Handbuch Filmgeschichte
von den Anfängen bis heute
1018
2021
978-3-8385-5699-4
978-3-8252-5699-9
UTB
Willem Strank
Der gesellschaftliche, politische und technische Wandel spiegelt sich in der Filmgeschichte wider. Willem Strank demonstriert dies eindrucksvoll.
Seit über einem Jahrhundert faszinieren Filme Menschen rund um den Erdball. Willem Strank geht diesem Phänomen auf den Grund. Er skizziert die Filmgeschichte in 13 Kapiteln, die jeweils eine Dekade beleuchten. Pro Kapitel legt er das Hauptaugenmerk auf filmgeschichtliche Besonderheiten aus den USA, Europa und Deutschland. Auch auf globale Phänomene geht er ein, etwa aus Asien, Südamerika oder Afrika. Wichtige filmwissenschaftliche Begriffe aus den Dekaden erklärt er am Kapitelende. Dort finden sich auch Tipps zu sehenswerten Filmen aus der Zeit.
Dieses Handbuch ist ein fundierter und zugleich faszinierender Einstieg in die Filmgeschichte und bietet zudem denjenigen, die bereits Vorkenntnisse haben, die Möglichkeit zur gezielten Vertiefung.
<?page no="0"?> Willem Strank Handbuch Filmgeschichte <?page no="1"?> utb 5699 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau Verlag · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Dr. Willem Strank ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und arbeitet am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien. <?page no="3"?> Willem Strank Handbuch Filmgeschichte von den Anfängen bis heute UVK Verlag · München <?page no="4"?> Umschlagabbildung: © filipfoto · iStock Autorenbild: © Nane Boysen Abbildungen im Buch: © VikiVector · iStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 1. Auflage 2021 © UVK Verlag 2021 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5699 ISBN 978-3-8252-5699-9 (Print) ISBN 978-3-8385-5699-4 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5699-9 (ePub) <?page no="5"?> für meine Anna, für Mucki, Mümel und Quirli <?page no="6"?> My role is not just artist. It’s also activist because of the way I look. On so many shows and movies, race was a gesture, and in mine it’s the premise. I can’t ignore that what a lot of people see is an Indian woman who doesn’t look like a Bollywood star. It piques their interest, and they’re not bad for wanting me to tell stories about it, and I’m not wrong for not wanting to. I want to fill my desire to write vibrant, flawed characters, but then also be a role model to young people. It’s stuff that I think about all the time. Some people don’t have to think about this at all. Mindy Kaling US-amerikanische Schauspielerin <?page no="7"?> Inhalt Liebe Leser: innen! .....................................................................................................................................................11 1826 bis 1900 · Als die Bilder laufen lernten Im Kontext der Fotografie........................................................................................................................................15 Bewegte Bilder ............................................................................................................................................................16 Der frühe Film in den USA......................................................................................................................................18 Der frühe Film in Deutschland...............................................................................................................................21 Der frühe Film in Europa .........................................................................................................................................22 Der frühe Film im globalen Kino...........................................................................................................................27 Wichtige Stichwörter dieser Zeit ..........................................................................................................................28 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ......................................................................29 1901 bis 1910 · Die Findungsphase des Films 1900er: Europa .............................................................................................................................................................31 1900er: USA ..................................................................................................................................................................35 1900er: Deutschland ..................................................................................................................................................39 1900er: Globales Kino................................................................................................................................................41 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts...................................................................................................................43 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ......................................................................44 1911 bis 1920 · Die Konventionen etablieren sich 1910er: USA ..................................................................................................................................................................45 1910er: Deutschland ..................................................................................................................................................50 1910er: Europa .............................................................................................................................................................53 1910er: Globales Kino................................................................................................................................................56 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts...................................................................................................................58 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ......................................................................59 1921 bis 1930 · Die Vielfalt des späten Stummfilms 1920er: Deutschland ..................................................................................................................................................61 1920er: USA ..................................................................................................................................................................65 <?page no="8"?> 8 Inhalt 1920er: Europa .............................................................................................................................................................68 1920er: Globales Kino................................................................................................................................................74 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts...................................................................................................................78 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ......................................................................79 1931 bis 1940 · Die Ankunft des Tons 1930er: Globales Kino................................................................................................................................................81 1930er: USA ..................................................................................................................................................................83 1930er: Deutschland ..................................................................................................................................................87 1930er: Europa .............................................................................................................................................................90 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts...................................................................................................................93 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ......................................................................94 1941 bis 1950 · Krisengeschütteltes Kriegskino 1940er: Globales Kino................................................................................................................................................95 1940er: Deutschland ..................................................................................................................................................96 1940er: Europa .............................................................................................................................................................98 1940er: USA ............................................................................................................................................................... 101 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts................................................................................................................ 107 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ................................................................... 109 1951 bis 1960 · Im Angesicht des Fernsehens 1950er: USA ............................................................................................................................................................... 111 1950er: Deutschland ............................................................................................................................................... 117 1950er: Globales Kino............................................................................................................................................. 121 1950er: Europa .......................................................................................................................................................... 123 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts................................................................................................................ 126 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ................................................................... 127 1961 bis 1970 · Experimente der Erneuerung 1960er: Deutschland ............................................................................................................................................... 129 1960er: Europa .......................................................................................................................................................... 132 1960er: USA ............................................................................................................................................................... 138 1960er: Globales Kino............................................................................................................................................. 140 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts................................................................................................................ 142 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ................................................................... 144 <?page no="9"?> Inhalt 9 1971 bis 1980 · Eine Dekade der Umbrüche 1970er: USA ............................................................................................................................................................... 145 1970er: Deutschland ............................................................................................................................................... 150 1970er: Europa .......................................................................................................................................................... 153 1970er: Globales Kino............................................................................................................................................. 154 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts................................................................................................................ 157 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ................................................................... 158 1981 bis 1990 · Ein Hybridkino der Oberflächen 1980er: Globales Kino............................................................................................................................................. 159 1980er: Deutschland ............................................................................................................................................... 162 1980er: Europa .......................................................................................................................................................... 164 1980er: USA ............................................................................................................................................................... 168 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts................................................................................................................ 172 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ................................................................... 173 1991 bis 2000 · Der Spaß an der Selbstreferenz 1990er: Europa .......................................................................................................................................................... 175 1990er: USA ............................................................................................................................................................... 178 1990er: Deutschland ............................................................................................................................................... 182 1990er: Globales Kino............................................................................................................................................. 183 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts................................................................................................................ 187 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ................................................................... 188 2001 bis 2010 · Kino der Versehrtheit 2000er: USA ............................................................................................................................................................... 189 2000er: Globales Kino............................................................................................................................................. 193 2000er: Deutschland ............................................................................................................................................... 197 2000er: Europa .......................................................................................................................................................... 199 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts................................................................................................................ 205 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ................................................................... 206 2011 bis 2020 · Reboots, Remakes, Franchises: Ewige Reproduktion und Nostalgie-Maschine 2010er: Deutschland ............................................................................................................................................... 207 2010er: Globales Kino............................................................................................................................................. 209 <?page no="10"?> 10 Inhalt 2010er: Europa .......................................................................................................................................................... 212 2010er: USA ............................................................................................................................................................... 215 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts................................................................................................................ 221 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten ................................................................... 222 Websites, die Sie kennen sollten ....................................................................................................................... 223 Literatur ...................................................................................................................................................................... 225 Filme und Personen ................................................................................................................................................ 229 Stichwörter ................................................................................................................................................................ 251 <?page no="11"?> Liebe Leser: innen! erzlich willkommen zu einer kurzen, aber intensiven Entdeckungsfahrt quer durch die internationale Filmgeschichte. In 13 Kapiteln begebe ich mich mit Ihnen auf eine insgesamt 200 Jahre umspannende Zeitreise. Natürlich geht es dabei besonders um die vergangenen 130 Jahre, die von den Anfängen des Films in den 1890er-Jahren bis zur Absage des Festivals von Cannes aufgrund der Corona-Krise im Jahre 2020 reichen. Alle Kapitel beschäftigen sich mit jeweils einem Jahrzehnt und sind in sechs Teile untergliedert. Die ersten vier Teile widmen sich den verschiedenen Regionen der Welt - den USA als für unsere Kultur und unser Verständnis des Mediums prägendes Filmland; dem deutschen Film als unserer eigenen, oft geschmähten oder angesichts der internationalen Konkurrenz sogar relativ unbekannten Filmproduktion; dem europäischen Umfeld als vielstimmigem Gegenmodell zum US-System - sowie ausgewählten Ländern weltweit, die entweder eminent wichtig für die globale Filmproduktion sind oder in denen in jenem Jahrzehnt etwas besonders Spannendes passiert ist. Die Reihenfolge der Kapitel ist für jede Dekade ein wenig anders, was dem Erzählfluss geschuldet ist. Selbstverständlich ist eine solche Filmgeschichte nicht nur voller Informationen, sondern auch voller Auslassungen. Vieles muss vereinfacht werden, um der übergreifenden Erzählung und der gewählten Form gerecht zu werden. Sie steht auf den Schultern derjenigen, die über Jahre hinweg intensiv recherchierte, teils mehrbändige, teils monumentale Bücher zur Filmgeschichte vorgelegt haben. All das, was jene Bände leisten, kann und will dieses einführende Handbuch selbstverständlich nicht vollbringen. Es ist keine hochwissenschaftliche Abhandlung, sondern versteht sich als ein erster Teaser für die Interessierten - um neugierig zu machen, die behandelten Filme anzuschauen, die Sachverhalte vertiefend nachzulesen und ein Interesse und Faible für die Protagonist: innen, Stile und Strömungen der Filmgeschichte zu entwickeln. Die verwendeten Quellen sind zahlreich und divers. Im Dienste der Lesbarkeit sind nur direkte Zitate im Text markiert und alle Titel, die dem „Handbuch Filmgeschichte“ als Faktenquelle gedient haben, im Literaturverzeichnis aufgeführt. Filmgeschichte ist auch die Geschichte eines Systems der audiovisuellen Bestätigung von gesellschaftlichen Hierarchien , eine Geschichte der Ausbeutung , des Sexismus , der Benachteiligung von Unterprivilegierten in der Repräsentation und der Produktionsmacht . Soziale Fortschritte spiegeln sich - das wird in den aktuellen Umbrüchen im konservativen Studiosystem Hollywoods sichtbar - auch immer in Veränderungen des massenmedialen Systems wider, in dem der Film einen zentralen Platz einnimmt. Bei allen Auslassungen will die Einführung dennoch differenziert sein und die große Vielfalt des Mediums Film weltweit möglichst plastisch darstellen, ohne Klassiker und Standards außer Acht zu lassen. Sie bemüht sich daher um regionale Vielfalt ebenso wie um eine ausgeglichene Darstellung unter Berücksichtigung häufig vergessener und unterprivilegierter Ethnien, Kulturen und Geschlechter . Wer mitgezählt hat, wird bemerkt haben, dass nur vier Regionen, aber sechs Abschnitte genannt wurden. Dies liegt daran, dass der fünfte Teil auf jeweils drei zentrale Stichwörter entfällt, die für das jeweilige Jahrzehnt meines Erachtens prägend und bestimmend waren. Natürlich ist auch das H <?page no="12"?> 12 Handbuch Filmgeschichte eine strukturelle, eine pragmatische Reduktion. Sie ermöglicht aber eventuell einen kleinen Eindruck darüber, welche Themen die jeweilige Dekade abseits dessen, was ich mit mehr Detailreichtum in den vier Hauptteilen darstelle, bewegt und ausgemacht haben. Filme, die für mich das Gefühl der Cinedekade am besten transportieren und die ich persönlich außerordentlich gern mag, sind jeweils am Kapitelende zu finden. Das sind mal bekanntere, mal unbekanntere Filme. Da man eine Top-100-Liste mit The Godfather , Citizen Kane und Les 500 Coups jederzeit in Sekundenschnelle im Internet finden kann, halte ich das für inspirierender und zielführender als die bloße Abbildung eines gängigen Top-3-Kanons des jeweiligen Jahrzehnts. Die Stichwörter bestehen mal aus bündigen Zitaten und mal aus eigenen Formulierungen; wenn ich eine Formulierung für derart auf den Punkt halte - in Umfang und Verständlichkeit -, dass ich sie selbst nur verschlimmbessern würde, habe ich sie als wörtliches Zitat übernommen. So kommen punktuell auch andere Autor: innen in diesem Band zu Wort. Mein Dank für die kompetente Mitarbeit und erste Feedbacks gilt Ines Lenkersdorf, Nane Boysen, Nadine Simon und Felix Trautmann. Ich danke außerdem Rainer Berger, der mich auf Verlagsseite stets hilfreich und mit etlichen guten Ideen unterstützt hat. Ich wünsche viel Spaß bei unserer gemeinsamen Reise und hoffe, dass Sie eine erkenntnisreiche, anregende und unterhaltsame Zeit mit dem Buch verbringen. Möge es Ihre Neugierde nicht befriedigen, sondern vergrößern. Kiel, Spätsommer 2021 Willem Strank <?page no="13"?> Das Dorf Hollywood ist entworfen nach den Vorstellungen Die man hierorts vom Himmel hat. Hierorts Hat man ausgerechnet, daß Gott Himmel und Hölle benötigend, nicht zwei Etablissements zu entwerfen brauchte, sondern Nur ein einziges, nämlich den Himmel. Dieser Dient für die Unbemittelten, Erfolglosen Als Hölle. Bertolt Brecht Hollywood-Elegien Nr. 1 <?page no="15"?