehrenamt in den frühchristlichen Gemeinden nur als (Liebes-)Dienst an der christlichen Gemeinschaft unter Verzicht auf Autorität oder Ehre verstanden werden könne. Neuere Forschungen zur Wortverwendung von diakonía (C O LLIN S 1990 und H E NT S CHE L 2007) stellen dieses Begriffsverständnis in Frage. Weder kann der Tischdienst als Grundbedeutung angesehen werden, noch be‐ zeichnet die griechische Wortgruppe schwerpunktmäßig Versorgungsleis‐ tungen als verachtete Dienste von Frauen oder Sklav*innen. Vergleicht man die Vorkommen der Wortgruppe, die in der klassisch-griechischen und jüdisch-hellenistischen Literatur ebenso wie im Neuen Testament in auffallend vielfältigen Kontexten und Situationen benutzt wird, zeigt sich, dass sie ganz unterschiedliche Tätigkeiten bezeichnen kann, die vor allem von Männern und manchmal auch von Frauen, von Sklav*innen ebenso wie von freien Bürger*innen, von Königen (selten Königinnen) oder Gottheiten durchgeführt werden. Als Gemeinsamkeit zwischen den Belegen lässt sich feststellen, dass es sich oft um Aufgaben handelt, die im Namen eines Dritten oder auch angesichts einer besonderen Situation erledigt werden. Wenn zum 29 Bedeutung und Rezeptionsgeschichte von "diakonía" <?page no="30"?> Beispiel eine Mahlzeit besonders feierlich sein soll, verrichten gerade nicht die Sklav*innen oder anderes Dienstpersonal den Tischdienst, sondern der Gastgeber bzw. die Gastgeberin oder deren Familienmitglieder oder auch eigens für diesen Anlass beauftragte diákonoi (vgl. z. B. Philo, Über das kontemplative Leben 70-75; Lukian Saturnalia 17 f; Lk 10,40; Joh 12,2). Wenn die Überbringung z. B. von Geldspenden, Botschaften oder auch Strafen erforderlich ist, kann man vertrauenswürdige Personen, zum Teil auch Insti‐ tutionen, als diákonoi einsetzen (vgl. Apg 11,29; 12,25; 20,24; Röm 13,4; 2Kor 3,6; 5,18; vgl. Testament Abrahams Rez. A 9; Philo, Über den Dekalog, 177). Je nach Auftraggeber und Inhalt der Beauftragung kann die Tätigkeit mit mehr oder weniger Verantwortung, Autorität und Ansehen verbunden sein. Des‐ halb ist diakonía geeignet, unterschiedlichste Aufgaben als Beauftragungen zu beschreiben, deren konkreter Inhalt sich erst durch die Situation oder den literarischen Kontext erschließt. Diese eher funktionale Wortverwendung lässt sich sowohl in antiken griechischen Texten als auch bei den hundert neutestamentlichen Belegen beobachten. Im Neuen Testament werden zum Beispiel die Verkündigungstätigkeit im Namen Gottes oder Christi (Röm 11,13; 2Kor 5,18; 6,3), alle Aufgaben in der christlichen Gemeinde (1Kor 12,6; Apg 12,1-6), die grundlegende, oft auch als Apostolat (Sendung) bezeichnete Mission im Namen Christi (Apg 1,25; 20,24; Röm 11,13; 12,7; 2Kor 11,13-15.23) sowie Botengänge z. B. zur Überbringung der Kollekte im Namen der spendenden Gemeinden (Apg 11,29; 12,25; 2Kor 8,4; 9,1.12 f; vgl. 2Kor 8,19 f) als diakonía bezeichnet. Die Wortgruppe findet sich weder in der Briefliteratur noch in der Apostelgeschichte im Kontext von Abendmahl oder Gottesdienst. Abgesehen von Apg 6,1 f wird die Wortgruppe nur in den Evangelien für die Aufwartung bei Tisch verwendet, wobei der lukanischen Vorliebe für Mahlszenen wirkungsgeschichtlich eine besondere Bedeutung zukommt (Mt 8,15 ⫽ Mk 1,31; Lk 4,39; 12,37 (2x); Lk 17,8; Lk 22,27 (2x); evtl. auch Mt 4,11 ⫽ Mk 1,13). Apg 6,1-6 zur Einsetzung der Sieben dürfte der Text sein, der die Vorstellung von Armenhelfern in den frühchristlichen Gemeinden am meisten geprägt hat, doch bezüglich der Wortverwendung bleibt nur die nüchterne Feststellung, dass die Sieben in der Apg nicht als diakonoi bezeichnet werden und dass in Apg 6,1-6 zudem von zwei Arten von diakonía gesprochen wird: einmal mit Bezug auf die Tische (Apg 6,1 f) und einmal mit Bezug auf die Wortverkündigung (Apg 6,4; vgl. Apg 1,17.25; 20,24; 21,19). Nach diesem Wortverständnis beschreibt diakonía auch im Neuen Testa‐ ment unterschiedliche Tätigkeiten als Dienste im Sinne einer Beauftragung, 30 1.1 Begriffsklärungen <?page no="31"?> charakterisiert diese aber nicht automatisch als (Liebes-)Dienst an den Nächsten. Nur wenn Personen wie in Apg 6,1 f explizit mit karitativen Tätigkeiten beauftragt werden, handelt es sich in dieser Situation um eine karitativ ausgerichtete Dienstleistung. Das Lehnwort „Diakonie“, das im Sinne der praktischen Nächstenliebe verstanden wird, nimmt zwar ein wichtiges Anliegen der neutestamentlichen Texte auf, kann sich nach dieser Interpretation aber nicht auf das Bedeutungsspektrum und die Vorkom‐ men des griechischen Begriffs diakonía und seinen Ableitungen im Neuen Testament berufen. Dem entspricht, dass in neutestamentlichen Texten, die von karitativem Engagement handeln, die Wortgruppe in der Regel nicht verwendet wird - nur zwei der hundert Belege beziehen sich auf karitative Tätigkeiten (vgl. Mt 25,44; Apg 6,1 f), wo Menschen explizit zur Barmherzigkeit beauftragt oder zur Rechenschaft gezogen werden. Bei der - karitativ motivierten - Kollektensammlung der paulinischen Gemeinde für Jerusalem bezeichnet diakonía wohl die Überbringung der Geldspende (Röm 15,25.31; 2 Kor 8,4.19 f; 9,1.12 f; vgl. Apg 11,29; 12,25), während das karitative Engagement der spendenden Gemeinden im Begriff „Gnade“ bzw. Gnadengabe“ (cháris 2 Kor 8,4.6 f.19) enthalten ist, die in der Gnade Christi ihr Vorbild findet (2 Kor 8,9). Angesichts dieses differenzierten Befunds lässt sich von den vielfältig verwendeten neutestamentlichen Belegen von diakonía nicht einfach auf das eine neutestamentliche Diakonieverständnis schließen, auch wenn dies in manchen diakoniewissenschaftlichen Ansätzen zum Beispiel im Sinne einer prophetischen Diakonie oder im Sinne einer vermittelnden, kommu‐ nikativen Diakonie kreativ und mit wichtigen Anregungen diskutiert wird. Nächstenliebe im Kontext von Gottes- und Selbstliebe Im ↗ Tanach wird sowohl die Gottesals auch die Nächstenliebe mit dem hebräischen Verb ’āhav ausgedrückt (210 Belege), von dessen Wurzel ’hb auch das fem. Nomen ’ǎhavāh für Liebe abgeleitet wird (37 Belege). Andere hebräische Verben für „lieben“ wie etwa „begehren“, „anhangen“ (dāvaq) „gernhaben“, „Gefallen haben an“ (ḥāpaš) oder „zugetan sein“ (ḥāsaq) spielen im Zusammenhang der Gottes- und Nächstenliebe kaum eine Rolle. Die Sep‐ tuaginta übersetzt ’hb und seine verbalen Ableitungen mit dem griechischen Verb agapáō bzw. dem Nomen agápē. Diese Wortgruppe ist auch zentral für die neutestamentliche Liebesvorstellung (insgesamt 320 Belege). Die 31 Nächstenliebe im Kontext von Gottes- und Selbstliebe <?page no="32"?> griechischen Begriffe mit den Bedeutungsaspekten „freundschaftlich lieben“ (philéō, philía; 26 Belege) oder „Bruderliebe“ (philadelphía, philadelphós; 7 Belege) finden sich schwerpunktmäßig in johanneischen und paulinischen Texten. Das Verb „lieben, begehren“ mit seinen Ableitungen (eráō, erōs) kommt im Neuen Testament nicht vor. In der Umwelt Israels gibt es die Vorstellung von Liebesverhältnissen zwischen Gott und König bzw. König und Volk, wobei die Liebe sowohl in juristischen als auch in emotionalen Kategorien beschrieben wird. Die Liebe des übergeordneten Partners äußert sich als Gunst, Schutz und Fürsorge, der untergeordnete Partner ist verpflichtet zu Treue, Gehorsam und Dankbarkeit. Im Alten Testament gilt die Liebe Gottes üblicherweise jedoch nicht dem König, sondern unmittelbar dem Volk Israel, das entspre‐ chend allein seinem Gott, nicht jedoch anderen Herrschern oder Gottheiten zu Gehorsam, Treue und Verehrung verpflichtet ist. Grundlegend ist die Vorstellung der Liebe Gottes zu seinem Volk: Gott hat Israel erwählt und aus Ägypten gerettet (Dtn 7,7 f; 10.15; Hos 11,1-4). Die Liebe Gottes gilt auch den Fremden (Dtn 10,19; Ps 146,9). Dies wird ausgeweitet zur Vorstellung, dass die Liebe Gottes allen Menschen bzw. der ganzen Schöpfung gilt ( Jes 2,2-4; Mi 4,1-5; Weish 11,23-26; Ps 145,9). Das Volk Israel wird aufgefor‐ dert, Gott zu lieben, was sich als (Ehr-)Furcht (hebr. Wurzel jr’, nominal jir’āh), Dienst bzw. Verehrung (‘bd, nominal: ‘ǎvodāh) und Befolgung seiner Gebote konkretisiert (Dtn 6,4-9; 10,12 f). Zu diesen Geboten gehört zentral das Nächstenliebegebot (Lev 19,18), das auch Fremde einschließt, die als ausländischer Mitbürger*innen im Land Israel wohnen und wie jene vom eigenen Volk gelten sollen (Lev 19,33 f → 4.3 Asyl, Ausländer und Fremde). „Nächste“ sind zu verstehen als Nahestehende oder Mitmenschen, zu denen im Rahmen der engen sozialen Beziehungen der Antike ein Bezug besteht. Wichtig ist, dass in Lev 19 der oder die Nächste gerade auch in einer konflikthaften oder sogar feindlichen Beziehung zu den Angesprochenen vorgestellt werden, denn es wird gefordert, auf Zurechtweisung, Hass oder Rache zu verzichten (Lev 19,17 f; vgl. auch Ex 23,4 f; Spr 20,22; 24,17.29). In das Gebot der Nächstenliebe ist folglich die Feindesliebe eingeschlossen. Die Liebe- und Fürsorgepflicht gilt - nach dem Vorbild der Liebe Gottes - vor allem den bedürftigen Mitmenschen (personae miserae), zu denen auch Fremde gezählt werden (Dtn 10,17-19; Lev 19). Das Gebot der Nächstenliebe ist eine Grundnorm für ein gutes Leben im Sinne Gottes, welche die soziale Verantwortung nach dem Vorbild Gottes betont. In der Liebe zu den 32 1.1 Begriffsklärungen <?page no="33"?> Mitmenschen realisiert sich die Liebe zu Gott (vgl. Hos 6,6; Spr 14,31). Daran knüpfen die neutestamentlichen Liebesvorstellungen an. Die Gebote der Liebe Gottes (Dtn 6,5) und der Nächsten (Lev 19,18) wer‐ den nach der Darstellung der synoptischen Evangelien von Jesus verbunden (Mk 22,35-40; Mk 12,28-32; Lk 10,25-27) und gelten für ihn als Zusammen‐ fassung der ↗ Tora bzw. des göttlichen Willens. Auch Paulus versteht das Nächstenliebegebot als Erfüllung der ganzen Tora und Grundnorm aller Gebote Gottes (Röm 13,9; Gal 5,14). In Jak 2,8 gilt das Nächstenliebegebot als das „königliche Gesetz“. Vor allem in der johanneischen Tradition wird die Bruderliebe - heute würden wir von „Geschwisterliebe“ sprechen - nach dem Vorbild der Liebe Jesu betont, die sich in gegenseitiger Liebe innerhalb der Nachfolgegemeinschaft zeigt ( Joh 13,34; 1 Joh 2,3-11; 3,16-24; 4,20 f; 2 Joh 5). Mt 7,12 und Lk 6,31 erläutern die Nächstenliebe mit Hilfe der Goldenen Regel. Mt 5,43-48 und Lk 6,27-36 fordern explizit die Feindesliebe, die mit der umfassenden Liebe Gottes zu allen seinen Geschöpfen begründet wird (Mt 5,45; Lk 6,36). Die Liebe Gottes, die der Liebesforderung vorausgeht, zeigt sich in der Sendung Jesu, in seinem Leben und Sterben für die Menschen ( Joh 3,16; 13,1; 15,13). Die Liebe Gottes zu den Menschen und die Forderung von Gottes- und Nächstenliebe gehören zusammen. Jesu Liebe zu den Menschen, in der sich die Liebe Gottes zeigt, wird zum Maßstab für die von den Menschen geforderte Liebe (Mt 5,17-20; 22,36-39; Joh 13,34; Kol 3,13 → 2.4 Ansätze biblischer Ethik). Die Liebe der Menschen zu Gott konkretisiert sich in der Liebe zum Mitmenschen (Mt 22,37-39; 1 Joh 4,20 f). Gottesliebe ohne Nächstenliebe ist unglaubwürdig (1 Joh 3,17; 4,8; Jak 2,15-17). So wie die Liebe Gottes allen Geschöpfen unabhängig von ihrem Verhal‐ ten gilt (Mt 5,45; Lk 6,36; Joh 3,16), gilt auch das Gebot der Nächstenliebe mit Blick auf alle Menschen. Zwei Erzählungen, die für die Geschichte der Diakonie besonders einflussreich waren, thematisieren die Frage nach Subjekten und Objekten der Nächstenliebe: das Gleichnis vom barmherzigen Samariter im Kontext der Frage nach dem höchsten Gebot (Lk 10,25-37) und die gleichnishafte Rede vom Endgericht im Rahmen der Mahnungen Jesu zur Wachsamkeit angesichts seines bevorstehenden Todes (Mt 25,31-46). In der Beispielgeschichte vom barmherzigen Samariter gelten nicht mehr nur die Empfänger der barmherzigen Zuwendung als „Nächste“, sondern vor allem die barmherzig Handelnden, die sich vom Leid ihrer Mitmenschen anrühren lassen und in der Verantwortung stehen, diesen durch helfendes Handeln 33 Nächstenliebe im Kontext von Gottes- und Selbstliebe <?page no="34"?> Nächstenliebe zu erweisen und so zu Nächsten zu werden (→ 7.4 Barmher‐ zige und hörende Liebe). In der gleichnishaften Rede vom Endgericht werden alle Menschen, ohne dass deren Religions- oder Volkszugehörigkeit thematisiert werden, danach gefragt, ob sie den Menschen in Not geholfen haben, die ihnen begegnet sind. Die barmherzige Zuwendung zu den Mitmenschen gilt als Liebeserweis gegenüber dem Richter und damit gegenüber Jesus selbst. Jesus solidarisiert sich dadurch mit allen notleidenden Menschen und erwartet in einem universalen Sinn zwischenmenschliche Solidarität (→ 7.5 Weltgericht). Helfendes Handeln im Sinne der Nächstenliebe überschreitet in diesen Texten die Grenzen von Sympathie, Religion und Völkern, was sowohl für die Helfenden als auch für die - in dieser Situation - auf Hilfe Angewiesenen gilt. So universal wie die Liebe Gottes allen Menschen gilt, erfüllt sich nach der Botschaft des Neuen Testaments in der liebenden Zuwendung zu den Mitmenschen der in den Liebesgeboten formulierte Wille Gottes (Mt 5,45; 7,12; 25,40; Lk 6,31; 10,25-37). Diakonin, Diakon und Diakonisse Im Neuen Testament werden Männer und Frauen mit unterschiedlichen Aufgaben als diákonoi bezeichnet. Dabei handelt es sich nicht um das Amt von Diakon bzw. Diakonin, wie es sich später im Laufe der Kirchenge‐ schichte entwickelt und sich dabei je nach Konfession und Kontext auch in seiner konkreten Ausgestaltung immer wieder verändert. Diákonoi sind keine frühchristlichen Sozialarbeiter. Die Verantwortung für Nächstenliebe und Barmherzigkeit liegt im Neuen Testament sowohl bei verschiedenen Leitungsfunktionen als auch bei allen Gemeindegliedern. Erst im Laufe des zweiten Jahrhunderts entwickelt sich allmählich die Struktur von Bischof, Presbytern und Diakonen, wobei die grammatisch ausschließlich in männlicher Form existierenden Amtsbezeichnungen im Griechischen sowohl für Männer als auch für Frauen verwendet werden. Vereinzelt werden in der Alten Kirche auch Diakoninnen namentlich ge‐ nannt, auch wenn dies bei der Interpretation der altkirchlichen Quellen oft nicht berücksichtigt wird. Eine auch grammatisch weibliche Amtsbezeich‐ nung mit dem griechischen Begriff diakónissa ist erst ab dem 4. Jh. n. Chr. belegt und stellt eine christliche Wortneuschöpfung dar, die darauf hindeu‐ tet, dass eine Trennung in ein (in diesem Fall auf Männer begrenztes) 34 1.1 Begriffsklärungen <?page no="35"?> Diakonenamt und ein spezifisch weibliches Diakonissenamt angestrebt wurde. Allerdings konnte sich dieser Wortgebrauch nicht durchsetzen, und es sind auch in späteren Dokumenten Frauen als Diakoninnen (diákonos) belegt. Ob bzw. ab wann das Diakonenamt ein sozial-karitatives Amt darstellt, ist unsicher. Spätestens ab dem 3. Jahrhundert liegt die Verantwortung für die Versorgung der Notleidenden verstärkt beim Bischof, dem der Diakonat unterstellt ist. Letzterer verliert allmählich an Bedeutung. In der Reformationszeit rückt in protestantischen, vor allem in den lutherischen Kirchen das Predigtamt ins Zentrum des Amtsverständnisses. Die Verantwortung für die Nächstenliebe sah Martin Luther bei allen Gläubigen. Er förderte in Sachen Sozialfürsorge eine Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden. In den reformierten Kirchen entwickelte sich eine viergliedrige Struktur von Pfarramt / Pastorat (Verkündigung und Sakramente), Ältesten‐ amt (Gemeindeleitung), Lehramt (Unterweisung) und Diakonat (Verwaltung und Sozialfürsorge), die vor allem von Johannes Calvin als schriftgemäß favorisiert wurde. Das Diakonenamt konnte sich jedoch nicht als eigenstän‐ diges Amt etablieren. Im 19. Jahrhundert entwickelte Johann Hinrich Wichern im Anschluss an die reformierte Tradition das Amt des Diakonats für christliche Sozialfür‐ sorge. Der Begriff der Diakonisse wurde von Theodor Fliedner aufgegriffen, der junge Frauen für Berufe in der Pflege und Erziehung ausbilden ließ. Sie lebten unverheiratet in einer Art klösterlichen Gemeinschaft in Mutterhäu‐ sern zusammen. In vielen protestantischen Kirchen wurde erst im 20. Jahrhundert das Amt von Diakonin und Diakon neu entwickelt. Ihre Aufgaben liegen je nach Kirche in den Bereichen Verwaltung, Sozialfürsorge, Gemeindepädagogik und Gottesdienstgestaltung. Die Vorstellungen vom Amt eines Diakons oder einer Diakonin unter‐ scheidet sich heute je nach Konfession. Im katholischen, anglikanischen und orthodoxen Bereich bilden Bischofsamt, Priesteramt und Diakonat den dreigliedrigen Klerus, wobei es sich um Weiheämter handelt und der Diakon die unterste Stufe einnimmt. Ob es auch Diakoninnen geben kann und inwiefern sich deren Amt vom Diakonenamt unterscheidet, wird jeweils unterschiedlich beantwortet. Während es im anglikanischen Kontext Diakoninnen gibt, wird es im orthodoxen und römisch-katholischen Kontext diskutiert. Im Katholizismus war der Diakonat lange Zeit nur eine 35 Diakonin, Diakon und Diakonisse <?page no="36"?> Zwischenstufe auf dem Weg zum Priesteramt. Die Aufgaben liegen vor allem im liturgischen und seelsorgerlichen Bereich. Institutionelle Formen Mit Blick auf das karitative Engagement wird unterschieden, wer die Träger bzw. Trägerkreise sind. Von der Gemeindediakonie spricht man, wenn Kirchengemeinden mit ihren Mitgliedern sich sozial engagieren. Dies trifft zum Beispiel auf die neutestamentlichen Gemeinden zu und gilt bis heute im kleineren oder größeren Rahmen je nach Engagement der Mitglieder. Zu nennen sind hier Initiativen wie Besuchsdienste, Nachbarschaftshilfe oder Kirchenasyl. Von einer Anstaltsdiakonie sprach man lange Zeit, wenn spezifische Einrichtungen sich gezielt um die Bedürfnisse besonderer Zielgruppen kümmern. Kirchliche Institutionen, die sich im Rahmen der Wohlfahrspflege engagieren, werden im protestantischen Bereich oft als Diakonie - Diako‐ nie Deutschland, Diakonie Österreich und Sozialdiakonie in der Schweiz als Dachverbände - und im katholischen Kontext in Anlehnung an den lateinischen Begriff caritas für „Liebe“ als Deutscher Caritasverband, Caritas Österreich oder Caritas Schweiz bezeichnet. Die in Deutschland auf lan‐ deskirchlicher Ebene etablierten Diakonischen Werke (einschließlich dem Bundesverband: Diakonie Deutschland) sind als e. V. organisierte Spitzen‐ verbände mit zahlreichen größeren und kleineren Mitgliedseinrichtungen einer von mehreren Trägern der sogenannten Freien Wohlfahrtspflege mit vielen verschiedenen Einrichtungen, die partnerschaftlich mit dem Staat zusammenarbeiten und im Rahmen des Sozialstaatsmodells der Bundesre‐ publik soziale Aufgaben des Staates übernehmen. Zu den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege gehören neben Diakonie und Caritas zum Beispiel auch die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, das Deutsche Rote Kreuz und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Im Rahmen der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaf‐ ten hat sich auch das helfende Handeln verändert, wobei insbesondere in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Institutionalisierung, Professio‐ nalisierung und Spezialisierung sowie Ökonomisierung zu nennen sind. Angesichts des wachsenden Hilfebedarfs einer älter werdenden Gesellschaft wird zivilgesellschaftliches Engagement wieder neu an Bedeutung gewin‐ 36 1.1 Begriffsklärungen <?page no="37"?> nen. Hier eröffnen sich neue Bedarfe und Möglichkeiten, um auch im Kontext der Gemeinden wieder verstärkt Menschen zu motivieren und zu befähigen, sich alltagsbezogen im Nahbereich gegenseitig zu unterstützen (Quartiersarbeit, Sozialraumorientierung). Diakonie, helfendes Handeln, soziale Arbeit In den Diakoniewissenschaften ist umstritten, ob bzw. inwiefern es einen Unterschied zwischen diakonischem Handeln im kirchlichen Kontext und sozialer Arbeit in nichtkirchlichem Kontext gibt. Zentrale neutestamentli‐ che Texte wie Mt 25,31-46 oder Lk 10,25-27 legen nahe, dass das von Jesus geforderte barmherzige Handeln eine allgemein menschliche helfende Zuwendung zu Mitmenschen in Notsituationen ist. Jesus steht damit in der jüdischen bzw. alttestamentlichen Tradition, gemäß der Nächstenliebe als Nachahmung Gottes geschieht, der alle Menschen so geschaffen hat, dass sie auf gegenseitige partnerschaftliche Unterstützung angewiesen sind und diese auch jeweils geben können. Sowohl die Verletzbarkeit als auch die Fehlbarkeit gehören zum Menschsein dazu und schließen Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit nicht aus, sondern machen sie vielmehr erst möglich und notwendig. Im Anschluss an Martin Luther fordert deshalb Ulrich Bach, das helfende Handeln der Christ*innen als ein „weltlich Ding“ ohne religiösen Mehrwert zu verstehen (B ACH 2006). Andererseits wird immer wieder ein Proprium der Diakonie gefordert, mit dem impliziten Anspruch oder erklärten Ziel, sich von anderen Angeboten sozialer Arbeit zu unterscheiden. Doch die Frage, worin konkret das spezi‐ fisch diakonische Profil bestehen soll, ist mehr als umstritten und führt oft zu Widersprüchen zwischen Anspruch und Wirklichkeit sowie zur expliziten oder impliziten Abwertung helfenden Handelns anderer Menschen oder Träger. Wenn Annette Noller als Kennzeichen von Diakonie das unbedingte Festhalten an der Menschenwürde und die spirituelle Sinndeutungskom‐ petenz benennt (N O LL E R 2003: 226 → 3.7 Menschenwürde) oder Heinz Schmidt erwartet, dass „die diakonisch Handelnden […] dank ihrer inneren Beziehung zu Jesus Christus für ihre Klienten zu einer neuen humanen Erfahrung werden“ (S CHMIDT 2016: 148), müsste man - wären damit wirklich exklusive Unterscheidungskriterien benannt - auf die fragwürdige Über‐ zeugung schließen, dass nur die Diakonie, nicht jedoch alle anderen Anbieter 37 Diakonie, helfendes Handeln, soziale Arbeit <?page no="38"?> ihre Hilfeleistungen ganzheitlich oder mit einer spirituellen Kompetenz anbieten. Weiterführend ist die Unterscheidung des helfenden Handelns an sich als zutiefst menschliche Reaktion auf eine wahrgenommene Not einerseits und der reflektierenden Deutung dieses Handelns mit Blick auf religiöse oder humane Wirklichkeitsvorstellungen. Dies ermöglicht sowohl die wertschät‐ zende Anerkennung vom helfenden Handeln unabhängig von der jeweiligen Motivation als auch die theologisch-ethische Reflektion des Helfens im christlichen Kontext, die weitere ethische Deutungen in anderen religiösen oder humanistischen oder auch gesellschaftspolitischen Kontexten nicht ausschließt, sondern vielmehr sowohl beim Helfen als auch beim Reflektie‐ ren einen Austausch auf Augenhöhe ermöglicht. Impulse ■ Diakonie ist keine Erfindung des Christentums. Erklären und begrün‐ den Sie diese Aussage mit Blick auf das Judentum Jesu und relevante jüdische Traditionen. ■ Biblische Texte legen nahe, dass alle Menschen - je nach Situation - sowohl Helfende als auch Bedürftige sind und helfendes Handeln deshalb grundsätzlich auf Gegenseitigkeit beruht. Inwiefern ist beim institutionellen helfenden Handeln die Wechselseitigkeit nicht bzw. kaum gegeben und welche möglichen Konsequenzen ergeben sich daraus für die Beziehungen zwischen Helfenden und Klient*innen? ■ Inwiefern können institutionelle Formen der sozialen Arbeit dazu beitragen, dass Menschen lieber Geld spenden, als sich selbst um notleidende Menschen zu kümmern? Literatur B A C H , Ulrich 2006: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hamar. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. B E Y E R , Hermann W. 1935: διακονέω κτλ. In: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 2, Stuttgart: Kohlhammer, S. 81-93. C O L L I N S , John N. 1990: Diakonia. Re-Interpreting the Ancient Sources. New York: Oxford University Press. 38 1.1 Begriffsklärungen <?page no="39"?> H E N T S C H E L , Anni 2011: Diakon / Diakonin. In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 59458/ (Zugriffsdatum: 30. 07. 2020). H E N T S C H E L , Anni 2007: Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Frauen. Tübingen: Mohr-Siebeck. J A N S S E N , Enno 2 1980: Testament Abrahams. Jüdische Schriften aus Hellenistisch-rö‐ mischer Zeit III / 2, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 193-256. L U K IA N V O N S A M O S A T A . Die Werke in 5 Bänden mit deutscher Übersetzung nach Christoph Martin Wieland. München und Leipzig 1911. Neu hg. von Heinz-Gün‐ ther Nesselrath, Berlin: De Gruyter 2021 (im Erscheinen). N O L L E R , Annette 2003: Diakonische Profile in der Sozialen Arbeit. Zur Qualität diakonischen Handelns. In: Volker Herrmann, Rainer Merz, Heinz Schmidt (Hg.): Diakonische Konturen. Theologie im Kontext sozialer Arbeit. Heidelberg: Uni‐ versitätsverlag Winter, S. 214-228. P H I L O V O N A L E X A N D R IA . Die Werke in deutscher Übersetzung, Bd. I-VII, hg. von Leopold Cohn u. a. Berlin: De Gruyter & Co 1964. R Ü E G G E R , Heinz & S I G R I S T , Christoph 2011: Diakonie - eine Einführung. Zur theolo‐ gischen Begründung helfenden Handelns. Zürich: Theologischer Verlag Zürich. S C H M I D T , Heinz 2016: Diakonie und verfasste Kirche. In: Johannes Eurich, Heinz Schmidt (Hg.): Diakonik. Grundlagen - Konzeptionen - Diskurse, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 242-276. S ÖD I N G , Thomas 1995: Das Liebesgebot bei Paulus. Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik, Münster: Aschendorff Verlag. 39 Literatur <?page no="40"?> 1.2 Was ist die Bibel? Buchwerdung und Kanonisierung Jörg Lanckau In den Artikeln dieses Buches werden bibelwissenschaftliche Begriffe oder Sachverhalte vorausgesetzt bzw. angesprochen. Darum möchte diese Ein‐ führung das nötige Grundwissen zur Bibel und ihrer Entstehung vermitteln. Das Buch der Bücher Der Begriff „Bibel“ ist vom griech. ta biblía „die Bücher“ abgeleitet. Seit dem 2. Jh. n. Chr. werden Papyrus- oder Pergamentblätter zwischen Holzbretter zusammengebunden und als ↗ Kodex herausgegeben. Mit der handwerk‐ lichen Kunst des Drucks ab dem 15. Jh. wird die Bibel zum Buch im heutigen Sinn. Die Texte wurden in unterschiedlichem Tempo zum ↗ Kanon („Maßstab“), d. h. zur verbindlichen Glaubensgrundlage zweier Religionen. Zugleich sind sie durch die unterschiedliche Auswahl und Sammlung der einzelnen Schriften Zeugnis der eng verflochtenen Geschichte des Juden‐ tums und des Christentums. Wie kam es dazu? Wort und Schrift Lieder, Erzählungen, Sprüche und Gebete wurden mündlich überliefert, aufgeschrieben, mehrfach überarbeitet, gesammelt und ausgewählt. Sie sind noch keine Heilige Schrift, wohl aber bereits als Literatur anzusehen. Mündlichkeit und Schriftlichkeit gingen immer Hand in Hand, konnten doch in der Antike nur sehr wenige Menschen lesen und schreiben. Die Texte sind daher in der Regel nur für Schriftgelehrte zum selbstständigen Lesen, für die übrigen Menschen vielmehr zum Hören performanter Rezitationen gedacht. Ein spektakulärer Fund aus Jerusalem zeigt den Zusammenhang von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sehr gut auf. Varianten eines Priesterse‐ gens wurden auf zwei Silberamuletten in einem Grab von ca. 700 v. Chr. <?page no="41"?> gefunden. Der berühmte „aaronitische Segen“ findet sich auch in der späteren Bibel (Num 6,24-26), wird aber bis heute in vielen Varianten mehr oder weniger frei in christlichen Gottesdiensten zitiert. Schriftliche Zeugnisse aus dem antiken Israel und Juda (10. - 6. Jh. v. Chr.) Im nördlichen Israel sowie im südlichen Juda wurden Königschroniken geführt, auf die in heutigen biblischen Texten noch rückverwiesen wird (z. B. 1 Kön 14,19.29). Die beiden Geschwisterstaaten pflegten eine Religion, die zunächst an lokale Kultorte (Schilo, Bet-El, Sichem und Jerusalem) gebunden war und durchaus verschiedene Götter und Göttinnen einbezog. Ca. 622 v. Chr. wird im Südreich eine Kultreform durchgeführt, welche auf einer von Prophet*innen angestoßenen Bewegung der Alleinverehrung des Gottes ↗ JHWH beruht. Diese Forderung sowie die der Zentralisation des Kultes auf die Hauptstadt Jerusalem findet sich noch im heutigen Buch Deu‐ teronomium (lat. „zweites Gesetz“; hebr. dəvarîm: „Worte, Rede“ des Mose), dessen inhaltlicher Kern in diese Zeit des Königs Josia zurück reicht, welcher seine Kultreform an einer „wiedergefundenen“ Schrift legitimiert (2 Kön 22 ⫽ 2 Chr 34). Allerdings lässt das heute vorliegende Buch Deuteronomium offen, wo genau der Ort liegt, den Gott erwählen wird. In Leserichtung stellt diese Leerstelle einerseits eine bewusste Verhüllung Jerusalems dar, bleibt andererseits auch offen gegenüber der Tradition der ↗ Samaritaner, die diesen Kultort auf dem Berg Garizim (heute bei Nablus / Sichem) markiert (Dtn 12,18). Jüdische Literatur aus babylonischer und persischer Zeit (6. - 4. Jh. v. Chr.) Das antike Judentum (auch gelegentlich Frühjudentum genannt) formte sich bereits im babylonischen Exil der judäischen Oberschicht nach der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar II. (587 v. Chr.). Dieses Ereignis zerschneidet die Geschichte des Judentums in die vorexilische und die exilisch-nachexilische Zeit. Königtum und Tempelkult als Säulen jeder altorientalischen Nationalreligion waren vernichtet, doch das Judentum wurde neu als eine Religion geboren, die sich aus bitterer Erfahrung einem einzigen 41 Schriftliche Zeugnisse aus dem antiken Israel und Juda (10. - 6. Jh. v. Chr.) <?page no="42"?> universalen Gott und dessen Bundestreue verpflichtete. Diese Verpflichtung durchzieht die Sammlung aller erinnerbaren Traditionen in Schriften, die ab dieser Zeit neu entstehen oder aus älteren Vorlagen gesammelt, bearbeitet und schrittweise zusammengefügt werden. So ersetzen sie nach und nach Königtum wie Tempel als identitätsstiftende Institutionen. Die erste Sammlung ist die ↗ Tora (hebr. tôrāh „Weisung“), die fünf Bücher (griech. ↗ Pentateuch) unter der Autorität des Mose. Diese Sammlung wird ab der persischen Zeit (5.-4. Jh. v. Chr.) schrittweise zum normativen Text sowohl des Judentums als auch der Samaritaner. Bei ihrer Komposition (Zusammenstellung) und Redaktion (Überarbeitung) wird das ältere Konzept der Augenzeugenschaft des Mose (Dtn 27) vom Konzept einer mosaischen Verfasserschaft (Dtn 31) abgelöst - beide sind im heute vorliegenden Text noch erkennbar (H E CKL 2010: 353-373). Dabei spielt die Etablierung des zweiten Tempels und seiner Priesterschaft eine entscheidende Rolle. Dies zeigt sich v. a. in der „priesterschriftlichen“ Komposition der Texte von Gen 1 bis Ex 40 mit ihrer Konzentration auf die Themen von Schöpfung und Bundesschluss, die als wichtiger Zwischenschritt zum Gesamtwerk gelten muss. Das „Buch der Weisung des Mose“ (Neh 8,1) legt schließlich einen Entwurf des Neustarts jüdischen Lebens in der persischen Provinz Jehud vor. Zwar wurde er nicht in dieser Form Realität, dennoch wird die Verpflichtung des Volkes und rituelle Besiegelung in einer Festbegehung überliefert. Diese erste „Schrift“ wurde bereits als „Offenbarung“ verstanden (Esr 7,6.11). Sie soll nicht mehr verändert, also beim Abschreiben weder ergänzt noch reduziert werden - die entsprechende Textsicherungsformel als letzte Fortschreibung belegt die Sorge darum (Dtn 4,2; 13,1; vgl. auch Apk 22,18 f). Die Tora ist mithin auch der erste biblische Textkomplex, der zum Kanon des Judentums, der Samaritaner und (ab dem 1. Jh. n. Chr. in der griech. Variante des Pentateuchs, s. u.) auch des Christentums wird. Jüdische Literatur aus persischer und hellenistischer Zeit (3. Jh. v. - 1. Jh. n. Chr.) Zu den Prophetenbüchern (hebr. nəvî’îm „Propheten“) zählen in der jüdischen Tradition die sechs Bücher Josua, Richter, 1. und 2. Samuel, 1. und 2. Könige, welche Überlieferungen rund um die Prophet*innen (Samuel, Natan, Elia, Elisa, Hulda usw.) bieten und daher „vordere Propheten“ genannt werden. Hinzu kommen die „großen“ Propheten, d. h. die umfangreichen 42 1.2 Was ist die Bibel? Buchwerdung und Kanonisierung <?page no="43"?> Prophetenbücher Jesaja, Jeremia, Ezechiel sowie das Buch der zwölf „klei‐ nen“ Propheten (Hosea bis Maleachi), genannt „hintere“ Propheten. Die gedeuteten und an der Realität überprüften Träume und Visionen der Pro‐ phet*innen werden als „Gottesworte“ gesammelt, bearbeitet und gemeinsam mit den Erzählungen über sie weitergegeben. Die Prophet*innen und ihre Schüler*innen waren Menschen, die sowohl die Priesterschaft als auch die politische Herrschaft kritisch begleiteten. Ihre Nachfolger in hellenis‐ tisch-römischer Zeit sind die ↗ Pharisäer. Zu Beginn des 2. Jh. v. Chr. werden die Prophetenbücher im Textbestand festgelegt. Nur das Danielbuch stellt eine Ausnahme dar. Es findet sich in der jüdischen Tradition erst im dritten Teil des Kanons unter den übrigen Schriften (hebr. kətuvîm „Schriften“), da dieser ↗ apokalyptische Text erst in der Krisenzeit um 165 v. Chr. verfasst wurde. Sein Hauptheld Daniel wird allerdings in den Schriften aus ↗ Qumran (4Q174 1,4) und im Neuen Testament (Mt 24,15) als „Prophet“ bezeichnet. Im Neuen Testament finden sich sehr viele Zitate aus den Prophetenbüchern. Die Weisheitsliteratur und die Dichtung, die wesentlich ältere Texte sammelt und sie bekannten Figuren wie z. B. David und Salomo zuordnet, wird erst ab dem 1. Jh. n. Chr. abgeschlossen. Der Psalter bildet den Kern und Ausgangspunkt der „Schriften“. Einen solchen 3. Kanonteil bezeugen die Schriften jener besonderen jüdischen Gemeinschaft namens Jachad („Einung“), deren Texte ab 1947 in ↗ Qumran am Toten Meer gefunden wurden: „Das Buch Mose, die Bücher der Propheten und David“ (4Q397,10). „David“ steht dabei für den Psalter. Lukas formuliert diese Dreiteilung so: „Gesetz des Mose, Propheten und Psalmen“ (Lk 24,44). Das 4. Esrabuch (um 100 n. Chr.) zählt 24 kanonische Bücher, weiß aber auch um die Existenz weiterer Schriften. Griechische Schriften des antiken Judentums im Christentum (1. - 2. Jh. n. Chr.) Die Sammlung griechischer Bücher des antiken Judentums entstammt in ihrem Kern einer Übersetzung der Tora in der jüdischen Diasporagemeinde Alexandrias aus dem 3. Jh. v. Chr. Diese wurde nach und nach um die Prophetenbücher, Weisheitsschriften und Psalmen erweitert, aber erst im frühen Christentum als Werk zusammengefasst. Dies zeigen die antiken Kodizes mit Vollbibeln (Codex Sinaiticus, C. Vaticanus, C. Alexandrinus). 43 Griechische Schriften des antiken Judentums im Christentum (1. - 2. Jh. n. Chr.) <?page no="44"?> Auch die Anordnung der Bücher ändert sich mit der christlichen Rezep‐ tion. Zwei der „Festrollen“ werden neu eingeordnet: Das Buch Rut (zum Erntefest Schawuot gelesen) wird historisierend vor das Richterbuch gestellt, da Rut die Großmutter Davids ist. Das Buch der Klagelieder, am Trauertag der Tempelzerstörung gelesen, wird nach der vermuteten Autorschaft dem Jeremiabuch nachgeordnet. Ester (zum Purimfest), Hoheslied (zum Pessach‐ fest), und Kohelet („Prediger Salomo“, zum Laubhüttenfest Sukkot gelesen) verbleiben bei den „Schriften“, die aber nicht mehr den Abschluss bilden. Die sog. „hinteren Propheten“ werden in der griechischen Sammlung ans Ende gestellt und damit direkt zum ersten Buch des Neuen Testaments (Matthä‐ usevangelium) anschlussfähig. In antiken Kodizes erscheint dies sogar ohne besondere Markierung (S CHMID / S CH RÖT E R 2020: 50). Das ist theologisch aus frühchristlicher Sicht so intendiert, beziehen sich die neutestamentlichen Schriften doch auf die prophetischen Texte, deren Messiashoffnung nun auf Jesus hin ausgedeutet wird. So wurde diese Sammlung als „Altes Testament“ bewusst um alle Schriften erweitert, die als authentische Zeugnisse von Jesus Christus als „Neues Testament“ akzeptiert wurden. „Altes“ Testament ist dabei nicht abwertend gemeint, waren doch die jüdischen heiligen Schriften die Heilige Schrift der ersten, noch primär jüdisch geprägten christlichen Gemeinden. Dieser grundlegende Bezug wird noch in dem um 100 n. Chr. entstandenen 2. Timotheusbrief thematisiert (2Tim 3,14-17). Die griechische Sammlung alttestamentlicher Schriften wird zur primä‐ ren Textfassung im Christentum. Die hebräischen Schriften treten zunächst dahinter zurück. Bereits in der lateinischen Übersetzung des Hieronymus (der Vulgata, Ende 4. Jh. n. Chr.) wurde aber begonnen, die Texte des Alten Testaments, wo vorhanden, wieder aus dem Hebräischen zu übersetzen. In der Reformationszeit (16. Jh.) wird dies im evangelischen Bereich zum Standard, da man damals die hebräischen und aramäischen Texte als ur‐ sprünglicher ansah. Die Reihenfolge der Bücher der griechisch-lateinischen Texttradition blieb aber bis in die modernen Bibelausgaben im Wesentlichen erhalten. Im Osten des Römischen Reiches und den aus ihm hervorgegan‐ genen orthodoxen Kirchen blieb die griechische Bibel bis in die Gegenwart hinein verbindlich. In der heutigen Forschung wird das Verhältnis der griechischen und hebräisch-aramäischen Texttradition sehr differenziert betrachtet. Die seit Augustinus (5. Jh.) sogenannte Septuaginta („Bibel der 70 Gelehrten“, daher lat. ↗ LXX) muss aus bibelwissenschaftlicher Sicht als eine z. T. eigenständige Texttradition der alttestamentlichen Schriften gelten. 44 1.2 Was ist die Bibel? Buchwerdung und Kanonisierung <?page no="45"?> Entstehung des Neuen Testaments (1. Jh. n. Chr.) Die ältesten Schriften des Neuen Testaments sind die Briefe des Paulus. Den 1.Thessalonicherbrief, den 1. und 2. Korintherbrief, den Galaterbrief, den Philipperbrief, den Philemonbrief und den Römerbrief diktierte der ↗ Apos‐ tel Mitarbeitenden - je nach angenommener Datierung - vom Anfang der vierziger Jahre und bis zum Anfang der sechziger Jahre (n. Chr.). Sie gelten daher als protopaulinisch. Der 2. Thessalonicherbrief, der Kolosserbrief und der Epheserbrief werden zumeist als deuteropaulinisch Mitgliedern der Paulusschule ca. aus den Jahren 70-90 n. Chr. zugeschrieben. Der 1. und 2. Timotheusbrief und der Titusbrief zählen als tritopaulinisch zur übernächs‐ ten Generation um 100 n. Chr. Sie sind keine Privatbriefe, sondern stärken als Pastoralbriefe das Hirtenamt (lat. pastor „Hirte“) in den christlichen Gemeinden. Der Hebräerbrief wurde traditionell ebenfalls dem Apostel Paulus zugeschrieben, entwickelt aber ganz eigene theologische Ideen wie das Hohepriesteramt Jesu Christi. Er kann daher nicht als Paulusbrief gelten und datiert auf das Ende des 1. Jhs. n. Chr. Das älteste Evangelium ist nach überwiegender Forschungsmeinung das des Markus. Es bezieht sich in Mk 13 auf die Ereignisse des ersten jüdischen Krieges und der Tempelzerstörung in Jerusalem und wird deswegen in der Regel um 70 n. Chr. datiert. Matthäus- und Lukasevangelium (beide um 80-90 n. Chr.) bieten inhaltlich und formal miteinander verwandte Texte, deren Gemeinsamkeiten auf eine literarische Abhängigkeit hinweisen. Diese drei Evangelien werden darum als ↗ Synoptiker bezeichnet (griech. sýnopsis „Zusammenschau“ = miteinander zu betrachtende Schriften). Die Klärung ihrer literarischen Abhängigkeit ist als synoptisches Problem bekannt. Die Mehrheit der Forschung nimmt an, dass Matthäus und Lukas als Grundlage ihrer eigenen Erzählung benutzt haben. Allerdings fasst der Schluss Mk 16,9-20 Ostererzählungen anderer Evangelien zusammen und gilt daher als spätere Hinzufügung, das Evangelium wurde also ediert. Im direkten Vergleich bestimmter Überlieferungen stellen sich weitere Fragen zur Technik der Redaktion. Bearbeitung kann nicht immer darin bestan‐ den haben, einen Text zu erweitern, sondern ihn auch zu kürzen, was aber grundsätzlich schwerer zu erklären ist (z. B. ist der „ältere“ Text Mk 5,1-17 deutlich länger als der „jüngere“ Mt 8,28-34). Matthäus und Lukas verarbeiteten weitere Überlieferungen, die miteinander sowie mit Teilen des nichtbiblischen Thomasevangeliums verwandt zu sein scheinen. Aus dieser Beobachtung wurde 45 Entstehung des Neuen Testaments (1. Jh. n. Chr.) <?page no="46"?> im 19. Jh. die sog. Zweiquellentheorie entwickelt. Sie nimmt hypothetisch an, dass Matthäus und Lukas neben dem Markusevangelium sowie unabhängig vonein‐ ander eine sog. Logienquelle („Q“ = Quelle) mit Aussprüchen Jesu benutzt hätten, ggf. in diversen Varianten, deren Textumfang durch Ausschluss der aus dem Markusevangelium stammenden Texte bestimmbar sei (S C H M I D / S C H RÖT E R 2020: 388). Eine solche Quelle wurde bislang aber weder literarisch zitiert noch physisch gefunden. Matthäus und Lukas bieten dazu noch sog. Sondergut, d. h. eigene Materialien (Bsp. Mt 2; Lk 24 u. a.). Zudem gibt es kleinere Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk, was die Zweiquellentheorie nur bedingt erklären kann. Eine alternative Theorie, welche ohne die Hypthese Logienquelle auskommt, wurde in den letzten Jahren u. a. durch M. K L I N G H A R D T untermauert. Er nimmt an, dass das eine Evangelium, welches der Seekaufmann Marcion aus Sinope am Schwarzen Meer (gest. um 160 n. Chr., s. u.) in seine Sammlung aufnahm - aber nicht selbst schrieb - die Quelle der drei synoptischen Evangelien gewesen sei. Theologen der frühen Kirche wie Epiphanios oder Tertullian (sog. Kirchen‐ väter) zitierten dieses Evangelium mehrfach, allerdings kritisch als böswillig verstümmelte Variante des Lukasevangeliums. Die Theorie der Marcion-Priorität kehrt dies um und nimmt an, dass die Synoptiker, v. a. Lukas, dieses Evangelium benutzten und erweiterten, was die grundsätzliche Frage nach einer evtl. Datie‐ rung der Evangelien ins frühe 2. Jh. n. Chr. aufwirft. Allerdings wurde die mit *Ev oder Mcn bezeichnete Schrift bisher ebenfalls nicht gefunden, sondern lediglich hypothetisch rekonstruiert. Das Johannesevangelium dürfte zwischen 100 und 110 n. Chr. entstanden sein. Es unterscheidet sich inhaltlich und sprachlich von den anderen drei Evangelien. Jesus ist hier der menschgewordene Gott Israels, der in sieben Zeichen und sieben „Ich-Bin-Worten“ erscheint, ähnlich der symbolischen Repräsentation im siebenarmigen Leuchter (Menorah). Sein Tod korrespon‐ diert dem Opferkult am Jerusalemer Tempel, da Johannes ein anderes Todesdatum Jesu als die Synoptiker berichtet, nämlich den Erev Pessach (14. Nisan des jüd. Kalenders, den Tag vor dem Pessachfest; ↗ Opfer → 7.8 Zum Titelbild). Eine literarische Korrespondenz zum ↗ Corpus Paulinum scheint gegeben, da diese Aussage bereits in 1 Kor 5,7 ( Jesus „unser Passa“) erscheint. In der zeitlichen Nähe der Paulusschule befindet sich die ebenso in Ephesus zu lokalisierende, johanneische Schule. Ihr werden die drei Johannesbriefe und das Johannesevangelium aufgrund ihrer sprachlichen und theologi‐ schen Gemeinsamkeiten zugeschrieben. Sie sind zwischen 90 und 110 n. Chr. entstanden. 46 1.2 Was ist die Bibel? Buchwerdung und Kanonisierung <?page no="47"?> Seit dem Kirchenhistoriker Eusebius (260-339 n. Chr.) werden die drei Johannesbriefe mit dem Jakobusbrief, dem Judasbrief und den beiden Pet‐ rusbriefen als katholische Briefe bezeichnet. „Katholisch“ ist hier nicht im konfessionellen Sinn als „römisch-katholisch“ gemeint, sondern im griechischen Wortsinn als an die gesamte Christenheit gerichtet. In der aktuellen Forschung werden die Johannesbriefe nicht mehr im Kontext der „katholischen Briefe“ behandelt, sondern als Schriften der johanneischen Schule (z. B. S CHN E LL E 2019). Der Jakobusbrief, der Judasbrief und der 1. und 2. Petrusbrief sind im Zeitraum ca. 90 bis 150 n. Chr. entstanden. Die Offenbarung des Johannes entstammt der Zeit des röm. Kaiser Domitian, evtl. Trajan oder Hadrian (90-135 n. Chr.). Diverse Differenzen sprechen dafür, dass die Offenbarung des Johannes nicht im engeren Sinn zur johanneischen Schule gehört. Entstehung der christlichen Bibel (1. - 4. Jh. n. Chr.) Im 2. Jh. n. Chr. fordert der christliche Kaufmann Marcion (um 85-160 n. Chr.) mit seiner eigenen Sammlung von zehn Paulusbriefen und einem von allen jüdischen Einflüssen „gereinigten“ Evangelium die Chris‐ tenheit heraus, ihr Verhältnis zum Judentum und dessen heiligen Schriften zu bestimmen und den Kanon gültiger Schriften im Christentum festzulegen. Der liebende Gott Jesu Christi, der sich im Neuen Testament fände, habe nichts mit dem zornigen Herrn der gefallenen Schöpfung, des Gerichts und Gesetzes gemein. Ergo: Jüdische Schriften hätten im Christentum nichts verloren. Aus heutiger bibelwissenschaftlicher, aber auch historischer Perspektive muss eine solche Theologie kritisch betrachtet werden, gerade wenn sie in zeitgenössischen Publikationen explizit oder implizit wiederholt wird und offensichtlich bis heute im Christentum präsent ist. Historisch in Betracht gezogen werden muss aber auch dies: Marcion und sein Werk sind lediglich im Spiegel der polemischen Abwehr seiner Gegner, v. a. des „Kirchenvaters“ Tertullian erhalten. Was Marcion wirklich wollte, lässt sich daher nur mühsam herausfinden. Um 144 n. Chr. bricht er mit dem christlichen Mainstream und gründet seine eigene Kirche. Melito von Sardes überliefert 180 n. Chr. das älteste „Altes Testament“ genannte, christliche Schriftverzeichnis. Dies belegt ein Zitat von Eusebius (Historia ecclesiastica 4,26,13 f). Um 150-200 n. Chr. etabliert sich auch der neutestamentliche Kanon. Dies zeigt das muratorische Fragment (ein 47 Entstehung der christlichen Bibel (1. - 4. Jh. n. Chr.) <?page no="48"?> in Teilen erhaltenes Dokument), welches um 1740 von Ludovico Antonio Muratori publiziert wurde. Der 39. Osterfestbrief des Athanasius (Bischof von Alexandria, 298-373 n. Chr.) aus dem Jahr 367 n. Chr. bietet eine Liste der Schriften des Alten und Neuen Testaments und fügt hinzu: „Es gibt auch andere Bücher außerhalb von diesen, die zwar nicht kanonisiert, aber von den Vätern dazu bestimmt sind, denen vorgelesen zu werden, die neu hinzukommen und im Wort der Frömmigkeit unterrichtet zu werden wünschen: die Weisheit Salomos und die Sirachs, Ester, Judit, Tobias; [für das Neue Testament] die so genannte Apostellehre und der Hirte.“ Das frühe Christentum versammelte die einzelnen Pergamente und Pa‐ pyri in Kodizes. Trotzdem blieb die Vielfalt der Schriften rein physisch vorhanden. Der Kodex hat den entscheidenden Vorteil, dass bestimmte Schriftstellen schnell zitiert werden können. Das sich entwickelnde Chris‐ tentum nahm von Anfang an die griechische Textüberlieferung der vor‐ liegenden Schriften zur Grundlage. Das Griechische war im östlichen Mittelmeerraum als Verständigungssprache weit verbreitet. In feiner Diffe‐ renzierung akzeptierte das Christentum auch weitere griechische Schriften ohne hebräisch-aramäisches Äquivalent, die zwar nicht öffentlich in den Gottesdiensten verlesen, jedoch gern zum Unterricht benutzt wurden. Heute werden diese zusätzlichen Schriften (z. B. 1 Makk, Sir u. a.) im evangelischen Bereich als apokryphe, d. h. „verborgene“, nicht öffentlich vorzulesende Schriften bezeichnet. Im römisch-katholischen Bereich werden dieselben als deuterokanonische Schriften geführt, d. h. als kanonische Schriften zweiten Ranges. In der Antike konnte Apokryphon dagegen tatsächlich Offenbarun‐ gen für „Eingeweihte“ bezeichnen, vgl. z. B. den Beginn des Thomasevan‐ geliums. Frühchristliche Autor*innen gebrauchten den Begriff ablehnend (S CHMID / S CH RÖT E R 2020: 81 f). Das Neue Testament stellt ebenfalls eine bewusste Auswahl möglicher, frühchristlicher Schriften dar - wobei die Auswahl selbst primär eine Frage der Akzeptanz der vielen Gemeinden und nicht die Entscheidung einer zentralen Institution war. Die vier Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes genossen bereits im 2. Jh. hohe Autorität - frühester Textbeleg ist der Papyrus 52 ( John Rylands, um 125 n. Chr.) Dagegen wurden v. a. jene Evangelien, die Jesus als rein göttlichen und damit nicht leidensfähigen Erlöser darstellen, der die verlorenen Seelen zum Himmel zieht, vom Main‐ stream des Christentums theologisch nicht akzeptiert. Sie entstammen einer alternativen religiösen Bewegung namens ↗ Gnosis, die die „Erkenntnis“ bestimmter in den Kult „Eingeweihter“ an oberste Stelle rückte. Das bereits 48 1.2 Was ist die Bibel? Buchwerdung und Kanonisierung <?page no="49"?> erwähnte Thomasevangelium zählt darunter, aber auch das Philippus- oder Judasevangelium. Im Christentum wurden früh die theologisch prägenden Briefe der Pau‐ lusschule von Gemeinde zu Gemeinde getragen und öffentlich rezitiert - der früheste Beleg ist der Papyrus 46 (Chester Beatty, um 200 n. Chr.). Dabei wurden dem berühmten Missionar 13 Briefe direkt zugeschrieben. Zudem wurden die katholischen Briefe akzeptiert. Umstritten blieben die ↗ Apokalypsen, da sie mit der Beschreibung von Ereignissen am zeitlichen Ende der Welt tiefgreifende kulturelle Auseinan‐ dersetzungen v. a. mit dem römischen Imperium zur Sprache brachten. Die v. a. im Osten des Römischen Reiches lang umstrittene Offenbarung des Johannes beschließt heute den christlichen Kanon, während z. B. die Offenbarung des Petrus nicht als kanonisch anerkannt wurde. Tanach, Mischna und Talmud im Judentum (1. - 6. Jh. n. Chr.) Das sich nach der Tempelzerstörung 70 n. Chr. neu formierende, halachische (d. h. religionsgesetzliche, rabbinische) Judentum konzentrierte sich seit der Zeit des 1.-2. Jhs. in bewusster Unterscheidung zum Christentum auf die hebräischen und aramäischen Bücher des sog. ↗ Tanach (oder Tenach). Das Kunstwort verbindet die Anfangsbuchstaben der drei Teile tôrāh („Wei‐ sung“), nəvî’îm („Propheten“) und kətuvîm (übrige „Schriften“) in dieser Reihenfolge. Insofern hat es sich in beiden Religionen etwas zu Unrecht eingebürgert, von Hebräischer Bibel (bzw. Biblia Hebraica, Hebrew Bible) zu sprechen, da „Bibel“ ein christlicher Begriff ist und die genannten Schriften auch aramäische Anteile enthalten. Mit dem ↗ Tanach ist aber die jüdische Überlieferung nicht abgeschlos‐ sen. Die Mischna (hebr. „Wiederholung“) versammelt die bis ca. 230 n. Chr. autorisierten religionsgesetzlichen Überlieferungen (hebr. Halacha „Weg“) als sog. „mündliche Tora“. Verfasst im sog. Mischna-Hebräisch, wurde sie in Galiläa im Umfeld von Rabbi Jehuda ha-Nasi redigiert. Sie stellt - gemeinsam mit der parallel entstandenen Tosefta („Ergänzung“) - die Grundlage talmu‐ discher Argumentation dar (D U B R AU 2009). Die Kommentare der Gelehrten (hebr. Gemara) ergänzten diese Grundlagen über Jahrhunderte schrittweise zum Talmud (hebr. „Lehre, Studium“), der in zwei Ausgaben vorliegt: Der Jerusalemer bzw. palästinische ↗ Talmud (hebr. Jeruschalmi) wird im späten 49 Tanach, Mischna und Talmud im Judentum (1. - 6. Jh. n. Chr.) <?page no="50"?> 4. Jh. abgeschlossen, der wesentlich umfangreichere Babylonische ↗ Talmud (hebr. Bavli) erst gegen Ende des 8. Jhs., also erst in frühislamischer Zeit. Textüberlieferung des Tanach im Judentum (2. Jh. v. - 11. Jh. n. Chr.) Der bereits in ↗ Qumran ab dem 2. Jh. v. Chr. in einzelnen Schriften in Quadratschrift belegte, aber noch rein konsonantische Text der Schriften des ↗ Tanach wird im Mittelalter durch die Masoreten (hebr. masôrāh „Überlieferung“) in seiner Aussprache in Lesung und Gesang festgelegt. Die ältesten Manuskripte stammen aus dem 10. und 11. Jh. Der ↗ Kodex von Aleppo (920 n. Chr.) ist zwar der älteste und am höchsten geschätzte, aber heute leider nur unvollständige Text. Vollständig erhalten ist der Codex Leningradensis (bzw. Petropolitanus B19a; 1008 n. Chr.), daher bildet hauptsächlich er die Grundlage moderner Bibelausgaben. Die Texte der ↗ Tora aber werden noch bis heute von speziell ausgebildeten Schreibern per Hand auf Lederrollen geschrieben und wie ein Heiligtum behandelt. Eine besondere Stellung genießt sie auch bei der vom Judentum getrennten Gemeinschaft der ↗ Samaritaner, deren eigene Variante des Pentateuchs bis heute in althebräischer Schrift überliefert wird. Zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament Die Reihenfolge biblischer Schriften zu bestimmen, war in beiden Religionen immer eine theologische Entscheidung. Die Tora am Anfang von allem genießt den höchsten Rang. Die hochgeschätzten Evangelien mit ihren Jesu‐ serzählungen stehen im Neuen Testament bewusst vor den Briefen, obwohl die protopaulinischen Briefe älter sind. Umgekehrt also die Bibel „von hinten nach vorn“ zu lesen, wird ihrer Intention nicht gerecht. Das Neue Testament legitimiert sich aus den älteren Schriften des Alten Testaments, die darum nach antiker Logik höheren Rang genießen. Mit der Zeit ändert sich durch den liturgischen Gebrauch der Evangelien und den generell wachsenden Abstand, ja die beginnende Feindschaft zum Judentum dieses Verhältnis, so dass bis heute im Christentum immer wieder diskutiert wird, ob es denn das Alte Testament noch braucht und wie dessen Bedeutung einzuschätzen sei. Bibelwissenschaftlich kann eindeutig 50 1.2 Was ist die Bibel? Buchwerdung und Kanonisierung <?page no="51"?> festgestellt werden, dass das Neue Testament nur auf dem Boden des Alten Testaments historisch entstanden ist und inhaltlich auch nur so verstanden werden kann und will. Zum Verhältnis von Gottes Wort und menschlicher Textüberlieferung Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist über mindestens 700 Jahre (ab ca. 550 v. Chr. bis 150 n. Chr.) langsam gewachsen, einzelne Texte sind gar noch älter. Generationen haben an ihr gearbeitet. Die Texte ihrer Autor*innen und Redaktor*innen enthalten ebenso Bitteres wie Tröstliches, nahezu kein Thema ist tabu. Religion gehört allgemein zur Evolution des Menschen. Angesichts des Todes fragt man nach dem Sinn des Lebens. Ge‐ meinsame Überzeugungen, Gebote und Rituale stärken den Zusammenhalt und das Vertrauen innerhalb der Gruppe. Ein besonderes Augenmerk gilt aber dem Besonderen, Außergewöhnlichen, kurz: der Gotteserfahrung. Der Glaube ist als tiefes Vertrauen zu Gott selbst und als „Liebe“, d. h. Loyalität beschrieben. Am Anfang aller Tradition stehen also religiöse bzw. religiös gedeutete Erfahrungen. Das Neue Testament speist sich speziell aus den Erfahrungen mit Person und Werk Jesu von Nazaret sowie der Deutung derselben. Die Bibel ist daher nicht einfach mit „Gottes Wort“ identisch, auch wenn dies eine Ehrenbezeichnung darstellt. Auch wenn an einigen Stellen davon die Rede ist, dass Gott wichtige Texte mit eigenem Finger geschrieben (Ex 31,18) oder bestimmte Schriften „eingegeben“ habe (2Tim 3,16), dass bestimmte Menschen als „Sprachrohr“ Gottes gelten (Num 22,38) oder dass Gott zu ihnen direkt spricht (Num 12,8), muss das Gesamtwerk doch als Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses der Verschriftlichung und Kanonisierung verstanden werden. Vielmehr ist es die religiöse Erfahrung der Menschen mit dem Göttlichen, die hier in menschliche Worte gefasst wird. Auch das biblische Zeugnis selbst spricht inhaltlich eine andere Sprache: Gottes Wort ist weder Laut noch Schrift, sondern Ereignis. Es erschafft und erhält in jüdischer Perspektive die ganze Welt (Gen 1), und wird aus christlicher Sicht physischer Mensch zu unserer Erlösung ( Joh 1). Ein „Glaube an die Bibel“ ist daher nirgends gefordert; ebenso wird nie gesagt, dass ihre Worte irrtumslos oder undiskutabel göttlich wären. Im Gegenteil, sie kann zu großen Teilen als Diskursliteratur verstanden werden 51 Zum Verhältnis von Gottes Wort und menschlicher Textüberlieferung <?page no="52"?> (→ 1.4 Biblische Texte zwischen Anspruch und Wirklichkeit) - zum Diskurs über die biblischen Inhalte möchte auch das vorliegende Buch anregen. Impulse ■ Welches Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit können Sie noch heute in bestimmten biblischen Texten erkennen? ■ Besitzen bestimmte biblische Texte für Sie in Ihrem beruflichen Umfeld eine besondere Bedeutung? Falls Sie die Frage bejahen können: Welche konkreten Erfahrungen stehen dahinter? ■ Falls Sie sich als Christ*in verstehen: Wie würden Sie Nichtchrist*innen das Verhältnis von „Gotteswort“ und „Heiliger Schrift“ erklären? Literatur Babylonischer Talmud. G O L D S C H M I D T , Lazarus 1929-1936: Der Babylonische Talmud. Aus dem Hebräischen von Lazarus Goldschmidt, Zwölf Bände, Nachdruck 2002. München: Suhrkamp. Jerusalemer Talmud. S C HÄF E R , Peter u. a. (Hg.) 1975 ff: Übersetzung des Talmud Yerushalmi. Tübingen: Mohr Siebeck. Mischna. C O R R E N S , Dietrich (Hg.) 2005: Die Mischna ins Deutsche übertragen, mit einer Einleitung und Anmerkungen von Dietrich Correns. Das grundlegende enzyk‐ lopäische Regelwerk rabbinischer Tradition. Wiesbaden: Marix Verlag. D U B R A U , Alexander 2009: Mischna. In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 27829/ (Zugriffsdatum: 11. 04. 2021). G E R T Z , Jan Christian (Hg.) 6 2019: Grundinformation Altes Testament. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. H E C K L , Raik (2010): Augenzeugenschaft und Verfasserschaft des Mose als zwei herme‐ neutische Konzepte der Rezeption und Präsentation literarischer Traditionen beim Abschluss des Pentateuchs. Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 122, S. 353-373. K L I N G H A R D T , Matthias 2 2020: Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanoni‐ schen Evangelien. Untersuchung - Rekonstruktion - Übersetzung - Varianten. Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter 60 / 1-2, Tübingen: Francke. 52 1.2 Was ist die Bibel? Buchwerdung und Kanonisierung <?page no="53"?> N I E B U H R , Karl-Wilhelm (Hg.) 5 2020: Grundinformation Neues Testament. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S C H M I D , Konrad; S C H RÖT E R , Jens 3 2020: Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, München: C. H. Beck. S C H N E L L E , Udo 3 2019: Die ersten hundert Jahre des Christentums 30-130 n. Chr. Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S T E M B E R G E R , Günter 8 1992: Einleitung in Talmud und Midrasch. München: C. H. Beck. 53 Literatur <?page no="54"?> 1.3 Die Bibel lesen: innerbiblische, geschichtliche und aktuelle Verstehensprozesse Klaus Scholtissek „Herr, wer könnte mit seinem Geist auch nur eines von deinen Worten ganz verstehen? Mehr als wir erfassen, bleibt unverstanden. Wir sind wie Dürstende, die an einer Quelle trinken. Das Wort Gottes hat viele Seiten, die es den Lernenden je nach ihrer Auffassungsgabe darbietet. Gott hat seinem Wort viele Farben gegeben, wer auch immer lernt, soll an ihm etwas sehen können, was ihn anspricht. Gott hat in seinem Wort Schätze von vielerlei Art niedergelegt; jeder von uns, der sich darum müht, soll daraus reich werden können. … Was du infolge deiner Unzulänglichkeit in dieser Stunde nicht erlangen kannst, bekommst du in einer anderen. Du musst nur durchhalten. Versuche nicht ungeduldig mit einem einzigen Schluck zu nehmen, was man nicht auf einmal schlucken kann. Aber höre auch nicht aus Feigheit auf, von dem zu nehmen, was du nur nach und nach empfangen kannst.“ (Ephräm der Syrer, Diatessaron 1,18-19). Der Kirchenlehrer Ephräm der Syrer (306-373 n. Chr.) reflektiert in diesen Sätzen das Verstehen und die Auslegung der Bibel als Gottes Wort an seine Geschöpfe. Dabei rückt er anthropologische, theologische und sprachliche Aspekte in den Vordergrund: Er versteht die Menschen als „Dürstende“, die zu einer Quelle kommen, um zu trinken. Diese Dürstenden haben jeweils eine verschiedene „Auffassungsgabe“, haben „Unzulänglichkeiten“, können „ungeduldig“ und „feige“ sein. Gottes Wort in der Bibel kann nicht gänzlich ausgelotet und „verstanden“ werden. Menschen können sich des Wortes Gottes nicht bemächtigen, ohne es zu vereinnahmen. Und Gottes Wort hat „viele Seiten“, „viele Farben“ und „Schätze von vielerlei Art“, die es den jeweiligen Leserinnen und Lesern besser ermöglichen, aus dem Lesen und Hören „reich werden zu können“. Auslegen und Verstehen Damit ist das umfassende Thema des Schriftverständnisses, der Schrift‐ hermeneutik angesprochen, also die Interpretation und das Verstehen von <?page no="55"?> Texten. Diese Grundsatzfrage beschäftigt die Glaubenden, die Gemeinden, alle Lehrenden und Verkündigenden zu allen Zeiten. Auch die bibelwissen‐ schaftliche Forschung leistet in der Gegenwart - im Gespräch mit Geistes- und Kulturwissenschaften - viele wertvolle Beiträge. Von herausragender Bedeutung ist die Wahrnehmung, dass die Bibel selbst - in beiden Teilen: Altes und Neues Testament - Aussagen und Signale zur Auslegung und zum Verständnis der biblischen Bücher gibt. Ein Beispiel ist die Episode von Philippus und dem äthiopischen Beamten in Apg 8,26-40: Der äthiopische Beamte, der auf der Reise im Buch Jesaja liest, antwortet auf die Frage des Philippus: „Verstehst du auch, was du liest? “ mit der Gegenfrage: „Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? “. Die gesamte Kirchengeschichte bezeugt und dokumentiert einen breiten Fächer von Auslegungsmethoden und -prinzipien. Dabei gilt die Schrift selbst und ihre Auslegung, so unterschiedlich sie im Einzelnen ausfallen mag, als unbestrittene Grundlage und normativer Referent der Theologie. Die wissenschaftliche Exegese der Bibel verfügt heute über ein wachsen‐ des, hochdifferenzierendes Methodenrepertoire, das sich einem ständigen Prozess selbstkritischer Prüfung stellt und stellen muss. Dazu gehören u. a. sozial- und kulturwissenschaftliche Zugänge, gendersensible Ansätze, sprachgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Methoden. Schriftauslegung im Alten und im Neuen Testament Die von Christ*innen als Altes Testament bezeichnete Heilige Schrift Israels verdankt sich selbst und bezeugt einen intensiven Prozess der Schriftausle‐ gung. Sie selbst ist in gewisser Weise geronnene und ab einem bestimmten Zeitpunkt dann auch kanonisierte Schriftauslegung. Die einzelnen Bücher der Heiligen Schrift verdanken sich in ihrer überlieferten Gestalt selbst und in ihrer Wechselbeziehung untereinander einem komplexen Wachstums‐ prozess, der sich maßgeblich als Auslegung der Schrift bzw. des in der Schrift bezeugten und bewahrten Willens Gottes versteht. Biblische Bücher sind weithin als Fortschreibungsliteratur zu entziffern und zu verstehen. Dies lässt sich exemplarisch an den beiden Chronikbüchern aufzeigen, die als auslegende (! ) Nacherzählungen der Samuel- und Königsbücher verstanden werden können - mit eigenen Interpretationsinteressen und mit Blick auf die aktuelle Gegenwartsrelevanz. Dabei sind diese Fortschreibungen mit Jan Christian Gertz als „situationsbedingte Explikationen des vorgefundenen 55 Schriftauslegung im Alten und im Neuen Testament <?page no="56"?> Sinngehalts“ (G E R TZ 2014: 21-24) zu verstehen. Gertz schlussfolgert zu Recht: „In diesem Sinne sind das Alte Testament und seine Schriften nicht nur normativer Text, sondern Text und Auslegung in einem, womit die Notwendigkeit und Dynamik der Auslegung schon in der Schrift selbst angelegt ist und ein biblizistisches oder historistisches Festlegen auf den einen Textsinn weder biblisch noch historisch ist“ (G E R TZ 2014: 25). Martin Buber, der jüdische Theologe und Übersetzer des ↗ Tanach, hat dieses Verständnis prägnant formuliert: „Die hebräische Bibel will als Ein Buch gelesen werden, so dass keiner ihrer Teile in sich geschlossen bleibt, vielmehr jeder auf jeden zu offen gehalten wird; sie will ihrem Leser als Ein Buch in solcher Intensität gegenwärtig werden, dass er beim Lesen oder Rezitieren einer gewichtigen Stelle die auf sie beziehbaren, insbesondere die ihr sprachidentischen, sprachnahen oder sprachverwandten erinnert und sie alle einander erleuchten und erläutern, sich miteinander zu einer Sinneinheit, zu einem nicht ausdrücklich gelehrten, sondern dem Wort immanen‐ ten, aus seinen Bezügen und Entsprechungen hervortauchenden Theologumenon zusammenschließen. Das ist nicht eine von der Auslegung nachträglich geübte Verknüpfung, sondern unter dem Wirken dieses Prinzips ist eben der Kanon entstanden, und man darf mit Fug vermuten, dass es für die Auswahl des Auf‐ genommenen, für die Wahl zwischen verschiedenen Fassungen mitbestimmend gewesen ist.“ (B U B E R 1962: 3). Die Verkündigung Jesu, wie sie sich in den vier neutestamentlichen Evan‐ gelien spiegelt, die ersten Bot*innen der Auferstehung Jesu von den Toten, Paulus und seine missionarische Bewegung sowie durchgehend alle neutestamentlichen Autor*innen stehen in einer fundamentalen Kontinuität zum Glauben Israels, wie er sich im ↗ Tanach und den frühjüdischen Schriften niederschlägt. Diese Kontinuität bezieht sich insbesondere ■ auf den monotheistischen Glauben an die Einzigkeit Gottes, ■ die Erwählung Israels und den irreversiblen Bundesschluss mit dem erwählten Volk, ■ die Gültigkeit der Verheißungen Gottes für sein Volk Israel und die ganze Schöpfung, ■ die Anerkennung der Schriften Israels als Heilige Schrift und ■ die Geltung der ethischen Forderungen der Tora. Am Beispiel der ↗ Tora lässt sich die Kontinuität der Begründung des ethisch Gebotenen in Gottes Heilshandeln klar aufzeigen: In den Schriften des 56 1.3 Die Bibel lesen: innerbiblische, geschichtliche und aktuelle Verstehensprozesse <?page no="57"?> ↗ Tanach werden die sozialen Gebote an Gott, seinen Willen, sein Wort, sein Handeln an Israel zurückgebunden. Das gilt für den Dekalog insgesamt (vgl. Ex 20,1-21; Dtn 5,1-22), das gilt ebenso für den besonderen Schutz der Alten, Witwen und Waisen, der Armen, Schutzbürger*innen und Ausländer*innen sowie für die Wirtschaftsgesetze (Zinsverbot, Schuldenerlass, Eigentum). Die neutestamentliche Botschaft von Jesus, dem Christus, ist fundamen‐ tal in die Matrix bzw. das theologische Koordinatensystem der Heiligen Schrift Israels eingeschrieben. Bei aller Unterschiedlichkeit der konkreten Schriftrezeption und -auslegung bei Paulus, in den Evangelien und den weiteren neutestamentlichen Schriften zeigt sich doch ein hoher Konsens im Blick auf diese unablösbare Verwurzelung der christlichen Verkündi‐ gung in der Verheißungs- und Heilsgeschichte Israels. Gerade die neuere bibelwissenschaftliche Forschung zeigt auf, in welch hohem Maße sich die neutestamentlichen Autor*innen selbst als versierte Schriftkundige zu erkennen geben. Das gilt für Paulus in einem exponierten Sinn, das gilt ebenso für die Evangelisten und die weiteren neutestamentlichen Zeugnisse. Dabei gilt: „Deutlich ist damit, dass die ganze Jesus-Geschichte, nicht nur Einzelzüge oder einzelne Worte bzw. Taten Jesu, von der ganzen Schrift her, nicht nur von einzelnen Schriftstellen, verstanden werden soll.“ (N I E B U H R 2014: 62). Auf dieser Basis sind alle Denkschablonen, die von einer wie auch immer gearteten grundlegenden Diskontinuität zwischen Altem und Neuem Tes‐ tament ausgehen, zurückzuweisen. Diese Denkschablonen haben nicht nur antijüdische, nicht selten antisemitische Auslegungen hervorgerufen bzw. haben sich für diese in Dienst nehmen lassen. Sie sind auch im Blick auf die konkrete Auslegung der neutestamentlichen Texte unangemessen, schlicht falsch. Insbesondere das Vorurteil, die alttestamentliche ↗ Ethik sei ausschließlich auf die eigene Ethnie bezogen, wohingegen erst die neutestamentliche Ethik - getrieben vom Doppelgebot der Liebe - univer‐ salistisch sei, ist keine textkonforme Auslegung und daher zurückzuweisen (→ 2.4 Ansätze biblischer Ethik). Schrifttexte und ihre Sinnkarriere So sehr mit der Kanonisierung einer Schrift bzw. eines Schriftkorpus als Heiliger Schrift einer Glaubensgemeinschaft der Verschriftlichungsprozess 57 Schrifttexte und ihre Sinnkarriere <?page no="58"?> einen normativen Abschluss gefunden hat, die je neue Rezeption dieser nor‐ mativen Schrift unter veränderten sozialen, kulturellen, politischen, geis‐ tesgeschichtlichen oder individuellen Bedingungen lässt sich in Analogie zu schriftlichen Fortschreibungsprozessen deuten. Hier hat die Rezeptionsästhetik zu ihrer Aufgabe gefunden. Die Rezeptionsästhetik reflektiert auf die gedankliche und im weitesten Sinne ästhetische Wahrnehmung von Schrifttexten bzw. künstlerischen Werken und stellt die Frage: Wieweit ist die Wahrnehmung und das Verstehen eines literarischen bzw. künstleri‐ schen Gegenstandes bereits im Gegenstand selbst angelegt bzw. wieweit entstehen Wahrnehmung und Verstehen erst im Prozess der Rezeption? Der konsequente Konstruktivismus verlagert alles Verstehen ausschließlich in die Konstruktionsleistung des jeweiligen Subjekts. Zutreffender und ziel‐ führender ist es jedoch, mit einer dynamischen Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt zu rechnen. Von einer solchen auf die Leser- oder Hörer*innen zielenden Dynamik biblischer Texte spricht Paul Ricœur: „Diese Welt des Textes regt den Leser, den Hörer an, sich selbst angesichts des Textes zu verstehen und, in Imagination und Sympathie, das Selbst, das fähig ist, diese Welt zu bewohnen, indem es darin seine eigenen Möglichkeiten entfaltet, zu entwickeln.“ (R I CŒU R 1981: 73) Zu dem sich hier öffnenden hermeneutischen Zirkel merkt Ricoeur pro‐ grammatisch an: „Ich werde mich kühn im Zirkel halten, in der Hoffnung, dass mir durch die Übertragung des Textes auf das Leben das, was ich riskiere, unter den Formen eines Zuwachses an Verständnis, Wachsamkeit und Freude hundertfach zurück‐ gegeben wird.“ (R I CŒU R 1981: 46) Impulse ■ Welche Erfahrungen machen Sie beim persönlichen Lesen biblischer Schriften bzw. beim Hören von Schriftlesungen? ■ Welche Schlüsseltexte sprechen Sie unmittelbar an, sei es in ihrer Widerständigkeit, sei es in ihrer tröstenden oder prophetischen Kraft? ■ Welche Konsequenzen ergeben sich aufgrund der Ausführungen für die Verwendung biblischer Texte in diakonischen Handlungsfeldern? 58 1.3 Die Bibel lesen: innerbiblische, geschichtliche und aktuelle Verstehensprozesse <?page no="59"?> Literatur G E R T Z , Jan-Christian 2014: Schriftauslegung in alttestamentlicher Perspektive. In: Friederike Nüssel (Hg.): Schriftauslegung. Themen der Theologie 8. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 9-41. N I E B U H R Karl-Wilhelm: Schriftauslegung in der Begegnung mit dem Evangelium. In: Friederike Nüssel (Hg.): a. a. O., S. 43-103. B U B E R , Martin 1962: Zur Verdeutschung des letzten Bandes der Schrift. Heidelberg: Kösel und Lambert Schneider. R I C O E U R , Paul 1981: Gott nennen. Phänomenologische Zugänge. Freiburg i. Br.: Alber. D O H M E N , Christoph 1998: Die Bibel und ihre Auslegung. München: C. H. Beck. 59 Literatur <?page no="60"?> 1.4 Biblische Texte zwischen Anspruch und Wirklichkeit Jörg Lanckau Die Bibel ist kein Lehrbuch, kein Lexikon, keinerlei systematisches Werk. Sie ist nur darum ein „Buch“, weil neuzeitliche Handwerkskunst das Buchbin‐ den in immer feinerer Ausführung ermöglichte. Die Bibel ist eine Bibliothek, deren Schriften wiederum aus älteren Texten bestehen, die oft mehrfach und je anders zusammengestellt und redaktionell überarbeitet wurden. Die entstandenen Buchrollen aus Leder oder die Papyri wurden von Jüdinnen und Christinnen in unterschiedlicher Art zum gottesdienstlichen oder religionspädagogischen Gebrauch bestimmt, und in durchdacht abge‐ stufter Weise heiliggehalten. Ihre innere Ordnung und Leserichtung spielten immer eine gewichtige Rolle. Die ↗ Tora, die fünf ersten Bücher unter der Autorität des legendären Mose bildeten das Fundament der antiken Juden und Samaritaner sowie auch der frühen Christen. Für Letztere zeichneten die Evangelien wie aus allen Himmelsrichtungen das eine Antlitz des menschgewordenen Gottes. Erst alle vier Werke gemeinsam konnten die Wahrheit über Jesus Christus aussagen, und noch immer spielen diese Texte in christlichen Gottesdiensten die herausragende Rolle. Es war nie daran gedacht, die Leseordnung umzukehren. Im Gegenteil, jene Offenbarung des Johannes am Schluss des christlichen Kanons war nicht unumstritten geblieben. Performative Texte Biblische Texte waren dafür gedacht bzw. geschrieben, öffentlich laut vorgelesen, ja vielleicht sogar inszeniert zu werden. Waren z. B. die Briefe des ↗ Apostels Paulus zuerst an konkrete Gemeinden adressiert, so zeigt doch schon ihr ältester Textzeuge, ein Papyrus aus dem 2. Jh. n. Chr., mit der Zusammenstellung der Briefe den praktischen Nutzen auf: Die Briefe wurden erneut auf Reisen rund um das Mittelmeer gesendet, von Ort zu Ort herumgegeben, weil die Worte darin so überaus wertvoll erschienen. Bibli‐ sche Schriften waren insofern dafür gedacht und wurden dazu bestimmt, <?page no="61"?> dass über sie diskutiert, aber auch meditiert werden konnte. In jedem Fall aber ging es den Autor*innen und Redaktor*innen um die Verwirklichung in der je eigenen Erfahrung der Zuhörerschaft, und dies durch die Jahrhunderte hindurch bis heute. Biblische Texte sind handlungsorientiert: Sie wollen etwas von uns. Sie wollen uns selten unterhalten, sie wollen uns manchmal auch informieren, aber meist nicht im Sinne lückenloser Aufklärung. Fromme Phantasie hat später die leeren Stellen der heiligen Texte gefüllt. Das Kindheitsevangelium nach Thomas zeigt uns einen kleinen Jesus, der an Tontauben Wunder einübt (KThom 2; K AI S E R & T R O P P E R 2012: 930-959). Das Judasevangelium klärt uns auf, aus welchem geheimen Grunde wohl Judas Jesus an die Be‐ hörden auslieferte (CT p.56,19-21; W U R S T 2012: 1220-1234). So wird erklärt, was wir nicht erfahren, aber gern wüssten. Biblischen Texten kommt es jedoch gerade nicht auf die Vollständigkeit der Informationen an. Die Texte fokussieren sich auf Wesentliches: die Erfahrung wunderbarer Rettung, den Klang des Unaussprechlichen der Gottesbeziehung, kurz: den verborgenen Zusammenhang der Dinge. Wenn das Matthäusevangelium uns erklärt, dass Jesus unter einem die Magier treu begleitendem und vor dem paranoiden König Herodes unsichtbaren Wunderstern geboren wird (Mt 2,9), haben Bibelkundige nicht etwa eine besondere astronomische Konstellation im Auge, sondern die alte Weissagung des Propheten Bileam aus der Tora im Ohr (Num 24,17). Und das Lukasevangelium spielt bewusst den politischen Gegensatz zum römischen Kaiser Augustus aus, indem es den Titel des Retters und Heilandes nun dem im Futtertrog unterwegs geborenen Kind zuweist (Lk 2,11). Literarische Gattungen - nicht verwechseln! Es klingt simpel, aber biblische Texte gehören literarischen Gattungen an, und es führt in die Irre, sie zu verwechseln. Wer einen Liebesbrief mit einem Steuerbescheid verwechselt, macht sich keine Freunde. Wer den großartigen Hymnus auf eine ideal geordnete Welt ohne Leid und Tod (Gen 1,1-2,4a) mit einem wissenschaftlichen Bericht über die Entstehung der Welt und des Lebens verwechselt, verstrickt sich in Aporien. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in diesem Text, dass das immer und überall Gültige und nicht das einmalig Zufällige das eigentlich Wahre ist: Die Menschheit gehört untrennbar zur Natur, deren Rhythmen durch Sonne und Mond 61 Literarische Gattungen - nicht verwechseln! <?page no="62"?> definiert sind. Der Mensch entwickelt sich weiter und repräsentiert in seiner Kreativität Gott selbst im Gegenüber zur Welt. Er ist nicht vom Niederen gedacht, sondern vom Höheren, von dem her, was er erst noch werden soll. Von daher besitzt er seine unverlierbare und unteilbare Würde (→ 3.7 Menschenwürde). Eine andere Gattung sind die Paränesen: Tue dies und lass das andere (z. B. Ex 23,20-33; Röm 12,1-21 u. v. a.). Das ist relativ eindeutig. Wir finden auch eigentliche Gesetzestexte kasuistischen Rechts: Wen du wagst, dieses zu tun, folgt jenes als Strafe (z. B. Ex 21-22). Die zehn Gebote, deren Zählung umstritten, aber freilich nicht biblisch ist, sind kein Gesetzestext, sondern eher eine Präambel, die die Freiheit proklamiert, die es nicht zu verletzen gilt (Ex 20,2-17 ⫽ Dtn 5,6-21). Ob sich das sogenannte Tötungsverbot des Dekalogs (Ex 20,13 ⫽ Dtn 5,17) nur im Wortsinn des verwendeten Verbs auf vorsätzlichen Mord beschränkt, oder daneben aber auch Fahrlässigkeit oder gar Töten lassen impliziert, ist eben Auslegungssache. Man muss die Leitlinie auf den Fall anwenden, und damit muss man sie im Konkreten diskutieren (→ 2.4 Ansätze biblischer Ethik). Biblische Texte als Diskursliteratur Damit komme ich zur Hauptaussage: Biblische Texte sind nicht immer, aber oft, sogar sehr oft diskursive Texte. Sie befehlen nichts, sondern stellen die Hörerschaft in einen Raum, in dem sie zu bestimmten Themen verhalten sollen. Der erste biblische Text, der explizit über „Sünde“ spricht, ist nicht etwa die Paradieserzählung, in der Adam und Eva sich vor Gott verstecken, sondern die folgende Geschichte von Kain und Abel (Gen 4). Das Thema lautet: Wo ist Dein Bruder, wo ist Deine Verantwortung? Die Erzählung erklärt, wie die praktische und irreversible Gewalt aus innerem Hass und Verbitterung über die ungerechte Welt entsteht. Gott schaltet sich live in die Gedanken Kains: Es ist dessen innere Stimme, die üblicherweise in der antiken Welt als von außen kommend bezeichnet wird. Eine alttestamentliche Figur steht besonders im Fokus des Interesses: der glaubende und zweifelnde Abraham. Er ist nicht oder nur sehr bedingt das strahlende Vorbild, das das Neue Testament und der Koran in ihm sehen. Er ist eher ein Antiheld, wie überhaupt die biblischen Erzählfiguren kaum Superhelden oder gar Halbgötter sind. Kaum vertrauend aus der babylonischen Heimat aufgebrochen (Gen 12,1-5), ist er bereit, seine An‐ 62 1.4 Biblische Texte zwischen Anspruch und Wirklichkeit <?page no="63"?> getraute dem ägyptischen Harem zu überlassen (Gen 12,11-20). Abraham hat trotz mehrfachen Offenbarungen zuvor (Gen 15; 17) keine Ahnung, als Gott ihn irgendwie in Gestalt oder Begleitung dreier Männer besucht (Gen 18). Erst der Kontext macht klar, dass die drei in tödlicher Mission gegen Sodom und Gomorra unterwegs sind (Gen 19). Aber kurz nach ihrer Abreise „bleibt Gott vor Abraham stehen“ - doch Mächtige im Alten Orient sitzen üblicherweise, während die Bittsteller stehen (Gen 18,22). Solches konnten die mittelalterlichen Abschreiber des Textes aus Pietät nicht stehen lassen, aber nur so macht es Sinn: Es kommt nämlich im Laufe des Gesprächs zur wohl dramatischsten Aussage eines Menschen über Gott, den Allmächtigen: „Sollte der Richter der Welt sich nicht an das Recht halten? “ (Gen 18,25). Der biblische Text zeigt uns hier einen sich selbst besinnenden, ja sich vor dem Glaubenden rechtfertigenden Gott. Darüber muss man einfach diskutieren: Wie sehe ich die Tatsache, dass die Unschuldigen leiden, und der liebende Gott nicht einschreitet? Eine brutale Geschichte wie die von der Schandtat der Benjaminiter (Ri 19) lässt uns das Blut in den Adern gefrieren und die harsche Frage stellen, wie solch ein skurriler Text in die Bibel gekommen sein mag. Doch der unmittelbare Kontext des Ausbruchs eines verheerenden Bürgerkrieges (Ri 20) macht uns schnell klar, dass hier der Umgang mit Fake-News und politisch-religiösen Eiferern, die regelmäßig Kriege legitimieren, anvisiert ist. Gott steht eben nicht hinter den Heiligen Kriegen. Soll überhaupt kein Krieg im Namen Gottes stattfinden? Götterdämmerung in der Bibel Schließlich räumen bestimmte biblische Texte radikal mit religiös beliebten Vorstellungen auf: Der Mensch, männlich und weiblich zugleich, repräsen‐ tiert Gott in der Welt, nicht etwa Könige oder religiöse Kultbilder (Gen 1,26 f). Die Unterordnung der Frau unter den Mann ist die böse Fluchfolge der Freiheit der Menschen, nicht aber Gottes gute Ordnung (Gen 3). Die Götterbilder, seien sie noch so künstlerisch wertvoll gearbeitet, sind nichts anderes als silberüberzogene Holzscheite, ätzt der unbenannte Prophet im babylonischen Exil, dessen Texte später an das Jesajabuch angefügt werden ( Jes 44,15-17). Und der Messias, so derselbe Prophet, sei exakt der persische König Kyros II., der religiös nicht einmal ein Jude ist ( Jes 44,28-45,4). Da gibt es genug Stoff zur Diskussion. 63 Götterdämmerung in der Bibel <?page no="64"?> Auch das Neue Testament enthält Texte, die auf den ersten Blick merk‐ würdig erscheinen, auf den zweiten aber in hohem Maße diskursiv sind. Aus den Texten aus ↗ Qumran (→ 1.2 Was ist die Bibel? ) wissen wir, dass die dort beschriebene, endzeitliche orientierte Gemeinschaft des Jachad („Einung“ = Selbstbezeichnung der Gemeinde) eine gemeinsame Kasse kannte, die treuhänderisch verwaltet wurde. Neben dieser Verwaltung (1QS VI, 18-23) wird auch von einem Leitungsgremium von zwölf Laien und drei Priestern berichtet (VIII, 1). Man konnte sich die Sache mit dem Eintritt ein Jahr lang gut überlegen. Eine solche Teilhabe, ja Vergemeinschaftung (griech. koinōnía) des Besitzes ist auch in Griechenland gut bekannt: Von Pythagoras stamme laut Aristoteles das Motto „der Besitz der Freunde ist gemeinsam“ (Nikomachische Ethik 1159b). Nach dem Neuen Testament scheint in der christlichen „Urgemeinde“ dies nicht der Fall zu sein: Als das christliche Ehepaar Hananias und Safira einen Teil des Erlöses für ihr Hab und Gut zur Sicherheit beiseitelegt, wird im Text eine beklemmende Atmosphäre gezeichnet, in der unklar bleibt, warum beide so plötzlich zu Tode kommen, und wer ursächlich dafür verantwortlich ist: der Heilige Geist, die hämisch kommentierenden Apostel, oder die Schuldigen selbst? Die Furcht, die sich über die christliche Gemeinde legt, kommt nicht von ungefähr und bietet Stoff zum Diskurs über das liebe Geld, an dem die Freundschaft endet (Apg 5,1-11). Ist die „Urgemeinde“ gar ein Ideal, dass nie das Licht der Wirklichkeit erblickte? Prüfstein der Religion: die reale Welt Es gibt kaum eine Szene, die in der Bibel ausgelassen wird. Die biblischen Texte haben so viel Kraft, dass sie nicht einmal die religiöse Pietät achten. Sie sind schonungslos ehrlich. Die Wirklichkeit ist der Prüfstein aller Religion und Frömmigkeit. Es ist geradezu schockierend, wie kritisch in den biblischen Texten das Thema der Macht aufgegriffen wird. Es gibt kaum Respekt vor den Königen Israels und Judas - die unter dem Vorzeichen der unbedingten kultischen und ethischen Treue zum Gott ↗ JHWH redigierte Geschichtsschreibung in den Büchern Josua bis 2. Könige (die Fachleute die deuteronomistische nennen) macht nicht Halt vor dem Amt und der Würde der altorientalischen Potentaten. Die Texte atmen den Geist der kreativen Prophetie. Es gibt durchweg die Option für die Armen, Geschändeten und Ausgegrenzten. Diese dürfen wohl auch Rachephantasien haben. Das Neue 64 1.4 Biblische Texte zwischen Anspruch und Wirklichkeit <?page no="65"?> Testament mutet uns die absurde, aber auch revolutionäre Vorstellung eines gekreuzigten und daher mitleidenden Gottes zu. Die Paradoxie wird vollkommen auf die Spitze getrieben: Der, dem Wind und Wellen gehorchen (Mk 4,41), kann nicht vom Kreuz herabsteigen (Mk 15,30). Das muss man diskutieren. Wie der Tod gedanklich durchbrochen wird, lässt sich gut am Beispiel der neutestamentlichen Figur des Zweifelnden und Glaubenden zeigen. Unser „Zwilling“ will mutig mit Jesus sterben, verpasst das Wunder und will die Finger in die Wunde legen. Ich glaube eben nur das, was ich begreifen kann. Daraus resultiert das christliche Grundbekenntnis: mein Herr und mein Gott ( Joh 20,24-28 → 6.2 Glaube und Zweifel). Die biblischen Texte sprechen also von Erfahrung und laden dazu ein, die eigene Erfahrung einzubringen. Diese Subjektorientierung ist für soziales und diakonisches Handeln grundlegend. Impulse ■ Die Frage nach dem Privateigentum im Kontext christlicher Solidarität wird in und mit Apg 5,1-11 diskutiert. Licht und Schatten des anfäng‐ lichen Idealismus zeigen sich deutlich in diesem verstörenden Text. □ Stirbt dieses christliche Ehepaar a) aufgrund eines tragischen Ver‐ sagens, b) aufgrund einer Tötung durch die Apostel, die im Text verschleiert wird oder gar c) aufgrund einer direkten Tötung durch den Heiligen Geist bzw. Gott? □ Geht es dem Autor um a) eine Warnung vor Ungehorsam oder Lüge neu aufgenommener Christ*innen, b) eine implizite Kritik an der Idealvorstellung einer Vergemeinschaftung des Besitzes oder um c) eine Aussage über die dunkle, gefährliche Seite Gottes? ■ Entgegen der landläufigen, aber falschen Ansicht, dass nur das Alte Testament Rachephantasien enthalte, bietet Mt 13,36-43 mit dem sprichwörtlichen „Heulen und Zähneklappern“ einen Klassiker: Ehe die Gerechten „leuchten wie die Sonne“, wird es den Ungläubigen schlecht ergehen. Diese Haltung ist aus ↗ Qumran gut bekannt: „In der Hand des Fürsten des Lichtes liegt die Herrschaft über alle Söhne der Gerechtigkeit, auf den Wegen des Lichtes wandeln sie. Aber in der Hand des Engels der Finsternis liegt alle Herrschaft über die Söhne des Frevels, und auf den Wegen der Finsternis wandeln sie.“ (1QS III, 20-21). 65 Impulse <?page no="66"?> □ Wie verträgt sich die harte Aussage in Mt 13,36-43 mit der Zuwen‐ dung Jesu zu den Ausgegrenzten und am Rande der Gesellschaft stehenden? Besteht hier ein innerer Zusammenhang, angesichts der Tatsache, dass die frühen Christ*innen sich nicht in einer Machtposition befanden? □ Wie kann heute die Hinwendung zu den Bedürftigen mit berech‐ tigter Kritik an gesellschaftlichen Zuständen organisch verbunden werden? Literatur A R I S T O T E L E S . Nikomachische Ethik. Übers. und hg. von Gernot Krapinger 2017. Ditzingen: Reclam. K AI S E R , Ursula U. & T R O P P E R , Josef 7 2012: Die Kindheitserzählung des Thomas. In: Christoph Markschies, Jens Schröter (Hg.): Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. I. Band in zwei Teilbänden: Evangelien und Verwandtes, 1. Teilband. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 930-959. L A N C K A U , Jörg 2018: „Sollte der Richter der Welt sich nicht an das Recht halten? “ (Gen 18,25). Der Begriff der „Sünde“ und die Ursprünge der Gewalt im Namen Got‐ tes. Synodalproposition Cazis 23. 6. 2018, Evang.-ref. Landeskirche Graubünden. Online verfügbar: https: / / www.lanckau.ch/ bibelwissenschaft/ (Zugriffsdatum: 8. 5. 2021). L O H S E , Eduard 1971: Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch. Mit masoretischer Punktation, Übersetzung, Einführung und Anmerkungen. München: Kösel. W U R S T , Gregor 7 2012: Das Judasevangelium (CT 3). In: Christoph Markschies, Jens Schröter (Hg.): a. a. O., S. 1220-1234. 66 1.4 Biblische Texte zwischen Anspruch und Wirklichkeit <?page no="67"?> 2 Biblische Grundlagen <?page no="69"?> 2.1 Ansätze biblischer Theologie Michael Pietsch Theologie im weiteren Sinne ist die Rede (oder: Lehre) von Gott. Als solche ist sie stets metaphorische Rede (↗ Metapher), in der bekannte Phänomene der sozio-kulturellen Alltagswelt zu Gott in Beziehung gesetzt werden, um überhaupt Aussagen über das Unsagbare (Gott) machen zu können. Auf diese Weise konstituiert sich ein wechselseitiger Interpretationsprozess, der einerseits die Sphäre des Göttlichen symbolisch erschließt und andererseits die Alltagserfahrung des Menschen einer religiösen Sinngebung zugänglich macht. Die biblische Rede von Gott muss daher als ein (gesteigertes) Abbild der sozio-kulturellen Lebenswelt ihrer antiken Verfasser verstanden werden (↗ Elohim ↗ JHWH). Die vielfältigen Gottesprädikationen im Alten und Neuen Testament spiegeln in diesem Sinne unterschiedliche Wesensmerkmale und Hand‐ lungsrollen wider, die das biblische Gottesbild im Verlauf seiner Geschichte geprägt haben. Diese Geschichte der biblischen Rede von Gott kann als ein dynamischer Prozess der Selbstauslegung Gottes beschrieben werden, der durch Kontinuität und Innovation gleichermaßen bestimmt ist. Das erklärt zum einen das spannungsvolle Verhältnis zwischen der Pluralität biblischer Gottesbilder und der geglaubten Einheit Gottes und stellt zum anderen vor die Aufgabe, die biblischen Gottesaussagen im Gespräch mit den Texten für die eigene Gegenwart neu auszulegen. Gott als König Die Gesellschaft des antiken Israel und Juda war wie in den meisten vorder‐ orientalischen Staaten monarchisch strukturiert. Daher ist die Institution des Königtums zu einer der tragenden ↗ Metaphern für die biblische Rede von Gott geworden (vgl. Ps 93,1; 97,1 u. ö.), die in diversen höfischen Sprachformen und Handlungskonzepten (z. B. Audienzvorstellung, vgl. Num 6,24-26; Hirtenmetapher, vgl. Ps 23) ihren Ausdruck gefunden hat. Als „höchster Gott“ thront der Gott Israels inmitten der himmlischen Göt‐ terversammlung (vgl. Ps 29; diese Vorstellung wird in der ↗ apokalyptischen <?page no="70"?> Literatur auf die Engel bzw. himmlische Mischwesen übertragen, vgl. Apk 4). Der Tempel in Jerusalem ist der Ort der irdischen Präsenz des Gottesthrons, von dem seine Herrlichkeit (kāvôd „Lichtglanz“) und sein Segen in die Welt ausgehen (vgl. Jes 6,1-4). Als König ist Gott der Garant der kosmischen und sozialen Ordnung, die er gegen die Bedrohung durch chaotische Mächte schützt (auf der mythischen Ebene vertreten durch die Chaoswasser, auf der politischen Ebene durch die Feinde des Einzelnen oder des Volkes, vgl. Ps 46,2-8). In der Perserzeit wird die Vorstellung von Gott als König universalisiert. Als Weltenkönig und einziger Gott herrscht er über alle Völker (diese monotheistische Vorstellung wird noch vertieft durch die Prädikation Gottes als Erschaffer des Himmels und der Erde, vgl. Jes 45,1-7). Daran knüpft die jesuanische Rede vom Anbruch der Gottesherrschaft an, die das neutes‐ tamentliche Gottesbild konstitutiv mitbestimmt (vgl. Mk 1,14 f u. ö.). Gott als Richter Nach 1 Sam 8,20 hat der irdische König vor allem zwei Aufgaben: er soll Recht sprechen, d. h. die soziale Ordnung nach innen aufrechterhalten, und das Volk vor äußeren Feinden schützen. Beide Handlungsrollen werden in der Bibel auf Gott übertragen. Dabei ist der Umstand entscheidend, dass beide komplementär zueinander gedacht sind: gerade indem Gott richtet, d. h. die Gerechtigkeit durchsetzt, rettet er den Bedrängten aus seiner Not (vgl. Ps 7,7-12). Das Richteramt Gottes firmiert als notwendige Begrenzung des Unrechts und der Gewalttätigkeit des Menschen. Es kann daher we‐ senhaft als „soziales Handeln“ zugunsten der Elenden und Notleidenden begriffen werden. Gerechtigkeit und Recht werden als Wesensmerkmale der Königsherrschaft Gottes bezeichnet (vgl. Ps 89,15), und die Durchsetzung von Gerechtigkeit (als Solidarität mit den personae miserae; vgl. Ps 72,1 f) wird in Ps 82 geradezu zum Kriterium der Göttlichkeit überhaupt erhoben. Dabei ist Gerechtigkeit im biblischen Verständnis kein Norm-, sondern ein Ordnungskonzept, das die gesamte soziokulturelle Lebenswelt des Menschen einschließt. Ihre Durchsetzung, die sich in Gestalt erinnernder Vergegenwärtigung (Mythos) und konnektiver Praxis (Ethos) manifestiert, ermöglicht eine gelingende Gemeinschaft des Menschen mit sich selbst, dem Anderen und Gott. In diesem Sinne kann auch Paulus von der Gerechtigkeit Gottes sprechen, der den Menschen „in Christus“ richtet und auch rettet, um 70 2.1 Ansätze biblischer Theologie <?page no="71"?> das gestörte Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zur Welt und zu Gott wiederherzustellen und ihm „durch den Glauben“ daran Anteil zu geben (vgl. Röm 3,21-26 → 4.5 Recht, Gerechtigkeit und Gericht). Gottes Reue - der barmherzige Gott Dem richtenden Handeln Gottes, in das die Vorstellung vom Zorn Gottes, der gegen Unrecht und Gewalt entbrennt - sei es gegen Israel oder Juda selbst oder gegen die Feinde des Gottesvolkes bzw. des Einzelnen (vgl. Jes 5,25-30; 10,5-10; Ps 7,7), eingeschlossen ist, korrespondiert die Rede von seiner Loyalität (ḥæsæd) und Barmherzigkeit (vgl. Ps 36,6 f; 40,11 f; 51,3 u. ö.), die den Menschen vor der Vernichtung durch Gottes Zorn schützt. Dieser Gedanke tritt besonders im Aspekt der Reue Gottes hervor, in der sein Erbarmen und Mitgefühl mit Israel resp. seinen Geschöpfen seinem Zorn entgegentritt und ihn begrenzt, so dass der (berechtigte! ) Vernichtungsbe‐ schluss nicht durchgeführt wird (vgl. Hos 11,8-11; Jon 3,9-11 vgl. auch Gen 5,29; 6,6 f → 7.3 Gerechtigkeitssinn Gottes). In konzentrierter Form begegnet die Aussage von der Barmherzigkeit Gottes in der sogenannten „Gnadenformel“ (vgl. Ex 34,6 f; Jo 2,13 f; Jon 4,2 f u. ö.), die wiederum auf höfische Sprachkonventionen zurückverweist, wie beispielhaft aus dem Dialog zwischen Gott und Mose in Ex 33,12-34,9 hervorgeht. Gottes Gnade (ḥen) und sein Erbarmen (raḥămîm) werden hier in einer Auslegung des Gottesnamens angeführt, um sein Wesen näher zu bestimmen (vgl. Ex 33,19 mit Ex 3,14). Die abschließende „Gnadenformel“ in Ex 34,6 f antwortet auf die eingangs von Mose nachdrücklich geäußerte Bitte für sich und Israel, Gnade in den Augen Gottes zu finden (höfische „Formel des Wohlwollens“, vgl. fünfmal in Ex 33,12-17). Von daher kann die Rede vom barmherzigen und gnädigen Gott als zentrale theologische Bekenntnisaussage des Alten Testaments bezeichnet werden, die im Neuen Testament christologisch interpretiert und vertieft wird. Die Vorstellung von Gottes Barmherzigkeit dient schließlich gesamtbiblisch als Begründung für das sozialethische Handeln des Menschen, insofern dieser das Handeln Gottes nachahmen soll (vgl. Mt 18,21-35; Lk 6,36 → 2.4 Ansätze biblischer Ethik). 71 Gottes Reue - der barmherzige Gott <?page no="72"?> Gott als Vater und Mutter Die Bezeichnung Gottes als Vater begegnet im Alten Testament nur selten und häufig als Vergleich (z. B. Spr 3,12; Ps 103,13, vgl. 2 Sam 7,14). Sie setzt die soziale Institution der Familie und die spezifischen Handlungsrollen des Vaters (bzw. der Mutter) in der antiken vorderorientalischen Gesellschaft voraus und überträgt sie auf das Verhältnis zwischen Gott und Israel bzw. dem Einzelnen. Dies wird besonders deutlich, wenn die kindliche Verpflichtung, die Eltern zu ehren (vgl. Mal 1,6), oder umgekehrt die Verantwortung des Vaters für die Erziehung des Sohnes (vgl. Spr 3,12) zu Gott in Beziehung gesetzt werden. Analog kann das Sonderverhältnis Israels zu seinem Gott in das familiäre Beziehungsgefüge von Vater bzw. Sohn gefasst werden, um die besondere emotionale Nähe Gottes zu seinem Volk auszudrücken (vgl. Ps 103,13; Jes 63,16). In Ps 68,6 findet sich der gleiche Gedanke zugespitzt auf die personae miserae, die hier durch die Waisen (resp. Witwen) vertreten werden. Schließlich wird auch die genealogische Beziehung zwischen Vater und Sohn bzw. Kind auf das Gottesverhältnis übertragen, wenn die Prädikation Gottes als Vater mit Schöpfungsaussagen verbunden ist (vgl. Dtn 32,6; Jes 64,7 und den Personennamen Abija „JHWH ist mein Vater“). Die Rede von Gott als Vater gewinnt im antiken Judentum an Popularität und ist im Neuen Testament breit belegt (vgl. die Rolle des pater familias in der hellenistisch-römischen Kultur). Im Vaterunser (Mt 6,9-13 ⫽ Lk 11,2-4) spricht sich vielleicht eine gesteigerte, individualisierte Zugehörigkeit zu Gott aus, die christologisch vermittelt ist: die Anteilgabe an der Gottessohn‐ schaft Jesu begründet die Gotteskindschaft der Gemeinde (→ 2.3 Ansätze neutestamentlicher Christologie). Die mütterlichen Züge im biblischen Gottesbild partizipieren an der glei‐ chen Metaphorisierung familiärer Handlungsmuster wie die Rede von Gott als Vater, was sich bereits daran zeigt, dass beide miteinander verschmelzen können (vgl. Jes 45,9-11; Hos 11,3 f). Neben schöpfungstheologischen Aus‐ sagen (vgl. Num 11,12) dominieren bei der mütterlichen Handlungsrolle im Gottesbild vor allem die Aspekte der Tröstung und der Fürsorge (besonders gegenüber dem Säugling). 72 2.1 Ansätze biblischer Theologie <?page no="73"?> Impulse ■ Inwiefern könnte Gott auch als „Mutter“ verstanden werden? ■ Inwiefern kann in einer modernen Demokratie mit grundsätzlicher Ge‐ waltenteilung das Bild von Gott als monarchischem „König“ überhaupt noch eine sinnvolle Aussage und Vorstellung beinhalten? ■ Widerspricht die biblische Rede von Gottes Reue der Vorstellung von der Unveränderlichkeit Gottes? Entwickelt sich Gott selbst oder nur die menschlichen Bilder von Gott? Oder gar beide? ■ Wo liegen also die Grenzen und Chancen der biblischen Gottesbilder? Literatur F E L D M E I E R , Reinhard & S P I E C K E R M A N N , Hermann 2011: Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre. Tübingen: Mohr Siebeck. H A R T E N S T E I N , Friedhelm 2016: Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche. Biblisch-theologische Studien 165. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. J A N O W S K I , Bernd 2013: Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. J E R E M IA S , Jörg 2015: Theologie des Alten Testaments. Grundrisse zum Alten Testament 6. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 73 Impulse <?page no="74"?> 2.2 Ansätze biblischer Anthropologie Jürgen van Oorschot Menschen gibt es nur in konkreten Bezügen und Relationen. Beziehungslos existieren sie nicht. So ist es für alles auf den Menschen bezogene Handeln und für jede Reflexion über ihn entscheidend, nach den Relationen und Kontexten zu fragen, in welchen der Mensch begegnet und verstanden wird. Die nachfolgenden Überlegungen greifen fünf Kontexte heraus, die für soziale, individuelle, geographische und politische Lebenswelten im Alten Testament zentral und zugleich grundlegend für Reflexionen auf das Menschsein im Neuen Testament sind. Geschöpf und Schöpfer Biblische Anthropologie redet von Menschen nie ohne einen Bezug zu Gott und von Gott nicht ohne Bezug zu Menschen - ein selbstverständliche Denkvoraussetzung antiker Kultur. Dies prägt auch die christliche Theolo‐ gie. ■ Stellvertreter des göttlichen Herrschers: Eingebunden in die geord‐ nete Welt des Universums und der Tiere repräsentiert der Mensch im Schöpfungsbericht (Gen 1) als Stellvertreter Gottes dessen Herrschafts- und Bewahrungswillen. Das Geschöpf ist in die durch den ↗ Sabbat strukturierte Zeit eingebunden und durch den Sühne verschaffenden Kult entlastet. Mit diesen grundlegenden Setzungen wird die species Mensch zum Bild Gottes bestimmt (Gen 1,26 f; vgl. 5,1-3; 9,6 → 3.7 Men‐ schenwürde). In Anlehnung an die ägyptische Vorstellung des Pharaos als Bild der Gottheit übernimmt damit der Mensch die Funktion des Repräsentanten und Stellvertreters Gottes auf Erden. In das herausge‐ hobene und enge Verhältnis, das bislang allein der König zu Gott hatte, tritt nun die Menschheit ein. Der ihr in Gen 1,26-28 übertragene Herr‐ schaftsauftrag wird als Herrschaft über die Tierwelt gefasst. Universal werden in der „priesterschriftlichen“ Literatur (→ 1.2 Was ist die Bibel? ) alle Menschen unabhängig von Herkunft, Volkszugehörigkeit, sozialem oder politischem Status in eine unmittelbare Nähe zu ↗ JHWH gehoben. <?page no="75"?> Nicht mehr der König oder das eigene Volk werden als herausgehobene Größen identifiziert, wie dies bislang im Alten Orient und in Ägypten weit verbreitet war. Vielmehr eignet nun jedem Menschen königliche Qualität. Jede und jeder ist Sachwalter Gottes. Diese Entgrenzung und Universalität formuliert die Urgeschichte, ohne dass daraus weiterge‐ hende Konsequenzen gezogen werden. ■ Sterblicher Erdling und erwachsenes Gegenüber zu Gott: Die Paradieserzählung (Gen 2-3) u. a. „nichtpriesterliche“ Texte setzen mit dem sterblichen „Erdling“, der sich durch die Missachtung der Weisung Gottes von seinem Schöpfer emanzipiert, einen eigenen Akzent. In seiner Selbständigkeit existiert er deutlich unterschieden vom unendli‐ chen Schöpfergott und zugleich in unvermeidlicher Konkurrenz zu ihm. So wird sein Erwachsen-Werden mit der Fähigkeit, Gut und Böse zu erkennen, kaum zufällig als Schritt aus der bisherigen Gottesgemein‐ schaft und als erster Ungehorsam erzählt. Zugleich präsentiert diese Geschichte einen Menschen, der sich die Mitwelt der Tiere aneignet, indem er sie benennt (Gen 2,19-20), und der auf Gemeinschaft angelegt ist. ■ Königliche Bestimmung: Auch Psalmen und Psalter preisen den königlichen Menschen in seiner Nähe und Distanz zu ↗ JHWH (Ps 8) und singen das Lob des Schöpfers (Ps 104). Die königliche Bestimmung des Menschen aus Gen 1 wird affirmativ in Ps 8 und später kritisch in Hi 7 aufgegriffen. Nach Ps 8 krönt Gott den Menschen mit Ehre und Hoheit und damit mit den Attributen des Königs JHWH (Ps 29,2; 21,6). Die Gottesnähe und das herausgehobene Gottesverhältnis des Menschen zeigen sich in seinem umsorgenden und gestaltenden Umgang mit den Tieren. Diese stellvertretende Herrschaft wird nirgends als Herrschaft von Menschen über Menschen ausgesagt, welcher damit keine göttliche Legitimität gegeben wird. ■ Radikale Diesseitigkeit: Komplementär zum Gottesbezug verstehen die alttestamentlichen Anthropologien den Menschen radikal im Kon‐ text seiner Lebenswelt(en). Vor und mit Gott lebt er als diesseitiger Mensch. Im Diesseits liegen seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So orientieren sich die älteren Rechtstexte und die frühe Weisheit pragmatisch am Erhalt der sozialen und gesellschaftlichen Lebensgrundlagen. Erkenntnis und ↗ Ethik sind auf dieses Ziel gerich‐ tet. Wendet Gott seinem Volk oder den einzelnen Menschen Heil und Lebenskraft (Segen) zu, so verbleibt dies in fast allen Texten des Alten 75 Geschöpf und Schöpfer <?page no="76"?> Testaments im Rahmen des diesseitigen irdischen und biologischen Lebens. Dieser Grundzug radikaler Diesseitigkeit zieht sich bis in die Gottesverehrung. Weder der Gott Israels noch seine Verehrung werden auf ein Geschlecht oder auf bestimmte Gestalten von Sexuali‐ tät festgelegt. Sexualität wird konsequent im Bereich des Menschen und seiner Geschöpflichkeit verortet. Sie gehört zum diesseitigen Le‐ ben. Ihr Gebrauch bzw. der Verzicht auf sie bilden kein Element der Gottesbeziehung. Hinzukommt, dass die Welt des Gottes Israel die Welt der Lebenden ist. Das Totenreich und die Toten werden erst in alttestamentlichen Texten aus spätpersischer und hellenistischer Zeit (4.-1. Jh. v. Chr. ↗ Hellenismus) als Einflussbereich JHWHs theologisch einbezogen. Handelnd und verantwortlich Das Handeln und Arbeiten des Menschen zielen auf den Erhalt der natürli‐ chen und sozialen Lebensgrundlagen. Zugleich steht er in Verantwortungen. Er muss Antworten geben. Beide Konstanten spiegeln sich in den Rechts‐ überlieferungen des alten Israel. Dazu gehört das kasuistische Konfliktre‐ gelungsrecht, dessen ethische Grundlagen evident und dessen Zielsetzung sozial und religiös integrativ sind. Die dahinterstehende Rechtsprechung und deren implizite ↗ Ethik sowie das damit verbundene Menschenver‐ ständnis setzen überschaubare Lebenszusammenhänge ebenso voraus wie eine relative, soziale und gesellschaftliche Homogenität. Mit dem Wachsen sozialer Spannungen in Israel und Juda während des 8. Jhs. v. Chr. unter Jero‐ beam II. (787-747 v. Chr.) erhalten die israelitischen Rechtssätze zunehmend eine explizit theologische Begründung. Die fehlende oder verschwindende Evidenz wird durch den Verweis auf Gott ausgeglichen. Markant ist dieser Wandel im heutigen Buch Deuteronomium und seiner Programmatik ablesbar. Es überführt die elementare Anthropologie einer bäuerlich-agrarischen Welt des Alten Orients, traditionell um die Institutio‐ nen Königtum und Tempel gruppiert, in eine kontrafaktische, theonom begründete Anthropologie. Beruhen bisher Recht, ↗ Ethik und Anthropo‐ logie auf den allgemeinen altorientalischen Traditionen und stabilisieren pragmatisch wie symbolisch den Mikro- und Makrokosmos, so entsteht nun eine Spannung zum Gegebenen. Israel als eine ideal gedachte Sozial- und Glaubensgemeinschaft tritt in ein direktes, allein durch Mose und seine 76 2.2 Ansätze biblischer Anthropologie <?page no="77"?> ↗ Tora vermitteltes Verhältnis zu ↗ JHWH als ihrem Gott (Dtn 4,44-49; 5,1). Die dieser Gemeinschaft verkündete und dann schriftlich vorliegende Weisung Gottes ruft jeden in die Verantwortung. Immer neu entscheidet sich Segen und Fluch daran (Dtn 27 f), ob mit der Tora eine kontrafaktisch gesetzte Wirklichkeit gelten gelassen wird oder ob man sich dagegen für die scheinbar gültigen Wirklichkeiten entscheidet. Homo faber und homo absconditus Die frühe alttestamentliche Sippen- und Schulweisheit, wie sie uns etwa in vorexilischen Teilen des Sprüchebuches entgegenkommt, beinhaltet ein optimistisches Menschenbild. In den überschaubaren agrarischen und städ‐ tischen Welten leben Menschen, die fähig sind, eigene Erfahrungen zu machen und zu reflektieren, sowie aus denen früherer Generationen zu lernen. Dieser doppelte Rückgriff auf Erfahrung lässt Fertigkeiten und Wissen reifen und von Generation zu Generation vermitteln. So entsteht Weisheit als Lebenserfahrung und Wissen als Sachverstand (homo faber, der schaffende Mensch). Einem Wandel und einer kritischen Hinterfragung un‐ terliegt dieses Menschenbild im 4.-3. Jh. v. Chr. Die Bücher Kohelet und Hiob dokumentieren ein Erleben und Wissen von fundamentalen Grenzen des Menschen, die ihn von Gott unterscheiden und in seinen Welten erfahrbar sind (homo absconditus, der verborgene Mensch vgl. Hi 38-39; Pred; Ps 49; 88). So gehen im Alten Testament Weltoffenheit und Erkenntnisoptimismus mit Grenzerfahrungen Hand in Hand, wobei letztere immer zugleich auch Gotteserfahrungen sind. An den Grenzen erlebt der Mensch sich und sein Lebensgeschick als entzogen und verborgen. Sterblich und sündig Vergänglichkeit und Tod gehören in antiker Zeit zu den Alltagserfahrungen der Menschen. Eine kurze Lebensdauer und die relative Schutzlosigkeit vor Krankheiten, Wettereinflüssen und einer nur begrenzt beherrschbaren Tierwelt lassen zur Genüge erleben, wie bedroht und gefährdet das mensch‐ liche Leben ist. Zwischen Geburt und Tod vollzieht sich menschliches Leben und auch die Beziehung zu Gott. Der Tod ist in weiten Teilen des Alten Testaments die definitive Grenze menschlichen Lebens, wenn 77 Homo faber und homo absconditus <?page no="78"?> auch nicht seines Daseins. Die Unterwelt (hebr. šə’ôl) ist ein Land „ohne Wiederkehr“ (Hi 10,21), in dem auch das Lob Gottes verstummt (Ps 6,6; 88,11-13; Jes 38,18). ↗ JHWH ist der eine und einzige Gott der Lebenden. Anthropologisch folgt daraus, dass menschliches Leben auf die Welt der Lebendigen ausgerichtet ist. In der Existenz nach diesem Leben herrschen Vergessen und Passivität. Israel soll nichts von einer jenseitigen Totenwelt bzw. Existenz erhoffen. Der begrenzte Mensch erlebt Vergänglichkeit und Sterben mitten im Leben und an seinen Grenzen. Erst mit Ende des 6. Jhs. v. Chr., somit seit den Erfahrungen des Exils in Babylon und deren kollektiven Verarbeitungen in der Perserzeit, hält auch die Vorstellung von Gottes Zorn (etwa Ps 78) und von individueller Schuld Einzug in die Klagegebete des Einzelnen. Erstmals werden der einzelne Mensch und sein Leben unter dem Blickwinkel seiner Verfehlung und seiner Rebellion gegen Gott zum Thema. Der Hang des Menschen zur Sünde überschattet nach Ps 51 das gesamte Leben. „Siehe, in Verkehrtheit bin ich geboren, und in Verfehlung hat meine Mutter mich empfangen“ (Ps 51,7). Was alttestamentlich mit drei zentralen Begriffen als (Ziel-)Verfehlung, als Rebellion gegen Gott oder Verkehrtheit, bzw. als Verkrümmung ausgesagt wird, wird nun zum alles bestimmenden Moment des Selbstverständnisses (Ps 51,5). Die Sünde realisiert sich in einer Vielfalt von Untaten (Ps 51,11) und wird theologisch zugespitzt als Verfehlung Gottes bekannt (Ps 51,6; 65,2-4). Entsprechend kann die Not auch nur durch ein Handeln Gottes abgewendet werden. Dies kann darin bestehen, dass Gott die Schuld vergibt und den Menschen freispricht (Ps 32,5; 65,4; 19,13) oder sich als Richter gnädig abwendet (Ps 39,11.12.14). Wie eng in diesem Denken Sünde und Krankheit zusammenhängen, macht Ps 103,2-4 deutlich. Doppelte Verkörperung - Gott und Mensch Vom Menschen zu reden, gelingt nicht angemessen, wenn nicht auch von Gott die Rede ist. Und wer Gott dabei zum Thema macht, wird erneut auf den Menschen gewiesen. Zugespitzt bedeutet dies im Alten Testament: Gott‐ ebenbildlichkeit des Menschen und Anthropomorphismus Gottes schließen auch die Körperlichkeit mit ein. Das Alte Testament redet von Gott im‐ mer erneut in menschlicher Gestalt, also von Gottes Körper, identifiziert ihn und sein Handeln mit Rollen aus dem menschlichen Sozialleben und vergleicht ihn mit Vorgängen im Erfahrungsumfeld der Adressaten. Die 78 2.2 Ansätze biblischer Anthropologie <?page no="79"?> wechselseitige Bezogenheit von Anthropologie und Theologie bleibt nicht abstrakt, sondern verkörpert sich leibhaftig und wird damit unvermeidlich auf konkrete historische Ausdrucksformen bezogen. Anschaulichkeit und Menschennähe sowie eine Vielfalt an Bilder findet sich in diesem Anthro‐ pomorphismus. Die Texte verfahren selektiv und die Auswahl orientiert sich, meist funktional, an der jeweiligen Aussageintention. Umgekehrt bleibt auch der Mensch, der zentral als Abbild Gottes bestimmt wird (Gen 1,26 f), einem ihn sprachlich-rational oder bildlich fixierenden Zugriff entzogen. Gott und Mensch können demnach weder definitorisch festgestellt noch abschließend bestimmt werden. Für beide gilt der paradoxe Sachverhalt: Man muss sich sprechend und denkend Bilder von ihnen machen und soll sich kein Bild machen. Impulse ■ Wie bedingen sich Gottes- und Menschenbild in den biblischen Schöp‐ fungstexten, und was ist davon heute noch sinnvoll aussagbar? ■ Inwiefern kann die Rede von der Beauftragung des Menschen heutiges Handeln für den Natur- und Artenschutz sinnvoll begründen? ■ Wo liegen die Grenzen der Menschheit in dieser Aufgabe, Verantwor‐ tung für den Kosmos zu übernehmen? Literatur F R E V E L , Christian & W I S C H M E Y E R , Oda 2003: Menschsein. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments. Neue Echter Bibel Themen 11. Würzburg: Echter Verlag. J A N O W S K I , Bernd 2019: Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen - Kontexte - Themenfelder. Tübingen: Mohr Siebeck. S T A U B L I , Thomas & S C H R O E R , Silvia 2014: Menschenbilder der Bibel, Ostfildern: Patmos. V A N O O R S C H O T , Jürgen (Hg.) 2017: Mensch. Themen der Theologie 11. Tübingen: Mohr Siebeck. 79 Impulse <?page no="80"?> 2.3 Ansätze neutestamentlicher Christologie Klaus Scholtissek Der folgende Beitrag wählt einen Zugang zur neutestamentlichen Christo‐ logie, der auf das „Biblische Arbeitsbuch für Soziale Arbeit und Diakonie“ abgestimmt ist: Dabei wird an exemplarischen Zeugnissen der synoptischen Evangelien der Zusammenhang von Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, von Botschaft und messianischem Boten der nahen Gottesherrschaft und des diakonischen Profils der Sendung Jesu reflektiert. Hier wird die These vertreten, dass sich im Leben Jesu selbst und dieses Wirken Jesu spiegelnd auch in den Evangelien (vgl. S CHO LTI S S E K / N I E B UH R 2021) ein Wesensmerkmal der Sendung Jesu erkennbar wird, das sich treffend als messianischer Dienst an der herangenahten Gottesherrschaft beschreiben lässt (vgl. Mk 10,45). Klassische Zugänge zur neutestamentlichen Christologie, die sich an den Hoheitstiteln (z. B. Messias, Menschensohn, Gottessohn, Herr; vgl. K A R R E R 1998) oder an Motiven (z. B. Vollmacht Jesu) orientieren, sowie metaphori‐ sche oder narrative Ansätze werden hier nicht aufgegriffen (↗ Metapher). Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft Die Verkündigung Jesu in Wort und Tat, sein zeichenhaftes Leben und Leh‐ ren, seine Konflikte und seine Passion sind nur im Zusammenhang seiner Verkündigung der „Königsherrschaft Gottes“ zu verstehen. Mit ihr knüpfte Jesus von Nazaret an jüdische Zukunftserwartungen und in besonderer Weise an die Umkehrbotschaft Johannes des Täufers an. Die Verkündigung der nahen und in Jesu Wirken Platz greifenden Gottesherrschaft prägt auch die österlichen Glaubenszeugnisse der frühen christlichen Gemein‐ den. Daraus ergibt sich, dass auch die neutestamentlichen Zeugnisse zur Diakonie Jesu sowie zur Diakonie in den Jesus als Messias bekennenden Gemeinden von der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu geprägt sind. Das gilt für die neutestamentlichen Zeugnisse, die explizit das Wortfeld „dienen“ verwenden, als auch für Zeugnisse, die implizit diakonisches Handeln, also rettendes, pflegendes, inkludierendes, heilendes und assistierendes Helfen reflektieren. <?page no="81"?> Sendung Jesu im Zeichen der Gottesherrschaft Das Programmwort Jesu in Mk 1,14-15 eignet sich in besonderer Weise, die Sendung Jesu zu verstehen: „Nach der Auslieferung des Johannes aber kam Jesus nach Galiläa, verkündete das Evangelium Gottes und sagte: Erfüllt ist die Zeit (kairós), herangenaht die Königsherrschaft Gottes. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! “ Der Evangelist Markus trifft mit diesen zwei prägnanten Versen zu Beginn seines Evangeliums die Mitte der Botschaft Jesu: Vers 15 beginnt mit einer Zeitansage Jesu: „Erfüllt ist der Kairos“. Jesus spricht hier implizit von einer Zeit der Erwartung, die „erfüllt“ wird, er spricht von dem Kairos, der jetzt herangenaht ist und er definiert die Gegenwart als „erfüllten Kairos“. Die Antwort auf die Frage, worin der „erfüllte Kairos“ besteht, gibt Jesus im zweiten Teilsatz in Vers 15: „herangenaht ist die Königsherrschaft Gottes.“ Das Verb „herangenaht“ beinhaltet zwei Aspekte: die tatsächliche, in die Gegenwart hineinreichende, wirksame Nähe und die noch ausstehende Vollendung der Königsherrschaft Gottes. Jesus steht mit der Aussage von der „Königsherrschaft Gottes“ in der Tradition seines jüdischen Glaubens: Die Psalmen besingen, erflehen und beschreiben die Königsherrschaft Gottes. Im Zentrum der Zukunftserwar‐ tungen der biblischen Schriften und der frühjüdischen Zeugnisse steht die Königsherrschaft Gottes, die sich endlich sichtbar und machtvoll durchset‐ zen soll gegen alles geschöpfliche Leiden auf dieser Erde. Die vielfältigen Messiaserwartungen im zeitgenössischen Judentum verbinden - bei aller Unterschiedlichkeit - mit dem erwarteten Kommen des Messias die Durch‐ setzung und Vollendung der Königsherrschaft Gottes. Aus der Zeitansage und ihrer inhaltlichen Bestimmung leitet Jesus einen doppelten Imperativ ab: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium! “ Jesus fordert seine Zuhörer zur „Umkehr“ und zum „Glauben an das Evangelium“. Die Zeitansage im Indikativ erfordert ein dem Kairos entsprechendes Ver‐ halten, eine angemessene Reaktion, die Jesus in diesen zwei Schritten zusammenfasst: Umkehr und Glaube an das Evangelium. Zur Umkehr haben vor Jesus die Prophet*innen und in ihrer Reihe Johannes der Täufer aufgerufen, und sie begründeten diese Forderung mit dem widersprüchlichen Verhalten des Bundesvolkes zur eigenen Sendung und Erwählung durch Gott, mit der von Gott geforderten Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, mit Gottes drohendem Gericht. In der Glaubenstradition 81 Sendung Jesu im Zeichen der Gottesherrschaft <?page no="82"?> Jesu und bei Jesus selbst steht der Indikativ vor dem Imperativ, d. h. der Zuspruch des Heils vor dem Anspruch des entsprechenden Verhaltens (vgl. den Beginn des Dekalogs in Ex 20,1: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat“). Im letzten Teilvers fordert Jesus „Glauben an das Evangelium“: Dem Wort „Evangelium“ (frohe Botschaft) kommt in der prophetischen Verkündigung des Jesajabuches eine geprägte Bedeutung zu. Jes 61,1-2 spricht vom messianischen Freudenboten: „Der Geist des Herrn (ist) auf mir, weil er mich gesalbt hat; um frohe Botschaft den Armen zu bringen, hat er hat mich abgesandt, um die zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind, um den Gefangenen Freilassung zu verkünden und den Blinden neue Sehkraft, um auszurufen ein willkommenes Jahr des Herrn und einen Tag der Vergeltung, um zu trösten alle Trauernden …“ Aus der prophetischen Verheißung des Jesaja gewinnt das Leitwort „frohe Botschaft (bringen)“ seine inhaltliche Bestimmung und sein diakonisches Profil: Gott wird zu der von ihm bestimmten Zeit (vgl. Jes 60,22) einen gesalbten (= messianischen) Freudenboten senden, der den Armen die frohe Botschaft bringt, zerbrochene Herzen heilt, Gefangenen Freiheit verkündet und Blinden Sehkraft schenkt (→ 7.2 Befreiung und Rettung). Diakonisches Profil der Sendung Jesu Wie Markus, aber seine Vorlage vertiefend, erzählt Lukas ebenfalls zu Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu in Nazaret (vgl. Lk 4,14-30) von der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. Nach Lukas liest Jesus den Anwesenden in der Synagoge aus Jesaja vor (Lk 4,18 f): „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ Dieses Mischzitat aus Jes 61,1 f; 58,6 und dem griechischen Text von Lev 25,10 fasst im Sinne des Lukas das Selbstverständnis und die Sendung Jesu programmatisch zusammen. Jesus stellt sich grundlegend in die biblische Verheißung, er stellt sich selbst vor als den erwarteten messianischen Freudenboten, der die Freudenbotschaft den Armen verkündet und das 82 2.3 Ansätze neutestamentlicher Christologie <?page no="83"?> Gnadenjahr des Herrn ausruft. Das Neue, das Jesus in der Synagoge von Nazaret programmatisch verkündet, ist nicht das messianische Programm und sein diakonisches Profil, ist nicht die Verheißung eines messianischen Freudenboten, sondern die beginnende „Erfüllung“ (vgl. Lk 4,21) dieser Verheißung hier und „heute“ (Lk 4,21) in und mit seiner Person selbst. Darum besteht die Auslegung der Schrift durch Jesus zunächst nur aus dem einem Satz: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ Messianischer Lebens- und Todesdienst Jesu Blicken wir auf die gesamte Überlieferung des Wirkens Jesu in den vier Evangelien, dann wird das in Mk 1,15 und Lk 4,14-30 anklingende diako‐ nische Profil der Sendung Jesu im Horizont der nahen und jetzt schon Platz greifenden Gottesherrschaft angereichert, verdichtet und in einem entscheidenden Punkt vertieft. Konstitutiv zum Wirken Jesu gehören: sein Ruf in die Nachfolge, der von ihm gegründete Zwölferkreis, seine Gottes‐ reichgleichnisse, seine zeichenhaften Handlungen, seine Wundertaten und ihre Deutung durch Jesus selbst (vgl. Lk 11,20), seine Toraauslegung, sein Beten (vgl. Mt 6,9-13 ⫽ Lk 11,2-4), die Seligpreisungen Jesu, das letzte Mahl Jesu, sein Tod und seine Auferstehung. Jesus feiert mit seinen Jüngern ein letztes Abendmahl, um ihnen sinnenhaft zu zeigen, dass allem Anschein zum Trotz sein gewaltsames Sterben ihn als Boten der Gottesherrschaft und mit ihm die Botschaft von der herangenahten Gottesherrschaft nicht widerlegt, sondern ins Recht setzt (→ 7.7 Taufe, Herrenmahl und Diakonie). Die Begleitworte Jesu zu seinen Abendmahlsgesten, wie immer sie im Einzelnen gelautet haben mögen, werden seinen Tod in ein positives Verhältnis zu seiner Botschaft gesetzt haben: Der Tod Jesu ist paradoxerweise der letzte, seine Sendung bekräftigende und erfüllende Dienst an der nahen Gottes‐ herrschaft. Gottes Herrschaft, seine heilsame Sorge um seine Geschöpfe, hat im Tod keine unüberwindliche Grenze, im Gegenteil: Gottes Herrschaft überwindet die Macht und alle Gestalten des Todes. Jesu Selbstverständnis, seine Verkündigung in Wort und Tat einschließ‐ lich seines Todes, lassen sich zusammenfassen als messianischer Dienst an der nahen Gottesherrschaft: In Kontinuität mit seinem jüdischen Glauben verkündet Jesus die verheißene und ersehnte Königsherrschaft Gottes, die jetzt mit seinem Wirken in Wort und Tat Platz greift und ihre heilenden Kräfte entfaltet. In Kontinuität mit seinem jüdischen Glauben besteht die 83 Messianischer Lebens- und Todesdienst Jesu <?page no="84"?> Königsherrschaft Gottes aus Gottes wirkmächtigen Dienst an seinen Ge‐ schöpfen, der in Jesu Sendung zeichenhaft aufleuchtet und zur Vollendung strebt: den Armen die frohe Botschaft zu bringen, zerbrochene Herzen zu heilen, Gefangenen Freiheit zu verkünden und Blinden die Sehkraft. Eben darin kommt die Sendung Jesu, auch sein Weg in den Tod und durch den Tod hindurch, zum Ziel: Jesus lebt und stirbt im messianischen Dienst an der nahen Gottesherrschaft (vgl. Mk 10,45): Dabei ist auch die noch ausstehende Vollendung der Gottesherrschaft selbst inhaltlich von Gottes heilsamen Dienst an seinen Geschöpfen bestimmt. Von der Sendung und Verkündigung Jesu her hat alles christliche Handeln eine diakonische Dimension: Im christlichen Handeln verschränken sich Hilfsdienst und Heilsdienst. Das von Gott verheißene Heil für seine Ge‐ schöpfe (die vollendete „Gottesherrschaft“) ist entsprechend der biblischen Anthropologie ganzheitlich: Die Rettung des Menschen, sein ewiges Heil, kann nicht getrennt werden von seinem irdischen und leiblichen Wohler‐ gehen (→ 2.2 Ansätze biblischer Anthropologie). Anders formuliert: In der Nachfolge Jesu wird in der Zuwendung von Mensch zu Mensch die dienende, heilende und erlösende Zuwendung des Schöpfers zu seinen Geschöpfen wirksam. Impulse ■ Was verbindet Jesu Verkündigung der nahen Gottesherrschaft mit seiner markanten Zuwendung zu den Menschen? ■ Wie genau und mit welcher Wirkung wendet sich Jesus einzelnen Personen oder bestimmten Gruppen zu? ■ Wo und wie kann heilende Zuwendung in der Nachfolge und im Auftrag Jesu heute geschehen? Wird darin Gottes Zusage der angebrochenen Heilszeit spürbar? ■ Wo gibt es für Sie Erfahrungen der „erfüllten Zeit“, des geschenkten Kairos? Literatur C R Ü S E M A N N , Frank 3 1989: Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie. In: Ger‐ hard K. Schäfer, Theodor Strohm (Hg.): Diakonie - biblische Grundlagen und 84 2.3 Ansätze neutestamentlicher Christologie <?page no="85"?> Orientierungen. Ein Arbeitsbuch. Veröffentlichungen des DWI an der Universität Heidelberg, Band 2. Heidelberg: Diakoniewissenschaftliches Institut, S. 67-93. F A B R Y , Heinz J. & S C H O L T I S S E K , Klaus 2002: Der Messias. Neue Echter Bibel Themen 5, Würzburg: Echter Verlag. K A R R E R , Martin 1998: Jesus Christus im Neuen Testament. Grundrisse zum Neuen Testament 11. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S C H O L T I S S E K , Klaus & N I E B U H R , Karl-Wilhelm (Hg.) 2021: Diakonie biblisch. Neutesta‐ mentliche Orientierungen. Biblisch-theologische Studien 188. Göttingen: Vanden‐ hoeck & Ruprecht. S C H O L T I S S E K , Klaus 5 2016: Herrschaft / Königsherrschaft / Reich Gottes. NT. In: Angelika Berlejung, Christian Frevel (Hg.): Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 265 f. 85 Literatur <?page no="86"?> 2.4 Ansätze biblischer Ethik Ruben Zimmermann „Sollen wir die Heimbewohnerin noch ins Krankenhaus verlegen, oder nicht? “ Solche und ähnliche Fragen sind Alltag in der Diakonie. Wenn es unterschiedliche Möglichkeiten oder gar Problemkonstellationen in der Praxis diakonischen Handelns gibt, dann gilt es nicht nur, Entscheidungen zu treffen, sondern sie auch gegenüber anderen (z. B. den Angehörigen) zu rechtfertigen. Wenn man nun Gründe für die eine oder andere Entscheidung anführt, wenn man fragt, wer überhaupt entscheiden darf, oder auf welches Ziel hin eine solche Entscheidung getroffen wird, dann ist man bereits mitten in einer ethischen Diskussion. Biblische Ethik im Kontext der Moralphilosophie Es geht in der ↗ Ethik also um ein Nachdenken über Formen, Begründungen und Ziele des Handelns, die nicht nur für eine Situation gelten, sondern auch auf andere übertragbar sind. Wird dieses verallgemeinernde Nachdenken zu einem übergreifenden System entwickelt, kann man mit gutem Recht die Ethik auch als die „Theorie des Handelns“ bezeichnen. Die Ethik unter‐ scheidet sich so gesehen vom Ethos bzw. der Moral, die das richtige Tun nach Gewohnheit oder Standesethos bestimmen. Auf die Frage, warum eine Pflegemaßnahme so und nicht anders vollzogen wird, würde man im Ethos-Horizont antworten: „Das haben wir hier schon immer so gemacht“, im Kontext der Ethik würde man z. B. sagen: „Weil Lebenserhaltung die höchste Norm ist, machen wir das so.“ oder: „Man sollte so handeln, damit der Patient möglichst wenig Schmerzen hat.“ Man erkennt dabei, dass es unterschiedliche Begründungsmuster gibt: bei dem ersten liegt eine Norm voraus (Lebenserhaltung), aus der das richtige Tun abgeleitet wird (= deontologische Ethik). Beim zweiten wird die Bewertung des Handelns aus einem erhofften Ziel (Schmerzreduktion) gewonnen (= teleologische Ethik). Die Grundform der Ethikbegründung ist aber in beiden Fällen das Argumentieren mit Vernunft. <?page no="87"?> Man wird deshalb zu Recht fragen dürfen, ob in der Bibel solche For‐ men argumentativer Ethik vorkommen, oder noch grundsätzlicher, ob es berechtigt ist, von einer „Ethik der Bibel“ zu sprechen. Statt eine „Theorie des Handelns“ finden wir Erzählungen, Gleichnisse, Briefe. Paulus hat z. B. namentlich genannte Menschen (vgl. Philemon) in bestimmten Gemeinden angeschrieben, so dass man diese Texte als Gelegenheitsschriften bezeichnet hat. Gleichwohl zeigen gerade auch die Paulusbriefe, dass Paulus grundsätz‐ lich formuliert, dass er verschiedene Güter abwägt, oder Urteile argumen‐ tativ begründet. Es geht also in den biblischen Texten um mehr als um eine rein situative Moral oder den Spiegel eines Ethos der frühen Christ*innen. M. E. darf man mit gutem Recht zumindest von einer „impliziten Ethik“ der Bibel sprechen. Dies gilt umso mehr, weil die biblischen Schriften im Prozess der Ka‐ nonisierung in einen verallgemeinernden Rang von „Heiligen Texten“ gekommen sind. Kanon heißt wörtlich übersetzt „Maßstab“ (→ 1.2 Was ist die Bibel? ). Die Sammlung der biblischen Bücher ist für die christlichen Gemeinschaften maßgebend, und zwar nicht nur für den Glauben an Gott und Jesus, sondern auch für das Handeln. Auch wenn heute kaum noch jemand von der Bibel als der norma normans, der alles übergreifenden und bestimmenden Norm reden wird, kann man doch auch sagen, dass eine theologische Ethik ohne Rückbezug auf die Bibel ihre Basis verliert. Man wird allerdings genau überlegen müssen, wie die Bibel in die Handlungsbegründung der Gegenwart eingespielt wird. Dabei gilt es, ihre geschichtliche Entstehung und spezifische Sprechweise ernst zu nehmen und zugleich Brückenschläge in den und aus dem aktuellen Diskurs zu ermöglichen. Einfache Ableitungen sind ebenso problematisch wie radikale Brüche. Es mag bei diesem „hermeneutischen Aushandlungsprozess“ hilf‐ reich sein, sich immer wieder an der Bibel selbst zu orientieren und in den auslegenden Gemeinschaften in einen konstruktiven Dialog über die bleibende Geltung einzelner Texte zu treten. Grundlagen, Normen und Formen biblischer Reflexion Die biblische Ethik steht im Verruf, eine reine Gebotsethik zu sein. Impera‐ tivische Formulierungen („Du sollst / sollst nicht …! “) finden sich durchaus nicht nur in den Zehn Geboten (Ex 20) oder bei den Propheten (Mi 6,8), sondern auch im Neuen Testament (z. B. Röm 12,12-21), ja selbst die 87 Grundlagen, Normen und Formen biblischer Reflexion <?page no="88"?> Liebesforderung wird als Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28-34 mit Dtn 6,4 f und Lev 19,18) bezeichnet. Ethisch betrachtet wird hier der Wille Gottes als die oberste Norm angesehen, aus der heraus das menschliche Handeln begründet und damit auch geboten wird. Nicht selten wird dabei das Verhalten Gottes als Grund und Voraussetzung für das Verhalten des Menschen angegeben: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36). Entsprechend können nach dem Vorbild Gottes oder Christi Liebe, Vergebung, Langmut und Sanftmut etc. unter Menschen ermöglicht und auch gefordert werden. Man kann dann genauer von einer Nachahmungs‐ ethik oder einer mimetischen Ethik sprechen. Ohne die fundamentale Bedeutung dieser im engeren Sinn theologisch begründeten Ethik bestreiten zu müssen, zeigt doch ein genauerer Blick, dass ethische Formulierungen keineswegs immer direkt auf Gott verweisen, son‐ dern auch durch spezifische Normen (z. B. Mitleid, Einmütigkeit 1 Petr 3,8) oder ein konkretes Handlungsziel (z. B. damit die Gemeinde aufgebaut wird, 1 Kor 14,5) begründet werden. Ebenso wenig erfolgt der Begründungsweg nur als Ableitung oder Nachahmung. Stattdessen zeichnet sich die biblische Ethik sowohl in formaler als auch materialer Hinsicht durch eine Vielfalt und Fülle von Normen und Reflexionsweisen aus: In der so genannten „Goldenen Regel“ (Mt 7,12: „Alles nun, was immer ihr wollt, dass euch die Menschen tun, tut so auch ihnen“) wird ein formales Prinzip gegeben, das zwar inhaltlich erst gefüllt werden muss, aber gerade so und in seiner positiven und allgemeingültigen Formulierung je und je neu handlungsleitend sein kann. Ein biblischer Leittext der Diakonie, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30-37), ist eine erfundene Miniaturerzählung, mit der Jesus inmitten eines Dialogs über Gebote bewusst ins Medium des Narrativen wechselt. Durch die handelnden Figuren einer Geschichte wird ein dichte Lebenssituation vor Augen geführt, in der die Zuhörenden bzw. Lesenden die Chancen, aber auch Ambivalenzen des Handelns nicht nur kognitiv, sondern auch emotional wahrnehmen, und sogar durch das, was nicht erzählt wird (warum hilft der Priester eigentlich nicht? ), in einen Prozess der eigenen ethischen Urteilsbildung hineingezogen werden. Man spricht hier von einer „narrativen Ethik“, die für biblische Texte charakteristisch ist. Ebenso wird die Kraft der Sprache durch starke Bilder (1 Kor 12 Gemeinde als Körper, d. h. metaphorische Ethik ↗ Metapher) oder durch Psalmen und Hymnen (z. B. Psalm 139 oder das sog. Magnifikat in Lk 1,46-55, d. h. eine „doxologische Ethik“) für das ethische Nachdenken nutzbar gemacht. 88 2.4 Ansätze biblischer Ethik <?page no="89"?> Einige Normen können bereits in den biblischen Sprachen als in Begriffen verdichtete Knotenpunkte in Erscheinung treten, wie z. B. Gemeinschafts‐ treue, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit oder Liebe. Andere wie die Solidarität mit den Armen und Leidenden oder der Verzicht auf Status und Privilegien (z. B. Verzicht auf Freiheit oder Fleischgenuss nach 1 Kor 8-10) können wir eher aus dem größeren Zusammenhang herausarbeiten und sie mit heutigen Begriffen beschreiben. Auch wenn die Wahrnehmung und Fürsorge jedes einzelnen Menschen in seiner individuellen Not ( Jes 43,1; Mt 10,30) betont werden, bleibt die bi‐ blische Ethik doch grundsätzlich eine Sozialethik. Im Alten Testament steht die Gemeinschaft des Volkes Israel im Vordergrund. Im Neuen Testament sind Jüngerschaft und Gemeinde z. B. als teilende, helfende und achtsame Gemeinschaft (Apg 4,32-35; 6,1-7; Mt 18,10-20) die primäre Bezugsgröße, so dass sogar die Bedürfnisse und Überzeugungen des Einzelnen der Ge‐ meinschaft untergeordnet werden können (z. B. 1 Kor 8,1; 14,5). Die Unverfügbarkeit und der Schutz des Lebens, auch in seiner körper‐ lichen Dimension, sind durchgehend erkennbare Normen (Dtn 6,24; Joh 10,10). Allerdings ist sich die biblische Ethik auch der Endlichkeit und Verletzlichkeit dieses Lebens bewusst. Indem das Leben an Gott und die Gemeinschaft zurückgebunden und in seiner Begrenzung und Sterblichkeit bejaht wird (Ps 103,14-16), kann es bei einer biblisch begründeten Ethik nie nur um die Verlängerung der physischen Existenz eines einzelnen Menschenlebens gehen. Vielmehr können Menschen in Liebe ihr Leben für andere geben ( Joh 15,13), können es paradoxerweise in der Hingabe für andere gewinnen (Mk 8,35; Joh 12,25), so dass ein Leben „mit Ewigkeitswert“ erkennbar wird, das über das Individuum und sogar über den Tod hinaus reicht ( Joh 11,25; Röm 14,8; Phil 1,21). Die Ethik der Bibel beschreibt nicht nur, was ist, sondern auch, was sein könnte und sollte. Prophetische Verheißungen, Gleichnisse oder Visionen (z. B. Mt 25; Apk 21) entwerfen Bilder einer kontrafaktischen anderen Welt, die aber gerade so auch zur Inspiration und Stimulation des Handelns in der Gegenwart werden können. Impulse ■ Warum können wir in der Bibel nicht einfach Anweisungen für das richtige Handeln finden? Leuchten Ihnen folgende Antworten ein? 89 Impulse <?page no="90"?> □ Biblische Texte sind keine ethische Theorie, die nur noch ange‐ wandt werden müsste. □ Aktuelle Herausforderungen finden sich oft so nicht in der Bibel. □ Das biblische Sprechen über das gute Handeln ist vielfältig; jede Inanspruchnahme erfordert einen Aushandlungsprozess. ■ In der Begründung diakonischen Handelns wird immer wieder auf dieselben biblischen Texte verwiesen. Welche Chancen und Grenzen verbinden sich mit der Entdeckung der Vielfalt an Formen und Normen in der Bibel? Leuchten Ihnen folgende Antworten ein? □ Eine Chance besteht darin, den Reichtum der Texte, Normen und Begründungsformen wieder zu entdecken und den Eigenwert z. B. von Erzählungen zur Geltung zu bringen. □ Eine Grenze besteht darin, dass der klare Blick auf Grundnormen verloren geht und man den Überblick in der Vielfalt auch sich widersprechender Normen verliert. Literatur M E Y E R Z U H ÖR S T E -B ÜH R E R , Raphaela (Hg.) 2019: Hermeneutische Brückenschläge zwischen Antike, Bibel und Ethik. Journal of Ethics in Antiquity and Christianity 1. Online verfügbar: https: / / jeac.de/ ojs/ index.php/ jeac/ issue/ view/ 14 (Zugriffsda‐ tum: 18. 01. 2020). K E S S L E R , Rainer 2017: Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Z I M M E R M A N N , Ruben 2021: Narrative Ethik. In: Konstantin Lindner, Mirjam Zimmer‐ mann (Hg.): Handbuch ethische Bildung. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 77-86. Z I M M E R M A N N , Ruben (Hg.) 2021: Ethik des Neuen Testaments, Tübingen: Mohr Siebeck. 90 2.4 Ansätze biblischer Ethik <?page no="91"?> 2.5 Begründungsansätze helfenden Handelns Anni Hentschel Helfendes, solidarisches Handeln ist eine zutiefst menschliche Fähigkeit. Neuere anthropologische und neurobiologische Forschungen legen nahe, dass nicht Stärke und Durchsetzungsbereitschaft, sondern vielmehr Koope‐ ration und Hilfsbereitschaft das Überleben der Menschen im Laufe der Evolution sicherten. Unabhängig von kulturellen oder religiösen Einstel‐ lungen sind Menschen dazu fähig, sich vom Leid anderer berühren zu lassen und barmherzig zu reagieren. Auf eindrückliche Weise zeigen das die Erzählungen vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37 → 7.4 Barmherzige und hörende Liebe) und vom Weltgericht (Mt 25,31-46 → 7.5 Weltgericht). Hunger, Durst, Fremdheit, Nacktheit, Krankheit und Gefangenschaft sind grundlegende Beispiele für menschliches Leid. Alle, die einen anderen Menschen in einer Situation der Hilfsbedürftigkeit unterstützen, handeln in Nächstenliebe. Für Jesus ist allein die Hilfeleistung an sich das Entschei‐ dende, nicht die Frage, aus welcher Motivation es geschieht. Gottes Menschenliebe Die Aufforderung zu Nächstenliebe und Barmherzigkeit ergibt sich grund‐ legend aus dem Willen Gottes, wie er bereits in den Heiligen Schriften des Judentums festgehalten und von Jesus verkündet wird. Gott, der Schöpfer aller Menschen, ist Inbegriff und Quelle aller Liebe (1Joh 4,16). Gott schenkt seine Liebe allen Menschen und lässt Gute und Böse, Gerechte und Unge‐ rechte jeden Tag neu von seiner Liebe leben (Mt 5,45). Umgedreht gilt, wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott (1Joh 4,11). Nächstenliebe ist folglich nicht erst eine Forderung Jesu, sondern hat ihre Grundlage in der Liebe Gottes, die sich bereits in seinem Schöpfungshandeln zeigt und die sich auch im Handeln der Menschen widerspiegeln soll, wie z. B. die Begründung der Ruhe am ↗ Sabbat zeigt (Ex 20,10 f; vgl. auch Ex 23,1-13). Besonders hervorzuheben sind die beiden im Alten Testament veranker‐ ten Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe (Dtn 6,5; Lev 19,18; vgl. Mk 10,28-34). Im wichtigsten Bekenntnis des Judentums wird die Liebe <?page no="92"?> zu Gott gefordert (Dtn 6,4 f), die einschließt, dass man solidarisch mit den Mitmenschen sein soll (Lev 19,17 f). Dies gilt auch für die Fremden, die mit einer anderen Nationalität und Religion im eigenen Land leben (Lev 19,33 f). Das Vertrauen in Gottes Liebe und Gerechtigkeit führte schließlich zu der Hoffnung, dass Gott am Ende der Zeit ein Friedensreich für alle Menschen aufrichten wird, in dem alle Notleidenden Barmherzigkeit und Gerechtigkeit erfahren (z. B. Jes 11; 24-27; auch Mi 4). Gerechtigkeit und Liebe werden im Königreich Gottes gelten. Das richtende Handeln Gottes, seine die Menschen zu ihrem Recht bringende Gerechtigkeit, ist auch mit Blick auf ein bevorstehendes Gericht kein Grund zur Angst, sondern vielmehr ein Grund zur Hoffnung und Freude, denn Gottes Herrschaft und Gericht äußern sich in Güte und Barmherzigkeit: er weist die Ungerechten in ihre Schranken und verhilft den Unterdrückten zu ihrem Lebensrecht (vgl. z. B. Ps 96; 98; 145). Der Glaube an Gott führt zu der Einsicht, dass Gottes Gerechtigkeit und Gottes Liebe auch nicht an der Grenze des Todes enden (Ps 16; 73; Hi 8,9 f). Die Texte des Alten Testaments „enthalten mithin die frohe Botschaft, daß ‚es im Gericht um die Gerechtigkeit geht, vor allem für die, denen Unrecht widerfahren ist, und daß es bei diesem Gericht darum geht, alles wieder ins ‚Richtige‘ zu stellen - und sogar die Verbrecher so mit ihrem Unrecht zu konfrontieren, daß sie dem Recht durch Umkehr die Ehre geben‘“ (J ANOW S KI 1999: 79). Im Neuen Testament verkündet Jesus die frohe Botschaft, dass die Herr‐ schaft Gottes jetzt beginnt (Mk 1,15; vgl. Mt 4,13-17; 12,16-21; Lk 4,16-30). Jesu verkündet Gottes Liebe in Worten und Taten. Die Wunder, die Jesus wirkt, sind Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft und offenbaren Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Die Notleidenden erfahren Gottes Gerechtigkeit, die ihr Leben gemäß dem Willen Gottes zurechtbringt. Das Böse, welches das Leben der Menschen bedrohen, wird durch Gottes Gerech‐ tigkeit bestraft oder zerstört: „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist die Herrschaft Gottes schon zu euch gekommen“ (Lk 11,20; vgl. Mt 12,28). Und die Menschen, die Gottes Willen in ihrem Leben missachten, ruft Jesus zur Umkehr. In Jesu Reden und Handeln zeigt sich die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes, die zum Vorbild und zur Begründung für das von den Menschen geforderte Handeln werden (Mt 5,45.48; 6,24-33; Lk 6,36): aktives Engagement für Liebe und Gerechtigkeit. 92 2.5 Begründungsansätze helfenden Handelns <?page no="93"?> Glaube an Gott Die Liebe zu Gott realisiert sich in einem liebenden Handeln, das Gott selbst entspricht. Wer Gott liebt, soll auch barmherzig gegenüber seinen Mitmenschen sein (1Joh 2,3-6). Dies bezieht sich - ungeachtet persönlicher Sympathie oder Antipathie - auf alle, sogar auf die Feinde (Mt 5,44 f; vgl. Ex 23,4 f). Glaube an Gott und das gottgemäße Handeln gehören zusammen, in der Nächstenliebe zeigt und konkretisiert sich die Gottesliebe (1Joh 3,17 f; Jak 2,14-17). Pointiert formuliert könnte man festhalten, dass es zwar Nächstenliebe gibt, ohne den Glauben an Gott, aber keinen Glauben an Gott ohne Nächstenliebe. Dass auch die Gläubigen dem Willen Gottes nicht immer gerecht werden, entbindet sie nicht vom Anspruch, wie Gott zu lieben (Mt 5,43-48; 6,12-15; Joh 1,5-7). Entsprechend soll sich niemand unter Berufung auf seinen Glauben in eine menschenabgewandte Innerlichkeit zurückziehen. Wer Gott als den Schöpfer verehrt, kann gegenüber seinen Geschöpfen nicht gleichgültig sein. Menschlichkeit Wer Liebe übt, erfüllt den Willen Gottes. Das barmherzige und auf gerechte Lebensverhältnisse ausgerichtete Handeln der Menschen wird als Erfüllung des göttlichen Willens angesehen. Eine besondere Motivation oder ein expli‐ zit christusgemäßes Verhalten werden dabei nicht grundsätzlich gefordert. Dies zeigt die Erzählung vom barmherzigen Samariter: Ein ↗ Samarita‐ ner, der nach der damaligen Mehrheitsmeinung im Judentum zweifelhafte Glaubensvorstellungen vertritt, wird zum Vorbild, das religiös-kultische Fachpersonal versagt (Lk 10,25-37). Auch in der Erzählung vom Endgericht werden alle Menschen ausschließlich am Maßstab der Barmherzigkeit ge‐ messen (Mt 25,31-46): Indem jemand einem Notleidenden hilft, hilft er Jesus selbst. Eine vergleichbare Vorstellung findet sich auch im Alten Testament: „Wer Erbarmen hat mit dem Armen, leiht dem Herrn; der wird ihm seine Wohltat vergelten“ (Spr 19,17; vgl. auch Spr 14,31). Der Mensch als Geschöpf Gottes ist zur Nächstenliebe befähigt und verpflichtet (vgl. z. B. auch Röm 2,14 f), wird dieser jedoch nicht immer gerecht. Verlässlich ist allerdings die Güte und Barmherzigkeit Gottes, die den Menschen immer wieder Umkehr ermöglicht (vgl. Röm 2,4). 93 Glaube an Gott <?page no="94"?> Begrenzung der Hilfeleistung Das Gebot der Nächstenliebe erkennt menschliche Grenzen an und ver‐ pflichtet nicht zu unbegrenzter Hilfe. Der barmherzige Samariter gibt seine Reisepläne nicht auf, sondern übergibt den Verletzten nach der Erstversor‐ gung zur weiteren Pflege an den Wirt (Lk 10,30-35). Die zwölf ↗ Apos‐ tel sind als Gemeindeleiter in Jerusalem überfordert mit der Versorgung der hilfsbedürftigen griechisch-sprechenden Witwen (Apg 6,1 f). Deshalb kommt es zu einer Aufgabenteilung in der Gemeinde: Während sich der Zwölferkreis danach schwerpunktmäßigt um die Beauftragung mit der Verkündigung kümmert, werden sieben Männer mit der Versorgung der Witwen beauftragt. Dass die Sieben trotz dieser offensichtlich zeitlich begrenzten Beauftragung in Jerusalem kein ausschließlich karitatives Amt innehaben, sondern wie die Zwölf missionarisch und gemeindeleitend aktiv sind, veranschaulicht das weitere Wirken von Stephanus und Philippus (Apg 6-8). Der griechische Begriff diakonía, bezeichnet in Apg 6,1-6 zwei ver‐ schiedene Beauftragungen mit jeweils unterschiedlichen Zuständigkeiten. Eine vernünftige Aufgabenteilung führt dazu, dass keine der notwendigen Tätigkeiten vernachlässigt wird. Verankerung im Gemeindeleben Bereits die ältesten neutestamentlichen Zeugnisse belegen, dass in den christlichen Gemeinden eine helfende Verantwortung wahrgenommen und teilweise bereits institutionalisiert wurde. Hilfe in Notsituationen gehörte sowohl in den Verantwortungsbereich der Leitungspersonen als auch zu den Aufgaben aller Gemeindeglieder (vgl. z. B. Röm 12,8-16; 1Kor 12,28; 2Kor 8-9; Apg 2,42-47; 4,32-35; 6,1-6). Paulus beschreibt das Gemeinde‐ leben mit einer systemischen Perspektive durch das Bild eines Körpers (1Kor 12). Alle Glieder des Körpers, d. h. alle Gemeindeglieder, sind mit ihren Begabungen und Aufgaben für die Lebendigkeit des Ganzen gleich wichtig (12,7.18-27). Gegenseitige Liebe, gegenseitige Unterstützung und gegenseitige Wertschätzung gehören zusammen (Röm 12,10; 13,8). Auch die gemeindeübergreifende Hilfe in Form von Spendensammlungen ist nach Paulus auf Gegenseitigkeit angelegt (2Kor 8,13 f). Maßstab für das Handeln aller Gläubigen ist die Liebe (1Kor 13). 94 2.5 Begründungsansätze helfenden Handelns <?page no="95"?> Segen und Verheißung Gottes Gott verheißt den Menschen seinen Segen, die seinem Willen gemäß leben (z. B. Mt 5,7; 1Kor 3,8; Gal 6,14). Das Helfen ist für die Helfenden selbst ein Gewinn und kann zur eigenen Ehre und zu einem guten Leben beitragen. (vgl. Mt 5,3-11; Röm 2,7.10). Wenn von den Adressaten der Hilfeleistung keine Gegenleistung erwartet werden kann, wird der besondere Segen Gottes verheißen (Mt 6,3 f; Lk 6,35.38). Allerdings kann und muss man sich Gottes Liebe nicht verdienen, denn sie gilt bedingungslos allen Menschen (Lk 6,35 f; Mt 5,45): Die Liebe, die Gott als Schöpfer allen Menschen schenkt, ist Grundlage und Ausgangspunkt des helfenden Handelns der Menschen. Impulse ■ Ist Hilfsbedürftigkeit ein Makel? ■ Gottes schöpferisches und fürsorgliches Handeln gilt nicht nur den Menschen, sondern allen seinen Geschöpfen. So sollen zum Beispiel auch die Tiere am ↗ Sabbat ruhen (Ex 20,10; Dtn 5,12-15). Inwiefern kann die Aufforderung zur Barmherzigkeit nach dem Vorbild Gottes auch Fragen von Umweltschutz und Nachhaltigkeit betreffen? ■ Inwiefern spielt die Zusammengehörigkeit von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit im Kontext sozialer Arbeit eine wichtige Rolle? Welche Gründe lassen sich dafür anführen, dass auch das politische Engage‐ ment für menschengerechte Strukturen ein Aufgabenbereich der Dia‐ konie sein sollte? Literatur H E N T S C H E L , Anni 2014: Theologische Begründungsansätze sozialen Handelns im Neuen Testament. In: Christoph Sigrist, Heinz Rüegger (Hg.): Helfendes Handeln im Spannungsfeld theologischer Begründungsansätze. Zürich: Theologischer Verlag Zürich, S. 15-42. J A N O W S K I , Bernd 1999: Der barmherzige Richter. Zur Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Gottesbild des Alten Orients und des Alten Testaments. In: Ruth Scoralick (Hg.): Das Drama der Barmherzigkeit Gottes. Studien zur biblischen 95 Segen und Verheißung Gottes <?page no="96"?