> 1826 bis 1900 · Als die Bilder laufen lernten Wie jedes Medium ist der Film ohne seinen Entstehungskontext nicht zur Gänze verständlich. Auch wenn die ersten bewegten Bilder in einer Form, die uns heute zumindest vage bekannt vorkommt, erst in den 1890er-Jahren der breiteren Öffentlichkeit vorgeführt werden, gibt es einschlägige Vorbilder für die Erfindung, die im Zentrum unserer Entdeckungsreise durch die Filmgeschichte stehen wird. Da ist einerseits die Fotografie, die unser Verständnis von Bild und Abbild maßgeblich geprägt hat und deren Regeln der Film größtenteils schlichtweg übernimmt. Da sind andererseits auch inhaltliche Vorläufer wie Theater, Oper, Kabarett, Ballett und Varieté, die den Film nicht nur in den ersten Jahren mit Stoffen, Inszenierungsweisen und Prinzipien der Dramaturgie versorgen. Da sind aber auch die technischen Entwicklungen allgemein, welche die industrielle Fertigung der Maschinen, die den Film schließlich aufnehmen und wiedergeben, ja sogar das Material des Films selbst produzieren, erst möglich machen. Wir setzen daher, wenn wir von der Ur- und Frühgeschichte des Films sprechen, im weitesten Sinne beim Beginn des Industriezeitalters an, das nach gängigen Einteilungen in etwa die Zeit von 1750 bis 1970 umspannt. Im Kontext der Fotografie uch wenn die Ursprünge der industriellen Entwicklung also im 18. Jahrhundert zu finden sind, steigern sich die Möglichkeiten und Methoden der Massenproduktion im 19. Jahrhundert nochmals erheblich. Eine der Früchte dieser Steigerung ist die bereits erwähnte Fotografie. Natürlich geht die Fotografie je nach Sichtweise bereits auf die Antike oder das Mittelalter zurück. Schon Aristoteles beschreibt im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in seinen Problemata Physica , wie durch eine Sonnenfinsternis eine Lichtbrechung entsteht, die den Prinzipien einer Lochkamera folgt. Um 980 nach unserer Zeitrechnung wird diese Beobachtung durch den arabischen Erfinder Alhazen in ein Experiment überführt - die Idee der Lichtbrechung, die er darin verfolgt, wird zentral für die Erfindung der Camera Obscura , die seit dem 11. Jahrhundert allmählich relativ weite Verbreitung findet. Bei der Camera Obscura, wörtlich Dunkelkammer, wird mittels eines kleinen Loches das von außen kommende Licht in die ansonsten dunkle Konstruktion gebrochen, sodass im Inneren ein Bild von außen an die Wand projiziert wird. Dieses steht den Lichtbrechungsgesetzen gemäß auf dem Kopf, jedoch können mit dieser Methode im Mittelalter erste ‚Abbilder‘ erzeugt werden - A <?page no="16"?> 16 Handbuch Filmgeschichte für das zeitgenössische Publikum eine kleine Sensation. Im 17. Jahrhundert folgt die Erfindung der Laterna Magica , der magischen Leuchte. Diese dreht das Prinzip der Camera Obscura gewissermaßen um, indem die Lichtquelle nunmehr in einem Projektionskasten sitzt. Dort, wo das Licht austritt, können transparente Bildträger, meist aus bemaltem Glas, vorgespannt werden, wodurch das Resultat nunmehr an die Wand projiziert wird - unseren heutigen Projektoren gar nicht ganz unähnlich. Im 17. Jahrhundert noch ein Luxusprodukt, avanciert die ‚magische Laterne‘ 200 Jahre später, im 19. Jahrhundert, in Europa zum Massenmedium und damit zur Alltagserfahrung vieler späterer Rezipient: innen von Fotografie und schließlich Film. Das Prinzip der Bildkammer, ein früher Vorläufer unserer Kinos, findet sich auch in den bemalten Schaukästen Louis Daguerres, den sogenannten Dioramen - diese teilweise begehbaren Räume simulieren eine Umgebung, die eigentlich aus einem anderen Kontext stammt, und fungieren so als frühe Formen virtueller Fiktionserlebnisse. 1826 wird in Frankreich die erste Fotografie angefertigt - sie wird in der Regel mit „La cour du domaine du Gras“ betitelt, da sie den Hof des Gutshofes von Le Gras abbildet, wenngleich die gängige deutsche Übersetzung vom „Blick aus dem Arbeitszimmer von Le Gras“ ausgeht. Das Foto stellt Joseph Nicéphore Nièpce (1765-1833) her, der eine Camera Obscura verwendet, um eine mit Asphalt und Lavendelöl bestrichene Zinnplatte so stark zu belichten, dass darin die Kontraste des Bildes außerhalb quasi ‚eingebrannt‘ werden. Nach dieser Pionierarbeit gibt es in den 1830er-Jahren eine ähnliche internationale Konkurrenz unterschiedlicher Konzepte, wie wir es in den 1890er-Jahren beim Film sehen werden. Das englische Negativ-Positiv- Verfahren , 1835 von William Fox Talbot entwickelt, steht den seit 1837 verfügbaren entwickelbaren Fotografien Frankreichs, nach ihrem Schöpfer Louis Daguerre als Daguerreotypien bekannt, gegenüber. Im deutschsprachigen Raum wird lichtempfindliches Chlorsilber-Papier verwendet, was nach einem der beiden Erfinder, Carl August von Steinheil, als Steinheil-Verfahren bekannt ist. Die andere Hälfte dieses adligen Entwickler-Duos ist Franz Ritter von Kobell. Bewegte Bilder Die bereits erwähnte Beschleunigung der Massenproduktion im 19. Jahrhundert geht mit drei weiteren gravierenden Veränderungen einher: Es ist erstens ein Zeitalter der Reduktion von Distanzen, was sich unter anderem in der Erfindung des Telefons 1876 und des Automobils in den 1880er-Jahren niederschlägt. Zweitens beginnt in jenen Jahren nicht nur mit der Fotografie 1826 die Ägide der Aufzeichenbarkeit des Visuellen, sondern ebenfalls des Auditiven: Seit 1877 gibt es den Phonographen . Drittens ermöglichen Industrialisierung und gesellschaftlicher Wandel die massenhafte Verbreitung vormals ausschließlich höheren Schichten vorbehaltener Künste. Gelegentlich gibt es im Zuge dessen vereinfachte, populärere Varianten - zum Theater gesellt sich das Varieté, zur Oper die Operette -, aber mithin werden auch die großen Vorbilder immer bezahlbarer und zugänglicher. Man könnte sagen, dass es anhand dieser drei Faktoren nicht überraschen mag, wenn bewegte Bilder zu einem besonderen Anliegen des 19. Jahrhunderts avancieren, liegen sie doch an der Schnittstelle von Distanzabbau, Konservierbarkeit und Populärkultur. <?page no="17"?> 1826 bis 1900 Als die Bilder laufen lernten 17 Auf daumenkinoartige Konstruktionen, wie sie auch heute noch als Kinderspielzeug dienen, folgen drehbare Apparate: zunächst 1832 das Phenakistiskop des Belgiers Joseph Plateau und des Österreichers Simon Stampfer, das durch seine drehbaren Scheiben vor einem Guckloch den Eindruck von Bewegung erzeugt. Und ein Jahr später, 1833, das Zoetrope , bei dem die Bilder innen stehenbleiben, aber sich die gesamte Schale dreht, wodurch ebenfalls der Eindruck bewegter Bilder entsteht. Auch diese kleineren Medien gehen Mitte des Jahrhunderts in Massenproduktion - insbesondere das Zoetrope, das ab 1867 seinen Siegeszug als Haushaltsgimmick antritt. Während gezeichnete Bilder also bereits Formen der Bewegung gefunden haben, ist die Fotografie zu jenem Zeitpunkt noch in zweierlei Hinsicht zu schwerfällig dafür - die Belichtung dauert viel zu lange und das Material ist massiv und unbeweglich. Für einen Film im engeren Sinne ist jedoch eine schnelle Belichtung, um durch eine rasche Bildrate die Illusion von Bewegung zu erzeugen, unabdingbar. Mehr als 16 Bilder die Sekunde sind erforderlich, damit die Nahtstellen in der menschlichen Wahrnehmung aufgrund unserer Netzhautträgheit verschwinden und die Bewegung als kontinuierlich empfunden wird. Außerdem muss das Material leicht kopierbar sein und schnell gewechselt werden können - selbst wenn also mehrere Fotografien eine zusammenhängende Bewegung abzubilden vermögen, wären die einzelnen Momente jener Bewegung doch auf vereinzelte, schwere und unflexible Glas- oder Zinnplatten aufgeteilt. Der Durchbruch kommt mit dem Fotopapier, das leichter, biegsamer und schneller zu verarbeiten ist. George Eastman (1854-1932) entwickelt 1888 sein Modell Kodak , das als erste Amateurkamera in die Geschichte eingeht und das neue flexible Fotopapier nutzt. Ein Jahr später erfindet derselbe George Eastman den Zelluloidfilm , der noch flexibler ist, da er sich verlustfrei einrollen und wieder entrollen lässt. Die materiellen Bedingungen des Films selbst sind damit geschaffen - nun fehlt nur noch ein Gerät, das die Zelluloidstreifen in Bewegung versetzt. 1877 entwickelt der Franzose Émile Reynaud (1844-1918) das Zoetrope weiter, indem er es mit Spiegeln versieht. Sein Praxinoskop genannter Apparat gibt den Anstoß zu der allmählichen Entwicklung der bewegten Spiegelprojektion über die nächsten zwei Jahrzehnte hinweg. Ein Jahr später experimentiert Edward (Eadweard) Muybridge (1830-1904) mit Schnellbelichtung. Mithilfe von zwölf Kameras führt er im Auftrag einer Firma, die über die Qualität von Rennpferden Auskunft haben möchte, Bewegungsstudien durch, die unter dem schlichten Namen Horses kursieren. Aus Muybridges wirtschaftlichem Interesse erwächst schließlich eine naturwissenschaftliche Neugierde, als er realisiert, wie genau mit seiner Methode einzelne Aspekte von Bewegungen festgehalten und somit verlangsamt werden können. Im selben Geiste fertigt Étienne Jules Marey (1830-1904) 1882 seine Foto-Pistole an, die zwölf Bilder pro Umdrehung belichten kann, und die er zunächst für Studien über Vogelflugbewegungen einsetzt. Sein Verfahren benennt er kurz darauf in Chronofotografie um, und unter diesem Label wird auch heute noch seine bekannteste Studie Walking Man von 1884 geführt. Eines der Hauptprobleme der Herstellung bewegter Bilder zu jener Zeit ist die Tatsache, dass kontinuierlich maschinell abgespielte Bilder in der menschlichen Wahrnehmung miteinander verschwimmen. Die Abspielmaschinen müssen also bei jedem Bild kurz anhalten und wieder anfahren, um durch diesen Start-Stop-Effekt die Konturen der Bilder klar wahrnehmbar zu machen, während die Geschwindigkeit von mindestens 16 Bildern pro Sekunde eingehalten werden muss, da- <?page no="18"?> 18 Handbuch Filmgeschichte mit die Illusion der kontinuierlichen Bewegung überhaupt entstehen kann. Diese Start-Stop-Technik wird von der 1790 erfundenen Nähmaschine übernommen, die einen solchen Mechanismus aufweist. Étienne Jules Marey geht als erster diesen Weg und bleibt dabei Pionier in einer Produktionsweise bewegter Bilder, die zwar vorerst in eine Sackgasse führt, aber immerhin als Inspiration für spätere Entwicklungen dient. 1888 entwickelt er eine aus heutiger Sicht irrwitzige Konstruktion: eine Kamera mit Papierfilm, die in Laufgeschwindigkeiten von bis zu 120 Bildern pro Sekunde aufzeichnen kann - damit ist die notwendige Kombination von dehnbarem Film und einem Start- Stop-Mechanismus erstmals verwirklicht, die wenige Jahre später die eigentliche Erfindung des Films zu einem weltweiten Erfolg machen wird. Hier enden diejenigen unserer Beispiele, die sich jenseits der eigentlichen Filmgeschichte befinden - Vorläufer, Zwischenschritte, technologische Bedingungen. Der Film selbst wird ziemlich genau parallel in den USA, Frankreich und Deutschland entwickelt - die einzelnen Geschichten dahinter werden Bestandteile der folgenden Kapitel sein. Der frühe Film in den USA n allen drei Ländern - den USA, Deutschland und Frankreich - wird der Film der jeweils landläufigsten Erzählung nach von einem Team aus zwei Personen erfunden - während es sich dabei in Frankreich und Deutschland um Brüder handelt, sind das in den Vereinigten Staaten von Amerika der zu jenem Zeitpunkt bereits als Erfinder der Glühbirne und des Phonographen berühmte Thomas Alva Edison (1847-1931) und sein Assistent William Kennedy Laurie Dickson (1860-1935), ein in Frankreich geborener Schotte, der den Großteil der Arbeit verrichtet und anschließend zusehen muss, wie sein Werk unter der „Marke Edison“ verkauft wird. Man kann Edison immerhin zugestehen, dass bewegte Bilder ihn als Idee schon länger umtreiben, aber ohne Dicksons Ideenreichtum bei der eigentlichen Erfindung wäre der amerikanische Film womöglich nicht so früh und in einer so gut funktionierenden Form zustande gekommen. Die ursprüngliche Idee dahinter ist, die Prinzipien von Edisons Phonograph auch auf einen Wiedergabeapparat für bewegte Bilder zu übertragen. Erste Versuche dazu werden bereits 1888 unternommen, aber erst als Thomas Edison bei einer Ausstellung in Paris 1889 die Papierfilm-Kamera von Étienne Jules Marey sieht, geht es entscheidend voran. Er erteilt Dickson den Auftrag etwas Vergleichbares zu schaffen, und die Recherche des Schotten führt dazu, dass er auf George Eastmans Kodak-Film stößt, von dem er sogleich einen ganzen Vorrat erwirbt. Zwei Jahre später wird mit der etwa zeitgleichen Entwicklung von Kinetograph und Kinetoskop - heute würde man sagen: Kamera und Projektor - das Zeitalter der USamerikanischen Filmproduktion eingeläutet. Die Entscheidung W.K.L. Dicksons, die einzelnen Filmbilder auf eine Diagonale von circa 35 Millimetern hin zu trimmen, ist eine zufällige, legt aber auf Jahrzehnte hinaus den Industriestandard fest. Es ist ebenfalls Dicksons Idee, das Filmmaterial über je vier Lochstreifen am Rand festzuhaken, sodass diejenige Konstruktion, die auch heute noch zeichenhaft am häufigsten für „Filmmaterial“ allgemein einsteht - ein 35- Millimeter-Film mit vier Löchern auf jeder Seite - auf das späte 19. Jahrhundert zurückgeht. Allerdings weicht Dickson in seiner Framerate deutlich von späteren Standards ab: Mit seinen 46 Bildern pro Sekunde legt er eine sehr hohe Geschwindigkeit vor, während die Stummfilmwerte in der Regel zwischen zwölf und 40 Bildern pro Sekunde liegen werden. Der Tonfilm legt sich später auf 24 Bilder fest. I <?page no="19"?> 1826 bis 1900 Als die Bilder laufen lernten 19 Um einen festen Produktionsort für den Filmdreh zu haben, lässt Thomas Edison bis 1892 in New Jersey sein Studio Black Maria errichten, benannt nach den schwarzen Gefangenentransportern der US-Polizei jener Zeit, denen es von außen vage ähnelt und mit denen es deshalb ironisch seinen Spitznamen teilt. 1893 beginnt dort die Filmproduktion, die anfangs aus 20 Sekunden langen Filmen besteht, in denen verschiedene Bühnenkünstler: innen ihre Fähigkeiten präsentieren dürfen. Das daraus resultierende Programm knüpft nahtlos an Konventionen des zeitgenössischen Varietébzw. Vaudeville- Theaters an, in dem ebenfalls insbesondere Kuriositäten und Attraktionen als bühnenwürdig erachtet werden. Die Aufzeichnung kleiner Ereignisse wird als ebenso interessant empfunden wie die erste Vermarktung von Rollentypen. Im ältesten erhaltenen amerikanischen Film von 1894 namens Fred Ott’s Sneeze sieht man erwartungsgemäß eine Person namens Fred Ott niesen. In Annie Oakley aus demselben Produktionsjahr darf die berühmte gleichnamige Kunstschützin ihre Fertigkeiten präsentieren. Genauso nah an Jahrmarkt und Varieté positioniert sich Sandow the Bodybuilder , in dem die ungewöhnliche Körperlichkeit des Protagonisten als sehenswert markiert wird. Oder es präsentiert die Tänzerin Amy Muller ihre Kunstfertigkeit, aufgezeichnet und für die Nachwelt konserviert im Jahre 1896. Der Fokus auf kleine Bühnen und kleine Attraktionen schlägt sich auch auf die Kameraposition nieder, die dem Blickwinkel einer Zuschauer: in im Varieté-Theater ähnelt. Da der Film in diesem frühen Stadium noch orientierungslos angesichts seiner eigenen Medialität ist, hält er sich zunächst an etablierte und vor allem kommerziell viable Vorbilder - Thomas Edison ist, was gelegentlich in Vergessenheit gerät, als Geschäftsmann schließlich nicht weniger umtriebig denn als Erfinder. Dementsprechend verwundert es im Rückblick nicht, dass bereits 1894 der erste Kinetoscope-Salon in den USA eröffnet. Edison vermarktet seine und Dicksons Erfindung als Arcade-Maschine und nähert sie damit dem Amusement-Park-Angebot an, ja integriert sie sogar darin. Aber Edisons Geschäftssinn schlägt sich auch in seiner berüchtigten Praxis nieder, vor Gericht den Erhalt der Einzigartigkeit seiner Patente mit einer einmaligen Rücksichtslosigkeit und Konsequenz durchzusetzen. Der erste von zahlreichen Prozessen, die Thomas Edison bzw. seine Firma gegen die aufkommende Filmindustrie führt, geht auf das Jahr 1895 zurück, in dem die Gebrüder Woodville, Otway und Gray (manchmal auch Grey) Latham eine eigene Kamera entwickeln, die aufgrund ihrer charakteristischen Schleifenführung des Filmmaterials die Projektion längerer Filme ermöglicht. Der sogenannte Latham Loop ist eine zentrale Innovation für die spätere Geschichte des Kinos und wird nach und nach für alle anderen Kamera- und Projektorpaare übernommen. 1896 entwickelt ein autonomes Team das Vitaskop, welches Dicksons Kinetoskop in technischer Hinsicht überbietet. Aufgrund von Edisons Reputation führen die Entwickler ihr Gerät jedoch sicherheitshalber dem Erfinder vor statt in direkte Konkurrenz zu ihm zu treten. Edison gefällt, was er sieht, und er lässt das Gerät unter dem Namen Edison’s Vitascope produzieren, auch, um ein Nachfolgemodell für das Kinetoskop vorführen zu können. Um seinen Einfluss auf die sich allmählich etablierende Filmindustrie zu erhöhen, gibt Edison „sein“ Vitascope nur noch zum Leasing heraus und nicht mehr im regulären Vertrieb. Somit sind Vorführorte nicht nur abhängig von seinen Geräten, sie gehören überdies weiterhin ausschließlich ihrem Sponsor. Ernstzunehmende Konkurrenz lässt jedoch nicht lange auf sich warten und noch im selben Jahr wird die American Mutoscope Company gegründet, die be- <?page no="20"?> 20 Handbuch Filmgeschichte reits 1897 den Peepshow- und Projektionsmarkt mit ihren stabileren und qualitativ hochwertigeren 70-Millimeter-Film-Geräten dominiert. Die Zeit zwischen 1896 und 1897 ist im Rückblick eine Phase der ersten Ausdifferenzierung . Einerseits gibt es nun einen Unterschied zwischen der individuellen Filmsichtung in Peepshow- und Arcade- Umgebungen und dem kollektiven Sichtungserlebnis in Spielstätten, in denen projiziert wird. Andererseits differenziert sich der Film selbst ebenfalls bereits zu diesem frühen Zeitpunkt in zwei nach wie vor gültige Gattungen aus. Was man heute als dokumentarisch bezeichnen würde, sind um die Jahrhundertwende die actualities , kurze Filme über reale Begebenheiten. Darunter fallen einerseits die sehr populären scenics , die z. B. aus Reisebildern bestehen können, und andererseits die topicals , Vorläufer von Nachrichtenformaten, die einzelne Neuigkeiten filmisch verkünden. Auf der anderen Seite stehen die fiction films , Vorläufer des späteren Spielfilms in Kurzform, die von Bühnensituationen bis hin zu kleinen narrativen Sketchen reichen. Die damit einhergehende langlebige Trennung in Fiktion und Dokumentation hat ja bekanntermaßen bis heute als Gattungsdistinktion Bestand. Auch die Spielstätten selbst differenzieren sich aus: Zwar gibt es noch keine Kinos und der Film ist weiterhin ‚zu Gast‘ an temporär für ihn umgewidmeten Orten, jedoch kann man nunmehr neben Vaudevilles und Vergnügungsparks auch in kleinen Theatern und - seltener - in Kirchen oder Opernhäusern kurze Filmprojektionen zu sehen bekommen. Zumeist ist der Film dabei nur eine Attraktion unter vielen. Vaudeville-Theater beispielsweise nehmen 25 Cent Eintritt von einem mehr oder weniger wohlhabenden Publikum und bieten dafür nachmittags- oder abendfüllende Unterhaltung mit Tanz, Schauspiel, Kleinkunst, Spektakel, Gesang und, dazwischen, Film. Schauspieler: innen gehen mit ihren Projektoren auf Tour und integrieren ihre Filmvorführungen bisweilen in Vorträge, die beispielsweise in örtlichen Kirchen und Opernhäusern stattfinden. Und durch die Erfindung des Latham-Loops sind auch lange Filme technisch gesehen kein Problem mehr. Dass sie nicht häufiger produziert werden, liegt neben den fehlenden Produktionsmitteln vor allem daran, dass noch kein Markt für sie existiert. Zunächst bleiben sie folglich Sportdokumentationen vorbehalten: Enoch J. Rector nutzt die neuen technischen Möglichkeiten für die mehr als 100 Minuten dauernde Aufzeichnung eines Boxkampfes: The Corbett-Fitzsimmons Fight . Aus filmhistorischer Sicht noch wichtiger als seine Länge, die Rectors Produktion in gewisser Weise zum ersten Langfilm überhaupt macht, ist jedoch das gewählte Format: Die 63-Millimeter-Filmstreifen haben ein Seitenverhältnis von ca. 1.65: 1, das die Widescreen-Ideen, die ab den 1950er- Jahren kursieren werden, bereits früh vorweg nimmt und erstmals die Präferenz des breiten gegenüber dem hohen Bild betont, was später eine allgemeine Tendenz in der Geschichte des Filmbildes darstellen wird. Wie es bei jungen, auf einer neuen technischen Neuerung basierenden Industrien häufiger der Fall ist, verfällt auch der junge amerikanische Film bereits 1898 in eine erste Krise . Der Film überlebt sich zu schnell als bloße technische Sensation und muss für neue Inhalte sorgen, um weiterhin interessant zu bleiben. Zwischenzeitlich sind es ausgerechnet drei Formate, die aus heutiger Sicht eher ungewöhnlich erscheinen, welche den Film am Leben erhalten: Zunächst finden filmische Passionsspiele und Schaukämpfe ein relativ breites Publikum. Überdies avanciert im Zuge des Spanisch- Amerikanischen Krieges von 1898, der aus wirtschaftlichen Gründen geführt wird und dessen Resultat die US-amerikanische Eroberung Guams, Puerto Ricos, Kubas und der <?page no="21"?> 1826 bis 1900 Als die Bilder laufen lernten 21 Philippinen ist, die Kriegsberichterstattung zu einer weitläufig rezipierten Form. Nach dieser unverhofften Hilfe aus ungewöhnlichen Ressorts sorgt eine starke Ausdifferenzierung der Stoffe für mehr Abwechslung und für einen damit einhergehenden Aufschwung der Filmbranche - die erste Krise des Films kann spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts als bewältigt gelten. Thomas Edison zeigt indessen dem von ihm ins Leben gerufenen Wirtschaftszweig, dass er nicht daran denkt, seine Vormachtstellung angesichts der erstarkenden Konkurrenz schon aufzugeben. Er verklagt als Reaktion auf die Krise kurzerhand pauschal alle Konkurrenten, da sie alle implizit oder explizit sein eigenes Patent nutzen, um Film herzustellen und zu projizieren. Während die Firma American Vitagraph , die 1897 gegründet wird und wegen ihrer Spezialisierung auf Kriegsberichte in der Krise am stärksten profitiert, sich dazu entschließt mit Edison zu kooperieren, zieht die 1899 in American Mutoscope & Biograph (AM&B) umbenannte ehemalige American Mutoscope Company vor Gericht und gewinnt schließlich 1902 den langwierigen Prozess gegen Thomas Edison. Damit schafft die AM&B einen Präzedenzfall für den heterogeneren und von starker Konkurrenz zwischen den Studios belebten US-amerikanischen Filmmarkt der folgenden Dekaden. Der frühe Film in Deutschland uch in Deutschland gibt es seit den 1880er-Jahren Bemühungen um die Entwicklung von Apparaten, die bewegte Bilder herstellen und wiedergeben können. Da man heutzutage bisweilen immer noch davon liest, dass die Erfindung des Films früher fälschlicherweise den Lumière- Brüdern aus Frankreich zugeschrieben worden sei, es sich aber eigentlich um eine deutsche Erfindung handle, gestatte ich mir vorweg eine kurze Bemerkung zu diesem sogenannten Skladanowsky-Streit : Diese Idee stammt aus der NSDAP-Kulturbehörde und ist kompletter Unfug, entwickelt zu Propagandazwecken. Sie geht auf eine Auftragsarbeit des Kölner Professors Carl Niessen zurück, der 1934 in seinem Buch Der Film - eine unabhängige deutsche Erfindung die eben genannten Argumente ausführt und vertritt. Während das Attribut „unabhängig“ im Titel der Abhandlung durchaus korrekt ist, gilt es allerdings für alle erwähnten Länder. Der Film entsteht in etwa zeitgleich in Frankreich, in den USA und in Deutschland - wo dabei die ersten bewegten Bilder zu sehen sind, hängt ebenso von der gewählten Definition ab wie die Frage danach, wo zuerst etwas produziert wird, das als „Film“ bezeichnet werden kann. Geht es um die erste öffentliche Aufführung oder die erste kommerzielle? Geht es um das erste reine Filmprogramm oder um bewegte Bilder im Allgemeinen? Zählt man die Vorläufer mit oder nicht? Die heutzutage übliche Lesart setzt den Beginn der Zeitrechnung des eigentlichen Films bei Louis Aimé Augustin Le Prince an, einem in den späten 1880er-Jahren in England ansässigen Franzosen, der jedoch seine Erfindung aufgrund seines vorzeitigen Todes weder weiterentwickeln noch vermarkten kann. Aber dazu später mehr. In Deutschland ist der früheste eigenständige Apparat zur Erzeugung bewegter Bilder Ottomar Anschützens Schnellseher bzw. Tachyskop , der gemalte Bilder mithilfe einer sich drehenden Scheibe in Bewegung versetzt, die von der Zuschauer: in im Stehen beobachtet werden kann. Nach zeitgenössischen Urteilen erzeugt der 1886 entwickelte und 1887 erstmals öffentlich ausgestellte Apparat „lebende Bewegungsbilder“. Erst 1894 gelingt Anschütz jedoch die Projektion seiner vom Tachyskop ‚erzeugten‘ Bilder auf eine Leinwand. A <?page no="22"?> 22 Handbuch Filmgeschichte Die eigentlichen Erfinder des deutschen Films sind indessen die Berliner Brüder Skladanowsky. Max Skladanowsky (1863- 1939) ist Fotograf und Fotooptiker und versucht sich ebenfalls sehr früh an einem Fotoapparat für Bewegtbilder. Die ersten ‚bewegten‘ Fotos fertigt er 1892 an; es handelt sich um Aufnahmen, auf denen sein Bruder Emil Skladanowsky (1866-1945) zu sehen ist. Kurz darauf entdeckt auch Max Skladanowsky das flexible Filmmaterial George Eastmans und entwickelt - wiederum gemeinsam mit seinem Bruder - den Doppelbildprojektor Bioscop , dessen erste Variante 1895 fertiggestellt ist. Dieser funktioniert aufgrund der Doppelbildkonstruktion durch die abwechselnde Belichtung von 16 Bildern, weshalb das Schnittverfahren relativ kompliziert ist. Am 1. November 1895 präsentieren die Brüder ihr nachträglich nach dem Vorführungsort benanntes Wintergarten-Programm in Berlin der Öffentlichkeit. Damit sind sie bezüglich der ersten öffentlichen Vorführung in Europa etwas früher dran als die Brüder Lumière in Paris, jedoch mit einer technisch komplizierteren und unterlegenen Maschine, die nach wenigen Jahren - ganz im Gegensatz zum einflussreichen Lumière-Modell - wieder ausstirbt. 15 Minuten Programm sind festgelegt, acht Titel werden insgesamt gespielt. Es ist anekdotisch überliefert, dass das anwesende Publikum davon irritiert ist, dass das Saallicht zur Projektion gelöscht werden muss. Die Skladanowskys lassen ihr Programm einer etablierten Varieté-Dramaturgie folgen und schließen damit an bekannte Formen an, statt sie, wie Edison und Dickson in den USA, darin zu integrieren. Zwar ist insgesamt nicht viel von dem filmischen Œuvre der Skladanowskys erhalten, aber dafür sind es größtenteils historisch gesehen hochgradig interessante Materialien, die überliefert sind - wie etwa Straßenaufnahmen von Berlin aus dem Jahre 1896 . Und kurioserweise verantworten die Skladanowskys auf einer Auslandsreise den ersten schwedischen Film Komische Begegnungen im Tiergarten zu Stockholm , der ebenfalls 1896 entsteht und ein frühes Beispiel für eine relativ aufwändig koordinierte Choreographie darstellt. Die Anfangsjahre des deutschen Kinos sind eine Zeit des Umbruchs im Wilhelminischen Reich. Jenes geht ab 1890 in die erste Dekade ohne Otto von Bismarck als Kanzler, was unter anderem mit der Lockerung seiner Sozialistengesetze im Herbst desselben Jahres einhergeht. Zudem sind es die ersten Jahre der deutschen Frauenbewegung. 1894 wird der ‚Bund deutscher Frauenvereine‘ gegründet, der sich unter anderem mit der Etablierung einer weiblichen Sexualdebatte auseinandersetzt - die ersten Jahre des deutschen Kinos gelten in der Hinsicht dadurch als progressiv und stoßen bis in die 1910er- Jahre daher auf massiven Widerstand patriarchal orientierter „Kinoreformer“. Von selbsternannten Sittenwächtern wird vor einer sexuellen Gefahr im dunklen Kinoraum gewarnt; Frauen sollten nicht allein ins Kino gehen. Wie bei vielen Erneuerungsbewegungen wird das Tabu zu einem positiv konnotierten Zeichen der Progressivität umgekehrt - das Kino gilt der frühen Frauenbewegung als Ort der Befreiung. Insbesondere die Intimität des Kinoraums, die eine nicht-eheliche Nähe zum anderen Geschlecht zumindest potenziell zulässt, hat einen nachhaltigen und wichtigen Einfluss auf emanzipatorisches Gedankengut. Die Produktionsgewalt des Kinos liegt indessen zunächst bei den Männern: den Kameraerfindern, Filmemachern und Filmautoren. Der frühe Film in Europa n den meisten gängigen Filmgeschichtsschreibungen wird die Wiege des Kinos in Frankreich angesiedelt. Und die frühesten Filme werden aus heutiger Sicht zwar von einem Franzosen produziert, jedoch hält I <?page no="23"?> 1826 bis 1900 Als die Bilder laufen lernten 23 sich jener währenddessen in England auf. Es handelt sich um Louis Aimé Augustin Le Prince (1841-1890), der im Oktober 1888 mit einer simplen Einfachlinsenkamera und dem Eastman-Papierfilm erste bewegte Bilder herstellt. Diese sind zwangsläufig sehr kurz und werden daher heutzutage oft in einem ‚Loop‘ abgespielt. Die berühmtesten Beispiele dafür sind die nachträglich auf Basis dessen, was sie zeigen, so benannten Roundhay Garden Scene und Traffic Crossing Leeds Bridge . Ähnlich der ersten Fotografie sind Le Princes Filme auf Begebenheiten in seiner Umgebung fokussiert, Werke eines Tüftlers, der allein an seinen Experimenten arbeitet, noch ganz anders in Produktion und Ästhetik als die modellbildenden Teamarbeiten der Lumière-Brüder. Le Princes Arbeit stellt jedoch ohnehin einen Sonderweg dar, der erst spät wiederentdeckt wird - zwischen 1930 und 1990 bleibt er außerhalb von Leeds quasi unbekannt. Das liegt auch daran, dass Le Prince am 12. September 1890 unter mysteriösen Umständen einen Zug besteigt, aber niemals wieder nachweislich verlässt. Der erste Filmemacher ist daher unter Fans von Geschichten verschwundener Personen bekannter als in der breiten Öffentlichkeit, und die obligatorischen abstrusen Verschwörungstheorien, die sich um seinen Tod ranken, reichen von Auftragsmorden, veranlasst durch Thomas Edison, um die Konkurrenz auszuschalten, bis hin zu Selbstmord aus finanziellen Gründen. Die ingesamt professionellsten und handhabbarsten Geräte in Europa entwickeln indessen Auguste (1862-1954) und Louis Lumière (1864-1948), deren Familienunternehmen ohnehin bereits Fotografieplatten von Lyon aus vertreibt und damit in einer verwandten Branche etabliert ist. Die Entwicklung des weltberühmten Cinématographe beginnt 1894 als Auftragsarbeit eines ansässigen Kinetoskop-Ausstellers, günstigere Filme herzustellen als die relativ teuren Produktionen von Edison und Dickson. Das Resultat wird in vielerlei Hinsicht stilbildend und etabliert sich als weltweit vertriebene Kamera mit 35mm-Material und einer Start-Stop-Mechanik, die einer Nähmaschine nachempfunden ist, wie es bereits Étienne Jules Marey eingeführt hat. Die Lumières etablieren mit ihrer Maschine den Laufgeschwindigkeitsstandard von 16 Bildern pro Sekunde, der sich etwa 20 Jahre lang mehr oder weniger konstant hält - mehr oder weniger, da es durchaus eine Vielzahl konkurrierender Varianten gibt und erst ab dem Beginn der Tonfilm-Ära verbindlichere weltweite Vorgaben existieren. Am 22. März 1895 erfolgt die erste Vorführung von La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon (Arbeiter verlassen die Fabrik) , der oft als erster Film überhaupt bezeichnet wird. Es dauert jedoch gut neun Monate, ehe das erste kommerzielle Screening im Grand Café in Paris erfolgt: Der 28. Dezember 1895 wird rezeptionshistorisch gesehen zur Geburtsstunde des Kinos. Bekannt ist über das Programm, dass es zehn Filme umfasst und einen Franc Eintritt kostet. Unter den zehn Filmen ist auch die erste Filmkomödie, ein kurzer Sketch über einen bewässerten Bewässerer, oder L’arroseur arrosé , der in der Hochzeit der Slapstick-Komödie in den 1910er- und 1920er-Jahren zum Standard avanciert. Das Screening ist von etlichen Anekdoten umrankt und wird intertextuell von zahllosen Regisseur: innen als Ursprung des Kinos wieder und wieder aufgegriffen. Dreh- und Angelpunkt der Erzählungen und Zitate ist stets der Film L’arrivée d’un train en gare de La Ciotat , der die Ankunft eines Zuges im Bahnhof von La Ciotat abbildet und die aussteigenden Menschen am Bahnsteig zeigt, und den man somit als popkulturell gesehen ersten Film der Filmgeschichte bezeichnen kann. So soll das Publikum je nach Anekdote fluchtartig den Raum verlassen oder sich unter den Tischen versteckt haben, als der <?page no="24"?> 24 Handbuch Filmgeschichte Film gezeigt wird. Natürlich ist beides ziemlicher Unfug, da der anfahrende Zug beim Verlassen des Bildkaders schlagartig verschwindet und weder Geräusche macht noch Farben aufzuweisen hat. Die zusätzliche Verfremdung durch das zweidimensionale Bild ist ein weiteres Argument gegen die Fabel vom Schreck, den die erste Kinogeneration bei ihrem Initialerlebnis empfunden haben soll. In Wahrheit ist die Vorführung ein veritabler Erfolg für die Brüder Lumière. Die Einfahrt von Zügen ist Mitte der 1890er- Jahre schon eine Zeit lang ein gängiges Motiv in der bildenden Kunst Frankreichs gewesen. Insbesondere Claude Monets La Gare Saint-Lazare von 1877, eine Gemäldeserie aus zwölf Bildern , enthält manche Darstellungen, die im Nachhinein eine starke Ähnlichkeit zu der vergleichbaren Ästhetisierung jenes Ereignisses durch die Brüder Lumière aufweisen. Und obgleich dieser als Erweckungsmoment eines neuen Mediums rezipierte Film in Titelgebung und Ästhetik vordergründig dem Gestus eines Dokumentarfilms folgt, weist er zahlreiche verdeckte Momente von Regieanweisungen, Bildgestaltung und Inszenierung auf. Natürlich sind schon die Auswahl des Blickwinkels, die Länge der Gesamteinstellung und die Positionierung der Kamera im Raum und die damit einhergehende Raumkonstruktion Eingriffe in die realitätsgetreue Abbildung der Begebenheit - so wie es jeder Film notwendig voraussetzt. Bliebe der Zug vor dem Erreichen der Kameraposition stehen oder endete er vorzeitig vor dem Aussteigen der Fahrgäste, wäre es ein anderer Film. Die Lumières etablieren hier frühzeitig Elemente der formalen Ordnung und beziehen sich auf die Geschichte der bildenden Kunst, was für das generelle filmische Aufgreifen logischer visueller Ordnungsprinzipien wie beispielsweise der nachmittelalterlichen Zentralperspektive paradigmatisch ist. Auf der Ebene des Dargestellten fällt die üppige Sonntagskleidung einiger Fahrgäste auf, und dass fast niemand in die damals noch unübersehbar klobige und durchaus neuartig-unbekannte Kamera schaut, wie es eigentlich zu erwarten wäre. Natürlich haben wir es mit einer Inszenierung zu tun: Die Angehörigen der Familie Lumière helfen als Statist: innen aus und haben sich für den Film unrealistisch stark herausgeputzt. Sie haben strikte Anweisungen die Kamera zu ignorieren - einzig die wenigen authentischen Fahrgäste blicken etwas neugierig hinein. Und damit ist noch eine weitere Konvention etabliert, die bis heute absolut geläufig ist und umso seltener hinterfragt wird: Schon hier ist der Kamerablick, anders übrigens als in der Fotografie, ungleich dem tatsächlichen Blick. Es geht beim Film immer auch um die Thematisierung ebenjenes Blicks, das Herausheben einer ausgewählten Situation aus der Gesamtheit möglicher Situationen in der filmischen „Realität“, um diese den Ordnungsprinzipien des Films zu unterwerfen. Der Blick in die Kamera wäre damit bereits hier, wie es auch heute noch gilt, ein Bruch der ‚vierten Wand‘, eine Störung der Illusion. L’arrivée d’un train en gare de La Ciotat wird vermutlich deshalb von der Nachwelt unter vielen anderen zeitgenössischen Filmen der Lumières hervorgehoben, weil er in mancherlei Hinsicht die ästhetische Geburt des Films darstellt. Nur kurze Zeit nach dem ersten kommerziellen Screening in Frankreich nehmen einige andere sich des Filmemachens an - darunter die erste Regisseurin der Filmgeschichte , Alice Guy (1873-1968). Ihr erster Film La Fée aux Choux von 1896 ist heute leider verloren, wird aber noch zweimal von ihr neu gedreht. Er gilt als der erste narrative Film der Filmgeschichte; darin zaubert eine Kohlfee kleine Babys aus dem von ihr protegierten Wintergemüse und lässt diese als Früchte ihrer Ernte auf dem Boden zurück. Die symbolische Verbindung von Muttererde und Mutterschoß ist nicht nur der Stoff der viel- <?page no="25"?> 1826 bis 1900 Als die Bilder laufen lernten 25 leicht ersten fantastischen Erzählung der Filmgeschichte, sondern gleichsam ein frühes Beispiel für das rhetorische Potenzial des Films. Aber gehen wir noch einmal kurz zurück zu den Lumières. Bereits 1896 expandieren die Brüder, gestützt von ihrem Firmenvermögen, international, indem sie Reisefilme aus Spanien, Ägypten, Italien, Japan und weiteren Ländern anfordern. Dazu beauftragen sie assoziierte Mitarbeiter: innen, die in die jeweiligen Länder reisen und dort mithilfe der Cinématographen kurze Filme drehen. Diese sind in Europa wiederum sehr populär, da sie die Wege zumindest auf visueller Ebene radikal verkürzen: Eindrücke aus fremden Ländern kann man nun in Form bewegter Bilder erlangen und nicht mehr nur durch Erzählungen, Fotografien oder eigene Reisen. Der Grundstein für eine globalisierte visuelle Mediengesellschaft ist gelegt. Ein Nebeneffekt dieser Vorläufer ist die Erfindung der bewegten Kamera. Eugène Promio, einer jener heute weitgehend unbekannten Reiseregisseure der Lumières, filmt 1896 in Ägypten ein Panorama des Nilufers, indem er den Cinématographen an Bord eines kleinen Bootes positioniert. Die daraus entstehende Kamerafahrt nennt sich Egypte: Panorama des rives du Nil und eröffnet der Filmwelt erstmals den Blick dafür, wie stark die Dynamik der bewegten Bilder sich mithilfe einer zusätzlich selbst bewegten Kamera steigern kann. Die Gegenbewegung zum ausgreifenden Export von Cinématographen zum Einfangen von Eindrücken weltweit vertritt der mithin als „Kino-Magier“ bezeichnete Tüftler Georges Méliès (1861-1938), der 1896 von dem englischen Filmemacher und Gerätebauer Robert William Paul ein englisches Projektor-Modell erwirbt. Méliès dreht noch in jenem Jahr ganze 78 Filme und wird insbesondere berühmt für sein illusionistisches „Trick“-Kino. Er experimentiert jedoch auch als einer der ersten mit der Verwendung mehrerer shots in einem einzigen Film - so z. B. in Cinderella aus dem Jahre 1899 und insbesondere L’affaire Dreyfus , der in zehn verschiedenen Teilen, die mit den jeweiligen Einstellungen korrespondieren, veröffentlicht und als erster Film überhaupt von einer Zensurbehörde verboten wird. Die Idee des illusionistischen Kinos zelebriert Méliès mit Vorliebe, und die Verwandtschaft zur Magie findet sich nicht zufällig in einem seiner frühesten Filme, dem Zaubertrick Escamotage d’une dame chez Robert-Houdin aus dem Jahre 1896, ganz explizit. Ab 1897 können die Cinématographen nicht mehr nur für die Lumière-Produktion geliehen werden, sondern gehen in den freien Verkauf. Rasant verbreitet sich das Phänomen ‚Film‘ weltweit und etliche Kulturen beginnen um die Jahrhundertwende ihre individuelle Filmgeschichte. In Frankreich selbst ereignet sich etwa ein Jahr vor der USamerikanischen Filmkrise eine große Tragödie: Am 4. Mai fängt das leicht brennbare Filmmaterial in einem Pariser Kino Feuer und 125 Menschen sterben in dem dadurch ausgelösten Brand. Die Attraktivität des Films verringert sich für eine gewisse Zeit und auch die französische Filmindustrie muss eine Weile um ihre steigenden Zahlen bangen. Insgesamt aber etabliert sich die industrielle Filmproduktion, während das Modell Lumière - der Zusammenschluss von Gerätebau und Filmproduktion in den Händen einer oder weniger Personen - allmählich schon wieder ausstirbt. Die beiden zentralen französischen Filmstudios der folgenden Jahre werden bereits 1896 bzw. 1897 gegründet: zuerst Pathé Frères von seinem Namensgeber Charles Pathé (1863-1957), das im 20. Jahrhundert zu einem enorm einflussreichen Studio avancieren wird; und kurz darauf gründet Léon Gaumont (1864-1946) sein <?page no="26"?> 26 Handbuch Filmgeschichte gleichnamiges Studio Gaumont , das sich als Pathés hartnäckigster Konkurrent etablieren wird. Einige Jahre lang hält sich indessen parallel zur aufkeimenden Industrie das System der Tüftler: innen und Selbstmacher- : innen, insbesondere in der Person von Georges Méliès, dessen Produktionen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts noch einmal einen starken Aufschwung in Sachen Kunstfertigkeit und Popularität erfahren. Der Film kommt erstmals durch den bereits erwähnten Franzosen Louis Aimé Augustin Le Prince nach Großbritannien . Zum zweiten Mal kommt er aus den USA, und zwar in Form einer Werbevorführung von Edisons und Dicksons Kinetoskop in London im Oktober 1894. Die Vorführung hinterlässt bei etlichen interessierten Tüftler: innen Eindruck, und Robert William Paul (1869-1943), seines Zeichens Elektriker und Instrumentenbauer, erhält von dem Salon, in dem die Ausstellung stattgefunden hat, den Auftrag, ebenfalls Kinetoskope herzustellen. Da diese im Ausland zu jenem Zeitpunkt noch unpatentiert sind, kann Paul legal und einfach Kopien der Geräte anfertigen und vertreiben. Im März 1895 entsteht in England eine weitere Kamera, die auf dem Modell von Étienne Jules Marey basiert. R.W. Paul und Birt Acres (1854-1918) nutzen diese für erste Filme, zerstreiten sich jedoch dabei, was dazu führt, dass Paul die Kamera allein weiterentwickelt und Acres indessen einen Projektor baut. Aus dieser getrennten Zusammenarbeit ergeben sich die ersten Vorführungen in England produzierter Filme. Ein großer Hit des streitbaren Teams ist der scenic film Rough Sea at Dover , uraufgeführt im Januar 1896. Er zeigt nichts als bewegte Wellen, die im Vordergrund der berühmten Kreideklippen vor Dover auf ein Ensemble von Felsen prallen, aber damit eben etwas, das nicht allen Filmzuschauer: innen der Zeit ohne Weiteres zugänglich ist. Auch Twins’ Tea Party (1896) von R.W. Paul erfreut sich großer Beliebtheit - man könnte ihn aufgrund seiner totalen Abhängigkeit von der Niedlichkeit seiner Protagonist: innen als eine Art Katzenvideo der 1890er-Jahre begreifen. Als die englische Industrie sich 1896 allmählich findet und die französische Industrie beginnt ins Ausland auszugreifen, ergibt sich in diesem Fall eine geradezu symbiotische gegenseitige Durchdringung der Märkte. Die Lumières führen ihren Apparat und ihre Filme in England vor, während zeitgleich der Vertrieb von R.W. Pauls Equipment in Frankreich beginnt, von dem Georges Méliès berühmtermaßen ein Gerät als ‚Einstiegsdroge‘ erwirbt. In England selbst wird der Film aber eher vergleichbar der Situation in den USA positioniert. Er nimmt einen Slot im Music-Hall- Programm, dem englischen Pendant des Vaudeville-Theaters, ein, und wird ab 1897 auch auf Jahrmärkten gezeigt. Ein früher Filmtyp, der bald ähnlich populär wird wie der Reisefilm, ist der phantom ride , den es bis heute in Form der nächtlich im Fernsehen ausgestrahlten ‚schönsten Bahnstrecken Europas‘ gibt. Der erste Vertreter dieser in der Nachfolge ‚bewegten Kamera‘ Eugène Promios entstandenen Filme firmiert heute unter dem prosaischen Namen View from an Engine Front - Barnstaple und erscheint 1898. Nachhaltig berühmt wird der frühe englische Film jedoch durch drei Filmemacher, die um die Jahrhundertwende etliche Trick- und Narrationsexperimente durchführen und damit vieles von dem vorwegnehmen, was wenige Jahre später für den US-Film stilbildend werden wird. Drei Werke aus dem Jahre 1900, die dies gut exemplifizieren, sollen kurz vorgestellt werden: Da ist einerseits Cecil Hepworths (1874-1953) Explosion of a Motor Car , der mithilfe avancierter Schnitttechniken die womöglich erste Actionszene der Filmgeschichte hervorbringt. Anderer- <?page no="27"?> 1826 bis 1900 Als die Bilder laufen lernten 27 seits sind da die Vertreter der sogenannten Brighton School, bestehend aus den schnurrbärtigen Fotografen George Albert Smith (1864-1959) und James Williamson (1855- 1933). In Williamsons The Big Swallow wird durch einen geschickten verdeckten Schnitt der Eindruck erweckt, der Protagonist verschlucke Kamera samt Personal, was zugleich eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit Perspektive, Einstellungsgröße und Blickmacht anstößt. In Smiths Let Me Dream Again findet sich nicht nur der erste Traum und die erste zur Markierung des Aufwachens verwendete Unschärfe der Filmgeschichte, sondern gleichsam die früheste überraschende Auflösung. Ein Lebemann wird gezeigt, wie er das Leben in vollen Zügen genießt, ehe die Realität ihn einholt und alles sich als frommer Traum erweist. Let Me Dream Again bringt zudem das erste Remake der Filmgeschichte hervor, wodurch die starke Verknüpfung zwischen dem frühen englischen und dem frühen französischen Film nochmal deutlich wird: Der Pathé-Regisseur Ferdinand Zecca (1864- 1947) inszeniert den Stoff 1901 noch einmal unter dem Namen Rêve et Realité . Der frühe Film im globalen Kino as Kapitel zum globalen Kino muss in seiner ersten Dekade leider sehr kurz ausfallen und beschränkt sich weiterhin größtenteils auf Europa, nämlich Russland, Spanien und Polen, da auf anderen Kontinenten nur unter kolonialen Produktionsbedingungen (wie etwa in Ägypten) oder mit europäischem Gerät und verantwortet von europäischem Personal (wie etwa in Japan) bereits Filme hergestellt werden. Auch in etlichen europäischen Ländern wie Schweden oder Spanien finden sich anfangs nur Filmarbeiten temporär eingereister Filmemacher: innen aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland oder den USA. Der erste schwedische Film stammt wie erwähnt von den Brüdern Skladanowsky, die ersten Filme in Spanien werden 1896 durch Mitglieder der Lumière-Gesellschaft realisiert. 