> Gottesrede und ihrer Wirkungsgeschichte in Judentum und Christentum, Stutt‐ garter Biblische Studien 183, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk, S. 33-91. K L I M E C K I , Olga & S I N G E R , Tania 2013: Empathy from the perspective of social neuro‐ science. In: Jorge Armony, Patrik Vuilleumier (Hg.): Handbook of human affective neuroscience. New York: Cambridge University Press, pp. 533-550. R Ü E G G E R , Heinz & S I G R I S T , Christoph 2011: Diakonie - eine Einführung. Zur theolo‐ gischen Begründung helfenden Handelns. Zürich: Theologischer Verlag Zürich. F I S C H E R , Irmtraud u. a. (Hg.) 2015: Mitleid und Mitleiden, Jahrbuch Biblische Theo‐ logie 30. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. T H E I S S E N , Gerd 2 2008: Die Bibel diakonisch lesen: Die Legitimitätskrise des Helfens und der barmherzige Samariter. In: Volker Herrmann, Martin Horstmann (Hg.): Studienbuch Diakonik, Bd. 1: biblische, historische und theologische Zugänge zur Diakonie. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, S. 88-116. 96 2.5 Begründungsansätze helfenden Handelns <?page no="97"?> 3 Aspekte der Anthropologie <?page no="99"?> 3.1 Alter Andreas Kunz-Lübcke Verglichen mit den Lebenswelten der Moderne und der Klassifizierung der einzelnen Lebensphasen bzw. ihre Bewertung weisen die antiken Texte im Allgemeinen und die biblischen Ausführungen im Besonderen erhebliche Unterschiede auf. Die heutige Abgrenzung der einzelnen Lebensphasen ist in juristischer, sozialer, biologischer und pädagogischer Perspektive klar definiert. Eine entsprechende genaue Abgrenzung findet sich in den biblischen Texten nicht. Ebenso genießt die Lebensphase nach Beendigung der Arbeitstätigkeit in moderner Sicht eine hohe Wertschätzung. Auch hier ergeben sich gravierende Unterschiede zu den einschlägigen Texten der Bibel. Die im folgenden herangezogenen Stellen beschränken sich weitgehend auf den ↗ Tanach, da die entsprechenden Aussagen hier im Vergleich zum Neuen Testament wesentlich zahlreicher und dezidierter ausfallen. Wichtig zu notieren ist auch, dass sich die Lebenserwartung in den antiken Kulturen fundamental von heutigen Gegebenheiten unterschieden hat. Aufgrund einer Reihe von anthropologischen Untersuchungen lässt sich vermuten, dass die durchschnittliche Lebenserwartung zwischen 25 und 30 Jahren lag. Zäsuren des Alters und der Lebensepochen In lexikalischer Perspektive kennt der ↗ Tanach, bezogen auf die Lebenspha‐ sen des Menschen, die Begriffe Säugling, Kind, Jugendlicher, Erwachsener und alter Mensch. Allerdings finden sich nirgendwo genaue Angaben, ab welchem Alter ein Mensch als erwachsen oder alt galt. Dementsprechend werden die einschlägigen Begriffe unscharf verwendet. So tritt David den Kampf gegen Goliat noch mit der Bezeichnung na‘ar an, die sich mit Knabe oder Jugendlicher übersetzen lässt. Kaum ist der Gegner besiegt, verschwindet der entsprechende Begriff. Offensichtlich hat die Heldentat den Jüngling in der Perspektive des Erzählers zum erwachsenen Mann gemacht (1 Sam 17-18,5; vgl. K UNZ -L ÜB C K E 2012: 113-117). Genau derselbe <?page no="100"?> Ausdruck taucht zur Bezeichnung der Ratgeber des persischen Königs auf (Est 2,2). Gemeint sind hier erwachsene und wohl auch ältere Männer, denen allerdings in ihrer Bezogenheit auf den König etwas bleibend Defizitäres anhaftet. Dementsprechend kann der Ausdruck auch eine Bedeutung im Sinne von Diener, Soldat (auch in höherer Stellung) beinhalten. Ab welchem Alter eine männliche Person als erwachsen galt, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Deutlich ist aber, dass das Erreichen des Erwachsenenalters von der Frage eines idealen Heiratsalters als unabhängig betrachtet worden ist. Für weibliche Personen scheinen in dieser Hinsicht die Ausbildung von Geschlechtsmerkmalen und die Fortpflanzungsfähigkeit eine besondere Rolle zu spielen (vgl. Ez 16,7). Allerdings trifft auch hier zu, dass Frauen, die bereits verheiratet sind, noch als jung bzw. als Mädchen bezeichnet worden sind. In Jo 1,8 wird eine junge Frau bzw. ein Mädchen (meist wird angenommen, dass sich der Ausdruck auf eine weibliche Person um die Zeit der Pubertät herum bezieht) aufgefordert, den Tod ihres Mannes zu betrauern. Damit ist deutlich, dass mit der Verheiratung die Zeit der Jugend noch nicht vorüber ist (vgl. K UNZ -L ÜB C K E 2007: 88 f; 107). Für die Unterscheidung zwischen einem erwachsenen und einem alten Menschen spielt ein morphologisches Kriterium eine maßgebliche Rolle. Das Hebräische kennt mit dem Nomen šijvāh einen Ausdruck für „Grau‐ haarigkeit“, der offensichtlich die Grenze zwischen „Normalität“ und Alter markiert (vgl. L I E S S 2009: 22-27). Das folgende Beispiel verdeutlicht, dass erwachsene Mensch vor dem Erreichen des Alters von Kraft bestimmt wird, den alten Menschen habe diese verlassen. Zudem wird mit dem hohen Alter und der „Grauhaarigkeit“ die Krise einer mentalen Gottesferne verbunden (Ps 71,9.18a): Verwirf mich nicht zur Zeit des Alters! Wenn meine Kraft schwindet, verlaß mich nicht! Auch bis zum Alter und bis zur Grauhaarigkeit, Gott, verlass mich nicht. Offensichtlich betrachtet der Beter das hohe Alter als eine Phase, die sich von der Zeit der Jugend, die bestimmt ist durch das Verfügen über physische Kräfte und eine intensive Gottesbeziehung, im negativen Sinne abhebt und unterscheidet. 100 3.1 Alter <?page no="101"?> Zur Ambivalenz des hohen Alters Das Alter als letzte menschliche Lebensphase stellt sich sehr ambivalent dar. In den Literaturen Israels und Ägyptens wird das hohe Lebensalter mit den Aspekten Leiden, fehlende Lebensfreude und eingeschränkte Partizipation an der Gesellschaft verbunden. In den Psalmen bilden Krankheit, Alter und das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, gelegentlich eine Trias. Ps 38 wird meist als Krankheitspsalm verstanden. Allerdings beklagt der Beter in Vers 11, dass ihn zusammen mit seiner Kraft auch das Augenlicht verlassen habe. Angesichts dieser offensichtlich durch Alter und Krankheit hervorgerufenen Beschwerden wendet sich der Beter mit der (verzweifelten) Bitte an ↗ JHWH, ihn nicht zu verlassen (Ps 38,22). Geradezu als Stereotype begegnet der Verlust des Hör- und Sehvermö‐ gens, das Schwinden der Kraft und der Rückgang der Funktionalität des Körpers. Bereits im rabbinischen Judentum gilt es als ausgemacht, dass sich die ↗ Metaphern in Pred 12 auf die Beschwerden des Alters und den damit verbundenen Verlust an Lebensqualität beziehen. Der Verfasser beklagt, dass in den Tagen des Alters, in den „bösen Tagen“ u. a. „die Sonne sich verdunkelt, die Müllerinnen aufhören, weil sie wenig geworden sind, das Doppeltor zur Gasse geschlossen wird“. Gemeint seien hier die endende Sehkraft, der Verlust der Zähne einschließlich des Vermögens, Nahrung zu kauen, und das Schwinden der Fähigkeit zu kommunizieren. Diese Deutung ist von der modernen Exegese übernommen worden. Dem hohen Alter werden nur zwei positive Aspekte beigemessen. Einer‐ seits verdankt sich das Erreichen desselben einem segnenden und erwäh‐ lenden Handeln Gottes. Mit dem Prozess des Alterns einher geht zudem ein Zugewinn an Autorität. So wird etwa der hebräische Begriff zāqen „Alter“ (wörtlich: „Bart“) mit den Angehörigen der lokalen Gerichtsbarkeit in Verbindung gebracht. Alter und Sexualität Das Thema Sexualität und hohes Lebensalter erscheint grundsätzlich als negativ konnotiert (→ 3.8 Sexualität). Am Beispiel des alternden König David wird dargestellt, dass mit dem Alter der Verlust von politischer und sexueller Potenz einhergeht (1 Kön 1). Zeitgleich mit der Feststellung, dass David zum Sexualverkehr nicht mehr in der Lage ist, wird notiert, dass sein 101 Zur Ambivalenz des hohen Alters <?page no="102"?> Sohn Adoniah versucht, die Macht an sich zu reißen. Offensichtlich entglei‐ tet dem alten König zusammen mit dem Verlust seiner politischen Macht auch seine sexuelle Potenz. Demgegenüber erscheinen im apokryphen Buch Susanna zwei ältere Autoritäten, die mit sexueller Obsession gegenüber einer jungen und schönen Frau dargestellt werden. Insbesondere hier wird Alter und Sexualität geradezu als Perversion des Menschseins dargestellt. Erhellend ist in diesem Zusammenhang die Reaktion der alternden Sarah auf die Ankündigung der göttlichen Boten, dass sie noch ein Kind zur Welt bringen würde (Gen 18,11 f). Den Umstand, dass sie auf diese Nachricht mit Lachen reagiert, ließe sich sowohl mit Freude als auch mit Sarkasmus interpretieren. Sie selbst bezeichnet sich wörtlich als eine gebrauchte oder abgenutzte Person, die zu einem sexuellen Genuss nicht mehr fähig sei. Anschließend wird noch die Bemerkung nachgeschoben, dass ihr Mann ebenfalls alt sei. Die Stelle wird man kaum anders deuten können, als dass Alter und Sexualität für beide Geschlechter unvereinbare Gegensatzpaare darstellen. Die Gottesbeziehung des alternden Menschen Das hohe Lebensalter wird als eine Phase verstanden, in der die individu‐ elle Beziehung zu Gott gefährdet und brüchig geworden ist. Während in einzelnen Psalmen die Jugend als die Lebensphase verstanden wird, in der der Mensch sich einer besonderen Zuwendung Gottes erfreuen kann (vgl. etwa Ps 89,46, wo die Verkürzung der Jugend als eine drastische Strafe JHWHs gegenüber dem Frevler benannt wird), ist mit dem Alter das genaue Gegenteil assoziiert. Bezeichnend ist, dass hierbei zwischen Krankheit und Alter nicht unterschieden wird. Auch wenn die betreffenden Psalmen am Ende eine positive Wende nehmen, so kommt doch in ihnen das Alter als Krise der Beziehung zu Gott zum Ausdruck. Die Ältesten im Neuen Testament Der Begriff „Ältester“ (presbýteros) kann im Neuen Testament auf die gehobene soziale Abstammung der so bezeichneten Person hindeuten (meist in Bezug auf die Angehörigen der jüdischen Leitungsgremien; vgl. Joh 8,9), oder er bezeichnet die Leitenden und Verantwortlichen an der Spitze 102 3.1 Alter <?page no="103"?> der christlichen Gemeinden (vgl. R OHD E 1983: 356-359). Paulus verwendet den Begriff zur Bezeichnung der Vorsteher von Gemeinden nicht. Der Grund hierfür könnte sein, dass innerhalb der ersten Generation der zum Christentum Konvertierten der Begriff und die Institution „Älteste“ unge‐ eignet gewesen ist; zudem habe die Leitung der lokalen Gemeinschaften den Hausvorständen oblegen (vgl. B A R C LAY 2007: 239-241). In 1Tim 5,1 f wird der (fiktive) Adressat instruiert, wie seelsorgerisch mit Alten und Jungen beiderlei Geschlechts umzugehen ist. Bemerkenswert ist hier, dass der Verfasser die Bezeichnungen alt und jung als einziges Kriterium zur Bezeichnung der sozialen Gruppe in ihre Gesamtheit benutzt. Im folgenden Text werden die Witwen und ihre Versorgung thematisiert. Vers 9 erlaubt die Aufnahme der Witwe in das entsprechende Verzeichnis mit dem damit verbundenen Versorgungsanspruch erst ab dem Alter von 60 Jahren. Ver‐ witwete Frauen jüngeren Alters werden unter den Verdacht gestellt, sich auf eine unziemliche Weise schwelgerisch verhalten zu können. Nach diesem Schema unterscheidet 1Tim 5 zwischen Jungen und Alten, mit 60 Jahren gelten Frauen dann offensichtlich als hochbetagt. Impulse ■ Welche positiven und welche negativen Aspekte hat das Altern heute im Vergleich zu biblischen Perspektiven? ■ Welche Riten zum Übergang in eine neue Lebensphase wären heute zusätzlich zu den klassischen (Taufe, Konfirmation / Firmung, Trauung) sinnvoll? Literatur B A R C L A Y , John M. 2007: There is Neither Old Nor Young? Early Christianity and Ancient Ideologies of Age. New Testament Studies 53, Issue 2. Published online by Cambridge Univ. Press: https: / / www.cambridge.org/ core/ journals/ new-testa ment-studies/ (Zugriffsdatum: 8. 5. 2021), pp. 225-241. K U N Z -L ÜB C K E , Andreas 2012: Erwachsenwerden - Entwicklung oder Vollendung. Per‐ spektiven der Hebräischen Bibeln. In: Thorsten Fitzon, Sandra Linden, Kathrin Liess und Dorothee Elm von der Osten (Hg.): Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte. Berlin und Boston: De Gruyter, S. 103-130. 103 Impulse <?page no="104"?> K U N Z -L ÜB C K E , Andreas 2007: Das Kind in den antiken Kulturen des Mittelmeers. Israel - Ägypten - Griechenland. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. L I E S S , Kathrin 2009: „Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar“. Zur Alterstopik in der alttestamentlichen und apokryphen Weisheitsliteratur. In: Dorothee Elm von der Osten, Thorsten Fitzon, Kathrin Liess, Sandra Linden (Hg.): Alterstopoi: das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie. Berlin und New York: De Gruyter, S. 19-48. R O H D E , Joachim 1983: presbýteros, älter; Ältester. In: Horst Balz, Gerhard Schneider (Hg.): Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament III / 3, Stuttgart: Kohlham‐ mer, Sp. 356-359. 104 3.1 Alter <?page no="105"?> 3.2 Bildung und Erziehung Johannes Haeffner und Thomas Popp Viele biblische Texte, die sich mit Bildung und Erziehung befassen, muten aus heutiger, subjektorientierter Sicht befremdlich an. Zugleich enthalten diese fremden Textwelten Impulse, die auch heute beherzigenswert sind. Das im Neuen Testament belegte griechische Wort paideía inkludiert Erzie‐ hung und Bildung als die beiden Seiten pädagogisch-didaktischer Prozesse (E I S E L E 2013: 117-121). Weder der hebräisch-aramäische ↗ Tanach noch die deutsche Sprache haben einen derart umfassenden Begriff. Antike Bildung ist immer auch Erziehung. Während es im antiken griechischen Konzept der paideía um das Fortschreiten des Menschen auf seinem persönlichen Bildungsweg geht, an dessen Ende als Ziel die Vollkommenheit steht, fokus‐ sieren biblische Erziehungs- und Bildungsprogramme v. a. die gemeinsame Glaubensbildung als fortschreitenden Lernprozess. Alttestamentliche Begriffe Hier lassen sich insbesondere drei Begriffe für Erziehung unterscheiden: ■ Die hebräische Wurzel jsr (erziehen, ermahnen, bestrafen) bezeichnet das unter- und zurechtweisende Einwirken Erwachsener auf Heran‐ wachsende. Die Septuaginta ↗ LXX übersetzt intellektualisierend mit dem Substantiv paideía bzw. dem Verb paideúō. Bildung im Humboldt‐ schen Sinne der idealen Ausprägung von Individualität durch Begeg‐ nung mit Bildungsgütern kennt das Alte Testament allerdings nicht. ■ Die hebräische Wurzel lmd (lernen, lehren, sich gewöhnen) klassifiziert nicht die kritische Auseinandersetzung mit vorgegebenen traditionellen Inhalten, sondern die Gewöhnung an sie und damit die Eingewöhnung in das Volk Gottes. ■ Die hebräische Wurzel jrh (lehren, unterweisen) dominiert mit 220 Be‐ legen in der Substantivform tôrāh (Weisung). Das Verb ist dagegen nur 45mal belegt. Weisungsbefugt waren ursprünglich die Priester. <?page no="106"?> Das Deuteronomium als Lehrbuch Das Buch Deuteronomium bietet im Alten Testament das Programm reli‐ giösen Lehrens und Lernens. Die mit pädagogischem Vokabular gespickten Rahmenpartien (Dtn 1-11; 26,17-34,12) charakterisieren den Weisungsteil (Dtn 12,1-26,16) als Gegenstand eines intergenerativen Lehr- und Lernpro‐ zesses mit Mose als dem Lehrer Israels. Die ihm in den Mund gelegten Worte bilden das ausführlichste geistige Testament der Bibel (Dtn 1-30). Während der mit göttlicher Lehrbefugnis versehene Mose in Moab stirbt, nimmt Israel sein geschriebenes Vermächtnis mit über den Jordan ins verheißene Land - als Lehrbuch auch für nachfolgende Generationen (z. B. Dtn 6,6-7.20-25; 11,19; 31,9-13). Mose ist das Sprachrohr der göttlichen Pädagogik. Alle sollen sich daher seine Weisungen zu Herzen nehmen (z. B. Dtn 6,4 f; 10,12). Sie sollen nicht nur wiederholt, sondern im Gespräch der Eltern mit ihren Kindern aktualisiert und alltäglich konkretisiert werden (z. B. Dtn 6,7-9; 11,19). Familie als Ort der Erziehung im Sprüchebuch Der Prolog verknüpft Wohlerzogenheit bzw. Bildung mit Weisheit, Klug‐ heit, Gerechtigkeit, Recht und Geradheit (Spr 1,1-7). Die anschließende umfassende Lehrrede (Spr 1,8-9,18) beginnt programmatisch so (Spr 1,8): „Höre, mein Sohn, auf die Ermahnung deines Vaters, und verwirf nicht die Weisung deiner Mutter.“ Die Familie ist der ursprüngliche Ort der Erziehung (→ 3.4 Familie). Trotz des patriarchal geprägten antiken Kontextes kommen nicht nur Vater und Sohn in den Blick (z. B. Spr 3,12; 4,1; Sir 3,1.8.12), sondern auch die Erziehung des Sohnes durch die Mutter (z. B. Dtn 21,18 f; Spr 1,8; 6,20; 31,1.26; Sir 3,2). Die Erziehung der Tochter durch die Mutter (Hhld 8,2) bzw. die Eltern wird zwar nicht benannt, ist aber vorauszusetzen. Im antiken Kontext kommt dem Vater familiär absolute Autorität zu. Seiner Einweisung in die religiöse Tradition haben sich seine Kinder gehorsam zu fügen. Er gibt als verlängerter Arm Moses im Auftrag Gottes Weisungen weiter, die ein konkretes Verhalten verlangen. Ausweis gelungener Kindererziehung ist gehorsame Einfügung in die traditionelle Ordnung mit lebenspraktischer Umsetzung. Basis und Ziel geglückter Erziehung ist Gottesfurcht. 106 3.2 Bildung und Erziehung <?page no="107"?> Gott als Erzieher Der eigentliche Erzieher des Volkes wie auch des einzelnen Menschen ist Gott. Er selbst lehrt Israel durch Erfahrung und Prüfung. Sein kollektives Erziehungsmittel sind Erfahrungen der Geschichte. Das Deuteronomium legt dabei den Fokus darauf, wie Gott die Beziehung mit Israel als Bundes‐ volk zustande- und zurechtbrachte (z. B. Dtn 4,36; 8,5). Es soll sowohl aus seinem Weg durch die Wüste wie auch aus seiner Befreiung aus Ägypten lernen. Auch und gerade die Destruktion Jerusalems (597 und 587 v. Chr.) soll das erneut ungehorsam gewordene Gottesvolk konstruktiv als göttliche Erziehungsmaßnahme deuten. Versuche der Deutung leidvoller geschicht‐ licher Erfahrungen als pädagogischer Interventionen Gottes wurden im Alten Testament und jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit wiederholt unternommen, haben sich aber nicht als tragfähig erwiesen (↗ Hellenismus). Neutestamentliche Aspekte Alle neutestamentlichen Schriften lassen sich unter dem Aspekt von Er‐ ziehung und Bildung gewinnbringend lesen. Alle Briefe haben auch eine pädagogische, auf Glaubensbildung zielende Dimension. In den Evangelien erscheint Jesus als der von Gott gekommene, mit besonderer Vollmacht versehene Lehrer, der die Menschen durch Wort und Tat im Glauben an Gott bildet. Beispielhaft kommen Paulus und Johannes in den Blick. Bildung als „Einbildung“ Christi bei Paulus Für das Christentum als Bildungsreligion spielen Paulus und seine Schule eine herausragende Rolle (S ÖDIN G 2016: 179-203.260-262.277). Paulus ap‐ pelliert an die Gemeinde, sich an ihm als Vorbild nachahmend-lernend zu orientieren (1 Kor 4,17). Voraussetzung ist, dass der ↗ Apostel selbst durch den gekreuzigten Christus geprägt ist (1 Kor 4,10; vgl. 1,25.27; 2,3; 15,43; Phil 3,17). Das ist nicht nur vorbildethisch zu verstehen: Bildung bedeutet für den Apostel Verwandeltwerden in das Bild Christi (2 Kor 4,4-6). Dieser auf der Taufe gründende Bildungsprozess vollzieht sich durch den Gehorsam gegenüber der paulinischen Lehre und den Nachvollzug der maßgeblichen 107 Gott als Erzieher <?page no="108"?> Lebensführung des gebildeten Lehrers. Diese persönliche Vermittlung von Kenntnissen, Haltungen und Verhaltensweisen setzt konkretes Zusammen‐ leben voraus. Glaubenslernen geschieht am besten konvivial (→ 5.2 Konvi‐ venz und Kooperation). Dabei handelt es sich um einen fortschreitenden Lernprozess. Paulus verwendet dafür die in der griechischen Popularphilo‐ sophie gängigen Bilder von der Milch der Säuglinge für Glaubensneulinge und von der festen Speise der Erwachsenen für die Fortgeschrittenen (1Kor 3,2; vgl. Hebr 5,12 f). Die paulinische Kommunikation zielt auf diesen Rei‐ fungsprozess. Der Apostel möchte als geistlicher Vater mündigen Glauben fördern. Verstehen seine Kinder die durch das Evangelium gewonnene Freiheit und Mündigkeit allerdings nicht in seinem Sinn, verweist er - mit ironischen Untertönen - auf seine Vorbildrolle (1Kor 4,14-21). Dass diese von vielen anerkannt wurde, belegt die Weitergabe seiner Briefe und deren Fortschreibung in weiten Teilen der neutestamentlichen Briefliteratur: Seine Briefe haben Schule gemacht. Bildung durch den menschgewordenen Gott bei Johannes Das Johannesevangelium nimmt die anschauliche Christologie der synop‐ tischen Evangelien auf und spitzt sie zu. Es ist mit seinem tiefgreifenden Klartext in Bildern auch aus Bildungsperspektive ein „Spitzentext“ (S ÖDIN G 2016: 134-178.248 f). In der Lebensbrotrede ( Joh 6,22-59) wird durch die Zitierung von Jes 54,13 ↗ LXX programmatisch das Ziel der bildreichen Glaubenslehre benannt: „Und alle werden von Gott gelehrt sein“ ( Joh 6,45; vgl. 1 Kor 2,13). Bildung geschieht durch Gott, und zwar durch Jesus in der Kraft des Geistes (z. B. Joh 3,5.8.34; 6,63; 7,39). Das löst bei den Lehrern Israels Staunen aus. So muss Nikodemus sein bisheriges Wissen durch Jesus wesentlich erweitern lassen. Er wird nahezu schocktherapeutisch entbildet, um durch das himmlische Wissen des göttlichen Lehrers Jesus neu gebildet zu werden ( Joh 3,1-21; 7,50-52; 19,38-42). Obwohl Jesus kein ausgebildeter Schriftgelehrter ist, verfügt er über eine einzigartige Lehrautorität ( Joh 7,15; vgl. Apg 4,13). Er verdankt sie seinem himmlischen Vater ( Joh 6,44 f; 7,14-18; 8,28). Mit ihm ist er als menschgewordenes göttliches Wort (griech. lógos) eins ( Joh 1,1-18; 10,30). Die Aufnahme des griechisch-hellenistischen Logosgedankens zeigt exemplarisch, dass Johannes - wie vor ihm Paulus und Lukas - die philosophisch-religiösen Bildungstraditionen seiner Zeit bewusst rezipierte und so die Aufnahme des neuen Glaubens auf attraktive 108 3.2 Bildung und Erziehung <?page no="109"?> Weise stimulierte (S CHN E LL E 2015: 135-142 ↗ Hellenismus). Die Einwohnung bzw. „Einbildung“ des Gottessohnes erfolgt durch wiederholtes Lesen seiner geistesgegenwärtigen Geschichte und den Transfer in die eigene Lebens‐ wirklichkeit. Impulse ■ Bildung zwischen Rezeptivität und Aktivität □ Lässt sich aus Ihrer Sicht die biblische Vorstellung der Bildung des Menschen durch Gott (Rezeptivität) mit dem neuzeitlichen Verständnis der Selbstbildung (Aktivität) vereinbaren? Wenn ja: Wie verhalten sich Rezeptivität und Aktivität zueinander? □ Wo liegen für Sie Unterschiede zwischen Selbstbildung und Selbst‐ optimierung? Lassen sich diese Unterschiede mit den biblischen Bildungs- und Erziehungsimpulsen in Verbindung bringen? □ Bildung bezeichnet die Entwicklung eines Menschen hinsichtlich seiner Persönlichkeit zu einem „Menschsein“, das weitgehend den geistigen, sozialen und kulturellen Merkmalen entspricht, die je‐ weils in der Gesellschaft als Ideal des voll entwickelten Menschen gelten können. Vergleichen Sie diese Vorstellung mit dem paulini‐ schen Konzept von Bildung als „Einbildung“ Christi! Können Sie Anschlussfähigkeiten entdecken? ■ Erziehung in biblischer und heutiger Zeit □ Die Familie wird in der Bibel als ein zentraler Ort der Erziehung ausgewiesen. Welchen Stellenwert hat diesbezüglich die Familie heute? □ Vergleichen Sie das biblische und heutige Erziehungsverständnis. Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede? Literatur E G O , Beate & M E R K E L , Helmut (Hg.) 2005: Religiöses Lernen in der biblischen, frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung. Tübingen: Mohr Siebeck. E I S E L E , Wilfried 2013: Erziehung. In: Michael Fieger, Jutta Krispenz, Jörg Lanckau (Hg.): Wörterbuch alttestamentlicher Motive. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 117-121. 109 Impulse <?page no="110"?> S C H N E L L E , Udo (2015): Das frühe Christentum und die Bildung. New Testament Studies 61, S. 113-143. S ÖD I N G , Thomas 2016: Das Christentum als Bildungsreligion. Der Impuls des Neuen Testaments. Freiburg i. Br.: Herder. 110 3.2 Bildung und Erziehung <?page no="111"?> 3.3 Krankheit und Heilung Manfred Oeming In der biblischen Literatur sind Heilung und Gesundheit für die Erfahrung des Wirkens Gottes am Menschen zentral, ebenso aber auch der Umgang mit Krankheit und Leid. Der Glaube ringt mit dem Problem: Gott will und verheißt langes bzw. ewiges Leben, Gesundheit und Heil. Dennoch gehören vorzeitiger Tod, Leiden und schwere Krankheiten zur Erfahrung auch, ja gerade der Glaubenden. Wie geht das zusammen? Ursachen von Krankheit und Leiden Über die konkreten Ursachen von Krankheiten und Leiden sowie über die Möglichkeiten der Heilung gehen die Anschauungen in den verschiedenen Teilen der Bibel weit auseinander. ■ Tun-Ergehen-Zusammenhang: Dies ist das wichtigste Deutungs‐ muster: Nach dieser erfahrungsgesättigten Sicht sind Krankheiten lo‐ gische Konsequenz und auch von Gott verhängte Strafe für eigenes falsches Verhalten. Wer schwere Sünden begeht (moralische oder kultische Verfehlungen), oder wessen Vorfahren sich entsprechend verfehlt haben (vgl. Joh 9,2), der wird mit innerer Notwendigkeit die Früchte des Bösen ernten, das er selbst gesät hat. Insofern die Tat zum Täter zurückkehrt, ist jeder Mensch seines Schicksals Schmied, auch in gesundheitlicher Hinsicht. Unvernunft und Sünden bewirken eine Verschmutzung des menschlichen Organismus und des Herzens. Ein gesunder Körper und ein ruhiges Gewissen galten als Beweis für eine reine moralische Gesinnung eines Menschen, Krankheit dagegen als Folge von Dummheit und Unglauben. ■ Geister und Dämonen: Vor allem im Neuen Testament ist auch die fast gegenteilige Deutung verbreitet: Krankheit geht auf das Tun böser Geister und Dämonen zurück (z. B. Satan bzw. Beelzebub im Neuen Testament bzw. Asmodäus in Tobit 3,8). Der Mensch ist von Feinden umgeben, die versuchen, Macht über ihn zu erlangen (1 Petr 5,8). Diese fahren von außen in ihn hinein und übernehmen die Herrschaft über <?page no="112"?> ihn (Tobit 3,17; Lk 22,3), wobei das „Opfer“ die Kontrolle über sich selbst verliert (z. B. bei Lähmungen, Taubstummheit, Epilepsie, permanenter Fluss von Menstruationsblut bei der Frau oder unwillkürlichen nächt‐ liche Samenergüsse beim Mann ↗ Opfer). Dass dies alles den Feinden gelingen kann, resultiert im Grunde nur aus einer Ursache, nämlich aus einer Störung der Gottesbeziehung. Oder anders gesagt: Krankheit entsteht da, wo Gott sich zurückzieht. Wenn Gott seinen Schutzschild aus Segen und gnädiger Zuwendung zurückzieht, nur dann wird eine Bresche frei, durch welche die andauernd lauernden Feinde eindringen können. Neben und gegen diese beiden Hauptansichten (eigenes Verschulden oder Gewalt von außen), gibt es weitere, weit seltener belegte Deutungen von Krankheiten und Leiden: ■ Souveränität Gottes: Krankheit soll die abgründige Souveränität Got‐ tes offenbaren, das zu tun, was Er (↗ JHWH) für richtig hält, ohne dass Menschen dies verstehen können und nach dem Kriterium der Entsprechung von Tun und Ergehen als gerecht akzeptieren müssen (z. B. Hi 1,21). Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern führt zur Erkenntnis der unendlichen Überlegenheit Gottes, d. h. letztlich zur Verherrlichung der Macht Gottes. ■ Skandal: Krankheit kann als ein Skandal gedeutet werden, gegen den man bei Gott laut Klage führen kann (z. B. Ps 22,2 ff). Gott bzw. Christus scheint zu schlafen. „Kümmert es dich nicht, dass wir untergehen? “ (Mk 4,38) Das legitimiert den Menschen sogar zur bitteren Anklage, ja Rebellion gegen Gott. ■ Göttliche Erziehung: Krankheit kann der göttlichen Erziehung die‐ nen. Durch das Leiden kann der Kranke selbst und auch seine Umwelt reifen (Hi 5,17); in dieser Perspektive kann eine Krankheit zur direkten Anrede Gottes werden (Hi 33,14 ff). ■ Göttliche Prüfung: Krankheit kann dazu dienen, einen Menschen einer Prüfung zu unterziehen (Hi 1 f; Tobit); Gott erforscht, ob sich das Herz eines Menschen im Leiden bewährt, wenn es auf den Prüfstand gestellt wird (Sir 21,18; 1 Kor 10,13). ■ Sühnopfer: Krankheit kann eine heilvolle Funktion haben. Der Gottes‐ knecht litt nicht als Strafe für eigene Sünden, er gab seine Gesundheit, ja sein Leben vielmehr freiwillig als ein stellvertretendes „Sühnopfer“ für andere dahin ( Jes 53,10), damit diese leben können ( Joh 15,13). Diese 112 3.3 Krankheit und Heilung <?page no="113"?> Leidenstheologie findet sich auch in den Hymnen aus ↗ Qumran, wo den Leiden des „Lehrers der Gerechtigkeit“ sowie dem Erwählungslei‐ den der Gemeinschaft eine sühnende Wirkung für ganz Israel zukommt. Möglichkeiten der Heilung Aus diesen Formen des Verständnisses von Krankheit resultieren entspre‐ chende unterschiedliche Konzepte von Heilung. ■ Buße, Umkehr, gute Werke: Die Behandlung einer Krankheit erfor‐ dert intensive Selbstbeobachtung, kritische Reflexion und Änderung des Lebensstiles. Durch Buße, Umkehr und gute Werke kehrt die Gesundheit wieder. Der Umkehrruf ist ein zentrales Anliegen der deuteronomistischen Theologen, welche die Geschichte des Volkes Israel durchleuchten, und die auch die Prophetenbücher entsprechend überarbeitet haben, aber auch in der Theologie der Freunde Hiobs, Johannes des Täufers und Jesu: das Gottesverhältnis muss wieder in Ordnung kommen, auch durch Reinigungs- und Sühneriten, Fürbitten und Taufe. ■ Exorzismus: Wenn die Erkrankung auf Besessenheit durch Dämonen zurückgeführt wird, dann bringt ein Exorzismus die Heilung. Paradig‐ matisch sind die Heilungswunder Jesu, wobei die Dämonenaustreibun‐ gen dreistufig beschrieben sind: 1. eine Person ist von einer fremden gewaltigen Macht, einem bösen Geist besessen (Not); 2. die Heilung geschieht dadurch, dass diese lebensfeindlichen Kräfte durch das Ein‐ greifen Jesu bzw. Gottes herausgetrieben werden (Erlösung); 3. es folgt ein Chorschluss, der das Wunder feststellt und eine Verhaltensänderung berichtet (Dankbarkeit), so z. B. Mk 7,24-29; Mt 17,14-20; Lk 4,33-37. ■ Aushalten: Innere Heilung erfährt, wer die Unergründlichkeit Gottes aushalten und auch im Dunkeln Stunden daran glauben kann, dass Gott am Werk ist und dass letztlich alles ein gutes Ende nehmen wird: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? “ (Hi 2,10). ■ Lob, Klage und Anklage im Gebet: Der Beter frisst den skandalösen Schmerz nicht in sich hinein und nimmt die auferlegten Lasten nicht etwa schweigend hin, sondern er wendet sich im Gebet an die Gottheit ( Jesus in Gethsemane). Durch Lob oder eben auch oft durch laute Klage 113 Möglichkeiten der Heilung <?page no="114"?> und rebellische Anklage versucht er, seinen persönlichen Schutz-Gott dazu zu bewegen, dass er sich ihm wieder zuwendet (paradigmatisch Ps 22). ■ Geduld und Demut: Leiden erzieht zu Geduld und Demut ( Jak 5,10 f), welche die Kraft gibt, die Züchtigung zu ertragen. „Denn er verwundet, und er verbindet, er schlägt, doch seine Hände heilen auch." (Hi 5,16) ■ Glaube als Bewährung: Der Christusglaube weiß, dass im Kreuzestod Jesu das Leben eröffnet ist: „Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? “ (Röm 8,32). Jenseits aller Ursachena‐ nalysen steht die Botschaft: Der Glaube bewährt sich gerade im Umgang mit lebenzerstörenden Krankheiten und todbringendem Unheil: „Dein Glaube hat dich geheilt“ (Mk 10,52). Impulse ■ Welche sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi‐ schen den Sichtweisen auf Krankheiten und Möglichkeiten der Heilung in antiker und in heutiger Zeit? ■ Welche der genannten Deutungsmöglichkeiten von Krankheit und Heilung sind a) unter den Bedingungen der modernen Schulmedizin, b) unter den Bedingungen alternativer Behandlungsmöglichkeiten sowie c) sinnvoller Kombinationen beider heute noch sinnvoll aussagbar? ■ Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beachtung der historischen Unterschiede zwischen den in den biblischen Texten vorausgesetzten Verhältnissen und der aktuellen Situation für soziales bzw. diakonisches Handeln? Literatur G E R S T E N B E R G E R , Erhard S. & S C H R A G E , Wolfgang 1977: Leiden. Biblische Konfronta‐ tionen. Stuttgart u. a.: Kohlhammer. J A N O W S K I , Bernd 2019: Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen - Kontexte - Themenfelder. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 177-182. O E M I N G , Manfred 2003: „Mein Herz ist durchbohrt in meinem Inneren“ (Ps 109,22) - Krankheit und Leid in alttestamentlicher Sicht. In: Ders.: Verstehen und Glauben. 114 3.3 Krankheit und Heilung <?page no="115"?> Exegetische Bausteine zu einer Theologie des Alten Testaments. Berlin u. a.: Philo, S. 243-259. O E M I N G , Manfred 2011: Die Mikroorganismen und die Kirche - Krankheit und Heilung bei Robert Koch, in der Stammzellenforschung und in der Bibel. In: Karlheinz Sonntag (Hg.): Viren und andere Mikroben: Heil oder Plage? Zum 100. Todestag von Robert Koch. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 145-173. O T T O , Eckart 2005: Magie - Dämonen - göttliche Kräfte. Krankheit und Heilung im Alten Orient und im Alten Testament. In: Werner H. Ritter, Bernhard Wolf (Hg.): Heilung - Energie - Geist. Heilung zwischen Wissenschaft, Religion und Geschäft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 208-225. 115 Literatur <?page no="116"?> 3.4 Familie Kerstin Söderblom und Thomas Popp Die Bibel ist voll von Familiengeschichten. Es findet sich aber in ihr keine Theologie der Familie, und die heutige auf die Kernfamilie konzentrierte Vorstellung von Familie ist ihr eher fremd (D OM S G E N 2006: 263). Gerade diese Fremdheit eröffnet Perspektiven, die für das Verständnis und die Gestaltung gegenwärtiger familiärer Formen des Zusammenlebens hilfreich sind (P O P P 2019: 9-11). Biblische Begriffe Die Bibel verwendet bei ihrer Rede von Familie v. a. den Begriff Haus (hebr. bajit; griech. oíkos bzw. oikía) und meint damit die Bewohner*in‐ nen eines Hauses im Sinne einer Wirtschaftsgemeinschaft, die mehrere Generationen umfassen konnte: Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel, weitere Verwandte, Sklav*innen. Dabei herrschte das Prinzip der (Chancen-)Un‐ gleichheit (F E ICHTIN G E R 2008: 1-20). Die Hausgemeinschaft unterstand der Führung des Hausvaters (lat. pater familias). Die sozialen Beziehungen, die sich in diesem Rahmen realisierten, bildeten Verhältnisse sowohl der Abhängigkeit als auch der solidarischen Fürsorge: Eltern - Kinder, Mann - Frau, Herr - Knecht. Familienvorstellungen im Alten Testament ■ Allzumenschliches: Bereits die erste Menschheitsfamilie weist Brü‐ che auf (D YMA 2018: 31 → 5.3 Konkurrenz und Macht). Adam und Eva verlieren durch ihr Misstrauen gegenüber Gott ihre paradiesische Heimat (Gen 1-3). Dieses Schicksal setzt sich bei ihren Söhnen fort: Kain erschlägt seinen Bruder Abel und wird rast- und heimatlos sein (Gen 4). Die Sintflut überlebt nur die Familie Noahs (Gen 6-9). Die Erzelternerzählungen zeigen ebenfalls keine heile Welt: „Angst vor Kinderlosigkeit, Neid und Missgunst, Konflikte bis hin zur Gewalt, <?page no="117"?> Migration, sexuelle Ausbeutung, Angst und Vorurteile dem Fremden gegenüber - alles ist bereits da“ (D YMA 2018: 31). Erfreulicherweise werden auch ergreifende Erfahrungen von Versöhnung erzählt (z. B. Gen 33,1-16). ■ Großfamilienverbände: In den ↗ Erzelternerzählungen spiegeln sich mehrgenerationale Großfamilienverbände (Gen 12-50). Die Väter hat‐ ten mehrere Frauen (Polygynie), einschließlich deren Sklavinnen (z. B. Gen 35,22-27). Frauen konnten nur im Rahmen dieser patriarchalen Machtstruktur ihre Interessen wahrnehmen (z. B. Gen 27,1-29). Töchter werden seltener namentlich erwähnt als Söhne, Ausnahmen bestätigen die Regel (vgl. Gen 38). ■ Schutz der Familie: Der Dekalog legt großen Wert auf den Schutz der Familie. Das zeigen die drei Gebote von der Ehrung der Eltern, der Untersagung des Ehebruchs sowie des Entzugs der wirtschaftlichen Grundlage der Familie (Ex 20,12.14.17; vgl. Ex 21,15.17; Lev 20,10). Eheschließungen waren in antiker Zeit Wirtschaftsverträge, in denen Rechte und Pflichten genau festgehalten wurden. ■ Sicherung des Fortbestandes: Von Anfang an ist die Familie auf Nachkommen angelegt (Gen 1,28 → 3.8 Sexualität). Auf dieser Linie liegt auch das Gebot der sog. Leviratsehe (Schwagerehe): Eine kinderlos gebliebene Witwe sollte von einem Bruder des verstorbenen Ehemanns geheiratet werden, um der Familie Nachkommen zu sichern (Dtn 25,5-10). So lebte die verwitwete Moabiterin Rut mit ihrer ebenfalls verwitweten israelitischen Schwiegermutter Naomi zusammen und schwor ihr die Treue (Rut 1,16 f). Nach einigem Hin und Her heiratete sie Naomis Schwager Boas. Auch Naomi blieb im Familienverband wohnen. Rut und Boas hatten einen gemeinsamen Sohn Obed, welcher in der Mehrgenerationen-Patchworkfamilie aufwuchs. Er wurde zum Großvater von König David und damit zum Urahn Josefs aus Betlehem (Mt 1,1-17). David und sein Sohn Salomo hatten als Könige jeweils zahlreiche Frauen und Sklavinnen, mit denen sie Kinder hatten. Diese Frauen dienten als Zeichen männlicher Macht, Einfluss und Stärke. Die männlichen Nachkommen sollten Ansehen, Besitz und Land über die Generationen hinweg sichern und erhalten. ■ Weitergabe des Glaubens: Familiäres Zusammenleben eignet sich in besonderer Weise, um lebensnotwendige Gotteserfahrungen und -weisungen an die nächste Generation weiterzugeben und so die Glau‐ bensidentität zu wahren (z. B. Ex 12,26 f; 20,1-17). Gott hält an den 117 Familienvorstellungen im Alten Testament <?page no="118"?> Menschen fest und verwirklicht selbst in ihren Bruchgeschichten seine Verheißungen. Gleichnishaft bleibt er mit ihnen verbunden wie ein Vater (z. B. Ps 103,13) bzw. eine Mutter (z. B. Jes 66,13). Familienvorstellungen in den Evangelien ■ Gott als Vater: Jesus brachte seine Gottesbeziehung mit „Vater“ auf den Begriff (z. B. Mk 14,36; Mt 6,9). Dass diese Relation für ihn auschlag‐ gebend war, zeigt die Relativierung der Bedeutung seiner leiblichen Familie von Beginn an: Nicht Josef, sondern Gott ist auf geheimnisvolle Weise der Vater, der sich für die Geburt seines Sohnes Maria auserwählt hat (Mt 1-2; Lk 1-2). Zugleich steht Jesus in einer Familiengeschichte, die bis auf Abraham bzw. Adam zurückgeht (Mt 1,1-17; Lk 3,23-38). Er ist nicht auf die Kleinfamilie fixiert, seine Heilsbedeutung umfasst vielmehr ganz Israel bzw. die ganze Welt. ■ Schmerzhafte Erfahrungen: Wir erfahren hingegen wenig über Jesus und seine leibliche Familie (D YMA 2018: 33). Alle drei Einspielungen der Familie Jesu im ältesten Evangelium haben abgrenzenden Charakter (Mk 3,20 f; 3,31-35; 6,1-6). Jesus wuchs in Nazaret mit seinen Eltern und Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen und unsicheren Zeiten auf (6,3). Nach dem Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit hielten seine leiblichen Verwandten ihn für verrückt, und Jesus distanzierte sich von seiner Familie (3,21.33 f). Auch Lukas lässt mit der Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel schmerzhafte familiäre Erfahrungen durchblicken (Lk 2,41-52; vgl. 8,19-21). ■ Konstituierung einer neuen Familie Jesu: Nicht die leiblichen Fa‐ milienbande, sondern die glaubende Verbindung mit dem himmlischen Vater konstituiert die eigentliche Familie Jesu. Kennzeichen dieser Familie Gottes ist das Tun des göttlichen Willens (Mk 3,31-35). Es kommt durch das Doppelgebot der Liebe konzentriert zum Ausdruck (Mk 12,28-34). Jesu weit gefasste familiäre Beziehungen entstanden, weil er sich liebend anderen zuwandte und sie an Leib und Seele heilte. Durch diese neue Sicht weitete und wandelte Jesus die bestehenden Hausbeziehungen vorbildlich (L E NZ 2001: 140). Sie führte im frühen Christentum zur hohen Wertschätzung der Gemeinde. Die sich im Haus versammelnde Gemeinde wurde zu einer Art Ersatz für die natürliche Familie (Mk 10,29 f). Diese Art von gemeindlichen Familien 118 3.4 Familie <?page no="119"?> entwickelte sich, indem Menschen miteinander an Gott glaubten, sich aufeinander zubewegten, sich gegenseitig respektierten, füreinander und für andere sorgten. Die Familienmetaphorik wird also dezidiert auf die Gemeinschaft Jesu bezogen (↗ Metapher). Entsprechend fügt das Johannesevangelium Maria, die Mutter Jesu, in eine neue geistliche Familie ein. Der Gekreuzigte verbindet sie kurz vor seinem Tod mit dem idealen Jünger, den Jesus liebte ( Joh 19,25-27). Die johanneischen Christ*innen verstehen sich als Braut Christi sowie als Gemeinschaft der Kinder Gottes und Freund*innen Jesu (S CHO LTI S S E K 2020: 205-229). ■ Zumutung und Rücksicht: Jesus mutete seinem engsten Jünger*in‐ nen-Kreis zu, ebenso wie er die häusliche Sicherheit zu verlassen und sich in seiner Nachfolge auf eine unsichere Zukunft einzulassen (z. B. Mk 1,14-20; 2,13-17; 3,13-19; 6,13-19). Diese Lebensform erklärte er nicht zu einer für alle verbindlichen Norm. Er konnte auch ausdrücklich dazu aufrufen, nach erfahrener Heilung wieder in den eigenen Familien‐ verbund zurückzukehren (z. B. Mk 1,40-45; 2,1-12; 5,1-20.21-34). Jesus nahm also auch Rücksicht auf familiäre Beziehungen, förderte also ge‐ schwisterliche Solidargemeinschaft in unterschiedlichen Lebensformen (→ 5.2 Konvivenz und Kooperation). Das verdeutlichen beispielhaft seine Ausführungen zur ehelichen Treue, auf die bereits der - wie Jesus ehelos gebliebene - Völkerapostel Paulus Bezug nahm (Mk 10,1-12; vgl. 1 Kor 7). Familienvorstellungen in der Briefliteratur ■ Paulinische Perspektive: Paulus sprach sich in seinen Gemeindebrie‐ fen für Gemeinschaftssinn, Rücksichtnahme und Geschwisterlichkeit aus. Privateigentum und Familienglück waren nicht das Ziel seiner Kommunikation des Evangeliums, sondern durch diakonische Liebe tätiger Glaube (vgl. Gal 5,6). Durch die Taufe wurden die antiken Fundamentalunterscheidungen jüdisch - griechisch, unfrei - frei und männlich - weiblich aufgehoben (Gal 3,28): „Denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Die konsequente Ausrichtung auf die baldige Wiederkehr Christi (Parusie) war Paulus wichtiger als das häusliche Einrichten in dieser Welt. Die Getauften werden im Herrenmahl an die Parusie erinnert und in ihrem diakonischen Handeln im Kraftfeld der 119 Familienvorstellungen in der Briefliteratur <?page no="120"?> göttlichen Liebe gestärkt (1 Kor 11-13 → 7.7 Taufe, Herrenmahl und Diakonie). ■ Nachpaulinische Perspektiven: Nicht zuletzt durch das Ausbleiben der baldigen Wiederkunft Jesu gewannen traditionelle patriarchale Fa‐ milienvorstellungen wieder an Bedeutung. Texte wie die sog. Haustafeln fordern zu einem geordneten familiären Zusammenleben in der damals gültigen Form auf (Kol 3,18-4,1; Eph 5,22-6,9; 1 Petr 2,13-3,7). Sie legen den Akzent auf die Stabilisierung familiärer Beziehungen. Hierarchie wird akzeptiert, aber nicht theologisch sanktioniert. Insbesondere der 1. Petrusbrief animiert zu einem neuen Modell des Zusammenlebens im Horizont des nahenden Reiches Gottes (vgl. 1 Petr 2,12-3,12; 4,7-11). Die Gemeinde soll als Geschwisterschaft (2,17; vgl. 5,9) vom Geist des Mitleidens, der Liebe, der Barmherzigkeit und Demut bestimmt sein (3,8 → 6.3 Demut) und auch die Außenbeziehungen segensreich gestalten (3,9-12). In den Pastoralbriefen kommt die Familie als Ort der Weitergabe des Glaubens in Blick (2Tim 1,5). Die Untadeligkeit des Familienvaters gilt als Kriterium der Befähigung zur Gemeindeleitung (1Tim 3,4 f; Tit 1,6). Impulse ■ Welche Aspekte der biblischen Familienvorstellungen sind aufgrund ihrer patriarchal geprägten Zeitgebundenheit nicht mehr für heute relevant? ■ Inwiefern eröffnen bestimmte biblische Familienverständnisse Perspek‐ tiven, die für die heutige Gestaltung von Familienkonstellationen und anderen Formen des Zusammenlebens anregend sind? ■ Welche Familienvorstellungen begegnen Ihnen in der Geschichte der organisierten Diakonie? Reflektieren Sie diese vor dem Hintergrund der Ausführungen des vorliegenden Artikels. Literatur D O M S G E N , Michael 2 2006: Familie und Religion. Grundlagen einer religionspädagogi‐ schen Theorie der Familie. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. 120 3.4 Familie <?page no="121"?> D Y M A , Oliver 2018: Die Herkunft bestimmt die Identität. In: Andere Zeiten e. V. (Hg.): Anders handeln. Ausgabe 2: Themenheft Familie, S. 30-33. F E I C H T I N G E R , Barbara 2 2008: Individuum / Familie / Gesellschaft. Antike. In: Peter Din‐ zelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldar‐ stellungen. Stuttgart: Alfred Kröner, S. 1-20. L E N Z , Paul Ulrich 2001: Kirche als familia dei. In: Brennpunkt Gemeinde 54, S. 139-143. P O P P , Thomas 2 2019: Familie. I. biblisch. Heinzpeter Hempelmann, Uwe Swarat, Roland Gebauer, Wolfgang Heinrichs, Christoph Raedel, Peter Zimmerling (Hg.): Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde. Holzgerlingen: SCM R. Brockhaus, Sp. 9-11. S C H O L T I S S E K , Klaus 2020: Kinder Gottes und Freunde Jesu. Beobachtungen zur johannei‐ schen Ekklesiologie. In: Ders.: Textwelt und Theologie des Johannesevangeliums. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 452. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 205-229. 121 Literatur <?page no="122"?> 3.5 Kindheit und Jugend Bernhard Mutschler Ein Kind ist „jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwen‐ denden Recht nicht früher eintritt“ (UN-Kinderrechtskonvention über die Rechte des Kindes 1990). Die Phase der Jugend beginnt nach verschiedenen Festlegungen zwischen dem erreichten 12. und 14. und endet zwischen dem erreichten 18. und 25. Lebensjahr. In den vergangenen fünfzehn Jahren wurden zahlreiche pädagogische Studiengänge zur Kindheit (0-10 oder 12 Jahre) neu eingerichtet. Vergleichbare Studiengänge für den Lebensab‐ schnitt Jugend gibt es nicht, jedoch eine Fokussierung in schul- und gemein‐ depädagogischen Studiengängen. Biblische Begriffe Im Hebräischen und Griechischen kommt der Begriff für „Kind“ von „gebä‐ ren“. Im Neuen Testament kommt hyiós (Sohn) mit ca. 380 Belegen viel häufiger vor als thygáter (Tochter) mit 28 Belegen. Im Alten Testament liegt die androzentrische Bevorzugung bei etwa 10: 1. Eine Jugendphase im heutigen Sinn ist biblischen Schriften fremd. Soziale Dimensionen Kindsein ist soziokulturell bestimmt. Im Alten und Neuen Testament werden Kinder wertgeschätzt als schützenswertes, hohes Gut (Ps 127,4 f). Daher galt Kinderlosigkeit, einseitig Frauen zugewiesen, als Schande. Ihr wurde mit Therapie, Leihmutterschaft plus Adoption, Polygynie oder Schwagerehe begegnet (Leviratsehe Dtn 25,5-10 → 3.4 Familie). Unter Wehen geboren, wurden Säuglinge drei Jahre gestillt. Kleinkinder wurden auf der Hüfte ge‐ tragen und auf Knien liebkost. Sie lernten „Vater“ und „Mutter“ sagen, aßen Butter und Honig und entwickelten moralisches Urteilsvermögen. Kinder arbeiteten sehr früh mit: Holz sammeln, Tiere hüten, Wasser schöpfen. Hohe <?page no="123"?> Kindersterblichkeit (50 %), Hunger, Kriege, Frondienst, Verpfändung, Ver‐ kauf, Verschleppung, Diebstahl oder Missbrauch als Kindersoldaten stellten Gefährdungen dar. Kindesaussetzung, -tötung oder -opfer (S TAU B LI / S CH R O E R 2014: 76) sind im jüdischen und christlichen Kontext nicht erwähnt. Wai‐ senkinder galten als besonders gefährdet. Herausforderungen und Chancen im Leben richteten sich nach den Möglichkeiten der Eltern, nach dem Ge‐ schlecht (Söhne angesehener als Töchter, Lev 27,3-7) oder nach der Position innerhalb der Großfamilie: als Sklave bzw. Knecht oder Sohn bzw. Erbe, Ismael oder Isaak (Halbgeschwister), Esau oder Jakob (Erstgeburtsrecht und -segen), Josef oder seine Brüder (Bevorzugung und Neid). An die Phase der Kindheit schloss sich das Erwachsenenalter an: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war“ (1 Kor 13,11). Kindsein wird hier „als vorläufige und defiziente Form des Menschseins“ verstanden (M UT S CHL E R 2013: 109). Mädchen wurden aus Angst um ihre Jungfräulichkeit gerne mit zwölf Jahren verheiratet. Jungen wurden durch sehr frühe Mitarbeit in die Erwachsenenwelt hin‐ eingenommen. Altersversorgung der Eltern und ihr Begräbnis galten als Sohnespflichten (→ 3.1 Alter). Religiöse Dimensionen Kinder sind Verheißung (Gen 12,1-3 u. ö.), Segen und Gabe: „Siehe, Kinder sind eine Gabe des Herrn, und Leibesfrucht ist ein Geschenk“ (Ps 127,3). Umgekehrt galt Kinderlosigkeit als Unglück und Strafe. Unfruchtbarkeit war Anlass für Bittgebete und wurde vielfach von Gott überwunden. Kinder zunächst unfruchtbarer Mütter sind Isaak, Esau, Jakob, Josef, Simson, Samuel und Johannes der Täufer. Unfruchtbarkeit wird positiv bewertet in Weish 3,13 f; 4,1-6. Kinder werden im Mutterleib von Gott geformt. Männliche Erstgeborene wurden vor Gott durch ein Tieropfer ausgelöst (Ex 13,11-16). Eine Art Kinderweihe bilden im Judentum (später auch im Islam) die Beschneidung von Jungen am achten Tag und im Christentum die Taufe. Damit treten Kinder in den Bund mit Gott ein als Erben der Verheißung. Im Judentum werden Jungen nach ihrem 13. Geburtstag erstmals zur öffentlichen Lesung der ↗ Tora aufgerufen. Dies wird als Bar-Mizwa („Sohn des Gebots“) gefeiert und markiert den Übergang ins Erwachsenenalter (rite de passage). In 123 Religiöse Dimensionen <?page no="124"?> liberalen oder progressiven Gemeinden feiern zwölfjährige Mädchen ihre Bat-Mizwa („Tochter des Gebots“). Damit wird ein Kind religiös mündig und rituell erwachsen (vgl. Konfirmation). In Österreich und Deutschland tritt dies mit Vollendung des 14., in der Schweiz des 16. Lebensjahres ein. Pädagogische Dimensionen Bildung und Erziehung von Kindern erfolgten hauptsächlich innerhalb der Familie durch Mitleben und Nachahmen im Alltag (z. B. Jer 7,18). Jesus Sirach rät (7,23): „Hast du Kinder? Erzieh sie streng, und beuge ihren Nacken von Jugend auf.“ Gegenüber dem Rat zur körperlichen Bestrafung (Spr 13,24) gilt heute ein „Niemals Gewalt“ (M UT S CHL E R 2013: 105-107). In der religiösen Erziehung sollten Eltern auf Kinderfragen sensibel und religiös sprachfähig antworten, „wenn dich morgen dein Sohn fragen wird“ (Ex 13,14-16; Dtn 6,20-25). Hauptinhalte der familiären Religionspädagogik waren heilsge‐ schichtliche und normative Traditionen der Tora von identitätsbildender, kultischer oder ethischer Relevanz (Dtn 6,1 f). Mahnungen zum Gehorsam gegenüber Eltern finden sich erst spät im Neuen Testament. Unterricht in den Gemeinden wurde von Leviten, später auch ↗ Pharisäern und Rabbinen gestaltet. Drei jährliche Wallfahrtsfeste am Jerusalemer Tempel boten religiöse Bildung, z. B. alle sieben Jahre am Laubhüttenfest als Bun‐ deserneuerungsfest (Dtn 31,10-13). Dem Vater kam in einer patriarchalen Umgebung eine besondere Verantwortung zu. Theologische Akzentuierungen Jesus von Nazaret war ein ungewöhnliches Heilskind ( Jes 7,14) in der Tradition Davids (2 Sam 7,12-16). Später wurde er „Sohn Davids“ genannt (Mt 1,1), von dem Erbarmen ausging. Seine Geburt war vorangekündigt, er wurde nach der Tora beschnitten und als Erstgeburt ausgelöst. Als Zwölf‐ jähriger begleitete er seine Eltern auf einer Passa-Wallfahrt zum Jerusalemer Tempel. Jesus wuchs inmitten von Kindern auf: vier leiblichen Brüdern und einer Anzahl von Schwestern (Mk 6,3). Später umarmte und segnete er Kinder, heilte sie, erweckte ein Mädchen sowie einen Jüngling vom Tod und stellte seinen Jüngern ein Kind in seiner Bedürftigkeit, Unmittelbarkeit und Unverstelltheit als Beispiel vor Augen. Der Galiläer betrachtete Kinder 124 3.5 Kindheit und Jugend <?page no="125"?> nicht als eingeschränkte, vorläufige und defizitäre Wesen auf dem Weg zum Erwachsensein, sondern voll und ganz als Menschen, mehr noch: als Modellfall und Muster für das Menschsein schlechthin (M UT S CHL E R 2013: 112 f). Damit kehrte er das gesamte gemeinantike Beurteilungsparadigma für Kinder um und unterstrich alttestamentliche Traditionen von Gott als Anwalt, Beschützer und Begleiter von Kindern. Kindsein ist nicht nur ein Zustand, sondern auch ein dauerhaftes Ver‐ hältnis der Bindung, Fürsorge und des Aufeinander-Hörens. „Kind“ wird dann übertragen (metaphorisch) gebraucht. So ist Jerusalem ein Findelkind Gottes, Israel ist Gottes Kind und Sohn, „Kinder Israel“ bezeichnet das Volk Israel, „Sohn“ bedeutet zugleich „Erbe“. „Sohn Gottes“ bezeichnet Jesus als Messias-König und verdrängt Josef als Vater Jesu. Väterliches Verhalten ist gleichnisfähig für Gott (Mt 7,11 ⫽ Lk 11,13 → 2.1 Ansätze biblischer Theologie). Der Ausdruck Kinder bzw. Söhne Gottes bezeichnet Fromme, Gerechte, Gläubige, zu Gott Gehörige. Kindsein verbindet mit dem Geist Jesu (Gal 4,6) und ist die zentrale neutestamentliche ↗ Metapher für das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Metaphorisch spricht auch Paulus von seinen „Kindern“ in Gemeinden oder im Blick auf Mitarbeiter*innen. Kindschaft hat ethische Konsequenzen. Impulse ■ Welchen Stellenwert und welche Bedeutung haben Kinder und Jugend‐ liche heute in ihrem Lebensraum und in der Kirchengemeinde? ■ Welche wichtigen Aspekte zeichnen das Kindsein heute im Vergleich zu biblischen Perspektiven aus? ■ Welche Bedürfnisse hat konkret ein Kind oder ein Jugendlicher? ■ Wie könnten sich Kinderrechte auch theologisch begründen lassen? Literatur B E R L E J U N G , Angelika & M E R Z , Annette 2006: Kind. In: Angelika Berlejung, Christian Frevel (Hg.): Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 266-269. 125 Impulse <?page no="126"?> M AI E R , Christl & L E H M E I E R , Karin 2009: Kinder. In: Frank Crüsemann, Kristian Hun‐ gar, Claudia Janssen, Rainer Kessler, Luise Schottroff (Hg.): Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 293-294. M I C H E L , Andreas 2013: Kind; Kindheit, gefährdete. In: Michael Fieger, Jutta Krispenz, Jörg Lanckau (Hg.): Wörterbuch alttestamentlicher Motive. Darmstadt: Wissen‐ schaftliche Buchgesellschaft, S. 254-263. M U T S C H L E R , Bernhard 2013: Bildung und Erziehung von Kindern in der Bibel. In: Ders.: Beziehungsreichtum. Bibelhermeneutische, sozialanthropologische und kulturgeschichtliche Erkundungen. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, S. 93-117(-176). S T A U B L I , Thomas & S C H R O E R , Silvia 2014: Menschenbilder der Bibel, Ostfildern: Patmos. 126 3.5 Kindheit und Jugend <?page no="127"?> 3.6 Menschen mit Behinderung Dierk Starnitzke Der Begriff der Behinderung hat in der Bibel kaum unmittelbare Entspre‐ chungen. Es werden aber häufig Menschen dargestellt, die im heutigen Verständnis eine Behinderung erdulden mussten. Hilfreich für ein genaueres Verständnis ist zunächst die Unterscheidung zwischen Krankheit und Behin‐ derung. Behinderung hat im Vergleich mit Krankheit, die mehr oder weniger individuell diagnostizierbar ist, einen stärkeren Bezug auf soziale Fragen. Seit dem „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ der Vereinten Nationen ist für das Verständnis von Behinderung die Wech‐ selwirkung von persönlichen Beeinträchtigungen und einstellungsbzw. umweltbedingten Barrieren in der Gesellschaft konstitutiv (vgl. Präambel, e). Auf dieser Basis versteht das deutsche Sozialrecht ↗ Beeinträchtigung als Abweichung „von dem für das Lebensalter typischen Zustand“ (Bundes‐ teilhabegesetz, § 2, Absatz 1). Dabei kann diese Beeinträchtigung durch eine Krankheit bedingt sein. Zu einer Behinderung kommt es erst, wenn die Beeinträchtigung eines Menschen so unzureichend unterstützt wird, dass gesellschaftliche Barrieren wie z. B. Treppen, aber auch mentale Ein‐ stellungen von ihm nicht überwunden werden können. Behinderung ist also eine Form der Ausgrenzung vom Leben in der Gemeinschaft und der Verhinderung von Teilhabe an der Gesellschaft. Alttestamentliche Perspektiven Im Alten Testament werden vor allem vier Menschengruppen mit konkreten körperlichen Beeinträchtigungen benannt: ■ Stumme (z. B. Ps 38,14; Spr 31,8) ■ Taube (z. B. Jes 29,18; Ps 38,14) ■ Blinde (z. B. 2 Sam 5,6-8; Jes 29,18; 42,16-18; 59,10, Ps 146,8) ■ Gelähmte (z. B. 2 Sam 5,6-8; 9,13; Jes 33,23; vgl. auch Jes 35,5-6 mit der summarischen Benennung aller vier Gruppen) <?page no="128"?> Die Darstellungen im Neuen Testament knüpfen an die alttestamentlichen an. Es kann betont werden, dass die Menschen von Gott so geschaffen wurden (Ex 4,11). Dabei wird für die Thematisierung solcher Beeinträchti‐ gungen nicht in erster Linie auf die körperlichen Phänomene abgehoben. Es kommen vor allem die sozialen Beziehungen zur Sprache. Damit geht es im Kern um Fragen der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft und damit der Behinderung von Menschen mit Beeinträchtigungen. ■ Inklusion und Exklusion: Die Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigungen kann durch religiöse Institutionen und Prozesse entweder befördert oder überwunden werden (→ 5.6 Inklusion und Exklusion). Offenbar gab es z. B. laut 2 Sam 5,8 eine Regel, Blinde und Gelähmte nicht ins Haus zu lassen. Ausgrenzend wirkt auch eine Text‐ stelle im Dtn, nach der Kastraten keinen Zutritt zur Gemeinde haben sollen (Dtn 23,2, genau gegen diese Position spricht sich allerdings Jes 56,3-5 aus). Gerade in Bezug auf bestimmte heilige Orte können dann noch bestimmte Erwartungen an die Unversehrtheit der handelnden Personen hinzukommen. So werden z. B. in Lev 21,17-23 zwölf verschie‐ dene Formen von Beeinträchtigungen oder Krankheiten genannt, die einen Priester vom Opferdienst ausschließen können ↗ Opfer. ■ Gebotene Unterstützung: Demgegenüber wird in der ↗ Tora der Schutz von Blinden und Tauben geboten (z. B. Lev 19,14) und die schlechte Behandlung eines Blinden verflucht (Dtn 27,18). Die Unter‐ stützung von Menschen mit Beeinträchtigungen wird besonders positiv dargestellt und angeraten, z. B. von Blinden und Gelähmten (Hi 29,15) oder von Stummen (Spr 31,8). Ein Gelähmter kann deshalb auch in einer Königsfamilie Akzeptanz finden (z. B. 2 Sam 4,4; 9,1-13; 16,1-4; 21,7). Ein Mensch mit Sprachbeeinträchtigungen kann sogar als Prophet tätig sein (Ez 3,26-27; 24,27; 33,22; siehe auch Ex 4,10-16) Neutestamentliche Perspektiven ■ Körperliche, seelische und geistige Beeinträchtigungen: In Be‐ zug auf körperliche Beeinträchtigungen ist bemerkenswert, dass Jesus nach den Traditionen der Evangelien sich größtenteils längerfristig beeinträchtigten Menschen besonders zuwendet, die dadurch bleibend geprägt und von Behinderung bedroht sind, z. B. Taubstumme (Mk 128 3.6 Menschen mit Behinderung <?page no="129"?> 7,31-37), Blinde (Mk 8,22-26), Gelähmte (Mk 2,1-12 mit den Parallelen bei Mt und Lk; Joh 5,5-13). Hinzu kommen seelische oder geistige Beeinträchtigungen, sie werden vielfach mit unreinen Geistern oder Dämonen in Verbindung gebracht (vgl. z. B. Mk 1,23-28; 5,1-20; 9,14-28 mit Parallelen). ■ Sozial-gesellschaftliche Beeinträchtigungen: Auch im Neuen Tes‐ tament werden bei der Darstellung von Personen mit Behinderung regelmäßig, aber nicht nur die physischen oder psychischen Einschrän‐ kungen, sondern auch die sozial-gesellschaftlichen Fragestellungen mit in den Blick genommen. So werden Menschen mit seelisch-geistiger Beeinträchtigung als Einsame dargestellt (Mk 5,2-5), Gelähmte als in ihrer Bewegungslosigkeit Hilflose (Mk 2,14; Joh 5,2-7), von Aussatz Betroffene als von der Gemeinschaft Ausgeschlossene (Lk 17,11 f in Verbindung mit Lev 13,45 f) usw. Einerseits kann die Vorstellung zitiert werden, dass das Vorhandensein einer Beeinträchtigung wie z. B. Blind‐ sein mit den Sünden des betreffenden Menschen oder nahestehender Personen in Verbindung steht. Andererseits wird genau diese Verbin‐ dung von Sünde und Beeinträchtigung bzw. Behinderung entschieden zurückgewiesen ( Joh 9,1-7). Die in den Evangelien dargestellten Wun‐ der Jesu haben oft den Sinn, nicht nur der Beeinträchtigung, sondern auch der Behinderung entgegen zu wirken, das heißt den betreffenden Menschen wieder in seine Gemeinschaft zurückzuführen (z. B. Mk 5,18-20). ■ Inklusives Handeln: Die einmütige Aussage in den neutestamentli‐ chen Texten ist, dass Menschen mit Beeinträchtigungen von Jesus und in der christlichen Gemeinde grundsätzlich akzeptiert sind und dass keine Beeinträchtigung aus der Gemeinschaft der Glaubenden ausschließen soll. So wird in Apg 8,26-39 dem äthiopischen Eunu‐ chen, der gemäß Dtn 23,2 keinen Zugang zur jüdischen Gemeinde haben soll (siehe oben), programmatisch der Beitritt zur christlichen Gemeinschaft durch die Taufe gewährt. Sie kann also grundsätzlich bedingungslos, ohne irgendwelche Einschränkungen aufgrund persön‐ licher Beeinträchtigungen erfolgen. 129 Neutestamentliche Perspektiven <?page no="130"?> Paulus - ein Mensch mit Beeinträchtigung ■ Konstitutiver Bestandteil der Existenz: Im Hinblick auf die von Paulus selbst verfassten Briefe ist bemerkenswert, dass er offenbar selbst behindert war. Er litt wohl unter einer chronischen Erkrankung, die ihn erheblich beeinträchtigte. Die Diagnose ist unklar, möglicher‐ weise handelte es sich um eine Sehschwäche (vgl. Gal 4,15; 6,11). Nicht zuletzt diese Krankheit und Beeinträchtigung ließ ihn bei persön‐ lichen Besuchen hilfsbedürftig erscheinen (vgl. Gal 4,13). Von einigen Gemeindegliedern in Korinth wurde ihm deshalb eine schwächliche Erscheinung vorgeworfen (2 Kor 10,10). Seine Gegner in Korinth ver‐ suchten offenbar, ihn aufgrund dessen als Führungspersönlichkeit der Gemeinde zu verdrängen. Unter dieser Krankheit und Beeinträchtigung hat er deshalb sehr gelitten (2 Kor 12,8). Demgegenüber zitiert er ein von Christus an ihn gerichtetes Wort: „Dir reicht meine Gnade, denn die Kraft kommt in Beeinträchtigung (asthéneia) zur Vollendung“ (2 Kor 12,9a). Der griechische Begriff asthéneia für Krankheit, Beeinträchti‐ gung und damit verbunden Behinderung wird damit für Paulus zu einem konstitutiven Bestandteil seiner Existenz (→ 6.3 Demut). ■ Offenheit für die Stärke Christi: Die Begründung ist christologisch. Gerade die eigene Beeinträchtigung und Krankheit gibt die Möglichkeit, für die Stärke Christi offen zu werden: „Sehr gerne will ich mich nun vielmehr meiner Beeinträchtigungen (astheneíai) rühmen, damit die Kraft Christi in mir wohne“ (2 Kor 12,9b). Seine Beeinträchtigung sorgte nach seiner Überzeugung auch dafür, dass er angesichts der an ihn ergangenen göttlichen Offenbarungen (Gal 1,16 und 2 Kor 12,1-6) nicht überheblich werden kann (2 Kor 12,7). Impulse Offenbar ist der Kerngedanke der Darstellung von Menschen mit Behinde‐ rungen in der Bibel, dass es sich dabei um eine Ausgrenzungsproblematik handelt. ■ Die Beeinträchtigungen von Menschen können einerseits bewirken, dass sie vom Ausschluss aus menschlichen Gemeinschaften und religiö‐ 130 3.6 Menschen mit Behinderung <?page no="131"?> sen Kontexten und damit von Behinderung bedroht sind. Wo geschieht das heute noch? ■ Andererseits kann gerade die vertiefte theologische Reflexion bewir‐ ken, dass diese Ausgrenzungen im Sinne einer offenen und potenti‐ ell alle Menschen umfassenden Gemeinschaft überwunden werden können. Wo liegen Konvergenzen zum Gedanken der allgemeinen Menschenrechte? ■ Diese Gedanken und biblischen Traditionen könnten hilfreich sein, um aktuelle Ausgrenzungsprobleme in unserer Gesellschaft, aber auch in christlichen Gemeinschaften zu bearbeiten. Welche Beispiele dafür wären zu benennen? Literatur D E U T S C H E R B U N D E S T A G 2016: Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestim‐ mung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz). Online verfüg‐ bar: https: / / www.bgbl.de/ (Zugriffsdatum: 8. 5. 2021). G R ÜN S TÄU D L , Wolfgang & S C H I E F E R F E R R A R I , Markus (Hg.) 2012: Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese, Behinderung - Theologie - Kirche. In: Johannes Eurich, Andreas Lob-Hüdepohl: Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies, Band 4. Stuttgart: Kohlhammer. S T A R N I T Z K E , Dierk 2011: Diakonie in biblischer Orientierung. Biblische Grundlagen - Ethische Konkretionen - Diakonisches Leitungshandeln. Stuttgart: Kohlhammer. V E R E I N T E N A T I O N E N 2006: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention). Die amtliche, gemeinsame Übersetzung von Deutschland, Österreich, Schweiz und Lichtenstein. Online verfügbar: https: / / www.behindertenbeauftragte.de/ (Zugriffsdatum: 8. 5. 2021). 131 Literatur <?page no="132"?> 3.7 Menschenwürde Jörg Lanckau Menschenwürde (human dignity) ist ein Wert, der allen Menschen unab‐ hängig von Herkunft, Geschlecht, Alter oder Status zugeschrieben wird. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verbrechen und der beiden Weltkriege formulierte die UN-Generalversammlung 1948 das in der euro‐ päischen Aufklärung grundgelegte Postulat als - rechtlich nicht bindende - Resolution: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren …“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 1). Kritiker vermuten hier rein westliches, kulturell gebundenes Denken. Aber einerseits wurzelt die Idee in der Antike (stoische Philosophie seit Zenon), andererseits wird sie auch nichtwestlich vertreten (z. B. Kairoer Erklärung der Menschen‐ rechte im Islam, 1990). Daraus abgeleitet, umfasst die Menschenwürde als Rechtsbegriff konkrete Grundrechte und Rechtsansprüche, basierend auf ih‐ rer Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit. Nach dem römischen Autor M. T. Cicero (106-43 v. Chr., De officiis I,106) konnte die Würde (lat. dignitas) dagegen durch unsittliche und ungebührliche Handlungen verlustig gehen - eine Haltung, die heute noch vertreten wird, blickt man z. B. auf die Diskurse um Pädophilie oder Todesstrafe. Menschenwürde ist aber auch ein Postulat, mit dem sich die Menschheit als Art über alle anderen Lebewesen und Dinge stellt. In utilitaristischer Sicht wird dies zuweilen prinzipiell hinterfragt (z. B. bei P. S IN G E R ). Cicero bemühte wie viele seiner Nachfolger den Begriff der Vernunft (lat. ratio), der die Menschenwürde (lat. humanitas) im Unterschied zu den Tieren ausmache. Menschen als Gottes irdische Repräsentation Obwohl konkrete Begriffe für „Menschenwürde“ fehlen, wird der Diskurs um dieselbe in der biblischen Literatur prominent aufgegriffen. Das Schöp‐ fungsgedicht (Gen 1) bietet zeitgeschichtlich revolutionäre und heute immer noch kontrovers diskutierte Aussagen: Die Menschheit wird gerade nicht von ihrer evolutionären Herkunft oder materiellen Beschaffenheit, sondern <?page no="133"?> teleologisch, d. h. von ihren zukünftigen Möglichkeiten hergedacht. Der Text entstand während oder nach dem babylonischen Exil (6.-5. Jh. v. Chr.) in scharfer Auseinandersetzung mit mesopotamischer (und evtl. auch ägypti‐ scher) Kosmologie, Anthropologie und Königstheologie. In Gen 1,26-27 spricht Gott (↗ Elohim, hebr. älōhîm) im Plural: „Lasst uns Menschen (hebr. ’ādām) machen als unser Kultbild (ṣælæm), uns gleichend (dəmût). Sie sollen herrschen (rdh) über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und alle Kriechtiere, die sich auf der Erde regen. Gott schuf Menschen als sein Kultbild: als Kultbild Gottes schuf er sie, männlich (zākhār) und weiblich (nəqevāh) schuf er sie.“ Mit ’ādām ist nicht der erste Mann, sondern Mensch an sich bzw. die Menschheit gemeint, und zwar vollkommen unabhängig von jedweder eth‐ nischen oder religiösen Zuordnung. Mit ṣælæm ist sowohl die kultbildliche als auch die politische Repräsentation einer antiken Gottheit angesprochen, mit dəmût die innere Wesensähnlichkeit (S TAU B LI / S CH R O E R 2014: 67). Der biblische Text revolutioniert die traditionelle Sichtweise radikal: Nicht der König, sondern jede und jeder soll Gottes unantastbares Ebenbild sein. Nicht der Hohepriester in Vertretung des Königs als Mittler, sondern jede und jeder kann mit Gott uneingeschränkt kommunizieren (→ 2.2 Ansätze biblischer Anthropologie). Die Möglichkeit einer vollständigen Herrschaft der Menschheit über die Tiere ersetzt zudem die Vorstellung eines bestimmten Gottes als „Herrn der Tiere“. Damit stellt sich die Frage nach der mit ansteigender Macht mitwachsenden Verantwortung, denn das besungene Ideal der Schöpfung kennt keinen Tod, wie die vegane Ernährung aller in Gen 1,29 f zeigt. Die Menschenwürde ist darum auch teleologisch als Aufgabe oder Auftrag qualifiziert. Der Gedanke der Gottebenbildlichkeit der Menschen an sich enthält aber in Gen 1,27 noch eine weitere Zuspitzung. Oft fälschlich mit „Mann und Frau“ übersetzt, ist mit „männlich“ (zākhār) und „weiblich“ (nəqevāh) die Polarität der sozial konstruierten Geschlechter anvisiert. Beide Seiten repräsentieren die Gottheit. Obwohl der platonische Mythos von den Ku‐ gelmenschen im Hintergrund stehen dürfte, werden die Menschen nicht als Abbilder eines metaphysischen Urbilds gezeichnet (S TAU B LI / S CH R O E R 2014: 68). Die folgende Paradieserzählung macht deutlich, dass die patriarchale Unterordnung der Frauen gerade nicht der idealen Schöpfungsordnung oder dem Naturgesetz (so Aristoteles, Politik 1,2) entspricht, sondern eine 133 Menschen als Gottes irdische Repräsentation <?page no="134"?> negative Folge der Autonomie des Menschen darstellt (Gen 3,16; in Kol 3,18 wie in der stoischen ↗ Ethik pflichtgemäßes Verhalten der Frauen). Das in Gen 1 gezeichnete Ideal der Menschenwürde ist ein Gegenentwurf zur realen antiken Gesellschaftsordnung. Andere Schöpfungslieder geste‐ hen dem Menschen lediglich die dauerhafte Fürsorge Gottes zu (Ps 8). Die Prophet*innen Israels und Judas forderten die Würde des Menschen konkret und radikal ein (betr. Recht auf Privateigentum 1 Kön 21; Schuldsklaverei Am 2,6 u. v. a.). Partizipation an Christus als idealem Menschen Die prophetische Vision einer Vereinigung der Völker zum Lernen der ↗ Tora ( Jes 2) zielt auf eine paradiesische Friedenszeit ( Jes 11). Sie lässt offen, ob dabei soziale, ethnische und religiöse Grenzen bestehen bleiben. In Gal 3,28 formuliert der in dieser prophetischen Tradition stehende jüdische ↗ Pharisäer und christliche ↗ Apostel Paulus den kühnen Entwurf einer weltweiten Gemeinschaft unter neuem Vorzeichen: „Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Ethnische, soziale und geschlechtliche Unterschiede werden hier prinzipiell aufgelöst und die Taufe zum Bundeszeichen erhoben. Der Hymnus im deuteropaulinischen Kolosserbrief (Kol 1,15 f) rühmt Christus als „Ebenbild (griech. eikṓn) des unsichtbaren Gottes“ und „Erstgeborenen (prōtótokos) aller Schöpfung“ (→ 2.3 Ansätze neutestamentlicher Christologie). Stellt man sich den Kern des Christseins als Teilhabe an Christus, der idealen Ikone Gottes (2 Kor 4,4), dem „neuen Adam“ (1 Kor 15,22.45) vor, wird z. B. die patriarchale Unterordnung der Frauen aufgehoben (1 Kor 11,11 f) - obgleich sie von Paulus gegen den Sinn von Gen 1,26 f als schöpfungsgemäß verstan‐ den wurde (1 Kor 11,7-10). Zeitgeschichtlich muss das als enormer Schritt hin zu einer christlichen Begründung der Würde aller, nicht nur sozial hochgestellter Frauen der römischen Kolonie Korinth gewertet werden. Es geschieht in der Tradition des in den Evangelien deutlich als Freund der Frauen gezeichneten Jesus von Nazaret. Joh 19,5 schreibt dem römischen Statthalter Pontius Pilatus in der Szene der Verurteilung des Verspotteten und Gefolterten jene in ihrer lateinischen Variante ecce homo berühmten und tiefsinnigen Worte zu: 134 3.7 Menschenwürde <?page no="135"?