1897 entsteht jedoch bereits der erste spanische Film, gedreht von Eduardo Jimeno Correas (1870- 1947), der Ansichten von einer Kirche in Zaragoza aus abbildet: Salida de la misa de doce de la Iglesia del Pilar de Zaragoza. Es ist der Grundstein für eine der reichhaltigsten Filmtraditionen der Welt. In Osteuropa ist zu jenem Zeitpunkt nur ein interessanter Sonderweg zu dokumentieren, der sich letztlich leider als Geschichte einer gescheiterten Entwicklung liest: Dem Polen -1945) gelingt es mit seinem Pleographen 1894 ebenso wenig wie dem Ukrainer Jossif Timtschenko (1852- 1924) 1893 mit seinem Kinetoskop im russischen Zarenreich Fördergelder zur Verbesserung ihrer Prototypen einzuwerben. Interessanterweise wären beide Geräte noch vor dem Cinématographen der Lumières im Einsatz gewesen und können heute als ein interessantes Was-wäre-wenn der alternativen Filmgeschichte verstanden werden. Die mittlerweile größte Filmindustrie in Bezug auf ihre Zuschauer: innenzahlen und ihren filmischen Output beginnt ihr Schaffen ebenfalls als Reaktion auf eine Vorführung des Lumièreschen Cinématographe am 7. Juli 1896 - in Indien besteht der Film jedoch in den ersten Jahren nur aus Theaterabfilmungen, ehe Harishchandra Sakharam Bhatavdekar (1868-1958) im Jahr 1898 eine französische Kamera importiert und ab 1899 erste Sportberichterstattungen von Ringkämpfen und Performances im Zirkus-Stil produziert. Als erster indischer Film gilt demnach Bhatavdekars The Wrestlers aus dem Jahre 1899, der einen Kampf zwischen den beiden berühmten Ringern Pundalik Dada und Krishna Navi am 1. November desselben Jahres dokumentiert. D <?page no="28"?> 28 Handbuch Filmgeschichte Wichtige Stichwörter dieser Zeit Realität Noch stärker als die Fotografie stellt die Ankunft des Films, der konservierbaren bewegten Bilder, eine Herausforderung des Realitätsbegriffs im ausgehenden 20. Jahrhundert dar. Welchen Stellenwert Film in Bezug auf Realität hat, wird seit seiner Entstehung und bis heute ausgiebig diskutiert - sowohl von Filmschaffenden als auch von Kritiker: innen und in der Wissenschaft. Laut Lorenz Engell wurde indessen „der unsicher gewordene Realitätsbezug, die fragwürdige Bedeutung des Wirklichen, zu der die Verschiebungen im 19. Jahrhundert geführt hatten, […] durch die Abbildung wieder gefestigt. Durch Pose und Arrangement, durch die Wahl von Bildausschnitt und Perspektive sowie die Beleuchtung erhielt das Bild Bedeutungen, die auf den abgebildeten Gegenstand oder die Person rückübertragen wurden.“ (Engell 1992, 38) Emergenz Die Gleichzeitigkeit der Entstehung des Films in mehreren nationalen Industrie- und Kulturgefügen hat manchmal den Begriff der „Emergenz“ provoziert. Emergenz bedeutet hier das gleichzeitige Auftauchen eines Phänomens, das einerseits an frühere Phänomene historisch anschlussfähig ist, zugleich aber mehr umfasst als die Summe der zugehörigen Teile . Der Begriff geht auf George Henry Lewes zurück, der 1875 das Bewusstsein als Emergenz des Gehirns beschreibt - seither wurde der Begriff vielfältig auf Gedankenströmungen und technische Fortschritte gleichermaßen angewendet. cinema of attractions Tom Gunnings einflussreicher Text The cinema of attractions: Early Film, Its Spectator and the Avantgarde (1986) nimmt eine Umdeutung des frühen Films vor, indem dessen nachträgliche historische Konzeption als ‚primitive, vorläufige‘ Phase kritisiert wird. Stattdessen sieht Gunning in den frühen Filmproduktionen ein der Avantgarde und dem Vaudeville gleichermaßen nahes „Kino der Attraktionen“. Der Begriff cinema of attractions , der den bevorzugten Stoffen des Films bis ca. 1908 oft gerecht wird, lehnt sich an Eisensteins in den 1920er-Jahren entwickelten Konzept der „Montage der Attraktionen“ vor allem dem Namen nach an. Demgegenüber steht laut Gunning das spätere, den Mainstream dominierende cinema of narration , wenngleich das cinema of attractions laut Gunning in manchen Genres (Monumentalfilm, Musical, Action- Film) und in manchen Ideen des dezidiert nichtnarrativen Experimentalfilms bis heute überlebt. <?page no="29"?> Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Traffic Crossing Leeds Brigde » Regie: Louis Aimé Augustin Le Prince » Land | Jahr: GB/ F | 1888 Eines der frühesten erhaltenen Filmdokumente, über das immer noch ein guter Eindruck von der Ur- und Frühgeschichte des Mediums erlangt werden kann. Filmtipp L ’ arrivée d ’ un train en gare de La Ciotat » Regie: Auguste & Louis Lumière » Land | Jahr: F | 1895 Aus popkultureller Sicht der Beginn der Filmgeschichte - unzählige Male analysiert und anzitiert, und nach wie vor ein Erlebnis. Filmtipp The Big Swallow » Regie: James Williamson » Land | Jahr: GB | 1900 Ein selbstreflexiver Gag, der das Spiel mit den Grenzen repräsentiert, mit dem die Brighton School der frühen Filmgeschichte wichtige neue Impulse beibrachte. 1826 bis 1900 Als die Bilder laufen lernten 2 <?page no="31"?> 1901 bis 1910 · Die Findungsphase des Films Nachdem der Film sich in seinen ersten Jahren noch mit einzelnen Einstellungen und einer weitgehend starren Kamera zufriedengegeben hat, kann man das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts als eine Zeit der Montage bezeichnen. In diesen Jahren erfolgen die ersten Kombinationen von Master- und Insertshots , also großen Ansichten des übergeordneten Geschehens, die durch davon abgesetzte Ansichten von Details ergänzt werden. Außerdem etablieren sich nach einer kurzen Übergangsphase die ersten Anschlussschnitte, wie sie bis heute zum Standardinventar der Filmsprache gehören. Parallel- Shots ermöglichen die ersten Vermittlungen von Gleichzeitigkeit und in einigen Pathé- Filmen von 1907 und 1908 kann man gar von ersten Parallelmontagen im engeren Sinne sprechen. Zudem wird 1907 in dem Vitagraph-Film Francesca da Rimini der erste Blick aus der Perspektive einer Figur, ein sogenannter point of view shot (kurz: PoV Shot ) in einen Film montiert und sogar noch in eine Detailansicht aufgelöst: Nach dem Blick einer Figur auf ein Amulett ist jener Gegenstand, um seine Wichtigkeit für die Handlung zu betonen, noch einmal, aber aus größerer Nähe zu sehen. All diese Entwicklungen sind Vorläufer des bereits wenige Jahre später verbindlichen und bis heute verständlichen und üblichen Continuity-Stils. Nach der technologischen Findungsphase des späten 19. Jahrhunderts begibt sich der Film in den 1900er- Jahren also in eine stilistische Findungsphase und schafft es damit, nunmehr auf technisch-inhaltlicher Ebene und nicht mehr nur als Novität fortwährend attraktiv zu bleiben. 1900er: Europa n Frankreich entwickelt sich Georges Méliès als bedeutender Innovator des frühen Films weiter. Méliès ist nicht nur eine der innovativsten, sondern auch eine der produktivsten Persönlichkeiten des noch jungen Mediums: Zwischen 1897 und 1905 vollendet er weltweit mehr Filme als jede andere Instanz; danach wird er jedoch vom Studio Pathé abgelöst - die frühe Hochzeit der von Einzelpersonen verantworteten Filme geht allmählich dem Ende zu. Besonders berühmt ist Méliès für seinen 1902 entstandenen und international rezipierten Science- Fiction-Film Le voyage dans la lune , der mithilfe eines ausgeklügelten Bühnendesigns und etlicher Filmtricks eine bemannte Mondreise inszeniert. Der französische „Kino- Magier“ dreht zwischen 1897 und 1912 insgesamt um die 500 Filme, ehe er sich aus dem Filmgeschäft zurückzieht. Ab 1910 produziert er unter Vertrag für Pathé, was jedoch dazu führt, dass viele seiner Filme ohne seine Zustimmung gekürzt und geschnitten werden, sodass er 1912 den Vertrag wieder aufkündigt. Die folgenden Jahre sind für Méliès von Tragödien, finanziellem Bankrott und familiären Zerwürfnissen gezeichnet - seine Filmkarriere ist bald darauf an ihrem Ende angelangt. Lorenz Engell sieht in seiner buchlangen Filmgeschichtsstudie Sinn und Industrie (Engell 1992) in den 1900er-Jahren eine neue I <?page no="32"?> 32 Handbuch Filmgeschichte Tendenz, die er als Eingang der Aufbruchsutopie in die Filmgeschichte, also einer Darstellung, wie die Welt sein könnte, bezeichnet. Sie stehe der Ordnungsutopie früherer Filme, einer Abbildung, wie die Welt sein sollte, gegenüber - auf eine verkürzte Formel gebracht, löse die Metapher der Raumfahrt diejenige der Armee ab. Trotz dieser allgemeinen Tendenz widmen sich etliche Filmemacher: innen in den 1900er-Jahren ebenfalls verstärkt realitätsnahen Anliegen . Der Pathé-Regisseur Ferdinand Zecca (1864-1947) dreht 1902 Les victimes de l’alcoolisme , eine sozialkritische Erzählung über die Gefahren des Alkoholismus in fünf Tableaux, nach einer Buchvorlage des Naturalisten Émile Zola. Der Film enthält die möglicherweise ersten trennenden Zwischentiteln aus Text (genannt Inserts). Der Kontrast zu Méliès könnte insbesondere im finalen Tableau nicht größer sein, das den mittlerweile im Sanatorium eingesperrten, alkoholkranken Protagonisten zeigt, wie er vor einer starren Szenenbild allmählich zugrunde geht. Zwischen 1903 und 1904 geht zudem eine frühe Spielart des Farbfilms, die bereits seit einigen Jahren für einzelne Filme - z. B. auch berühmtermaßen für Le voyage dans la lune - Anwendung findet, bei Pathé in industrielle Produktion: Zumeist Arbeiterinnen müssen die anstrengende Fließbandarbeit der Nachkolorierung von Filmen leisten, die ausgewählte Premiumprodukte attraktiver machen soll. Bei der großen Konkurrenz Gaumont arbeitet derweil Alice Guy als verantwortliche Produzentin, wodurch sie zwar weniger Filme dreht, aber einen großen Einfluss auf das Filmschaffen des gesamten Studios nimmt. 1905 dreht sie Tango , der sich als einer der frühesten Tanzfilme intensiv mit Bühnenanordnung, Perspektivinszenierung und Ästhetisierung von künstlerischer Bewegung auseinandersetzt. Auch dieser Film wird nachkoloriert und zeigt, wie eindrucksvoll sich Guy in bildästhetischer Hinsicht in den wenigen Jahren seit La fée aux choux entwickelt hat. Der Umgang mit filmischer Zeit ist ohnehin ein großes Thema der 1900er-Jahre - Mark Cousins bezeichnet sie in seiner Story of Film als dasjenige Jahrzehnt, welches dem Film beibringt, „während“ zu sagen, indem die Vermittlung von Gleichzeitigkeit durch Schnitt entwickelt wird. In einigen Pathé- Filmen, insbesondere Le cheval emballé, 1907 von Louis J. Gasnier verantwortet und im Januar 1908 erstmals vorgeführt, kommen erste Konstruktionen vor, die im Rückblick wie Vorläufer von Parallelmontagen erscheinen und mehrere Handlungsstränge miteinander verbinden. Als ein Wäscher sein Pferd wegen einer Lieferung vor dem Haus stehen lässt, bedient sich jenes an einem Sack Weizen. Während der Hauptteil der visuellen Aufmerksamkeit dem Wäscher gilt, ist immer wieder das Pferd zu sehen, wie es zeitgleich den Weizen frisst, blitzschnell zunimmt und schließlich, als der Wäscher zurückkehrt, aufgrund der vielen überschüssigen Energie völlig außer Kontrolle gerät. In Sachen Filmindustrie ist die Schließung der Produktionsstätten der Lumière- Brüder im Jahre 1905 ein einschneidendes Ereignis und kann als letztes Zeichen einer totalen Umstrukturierung hin zu einer studiogeleiteten Professionalisierung des französischen Films verstanden werden. Entsprechend im Aufschwung befinden sich indessen Pathé und Gaumont: Ab 1901 verschiebt Erstere endgültig das Hauptanliegen der Firma von ihrer Phonographen-Abteilung auf die Filmproduktion. 1902 wird im Zuge dessen ein eigenes Studio mit Glaswänden zur Nutzung des Sonnenlichts erbaut. Und Pathé entwickelt gar eine eigene Kamera, die bis nach dem Ersten Weltkrieg zum französischen Standard und weltweiten Erfolgspro- <?page no="33"?> 1901 bis 1910 Die Findungsphase des Films 33 dukt wird. Die Marge ist zu jener Zeit entsprechend üppig bemessen: Während für die Amortisierung eines Films bei der Konkurrenz normalerweise der Verkauf von 15 Kopien ausreichend ist, versetzt Pathé um die 350 Kopien pro Film. Schon bald expandiert das Studio nach Großbritannien, in die USA, nach Russland und nach Deutschland, wo eigene Zweigstellen entstehen und mit den regionalen Produktionsfirmen in Konkurrenz treten. Zwischen 1905 und 1908 erfährt die französische Filmindustrie insgesamt ein starkes Wachstum. Pathé erwirbt in jener Phase drei Studios und wird zur ersten Filmfirma weltweit, welche die später für das Hollywood- System so zentrale vertikale Integration praktiziert, was bedeutet, dass die Produktion, die Distribution und die Aufführung allesamt in derselben Hand liegen. 1906 erwirbt Pathé zu diesem Zweck erste Filmtheater, 1907 etabliert das Studio den eigenen Vertrieb und vertreibt ab 1908 gar Filme aus anderen als den eigenen Produktionskontexten. Neben dieser allmählichen vertikalen Ausdehnung ist Pathé außerdem das erste Studio, das sich um horizontale Integration bemüht. Es expandiert also auch im eigenen Sektor durch das Aufkaufen anderer Studios und die eigene internationale Verbreitung, die besonders in Italien, Russland und den USA von Erfolg gekrönt ist. Im Jahre 1905 arbeiten insgesamt sechs Filmemacher unter der Leitung von Ferdinand Zecca für Pathé, die jeder einen Film pro Woche drehen, was einem Output von sechs Filmen pro Woche gleichkommt, nahezu einer für jeden Tag! Bei Gaumont steigt wie erwähnt Alice Guy zur wichtigsten Koordinatorin und Produzentin des Studios auf und zeichnet verantwortlich für die Organisation und Entwicklung des Firmenportfolios. Gaumont baut erst im Jahre 1905 ein eigenes Produktionsstudio; ihr größter Coup zu jener Zeit ist die Verpflichtung von Louis Feuillade , der später zu eine: r de: r bekanntesten Regisseur: innen seiner Zeit avancieren wird. Auch Gaumont expandiert nach und nach und wird eine Pionierin der vertikalen Integration verschiedener filmnaher Berufe in die eigene Produktion. Alice Guy selbst dreht 1906 den Passionsfilm La naissance, la vie et la mort de notre-seigneur Jésus- Christ , für den sie einen eigenen Designer engagiert. Dies ist ein frühes Beispiel für die Erweiterung des künstlerischen und handwerklichen Filmbetriebs weit über den Film hinaus - wie es heute bei Kostümbild, Kulissenbau, Effektfirmen und vielen anderen Ressorts die Norm ist. Guy heiratet 1907 einen Kameramann und trägt fortan den Namen Guy-Blaché. Aufgrund der Ehe gibt sie ihre Berufstätigkeit, wie es damals üblich ist, temporär auf, gründet jedoch wenig später mit ihrem Ehemann zusammen ihre eigene Produktionsfirma Solax, die insbesondere in den USA in den 1910er-Jahren erfolgreich ist, jedoch die spätere Umsiedelung der gesamten Industrie an die Westküste nicht überlebt. Guy-Blaché wird zudem Filmdozentin an der Columbia University , was zu jener Zeit noch ein ausgesprochen unübliches Tätigkeitsfeld darstellt. Als Alice Guy-Blaché Gaumont schließlich verlässt, übernimmt Louis Feuillade (1873-1925) ihre Rolle als Leitung des Filmbereichs. Die bei Alice Guy bereits sichtbare Tendenz, dem Gaumont-Film eine größere Kunstfertigkeit und Produktionsästhetik zu verleihen, wird von der Firma Film d’Art zum Programm erklärt. Bereits im Namen werden hier Film und Kunst in ein Verhältnis gesetzt, und das ist kein Etikettenschwindel: Film d’Art wird zum Vorläufer in Sachen ‚audiovisuelles Gesamtkunstwerk‘ . Ihr erster Film L’Assassinat du Duc de Guise von André Calmettes aus dem Jahre 1908 ist zwischen 15 und 20 Minuten lang, mit zeitgenössischen Theaterstars besetzt, das Skript stammt von einem berühmten Theaterschriftsteller und der Soundtrack wird von <?page no="34"?> 34 Handbuch Filmgeschichte einem Komponisten sogenannter klassischer Musik, nämlich keinem Geringeren als Camille Saint-Sa ë ns, komponiert. Aufgrund des mit solchen Ansprüchen verbundenen riskanten Finanzierungsmodells - große Ausgaben erfordern entsprechend große Einnahmen - existiert Film d’Art jedoch nur bis 1911. Es ist jedoch ein erster Vorstoß in ein Diskursfeld, das den Film bis zum heutigen Tag immer wieder beschäftigt - hat er als Medium gesellschaftliche Verantwortung oder eine gesellschaftliche Funktion? Ist er eine Kunst und damit für die Bildung, oder ist er doch eher für die Unterhaltung seines Publikums zuständig? Zuletzt wandelt sich in Frankreich in den 1900er-Jahren auch die Situation der Filmvorführung radikal - die Mitte des Jahrzehnts noch üblichen Café-Vorführungen und die Verbreitung von Filmen durch reisende Vorführer werden zwischen 1907 und 1910 quasi vollständig durch Filmtheater abgelöst, die im folgenden Jahrzehnt in Frankreich die absolute Norm darstellen. Selbstverständlich geht das Zeitalter der experimentellen Kausalmontage auch an der einfluss- und erfindungsreichen Brighton School aus Großbritannien nicht vorüber. James Williamson dreht bereits 1901 den Film Fire! , der einen großen Einfluss auf den US-amerikanischen Regisseur Edwin S. Porter hat, und damit auf einen der wichtigsten Protagonisten des frühen Continuity-Stils in den USA. Darin wird zwischen Innen- und Außenraum, Brandort und Feuerwache, sowie, am brennenden Haus, oben und unten durch Schnitte vermittelt, sodass alle drei filmischen Achsen in Sachen Kontinuität ausgelotet werden. George Albert Smiths Mary Jane’s Mishap von 1903 verlässt sich maßgeblich auf die noch sehr neue Technik der Verknüpfung von master shots (Darstellungen der Gesamtsituation) und inserts (herausgegriffenen Details aus der Gesamtsitutation). Aus England kommen auch in den 1900er- Jahren einige namhafte wirtschaftliche Erfolge, die vor allem mit Cecil Hepworth in Verbindung gebracht werden können. Rescued by Rover etwa, ein Drama von 1905, das zeigt, wie ein Hund sein Herrchen zu seinem entführten Baby leitet, avanciert zu einem Welterfolg und stellt einen Meilenstein der anrührenden, ‚ernsthaften‘ Film- Narration dar. Cecil Hepworths Hund „Blair“, der die Hauptrolle übernimmt, wird infolgedessen der erste Hunde-Filmstar überhaupt. Italien , eines der wichtigsten Filmländer, steigt in den neuen Trend ein wenig verspätet ein. 1905 und 1906 werden die ersten großen Produktionsfirmen Cines in Rom sowie Ambrosio und Itala in Turin gegründet. Die Phase des Handwerkskinos überspringt Italien zur Gänze, stattdessen geht das Land direkt zur Fabrikproduktion über. Zu Beginn wird die inhaltliche Arbeit vor allem von französischen Filmemacher: innen übernommen, die in Italien arbeiten. Dies wirkt sich auf viele Konventionen aus, unter anderem auch auf diejenige der Vorführung, jedoch beginnen sich in Italien schon sehr früh die Filmtheater als feste Projektionsorte zu verstetigen - seit 1905/ 06 -, und es etabliert sich ebenso früh, nämlich parallel zu Frankreich, ein eigenes italienisches „Kunstfilm“-Konzept. Inhaltlich wie wirtschaftlich holt Italien also sehr rasch auf. 1908 erscheint Ultimi giorni di Pompei , eine ambitionierte Literaturverfilmung, aufgeteilt in einzelne tableaux vivants , die an Darstellungskonventionen der bildenden Kunst und des Theaters gemahnen. Der Film ist relativ lang, hat hohe Schauwerte und Produktionskosten und etabliert das historische Epos als das bekannteste italienische Genre seiner Zeit - man könnte sagen, dass alle diese Faktoren in Italien Schule machen und bis in deutlich spätere Jahrzehnte hinein einige der zentra- <?page no="35"?> 1901 bis 1910 Die Findungsphase des Films 35 len Trends des Landes beeinflussen. 1910 ist Italien bereits ein ebenso großer Exporteur von Filmen wie Frankreich. Durch die früh etablierte örtliche Stabilität der Filmtheater sind Filme mit mehreren Rollen, die also länger als 15 Minuten gehen, in Italien schon sehr viel früher üblich als in manch anderen Ländern, was in der internationalen Vermarktung bisweilen ein eigenständiges Verkaufsargument darstellt. Ein berühmtes Beispiel ist das 1910 produzierte und 1911 uraufgeführte Historienepos La Caduta de Troia von Giovanni Pastrone (1883-1959). Der Film ist je nach Laufgeschwindigkeit zwischen 25 und 32 Minuten lang und wird auf drei Rollen ausgeliefert; er positioniert sich in jeder Hinsicht als spiritueller Nachfolger von Ultimi giorni di Pompei . Parallel dazu fokussiert sich die italienische Filmproduktion jedoch auf günstigere, kleinere Komödien bzw. Komikerfilme, die oft die filmische Personalunion berühmter Komiker - z. B. des Franzosen André Deed - und deren Rollen - in diesem Fall „Cretinetti“ - nach sich ziehen. Neben einer stabilen Konvention der audiovisuellen Komiker: innenvermarktung, die bis heute existiert, stellt dies durch das Wiederkehren fester Rollen in verschiedenen Produktionen eine frühe Form der Serialität dar. Auch Dänemark betritt in den 1900er- Jahren mit großen Schritten die internationale Filmbühne. Der Geschäftsmann Ole Olsen (1863-1943), der einschlägige Erfahrungen im Peepshow-Gewerbe vorzuweisen hat, gründet 1906 die Produktionsfirma Nordisk und richtet sie sogleich auf die internationale Distribution aus. Ein paradigmatisches Beispiel ist der internationale Erfolg Løvejagten von 1907, der in Dänemark selbst verboten wird, da zwei Löwen beim Dreh erschossen wurden, jedoch in den USA unter dem Great Northern genannten Exportzweig der Firma ein großer Erfolg ist. Es handelt sich um einen Safarifilm von ca. elf Minuten Länge, der heute nur noch als historische Kuriosität gilt. Aus Dänemark kommt indessen auch der erste Filmstar der Filmgeschichte : Asta Nielsen (1881-1972), die in dem ganze 37 Minuten langen Film Afgrunden von 1910 ihre erste große Rolle verkörpert und aufgrund des darin enthaltenen Gaucho- Tanzes, der schnell zum Stadtgespräch wird, sogleich ihren Durchbruch feiert. Interessanterweise ist der Film von Urban Gad (1879- 1947) und damit nicht von Nordisk produziert, sondern von der direkten Konkurrenz namens Kosmorama, die sich jedoch im größeren historischen Kontext nur sehr kurz gegenüber der Vormacht von Ole Olsens Firma behaupten kann. 1900er: USA uch in den USA können die 1900er- Jahre als Zeitalter der kausalen Montage verstanden werden. Die Experimente mit zusammenhängenden und kontinuierlich ineinander übergreifenden Narrationen münden schließlich in den 1910er-Jahren in die Etablierung eines einheitlichen Continuity-Stils , der bis heute das Unterhaltungskino bestimmt. Edwin Stanton Porter (1870-1941) ist einer der einflussreichsten amerikanischen Regisseure auf dem Gebiet und arbeitet seit 1899 für die Edison Company, die 1901 ihr neues Studio in New York einweiht, das die berüchtigte „Black Maria“ beerbt. Porter übernimmt dort die Leitung und führt etliche durch englische und französische Filmemacher: innen etablierte Techniken in den USA ein. Insbesondere Méliès’ Film Le voyage dans la lune (1902) und James Williamsons Fire! (1901) sind eine wichtige Inspiration für ihn. 1903 dreht Porter mit Life of an American Fireman und The Great Train Robbery gleich zwei Filme, die langfristig im kulturellen Gedächtnis bleiben. Bei Life of an American Fireman ist neben dem episodischen Erzähl- A <?page no="36"?