> „Seht, der Mensch! “ Neben vielen anderen Interpretationen dürfte in diesen Worten auch an die unverlierbare Würde eines Menschen unter schlimms‐ ten Bedingungen erinnert werden. Die Menschenwürde wurde und wird millionenfach nicht nur angetastet, sondern de facto verletzt, zerstört und geraubt. Postulate allein genügen nicht. Diakonisches Handeln wird hier ansetzen, und zwar Hand in Hand mit dem Rechtsstaat, sofern dieser im jeweiligen Land existiert. Impulse ■ Wo ist die biblische Rede von der grundsätzlichen Repräsentation Gottes durch den Menschen heute noch aktuell? ■ Wie verhalten sich die biblischen Aussagen zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte? ■ Inwiefern können oder könnten unter extremen Bedingungen wie z. B. zum Schutz gegen Terrorangriffe oder zur Abwehr einer Pandemie bestimmte Menschenrechte eingeschränkt werden? Wäre dies mit der unteilbaren Menschenwürde vereinbar? Literatur Aristoteles Politik. G R U M A C H , Ernst & F L A S H A R , Hellmut (Hg.) 1956 ff: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Berlin: Akademie Verlag. Cicero De Officiis. T E U B N E R , Benedictus Gotthelf (Hg.): M. T. Ciceronis opera quae supersunt omnia. Lat. kritische Gesamtausgabe in Einzelbänden versch. Hg. in versch. Auflagen. Leipzig und Stuttgart: Bibliotheca Teubneriana. H E U N , Werner 2012: Einflüsse der Stoa auf die Entwicklung von Menschenwürde und Menschenrechten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In: Gustav A. Lehmann u. a. (Hg.): Armut - Arbeit - Menschenwürde: Die Euböische Rede des Dion von Prusa. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 235-254. S I N G E R , Peter 3 2013: Praktische Ethik. Stuttgart: Reclam. Original: Ders. 3 2011: Prac‐ tical Ethics. Cambridge: University Press. S T A U B L I , Thomas & S C H R O E R , Silvia 2014: Menschenbilder der Bibel, Ostfildern: Patmos. 135 Impulse <?page no="136"?> 3.8 Sexualität Dorothea Erbele-Küster Sexualität ist ein grundlegender Weltzugang. Als körperliches Wesen ist der Mensch auf die Welt bezogen und erfährt und erkennt so die Welt; u. a. im sexuellen Kontakt mit dem Gegenüber. Dies kommt auch in einer der biblisch-hebräischen Formulierungen für den Sexualkontakt prägnant zum Ausdruck: „erkennen, erfahren“, wobei es sich um eine durch die Sinne vermittelte Wahrnehmung und Erkenntnis handelt. Sexualität ist eine Lebensäußerung des Menschen, die körperliche, emotionale, soziale und kulturell-religiöse Dimensionen umfasst. Sexualität hat dabei instrumen‐ telle Funktionen wie Fortpflanzung, Etablierung der Geschlechtsidentität, Vollzug von sozialen Bezügen, Ausübung von Macht, Lust- und Glücksemp‐ finden, Erfahrung der Körperlichkeit. Sexualität bildet die Vulnerabilität, Körperlichkeit und Relationalität des Menschen ab. Biblische Perspektiven ■ Rein und Unrein: Sexualität wird entsprechend in der Bibel auch auf das Gottesverhältnis bezogen. Die Reinheitsvorschriften in Leviticus 15 regeln die kultische Unreinheit u. a. im Gefolge von Samenverlust und Geschlechtsverkehr (und Menstruation). Daraus entwickelt sich der Gedanke der Heiligkeit des Lebenswandels (Lev 11,42 f; 19,2) bzw. des Körpers (vgl. auch Röm 12,1-2; 1 Thess 4,3; 1 Kor 6,13-20). Paulus spricht von einem Wechselverhältnis: „Der Leib nicht für die Unzucht, sondern für den Herrn und der Herr für den Leib“ (1 Kor 6,3). ■ Rollen und Normen: Die Ausübung und das Erleben der Sexualität ist von sozialen Rollen und kulturell-religiösen Normen geprägt. Biblische Texte enthalten Bestimmungen zum Schutz der Vulnerabilität des Menschen und seiner Beziehungen. In der Welt der Bibel ist dieses Beziehungsgefüge durch das Patriarchat klar bestimmt. Frauen verfü‐ gen darin in der Regel nicht über ihre Sexualität (außer im Falle von Prostituierten). Männer werden entsprechend häufig in der aktiven Rolle geschildert. <?page no="137"?> ■ Begriffe und Konzepte: In der Begrifflichkeit spiegelt sich das jeweilige Konzept: Lieben, erkennen, schlafen mit, kommen, hinein‐ gehen / sich nähern, lieben, entblößen / aufdecken der Scham (im Bi‐ blisch-Hebräischen). Die auch in Rechtstexten verwendete Formulie‐ rung, dass ein Mann sich eine Frau nimmt, bringt dies prägnant zum Ausdruck. An einigen Stellen werden im griechischen Text im Neuen Testament diese hebräischen Redeweisen nachgeahmt (vgl. Mt 1,18.20; Lk 1,34). Im Hebräischen werden die Begriffe häufig von den männlichen Subjekten ausgesagt, darin spiegeln sich die Geschlech‐ terverhältnisse. Ausnahmen bestätigen die Regel. Grenzgängerinnen wird auf sexuellem, moralischen bzw. sozialen Gebiet eine aktive Rolle zugeschrieben: Delila (Ri 16); Lots Töchter (Gen 19). Dimensionen der Sexualität Vier grundlegende Dimensionen bzw. Funktionen von Sexualität sollen unter den Aspekten Fortpflanzung, Macht, (Geschlechts-)Identität und Lust erläutert werden. ■ Fortpflanzung, Generationenlinie: Eine Funktion der Sexualität dient der Fortpflanzung. In erzählenden Texten im Alten Testament dreht sich die Sexualität häufig um die Erzeugung von Nachkommen‐ schaft zum Erhalt der Generationenlinie. In genealogischen Bezügen leben, heißt über die Leiblichkeit aufeinander verwiesen sein durch die Zeugung und Geburt. „Seid fruchtbar und mehret euch! “ so formuliert der erste Schöpfungsbericht in Gen 1 diese Aufgabe jedoch jenseits einer Referenz auf Sexualität. Aus der Paradiesgeschichte in Gen 2-3 lässt sich allerdings argumentieren, dass Sexualität nicht nur auf Nachkommen‐ schaft gerichtet ist, sondern auch auf die Geschlechterbeziehung und das Verlangen (siehe 2.4). In Erwartung der Endzeit erhält die zölibatäre Lebensweise neutestamentlich einen neuen Stellenwert. Askese ist ein Charisma ebenso wie die in der ehelichen Partnerschaft gelebte Sexualität (1 Kor 7; vgl. Mt 19,11-12). Der unverheiratete Paulus ist eine Ausnahme unter den Aposteln (vgl. 1 Kor 9,5). ■ Macht, Gewalt und Vulnerabilität: Erzählende Texte zeugen von Konfliktfeldern und traumatischen Erfahrungen mit Blick auf die Se‐ xualität: verzweifelter Kampf um Nachkommenschaft (Gen 16; 25,2), 137 Dimensionen der Sexualität <?page no="138"?> Ehebruch (2 Sam 11), unerfüllte Sehnsucht, Vorzugsliebe. Wir lesen von sexueller Gewalt innerhalb von Clanbeziehungen, von Kriegshand‐ lungen und im Familiengefüge (Gen 19; 2 Sam 13; möglicherweise eine Massenvergewaltigung in Ri 19 → 1.4 Biblische Texte zwischen Anspruch und Wirklichkeit). Solche Texte müssen immer wieder neu daraufhin befragt werden, wie sie Gewalt zur Sprache bringen bzw. inwiefern sie zur Legitimierung von Gewalt oder zur Stigmatisierung von ↗ Opfern beitragen. Im Zentrum sexueller Gewalt steht häufig nicht Sexualität, sondern die Machtausübung, zugleich erfahren die Opfer dies als Verletzung ihres Körpers und ihrer Sexualität. ■ Geschlechtsidentität und sozio-religiöse Identität: Sexuelles Be‐ gehren verwirklicht sich im gesellschaftlichen Raum. In sozialen und körperlichen Bezügen sowie in rituellen Praktiken vollzieht sich die Herausbildung und Etablierung der Geschlechtsidentität. Die Beschnei‐ dung sieben Tage nach der Geburt (vgl. Lev 12,3) besiegelt die männli‐ che Geschlechtsidentität. Sexualität wird in Rechtsvorschriften sowie in Reinheitsvorschriften geregelt. Dass ein Mann bei einem anderen Mann wie bei einer Frau liegt, bringt die Ordnung der Geschlechter durcheinander. Entsprechend wird in Bestimmungen in Leviticus, die Sexualkontakte regeln, dies verurteilt (Lev 18,22; 20,13 vgl. auch bei Paulus, der in der Wortwahl auf Leviticus zurückgreift in Röm 1,16-32 → 7.1 Heiligkeit des Lebens). Es geht dabei nicht um Homosexualität als Geschlechtsidentität. Der sexuelle Kontakt zwischen zwei Frauen findet alttestamentlich keine Erwähnung, da dies außerhalb der männlichen Perspektive und des Interesses des Autorenkreises liegt. Rechtstexte regeln die sexuellen Kontakte innerhalb des patriarchalen Ordnungs‐ systems. Sexualverkehr außerhalb der Ehe wird entsprechend als Ver‐ letzung des Machtbereichs des Mannes, der die Verfügungsgewalt über die Sexualität der Frau hat, betrachtet und weniger als eine moralische Frage (→ 3.4 Familie). ■ Erotik, Liebe, Begehren: Sexualität als Weltzugang umfasst Sinnlich‐ keit und Erotik. Erotisch-sinnliche Aspekte finden sich in biblischen Geschichten gerade auch jenseits von explizit sexuellen Kontexten (Sal‐ bung der Füße Jesu mit wohlriechendem Nardenöl durch Maria in Joh 12,3-8; vgl. Lk 7; Mk 14; Joh 20,11-18). Das Hohelied feiert den Körper des Anderen in sinnlichen Beschreibungsliedern. Die weibliche Stimme eröffnet leidenschaftlich den Liebesdialog: „Küssen soll er mich mit Küssen seines Mundes. Gut ist deine Liebe besser als Wein“ (Hhld 1,2). 138 3.8 Sexualität <?page no="139"?> In der kirchlichen Auslegungsgeschichte wurde die Liebeslyrik dann für die Beziehung Gottes zu seinem Volk bzw. Christus zum Einzelnen gedeutet, sodass der Gottesbezug auf die körperliche Liebe hin offen ist und umgekehrt. Besungen wird im Hohelied das Ergriffensein von der Schönheit des Körpers des Anderen und eine (sexuelle) Begegnung jenseits von hierarchischen Bezügen. Während in narrativen und pro‐ phetischen Kontexten „lieben“ in der Mann-Frau Beziehung nur von einem Partner ausgesagt wird, genauer gesagt vom männlichen, findet der Begriff im Hohelied für beide Partner Verwendung und beschreibt das Liebesverhältnis als ein wechselseitiges. Auslegungen der Paradieserzählung Diese unterschiedlichen und widerstreitenden Ansichten auf das Thema Sexualität sind in der Paradiesgeschichte in Gen 2-3 angelegt. Der Mensch wird als Beziehungswesen erschaffen. Als das Erdgeschöpf aus dem Tief‐ schlaf erwacht und das aus seiner Seite gebaute zweite Geschöpf sieht, hält es das Aufeinanderbezogensein in Differenz und Gleichheit fest (Gen 2,23-24): „Endlich Fleisch von meinem Fleisch“. Die Sexualität im Sinne von geschlechtlichem Begehren ist dabei den sozialen Rollen vorgeordnet, denn diese wird nicht zuerst mit der Fortpflanzung verbunden, sondern sie zielt auf die ursprüngliche Einheit (Gen 2,24). Paulus zitiert die Stelle und spitzt die Aussage zu, so dass die Geschlechtsgemeinschaft als Teil einer personalen Begegnung angesehen wird (1 Kor 6,16). Nach dem Ergreifen der Frucht der Erkenntnis heißt es jedoch, dass das sexuelle Verlangen nach Einheit seitens der Frau unerfüllt bleiben soll und dass es mit Herrschaft des Mannes beantwortet werde (Gen 3,16 → 3.7 Menschenwürde). Diese Sprüche weisen auf die Lebensbedingungen außerhalb des Gartens, aus dem das Menschenpaar unmittelbar danach vertrieben wurde. Die biblische Nar‐ ration weiß um die kulturell und historisch bedingten Machtverhältnisse, wie sie sich auch in der Sexualität spiegeln, ohne eine (Sexual-)Ethik zu begründen. Im Hohelied realisiert sich im Garten (Hhld 4,12-5,1; 6,1-3), was am Ende der Paradiesgeschichte in Gen 3,16 negiert wird: gegenseitiges erfülltes Begehren. Eine Sexualethik, die sich auf biblische Texte bezieht, hat entsprechend immer die Fülle der Texte sowie ihren religiös-kulturellen Kontext zu beachten. 139 Auslegungen der Paradieserzählung <?page no="140"?> Impulse ■ Welche sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi‐ schen der Wahrnehmung von Sexualität in allen genannten Facetten in den biblischen Texten und „heute“ - wobei zwischen „westlichen“ Gesellschaften und orientalischen, asiatischen u. a. Gesellschaften noch einmal markante Unterschiede zu beobachten sind? Interessant ist dabei auch, die öffentliche, gesellschaftliche, religiös-kulturelle Prägung der Sexualität damals wie heute zu beachten. ■ Welche Rollenverständnisse haben sich in welchen Gesellschaften aus bestimmten Gründen gewandelt? ■ Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beachtung der historischen Unterschiede zwischen den in den biblischen Texten vorausgesetzten Verhältnissen und der aktuellen Situation für soziales bzw. diakonisches Handeln? Literatur F I S C H E R , Irmtraud 2021: Liebe, Lust und Leiden. Sexualität im Alten Testament. Stuttgart: Kohlhammer. F I S C H E R , Irmtraud & P O P L U T Z , Uta (Hg.) 2020: Sexualität. Jahrbuch Biblische Theolo‐ gie 33, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. T R I B L E , Phyllis 1993: Gott und Sexualität im Alten Testament, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 140 3.8 Sexualität <?page no="141"?> 3.9 Sterben und Tod Kathrin Liess Der Tod als das natürliche Lebensende ist durch die Geschöpflichkeit des Menschen bedingt. Nach der Schöpfungserzählung wird der Mensch aus „Staub vom Ackerboden“ geformt und durch den „Hauch des Lebens“ belebt (Gen 2,7). Beim Sterben wird die Lebenskraft ausgehaucht (Gen 35,18) und der Lebensatem geht zu Gott zurück (Pred 12,7; Ps 104,29), so dass der Mensch verscheidet (wörtl. „nach Luft schnappt“) und zum Staub zurückkehrt (Gen 3,19; Pred 3,20). Neben dem natürlichen Tod im hohen Alter (→ 3.1 Alter) oder durch Krankheit (→ 3.3 Krankheit und Heilung) berichtet die Bibel vom gewaltsamen Tod durch Mord (Mk 6,27), Freitod (Mt 27,5) und Todesstrafe (Ex 21,12). Eine herausragende Stellung nimmt im Neuen Testament der gewaltsame Tod Jesu am Kreuz ein. Aspekte des biblischen Todesverständnisses ■ Die Welt der Toten: Der Verstorbene wird nach seinem Tod rituell betrauert und im Grab bestattet. Trauerriten machen Hinterbliebene dem Toten gleichförmig (Zerreißen der Kleider; Scheren der Haare u. a. als „Selbstminderungsriten“) und spenden Trost (Trauerbrot; Trostbe‐ cher; Jer 16,7). Der Tote wird „zu seinen Vorfahren versammelt“ (Gen 25,8). Wie in der altorientalischen Umwelt herrscht auch im ↗ Tanach die Vorstellung eines Abstiegs in die Unterwelt (hebr. šə’ôl) vor. Das Totenreich ist ein finsteres „Land ohne Wiederkehr“, in dem die Toten ein schattenhaftes, kraftloses Dasein fristen ( Jes 14,10), das mit Schlaf vergleichbar ist (Hi 14,12). Sie sind von der Welt der Lebenden und von Gott als dem „Gott des Lebens“ getrennt (Ps 88,11-13 u. ö.). Im Neuen Testament ist das Totenreich der Hades, in dem - abgesehen von Lk 16,23 - der Aufenthalt jedoch begrenzt ist (Apg 2,31; Apk 20,13 f). Die „Hölle“ (griech. géhenna) hingegen gilt als Ort der ewigen Qual und des Gerichts (Mt 5,29 f; 23,33). Im ↗ Tanach dominiert die Vorstellung, dass die Totenwelt Gottes Machtbereich entzogen, ja ihm entgegenge‐ setzt ist. Totenkult sowie Nekromantie (Totenbefragung) werden strikt <?page no="142"?> abgelehnt (1 Sam 28). Erst allmählich entsteht der Gedanke, dass Gottes Macht auch in die Unterwelt reicht (sog. Kompetenzausweitung; Am 9,2; Ps 139,8). Gott ist Herr über Tod und Leben, er „tötet und macht lebendig, führt hinab in die Unterwelt und herauf “ (1 Sam 2,6). Im Neuen Testament wird das Bekenntnis, dass Gott lebendig macht, rezipiert und bes. auf Jesus bezogen (Röm 4,17 u. ö.). ■ Bewertungen und Deutungen des Todes: Steht der Tod am Ende eines langen und erfüllten Lebens, so kann er als zum Lebenslauf gehörig akzeptiert werden. Der ↗ Tanach bringt dies in der Wendung vom Sterben „alt und lebenssatt“ und „in gutem Alter“ zum Ausdruck (Gen 25,8; Hi 42,17; vgl. Lk 2,29). In Situationen der Not und Anfechtung kann der Tod auch ersehnt werden, z. B. von Jona, Jeremia oder Hiob ( Jon 4,8; Jer 20,14 ff; Hi 7,15 f). Weitaus mehr Texte bewerten den Tod negativ, wie die vielen Klagen über die Vergänglichkeit des Lebens zeigen (Ps 90,5 f u. ö.). Besonders gefürchtet ist der vorzeitige Tod (s. u.). Eine negative Sicht findet sich bei Kohelet: Der Tod ist der große „Gleichmacher“, der Gerechte wie Ungerechte, Weise wie Toren dahinrafft (Pred 2,16; 9,2). Im Tod gibt es keine Erinnerung, kein Wissen und keine Hoffnung, so dass ein „lebender Hund besser ist als ein toter Löwe“ (Pred 9). Daher sollte der Mensch jeden Augenblick genießen (Pred 3,12 f; 5,17 ff). Todesfurcht kann das Leben so bestimmen, dass es als „Knechtschaft“ erscheint (Hebr 2,15). Der bevorstehende Tod löst Angst aus (Mk 14,34). Die Bedrohlichkeit des Todes spiegelt sich in der personifizierten Rede vom Tod als Feind wider (1 Kor 15,26). ■ Deutungen des Todes Jesu: Von diesen Sichtweisen auf den Tod heben sich die verschiedenen Deutungen des Todes Jesu ab. Jesus stirbt den gewaltsamen Tod eines Märtyrerpropheten, der sein Leben für seine Botschaft einsetzt (Mk 12,1 ff; 1 Thess 2,15). Sein Leiden und Sterben werden in Anlehnung an die Tradition des leidenden Gerechten verstanden (vgl. Jes 52,13-53,12); so wird Jesus zum Vorbild für das Leiden der ihm Nachfolgenden (1 Petr 2,21-25). In Röm 3,25 wird sein Tod als stellvertretender Sühnetod gesehen, nach Röm 5,8; 1 Kor 15,3 ist er „für uns“ / „für unsere Sünden“ gestorben und erlöst uns von feindlichen Mächten (1 Kor 7,23 u. ö.). ■ Todeserfahrungen im Leben: Nach biblischem Verständnis gelten Formen der Lebensminderung bereits als Tod. Durch Einsamkeit, An‐ feindung und Gefangenschaft (sozialer Tod), körperliches Leiden und Gottverlassenheit geraten Menschen in die Nähe des Todes. Diese 142 3.9 Sterben und Tod <?page no="143"?> Todesnähe wird in den Klage- und Dankpsalmen wie eine reale Todes‐ erfahrung beschrieben (Ps 22; 88 u. ö.). Aus dem Tod „mitten im Leben“ kann Gott durch Heilung, Befreiung von Feinden oder Zuwendung seines Angesichts retten (Ps 30; 116). Auch das Neue Testament kennt die metaphorische Rede vom Tod: Der verlorene Sohn war tot und ist wieder lebendig (Lk 15,32 ↗ Metapher). Paulus erlebt Todesnot und Rettung durch Gott (2 Kor 1,9 f). Dass Gott Menschen aus dem Tod „mitten im Leben“ zu erlösen vermag, befördert die Hoffnung, dass er auch jenseits der Todesgrenze retten kann. Vorstellungen von der Überwindung des Todes ■ Entrückung: Eine Form der Überwindung des Todes ist die Entrü‐ ckung: Henoch und Elia werden von Gott aus dem Leben „genommen“, ohne zu sterben (Gen 5,24; 2 Kön 2,11). Die Entrückungsvorstellung wird in der Erzählung von Jesu Himmelfahrt rezipiert (Lk 24,51; Apg 1,9-11). Bei der Auferstehung aller Toten werden die noch Lebenden entrückt (1 Thess 4,17). Wundererzählungen berichten von Totenaufer‐ weckungen durch die Propheten Elia und Elisa oder durch Jesus (1 Kön 17,17 ff; 2 Kön 4,18 ff; Mk 5,21 ff ⫽ Lk 7,11 ff; Joh 11). Die Todesgrenze wird jedoch noch nicht endgültig überwunden, denn das neue diessei‐ tige Leben wird eines Tages mit dem Tod enden. Ab dem 5. / 4. Jh. v. Chr. kommt die Hoffnung auf ein Leben über den Tod hinaus auf. Dabei lassen sich verschiedene Vorstellungen unterscheiden: ■ ewige Gottesgemeinschaft: In den Psalmen wird die Entrückungsvor‐ stellung rezipiert und beschrieben, wie der gerechte Beter nach seinem Tod von Gott zu sich „genommen“ wird (Ps 49,16; 73,24; vgl. Weish 4,10 f). Nach der Weisheit Salomos sind die „Seelen“ der Gerechten nach dem Tod in Gottes Hand und Ruhe (Weish 3,1 ff; 4,7). ■ Vernichtung des Todes: ↗ Apokalyptische Texte verheißen, dass Gott den Tod für immer „verschlingt“ ( Jes 25,8; vgl. 1 Kor 15,54). Der Tod und das Totenreich müssen die Toten herausgeben und werden vernichtet (Apk 20,13 f), so dass der Tod „nicht mehr sein“ wird (Apk 21,4) (sog. zweiter Tod; Apk 2,11). Paulus schildert den Sieg Gottes über den Tod als „letzten Feind“ (1 Kor 15,26). ■ Auferstehung der Toten im Alten Testament: Im Alten Testament gibt es relativ wenige Belege. Die Vision von der Belebung der Toten‐ 143 Vorstellungen von der Überwindung des Todes <?page no="144"?> gebeine (Ez 37) ist zunächst eine bildliche Rede für die Neubelebung des Volkes Israel in der Exilszeit. Wider die bittere Realität („Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf “) wird die Auferstehung der „Leichname“ verheißen ( Jes 26,14.19). Das Danielbuch (2. Jh. v. Chr.) spricht von der Auferstehung der Gerechten zum „ewigen Leben“, der anderen zur „ewigen Schmach“ (Dan 12,2 f). 2 Makk 7 äußert die Hoffnung, dass alle zu Unrecht Leidenden auferstehen werden. Das Leben nach dem Tod wird aber auch kritisch hinterfragt: Alle Menschen müssen „an einen Ort“; mehr könne man nicht wissen (Pred 3,19 ff). ■ Auferstehung der Toten im Neuen Testament: In einem Streitge‐ spräch leugnen die Sadduzäer die Auferstehung (Mk 12,18 ff; vgl. Apg 23,8), Jesus hält ihnen jedoch entgegen: „Er ist nicht der Gott der Toten, sondern der Lebenden. Ihr irrt sehr“ (Mk 12,27). Zahlreiche Bekenntnisse sprechen aus, dass Gott den toten Jesus auferweckt hat (Mt 28; Mk 16; Lk 24; Joh 20-21; Röm 4,24; 10,9 u. ö.). Zentral ist 1 Kor 15: Christus wurde als „Erstling der Entschlafenen“ auferweckt; deshalb dürfen die Menschen auf die Auferstehung aller Toten hoffen (Röm 8,11; 2 Kor 4,14; 1 Thess 4,14 u. ö.). Daneben existiert die Vorstellung, dass das Sterben zu einem „Sein mit Christus“ führt (Phil 1,23). Jesus wird die Toten zu sich nehmen, „damit ihr seid, wo ich bin“ ( Joh 14,2 f; 17,24). Impulse ■ Welche sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi‐ schen der Wahrnehmung des Todes in allen genannten Facetten in den antiken, biblischen Texten und „heute“ - wobei zwischen „westlichen“ Gesellschaften und orientalischen, asiatischen u. a. Gesellschaften noch einmal markante Unterschiede zu beobachten sind? ■ Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beachtung der historischen Unterschiede zwischen den in den biblischen Texten vorausgesetzten Verhältnissen und der aktuellen Situation für soziales bzw. diakonisches Handeln? ■ Welche der verschiedenen biblischen Aussagen über die Überwindung des Todes sind für Sie persönlich nachvollziehbar und im beruflichen wie privaten Kontext aussagbar? Was würden Sie anders formulieren? 144 3.9 Sterben und Tod <?page no="145"?> Literatur B A R T H , Christoph 1997: Die Errettung vom Tod in den individuellen Klage- und Dank‐ liedern des Alten Testaments, neu hg. von Bernd Janowski, Stuttgart: Kohlhammer. F I S C H E R , Alexander A. 2005: Tod und Jenseits im Alten Orient und Alten Testament. Eine Reise durch antike Vorstellungs- und Textwelten. Studien zu Kirche und Israel, Neue Folge, Band 7. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. V O L P , Ulrich (Hg.) 2018: Tod. Themen der Theologie 4887. Tübingen: Mohr Siebeck. 145 Literatur <?page no="147"?> 4 Aspekte der Ethik <?page no="149"?> 4.1 Arbeit und Sklaverei Michael Rydryck Arbeit kann in den Lebenswelten der Bibel lebenslange Mühe bedeuten, aber auch sozialen Aufstieg. Feld- und Hausarbeit fallen darunter, Sklaverei, Handwerk und Handel, Militärdienst und (Ehren-)Ämter. Ethisch geht es den biblischen Texten und ihren Zeitgenossen nicht um eine Bewertung von Arbeit an sich, sondern um eine Wertung der arbeitenden Menschen, ihrer sozialen Rollen, Beweggründe, Praktiken und ihrer Ziele. Die antiken Stim‐ men zu Arbeit und Sklaverei sind vielfältig. Positive Wertungen bestimmter Formen von Arbeit bei Aristoteles, Cato, Columella und in der Bibel (Gen 2,15; Dtn 8,7-18; Rut 2; Mk 1,16-20; Apg 18,1-4; 1 Tim 5,18) stehen neben negativen oder kritischen Bewertungen bei Platon, Cicero und in der Bibel (Gen 3,17-19; Hi 7,1-3; Am 8,4-6; Lk 10,38-42; Apk 18). Phänomene, Praktiken und Bewertungen von Arbeit Unabhängige Arbeit (Landbesitzer, selbstständige Handwerker, Kaufleute, [Ehren-]Amtsträger) wird positiver bewertet als abhängige Arbeit (Tage‐ löhner, Pächter, kleine Handwerker und Händler, dienstleistende Gewerbe, Sklav*innen). Eine Ausnahme sind Soldaten, deren sozialer Status sich nicht daran, dass sie Sold empfangen, sondern an Dienstgraden und Auf‐ stiegsmöglichkeiten bemisst (2 Kön 5,1-19; Lk 3,12-14; 7,2-5). Negativ beurteilt wurden Zollpächter, deren Geschäfte aus Sicht der Herrschen‐ den zwar notwendig waren, deren Praktiken aber als unsozial galten. Freiheit ist der Unfreiheit vorzuziehen, obwohl Sklav*innen teils bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen hatten als freie Arbeitskräfte. Reichtum und Unabhängigkeit werden höher geschätzt als Armut und Abhängigkeit. Familienbezogene, häusliche Arbeit durch Frauen, Kinder und abhängige Familienangehörige ist ein Grundpfeiler der Ökonomie (Lehre von den Regeln des häuslichen Wirtschaftens). Dennoch wird häusliche, familienbe‐ zogene Arbeit nur unzureichend gewürdigt (Gen 18,4-9; 24,13-14; 37,12-14; Mk 1,29-31; Lk 10,38-42). Die Arbeit von Frauen bleibt oft unerwähnt, obgleich eine Frau, die effizient die häuslichen Arbeiten verrichtete bzw. <?page no="150"?> koordinierte, als Ideal galt und Frauen in römischer Zeit auch unabhängige Arbeit verrichteten (Apg 16,14-15). Unabhängige Arbeit Grundform unabhängiger Arbeit war die Landwirtschaft. Die Bewirtschaf‐ tung von Landbesitz konnte durch freie Bauern oder durch Verwalter und abhängige Arbeitskräfte erfolgen. In Israel galt der freie Bauer als Ideal, in Rom der Grundrentner, der von den Erträgen seines Besitzes unabhängig leben konnte. Unabhängigkeit durch Einkommen konnte auch durch Hand‐ werk und Handel sowie durch Militärdienst erreicht werden. Wer durch Arbeit und Einkommen unabhängig war, konnte als Arbeitgeber auftreten (Mk 12,1-9; Mt 20,1-16; Jak 5,1-6). (Ehren-)Ämter und Kommandoposten brachten nur in einigen Fällen Einkommen ein, verschafften ihren Trägern aber Macht und Ehre als sozialen Ausgleich. Politische Ämter und der Erwerb von Großgrundbesitz blieben den Oberschichten vorbehalten. In Landwirtschaft, Handel und Handwerk waren vor allem lokale und regio‐ nale Mittelschichten tätig. Ihnen standen auch religiöse Ehrenämter offen (1Tim 3,1-13). Den Stolz auf die geleistete Arbeit brachten die Oberschichten durch Titel, Inschriften, Bauwerke, Grabmäler und Statuen, durch Luxus und Wohltätigkeit zum Ausdruck. Die Mittelschichten manifestierten den Stolz auf ihre Arbeit in ihrem Lebensstil, doch auch in Grabmälern und Inschriften. Sozialbezogenes Handeln war die Brücke zwischen Erfolg und Prestige (Lk 7,1-9). Abhängige Arbeit Die Oberschichten grenzten sich durch Verachtung von den Arbeitsformen der Mittel- und Unterschichten ab. Abhängige Arbeit, Lohnerwerb und Prekarität galten als ethisch problematisch. In prekären Verhältnissen lebten Tagelöhner und Kleinpächter, kleine Handwerker und Händler, Dienstleis‐ tende wie Ärzte, Lehrer, Prostituierte, Schauspieler und Musiker, alle, die ihren Lebensunterhalt bedarfs- und saisonabhängig erwirtschaften mussten. Abhängigkeit, von der die Ober- und Mittelschichten profitierten, wies Arbeitenden eine niedere soziale Stellung zu. Freie, aber arme Bürger*innen, Freigelassene, Fremde und Sklav*innen konkurrierten bei Arbeitssuche und 150 4.1 Arbeit und Sklaverei <?page no="151"?> Lohnverteilung. 2 Thess 3,6-15 hält Arbeit zum eigenen Lebensunterhalt für geboten. Wer seine Arbeitsleistung einbringt, dem steht ein gerechter Ge‐ genwert zu (Num 18,31; Dtn 25,4; Lk 10,1-12; 1 Kor 3,8; 1 Tim 5,18). Prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse abhängig Beschäftigter führten biblische Autor*innen zu einer kritischen Sicht auf ungerechte oder vorenthaltene Löhne ( Jer 22,13; Jak 5,4) und zur Formulierung von Normen für Arbeitgeber (Dtn 24,14-15; Lev 19,13; Hi 7,2; Mal 3,5). Sklaverei Antike Diskurse über Sklaverei sind abhängig von den jeweiligen Macht‐ verhältnissen, Kulturräumen und Lebenswelten. Sklaverei ist eine soziale Institution: Sklav*innen sind nicht nur abhängig Arbeitende, sie sind unfrei, d. h. in einem absoluten Sinn mit Leib und Leben abhängig. Versklavung geschah durch Kriegsgefangenschaft, Menschenraub, Kindesaussetzung, Verschuldung oder Geburt. Sklavenhandel war eine verachtete Form der Arbeit. Vielfältig wie die Arbeitsbereiche von Sklav*innen (Bergwerke, Feld‐ arbeit, Prostitution, Hausarbeit, Heilkunde, Bildung, Handwerk, Leiharbeit etc.) waren ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Anders als Tagelöhner waren Sklav*innen ganzjährig mit Nahrung, Obdach und Kleidung versorgt. Schuldsklaverei war verbreitet, wurde aber wegen des sozialen Sprengstof‐ fes - hier wurden sozial Nahestehende und keine Fremden versklavt - nahezu überall eingeschränkt und schließlich im Römischen Reich verboten. Es gab regional unterschiedliche Möglichkeiten von Freilassung und Frei‐ kauf, die im Römischen Reich auch die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs boten und so die Institution der Sklaverei stabilisierten. Die wirtschaftliche Bedeutung der Sklaverei ist umstritten und kann nur regional differenziert und in Bezug auf andere Formen abhängiger Arbeit betrachtet werden. Die antiken Gesellschaften waren durch Sklaverei geprägt, ihre Wirtschaft war es nicht in jedem Fall. Sklaverei wird biblisch keineswegs rein negativ oder kritisch bewertet. Die biblischen Texte reden zwar über Sklav*innen, aber selten mit ihnen. Sklav*innen haben keine Stimme (Apg 16,16-22). Die Texte setzen Sklaverei lebensweltlich einfach voraus (Lk 17,7-10; Joh 8,31-36; Gal 4,1-7). Vor dieser Folie sind Aussagen zu beurteilen, die eine Gleichheit von Sklav*innen und Freien (in Christus, nicht in der Lebenswelt! ) zum Ausdruck bringen (Gal 3,25-29). Die Abhängigkeit von Sklav*innen führt bereits im Alten 151 Sklaverei <?page no="152"?> Testament zu Schutzbestimmungen (Ex 21,2-11; Dtn 21,10-14). Ethisch mahnen biblische Texte zur Unterordnung der Sklav*innen (1Petr 2,18-25), erinnern aber an die eigene Geschichte als Abhängige (Ex 22,20; Dtn 5,1-15; 26,5-9). Die Arbeitsruhe am ↗ Sabbat gilt daher auch für Sklav*innen. Impulse ■ Welche sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi‐ schen der Wahrnehmung menschlicher Arbeit in den biblischen Texten und heute? ■ Welche gravierenden Veränderungen der Arbeitswelt im Hinblick auf Digitalisierung, Globalisierung und deren Auswirkungen auf Menschen nehmen Sie wahr? ■ Welche Rolle spielen Sklaverei oder vergleichbare Abhängigkeitsver‐ hältnisse heute, z. B. im modernen Prostitutionsgewerbe oder noch vorhandener Kinderarbeit? ■ Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beachtung der historischen Unterschiede zwischen den in den biblischen Texten vorausgesetzten Verhältnissen und der aktuellen Situation für soziales bzw. diakonisches Handeln? Literatur A L K I E R , Stefan, K E S S L E R , Rainer & R Y D R Y C K , Michael 2016: Wirtschaft und Geld. Lebenswelten der Bibel 1. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. F L AI G , Egon 2018: Weltgeschichte der Sklaverei. Stuttgart: C. H. Beck. V O N R E D E N , Sitta 2015: Antike Wirtschaft. Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike 10. Berlin und Boston: De Gruyter. S O M M E R , Michael 2013: Wirtschaftsgeschichte der Antike. Stuttgart: C. H. Beck. 152 4.1 Arbeit und Sklaverei <?page no="153"?> 4.2 Armut und Reichtum Sabine Bieberstein „Arme wird es bei dir nicht geben“, verheißt Dtn 15,4 für das Land, das dem Volk Israel versprochen ist. Das ist Teil des Segens, den Israel erlangen wird, wenn es die Weisungen Gottes befolgt. Doch nur ein paar Verse später heißt es: »Es wird immer Arme geben im Land« (Dtn 15,11). In dieser Spannung stehen die biblischen Texte. Armut als Skandal Biblische Texte nehmen Armut realistisch wahr. Doch sie sind sich einig: Ar‐ mut ist ein Skandal. Sie entspricht nicht dem, was Gott für die Menschen will. Deshalb muss Armut überwunden werden. Weisheitliche Texte beschreiben und entlarven damit die Realität von Armut. Prophetische Texte kritisieren gesellschaftliche Strukturen, die Menschen in Armut geraten lassen und Führungseliten, die davon profitieren. Texte der ↗ Tora entwickeln Weisun‐ gen, wie die Auswirkungen von Armut zu mildern sind und rufen dafür alle in die Verantwortung. In die Verantwortung gerufen sind diejenigen, die mehr haben als die Armen, und besonders die Reichen. Dabei wird Reichtum an sich nicht von vornherein als schlecht angesehen. Im Gegenteil: Reichtum kann als Geschenk Gottes (Pred 5,18; 6,2; 1 Sam 2,7), als Folge gerechten Handelns (Erzeltern, Könige wie David und Salomo, Hiob) oder Ausdruck des Segens Gottes (Gen 24,35; Dtn 8,17 f; Ps 65,10; Spr 10,22) gelten. Doch er wird zum Problem, wenn er erstens die Gedanken und Kräfte von Menschen bindet, und vor allem zweitens, wenn er unrechtmäßig und auf Kosten von anderen erworben wurde. Hier setzt die schonungslose prophetische Kritik ein. Auch das Neue Testament sieht Reichtum kritisch: Er verhindert, dass Menschen Jesus nachfolgen (Mk 10,17-27). Daher gilt es, den eigenen Besitz zugunsten von Armen einzusetzen (Lk 12,33). <?page no="154"?> Geschichtliche Entwicklungen Ein Blick auf die Geschichte Israels und Judas zeigt eine Entwicklung hin zu einer immer größeren gesellschaftlichen Differenzierung und, damit ein‐ hergehend, eine immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich. Ausgrabungen von frühen Siedlungen des Berglandes aus dem 12. / 11. Jahr‐ hundert v. Chr. deuten auf eine Gesellschaft hin, die egalitäre Züge vermuten lässt. Die Wohnhäuser haben alle ungefähr die gleiche Größe, Repräsentativ‐ bauten fehlen. Mit der Entstehung der beiden Staaten Israel und Juda werden die sozialen Unterschiede größer. Die Landwirtschaft, die bis dahin auf Selbstversorgung ausgerichtet war, muss zunehmend Steuern und Abgaben erbringen, das verwandtschaftliche Sozialsicherungssystem wird zerstört, Kriegsereignisse, Missernten und der Ausfall von Arbeitskräften führen rasch zu Ver- und Überschuldung. Ehemals selbstständige Kleinbauern werden zu abhängigen Pächtern oder landlosen Lohnarbeitern. Diese Ent‐ wicklung verstärkt sich über die gesamte Königszeit hinweg und setzt sich in der persischen und hellenistisch-römischen Zeit fort. Neutestamentliche Texte machen Armut und Verschuldung sowohl in Galiläa und Judäa in der Zeit Jesu, als auch in den frühen Paulusgemeinden sichtbar. In neutes‐ tamentlicher Zeit lebt ein großer Teil der Bevölkerung am oder unter dem Existenzminimum. Als Kehrseite dieser Entwicklung ist zu beobachten, wie eine kleine Schicht immer wohlhabender werdender Großgrundbesitzer entsteht, die immer größere Teile des Landes unter ihre Kontrolle bringt. Armutsrisiken und Folgen von Armut Armut und Reichtum sind relative Begriffe und können im Einzelfall ver‐ schiedenes bedeuten. Es gibt Bettelarme, die unter dem Existenzminimum leben und buchstäblich nackt und obdachlos sind (Hi 24; Lk 16,20 f), ebenso wie relativ Arme, die zwar viel weniger als Wohlhabende besitzen, doch einigermaßen stabil am Existenzminimum oder darüber leben. Ähnlich gehören die Wohlhabenderen aus der christusgläubigen Gemeinde von Korinth, die durch ihr Verhalten die Armen brüskieren (1 Kor 11,17-34), ganz sicher nicht zur wirklich reichen Oberschicht der Stadt. Armut hat zuerst eine ökonomische Seite (→ 4.7 Wirtschaft und Geld). Frei wirtschaftende Kleinbauern verarmen, wenn sie Darlehen nicht zurück‐ zahlen können und Tiere und Felder verpfänden oder Kinder oder sich selbst 154 4.2 Armut und Reichtum <?page no="155"?> in Schuldsklaverei geben müssen. Tagelöhner*innen müssen von dem, was sie an einem Tag verdienen, sich und ihre Familie ernähren. Finden sie keine Arbeit, fehlt das Einkommen. Wer nicht arbeiten kann, muss betteln, um überleben zu können. Witwen, Waisen und Fremde unterliegen einem besonders hohen Armutsrisiko. Die zuletzt genannten Gruppen machen deutlich, dass Armut auch mit einer rechtlich prekären Lage verbunden ist. Witwen und Waisen sind nicht rechtsfähig, sondern auf Fürsprecher vor Gericht angewiesen. Gerichte werden von reichen Männern dominiert, von denen die Armen abhängig sind. Bestechungsgelder können von Armen nicht aufgebracht werden. Schließlich bedeutet Armut vielfach auch soziale Isolation (Spr 14,20) und eine ungleich höhere Gefahr als für Reiche, ↗ Opfer von Willkür und physischer Gewalt zu werden (2 Kön 4,1-7). Drastisch wird ein Leben in Armut in Hi 24 oder Lk 16,20 f geschildert. Anschaulich wird der Luxus der Reichen beschrieben (Am 6,4; Spr 10,15; 14,20). Verantwortung der Reichen Weisheitliche Texte zeichnen ein realistisches Bild von der Lage der Armen (Spr 10,15; 14,20). Weil aber Arme ebenso wie Reiche Geschöpfe Gottes sind (Hi 31,15), soll ihnen mit Respekt und Erbarmen begegnet werden: »Wer einen Geringen unterdrückt, schmäht seinen Schöpfer, aber wer Erbarmen hat mit einem Armen, ehrt ihn.« (Spr 14,31; vgl. 17,5) Frühe Schriftpropheten wie Amos, Hosea, Jesaja, Micha oder Jeremia durchschauen als erste, wie der Reichtum der einen mit der Armut der anderen zusammenhängt. Sie geißeln ungerechte sozialökonomische Struk‐ turen und »decken auf, dass Rechtsmissbrauch, Rechtsverweigerung und Korruption sowie die rücksichtslose wirtschaftliche Ausbeutung unter dem Anschein des Rechts und die Durchsetzung der Profitinteressen mit Gewalt die Hauptursachen der Verarmung großer Teile des Volkes sind (Am 3,10; 4,1; Jes 1,15-17.21-23; Mi 2,1-2; 6,10-12).« (S CHÄF E R -L ICHT E N B E R G E R / S CHOTT ‐ R O F F 2009: 23; vgl. K E S S L E R 2015, S. 8) Als Konsequenz drohen sie den Reichen das Gericht Gottes - zum Beispiel in Form von Kriegsverwüstungen - und den Verlust ihres Besitzes an (Am 4,1-3; Jes 5,8-10; Mi 3,1-4), müssen jedoch einsehen, dass solche Katastrophen auch die Armen treffen, so dass diese ein zweites Mal zu Opfern werden. So richten spätere Fortschreibungen den 155 Verantwortung der Reichen <?page no="156"?> Blick in eine Zukunft, in der die Armut endgültig überwunden sein wird (Am 9,10.13-15; Jes 29,19 f). Die Sozialgesetze der ↗ Tora geben Hinweise, wie die Armen zu ihrem Recht kommen und die Folgen von Armut gemildert werden können (vgl. zum Folgenden Kessler 2015, S. 10-12). Theologisch verankert sind sie in der erzählerischen Einbettung der Gebote, konkret in das Thema des Segens im Buch Genesis und das Thema der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten in den Büchern Exodus bis Deuteronomium. Sie beruhen auf einem Bild von Gott, der auf der Seite der Armen und Erniedrigten steht und für ihr Recht sorgt. Entsprechend sollen die Israelit*innen handeln (Dtn 10,17-19). Die Sozialgesetze dienen erstens der Prävention. Dazu gehören das Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35-38; Dtn 23,20) oder Beschränkungen bei der Pfandnahme (Ex 22,25 f; Dtn 24,6.12 f17). Zweitens sollen sie die Folgen von Armut abmildern. So wird Armen das Recht auf Nachlese auf Feldern, Wein‐ bergen oder Olivenhainen zugestanden (Lev 19,9 f; 23,22; Dtn 24,19-22), sie dürfen auf den alle sieben Jahre brach liegenden Feldern das abernten, was von selbst gewachsen ist (Ex 23,10 f; Lev 25,2-7), und der Zehnte jedes dritten Jahres soll den Armen zugute kommen (Dtn 14,28 f; 26,12). Damit bezeugt das Buch Deuteronomium den Beginn einer Wohlfahrtspflege, die nach dem Zeugnis späterer Texte weiterentwickelt wird (2 Makk 3,10). Drittens sollen sie soziale Schieflagen regulieren: Alle sieben Jahre soll ein allgemeiner Schuldenerlass stattfinden (Dtn 15,1-11), Schuldsklav*innen sollen nach sechsjähriger Dienstzeit entlassen werden (Ex 21,2-6; Dtn 15,12-18). Im Neuen Testament ist es vor allem das lukanische Doppelwerk, das der Gemeinde konkrete Maßnahmen gegen die Armut an die Hand gibt. Ein erstes Modell verlangt den völligen Besitzverzicht zugunsten der Armen (Lk 12,33; 14,33). Ein zweites Modell favorisiert den innergemeindlichen Ausgleich und legt das Teilen des Besitzes ans Herz (Lk 3,1; 19,8). Als Ideal wird die Jerusalemer Urgemeinde gezeichnet, in der Gütergemeinschaft gepflegt wird (Apg 2,44-47; 4,32-35). Darin erfüllt sich einerseits die Verheißung aus Dtn 15,4, dass es »bei euch keine Armen geben wird«. Andererseits soll dieses Modell der Gemeinde eine Praxis der Gerechtigkeit ans Herz legen, in der Besitz so eingesetzt wird, dass er dem Leben aller dient. 156 4.2 Armut und Reichtum <?page no="157"?> Impulse ■ Welche sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi‐ schen der Wahrnehmung von Armut und Reichtum in den biblischen Texten und heute? ■ Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beachtung der historischen Unterschiede zwischen den in den biblischen Texten vorausgesetzten Verhältnissen und der aktuellen Situation für soziales bzw. diakonisches Handeln? Literatur B E R G E S , Ulrich & H O P P E , Rudolf 2009: Arm und reich. Neue Echter Bibel Themen 10. Würzburg: Echter Verlag. K E S S L E R , Rainer 2015: Armut und Reichtum im Alten Testament. In: Una Sancta 70, S. 2-13. S C HÄF E R -L I C H T E N B E R G E R , Christa & S C H O T T R O F F , Luise 2009: Armut. In: Frank Crüse‐ mann, Kristian Hungar, Claudia Janssen, Rainer Kessler, Luise Schottroff (Hg.): Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 22-26. S C HÄF E R -L I C H T E N B E R G E R , Christa & S C H O T T R O F F , Luise 2009: Reichtum. In: Frank Crüsemann u. a. (Hg.): a. a. O., S. 466-471. 157 Impulse <?page no="158"?> 4.3 Asyl, Ausländer und Fremde Markus Zehnder Asyl bedeutet erstens ein „Heim“ bzw. Unterkunft für Obdachlose, zweitens Aufnahme und Schutz für Verfolgte, drittens einen Zufluchtsort. In der öf‐ fentlichen Debatte spielt der Schutz für Obdachlose nur eine untergeordnete Rolle. Für das diakonische Handeln kirchlicher und anderer Institutionen ist diese Dimension aber genauso wichtig wie die üblicherweise mit dem Begriff verbundenen (anderen) Fragestellungen. Im modernen, internatio‐ nalen Asylrecht westlicher Prägung stand bis gegen Ende des 20. Jhs. der Schutz vor individueller Verfolgung im Vordergrund. Seither ist der Begriff, parallel zum Begriff des Flüchtlings, jedoch stark ausgeweitet worden und wird auch auf die Aufnahme von Einzelnen und Gruppen von Migranten unterschiedlichster Art angewandt. Asyl - biblische Perspektiven In praktisch allen Teilen des Alten Testaments und sporadisch im Neuen Testament finden sich Hinweise auf die Aufnahme von Menschen, die ihren Herkunftsort aufgrund ökonomischer Not verlassen haben und sich an einem fremden Ort niederlassen (Gen 12,10-20; 46-50). Daneben gibt es Berichte über Individuen, die sich durch Flucht ins Ausland dem Zugriff eines Königs entziehen (1 Kön 12,2; Mt 2,13-15.19-22). Im Neuen Testament wird zu individueller Gastfreundschaft aufgefordert (1Tim 3,2; Tit 1,8; 1 Petr 4,9; Hebr 13,2). Hier liegen aber keine direkten Bezüge zur aktuellen Asyldiskussion vor, bei der u. a. auf Mt 25,35-40 ver‐ wiesen wird. Allerdings sind in Mt 25 nicht Fremde allgemein, sondern von außen kommende Glieder der Gemeinde Jesu im Blick, und die Bezugsebene ist nicht der Staat, sondern die Nachfolger*innen Jesu als Privatpersonen (→ 7.5 Weltgericht). <?page no="159"?> „Asylstädte“ Bestimmungen zur Einrichtung sog. Asylstädte finden sich in Num 35,9-34; Dtn 4,41-43; 19,1-13 und Jos 20,1-9. In Ex 21,13 f wird unspezifisch von einem „Ort“ (hebr. māqôm) gesprochen. Im Grundsatz geht es darum, dass einer Person, die unabsichtlich den Tod einer anderen Person verursacht hat, ein Ort des Schutzes vor dem Zugriff des Bluträchers gewährt werden soll. Nur in dem Fall einer vorsätzlichen Tötung soll dem Täter der Schutz des Asyls entzogen werden. Dieser kommt nicht nur Israeliten, sondern auch Beisassen zugute, dagegen nicht anderen Kategorien von Fremden. Im Unterschied zum heutigen Diskurs geht es biblisch erstens nur um einen konkreten Rechtsfall (unabsichtliche Tötung). Zweitens ist nur eine geringe Zahl von Individuen im Blick, und drittens wird Asyl nur bereits im Land wohnenden Beisassen sowie Israeliten gewährt. Ausländer und Fremde - biblische Perspektiven Eine abstrakt-einheitliche bzw. verallgemeinernde Auffassung von Auslän‐ dern und Fremden gibt es in der Bibel nicht. Im Alten Testament wird zwischen zwei Hauptgruppen von Fremden auf der individuellen Ebene unterschieden. Bei den in Israel sich aufhaltenden „Beisassen“ (hebr. ger) handelt es sich vermutlich in den meisten Fällen um Personen, die ih‐ ren ursprünglichen Wohnort unfreiwillig verlassen haben. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Israeliten so bezeichnet werden konnten; aber zumeist wird es sich um Fremdstämmige handeln. Während in der gegen‐ wärtigen Situation Fragen der Zulassung Fremder und der Anerkennung von Asylgründen einen großen Stellenwert einnehmen, werden diese im Alten Testament kaum behandelt - eine der markantesten Ausnahmen ist Dtn 23,2-9. Vielmehr geht es in den meisten Bestimmungen darum, wie mit den vorfindlichen Beisassen u. a. Fremden zu verfahren ist. Es lassen sich dabei zwei Hauptkategorien unterscheiden. Glieder der ersten Gruppe (der „Beisassen“) sind solche Personen, die bereit sind, sich auf allen Ebenen weitgehend zu assimilieren. Glieder der zweiten Gruppe (der nåkrî, „Fremde“, der allermeist freiwillig, z. B. aus geschäftlichen Gründen, nach Israel gekommen ist) verharren emotional, kulturell oder religiös in größerer Distanz zur Gesellschaft, in der sie sich (temporär) aufhalten. 159 „Asylstädte“ <?page no="160"?> Unterscheidungen werden auch auf der kollektiven Ebene vorgenommen. Hier sind Abgrenzungsstärker vertreten als Inklusionstendenzen, jeden‐ falls soweit es um die Bewahrung der religiösen Identität und Integrität Israels geht (vgl. die auf die kanaanäischen Vorbewohner bezogenen Texte). Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang das Gesetz über den Eintritt in die Gemeinde in Dtn 23,2-9. Hier wird festgelegt, dass nicht-israelitische Eunuchen, Ammoniter und Moabiter bis ins zehnte Geschlecht, d. h. grund‐ sätzlich nicht in die Gemeinde ↗ JHWHs aufgenommen werden können, Edomiter und Ägypter erst nach der dritten Generation. Interessanterweise wird hier unterschieden zwischen Aufenthalts- und Mitbestimmungsrecht; im Blick auf jenes gibt es für die genannten Gruppen keine Einschränkun‐ gen, wogegen für dieses enge Begrenzungen gelten. Damit lässt sich hier das Modell einer Gesellschaft finden, in der auch auf längere Sicht verschiedene Klassen von unterschiedlich integrierten Landesbewohnern nebeneinander leben. Rechte und Pflichten von „Beisassen“ In den alttestamentlichen Rechtssammlungen wird der Beisasse vor Bedrü‐ ckung jeder Art in Schutz genommen (Ex 22,21; 23,9) und durch besondere wirtschaftliche Förderungsmaßnahmen unterstützt. Zu diesen gehören ins‐ besondere die Bestimmungen zur Nachlese (Lev 19,10; 23,33; Dtn 24,19-22) und zum Empfang eines Teils des Zehnten in jedem dritten Jahr (Dtn 14,28-29; 26,11-13). Es ist diese Reihe von Texten, die in der aktuellen Debatte am meisten zitiert (und dann direkt auf die heutige Situation übertragen) wird, zusammen mit den Aufforderungen, den Beisassen zu lieben (Lev 19,34; Dtn 10,19, vgl. Mt 25). Es darf aber nicht übersehen werden, dass die hier angesprochenen alttestamentlichen Texte nicht vom Fremden im Allgemeinen, sondern nur vom Beisassen sprechen. So werden etwa Fremde, die sich nicht dauerhaft in die Volksgemeinschaft einfügen wollen, von spezifischen Förderungsmaßnahmen wie dem Schuldenerlass im Sabbatjahr (↗ Sabbat) oder dem Zinsverbot ausdrücklich ausgenommen (Dtn 15,3; 23,20-21). Zudem handelt es sich bei diesen Bestimmungen nicht um juristisch einklagbares Staatsrecht. Das ist ein häufiges Missverständnis alttestament‐ licher Rechtssammlungen im Sinne von modernen Gesetzbüchern. Ebenfalls fällt ins Gewicht, dass die Adressaten der Bestimmungen Privatpersonen 160 4.3 Asyl, Ausländer und Fremde <?page no="161"?> sind, nicht staatliche Instanzen; die praktische Hilfe geschieht im Grundsatz auf privater Basis und nicht unter staatlichem Zwang. Wichtig ist schließ‐ lich, dass diese sozialen Fürsorgemaßnahmen mit Ausnahme des Anteils am Zehnten keine freien Abgaben an die Empfänger beinhalten; sondern es wird, wie etwa im Fall der Nachlese, vorausgesetzt, dass die neu Hinzu‐ gekommenen selber aufs Feld gehen und das für ihren Lebensunterhalt Notwendige einsammeln. Im Falle des Zehnten besteht die Unterstützung aus agrarischen Produkten, die mit dem Beisassen und anderen bedürftigen Personen lokal geteilt, nicht national umverteilt werden. Den Rechten der Beisassen stehen Pflichten gegenüber, insbesondere die Übernahme der „zivilen“ Ordnungen Israels, aber auch ein Mindestmaß an Anpassung im religiösen Bereich. Dazu gehört das Halten des Arbeitsver‐ botes am ↗ Sabbat und am Versöhnungstag (Ex 20,10; Lev 16,29). Moderne Verkürzungen im Rückgriff auf die Bibel Im aktuellen Diskurs um Fragen der Zulassung von Fremden oder einer an‐ gemessenen Regelung des Verhältnisses von Einheimischen und Menschen mit Migrationshintergrund treten Verkürzungen im Rückgriff auf die Bibel auf. Dies betrifft die beschränkte Auswahl von Texten, wobei solche Texte ausgeblendet werden, die bevorzugten einfachen Modellen entgegenstehen. Historisch und soziologisch anders gefüllte Kategorien werden auf aktuelle Migrationsphänomene übertragen (z. B. Begriff des „Beisassen“). In der kanonischen Endgestalt der Bibel, die für ihre ethische Interpre‐ tation und Anwendung von Bedeutung ist, sind die konkreten Einzelan‐ weisungen zum Umgang mit Fremden eingebettet in einen umgreifenden theologischen Kontext. Zu diesem gehört u. a., dass jedem Menschen, unab‐ hängig von seiner ethnischen Herkunft, eine unbegrenzte Menschenwürde aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit zukommt (Gen 1,26 f; 9,6 → 3.7 Men‐ schenwürde). Damit ist jeder prinzipiellen Verachtung Fremder der Boden entzogen. Allerdings sind damit zwei Dinge nicht impliziert: eine Bevorzu‐ gung Fremder gegenüber Einheimischen, und ein prinzipielles Recht auf Einwanderung und Ansiedlung an jedem Ort. Bei der Übertragung alttestamentlicher Texte auf aktuelle Migrationsfra‐ gen ist weiter zu beachten, dass im Falle des biblischen Israel das Maß, in dem sich der Fremde einzufügen bereit ist, mit dem Maß an Aufnahmebzw. Integrationsbereitschaft seitens der Einheimischen korrespondiert. Das 161 Moderne Verkürzungen im Rückgriff auf die Bibel <?page no="162"?> steht im Gegensatz zu Versuchen, die Erteilung von Rechten verschiedenster Art an nicht oder nur wenig angepasste Fremde als Mittel der Integration zu gebrauchen. Da positive Förderungsmaßnahmen zugunsten von Beisassen in den alttestamentlichen Texten fast immer in Parallele zur Unterstützung von Witwen und Waisen (und manchmal Leviten) gesetzt werden, legt es sich nahe, Hilfe an Fremden nicht gegen die Unterstützung anderer hilfsbe‐ dürftiger Personen(gruppen) auszuspielen oder Ersteren eine prinzipielle Vorrangstellung einzuräumen. Schließlich ist festzustellen, dass sich in den biblischen Texten keine Hinweise auf eine Pflicht seitens der Rezeptionsgesellschaft finden, ihre überkommenen kulturellen Werte zugunsten neu Hinzukommender aufzu‐ geben. Impulse ■ Welche sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi‐ schen Migration in den biblischen Texten und Migration heute? ■ Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beachtung der historischen Unterschiede zwischen den in den biblischen Texten vorausgesetzten Verhältnissen und der aktuellen Situation für soziales bzw. diakonisches Handeln? Literatur D I E T R I C H , Christine 2008: Asyl. Vergleichende Untersuchung zu einer Rechtsinstitution im Alten Israel und seiner Umwelt. Stuttgart: Kohlhammer. W A G N E R , Volker 2009: Asyl / Asylrecht (AT). In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 14153/ (Zugriffsdatum: 11. 04. 2021). Z E H N D E R , Markus 2005: Umgang mit Fremden in Israel und Assyrien. Stuttgart: Kohlhammer. Z E H N D E R , Markus 2016: Erwägungen zur Migration im Licht des Alten Testaments. Berliner Theologische Zeitschrift 33, S. 197-218. 162 4.3 Asyl, Ausländer und Fremde <?page no="163"?> 4.4 Krieg und Frieden Jörg Lanckau Es ist einer der modernen Irrtümer, dass Religion per se und so auch die Bibel Gewalt und Kriege hervorbringen oder legitimieren würde. Im Jahr 2003 begannen westliche, demokratische Staaten völkerrechtswidrig einen mehrheitlich mit Lügen legitimierten und bis heute folgenschweren Angriffskrieg im Nahen Osten - eine kritische Auseinandersetzung damit dürfte dazu beitragen, die geläufigen Vorurteile über die Monotheismen zu überprüfen (ausführlich S TAU B LI / S CH R O E R 2014: 299). Bewaffnete Konflikte aller Art begleiten die gesamte Geschichte der Menschheit und korrelieren verhängnisvoll mit ihrer technologischen Entwicklung. Eine Welt ohne Tod Biblische Texte setzen sich durchgängig mit der Erfahrung des Krieges (milḥāmāh, synonym „Schwert“) als Grundkonstante der menschlichen Geschichte und der ebenso langgehegten Hoffnung auf Frieden (šālôm) auseinander (vgl. grundlegend O B E R MAY E R 2011). Das „Paradies“ wird als ideale Kulturlandschaft beschrieben, in der nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere vegan leben (Gen 1,28 f). Natürlich war dies auch für antike Menschen eine utopische Vorstellung, lebte man doch von Haustieren und wusste, dass Tiere sich gegenseitig fressen und Raubtiere dem Menschen gefährlich werden können. Es handelt sich um die Leitidee einer erlösten Welt ohne Tod. Konsequent gedacht, muss eine Utopie absoluten Friedens den Tod überwunden sehen. Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch viele biblische Texte (z. B. Jes 11,5-8; Joh 5,24; 8,51 f; Röm 5,12-14; 1Kor 15,21-25; 1 Joh 3,14 f; Apk 20,14; 21,4). Gott als Kriegsherr? Auf der anderen Seite werden geläufige Vorstellungen aus dem Alten Orient unkritisch in biblischen Texten wiedergegeben: Der Nationalgott sei der <?page no="164"?> eigentliche Kriegsherr, der das Chaos bekämpft, so dass die Kriegsbeute ihm als Herrn über Leben und Tod zur „Vernichtung“ (ḥeræm, oft mit „Bann“ oder „Gebanntes“ übersetzt) geweiht wird. Die Kriegsideologie ist also niemals rein profan zu denken. Die Mescha-Stele aus dem benachbarten Moab (850 v. Chr., W AG N E R 2006) belegt dieselben Vorstellungen wie z. B. Dtn 20,17 f. Auch im antiken Israel wurde der Kriegsgott vor den Schlachten mittels Orakel befragt, um sich nicht dessen Zorn zuzuziehen, z. B. am Reichshei‐ ligtum Betel, an welchem Gott mittels Inkubation, d. h. bewusst gesuchter Träume befragt wurde (Ri 20). Allerdings enthält diese Darstellung stufen‐ weiser Gottesbefragung einen eindeutig kriegskritischen Unterton. Der beschriebene Konflikt zwischen Israeliten, Judäern und Benjaminitern wird als tragisch und verheerend markiert. „Fake-News“ über eine angebliche Schandtat letzterer (Ri 19) lösten ihn aus. Ein religiöser Eiferer (Pinchas, vgl. Num 25,7-13; 31,4-8; Ri 20,28) bestimmt die Auslegung der Gottesbe‐ fragung und treibt die Konfliktparteien weiter bis zur kriegsentscheidenden Schlacht. In diesem Sinn wurden Siege als göttlich gewollt und Niederlagen als Folge der Abwesenheit Gottes gedacht (O B E R MAY E R 2011). Kriegshelden werden gern verehrt, von Alten Orient bis heute. Wenn der legendäre König David sich des Beistandes Gottes in seinen Eroberungszü‐ gen versichert, verwundert das nicht (2 Sam 18,14). Vielmehr überrascht die explizite und generelle Kritik am Kriegshandwerk in der späteren Relecture der Texte in den Chronikbüchern: „Du hast viel Blut vergossen und große Kriege geführt; du wirst meinem Namen kein Haus bauen, denn du hast vor mir viel Blut auf die Erde fließen lassen.“ (1 Chr 22,8; 28,3; vgl. auch 2 Sam 16,8). Hier wird im Unterschied zum altorientalischen common sense unterstellt, dass sich Gottes- und Kriegsdienst nicht vereinbaren lassen. Mutige Worte wider den Krieg Die militärische Westexpansion des neuassyrischen Reiches im 8. Jh. v. Chr. spiegelt sich intensiv in biblischen Texten (v. a. 1-2 Kön; Jes). Die Eroberung der Hauptstadt Nordisraels Samaria durch Salmānu-ašarēd V. (bibl. Salma‐ nassar 2 Kön 17,6) im Jahr 722 v. Chr. und die Eroberung der judäischen Festungsstadt Lachisch 701 v. Chr. durch Sîn-aḫḫe-eriba (bibl. Sanherib) wurden als traumatisch erfahren. Dass der judäischen Hauptstadt Jerusa‐ lem Gleiches erspart bleibt, wird in rückblickender Geschichtsschreibung 164 4.4 Krieg und Frieden <?page no="165"?> dem rettenden Eingreifen eines göttlichen Todesengels zugeschrieben, der allein 185 000 assyrische Soldaten vernichtet haben soll (1 Kön 18,32-35 vgl. motivisch verwandt mit Ex 12,29). Obgleich die hohen Tribute des Königs Ḫazaqijā’u von Ja’udā (biblisch: Hiskia von Juda) als Beitrag zur Rettung nicht ausgeblendet werden dürfen (Rassam-Zylinder 49-58 vgl. H E C K E R 2005: 71 f), dürfte das Erleben realer Bedrohung durchaus den historischen Hintergrund des berühmten Bildes vom Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen darstellen. Das ausformulierte Prophetenwort fand aber erst nachexilisch Eingang in die Buchrollen des Jesaja (2,2-5) und Micha (4,1-5). Die Völker werden „den Krieg nicht mehr lernen“ und pädagogisch aktiv ihre friedliche Zukunft gestalten. So inspirierte das Wort die Friedensbewegung im Europa im 20. Jh. In der Titelinschrift der Skulptur J. W. Wutschetitschs (1957) im Garten des UNO-Hauptgebäudes wird die prophetische Heilsschilderung zum Gelöbnis formuliert (K O E N E N 2017). Dagegen zeichnet Jo 4,10 mit der bewussten Umkehrung des Spruchs eine düstere Endzeit, in dem Gott selbst die Völker militärisch herausfordert, ins eigene Verderben zu rennen. Welche Version sich bewahrheitet, ist noch nicht ausgemacht. Frieden als Wunsch und Idealzustand Frieden ist nicht das Gegenteil von Krieg, der im Alten Orient praktisch aus saisonalen Feldzügen bestand. Biblisch wird das Kriegsende z. B. als „Rückkehr“ oder „Ruhe“, aber nur selten als „Friede“ bezeichnet (Ri 8,13; Mi 2,8; O B E R MAY E R 2011). Das Wort (šlm) wird bis heute z. B. im hebr. und arab. Sprachraum verwendet, um grüßend nach dem Befinden zu fragen und Abschied nehmend Gutes zu wünschen. „Friede sei mit dir“ (z. B. Ri 19,20) bzw. „Geh in Frieden! “ (z. B. Ex 4,18) sind die kürzesten Formeln. „Frieden“ beinhaltet Gesundheit, Sicherheit und Zufriedenheit, ein erfülltes Leben (Spr 3,2 f). In „Frieden“ sterben, nicht in der Fremde oder durch Gewalteinwirkung, ist positiv gezeichnet (ausführlich L IWAK 2011). Die Septuaginta ↗ LXX gibt šālôm überwiegend mit eirḗnē wieder. Dies meint wie das lateinische pax die Integrität des Menschen, allgemein den Gewaltverzicht. Gott ist Urheber des Friedens (Röm 15,33 u. a). Neutesta‐ mentlich wird göttlicher Frieden im Gegensatz zum politischen Frieden des Imperium Romanum gezeichnet, welcher durch Macht und Gewalt gesichert wird (L IWAK 2011). 165 Frieden als Wunsch und Idealzustand <?page no="166"?> Frieden als Weg Der neutestamentliche Jesus folgt den prophetischen Friedensvisionen und den Worten alttestamentlicher Weisheit: „Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen, und wenn er durstig ist, gib ihm zu trinken“ (Spr 21,25). Glücklich gepriesen wird, wer aktiv Frieden stiftet (Mt 5,9) und sich im Zweifel lieber verfolgen lässt als Gewalt anzuwenden (Mt 5,44; Lk 6,27 f; Röm 12,14). Die Worte von der Feindesliebe wurden in der christlichen Geschichte kontrovers diskutiert: Gilt diese ↗ Ethik nur für eine Gruppe von Menschen, kann sie gar zum politischen Maßstab genommen werden? Ihr Sinn ist aber nicht ein endzeitlicher Zustand nach dem letzten Krieg, sondern das aktive Gestalten des Möglichen: „Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg“ (Mahatma Gandhi). Impulse ■ Welche modernen Friedensstifter traten und treten in die Fußstapfen der Prophet*innen? Was lässt sich z. B. aus dem pazifistischen Vermächtnis von Henri Dunant (1828-1910) für heutige Konfliktbewältigung lernen? ■ Wo liegen die Grenzen pazifistischer Überzeugungen heute? Wo wäre es nötig, militärische Gewalt anzuwenden und wie wäre sie einzugrenzen? Literatur H E C K E R , Karl 2005: Mesopotamische Texte. In: Bernd Janowski, Gernot Wilhelm (Hg.): Staatsverträge, Herrscherinschriften und andere Dokumente zur politi‐ schen Geschichte. Texte aus der Umwelt des Alten Testaments Neue Folge, Bd. 2. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 71-72. K O E N E N , Klaus 2017: Schwerter zu Pflugscharen. In: Das Wissenschaftliche Bibelle‐ xikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 11412/ (Zugriffs‐ datum 25. 04. 2021). L I W A K , Rüdiger 2011: Friede / Schalom. In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 26245/ (Zugriffsdatum: 25. 04. 2021). 166 4.4 Krieg und Frieden <?page no="167"?> O B E R M A Y E R , Bernd 2011: Krieg (AT). In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 24120/ (Zugriffsdatum 25. 04. 2021). S T A U B L I , Thomas & S C H R O E R , Silvia 2014: Menschenbilder der Bibel, Ostfildern: Patmos. W A G N E R , Thomas 2006: Mescha / Meschastele. In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 27025/ (Zugriffsdatum 16. 05. 2021). 167 Literatur <?page no="168"?> 4.5 Recht, Gerechtigkeit und Gericht Karl-Wilhelm Niebuhr Recht, Gerechtigkeit und Gericht gehören zu den biblischen Ausdrücken, die gern mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen verbunden werden. Um Kurzschlüsse zu vermeiden, sind aber hermeneutische Vorüberlegungen nötig. Hermeneutische Vorüberlegungen ■ Distanz der sozialen Realitäten: Die biblischen Texte stammen aus Orient und Antike und sind nicht nur zeitlich, sondern auch hinsichtlich ihrer sozialen Rahmenbedingungen weit von der Gegenwart entfernt. Unmittelbare Übertragungen auf heutige soziale Realitäten verbieten sich daher. Bibeltexte müssen aus ihren Verstehensvoraussetzungen erschlossen werden, bevor sie produktiv mit der Gegenwart in Verbin‐ dung gebracht werden können. ■ Religiöse und nichtreligiöse Sprache: Begriffe und Konzeptionen, die heute säkular verwendet werden, sind in der Bibel Teil religiöser Aussagezusammenhänge. Um Äquivokationen zu vermeiden, ist das Verhältnis zwischen religiösen und nichtreligiösen Denkweisen und „Weltbildern“ zu reflektieren. ■ Biblische Mitte und gesellschaftlicher Pluralismus: Während die biblischen Texte normative Ansprüche fixieren, ist die moderne Gesell‐ schaft durch Akzeptanz unterschiedlicher, bisweilen gegensätzlicher Wahrheitsansprüche gekennzeichnet, auch auf dem Feld von Religion und Glaube. Differenzen im Wahrheitsverständnis erschweren norma‐ tive Aktualisierungen biblischer Aussagen zu Recht und Gerechtigkeit. ■ Das Christus-Zeugnis als Schlüssel zur biblischen Gerechtigkeit: Im Rahmen des christlichen Glaubens erschließt sich das Zeugnis der Bibel von Jesus Christus her (Lk 24,13-35). Diese hermeneutische Perspektive gilt auch im Blick auf Recht, Gerechtigkeit und Gericht. Gerechtigkeit im biblischen Sinn gewinnt daher ihre Konturen erst im Licht des Christus-Geschehens. Am Wirken und Geschick Jesu, das in <?page no="169"?> seiner Auferweckung als Gottes Tun geglaubt wird, zeigt sich Gottes Kraft zugunsten der Menschen, seine rettende Gerechtigkeit. Gottes Gerechtigkeit Ein grundlegender Bekenntnistext im Pentateuch (↗ Tora) beschreibt Gott in seinem Verhältnis zu den Menschen, besonders zum Volk Israel (Ex 34,6 f). Gottes Gerechtigkeit wird hier, obwohl der Begriff gar nicht fällt, durch ein Set von Ausdrücken erfasst, die Haltungen (barmherzig, gnädig, geduldig, gütig, treu) und Handlungen Gottes (Gnade bewahren, vergeben, strafen, heimsuchen) bezeichnen. Theologisch zentral ist die Asymmetrie zwischen strafender und vergebender Gerechtigkeit Gottes: Seine Barmherzigkeit überwiegt, lässt aber sein strafendes Urteil über Vergehen der Menschen nicht beiseite. Diese Grundstruktur bestimmt das Gottesbild im Alten wie im Neuen Testament (→ 7.3 Gerechtigkeitssinn Gottes). Im ↗ Tanach erweist sich Gottes Gerechtigkeit im (auch militärischen) Eintreten für Israel und gegen dessen Feinde (Ri 5,11) und in seiner Treue zum erwählten Volk (Hos 2,21 f), aber auch darin, dass er Gerechtigkeit in der Rechtsprechung garantiert (Ex 23,6-8). Die Psalmen machen sie zum Gegenstand von Lob und Dank (Ps 4,2; 7,18; 31,2). Im Jesajabuch (bei Deu‐ tero-Jesaja) wird die auf Gerechtigkeit basierende Beziehung zwischen Gott und seinem „Knecht“ Israel auf das Verhältnis zu den Völkern ausgeweitet ( Jes 42,6). Im hymnischen Lobpreis kann die ganze Erde und damit alle Menschheit unter den Segen von Gottes Gerechtigkeit gestellt werden ( Jes 45,8). In frühjüdischen Gebeten wird dieser Sinn aufgenommen, wenn sich die Beter auf Gottes Treue, Gnade und Barmherzigkeit als Ausdruck seiner Gerechtigkeit berufen (Dan 9,16-18; 1QS XI 11-15; 4Esr 8,34-36). Das Neue Testament steht für ein Gerechtigkeitsverständnis, das auf Gottes Beziehung zu den Menschen beruht, vor allem Paulus (s. u., 2.4), aber auch Matthäus (s. u., 2.3; vgl. auch Lk 1,75; Joh 16,8.10; Apg 17,31; Jak 2,23; 1 Petr 2,24; 2 Petr 1,1; Apk 19,11). Recht und Gerechtigkeit Von den vorexilischen Anfängen der Prophetie bis in die Zeit der Fixierung der Prophetenbücher zieht sich der Gedanke der sozialen Gerechtigkeit als 169 Gottes Gerechtigkeit <?page no="170"?> Forderung Gottes durch die prophetischen Überlieferungen. Sie wurzelt im biblischen Gottesverständnis (vgl. Ps 89,15; 97,2) und findet auch in der weisheitlichen Überlieferung des Alten Testaments ihren Niederschlag (Spr 31,8 f). Bei Amos und Jesaja wird gerechtes Sozialverhalten zum Maßstab für das Gottesverhältnis und die religiöse Praxis Israels (Am 5,21-24; Jes 1,10-17; 5,1-7; 48,17-19). Die sozialen Konkretionen der Gerechtigkeit zeigen sich in der Benennung der sozial Schwachen („Fremdlinge, Waisen und Witwen“) als Adressaten und Nutznießer gerechten Verhaltens. Sie durchzieht wie ein roter Faden die biblische Überlieferung (Ex 22,21; Dtn 10,18; Ps 146,9; Jes 1,17; Jer 7,6; 22,3; Ez 22,7; 2 Makk 3,10 → 7.2 Befreiung der Menschen). Sozialethische Zuspitzungen der Gerechtigkeit, die Gott von Menschen fordert, zeigen sich auch im Neuen Testament. Jesus wendet sich in anstö‐ ßiger Weise „Randsiedlern“ seiner galiläischen Lebenswelt zu („Zöllnern und Sündern“ [Mk 2,15 f], Prostituierten [Mt 21,31 f], „Aussätzigen“ [Lk 7,22]; auf den Punkt gebracht: Mk 2,17), lässt sich aber auch von religiösen Eliten einladen (↗ Pharisäer Lk 7,36) und von gesellschaftlichen unterstützen (Lk 8,1-3), auffällig oft von Frauen. Als Wanderprediger verlässt er mit zwölf persönlich berufenen Nachfolgern demonstrativ familiäre Bindungen (Mk 2,13 f; Lk 9,57-62). Als Heilender behebt er die Not Kranker (Mk 1,29-31) und integriert sie in die Gemeinschaft (Mk 1,40-44). Als „Menschensohn“ nimmt er in Anspruch, wie Gott Sündern Vergebung zuzusprechen (Mk 2,1-12). Allen, die zu ihm kommen, verkündet er Gottes Gegenwart. Die neutestamentlichen Schriften nehmen solche Grundimpulse Jesu auf und integrieren sie in ihre theologisch-ethischen Konzeptionen von Gerechtigkeit und göttlichem Gericht (Mt 5,3-12; 25,31-46; Lk 1,51-55; 10,25-37; Jak 1,26 f; 2,14-17; 5,1-5 → 7.5 Weltgericht). Jesus auf dem „Weg der Gerechtigkeit“ bei Matthäus Besondere Bedeutung haben Recht, Gerechtigkeit und Gericht im Matthäusevangelium. In der Bergpredigt (Mt 5-7) steht „Gerechtigkeit“ fünfmal als Oberbegriff für die Haltung, die Jesus von seinen Nachfolgern erwartet: Selig gepriesen werden, „die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit“ und „die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden“ (5,6.10). Gerechtigkeit, die Jesus erwartet, soll die der „Schriftgelehrten und Pharisäer“, also der reli‐ giös-intellektuellen Eliten (↗ Pharisäer) übertreffen in dem Sinne, dass in ihr 170 4.5 Recht, Gerechtigkeit und Gericht <?page no="171"?> die Gegenwart des Reiches Gottes aufscheint (5,20). Exemplarisch konkre‐ tisiert das eine Reihe von Anweisungen für alltägliches Verhalten, die in der Forderung gegenseitiger Liebe gipfelt (5,21-48). Solches gerechte Verhalten entzieht sich aber letztlich vergleichender Bewertung und untersteht dem Urteil Gottes, des „Vaters im Himmel“ (6,1). Die Suche nach Gerechtigkeit entspricht der nach Gottes Reich und ist damit religiös bestimmt (6,33). Darüber hinaus verwendet Matthäus den Begriff Gerechtigkeit aber auch konzeptionell als Leitwort für seine Jesus-Erzählung. Zu Anfang und gegen Ende des Evangeliums deutet er den Weg Jesu, seine „Sendung“ vom Beginn in Galiläa bis zum Ende in Jerusalem, als Ausdruck von Gerechtigkeit (3,15; 21,32). Johannes der Täufer wird so zum Zeugen der Gerechtigkeit Gottes, die im Lebensgeschick Jesu zum Ziel kommt. Diese Gerechtigkeit ist der Weg, auf dem Glauben an Gott möglich wird. Rechtfertigung und Endgericht nach Paulus Paulus übernimmt aus der biblischen Überlieferung den theologischen Sinn von Gerechtigkeit. Er bezieht ihn auf das Jesus-Christus-Geschehen als Ausdruck von Gottes Gerechtigkeit (Röm 3,21-26). Eine wesentliche inhalt‐ liche Veränderung ergibt sich aus der programmatischen Ausweitung der Gerechtigkeit Gottes über Israel hinaus auf alle Völker (1,16 f). Darin erkennt Paulus die endzeitliche Verwirklichung der Verheißungen Gottes für sein Volk und die Schöpfung. Gott setzt sich mit seiner Gerechtigkeit gegen alle Verfehlungen der Menschen durch, nicht, indem er die Menschheit in ein ausweg- und rettungsloses Strafgericht führt, sondern indem er ihr den Weg zur Rettung aus Glauben eröffnet (1,18-3,31). Das Gericht, in dem Gott seinen Willen zum Guten durchsetzt, das Böse aber nicht ausblendet, sondern besiegt, steht bei Paulus auf einer neuen Basis: dem Tod Jesu am Kreuz und seiner Auferweckung von den Toten. Der Ausdruck „Rechtfertigung aus Glauben ohne Werke des Gesetzes“ impliziert eine christologische, eschatologische und universale Zuspitzung der biblischen Auffassung von Gottes Gerechtigkeit. Sie ist nur auf der Grundlage des alttestamentlichen Zeugnisses verständlich. So kann Paulus sein christologisch bestimmtes Verständnis von Glaube und Gerechtigkeit mit einem Satz aus dem Alten Testament begründen: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ (Hab 2,4 in Röm 1,17; vgl. auch Gen 15,6 in Röm 4,3; Gal 3,6) 171 Rechtfertigung und Endgericht nach Paulus <?page no="172"?> Doppelgebot der Liebe In der Überlieferung vom „Doppelgebot der Liebe“ (Mk 12,28-31) ist prä‐ gnant zusammengefasst, was Jesus von Menschen erwartet, die dem Willen Gottes folgen. Auch wenn der Begriff Gerechtigkeit hier ebenso wenig fällt wie im Bekenntnis aus dem Pentateuch (s. o., 2.1), kann der Abschnitt als Zusammenfassung dessen verstanden werden, was mit Gerechtigkeit im biblischen Sinn gemeint ist. Jesus führt zwei zentrale Gebote der ↗ Tora zusammen, die im Frühjudentum als umfassender Ausdruck für den Willen Gottes galten. Indem die Evangelien diese Grundforderung in ihre Jesus-Er‐ zählungen einordnen (vgl. Mt 22,34-40; Lk 10,25-28), weisen sie auf den Menschen hin, der als Gottes Sohn den Weg der Gerechtigkeit nicht nur selbst gegangen ist, sondern ihn für alle eröffnet, die sich in ihrem Leben, Glauben, Fühlen und Hoffen auf Gott verlassen. Impulse ■ Nächstenliebe wird in der Bibel im Horizont von Gerechtigkeit und Gericht verstanden. Das Stichwort Gerechtigkeit ist heute in aller Munde. Wie können aber die biblischen Gerichtsvorstellungen noch hilfreich verstanden werden? ■ Bei Amos und Jesaja wird gerechtes Sozialverhalten zum Maßstab für das Gottesverhältnis und die religiöse Praxis Israels. Heute leben wir aber zumindest in Europa in Sozialstaaten mit qualitativ und quantitativ bedeutender Sicherung der Lebensverhältnisse. Inwiefern sind diese Aussagen heute noch aktuell? Literatur D Z I E W A S , Ralf (Hg.) 2010: Gerechtigkeit und Gute Werke. Die Bedeutung diakonischen Handelns für die Glaubwürdigkeit der Glaubenden, Neukirchen-Vluyn: Neukirche‐ ner Verlag. K L AI B E R , Walter 2000: Gerecht vor Gott. Rechtfertigung in der Bibel und heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. W I T T E , Markus (Hg.) 2012: Gerechtigkeit. Themen der Theologie 6. Tübingen: Mohr Siebeck. 172 4.5 Recht, Gerechtigkeit und Gericht <?page no="173"?