> 36 Handbuch Filmgeschichte impetus besonders die Montagetechnik am Anfang und am Ende des Films hervorzuheben, die verschiedene Räume mithilfe von Anschlussschnitten verknüpft. Mark Cousins bezeichnet Porters Fireman in seiner Story of Film als den Moment, in dem der Film lernt, „und dann“ zu sagen. The Great Train Robbery gilt im Rückblick als der erste Western der Filmgeschichte . Er besteht aus üppigen elf shots und verknüpft sowohl durch Simultanals auch durch Konsekutiv-Techniken - Doppelbelichtung bzw. Anschlussmontage - auf mehrere Arten zwei verschiedene filmische Ebenen miteinander. Zwei Jahre später dreht Porter The Kleptomaniac (1905), einen sozialkritischen Film, der die Montagetechnik in einem ideologischen Sinne gebraucht, indem er zwei unterschiedliche Lebensentwürfe anhand ihrer verschiedenen Class-Marker einander gegenüberstellt. Der ideologisch-sozialkritische Gebrauch insbesondere der Montage wird in den 1920er-Jahren und darüber hinaus noch eine große filmhistorische Rolle spielen. Bis 1909 bleibt Edwin S. Porter bei Edison und macht sich dann selbstständig - ähnlich wie bei Méliès sind es jedoch seine Arbeiten aus den 1900er-Jahren, die filmhistorisch besondere Relevanz erlangen. In der anfangs noch ausgeglicheneren Trias von fiction film , topical und scenic übernimmt der fiction film zwischen 1902 und 1905 allmählich eine dominantere Rolle, vor allem aus ökonomischen Gründen - wegen seiner besseren Planbarkeit und der verhältnismäßig günstigen Produktion vor Ort. Auf Ebene der Genres und filmischen Stoffe wird der chase film zwischen 1904 und 1908 ein wichtiges Kurzfilm-Genre, auch, weil er aufgrund seiner Erzählstruktur ideal geeignet für die allmähliche internationale Entwicklung des allgemein verständlichen Continuity-Stils ist. Auch auf filmästhetischer Ebene ereignen sich in den USA einige gravierende Veränderungen. 1909 führt Vitagraph die 9-foot line (2,74-Meter-Linie) ein und verringert dadurch den Kameraabstand zu den Schauspieler: innen um drei (91cm) bis sieben Fuß (2,13m) gegenüber früheren Filmen. Als Konsequenz daraus sind Schauspieler: innen fortan nicht mehr von Kopf bis Fuß zu sehen, sondern oberhalb der Knöchel abgeschnitten. Im folgenden Jahrzehnt wird dies die Norm. Die Technik der Kolorierung wird auch in Übersee immer üblicher - ein Bleichungsprozess und eine Farbtönung, beides mit dem Positivbild vorgenommen, verändern die Schwarzweißaufnahmen und verstärken damit räumliche Kontraste oder etablieren eine zusätzliche Bedeutungsebene. Seit 1907 werden cut-ins , das heißt Sprünge in eine größere Kameraeinstellung hinein, auch in den USA üblich, sind jedoch ein eher seltener Kunstgriff, um besonders wichtige Details für das Verständnis des plots nochmals in Großaufnahme zu zeigen. Als die bewegten fotografierten Bilder sich einigermaßen etabliert haben, erwächst auch wieder das Interesse am bewegten gezeichneten Bild. Frame-by-Frame-Animations- Filme haben um 1906 bis 1907 ihre Ausprobier- und Pionierphase. James Stuart Blacktons (1875-1941) Vitagraph-Film The Haunted Hotel von 1907 ist eines der ersten Beispiele. Die erste gezeichnete Animation findet sich indessen in Émile Cohls (1857- 1938) französischem Film Fantasmagorie , produziert im Jahre 1908 von Gaumont. Weil 1902 die American Mutoscope & Biograph (AM&B), wie im vorherigen Kapitel 1890er-Jahre) erwähnt, den Prozess gegen Thomas Edisons Firma sucht und gewinnt, weil sie nachweisen kann, dass ihre Kamera nicht von dessen Kinetoskop abgeleitet ist, steigt sie in der Folge dergestalt gestärkt zu einer bedeutenden Firma auf. Insgesamt ist der Prozessausgang ein Gewinn für die gesamte Industrie, da er geradezu zeichenhaft für Edisons Anfechtbarkeit <?page no="37"?> 1901 bis 1910 Die Findungsphase des Films 37 steht. Im Zuge dessen steigt AM&B 1903 selbstbewusst auf den immerhin von W.K.L. Dickson und damit die Edison-Firma etablierten 35-Millimeter-Standard um. Und auch die Neuauflage besagten Prozesses gewinnt die AM&B. Gleichsam wird jedoch vom Richter festgestellt, dass im Gegensatz zu AM&B andere Produktionsfirmen durchaus das Patentrecht Edisons bzw. von AM&B verletzen, wodurch ab jetzt Zahlungen an Edison oder AM&B üblich werden, was die Konkurrenz zwischen den beiden in der Folge gewaltig verschärft. Der Streit ist damit natürlich auch noch lange nicht beigelegt: 1908 sehen sich die Firmen vor Gericht wieder, da die Edison Company nunmehr Klage wegen des von AM&B verwendeten Filmmaterials einreicht. Im Gegenzug kauft AM&B das Patent auf den Latham Loop und verklagt kurzerhand Edison. Schließlich verlieren jedoch beide Parteien das Interesse an aufwändigen und kostenintensiven Gerichtsprozessen und beschließen im Dezember 1908 die Kooperation, was für den Rest der Industrie eine Hiobsbotschaft ist. Edison und AM&B gründen gemeinsam die Motion Picture Patents Company (MPPC) , die sich ausschließlich um die Patentrechte und deren Verletzung kümmern soll. Auch einige andere Firmen, z. B. Patentinhaber, deren Produkte Edison und AM&B nutzen, gehören zu diesem Dachverband, jedoch geraten dadurch viele kleinere Produktionshäuser unter gewaltigen Zugzwang. Weil die MPPC auch die Zahl der Importfirmen reguliert, die in den USA verkaufen dürfen - und im Zuge dessen Nordisk und den großen italienischen Produktionshäusern schlichtweg den Markt versperrt -, gehen seit 1908 die Importe in die USA drastisch zurück. Die Initiative dient somit zugleich der Stärkung des von europäischen Filmen dominierten Nationalmarktes. Um die Jahrzehntmitte beginnt in etwa zeitgleich zu ähnlichen Entwicklungen in Europa die Trennung und Ausdifferenzierung in die filmischen Aufgabenbereiche Produktion, Distribution und Vorführung. Die MPPC macht diese Trennung jedoch de facto rückgängig, indem sie die jeweils verantwortlichen Firmen unter ihren Schirm nimmt; z. B. erhält auch Kodak die Exklusivrechte für jegliches Filmmaterial, das in den Vereinigten Staaten genutzt wird und vice versa. Unter der Kontrolle der MPPC wird die Filmbranche in den USA für kurze Zeit zu einer veritablen Oligopolie. Viele der Initiativen der MPPC dienen dabei der Standardisierung, was für den Markt einerseits gut ist - andererseits versetzt das Diktat dieser Standardisierung jedoch zuverlässig diejenigen, die nicht zur MPPC gehören, in eine unterprivilegierte Lage. Ein Beispiel dafür ist die Etablierung von Standards des Verleihs: Der Einheitspreis wird hier pro Filmrolle festgelegt und nicht pro Film, wodurch längere Filme in den USA noch eine ganze Weile lang nicht besonders profitabel sind. Nur 6.000 von 8.000 Kinos beugen sich allerdings der MPPC, wodurch sich ein Independent-Markt formiert, der auch Filmmaterial abseits der MPPC-Kontrolle zeigen kann und den schwächelnden europäischen Importmarkt am Leben erhält. Der Anfang vom Ende der Oligopolie beginnt im April 1909, als Carl Laemmle, seinerseits der größte Filmverleiher der USA, aus der MPPC aussteigt und als Gegenmodell die Independent Motion Picture Company (IMP) gründet, deren Langlebigkeit man noch heute daran sieht, dass sie später zu Universal werden sollte. Weitere Independent-Firmen folgen Laemmles Beispiel, unter anderem das bereits erwähnte Unternehmen Solax, das von der bei Gaumont ausgestiegenen Alice Guy-Blaché gegründet und geleitet wird. Die MPPC reagiert erwartungsgemäß harsch, gründet als direkte Reaktion 1910 die Riesenverleihfirma General Film Company und engagiert ein ganzes Heer an Detektiven, um weitreichende Gerichtsverfahren vorzubereiten. Das eigentliche Ende der Vorherrschaft der MPPC wird jedoch nicht nur durch die <?page no="38"?> 38 Handbuch Filmgeschichte ersten Abtrünnigen eingeleitet, sondern durch eine Art Produktionszufall, der zum Trend wird: Zwischen 1909 und 1910 fangen die ersten Produktionsfirmen an, in der Gegend um Los Angeles zu drehen, weil das bessere Wetter eine bessere Planbarkeit der Außendrehs garantiert. Im Rückblick ist dies der erste Schritt an die Westküste , der Anfang des folgenden Jahrzehnts eine Massenwanderung der gesamten Industrie in den noch kleinen und beschaulichen Vorort Hollywood nach sich zieht. Neben den Firmenchefs etablieren sich auch in den USA allmählich wiedererkennbare Regie-Persönlichkeiten, die auch in der Vermarktung von Filmen eine Rolle spielen. Während Edwin S. Porter in den 1900er- Jahren das Aushängeschild der Edison Company bleibt, nimmt AM&B 1908 den Star des folgenden Jahrzehnts, nämlich David Wark Griffith (1875-1948) unter Vertrag. Auch längere Verträge zwischen Studios und Schauspieler: innen werden um 1908 langsam üblich, sodass die Gesichter auf der Leinwand vereinzelt wiedererkannt werden können - zuvor waren in Bewerbung und Vorspann nur credits der Studios üblich. Das Starsystem fällt nicht vom Himmel und hat bereits ein Vorbild in Vaudeville, Theater und Oper, wird aber nirgendwo zu einem so radikalen weltweiten Erfolgsmodell wie im USamerikanischen Film. Ab 1909 gibt es entsprechend firmenbezogene, meist weibliche Stars, die als jeweiliges company girl vermarktet werden. Florence Lawrence (1886- 1938) wird bekannt als the Biograph girl, Florence Turner (1885-1946) berühmt als the Vitagraph girl und so weiter. Filmkritiker: innen und Publikum adaptieren rasch die neue, schauspieler: innenbezogene Denkweise, die bis heute das System entscheidend mit ausmacht. Durch den steigenden Stellenwert von Verleih und Export wird in den 1900er-Jahren allmählich die Frage nach einem festen Spielort für den Film relevant. Bis 1905 pendelt er in der Regel zwischen Vaudevilles und Theatern und ist größtenteils nach wie vor Bestandteil gemischter Programme. Gibt es reine Filmprogramme, bestehen diese aus etlichen kurzen Titeln verschiedener Gattungen und Genres. Zwischen 1905 und 1907 wird zunächst das Nickelodeon die dominante Norm. Diese kleinen Spielorte kosten dem Namen entsprechend 5 Cent Eintritt (einen „Nickel“) und umfassen circa 200 Sitzplätze. Das Programm im Nickelodeon kann zwischen 15 und 60 Minuten dauern. Da selten mehr als ein Projektor zur Verfügung steht und die Rollenwechsel irgendwie überbrückt werden müssen, halten sich auch in reinen Filmprogrammen nach wie vor Relikte der Vaudeville-Form wie kurze Gesangseinlagen. Die Nickelodeons sind aber sehr viel günstiger als das Vaudeville, das häufig das Fünffache kostet (einen „Quarter“ oder 25 Cent). Damit öffnen sie die Kinoerfahrung für Zuschauer: innen aus der Arbeiterklasse; außerdem machen Frauen und Kinder einen signifikanten Anteil des Publikums aus, da das Kino oft in Einkaufs- oder Ausflugspausen als Zwischenprogramm genutzt wird. Das Programm im Nickelodeon besteht vor der Gründung der MPPC zu größten Teilen aus europäischen Filmen. Die USA sind ein äußerst lukratives Exportland, da es dort zu jenem Zeitpunkt die meisten Lichtspielhäuser gibt. Um 1908 erlebt die Etablierung fester Spielorte des Films einen unerwarteten Rückschlag: Eine große, koordinierte Gegenbewegung von Kirchen und Moralist: innen schließt sich gegen den als unmoralisch verschrienen Film zusammen. Im selben Jahr werden alle Kinos in New York kurzzeitig vom konservativen Bürgermeister der Stadt zwangsgeschlossen. Um derartigen politischen Reaktionen auf partielle Volksbegehren künftig zu entkommen, reagiert die Filmindustrie mit einem genialen Schachzug: Im März 1909 wird in <?page no="39"?> 1901 bis 1910 Die Findungsphase des Films 39 New York das Board of Censorship gegründet, eine erste freiwillige Selbstkontrolle, die die nationale Zensur umgehen will und alle freiwillig eingereichten Filme bezüglich ihrer Inhalte überprüft. Alle Mitglieder der MPPC reichen dort geschlossen ein, sodass es in den folgenden Jahren zu keinen weiteren Kinoschließungen kommt. Auch auf inhaltlicher Ebene gibt es um die Jahrzehntwende eine kurzfristige Reaktion auf die gebündelte Moralkritik: Aus dieser Initiative für mehr bildungsbürgerliche Stoffe geht unter anderem D.W. Griffiths Pippa Passes (1909) hervor, der auf einem Versdrama von Robert Browning basiert, das in den Zwischentiteln des Films wörtlich zitiert wird. Ab 1908 beginnt der Abstieg des Nickelodeons, als die großen Produktionsfirmen stärker auch in den Bereich der Filmvorführung drängen: Repräsentative Kinosäle werden gebaut, die sich erst amortisieren wollen. Die Eintrittspreise liegen damit wieder im Bereich von einem Dime (zehn Cent) oder gar einem Quarter (25 Cent) und die Demographie ändert sich entsprechend wieder hin zu einem wohlhabenderen Publikum. Große Kinohäuser haben jetzt mehrere Projektoren, können also die Rollenwechsel problemlos kaschieren und längere Filmprogramme am Stück zeigen, ohne noch auf Vaudeville- Einlagen angewiesen zu sein. Derartige Füllerprogramme gibt es entsprechend kaum noch, stattdessen wird aber dennoch vereinzelt wieder ein konsekutives Programm aus Filmen und Vaudeville eingeführt. Während in kleineren Filmtheatern wie den Nickelodeons die Musikbegleitung der Stummfilme noch eher schlicht ausfällt und auf Klavier- oder Grammophonmusik basiert oder durch Erzähler: innen und synchronsprechende Schauspieler: innen getragen wird, ersetzen die neuen Kinosäle und -paläste die Solomusiker: innen teils durch große Orchester, die ausgefeilte Arrangements wiedergeben, oder zumindest durch Lichtspielorgeln, die entsprechend besser geeignet sind, die großen Räume mit ihrem Klang auszufüllen. 1900er: Deutschland m den Aufbau der Filmindustrie in Deutschland nachvollziehen zu können, müssen wir noch einmal kurz ins späte 19. Jahrhundert zurückreisen. Am 15. Juni 1896 entwickelt Oskar Messter (1866- 1943) seinen ersten Filmprojektor und beginnt damit etwa ein Jahr nach den Brüdern Skladanowsky mit dem Filmdreh. Im Jahr 1900 gründet er dann die Projection GmbH, die er 1902 in Messters Projection GmbH umbenennt. Diese ist deshalb historisch relevant, da sie eine frühe Vorläuferfirma der späteren Ufa ist, deren Gründung ebenfalls unter anderem von Messter verantwortet werden wird. Messter ist jedoch auch im inhaltlichen Bereich sehr umtriebig und entwickelt etliche Trick- und Filmtechniken, die er sich minutiös patentieren lässt, z. B. die Praxis der Aufnahme von einem fahrenden Zug aus. Messter sorgt 1903 außerdem für den Anfang der Filmkarriere Carl Froelichs, der für die Projection GmbH als Kameramann von Dokumentarfilmen tätig wird. Froelich wird später nicht nur berühmt, sondern auch berüchtigt werden, da er neben Veit Harlan eine der zentralen Regiepersönlichkeiten des Spielfilms in der Nazizeit sein wird. Zunächst produziert Messter kleinere „Aktualitäten“, ehe er 1897 auch erste kleine fiktionale Formate realisiert. Am 4. Mai 1897 wird von ihm die erste Großaufnahme des amtierenden Kaisers Wilhelm II. gefilmt, was eine weitere Distanzverminderung darstellt, da hierdurch eine nur zu offiziellen Anlässen aus der Ferne sichtbare Persönlichkeit für ein breiteres Publikum auf reproduzierbare Weise nahbar gemacht wird. Wilhelm II. versteht es schon früh das neue Medium für sich zu U <?page no="40"?> 40 Handbuch Filmgeschichte nutzen, indem er seit 1895 für etliche Nachrichtenfilme - z. B. bei der Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals - zur Verfügung steht und sich damit als tatkräftiger, präsenter Herrscher inszeniert. Auch der Boom von aktuellen Tagesereignissen auf Film basiert auf dieser Reduktion von Distanzen: Plötzlich kann das Publikum mit nur leichter Verspätung an den wichtigen Ereignissen der Zeit visuell teilhaben. Filme wie Die Kaiserflottenparade von Helgoland (1904) oder Sprengung eines Fabrikschornsteins (1908) sind typisch für diese frühe Phase des deutschen Films. Bemerkenswert ist mitunter die kurze Produktions- und Redaktionszeit, welche eine große Nähe dieser Aktualitäten zur zeitgenössischen Presse suggeriert. Beispielsweise wird bereits acht Tage nach der berühmten Scharade eines einfachen Bürgers, der sich am 16. Oktober 1906 als „Hauptmann von Köpenick“ ausgibt und mit dieser Amtsanmaßung die preußische Liebe zur strengen Hierarchie ad absurdum führt, eine Dokumentation darüber gedreht, was bis dahin als sehr geringe Verzögerung gilt. Das Hannoversche Tageblatt vom 24. Oktober 1906 trägt diesem Umstand Rechnung: „Der falsche Hauptmann von Köpenick gab gestern in unserer Stadt eine Gastrolle. […] Während sich die Droschke nach rechts wandte, wandte er sich nach links und war wieder verschwunden. Aber nicht schnell genug, um nicht auf die Platte gebannt zu sein. Denn fürsorglich hatte man einen Apparat zur Aufnahme kinematographischer Bilder aufgestellt, und [Produzent Carl] Buderus waltete seines Amtes, um die ganze Sache getreulich festzuhalten.“ (zit. nach Jacobsen 2004, 26) 1908 wird erstmals ein Unglück live gefilmt, was mit Blick auf unsere heutige Nachrichtenkultur eine traurige Pionierleistung darstellt: Die Berliner Hochbahnkatastrophe wird von Carl Froelich und Oskar Messter auf Film gebracht, die zu jenem Zeitpunkt bereits ein eingespieltes Team sind. Eine weitere große Innovation Oskar Messters sind die sogenannten Tonbilder , die er seit dem 29. August 1903 in Berlin aufführen lässt. Der dafür entwickelte Biophon , ein Kofferwort aus Bioscop und Grammophon, synchronisiert die beiden erwähnten Geräte miteinander und produziert somit eine sehr frühe Form des Tonfilms. Eines der wenigen erhaltenen Tonbilder ist das Rauschlied aus der Operette Künstlerblut von 1906, das Alexander Girardi in Wien einsingt. Der Film ist von Oskar Messter und der Ton von der Gramophone Concert Record. Neben bereits etablierten Operetten-Stars beginnt mit den Tonbildern der Aufstieg von Henny Porten (1890-1960), die später noch eine bemerkenswerte Spielfilmkarriere haben wird. Die Tonbilder sind aufgrund ihrer technischen Limitiertheit stets sehr kurz und bleiben ein Trend der 1900er-Jahre - am Ende der Dekade sind sie wieder vom Markt verschwunden und der Tonfilm kehrt erst zwölf Jahre später auf die Leinwände in Deutschland zurück. Der größte Konkurrent Messters zu jener Zeit ist Alfred Duske, der seit 1905 seine eigene Firma betreibt. Duske feiert große Erfolge mit den Komikerfilmen um Martin Bendix, der als „der Urkomische“ stets die Hauptrolle bekleidet. Er produziert ebenfalls eine große Zahl an Tonbildern. Die seit 1898 existierenden Firmen Deutsche Mutoskop- und Biograph GmbH und Deutsche Bioscop- GmbH, die nach ihren anfangs verwendeten US-amerikanischen bzw. deutschen Patenten benannt sind, sind ebenfalls zwei in der Branche allgegenwärtige Produktionshäuser. Die Bioscop landet ihren größten Coup jedoch 1911, als sie nach dem Welterfolg von Afgrunden (Abgründe) Urban Gad und Asta Nielsen nach Deutschland holt und sie zu großen Stars der deutschen Filmindustrie aufbaut. <?page no="41"?> 1901 bis 1910 Die Findungsphase des Films 41 Wie in anderen Ländern auch findet der Film in den 1900er-Jahren auch in Deutschland seine Heimat in eigens für ihn errichteten Lichtspielhäusern . Gibt es in Berlin 1905 noch 16 Kinos, sind es 1907 bereits 139. Wiederum zwei Jahre später gründet sich 1909 der „Zweckverband der Theaterbesitzer“, um eine ständige Vertretung des neuen Berufszweigs zu gewährleisten. Da die Branche allmählich sehr lukrativ ist, wird von Staatsseite 1910 die Einführung einer „Lustbarkeitssteuer“ überlegt, die das Kino in eine erste Krise zu stürzen droht. Der Trend wird dadurch jedoch nicht gebrochen: Am 3. September 1910 wird am Nollendorfplatz im „Mozartsaal“ des Neuen Schauspielhauses der erste Kinopalast eingeweiht, der 925 Besucher: innen Platz bietet. Die selbstbewusste Integration des Films zwischen Kunstmusik (Mozartsaal) und Theater (Schauspielhaus) ist symptomatisch für jene Zeit. Bereits seit 1906 existieren jedoch - beispielsweise mit Union-Theater (bekannt als U.T.) - ebenfalls erste Kinoketten wie heute Cinemaxx oder Cinestar: Das ist keineswegs eine neumodische Entwicklung. Bis 1913 wird die Zahl der Kinos in Berlin auf 206 steigen. Allerdings sind weit über 80 Prozent der gezeigten Filme Importprodukte - noch 1914 werden nur zwölf Prozent der Filme in Deutschland produziert. Auf diese oft als Findungsphase des deutschen Films skizzierten 1900er-Jahre folgt ein oft als Jahre des Umbruchs skizziertes Jahrzehnt. Ein Problem dieser Darstellung ist, dass es aufgrund der wenigen vorhandenen Filme aus jener Zeit äußerst schwierig ist, im Rückblick ein zusammenhängendes Bild der frühen deutschen Filmproduktion zu zeichnen. Ein wichtiger Faktor bei der retrospektiven Unterteilung in eine vorläufige und eine eigentliche Phase des deutschen Films, wie sie von Tom Gunning für den US-Film 1890er-Jahre) heftig kritisiert werden wird, ist sicherlich der Beginn des deutschen „Kunstfilms“ im Jahre 1910 mit Peter Ostermayrs Die Wahrheit , der mindestens ebenso sehr wie der Ausbau des Mozartsaals zum Kinopalast vom neuen Selbstbewusstsein des deutschen Kinos um die Jahrzehntwende hin zu den 1910er-Jahren zeugt. 1900er: Globales Kino uch wenn die Ehre des ersten Films mit heute üblicher Laufzeit der US- Sportberichterstattung The Corbett- Fitzsimmons Fight aus dem Jahre 1897 gebührt, wird in der Regel The Story of the Kelly Gang , eine Produktion aus Australien , als der erste Langfilm der Filmgeschichte bezeichnet. Er wird im Jahr 1906 von Charles Tait verantwortet und ist ganze 1200 Meter lang, was bedeutet, dass er meist eine Abspieldauer von mehr als 60 Minuten hat. Die UNESCO hat diesen ersten Langspielfilm der Geschichte später als Teil des Weltdokumentenerbes zertifiziert, was seinen hervorgehobenen Status nochmals untermalt. The Story of the Kelly Gang ist nicht nur lang, sondern auch langlebig: Der Film tourt über mehrere Jahrzehnte durchs Commonwealth und ist insbesondere in seinem Heimatland Australien sehr erfolgreich. Leider existieren heute nur noch etliche kleinere Ausschnitte des Outlaw-Western, sodass die restaurierte Fassung nur auf circa 17 Minuten Laufzeit kommt. In Japan entsteht 1897 der erste japanische Film , nachdem die Edison- und Lumière- Geräte kurz zuvor dort angekommen sind: Er zeigt diverse Sehenswürdigkeiten Tokyos. 1898 existiert der kurzlebige Trend der sogenannten Geisterfilme und erste Kabuki-Abfilmungen, Bühnenaufnahmen einer der klassischen japanischen Theatertraditionen, werden produziert. Der Einfluss des Kabuki- Theaters zeigt sich auch in den ersten Historiendramen, die in den 1920er-Jahren zum spezifisch japanischen Jidaigeki-Genre A <?page no="42"?> 42 Handbuch Filmgeschichte werden: 1908 dreht Shouzou Makino Honnouji gassen und 1909 folgt Goban Tadanobu , in dem der spätere Filmstar Matsunosuke Onoe (1875-1926) mitspielt, ursprünglich ein Kabuki-Darsteller, der in schätzungsweise 900 bis 1100 Filmen eingesetzt werden wird. Auch das Genre des rensageki beginnt in den späten 1900er-Jahren - hierbei handelt es sich um das fast ausschließlich im asiatischen Raum gängige Verfahren, kurze Filmszenen mit Live- Theater abzuwechseln und damit die beiden Traditionen auch in ihrer medialen Aufführungspraxis miteinander zu verknüpfen. Im Jahr 1900 wird durch die Firma Yoshizawa Shoten der erste japanische Filmprojektor verkauft, sodass auch der technische Grundstein für eine eigenständige Filmindustrie gelegt ist. Das Jahr 1909 gilt jedoch häufig als eigentliches Anfangsjahr der japanischen Filmgeschichte, da sich ab jetzt die Kinos im Land so weit verbreiten, dass man von einer relativ flächendeckenden Verfügbarkeit des neuen Mediums ausgehen kann. In einigen anderen Ländern, die später noch zentral für die Filmgeschichte ihrer Kontinentalregion sein werden, ist der Status quo des Films in den 1900er-Jahren noch sehr unterschiedlich. In Nigeria ist das Kino noch nicht angekommen. Unterdessen werden in Ägypten bereits seit 1896 erste kurze Stummfilme gedreht; die Filmindustrie entwickelt sich dort aber erst zur Tonfilmzeit intensiver. In Korea eröffnen die ersten beiden Kinos 1903 und 1907. Erste koreanische Spiel- und Dokumentarfilme entstehen indessen erst ab 1919. In Indien verbreiten sich die ersten Kinos ab 1902. Auch kurze indische Produktionen werden dort gelegentlich gezeigt, aber die eigentliche nationale Filmproduktion im größeren Stil beginnt erst - je nach Darstellung - im Jahre 1912 oder 1913. <?page no="43"?