> 4.6 Verantwortung und Schöpfung Walter Klaiber Unsere Verantwortung für die Natur ist eines der zentralen Themen unserer Zeit. Die Sorge vieler in unserer Gesellschaft im Blick auf die Folgen des Klimawandels und das rapide Aussterben vieler Arten infolge menschlicher Einflüsse berührt sich dabei mit einem wichtigen Anliegen der biblischen Botschaft von Gottes Schöpfung. Allerdings gibt es auch Christ*innen, die befürchten, dass dieses Thema zur zentralen Botschaft der Kirchen wird und alle anderen Anliegen überdeckt oder verdrängt. Wie ist der biblische Befund? Welche Akzente werden gesetzt und wie ordnen sich diese in das Ganze der biblischen Botschaft ein? Schöpfungstexte Beide Schöpfungstexte am Anfang der Bibel sprechen von der Verantwor‐ tung der Menschen für die Schöpfung. In Gen 1,28 heißt es: „Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ Das klingt freilich auf den ersten Blick wie eine Lizenz zur Ausbeutung der Natur, und manche sehen in diesen Worten eine der Ursachen für den unverantwortlichen Umgang gerade auch der Christ*innen mit der Natur. Aber intensive Forschung zu dieser Stelle hat gezeigt, dass gerade das nicht gemeint ist. Die Menschen als „Bild Gottes“ sollen seine Repräsentanten gegenüber der Schöpfung sein, und zwar nicht Stellvertreter, die sich an die Stelle Gottes setzen, sondern Platzhalter, die nach Gottes Schöpferwil‐ len handeln. Die hebräischen Verben für „herrschen“ (kbš) und „untertan machen“ (rdh) haben in der altorientalischen Herrscherideologie nicht den Sinn von „unterdrücken“ und „ausbeuten“, sondern stehen mit dem damit verbundenen Bild vom Herrscher als Hirten für das Hegen und Pflegen der anvertrauten Herde. Noch eindeutiger ist die entsprechende Stelle in der folgenden Paradies‐ erzählung. Gott schafft den Garten Eden, Symbol für eine Schöpfung, wie <?page no="174"?> Gott sie eigentlich gemeint hat, und setzt den Menschen in ihn, „dass er ihn bebaute und bewahrte“ (Gen 2,15). Und auch nach der Vertreibung aus dem Paradies bleibt der Mensch verantwortlich für „Kultur und Natur“, für die Bewahrung der Schöpfung und ihre Gestaltung als nachhaltigen Lebensraum. Verantwortung in alttestamentlicher Perspektive Das zeigt sich an vielen Stellen im Alten Testament. Wo es um Gottes Handeln mit der Welt geht, sind immer wieder auch die Tiere im Blick, so etwa bei der sorgfältigen Darstellung der Rettung aller Arten vor der Sintflut (Gen 6,19-7,9). Die Arche Noahs wurde so zum Symbol für die Aufgabe der Bewahrung der Artenvielfalt auf der Erde. Zwar endet nach der Sintflut der Tierfriede der ursprünglichen Schöpfungsordnung und der Mensch darf das Fleisch getöteter Tiere essen (Gen 9,2-4), aber zugleich hält Gottes Bund mit Mensch und Tier fest, dass die Schöpfungsvielfalt dadurch nicht beeinträchtigt werden soll (9,15). Und so schildert der Schöpfungspsalm 104 sehr eindringlich das Miteinander von Menschen und Tieren in Gottes Schöpfung. Wo aufgrund menschlichen Versagens Vernichtung droht, gilt Gottes Erbarmen auch den Tieren ( Jon 4,11). Darum heißt es in Weisheit 11 von Gott: „Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du geschaffen hast; … Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, du Liebhaber des Lebens“ (Weish 11,24.26). Die Verantwortung des Menschen für die Schöpfung zeigt sich dann auch in der alttestamentlichen Gesetzgebung in ersten Ansätzen zu Maßnahmen des Tierschutzes und des nachhaltigen Umgangs mit Tieren; so in dem Gebot, beim Ausnehmen von Eiern oder der Jungen aus einem Vogelnest die Mutter zu schonen, „auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest“ (Dtn 22,6 f) oder dem Verbot, einem dreschenden Ochsen das Maul zu verbinden (Dtn 25,4), und der Geltung des ↗ Sabbats als Ruhetag auch für Rinder und Esel (Ex 23,12; Dtn 5,14). Neutestamentliche Erwartungen des Weltendes Das Neue Testament bekräftigt die alttestamentlichen Aussagen über Got‐ tes Schöpferhandeln und vertieft sie, indem Christus bzw. der Logos als 174 4.6 Verantwortung und Schöpfung <?page no="175"?> Schöpfungsmittler benannt werden ( Joh 1,3; 1 Kor 8,6; Kol 1,16 f; Hebr 1,2). Es knüpft damit an alttestamentliche Aussagen über die Weisheit als Schöpfungsmittlerin an (Spr 8,22-31; Sir 24). Es ist derselbe Gott, der in Schöpfung und Erlösung handelt. Das wird besonders eindrücklich in Kol 1,15-20 betont und damit jedem Dualismus gewehrt. Was im Neuen Testament kaum betont wird, ist die Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung. Grundsätzlich wird die Schöpfung zwar positiv gesehen. Christus ist nicht nur Erlöser, sondern auch Schöpfungsmittler und Ebenbild Gottes für diese Welt ( Joh 1,1; 1 Kor 8,6; Kol 1,15). Das wehrt allem Dualismus. Aber unter dem Eindruck, dass das Ende der gegenwärtigen Weltzeit kurz bevorsteht und Gott eine neue Schöpfung schaffen wird (2 Petr 3,13; Apk 21,1), bestand wenig Anlass, sich für die Bewahrung der alten einzusetzen. Allerdings ist in letzter Zeit auf die ökologische Dimension der Ausführungen des Paulus in Röm 8,19-21 hingewiesen worden, wo er vom „Seufzen der Kreatur“ unter der „Sklaverei des Verderbens“ spricht. Paulus denkt dabei nicht an Aktionen zugunsten der bedrohten Schöpfung. Er erwartet die baldige Befreiung der ganzen Schöpfung vom Fluch des Vergehens. Aber was er zu der Schicksalsgemeinschaft zwischen Mensch und Natur und zur Solidarität mit der leidenden Schöpfung sagt, bildet einen grundsätzlichen Ansatz für eine Theologie der Verantwortung auch gegenüber der außermenschlichen Schöpfung. Bewahrung der Schöpfung aus biblischer Sicht Bebauen und Bewahren, so formuliert Gen 2,15 die Aufgabe der Menschen in Gottes Schöpfung. Damit wird einerseits deutlich: Gottes Schöpfung ist kein Naturschutzgebiet mit absoluter Veränderungssperre, sondern darf vom Menschen genutzt werden, um Lebensraum für sich zu gestalten. Damit wird aber auch jeder Ausbeutung der Natur ein Riegel vorgeschoben und ein nachhaltiger Umgang mit ihr gefordert. Wie das im Einzelnen geschieht und was heute die richtige Balance von Kultur und Natur ist, dazu geben die biblischen Texte keine konkreten Anweisungen. Das muss in heutiger Verantwortung vor Gott und seiner Schöpfung entschieden werden. Eine gewisse Spannung entsteht zu der neutestamentlichen Überzeugung, dass nicht wir diese Welt retten können, sondern Gott eine neue Schöpfung schaffen wird ( Jes 65,17; 66,22; 2 Petr 3,13; Apk 21,1). Aber so wenig diese Perspektive uns davon entbindet, uns für Mitmenschen in Not einzusetzen, 175 Bewahrung der Schöpfung aus biblischer Sicht <?page no="176"?> so wenig macht sie unseren Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung über‐ flüssig. Sie mag uns helfen, uns nicht erneut als die „Macher“ aufzuspielen, sondern uns motivieren, mit einem apokryphen Lutherwort bescheiden und mutig unser Apfelbäumchen zu pflanzen, auch wenn morgen die Welt unterginge. Die biblischen Aussagen zum Thema Schöpfung sehen die Menschen als Teil des Ganzen, das Gott geschaffen hat. Sie haben deshalb Anteil an dessen Würde und Schönheit, aber auch an seiner Begrenzung und Vergänglichkeit (→ 3.7 Menschenwürde). Als Gegenüber Gottes kommt ihnen aber auch eine Sonderstellung als Platzhalter Gottes in der Welt des Geschaffenen zu. Ihre Verantwortung vor Gott schließt auch ein verantwortliches Handeln gegenüber der Natur mit ein. Ihr „Herrschen“ ist Ausdruck dieser Verant‐ wortung und wird in nachhaltigem „Bebauen und Bewahren“ gelebt. Impulse ■ Welche sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi‐ schen dem Verständnis von Verantwortung für die Schöpfung in den biblischen Texten und heute? ■ Der vorletzte Abschnitt des Artikels konstatiert, dass neutestamentliche Erwartungen des Weltendes menschliche „Machbarkeitsphantasien“ begrenzen. Inwiefern können solche Erwartungen heute noch sinnvoll ausgesagt werden? ■ Die schrittweise Zerstörung der Artenvielfalt auf der Erde, der messbare menschliche Einfluss auf das Klima u. a. aktuelle Entwicklungen bedin‐ gen Aufgaben, die Staaten nicht allein lösen können, geschweige denn Einzelpersonen oder Gruppen. Dennoch ist aktives Handeln gefordert. Technischer Fortschritt einerseits und Selbstbeschränkung andererseits werden in den Diskursen gelegentlich gegeneinander ausgespielt. In‐ wiefern können sie sinnvoll verbunden werden? ■ Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beachtung der historischen Unterschiede zwischen den in den biblischen Texten vorausgesetzten Verhältnissen und der aktuellen Situation für soziales bzw. diakonisches Handeln? 176 4.6 Verantwortung und Schöpfung <?page no="177"?> Literatur H O G A N , Linda u. a. (Hg.) 2018: Ökologie und Theologie der Natur, Concilium 54, S. 477-600. K L AI B E R , Walter 2005: Schöpfung. Urgeschichte und Gegenwart. Biblisch-theologische Schwerpunkte 27. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. K R ÄM E R , Klaus & V E L L G U T H , Klaus (Hg.) 2017: Schöpfung: miteinander leben im gemeinsamen Haus. Freiburg, Basel und Wien: Herder. P A P S T F R A N Z I S K U S 2015: Laudato si’. Über die Sorge für das gemeinsame Haus: Die Umwelt-Enzyklika mit Einführung und Themenschlüssel. Stuttgart: Camino. 177 Literatur <?page no="178"?> 4.7 Wirtschaft und Geld Rainer Kessler Menschliche Gesellschaften sind immer wirtschaftende Gesellschaften. Wirtschaften geschieht nicht naturwüchsig, sondern unterliegt menschli‐ cher Gestaltung. Dabei fallen bewusst oder unbewusst moralische Entschei‐ dungen. Deshalb sind das Wirtschaften und die damit zusammenhängenden sozialen Beziehungen für die biblischen Texte keine Nebensächlichkeiten, sondern spielen direkt oder als Hintergrundwissen eine zentrale Rolle. Subsistenzwirtschaft und ihre sozialen Folgen Um die Aussagen biblischer Texte zu Fragen des Wirtschaftens verstehen zu können, muss man Grundformen des Wirtschaftens im Altertum kennen. Den wesentlichen Sektor des Wirtschaftslebens macht im alten Israel die so genannte Subsistenzwirtschaft aus. Darunter versteht man die Wirtschafts‐ form, bei der bäuerliche Familien im Wesentlichen all das produzieren, was sie für ihren Unterhalt (ihre Subsistenz) brauchen. Die geringen Überschüsse werden zum einen gegen nicht selbst hergestellte Güter getauscht (z. B. Eisenpflüge, Töpferwaren), zum andern in Form von Abgaben an religiöse und staatliche Zentren abgeführt. Die produzierenden Familien sind vielfach gefährdet. Schädlingsbefall (Heuschreckenplagen) können ganze Ernten zerstören. Dasselbe folgt bei lang anhaltenden Dürreperioden. Fallen Arbeitskräfte durch Krankheit, Unfall oder Tod aus, wird die Produktion der Bauernfamilie automatisch eingeschränkt. Kriege führen zur Zerstörung von Kulturpflanzen und zu Plünderungen. Die Folge ist, dass die Familien sich verschulden müssen, um Nahrungsmittel und Saatgut für die neue Aussaat zu bekommen. Gelingt es nicht, mit der nächsten Ernte die Schulden zu tilgen, treten Haftungsmecha‐ nismen in Kraft. Dabei werden entweder verpfändete Sachen oder Personen als Schuldsklav*innen in die Verfügungsgewalt des Gläubigers übernom‐ men. Gelingt es weiter nicht, die Schuld zu tilgen, werden schließlich Haus und Feld gepfändet, sodass die Existenzgrundlage der Familie zerstört ist. Sie kann nur entweder in der Schuldsklaverei oder in der prekären Form <?page no="179"?> der Tagelöhnerei überleben. Hinzu kommt die Möglichkeit, in die Fremde zu fliehen, wo man rechtlos ist. Bei absoluter Verelendung bleiben nur noch Bettelei und Diebstahl. Die zugrunde liegende Problematik der Verschuldung bis hin zur Über‐ schuldung spiegelt sich in zahlreichen Texten des Alten Testaments, in den Gleichnissen des Neuen Testaments und sogar noch in der Bitte des Vaterun‐ sers wider. Diese spricht nämlich nicht nur von der Vergebung moralischer oder religiöser Schuld („und vergib uns unsere Schuld“), sondern kann auch so übersetzt werden, dass sie vom Erlassen ökonomischer Schulden handelt: „Und erlass uns unsere Schulden, wie wir sie unseren Schuldnern erlassen haben“ (Mt 6,12). Geldwirtschaft und ihre sozialen Folgen Recht spät, als erhebliche Teile des Alten Testaments bereits abgefasst waren, kam im alten Israel die Geldwirtschaft auf. Schnell entfaltete sie ihre ganze Macht. Geld hat seinem Wesen nach göttliche Eigenschaften: Es ist allmächtig - mit Geld kann man alles kaufen; es ist allgegenwärtig - jede beliebige Ware lässt sich in einem Geldwert ausdrücken; und es ist unendlich - keiner kann sagen, wann eine bestimmte Summe Geldes „genug“ ist, sie kann immer noch vermehrt werden. Das Buch des Predigers Salomo (Kohelet), eine Schrift aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., kennt diese Eigenschaften des Geldes: „Wer das Geld liebt, wird am Geld nicht satt“ (Pred 5,9); „Geld macht alles möglich“ (10,19). In römischer Zeit, der Zeit Jesu und des Neuen Testaments, hat sich die Geldwirtschaft dann durchgesetzt. In Jesu Gleichnissen geht es oft um Verschuldungsvorgänge und Geldangelegenheiten (Mt 18,21-35; 25,14-30). Der Evangelist Lukas spricht in diesem Zusammenhang zum ersten Mal von Banken (Lk 19,23). Jesus formuliert in aller Schärfe: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24). In der Briefliteratur wird die „Liebe zum Geld zur Ursache aller Übel“ erklärt (1Tim 6,10). Gesetzliche Regelungen in der Tora Die Kritik an wirtschaftlichen und sozialen Missständen beginnt in der prophetischen Sozialkritik. Propheten wie Amos, Jesaja und Micha geißeln 179 Geldwirtschaft und ihre sozialen Folgen <?page no="180"?> die Unterdrückung der Armen, die Versklavung zuvor freier Bauern und den Raub von Ackerland (Am 2,6-8; Jes 5,8-10; Mi 2,1-3 → 4.2 Armut und Reichtum). Die Gesetzgeber der ↗ Tora formulieren Gesetze, die der Ver‐ elendung vorbeugen sollen: das Verbot, auf Notkredite Zinsen zu nehmen (Ex 22,24), und die Forderung nach einem Erlass aller Schulden nach sechs Jahren (Dtn 15,1-11). Verschuldete werden auch dadurch geschützt, dass bestimmte Dinge von der dauerhaften Pfändung ausgenommen werden (Dtn 24,6.10-13). Andere Gesetze regeln die Schuldsklaverei, in die Überschuldete geraten: Die Dienstpflicht von Schuldsklav*innen wird zeitlich begrenzt (Dtn 15,12-18), junge Frauen in Schuldsklaverei sollen vor sexuellem Missbrauch geschützt werden (Ex 21,7-11), ebenso alle Versklavten vor übermäßiger Gewalt (Ex 21,26 f). Für Tagelöhner gilt, dass sie ihren Lohn am Ende des Tages bekommen müssen (Dtn 24,14 f). Öffentliche Wohlfahrt Mit der Zeit verlieren nicht nur immer mehr Menschen ihre wirtschaftliche Selbständigkeit, sondern fallen auch aus dem Status der Schuldsklaverei oder Tagelöhnerei, der wenigstens noch ein Einkommen durch Arbeit bringt, heraus. Für diese völlig Verarmten ist vorgesehen, dass sie durch „Almosen“ unterstützt werden ( Jes 58,7). Der Gedanke ist dabei nicht, dass sich der Reiche herablässt, sondern dass der Bedürftige einen Rechtsanspruch hat; das hebräische Wort dafür heißt „Gerechtigkeit“ (→ 4.5 Recht, Gerechtigkeit und Gericht). Jesus spricht gleichbedeutend von „Gerechtigkeit tun“ und „Almosen geben“ (Mt 6,1-4 ↗ Almosen). In griechisch-römischer Zeit gab es am Tempel in Jerusalem und in den Synagogengemeinden Armenkassen, die öffentlich verwaltet wurden. Das haben sich auch die christlichen Gemeinden zum Vorbild genommen. Vermehrung des Segens für alle Der wichtigste Beitrag der Bibel zur Frage von Wirtschaft und Geld ist grundsätzlicher Art. Nach der modernen liberalen Vorstellung produzieren die Menschen, um den Mangel zu überwinden. Sie tun das in Konkurrenz zueinander. Dabei strebt jeder nach möglichst großem Gewinn, und die Hoffnung ist, dass davon alle möglichst viel profitieren. Soziale Gerechtig‐ 180 4.7 Wirtschaft und Geld <?page no="181"?> keit ist höchstens als Ausgleich für die vorgesehen, die am Markt nicht bestehen können. Biblisches Denken geht dagegen davon aus, dass die Menschen gesegnet sind mit allem, was sie brauchen, den Schätzen der Natur und ihrer eige‐ nen Intelligenz und Arbeitskraft. Sie wirtschaften, um sich diesen Segen anzueignen und ihn zu bewahren und zu vermehren. Das geschieht nicht um des Einzelnen, sondern um der Gemeinschaft willen. Der Zweck des Wirtschaftens ist die Mehrung des Segens zum Vorteil aller. Der Kreislauf von Segen zu vermehrtem Segen bleibt aber nur erhalten, wenn zwischen den Menschen eine möglichst große soziale Gerechtigkeit herrscht. Das Ziel ist eine Gesellschaft ohne Arme: „Es wird bei dir keinen Armen geben - denn reich segnen wird dich Gott in dem Land, das … Gott dir als Erbe gibt, es zu besitzen -, wenn du nur fest auf die Stimme … deines Gottes, hörst, darauf zu achten, all dies Gebot zu tun, das ich dir heute gebiete“ (Dtn 15,4 f). Die Bibel weiß, dass dies ein Ideal ist, dem man sich immer nur annähern kann: „Denn es wird nicht fehlen an Armen inmitten des Landes“ (Dtn 15,11). Aber als Ideal bleibt es der Maßstab, an dem wirtschaftliches Handeln zu messen ist. Impulse ■ Wo lassen sich damalige wirtschaftliche und soziale Bedingungen auf heutige Verhältnisse übertragen, wo liegen die Grenzen? ■ Welche Bedeutung hat ein Ideal („es wird keine Armen geben“) für diakonische Arbeit, die immer in den realen Verhältnissen („es wird nicht fehlen an Armen“) stattfindet? ■ Wo und wie könnten alternative Formen des Wirtschaftens sinnvoll gelebt werden, wo stoßen sie an Grenzen? Literatur A L K I E R , Stefan, K E S S L E R , Rainer & R Y D R Y C K , Michael 2016: Wirtschaft und Geld. Lebenswelten der Bibel. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. C R Ü S E M A N N , Frank, H U N G A R , Kristian, J A N S S E N , Claudia, K E S S L E R , Rainer & S C H O T T ‐ R O F F , Luise (Hg.) 2 2019: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 181 Impulse <?page no="182"?> K E S S L E R , Rainer 2017: Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 182 4.7 Wirtschaft und Geld <?page no="183"?> 4.8 Witwen und Waisen Sabine Bieberstein Witwen und Waisen gehören im ↗ Tanach wie im gesamten Alten Orient zu den Gruppen, deren rechtlicher, ökonomischer und sozialer Status als besonders prekär angesehen wird. Weil diese Gruppen in einer patriarchalen Gesellschaft nur schwer selbst für ihr Recht sorgen konnten, gilt Gott selbst als derjenige, der auf ihren Notschrei hört (Ex 22,22), ihnen Recht verschafft (Dtn 10,17 f) und gegen ihre Widersacher vorgeht (Ex 22,23). Daraus folgt der Appell an die Gemeinschaft, ebenso für die Witwen und Waisen einzutreten. Daher wurden in Israel und Juda vielfältige Bestimmungen entwickelt, die das Recht von Witwen und Waisen - neben denen öfters weitere schutzbedürftige Gruppen wie Fremde, Leviten oder Sklav*innen genannt werden - schützen und ihr Überleben sichern sollten. Zwar konnte je nach gesellschaftlicher Schichtzugehörigkeit die ökono‐ mische Situation von Witwen und Waisen durchaus unterschiedlich sein; doch blieben sie schutzbedürftig. Und weil Gott derart als auf der Seite der Witwen (und Waisen) stehend angesehen wurde, wurde dem Gebet von Witwen eine besondere Wirkmächtigkeit zugetraut. Daraus entwickelte sich vor allem seit der Zeit nach dem babylonischen Exil, also seit dem späten 6. Jh. v. Chr., in biblischen und außerbiblischen frühjüdischen Texten das Motiv einer besonderen spirituellen Macht von Witwen. Die Witwentradi‐ tionen des Neuen Testaments greifen dies auf und schreiben es fort. Auf dieser Grundlage konnte das Witwenamt der frühen Kirche entstehen. Folgen des Todes des Ehemannes und Vaters Der Tod des Ehemannes machte seine Frau zur Witwe und seine minderjäh‐ rigen Kinder zu Waisen, auch wenn die Mutter noch lebte. Je nach Alter der Frau und ihrer Kinder und je nach ihrer gesellschaftlichen Stellung konnte dies unterschiedliche rechtliche, wirtschaftliche und soziale Folgen haben: Wenn aus der Ehe bereits Söhne hervorgegangen waren, folgte der älteste Sohn dem verstorbenen Vater als Haushaltsvorstand nach. Je nach Alter des Sohnes war damit auch die wirtschaftliche Situation der Mutter mehr oder <?page no="184"?> auch weniger abgesichert. Eine Witwe mit noch kleinen Kindern konnte kaum erneut heiraten und musste von der erweiterten Familie mit ernährt werden. War diese nicht dazu in der Lage, drohte der vaterlosen Familie ein Leben in Armut. Wenn der Ehemann starb, ohne Kinder hinterlassen zu haben, die Frau aber noch in gebärfähigem Alter war, konnte die Institution der Levirats- oder Schwagerehe in Kraft treten. Nach der Regelung in Dtn 25,5-10 soll der Bruder eines kinderlos verstorbenen Mannes dessen Witwe heiraten. Der erste Sohn, der aus dieser Verbindung hervorging, sollte als Sohn des Verstorbenen gelten und dessen Rechtsnachfolge antreten. Weigerte sich der Schwager, diese Ehe einzugehen, wurde der Frau das Recht eingeräumt, ihn vor den Ältesten am Stadttor öffentlich zu beschämen. Damit konnte zwar die Ehe nicht erzwungen werden; doch hatte dies negative Auswirkungen auf den Ruf des Schwagers und seiner Familie. Hatte die Witwe weder einen Sohn noch die Möglichkeit einer Leviratsehe, musste sie zu ihrer Herkunftsfamilie zurückkehren, um überleben zu können. Zu den ökonomischen Schwierigkeiten kamen rechtliche und soziale: In einer patriarchalen Gesellschaft hatten es Frauen und minderjährige Kinder ohne den Schutz eines männlichen Familienvorstands schwer, ihre Rechte durchzusetzen. Sie waren nicht geschäftsfähig, mussten sich vor Gericht vertreten lassen und liefen Gefahr, Opfer von Willkür und Übervorteilung zu werden. Einen Anspruch, den Besitz ihres verstorbenen Mannes zu erben, hatten Frauen nicht (Num 27,8-10). Erbberechtigt waren in der Regel nur die Söhne. Das änderte sich auch nicht mit der Einführung von Eheverträgen. Jüdische Eheverträge sind außerbiblisch zuerst in Elephantine (440 v. Chr.) und biblisch erst im Buch Tobit (Tob 7,19) um 200 v. Chr. belegt. Sie regelten u. a. den standesgemäßen Unterhalt der Frau, Zahlungen im Falle einer Scheidung oder Unterhaltsleistungen nach dem Tod des Ehemannes. In jedem Fall hatte die Witwe das Recht auf ihr persönliches Eigentum. Es stand ihr frei, zu heiraten, wen sie wollte. Kritik an Missständen und Schutzbestimmungen Nach alledem verwundert es nicht, dass biblische Texte die Witwen und Waisen als Inbegriff der Schwachen und Schutzbedürftigen betrachten. Als „prominentester“ Beschützer und Wohltäter von Witwen und Waisen kommt in der weisheitlichen Literatur Gott selbst in den Blick (Ps 68,6; 184 4.8 Witwen und Waisen <?page no="185"?> 146,9). Ebenso soll jeder und jede Einzelne für Witwen und Waisen sorgen. Zu einem weisen bzw. gottesfürchtigen Leben gehört die Fürsorge für Witwen und Waisen (Hi 29,12; 31,16 f.21; Spr 23,10; Sir 4,10), während törichtes bzw. gottloses Verhalten durch Unrecht und Gewalt gegenüber Witwen und Waisen gekennzeichnet ist (Ps 94,6; Hi 6,27; 22,9). In der prophetischen Literatur - v. a. bei Jesaja, Jeremia und Ezechiel - werden die Führungseliten und bisweilen die gesamte Gesellschaft kritisiert, dass Arme und Schwache, zu denen auch Witwen und Waisen gehören, unter die Räder kommen ( Jes 1,17.23; 10,2; Jer 7,6; 22,3; Ez 22,7; Sach 7,10). Hier dient das Motiv dazu, Missstände in der Rechtsprechung anzuprangern und die Oberschicht bzw. Gesellschaft grundsätzlich zu kritisieren, die sich weder um Gottes Weisungen noch um das Wohlergehen der Menschen schert. Eine grundsätzliche Stärkung der Situation von Witwen und Waisen ist allerdings nicht im Blick. Am bekanntesten geworden sind sicherlich die Regelungen des Buches Deuteronomium zum Wohl von Witwen und Waisen, die hier stets in Verbindung mit anderen personae miserae der Gesellschaft wie Fremde, Leviten oder Sklav*innen genannt werden. Die Reihe wird eröffnet mit der Vorstellung Gottes, „der der Waise und Witwe Recht verschafft und den Fremden liebt, so dass er ihm Brot und Kleidung gibt“ (Dtn 10,18). In den folgenden Kapiteln wird zum einen grundsätzlich betont, dass das Recht von Waisen, Witwen und Fremden nicht gebeugt und das Kleid einer Witwe nicht zum Pfand genommen werden darf (Dtn 24,17; 27,19). Zum anderen wird konkret geregelt, dass Witwen und Waisen Anteil am Drei‐ jahres-Zehnten erhalten (Dtn 14,28 f; 26,12 f), Nachlese bei der Ernte halten dürfen (Dtn 24,19-21) und beim Wochen- und Laubhüttenfest mitfeiern und satt werden sollen (Dtn 16,11.14). Witwen und Waisen werden als Teil der idealen geschwisterlichen Gesellschaft angesehen, und wer für sie sorgt, handelt nach deuteronomischer Vorstellung nach Gottes Weisung und erlangt Segen. Von der Gottesnähe zur Macht des Gebets Nach Ex 22,22 hört Gott auf jeden Fall auf den Klageschrei der Witwen und Waisen und tritt für ihre Sache ein, und auch andere Texte sehen Gott selbst als Anwalt der Witwen und Waisen. Daraus entwickelten sich Traditionen einer besonderen Gottesnähe und spirituellen Begabung von 185 Von der Gottesnähe zur Macht des Gebets <?page no="186"?> Witwen. Biblisch ist dies in der Judithgeschichte zu greifen - übrigens ein Beispiel einer überaus wohlhabenden Witwe -, außerbiblisch beim jüdischen Gelehrten Philo von Alexandria oder in Texten wie dem Testament Hiobs. Diese Texte sehen Witwen (und teilweise auch Waisen) in einer besonderen Beziehung zu Gott, aus der heraus sie Bitten und Gebete vor Gott tragen und an Gottes Stelle in der Welt handeln können. Neutestamentliche Texte sehen Witwen und Waisen einerseits in der alt‐ testamentlichen Tradition der Armen und Hilfsbedürftigen (Mk 12,42-44), für die zu sorgen ist ( Jak 1,27) oder die viel Energie darauf verwenden müssen, um zu ihrem Recht zu kommen (Lk 18,1-8). Andererseits führen sie die Traditionslinie der besonderen Gottesnähe von Witwen fort: So widmet die Witwe Hanna ihr ganzes Leben Gott und spricht als Prophetin zu den im Tempel Anwesenden (Lk 2,36-38), und die hartnäckige Witwe ist ein Beispiel für unablässiges und wirksames Gebet (Lk 18,1-18). Das griechische Wort chḗra bezeichnet nicht nur Frauen, deren Ehemann verstorben ist, sondern kann verschiedene alleinlebende Frauen meinen. Die Apostelgeschichte zeigt eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft solcher Witwen, d. h. alleinlebender Frauen, im Hause der Tabita in Joppe (Apg 9,36-43), und auch hinter dem Konflikt in Apg 6,1-3 wird eine Witwen‐ gruppe sichtbar. Dass es an der Wende zum 2. Jh. in einigen Gemeinden die Lebensform als Witwe gab, zeigt 1Tim 5,3-16. Dieser Text versucht zwar die Anerkennung als eine solche Witwe zu reglementieren und möglichst viele Frauen davon auszuschließen; doch zeigt er, dass diese Lebensform für viele, auch junge Frauen, attraktiv war. Diese Texte zeigen auch, dass nicht alle Witwen arm waren, sondern über eigenes Vermögen verfügen und für andere sorgen konnten. In der frühen Kirche setzt sich die Tradition der spirituellen Macht von Witwen fort im charismatisch-prophetischen Amt der Witwe. Es gründet in der unmittelbaren Gottesbeziehung von Witwen und der daraus resultie‐ renden besonderen Wirksamkeit ihrer Gebete und Taten. Impulse Witwen und Waisen waren in der antiken patriarchalen Gesellschaft deshalb so gefährdet, weil sie keinen männlichen Fürsprecher mehr hatten, der ihre Rechte wahren und durchsetzen konnte usw. Könnte man evtl. daraus eine 186 4.8 Witwen und Waisen <?page no="187"?> Anfrage an unsere heutige Gesellschaft und das Sozialsystem formulieren, z. B.: ■ Wer findet bei uns Gehör? ■ Wer darf für sich selbst sprechen und ist in der Lage, seine Rechte durchzusetzen? ■ Wem wird gar nicht zugetraut, dass er oder sie für sich selbst sprechen kann? ■ Wer geht im Dickicht der Interessensvertretungen unter? Literatur S C H E L L E N B E R G , Annette 2012: Hilfe für Witwen und Waisen. Ein gemein-altorien‐ talisches Motiv in wechselnden alttestamentlichen Diskussionszusammenhängen. Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 124, S. 180-200. S T A N D H A R T I N G E R , Angela (2004): „Wie die verehrteste Judith und die besonnenste Hanna.“ Traditionsgeschichtliche Beobachtungen zur Herkunft der Witwengrup‐ pen im entstehenden Christentum. In: Frank Crüsemann, Marlene Crüsemann, Claudia Janssen, Rainer Kessler, Beate Wehn (Hg.): Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel. Festschrift Luise Schottroff. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 103-126. 187 Literatur <?page no="189"?> 5 Aspekte der Gemeinschaft <?page no="191"?> 5.1 Ämter und Funktionen Anni Hentschel Gemeinschaften entwickeln Strukturen, um ihr Zusammenleben zu organi‐ sieren. Dazu gehören auch Ämter, um bestimmte Aufgaben stellvertretend für die Gemeinschaft bzw. eine ihrer Institutionen gemäß einer vorgege‐ benen Ordnung und Zielsetzung durchzuführen. Die Amtsausübung ist mit Autorität, Verantwortung und Rechenschaftspflicht verbunden. Amts‐ verständnis und Ämter ändern sich mit den jeweiligen Bedingungen und Bedürfnissen des Zusammenlebens und sind kulturell geprägt. Auch wenn die Amtsbegriffe der christlichen Konfessionen auf neutestamentliche Texte zurückgehen, können die heute damit verbundenen Amtsverständnisse nicht in die neutestamentliche Zeit übertragen werden. Die Erforschung von Amtsvorstellungen, Strukturen und Institutionen, wie sie zur Zeit der Entstehung der ersten christlichen Gemeinden im Römischen Reich, in Vereinen oder auch in jüdischen Synagogen-Gemeinden üblich waren, kann dazu beitragen, Funktionen und Aufgabenverteilungen in den ersten christ‐ lichen Gemeinden besser zu verstehen. In den neutestamentlichen Schriften werden eine Vielzahl an Gemeindefunktionen und Organisationsformen erkennbar, selbst die Verwendung bestimmter Funktionsbezeichnungen lässt nicht darauf schließen, dass jede christliche Gemeinde damit dieselben Aufgaben und Vorstellungen verband. Umwelt des Neuen Testaments Im Römischen Reich gab es eine große Vielfalt an öffentlichen Ämtern und Strukturen, die oft von Stadt zu Stadt bzw. von Region zu Region unterschiedlich waren. Die Übernahme eines öffentlichen Amtes war in der Regel zeitlich begrenzt und setzte eigene finanzielle Ressourcen für öffentliche Aufgaben, vor allem für die Abhaltung von Festen und Mahlzei‐ ten voraus. Auch das vielfältige zeitgenössische Vereinsleben bot weitere Gestaltungsvorlagen für das Gemeindeleben. Auch für die antiken jüdischen Synagogengemeinden sind unterschiedliche Funktionen belegt, die vom Le‐ sen der ↗ Tora bis zur Unterweisung in den Geboten und der Beherbergung <?page no="192"?> von religiösen Pilgern aus der Diaspora reichen. Mit dem Begriff synagōgḗ konnte sowohl eine Versammlung als auch ein Gebäude bezeichnet werden, so dass für antike Synagogen auch Gästehäuser, Bibliotheken oder Archive belegt sind und dort nicht nur kultische Veranstaltungen, sondern auch Unterricht, Gerichtsverhandlungen oder Festmähler stattfinden konnten. Von den unterschiedlichen Ämtern und Funktionen sind vor allem der Synagogenvorsteher (archisynágōgos), die Ältesten (presbýteros), Schriftge‐ lehrte bzw. Schreiber (grammateús) und Priester (hiereús) bekannt, aber auch Funktionäre wie Psalmsänger (psalmōdós) und Platzanweiser (eisángeleus) oder Ehrentitel wie Vater bzw. Mutter der Synagoge (patēr / mētēr synagōgēs) sind belegt (C LAUẞE N 2002: 264-273). Neutestamentliche Gemeinden Im Neuen Testament werden ebenfalls eine Vielzahl von Aufgaben und Gemeindefunktionen benannt, die im damaligen Sinn zumindest teilweise amtlichen Charakter haben und sich von Gemeinde zu Gemeinde im Detail unterschiedlich darstellen konnten. Bereits die Bezeichnung ekklēsía für die Gemeinden ist aus dem gesellschaftlichen Umfeld entlehnt und bezeichnet die Volks- oder Ratsversammlung der freien Männer einer Stadt. Viele der neutestamentlichen oder altkirchlichen Amtsbegriffe gehen auf Funktionsbezeichnungen zurück, mit denen sowohl Männer als auch Frauen bezeichnet werden können. Genannt werden im Neuen Testament unter anderem Gesandte (apóstolos), Beauftragte bzw. Dienende (diákonos), Aufsichtspersonen (epískopos), Älteste (presbýteros), Lehrende (didáskalos), Leitende (hēgoúmenos), Mitarbeitende (synergós), zivile bzw. kultische Be‐ amte (leitourgós), eine Vorsteherin bzw. Patronin (prostátis) und Prophe‐ ten (prophḗtēs, alle griech. Begriffe im Sing.). Bemerkenswert ist jedoch, dass der Terminus archṓn (Herrscher / Leiter) im Sinne einer autonomen Herrschaftsposition (archḗ „Ursache“, „Anfang“ bzw. „Obrigkeit“) nur für Außenstehende (Mt 20,25; Lk 8,41; Apg 7,35; 14,5; auch Mk 3,22; Apk 1,5), nicht jedoch für Mitglieder der Gemeinde verwendet wird. Mitarbeitende mit Leitungsverantwortung können sich nicht wie autonome Machthaber verhalten, sondern sollen sich an Jesus orientieren, der seinen göttlichen Auftrag bis zu seinem Tod treu ausführt (v. a. Mk 10,35-45; 1 Kor 3,5-4,8). Auch die Bezeichnung als Priester (hierós) findet sich für Gemeindeaufgaben nicht. 192 5.1 Ämter und Funktionen <?page no="193"?> Die einzelnen Begriffe können in unterschiedlichen Situationen und Gemeinden verschiedene Funktionen oder Aufgaben beschreiben. Paulus kann zum Beispiel mit ↗ Apostel sich und andere als Botschafter des Evangeliums Christi (u. a. 1Kor 1,1; 9,1 f; 15,7.9) bezeichnen, dazu gehör‐ ten vermutlich auch Frauen, wie die Erwähnung von Junia (Röm 16,7) nahelegt, und auch Personen, deren Autorität er nicht akzeptierte (2 Kor 11,13). Daneben verwendet Paulus den Titel auch für Gemeindeboten (2 Kor 8,23). Im lukanischen Doppelwerk wird damit fast ausschließlich der von Jesus ausgewählte Zwölferkreis bezeichnet (z. B. Lk 6,13; Apg 1,2.26), nur ausnahmsweise werden Paulus und Barnabas so genannt (Apg 14,4.14). ■ Diákonoi: Wenn Paulus sich und weitere Personen als diákonoi Got‐ tes bezeichnet, sieht er sie als Beauftragte Gottes, die in dessen Na‐ men agieren, ausschließlich ihrem Auftraggeber rechenschaftspflichtig sind und eine wichtige Aufgabe ausführen (vgl. 1 Kor 3,5; 2 Kor 3,6; 11,12-15.23). Mit der Evangeliumsverkündigung beauftragte Leitungs‐ personen bezeichnet Paulus sowohl als apóstoloi als auch als diákonoi (vgl. Röm 11,13; 2 Kor 11,12-15; 12,11 f). Auch der Verfasser der Apos‐ telgeschichte und die Deuteropaulinen kennen diesen Sprachgebrauch (z. B. Apg 1,17.25; 6,4; 20,24; Kol 1,23.25; 1Tim 1,12; 3,8-16; 4,6). Nur ausnahmsweise werden das Nomen diakonía bzw. das Verb diakonéō in Verbindung mit karitativen Aufgaben verwendet (Apg 6,1; Mt 25,44), diákonos ist keine Bezeichnung für ein karitatives Amt. Die Verpflich‐ tung zur Nächstenliebe gilt für alle Gemeindeglieder mit und ohne Leitungsverantwortung (Apg 2,45; 4,32-35; 20,33-35; 1 Kor 13) und wird trotz der Aufgabenteilung in Apg 6,1-6 nicht auf ein bestimmtes Amt begrenzt. Bei Kollekten bezieht sich diakonía auf die Überbringung der Gelder (Apg 11,29; 12,25; 2 Kor 8,19 f; 9,1.12 f), während die Spen‐ densammlung als cháris (griech. Gnadengabe; 2 Kor 8,6 f.19) bezeichnet wird (→ 4.7 Wirtschaft und Geld). ■ Apóstoloi: Der Apostelbegriff war zunächst nicht auf den Zwölfer‐ kreis begrenzt (vgl. 1 Kor 15,7-11; Phil 2,25; auch Röm 16,7). Jesus selbst kann als apóstolos bezeichnet werden (Hebr 3,1) und Apostel der Gemeinden überbringen die Kollekte (2 Kor 8,23). Einflussreich wurde der Wortgebrauch der Apostelgeschichte, in der nur die Zwölf programmatisch als „Apostel“ bezeichnet werden (vgl. v. a. Apg 1,2.25 f; 2,42 f), so dass sogar Paulus - und mit ihm übrigens auch Barnabas - nur ausnahmsweise Apostel genannt wird (Apg 14,4.14). In den späteren 193 Neutestamentliche Gemeinden <?page no="194"?> Briefen werden sowohl die Zwölf als auch Paulus als Apostel - als Zeugen der Anfangszeit - bezeichnet (Eph 2,20; Apk 21,14). ■ Presbýteroi: Älteste (presbýteroi) bilden ein Ratskollegium, wie es auch in politischen Gemeinden oder in Synagogen verbreitet war (u. a. Apg 15,2.4.6.22 f; 21,18; Jak 5,14; 1 Petr 5,1.5). Bei Paulus werden sie nicht erwähnt. Zum Teil werden sie auch als Aufsichtspersonen (epískopoi) bezeichnet (Apg 20,17.28; Tit 1,5.7). ■ Epískopoi: Der Begriff epískopos bezeichnet eine Aufsichtsfunktion, woraus sich ab dem 2. Jh. allmählich ein Bischofsamt entwickelt. Wer in Phil 1,1 mit den epískopoi gemeint ist, bleibt unklar, in den Pastoral‐ briefen handelt es sich wahrscheinlich um eine Patronatsfunktion (1Tim 3,1-7) bzw. um eine Aufsichtsrolle der Ältesten (Tit 1,5.7), in 1 Petr 2,25 ist damit eine seelsorgerliche Aufgabe, in Apg 20,28 die Aufsicht über die Lehre genannt. ■ Hieroí: Der Priesterbegriff spielt im Neuen Testament für Gemeinde‐ funktionen keine Rolle. Erst im Laufe der späteren Jahrhunderte wird aus Episkopen, Diakonen und Presbytern - zu denen trotz grammatisch männlichen Funktionsbezeichnungen auch Frauen gehörten - allmäh‐ lich die Trias Bischof, Priester und Diakone. Ansehen und Autorität Die in der neutestamentlichen Exegese verbreitete Annahme, dass es sich bei den Gemeindefunktionen nicht um Ämter handle, sondern nur um „Dienste“, geht auf ein einseitiges Verständnis des griechischen Begriffs diakonía im Sinne von „Dienst“ oder „Tischdienst“ zurück (1 Kor 12,5 → 1.1 Begriffsklärungen). Damit wird zugleich vorausgesetzt, dass es keine Positionen mit Macht oder Ehre gab bzw. geben sollte, da jedes „Amt“ nur ein Dienst sein könne. Doch die Paulusbriefe als älteste neutestamentliche Schriften belegen, dass es unterschiedliche Funktions- und Amtsbegriffe und zum Teil ausgeprägte Diskussionen um die damit verbundene Auto‐ rität (1 Thess 2,6; 2 Kor 12,11) und Ehre gibt (v. a. 1 Kor 3-4; 9,1 f; 12; 2 Kor 5,18-6,4; Röm 16). Zum Teil zeigt sich eine ausgeprägte Konkurrenz zwischen verschiedenen Leitungspersonen (2 Kor 12,11-18). Neuere For‐ schungen zur Wortbedeutung von diakonía und seinen Ableitungen zeigen außerdem, dass damit oft zeitlich begrenzte Aufgaben beschrieben werden, die im Namen eines anderen ausgeführt werden (z. B. Apg 6,2) und je 194 5.1 Ämter und Funktionen <?page no="195"?> nach Inhalt des Auftrags und Ansehen des Auftraggebers mit einer hohen Autorität der Beauftragten verbunden sein können. Entsprechend kann auch der Staat als Beauftragter Gottes (diákonos) bezeichnet werden, der im Namen Gottes mit dem Schwert die Übeltäter bestraft (Röm 13,4). Gerade die inhaltliche Offenheit des griechischen Begriffs diakonía, mit dem je nach Situation unterschiedliche Aufgaben und Tätigkeiten als Dienste bzw. Beauftragungen im Namen Gottes, Christi oder einer Gemeinde bezeichnet werden können, erklärt die häufige und vielfältige neutestamentliche Ver‐ wendung der Wortgruppe (100 Belege). Die diákonoi sind gegenüber ihrem Auftraggeber zu Treue und Gehorsam verpflichtet und können deshalb von ihren Mitmenschen Vertrauen und Anerkennung erwarten, wenn sie ihren Dienst zuverlässig verrichten. Gemeinde als lebendiger Organismus Programmatisch ist die Bezeichnung ekklēsíai für die Gemeinden, da dieser Begriff üblicherweise die politische Versammlung der freien und wahlbe‐ rechtigten männlichen Mitglieder einer Stadt bezeichnet, in der für das öffentliche Leben relevante Anliegen einer Gemeinschaft besprochen und entschieden wurden. Unabhängig von Status oder Geschlecht waren alle Gläubigen Mitglieder der christlichen Gemeindeversammlung (1 Kor 12,13; Gal 3,28). Paulus verwendet in 1 Kor 12 das Bild eines Körpers mit vielen Gliedern, deren Zusammenwirken für die Existenz der Gemeinde erforderlich ist (→ 7.7 Taufe, Herrenmahl und Diakonie). Die vielfältigen Aufgaben sind alle in gleicher Weise Gnadengaben des Geistes (chárisma), offizielle Beauf‐ tragungen des Herrn (diakonía) und Kraftwirkungen Gottes (enérgyma) (12,4-6), die alle zum gemeinsamen Nutzen gegeben werden (12,7). Im Bild des Leibes gesprochen erhalten gerade die Gemeindeglieder besonderes Ansehen von Gott, die ansonsten eher verachtet oder übersehen werden (12,22-24). Ziel ist eine sympathische (griech. mitleidende) Gemeinde, in der alle mitleiden, wenn ein Glied leidet, und sich mitfreuen, wenn ein Glied geehrt wird (12,25 f). Die wichtigste Gabe, nach der eine Gemeinde streben soll, ist in diesem Zusammenhang die Liebe (1 Kor 13). 195 Gemeinde als lebendiger Organismus <?page no="196"?> Impulse ■ Wie kann die institutionelle Trennung von Diakonie bzw. Caritas und verfasster Kirche sinnvoll begründet oder muss diese hinterfragt werden? ■ Wie entsteht Glaubwürdigkeit durch Übereinstimmung von Lehre und Leben? ■ Informieren Sie sich über die Rollen und Aufgaben von Diakoninnen und Diakonen in verschiedenen Konfessionen und Kirchen. Literatur B L A T Z , Heinz 2016: Die Semantik der Macht. Neutestamentliche Abhandlungen 59, Münster: Aschendorff Verlag. C L A UẞE N , Carsten 2002: Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch-jüdi‐ sche Umfeld der frühchristlichen Gemeinden. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments 27. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. E C K , Werner 2010: Ämter und Verwaltungsstrukturen in Selbstverwaltungseinheiten der frühen römischen Kaiserzeit. In: Martin Ebner, Rudolf Hoppe, Thomas Schmel‐ ler (Hg.): Neutestamentliche Ämtermodelle im Kontext. Quaestiones disputatae 239. Freiburg, Basel und Wien: Herder, S. 9-33. H E N T S C H E L , Anni 2013: Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentli‐ chen Ekklesiologie. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. 196 5.1 Ämter und Funktionen <?page no="197"?> 5.2 Konvivenz und Kooperation Thomas Popp Diese beiden Begriffe sind sprachlich durch die Vorsilbe Ko(n) (= zusam‐ men / mit) verbunden. „Mit“ ist in Rückbindung an Gott für erfülltes Men‐ schein wesentlich: Miteinander zu leben und zu wirken. Konvivenz Zusammenleben in wechselseitiger Anerkennung ist eine soziale und theo‐ logische Leitvorstellung. Sie steht im Zentrum des Modells der Konvivenz (= Zusammenleben). Es spielt inzwischen auch in der Bibel- und Diakonie‐ wissenschaft eine wichtige Rolle. Mit diesem Begriff lässt sich sowohl das binnengemeindliche Zusammenleben wie auch das Miteinander von Kirche und Diakonie mit anderen Akteuren im Sozialraum beschreiben. Erfülltes Leben ist konvivial: Es gestaltet sich als eine alle Menschen umfassende Hilfs-, Bildungs- und Festgemeinschaft (im Anschluss an S UND E R ME I E R 1995 P O P P 2010: 17-25). ■ Gott mit den Menschen: Gott will nicht allein sein. Er verbindet ausnahmslos alle Menschen mit sich, untereinander und mit der Mitwelt (Gen 1,1-2,4a). Es ist Raum da für Konvivenz (S UND E R M E I E R 1995: 27 f.55-57; Leibold 2014). Das Buch Genesis erzählt beispielhaft, dass Abraham mit fremden Menschen zusammenlebte und durch deren Glaubenstraditionen seinen Gott tiefer kennenlernte (Gen 14). Es ist die Bestimmung aller Völker, mit Israel im Gotteslob verbunden zu sein (Gen 12,3; vgl. Ps 67,2-8; 148,11-14; 150,6). ■ Frieden mit allen Menschen: Selbst im babylonischen Exil sollen die Jüdinnen und Juden an ihren Wohnorten den Frieden mit den Menschen suchen und für sie beten ( Jer 29,7). Der Konvivenz-Gedanke bringt auf den Nenner, worum es im Wesentlichen geht: „Gott, der Schöpfer, die Quelle des Lebens, will mit den Menschen sein, will, dass sie dieses Leben in Ruhe und Frieden miteinander so gestalten, dass alle in gleicher Weise daran teilhaben, ein Fest des Lebens“ (Sundermeier 1995: 57). <?page no="198"?> ■ Jesus - Gott und Mensch mit anderen: Gottes Einwohnung unter den Menschen ist Grundlage der Konvivenz ( Joh 1,14; S UND E R M E I E R 1995: 28-34.57-59). Jesus ist der Gott mit uns (= Immanuel Mt 1,23 vgl. Jes 7,14; vgl. Mt 28,20). Er lebte mit den Menschen. Sie waren ihm im wahrsten Sinn des Wortes sym-pathisch: Er fühlte mit ihnen, freute sich mit ihnen, litt mit ihnen und für sie. Er lehrte sie, half ihnen und feierte mit ihnen: mit Sündern und Frommen, Ausbeutern und Ausgebeuteten. So eröffnete sich die Chance zu einem Statusgrenzen überschreitenden Zusammengehörigkeitsgefühl. In diesen Spuren entwirft die Apostel‐ geschichte das Zusammenleben der Urgemeinde in Jerusalem auf ideale Weise als Gemeinschaft derer, die einander helfen, voneinander lernen und miteinander feiern - mit positiver Resonanz „beim ganzen Volk“ (Apg 2,47 → 1.4 Biblische Texte zwischen Anspruch und Wirklichkeit). Das Evangelium überschreitet durch die pfingstliche Gabe des Geistes nationale Grenzen und wird global kommuniziert (Apg 2-28). ■ Glaubenskommunikation: Diese Kommunikation geschieht am bes‐ ten konvivial. Paulus predigte von Anfang an das Evangelium im Miteinander mit den Christusgläubigen in Damaskus und Jerusalem (Apg 9,1-31). Bei seinem Wirken in Korinth lebte und arbeitete der ↗ Apostel mit dem Ehepaar Aquila und Priszilla zusammen (Apg 18,1-3). Petrus wohnte in Joppe bei einem Gerber Simon, obwohl Ger‐ berei aus jüdischer Sicht als unreines Handwerk galt (Apg 9,43). In dieser stinkenden Umgebung lernte er um Gottes willen die Überschreitung von Grenzen zum Menschen hin. Konvivenz mit Fremden lernte Petrus auch in der Hilfs-, Lern- und Festgemeinschaft mit dem Nichtjuden Kornelius (Apg 10,1-11,18; 15,7-11). Als Begründer der internationalen Kommunikation des Evangeliums wurde Petrus zum Gewährsmann für den 1. Petrusbrief. ■ Konvivenz in bedrängten Zeiten: Der 1. Petrusbrief reflektiert die Kunst der Konvivenz in einer nicht wohlgesonnenen Gesellschaft durch eine differenzierte Theologie der Anerkennung (P O P P 2010). Konvivenz etwa durch Anerkennung der staatlichen Autoritäten wird zur Überle‐ bensstrategie (z. B. 1 Petr 2,13-17). Konvivenz bedeutet allerdings nicht Assimilation um jeden Preis. Göttliche Verehrung gebührt nicht dem römischen Kaiser, sondern Gott (1 Petr 2,17), der seinen Sohn Jesus Christus zum universalen Herrn eingesetzt hat (z. B. 1 Petr 2,17.21-25; 3,18-22). Das letzte Buch der Bibel malt vor dem Hintergrund massiver Anfeindungen aufgrund der Ablehnung des Kaiserkults ewige Konvi‐ 198 5.2 Konvivenz und Kooperation <?page no="199"?> venz mit dem menschgewordenen Gott vor Augen. Es wird wieder paradiesisch sein (Apk 21,3 f; vgl. Gen 1-2): „Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen …“ Kooperation Der Mensch ist von Beginn an zur Kooperation bestimmt: Gott wirkt mit ihm bei der Gestaltung der Schöpfung zusammen (Gen 1-2 → 4.6 Verant‐ wortung und Schöpfung). Der Mensch muss diesen anspruchsvollen Auftrag nicht allein schultern, sondern im Miteinander mit anderen in wechselsei‐ tiger Ergänzung. Auch als Abraham auf Gottes Geheiß ins verheißene Land aufbricht, ist er nicht allein, sondern nimmt viele Menschen mit (Gen 12). Josef kooperiert auf ökonomisch kluge Weise mit dem Pharao und trägt so zum Überleben vieler Menschen in mageren Zeiten bei (Gen 39-50). ■ Kooperative Leitungsverantwortung: Mose kommt durch seinen Schwiegervater bzw. Gott auf die Idee, die Last der Leitungsverant‐ wortung mit anderen zu teilen (Ex 18; Num 11). Beim Wiederaufbau Jerusalems packen geleitet viele Hände an (Esr; Neh). Die Reihe der Beispiele ließe sich noch weiter fortsetzen. ■ Effiziente Teamarbeit: Auch die beiden wichtigsten Personen Jesus und Paulus kooperieren auf vielfältige Weise. Die Evangelien erzählen, wie Jesus Schülerinnen und Schüler beruft, mit ihnen zusammenarbeitet und sie zum Kooperieren in kleinen Teams anleitet (z. B. Lk 10,1-20). Dieser Teamgeist bleibt nicht auf den Jünger*innenkreis beschränkt. Gleichnishaft kooperieren der Samariter und der Wirt bei der Pflege des unter die Räuber Gefallenen (10,30-35 → 7.4 Barmherzige und hörende Liebe). Die Paulusbriefe wie auch die Apostelgeschichte führen Paulus als Teamworker und Netzwerker vor Augen: „Nicht der tragische Held, der sich unter Aufbietung aller Kräfte mit einer übermächtigen Aufgabe herumschlägt, soll das Leitbild sein, sondern die effektvolle Zusammenarbeit in einem kleinen, gut eingespielten Team“ (K LAU C K 1992: 70). Die Paulusbriefe erwähnen etwa 40 Personen. Darunter fin‐ den sich auch etliche Frauen mit Leitungsverantwortung wie Priska, die Diakonin Phoebe oder die Apostelin Junia (Röm 16,1-5). 199 Kooperation <?page no="200"?> ■ Passung von Aufgaben und Gaben: Gemeindeentwicklung geschieht in geistvoller Zuordnung untereinander (H E NT S CH E L 2013). Gott setzt Menschen für bestimmte Aufgaben wie z. B. Lehre, Leitung und Dia‐ konie ein, um den Gemeindebau zu fördern (→ 5.1 Ämter und Funk‐ tionen). Die Aufgabenteilung erfolgt nach den jeweiligen göttlichen Begabungen (Charismen) (z. B. 1 Kor 12,27-31; Röm 12,1-8). Das Rezip‐ rokpronomen „einander“ signalisiert die wechselseitige Unterstützung beim Zusammenwirken (z. B. 1Thess 4,18; 5,11; Gal 5,13; Röm 15,14). Dieses gabenorientierte paulinische Modell wirkte nachhaltig (z. B. Eph 4,11-16; 1Tim 3,1-13; 1 Petr 4,10 f). Die Apostelgeschichte sieht kollegiale Aufgabenteilung in Gestalt der Kooperation von Aposteln und Armenpflegern in der konvivialen Jerusalemer Urgemeinde ideal‐ typisch Weise praktiziert (Apg 6,1-7). Die Armenpfleger Stephanus und Philippus kommunizieren das Evangelium allerdings nicht nur mit der Tat, sondern auf vollmächtige Weise auch mit dem Wort (Apg 6-8). Das könnte im Sinne einer beflügelnden Konkurrenz zu verstehen sein (→ 5.3 Konkurrenz und Macht). Impulse Einander ist ein Schlüsselwort für Kooperation und Konvivenz. Zur praxis‐ bezogenen Vertiefung lohnt sich ein beispielhafter Blick auf neutestament‐ liche Einander-Worte mit folgenden Fragestellungen: ■ Welche Weisung spricht mich am meisten an? ■ Welche Weisung ist im beruflichen Alltag am schwersten umsetzbar? □ Lebt miteinander in Frieden (Mk 9,40). □ Achtet einander (Röm 12,10). □ Nehmt einander an (Röm 15,7). □ Lehrt einander (Röm 15,14). □ Grüßt einander (Röm 16,16). □ Dient einander (Gal 5,13). □ Seid geduldig und ertragt einander in Liebe (Eph 4,2). □ Vergebt einander (Eph 4,32). □ Ermuntert einander mit Psalmen und Lobliedern (Eph 5,19). □ Ermahnt einander (Kol 3,16). □ Ermutigt einander (1 Thess 4,18). 200 5.2 Konvivenz und Kooperation <?page no="201"?> □ Baut einander auf (1 Thess 5,11). □ Spornt einander zu Liebe und guten Taten an (Hebr 10,14). □ Verleumdet einander nicht ( Jak 4,11). Miteinander feiern ist ein wesentliches konviviales Element. Wie kann es angesichts der diversen Religionszugehörigkeiten von Mitarbeitenden und Klient*innen im Kontext Sozialer Arbeit und Diakonie kultursensibel gestaltet werden? Oder mit Beate H O F MANN gefragt (2015: 218 f): ■ „Wie sieht eine Unternehmenskultur aus, wenn Christen und Nicht‐ christen gemeinsam Weihnachten, Sonntag, Aussegnung, Einführung oder Verabschiedung feiern? “ ■ Partizipieren beide Gruppen an Segensritualen, Liedern und Psalmen? ■ Wie sieht eine christlich konturierte Symbolsprache aus, die kultur- und milieuübergreifend als ästhetisch ansprechend empfunden wird? Literatur H E N T S C H E L , Anni 2013: Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentli‐ chen Ekklesiologie. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. H O F M A N N , Beate 2015: Diakonische Identität in Diversität? ! Aktuelle Herausforderun‐ gen an kultursensibles Diakoniemanagement. In: Matthias Benad, Martin Büscher, Udo Krolzik (Hg.): Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel. Interdisziplinarität, Normativität, Theorie-Praxis-Verbindung. Baden-Baden: Nomos, S. 207-223. K L A U C K , Hans-Josef 1992: Gemeinde zwischen Haus und Stadt. Kirche bei Paulus. Freiburg i. Br.: Herder. L E I B O L D , Steffen 2014: Raum für Konvivenz. Die Genesis als nachexilische Erinnerungs‐ figur. Freiburg i. Br.: Herder. P O P P , Thomas 2010: Die Kunst der Konvivenz. Theologie der Anerkennung im 1. Petrusbrief. Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 33. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. S U N D E R M E I E R , Theo 1995: Konvivenz und Differenz. Studien zu einer verstehenden Missionswissenschaft. Erlangen: Verlag der Ev.-Luth. Mission. 201 Literatur <?page no="202"?> 5.3 Konkurrenz und Macht Thomas Popp Konkurrenz ist in der Bibel kein Tabu. Sie wird in vielen Erzählungen thematisiert. Ihre destruktiven und konstruktiven Aspekte kommen zum Ausdruck, wobei der Akzent auf den negativen Erfahrungen liegt (K NI E LIN G 2006: 153-187). Kultureller Kontext war der Kampf (griech. agṓn) um Aner‐ kennung. Der Grundsatz der antiken Ehrenethik, alle anderen zu übertreffen und der Beste zu sein, bestimmte das agonistische Konkurrenzverhalten. Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage der Macht (P O P P 2010: 66-80). Menschliche Übergriffe und göttliche Eingriffe Die Geschichte der destruktiven menschlichen Konkurrenz beginnt mit dem ersten Brüderpaar: Der sich benachteiligt fühlende Kain erschlägt seinen jüngeren Bruder Abel (Gen 4,1-16). Diese Gewalttat ist Ausdruck der Verführung des Menschen, wie Gott sein zu werden (Gen 3,5), Macht über Leben und Tod zu haben (F E LDM E I E R 2012: 1). Trotzdem eröffnet Gott Kain und seinen Nachkommen neue Handlungsoptionen. Abraham und Lot geraten mit ihren großen Viehherden durch die Knappheit des Landes in eine Konkurrenzsituation. Abraham verzichtet auf seine Macht, gibt als der Klügere nach, wählt das äußerlich wesentlich schlechtere Land und wird durch sein Gottvertrauen reich beschenkt (Gen 13,1-18). Sara und Hagar, die beiden Frauen Abrahams geraten - wie später Jakobs Frauen Lea und Rahel - in Konkurrenz um Kinder, Liebe und Anerkennung (Gen 16; 21 und Gen 29,31-30,24). Die Zwillinge Jakob und Esau (Gen 27; 32) sowie Jakobs Söhne (Gen 37-50) konkurrieren um Anerkennung. Wiederum ist Gewalt im Spiel. Nur durch die rettende Macht Gottes gibt es ein Happy End (Gen 50,20). Die Geschichte gewaltsamer Konkurrenz setzt sich fort: Man denke nur an Mose und den Pharao (Ex 1-15) sowie Saul und David (vgl. nur 1 Sam 18,7) - mit einer Fortsetzung zwischen den eigenen Söhnen und den Thronfolge‐ streitigkeiten der folgenden Jahrhunderte. Die Machthaber erliegen immer <?page no="203"?> wieder der Gefahr, ihre Macht eigenmächtig zu missbrauchen, statt sie im Sinn ihres Gebers zu gebrauchen. Befristete menschliche und ewige göttliche Macht Besonders eindrücklich erzählt das Buch Daniel: Selbst der babylonische König Nebukadnezar II. ist als mächtigster Mensch auf der Welt gegenüber seinen nächtlichen Schrecken im Traum machtlos (C LA R K 2020: 21-26). Aus‐ gerechnet der jüdische Kriegsgefangene Daniel ist wie einst Josef in Ägypten von Gott bevollmächtigt, den Traum des Königs zu deuten: Menschliche Macht ist stets zeitlich befristet, nur die göttliche Macht bleibt ewig (Dan 2,44). Diese Deutung kostet Daniel überraschenderweise nicht den Kopf, sondern der mächtigste König liegt ihm zu Füßen und bekennt sich zu dessen Gott als „Herr über alle Könige“ (Dan 2,47). Macht als Merkmal Gottes Macht kommt von Gott. Ihr menschlicher Gebrauch hat in Demut an dem Gott Israels Maß zu nehmen (F E LDME I E R 2012: 16-22 → 6.3 Demut). Macht ist also ein Relationsbegriff, der eine asymmetrische Beziehung beschreibt. Macht ist ein wesentliches Merkmal Gottes (z. B. Jos 4,24; 1 Sam 2,4-8; 1 Chr 29,10-12). Die Psalmbeter setzen auf seine allmächtige Rettungsmacht (z. B. Ps 53[54],3). Sie kommen zum Heiligtum in Jerusalem, um Gottes barmherzige Macht und Herrlichkeit zu schauen (z. B. Ps 62[63],3 f). Sie ist in einer von destruktiver Konkurrenz und Gewalt gezeichneten Welt die heilvolle Gegenmacht. Sie prägt sich dem Menschen modellhaft durch die Macht des Segens ein (z. B. Num 6,22-27; G R E IN E R 3 2003: 187-205). Diverse Konkurrenzphänomene bei Paulus Paulus knüpft an den Sprachgebrauch der Septuaginta ↗ LXX an (W ILK 2008: 199-202). Er versteht das Evangelium als Rettungsmacht Gottes, als göttliche Dynamik (griech. dýnamis; z. B. Röm 1,16). Die unbedingte Anerkennung des Menschen durch Gott wird durch die Macht des göttlichen Wortes mitgeteilt (z. B. 1 Kor 2,4 f). Durch dieses Medium wirkt Christus 203 Befristete menschliche und ewige göttliche Macht <?page no="204"?> selbst (z. B. Röm 15,18; 2 Kor 13,3). Er ist als aus dem Tod Erweckter „einge‐ setzt zum Sohn Gottes in Macht“ (Röm 1,4). Er herrscht nicht durch Gewalt, sondern durch das Wort. Es wird von bevollmächtigten Freudenboten wie Paulus kommuniziert und stiftet tatkräftigen Glauben (z. B. Röm 10,15-17; Gal 5,6). Die Kommunikation des Evangeliums ist zwar auf konstruktive Koope‐ ration angelegt, die menschlichen Mitarbeiter*innen Gottes sind dafür allerdings zerbrechliche Gefäße (2 Kor 4,7). Diese Fragilität bedingt auch Rivalitätskämpfe. Paulus selbst konkurrierte z. B. mit Apollos in Korinth und den Leitenden der Jerusalemer Urgemeinde (1 Kor 3,1-8 vgl. Apg 18,24-28; Gal 2,1-10 vgl. Apg 15). Die Frage der angemessenen Kommunikation des Evangeliums war also von Anfang an umstritten. Dabei dürften die beteiligten Akteure im Kontext der antiken agonistischen Ehrenkultur nicht frei von Ehrgeiz und Eitelkeit gewesen sein. Letztlich ging es aber um wechselseitige Anerkennung der unterschiedlichen Funktionen und Überzeugungen mit dem Ziel, den Schatz des Evangeliums auf diverse Weise wirkmächtig allen Menschen mitzuteilen. Im Widerspruch liegt oft auch ein Schlüssel zur Erkenntnis. Paulus wurde dadurch zur präzisen Entwicklung seiner Theologie angespornt. In der Auseinandersetzung mit seinen mit ihm konkurrierenden Gegnern in Korinth bringt es der von Krankheit geschwächte ↗ Apostel auf den Punkt: Die Gnade Christi genügt. Seine Macht vollendet sich in menschlicher Ohnmacht. Deshalb ist Paulus auch und gerade in seiner Schwäche mächtig (2 Kor 12,9 f). Christus erweist sich in ihm als zu allem befähigende Macht (Phil 4,13 → 3.6 Menschen mit Behinderung). Konkurrenz in der Jesusgeschichte Auch die Jesusgeschichte hat es von Beginn an mit Konkurrenz zu tun. Das führt paradigmatisch der Anfang des Matthäusevangeliums vor Augen: König Herodes sieht in dem neugeborenen Jesus einen Konkurrenten, den er aus dem Weg schaffen will (Mt 2). Der Teufel konkurriert mit Gott um die Macht über Jesus (Mt 4,1-11). Der Gottessohn weist die verlockenden teuflischen Angebote zurück, verzichtet auf Eigenmächtigkeit und lebt aus der Vollmacht, die sich aus seiner Verbundenheit mit Gott speist (F E LDM E I E R 2012: 1-11). 204 5.3 Konkurrenz und Macht <?page no="205"?> Die ↗ Pharisäer stellten aus historischer Perspektive aufgrund ihrer ein‐ flussreichen Popularität eine Konkurrenz zur Jesusbewegung dar (S CH RÖT E R 2017: 129-131). Die in den Evangelien oft mit Polemik präsentierte phari‐ säische Bewegung war mit ihrem Ansatz der Ausrichtung des alltäglichen Lebens am göttlichen Gesetz (↗ Tora) beim Volk beliebt. Selbst unter den von Jesus berufenen Jüngern herrscht Konkurrenz: Die Söhne des Zebedäus möchten in der Herrlichkeit die Ehrenplätze an der Seite Jesu einnehmen (Mk 10,35-45 ⫽ Mt 20,20-28). Jesus zufolge erweist sich wahre Größe in der lebensdienlichen Hingabe für andere. Macht in der Jesusgeschichte Entsprechend erzählen alle vier Evangelien eindrücklich von dem göttlich autorisierten Wirken Jesu. Er handelt in Tat und Wort im Auftrag und in der Vollmacht Gottes. Vor dieser geistvollen Macht müssen alle Unheilsmächte, die die Menschen peinigen, zurückweichen (z. B. Mk 1,21-39). Diese mit einem Machtwechsel verbundene Durchsetzung der Gottesherrschaft ist zu Lebzeiten Jesu zeichenhaft erkennbar geworden und wird am Ende der Zeit für alle unverkennbar werden. Sie wird mit dem überraschenden machtvollen Wiederkommen Jesu zum Gericht sichtbar vollendet werden (9,1; 13,24-37; vgl. Dan 2,44; 7,13 f → 4.5 Recht, Gerechtigkeit und Gericht). Gottes Macht ist auch stärker als der Tod: Das führen zum einen die voll‐ mächtigen Totenerweckungen durch Jesus vor Augen (v. a. Joh 11,1-44). Sie sind ein anschaulicher Beleg für die Macht des Gebetes (11,41 f → 6.1 Gebet). Zum andern hat Gott den gekreuzigten Jesus von den Toten auferweckt und zum Herrn über alle Mächte gemacht (Phil 2,9-11; 1 Petr 3,21 f). Deshalb kann keine dieser Mächte die Glaubenden von der Macht der unverbrüchli‐ chen Liebe Gottes scheiden, „die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“ (Röm 8,39). Beflügelnde Konkurrenz und Bevollmächtigung Eine Konkurrenzgeschichte im ursprünglichen Wortsinn ist der Wettlauf zum Grab Jesu ( Joh 20,1-10). Maria Magdalena macht Petrus und dem Jünger, den Jesus liebte (= der andere Jünger) mit ihrer Erzählung vom leeren Grab Beine. Die Art und Weise der Darstellung deutet auf einen 205 Macht in der Jesusgeschichte <?page no="206"?> hintergründigen Sinn. Es geht wohl um einen mit humorigem Augenzwin‐ kern erzählten theologischen Wettlauf zwischen dem geliebten Jünger (= leitender Theologe und Repräsentant der johanneischen Gemeinden) und Petrus (= nachösterliches Haupt anderer Gemeinden). Der geliebte Jünger läuft zu großer Glaubensform auf und gewinnt. Er ist vor Petrus am Grab, lässt ihm aber den Vortritt. Erst darauf betritt er das Grab, sieht aufgrund seiner besonderen Nähe zu Jesus tiefer und glaubt im Unterschied zu Petrus sofort an den Auferstandenen. Zwischen den beiden Leitungsfiguren besteht eine Rivalität. Aus johanneischer Sicht kommt dem geliebten Jünger klar die theologische Vorrangstellung gegenüber Petrus zu (vgl. nur 18,15-18). Er erkennt ihn zwar in seiner amtlichen Leitungsfunktion an, hat aber in der mystischen Glaubenstiefe uneinholbar die Nase vorn (→ 6.4 Mystik). Was die beiden Konkurrenten als Angehörige des Zwölferkreises grundlegend verbindet: Alle Apostel (mit Ausnahme von Judas) werden durch den auferstandenen Jesus mit dem Geist begabt, um das Evangelium vollmächtig kommunizieren zu können (20,19-23). Bei diesem Wettlauf handelt es sich also nicht um eine einander ausschlie‐ ßende Konkurrenz: „Einerseits unterscheiden sich die johanneischen und die petrinischen Gemeinden und deren jeweilige Häupter (sie haben ein verschiedenes ‚theologisches Tempo‘), andererseits erkennen sie einander an und wissen, dass sie sich ergänzen. Beide haben ihre besonderen Gaben und Aufgaben“ (P O R S CH 1988: 210 f). Entsprechend erkannten wahrschein‐ lich die johanneischen Gemeinden um 100 n. Chr. in Kleinasien die durch die Petrusgestalt symbolisierten gesamtkirchlichen Leitungsstrukturen an und lebten zugleich ihr spezifisches Profil als geistvolle Gemeinschaft der Freund*innen Jesu (→ 7.8 Zum Titelbild). Konstruktive Konkurrenz im Dienst des Evangeliums fördert demnach dessen Kommunikation: Miteinander an der Vollmacht Christi zu partizi‐ pieren, sich wechselseitig profiliert zu unterstützen, einander zu neuen Glaubenseinsichten zu führen sowie zu entsprechenden Taten der Liebe anzuspornen (→ 5.2 Konvivenz und Kooperation). Erst die Ewigkeit wird konkurrenzlos von der Macht der göttlichen Liebe erfüllt sein (z. B. Apk 21-22). 206 5.3 Konkurrenz und Macht <?page no="207"?> Impulse ■ Insbesondere im Sport lässt sich die Erfahrung machen, sich in einem freundschaftlichen Team wechselseitig zu Spitzenleistungen anzuspor‐ nen. □ Haben Sie selbst schon Konkurrenzerfahrungen im positiv-beflü‐ gelnden Sinn gemacht? Wenn ja: In welchem Kontext bzw. in welchen Kontexten? □ Welche Faktoren waren dabei besonders bedeutsam? □ Was ist nötig, damit positive Konkurrenzbeziehungen nicht ins Negative umschlagen? □ Wie kann die Orientierung an den beflügelnden Konkurrenzerfah‐ rungen in der Bibel in wirtschaftlichen Wettbewerbssituationen durchgehalten werden? ■ Macht kann konstruktiv und destruktiv wirken, ein Segen oder ein Fluch sein. Entsprechend braucht es ein genaues Hinschauen: □ Wann verdient Macht Vertrauen, wann Misstrauen? Und inwiefern können die biblischen Blitzlichter zur Macht helfen, das Verhältnis von Vertrauen und Macht bzw. Misstrauen und Macht zu klären? □ Wie lassen sich Machtverhältnisse in Sozialer Arbeit und Diako‐ nie als Räume des Vertrauens verantwortungsvoll und kultiviert gestalten? Und wie lässt sich dabei das Bewusstsein für die Gefahr manipulativen Machtmissbrauchs schärfen? □ Welche Voraussetzungen brauchen Machtträger*innen, damit sie die Macht nicht korrumpiert (vgl. Mt 4,1-11)? Und welche Struk‐ turen sind dienlich, um eine Übermacht der Machtträger*innen zu vermeiden? Literatur C L A R K , Christopher 2020: Der Traum des Nebukadnezar oder Gedanken über die Macht. In: Ders.: Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukad‐ nezar bis Donald Trump. München: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 21-57. F E L D M E I E R , Reinhard 2012: Macht - Dienst - Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik. Tübingen: Mohr Siebeck. G R E I N E R , Dorothea 3 2003: Segen und Segnen. Eine systematisch-theologische Grundle‐ gung. Stuttgart: Kohlhammer. 207 Impulse <?page no="208"?> K N I E L I N G , Reiner 2006: Konkurrenz in der Kirche. Praktisch-theologische Untersuchun‐ gen zu einem Tabu. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. P O R S C H , Felix 1988: Johannes-Evangelium. Stuttgarter kleiner Kommentar Neues Testament 4, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk. S C H RÖT E R , Jens 6 2017: Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa - Retter der Welt. Biblische Gestalten 15. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. W I L K , Florian 2008: Verblendet oder verstockt? Gottes Macht und der Misserfolg des Evangeliums in der Sicht des Paulus. In: Reinhard G. Kratz, Hermann Spiecker‐ mann (Hg.): Vorsehung, Schicksal und göttliche Macht. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 193-214. 208 5.3 Konkurrenz und Macht <?page no="209"?> 5.4 Einheit und Vielfalt Walter Klaiber Das Thema Einheit und Vielfalt wird in den biblischen Schriften und ihrer Exegese in unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen behandelt. Schon die Auswahl der biblischen Bücher im Zuge der Kanonisierung im Judentum und Christentum zeigt das Ringen um diese Problematik (↗ Kanon). Dabei geht es um Einheit und Vielfalt der biblischen Theologie(n) und davon abgeleitet auch um Einheit und Vielfalt heutiger Kirchen und Konfessionen. Im Neuen Testament selbst wird das Thema von Paulus im Blick auf Gaben und Beauftragungen in der Gemeinde (Röm 12; 1 Kor 12-14 → 7.7 Taufe, Herrenmahl und Diakonie), aber auch hinsichtlich von Unterschieden in Status und Herkunft ihrer Glieder (Gal 3,27 f) oder angesichts unterschiedlicher theologischer Meinungen behandelt (Röm 14 f; 1 Kor 8-10). Fast alle diese Aspekte haben auch Relevanz für heutige Gemeinde und Diakonie. Alttestamentliche Perspektiven Im ↗ Tanach wird das Thema Einheit und Vielfalt selten direkt angespro‐ chen. Indirekt aber wird es mehrfach berührt. So zeigt die sog. Völkertafel in Gen 10, dass Vielfalt und Einheit des Menschengeschlechts aus der Einheit des schöpferischen Handelns Gottes erwachsen. Das menschliche Beharren auf Uniformität und Homogenität wird dagegen in der folgenden Erzählung vom Turmbau zu Babel (Gen 11) gerade als Ausdruck menschlicher Hybris verurteilt und durch die verwirrende Vielfalt der Sprachen abgewehrt. Innerisraelitisch zeigen sowohl der Jakobals auch der Mosesegen (Gen 49; Dtn 33) die teilweise gravierenden Unterschiede in Begabung und Verhalten der einzelnen Stämme Israels auf, halten aber zugleich fest, dass sie durch den Segen Gottes als ein Volk zusammengehören. <?page no="210"?> Paulinische Perspektiven Im Neuen Testament ist es vor allem Paulus, der das Thema Einheit und Vielfalt aufnimmt. In 1 Kor 12 macht er das unauflösliche Ineinander beider Aspekte am Bild vom Leib und seinen Gliedern klar. Die Vielfalt der Organe ist nötig und dient dem ganzen Körper. Deshalb gilt auch für die Gemeinde: Es gibt verschiedene Charismen, aber der eine Geist schenkt sie, es gibt verschiedene Aufgaben, aber der eine Herr beauftragt, es wirken verschiedene Kräfte, aber sie sind von dem einen Gott geschaffen, und all das geschieht „zum Nutzen aller“ (1 Kor 12,4-6). Paulus nimmt diesen Gedanken in Röm 12,3-8 wieder auf, fokussiert ihn aber stärker auf die grundlegenden Funktionen in der Gemeinde und betont die Bedeutung des „Maßes des Glaubens“ als Grund und Kriterium für ihr gedeihliches Miteinander. In Gal 3,27 f sind dagegen Unterschiede in der gesellschaftlichen Stellung und der religiösen Herkunft im Blick. Diese Unterschiede sind grundsätzlich aufgehoben: Wo Menschen durch die Taufe zu Christus gehören, gibt es „nicht mehr Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“. Aber gerade weil diese Unterschiede in Christus nicht mehr gelten, kann die Gemeinde so vielfältig aus Menschen ganz unterschiedlicher Stellung und Herkunft bestehen. Das wird in Kol 3,11 auch auf Menschen aus anderen Kulturkreisen („Skythen“) ausgedehnt. Die immer wieder auftauchende Mahnung, „eines Sinnes zu sein“, bedeu‐ tet nicht, in allen Fragen einer Meinung zu sein (vgl. Röm 12,16; 15,5; 2 Kor 13,11; Phil 2,2). In Röm 14 und 15 plädiert Paulus dafür, dass sich Christ*innen auch dann gegenseitig annehmen und miteinander Gemein‐ schaft haben, wenn sie in bestimmten Fragen unterschiedlicher Meinung sind (Röm 14,5: „Ein jeder sei in seiner Meinung gewiss“). Grundlage dafür ist, dass auch Christus Menschen ganz unterschiedlicher Prägung, jüdische und nichtjüdische, angenommen hat (Röm 15,6 ff). Weitere neutestamentliche Schriften Ganz wichtig ist das Thema Einheit im Epheserbrief. Dabei geht es einerseits um die Einheit einer Kirche von Menschen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft in einem wohl letzten Versuch, diese Gemeinschaft aufrechtzu‐ erhalten. Christus hat aus den beiden getrennten Gruppen „einen neuen 210 5.4 Einheit und Vielfalt <?page no="211"?> Menschen“ geschaffen (2,14-22). Andererseits geht es um Einigkeit in der Gemeinde, die durch sieben einigende Größen begründet wird (4,3-6); die verschiedenen Beauftragungen in ihr, die hier schon amtlichen Charakter annehmen, wirken gemeinsam für die „Einheit des Glaubens“ (4,11-13). Dass es im Neuen Testament sehr unterschiedliche theologische Entwürfe gibt, wird in ihm selbst noch nicht thematisiert. Aber grundsätzlich wurde das Problem schon bei einer Zusammenkunft der Jerusalemer Gemeinde mit den Vertretern der Heidenmission unter Führung von Barnabas und Paulus behandelt (vgl. Gal 2,1-10; Apg 15). Dort gab man sich die „rechte Hand der Gemeinschaft“ und begründete so eine Einheit in versöhnter Verschiedenheit (Gal 2,7-9). Ihre Tragfähigkeit wurde kurze Zeit später in Antiochien in Frage gestellt, als sich die jüdischen Christ*innen unter Führung des Petrus aus der Gemeinschaft der nichtjüdischen „Heidenchris‐ ten“ zurückzogen. Paulus hält dagegen, dass die Einheit der Kirche auf der gemeinsamen Rechtfertigung durch den Glauben beruht und nicht auf der einheitlichen Befolgung von Gesetzesvorschriften (Gal 2,11-21). Die Bitte Jesu in Joh 17,21 f „dass sie alle eins seien“ bezieht sich wohl auf die bleibende Identität und Einheit der christlichen Verkündigung bei der Weitergabe des Evangeliums und nicht auf das Eins werden unterschiedlicher theologischer Richtungen. Bedeutung für die kirchliche und diakonische Praxis Obwohl die Vielzahl heutiger Konfessionen nicht direkt auf die Vielfalt theologischer Konzeptionen im Neuen Testament zurückgeht, sind die angesprochenen Probleme und die vorgeschlagenen Lösungswege damals und heute vergleichbar. Grundsätzlich gilt: Eine Vielfalt von Aufgaben und Begabungen, aber auch die Unterschiede der sozialen Herkunft und religiösen Prägung gefährden die Einheit der Kirche nicht, sondern sind Ausdruck ihrer Inklusivität und der Vielfalt in einem gesunden Organismus. Grundlage dieser Einheit ist nicht ein Konsens in allen Fragen, sondern die gemeinsame Zugehörigkeit zu Christus. Freilich gibt es im Blick auf theologische Aussagen und ethisches Verhalten immer wieder auch klare Grenzziehungen, die aber unterschiedlich ausfallen. So stellt sich auch heute auf verschiedenen Ebenen die Frage, wodurch die Einheit der Kirche und das Miteinander von Christ*innen gefährdet ist und wo nicht. Grundsätzlich ist das ökumenische Modell der versöhnten Verschiedenheit schon im 211 Bedeutung für die kirchliche und diakonische Praxis <?page no="212"?> Neuen Testament angelegt. Und für das Leben einer Gemeinde und die Arbeit in der Diakonie gilt es, den Reichtum an Gaben und die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit Menschen ganz unterschiedlicher Prägung und Herkunft dankbar anzuerkennen. Impulse Einheit schließt nach biblischer Auffassung Vielfalt nicht aus, denn Einheit bedeutet nicht Uniformität in allen Ansichten und Verhaltensweisen, wohl aber gemeinsames Leben und Handeln auf derselben Grundlage und mit der gleichen Ausrichtung. Die Basis für solche Einheit ist das Wissen darum, auf Gottes Gnade angewiesen zu sein, und die Sorge für die Mitmenschen die Zielsetzung, durch die bestimmt wird, wieviel Vielfalt dabei nötig und möglich ist. ■ Welche gemeinsamen Grundlagen braucht diakonisches Denken und Handeln? ■ Wo ist die Vielfalt möglich und hilfreich? Literatur S C H M I D T , Werner H. 1995: Vielfalt und Einheit alttestamentlichen Glaubens. 2 Bände. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. B E C K E R , Jürgen 2000: Vielfalt und Einheit des Urchristentums. In: Wilfried Härle, Matthias Heesch, Reiner Preuel (Hg.): Befreiende Wahrheit. Festschrift Eilert Herms, S. 57-76. K L AI B E R , Walter (2021): Die Botschaft des Neuen Testaments. Eine kurz gefasste neutestamentliche Theologie. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. L O H S E , Eduard 1977: Einheit und Vielfalt in der Kirche. In: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Exegetische Studien zur Theologie des Neuen Testaments II, S. 9-14. H E L L E R , Dagmar & S Z E N T P É T E R Y , Péter (Hg.) 2016: Umstrittene Katholizität: von der zwiespältigen Beziehung zwischen Vielfalt und Einheit. Tagungsbericht der 18. Wissenschaftlichen Konsultation der Sozietas Oecumenica. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. 212 5.4 Einheit und Vielfalt <?page no="213"?> 5.5 Essen und Trinken Peter Wick Essen und Trinken findet in biblischer Zeit vor allem im Rahmen von Mählern statt. Sowohl im ↗ Tanach als auch im Neuen Testament gibt es dafür unterschiedliche Bezeichnungen, die das Mahl inhaltlich umschreiben, z. B. „essen und trinken“ (u. a. 2 Kön 9,34; Mt 11,19; 24,49; Lk 5,30.33; 22,30; 1 Kor 10,31; 15,32), „einen Tisch bereiten“ (u. a. Ps 23,5; Spr 9,2), „zu Tisch liegen“ (u. a. Mk 2,15; Mt 14,3; Lk 5,29) oder als Gemeinschaftsbzw. Gastmahl (u. a. Gen 19,3; 26,30; 1 Sam 25,36; Mk 6,21; Mk 12,39; Joh 12,2.4). Essen und Trinken dienen in biblischer Zeit nicht nur dem Grundbedürfnis auf Ernährung, sondern haben auch soziale (als Gemeinschaftsmähler zu unterschiedlichen Anlässen), religiöse (z. B. Anrufung von Göttern) und psychologische (als Ausdruck von Wohlergehen, Lebensfreude bzw. Trauer, Buße, Klage oder Ähnlichem) Dimensionen. Eine Trennung bei Tisch bzw. bestimmte Speisevorschriften sind Ausdruck kultureller und sozialer Unter‐ schiede. Gemeinsames Essen bzw. das Teilen von Speisen sind entsprechend Zeichen von Gemeinschaft sowohl zwischen Menschen als auch bzgl. der Gottesbeziehung. In der Apostelgeschichte wird die Wendung „zusammen speisen“ für die Mähler der Jerusalemer Gemeinde verwendet (Apg 2,46 u. a.). Der Hinweis auf das Brotbrechen in Apg 2,42.46 verweist auf einen gängigen Mahleröffnungsgestus (vgl. Mk 8,6.19; Lk 9,16; Lk 24,30; 1 Kor 10,16), der den Gemeinschaftscharakter eines Mahles betont. Form der Hauptmahlzeit Das Hauptmahl ist das deípnon am Abend. Es folgt einer seit Jahrhunderten ritualisierten festen Form, die in Griechenland verbreitet war und sich im hellenistischen Kulturraum überall etabliert hatte. Das Mahl wird liegend eingenommen. Es besteht in weiten Teilen der Bevölkerung aus einfachen Speisen. In der Oberschicht hingegen wird es zum üppigen Gelage ausge‐ baut. Das gemeinsame Weintrinken (sympósion) folgt dem deípnon und wird durch einen ersten Weinbecher bzw. Kelch (potḗrion) nach dem Mahl eröffnet. Das sympósion dient zur Unterhaltung der Teilnehmer, die im <?page no="214"?> Idealfall alle zur Unterhaltung durch einen eigenen Redebeitrag oder ein Gedicht, oder einen Gesang oder ein Spiel beigetragen haben. Im ↗Helle‐ nismus scheinen Frauen, wenn sie nicht Prostituierte (Hetären) waren, im Gegensatz zum deípnon nicht am sympósion teilgenommen zu haben, in römischer Zeit war dies zum Teil möglich. Sowohl große Vereinsmähler als auch kleine private Einladungen folgten diesem Schema. Nach dem Mahl trank man den Wein und tauschte sich aus. Judäa gehörte seit Alexander dem Großen zum hellenistischen Kultur‐ raum. Diese Form, am Abend zu essen, war im Judentum des 1. Jh. n. Chr. selbstverständlich. Auch festliche Mahlzeiten zu Geburtstagen und zu Hoch‐ zeiten waren so gestaltet (Mk 6,14-21; Mt 22,1-10; Lk 14,7-14.15-24; Lk 15,22-32; Joh 2,1-11). Ein Spezifikum der jüdischen und frühchristlichen Gemeinschaftsmähler lag im Gebet, das am Beginn des Mahls über dem Brot gesprochen wurde (vgl. 1 Kor 11,23 f → 7.7 Taufe, Herrenmahl und Diakonie). Jesus und frühchristliche Gemeinden Auch die Mahlzeiten Jesu, zu denen er eingeladen wurde bzw. die er mit seinen Jünger*innen einnahm, folgten diesem Schema. Das gilt auch für das Pessachmahl jener Zeit und entsprechend für das letzte Abendmahl Jesu. Die frühen Gemeinden haben sich ebenfalls um ein deípnon versammelt, da sie nicht im eigentlichen Sinn Gottesdienst gefeiert haben. Die Gottes‐ dienstterminologie wird im Neuen Testament nie für die Versammlung der Gemeinde verwendet, sondern sie bleibt konsequent auf den Kult im Tempel bezogen oder wird metaphorisch für den Gott wohlgefälligen Lebenswandel im Alltag verwendet (Röm 12,1 ↗ Metapher). Nach dem Mahl war für Jesus und für Paulus ein geeigneter Zeitpunkt für Gespräche (Lk 22,19-38; 1 Kor 11,17-34). Offensichtlich folgt dem deípnon strukturell auch hier ein sympósion, bei dem es nicht darum ging, sich zu betrinken, sondern sich gegenseitig zu stärken (vgl. 1 Kor 14,26; Eph 5,18-20). In allen Texten wird von Sättigungsmählern gesprochen. 214 5.5 Essen und Trinken <?page no="215"?> Gruppenzugehörigkeit Das gemeinsame Mahl gilt als intimste Form der Gemeinschaft, die eine Gruppe in der Antike miteinander haben kann. Mahlgemeinschaft verbindet die Teilnehmenden, aber sie markiert auch deutlich, wer nicht zu dieser Gemeinschaft gehört. Den ältesten Hinweis in der Bibel finden wir in Gen 43,32: „Die Ägypter dürfen nicht mit den Hebräern essen, denn es macht sie unrein.“ Das frühe Judentum hat die Speisevorschriften der ↗ Tora so weiterentwickelt, dass sie sich damit von anderen Völkern abgrenzen konnten. Innerhalb des großen hellenistischen Kulturraums haben diese Speisevorschriften den Jüdinnen und Juden geholfen, ihre Identität zu be‐ wahren, denn Vergemeinschaftungen mit nichtjüdischen Menschen waren auf diese Weise massiv erschwert. Auch unter jüdischen Gruppierungen konnte man sich durch Speisevor‐ schriften von anderen Gruppen abgrenzen. So waren die ↗ Pharisäer für besonders strenge Vorschriften bekannt. Indem Jesus sich mit seinen Jüngern nicht an diese Vorschriften hielt (Mk 7,1-5), grenzte er sich von den Pharisäern ab. Mahlgemeinschaft mit Jesus als Teilhabe am Reich Gottes Jesus öffnete die Mahlgemeinschaft für viele Menschen. Damit unterwan‐ derte er nicht nur die Grenzziehungen durch Mahlgemeinschaften, sondern betonte, dass sie so am Reich Gottes und an Gott selbst partizipieren dürfen. Dies demonstrierte er, indem er nicht nur bei Pharisäern aß (Lk 7,36), sondern Mahlgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern pflegte (Mt 9,9-13; Lk 15,1-2). In seinen Gleichnissen lehrte er, dass das Himmelreich einem großen Gastmahl Gottes gleicht (Lk 14,7-24). Im Gleichnis vom verlorenen Sohn feiert der Vater die Wiederherstellung der Gemeinschaft mit seinem jüngeren Sohn mit einem Festmahl. Der ältere Sohn will daran nicht partizipieren (Lk 15,22-32). Jesus bittet eine ↗ Samaritanerin an einem Brunnen, ihr zu trinken zu geben, und damit auch um Gemeinschaft ( Joh 4,7-9). 215 Gruppenzugehörigkeit <?page no="216"?> Jüdische und nichtjüdische Jesusanhänger*innen Die Jesusbewegung war ursprünglich eine der vielen jüdischen Gruppie‐ rungen. Als sie sich bald nach der Entstehung der ersten Gemeinde in Jerusalem erfolgreich unter Nichtjüdinnen und Nichtjuden ausbreitete, stellte sich die drängende Frage, ob diese sich beschneiden (Gal 2,1-10; Apg 15,1-29) und an die jüdischen Speisevorschriften halten müssten (Gal 2,11-21; 1 Kor 8-10; Röm 14,1-15,13). Letztlich setzte sich Paulus durch: Die Mahlgemeinschaft hat Vorrang, der Glauben an Jesus als den Christus reicht zur Teilnahme an den Mahlzeiten. Doch zugleich mahnt Paulus Gemeindeglieder, die frei von allen Essensbestimmungen sind, auf die anderen Rücksicht zu nehmen. Die volle Partizipation am gemeinsamen Sättigungsmahl am Abend ist für Paulus von höchster Priorität. Dabei warnt Paulus auch, dass alle, unab‐ hängig von ihrer sozialen Herkunft, in gleicher Weise an den verschiedenen Speisen partizipieren sollen (1 Kor 11,30-34). Wirkungsgeschichte Partizipation und Trennung durch Essen und Trinken wurde in der Wir‐ kungsgeschichte durch die Kirche nicht überwunden. Bis heute zeigt sich Zugehörigkeit zur Kirche an der Erlaubnis, an Brot und Kelch des Abend‐ mahls teilzunehmen. Bis heute ist die Teilnahme in der Regel nur den Getauf‐ ten gestattet. Die römisch-katholische Kirche erlaubt Christ*innen mancher Konfessionen die Teilnahme an der Eucharistie nicht. Die frühe Kirche hat ihre Gemeinschaft maßgeblich über die Partizipation an gemeinsamen Sättigungsmählern gefördert und sichtbar gemacht. Durch die Reduktion des Abendmahls auf ein Stückchen Brot und Schlückchen Wein ist die soziale und karitative Dimension der christlichen Gemeinschaftsmähler ganz in den Hintergrund getreten. Impulse ■ Welche sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi‐ schen den antiken Vorstellungen bzw. Gewohnheiten und „heute“? 216 5.5 Essen und Trinken <?page no="217"?> Hier sind weltweit beträchtliche kulturelle Unterschiede zu beachten: Beginnen Sie daher den Vergleich bei Ihren eigenen Gewohnheiten. ■ Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beachtung der historischen Unterschiede zwischen den in den biblischen Texten vorausgesetzten Verhältnissen und der aktuellen Situation für soziales bzw. diakonisches Handeln? ■ Schauen Sie sich auch den Artikel → 5.1 Ämter und Funktionen an. Inwiefern können neutestamentliche Vorstellungen von Mahlgemein‐ schaft die Praxis des christlichen Abendmahls heute sinnvoll korrigie‐ ren? Welche Rolle spielt das Amtsverständnis dabei? Literatur A L -S U A D I , Soham 2011: Essen als Christusgläubige. Ritualtheoretische Exegese pauli‐ nischer Texte. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag. H A R T E N S T E I N , Judith, P E T E R S E N , Silke & S T A N D H A R T I N G E R , Angela (Hg.) 2008: „Eine gewöhnliche und harmlose Speise“? Von den Entwicklungen frühchristlicher Abend‐ mahlstraditionen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. H E I L M A N N , Jan & W I C K , Peter 2013: Mahl / Mahlzeit (Essen) NT. In: Das Wissenschaft‐ liche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 5197 5/ (Zugriffsdatum 25. 04. 2021). K L I N G H A R D T , Matthias 1996: Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern. Tübingen und Basel: Francke. W E Iẞ , Wolfgang (Hg.) 2011: Der eine Gott und das gemeinschaftliche Mahl. Inklusion und Exklusion biblischer Vorstellungen von Mahl und Gemeinschaft im Kontext antiker Festkultur. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. W IC K , Peter 2 2003: Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwick‐ lung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmig‐ keit. Stuttgart u. a.: Kohlhammer. 217 Literatur <?page no="218"?> 5.6 Inklusion Urte Bejick Angestoßen wurde die Inklusionsdebatte durch die 2008 in Kraft getretene Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Diese verzichtet auf eine religiöse Unterfütterung. Auch eine biblische Theologie der Inklusion gibt es nicht. Wohl aber lässt sich in der Bibel die Tendenz ablesen, einen „erwählten“, also „exklusiven“ Kreis (die Sippe, den Stamm, das „erwählte Volk“) für marginalisierte Menschen zu öffnen und diese mit einzubeziehen seien es Fremde, Arme, Kranke oder Menschen mit Behinderung. Der Rekurs auf biblische Texte kann die Sicht auf Inklusion weiten und anregen, altbekannte Texte befreiungstheologisch aus der Sicht von Menschen mit Behinderung wahrzunehmen (→ 3.6 Menschen mit Behinderung). Inklusion und Schöpfung Der Begriff der „Gottebenbildlichkeit“ verführte immer wieder dazu, diese an bestimmten Eigenschaften wie Sprachfähigkeit, Vernunft, aufrechter Gang oder Mitschöpfertum des Menschen festzumachen, nicht an der Unverfügbarkeit Gottes. In Hinsicht auf die Schöpfung stellt sich die Frage: Gehört Behinderung als besondere Beschaffenheit neben anderen zur guten Schöpfung und fällt unter den Zuspruch „Siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31) oder ist sie ein Defekt und ein Merkmal der „gefallenen“ Schöpfung? Nach den ersten Schöpfungserzählungen werden die Menschen von Anfang an unterschiedlich und der gegenseitigen Hilfe bedürftig geschaffen (Gen 2,18). In Unterschiedlichkeit und im aufeinander Angewiesensein sind sie „Gottes Ebenbild“ (→ 2.2 Ansätze biblischer Anthropologie). Erst der „Sündenfall“ lässt die Menschen ihre Verschiedenheit als schambesetzte Differenz erleben und in eine Hierarchie (Mann-Frau-Tier) fügen (Gen 3,10). Ein befreiungstheologischer Ansatz sieht daher „Behinderungen“ als Besonderheiten von Menschen, die in einer Schöpfung in Vielfalt angelegt sind. Nicht nur als Gattungswesen, auch als Individuum wird nach manchen biblischen Vorstellungen jeder Mensch von Gott „von Hand“ geschaffen <?page no="219"?> (Ps 139,13; Hi 10,10.18) in all seiner Eigenart. „Wer hat den Menschen die Sprache gegeben? Wer macht sie stumm oder taub? Wer macht sie sehend oder blind? “ fragt Gott den offenbar sprachbehinderten Mose (Ex 4,11). Inklusion im „Heiligkeitsgesetz“ Ein früher Text, der die Behinderung von Menschen durch andere thema‐ tisiert, findet sich im sog. „Heiligkeitsgesetz“: „Du sollst einen Tauben nicht verfluchen und einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen; vielmehr sollst du deinen Gott fürchten. Ich bin der Herr.“ (Lev 19,14-15 → 7.1 Heiligkeit des Lebens). Der Passus findet sich in einem größeren Abschnitt Lev 19,1-18, in dem es um Grundlagen guter Gemeinschaft geht und der mit dem Gebot schließt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Die „Nächste“ sind in diesem Kontext die Nebenmenschen in Sippe oder Dorfgemeinschaft. Erweitert wird diese durch zu integrierende „Fremde“ (Lev 19,33-34). Als Gebotsbegründung werden die Heiligkeit Gottes und die Heiligung des Volkes genannt - es sind „Sätze apodiktischen Rechts“, das heißt, sie gelten als unhinterfragbar (→ 2.4 Ansätze biblischer Ethik). Allerdings ist „heilig“ ein ab- und ausgrenzender Begriff. Die Gemein‐ schaft, die durch das Halten der Gebote „geheiligt“ wird, unterscheidet sich dadurch von anderen (Lev 20,26) und muss alle diejenigen exkludieren, die diese Heiligung gefährden. Das „Andere“, zu Exkludierende ist das Verunreinigende - in den Versen, die dem Gebot der „Nächstenliebe“ folgen, geht es daher auch um den gewaltsamen, manchmal tödlichen Ausschluss von Menschen, die sich abweichend verhalten. Lev 19,14-15 ist ein frühes Beispiel für eine inkludierende Gemeinschaft, die allerdings auf Exklusion begründet ist. Göttliche Grenzüberschreitung In der gesamten Bibel zeigt sich die Tendenz, die Räume der „Heiligkeit“ immer mehr zu erweitern. Besonders die prophetischen Schriften zielen auf göttliche Grenzüberschreitungen ( Jes 57,15) und die Ausweitung des göttlichen Bundes: 219 Inklusion im „Heiligkeitsgesetz“ <?page no="220"?> „Der Fremde, der sich dem Herrn angeschlossen hat, soll nicht sagen: Sicher wird der Herr mich ausschließen aus seinem Volk. Der Verschnittene soll nicht sagen: Ich bin nur ein dürrer Baum … Spruch Gottes, des Herrn, der die verstoßenen Israeliten sammelt: Noch mehr, als ich schon von ihnen gesammelt habe, will ich dort versammeln.“ ( Jes 56,3-8). Dieser Text verbindet sozial bedingte Ausgrenzung (Fremder) mit der Ausgrenzung des „Eunuchen“ als exemplarischem durch andere Menschen in seiner Lebenskraft „Behinderten“ (→ 4.3 Asyl, Ausländer und Fremde). Eindrücklich greift Apg 8,26-40 diese Verheißung auf und sieht sie durch das Wirken des Geistes erfüllt: Der äthiopische Verwalter, ein Eunuch, liest im Jesajabuch und dessen christologische Auslegung durch Philippus begeistert ihn so, dass er sich taufen lässt. Nach der Apostelgeschichte ist es der vom Auferstandenen ausgehende Geist, der bisher ausgeschlossene Menschen in die Sphäre des Heiligen bringt (Apg 3), die Grenzen des „erwählten Volkes“ sprengt und auch die urchristliche Gemeinde erweitert. Ausweitung der Heilssphäre statt Normalisierung Die Annahme einer durch äußere Umstände verursachten „Unreinheit“ wird durch die Worte und die Praxis Jesu eindeutig abgelehnt: Behinderung, Krankheit, Herkunft oder Geschlecht machen einen Menschen nicht „un‐ rein“ und unberührbar (Mt 15,1-20 ⫽ Mk 7,1-23; Apg 10,15; → 3.3 Krankheit und Heilung). Joh 9,2-3 lehnt auch das Konzept von Behinderung als Strafe ab. Wie sind dann aber die Wunderheilungen des Alten und Neuen Testaments zu werten? Dass „Blinde sehen und Taube hören“ ist für manche Menschen mit einer Sinnesbehinderung keine Verheißung, sondern ein Affront. Um die befreiende und heilende Kraft von Wundergeschichten auch heute spürbar zu machen, ist zu berücksichtigen: ■ Eine Auslegung von Heilungsgeschichten darf keine „Kränkungsge‐ schichte“ (Ulrich Bach) für Menschen mit Behinderungen und Ein‐ schränkungen sein. ■ In den Heilungsgeschichten werden nicht pauschal Krankheiten und Behinderungen, sondern einzelne Menschen auf deren Wunsch hin geheilt. Diese sind keine passiven Objekte, sondern aktive Menschen, die durch Rufen, Schreien, in den Weg treten auf sich aufmerksam machen. 220 5.6 Inklusion <?page no="221"?> ■ Behinderung oder Krankheit waren in der Antike und sind nicht nur medizinische Befunde, sie definieren den sozialen und finanziellen Status einer Person (z. B. Mk 5,26). ■ Heilungsgeschichten sind keine „Normalisierungsgeschichten“ (Doro‐ thee Wilhelm), die Menschen in eine vorgegebene Normativität einpas‐ sen. Wenn das „Reich Gottes“ in ihnen nahegekommen ist, verändern sie den Alltag aller beteiligten Personen. Geheilt werden im Alten und Neuen Testament oft nicht nur Menschen, sondern auch Gemeinschaf‐ ten, die bisher andere Menschen exkludiert haben. Es geht um die Heilung von Beziehungen. Jesus Christus - die Verletzlichkeit Gottes Ein früher Hymnus auf Christus preist dessen „Selbstexklusion“ aus der Sphäre Gottes, um als Mensch unter Menschen zu sein (Phil 2,5-11). Die Sichtbarwerdung Gottes in einem Menschen schließt die Versehrung Gottes mit ein. Besonderer Stellenwert kommt der Auferstehungsgeschichte in Joh 20,24-29 zu (→ 6.2 Glaube und Zweifel). Der Jünger Thomas glaubt die Identität des Auferstandenen mit dem irdischen Jesus nur, wenn er die Folterwunden an Händen und Leib sehen und fühlen kann. Sie, und nur sie, sind ihm Beweis der Auferstehung. Der Leib Jesu nach seiner Auferstehung ist nicht der in unserem Sinne makellose, sondern der verletzte, dessen Verwundung in das Heil Gottes mit hineingenommen wird. Christliche Gemeinde zwischen Exklusivität und Inklusion Die Orientierung am Gekreuzigten und Auferstandenen bewirkt einen Paradigmenwechsel - der aus der Gemeinschaft Ausgestoßene wird zur Mitte der neuen Gemeinschaft. Um Identität zu finden, lavierten die frühen christlichen Gemeinden zwischen Inklusion (Arme, Sklav*innen, Soldaten, Nichtjuden und Nichtjüdinnen) und Abgrenzung. Gleichzeitig haben die ersten Gemeinden einen inkludierenden Charakter. Der Geist der Freiheit eint (Gal 3,28) und bewirkt schließlich, dass alle Menschen, die im „Leib Christi“ zusammengefügt sind, unabhängig von Position, Ansehen und Fähigkeiten gleichwertige, gleich wertvolle und unverzichtbare Organe und Glieder sind (1 Kor 12,1-31; → 7.7 Taufe, Herrenmahl und Diakonie). 221 Jesus Christus - die Verletzlichkeit Gottes <?page no="222"?> Für die biblische ↗ Eschatologie (die Lehre von den „letzten Dingen“, d. h. des Weltendes) gilt: Verheißungen gelten den Menschen immer in der Gemeinschaft, ohne versöhnte Gemeinschaft gibt es keine „heilen“ Men‐ schen. Dies gilt für innerweltliche Verheißungen ( Jer 31,8.13; Sach 8,4-5) wie für eine kommende, transzendente Wirklichkeit. Unvollkommenheit, Angst sind allen Menschen, Tieren und Pflanzen gemeinsam (Röm 8,19-21). Der ganzen Schöpfung ist dann die Freiheit der dóxa (Herrlichkeit, Glanz, Würde) verheißen (Röm 8,21). Die kosmische Erlösung schließlich ist das Abwischen aller Tränen (Apk 21,4), die Erneuerung der ganzen Schöpfung (Apk 21,1), ihre Befreiung (Röm 8,18-21) und letztendlich „Inklusion“ in die mütterliche Umarmung Gottes, der „alles in allem“ sein wird (1 Kor 15,28). Impulse ■ Wird es im Himmel Rollstühle geben, wie der nach einem Unfall behinderte Theologe Ulrich Bach sagt? Oder werden jetzt in ihrer Beweglichkeit eingeschränkte Menschen springen und tanzen? Was sagen diese beiden Aussagen über die Gegenwart des sie jeweils Be‐ hauptenden aus? Wie würden Sie einem Menschen mit Behinderung antworten? ■ Lesen Sie die Geschichte Mk 5,24-34. Welche unterschiedlichen „Be‐ hinderungen“ hat diese Frau? Was heißt in ihrem Fall Heilung? Literatur B A C H , Ulrich 2006: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hamar. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. H U G O T H , Matthias, S C H W E N D E M A N N , Wilhelm & S TÖB E N E R , André Paul (Hg.) 2016: Menschenrechte und Inklusion. Münster: LIT Verlag. K R AH E , Susanne 2002: Der defekte Messias. Alternative Passionsgeschichten. Neukir‐ chen-Vluyn: Neukirchener Verlag. K R A Uẞ , Annette 2014: Barrierefreie Theologie. Das Werk Ulrich Bachs vorgestellt und weitergedacht. Stuttgart: Kohlhammer. W I L H E L M , Dorothée 1998: Wer heilt hier wen? Und vor allem: wovon? Über biblische Heilungsgeschichten und andere Ärgernisse. Schlangenbrut. Zeitschrift für femi‐ nistisch und religiös interessierte Frauen 62 (16), S. 10-12. 222 5.6 Inklusion <?page no="223"?> 6 Aspekte der Spiritualität <?page no="225"?> 6.1 Gebet Dorothea Erbele-Küster Das Gebet ist Kommunikation mit Gott und angesichts Gottes. Die Kom‐ munikationssituation (von lat. communicare für mitteilen, gemeinsam tei‐ len / handeln) vollzieht sich in vielfältigen Bezügen: Im Beten kommuniziert der Einzelne mit sich selbst, mit Gott und mit der Gemeinschaft, analoges gilt für das gemeinschaftliche Gebet. Das Gebet ist eine Kommunikations‐ form, die kultur-, geistes-, und religionsgeschichtlich von Beginn an zum Menschsein und seiner Kultur gehört. So heißt es, nachdem Set, der dritte Sohn des ersten Menschenpaares geboren war: „Damals fing man an den Namen Gottes anzurufen“ (Gen 4,26). Atem des Herzens Überliefert sind in der Bibel Gebete von Einzelnen, Männern wie Frauen, Funktionsträgern wie König*innen und Prophet*innen aber auch Gebete einzelner jenseits eines öffentlichen Kontextes bzw. eines Amts. Eine Samm‐ lung an Gebeten in poetischer Form stellt der Psalter dar. Die Psalmen kennen eine Vielzahl an dialogischen Strukturen: Neben der Anrede Gottes werden auch Dritte (Anwesende, Vertraute und Gegner) angesprochen. Das Ich geht zugleich in Dialog mit sich selbst. Denn im Gebet kann ein Ich bzw. ein Wir konstituiert werden, gerade durch das Gegenüber: Gott. Biblisch gedacht wird Gott adressiert als „Hörer des Gebets“ (Ps 65,3; vgl. Lk 11,10-13), und als der Gerechtigkeit schafft und befreit (vgl. Ps 119,145-146). Das Innerste kann sich im Beten, bittend, klagend und dankend vor Gott ausschütten. Das Gebet ist somit Atem des Herzens; wobei das Herz alt‐ testamentlich als Zentrum der Emotionen wie der Willensentscheidungen gedacht wird. Das Gebet steht allen Geschlechtern, Generationen und Statusgruppen offen. In diesem sind sie vereint (vgl. Ps 146). Der Lobpreis der Hanna in 1 Sam 2 wird zum Vorbild für das sog. Magnificat, das Gebet der Maria (Lk 1,46-55). <?page no="226"?> Körperhaltungen Das Gebet ist eine Form der Kommunikation mit Gott neben anderen wie etwa der Opfergabe (↗ Opfer). Der Dialog mit Gott wird damit sowohl im Text als auch außerhalb des Textes festgehalten. Das Gebet ist durch seinen Charakter als Kommunikationsakt eine reflexive Haltung der Weltwahrneh‐ mung, indem wir sie im Spiegel Gottes sehen. Diese Haltung findet Ausdruck in Versprachlichungen, rituellen Formen und in körperlichen Gebetsformen. In der Bibel und in seiner Umwelt sind folgende Körperhaltungen belegt: Niederfallen (Gen 24,26.48; Ex 34,8; Num 22,31); erhobene Hände (Ps 28,2; Ps 119,48; 1Tim 2,8; ikonographisch auf einer spätbronzezeitlichen Stele aus Hazor vgl. Keel 1996: 282, aufrechtes Stehen (1 Sam 1,26; 1 Kön 8,22; Lk 1,10; Mk 11,25), das Verbeugen und Knien (Lk 22,41). Die Proskynese, d. h. das Niederwerfen und Küssen der Erde als Geste der Verehrung einer Gottheit bzw. der Unterwerfung vor einem Höhergestellten bildet damit die innere Haltung äußerlich ab. Spiritualität ist entsprechend auf die Leiblichkeit verwiesen. Gattungen und Sprachformen Das Gebet umfasst verschiedene Formen: verbale und nonverbale, artiku‐ lierte und unartikulierte Rede, individuelles und gemeinschaftliches bzw. ritualisiertes Gebet. Die im ↗ Tanach überlieferten ausformulierten Gebete haben eine poetische Form, für die der ↗ Parallelismus membrorum kenn‐ zeichnend ist; d. h. zwei Halbverse sind analog aufgebaut und bringen ähnliche bzw. gegensätzliche Gedanken zum Ausdruck. Im Psalter steht das Danklied des Einzelnen neben dem der Gemeinschaft. Die Bibel kennt auch die Vorstellung des himmlischen Gotteslobs (vgl. Ps 148,1 u. ö.). Volks‐ klagelieder sind in den Psalmen (Ps 79; 80) und den Prophetenbüchern ( Jes 63,7-64,11) belegt. Das Hebräische wie das Griechische kennen keinen umfassenden Begriff für Gebet, dafür aber eine Vielzahl an Termini, die einzelne Aspekte des Gebets bzw. Gebetsformen bezeichnen: mit / zu Gott sprechen, Gott suchen (Am 5,4), loben (Ps 150,1.6 u. ö.), um Gnade flehen (Dtn 3,23; Mal 1,9), bitten, fordern (Ps 105,40), danken, niederfallen / im Ritualkontext beten, rufen, schreien (Ri 3,19; Ps 17,1); vgl. die Zusammenstellung in 1 Tim 2,1. Die 226 6.1 Gebet <?page no="227"?> meisten Verben verweisen dabei auf eine alltagssprachliche Einbindung des Betens. Gebetsformen reichen vom Seufzer, stammelndem Erzählen, der Klage, der Dankesäußerung, der Bitte bis zum überschwänglichen Lob, die alle eine Kommunikationssituation voraussetzen. Die Fürbitte ist vor allem au‐ ßerhalb des Psalters in erzählerischen Kontexten belegt (vgl. Gen 18,6; Hi 1,5 u. ö.). Häufig finden sich verschiedene Sprachformen in einem Psalmgebet vereint. Klage und Lob sind im Psalter aufeinander bezogen, nur so ist es möglich, dass das Lob als der Grundton verstanden werden kann, zu dem sich alles Lebendige aufschwingt (Ps 150: Alles was Atem hat, lobe Gott“). Das Gebet als Atem des Herzens wird im kosmischen Lob so zum Atem der Welt (Z E N G E R 2008: 579). Einübung ins Gebet Die in biblischen Texten überlieferten Gebete tragen paradigmatischen Charakter und können Anleitung zum Gebet geben. David ist in vielen Psalmüberschriften der exemplarische Beter, so wie er z. B. in seiner Be‐ drängnis, als er auf der Flucht war, das Gebet sprach, so können wir den Psalm nachsprechen. Die Psalmüberschrift in Ps 102 enthält dies noch grundsätzlicher fest: „Gebet eines Elenden, wenn er verschmachtet und seine Klage vor Gott ausschüttet“. Jesus ruft im Todeskampf am Kreuz mit Worten aus Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen“ (Mk 15,33). Dort wo das „Ich“ verstummt und unfähig ist zu beten, gibt Gott selbst ein neues Lied, so Ps 40,4. Auch die Bitte der Jünger und Jüngerinnen an Jesu: „Herr, lehre uns beten“ (Lk 11,1) impliziert, dass Beten lern- und lehrbar ist. Es folgt das „Vaterunser“ (Lk 11,2-4; vgl. Mt 6,9-13), das zum christlichen Gebet schlechthin geworden ist, sowohl in öffentlichen rituellen als auch individuellen Kontexten. Das Vaterunser als jesuanisches Gebet zitiert das jüdische Qaddischgebet (Heiligungsgebet) etwa in der ersten Du-Bitte um die Heiligung des Namens Gottes (→ 7.1 Heiligkeit des Lebens). Nach dieser vertikalen Eröffnung des Gebets wenden sich die Wir-Bitten der sozialen Ausgestaltung des Lebensraumes in Verwiesenheit auf Gott zu: „Erlass uns unsere Schulden, wie auch wir denen vergeben, die uns etwas schuldig sind“ (Mt 6,12). Zentral steht die Bitte für die Grundversorgung für alle („unser tägliches Brot“). 227 Einübung ins Gebet <?page no="228"?> Gebet als diakonische Handlung Das Gebet als Sprachhandlung ist auf das diakonische Handeln bezogen. Laut Jak 5,14-15 gehören Krankenfürsorge und Gebet zusammen. Fürbitte bedeutet konkretes Eintreten für Leib und Leben anderer (so etwa Abraham für Sodom, Lot und seine Familie in Gen 18,23-33; vgl. auch die Prophet*in‐ nen, die für das Volk eintreten; Jesus, der für die zu ihm Gehörigen als auch für seine Ankläger bittet). Paulus bittet für die Gemeinde (Phil 1,4) und umgekehrt soll die Gemeinde für ihn beten (1 Thess 5,25). In der Kommunikation mit Gott wird Gerechtigkeit eingeklagt. Spr 15,29 versichert ermahnend: „Gott ist fern von den Gottlosen, aber das Gebet der Gerechten erhört er“ (vgl. Ps 34,7). In der frühchristlichen Gemeinde gehören Gemeinschaft, Unterweisung, Brotbrechen und Gebet zusammen (Apg 2,42). Das Gebet als Kommunikation mit Gott, der Gerechtigkeit schafft und den Armen hilft, ist damit konstitutiv für das diakonische Handeln (→ 4.5 Recht, Gerechtigkeit und Gericht). Lebensalltag und Kultus Biblische Texte zeugen von der Einbettung des Gebets in kultische Kontexte, in den Lebensalltag und in biographische Krisenmomente wie Flucht (Gen 16), Kinderlosigkeit (1 Sam 1-2), Krankheit (2 Kön 20,1-3). Entsprechend sind zahlreiche Gebete in Erzählungen eingebettet. So nennt Hagar ihren Sohn nach ihrer Gotteserfahrung „Gott erhört“ („Ismael“, Gen 16,11). All‐ tagsgebete kondensieren sich so in Personennamen. Auch hier wird deutlich, dass das Beten auf die Materialität des Leibes zurückgebunden ist. Hanna war in ihrem Innersten verbittert und bringt dies im Gebet vor Gott (1 Sam 1). „Siebenmal am Tag singe ich dein Lob“ (Ps 119,146) bringt zum Ausdruck, dass alle Bitten im Lob über die Gerechtigkeit Gottes gründen. Der Psalm diente im frühen Christentum bereits als Vorbild für das sogenannte Stun‐ dengebet, das den Tag in sieben Tageszeiten einteilt. Das Gebet strukturiert den Arbeitsalltag und durchdringt ihn so. Nicht zuletzt kann die Ermahnung „Betet ohne Unterlass“ (1 Thess 5,17) im Sinne des Gebets als grundsätzliche Haltung zur Welt verstanden werden. Die Lebenshaltung selbst wird dann zum impliziten Gebet. Das Gebet ist somit Atem des Herzens und Atem der Welt. 228 6.1 Gebet <?page no="229"?> Impulse ■ Welche sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi‐ schen dem Gebet in den biblischen Texten und Gebet heute? Hier sind auch innerhalb des Christentums große Unterschiede zu beobachten. Beginnen Sie daher mit der Praxis, die Ihnen am meisten vertraut oder bekannt ist. ■ Inwiefern können aus verschiedenen kulturellen und religiösen Quellen stammende Praktiken der Meditation, der Körperhaltungen, der rituel‐ len Gebetspraxis sinnvoll verknüpft werden? ■ Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beachtung der historischen Unterschiede zwischen den in den biblischen Texten vorausgesetzten Verhältnissen und der aktuellen Situation für soziales bzw. diakonisches Handeln? ■ Was heißt Gebet als Lebenshaltung in der Diakonie heute? Literatur E R B E L E -K Ü S T E R , Dorothea 2001: Lesen als Akt des Betens. Eine Rezeptionsästhetik der Psalmen, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. F I S C H E R , Georg & B A C K H A U S , Knut 2001: Beten. Neue Echter Bibel Themen 14. Würzburg: Echter Verlag. K E E L , Othmar 5 1996: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testa‐ ment. Am Beispiel der Psalmen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Z E N G E R , Erich 2008: „Aller Atem lobe JHWH! “ Anthropologische Perspektiven im Hallel Ps 146-150. In: Michaela Bauks (Hg.): Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst? (Ps 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie. Festschrift Bernd Janowski. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, S. 565-579. 229 Impulse <?page no="230"?> 6.2 Glaube und Zweifel Uta Poplutz Glaube und Zweifel sind menschliche Haltungen, die in unterschiedlicher Gewichtung jede Form von Beziehung prägen. Beide sind unlösbar mitein‐ ander verwoben und müssen im Laufe des Lebens in allen möglichen Kontexten immer wieder neu ausbalanciert werden. Weil das Leben natur‐ gemäß ständigen Veränderungen unterworfen ist, kommen in gewissen Abständen Zweifel und Fragen auf, die jedoch - wenn sie produktiv und nicht zerstörerisch sind - unsere Beziehungen wachhalten und uns immer wieder neue Wege miteinander einschlagen lassen. Im griechischen Sprachgebrauch wird streng zwischen „glauben“ im Sinne von „meinen, nicht sicher wissen“ (nomízō) und „glauben“ im Sinne von „vertrauen, sich auf jemanden verlassen“ (pisteúō) unterschieden. Der letztgenannten Wortfamilie wohnt eine vertrauensvolle Haltung inne, die alltagssprachlich nicht nur zwischenmenschlich eine Rolle spielt, sondern auch die Haltung von Menschen gegenüber einer Gottheit oder einer Gott‐ heit gegenüber Menschen meinen kann. Aufgrund einschlägiger Ereignisse, einer sich verändernden Selbstwahrnehmung oder anderer Faktoren kann dieses Vertrauen in eine Krise geraten. Das muss aber keineswegs zwingend negativ bewertet werden. Denn gerade der Zweifel kann den Glauben lebendig halten, weil man sich damit zum Beispiel der Frage aussetzt, was genau man eigentlich glaubt und worauf oder auf wen man sein Vertrauen richtet. Glaube und Zweifel sind somit zwei Seiten einer Medaille. Auch das Neue Testament thematisiert diesen engen Erfahrungszusammenhang und hält wichtige Impulse für produktiven Zweifel bereit, der nicht in Verzweiflung umschlägt. „Treue“ und „Bund“ Im ↗ Tanach wird die hebr. Wurzel ’mn in diversen Zusammenhängen verbal und nominal gebraucht, um Treue und Verlässlichkeit auszudrücken. Das hebr. Nomen ’ämûnāh bezeichnet daher auch das Amt, von dem solches erwartet wird (→ 5.1 Ämter und Funktionen). Glauben bedeutet, jemandem <?page no="231"?> zu vertrauen sowie selbst treu und zuverlässig zu sein. In diesem Sinn ist auch das Wort „Amen“ zu verstehen. In Bezug auf Gott wird dies ebenfalls ausgesagt, zudem wird die Zuwendung Gottes im Begriff des „Bundes“ (bərît) markiert, wobei Loyalität und Solidarität eng zusammengehören. Daneben wird aber auch der menschliche Zweifel ausdrücklich thematisiert. Insbesondere die Geschichte der Erzeltern Abraham und Sarah zeigt die Verknüpfung beider Aspekte auf. Beide Erzählfiguren ringen um dieses Thema: Sarahs doppeldeutiges Lachen (Gen 18,12) und Abrahams harte Anfrage an Gottes Gerechtigkeit (Gen 18,25) stehen pars pro toto für die realistische, aber auch hoffnungsvolle Sicht des ↗ Tanach auf das Thema (→ 1.4 Biblische Texte zwischen Anspruch und Wirklichkeit). „Glaube“ Dass das Thema des Glaubens zentral für neutestamentliche Texte ist, ist schon daran ersichtlich, dass es weit über zweihundert Belege für das griech. Verb pisteúō („glauben“) und das Substantiv pístis („Glaube“) gibt. Abweichend vom Profangriechischen fällt dabei die häufige Wendung „glauben an“ auf, welche fest in der Missionssprache verankert ist. So hat etwa der ↗ Apostel Paulus, um ein Wort Rudolf Bultmanns aufzunehmen, den Glauben in den Mittelpunkt seiner Theologie gestellt. Glaube ist für Paulus einerseits die Annahme der christlichen Verkündigung, andererseits der Heilsglaube, der mit dem Evangelium in die ganze Welt getragen wird (vgl. Röm 1,8; 1 Thess 1,8). Explizite Zweifel, denen sicherlich auch Paulus angesichts seiner unzähligen Leiden und Rückschläge ausgesetzt war, spielen in seinen Gemeindebriefen hingegen keine besondere Rolle. Somit scheint es lohnend, zu diesem Thema vorrangig die Evangelien heranzuziehen. „Kleinglaube“ Am sichtbarsten ist das Zusammenspiel von Glauben und Zweifel wohl im Kompositum „Kleinglaube“ (oligopistía) verwirklicht, das nur in den Evangelien (Mt 6,30 ⫽ Lk 12,28; Mt 8,26; 14,31; 16,8; 17,20) und bei wenigen altkirchlichen Autor*innen begegnet. „Kleinglaube“ darf keineswegs mit „Unglaube“ (apistía) verwechselt werden, sondern stellt eine Art irritierten, 231 „Glaube“ <?page no="232"?> verunsicherten Glauben dar. Besonders im Matthäusevangelium spielt der „Kleinglaube“ der Jünger eine Rolle. Denn obwohl Jesus die Jünger in der großen Aussendungsrede Mt 10 mit der Aufgabe betraut, an seinem Sendungsauftrag teilzuhaben, indem er ihnen „die Vollmacht gibt, unreine Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen“ (10,1), scheitern sie an dieser Aufgabe immer wieder kläglich. So erweisen sich die Jünger etwa in der ersten Speisungserzählung (14,13-21; vgl. 15,32-39) als hilflose Helfer: Nachdem die Volksmengen Jesus an einen einsamen Ort gefolgt sind und er die Kranken geheilt hat, ist es Abend geworden. Die Jünger bitten Jesus, die Menschen zu entlassen, damit diese sich etwas zu essen kaufen können. Jesus sieht dazu aber keine Veranlassung, sondern fordert die Jünger auf: „Gebt ihr ihnen zu essen“ (14,16). Das klingt, als würde er sie ermuntern, ihre Vollmacht jetzt auch einzusetzen. Doch die Jünger wissen nicht, was sie tun sollen, so dass Jesus selbst die Volksmengen auf wundersame Weise speist. In eine ähnliche Linie passt die Episode 17,14-20, wo die Jünger einen mondsüchtigen Jungen heilen wollen, aber der Aufgabe nicht gewachsen sind: „Sie konnten ihn nicht heilen“ (17,16) heißt es recht lapidar. Auch Petrus, der mit großem Vertrauen aus dem Boot steigt, um zu Jesus über das Wasser zu laufen, bekommt plötzlich Angst und sinkt (14,30). Der Grund für dieses Jüngerversagen wird in allen genannten Beispielen mit „Kleinglaube“ angegeben, der als eine Art Selbstzweifel im entscheidenden Moment das eigentlich vorhandene Vertrauen konterkariert. Der Zweifel übernimmt immer dann die Kontrolle, wenn die Jünger meinen, auf sich allein gestellt zu sein. Behalten sie hingegen im Blick, dass die Vollmacht, die ihnen gegeben wurde, nicht in ihnen selbst gründet, sondern von Jesus stammt, ist ihnen „nichts mehr unmöglich“, sie können vielmehr „Berge versetzen“ (17,20). Das letzte Wort zum Thema formuliert bei Matthäus der Auferstandene. Obwohl die Jünger auch nach Ostern immer noch diese eigentümliche Ambivalenz aus Glauben und Zweifel an den Tag legen (28,17), sendet Jesus sie erneut aus: Nicht nur zu Israel wie in der Aussendungsrede (10,5 f), sondern zu Israel und zu allen Völkern (28,19 f). Damit sie nicht scheitern, gibt er ihnen eine Zusage mit auf den Weg: „Ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (28,20). 232 6.2 Glaube und Zweifel <?page no="233"?> Der zweifelnde Thomas Die Rede vom „ungläubigen Thomas“ ist sprichwörtlich geworden. Dabei würde das englische Pendent „doubting Thomas“ weitaus besser passen, denn Thomas bekennt ja seinen Glauben mit dem hochrangigsten Bekennt‐ nis des ganzen Johannesevangeliums: „Mein Herr und mein Gott! “ (20,28). Und so weist auch Thomas eine ähnliche Mischung aus Skepsis und Glauben auf, wie sie im matthäischen „Kleinglaube“ sichtbar wurde. Bei Johannes erscheint den Jüngern, die sich aus Angst eingeschlossen haben, der Auferstandene, spricht ihnen den Friedensgruß zu und zeigt seine Hände und seine Seite (20,19 f), womit er sich als der Durchbohrte zu erkennen gibt (vgl. 19,34). Dann haucht er ihnen den heiligen Geist ein und sendet sie aus (20,21-23). Thomas, der aus unbekannten Gründen nicht dabei war, verlangt, nachdem die Jünger ihm von dem Ereignis berichtet haben, einen handgreiflichen Identitätsbeweis: „Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich nicht meine Finger in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht“ (20,25). Diese Skepsis wird nicht sanktioniert, vielmehr erscheint der Auferstandene nach acht Tagen erneut den Jüngern - und jetzt ist Thomas anwesend. Jesus geht direkt auf Thomas ein und bietet ihm an, seine Wunden zu berühren. Er weiß somit um die verborgenen Zweifel des Thomas. Ob Thomas der Aufforderung nachkommt, lässt die Erzählung offen. Wichtiger ist, dass er durch die Anrede Jesu so überwältigt ist, dass er ohne Umschweife ein Spitzenbekenntnis formuliert (20,28). Funktionen des Zweifels Die Beispiele zeigen, dass selbst die engsten Jünger Jesu nicht vor Zweifeln gefeit waren. Als Ausgesandte (Mt 10; 28,19 f; Joh 20,21) sollen sie sein Wirken nach Jesu Weggang weitertragen, was angesichts der Größe der Aufgabe durchaus mit Zweifeln einhergehen kann. Doch wendet sich Jesus trotz ihres immer wieder auftretenden Kleinglaubens nicht ab, sondern stärkt sie nachösterlich mit der Zusage seines universalen Mit-Seins (Mt 28,20). Thomas, der sich nicht auf das Hörensagen der anderen verlassen will, gibt er die Möglichkeit, ihn zu berühren. Da die Jünger als Figuren transparent sind für die Christusgläubigen späterer Generationen, bieten sie ein eindrückliches Identifikationsmuster: Glaube und Zweifel sind nicht 233 Der zweifelnde Thomas <?page no="234"?> nur legitim, sie ermöglichen im Zusammenspiel ein vertieftes Erkennen dessen, auf was man vertraut und an wen man glaubt. Dabei ist die Zusage des Auferstandenen das letzte Wort und bewirkt, dass Zweifel nicht zur Verzweiflung führen. Impulse ■ Welche sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi‐ schen den belegten Vorstellungen vom „Glauben“ bzw. Diskursen über den „Glauben“ in den biblischen Texten und gegenwärtigen Positionen? ■ Was irritiert Sie persönlich am meisten an christlichen Glaubensvor‐ stellungen, und warum? ■ Inwiefern kann „Zweifeln“ als positive Haltung verstanden werden? Literatur F R E Y , Jörg 2011: Der „zweifelnde“ Thomas ( Joh 20,24-29) im Spiegel seiner Rezep‐ tionsgeschichte. Hermeneutische Blätter 1 / 2. Online verfügbar: https: / / www. hermes.uzh.ch/ de/ publikationen/ Hermeneutische-Blaetter.html (Zugriffsdatum: 9. 5. 2021), S. 5-32. P O P L U T Z , Uta 2009: Verunsicherter Glaube. Der finale Zweifel der Jünger im Matthä‐ usevangelium. In: Andreas Dettwiler, Uta Poplutz (Hg.): Studien zu Matthäus und Johannes / Études sur Matthieu et Jean. Festschrift Jean Zumstein, Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments 97, Zürich: Theologischer Verlag Zürich, S. 29-47. T H E O B A L D , Michael 2013: Angefochtener Osterglaube - im Neuen Testament und heute. Theologische Quartalsschrift 193, S. 4-31. 234 6.2 Glaube und Zweifel <?page no="235"?> 6.3 Demut Thomas Popp Demut gewinnt seit einiger Zeit an positiver Bedeutung. Barack Obama begann im Januar 2009 seine Antrittsrede als Präsident der USA mit den Worten: „Ich stehe heute hier, demütig angesichts der Aufgabe, die vor uns liegt.“ Er erinnerte „mit demütiger Dankbarkeit“ an Vorbilder, die „den Geist des Dienens“ verkörpern. In dieser Zeit „ist es genau dieser Geist, der in uns allen sein muss.“ Reizwort Demut hatte allerdings lange Zeit keinen guten Ruf. Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) sah in ihr wie schon die antike griechisch-römische Philosophie eine fremdbestimmte Selbstverkleinerung, Tugend der Schwa‐ chen, Krümmung des getretenen Wurms, Inbegriff einer „Sklavenmoral“ im Gegensatz zur Autonomie als Ideal. In diesem Sinn ist Demut bis heute ein Reizwort (F E LDM E I E R 2012: 85-87). Dagegen ist Demut in der Bibel das Gegen‐ teil von erzwungener Hörigkeit. Sie besteht in dem Dienstsinn, sich guten Mutes in Freiheit hinzugeben. Diese biblische Bedeutung korrespondiert mit der Herkunft des Wortes Demut aus dem althochdeutschen diomuoti (= Mut zum Dienen). Befreiende Bindung an Gott Altes und Neues Testament binden das Verständnis von Demut im Rahmen ihres Menschenbildes an die Gottesbeziehung (Z E MM R ICH 2006: 336-422). Durch die Bindung an ihn werden Menschen frei zum Dienst für andere und mit anderen. Im Gegensatz dazu verliert Hochmut bzw. Übermut (griech. hýbris) Gott aus dem Blick und stellt sich in überzogener Selbsteinschätzung über andere. Das pointiert der im Neuen Testament zitierte Spitzensatz Spr 3,34 ↗ LXX (vgl. Jak 4,6; 1 Petr 5,5): „Der Herr widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade.“ <?page no="236"?> Lebenslanger Lernprozess Das hebräische Substantiv ‘ǎnāwāh (= Demut, Gesinnung des sich Beugen‐ den) findet nur viermal im ↗ Tanach Verwendung (Spr 15,33; 18,12; 22,4; Zef 2,3). Auf Gott bezogene Demut muss man lernen (Spr 15,33; vgl. Mt 11,29 → 3.2 Bildung und Erziehung). Denn das Herz ist nicht von Anfang an demütig (Spr 18,12). Menschen lernen Demut, indem sie in eine Haltung des respektvollen Gottvertrauens hineinwachsen, reifen und entsprechend handeln. Wer so lebt, kommt nicht zu kurz, sondern wird reichlich belohnt durch Ansehen bei Gott und Menschen (Spr 22,4). Dabei sind Gerechtigkeit und Demut zwei Seiten einer Medaille - eines Lebens, das geprägt ist durch Gott (vgl. Zef 2,3; 3,12). Jesus als Verkörperung der Demut Diese anmutige Demut lässt sich am besten von Jesus lernen. Die griechische Wortgruppe tapeinós (= niedrig, demütig) ist 34mal im Neuen Testament zu verzeichnen, davon in den Evangelien nur bei Matthäus und Lukas. Demut stellt eine von Jesus Christus geprägte leidenschaftliche Lebenshaltung dar. Kernstelle für diese in seiner Nachfolge geformte Mentalität ist Mt 11,28-30 (Z E MM R ICH 2006: 381). Jesus bezeichnet sich hier selbst als „sanftmütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29; vgl. Spr 16,19 ↗ LXX). Sanftmut und Demut begegnen auch in der neutestamentlichen Briefliteratur Seite an Seite (Kol 3,12; Eph 4,2; 1 Petr 3,4.8.16). Sanftmut (praÿs „sanft“, „sanftmütig“) erweist sich als Demut, die in freundlicher Behutsamkeit und gütiger Milde zum Ausdruck kommt. Während die griechisch-römische Philosophie Sanftmut als Oberschichttugend anerkennt, verkennt sie weithin Demut als unterwürfige Gesinnung der Unterschicht. Dagegen profiliert Matthäus im Anschluss an die biblische Tradition Demut in kreativer Kombination mit Sanftmut und bindet dieses Profil an die Person Jesu (B E C K E R 2015: 186-188). Spannungseinheit von Milde und Schärfe Der Einzug Jesu in Jerusalem wird als Erfüllung der Verheißung des sanft‐ mütigen Messiaskönigs gedeutet (Mt 21,5; vgl. Sach 9,9; Jes 62,11 ↗ LXX). Er wird die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Beziehung zu 236 6.3 Demut <?page no="237"?> Gott heilend wiederherstellen. Sein gewaltfreier Einzug endet im Tempel mit einer spektakulären Aktion (Mt 21,12-17). Der messianische Gentleman kann auch scharf agieren, wenn es notwendig ist. Er vertreibt die Händler aus dem Tempel, weil sie ihn zu einer Räuberhöhle machen. Dagegen zeigt Jesus zeichenhaft, wozu der Tempel bestimmt ist. Er ist ein Haus des Gebets und der Heilung. Die Verbindung des Einzugs in Jerusalem mit der Tempel‐ aktion verdeutlicht die von Jesus verkörperte Personalunion von demütiger Milde und zornesmutiger Schärfe. Diese meisterhafte Komposition beugt auch einem Missverständnis von Sanftmut und Demut als unterwürfigen Haltungen vor, die klaglos alles hinnehmen. Umkehrung der Maßstäbe Kennzeichen der Jesus-Christus-Geschichte ist im Anschluss an das Alte Testament die Umkehrung der bestehenden Größenverhältnisse (B E C K E R 2015: 184-187). Entsprechend lehrt Jesus auch seinen Schüler*innen Sanft‐ mut (Mt 5,5) und Demut (Mt 18,4; 23,12). Wer sich im Kontrast zu den geltenden Maßstäben selbst erniedrigt, ist wie das von Jesus in die Mitte gestellte Kind der Größte in der Himmelsherrschaft (Mt 18,1-4). Deshalb gebührt es sich nicht, die eigene Frömmigkeit zur Schau zu stellen und die besten Plätze zu besetzen (Mt 23,5-12; Lk 14,7-11; 18,9-14). Lukas malt bereits zu Beginn seines Evangeliums vor Augen, wie wahre Frömmigkeit aussieht: Maria, die Mutter Jesu, freut sich, dass Gott ihre Nied‐ rigkeit (tapeínōsis) angesehen hat (Lk 1,48). Damit dürfte sowohl ihre geringe soziale Stellung wie auch ihre demütige Haltung der Empfänglichkeit gemeint sein. Sie preist Gott, weil er die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhebt (Lk 1,52; vgl. 1 Sam 2,7; Ps 147,6). In diesem Sinn bedient sich sich bereits Paulus der Wortgruppe tapeinós. Der Völkerapostel betont, dass Gott die Geringen tröstet (2 Kor 7,6; vgl. Jes 49,13). Er selbst macht aus seinem in der griechisch-römischen Philosophie weithin verachteten Niedrig- und Kranksein eine Tugend. Gerade in seiner Schwachheit ist Gott mächtig (2 Kor 10,1; 11,30; 12,9). Diese Erfahrung lehrt Empathie. Demütige Spiritualität fühlt mit, versetzt sich in das Gegenüber, freut sich mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden (Röm 12,15; vgl. Apg 20,19). In der Gemeinde hat das Augenmerk vor allem den Geringen zu gelten, die in der Gesellschaft übersehen werden. Dieser diakonische Blick fördert die Einheit der Gemeinde (Röm 12,16). 237 Umkehrung der Maßstäbe <?page no="238"?> Spiritualität der Selbstzurücknahme Das bringt Paulus im Philipperbrief durch das Substantiv tapeinophrosýnē (= Demut) auf den Begriff (Phil 2,3). Er ermahnt seine Lieblingsgemeinde, nichts aus eitler Ehre zu tun. Die Einheit wird gefördert, wenn unabhängig von der gesellschaftlichen Rangordnung in Demut einer den anderen höher als sich selbst achtet und auf das sieht, was dem anderen dient (Phil 2,3 f). Diese Rücksichtnahme gründet in dem Leben und Sterben Christi (Phil 2,5-11). Er hat sich selbst aus liebender Hingabe erniedrigt (tapeinóō mit Reflexivpronomen, Phil 2,8) und wurde von Gott zum universalen Herrn erhöht. Er ist Quelle und Norm spiritueller Selbstzurücknahme zugunsten anderer. Entsprechend fragt Jesus den blinden Bartimäus (Mk 10,51; vgl. 10,45): „Was willst Du, dass ich für dich tun soll? “ Diese dienende Haltung legt auch der 1. Petrusbrief seinen Leser*innen ans Herz. Diese „edle Schrift“ (Martin Luther) animiert in der Nachfolge Jesu (1 Petr 2,21-25) zu einem gemeindlichen Zusammenleben im Geist der Demut (3,8; 5,5b; vgl. Jak 4,6 → 5.2 Konvivenz und Kooperation). Sie ermutigt dazu, sich unter die mächtige Hand Gottes zu demütigen und auf die Erhöhung zu der von ihm bestimmten Zeit zu hoffen (1 Petr 5,6; vgl. Jak 4,10). Damit ist nicht gemeint, sich blind zu unterwerfen, sondern sich bewusst in Gott zu bergen. Gefährdete Grundhaltung Der aus der Paulusschule stammende Kolosserbrief weiß sowohl um Demut als christliche Grundhaltung wie auch um deren Gefährdung (Feldmeier 2012: 110-113; B E CK E R 2015: 178-184). Es besteht die Gefahr, dass Demut ohne Liebe zu einer selbstzentrierten Haltung pervertiert. Entsprechend wird vor Gruppierungen mit Sonderlehren gewarnt, die sich selbstgefällig durch vermeintliche Demutsübungen von der Gemeinde abspalten (Kol 2,18.23). Dagegen gehört echte Demut zu den Haltungen der Liebe, die die Einheit fördern (Kol 3,12; vgl. Eph 4,2 f). Sie ist - im Bild gesprochen - wie ein Gewand anzuziehen (Kol 3,12; vgl. 1 Petr 5,5b). Bestes Beispiel dafür ist, wie Jesus seinen Freundinnen und Freunden die Füße wäscht ( Joh 13,1-20 → 7.6 Fußwaschung). 238 6.3 Demut <?page no="239"?> Impulse ■ Das in der Diakonie rezipierte Leitungskonzept Servant Leadership bezieht sich auf die Grundhaltung der Demut bzw. des Dienens. Mathias Hartmann zufolge bedeutet ganzheitliche Führungskräfteentwicklung die Entwicklung von Charakter und Kompetenzen, von Haltung und Fä‐ higkeiten (H A R TMANN 2013). Er entwirft Servant Leadership als Konzept für die Entwicklung von Führungskräften in diakonischen Unterneh‐ men und unternehmensethisches Konzept für diakonische Organisatio‐ nen: □ Wie sehen Sie die Bedeutung der Haltung der Demut als Mut zum Dienen für diakonisches Denken und Handeln? □ Inwiefern können die biblischen Impulse zur Demut helfen, Chan‐ cen und Risiken des Konzepts „Servant Leadership“ in Sozialer Arbeit und Diakonie wahrzunehmen? ■ Die Methode „Standbild“ kann helfen, der Demut als Grundhaltung vor Gott und zwischen Menschen körpersprachlich auf die Spur zu kommen: Eine lebendige Statue aus Menschen wird gebildet. □ Zunächst erfolgt eine Aufteilung in zwei Gruppen. Jede Gruppe überlegt, welche Gestalt das Standbild ohne Worte haben könnte (10 Minuten); Gruppe 1: Demut vor Gott; Gruppe 2: Wechselseitige Demut. □ Die Standbilder werden vorgestellt. Zuerst äußern die Beobachten‐ den ihre Wahrnehmungen, dann spielen die „Baumeister*innen“ ihre Überlegungen ein. Literatur B E C K E R , Eve-Marie 2015: Der Begriff der Demut bei Paulus. Tübingen: Mohr Siebeck. F E L D M E I E R , Reinhard 2012: Macht - Dienst - Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik. Tübingen: Mohr Siebeck. H A R T M A N N , Mathias 2013: „Servant Leadership“ in diakonischen Unternehmen. Stutt‐ gart: Kohlhammer. L A N G E N H O R S T , Georg 1995: „Aber wer bin ich, dass …“ Zu einer Spiritualität der Selbstzurücknahme. Bibel und Kirche 50, S. 108-115. 239 Impulse <?page no="240"?> O B A M A , Barack 2009: Inaugural Address. Online verfügbar: https: / / obamawhitehouse .archives.gov/ blog/ 2009/ 01/ 21/ president-barack-obamas-inaugural-address (Zu‐ griffsdatum 9. 5. 2021). P O P P , Thomas 2010: Die Kunst der Konvivenz. Theologie der Anerkennung im 1. Petrusbrief. Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 33. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Z E M M R I C H , Eckhard 2006: Demut. Zum Verständnis eines theologischen Schlüsselbe‐ griffs. Berlin: LIT Verlag. 240 6.3 Demut <?page no="241"?> 6.4 Mystik Urte Bejick Das Wort „Mystik“ kommt von dem griech. Verb mýō, welches „schweigen“ oder „geheim und verborgen halten“ bedeutet. Obwohl die Bibel das göttli‐ che Geheimnis und die Unsagbarkeit Gottes immer wieder betont, ist sie kein mystisches Buch. Frühchristliche Kirchenväter und -mütter fragten allerdings nach dem tieferen, „mystischen“ Sinn hinter dem Wortlaut der biblischen Texte (→ 1.3 Die Bibel lesen). Das Substantiv „Mystik“ ist erst seit dem 17. Jh. gebräuchlich und wird theologisch unterschiedlich interpretiert - man kann es als Sehnsucht nach Transzendenz, nach persönlichem Erleben von göttlicher Nähe und der Einheit allen Seins, als eine erfahrungsgesättigte Spiritualität deuten. Mystisches Erleben ist in fast allen Religionen zu finden. Manchmal kann diese Erfahrung auch mit Dogmen und Moral einer Religion in Konflikt treten, mystische Sprache die Grenzen der Religionen überschreiten. Doch gibt es keine abstrakte „Mystik“ als höhere Bewusstseinsform oder Erkennt‐ nis, sondern in Gestalt einer Religion als jüdische, christliche, islamische, buddhistische usw. Mystik. Christliche Mystik ist v. a. an der Heiligen Schrift orientierte Christus‐ mystik. Auch wo sie vom unbekannten, unfassbaren Gott redet, meint sie den Gott Israels und Jesu, der sich zu den Armen und Entrechteten bekennt (→ 2.3 Ansätze neutestamentlicher Christologie). Sie ist an der Inkarnation, dem Eintauchen Gottes in die Welt und ihre Begrenzungen orientiert, sie hat also immer auch weltzugewandten, diakonischen Charakter. Vertiefung in verletzliches Leben (Phil 2,5 - 11) Der von Paulus aufgenommene und bearbeitete Hymnus Phil 2,5-11 preist das Geheimnis des in menschliche Vergänglichkeit hinab gestiegenen, lei‐ denden und erhöhten Christus. In der Stufung von Gottheit, Menschlichkeit, Leiden und Erhöhung wird das Mysterium nachvollzogen, das sich im Lebenslauf Jesu verbirgt. Der Anfang des Hymnus animiert dazu, ähnlich <?page no="242"?> gesinnt zu sein, nämlich sich wie Christus in das verletzliche menschliche Leben zu vertiefen. Christliche Mystiker*innen, die das göttliche Geheimnis eintauchen, erfahren den Gott, der zu den Niedrigsten hinabgestiegen und verletzliches „Fleisch“ geworden ist. Sie nähern sich dem Göttlichen in „Weltabgewandt‐ heit“, d. h. im Schweigen, in der Stille, in Meditation und Einsamkeit. Dieses „Genießen Gottes“ ist kein Selbstzweck, sondern bedingt die Liebe zum Endlichen, Alltäglichen und allem Lebendigen. Vertiefung in einfaches Leben (Lk 2,51) „Dann kehrte Jesus mit ihnen (seinen Eltern) nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam“ (Lk 2,51). Diese spärliche Auskunft über die Jugendjahre Jesu aus dem Lukasevangelium ist kein mystischer Text, er kann aber mystisch gelesen werden (→ 3.4 Familie). Charles de Foucauld (1858-1916), Einsiedler in der algerischen Wüste und Gründer der „Kleinen Brüder Jesu“, verstand diesen Satz auf dem Hintergrund des „Gottesknechtliedes“ Jes 53 und des Christushymnus Phil 2. In langen Jahren eines unscheinbaren Handwerkerlebens habe Christus das Leben der Armen geteilt: „Er stieg mit ihnen nach Nazaret hinab und ordnete sich ihnen unter … Du bist mit ihnen hinabgestiegen, um genauso zu leben wie sie, geringe Arbeiter, die den täglichen Unterhalt verdienen müssen in Nazaret.“ ( D E J É S U S 2004: 83). Christus nachzufolgen bedeute, ein einfaches Alltagsleben zu führen und das Leben armer, unauffälliger Menschen zu teilen. Orientierung am Herabstieg Christi in den Alltag prägte auch die Bewegung der Arbeiterpriester Anfang des 20. Jhs., die Theologie der späten Dorothee Sölle und die Theologie der Befreiung, wonach bei den Armen auftaucht, wer in Gott eintaucht. Aufstieg und Abstieg (Mt 17,1 - 9 und Parallelen) Die Geschichte von der „Verklärung Jesu“ berichtet von einer besonderen Erfahrung, durch die drei seiner Jünger ihn in einem anderen Licht, in einer anderen Dimension wahrnehmen. Die Person Jesu leuchtet, Raum und Zeit scheinen aufgehoben, ein Augenblick der Zeitlosigkeit und Ewigkeit strahlt auf. Die Jünger wollen sich darin einrichten, aber Jesus verlässt mit ihnen den Berg der Verklärung. Diese Geschichte mystischer Erfahrung 242 6.4 Mystik <?page no="243"?> wird in der gegenwärtigen christlichen Meditationsliteratur aufgegriffen, ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf dem Abstieg vom Berg. Jesus erscheint den Jüngern wieder wie ein normaler Mensch, er geht mit ihnen wieder hinab zu den Menschen. Der Erfahrung der Einheit, der völligen Annahme und Liebe folgt notwendigerweise und als noch größerer Schritt die Wiederkehr in den Alltag, an die Seite hilfebedürftiger Menschen. Diakonische Christusmystik (Mt 25,31 - 46) Wie kein anderer biblischer Text hat die Parabel vom großen Weltgericht die christliche Praxis geprägt: Im großen Weltgericht werden „die Völker“, also alle Menschen und staatlichen Gebilde jeglicher Religion und Kultur danach befragt, wie sie anderen Menschen das zum Leben Notwendigste gewährt haben: Nahrung, Obdach und Zuwendung (→ 7.5 Weltgericht). In der Parabel geht es nur vordergründig um Gericht und Strafen. Im Zentrum steht vielmehr die Möglichkeit der Erfahrung Gottes angesichts seiner Ver‐ borgenheit: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder (und Schwestern) getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Von allen Menschen kann der unbekannte Gott erfahren werden im kranken, obdachlosen, frierenden, hungernden, gefangenen und heimatlosen Mitmenschen. Die „Diakonie“ (Mt 25,44), die hier das Lebensnotwendigste an Versorgung und Zuwendung umfasst, ist die Form, die am göttlichen Geheimnis teilhaben lässt. Sie ist auch der Weg, durch den nicht-christliche Menschen (und christliche erst recht) Gott begegnen können: „Wann haben wir Dich denn gefunden? “ fragen die „guten Schafe“ erstaunt. Mt 25 ist eine wahrhaft ökumenische, religionsübergreifende Parabel: Sie hat Jes 58 und das frühjüdische Tobit‐ buch mit seinen Taten der Barmherzigkeit (Tob 1,17) zur Grundlage, in ihr finden sich Anklänge an das ägyptische Totenbuch (Neues Reich, 17.-18. Dynastie, um 1500 v. Chr.). Charles de Foucauld bekannte in einem Brief an einen Freund: „Ich glaube, kein Wort aus dem Evangelium hat einen tieferen Eindruck auf mich gemacht als dieses.“ ( D E J É S U S 2004, 83) Gottes- und Nächstenliebe (Lk 10,38 - 42) Die Geschichte von der sich viel zu schaffen machenden Marta und der hörenden Maria, die „das bessere Teil erwählt“ habe, scheint auf dem ersten 243 Diakonische Christusmystik (Mt 25,31 - 46) <?page no="244"?> Blick das kontemplative, empfangende Leben einem aktiven, ja auch „Diako‐ nie“ übenden Leben überzuordnen (→ 7.4 Barmherzige und hörende Liebe). In Lk 10,40 wird die sorgende Arbeit der Marta mit diakonía bezeichnet (→ 5.1 Ämter und Funktionen). In der Komposition des Lukasevangeliums bildet die Geschichte allerdings das Scharnier zwischen dem Beispiel des „Barmherzigen Samariters“ (Lk 10,25-37), das mit dem Aufruf „Geh und handle genauso! “ (Lk 10,37) schließt, und der Lehre über das rechte Beten mit dem Vaterunser (Lk 11,1-4 → 6.1 Gebet). Christliches Leben ist ausgespannt zwischen der tatkräftigen Verantwortungsübernahme für Menschen in Not, der alltäglichen Sorgearbeit und in Gott ruhender Gelassenheit. In der Theologie Meister Eckharts und Theresa von Avilas hat eine eigenständige Ausdeutung der Geschichte eine besondere Rolle gespielt. Für Eckhart steht Maria in Gefahr, sich ganz im Wohlgefühl der Betrachtung zu verlieren, während Marta durch Lebens- und Glaubenserfahrung so reif sei, dass sie in der Vielzahl ihrer Tätigkeiten, „dicht bei den Dingen, nicht in den Dingen“ ihre innere Ruhe bewahre. Für Theresa sind Maria und Marta eine Gestalt. Impulse ■ Was bedeutet es, von einem „verletzlichen Gott“ zu sprechen? ■ Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beachtung der historischen Unterschiede zwischen den in den biblischen Texten vorausgesetzten Verhältnissen und der aktuellen Situation für soziales bzw. diakonisches Handeln? ■ Lesen Sie auch den Artikel → 6.1 Gebet. Bedenken Sie dazu folgendes Zitat aus obenstehendem Artikel: „Christliches Leben ist ausgespannt zwischen der tatkräftigen Verantwortungsübernahme für Menschen in Not, der alltäglichen Sorgearbeit und in Gott ruhender Gelassenheit“. Wie können Kontemplation, Meditation und Gebet für solche „Gelas‐ senheit“ fruchtbar gemacht werden? Literatur D E J É S U S , Annie 2004: Charles de Foucauld. Auf den Spuren Jesu von Nazaret. München: Neue Stadt. 244 6.4 Mystik <?page no="245"?> S C H O L T I S S E K , Klaus 2002: Mystik im Neuen Testament? Exegetisch-theologische Bau‐ steine I-II. Geist und Leben 75, S. 281-292.362-382. S C H O L T I S S E K , Klaus 2020: Mystik im Johannesevangelium? Beobachtungen zu einer umstrittenen Fragestellung. In: Ders.: Textwelt und Theologie des Johannesevan‐ geliums. Gesammelte Schriften (1996-2020). Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 452. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 459-480. S C H W E R , Markus (2010): Selber mehr Mensch sein: Diakonisch-mystagogisches Lernen in der stationären Altenpflege. München: Patmos. S ÖL L E , Dorothee (1997): Mystik und Widerstand: du stilles Geschrei. Hamburg: Hoffmann und Campe. 245 Literatur <?page no="246"?> 6.5 Selbstsorge Thomas Popp Selbstsorge zählt zu den auch aktuell bedeutsamen antiken Zentralbegriffen ethischer Praxis (G ÖDD E / Z I R F A S 2018: 322-346). Bildung durch Theorie und praktische Übungen (z. B. klare Zeitstruktur für den Tag; Lektüre; gedankliche Vorbereitung auf Schicksalsschläge bis hin zum Tod) befähigt zur Lebenskunst der Selbst- und Fürsorge. Nur wer gelernt hat, sich selbst zu regieren, kann auch andere regieren (Platon). Macht über sich selbst ermög‐ licht Autarkie: unbestechliche innere Freiheit und Unabhängigkeit. Seneca (ca. 4 v. Chr.-65 n. Chr.) verbindet Selbst- und Fürsorge durch die Vorstel‐ lung, dass die göttliche Kraft alles durchwaltet. Dieser Zusammenhang erschließt sich nur durch Muße: freie Zeit und Ruhe. In diesem Verstehens‐ kontext lassen sich auch biblische Texte verstehen, die zu einem gebildeten achtsamen Leben anleiten (→ 3.2 Bildung und Erziehung). Angesichts der Fülle der relevanten Texte ist eine Auswahl nötig. Der Schwerpunkt liegt auf dem Neuen Testament: In ihm lassen sich im Anschluss an das Alte Testament und den antik-ethischen Diskurs Elemente eines Programms alltäglicher Selbstsorge entdecken (L ÖH R 2007: 257-260). Selbstsorge und Selbstliebe Das mit Selbstliebe verbundene Gebot der Nächstenliebe gehört zu den Gipfeln alttestamentlicher ↗ Ethik. Das Heiligkeitsgesetz begründet die im Unterschied zur selbstverständlich vorausgesetzten Selbstliebe gebotene Liebe zu den eigenen Landsleuten (Lev 19,18) wie auch zu Fremden (Lev 19,34) mit dem Verweis auf den heiligen Gott Israels (→ 7.1 Heiligkeit des Lebens). Dieser Gott ist fürsorglich. Das zeigt sich beispielhaft darin, dass er für die notwendige Ruhe sorgt. Das Geschenk des ↗ Sabbats ist Zeichen seiner liebenden Sorge für die Menschen (Ex 20,8-11; Dtn 5,12-15). Die Zugehörigkeit zu Gott und seinem Volk ist der Grund der Selbstliebe. Was für das Miteinander des Gottesvolkes geboten ist, z. B. unparteiliche Gerechtigkeit, gilt auch für das Zusammenleben mit anderen (S ÖDIN G 2015: <?page no="247"?> 70 f → 5.2 Konvivenz und Kooperation). Selbstliebe setzt dieses gebildete Verstehen voraus (Spr 19,8a ↗ LXX). Ohne durch göttliche Weisheit geprägte Bildung geht der Blick auf Gott und die Mitmenschen verloren. Selbstliebe verkommt so zur Selbstzentrierung. Die in Lev 19,18 gebotene Nächstenliebe nach Maßgabe der in Gott gründenden Selbstliebe hat auch im Neuen Testament eine ethische Schlüsselstellung (Mk 12,31.33; Mt 19,19; 22,39; Lk 10,27; Gal 5,14; Röm 13,9; Jak 2,8). Selbstsorge und Sorglosigkeit Paulus wünscht sich für die Gemeinde in Korinth die Freiheit von ängstlicher Sorge (1 Kor 7,32a). Wie das Vorbild des Apostels zeigt, ist Ehelosigkeit die beste Kondition für ungeteilte kluge Sorge um die Sache Gottes (7,32b-34). Dazu bedarf es auch körperlicher Disziplin. Paulus domestiziert sich selbst, um nicht anderen zu predigen und selbst unbewährt dazustehen (9,24-27). Die Begierden menschlicher Selbstsucht dürfen nicht durch übertriebene Leibsorge genährt werden (Röm 13,14). Ängstliche Sorge soll im Gebet entsorgt werden (Phil 4,6; vgl. 1 Petr 5,7 → 6.1 Gebet). Damit befindet sich Paulus in guter Gesellschaft: Jesus selbst animiert zur Sorglosigkeit (Mt 6,25-34 ⫽ Lk 12,22-31). Hektisch-ängstliche Betriebsamkeit macht sich breit, wenn der Blick auf den fürsorglichen Gott und die Nöte anderer verloren geht. Wer diesen Blick durch Jesus wieder gewinnt, kann die Aufmerksamkeit umso mehr auf kluge Selbstsorge richten. Kluge und dumme Selbstsorge Gleichnisse sind ein bevorzugtes Medium, um durch Klartext in Bildern zu kluger Selbstsorge zu inspirieren. Sie kontrastieren wiederholt dumme und kluge Wege der Selbstsorge (z. B. Mt 24,45-51; 25,1-13.14-30; Lk 12,16-21.22; 16,1-8; 18,9-14). Nicht die Selbstsorge an sich wird kritisiert, sondern ihre Perversion durch Maßlosigkeit. Das demonstriert exemplarisch die übertriebene Vorsorge des reichen Kornbauern (Lk 12,16-21.22). Im Lebensraum des Reiches Gottes liegt das Augenmerk dagegen ganz auf der Gegenwart (Mt 6,33 f). 247 Selbstsorge und Sorglosigkeit <?page no="248"?> Selbstsorge und Zeitsensibilität Angemessener Umgang mit Zeit gehört bereits zu den Weisheiten alttes‐ tamentlicher Lebenskunst. Sie sensibilisiert wie die griechisch-römische Philosophie für eine Lebensführung im Bewusstsein der Endlichkeit. Sie sieht allerdings in dem Gott Israels den Herrn auch der Zeit (z. B. Ps 31,16; 39,5 f; 90,12; Pred 3,1-15). Auch im Neuen Testament zeigt sich eine eine sorgfältige weise Lebensführung darin, die Zeit auszukaufen (Eph 5,15 f). Dazu zählt die Sensibilität für den rechten Zeitpunkt, wie sie Maria im Unterschied zu ihrer Schwester Marta an den Tag gelegt hat (Lk 10,38-42): Sie konzentriert sich darauf, auf das Wort Jesu zu hören. Marta, die sich mit aller Arbeit (diakonía 10,40 → 5.1 Ämter und Funktionen) allein gelassen fühlt, übersieht diesen Augenblick. Ihre Schwester wird für sie zum Vorbild. Zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu wird erzählt, dass er selbst sich regelmäßig Auszeiten nahm, um sich auszuruhen und seine Gottesbeziehung zu pflegen (Mk 1,35; Lk 4,42). Diese stille Zeit verordnet er auch seinen Schülerinnen und Schülern (Mk 6,30-32; Lk 7,10). Selbstsorge und Selbsterkenntnis Das Hören auf Gottes Wort eröffnet Gottes- und Selbsterkenntnis. Paulus legt sie der Gemeinde in Korinth ans Herz (2 Kor 13,3-5; vgl. Hebr 8,11). Auch Matthäus und Lukas wissen um die Bedeutung der Selbsterkenntnis für ein gutes Zusammenleben im Geist Christi (Mt 7,3 f ⫽ Lk 6,41 f): Verur‐ teilung leichter Verfehlungen anderer („Splitter im Auge deines Bruders“) haben ihre Ursache in der fehlenden Selbstbeurteilung der eigenen Schuld („Balken in deinem Auge“). Selbstsorge und Unabhängigkeit (Autarkie) Innere Unabhängigkeit verdankt sich Paulus zufolge der Abhängigkeit von Gott: Er schenkt volle Genüge (Autarkie) und begründet so die Haltung der Freigiebigkeit (2 Kor 9,8). Dem wegen seiner chronischen Krankheit besorgten Paulus wird zugesprochen, dass ihm die Gnade Christi genügt (12,7-9). Das bedeutet für die Selbstsorge des Apostels, die eigene Fragilität anzuerkennen und auf leistungsorientierten Perfektionismus zu verzichten. 248 6.5 Selbstsorge <?page no="249"?> Er muss nicht alles selbst machen, sondern kann sich helfendes Handeln gefallen lassen. Dass ihm das nicht immer leicht von der Hand geht, zeigt sein nahezu dankloser Dank für die materielle Fürsorge der Gemeinde in Philippi. In diesem Zusammenhang betont er seine Unabhängigkeit: Er hat es gelernt, autark zu sein (Phil 4,10-12). Seine Autarkie ist eigentlich eine Christarkie (Ulrich Heckel): Sie verdankt sich nicht einer unpersönlichen göttlichen Kraft, sondern Christus (4,13-23 → 2.3 Ansätze neutestamentli‐ cher Christologie). Selbstsorge und Führungsethik Paulus ermahnt die Gemeindeleiter in Ephesus, auf sich selbst und die ganze Gemeinde zu achten (Apg 20,28). Diesen Zusammenhang von Selbst‐ sorge und Führungsverantwortung entfaltet der in paulinischer Tradition stehende 1. Timotheusbrief. Für den gemeindlichen Leitungs- und Lehrauf‐ trag ist es nötig, sich selbst in der Frömmigkeit zu üben (1Tim 4,7). In Anspielung auf das griechische Erziehungsprinzip der „Gymnastik“ (Übung) hat der paulinische Meisterschüler Timotheus seine geistliche Bildung zu trainieren. Sie ist nützlicher als körperliches Training (4,8). Lebt Timotheus vorbildlich, wird auch die Gemeinde keinen Grund finden, ihn wegen seines jugendlichen Alters zu diskreditieren (4,12). Seine geistliche Selbstbildung ist Voraussetzung, um die mit seiner Beauftragung verbundenen Aufgaben der Schriftlesung, Predigt und Lehre wahrnehmen zu können (4,13 f). Der Wegweiser hat selbst den Weg der Glaubensbildung fortschreitend zu gehen (4,15 f): „Dafür trage Sorge, damit gib dich ab, damit dein Fortschreiten allen offenkundig werde. Achte auf dich und die Lehre; bleibe dabei! Denn wenn du das tust, wirst du dich selbst retten und die, die auf dich hören.“ Timotheus hat sich zudem selbst rein zu bewahren (5,22) und um seine Gesundheit zu kümmern (5,23): „Trinke nicht mehr nur Wasser, sondern nimm etwas Wein wegen deines Magens und wegen deiner häufigen Krankheiten.“ Dieser Rat liest sich wie eine Burnoutvorsorge: Für Führungskräfte ist keine radikale Askese geboten, sondern ein schonender Umgang mit den körperlichen Ressourcen. In Verbindung mit dem Selbstsorge-Schlüsselvers 4,16 kann dieser Rat heute als Aufforderung an kirchliche und diakonische Führungs‐ kräfte gelesen werden, nicht nur für die Gesundheit der Mitarbeitenden, sondern auch die eigene Sorge zu tragen (S CHN E ID E R E IT -M AUTH 2019: 168). Wahre Frömmigkeit zeichnet sich durch Autarkie aus, ist daher mit Geldgier 249 Selbstsorge und Führungsethik <?page no="250"?