> 1901 bis 1910 Die Findungsphase des Films 43 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts Insert Der Begriff insert / Insert ist leider auf den ersten Blick etwas unscharf, da es eine ursprünglich englischsprachige Bedeutung gibt, die vom traditionellen deutschen Sprachgebrauch im Filmkontext stark abweicht. Im Englischen bezeichnet insert den komplementär dem master shot gegenübergestellten shot im Continuity-Stil. Das bedeutet, dass eine größere Einstellung ( master shot ) durch kleinere Auflösungen in Binnenframes ( inserts ) untergliedert wird. In einem Gespräch dreier Figuren würden z. B. erst alle drei im Gespräch zu sehen sein ( master shot in Totaler oder Halbtotaler), dann eine der Figuren das Wort ergreifen ( Insert , halbnah oder nah), die andere Figur antworten ( Insert , halbnah oder nah) und dann wieder das Gesamtgespräch gezeigt werden ( master shot ). Der deutschsprachige Gebrauch von Insert bezeichnet etwas völlig anderes, nämlich ein Synonym von Texttafeln oder Zwischentiteln. Diese werden im Stummfilm häufig genutzt, um situative Veränderungen des Ortes oder der Zeit zu kennzeichnen („Zehn Jahre später…“) oder Dialoge abzubilden. Sie können auch einen Kommentar der Erzählinstanz enthalten. Manchmal weisen sie stilisierte Textbausteine wie Zeitungsartikel, Romanauszüge, handschriftliche Briefe oder Gedichte auf, seltener indessen Liedtexte, damit das Publikum mitsingen kann. Im Englischen heißen diese Inserts wiederum intertitle oder title card und, um die Verwirrung komplett zu machen, nannten die Zeitgenoss: innen der Stummfilmzeit sie in den USA häufig subtitles , was in der Tonfilmzeit wiederum Untertitel meint. Der vermutlich erste Film mit solchen Inserts ist die britische Produktion Our New General Servant von Robert William Paul aus dem Jahre 1898. Sowohl Inserts als auch Inserts werden in den 1900er-Jahren allmählich zur etablierten Norm. Film als Kollektivgut Lorenz Engell bemerkt im Jahre 1992 in seinem Buch Sinn und Industrie die Veränderung in der Organisation der Filmproduktion, die Ende des 19. Jahrhunderts bereits zaghaft anfängt, jedoch Ende der 1900er-Jahre als abgeschlossen gelten kann: „Zwischen 1905 und 1910 […] hatte sich die Organisation der Filmproduktion völlig verändert. […] Lumière, Méliès und die Schule von Brighton […] arbeiteten im Grunde mit handwerklichen Verfahren. Sie waren zugleich Drehbuchautoren, Regisseure, Produzenten und oft auch Kameraleute, Requisiteure und sogar Darsteller in einer Person. Arbeitsteilung war unbekannt; jeder mußte alles machen. […] Auch den Vertrieb der Filme übernahmen die Filmemacher selbst, d.h. den Verkauf der Kopien an die Schausteller. Manche […] übernahmen sogar noch selbst Filmvorführungen oder betrieben, wie Méliès, ein eigenes Filmtheater. Im Zuge der Etablierung ortsfester Filmtheater und Ladenkinos ab 1905 steigt aber der Bedarf an immer neuen und vor allem immer längeren Filmen so stark an, daß die vergleichsweise unökonomische handwerkliche Produktionsweise, die Werkstattproduktion, den Bedarf nicht mehr decken kann. Zwischen 1905 und 1910 entsteht also die industrielle, arbeitsteilige und zunehmend kapitalisierte Form der Filmproduktion, wie wir sie heute kennen. Dieser Wandel vom Filmhandwerk weg zur Filmindustrie, von der Werkstatt zur Fabrik, findet zuerst in Frankreich statt“ (Engell 1992, 62). Überlappender Schnitt Bevor die gängigen Verfahren der Anschlussmontage und des alternierenden Schnitts etabliert sind, ist eine Zeit lang eine aus heutiger Sicht ungewöhnliche und äußerst kurzlebige Praxis zu beobachten, die als überlappender Schnitt bezeichnet wird und in späteren Jahren allenfalls in manchen Avantgarde- und Experimentalfilmen noch zum Einsatz kommt. Roberta Pearson bringt das folgendermaßen auf den Punkt: „Eine der seltsamsten Schnittmethoden, die in dieser Periode [1902/ 03-1907] benutzt wurde, war der überlappende Schnitt, der aus dem Wunsch der Filmemacher entstand, den profilmischen Raum zu erhalten und wichtige Ereignisse dadurch zu betonen, daß man sie zweimal zeigte“ (Pearson 1998, 20). <?page no="44"?> 44 Handbuch Filmgeschichte Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Life of an American Fireman » Regie: Edwin S. Porter » Land | Jahr: USA | 1903 In der Nachfolge der britischen Experimente probiert sich der US-Film an der Ordnung der Zeit. Filmtipp La naissance, la vie et la mort de notre-seigneur Jésus-Christ » Regie: Alice Guy » Land | Jahr: F | 1906 Extrem frühes historisches Kostümdrama mit einfallsreichen Bildkompositionen. Filmtipp Fantasmagorie » Regie: Émile Cohl » Land | Jahr: F | 1908 Eine der Geburtsstunden des Animationsfilms, die auch heute noch frisch und unterhaltsam ist. <?page no="45"?> 1911 bis 1920 · Die Konventionen etablieren sich In den 1910er-Jahren kann das Zeitalter der Montage-Experimente zur Etablierung einer verständlichen Ordnung von Zeit und Raum als abgeschlossen gelten. Der Continuity- Stil etabliert sich weltweit und eine neue Tendenz ist der starke Fokus auf Ästhetik und Atmosphäre, der das dritte Jahrzehnt des Films prägt und den Film als Erlebnis aufwertet. Das einschneidende Ereignis, das auch die Filmindustrie für immer verändert, ist der Erste Weltkrieg. Er strukturiert die Filmproduktion in einigen der wichtigsten Länder substanziell um, wodurch die industrielle Hegemonie der USA - seit etwa 1916 - eingeläutet wird. Die damit einhergehenden Importverbote führen zudem zur Etablierung isolierter Nationalkinos, was eine erste große Herausforderung für das Kino als Ort eines globalisierbaren Mediums darstellt - und all das schon etwa fünfzehn Jahre bevor der Tonfilm für noch mehr Diversität in sprachlicher Hinsicht sorgen wird. 1910er: USA n den USA wird die Vormacht der MPPC (Motion Picture Patent Company) erst herausgefordert und dann allmählich zerschlagen. 1912 verliert sie einen selbstverursachten Prozess bezüglich der Latham Loop und noch im selben Jahr beginnen Ermittlungen wegen des Verdachts auf Monopolisierung. 1915 wird die MPPC dessen für schuldig befunden und spielt fortan eine viel geringere Rolle in der US-amerikanischen Filmindustrie. Die Oligopolisierung der amerikanischen Filmbranche, wie sie viele Jahrzehnte überdauern wird, setzt sich unaufhaltsam fort. Der Machtverlust der MPPC geht mit dem Aufstieg des Spielfilms einher - damit ist hier ein mittellanger bis langer Film gemeint, im Gegensatz zum gängigen Kurzfilmformat. Spielfilme sind per Definition auf mehreren Rollen gespeichert und werden durch das rigide System der MPPC, das pro Rolle und nicht pro Film abrechnet, de facto verhindert. Importfilme aus Italien und Frankreich, wo die längere Form bereits etablierter ist, führen zu ersten Erfolgen auf dem Sektor und 1911 bereits reagiert Vitagraph mit dem selbst produzierten Drei-Rollen-Film Vanity Fair von Charles Kent, der etwa 46 Minuten dauert. Diese neue Option führt gegen Mitte der 1910er-Jahre zu einer ökonomischen I <?page no="46"?> 46 Handbuch Filmgeschichte Schere zwischen kleinen, günstigen Theatern, die noch gestückelte Programme zeigen, und großen, teureren Spielstätten, die Spielfilme plus Vorfilm(e) anbieten. Auch das in den 1900er-Jahren etablierte Starsystem entwickelt sich insbesondere im Bereich des Spielfilms weiter. Durch das Erscheinen erster Fanzines (1911, The Motion Picture Story Magazine ) und die Etablierung der langlebigen Tradition der opening credits , die ab 1914 immer gängiger werden, konsolidiert sich die Orientierung des Publikums an den Schauspieler: innen, wie sie auch heute noch üblich ist. Die wichtigste Veränderung für die US- Filmindustrie ist jedoch der allgemeine Umzug an die Westküste. Nach den bereits erwähnten, unter anderem von D.W. Griffith zwischen 1908 und 1910 geleiteten ersten Versuchen, im Winter in der Nähe von Los Angeles zu drehen, um damit wetterunabhängig produktiv zu bleiben, ziehen allmählich alle Studios in den Westen um. Dies hat mehrere Gründe: Neben dem beständigen, berechenbaren Wetter bietet die Westküste eine Vielfalt der Landschaften (es gibt dort Berge, Meer, Wüste, Wald und Hügelland in kurzer Distanz zueinander). Die wachsende Popularität des Western determiniert ebenfalls das Setting, wenngleich es schon bald zum Klischee gerinnt. Die Distanz zur MPPC und zu staatlicher Kontrolle spielt auch eine nicht unerhebliche Rolle. Und zuletzt ist die geringere Bebauung zu nennen, die in Hollywood und anderen Vororten der Großstadt Los Angeles Platz für große Studioanlagen lässt. Zunächst bewegt sich nur die Produktion westwärts und die Entscheidungsträger: innen bleiben an der Ostküste, das bleibt jedoch nicht lange so. Mit dem allmählichen Umzug nach Hollywood etabliert sich Stück für Stück das USamerikanische Studiosystem. Einerseits streben die großen Studios allesamt nach einer stärkeren vertikalen Integration. Andererseits etablieren sie sich als Marke, was vor allem dadurch kommuniziert wird, welche Stars das jeweilige Studio unter Vertrag hat. Aus sieben Studios, die zwischen 1912 und 1917 gegründet werden, entstehen später die sogenannten big five Hollywoods: zunächst Universal (1912), dann Warner Bros. (1913), Paramount (1914), Fox Film Corporation (1914) und Metro (1914), später Goldwyn (1917) und Mayer (1917). Als die drei zuletzt genannten 1924 zu MGM (Metro Goldwyn Mayer) fusionieren, ist die Infrastruktur des von den big five dominierten Systems endgültig festgelegt. Es ist folgerichtig, dass im Zuge dieser Entwicklung der Posten de: r Produzent: in immer wichtiger wird. Die strategische Bedeutung der story conferences , spezifischer Meetings, in denen der Film von den verantwortlichen Künstler: innen und den Geldgeber: innen teilweise en detail diskutiert wird, wächst. Filme gelten als Produkte, in die investiert wird, wodurch auch die Verbindlichkeit von continuity scripts , die festlegen, was im Film passiert und was nicht, immer größer wird. Die Studios selbst florieren, wie es einem boomenden Wirtschaftszweig angemessen ist: Sie sind raumgreifender und besser ausgestattet, regelrechte eigenständige Siedlungen in der mäßig fruchtbaren Landschaft um Hollywood. Regisseur: innen und Stars, von denen Großes erwartet wird, werden fest und langfristig gebunden, wodurch sich die Images der Studios verfestigen. Gerade Paramount, das aus Agenturen und Distributionsfirmen hervorgegangen ist, erweist sich als erfolgreich in der Bindung von ertragreichen Persönlichkeiten: Mit Gloria Swanson, Mary Pickford und Douglas Fairbanks stehen drei der zentralen Schauspieler: innen der Dekade bei ihnen unter Vertrag, ebenso die zwei zentralen Regisseure David Wark Griffith und Cecil Blount DeMille. Gegen Ende der 1910er-Jahre werden Außendrehs on location zunehmend unwichti- <?page no="47"?> 1911 bis 1920 Die Konventionen etablieren sich 47 ger, als die großen Produktionsfirmen allmählich auf Dunkelstudios umsteigen. Was dennoch im Sonnenlicht gedreht werden muss, ereignet sich auf riesigen backlots , großen Außenflächen, die den Studios angehören. Damit beginnt der typische künstliche Hollywood-Beleuchtungsstil seinen Siegeszug. Der Aufstieg de: r Produzent: in geht im Hollywood-System auch mit einer Entmachtung der Drehbuchautor: innen - und damit der traditionellen Domäne etlicher weiblicher Filmschaffender - einher. Traditionell ist die Filmbranche ein Arbeitsfeld für diejenigen, die ansonsten Außenseiter: innen sind, oder, um es mit der Autorin und Filmemacherin Cari Beauchamp in Mark Cousins’ Story of Film zu sagen: „Hollywood was built by women, immigrants and Jews. People who would not be accepted in any other profession at the time.“ Immigrant: innen sind in allen Arten von Berufen präsent, und Frauen insbesondere als Drehbuchautor: innen: Laut Mark Cousins werden 50 Prozent der Filme vor 1925 von Frauen geschrieben . Frances Marion beispielsweise ist die bestverdienende Drehbuchautor: in (geschlechterübergreifend) der Jahre 1915 bis 1935 und bis heute die einzige Frau, die zwei Oscars für das „beste Drehbuch“ gewonnen hat. Mit Kriegsanbruch steigen die USA aufgrund ihrer anfänglichen Neutralität zum Exportweltmeister auf. Zeitgleich schalten sie etliche lokale Distributionsunternehmen durch eigene Neugründungen in bis dahin noch nicht abgedeckten Ländern (in Südamerika, in Nahost, in kriegsneutralen europäischen Ländern) aus. Die abnehmende Filmproduktion in Europa sorgt zudem für einen größeren Bedarf an eigenen Filmen im eigenen Land; das allgemeine Wachstum der USamerikanischen Filmindustrie in dieser Zeit ist nicht mehr aufzuholen, auch weil bald der Import eines US-amerikanischen Filmes aus europäischer Sicht günstiger ist als die nationale Eigenproduktion. Die Filme selbst entwickeln ihren klaren, verständlichen Stil weiter, um den eigenen Reiz als massentaugliches Produkt zu erhöhen. D.W. Griffith versucht sich 1911 in The Lonedale Operator an der ersten „richtigen“ Parallelmontage im moderneren Sinne und bringt damit eine ästhetische Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts vorerst zum Abschluss. Anhand von Griffith kann man die Veränderung vom theatralen Film hin zum weitgehend autonomen, durch Montage abgesetzten Medium sehr anschaulich ablesen: Als der Regisseur 1908 seine Laufbahn bei Biograph beginnt, haben seine Filme im Schnitt 17 Einstellungen. 1913 sind es mit 88 Einstellungen im Schnitt bereits mehr als fünf Mal so viele. Durch die stärkere Auflösung von Szenen in alternierende Einstellungen rückt die Kamera punktuell immer näher an die Schauspieler: innen heran. Griffiths Film The Painted Lady von 1912 kann als ein Experiment mit dieser Tatsache verstanden werden. Der Film mit Blanche Sweet in der Hauptrolle ist größtenteils in Halbnahen (Einstellungen bis knapp unterhalb der Hüfte) gefilmt, wodurch die Mimik der Schauspielerin in den Mittelpunkt rückt. Daraus entsteht der Vorreiter eines neuen Schauspielstils , welcher sich gegenüber dem sehr gestisch-pantomimischen Stil der Vorjahre bald durchsetzen wird. Auch die Beweglichkeit der Kamera auf den Stativen selbst nimmt zu und damit die Möglichkeit von Schwenks und Neigungen, wodurch auch ein klarer Bildfokus besser einzurichten ist als zuvor. Zwischen - je nach Sichtweise - 1905, 1908 oder 1912 einerseits und 1917 andererseits etabliert sich allmählich der von der Brighton School inspirierte Continuity-Stil Hollywoods, der bis heute Gültigkeit hat und die wesentlichen Filmregeln des konventionellen Erzählkinos bestimmt. Dieser zeichnet sich durch die folgenden Merkmale aus: (a) einen establishing shot , der den Film und jede in sich geschlossene Szene einleitet; (b) <?page no="48"?> 48 Handbuch Filmgeschichte eine abwechselnde Verwendung von master shots und Inserts zur Auflösung von Handlungssituationen; dabei gilt (c) die 30-Grad- Regel , welche besagt, dass die Winkeldifferenz von einer Einstellung zur nächsten zwecks eines weichen Übergangs immer mehr als 30 Grad betragen muss; (d) mithin betonen cut-ins , also Heransprünge in eine nähere Einstellungsgröße, wichtige Informationen der Diegese; (e) es gilt ferner die 180- Grad-Regel , welche besagt, dass zwischen zwei Einstellungen nicht mehr als 180 Grad übersprungen werden dürfen, da sonst die Orientierung im Raum nicht mehr möglich ist; (f) als frühe Ausdrucksform von subjektiven Perspektiven ( point of view ) wird das eyeline match , d.h. ein die betrachtende Instanz stellvertretendes Filmen auf Augenhöhe, eingeführt; (g) Dialoge, Schlägereien und andere bidirektionale Ereignisse werden in Schuss (shot) und Gegenschuss (reverse shot) aufgelöst; (h) Parallelmontagen bedeuten Gleichzeitigkeit, Anschlussmontagen zeitliche Linearität bzw. Kausalität, Wechsel hin zu anderen Zeitstufen werden durch Übergänge (Überblendung, Fokuswechsel) markiert; und (i) werden zwischen Szenen weiche Übergänge bevorzugt: Noch sind es eher seltener Match-cuts und unsichtbare Schnitte, dafür häufiger Loch-, Wisch- oder Überblenden. Da ein verbindlicher und verständlicher Stil die Verfilmung umfangreicher Stoffe erheblich erleichtert, ist es nicht überraschend, dass der Aufstieg des mittellangen und langen Spielfilms sich etwa zeitgleich zur Etablierung des Continuity-Stils abspielt. Um 1915 wird er endgültig zur dominanten Norm. Bereits zwei Jahre vorher ist er Zankapfel zwischen der Biograph Company (früher zwischenzeitlich bekannt als American Mutoscope & Biograph) und ihrem erfolgreichsten Regisseur: D.W. Griffith. Da die Biograph ihm die Spielfilmproduktion untersagt, dreht Griffith 1914 kurzerhand vier Filme für die von ihm selbst gemanagte Firma Mutual sowie das aus verschiedenen Quellen finanzierte Epos The Birth of a Nation , das einer seiner bekanntesten und umstrittensten Filme wird. Dieser erzählt die Geschichte zweier befreundeter Familien, die sich im Amerikanischen Bürgerkrieg auf beiden Seiten der (ideellen, geographischen, nicht aber militärischen) Front wiederfinden. Der Film ist 1915 ein Riesenerfolg, wird aber bereits von Zeitgenoss: innen aufgrund seines frappierenden und offensichtlichen Rassismus kritisiert. Insbesondere wird darin der Klu Klux Klan als volksnahe Institution verherrlicht, die immer wieder arglose Südstaatenfamilien in letzter Minute vor Angriffen durch Afroamerikaner rettet. Aber nicht nur das: Afroamerikanische Senatoren werden in dem Film als ungepflegte Säufer diskreditiert. In der Folge provoziert The Birth of a Nation rassistische Übergriffe in den USA. Die Mitgliederzahlen des 1869 offiziell aufgelösten KKK steigen bis in die 1920er-Jahre hinein massiv an - auf 4 Millionen. Dies nicht nur und nicht primär wegen Griffiths Film, zweifelsohne leistet er jedoch seinen Beitrag. Die NAACP (National Association for the Advancement of Colored People, gegründet 1909) protestiert gegen Griffiths Film und fordert umfassende Kürzungen, bleibt damit jedoch erfolglos. Kinovorführungen sind zu jener Zeit noch segregiert, was in einigen Regionen tatsächlich erst Mitte der 1960er- Jahre abgeschafft werden wird. Die allermeisten Kinos sind Afroamerikaner: innen in den 1910er-Jahren überhaupt nicht zugänglich und nur in größeren Städten gibt es bisweilen dedizierte Säle. Oft muss ein special screening verabredet und arrangiert werden, so auch, damit die NAACP The Birth of a Nation überhaupt sehen kann. 1916 erscheint Griffiths nächstes Epos Intolerance , das wie ein Entschuldigungsschreiben hinsichtlich The Birth of a Nation anmutet. Dieser ist 210 Minuten lang und verbindet drei historische Handlungsstränge mit <?page no="49"?> 1911 bis 1920 Die Konventionen etablieren sich 49 einem gegenwärtigen: das Leben Christi, die Hugenottenverfolgung im Frankreich des späten 16. Jahrhunderts (1572) und die Eroberung Babyloniens durch Persien 539 v.u.Z. Allein die Statist: innen für den Film kosten zusammengenommen 12.000 US- Dollars pro Tag (was heute in etwa 292.700 US-Dollars entspräche! ). Oft wird behauptet, Intolerance sei gefloppt, er ist jedoch nur, wenn man ihn am Superhit The Birth of A Nation misst, ein deutlich moderaterer Erfolg. Cecil B. DeMille (1881-1959) ist der andere heute noch hochgradig bekannte amerikanische Regisseur jener Zeit. 1919 dreht er Male and Female , ein frühes Gender-Abenteuer- Drama, wie es später noch viele geben wird: Eine Aristokratin (Gloria Swanson) und ihr Butler werden Schiffbrüchige und ihre frühe Ablehnung ihm gegenüber wird in der Abwesenheit sozialer Klassen infrage gestellt, da er besser im Überleben geschult ist. Das führt zum temporären Einwilligen in ein archaisches Rollenmodell. Als die Schiffbrüchigen kurz vor der Eheschließung gerettet werden, entscheidet sich der Butler jedoch für ein Zimmermädchen, das ihm zugetan ist, und die beiden werden gemeinsam glücklich. Male and Female weist die für den Mainstream-Film typische Adressierung vielschichtiger Zielgruppen auf und bietet identifikatorisches Potenzial für verschiedene Klassen und Geschlechter. Zudem ist er ein ideales Beispiel für das frühe Hollywood- Kino durch seine Verbindung von zwei beliebten plot devices (hier: Liebesgeschichte und Abenteuer), die unterhaltsame Narration durch schnelle Schnitte, den perpetuell wiederkehrenden comic relief und einiges mehr. Wie bei DeMille üblich, erschöpft er sich jedoch nicht in handwerklich perfekter Unterhaltung, sondern weist z. B. eine elaborierte Traumsequenz auf, welche die von Gloria Swanson verkörperte Aristokratin als Protagonistin eines berühmten zeitgenössischen Gemäldes des Österreichers Gabriel von Max (1840-1915) zeigt: „The Lion’s Bride“ von 1908. Eine dritte hochgradig interessante Regiepersönlichkeit jener Jahre, wenngleich weitaus unbekannter, ist Lois Weber (1879-1939). Weber verantwortet zwischen 1911 und 1934 insgesamt um die 140 Filme als Regisseurin und Drehbuchautorin, oft in Personalunion. 1913 erscheint ihr hochgradig formal innovativer Film Suspense , der jahrzehntelang D.W. Griffith zugeschrieben werden wird. Dieses Schicksal teilen viele Arbeiten von Regisseurinnen und unbekannteren Regisseuren jener Zeit - Griffith wird zwischenzeitlich zu einer Art Sammelbegriff für alles Innovative in jenem Jahrzehnt, ehe in einer revisionistischen Bewegung die eigentlichen Verantwortlichen nach und nach wiederentdeckt werden. Vor allem die Nutzung eines vertikalen point of view shots und die Erzählung von Gleichzeitigkeit mittels eines innovativen Splitscreens macht Suspense ungewöhnlich und effektiv. Auf Ebene des Genres ist neben historischen Epen und Abenteuerfilmen auch der Western nach wie vor ein sehr erfolgreiches Format, wenngleich es sich noch auf den B- Movie-Bereich beschränkt. Die Produktionen sind größtenteils von der Stange und nicht besonders aufwändig, erfreuen sich aber großer Beliebtheit. Und auch die Slapstick- Komödie ist ein erfolgreiches Modell der Zeit. Charles Chaplin (1889-1977) dreht 1914 seinen ersten Film und etabliert in jenen Jahren bereits seine berühmte „Tramp“-Figur. Auch seine Konkurrenten und Weggefährten Harold Lloyd (1893-1971) und Roscoe „Fatty“ Arbuckle (1887-1933) sind bereits in den Zehnerjahren erfolgreich. Arbuckles Sidekick ist derweil ein gewisser Buster Keaton, der in den 1920er-Jahren neben Chaplin und Lloyd zum dritten großen bekannten Slapstick-Virtuosen aufsteigen wird. <?page no="50"?> 50 Handbuch Filmgeschichte Charles Chaplin ist neben Mary Pickford, Douglas Fairbanks und D.W. Griffith 1919 auch in anderer Hinsicht an einer prägenden historischen Entscheidung beteiligt: Gemeinsam gründen sie die United Artists , ein unabhängiges Studio, dessen Macher: innen mehr Kontrolle über die Produktion erlangen wollen und dadurch den ersten Versuch einer Befreiung von dem mittlerweile schon ubiquitären Big-Seven-Hollywood-Studiosystem unternehmen. 1910er: Deutschland ährend der Film in den USA als Unterhaltungsmedium angekommen ist, hat er in Deutschland Anfang der 1910er-Jahre noch immer große Probleme mit mangelnder Anerkennung. Immer noch wird er von vielen Seiten als triviale Alternative zum Theater wahrgenommen, die besonders verhasst ist, weil sie den altehrwürdigen Kunstformen Konkurrenz bereitet. Diese Stimmungslage kulminiert im Mai 1912 in dem Boykott von Kinos durch die Theaterschaffenden. Bereits einige Monate später lässt sich jedoch ein Umschwung feststellen: Die Theaterschaffenden integrieren sich nunmehr sukzessive in die Filmindustrie und werden als Drehbuchautor: innen, Schauspieler: innen und Regisseur: innen reihenweise angeworben. Das deutsche Starsystem dreht sich anfangs um seinen dänischen Import Asta Nielsen. 1911 drehen sie und ihr Ehemann Urban Gad ihren ersten Film in Deutschland, Heißes Blut . Eine zeitgenössische Rezension in der Zeitschrift deutscher Lichtbildtheater- Besitzer bemerkt überschwänglich: „Es ist schon viel darüber geschrieben, daß dramatische Films für das Lichtbild nicht am Platze wären. Heißes Blut beweist das Gegenteil, namentlich dann, wenn eine Künstlerin wie Asta Nielsen die Trägerin der Hauptrolle ist. Die Handlung ist überwältigend“ (zit. nach Jacobsen 2004, 26), und bezieht sich damit direkt auf die schwelende Diskussion um das Kino als Stätte des Kultur- und Sittenverfalls. Am 12. Februar 1912 wird das neue deutsche High-End-Studio mit 300 Quadratmetern Atelier, Außengelände mit Zirkusrund und arabisch-orientalischer Straße in Babelsberg eingeweiht, als die Dreharbeiten für den neuen Film mit Asta Nielsen, Der Totentanz , beginnen. Um 1912 werden eine Zeit lang historische Filme der Mutoskop- und Biograph GmbH populär; so erscheint in jenem Jahr z. B. Paul von Woringens Theodor Körner über einen Dichter, der am Freiheitskrieg gegen Napoleon teilnimmt. Von Woringen bringt dadurch die Ideologeme von Kunst und Nationalismus argumentativ zusammen, was im Nachhinein am Vorabend des Ersten Weltkriegs wie eine Ankündigung erscheint. Franz Porten dreht im selben Jahr den Zweiteiler Film von der Königin Luise . Mehrteiler und Historiendramen bleiben bis heute beliebte ‚deutsche Genres‘. Ebenfalls im Jahre 1912 dreht auch Harry Piel (1892-1963) seinen ersten Film für die Deutsche Vitascope, Schwarzes Blut . Piel macht fast alles - zumindest aber Drehbuch, Regie und Produktion - in Personalunion. In dem Dreißigminüter geht es um einen Asiaten, der nach Deutschland reist, um sich für etwas noch Unbekanntes zu rächen. Piel hat später eine sehr wechselhafte Karriere als Regisseur und Schauspieler und wird sowohl mit der Dietrich als auch für die Nationalsozialisten arbeiten. Die Rolle der Frau in der Filmindustrie wird insbesondere innerfilmisch verhandelt: Asta Nielsens Figur in Urban Gads Die Sünden der Väter (1912) wird nicht nur als „Film über eine Frau und ihre Geschichte, sondern auch [als] ein Film über die Rolle der Frau innerhalb der ästhetischen Produktion“ begriffen. „Asta Nielsen spielt ein Malermodell, W <?page no="51"?> 1911 bis 1920 Die Konventionen etablieren sich 51 das am Ende das Bild zerstört, das der Mann von ihr malte“, bringt Heide Schlüpmann die Handlung auf den Punkt (Schlüpmann 2004, 520). Senta Eichstaedt bekommt als Detektivin in der „Nobody-Serie“ von 1913 die Rolle einer arbeitenden, mobilen Frau zugeschrieben, die zudem über häufige point of view shots durch ein Fernglas immer wieder die Blickmacht über die Situation erhält. Auch wenn die Position der Drehbuchautorin nicht unüblich ist, kommen hingegen auf 80 bekannte Regisseure der 1910er-Jahre etwa zwei Regisseurinnen. Aus heutiger Sicht am bekanntesten sind darunter wohl Rosa Porten (1884-1972) und Hanna Henning (1884-1925). Rosa Porten ist die ältere Schwester von Henny Porten; Rosas Drehbuch zu ihrem ersten Film Das Liebesglück der Blinden (1911) verhilft Henny zum Starstatus. 1918 dreht sie in dreifacher Funktion als Regisseurin, Drehbuchautorin und Kamerafrau Erste Liebe . Porten muss sich aufgrund der sexistischen Vorbehalte der Gesellschaft gegenüber Filmemacherinnen ihren credit oft mit ihrem Ehemann Franz Eckstein teilen; Drehbücher schreibt sie aus denselben Gründen häufig unter dem Pseudonym Dr. R. Portegg. Hanna Henning arbeitet ab 1911 für eine kleine Produktionsfirma namens Bubi-Film und gründet 1915 die Hanna-Henning-Film; 1917 werden beide zu Bubi-Film Henning & Co. fusioniert. Ihre bekanntesten Filme sind Unverstanden (1915), Im Banne des Schweigens (1916) und Mutter (1917); ihr Œuvre ist wechselweise nicht überliefert oder versauert in Archiven. Nach dem Bruch und der Versöhnung mit dem Theater und der Etablierung ernsthafterer Stoffe im Jahre 1912 wird 1913 das Jahr des „Deutschen Autorenfilms“ , was nicht zu verwechseln ist mit deutlich späteren Begriffen wie demjenigen der Auteur- Theorie . Autorenfilme sind Adaptionen von literarischen Vorlagen und weisen Drehbücher von wohlbeleumundeten Theaterschriftsteller: innen auf. So z. B. Der Andere (1913) von Max Mack, eine Art Jeckyll-und- Hyde-Geschichte, deren Drehbuch eine Vorlage von Paul Lindau adaptiert. Für Die Landstraße aus demselben Jahr (1913) schreibt Lindau gar selbst das Drehbuch. In dem Film von Paul von Woringen geht es um einen fälschlich des Mordes verdächtigten Protagonisten, dessen Unschuld erst durch das Totenbettgeständnis des Mörders am Ende des Films bewiesen werden kann. Mit Abstand am bekanntesten wird Stellan Ryes Der Student von Prag (1913) mit einem Drehbuch von Hanns Heinz Ewers. Inhaltlich scheint der Film bereits auf den deutschen Expressionismus der 1920er-Jahre vorauszudeuten; es geht um einen Teufelspakt, im Zuge dessen ein Student für Reichtum sein Spiegelbild verkauft. Der deutsche Autorenfilm ist eine extrem kurzlebige Bewegung und 1914 im Prinzip schon wieder vorbei. Die Etablierung des Starsystems ist jedoch für die Industrie gleichbedeutend mit einem großen Aufschwung um 1914. Asta Nielsen erfreut sich weiter ungebrochener Popularität und Henny Porten (1890-1960) beginnt zu jener Zeit ebenfalls wie erwähnt ihre illustre Karriere. Paul Wegener (1874-1948) beginnt sein Konzept der „kinetische(n) Lyrik“ umzusetzen und bringt dafür Natur und Technik, Realität und Phantastik dialektisch zusammen - Beispiele dafür sind Der Golem (1914) oder Rübezahls Hochzeit (1916). Ernst Lubitsch (1892-1947) etabliert sich derweil als Meister der grotesken Komödie und entwickelt das sogenannte „Filmlustspiel“- Genre. Diese Komödien mit anarchischem Einschlag haben in Deutschland wenig später schon keinen Platz mehr, beeinflussen aber das britische und amerikanische Kino, insbesondere nach Lubitschs Emigration. Lubitschs Filmkarriere beginnt damit, dass er als Varieté-Komiker in Filmen die Hauptrollen übernimmt, im weitesten Sinne wie eine Art deutscher Chaplin. Seinen Durchbruch markiert die Premiere des Riesenerfolges Die <?page no="52"?> 52 Handbuch Filmgeschichte Firma heiratet: Drei Kapitel aus dem Leben einer Probiermamsell am 21. Januar 1914 (unter der Regie von Carl Wilhelm), der so ein riesiger populärer Erfolg wird, dass noch im selben Jahr, am 30. Juli 1914, das Sequel Der Stolz der Firma: Die Geschichte eines Lehrlings , ebenfalls im Gespann Wilhelm/ Lubitsch realisiert, in die Kinos kommt. Lubitsch wird bald auch als Regisseur tätig. Er filmt 1916 sein Regiedebüt Schuhpalast Pinkus (manchmal wird ihm auch Fräulein Seifenschaum von 1914 zugeschrieben) und produziert bereits am Ende der Dekade eine ganze Reihe seiner späteren Klassiker wie Die Austernprinzessin (1919). Der deutsche Krimi etabliert sich - oft in Serienform - ebenfalls zu jener Zeit und ist in den Zehnerjahren bereits sehr erfolgreich. Oft haben die Regisseure stilisierte englische Künstlernamen und die Detektive heißen z. B. Stuart Webbs, was die anfängliche Anknüpfung an die angelsächsische Tradition untermalt. Sie sind fast allesamt Großstadtgeschichten und damit Vorläufer anderer urbaner Filmgenres, die sich besonders in den 1920er-Jahren etablieren. Auch in Deutschland findet der Film in den 1910er-Jahren eine verbindliche Sprache, die dem internationalen Continuity-Stil sehr ähnlich ist. Besonders Kameramann Emil Schünemann versucht sich an einer größeren Beweglichkeit der Kamera und beginnt damit eine Bewegung, die 1924 in Murnaus Der letzte Mann mit seiner sogenannten „entfesselten Kamera“ kulminieren wird. Und auch die Filmlänge wächst im Gleichschritt mit dem internationalen Standard an: Zwischen 1911 und 1914 entwickeln sich auch in Deutschland die abendfüllenden Mehrakter oder: Spielfilme. Die allmähliche Etablierung des Films löst zugleich den Beginn der Filmkritik und -publizistik in Deutschland aus; der Autorenfilmer Max Mack z. B. veröffentlicht 1916 sein berühmtes Filmbuch Die zappelnde Leinwand . Mit Kriegsbeginn nehmen die Importe von Filmen aufgrund von punktuellen Verboten ab, wovon die deutsche Filmproduktion quantitativ gesehen indessen profitiert - ähnlich wie in Schweden oder Russland etabliert sich ein weitgehend isoliertes Nationalkino. 1916 werden Importe letztlich gänzlich verboten und die nationale Filmindustrie geht - anders als stark vom Export abhängige Filmländer wie Frankreich - unterm Strich gestärkt aus dem Ersten Weltkrieg hervor. 1915 gründet Erich Pommer die „Decla-Film- Gesellschaft“, ein ästhetisch gesehen recht eigenständiges Studio. Durch den Kriegsverlauf fühlt sich jedoch Erich Ludendorff, Erster Generalquartiermeister beim Chef des Generalstabs, veranlasst, 1917 eine „Vereinheitlichung der deutschen Filmindustrie“ zu fordern, vornehmlich für Propagandazwecke oder, wie es Ludendorff selbst ausdrückt: „um nach einheitlichen großen Gesichtspunkten eine planmäßige und nachdrückliche Beeinflussung der großen Massen im staatlichen Interesse zu erzielen.“ Daraus geht die Ufa (Universum Film AG) hervor, in der wiederum alle wichtigen Filmproduktionsfirmen, auch die Decla, aufgehen. Am 18. Dezember 1917 erfolgt der Eintrag ins Berliner Handelsregister. Auch wenn dieses Monopol bereits zur Tonfilmzeit punktuell angegriffen wird und in der Nachkriegszeit allmählich ins Bröckeln gerät, existiert die Ufa auch heute noch (als UFA). Die große Überschaubarkeit ist anhand von über 800 Produktionsfirmen anno 2020 allerdings vorbei. Die UFA ist zudem schon lange nicht mehr in den Top 5 der deutschen Produktionsfirmen vertreten, an deren Spitze relativ konstant die Constantin Film thront. <?page no="53"?> 1911 bis 1920 Die Konventionen etablieren sich 53 1910er: Europa In Frankreich hat sich das Kino in den 1910er-Jahren endgültig durchgesetzt, Café- und Wandervorführungen sterben quasi vollständig aus. Der Krieg trifft den Branchenprimus jedoch wie kein anderes Land, was seine Filmindustrie angeht, auch, weil mit Kriegsbeginn 1914 viele Filmproduktionsstätten in Munitionsfabriken umgewandelt werden und die häufig noch recht jungen Filmemacher an die Front müssen. Ausgerechnet in diesen fragmentierten Zeiten boomt in Frankreich das Format des Serienfilms . Louis Feuillade entwickelt nach sieben Jahren bei Gaumont Fantômas (1913) und setzt ihn aufgrund des großen Erfolges im Folgejahr fort. Damit beginnt eine Erfolgswelle des seriellen Formats - kurz vor Kriegsbeginn werden Serien auch in den USA als eine Art Zwischenphase vom Kurzfilm zum Spielfilm beliebt, da die Episodenlänge von 20 bis 45 Minuten den Kern eines gestückelten Programms darstellen kann und gleichzeitig die Rückkehr ins Kino mit Cliffhangern und ähnlichen Kniffen absichert. Höhepunkt der Kunstform ist wohl Louis Feuillades Les Vampires von 1915, dessen sieben Stunden Laufzeit in zehn Episoden unterteilt sind. Auch deutsche Filmemacher: innen greifen das Konzept der Serie auf - am populärsten ist Otto Ripperts Homunculus (1916) über eine Art Frankenstein-Monster, das sich auf dem Aktienmarkt umtut und dadurch die Weltherrschaft zu übernehmen droht. Sie besteht aus sechs circa einstündigen Teilen. Neben Feuillade ist Léonce Perret (1880-1935) ein bedeutender französischer Regisseur jener Zeit, der sich insbesondere mit zwei Melodramen über entführte Kinder einen Namen macht: L’Enfant de Paris (1913) und Le Roman d’un Mousse (1914); in sehr groben Zügen geht der komplexe plot des Letzteren so: Ein Reichenkind wird durch einen Geldverleiher entführt, seine Eltern erpresst. Als der Plan nicht aufgeht, schickt der Verleiher den Jungen auf einem Fischerboot in den intendierten Tod, aber ein Crewmitglied des Fischerbootes entschließt sich ihn zu retten. Le Roman d’un Mousse ist bemerkenswert aufgrund seiner Stimmungsbilder, die er mithilfe subtiler Lichtsetzung erzeugt, seiner ungewöhnlichen mise en scène, aber auch aufgrund seiner symbolischen Montage. Im Rückblick erscheint der Film wie ein früher Vorläufer auf dem Weg zum französischen Impressionismus der 1920er-Jahre. Richard Abel schreibt dazu in The Ciné goes to Town (1998, 380f): „Wenn die Fantômas-Filme von Feuillade in der Saison 1913- 1914 immer noch einer der Höhepunkte von Gaumonts Produktion sind, bilden die beiden Blockbuster von Perret, L’Enfant de Paris und Le roman d’un Mousse , sicherlich einen weiteren. Beide sind ‚Superproduktionen‘ mit acht oder mehr Walzen und gehören damit zu der gleichen Kategorie wie Germain von Pathé und Les Trois Mousquetaires von Film d’Art. Und beide wurden als Exklusivitäten in Kinoprogrammen gezeigt, die durch ein Intervall in zwei mehr oder weniger gleiche Teile aufgeteilt wurden, um sie erfolgreich mit der Theateraufführung eines Stücks gleichzusetzen. Diese Filme kombinieren kriminelle und detektivische Züge der Serien Zigomar , Main de fer und Fantômas mit anderen, die mit der bürgerlichen Familie des zeitgenössischen Melodramas zu tun haben. Einerseits bieten sie folglich Ausflüge durch eine Vielzahl sozialer und geographischer Stätten an, von Führungen durch die bürgerlichen Spielplätze der Oberklasse bis hin zu Slumming-Erlebnissen der Abwärts- und Außenränder. Andererseits führen sie die Geschichte des ‚verlorenen Kindes‘ wieder ein, das den Fortbestand der bürgerlichen Familie als Ort des sozialen Wertes und der Ordnung gefährdet. Und diese Verschmelzung der beiden vor Kurzem <?page no="54"?> 54 Handbuch Filmgeschichte unterschiedlichen Genres nimmt ihre ausgeprägteste Form […] im Charakter des heranwachsenden Jungen an, der zuerst das Opfer der Kriminellen ist und dann ihr Feind als Detektivheld.“ Das älteste französische Studio Pathé verlegt sich ab 1913 von der kostspieligen Produktion immer stärker auf die günstigere Distribution, was in Zeiten des Ersten Weltkriegs dazu führt, dass es sich auf die US- Distribution konzentriert. Lillian Gish, Charlie Chaplin, Douglas Fairbanks und andere werden große Stars in Frankreich und die Vorreiterrolle von Pathé - als auch Frankreichs im Ganzen - geht verloren. Pathé selbst bleibt dadurch profitabel, aber die französische Industrie wird sich von diesen Einschnitten niemals in vollem Umfang erholen. Um es in einer Zahl auszudrücken: 1917 sind 50 Prozent der Filme, die in Frankreich laufen, US-amerikanischer Herkunft. Die Wachablösung ist vollzogen. Das Studio Nordisk etabliert sich im Dänemark der 1910er-Jahre als weltweit anerkannte Marke, die für das qualitativ hochklassige Schauspiel und die Wertigkeit der Produktion ( production values ) bekannt ist. Es spezialisiert sich auf Kriminalthriller, Dramen und Melodramen, die auch heute noch die drei großen dänischen Genres sind. Etliche der Melodramen handeln zu jener Zeit vom Menschenhandel; außerdem spielen - nicht zuletzt aufgrund einer festinstallierten Zirkuszeltkulisse bei Nordisk - oft Zirkus-Settings eine wichtige Rolle. Als ambitioniertester dänischer Film der 1910er-Jahre kann wohl August Bloms Atlantis von 1913 gelten, ein direkter Vorläufer heutiger dänischer Melodramen. Ein Chirurg erfährt darin, dass seine Frau gehirnkrank ist und sie wird kurzerhand eingewiesen; er geht in Trauer davon und stellt einer jungen Tänzerin nach, der er bis auf ein Kreuzfahrtschiff folgt. Dort stellt er fest, dass sie einen Freund hat, lässt von ihr ab und soll kurz darauf an Bord eine junge Russin behandeln, was fast zu einer Liebesnacht führt, aber aufgrund des Klassenunterschiedes ist die Beziehung aussichtslos. Die „Roland“ (das Schiff) fährt jedoch in ein unsichtbares Objekt und sinkt. Das katastrophale Unglück der Titanic am 14. April 1912 ist zu jenem Zeitpunkt noch sehr frisch im kollektiven Gedächtnis verankert, sodass Atlantis bisweilen als erster Titanic-Film bezeichnet wird. Der Chirurg und die Tänzerin können sich auf ein Rettungsboot retten, aber ärmere Passagiere haben nicht das Glück: Nur acht überleben. Der Film ist ein Welterfolg. Aus Dänemark kommen in den 1910er- Jahren aber ohnehin viele sehr kunstvolle und narrativ innovative Filme, die sich ähnlich wie Feuillade und Perret in Frankreich auf die ästhetische Stärke von Stimmungsbildern stützen. Insbesondere die Qualität der Beleuchtung steht immer mehr im Vordergrund und bietet neue Möglichkeiten für die Gestaltung der mise en scène. Die Kolorierung verschiedener Settings (blau für Nachtszenen etwa) wird zu jener Zeit vollkommen üblich und weltweit eingesetzt. In Dänemarks Nachbarland Schweden wird im Jahre 1907 die Produktionsfirma Svenska Biografteatren („Svenska“) in Kristianstad gegründet. Mit dem Umzug nach Stockholm im Jahre 1912 beginnt die erste Blütezeit des schwedischen Kinos. Insbesondere die Filme von Georg af Klercker, Mauritz Stiller und vor allem Victor Sjöström (1879-1960) haben einen sehr eigenständigen Stil, der die nordischen Landschaften, schwedischen Trachten und Bräuche und die eigene Literaturtradition stark einbindet. Sjöströms Ingeborg Holm von 1913 z. B. könnte auf den ersten Blick auch von August Strindberg geschrieben sein: Eine gutbürgerliche fünfköpfige Familie degeneriert durch schwere Krankheiten. Der Ehe- <?page no="55"?> 1911 bis 1920 Die Konventionen etablieren sich 55 mann stirbt an Tuberkulose, die Mutter (Titelfigur Ingeborg) erkrankt an einem Geschwür und kann nicht mehr arbeiten, sodass die drei Kinder in ein Armenhaus kommen, wo schon bald der Jüngste die Mutter nicht mehr erkennt, als sie zu Besuch kommt. Das treibt Ingeborg in den Wahnsinn, als wiederum ihr Ältester Erik sie besucht, erkennt Ingeborg ihn nicht mehr. Es gibt jedoch ein bittersüßes Happy End: Als Erik ihr ein altes Foto zeigt, kommt alles wieder und die Familie wird wieder zusammengeführt. Das Motiv des Porträtfotos spielt in dem Film ohnehin eine große Rolle in Bezug auf Erinnerung und Identität. In Italien wird insbesondere der Historienfilm mit etlichen aufwendigen Großproduktionen fortgesetzt. Merkmale des frühen italienischen Films sind seine enorme Länge, gigantische Kulissen unter freiem Himmel, die das Zusammenwirken von Kulissen und Landschaft erwirken sollen, lange Kamerafahrten in die Tiefe mithilfe eines Kamerawagens, der in Italien entwickelt wird ( carello ), ganze Menschenmassen, die eine Massenchoreographie der Komparsen aufführen sowie ein starker Fokus auf die Hauptdarstellerin, die Diva. Giovanni Pastrone, einer der ersten italienischen Filmemacher, produziert 1914 das gigantische Epos Cabiria , das wegen der enormen Ausstattung, aber auch wegen der virtuosen Kamerafahrten stilbildend ist. Das zweite große Genre, in dem die Diven (wörtlich „Göttinnen“) hervortreten, ist der Gehrock-Film. Dieser bezeichnet aristokratische Dramen, die der Oper in Bühnenausstattung und Performance nahestehen. Die berühmtesten Diven der Zeit sind Lyda Borelli (1884-1959) und Francesca Bertini (1892- 1985). Das männliche Pendant zu diesen hyperfemininen Frauenfiguren bildet in den Historienfilmen der hypermaskuline Maciste (oder ‚Muskelmann‘). Sowohl der Historienals auch der Gehrockfilm sind in Italien auch nationalistische Anliegen. Die späte Vereinigung zum Nationalstaat im 19. Jahrhundert fördert das Bedürfnis, regionale Differenzen durch nationale Fiktionen zu überwinden. Aus heutiger Sicht wirkt das oft reaktionär und wie eine frühe Vorahnung des gar nicht so viel späteren Faschismus, aber eine solche Lesart vernachlässigt die Positionierung des Historienfilms als Nachfolger der großen italienischen Oper, ästhetisch wie soziologisch, schließlich handelt es sich bei der Oper des 19. Jahrhunderts in Italien um ein Massenmedium mit etwa 10.000 Besucher: innen. Die Verbindung zeigt sich in dem Hang zu großen historischen Stoffen, Massenchoreographien, opulentem Dekor, einem großen Gefühlsaufwand und eben: den Diven. Mit dem Kriegseintritt 1916 passiert in Italien etwas Ähnliches wie in Frankreich, jedoch nicht ganz so drastisch. Der Einbruch der Exporteinnahmen kostet Italien dennoch den Status als zweite industrielle Filmnation hinter Frankreich - beide werden von den USA überholt, die vor Kriegsanbruch als Exporteur nur in Großbritannien, Deutschland, Australien und Neuseeland führend gewesen sind. In den 1920er-Jahren steigt die italienische Filmindustrie ökonomisch weiter ab und erholt sich auch ästhetisch für längere Zeit nicht von dem Absturz des Ersten Weltkriegs und dem darauffolgenden Aufstieg des Faschismus. In Russland beginnt in den 1910er-Jahren - abgesehen von einigen Vorläufern - die Geschichte des Stop-motion-Films. Diese Form des Animationsfilms wird durch den Puppenspieler-Virtuosen (1882-1965) entwickelt, einen in Moskau geborenen Polen, der anfangs Insekten in Bewegung versetzt. In seinem Film Mest’ kinematograficheskogo operatora (RUS 1912), auf Deutsch in etwa „Die Rache des Kameramanns“, verhalten sich Insekten dem <?page no="56"?> 56 Handbuch Filmgeschichte Anschein nach vollständig menschlich, auch auf Handlungsebene: Es geht um Betrug, Eifersucht und Rache: Herr Käfer fängt eine Affäre mit einer hübschen Libellentänzerin an, während ihr Ex-Freund, ein Grashüpfer und Kameramann, das Ganze heimlich beobachtet und filmt. Starewicz bleibt nicht viel länger in Russland, sondern flüchtet 1917 vor der Revolution und arbeitet danach lange in Frankreich. Ansonsten nimmt Russland im Ersten Weltkrieg eine ähnliche Entwicklung wie Deutschland, was die Filmindustrie angeht: Die nach und nach eingeführten Importstopps deutscher, später auch italienischer Filme führen zu einer weitreichenden Expansion der Nationalproduktion. Eine globale Besonderheit des frühen russischen Films gegenüber dem allgemeinem Filmgeschmack ist, dass dort tragische Enden sehr viel populärer sind als das ansonsten ubiquitäre happy ending . Und das sehr langsam erzählte Melodrama, wie es auch heute noch existiert, etabliert sich als das erfolgreichste russische Genre. Es zeichnet sich durch seinen introspektiven Schauspielstil, die langsame Schnittfrequenz, detaillierte Sets und komplexe analytische Kamerafahrten aus. Einer der interessantesten Protagonisten dieses Genres und des russischen Films überhaupt ist Yakov Protazanov (1881-1945), der von 1909 bis 1943 als Filmemacher tätig ist und damit etliche frühe Phasen des russischen Kinos aktiv miterlebt. In den 1910er- Jahren ist er vor allem bekannt für Literaturverfilmungen nach Puschkin und Tolstoi, etwa Otets Sergiy („Pater Sergius“, RUS 1918), den er in Zusammenarbeit mit dem Drehbuchschreiber Alexandre Volkoff umsetzt. Die Revolutionen im Februar und Oktober 1917 verändern auch das Filmschaffen in Russland radikal. Eine der wichtigsten Avantgarde-Bewegungen der 1920er-Jahre entsteht in ihrer Nachhut, auch, weil das Kino von Lenin zur wichtigsten Kunst erklärt wird, was weltweit ein staatliches Novum ist. Der Umbruch vollzieht sich langsam und vor der Verstaatlichung des Kinos erfolgt als Zwischenschritt die Einrichtung einer Überwachungsbehörde; erst ein paar Jahre später setzt sich die Produktion ein wenig und die neue sowjetische Filmtheorie wird zur Vorbedingung der nunmehr propagierten ästhetischen Revolution der 1920er- Jahre. 