> unvereinbar (6,6-16). Letztlich leben alle, auch die Reichen, vom Zuspruch der Gnade (6,17-20). Sie befreit von ängstlicher Sorge und begründet kluge Selbstsorge. Impulse ■ Kirchenvater Augustin (354-430 n. Chr.) postuliert: Nur wer selbst „brennt“, kann Feuer in anderen entfachen. Die Bibel betont mehrfach die Notwendigkeit von Selbstsorge, um bei dem „Brennen“ für Gott und Mensch nicht auszubrennen. Folgende Impulse dienen der individuellen Selbstreflexion (mit entsprechenden Pluralformulierungen auch denk‐ bar für Teams): □ Wofür brennt aktuell mein Herz? □ Wann fühle ich mich lebendig, erfüllt, ergriffen und nicht nur gefüllt und gegriffen? □ In welchen Situationen verliere ich regelmäßig aus den Augen, auf mich selbst achtzuhaben? □ Wie kann ich hier neu sensibel für mich werden? □ Was bzw. wer kann mich dabei unterstützen? ■ Eine Anregung: Als Gedächtnisstütze könnten Sie ein Ihnen zu Herzen gehendes Bibelwort zur Selbstsorge auf einem Kärtchen notieren und am Schreibtisch platzieren (zu dieser spirituellen Praxis siehe bereits Dtn 6,4-9). Literatur G ÖD D E , Günter & Z I R F A S , Jörg 2018: Selbstsorge in der Antike. Selbstsorge in der Moderne. In: Dies. (Hg.): Kritische Lebenskunst. Analysen - Orientierungen - Strategien. Stuttgart: J. B. Metzler, S. 322-334.335-346. L ÖH R , Hermut 2007: Gottesdienst im Alltag dieser Welt. Ein Beitrag zu einer künftigen „Ethik des Neuen Testaments“. Berliner Theologische Zeitschrift 24, S. 241-261. S C H M I D , Wilhelm 9 2016: Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 250 6.5 Selbstsorge <?page no="251"?> S C H N E I D E R E I T -M A U T H , Heike 2019: Burnoutvorsorge ist Chefsache. Gesunde Führung als Leitungsaufgabe in Kirche und Diakonie. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. 251 Literatur <?page no="253"?> 7 Biblische Schlüsseltexte <?page no="255"?> 7.1 Heiligkeit des Lebens (Lev 19) Jörg Lanckau „Heilig“ sind vielen von uns familiäre Feste, manchem ein Fußballclub. Im Alltagsgebrauch bezeichnet das Wort das „Unantastbare“. Bestimmte, vorbildliche Menschen werden in römisch-katholischer Tradition „heiligge‐ sprochen“. Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869-1937) schrieb vor rund 100 Jahren in Kriegszeiten ein Buch über ein Erlebnis, das er nicht in Worte fassen, sondern nur fühlen und spüren konnte: Auf einer Reise nach Marokko erlebte er, wie ein Rabbi in einer Synagoge die jüdische Liturgie sang. Es war faszinierend und zugleich furchterregend. Otto packte das Gefühl der Ehrfurcht, im Angesicht eines allmächtigen Schöpfers eine Kreatur zu sein. So geht es vielen Menschen in ähnlichen Situationen. Sie stellen dieses besondere Gefühl in Objekten, in Wort und Bild dar. Sie suchen damit die Welt auf ihren Grund hin zu durchdringen, um sich in der Welt zurechtzufinden und dem Leben einen Sinn zu geben. „Heiliges“ in biblischen Texten Auch die biblischen Begriffe, hebr. qādôš und griech. hágios, meinen etwas, das vom Gewöhnlichen getrennt, geweiht, unverletzlich bzw. unantastbar ist. Sie bezeichnen auch den Besitz einer alles Irdische übersteigenden Macht, welche auch von Menschen erlangt werden oder bestimmten Dingen innewohnen kann. Der antike Gedanke, dass auch Gegenständen Heiligkeit innewohnt, lässt sich gut an den Erzählungen um die Bundeslade (1 Sam 4,1b-7,2a; 2 Sam 6), aber auch an den Reichskleinodien des „Heiligen Römi‐ schen Reiches“ belegen. Wer oder was „heilig“ ist, ist rein und makellos - und im Gegenteil nicht „sündig“, also fehlerbehaftet. „Heilig“ bezeichnet also eine Kategorie sui generis - etwas Besonderes. In biblischen Texten verändert sich dieses generell antike Verständnis zu einer Dialektik: Gott ruft mit seinem Eingreifen oder Erscheinen bei Menschen existentielles Erschrecken und Angst hervor, gar Erstarren und Todesnähe, vgl. den „Schrecken“ Isaaks (Gen 27,33; 31,42), den „Gottesschre‐ cken“ über Feinde im Krieg (1 Sam 14,15), oder eben jenes „Dreimal Heilig“ <?page no="256"?> in der Berufungsvision Jesajas ( Jes 6). Auch die Abwehr des Petrus (Lk 5,8) kann in dieser Reihe stehen. Gott wünscht aber zugleich den Kontakt und wendet sich erniedrigten Menschen als Retter in der Not zu (Ex 15,11). Gott richtet über alles Sündhafte und ist damit gerecht; erbarmt sich aber auch und will vergeben (Ps 99,8). Hos 11,8 f begründet Gottes Erbarmen sogar mit seiner Heiligkeit: „Alle meine Barmherzigkeit ist entbrannt … Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch und bin der Heilige unter dir und will nicht kommen, zu verheeren.“ In dieser prophetischen Perspektive, die auch die Texte der ↗ Tora redaktionell geprägt hat, wird Gott nicht mehr auf Präsenz in einem bestimmten „Heiligtum“ beschränkt. Der kurze Satz „Fürchte dich nicht! “ (hebr. ’al-tîrā’, griech. mē phoboú) kann als Verdichtung göttlicher Zuwendung und damit als Spitzensatz biblischer Theologie gelesen werden. Von Gen 15,1 bis Apk 2,10 zieht sich eine Linie, die eine religiöse Erfahrung in Worte fasst, Angst überwindet und „Mut zum Sein“ stiftet (grundlegend T ILLICH 1953). Der Satz wird manchmal explizit ergänzt (erstmals in Gen 26,24) und ist implizit zu ergänzen mit „… denn ich, Gott, bin mit Dir.“ Insofern ist er tatsächlich als Zusammenfassung diakonischer Rede von Gott zu verstehen. Gott definiert sich selbst als bestimmt und beauftragt, den Menschen nahezukommen. Sinnbildlich personifiziert wird dies beim johanneischen Christus ( Joh 13,1-11 → 7.6 Fußwaschung). Lev 19 - Religion und Sozialethik verbunden Heiliges als Kategorie sui generis hat nichts mit Ethos und Moral zu tun, so die Einsicht R. Ottos. Religion durch ↗ Ethik zu ersetzen, heißt sie zu entlee‐ ren. Biblisch werden beide Bereiche verknüpft; systematisch geschieht dies in der ↗ Tora im sog. „Heiligkeitsgesetz“. Diese Abfolge legislativer Texte in Lev 17-26 verbindet die Heiligkeit des israelitischen Gottes ↗ JHWH mit der „Heiligung“ des Volkes. Diese Verbindung begründet auch, warum die Gesetze überhaupt befolgt werden sollen (Lev 19,1 f): „JHWH sprach zu Mose: Sprich zur ganzen Gemeinde der Kinder Israel und sage ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich, JHWH, euer Gott, bin heilig.“ In Lev 19,3-37 finden sich kultische und soziale Einzelbestimmungen, deren Komposition eine planvolle Struktur vermissen lässt. Kultvorschriften und Ethik werden aber bewusst miteinander verknüpft. Der diakonische Blick ist jederzeit spürbar. Im Unterschied zu Lev 17-18 genügt es hier 256 7.1 Heiligkeit des Lebens (Lev 19) <?page no="257"?> nicht, Kultvorschriften penibel Folge zu leisten. Die Gebote sollen im Herzen aller Menschen ihren Platz finden und im Alltag befolgt werden, nicht nur von Priestern am Tempel. Damit wird eine Verbindung von Religion und Sozialethik konstituiert, die in der Geschichte des Judentums und Christentums außerordentlich wirkmächtig wurde. Paulus bezeichnet Christ*innen als „Heilige“ (Röm 1,7 u. ö.) und erwartet tadellose Lebensführung (1 Thess 5,23, vgl. 1 Petr 1,15). Die realitätsnahe Vorstellung Martin Luthers, dass der Mensch simul iustus et peccator sei (WA 56,347,3-4 u. ö.), gerecht gesprochen von Gott allein aufgrund des Glaubens, ist so bei Paulus nicht vorhanden. Paulus u. a. neutestamentlichen Autor*innen geht es um eine Veränderung der gesamten Existenz. Lev 19 - en détail ■ Auf dem Weg zur wahren Humanität: Die Reihe verweist zunächst auf Gebote, die sich auch im Dekalog (Ex 20; Dtn 5) finden (Lev 19,3 f). Vom Fleisch des „Heilsopfers“ (šælæm) darf nur bis zum Tag nach dem Opfer gegessen werden, dies wird mit „Entweihung“ des Göttlichen be‐ gründet und mit Exkommunikation bewehrt (Lev 19,5-8). Die Nachlese von Feld und Weinberg soll den Armen und Schutzbürger*innen gehö‐ ren (Lev 19,9 f ↗ Opfer → 4.3 Asyl, Ausländer und Fremde). Jegliche Art von Betrug wird verboten, ebenso sollen Menschen mit Behinde‐ rung vor Spott geschützt werden (Lev 19,11-14). Die Rechtsgleichheit aller Menschen wird explizit betont (Lev 19,15). Üble Nachrede und Verleumdung werden verboten, insbesondere vor Gericht. Wo Kritik nötig ist, sollen Hass und Rache keinen Platz haben. In diesem (und anderem) Zusammenhang bedeutet der Ausdruck, die Nächsten zu „lieben“, gerade keine emotionale Hinwendung, sondern grundlegende Loyalität und Solidarität (Lev 19,16-18): „Das Gebot der Nächstenliebe ist sicher ein großer Schritt auf dem Weg zur wahren Humanität - in der Diktion von Lev 19 ist die Nächstenliebe ein bedeutsamer Schritt zur Erlangung der Heiligkeit im Alltag“ (H I E K E 2014: 736). ■ Aufruf zur Heiligkeit im sozialen Alltag: Nach dieser grundsätzli‐ chen Reihung folgen weitere, lose verbundene „Satzungen“ oder „Sta‐ tute“ (Sing. ḥuqqāh): Das Verbot von Mischungen in den drei Bereichen der Viehzucht, des Ackerbaus und der Kleidung findet sich auch in Dtn 22,9-11. Dabei wird der Kontext der altorientalisch, ägyptisch 257 Lev 19 - en détail <?page no="258"?> und auch biblisch bekannten Mischwesen (Cheruben) aufgerufen, die zum Bereich des Heiligtums gehören. Auch Mischgewebe (ša‘aṭnez) ist Priestern vorbehalten. Alle anderen Menschen, so die Paralleltexte zur Stelle, sollen lediglich Quasten an den Zipfeln der leinenen Gewänder tragen, die mit einem purpurgefärbten Wollfaden versehen sind (Num 15,38-39; Dtn 22,12; im heutigen Judentum die „Schaufäden“). Danach wird der Grundsatz auf einen eher abseitigen Fall angewendet, um den Aufruf zur Heiligkeit und imitatio dei auf alle Gebiete des sozialen Alltags zu erstrecken, nämlich des illegitimen Geschlechtsverkehrs mit einer jungfräulichen Sklavin, die einem Mann als Gebärerin der Kinder versprochen war: „Was sich aus heutiger Sicht inhuman anhört, war aber wohl in der Gesellschaftsordnung des antiken Israel der einzig gangbare Weg für arme und verarmte Leute, insbesondere für Mädchen und Frauen, Auskommen und Überleben zu sichern.“ (H I E K E 2014: 740 zu Lev 19,20). ■ Schutz des Lebens: Frisch gepflanzte Bäume sind Tabu, erst im vierten Jahr gehören ihre „Erstlingsfrüchte“ Gott, dann dürfen sie geerntet werden (Lev 19,21-23). Das Verbot, die eigene Tochter zur Prostitution anzuhalten (Lev 19,29), soll zusammen mit dem des Menschenraubs (Ex 21,16) dafür sorgen, dass sexuelle Ausbeutung von Kindern und schutzlosen Mädchen tabuisiert wird (in diesem Sinn auch H I E K E 2014: 750). Insbesondere die Sphäre des Todes ist tabu, da sie mit Totenkult und Verehrung unterweltlicher Gottheiten einhergeht (Lev 19,26.28.31): In diesen Zusammenhang gehört auch der Verzehr von Fleisch mit dem Blut (vgl. Gen 9,6 u. ö., H I E K E 2014: 750 zu Lev 19,24) sowie be‐ stimmte Haarmanipulationen in Trauerzeremonien (Lev 19,27; woraus wiederum der jüdische Brauch des Tragens von Schläfenlocken beruht). ■ Angemessene Befragung Gottes: Divination, d. h. die Befragung (eines) Gottes mittels bestimmter Techniken wie Leberschau, Vogelflug oder eben auch Totenbefragung, ist biblisch an vielen Stellen verboten. Eine Ausnahme davon bilden Traumdeutung und Prophetie, welche eng miteinander zusammenhängen, sowie die priesterlichen Gegenstände der ’ûrîm und tummîm (hebr. „Lichter und Vollkommenheiten“, vgl. Ex 28,15.30; 1 Sam 28,5), die zur Rechtssprechung verwendet werden, ob als Lose, ist umstritten. ■ Besondere Schutzwürdigkeit: Besonders schutzwürdige Mitbür‐ ger*innen sind diejenigen, die nicht ursprünglich ansässig im Land sind (Lev 19,33 f → 4.3 Asyl, Ausländer und Fremde). In diesem Zusam‐ 258 7.1 Heiligkeit des Lebens (Lev 19) <?page no="259"?> menhang wird davor gewarnt, Betrug durch falsche Gewichte und Maße auszuüben (Lev 19,35 f), ehe summarisch diese Statuten eingeschärft werden (Lev 19,37). ■ Unantastbare Würde: Die soziale Gesetzgebung orientiert sich also hier an der Vorstellung der Heiligkeit von Menschen, die zur Freiheit be‐ rufen sind - dies will die Begründung mit der Exodustradition leisten - und Gott selbst ähnlich werden sollen. Nicht nur Gott und das Heiligtum sind unantastbar, sondern auch die Menschen in ihrer Würde und Freiheit, wenn auch diese Vorschriften auf der Gesellschaftsordnung des antiken Israel und Juda basieren und nicht heutige Verhältnisse vor Augen haben. Aber angesichts sexuellen Missbrauchs und Ausbeutung in heutiger Zeit bleiben die biblischen Texte für diakonisches Handeln in bestimmten Aspekten transparent und aktuell. Impulse ■ Heiliges als Kategorie sui generis habe nichts mit Ethos und Moral zu tun, befand R. Otto. Daraus ergeben sich zwei Diskussionspunkte: □ Wie und wo kann christliche Spiritualität gelebt und über den christlichen Glauben gesprochen werden, ohne dass sofort be‐ stimmte ethische Imperative das Evangelium von der Befreiung und Erlösung des Menschen verdecken oder gar ersetzen? □ Wie und wo muss sinnvoll auf ethische Implikationen des christli‐ chen Glaubens hingewiesen werden? ■ Lesen Sie auch den Artikel → 2.5 Begründungsansätze helfenden Han‐ delns. Wo liegen die spirituellen Quellen diakonischer Beauftragung und diakonischen Handelns? ■ Bedenken Sie nochmals den Abschnitt zu Lev 19 - en détail: Welche der genannten Gebote könnten heute auch unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit zum Judentum sinnvoll sein? Literatur H I E K E , Thomas 2014: Levitikus 16-27. Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Freiburg, Basel und Wien: Herder. 259 Impulse <?page no="260"?> O T T O , Rudolf 1917: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Breslau: Trewendt & Granier. Nachdruck 2004, München: C. H. Beck. R U D N I G , Thilo Alexander 2014: Heilig / profan / Heiligkeit (AT). In: Das wissenschaft‐ liche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 2086 9/ (Zugriffsdatum 7. 5. 2021). T I L L I C H , Paul 1953: Der Mut zum Sein, Stuttgart: Steingrüben. Neuauflage 2015, Berlin: De Gruyter. 260 7.1 Heiligkeit des Lebens (Lev 19) <?page no="261"?> 7.2 Befreiung und Rettung (Jes 61) Jörg Lanckau Was eint die Bücher der Bibel, ist also „Mitte der Schrift“? Der Reformator Martin Luther war der Überzeugung, es sei das, „was Christum treibet“ (WA 11, 316.5-325.15; WA Tr 4, 4795). Bedeutet das nichts anderes, als das Alte nur vom Neuen Testament her christologisch zu interpretieren? Oft geschah dies so. Die jüdisch-rabbinische Exegese der hebräischen Schriften weitgehend abzulehnen, war ein schwerwiegender Fehler des Christentums. Die reformatorische Formulierung lässt sich aber auch anders verstehen: In welchen Texten kommt die Nachricht von der Erlösung der Menschen vor? Wo wird ausgesagt, dass Gott den Menschen rettet? Ohne den christlichen Glauben vorauszusetzen bzw. in irgendeiner Art auf Jesus „hinzuweisen“, wird der Gott Israels in vielen Zusammenhängen des AT als Befreier und Helfer in der Not verstanden. (→ 1.3 Die Bibel lesen) Nomen est omen Gott als Retter - dies zeigt sich nicht nur im Gottesnamen, sondern auch in theophoren Personennamen (d. h. jenen Namen, in denen Gott vorkommt). Der hebräische Gottesname ↗ JHWH ist etymologisch von einer semiti‐ schen Verbalwurzel mit der Bedeutung „wehen, stürmen“ (Verbalwurzel hwh) abzuleiten. Damit ist dieser als Wettergott charakterisiert. Er schenkt die Fruchtbarkeit der Felder und das Wachstum der Haustiere, kann aber kaum vom kanaanäischen Gott Ba’al („Meister“) unterschieden werden. Seine Alleinverehrung wird zwar durch die Prophet*innen vehement gefor‐ dert, setzt sich aber weder in Nordisrael noch im südlichen Juda durch. Erst nach der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier 587 v. Chr. beginnt ein langsames Umdenken. Der Gottesname wird i. S. der hebräischen Wurzel „sein, werden, geschehen“ (hjh) neu gedacht: Es gibt nur den einen, universalen Gott ( Jes 44-45). Dieser ist für Menschen zwar unverfügbar, aber überall erfahrbar. Er zeigt sich als treuer Begleiter, Retter in der Not und Befreier vor feindlicher Macht, aus Kriegsgefahr und Sklaverei (z. B. Ex 15; 34,6 f u. ö.). <?page no="262"?> Auch bestimmte Personennamen sprechen eine deutliche Sprache: Die Gründung „Israels“ als Gemeinschaft verbundener Clans oder Stämme wird rückblickend einer Führungsgestalt namens Jehoschua „JHWH ist Hilfe“ (Josua, griech. Jesus) zugeschrieben. Die Bewahrung dieser Gemeinschaft obliegt sog. „Richter*innen“, die sich als charismatische Retter*innen in militärisch schwieriger Lage auszeichnen, während das dynastische König‐ tum eher kritisch gesehen wird. Unter genau diesem Eindruck faktischen Verlustes königlicher Herrschaft aufgrund unvermeidlicher Hybris wird ein Gegenbild der Herrschenden als „Diener“, „Knecht“ oder „Sklave“ gezeichnet (→ 6.3 Demut). Eine besondere Rolle dabei spielt das Jesajabuch. Das wirkmächtigste Prophetenbuch der Bibel trägt den Namen Jeschajahu „JHWH hat gerettet“. Es sammelt im ersten Teil die ausformulierten Visionen des Hofberaters von gleich vier Königen ( Jes 1,1; 2,1), abgeschlossen mit einem Bericht über deren geschichtliche Bewahrheitung ( Jes 36-39 ⫽ 2 Kön 18-20). Dazu wird später eine zweite Sammlung gestellt. Sie ist einem unbekannten Propheten exili‐ scher Zeit (6. Jh. v. Chr.) gewidmet, der dem leidenden Jeremia ähnelt und den Glauben an den einen und einzigen Gott unübertroffen formuliert ( Jes 40-55). Dann wächst das Buch über die Jahrhunderte immer weiter an, ehe es unter den Schriften von ↗ Qumran (2. Jh. v. Chr.) den berühmtesten Fund darstellt (1QIsa a ). Das Kapitel Jes 61 ist eine seiner späteren Ergänzungen. Es bündelt die gedanklichen „Highlights“ der Jahrhunderte zuvor in einem besonderen poetischen Text, der durchaus auch als Psalm bezeichnet werden könnte (→ 1.2 Was ist die Bibel? ). Gerechtigkeit als Programm Man stelle sich einen idealen Herrscher vor: Im Rahmen einer Inthronisation mit wertvollem Öl gesalbt - dies bedeutet „Messias“ oder „Christus“ - befreit er Gefangene und gibt allen „sanftmütigen, unterdrückten“ Menschen ihr Recht und ihre Würde zurück ( Jes 61,1 ↗ MT ‘ānāw vgl. Mt 5,5; ↗ LXX ptōchós „arm“ vgl. Mt 5,2). Er tut nicht, was altorientalische Könige übli‐ cherweise taten, nämlich die Köpfe der Feinde unter ihre Füße zu legen. Vielmehr wird eine humanitäre Vision inmitten der Realität unmenschlicher Grausamkeit gezeichnet. Das Bild einer Anpflanzung von „Terebinthen“ (Arten der Pistacia) will sagen, dass Gottes Werk im unaufhaltsamen Wachs‐ tum von etwas ganz Neuem besteht ( Jes 61,3.11, motivisch aufgenommen 262 7.2 Befreiung und Rettung (Jes 61) <?page no="263"?> in Mk 4,26-32). Das Geschehen wird als „Jahr des Wohlwollens“ für die Unterdrückten und „Tag der Rache“ für alles Unrecht bezeichnet. Wer es erlebt, erfährt echte „News“ (hebr. bśr), ja „frohe Botschaft“ (↗ LXX euangelízō). Innerhalb des autobiographischen Textes (Ich-Perspektive) wird die Got‐ tesperspektive legitimierend zitiert. Es liest sich wie eine Magna Charta der Menschenrechte, zu denen sich Gott nicht nur bekennt, sondern die er eben auch auszuführen gedenkt: „Denn ich, JHWH, liebe das Recht, hasse Raub und Unrecht“. Gerechtigkeit (hebr. Wurzel ṣdq) wirkt nur, wenn das Recht (hebr. mišpāṭ) alle erreicht, weder käuflich ist noch illusionär fern. Das zeigt: Es geht hier nicht um eine wie auch immer ideale Herrschaft eines Menschen über andere Menschen, sondern um das Anliegen Gottes. Anders als der deutsche Begriff „Gerechtigkeit“, welcher auf Erfüllung einer formalen Rechtsnorm zielt, geht es beim biblischen Verständnis primär um Beziehungen zwischen Personen. „Gerecht“ ist, wer der idealen Form einer solchen Beziehung entspricht. Es geht auch nicht um Gottesherrschaft i. S. einer Theokratie, welche de facto eine Herrschaft des Klerus darstellt. Vielmehr geht es um eine Umkehrung der Verhältnisse, so dass die jetzt Unterdrückten das Land besitzen und in Wohlstand leben, während die bisherigen Fremdherrscher zu gewöhnlichen Arbeitern im Land degradiert werden - wohl aber dabei ihr Auskommen finden. Dabei werden die ehemals Unterdrückten „Priester“ genannt, ohne selbst Priesterkaste zu werden, d. h. sie haben eine direkte Gottesbeziehung. Es ist die Vorstellung einer doppelten Entschädigung für erlittenes Unrecht, ohne zugleich neues Un‐ recht zu schaffen, wie es bei menschlichen Eroberungen oder Revolutionen unvermeidlich folgt. An eben diesen Gedanken der Umkehrung ohne neues Unrecht knüpft nicht nur das Gleichnis von den „Arbeitern im Weinberg“ (Mt 20,1-16) an, sondern auch die „Seligpreisungen“ (Mt 5,3-12), letztere sogar unter explizitem Hinweis auf verfolgte Prophet*innen (→ 4.5 Recht, Gerechtigkeit und Gericht) Diakonischer Blick Mit Jes 61,10 f stellt sich der ideale Herrscher als Mensch vor, der sich am Recht freuen kann, ohne eigene Interessen voranzustellen. Die erste Identifikationsfigur war Kyros II. aufgrund dessen Edikts von 538 v. Chr. (B O R G E R 1984: 404-410; vgl. Jes 44-45; Esra 1,2-4; 5,14-16; 6,3-5). Eine 263 Diakonischer Blick <?page no="264"?> vorschnelle Identifikation mit Jesus von Nazaret ist darum fehl am Platz. In Jes 61 geht es schon gar nicht mehr um einen Titel, sondern lediglich um die Funktion: Er ist „gesalbt“, nur um „den Elenden frohe Botschaft zu bringen“, „gesandt“, nur um „die zu heilen, die gebrochenen Herzens sind“, nur darum, „Freilassung auszurufen für die Gefangenen und Befreiung für die Gefesselten“. Gewissenmassen hat der Herrscher hier den „diakonischen Blick“. Es bleibt bewusst offen, wer diese Rolle spielen und ausfüllen kann: Es könnte jede und jeder sein. Der Mensch wird als Herrscher (vgl. Gen 1; Ps 1) von seinen Möglichkeiten und seiner Entscheidungsfähigkeit her ideal gedacht. Der Mensch soll menschlich werden und in diesem Sinn herrschen. Exakt dies wird auch zum Anknüpfungspunkt Jesu - in Nazaret. Nach dem Lukasevangelium wehrt er zunächst die verführerischen Möglichkeiten der Macht ab, nämlich Menschen in ökonomische, politische und medizi‐ nische Abhängigkeit zu bringen (in Lk 4,1-13: Herr über das Brot, die Königreiche und das Leben, → 5.3 Konkurrenz und Macht). Direkt im Anschluss definiert er seine Rolle unter direktem, gekürztem Zitat von Jes 61,1 f: „Heute ist dieses Schriftwort erfüllt - ihr habt es gehört.“ (Lk 4,21). Es ist aber mit dieser Definition nicht ein für alle Mal erfüllt, vielmehr wird die Entscheidung der Verführung durch Macht einerseits und der Option diakonischen Handelns für Mitmenschen zur zeitlosen Aufgabe. Der Mensch, der sich für letzteres entscheidet, wird in Jes 61 abschließend als bescheiden und demütig gezeichnet, aber dennoch voller innerer Freude (vgl. auch 2 Sam 2,1; Ps 37,4; Phil 3,1; 4,4). Da mit Kleidung immer auch Status ausgedrückt wird, darf hier das Bild nicht fehlen: Die von Gott geschenkten „Kleider des Heils“ und „Mantel der Gerechtigkeit“ werden bildhaft als das Kostbarste bezeichnet, das dem antiken Menschen vorstellbar ist: die Hochzeitskleider. Impulse ■ Inwiefern kann in einer konsequent demokratischen Gesellschaft das Bild eines monarchischen Herrschers noch aktuell oder aussagekräftig sein, auch wenn dieser als optimal vorgestellt wird? ■ Wo liegen die Chancen und die Grenzen einer Forderung nach Umkehr aller gesellschaftlichen Verhältnisse nach der historischen Erfahrung des Zusammenbruchs des Kommunismus und der (mehr oder weniger) friedlichen Revolutionen in Osteuropa ab 1989? 264 7.2 Befreiung und Rettung (Jes 61) <?page no="265"?> Literatur 1QIsa a : The Digital Dead Sea Scrolls. The Great Isaiah Scroll. Jerusalem: Israel Mu‐ seum. Online verfügbar: http: / / dss.collections.imj.org.il/ isaiah/ (Zugriffsdatum: 9. 5. 2021). B O R G E R , Rykle 1984: Der Kyros-Zylinder. In: Otto Kaiser (Hg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Band I, Lieferung 4. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 407-410. G ÖR G , Manfred 2013: Gott als Retter. In: Michael Fieger, Jutta Krispenz, Jörg Lan‐ ckau (Hg.): Wörterbuch alttestamentlicher Motive. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 211-213. L U T H E R , Martin. Weimarer Ausgabe (WA) 1883-2009: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. 120 Bände Weimar. Sonderedition 2000-2007. S P A N S , Andrea 2015: Die Stadtfrau Zion im Zentrum der Welt. Exegese und Theolo‐ gie von Jes 60-62. Bonner Biblische Beiträge 175. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 265 Literatur <?page no="266"?> 7.3 Gerechtigkeitssinn Gottes (Gen 6,5 - 9,19) Veronika Bachmann „Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.“ Es ist eine heftige Aussage, die Gen 6,7 in den Mund Gottes legt. Die Menschen sind gerade einmal in der 10. Generation auf der Welt (vgl. Gen 5), und bereits scheint Gott genug von seinem „Projekt Schöpfung“ zu haben. Der Fortgang der Erzählung ist bekannt: Gott setzt seinen Entscheid nur teilweise um. Die Flut, die Gott durch die Wasser von unten und die Wasser von oben bewirkt (Gen 6,11; 8,2), trifft letztlich doch nicht alle Lebewesen bzw. „alles Fleisch“, wie es Gen 6,13 ausdrückt. In einem schwimmenden Kasten (hebr. tevāh) lässt Gott die Familie von Noah und je ein Tierpaar über‐ leben. Der heute geläufige Begriff „Arche“ für diesen Kasten leitet sich vom lateinischen Wort arca ab. Gott, so legt es die biblische Fluterzählung nahe, will sein Werk also streng gesehen nicht vollständig rückgängig machen, sondern den Lebewesen, Mensch und Tier, die Chance eines Neuanfangs gewähren. Doch warum überhaupt Zerstörung und Neuanfang? Was lief schief? Gemäß der biblischen Sintfluterzählung lässt Gott Mensch und Tier nach ihrer Erschaffung nicht einfach auf sich gestellt, sondern bleibt daran interessiert, wie sich ihr Zusammenleben entwickelt. Was Gott beobachtet, freut ihn allerdings nicht: Die Menschen entpuppen sich als boshaft, die Welt als voll von Gewalt (hebr. ḥāmās). So hat sich Gott das Zusammenleben auf der Welt nicht vorgestellt. Was er wahrnimmt, „bekümmert ihn in seinem Herzen“ (Gen 6,6) und beschäftigt ihn. Die Schilderung einer solchen göttlichen Reaktion lässt aufmerken. Hier müssen Menschen am Erzählen sein, die die Erfahrung kennen, dass da, wo Mensch und Tier leben, Gewalt und Unrecht nicht weit sind. Es sind Menschen, die dabei ihre Hoffnung in Gott setzen: Sie hoffen, dass Gott Gewalt und Unrecht als Übel wahrnimmt, <?page no="267"?> also einen Gerechtigkeitssinn hat. Und sie spitzen das Ganze wie kaum ein anderer Bibeltext zu: Sie malen sich sogar aus, dass Gott so sehr am Wahrnehmen von Unrecht leiden könnte, dass er es bereut, Mensch und Tier geschaffen zu haben. Gott auf der Seite der Gerechten Doch eben: Eigentlich gegen den Plan, Mensch und Tier zu vertilgen, bekommt Noah mit der Anweisung zum Bau der Arche ein Überlebensre‐ zept ausgehändigt. Wie lässt sich diese Rettungsmaßnahme einordnen, die verhindert, dass die Welt kurz nach ihrer Erschaffung gleich wieder untergeht? Gen 6,9 charakterisiert Noah explizit als gerechten Menschen (’îš ṣadîq). Die Lutherübersetzung verdeckt dies etwas, indem sie ṣadîq statt mit „gerecht“ mit „fromm“ wiedergibt. Die Betonung der Gerechtigkeit Noahs markiert, dass die Erzählung nicht nur einen Gott skizziert, der sich vom Anblick von Gewalt und Unrecht bewegen lässt. Wer rechtschaffen durchs Leben geht, so der Schluss, den Leser*innen ziehen können, wenn sie in Noah eine exemplarische Figur sehen, darf auf Gottes Zuwendung hoffen. Theologisch bringt die biblische Fluterzählung damit also zugleich auf den Punkt: Bei Gottes Gerechtigkeitssinn geht es um einen Gerechtigkeitssinn, der auch die Achtsamkeit umfasst, den fragilen Schatz von Rechtschaffen‐ heit und Gerechtigkeit inmitten ungerechter Verhältnisse wahrzunehmen. (→ 4.5 Recht, Gerechtigkeit und Gericht) Gewandelter Gott, gewandelte Erde? Insbesondere der Schlussteil der biblischen Fluterzählung lässt aufhorchen: Vor der Flut scheint das Auseinanderbrechen von Schöpfungsideal und irdischen Wirklichkeiten Gott zum Verzweifeln und auf die Idee des Zer‐ störungsplans gebracht zu haben. Nach der Flut hingegen vernimmt die Leserschaft in Gen 8,21, wie Gott zu sich sagt: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe.“ Gott beschließt, sich zu wandeln und künftig zu seiner Schöpfung in ihrer ganzen Fehlbarkeit zu stehen (→ 2.1 Ansätze biblischer Theologie) 267 Gott auf der Seite der Gerechten <?page no="268"?> Dass er damit seinen Gerechtigkeitssinn nicht preisgibt, verdeutlichen die Folgeverse, die unter anderem einen Bogen zurück zu den biblischen Erzählungen über die ersten Menschen schlagen. Gen 9,6 erinnert daran, dass Gott den „Erdling“ (’adām), also die Menschen, als ṣælæm ’älohîm, als „Bild Gottes“, geschaffen hat (Gen 9,6; vgl. Gen 1,27 → 3.7 Menschenwürde). Damit lässt sich den urgeschichtlichen Erzählungen entlang weiterdenken: Der Mensch kann wie Gott zwischen Gut und Böse unterscheiden (vgl. Gen 2,4-3,24) und soll sich dabei für das Gute entscheiden (vgl. Gen 4,7), was er in der Ära vor der Flut offensichtlich allzu selten geschafft hat. Wird nun, nach der Flut, die Gewalt auf der Erde weniger werden? Die Fluterzählung endet mit einer der berühmtesten biblischen Zeichenhandlungen, nämlich damit, dass Gott seinen Bogen in die Wolken setzt (Gen 9,13). Dieser Bogen, bei dem viele an den Regenbogen denken, ist kaum irgendein Bogen, sondern es geht um Gottes Kriegsbogen, den er nun bildhaft ablegt. Das Ende der Erzählung bleibt damit herausfordernd offen: Nun sind die Erdenwesen an der Reihe, ihre Wandlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Vorderorientalische Flutüberlieferung Die biblische Sintfluterzählung, die in ihrer heutigen Form wohl im 5. Jh. v. Chr. entstanden ist, knüpft an die Tradition bereits älterer altori‐ entalischer Fluterzählungen an. Belegt sind solche Erzählungen ab ca. 2000 v. Chr. Auch anhand dieser Erzählungen haben sich Menschen im eigentlichen Wortsinn Gedanken über Gott und die Welt gemacht. An den altorientalischen Erzählversionen fällt auf, dass sie nicht nur von einem einzigen Gott als Gegenüber der Schöpfung handeln, sondern mehrere Gottheiten in unterschiedlichen Rollen auftreten lassen. Den nichtbiblischen Versionen gemeinsam ist etwa, dass der Hauptgott die Menschen vernichten will, während der Gott der Weisheit gegen diesen Plan einem besonderen Menschen das Überlebensrezept eines Schiffbaus mitteilt. Weitere Gotthei‐ ten wiederum stimmen in einem ersten Schritt dem Zerstörungsplan zu, bereuen ihn dann aber, sobald sie sich der Konsequenzen bewusstwerden. Die biblische Fluterzählung hält diesen älteren Erzählversionen etwas Neues entgegen, indem sie die Fluterzählung mit dem monotheistischen Be‐ kenntnis verknüpft, das sich in exilisch-nachexilischer Zeit herausgebildet hat. Wie deutlich geworden sein dürfte, unterstreicht sie dabei nicht nur die Einzigkeit Gottes, der nun die verschiedenen Rollen in sich vereinigt. Auch 268 7.3 Gerechtigkeitssinn Gottes (Gen 6,5 - 9,19) <?page no="269"?> besondere Haupteigenschaften dieser einen göttlichen Macht - man könnte auch von ihrem Programm reden - hebt sie hervor. So kommt der biblische Gott nicht wie der Gott Enlil im sogenannten Atramchasis-Mythos auf die Idee, die Menschen zu vernichten, nur weil sie ihm zu laut sind und ihn beim Einschlafen stören. Gott ist gemäß der biblischen Fluterzählung einer, dem die Menschen als Gegenüber deutlich mehr bedeuten und dem eine Lebensordnung, die allen Geschöpfen Entfaltung erlaubt, ein Anliegen ist und bleibt. Mit der altneuen Erzählversion setzten Menschen im 5. Jh. v. Chr. also mehrfach ein starkes Zeichen. Gottes Gerechtigkeitssinn als biblischer roter Faden Dass der Gerechtigkeitssinn Gottes biblisch nicht nur in der Fluterzählung eine Rolle spielt, dürfte klar sein. Andere Bibeltexte, ob alt- oder neutesta‐ mentliche, buchstabieren diesen elementaren Gottessinn auf ihre Weise durch. Auch den Formen sind kaum Grenzen gesetzt. Alttestamentlich ist das Thema u. a. in Psalmen (vgl. z. B. Ps 85,11-14), in den Prophetenbüchern und in Weisheitsschriften präsent. Die Fluterzählung lotet das Spektrum dahingehend aus, dass sie sogar die damalige internationale Mythologie kunstvoll in diesen roten Faden der Bibel einbindet. Impulse ■ Welche sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi‐ schen den Vorstellungen von der „Gerechtigkeit Gottes“ in biblischen Texten und gegenwärtigen Positionen? ■ Was irritiert Sie persönlich am meisten an der Vorstellung der Vernich‐ tung der Schöpfung durch Gott, und warum? ■ Inwiefern ist die „Reue“ eine von Gott sinnvoll auszusagende „Eigen‐ schaft“? Wandelt sich Gott, wenn sich unsere Vorstellungen wandeln? ■ Wie kann der „Gerechtigkeitssinn Gottes“ soziales bzw. diakonisches Handeln begründen? 269 Gottes Gerechtigkeitssinn als biblischer roter Faden <?page no="270"?> Literatur Atramchasis-Mythos. V O N S O D E N , Wolfram 1994: Der altbabylonische Atramcha‐ sis-Mythos. In: Otto Kaiser (Hg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Band III, Lieferung 4. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 612-645. B A U M G A R T , Norbert Clemens & R I N G S H A U S E N , Gerhard (Hg.) 2005: Die Sintflut. Zwischen Keilschrift und Kinderbuch; das neue Interesse an der alten Erzählung als religionspädagogische Herausforderung. Lüneburger theologische Beiträge 2. Münster: LIT Verlag. E B A C H , Jürgen 2001: Noah. Die Geschichte eines Überlebenden. Biblische Gestalten 3. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. L A N C K A U , Jörg 2011: Göttliche Reue und menschlicher Trost. Der Mythos der Zerstörung der Schöpfung und des Überlebens in der Katastrophe im Diskurs der biblischen Sintfluterzählung. In: Michael Fieger und Jörg Lanckau (Hg.): Erschaffung und Zerstörung der Schöpfung. Ein Beitrag zum Thema Mythos. Das Alte Testament im Dialog 4. Bern: Peter Lang, S. 89-130. Themenheft 2007: „Die Sintflut“. Bibel heute 170. Stuttgart: Katholisches Bibelwerk e. V. 270 7.3 Gerechtigkeitssinn Gottes (Gen 6,5 - 9,19) <?page no="271"?> 7.4 Barmherzige und hörende Liebe (Lk 10,25 - 42) Klaus Scholtissek In der lukanischen Komposition Lk 10,25-42 begegnet den Leserinnen und Lesern ein Diptychon, d. h. ein kunstvoll zweigeteilter Text. Inhaltlich geht es um eine Auslegung des Doppelgebotes der Liebe in beiden Teilen: der gefor‐ derten Nächstenliebe und der geforderten Gottesliebe. Beide Dimensionen werden nicht gegeneinandergestellt und schon gar nicht gegeneinander ausgespielt. Der Evangelist Lukas bestimmt vielmehr das innere Verhältnis von Gottes- und Nächstenliebe: Es gibt keine legitime Überbzw. Unterord‐ nung des einen Gebotes unter oder über das andere. Es gibt auch keine legitime Loslösung des einen Gebotes von dem anderen. Die geforderte „ganze“ Gottesliebe lässt eine ausschließliche Gottesliebe unter Ausschluss der Nächstenliebe nicht zu. Es findet auch keine Ersetzung der Gottesdurch die Nächstenliebe statt. Diese Auslegung von 10,25-42 wird im Folgenden vorgestellt. Barmherzige Liebe (Lk 10,25 - 37) Die gemeinsame Basis für den Dialog zwischen den beiden Lehrern ist die Heilige Schrift Israels, die ↗ Tora als Willensoffenbarung Gottes. Unter Berufung auf Dtn 6,5 und Lev 19,18 sind sich beide einig, dass die „ganze“, „ungeteilte“ Gottesliebe (vgl. die viermalige Verwendung von „ganz“ in Lk 10,27) und die an der Selbstliebe zu bemessende Nächstenliebe gefordert sind, „um das ewige Leben zu erben“ (Lk 10,25). Vorausgesetzt wird, dass die geforderte Gottes- und Nächstenliebe in der Liebe Gottes zu bzw. dem Erbarmen Gottes mit seinem Volk wurzelt und auf diese Liebe Gottes ant‐ wortet. Im Samaritergleichnis nimmt Jesus eine weitreichende Entgrenzung und Neubestimmung des „Nächsten“ vor - in doppelter Hinsicht: Derjenige, dem die Liebe gilt, ist grundsätzlich jeder Mensch, der in einer Notlage ist. Jede andere, darüberhinausgehende Konditionierung und damit faktische Einschränkung der verpflichtenden Liebeszuwendung schließt Jesus kategorisch aus. Maßgeblich für die geforderte barmherzige und sofortige Zuwendung zu dem, der unter die Räuber gefallen ist, ist <?page no="272"?> keine wie auch immer geartete Statuszuschreibung des ↗ Opfers, auch nicht dessen (orthodoxer oder nichtorthodoxer) Glaube, sondern allein und ausschließlich seine drängende, akute Not. Mit der sprichwörtlichen Beschreibung des unter die Räuber gefallenen Menschen schließt Jesus jede andere Bedingung für das geforderte Hilfehandeln aus. Das Doppelgebot der Liebe in Lk 10,25-29 und 10,36 f und die Parabel vom Hilfehandeln aus Barmherzigkeit 10,30-35 interpretieren in ihrer Komposition die in der Tora geforderte Liebe als „Barmherzigkeitshandeln aus Liebe“. Mit der Zuschreibung der Vorbildrolle ausgerechnet an den Samariter (verstärkt durch die Negativfolien des Priesters und des Leviten) überwindet Jesus bewusst und provozierend Grenzen. Diese universale Verpflichtung zur Nächstenliebe verankert Jesus in der im abschließenden Dialog der beiden Lehrer vorgenommenen Umkehrung der Rollen: In der Auslegung des Gebotes der Nächstenliebe durch Jesus ist der „Nächste“ nicht mehr das Objekt der liebenden Fürsorge, den es näher zu klassifizieren gilt. Vielmehr ist Subjekt des Handelns, wer durch sein konkretes Tun einem anderen, genauerhin: jedem anderen Menschen als Menschen, zum „Nächsten“ werden kann (oder eben nicht). Ruben Zimmermann hat die zentrale Botschaft treffend in folgende Worte gefasst: „In dieser Weise wird das Mitleiden-Können zum narrativen Wendepunkt in der Parabel, wie auch zum entscheidenden Schlüssel zum Verständnis des Nächsten und der Ethik überhaupt … Die Kategorie des „Nächsten“ erschließt sich nicht über eine Bestimmung des „Nächsten“ als Adressat oder gar als Objekt meiner Liebesbemühungen, sondern nur indem ich durch mein Mit-Leiden selbst zum Nächsten werde … Ich selbst bin als Subjekt des Handelns gefragt.“ „Nicht: Was sollen wir als ethische Subjekte tun, sondern: Wie werde ich überhaupt zum Subjekt des Handelns? Dieser Fragehorizont rückt die Parabel eng zur Ethik des jüdischen Philosophen Emanuel Lévinas … Die Selbstwerdung des Menschen vollzieht sich relational.“ (Z IM M E R M A N N 2007, 549] Für diakonisches Handeln im modernen Verständnis gilt: Alle Christ*innen sind durch das Doppelgebot der Liebe, an dessen Erfüllung das „ewige Leben“ hängt, zu einem Handeln verpflichtet, für das der Samariter Vorbild ist. Diakonisches Hilfehandeln besteht nach Lk 10,30-35 aus zwei Schrit‐ ten: unmittelbare Erste Hilfe und Rehabilitation (Schutz in der Herberge; Finanzierung). Nach vollbrachter Erster Hilfe delegiert der Samariter die Pflege an einen „kommerziellen“ Wirt und bezahlt ihn für sein Tun. Hierin manifestiert sich der Übergang von der Individualzur Sozialethik, von der 272 7.4 Barmherzige und hörende Liebe (Lk 10,25 - 42) <?page no="273"?> unmittelbaren Situationsethik zur institutionellen Absicherung der Hilfe. Sprachlich fällt die Parallelisierung des helfenden Handelns des Samariters und des Wirtes auf: Das Tun beider wird mit „pflegen, sorgen“ beschrieben (10,34 f). Hörende Liebe (Lk 10,38 - 42) Zu der angesprochenen Neuauslegung des Gebotes der Gottes- und Nächs‐ tenliebe gehört auch Lk 10,38-42: Wird im Gleichnis vom barmherzigen Samariter konkret definiert, wie die geforderte Nächstenliebe Gestalt ge‐ winnen kann, so wird in Lk 10,38-42 konkret definiert, wie die geforderte Gottesliebe Gestalt gewinnen kann. Dabei werden in 10,38-42 gerade nicht Aktivität und Passivität gegenübergestellt - wie eine verbreitete Auslegungsrichtung annimmt. Die Pointe der Kritik Jesu gegenüber Marta liegt darin, dass ihre „Sorge und Mühe“ (10,40) den jetzigen Zeitpunkt (kairós) der Verkündigung Jesu verpasst. Die geforderte Gottesliebe wird in der Nachfolge Jesu als kompromisslose Hinwendung zu Jesus, zu seiner Verkündigung „des Wortes“ (10,39) gedeutet. Diese provozierende Kompro‐ misslosigkeit in der Nachfolge Jesu hatte Lukas innerhalb der Rahmense‐ quenz 9,51-10,42 schon in 9,57-62 mit verletzenden Worten zugespitzt. Die zu den Füßen ihres „Herrn“ sitzende und „dem Wort“ Jesu zuhörende Maria (Lk 10,39) ist nicht wirklich passiv („passiv“ erscheint sie allenfalls vordergründig im Kontrast zu Marta): Im Sinne der biblischen Tradition des Hörens auf das Wort Gottes bzw. auf das Wort Jesu ist die hörbereite und „das Wort“ hörende Maria ein Vorbild für alle Nachfolger*innen Jesu schlechthin. Sie verwirklicht in ihrer aufmerksamen, hörenden Zuwendung zu Jesus konkret die geforderte Gottesliebe: die Liebe zu dem Gott, der sich in Jesu endzeitlicher Sendung seinem Volk und allen Menschen zuwendet. Der Evangelist leitet mit dieser Erzählung auch über zu den sich anschließenden Sequenzen über das Beten Jesu (11,1), das Beten der Nachfolgenden (11,2-4), das beharrliche Bittgebet (11,5-8) und das vertrauensvolle Beten (11,9-13 → 6.1 Gebet). Der Samariter in der Parabel (Gleichnis) und Maria in der Begegnungs‐ geschichte sind Vorbilder für das geforderte Verhalten in der Nachfolge Jesu: Barmherzige Liebe, die alle menschlichen, kulturellen und religiösen Grenzziehungen überwindet und sich ausschließlich von der konkreten Not und ihrer Überwindung leiten lässt (Lk 10,25-37), und hörende Liebe, die 273 Hörende Liebe (Lk 10,38 - 42) <?page no="274"?> sich von keinem noch so gut gemeinten Engagement von der Zuwendung zum Wort Gottes (10,38-42) bzw. von der Nachfolge (9,57-62) abhalten lässt, widersprechen sich nicht, sondern sind zwei Seiten einer Medaille. Sie erfüllen die Tora in der Auslegung Jesu und führen zum ewigen Leben. Mit diesem lukanischen Diptychon inszeniert und buchstabiert der Evan‐ gelist in der Nachfolge Jesu die Grundspannung von kompromissloser Zuwendung zu Gottes endzeitlicher Botschaft im Munde Jesu einerseits und ebenso kompromissloser Zuwendung zu Menschen in Not als deren „Nächste“ andererseits. Impulse ■ Wie ist die Grenzenlosigkeit bzw. Universalität des geforderten Hilfe‐ handelns im Sinne Jesu begründet? ■ Welche Folgen hat Jesu Auslegung des Doppelgebotes der Liebe für das persönliche und gesellschaftliche Handeln in der globalisierten Welt heute? ■ Wann und wo finden sich treffende Gelegenheiten, in denen Innehalten und ungeteiltes Hören auf Gottes Wort gelingt? Literatur Z I M M E R M A N N , Mirjam & Z I M M E R M A N N , Ruben 2003: Der barmherzige Wirt. Das „Samariter-Gleichnis“ (Lk 10,25-37) und die Diakonie. In: Arnd Götzelmann (Hg.): Diakonische Kirche. Anstöße zur Gemeindeentwicklung und Kirchenreform. Festschrift Theodor Strohm. Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts 17. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 44-58. Z I M M E R M A N N , Ruben 2007: Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) - Lk 10,30-35. In: Ders. (Hg.) in Zusammenarbeit mit Detlev Dormeyer, Gabi Kern, Annette Merz, Christian Münch und Enno E. Popkes: Kompendium der Gleich‐ nisse Jesu. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 538-555. S C H O L T I S S E K , Klaus 2021: Barmherzige und hörende Liebe (Lk 10,25-42). Das Doppel‐ gebot der Liebe und die Diakonie im Lukasevangelium, in: Ders. und Karl-Wil‐ helm Niebuhr (Hg.): Diakonie biblisch. Neutestamentliche Orientierungen. Bi‐ blisch-theologische Studien 188. Göttingen, S. 129-160. 274 7.4 Barmherzige und hörende Liebe (Lk 10,25 - 42) <?page no="275"?> 7.5 Weltgericht (Mt 25, 31 - 46) Bernhard Mutschler Neben der Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37 → 7.4 Barmherzige und hörende Liebe) hat kein anderer Text das Selbst- und Bildungsverständnis der Diakonie bis heute so sehr geprägt wie die Erzählung vom Weltgericht (Mt 25,31-46). Sie gehört zum Sondergut des Matthäusevangeliums. Ihr diakonisch-soziales Anliegen ist tief im Alten Testament und im antiken Judentum verwurzelt. Kontext Mt 25,31-46 folgt auf eine Zusammenstellung von vier eindringlichen Wachsamkeitsgleichnissen (24,42-44: vom Dieb; 24,45-51: vom treuen und bösen Knecht; 25,1-13: von den klugen und törichten Jungfrauen; 25,14-30: von den anvertrauten Talenten), die ihrerseits für die unbekannte Dauer (24,32-41) bis zur nahen Wiederkehr des Menschensohnes am Ende der Welt (24,3-31) stärken und mahnen. Mt 25,31 f knüpft an die Erzählung des Ab‐ laufs der Endereignisse in 24,30 f variierend an. Während der Menschensohn nach 24,29-31 inmitten einer kosmischen ↗ Apokalypse erscheint und „seine Engel (…) seine Auserwählten sammeln von den vier Winden“ (= von überall her, 24,31 ⫽ Mk 13,27), werden nach Mt 25,31-33 nicht nur die Auserwählten, sondern „alle Völker vor ihm versammelt“ (Mt 25,32) und erst anschließend findet eine Scheidung wie von einem Hirten gegenüber seiner Herde statt. Variierende Vorstellungen vom Endgericht (im äthiopischen Henochbuch = äthHen 51,1-3 vgl. U HLI G 1984; E G O 2007: 2.1) sind an zwei weiteren Stellen innerhalb des Evangeliums belegt. Nach Mt 13,41-43 sammeln die Engel (in Umkehrung zu 24,30 f) zuerst jene, „die da Unrecht tun“, werfen sie „in den Feuerofen“, und „dann werden die Gerechten leuchten“. Nach Mt 16,27 wird der Menschensohn „einem jeden vergelten nach seinem Tun“. Mt 25,31-46 ist der vorläufige Abschluss und Kulminationspunkt der Lehre Jesu. Nur in Mt 25,34.40 wird Christus als „König“ bezeichnet. Der so von sich spricht, ist der Weltenrichter, der ab 26,1 im Drama seines Leidens und Sterbens als „König“ angeklagt, verspottet und gekreuzigt wird (Mt 27,11.29.37.42). <?page no="276"?> Form und Gliederung Die in Mt 24,4 beginnende Endzeitrede Jesu endet mit der Gerichtserzählung 25,31-46. Es handelt sich um eine szenisch ausgestaltete Schilderung des Gerichts vor dem Richterthron (vgl. Dan 7,9 f; Apk 20,11-15; ferner bereits äthHen 47,3; 51,1-3; 90,20-27; 4Esr 7,32-44; Berger 2005: 360 f) mit der Weissagung von Heil und Unheil im Gericht (vaticinium ex eventu ↗ Apo‐ kalypse, vgl. Mt 12,36 f; 1Kor 3,12-15; 2 Thess 1,6-10). Diese Ansage ist zugleich eine eindringliche Mahnung mit symbuleutischem (= beratendem) Charakter (Paränese). Eine pädagogische, ethisch motivierende Wirkung auf Hörer*innen und Leser*innen ist durchaus beabsichtigt (vgl. Dtn 30). Der aktuelle Sprecher ist zugleich der künftige Richter (vgl. Apk 2,5.16.22 f; 3,3.11.20; 16,15; 21,6 f; 22,12). Mit alledem ist der Schluss der Endzeitrede Jesu anschaulich und einprägsam gestaltet. Von einer Parabel, einem „Gleichnis“, kann nur im Blick auf Mt 25,32 f gesprochen werden (M ÜNCH 2007: 504): Ein Hirte teilt seine Herde auf. Im vorderen Rahmenstück (25,31-33) werden die Menschen in zwei Gruppen geteilt (vgl. Ez 34,17-22) und vor dem richterlichen Thron „zur Rechten“ (als der begünstigten Seite) und „zur Linken“ aufgestellt. Im Zentrum des Textes stehen zwei fast vollständig parallel aufgebaute Dialoge mit den beiden Gruppen (Mt 25,34-40.41-46 vgl. B R AND E N B U R G E R 1980: 330 f). Auf die (a.) Hinwendung des Richters zur jeweiligen Gruppe (34a.41a) und den (b.) Urteilsspruch (34bc.41bc) folgen eine (c.) Urteilsbegründung (35 f.42 f), ein (d.) Einspruch in Form einer Rückfrage (37-39.44) und eine (e.) Begründung des Urteils, die den Einspruch abweist (40.45), als Höhepunkt und Pointe der Argumentation. Im hinteren Rahmenstück (46) wird das Urteil in umgekehrter Reihenfolge (chiastisch) vollzogen. Die beiden Men‐ schengruppen gehen jeweils ihren Weg: die zuletzt Angesprochenen zur Linken „zur ewigen Strafe, aber die Gerechten zum ewigen Leben“. Biblische Dimensionen Der Aufruf zur Hilfe gegenüber Bedürftigen ist sowohl im Alten Testament als auch in der weiteren Literatur des antiken Judentums verankert. Zu nennen sind: Ez 18,7; Hi 22,6 f; Spr 3,27 f; 14,21; 24,11 f.24 f; 28,27; 30,14; 31,8 f; Sir 4,1-6.8-11; 7,10 f.32-36; Tob 1,17; 4,7-11.16; 12,7-9; 14,11; ferner das slawische 276 7.5 Weltgericht (Mt 25, 31 - 46) <?page no="277"?> Henochbuch = slavHen 42,7-9; 44,1 f.4 vgl. E G O 2007: 2.2 und B ÖT T R I C H 1995; das Testament Issachars = TestIss 5,2; 7,5-7; das Testament Sebulons =TestSeb 5,1.3; 7,1-8,2 vgl. B E C K E R 1980. Jes 58,7 steht den sechs von Matthäus aufgezählten Nöten am nächsten: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! “ Die äußeren beiden Zeilen dieses Vierzeilers werden von Matthäus jeweils doppelt entfaltet, um die Aussage zu verstärken: Hungrige / Durstige (syn‐ onymer ↗ Parallelismus membrorum, vgl. Hi 22,7) und Kranke / Gefangene (synthetischer Parallelismus membrorum). Dadurch kommen grundlegende leibliche und soziale Nöte paarweise (Mt 25,37.38.39) in den Blick. Zwar werden nach Dtn 15,11 ( Joh 12,8) „allezeit Arme sein im Lande“, aber dies entspricht nicht der Weisung Gottes (→ 4.2 Armut und Reichtum). Dessen Segensgaben reichen für alle: Es ist genug für alle da. Bedürftigen Hilfe zu leisten, ist daher ein kontinuierlicher Auftrag: „Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein; denn der Herr wird dich segnen“ (Dtn 15,4; ferner TestSeb 5,1 f). Die Linderung verschiedenartigster Not durch Jesu spürbare Zuwendung (z. B. im Gespräch, in Zeichen, Machttaten und Wundern) ent‐ spricht dem biblischen Auftrag, den Jesus seinen Jüngern explizit weitergibt (Mk 6,37 ⫽ Mt 14,16 ⫽ Lk 9,13). Not zu lindern, schenkt besonderen Sinn. Hinter dem notleidenden Men‐ schen steht Gott: „Wer sich des Armen erbarmt, der leiht dem Herrn“ (Spr 19,17; ferner 14,31; 17,5; slavHen 44,1), analog im Neuen Testament Christus und Gott (Mk 9,37 ⫽ Mt 18,5 ⫽ Lk 9,48; Lk 10,16 ⫽ Mt 10,40; Joh 13,20). Der „König“ (Mt 25,34.40) ist solidarisch mit den Notleidenden und hilft ihnen (Ps 72). „Wenn jemand Recht und Gerechtigkeit übt, so ist es ebenso, als hätte er die ganze Welt mit Liebe gefüllt“, wird im Babylonischen ↗ Talmud gelehrt (Traktat Sukkot = bSukk 49b → 1.2 Was ist die Bibel? ). Not zu lindern, rettet im zukünftigen Gericht. „Selig ist, wer gerecht richtet und Waisen und Witwen, überhaupt jedem Unterdrückten hilft, wer Nackte bekleidet und Hungrigen Brot gibt“ (slavHen 42,7-9; ferner 9,1; 44,4; Mt 10,41; 10,42 par Mk 9,41). Eindrücklich formuliert eine rabbinische Psalmenauslegung (Midrasch Tehillim = MidrTeh 118,17 / 243b, vgl. W ÜN S CH E 1880): „In der kommenden Welt wird jeder Mensch gefragt werden: ‚Was hast Du [in deinem Leben] getan? ‘ Wenn er dann antwortet: ‚Ich habe dem Hungrigen zu 277 Biblische Dimensionen <?page no="278"?> essen gegeben‘, wird man ihm sagen: ‚Das ist das Tor zum Herrn. Wer dem Hungrigen zu essen gab, der trete ein! ‘ Ebenso ergeht es dem Menschen, der dem Durstigen zu trinken gab, den Nackten bekleidete, Waisen aufzog, Arme unterstützte und [allgemein] Mitmenschlichkeit praktizierte.“ Wer hingegen den Gotteswillen nicht diakonisch (diakonéō, Mt 25,44 → 5.1 Ämter und Funktionen) in einem weiten Sinn (d. h. einschließlich sozial, pädagogisch, pflegerisch usw.) umsetzte, wird abgewiesen werden im Endgericht (slavHen 10,5 f; 44,2; Mt 7,21-23 ⫽ Lk 13,26 f; 4Esr 7,36-48 vgl. S CH R E IN E R 1981). Taten der Mitmenschlichkeit erlangen höchste Bedeutung in der Zukunft, kriteriologischen Rang im Endgericht (vgl. Lk 16,19-26). Dies hat Konsequenzen für die Gegenwart (Lk 16,27-31). Denn bei seiner Wiederkunft wird der Menschensohn „einem jeden vergelten nach seinem Tun“ (Mt 16,27; vgl. Apk 21,12 f; ferner Mt 7,1 f; TestSeb 5,3 f). Mt 25,31-46 löst diese Ankündigung aus 16,27 vorwegnehmend ein. Leitkonzeption des Evangelisten ist also ein „universales Beurteilungsgericht mit doppeltem Ausgang“ (K ON R ADT 2015: 391). Matthäische Akzentuierungen In beiden Dialogen werden dieselben sechs Nöte jeweils zweimal aufgezählt (Mt 25,35 f.37-39.42 f.44). Diese doppelte Zwölfzahl (2x6x2) steht für Ganz‐ heit, Einheit, Himmlisches und verstärkt die paränetische Eindringlichkeit (→ 2.4 Ansätze biblischer Ethik). Gleichwohl stehen die genannten Nöte als Gelegenheiten zu Werken der Barmherzigkeit nur exemplarisch. Sie erheben nicht den Anspruch einer vollständigen, erschöpfenden Aufzählung. Wer leistet in Mt 25,31-46 Hilfe, und wer empfängt sie? Das Fazit im Rahmen des Matthäusevangeliums lautet (T HE IẞE N 1999: 46): „Alle sind mögliche Adressaten der Hilfe - und alle sind mögliche Subjekte der Hilfeleistungen.“ Empfänger der Barmherzigkeit sind im antiken Judentum vereinzelt auch Tiere (TestSeb 5,1). Die Warnungen und Verheißungen richten sich primär an christliche Gemeindeglieder als Leser*innen und Hörer*innen des Textes. Die Warnungen und Verheißungen antizipieren den universalen Gerichtsmaßstab Gottes im Endgericht: Es geht um Taten der Mitmenschlichkeit. Mt 25,31-46 verdeutlicht jene „bessere“ Gerechtigkeit, die in der Bergpredigt gefordert wird (Mt 5,20). Ihre Kennzeichen sind Barmherzig‐ 278 7.5 Weltgericht (Mt 25, 31 - 46) <?page no="279"?> keit, Vergebung, Liebe zu den Nächsten und die Einhaltung des Rechts (5,43-48; 6,19-21.24.33; 9,13; 12,7; 18,21 f; 19,19-21; 22,34-40; 23,23; 24,12; (→ 4.5 Recht, Gerechtigkeit und Gericht). Nach dem Matthäusevangelium gibt es keinen Glauben an Gott, der an Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe gegenüber den Nächsten vorbei geht (16,27). Insofern bildet Mt 25,31-46 geradezu „eine Zusammenfassung der Theologie des Matthäus‐ evangeliums“ (L U C K 1993: 278). Impulse ■ Im Gegensatz zur Erzählung vom barmherzigen Samariter enthält Jesu Erzählung vom Weltgericht Ambivalenzen und möglicherweise sogar Drohpotenzial, das Ängste hervorrufen kann. Auf der anderen Seite kommt dieser Text praktisch handelnden und empfindenden Menschen entgegen. Er entspricht der diakonischen Leitmaxime Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert (Gustav Werner 1809-1887). Für wen könnte dieser Text geschrieben sein? Worauf ist bei der Kommunikation des Textes heute zu achten? ■ „Alle Menschen werden Brüder“. Diese Zeile findet sich in Friedrich Schillers Gedicht „An die Freude“, von Ludwig van Beethoven im 4. Satz seiner 9. Symphonie vertont (uraufgeführt am 7. Mai 1824 in Wien, heute Hymne des Europarates). Inwiefern lässt sich eine Querverbin‐ dung zu Mt 25,31-46 herstellen? ■ Seit dem lateinischen Kirchenvater Laktanz (3. Jh. n. Chr.) werden die so genannten Werke der Barmherzigkeit um „Tote bestatten“ zur Sie‐ benzahl ergänzt (Tob 1,17-20; Mt 27,57-61). Ihre bis heute prägende Kraft ist auch an Kirchenbauten, künstlerischen Darstellungen bis hin zu Leitbildern diakonischer Einrichtungen ablesbar. Welche Beispiele fallen Ihnen dazu ein? Literatur B E C K E R , Jürgen 2 1980: Die Testamente der zwölf Patriarchen. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit III / 1. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. B E R G E R , Klaus 2005: Formen und Gattungen im Neuen Testament. Tübingen und Basel: Francke. 279 Impulse <?page no="280"?> B ÖT T R I C H , Christfried 1995: Das slavische Henochbuch. Jüdische Schriften aus helle‐ nistisch-römischer Zeit V / 7. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. B R A N D E N B U R G E R , Egon 1980: Das Recht des Weltenrichters. Untersuchung zu Matthäus 25,31-46. Stuttgarter Biblische Studien 99. Stuttgart: Verlag Katholisches Bibel‐ werk. E G O , Beate 2007: Henoch / Henochliteratur. In: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 20989/ (Zugriffsdatum: 30. 04. 2021). G O L D S C H M I D T , Lazarus 1929-1936: Der Babylonische Talmud. Aus dem Hebräischen von Lazarus Goldschmidt, Zwölf Bände, Nachdruck 2002. München: Suhrkamp. K O N R A D T , Matthias 2015: Das Evangelium nach Matthäus. Das Neue Testament Deutsch, Teilband 1. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. L U C K , Ulrich (1993): Das Evangelium nach Matthäus. Zürcher Bibelkommentare NT, Band 1. Zürich: Theologischer Verlag Zürich. M ÜN C H , Christian 2007: Der Hirt wird sie scheiden (Von den Schafen und Böcken) - Mt 25,32 f. In: Ruben Zimmermann (Hg.) in Zusammenarbeit mit Detlev Dormeyer, Gabi Kern, Annette Merz, Christian Münch und Enno E. Popkes: Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 504-509. S C H R E I N E R , Josef 1981: Das 4. Buch Esra. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römi‐ scher Zeit V / 4. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. T H E IẞE N , Gerd 1999: Universales Hilfsethos gegenüber allen Menschen? - Neutesta‐ mentliche Wurzeln der Diakonie. In: Einführung in die Theologie der Diakonie. Heidelberger Ringvorlesung. DWI Info / Forum Materialien Informationen, Son‐ derausgabe unter Mitarbeit von Tanja Raack hg. von Arnd Götzelmann. Heidel‐ berg: Diakoniewissenschaftliches Institut, S. 34-54. U H L I G , Siegbert 1984: Äthiopisches Henochbuch. Jüdische Schriften aus hellenis‐ tisch-römischer Zeit V / 6. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. W ÜN S C H E , August 1880: Bibliotheca Rabbinica. Eine Sammlung alter Midraschim. Zum ersten Mal ins Deutsche übertragen von August Wünsche. 6. und 7. Lieferung: Der Midrasch Schir Ha-Schirim. Nachdruck 1967. Hildesheim: Georg Olms. 280 7.5 Weltgericht (Mt 25, 31 - 46) <?page no="281"?> 7.6 Fußwaschung (Joh 13) Anni Hentschel Wenn heute ein Pfarrer oder eine Pfarrerin Gemeindegliedern im Gottes‐ dienst am Gründonnerstag die Füße waschen will, ist es schwierig, Freiwil‐ lige zu finden. Viele Menschen sind peinlich berührt von so viel Nähe und Intimität. Auf der anderen Seite werden professionelle Fußpflege oder Fuß‐ massagen durchaus gerne in Anspruch genommen. Und der Gedanke an ein warmes Fußbad nach einem langen anstrengenden Tag oder eine liebevolle Fußmassage durch Partner oder Partnerin lassen angenehme Empfindungen spürbar werden. Wie berührend und emotional das Waschen von Füßen sein kann, zeigen auch die drei neutestamentlichen Erzählungen (Lk 7,36-50; Joh 12,1-8; 13), in denen die Handlung implizit oder explizit als Ausdruck von Liebe dargestellt wird. Doch sowohl die Emotionalität als auch die Zärtlichkeit werden bei theologischen Interpretationen der Fußwaschung Jesu wenig beachtet. Verbreitet ist die Deutung der Fußwaschung Jesu im Sinne eines Sklavendienstes, die damit als Zeichen seiner Demut und als Vorabbildung der Erniedrigung im Kreuzestod verstanden wird. Fußwaschungen in der Antike In den antiken Kulturen des Mittelmeerraums gehörte die Fußwaschung zur alltäglichen Körperhygiene, wie bei uns das Waschen der Hände oder das Putzen der Zähne. Weil man tagsüber oft in Sandalen unterwegs war, wurden die Füße schnell schmutzig und mussten regelmäßig gereinigt werden. Nach dem Betreten eines Hauses und vor den Mahlzeiten, vor allem, wenn man sich zu Tisch legte, und auch vor dem Schlafengehen war es deshalb üblich, sich die Füße zu waschen. Wenn wohlhabende Menschen über Dienerinnen und Diener verfügten, fiel die Fußwaschung möglicherweise auch in deren Zuständigkeit. In der Literatur ist diese alltägliche Selbstverständlichkeit jedoch kaum der Rede wert. Die Fußwaschung konnte auch ein Ausdruck von Liebe oder Anerken‐ nung sein. In familiären Beziehungen wuschen die Kinder die Füße ihrer Eltern, die Ehefrau oder Geliebte die Füße ihres Mannes. Insbesondere <?page no="282"?> vor dem Schlafengehen konnte das Waschen der Füße Ausdruck intimer Nähe sein. Auch Schülerinnen und Schüler können ihrem Lehrer durch eine Fußwaschung ihre Verehrung erweisen. Zu den Gepflogenheiten der Gastfreundschaft gehörte, dass man dem Gast zumindest Wasser zum Waschen der Füße hinstellte (vgl. Lk 7,44). Als besondere Ehre gilt es, wenn Sklav*innen oder sogar Gastgeber*innen selbst bzw. deren Familienangehö‐ rige die Füße des Gastes waschen. Im kultischen Bereich war es ebenfalls selbstverständlich, die Füße zu reinigen. Im übertragenen Sinn konnten gewaschene Füße kultische oder ethische Reinheit ausdrücken. Wenn jedoch jemand gezwungen wurde, die Füße eines anderen zu waschen, war dies eine Demütigung. Bei Sklav*innen konnte das Waschen der Füße auch ein Hinweis auf die sexuelle Verfügbarkeit durch ihre Eigentümer sein. Deshalb sollten gemäß Rabbi Jishmaels Kommentar zu Ex 21,1-3 (Textausgabe: S T EM ‐ B E R G E R 2010) auch jüdische Sklav*innen nicht zur Fußwaschung gezwungen werden, während ein jüdischer Schüler seinem Lehrer als Zeichen der Verehrung die Füße waschen durfte. Eine Episode aus dem Jerusalemer ↗ Talmud illustriert anschaulich Rollenerwartungen und Bedeutungsaspekte einer Fußwaschung (Traktat Pea „Ackerecke“ 15c): Als Rabbi Jishmael nach Hause kommt, will ihm seine Mutter die Füße waschen. Der Rabbi verweist auf das vierte Gebot und lehnt dies ab, da er als Sohn die Füße seiner Mutter zu waschen habe. Daraufhin beschwert sich die Mutter bei den Rabbinern auf dem Marktplatz, dass ihr Sohn gegen das vierte Gebot verstoßen habe, weil er ihr die Ehre nicht zugestanden habe, ihm als angesehenen Rabbi die Füße zu waschen. Fußwaschung Jesu Im Johannesevangelium deutet Jesus bei seiner letzten Mahlzeit vor seinem Tod nicht Brot und Wein, sondern er wäscht die Füße seiner Jünger*innen. Da die Fußwaschung in dieser Geschichte nicht vor, sondern während der gemeinsamen Mahlzeit stattfindet, ist sie weder Ausdruck von Gast‐ freundschaft noch dient sie der Reinigung der Füße, da sich niemand mit schmutzigen Füßen zu Tisch gelegt hätte ( Joh 13,4.12). Jesus handelt hier auch nicht in der Rolle eines Sklaven, sondern er ist und bleibt der Lehrer seiner Schüler (13,13). Die Fußwaschung ist vielmehr Ausdruck der Liebe Jesu zu den Seinen (13,1). Indem Jesus ihre Füße wäscht, lässt er sie auf 282 7.6 Fußwaschung (Joh 13) <?page no="283"?> sinnliche Weise seine Liebe spüren und übermittelt ihnen so zugleich die Liebe Gottes (vgl. 3,16; 13,1). Als Jesus zu Petrus kommt, hat Petrus viele Verständnisschwierigkeiten und Fragen. Petrus ist deshalb jedoch kein besonders begriffsstutziger Schü‐ ler, sondern das Johannesevangelium arbeitet hier mit einem literarischen Stilmittel. Durch die Missverständnisse einer Erzählfigur - in diesem Fall von Petrus - hat Jesus als Erzählfigur die Möglichkeit, sein Handeln oder auch seine Lehre genau zu erklären. Auf diese Weise können auch die Leser*innen besser verstehen, was dem Evangelisten bei der Erzählung der Jesus-Christus-Geschichte wichtig ist. Als Petrus an der Reihe ist, will er die Fußwaschung durch Jesus nicht akzeptieren. Im Hintergrund steht wahrscheinlich die übliche Rollenvertei‐ lung, gemäß der nicht der Lehrer den Schülern, sondern vielmehr die Schüler dem Lehrer die Füße waschen müssten, um so ihrem Lehrer ein Zeichen der Liebe und Anerkennung zu geben ( Joh 13,6; vgl. 14,20 f; 17,26). Jesus erklärt Petrus, dass die Fußwaschung „Teilhabe“ an Jesus ermöglicht (13,9). Worin diese Teilhabe besteht, wird nicht eindeutig beantwortet, sondern muss aus der gesamten Erzählung erschlossen werden. Naheliegend ist, dass Jesus - symbolisiert durch die Fußwaschung - den Seinen die Liebe schenkt, die er im Namen Gottes bringt (13,1). Die Jünger*innen werden in die Liebesbeziehung aufgenommen, die zwischen Gott und Jesus besteht (17,20-26). Nach dieser Erklärung, die er noch nicht versteht, bittet Petrus um eine Waschung von Kopf, Händen und Füßen, d. h. Petrus möchte jetzt eine Reinigung der Körperteile, die nicht durch Kleidung bedeckt waren und deshalb immer wieder staubig wurden (13,9). Die folgende, erneut rätselhafte Antwort Jesu kann als Erläuterung verstanden werden, dass die Jünger keine Waschung zur Reinigung brauchen. Jesus vergleicht die Jünger mit Menschen, die durch ein Vollbad bereits vollständig rein sind (13,10 f). Wenn die Fußwaschung Jesu Ausdruck seiner Liebe ist und nicht der Reinigung dient, ist die ablehnende Antwort Jesu verständlich. Trotzdem wurde diese Antwort offensichtlich nicht von allen verstanden, weshalb Joh 13,10 in vielen Handschriften einen Zusatz enthält, der aussagt, dass ein Gebadeter nichts benötigt, „abgesehen vom Waschen der Füße“. Durch diesen Zusatz konnte die Fußwaschung Jesu als Reinigungshandlung interpretiert werden, zum Beispiel als wiederholbare Bußhandlung zur Sündenvergebung im Anschluss an die einmalige Taufe (Vollbad). Nach Abschluss der Fußwaschung legt sich Jesus wieder zu Tisch und fordert von allen Anwesenden, dass sie als die Seinen nach seinem Vorbild 283 Fußwaschung Jesu <?page no="284"?> handeln sollen ( Joh 13,14 f). Erneut lässt das Johannesevangelium vieldeu‐ tige Interpretationen zu. Bleibt man beim Verständnis der Fußwaschung als Ausdruck der Liebe, fordert Jesus von seinem Nachfolgekreis, dass auch sie lieben sollen, wie Jesus sie geliebt hat. Auf diese Weise werden sie teilhaben an der Liebe Jesu (13,1.8) und an der Liebe Gottes, die Jesus den Menschen bringt (vgl. 14,15.21.23.28; 15,9 f; 16,27). Deshalb gilt auch, dass Menschen, welche die Jüngerinnen und Jünger Jesu aufnehmen, mit diesen zugleich Jesus und Gott aufnehmen (13,20). Liebe als Erkennungszeichen Gott schickt Jesus, weil er die Welt liebt ( Joh 3,16). Durch sein Handeln und Lehren, ja durch sein gesamtes Leben und Sterben bringt Jesus die Liebe Gottes zu den Menschen. Die Liebe ist im Johannesevangelium nicht nur Inhalt der Sendung Jesu, sondern sie wird auch zum Auftrag für alle, die Jesus nachfolgen. Im Rahmen der weiteren Belehrungen gibt Jesus den Seinen das Gebot der gegenseitigen Liebe: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (13,34 f). An der gegenseitigen Liebe sollen alle Menschen erkennen, dass sie zu Jesus gehören. Im Vergleich zum Nächsten- und Feindesliebegebot, die wir aus den synoptischen Evangelien kennen, klingt die Forderung der Geschwisterliebe nach einer elitären und lediglich um die Mitglieder der eigenen Gruppe besorgten Gemeinschaft. Doch diese Annahme wird dem johanneischen Bild der Nachfolge nicht gerecht. Indem sich die Jüngerinnen und Jünger gegenseitig aktiv ihre Liebe erweisen, wird die Liebe Jesu und Gottes bei ihnen erfahrbar. Ihre Liebesgemeinschaft ist der bleibende Wohnort der göttlichen Liebe in der Welt und für die Welt (17,18-26). Dass dies auch die Nächstenliebe einschließt, setzt das Johan‐ nesevangelium als selbstverständlich voraus (12,8; 13,29; 1 Joh 3,16-18). 284 7.6 Fußwaschung (Joh 13) <?page no="285"?> Impulse ■ Untersuchen Sie: Welche verschiedenen Bedeutungen bekommt in Joh 6 das „Brot“, und wie kann die Aussage Jesu: „Ich bin das Brot des Lebens! “ verstanden werden? ■ „Ubi caritas et amor, deus ibi est“, so lautet ein bekanntes Taizé-Lied. Inwiefern lassen sich damit auch die Theologie und Ethik des Johanne‐ sevangeliums charakterisieren? ■ Die Forderung der geschwisterlichen, gegenseitigen Liebe setzt voraus, dass allen Menschen - unabhängig von ihrem Besitz, gesellschaftlichen Status oder Ähnlichem - die Fähigkeit zugestanden und die Verantwor‐ tung übertragen wird, sich solidarisch zu verhalten und damit eine zentrale Aufgabe für die Gemeinschaft zu übernehmen. Was bedeutet das für das Menschenbild und die zwischenmenschlichen Beziehungen? ■ Welche Impulse kann die explizite Aufforderung Jesu zur Gegenseitig‐ keit für diakonisches Handeln heute enthalten? Literatur Jerusalemer Talmud. H E N G E L , Martin, N E U S N E R Jacob & S C HÄF E R , Peter 1986: Überset‐ zung des Talmud Yerushalmi I. Seder Zeraim. Traktat 2: Pea - Ackerecke, Tübingen: Mohr Siebeck. H E N T S C H E L , Anni 2022: Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium. Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament (im Druck). Tübingen: Mohr Siebeck. P O P K E S , Enno E. 2005: Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften: Zur Semantik der Liebe und zum Motivkreis des Dualismus. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 197. Tübingen: Mohr Siebeck. S C H O L T I S S E K , Klaus 2021: „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ ( Joh 15,13). Die hellenistische Freundschaftsethik und das Johannesevangelium. In: Ders. und Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.): Diakonie biblisch. Neutestamentliche Orientierungen. Biblisch-Theologische Studien 188. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 161-190. S T E M B E R G E R , Günter 2010: Die Mekhilta de-Rabbi Jishmaʿel. Ein früher Midrasch zum Buch Exodus, Berlin: Verlag Welt der Religionen. 285 Impulse <?page no="286"?> S T E M B E R G E R , Günter 2015: Talmud. In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 32318/ (Zugriffsdatum: 9. 5. 2021). S T E M B E R G E R , Günter 2019: Mekhilta. In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 200676/ (Zugriffsdatum: 9. 5. 2021). 286 7.6 Fußwaschung (Joh 13) <?page no="287"?> 7.7 Taufe, Herrenmahl und Diakonie (1 Kor 10 - 12) Klaus Scholtissek Der ↗ Apostel Paulus greift in 1 Kor konkrete Herausforderungen und Kon‐ flikte in der von ihm gegründeten Gemeinde auf. In den Antworten, die Pau‐ lus auf Fragen aus der Gemeinde gibt, entwickelt er sein Gemeindeverständ‐ nis. Die Basis dafür ist die den Korinther*innen vertraute Kommunikation des Evangeliums durch Paulus aus der Zeit seines Gründungsaufenthalts (ca. 50-51 n. Chr.). Paulus entwickelt Antworten auf zentrale Konfliktfelder, indem er auf das vom „Herrn“ empfangene und von ihm verkündete Evan‐ gelium zurückgreift (1,1-9; 11,23; 15,1) und daraus verbindliche Kriterien ableitet. Gemeinde und Gemeinschaft (1 Kor 1,1 - 9) Konform mit den zeitgenössischen Briefkonventionen präludieren die Ein‐ gangsverse des 1 Kor wichtige Leitthemen des ganzen Briefes: Schon die Briefadresse „an die Gemeinde Gottes“ benennt eine zentrale theologische Aussage: Die vom Apostel Paulus gegründete Gemeinde in der Hafenstadt Korinth ist originär und elementar Gemeinde Gottes. Dreimal verwendet Paulus in den ersten neun Versen das Verb „berufen“ (kaléō) und einmal das dazugehörige Kompositum „Gemeinde“ (ekklēsía): für seine eigene Berufung zum Apostel Jesu Christi, für die Gemeindeglieder als „berufene Heilige“, für die Berufung der Gemeindeglieder zur „Gemeinschaft Jesu Christi“ und für die „Gemeinde“, die Paulus mit der Ursprungsbedeutung als die „Berufene“ bzw. „Herausgerufene“ charakterisiert. „Gemeinde“ im Sinne des Paulus ist zuerst die von Gott berufene Gemein‐ schaft, die durch „die Gnade Gottes“ (1,4), „das Zeugnis Christi“ (1,6) und die Verkündigung des Paulus ins Leben gerufen wurde (vgl. 1,26). Paulus führt dann zwei weitere grundlegende Bestimmungen der „Gemeinde Gottes“ an: Die Gemeinde hat „keinen Mangel … an irgendeiner Gnadengabe“ (1,7). Damit wird ein Konflikt intoniert, den Paulus in 1 Kor 12 ausführlich aufgreift. Vers 9 betont die Treue Gottes, „durch den ihr berufen seid zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus“. <?page no="288"?> Taufe und Geistesgaben Beunruhigt von Nachrichten „durch die Leute der Chloë“ (vielleicht die Leiterin einer der korinthischen Hausgemeinden) sieht Paulus die von ihm gegründete Gemeinde in ihrer Identität bedroht: Offensichtlich gibt es „Spaltungen“ und „Streit“ in der Gemeinde (1 Kor 1,10-17), die im Zusam‐ menhang mit dem Verständnis der Taufe stehen (→ 5.3 Konkurrenz und Macht). Die Taufe wird missverstanden, wenn dem Taufenden als Person bzw. als Vertreter einer „Partei“ eine besondere Bedeutung zugemessen wird. Die Taufe gründet vielmehr in der Sendung Jesu Christi, in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi. In seinem Auftrag und Namen werden Glaubende, die die Verkündigung des Evangeliums annehmen, getauft. Die Taufe auf Christus, der selbst nicht „zerteilt“ ist (1,13), ist der Grund für die Einheit aller Getauften. „Spaltungen“ konterkarieren den Grund und das Ziel der Taufe im Sinne des Paulus. Die „Gemeinde Gottes“ ist keine monolithische Größe: Paulus betont im Gegenteil die in der Taufe gründende, lebendige und komplementäre Vielfalt in der Gemeinde. Diese entfaltet er sehr anschaulich in 1 Kor 12. Die Verse 4-6 stellen diese Botschaft in hoher Kunstfertigkeit vor Augen: ■ 4: Zuteilungen / Unterschiede (diairéseis) aber der Gnadengaben (charis‐ máta) gibt es, aber (es ist) ein und derselbe Geist (pneúma). ■ 5: Und Zuteilungen / Unterschiede der Dienste (diakoníai) gibt es, und (es ist) ein und derselbe Herr (kýrios). ■ 6: Und Zuteilungen / Unterschiede der Wirkkräfte (energemáta) gibt es, aber (es ist) ein und derselbe Gott (theós), der wirkt alles in allen. Die Komposition der drei Sätze hat definitorischen Charakter: Paulus möchte die konkreten Geisterfahrungen in der Gemeinde und die Konflikte, die sich daran entzünden können, ordnen und verbindlich deuten. Paulus verwendet das Wort diairéseis gezielt, um beide Bedeutungen „Zuteilungen“ und „Unterschiede“ hervorzuheben: Es geht um den Gabecharakter und um die Vielfalt aller geistgeführten Wirklichkeit in der Gemeinde. Paulus nennt die unterschiedlichen „Zuteilungen“ in der Gemeinde: „Gnadengaben“, „Dienste“ und „Wirkkräfte“. Der abschließende Relativsatz in 1 Kor 12,6 bietet eine Klarstellung: Dass Gott „alles in allen wirkt“, fasst die Zuordnung von Einheit und Vielheit sowie Ursache und Wirkung zusammen. Gott allein ist Ursache und Einheitsgrund ausnahmslos aller vielfältig wirksamen Kräfte. In Analogie 288 7.7 Taufe, Herrenmahl und Diakonie (1 Kor 10 - 12) <?page no="289"?> zum Wirken Gottes durch seinen Geist und durch Jesus Christus stehen die in der Taufe zugeeigneten „Gnadengaben“, „Dienste“ und „Wirkkräfte“ weder additiv noch in Konkurrenz zueinander: Paulus spricht von komple‐ mentären Kräften bzw. Aspekten derjenigen Gaben, die alle auf Gott als einen und einzigen Geber verweisen. In 1 Kor 12,13 formuliert Paulus eine kurzgefasste Tauftheologie und -erinnerung: „Denn durch einen Geist sind wir alle in den einen Leib getauft worden, ob Juden oder Griechen, ob Sklaven oder Freie, und alle sind wir mit dem einen Geist getränkt worden.“ Taufe ist die Eingliederung in den einen „Leib Christi“. Jüdinnen und Griechinnen, Sklavinnen und Freie werden mit dem einen Geist Gottes „getränkt“, also begabt und ausgerüstet. Mit diesen beiden Oppositionen greift Paulus klassische Gruppenzuordnungen auf mit dem Ziel, sie durch die Geistbegabung und die Eingliederung in den Leib Christi zu unterlaufen und außer Kraft zu setzen. Dieser Vers zeigt deutlich, auf welcher theologischen Grundlage er das Gleichnis vom Leib und den vielen Gliedern, das er aus der Literatur seiner Zeit aufgreift, interpretiert. Leib Christi und Gemeinschaft Paulus entfaltet die in 1 Kor 1,9 angesprochene „Gemeinschaft mit Jesus Christus“ im Zusammenhang mit dem „Herrenmahl“ (kyriakón deípnon; 11,20): Anlass dafür ist der virulente Konflikt um die Teilnahme einiger Gemeindeglieder an traditionellen Kultmählern, in denen Opferfleisch ge‐ meinschaftlich verzehrt wird (vgl. 10,14-22 ↗ Opfer → 5.5 Essen und Trinken). Paulus fordert hier eine scharfe Abgrenzung und brandmarkt die Teilnahme an diesen Kulten in der Tradition biblischer Polemik als Götzendienst und Teilhabe „am Tisch der Dämonen“. In seiner Argumen‐ tation entwickelt Paulus Antithesen: „Gemeinschaft (koinonía) des Blutes Christi“ (bzw. „des Leibes Christi“; 10,16) versus „Teilhaber (koinonoús) der Dämonen“ (10,20; vgl. 10,18), „Kelch des Herrn“ versus „Kelch der Dämonen“ und „Tisch des Herrn“ versus „Tisch der Dämonen“ (10,21). Entscheidend ist für Paulus das Leitwort „Gemeinschaft“, das in 10,16 zweimal begegnet. Zu diesem Leitwort gehört in 10,14-22 ein semanti‐ sches Netz (vgl. „Teilhaber“ in 10,18.20 und „teilhaben“ in 10,17.21). In der korinthischen Kontroverse über die Teilnahme an Kultmählern sieht Paulus sich herausgefordert, sein Verständnis von „Gemeinschaft mit Jesus Christus“ klarer zu profilieren - einerseits durch polemische Abgrenzung, 289 Leib Christi und Gemeinschaft <?page no="290"?> andererseits durch inhaltliche Bestimmung: Für ihn bietet das Herrenmahl hierzu den geeigneten Schlüssel. Deshalb stellt er zwei rhetorische Fragen: „Der Kelch des Segens, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? “ (10,16). Von der Mitte der Herrenmahlfeier her gedacht versteht Paulus „Gemeinschaft mit Jesus Christus“ als personale Begegnung mit dem auferstandenen Jesus Christus selbst, als Gemeinschaft mit dem „Herrn“, dessen Sendung von Gott durch die stellvertretende Lebenshingabe hindurch zur Auferweckung aus den Toten geführt wurde. Paulus versteht diese im Herrenmahl gefeierte „Gemeinschaft mit Jesus Christus“ nicht individualistisch, sondern gemeinschaftsstiftend: „Denn ein Brot ist’s. So sind wir, die vielen, ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben“ (10,17). In dem anschließenden Kapitel 11 kommt Paulus erneut auf die Feier des Herrenmahls zu sprechen: Im Konflikt um die Unterscheidung und Trennung von Sättigungsmahl und Herrenmahl zitiert er ausführlich die Herrenmahlüberlieferung, die er selbst „vom Herrn empfangen“ und den Ko‐ rinthern bei seinem Gründungsaufenthalt „übergeben“ hat (vgl. 11,23-26). Mit diesen Versen erinnert Paulus an das letzte Mahl Jesu am Abend vor seinem Tod im engsten Jüngerkreis und deutet mit den Gesten und Worten Jesu das Herrenmahl als Feier der österlichen Gemeinschaft mit dem erhöhten Jesus selbst und als gemeinschaftliche Kommunikation des stellvertretend-rettenden Todes Jesu. Diakonie in der „Gemeinde Gottes“ Die Gemeinde in Korinth existiert und lebt grundlegend aus der Berufung Gottes in der Sendung Jesu Christi. Jesu in der Lebenshingabe gipfelnde Proexistenz wird in der Auferweckung durch Gott bestätigt. Als auferweck‐ ter und erhöhter „Herr“ beruft er Paulus als Apostel: Die geistgeführte Verkündigung dieses Evangeliums führt zur Gründung bzw. zum Wachstum der Gemeinde in Korinth. Die in der Taufe zugeeigneten Geistesgaben rüsten die Gemeindeglieder bzw. die Gemeinde zu - sie sind ihre elementare und ausreichende Grundausstattung. Im Herrenmahl vergegenwärtigt und feiert die Gemeinde ihren erhöhten Herrn in der Weise, dass die Gemeindeglie‐ der aus der stellvertretenden Lebenshingabe und Gemeinschaft mit Jesus Christus gestärkt als lebendige Glieder des Leibes Christi leben und wirken können. 290 7.7 Taufe, Herrenmahl und Diakonie (1 Kor 10 - 12) <?page no="291"?> Dazu sind ihnen komplementäre „Gnadengaben“, „Dienste“ und „Wirk‐ kräfte“ (12,4-6) gegeben. Diese heben bestimmte Aspekte der in der Gemeinde wirkenden Gaben hervor. In 12,5 und nur diese eine Mal in 1 Kor 12 begegnet das griechische Lexem diakoníon (= „Dienste“). Im V 5 werden die „Zuteilungen / Unterschiede der Dienste“ Jesus Christus zu‐ geordnet. Die „Dienste“ haben einen Auftraggeber, in dessen Namen die Beauftragten handeln sollen: In ihrem Handeln wird die Heilsbotschaft Jesu Christi anderen Menschen konkret, sichtbar und spürbar zugewendet und vergegenwärtigt: Von den in 1 Kor 12 aufgelisteten Geistesgaben lassen sich vier am ehesten konkreten „Diensten“ zuordnen: „Wunderkräfte“, „Heilungsgaben“, „Hilfeleistungen“ und „Steuerkräfte“ (12,28). Hier entsteht ein konturiertes Grundbild von „Diakonie“ in der Gemeinde: Innerhalb der vielfältigen Geistesgaben gibt es eine Gruppe von Gaben, die in besonderer Weise den Menschen körperlich, geistig und seelisch nahekommen - durch geistbegabte heilsame menschliche Zuwendung. Impulse ■ Aufmerksame Lektüre von 1 Kor 12: Welche Geistesgaben erwähnt Paulus? Welche sind für heutiges Leben in Gemeinde und Diakonie eher fremd? Welche begegnen Ihnen auch heute? Welche sind versteckt da und brauchen Ermutigung? ■ Wie können Taufe und Abendmahl so gefeiert und gestaltet werden, dass sie die Teilnehmer*innen befähigen, ihre Begabungen wechselsei‐ tig zu entdecken und zu fördern? ■ Einheit und Vielfalt werden in Gesellschaft und christlichen Gemeinden oft als spannungsgeladen und konfliktreich erfahren: Welche Haltun‐ gen und Überzeugungen braucht es, um beide Ziele, Einheit und Vielfalt, fruchtbar werden zu lassen? Literatur L ÖH R , Hermut (Hg.) 2012: Abendmahl. Tübingen: Mohr Siebeck. N I E B U H R , Karl-Wilhelm 5 2020: Die Paulusbriefsammlung. In: Ders. (Hg.): Grundinfor‐ mation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Sammlung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 193-287. 291 Impulse <?page no="292"?> S C H O L T I S S E K , Klaus & N I E B U H R , Karl-Wilhelm (Hg.) 2021: Diakonie biblisch. Neu‐ testamentliche Orientierungen. Biblisch-Theologische Studien 188. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Q U E N S T E D T , Jan 2020: Diakonie zwischen Vereinslokal und Herrenmahl. Das Konzept diakonischen Handelns im Licht antiker Vereinigungen und früher christlicher Ge‐ meinden. Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 31. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag. 292 7.7 Taufe, Herrenmahl und Diakonie (1 Kor 10 - 12) <?page no="293"?> 7.8 Zum Titelbild Jörg Lanckau Wer den halbdunklen Raum der mittelalterlichen Kirche im romanisch‐ sprachigen Waltensburg / Vuorz betritt, wird überrascht von der Fülle der Fresken. Fast scheint es, man könne Stimmen hören, so lebendig wirken die scharf gezeichneten Bilder. Die dramatischen Ereignisse der Passion Jesu sind als Fortsetzungsgeschichte nahtlos und atemberaubend präsent in den frischen Putz der Nordwand des Kirchenschiffes eingetragen. Abendmahl und Fußwaschung, Gefangennahme, Kreuztragung, Vorführung vor Pilatus, Dornenkrönung und Geißelung, Kreuzigung und Grablegung. Im 14. Jh. gab es noch keine Videos, doch so intensiv wie ein Film ziehen die Szenen meditativ vorbei. Inspiriert von zeitgenössischer Passionsliteratur begannen die Menschen, sich in das Leiden Christi einzufühlen, ihm nachzufolgen, ihn gar zu imitieren. Das aus der byzantinischen Welt stammende Bild des über den Tod triumphierenden Christus tritt langsam in den Hintergrund. Unser Titelbild lässt sich entdecken, wenn man die Stufen zur sekundären Empore (aus dem beginnenden 18. Jh.) aufsteigt: Die Szene des letzten Mahles Jesu (Mt 26,20-29 ⫽ Mk 14,17-25 ⫽ Lk 22,14-23 vgl. 1 Kor 11,23-25) präsentiert den dramatischen Moment der Ankündigung des Verrates bzw. der Auslieferung - allerdings mit einem Satz Jesu, der bei den Synoptikern nicht erwähnt ist, dafür aber im Johannesevangelium: „Der ist es, dem ich den Bissen Brot, den ich eintauche, geben werde. Dann tauchte er das Brot ein, nahm es und gab es Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, fuhr der Satan in ihn.“ ( Joh 13,26 f). Der Künstler zeigt Judas im Profil - die mittelalterliche Darstellung des Bösen (N AY / B O LLI G E R 2017: 11). Das Johannesevangelium spielt wiederholt auf das Abendmahl an (v. a. Joh 6). Es erzählt uns aber keine traditionelle Abendmahlsgeschichte mit Deutung vom Brot und Wein am Pessach, sondern verlegt den Tag der Hinrichtung Jesu zurück auf den 14. Nisan des jüdischen Kalenders (hebr. æræv pessaḥ, vgl. Ex 12,6), dem Tag, an dem das makellose Lamm oder Zicklein geschlachtet wird. Damit ersetzt Jesu Tod das Pessachopfer, und der Evangelist kann kein Pessachmahl mehr erzählen, wie es am Abend des Tages, der zugleich der Beginn des 15. Nisan ist, gefeiert <?page no="294"?> wird und so auch aus der synoptischen Tradition bekannt ist. Jesus und Judas haben so nichts mehr gemeinsam - die tragische, blutige Entzweiung der beiden Geschwisterreligionen Judentum und Christentum wird in der späteren Geschichte schrittweise Wirklichkeit werden. Das Johannesevangelium bietet aber auch einen alternativen Ansatz zur Theologie des verschonenden Gottes am Pessach (Ex 12,12 f): Jesus ist der menschgewordene Gott, der alle Verhältnisse radikal umkehrt und den Men‐ schen die Füße wäscht - ein diakonischer Gott, der die Welt verändern will ( Joh 13,4-10 → 7.6 Fußwaschung). Doch diese Szene findet während eines Abschiedsmahles „vor dem Passafest“ statt ( Joh 13,1 f). Das führte in der christlichen Auslegungsgeschichte seit Augustinus von Hippo allmählich zu einer mehrstufigen Vorstellung und Kombination der Erzählungen von Abendmahl und Fußwaschung: „Der Beginn des Mahles wird als eine Art Entree oder Aperitif vorgestellt, auf den die Fusswaschung folgt; erst danach kommt die eigentliche Mahlzeit mit Einsetzungsworten und Verratsansage. Das Bild ist also zuerst von links nach rechts und dann wieder zurück von rechts nach links zu lesen. Der Waltensburger Meister hat die augustinische Abfolge bildlich umgesetzt. Am Ende des Tisches kniet der die Füsse waschende Jesus und blickt zurück auf den Brotspender. Was Texte durch erklärende Abfolge erreichen, gelingt dem Meister in der Gleichzeitigkeit eines einzigen Bildes.“ (N A Y / B O L L I G E R 2017: 12) Das ist mit den Weihnachtskrippen der Volkskunst zu vergleichen, die unbefangen die matthäischen und die lukanischen Erzählungen rund um die Geburt Jesu figürlich vereinen. Der Meister hat die biblischen Szenen aus Joh 13 sehr detailliert ins Bild gesetzt: Im Schoß Jesu liegt der „Jünger, den Jesus liebte“, welchen Petrus erst ansprechen muss, um die Frage nach der Identität des Verräters zu stellen (13,23-25). Die linke Hand Jesu liegt zärtlich auf dessen Kopf, während die Rechte überkreuzend dem Judas den Bissen reicht. Alle Figuren sind durch Blicke eng verbunden, ihre Gesten zeigen die Dramatik der beiden Szenen. Petrus erscheint am rechten Rand des Bildes. Das Konzept eines die nachösterliche Gemeinde führenden Petrus (Mt 16,16-19) wird im Johan‐ nesevangelium auf subtile Weise ironisch kommentiert (z. B. Joh 13,6-10; 20,3-10 → 5.3 Konkurrenz und Macht). Doch der Petrus des Waltensburger Meisters weist den am rechten Ende der Tafel zum zweiten Mal auftauchen‐ den Jesus, der ihm die Füße wäscht, mit der linken Hand nur sanft von sich weg, mit der rechten Hand seine Toga schützend. 294 7.8 Zum Titelbild <?page no="295"?> Die Darstellung Jesu rechts enthält ein theologisch und diakonisch be‐ deutsames Detail: Er ist mit den Füßen fest am Boden verankert, ja im Bildrahmen regelrecht verkrallt (vgl. M ATTI 2010: 36). Das ist ein bodenstän‐ diger, erdverbundener Heiland, der von den Jüngern nebenan aufmerksam beobachtet wird. Der größere Topf, in dem die Füße des Petrus gewaschen werden, ist den Gefäßen auf dem Tisch ähnlich - ein Hinweis darauf, dass die Szene der Fußwaschung durchaus sakramentalen Charakter trägt. Man wird an Lk 22,27 erinnert: „Denn wer ist größer: der bei Tisch Liegende oder der Aufwartende? Nicht der zu Tisch Liegende; und ich bin in eurer Mitte wie der Aufwartende (ho diakonṓn)? “ Es gibt verschiedene Theorien über die Herkunft des unbekannten Künst‐ lers. Er malte al fresco - die wasservermischten Pigmente trug man auf den frischen Putz auf - die Technik ist aus dem Süden der Alpen bekannt. Der Meister zeichnete vor und komponierte, dann malten Gesellen die Flächen aus, ehe der Meister wieder das Finish der Konturen und Details übernahm (N AY / B O LLIG E R 2017: 8). Die Fresken und Gemälde der Kirche kamen erst 1932 bei Renovationen wieder zum Vorschein. Sie war (und ist) evangelisch-reformiert, alle Bilder wurden übermalt. Eine frühe Datierung auf die 1. Hälfte des 14. Jhs. legt der Bezug zur Werkstatt des Meisters Berthold aus Chur nahe. Aber auch der Pestheilige Sebastian und Menschen mit Judenhüten werden gezeigt. 1348 brach die tödliche Pandemie in Grau‐ bünden aus, und Juden wurden wie überall in Europa beschuldigt, daran Schuld zu tragen (vgl. N AY / B O LLI G E R 2017: 33). In Nürnberg lyncht ein Jahr später der Mob seine jüdischen Einwohner*innen, wobei deren Wohnviertel abgerissen und die Synagoge am Hauptmarkt zur Marienkirche umgebaut wird. Vielleicht sind die Bilder entstanden, als die Pandemie noch wütete - was für eine eigenartige Parallele zur heutigen Zeit mit COVID-19, und was für ein Bekenntnis zu einer diakonischen Theologie. Wir danken der Kirchgemeinde Waltensburg / Vuorz herzlich für die Erlaubnis, die Titelseite von BASAD damit zu gestalten, und laden Sie herzlich dazu ein, das künstlerische Kleinod in der rätoromanischen Surselva (Graubünden) einmal persönlich anzuschauen. 295 7.8 Zum Titelbild <?page no="296"?> Literatur M A T T I , Dieter 2010: Nordbünden / Surselva. Alte Bilder - neu gedeutet. Kirchliche Kunst im Passland, Band 3. Chur: Casanova Druck und Verlag, S. 35-38. N A Y , Marc Antoni & B O L L I G E R , Daniel 2017: Die Kirche Waltensburg/ Vuorz und ihre Wandmalereien. Bern: Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK. Museum Meister da Vuorz / Waltensburger Meister: https: / / www.waltensburger -meister.ch/ (Zugriffsdatum: 20. 4. 2021). Adresse: Cadruvi 7, CH-7158 Waltens‐ burg / Vuorz. 296 7.8 Zum Titelbild <?page no="297"?> Glossar Jörg Lanckau Almosen Das deutsche Wort kommt vom griechischen eleēmosýne = „Barmherzig‐ keit“. Dahinter kann sich die Vorstellung der Herablassung zu den Bedürftigen verbergen. In jüdischen Gemeinden spricht man bei Spenden für die Armen von der zədāqāh = „Gerechtigkeit“ → 4.7 Wirtschaft und Geld. Apokalypse, apokalyptisch Diese besonderen Texte enthüllen den Verlauf der Geschichte von der Schöpfung an bis zu ihrem bevorstehenden Ende. Sie erklären, weshalb sich die Situation für die Gottesfürchtigen, die Gläubigen derzeit immer weiter verschlimmert: Die Wende zu einem neuen, besseren und gerechteren Weltalter bzw. Äon steht bevor. Die irdische Geschichte hat ein himmlisches Pendant: Die Kämpfe der Völker werden im Himmel durch die Engel dieser Völker geführt und letztlich entschieden. Die Texte werden oft einem bekannten Verfasser zugeschrieben, der nicht der Autor sein kann (z. B. Henoch, Esra), sind also pseudepigraphe Schriften. Oft enthalten sie Prophezeiungen, die erst nach dem Eintreffen des geweissagten Ereignisses abgefasst wurden - sogenannte vaticinia ex eventu → 7.5 Weltgericht. Apokryphen, apokryph Mit diesen im Christentum gebräuchlichen Begriffen sind jene „verborgenen“ Schriften bezeichnet, die nicht zum ↗ Kanon gehören, d. h. nicht öffentlich in den Gottesdiensten vorgelesen, sondern z. B. im Unterricht gebraucht wurden. Sie nennt man auch neutestamentliche Apokryphen, und manchmal waren sie in ihrer Bedeutung umstritten. In der antiken Umwelt des frühen Christentums konnte Apokryphon aber auch Offenbarungen bezeichnen, die nur für „Eingeweihte“ bestimmt waren. Solche Schriften sind von der spiri‐ tuellen Bewegung der ↗ Gnosis bekannt. Im Judentum spricht man eher von den „außenstehenden Büchern“ und meint damit jene griechischen Texte der Septuaginta ↗ LXX ohne hebräisches Äquivalent, die im frühen Christentum als Teil des Kanons verstanden wurden. In der Reformationszeit (16. Jh. n. Chr.) bezog man sich aber wieder auf die hebräischen Schriften des Alten Testaments und bezeichnete die zusätzlichen, griechischen Schriften als alttestamentliche Apokryphen. Diese sind gemeint, wenn heute im evangelischen Bereich Bibeln mit oder ohne Apokryphen erhältlich sind. Die römisch-katholische Kirche spricht hier von den deuterokanonischen Schriften, d. h. jene, die einen „zweiten Kanon“ bilden → 1.2 Was ist die Bibel? <?page no="298"?> Apostel Der griech. Begriff apóstolos bedeutet „Abgesandter“ oder „Sendbote“. Im christlichen Kontext war er zunächst nicht nur auf den die Stämme Israels reprä‐ sentierenden Kreis der zwölf Schüler Jesu begrenzt. Zum genauen Wortgebrauch und zum Verständnis → 5.1 Ämter und Funktionen. Beeinträchtigung und Behinderung Beeinträchtigung ist eine längerfristige Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustand. Die biblischen Texte benennen zum einen solche physischen und psychischen Einschränkun‐ gen bestimmter Personen und beschreiben zum anderen ihre damit zusammen‐ hängenden sozialen Probleme. Der Begriff „Behinderung“ ist bestimmt durch die Wechselwirkung von persönlichen Beeinträchtigungen und einstellungsbzw. umweltbedingten Barrieren in der Gesellschaft. Zu einer Behinderung kommt es erst, wenn die Beeinträchtigung eines Menschen so unzureichend unterstützt wird, dass gesellschaftliche Barrieren die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft verhindern. Die biblischen Texte versuchen in vielfältiger Weise, zu solcher Unterstützung für Menschen mit Beeinträchtigungen zu motivieren und dadurch Behinderungen zu vermeiden. Zur Definition der Weltgesundheits‐ organisation WHO: https: / / apps.who.int/ gb/ ebwha/ pdf_files/ WHA66/ A66_R9-e n.pdf, für Deutschland auch die Definition im Sozialgesetzbuch IX. Buch § 2: https: / / www.gesetze-im-internet.de/ sgb_9_2018/ __2.html). → 3.6 Menschen mit Behinderung Biblia Hebraica, Hebräische Bibel Damit wird im christlichen, manchmal auch im jüdischen Bereich der ↗ Tanach bezeichnet, der allerdings auch aramäische Texte enthält. Die weit verbreitete Bezeichnung Biblia Hebraica ist daher nicht ganz korrekt → 1.2 Was ist die Bibel? Corpus Paulinum Der 1. Thessalonicherbrief, der 1. und 2. Korintherbrief, der Galaterbrief, der Philipperbrief, der Philemonbrief und der Römerbrief gelten als protopaulinische, d. h. von Paulus direkt verantwortete Briefe. Der 2. Thessa‐ lonicherbrief, der Kolosserbrief und der Epheserbrief werden meist der ersten Schülergeneration zugerechnet; der 1. und 2. Timotheusbrief und der Titusbrief erst der übernächsten Generation → 1.2 Was ist die Bibel? Diakonie → 1.1 Begriffsklärungen. Diakon*in → 5.1 Ämter und Funktionen. Elohim (hebr. formal im Plural „Götter“) ist im ↗ Tanach die Bezeichnung für Gott. Sie wird meist mit einem Verb im Singular für ↗ JHWH gebraucht. Wenn von anderen Göttern die Rede ist, steht das Verb im Plural. Der Begriff erinnert an den kanaanäisch-syrischen Schöpfergott El. Dieser höchste Gott eines Götterrates wurde im antiken Israel bzw. Juda mit JHWH identifiziert. Nachexilisch wurde die Vielzahl der Götter zu einem einzigen Gott zusammen‐ 298 Glossar <?page no="299"?> geführt. Die Septuaginta ↗ LXX übersetzt mit „der Gott“ (ho theós). Im Islam wird der arabische Ausdruck für „die Gottheit“ (al-’ilāh) durchaus als Eigenname verstanden, während arabischsprachige Juden und Christen damit allgemein Gott bezeichnen → 2.1 Ansätze biblischer Theologie. Ethik ist das verallgemeinerungsfähige Nachdenken über Formen, Begründungen und Ziele des Handelns. Sie dient nachträglich der Überprüfung von Verhalten (Tun und Unterlassen) und vorausblickend als Orientierung und Entscheidungs‐ hilfe, indem anhand kommunizierbarer Kriterien ein Verhalten als gut oder besser bewertet wird. Von einer „narrativen Ethik“ spricht man, wenn das ethische Nachdenken durch die Form einer Erzählung (z. B. in Gleichnissen) geschieht. Figuren, die in Raum und Zeit handeln, laden die Lesenden auch emotional ein, sich mit ihnen zu identifizieren oder sich von ihnen abzugrenzen und auf diese Weise die Begründungsmaßstäbe des eigenen Handelns zu reflektieren → 2.4 Ansätze biblischer Ethik. Eschatologie, eschatologisch Der Begriff meint die Lehre von den „letzten Dingen“, d. h. vom Ende der Welt oder vom Ende des individuellen Lebens inkl. der Frage nach den Geschehnissen oder einem Leben „danach“ → 7.5 Weltgericht. Exegese Das griech. Wort exḗgesis („Auslegung“, „Erläuterung“) meint allgemein die Interpretation von Texten. Biblische Exegese untersucht biblische Texte, um Aussagen und Inhalte, historische und textlichen Zusammenhänge zu erfassen. Die im 19. Jh. entwickelte „historisch-kritische Methode“ hat zum Ziel, einen biblischen Text in seinem damaligen historischen Kontext auszulegen, wobei die Rekonstruktion der vermuteten Vorgeschichte des Textes eine besondere Rolle spielte. Sie ist heute aber nur eine von mehreren Methoden, einen Text zu verstehen ↗ Hermeneutik. Fundamentalismus (lat. fundamentum „Unterbau“) ist eine Reaktion gesellschaft‐ licher Gruppen auf die Moderne und stellt insofern ein modernes Phänomen dar. Fundamentalist*innen halten weitgehend kompromisslos an weltanschaulichen Grundsätzen fest, was auch das politische Handeln umfasst. Im amerikanischen Protestantismus entstanden, bezieht sich der Begriff im christlichen Bereich auf die Überzeugung, die Bibel sein als unmittelbares Wort Gottes irrtums- und fehlerfrei → 1.2 Was ist die Bibel? Gnosis, gnostisch Mit dem griech. Wort gnṓsis „Kenntnis“ bzw. „Wissen“ werden verschiedene religiöse Lehren und Gruppierungen des 2. und 3. Jhs. n. Chr. inkl. ihrer Vorläufer gekennzeichnet. Sie alle einigt die Lehre, dass sich eine „gute Gottheit“ in vielfachen Abstufungen und Ausströmungen (Emanationen) entfal‐ tet. Die sichtbare Welt inkl. der minderwertigen, „fleischlichen“ Menschen aber schuf ein böser „Demiurg“, indem er das zur göttlichen Oberwelt gehörende 299 Glossar <?page no="300"?> Pneuma mit der „bösen Materie“ vermischte. Die Befreiung des Menschen aus diesem Gefängnis wird durch gnṓsis seines kosmischen Geschicks und der Göttlichkeit seines eigenen Selbst erreicht. Die uneinheitliche, spirituelle Strömung entwickelte sich zur Konkurrenz des frühen Christentums. Einige ihrer Positionen waren aber auch innerhalb christlicher Gemeinden heimisch, werden aber im Neuen Testament abgelehnt. Eine bekannte gnostische Schrift ist z. B. das Thomasevangelium, welches Jesus bereits zu Beginn geheime Worte der Erlösung sprechen lässt, die nur von Eingeweihten aufgenommen werden dürfen. Hebräische Bibel ↗ Biblia Hebraica ↗ Tanach. Hellenismus, hellenistisch Der Ausdruck bedeutete ursprünglich nur, die allge‐ mein-griechische Sprache (koinḗ) zu beherrschen. Herodot (490 / 480-424 v. Chr.) formulierte im Kontext eines Appells zu gemeinsamen Kriegsvorbereitungen griechischer Stadtstaaten gegen die persische Übermacht eine übergreifende Identität als Hellenikón: „die Gleichheit des Blutes und der Sprache, die gemein‐ samen Heiligtümer und Riten und die gleich ausgerichteten Sitten …“ (Historien 8,144). Während die materiale Kultur den Orient bereits im 2. Jt. v. Chr. erreichte, stießen die Feldzüge Alexanders des Großen (356-332 v. Chr.) intensive Prozesse kultureller Transfers, Verflechtung und Hybridisierung im östlichen Mittelmeer‐ raum und Vorderem Orient an. Öffentliche Bauten und Inschriften orientierten sich an griechischen Vorbildern. Die Herrschenden sprachen koinḗ. Lokale Dia‐ lekte wurden in den privaten Bereich abgedrängt. Die Etablierung des Imperium Romanum unter Folge des Zusammenbruchs der hellenistischen Staaten beendet diese Epoche im 1. Jh. v. Chr.zwar politisch, nicht aber kulturell. Das Judentum verhielt sich dazu uneinheitlich: Strikte Ablehnung (vgl. Makkabäerbücher) und selbstverständliche Aufnahme griechischer Kultur (Prediger, hebr. Kohelet) sind parallel zu beobachten. Das Neue Testament wird im Original in der koinḗ verfasst, die christliche Mission findet zu großen Teilen im hellenistischen Kulturraum statt → 3.2 Bildung und Erziehung. Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen, insofern eine Theorie der Interpretation von Texten. Der Begriff ist neuzeitlich. Griech. hermēneúeō bedeutete in der Antike und im Mittelalter, grundlegende Texte, z. B. die Bibel oder Gesetze, reflektiert und kunstvoll auszulegen (↗ Exegese). In der Neuzeit wurde zudem nach philosophischen Voraussetzungen und Methoden sachgerechter Interpreta‐ tion gefragt. Umstritten bleibt, ob Verstehen etwas Unmittelbares ist, das aller bewussten Reflexion vorausgeht und aller Erkenntnis und dem diskursiven Denken zugrunde liegt. JHWH ist der unvokalisierte Eigenname des Gottes Israels im ↗ Tanach (6828 Be‐ lege). Der aufgrund seiner vier Buchstaben „Tetragramm“ genannte Gottesname 300 Glossar <?page no="301"?> ist ab dem 9. Jh. v. Chr. auch außerbiblisch belegt. Zudem existieren diverse Kurz‐ formen wie jh oder jhw. Vokalisation bzw. Aussprache sind unsicher. Hinweise bieten z. B. die auf -jahu endenden jüdischen Personennamen, z. B. Jeschajahu ( Jesaja), der in bestimmten Psalmen belegte Gebetsruf Hallelu-Jah sowie außer‐ biblische Texte. Um das Gebot Ex 20,7 („Missbrauche nicht den Namen …“) nicht unabsichtlich zu verletzen, wurde der Name bereits in hellenistisch-römischer Zeit umschrieben. Die Tempelzerstörung im Jahr 70 n. Chr. beendete die Praxis, dass der Hohepriester am Jom Kippur (Versöhnungstag) den Namen aussprach, übertönt vom Gesang der Leviten. Ab dem 2. Jh. n. Chr. wird der Name in Judentum nicht mehr genannt, das Wissen um die ursprüngliche Aussprache ging vorloren. In mittelalterlichen Handschriften wird das Tetragramm mit den Voka‐ len ə-o-ā der Umschreibung „mein Herr“ (ǎdonāj) versehen, je nach Kontext auch mit ə-o-i für „Gott“ (älōhîm) oder mit ə-a für „Name“ (jüdisch-aramäisch šəmā’, hebr. šem). Heute wird ǎdonāj überwiegend als Gebetsanrede gebraucht und beim Vorlesen oder mündlicher Konversation „der Name“ (Ha-Schem) verwendet. Die bereits um 1800 aus dem griechischen Iaoué u. a. außerbiblischen Belegen rekonstruierte und daher historisch durchaus mögliche Aussprache Jahwe oder das die mittelalterliche Vokalisation missverstehende Jehova sollten u. E. in der mündlichen Konversation nicht verwendet werden. (→ 2.1 Ansätze biblischer Theologie) Kanon, kanonisch Wörtlich „Maßstab“ oder „Regel“, meint ein Kanon in der Literatur eine bestimmte weit anerkannte und auch verbindliche Sammlung. Die als Glaubens- und Lehrgrundlage anerkannten Schriften des Judentums und Christentums werden daher jeweils auch als Kanon bezeichnet. Der kanonische Text ist dabei die Endgestalt der jeweiligen Schriften, die nicht mehr verändert wird. Zugleich wurde der Begriff „Kanon“ aber im Christentum auch im Sinne einer verbindlichen Regel des Glaubens und Lebens verwendet, nicht nur für die Auswahl von Schriften → 1.2 Was ist die Bibel? Kodex, Codex Das lat. Wort bedeutet u. a. „Baumstamm“, „Buch“ oder „Heft“. Kodizes (pluralische Form) waren Stapel beschrifteter Holz- oder Wachstafeln. Gefaltete oder geheftete Papyrus- oder Pergamentblätter wurden in einer weite‐ ren Entwicklungsstufe von zwei Holzbrettchen umschlossen. Diese Form setzte sich ab dem 4. Jh. n. Chr. als führende Buchform der Spätantike gegenüber der Schriftrolle durch, denn so konnten Querverweise leichter nachgeschlagen wer‐ den. Dies war für die christliche Schriftauslegung und Beweisführung wichtiger als für die jüdische Tradition → 1.2 Was ist die Bibel? LXX Die römische Zahl steht für die seit Augustinus von Hippo (354-430 n. Chr.) so bezeichnete Septuaginta, die „Bibel der Siebzig“. Begonnen als jüdische Überset‐ 301 Glossar <?page no="302"?> zung der ↗ Tora für die Diaspora in Alexandria (Ägypten), entwickelte sich die Texttradition eigenständig weiter. Nach der Tempelzerstörung im Jahr 70 n. Chr. drifteten Judentum und Christentum deutlich auseinander: Die griechischen Texte wurden im Judentum umso mehr abgelehnt, als sie im Christentum zur Begründung des messianischen Anspruchs Jesu gebraucht wurden. Die Septua‐ ginta wurde in Folge zur Heiligen Schrift des Christentums, dem späteren Alten Testament. Sie belegt noch heute, dass es keinen singulären „Urtext“ der Bibel gibt, da ihre Quellen nicht mit dem mittelalterlichen hebräischen Text des ↗ Tanach übereinstimmen → 1.2 Was ist die Bibel? Metapher, metaphorisch Das griech. Wort metaphorá „Übertragung“ bezeich‐ net einen als Stilmittel gebrauchten Ausdruck, bei dem ein Wort oder eine Wortgruppe aus seinem bzw. ihrem eigentlichen Bedeutungszusammenhang in einen anderen übertragen wird. Dabei gibt es keinen direkten Vergleich von Bezeichnendem und Bezeichnetem: „Herkules ist ein Löwe“ steht für die Aussage „Herkules ist so stark wie ein Löwe“. Opfer Ein Opfer (lat. offere „darbringen“) ist im religiösen Sinn die Darbringung materieller, belebter oder unbelebter Objekte an eine übergeordnete Macht, speziell einer Gottheit. Umgangssprachlich wird Opfer auch für Geschädigte aller Art verwendet (z. B. „Unfallopfer“). Opfer als Handlungen sind in nahezu allen Religionen zu beobachten. Dazu wurden sehr unterschiedliche religionswis‐ senschaftliche Theorien aufgestellt. Viele davon bezeichnen Opfer als rituellen Handlungen, die dazu dienen, die Ordnung der Welt zu erhalten. In der Bibel sind verschiedene Formen erwähnt wie das Brandopfer von Tieren für ein Gemeinschaftsmahl oder als Ganzopfer, Opfer zur Entsündigung von Menschen nach Übertretungen sowie Speiseopfer zur Versorgung der Priesterschaft. Men‐ schenopfer werden abgelehnt. Tiere wurden bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. geopfert. In der biblischen Prophetie herrscht aber bereits die Vorstellung, dass das ethisch verantwortliche Handeln der Menschen allen Opfern vorzuziehen ist (z. B. Jes 1,11-17). Im heutigen Judentum gilt das Gebet, die Gebotserfüllung und das Studium der Tora als genügendes Opfer. Die Vorstellung einer Mahlgemeinschaft zwischen Gott und den Opfernden wird im Christentum fortgesetzt (→ 5.5 Essen und Trinken, → 7.7 Taufe, Herrenmahl und Diakonie). Der Tod Jesu am Kreuz wird mitunter als Opfer verstanden (vgl. Hebr 10,10), wobei die theologischen Vorstellungen hier bis heute weit auseinander gehen. Parallelismus (membrorum) Eine „Nebeneinanderstellung“ (griech. parallēli‐ smós) ist eine poetische Stilfigur, wobei z. B. Teilsätze dieselbe Abfolge von Satzgliedern aufweisen. Das antike Gestaltungsprinzip kann z. B. Antithesen 302 Glossar <?page no="303"?> bezeichnen: „Denn Reden bringt Ehre, aber Reden bringt auch Schande“ (Sir 5,15), aber auch tautologisch verwendet werden: „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? “ (1Kor 15,55). Wenn zwei aufeinanderfolgende Zeilen zusammen einen Gedanken bzw. Aussage formen, und Gleiches mit jeweils anderen Worten ausgedrückt wird, spricht man von einem Parallelismus membrorum. Die Formu‐ lierungen können synonym, polar, synthetisch, antithetisch oder, wie hier im Beispiel, chiastisch gestaltet sein: „Mein Gott, ich rufe bei Tage, und du antwortest nicht; und bei Nacht, und mir wird keine Ruhe.“ (Ps 130,6 f) → 7.5 Weltgericht. Pharisäer, Schulen im antiken Judentum Die Pharisäer (hebr. pərušîm „Ab‐ gesonderte“, griech. pharisaíoi) waren eine theologische, philosophische und politische Schule im antiken Judentum. Sie entstammten der breiteren Bewegung der „Hasidäer“ bzw. „Chassidim“ („Fromme“), die gegen die hellenistische Reform des Seleukidenherrschers Antiochos IV. Epiphanes (175-164 v. Chr.) Widerstand leistete. Neben ihnen erwähnt der Geschichtsschreiber Josephus noch die Essener und die militärischen Widerstandsgruppen der Zeloten und Sikarier als „Philo‐ sophenschulen“. Die Pharisäer bewahrten die prophetische Tradition und wollten die ↗ Tora im Alltag leben. So unterschiedenen sie sich deutlich von den den Sadduzäern, die die Priesterschaft stellten und sich mehr auf die kultischen Gebote der Tora stützten und die Prophetenbücher wohl nicht als heilige Schriften verstanden. Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. waren die Pharisäer die treibende Kraft für das rabbinische Judentum. „Schriftgelehrte“ unter ihnen sind allerdings nur solche, die auch lese- und schreibkundig waren. Jesus und Paulus wuchsen beide im pharisäischen Milieu auf. Im Neuen Testament werden die Pharisäer allerdings mitunter als Heuchler kritisiert und herabgewürdigt, wobei diese Polemik die nach 70 n. Chr. zunehmende Entfernung und inhaltliche Auseinandersetzung zwischen Christentum und Judentum spiegelt und somit nicht als historisch gelten kann. Gleichwohl hatte diese Polemik fatale Folgen und muss heute als überholt angesehen werden. Die Pharisäer erscheinen auch als Diskussionspartner Jesu, dessen Positionen zur Tora sich auch in pharisäischen Schulen finden (vgl. Mt 5-7). Nicht zuletzt schenkte ihm wohl ein Pharisäer sein eigenes Grab ( Joh 19,38-42). Qumran Die „Schriftrollen vom Toten Meer“ oder „Qumran-Handschriften“ sind eine Gruppe von antiken jüdischen Texten, die aus elf Höhlen nahe der ar‐ chäologischen Stätte Khirbet Qumran im Westjordanland stammen - nach der Reihenfolge ihrer Entdeckung als 1Q-11Q bezeichnet. Sie bestehen überwiegend aus Pergament oder Leder, aber auch Papyrus (pap) oder als beschriebene Tonsch‐ erbe (ostr für „Ostrakon“). paleo bezeichnet die Verwendung der althebräischen Schrift: 11QpaleoLev ist demnach eine Rolle des biblischen Buchs Levitikus in 303 Glossar <?page no="304"?> althebräischer Schrift aus Höhle 11. Falls von einem Werk mehrere Exemplare in der gleichen Höhle gefunden wurden, werden sie durch hochgestellte kleine Buchstaben unterschieden. Neben Bibelhandschriften und Kommentaren zu biblischen Büchern existieren Texte einer besonderen jüdischen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft nannte sich selbst Jachad („Einung“). Umstritten ist, ob sie mit den vom jüdisch-hellenistischen Historiker Josephus (ca. 37-100 n. Chr.) genannten „Essenern“ zumindest teilweise identisch sein könnte → 1.2 Was ist die Bibel? Sabbat Der über das Griechische und Lateinische eingedeutschte Begriff wird im Hebräischen bis heute mit Schabbat (Plural: Schabbatot) bezeichnet. Der den Le‐ bensrhythmus struktierende Feiertag ist mesopotamischen Ursprungs (šappattū) und wurde seit dem babylonischen Exil einer der Identitätsmarker des Judentums, wobei er bis heute am Sonnenuntergang am Freitag (æræv šabbāt) beginnt. Et‐ waige Nichteinhaltung des zentralen Gebotes der Arbeitsruhe von Menschen und Haustieren wurde zum Gegenstand schärfster prophetischer Kritik. Denjenigen, die den Sabbat heiligen, soll sogar über die Grenzen Israels hinaus ein ewiger Name gegeben werden ( Jes 56,1-7). Die Sabbatobservanz wird schließlich zum Merkmal einer zukünftigen Heilszeit. Im Mainstream des Christentums wurde der Ruhetag seit dem 4. Jh. n. Chr. auf den Tag der Auferstehung Jesu am „ersten Tag der Woche“ (Mt 28,1) verlegt. In Distanz zum römischen Kaiserkult, aber in Anknüpfung an die prophetische Tradition des Weltgerichts wurde er „Tag des Herrn“ genannt: (hēméra kyríou 1Thess 5,2, später auch kyriakḗ hēméra). Im Islam findet das höchste Gebet am Freitag (ṣalāt al-ǧum‘a) statt, jedoch ohne direkten Bezug auf die zentralen biblischen Gebote in Ex 20,8-11 und Dtn 5,12-15 → 2.5 Begründungsansätze helfenden Handelns. Sadduzäer Jüdische Gruppierung, die die Priesterschaft stellte ↗ Pharisäer. Samaritaner, Samariter Die Samaritaner - zu unterscheiden vom allgemeineren Begriff der Einwohner Samarias (hebr. šômronîm) - verstanden und verstehen sich als Glaubensgemeinschaft, die allein die Tora bzw. ihre eigene Tradition der fünf Bücher des Mose bewahren (hebr. šamærîm „Bewahrer“). Die mündliche Überlieferung des rabbinischen Judentums spielt keine Rolle. Samaritaner*innen verstehen sich als Vertreter des vorexilischen Nordisrael („Haus Josef “). Heute leben etwa 800 Menschen in Kiryat Luza auf dem für sie heiligen Berg Garizim bei Nablus im Westjordanland sowie in der israelischen Stadt Cholon bei Tel Aviv. Eine der insgesamt fünf noch lebenden Familien ist hohenpriesterlichen Geschlechts. Der wirkmächtige Ausdruck des „Barmherzigen Samariters“ geht auf ein Gleichnis Jesu (Lk 10,30-37) zurück. Damals galten die Samaritaner*innen 304 Glossar <?page no="305"?> als fehlgeleitete Abtrünnige (vgl. 2Kön 17,24; Esr 4,3; 9; 10 → 1.2 Was ist die Bibel? ). Septuaginta vgl. ↗ LXX. Synoptiker, synoptisch Die drei Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas bieten inhaltlich und formal miteinander verwandte Texte (griech. sýnopsis „Zusammenschau“ = miteinander zu betrachtende Schriften). Die Klärung ihrer literarischen Abhängigkeit ist als synoptisches Problem bekannt → 1.2 Was ist die Bibel? Talmud Das wichtigste Werk des Judentums neben den biblischen Büchern besteht aus der Mischna und ihrer weiteren Diskussion, der Gemarah. Die Mischna („Wie‐ derholung“) gilt im Judentum als die die ↗ Tora ergänzende, mündliche Lehre des Mose. Sie besteht aus Religionsgesetzen (Halachah) und Geschichten, Gleich‐ nissen und Begebenheiten ethischen Charakters (Aggadah). Der palästinische Talmud (Talmud Jeruschalmi) wurde im 4. Jh n. Chr., die wesentlich umfangreiche Sammlung aus Babylon (Talmud Bavli) im 8. Jh. n. Chr. abgeschlossen → 1.2 Was ist die Bibel? Tanach Das Kunstwort verbindet die Anfangsbuchstaben der drei Teile tôrāh („Weisung“), nəvî’îm („Propheten“) und kətuvîm (übrige „Schriften“) in dieser Reihenfolge. Der Tanach vereinigt die hebräischen und aramäischen heiligen Schriften des Judentums. Er ist insofern nicht vollständig mit dem christlichen Alten Testament identisch, da die ↗ LXX weitere, griechisch verfasste Schriften beinhaltet, und zudem eine andere Anordnung der Bücher aufweist → 1.2 Was ist die Bibel? Tora Bereits in persischer, spätestens aber in frühhellenistischer Zeit werden fünf Bücher (griech. Pentateuch) unter die Autorität des Mose gestellt und bilden bis heute die Grundlage jüdischen Glaubens und Lebens. Die Tora wird in der alexandrinischen Diaspora ins Griechische übersetzt (↗ LXX). Zudem existiert die eigenständige Texttradition des Samaritanischen Pentateuchs. Der Begriff tôrāh bedeutet eigentlich „Weisung“, nicht „Gesetz“, obwohl es in ihr 613 konkrete Ge- und Verbote gibt und zumindest das traditionelle Judentum sich heute durchaus im positiven Sinn als Gesetzesreligion verstehen kann, d. h. den Glauben nicht immer als zentrales Element postulieren muss. In jüdischer Interpretation kommt es auf das Verhalten an, weniger auf die innere Haltung. Die Texte der Tora sind für die biblische Rede von Gott, Mensch und Welt grundlegend. Der Erzählbogen des vorliegenden, kanonischen Textes beginnt bei der Erschaffung der Welt und des Lebens und endet bei der Situation des Todes des Mose vor dem Einzug des Volkes Israel in das gottgeschenkte Land Kanaan. Die Tora kann also als Präludium und zugleich Prüfstein der realen Geschichte Israels und Judas ver‐ 305 Glossar <?page no="306"?> standen werden. Ihre Texte bieten überwiegend Erzählungen von Gott, Mensch und Welt (Theologie, Anthropologie und Kosmologie). Es bleibt umstritten, ob ihre religionsgesetzliche Regelungen in persischer oder hellenistischer Zeit tatsächlich in der Realität umgesetzt wurde → 1.2 Was ist die Bibel? Zeloten Jüdische Gruppierung, die den Widerstand gegen das Römische Reich anführte ↗ Pharisäer. 306 Glossar <?page no="307"?> Abkürzungen biblischer Bücher Die Abkürzungen der biblischen Bücher folgen A L K I E R , Stefan, B A U K S , Michaela & K O E N E N , Klaus (Hg.) 2007 ff: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Inter‐ net: https: / / www.bibelwissenschaft.de/ wibilex/ abkuerzungen/ (Zugriffsdatum: 13. 06. 2021). Altes Testament und deuterokanonische Schriften Gen Genesis Spr Sprüche Ex Exodus Pred Prediger Lev Leviticus Hhld Hohes Lied Num Numeri Weish Sapientia Salomonis Dtn Deuteronomium Sir Jesus Sirach Jos Josua Jes Jesaja Ri Richter Jer Jeremia Rut Rut Klgl Klagelieder Sam 1. Samuel Bar Baruch 2 Sam 2. Samuel Ez Ezechiel 1 Kön 1. Könige Dan Daniel 2 Kön 2. Könige Hos Hosea 1 Chr 1. Chronik Jo Joel 2 Chr 2. Chronik Am Amos Esr Esra Ob Obadja Neh Nehemia Jon Jona Tob Tobit Mi Micha Jdt Judit Nah Nahum Est Ester Hab Habakuk 1 Makk 1. Makkabäer Zef Zefanja <?page no="308"?> 2 Makk 2. Makkabäer Hag Haggai Hi Hiob Sach Sacharja Ps Psalm(en) Mal Maleachi 4 Esr 4. Esra 4 Makk 4. Makkabäer Neues Testament Mt Matthäus 1 Tim 1. Timotheusbrief Mk Markus 2 Tim 2. Timotheusbrief Lk Lukas Tit Titusbrief Joh Johannes Phlm Philemonbrief Apg Apostelgeschichte Hebr Hebräerbrief Röm Römerbrief Jak Jakobusbrief 1 Kor 1. Korintherbrief 1 Petr 1. Petrusbrief 2 Kor 2. Korintherbrief 2 Petr 2. Petrusbrief Gal Galaterbrief 1 Joh 1. Johannesbrief Eph Epheserbrief 2 Joh 2. Johannesbrief Phil Philipperbrief 3 Joh 3. Johannesbrief Kol Kolosserbrief Jud Judasbrief 1 Thess 1. Thessalonicherbrief Apk Johannes-Apokalypse 2 Thess 2. Thessalonicherbrief Außerkanonische Schriften äthHen äthiopischer Henoch (1. Henoch) slavHen slawischer Henoch (2. Henoch) TestXII Testamente der zwölf Patriarchen TestIss Testament Issachars 308 Abkürzungen biblischer Bücher <?page no="309"?> TestSeb Testament Sebulons KThom Kindheitsevangelium nach Thomas CT Codex Tchacos (enthält u. a. das apokry‐ phe Judasevangelium) Schriften vom Toten Meer 1QS Gemeinderegel aus Qumran 1QIsa a Große Jesajarolle aus Qumran 4Q174 Handschrift des sog. Florilegium von Qumran 4Q397 Handschrift der Miqtzat Ma’ase ha-Tora (einige Werke der Tora) aus Qumran 309 Abkürzungen biblischer Bücher <?page no="310"?> Bibelstellenregister Altes Testament und deuterokanonische Schriften Gen 1 42, 51, 74f., 132, 134, 264 1,1-2,4a 61, 197 1,26-27 133 1,26-28 74 1,26 f 63, 74, 79, 134, 161 1,27 133, 268 1,28 117, 173 1,28 f 163 1,29 f 133 1,31 218 1-2 199 1-3 116 2,4-3,24 268 2,7 141 2,15 149, 174f. 2,18 218 2,19-20 75 2,23-24 139 2,24 139 2-3 75, 137, 139 3 63 3,5 202 3,10 218 3,16 134, 139 3,17-19 149 3,19 141 4 62, 116 4,1-16 202 4,7 268 4,26 225 5,1-3 74 5,24 143 5,29 71 6,5-9,19 266 6,6 266 6,6 f 71 6,7 266 6,9 267 6,11 266 6,13 266 6,19-7,9 174 6-9 116 8,2 266 8,21 267 9,2-4 174 9,6 74, 268 9,13 268 9,15 174 10 209 11 209 12 199 12,1-3 123 12,1-5 62 12,3 197 12,10-20 158 12,11-20 63 12-50 117 13,1-18 202 14 197 15 63 15,1 256 <?page no="311"?> 15,6 171 16 137, 202, 228 16,11 228 18 63 18,4-9 149 18,6 227 18,11 f 102 18,12 231 18,22 63 18,23-33 228 18,25 63, 231 19 63, 137f. 19,3 213 21 202 24,13-14 149 24,26 226 24,35 153 24,48 226 25,2 137 25,8 141f. 26,24 256 26,30 213 27 202 27,1-29 117 27,33 255 29,31-30,24 202 31,42 255 32 202 33,1-16 117 35,18 141 35,22-27 117 37,12-14 149 37-50 202 38 117 39-50 199 43,32 215 46-50 158 49 209 50,20 202 Ex 1-15 202 3,14 71 4,10-16 128 4,11 128, 219 12,6 293 12,12 f 294 12,26 f 117 12,29 165 13,11-16 123 13,14-16 124 15 261 15,11 256 18 199 20 87, 257 20,1 82 20,1-17 117 20,1-21 57 20,2-17 62 20,8-11 246 20,10 95, 161 20,10 f 91 20,12 117 20,13 62 20,14 117 20,17 117 21,1-3 282 21,2-11 152 21,2-6 156 21,7-11 180 21,12 141 21,13 f 159 21,15 117 21,16 258 21,17 117 21,26 f 180 21-22 62 311 Altes Testament und deuterokanonische Schriften <?page no="312"?> 22,20 152 22,21 160, 170 22,22 183, 185 22,23 183 22,24 156, 180 22,25 f 156 23,1-13 91 23,4 f 32, 93 23,6-8 169 23,9 160 23,10 f 156 23,12 174 23,20-33 62 28,15 258 28,30 258 31,18 51 33,12-17 71 33,12-34,9 71 33,19 71 34,6 f 71, 169, 261 34,8 226 40 42 Lev 11,42 f 136 12,3 138 13,45 f 129 16,29 161 17-18 256 17-26 256 18,22 138 19 32, 255ff., 259 19,1-18 219 19,1 f 256 19,2 136 19,3-37 256 19,3 f 257 19,5-8 257 19,9 f 156, 257 19,10 160 19,11-14 257 19,13 151 19,14 128 19,14-15 219 19,15 257 19,16-18 257 19,17 f 32, 92 19,18 32f., 88, 91, 246f., 271 19,20 258 19,21-23 258 19,24 258 19,26 258 19,27 258 19,28 258 19,29 258 19,31 258 19,33-34 219 19,33 f 32, 92, 258 19,34 160, 246 19,35 f 259 19,37 259 20,10 117 20,13 138 20,26 219 21,17-23 128 23,22 156 23,33 160 25,2-7 156 25,35-38 156 27,3-7 123 Num 6,22-27 203 6,24-26 41, 69 11 199 11,12 72 12,8 51 15,38-39 258 312 Bibelstellenregister <?page no="313"?> 18,31 151 22,31 226 22,38 51 24,17 61 25,7-13 164 27,8-10 184 31,4-8 164 35,9-34 159 Dtn 1-11 106 1-30 106 3,23 226 4,2 42 4,36 107 4,41-43 159 4,44-49 77 5 257 5,1 77 5,1-15 152 5,1-22 57 5,6-21 62 5,12-15 95, 246 5,14 174 5,17 62 6,4-9 32, 250 6,4 f 88, 92, 106 6,5 33, 91, 271 6,6-7 106 6,7-9 106 6,20-25 106, 124 6,24 89 7,7 f 32 8,5 107 8,7-18 149 8,17 f 153 10,12 106 10,12 f 32 10,17-19 32, 156 10,17 f 183 10,18 170, 185 10,19 32, 160 10.15 32 11,19 106 12,1-26,16 106 12,18 41 13,1 42 14,28-29 160 14,28 f 156, 185 15,1-11 156, 180 15,3 160 15,4 153, 156, 277 15,4 f 181 15,11 153, 181, 277 15,12-18 156, 180 16,11 185 16,14 185 19,1-13 159 20,17 f 164 21,10-14 152 21,18 f 106 22,6 f 174 22,9-11 257 22,12 258 23,2 128f. 23,2-9 159f. 23,20 156 23,20-21 160 24,6 156, 180 24,12 f 156 24,14-15 151 24,14 f 180 24,17 156, 185 24,19-21 185 24,19-22 156, 160 25,4 151, 174 25,5-10 117, 122, 184 313 Altes Testament und deuterokanonische Schriften <?page no="314"?> 26,5-9 152 26,10-13 180 26,11-13 160 26,12 156 26,12 f 185 26,17-34,12 106 27 42 27,18 128 27,19 185 27 f 77 30 276 31,9-13 106 31,10-13 124 32,6 72 33 209 Jos 4,24 203 20,1-9 159 Ri 3,19 226 5,11 169 8,13 165 16 137 19 63, 138, 164 19,20 165 20 63, 164 20,28 164 Rut 1,16 f 117 2 149 1 Sam 1 228 1,26 226 1-2 228 2 225 2,4-8 203 2,6 142 2,7 153, 237 4,1b-7,2a 255 8,20 70 17-18,5 99 18,7 202 25,36 213 28 142 28,5 258 2 Sam 2,1 264 4,4 128 5,6-8 127 5,8 128 6 255 7,12-16 124 7,14 72 9,1-13 128 9,13 127 13 138 16,1-4 128 16,8 164 18,14 164 21,7 128 1 Kön 1 101 4,19.29 41 8,22 226 12,2 158 17,17 ff 143 18,32-35 165 21 134 2 Kön 2,11 143 4,1-7 155 4,18 ff 143 5,1-19 149 9,34 213 17,6 164 18-20 262 314 Bibelstellenregister <?page no="315"?> 20,1-3 228 22 41 1 Chr 22,8 164 28,3 164 29,10-12 203 2 Chr 34 41 Esr 1,2-4 263 5,14-16 263 6,3-5 263 7,6.11 42 4 Esr 7,32-44 276 7,36-48 278 8,34-36 169 Neh 8,1 42 Tob 1,17 243, 276 1,17-20 279 3,8 111 3,17 112 4,7-11 276 4,16 276 7,19 184 12,7-9 276 14,11 276 Est 1,10 28 2,2 28, 100 6,3.5 28 1 Makk 11,58 28 2 Makk 3,10 156, 170 7 144 4 Makk 9,17 28 Hi 1,5 227 1,21 112 1 f 112 2,10 113 5,16 114 5,17 112 6,27 185 7 75 7,1-3 149 7,2 151 7,15 f 142 8,9 f 92 10,10 219 10,18 219 10,21 78 14,12 141 22,6 f 276 22,7 277 22,9 185 24 154f. 29,12 185 29,15 128 31,15 155 31,16 f 185 31,21 185 33,14 ff 112 38-39 77 42,17 142 Ps 1 264 4,2 169 6,6 78 7,7 71 7,7-12 70 7,18 169 315 Altes Testament und deuterokanonische Schriften <?page no="316"?> 8 75, 134 102 227 103,13 72, 118 103,14-16 89 103,2-4 78 104 75, 174 104,29 141 105,40 226 116 143 119,145-146 225 119,146 228 119,48 226 127,3 123 127,4 f 122 139 88 139,13 219 139,8 142 145 92 145,9 32 146 32, 127, 170, 225 146,8 127 146,9 32, 170, 185 147,6 237 148,1 226 148,11-14 197 150 227 150,6 197 16 92 17,1 226 19,13 78 21,6 75 22 114, 143, 227 22,2 ff 112 23 69 23,5 213 28,2 226 29 69 29,2 75 30 143 31,2 169 31,16 248 32,5 78 34,7 228 36,6 f 71 37,4 264 38 101 38,11 101 38,14 127 38,22 101 39,5 f 248 39,11 78 39,12 78 39,14 78 40,4 227 40,11 f 71 46,2-8 70 49 77 49,16 143 51 78 51,3 71 51,5 78 51,6 78 51,7 78 51,11 78 53[54],3 203 62[63],3 f 203 65,2-4 78 65,3 225 65,4 78 65,10 153 67,2-8 197 68,6 72, 184 71,9 100 71,18a 100 72 277 72,1 f 70 316 Bibelstellenregister <?page no="317"?> 73 92 73,24 143 78 78 79 226 80 226 85,11-14 269 88 77, 143 88,11-13 78, 141 89,15 70, 170 89,46 102 90,5 f 142 90,12 248 93,1 69 94,6 185 96 92 97,1 69 97,2 170 98 92 99,8 256 Spr 1,1-7 106 1,8 106 1,8-9,18 106 3,2 f 165 3,12 72, 106 3,27 f 276 3,34 235 4,1 106 6,20 106 8,22-31 175 9,2 213 10,4 28 10,15 155 10,22 153 13,24 124 14,20 155 14,21 276 14,31 33, 93, 155, 277 15,29 228 15,33 236 16,19 236 17,5 155, 277 18,12 236 19,8a 247 19,17 93, 277 20,22 32 21,25 166 22,4 236 23,10 185 24,11 f 276 24,17.29 32 24,24 f 276 28,27 276 30,14 276 31,1 106 31,8 127f. 31,8 f 170, 276 31,26 106 Pred 2,16 142 3,1-15 248 3,12 f 142 3,19 ff 144 3,20 141 5,9 179 5,17 ff 142 5,18 153 6,2 153 9 142 9,2 142 10,19 179 12 101 12,7 141 Hhld 1,2 138 4,12-5,1 139 317 Altes Testament und deuterokanonische Schriften <?page no="318"?> 6,1-3 139 8,2 106 Weish 3,1 ff 143 3,13 f 123 4,1-6 123 4,7 143 4,10 f 143 11,23-26 32 11,24 174 11,26 174 Sir 3,1 106 3,2 106 3,8 106 3,12 106 4,1-6 276 4,10 185 7,10 f 276 7,23 124 7,32-36 276 8-11 276 21,18 112 24 175 Jes 1,1 262 1,10-17 170 1,15-17 155 1,17 170, 185 1,21-23 155 1,23 185 2 134 2,1 262 2,2-4 32 2,2-5 165 5,1-7 170 5,8-10 155, 180 5,25-30 71 6 256 6,1-4 70 7,14 124, 198 10,2 185 10,5-10 71 11 92 11,5-8 163 14,10 141 24-27 92 25,8 143 26,14 144 26,19 144 29,18 127 29,19 f 156 33,23 127 35,5-6 127 36-39 262 38,18 78 40-55 262 42,6 169 42,16-18 127 43,1 89 44,15-17 63 44,28-45,4 63 44-45 261, 263 45,1-7 70 45,8 169 45,9-11 72 48,17-19 170 49,13 237 52,13-53,12 142 53 242 53,10 112 54,13 108 56,3-5 128 56,3-8 220 57,15 219 58 243 318 Bibelstellenregister <?page no="319"?> 58,6 82 58,7 180, 277 59,10 127 60,22 82 61 261f., 264 61,1 262 61,1-2 82 61,1 f 82, 264 61,3 262 61,10 f 263 61,11 262 62,11 236 63,7-64,11 226 63,16 72 64,7 72 65,17 175 66,13 118 66,22 175 Jer 7,6 170, 185 7,18 124 16,7 141 20,14 ff 142 22,3 170, 185 22,13 151 29,7 197 31,8 222 31,13 222 Ez 3,26-27 128 16,7 100 18,7 276 22,7 170, 185 24,27 128 33,22 128 34,17-22 276 37 144 Dan 2,44 203, 205 2,47 203 7,9 f 276 7,13 f 205 9,16-18 169 12,2 f 144 Hos 2,21 f 169 6,6 33 11,1-4 32 11,3 f 72 11,8-11 71 11,8 f 256 Jo 2,13 f 71 4,10 165 Am 2,6 134 2,6-8 180 3,10 155 4,1 155 4,1-3 155 5,4 226 5,21-24 170 6,4 155 8,4-6 149 9,2 142 9,10 156 9,13-15 156 Jon 3,9-11 71 4,2 f 71 4,8 142 4,11 174 Mi 2,1-2 155 2,1-3 180 319 Altes Testament und deuterokanonische Schriften <?page no="320"?> 2,8 165 3,1-4 155 4 92 4,1-5 32, 165 6,8 87 6,10-12 155 Hab 2,4 171 Zef 2,3 236 3,12 236 Sach 7,10 185 8,4-5 222 9,9 236 Mal 1,6 72 1,9 226 3,5 151 Neues Testament Mt 1,1 124 1,1-17 117f. 1,18 137 1,20 137 1,23 198 1-2 118 2 46, 204 2,9 61 2,13-15 158 2,19-22 158 3,15 171 4,1-11 204, 207 4,11 30 4,13-17 92 5,2 262 5,3-11 95 5,3-12 170, 263 5,5 237, 262 5,6 170 5,7 95 5,9 166 5,10 170 5,17-20 33 5,20 171, 278 5,21-48 171 5,29 f 141 5,43-48 33, 93, 279 5,44 166 5,44 f 93 5,45 33f., 91f., 95 5,48 92 5-7 170 6,1 171 6,1-4 180 6,3 f 95 6,9 118 6,9-13 72, 83, 227 6,12 179, 227 6,12-15 93 6,19-21 279 6,24 179, 279 6,24-33 92 6,25-34 247 6,30 231 6,33 171, 279 6,33 f 247 7,1 f 278 320 Bibelstellenregister <?page no="321"?> 7,3 f 248 7,11 125 7,12 33f., 88 7,21-23 278 8,15 30 8,26 231 8,28-34 45 9,9-13 215 9,13 279 10 232f. 10,1 232 10,5 f 232 10,30 89 10,40 277 10,41 277 10,42 277 11,19 213 11,28-30 236 11,29 236 12,7 279 12,16-21 92 12,28 92 12,36 f 276 13,36-43 65f. 13,41-43 275 14,3 213 14,13-21 232 14,16 232, 277 14,30 232 14,31 231 15,1-20 220 15,32-39 232 16,8 231 16,16-19 294 16,27 275, 278f. 17,1-9 242 17,14-20 113, 232 17,16 232 17,20 231f. 18,1-4 237 18,4 237 18,5 277 18,10-20 89 18,21-35 71, 179 18,21 f 279 19,11-12 137 19,19 247 19,19-21 279 20,1-16 150, 263 20,20-28 205 20,25 192 21,5 236 21,12-17 237 21,31 f 170 21,32 171 22,1-10 214 22,34-40 172, 279 22,36-39 33 22,37-39 33 22,39 247 23,5-12 237 23,12 237 23,23 279 23,33 141 24,3-31 275 24,4 276 24,12 279 24,15 43 24,29-31 275 24,30 f 275 24,31 275 24,32-41 275 24,42-44 275 24,45-51 247, 275 24,49 213 25 89, 158, 160, 243 321 Neues Testament <?page no="322"?> 25,1-13 247, 275 25,14-30 179, 247, 275 25,31-33 275f. 25,31-46 33, 37, 91, 93, 170, 243, 275f., 278f. 25, 31-46 275 25,31 f 275 25,32 275 25,32 f 276 25,34 275, 277 25,34-40 276 25,34a 276 25,34bc 276 25,35-40 158 25,35 f 276, 278 25,37 277 25,37-39 276, 278 25,38 277 25,39 277 25,40 34, 243, 275ff. 25,41-46 276 25,41a 276 25,41bc 276 25,42 f 276, 278 25,44 31, 193, 243, 276, 278 25,45 276 25,46 276 26,1 275 26,20-29 293 27,5 141 27,11 275 27,29 275 27,37 275 27,42 275 27,57-61 279 28 144 28,17 232 28,19 f 232f. 28,20 198, 232f. Mk 1,13 30 1,14-15 81 1,14-20 119 1,14 f 70 1,15 81, 83, 92 1,16-20 149 1,21-39 205 1,23-28 129 1,29-31 149, 170 1,31 30 1,35 248 1,40-44 170 1,40-45 119 2,1-12 119, 129, 170 2,13-17 119 2,13 f 170 2,14 129 2,15 213 2,15 f 170 2,17 170 3,13-19 119 3,20 f 118 3,21 118 3,22 192 3,31-35 118 3,33 f 118 4,26-32 263 4,38 112 4,41 65 5,1-17 45 5,1-20 119, 129 5,2-5 129 5,18-20 129 5,21-34 119 5,21 ff 143 5,24-34 222 322 Bibelstellenregister <?page no="323"?> 5,26 221 6,1-6 118 6,3 118, 124 6,13-19 119 6,14-21 214 6,21 213 6,27 141 6,30-32 248 6,37 277 7,1-23 220 7,1-5 215 7,24-29 113 7,31-37 129 8,6 213 8,19 213 8,22-26 129 8,35 89 9,1 205 9,14-28 129 9,37 277 9,40 200 9,41 277 10,1-12 119 10,17-27 153 10,28-34 91 10,29 f 118 10,35-45 192, 205 10,45 29, 80, 84, 238 10,51 238 10,52 114 11,25 226 12,1-9 150 12,1 ff 142 12,18 ff 144 12,27 144 12,28-31 172 12,28-32 33 12,28-34 88, 118 12,31 247 12,33 247 12,39 213 12,42-44 186 13 45 13,24-37 205 13,27 275 14 138 14,17-25 293 14,34 142 14,36 118 15,30 65 15,33 227 16 144 16,9-20 45 22,35-40 33 Lk 1,10 226 1,34 137 1,46-55 88, 225 1,48 237 1,51-55 170 1,52 237 1,75 169 1-2 118 2,11 61 2,29 142 2,36-38 186 2,41-52 118 2,51 242 3,1 156 3,12-14 149 3,23-38 118 4,1-13 264 4,14-30 82f. 4,16-30 92 4,18 f 82 4,21 83, 264 323 Neues Testament <?page no="324"?> 4,33-37 113 4,39 30 4,42 248 5,8 256 5,29 213 5,30 213 5,33 213 6,13 193 6,27-36 33 6,27 f 166 6,31 33f. 6,35 95 6,35 f 95 6,36 33, 71, 88, 92 6,38 95 6,41 f 248 7 138 7,1-9 150 7,2-5 149 7,10 248 7,11 ff 143 7,22 170 7,36 170, 215 7,36-50 281 7,44 282 8,1-3 170 8,19-21 118 8,41 192 9,13 277 9,16 213 9,48 277 9,51-10,42 273 9,57-62 273f. 10,1-12 151 10,1-20 199 10,16 277 10,25 271 10,25-27 33, 37 10,25-28 172 10,25-29 272 10,25-37 33f., 91, 93, 170, 244, 271, 273, 275 10,25-42 271 10,27 247, 271 10,30-35 94, 199, 272 10,30-37 88 10,34 f 273 10,36 f 272 10,37 244 10,38-42 149, 243, 248, 273f. 10,39 273 10,40 30, 244, 248, 273 11,1 227, 273 11,1-4 244 11,2-4 72, 83, 227, 273 11,5-8 273 11,9-13 273 11,10-13 225 11,13 125 11,20 83, 92 12,16-21 247 12,22 247 12,22-31 247 12,28 231 12,33 153, 156 12,37 30 13,26 f 278 14,7-11 237 14,7-14 214 14,7-24 215 14,15-24 214 14,33 156 15,1-2 215 15,22-32 214f. 15,32 143 16,1-8 247 324 Bibelstellenregister <?page no="325"?> 16,19-26 278 16,20 f 154f. 16,23 141 16,27-31 278 17,7-10 151 17,8 30 17,11 f 129 18,1-18 186 18,1-8 186 18,9-14 237, 247 19,8 156 19,23 179 22,3 112 22,14-23 293 22,19-38 214 22,27 30, 295 22,30 213 22,41 226 24 46, 144 24,13-35 168 24,30 213 24,44 43 24,51 143 Joh 1 51 1,1 175 1,1-18 108 1,3 175 1,5-7 93 1,14 198 2,1-11 214 3,1-21 108 3,5 108 3,8 108 3,16 33, 283f. 3,34 108 4,7-9 215 5,2-7 129 5,5-13 129 5,24 163 6 293 6,22-59 108 6,44 f 108 6,45 108 6,63 108 7,14-18 108 7,15 108 7,39 108 7,50-52 108 8,9 102 8,28 108 8,31-36 151 8,51 f 163 9,1-7 129 9,2 111 9,2-3 220 10,10 89 10,30 108 11 143 11,1-44 205 11,25 89 12,1-8 281 12,2 30, 213 12,3-8 138 12,8 277, 284 12,25 89 13 281, 294 13,1 33, 282ff. 13,1-11 256 13,1-20 238 13,1 f 294 13,4 282 13,4-10 294 13,6 283 13,6-10 294 13,8 284 325 Neues Testament <?page no="326"?> 13,9 283 13,10 283 13,10 f 283 13,12 282 13,13 282 13,14 f 284 13,20 277, 284 13,23-25 294 13,26 f 293 13,29 284 13,34 33 13,34 f 284 14,2 f 144 14,15 284 14,20 f 283 14,21 284 14,23 284 14,28 284 15,9 f 284 15,13 33, 89, 112 16,8 169 16,10 169 16,27 284 17,18-26 284 17,20-26 283 17,21 f 211 17,24 144 17,26 283 18,15-18 206 19,5 134 19,25-27 119 19,34 233 19,38-42 108 20,1-10 205 20,3-10 294 20,11-18 138 20,19-23 206 20,19 f 233 20,21 233 20,21-23 233 20,24-28 65 20,24-29 221 20,25 233 20,28 233 20-21 144 Apg 1,2 193 1,9-11 143 1,17 193 1,17.25 30 1,25 30, 193 1,25 f 193 1,26 193 2,31 141 2,42 213, 228 2,42-47 94 2,42 f 193 2,44-47 156 2,45 193 2,46 213 2,47 198 2-28 198 3 220 4,13 108 4,32-35 89, 94, 156, 193 5,1-11 64f. 5,18 149 6,1 193 6,1-3 186 6,1-6 30, 94, 193 6,1-7 89, 200 6,1 f 30f., 94 6,2 194 6,4 30, 193 6-8 94, 200 7,35 192 326 Bibelstellenregister <?page no="327"?> 8,26-39 129 8,26-40 55, 220 9,1-31 198 9,36-43 186 9,43 198 10,1-11,18 198 10,15 220 11,29 30f., 193 12,1-6 30 12,25 30f., 193 14,4 193 14,5 192 14,14 193 15 204, 211 15,1-29 216 15,2 194 15,4 194 15,6 194 15,7-11 198 15,22 f 194 16,14-15 150 16,16-22 151 17,31 169 18,1-3 198 18,1-4 149 18,24-28 204 20,17 194 20,19 237 20,24 30, 193 20,28 194, 249 20,33-35 193 21,18 194 21,19 30 23,8 144 Röm 1,4 204 1,8 231 1,16 203 1,16-32 138 1,16 f 171 1,17 171 1,18-3,31 171 2,4 93 2,7 95 2,10 95 2,14 f 93 3,21-26 71, 171 3,25 142 4,3 171 4,17 142 4,24 144 5,8 142 5,12-14 163 8,11 144 8,18-21 222 8,19-21 175, 222 8,21 222 8,32 114 8,39 205 10,9 144 10,15-17 204 11,13 30, 193 12 209 12,1 214 12,1-2 136 12,1-21 62 12,1-8 200 12,3-8 210 12,7 30 12,8-16 94 12,10 94, 200 12,12-21 87 12,14 166 12,15 237 12,16 210, 237 13,4 30, 195 327 Neues Testament <?page no="328"?> 13,8 94 13,9 33, 247 13,14 247 14 210 14,1-15,13 216 14,5 210 14,8 89 14 f 209 15 210 15,5 210 15,6 ff 210 15,7 200 15,14 200 15,18 204 15,25.31 31 15,33 165 16 194 16,1-5 199 16,7 193 16,16 200 1 Kor 1,1 193 1,1-9 287 1,4 287 1,6 287 1,7 287 1,9 289 1,10-17 288 1,13 288 1,25 107 1,26 287 1,27 107 2,3 107 2,4 f 203 2,13 108 3,1-8 204 3,2 108 3,5 193 3,5-4,8 192 3,8 95, 151 3,12-15 276 3-4 194 4,10 107 4,14-21 108 4,17 107 5,7 46 6,3 136 6,13-20 136 6,16 139 7 119, 137 7,23 142 7,32a 247 7,32b-34 247 8,1 89 8,6 175 8-10 89, 209, 216 9,1 f 193f. 9,5 137 9,24-27 247 10,13 112 10,14-22 289 10,16 213, 289f. 10,17 289f. 10,18 289 10,20 289 10,21 289 10,31 213 11,7-10 134 11,11 f 134 11,17-34 154, 214 11,20 289 11,23 287 11,23-25 293 11,23-26 290 11,23 f 214 11,30-34 216 328 Bibelstellenregister <?page no="329"?> 11-13 120 12 88, 94, 194f., 210, 287f., 291 12,1-31 221 12,4-6 195, 210, 288, 291 12,5 29, 194, 291 12,6 30, 288 12,7 94, 195 12,9 287 12,13 195, 289 12,18-27 94 12,22-24 195 12,25 f 195 12,27-31 200 12,28 94, 291 12-14 209 13 94, 193, 195 13,11 123 14,5 88f. 14,26 214 15 144 15,1 287 15,3 142 15,7 193 15,7-11 193 15,9 193 15,21-25 163 15,22 134 15,26 142f. 15,28 222 15,32 213 15,43 107 15,45 134 15,54 143 2 Kor 1,9 f 143 3,6 30, 193 4,4 134 4,4-6 107 4,7 204 4,14 144 5,18 30 5,18-6,4 194 6,3 30 7,6 237 8,4 30 8,4.19 f 31 8,4.6 f.19 31 8,6 f 193 8,9 31 8,13 f 94 8,19 193 8,19 f 30, 193 8,23 193 8-9 94 9,1 193 9,1.12 f 30f. 9,8 248 9,12 f 193 10,1 237 10,10 130 11,12-15 193 11,13 193 11,13-15.23 30 11,23 193 11,30 237 12,1-6 130 12,7 130 12,7-9 248 12,8 130 12,9 237 12,9a 130 12,9b 130 12,9 f 204 12,11 194 12,11-18 194 12,11 f 193 329 Neues Testament <?page no="330"?> 13,3 204 13,3-5 248 13,11 210 Gal 1,16 130 2,1-10 204, 211, 216 2,7-9 211 2,11-21 211, 216 3,6 171 3,25-29 151 3,27 f 209f. 3,28 119, 134, 195, 221 4,1-7 151 4,6 125 4,13 130 4,15 130 5,6 119, 204 5,13 200 5,14 33, 247 6,11 130 6,14 95 Eph 2,14-22 211 2,20 194 4,2 200, 236 4,2 f 238 4,3-6 211 4,11-13 211 4,11-16 200 4,32 200 5,15 f 248 5,18-20 214 5,19 200 5,22-6,9 120 Phil 1,1 194 1,4 228 1,21 89 1,23 144 2 242 2,2 210 2,3 238 2,3 f 238 2,5-11 221, 238, 241 2,8 238 2,9-11 205 2,25 193 3,1 264 3,17 107 4,4 264 4,6 247 4,10-12 249 4,13 204 4,13-23 249 Kol 1,15 175 1,15-20 175 1,15 f 134 1,16 f 175 1,23 193 1,25 193 2,18 238 2,23 238 3,11 210 3,12 236, 238 3,13 33 3,16 200 3,18 134 3,18-4,1 120 1 Thess 1,8 231 2,6 194 2,15 142 4,3 136 4,14 144 4,17 143 330 Bibelstellenregister <?page no="331"?> 4,18 200 5,11 200f. 5,17 228 5,23 257 5,25 228 1 Tim 1,12 193 2,1 226 2,8 226 3,1-13 150, 200 3,1-7 194 3,2 158 3,4 f 120 3,8-16 193 4,6 193 4,7 249 4,8 249 4,12 249 4,13 f 249 4,15 f 249 4,16 249 5 103 5,1 f 103 5,3-16 186 5,9 103 5,18 151 5,22 249 5,23 249 6,6-16 250 6,10 179 6,17-20 250 2 Tim 1,5 120 3,14-17 44 3,16 51 Tit 1,5 194 1,6 120 1,7 194 1,8 158 Hebr 1,2 175 2,15 142 3,1 193 5,12 f 108 8,11 248 10,14 201 13,2 158 Jak 1,26 f 170 1,27 186 2,8 247 2,14-17 93, 170 2,15-17 33 2,23 169 4,6 235, 238 4,10 238 4,11 201 5,1-5 170 5,1-6 150 5,4 151 5,10 f 114 5,14 194 5,14-15 228 1 Petr 1,15 257 2,12-3,12 120 2,13-17 198 2,13-3,7 120 2,17 120, 198 2,18-25 152 2,21-25 142, 198, 238 2,24 169 2,25 194 3,4 236 3,8 88, 120, 236, 238 331 Neues Testament <?page no="332"?> 3,9-12 120 3,16 236 3,18-22 198 3,21 f 205 4,7-11 120 4,9 158 4,10 f 200 5,1 194 5,5 194, 235 5,5b 238 5,6 238 5,7 247 5,8 111 5,9 120 2 Petr 1,1 169 3,13 175 1 Joh 2,3-11 33 2,3-6 93 3,14 f 163 3,16-18 284 3,16-24 33 3,17 33 3,17 f 93 4,8 33 4,11 91 4,16 91 4,20 f 33 2 Joh 5 33 Apk 1,5 192 2,5 276 2,10 256 2,11 143 2,16 276 2,22 f 276 3,3 276 3,11 276 3,20 276 4 70 16,15 276 18 149 19,11 169 20,11-15 276 20,13 f 141, 143 20,14 163 21 89 21,1 175, 222 21,3 f 199 21,4 143, 163, 222 21,6 f 276 21,12 f 278 21,14 194 21-22 206 22,12 276 22,18 f 42 332 Bibelstellenregister <?page no="333"?> Außerkanonische Schriften äthHen 47,3 276 51,1-3 275f. 90,20-27 276 slavHen 9,1 277 10,5 f 278 42,7-9 277 44,1 277 44,1 f 277 44,2 278 44,4 277 Testament Abrahams Rez. A 9 30 TestIss 5,2 277 7,5-7 277 TestSeb 5,1 277f. 5,1 f 277 5,3 277 5,3 f 278 7,1-8,2 277 KThom 2 61 CT p.56,19-21 61 bSukk 49b 277 MidrTeh 118,17 277 243b 277 Schriften vom Toten Meer 1QS III, 20-21 65 VI, 18-23 64 VIII, 1 64 XI, 11-15 169 1QIsa a 262 4Q397 10 43 4Q174 1,4 43 333 Außerkanonische Schriften <?page no="334"?> Transliteration Die Transliteration folgt A LKI E R , Stefan, B AUK S , Michaela & K O E N E N , Klaus (Hg.) 2007 ff: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https: / / www. bibelwissenschaft.de/ wibilex/ transliteration/ (Zugriffsdatum: 13. 06. 2021). Hebräisch א ’ ם מ m ב b / v ן נ n ג g ס s ד d ע ‘ ה h ף פ p / f ו w ץ צ ṣ ז z ק q ח ch / ḥ ר r ט ṭ ׂש ś י j ׁש š ך כ k / kh ת t ל l furtivum mobile <?page no="335"?> furtivum mobile mit mater lectionis (jod) ê î ǽ; (waw) û ô Griechisch Spiritus asper = h. Spiritus lene wird nicht wiedergegeben. ευ / αυ / ου = eu / au / ou. Jota-subscriptum wird als Jota geschrieben. Akzente: Es wird nur der Akut gesetzt. α a ν n β b ξ x γ g ο o δ d π p ε e ρ r ζ z σ s η ē τ t θ th υ y ι i φ ph κ k χ ch λ l ψ ps μ m ω ō 335 Griechisch <?page no="336"?> Begriffsregister Almosen 180 Alter 99-103, 132, 141f., 183 Amt, Ämter 27, 29, 34f., 64, 94, 149f., 186, 191, 193f., 225, 230 Anthropologie 74, 76, 79, 84, 97, 133 Apokalypse, apokalyptisch 43, 49, 69, 143, 275f. Apokryphen, apokryph 48, 102, 176 Apostel 45, 60, 64f., 94, 107, 134, 193, 198, 204, 206, 231, 247f., 287, 290 Apostolat 30 Arbeit 20ff., 37f., 76, 80, 95, 149-152, 155, 180f., 201, 207, 212, 239, 244, 248 Armut 149, 153-157, 184 Asyl 32, 158f. Ausländer 32, 57, 158f. Beeinträchtigung 127-130 Beeinträchtigung und Behinderung 127 Befreiung 107, 143, 156, 175, 222, 242, 259, 261, 264 Behinderung 127-131, 218-222, 257 Biblia Hebraica 300 Bildung 105-109, 124, 151, 246f., 249 Bischof 34f., 48, 194 Buchwerdung 40 Christologie 80, 108 Corpus Paulinum 46 Demut 114, 120, 130, 203, 235-239, 281 Diakon*in 30, 34f., 192f., 195 Diakonie 20-23, 27, 29, 31, 33, 36ff., 80, 86, 88, 95, 196f., 200f., 207, 212, 239, 243f., 275, 287, 290f. Diakoniewissenschaft 21f., 197 Dienst 27, 29f., 32, 57, 80, 83, 194, 206, 235, 288f., 291 Diskursliteratur 51, 62 Ehrenamt 29 Einheit 69, 139, 209-212, 237f., 241, 243, 278, 288, 291 Elohim 69, 133 Erzelternerzählungen 117 Erziehung 35, 72, 105ff., 109, 112, 124 Eschatologie, eschatologisch 171, 222 Essen 213, 216 Ethik 57, 62, 75f., 86-89, 134, 139, 147, 166, 246, 256, 272, 285 Exegese 29, 55, 101, 194, 209, 261, 300 Exklusion 128, 219 Familie 72, 106, 109, 116ff., 120, 124, 155, 178, 184, 228, 266 Flutüberlieferung 268 Fremde 32, 92, 117, 150f., 155, 158- 162, 165, 179, 183, 185, 198, 218ff., 246 Frieden 163, 165f., 197, 200 Funktionen 74, 112, 136f., 191, 193, 204, 210, 233, 264 Fürsorge 27, 32, 72, 89, 116, 125, 134, 185, 246, 249, 272 Fußwaschung 281ff., 293, 295 Galiläa 49, 81, 154, 171 Gebet 40, 113, 169, 183, 185f., 214, 336 Begriffsregister <?page no="337"?> 225-229, 237, 247 Geist 54f., 64f., 82, 108, 113, 120, 125, 195, 198, 206, 210, 220f., 233, 235, 238, 248, 288f. Geistesgaben 288, 290f. Geld 38, 64, 178ff. Gemeinschaft 21, 27, 29, 35, 43, 50, 64, 70, 75, 77, 87, 89, 103, 113, 119, 127- 131, 134, 170, 181, 183, 189, 191, 195, 198, 206, 210f., 213, 215f., 219, 221f., 225f., 228, 262, 284f., 287, 289f. Gerechtigkeit 65, 70, 81, 89, 92, 95, 106, 113, 156, 168-172, 180f., 225, 228, 231, 236, 246, 262ff., 267, 269, 277f. Gericht 47, 71, 81, 92, 141, 155, 168, 170ff., 184, 205, 243, 257, 276f. Glaube 51, 56, 71, 81ff., 87, 92f., 107f., 111, 114, 119, 168, 171f., 204, 211, 216, 230-234, 259, 261f., 272, 279 Gnosis, gnostisch 48, 297 Gottesdienst 27, 30, 214, 281 Gottesherrschaft, Gottesreich 70, 80f., 83f., 92, 205, 263 Heiligkeit 136, 219, 255ff., 259 Heilung 111, 113f., 119, 143, 221f., 237 Hellenismus, hellenistisch 28f., 42f., 72, 76, 107ff., 154, 213ff. Hermeneutik 299 Inklusion 23f., 128, 218f., 221f. JHWH 41, 64, 69, 72, 74-78, 101f., 112, 160, 256, 261ff., 298 Jugend 100, 102, 122, 124, 267 Kanon, kanonisch 40, 42f., 47ff., 56, 60, 87, 161, 209, 297 Kanonisierung 40, 51, 57, 87, 209 Kind 61, 72, 99, 102, 106, 108, 116f., 119, 122-125, 149, 154, 183f., 202, 237, 256, 258, 281 Kindheit 122f. Kodex, Codex 40, 43, 48, 50 Konkurrenz 75, 180, 194, 200, 202- 206, 289 Konvivenz 119, 197f., 200, 238 Kooperation 91, 119, 197, 199f., 204, 238 Krankheit 77f., 91, 101f., 111-114, 127f., 130, 141, 178, 204, 220f., 228, 232, 248f. Krieg 63, 123, 163-166, 178, 255 Liebe 31-34, 36, 51, 57, 88f., 91-95, 118ff., 138, 171f., 179, 195, 200ff., 205f., 238, 242f., 246, 271-275, 277, 279, 281- 285 LXX 28, 44, 105, 108, 165, 203, 235f., 247, 262f., 297, 299, 305 Macht 64, 70, 83, 102, 111ff., 117, 133, 136f., 142, 150, 165, 179, 183, 185f., 194, 202-207, 246, 255, 261, 264, 269 Mahlzeiten 30, 191, 214, 216, 281f., 294 Menschenwürde 37, 62, 132-135, 161 Menschlichkeit 93, 241 Messias, messianisch 63, 80-83, 125, 237, 262 Metapher, metaphorisch 69, 80, 88, 101, 119, 125, 143, 214 Mischna 49 Mystik 241 Nächstenliebe 31-35, 37, 91, 93f., 172, 193, 219, 243, 246f., 257, 271ff., 284 337 Begriffsregister <?page no="338"?> Opfer 46, 112, 128, 138, 155, 184, 226, 257, 272, 289 Parallelismus (membrorum) 226, 277 Pentateuch 42 Pharisäer, Schulen im antiken Judentum 43, 124, 134, 170, 205, 215, 304, 306 Presbyter 34, 102, 192, 194 Qumran 43, 50, 64f., 113, 262 Recht 56, 62f., 70f., 76, 83, 86f., 92, 106, 122, 134, 155f., 161, 168ff., 179, 183-186, 219, 262f., 277, 279 Reichtum 90, 149, 153ff., 157, 212 Rettung 61, 84, 143, 165, 171, 174, 261 Sabbat, Schabbat 74, 91, 95, 152, 160f., 174, 246 Sadduzäer 144 Samaritaner, Samariter 33, 41f., 50, 60, 88, 91, 93f., 199, 215, 244, 272f., 275, 279 Schöpfung, Geschöpf 32, 42, 47, 56, 74, 93, 133f., 139, 171, 173-176, 199, 218, 222, 266-269 Segen 41, 70, 75, 77, 95, 112, 123, 153, 156, 169, 180f., 185, 203, 207, 209, 290 Selbstliebe 31, 246f., 271 Selbstsorge 246-250 Septuaginta 28, 31, 44, 105, 165, 203 Sexualität 76, 101f., 136-140 Sklav*innen 28f., 116, 149ff., 183, 185, 221, 282 Sklavendienst 27 Sklaverei 149, 151f., 175, 261 Sklavinnen 289 Sterben 33, 78, 83, 141f., 144, 238, 275, 284 Sünde, Sünder, sündig 62, 77f., 111f., 129, 142, 255 Synoptiker, synoptisch 33, 45f., 80, 108, 284, 294 Talmud 49f., 277, 282 Tanach 31, 49f., 56f., 99, 105, 141f., 169, 183, 209, 213, 226, 230f., 236, 298, 300, 302 Taufe 103, 107, 113, 119, 123, 129, 134, 210, 283, 287-291 Theologie 21f., 47, 55, 69, 74, 79, 113, 116, 175, 198, 204, 209, 218, 231, 242, 244, 256, 279, 285, 294f. Tod 33, 46, 51, 61, 65, 77, 83, 89, 92, 100, 111, 119, 124, 133, 141-144, 159, 163f., 171, 178, 183f., 187, 192, 202, 204f., 246, 258, 282, 290, 293 Tora 33, 42f., 49f., 56, 60f., 77, 123f., 128, 134, 153, 156, 169, 172, 179f., 191, 205, 215, 256, 271f., 274, 302f., 305 Trinken 213, 216 Verantwortung 30, 32-35, 62, 72, 77, 79, 94, 124, 133, 153, 155, 173-176, 191, 199, 285 Verkündigung 27, 35, 56f., 80, 82ff., 94, 211, 231, 273, 287f., 290 Vielfalt 20, 48, 78f., 88, 90, 191, 209- 212, 218, 288, 291 Waisen 57, 72, 155, 162, 170, 183- 186, 277f. Weltgericht 91, 243, 275, 279 Wirtschaft 151, 178, 180 Witwen 57, 72, 94, 103, 155, 162, 170, 338 Begriffsregister <?page no="339"?> 183-186, 277 Würde 62, 64, 132, 134f., 176, 222, 259, 262 Zweifel 166, 230-233 339 Begriffsregister <?page no="340"?> ,! 7ID8C5-cfghcc! ISBN 978-3-8252-5672-2 Lanckau | Popp Hentschel | Scholtissek (Hrsg.) Biblisches Arbeitsbuch für Soziale Arbeit und Diakonie Diakonie bewegt sich zwischen unterschiedlichen Polen: zwischen biblischer Botschaft und aktuellen Herausforderungen, zwischen Gottes Auftrag und gesellschaftlichen Aufgaben, zwischen professionellen Dienstleistungen und aus Glauben gespeister Motivation. Diakonie und Soziale Arbeit der Kirchen sind also mit der Bibel verwoben. Dieses Lehrbuch erschließt die Bibel als Quelle für diakonisches Handeln. Der gegenwärtige Diskussionsstand und wesentliche Themen diakonischen und sozialarbeiterischen Professionswissens werden bibelwissenschaftlich aufbereitet. Ein besonderer Akzent liegt auf anthropologischen sowie ethischen Aspekten und den damit verbundenen Themenbereichen. Aspekte von Gemeinschaft und Spiritualität betonen den für Diakonie vorausgesetzten Bezugsrahmen menschlichen Handelns. Theologie Religionswissenschaft Biblisches Arbeitsbuch Diakonie Lanckau | Popp | Hentschel Scholtissek (Hrsg.) Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 56722 Lanckau_M-5672.indd 1 56722 Lanckau_M-5672.indd 1 29.10.21 09: 17 29.10.21 09: 17