1910er: Globales Kino Je nach Quelle erscheint der erste indische Spielfilm 1912 oder 1913. Er heißt jedoch zweifelsfrei Raja Harischandra und wird von Dhundiraj Govind „Dadasaheb“ Phalke (1870-1944) verantwortet. Bereits dieser erste Film orientiert sich stilistisch am Westen, nutzt den Continuity-Stil und die 9-Fuß- Regel, aber bedient sich inhaltlich am eigenen Fundus: Das Sujet entstammt der hinduistischen Mythologie. Diese Kreuzung technisch-ästhetischer Importe und inhaltlicher Folklore wird für die nächsten Jahre das Hindi-Kino nachhaltig prägen. Im japanischen Film findet in den 1910er- Jahren bereits die erste Erneuerungsbewegung statt, die sich als Jun’eigageki undou, oder: „reine Kinobewegung“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen Trend, der sich aus einer Symbiose von Filmkritik und Filmproduktion entwickelt. Kritisiert wird die Orientierung am Kabuki- und Shinpa- Theater und daraus resultierende Abhängigkeit des japanischen Films von einem fremden Medium. Stattdessen wird ein ‚reiner‘, davon unabhängiger Film gefordert, der zu eigenen medialen Ausdrucksweisen finden soll. <?page no="57"?> 1911 bis 1920 Die Konventionen etablieren sich 57 Umgesetzt wird die Theorie der Bewegung erstmals mit Norimasa Kaeriyamas Film Sei no Kagayaki (1919, in etwa: Das Glühen des Lebens). Die Revolution daran ist, dass er nicht wie zuvor sämtliche japanischen Filme einen tradierten Stoff verwendet, sondern ein modernes Drehbuch. Er spielt zudem in einem einfachen Landmilieu, statt sich den Geschicken des Adels zuzuwenden. Abgesehen von diesen programmatisch-inhaltlichen Aspekten weist er etliche formale Innovationen auf, die zu einem formal gesehen pluralistischen Ganzen verwoben werden und ihn auf verschiedenen Ebenen anschlussfähig für Nachfolgewerke machen. In Korea entwickelt sich am Ende der Dekade ganz im Gegensatz zur japanischen Befreiungsbewegung eine enge Symbiose mit dem Theater in der Praxis des Kinodramas: Erste koreanische Filme wie Kim Do-Sans Uirijeok Gutu (Ein guter Freund, 1919) werden auf zwei physikalischen Ebenen inszeniert. Vor der Leinwand befindet sich eine Theaterbühne, auf der gespielt wird, während der Film durch seine Projektion weitere Ebenen von Kulissen bis hin zu Figuren hinzufügt. <?page no="58"?> 58 Handbuch Filmgeschichte Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts Hollywood-Spielfilm In den 1910er-Jahren werden die meisten Regeln zur narrativen Funktionsweise des USamerikanischen Spielfilms, wie er global stilbildend werden wird, implizit festgelegt. Kristin Thompson und David Bordwell sehen in der formelhaften Vereinheitlichung eine ästhetische und ökonomische Stärke des Hollywood-Kinos (2019, 59): „Mit der Vereinheitlichung der Spielfilme legten Hollywood-Filmemacher festere Richtlinien für die Konstruktion verständlicher Handlungen fest. Diese Richtlinien haben sich seitdem kaum geändert. Hollywood-Handlungen bestehen aus klaren Ketten von Ursachen und Wirkungen, und die meisten davon beinhalten Charakter-Psychologie (im Gegensatz zu sozialen oder natürlichen Faktoren). Jeder Hauptcharakter erhält eine Reihe verständlicher, konsistenter Merkmale. Der Hollywood-Protagonist ist in der Regel zielorientiert und versucht, Erfolge in Arbeit, Sport oder anderen Aktivitäten zu erzielen. Das Ziel des Helden steht in Opposition zu den Wünschen anderer Charaktere, wodurch ein Konflikt entsteht, der erst am Ende gelöst wird - was normalerweise ein glückliches ist. Hollywood-Filme verstärken das Interesse der Zuschauer: innen in der Regel, indem sie zwei voneinander abhängige Handlungsstränge präsentieren. Fast immer handelt es sich dabei um eine Liebesgeschichte, die mit der Suche des Protagonisten nach einem Ziel verbunden ist. Der Plot gewinnt seine Spannung auch durch Deadlines, Konflikteskalationen und Rettungsaktionen in letzter Minute. Diese Prinzipien des Storytellings haben zum dauerhaften internationalen Erfolg amerikanischer Filme beigetragen.“ Film als Kunst Die Diskussion, den Film gegen seine moralisierenden Kritiker: innen zu verteidigen und gleichzeitig als eigenständiges Medium zu nobilitieren, hat schon früh zu der Idee geführt, ihn den Künsten zuzuführen . Dieser Idee liegen - besonders in der deutschen Filmlandschaft - zwei Bestrebungen zugrunde: die Abgrenzung vom „einfachen“ Varieté-Publikum aus Gründen der Nobilitierung als kulturelle, förderungswürdige, potenziell Bildung leistende Institution; sowie die Abgrenzung gegen eine neue (klassenübergreifende) Form der kulturellen Öffentlichkeit in Form der Reklamierung des Films für das Bürgertum. Oder wie der Kunstgeschichts-Professor Konrad Lange 1920 formuliert: „Ich bin […] ein Freund des Kinos und ein Feind des Kinodramas. Gehört es doch zu den beliebtesten Kampfmitteln der Kinoindustrie, daß sie die Kinoreformer als Feinde dieser schönen technischen Erfindung brandmarkt. […] [W]ir mißbilligen nur seinen jetzigen Betrieb, bei dem der ‚Schundfilm‘, d.h. das kitschige und sensationelle Drama überwiegt. Demgegenüber wollen wir ein reineres und besseres, mehr der Kultur dienendes Lichtspiel schaffen. Mit einem Worte: Wir sind Gegner des jetzigen und Freunde des zukünftigen Kinos.“ (Lange 1920, 5f) Nationalkino Die Idee des Nationalkinos basiert auf der Überlegung, dass die unterschiedlichen industriellen Produktionsumgebungen in voneinander abgegrenzten Ländern sowie die Differenzen in Sprache, Kultur, Gesetzgebung, Moral etc. zur Ausprägung verschiedener Kinokulturen führen. Eine erste Isolierung der Filmmarkte erfolgt jenseits ihres separaten ökonomischen Wachstums durch die teils weitreichenden Importverbote des Ersten Weltkriegs. Ausgeprägtere Nationalismusbegriffe führen dabei oft zu einem sichtbareren, wenngleich nicht zwingend zu einem einschlägigeren Nationalkino, wie es sich in autokratisch regierten Kinokulturen immer wieder zeigt. Oberhalb und unterhalb des Nationalkinos gibt es auch Annahmen über globalisierte Kino- und Medienlandschaften, die sich überregional (Arabischer Raum, Schwarzafrika, der sogenannte „Westen“, Ostasien etc.), aber auch regional (Hindi-Kino, katalonischer Film) hervorbringen können. Das womöglich einschneidendste Ereignis in der Trennung der Kinokulturen voneinander ist möglicherweise die Einführung des Tonfilms in den 1930er-Jahren, die Synchronisation oder Untertitelung für die Erschließung internationaler Märkte unabdingbar gemacht hat. <?page no="59"?> 1911 bis 1920 Die Konventionen etablieren sich 59 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Atlantis » Regie: August Blom » Land | Jahr: DK | 1913 Ein abwechslungsreicher Ritt durch etliche Kurzgeschichten, in dessen Zentrum der eindrücklich inszenierte Untergang der Ersatz-Titanic „Roland“ steht. Filmtipp Ingeborg Holm » Regie: Victor Sjöström » Land | Jahr: S | 1913 Kathartisches Rührstück mit einer kraftvollen Bezugnahme auf szenisches Spiel, das auch nach einem Jahrhundert niemanden kaltlassen kann. Filmtipp Mest’ kinematograficheskogo operatora » Regie: » Land | Jahr: RUS | 1912 Stop-motion-Experiment, das in mühevoller Kleinstarbeit die allzu menschlichen Eigenschaften filmaffiner Insekten entlarvt. <?page no="61"?> 1921 bis 1930 · Die Vielfalt des späten Stummfilms Nach der Verschiebung der internationalen Import- und Exportstrukturen durch den Ersten Weltkrieg sowie der Neuformierung der US-amerikanischen Industrie durch den Umzug nach Hollywood ist das Kino in den 1920er-Jahren in einem Zeitalter der Neuordnung angekommen. Das Vorbild Hollywood steht Pate für eine Vielzahl an neuen Studiosystemen, die sich in jener Zeit formieren. Daneben etablieren sich nach der stilistischen, örtlichen und wirtschaftlichen Konsolidierung des Films erste langlebigere künstlerische Strömungen, vor allem in den europäischen Ländern. Allgemein sind die 1920er-Jahre von einer tendenziell liberalen Produktionsatmosphäre geprägt. Am Ende der Dekade wartet mit dem Beginn des Tonfilms indessen bereits die nächste weitreichende Umstellung auf das noch junge Medium; das soll aber erst im Teil zu den 1930er-Jahren zum Thema werden und wird hier vorerst ausgespart. 1920er: Deutschland ie deutsche Nachkriegsindustrie geht aufgrund seiner isolierten Position im Weltkrieg verhältnismäßig gestärkt aus der mit den letzten Kriegsjahren einhergehenden prekären Wirtschaftssituation hervor. Insgesamt laufen im Jahr 1919 insgesamt 500 Filme in 3000 Lichtspielhäusern, wobei die Kinos der Ufa im Schnitt über 1500 Plätze verfügen. Die jährliche Produktion von 200 bis 500 Filmen positioniert Deutschland auf einem weltweiten zweiten Platz hinter dem Studiosystem Hollywoods. Um 1918 und 1919 avanciert die Detektivserie zum beliebtesten Genre, aber auch Melodramen, Komödien, Aufklärungs- und Kriminalfilme haben ihre Regeln gefunden und sich als Typen gefestigt. In den 1920er- Jahren wandelt sich die Vorführungspraxis maßgeblich, da der Film in Deutschland endgültig die Verwandtschaft zum Varieté aufkündigt. Bis zur Jahrzehntmitte etwa sind theatralische, musikalische und tänzerische Darbietung im Stile von Varieté und Zirkus neben dem Film noch durchaus üblich, aber ab Mitte der 1920er-Jahre besteht das Nebenprogramm eines Spielfilms nur noch aus weiteren Filmen, in der Regel Wochenschau (Nachrichten) und Kulturfilm. Anton Kaes (2004, 41) bemerkt, dass sich das Kino längst D <?page no="62"?> 62 Handbuch Filmgeschichte auch als Massenmedium der weniger kaufkräftigen Gesellschaftsschichten der Weimarer Republik durchgesetzt hat: „Für die Arbeiterklasse [steht] das Kino in der Großstadt als geselliges Freizeitvergnügen gleichberechtigt neben Fußball, Kneipe und Rummelplatz; für die bildungsbürgerliche Mittelklasse konkurriert […] das Kino mit Theater, Revue und Rundfunk.“ Obwohl man über den deutschen Film der 1920er-Jahre insgesamt viel zu wissen glaubt, sind auch aus dem letzten Stummfilmjahrzehnt nur etwa zehn Prozent der Filme erhalten, wodurch besonders B-Produktionen, Serien und Genrefilme heute verloren sind. Unser Bild vom ‚Weimarer Film‘ ist daher sehr von den wenigen Highlights geprägt, die Eingang in den Kanon gefunden haben. Die Filme selbst weisen eine enorme Vielfalt auf, sodass die 1920er-Jahre nach wie vor als ein goldenes Zeitalter des deutschen Films gelten. Ernst Lubitsch dreht zwischen 1919 und 1922 ganze zwölf Filme, die selbst für seine Verhältnisse außergewöhnlich anarchischen Charakters sind. Viele von ihnen weisen ästhetische Formexperimente auf und arbeiten die erdrückenden Hierarchien des Kaiserreichs aus der Perspektive des liberaleren Klimas der jungen Republik auf. Mindestens fünf Filme - Madame Dubarry (1919), Die Austernprinzessin (1919), Die Puppe (1919), Anna Boleyn (1920) und Die Bergkatze (1921) - gelten aus heutiger Sicht als frühe Höhepunkte von Lubitschs Schaffen. Aufgrund ihrer antiautoritären Haltung schaffen sie es als erste deutsche Filme wieder in die USA importiert zu werden. Nahezu alle Lubitsch-Filme der Zeit weisen zudem emanzipierte, starke Frauenfiguren auf, welche die sich anbahnende sexuelle Revolution der 1920er-Jahre in Deutschland teils vorwegnehmen und teils begleiten. Mit dem Ende der kaiserlichen Zensur boomt überhaupt das Thema Sexualität im Kino. Der Aufklärungs- und Sittenfilm floriert wie nie zuvor und verkauft sich unter sensationalistischen Titeln wie Hyänen der Lust (1919, Otto Rippert), Das Gift im Weibe (1919, Bruno Decarli, Carl Neisser) oder Die weiße Sklavin (1921, Arthur Teuber). Gerade der letzte Titel repräsentiert den Mädchenhandel-Film, der, wie er zuvor insbesondere in Dänemark populär war, eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Besonderer Nachruhm wird indessen den Filmen des Österreichers Richard Oswald (1880-1963) zuteil, vor allem Anders als die Anderen (1919). Darin wird ein entlarvter Homosexueller erpresst und nimmt sich aus Angst vor Gesetz und Schande das Leben. Weitere Themen, die im Sinne der Aufklärung vom Sittenfilm verhandelt werden und zuvor als tabu galten, sind Abtreibung, Sexualkrankheiten und Prostitution. Das Faible zu gegen- und vorzivilisatorischem Exotismus der Weimarer Republik, welches sich auch in Tanz-, Musik-, Architektur- und Kleidungsmoden der 1920er- Jahre niederschlägt, hat im Film sein Pendant im Abenteuerfilm. Die erfolgreiche Romanschriftstellerin und Theaterschauspielerin Thea von Harbou (1888-1954) folgt in der Frühzeit ihrer Karriere gemeinsam mit Fritz Lang (1890-1976) diesem Trend und die beiden verfassen 1921 das Drehbuch zu Das indische Grabmal von Joe May. Lang beginnt ebenfalls um die Jahrzehntwende etwa seine Karriere als Regisseur, in deren Verlauf von Harbou und Lang 1922 heiraten. Von Harbou bleibt bis zu Langs Emigration im Jahre 1933 seine feste Drehbuchautorin, sie realisieren alle seine Projekte gemeinsam. Der früheste erhaltene Film von Fritz Lang ist Harakiri von 1919, ein früher ästhetischer und erzählerischer Erfolg ist indessen Vier um die Frau , auch bekannt als Kämpfende Herzen von 1920. Die aus heutiger Sicht wohl bekannteste Strecke von Fritz Langs Schaffen besteht zwischen 1922 und 1929 - in dieser Zeit entsteht zunächst der <?page no="63"?> 1921 bis 1930 Die Vielfalt des späten Stummfilms 63 Zweiteiler Dr. Mabuse, der Spieler (1922), der die Kulisse Berlins als Symbol der wachsenden modernen Großstädte jener Zeit virtuos einsetzt, ehe sich Lang ab 1924 eine Zeit lang großen Ausstattungsfilmen zuwendet. In jenem Jahr entsteht mit Die Nibelungen ein weiterer opulenter Zweiteiler, und am 10. Januar 1927 feiert sein aus heutiger Sicht bekanntester Film Metropolis Premiere. Metropolis wurde von den Zeitgenoss: innen sehr gemischt aufgenommen und hat im Jahre 1927 aus Sicht des Filmstudios den riesigen Aufwand nicht gerechtfertigt, aus heutiger Sicht gilt er jedoch häufig als einer der zentralen Filme der 1920er-Jahre überhaupt. Nach anderthalb Jahren Dreh, in dessen Verlauf 36000 Statist: innen eingesetzt wurden und 5.3 Millionen Reichsmark in die Produktion gesteckt wurden - heute wären das circa 16 Millionen Euro - ist Metropolis möglicherweise eine kleine Enttäuschung. Von Harbou und Lang wollen damit aber nichts weniger als opulente Kinokunst produzieren: Auch der plot ist ähnlich großspurig angelegt wie die gesamte ästhetische Konzeption des Films. Die großen Diskurse von Mensch und Maschine sowie dem Verhältnis zwischen den Arbeitern und den Firmenleitungen und nicht zuletzt wiederum der fortschreitenden Urbanisierung sind mit breiten und anspruchsvollen Pinselstrichen realisiert. Am Ende einer langen Odyssee durch die verschiedenen Schichten der Zukunftsstadt „Metropolis“ findet der Fabrikbesitzersohn Freder in bester dialektischer Manier heraus, dass zwischen Kopf (der Leitung) und Hand (den Arbeitern) nur das Herz (die Moral, repräsentiert von Freder) vermitteln könne. Diese vereinfachende und moralisierende Position nehmen viele Zuschauer: innen dem Film übel. Metropolis ist jedoch auch für viele Diskurse stilbildend, bei denen es nicht sofort auf der Hand liegt: z. B. die Mode und der zeitgenössische Feminismus. Die Hauptdarstellerin Brigitte Helm (1906-1996), Figur der Maria und ihres maschinellen Gegenparts, verkörpert in Metropolis die sogenannte ‚neue Frau‘ jener Zeit: androgyn, urban, berufstätig, Mode betont klare Linien statt Kurven, breite Schultern, schmale Hüften, aber flache Brüste, kurze Röcke, überdies zuvor eher Männern zugeordnete Kleidungsstücke und den Bubikopf-Haarschnitt. Nicht nur Metropolis widmet sich der Reflexion gesellschaftlicher Veränderungen in Zeiten der Weimarer Republik - dies ist hingegen eine Art Dauerthema des Jahrzehnts. Friedrich Wilhelm Murnau (1888-1931) widmet sich in Der letzte Mann (1924) der Ablösung des wilhelminischen Zeitalters und dem damit einhergehenden Verfall des Kleinbürgers. Heutzutage ist der Film eher aufgrund der virtuosen und stark bewegten Kameraarbeit von Karl Freund bekannt, die unter dem Stichwort der „entfesselten Kamera“ in die Filmgeschichte eingeht. Georg Wilhelm Pabsts (1885-1967) Die freudlose Gasse von 1925 handelt indessen vom zeitgenössischen Abstieg der Mittelklasse durch die mitunter extreme Inflation in der wirtschaftlich großer Instabilität unterworfenen Weimarer Republik. Der Versuch einer - wenngleich etwas polemischen - Milieu-Darstellung bringt Pabst das Label eines Regisseurs der ‚Neuen Sachlichkeit‘ ein, das er bis hin zu Tagebuch einer Verlorenen (1929), der dem Zyklus des sogenannten ‚Dirnenfilms‘ am Jahrzehntende zugerechnet wird, ästhetisch verteidigt. Eine weitere Manifestation soziologischer Thesen findet sich im Genre des Straßenfilms , der als repräsentativ für das urbane Kino der Weimarer Republik gelten kann. Karl Grunes Die Straße von 1923 steht am Anfang dieses Zyklus, in dem die Straße als ein krimineller Raum mit eigenen Spielregeln inszeniert wird, der für den arglosen Bürger, der ihrer Versuchung erliegt, schnell zur potenziell tödlichen Falle geraten kann. Ewald André Duponts Film Varieté von 1925 liest sich fast wie eine Fortsetzung und steht zugleich paradigmatisch für den ausge- <?page no="64"?> 64 Handbuch Filmgeschichte prägten ästhetischen Gestaltungswillen des deutschen Kinos der 1920er-Jahre; Varieté weist eine enorme Vielfalt von Spielereien und Stilmitteln auf, welche die moralisierende Geschichte in seinem Kern nahezu überdecken. Spätere Stadtfilme der Dekade nähern sich auf analytische Weise der neuen Wohn- und Gesellschaftsordnung, wie etwa Gerhard Lamprechts Menschen untereinander. Acht Akte aus einem interessanten Hause von 1926, dessen serielle Modernität die Grundlage für ein kunstvolles Panoptikum darstellt. Ähnlich virtuos ist Robert Siodmaks Menschen am Sonntag von 1930, der sich endgültig von den moralischen Positionen des Straßenfilms lossagt und stattdessen die Feier des urbanen Lebensstils in den Mittelpunkt rückt. Die erwähnte Neue Sachlichkeit zeigt sich neben analytischen Milieustudien auch in ästhetisch komplexen Stadtmontagefilmen . Walter Ruttmanns Berlin. Sinfonie der Grossstadt (1927) kommt gänzlich ohne plot oder Protagonist: in aus und fokussiert einzig die Stadt und ihren mechanischen Rhythmus. Das in Metropolis im selben Jahr noch als Dystopie ausgegebene getaktete Miteinander von Mensch und Maschine wird hier als zeitgenössische Realität entlarvt. Als Berlin 1927 in die Kinos kommt, hat Walter Ruttmann (1887-1941) sich bereits als zentraler Protagonist des sogenannten ‚abstrakten Kinos‘ hervorgetan, dessen Entwicklung er seit Beginn der Dekade konsequent vorangetrieben hat. Bereits am 1. April 1921 wird sein stilbildendes Opus 1 uraufgeführt. Einen weiteren ästhetischen Sonderweg geht Lotte Reiniger (1899-1981). Die Filmemacherin arbeitet in den 1920er-Jahren an ihrem Konzept des Scherenschnitt-Animationsfilms, einem ganz eigenen Stil, den sie 1919 etabliert hat. Darin wird eine von unten beleuchtete Glasplatte mit schwarzen Formen belegt und von oben fotografiert. 1926 erscheint Reinigers bekanntester Film, der abendfüllende Die Abenteuer des Prinzen Achmed . Durch seine Formsprache wird der Film auch manchmal zu einem Sonderweg der berühmtesten deutschen Strömung des Jahrzehnts gezählt: dem Expressionismus. Bisweilen wird das Kino der Weimarer Republik auf das Schlagwort des Expressionismus reduziert, was dem Ruhm der wenigen Filme, die dieser ästhetischen Strömung zugehörig sind, geschuldet ist. Besonders die Initialzündung des Zyklus, Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari von 1920, gilt noch heute als einer der ästhetischen Wendepunkte der Filmgeschichte. Neben der innovativen, antirealistischen mise en scène und dem extrovertierten Schauspielstil ist auch die unheimliche Handlung des Films, die sich aus der Faszination für das Okkulte zu jener Zeit erklären lässt, unmittelbar wahrnehmbares Charakteristikum von Caligari. Jene Handlung hat schon etliche Interpretationsversuche erfahren. Es geht um die Schauergestalt Caligari, direkt dem Gruselkabinett eines Jahrmarkts entsprungen, die einen Schlafwandler missbraucht, um ihm ihre eigenen Auftragsmorde und -entführungen einzugeben. Als deutlich wird, dass nicht der Schlafwandler, sondern sein Meister gleich einem Puppenspieler für die Untaten hauptverantwortlich ist, wechselt der Film den Modus und findet sich in einer Rahmenhandlung wieder, in welcher Caligari und seine Taten sich nur als das Hirngespinst eines Sanatoriumspatienten herausstellen. Siegfried Kracauer wird den Film in seinem Buch Von Caligari zu Hitler aus dem Jahre 1947 später berühmtermaßen als ersten der von ihm so genannten „Tyrannenfilme“ der Weimarer Republik interpretieren und in dem Wechsel in die Rahmenhandlung den insgeheimen Wunsch der Deutschen nach einem Tyrannen, der sie unterdrückt und zu Verbrechen zwingt, sehen. Die Faszination für das Okkulte, die in Caligari eine zentrale ästhetische Triebfeder <?page no="65"?> 1921 bis 1930 Die Vielfalt des späten Stummfilms 65 darstellt, setzt sich quasi nahtlos in der Darstellung des Totenreiches in Fritz Langs Der müde Tod von 1921 fort. Darin wird die von Technik dominierte und durchstrukturierte urbane Moderne mit ihren alltäglichen Konformitätsanforderungen durch die subjektiven Erfahrungen von Wahnsinn, Traum und Halluzination kontrapunktiert. Auch Das Wachsfigurenkabinett (1924) von Paul Leni und Orlacs Hände (1924) von Robert Wiene weisen diese Faszination für die subjektiv-isolierte Grenzerfahrung auf, jedoch wird gerade die Premiere von Orlacs Hände am 31. Januar 1924 mithin bereits als der Anfang vom Ende des Expressionismus angesehen, da die einschlägigen Motive darin zwar noch verwendet werden - dem Protagonisten, einem Pianisten, werden nach einem schweren Unfall vermeintlich die Hände eines hingerichteten Mörders angenäht, woraufhin sich sein Charakter spürbar verändert und er von Wahnvorstellungen und Mordgelüsten geplagt wird. Die Motive werden jedoch nur noch auf einer Binnenebene verhandelt und schließlich aufgelöst, als Symbole für Themen der Psychologie, und stellen keine gleichberechtigte Alternative zur intersubjektiven Realität mehr dar wie in den Anfangsjahren der Bewegung. Liest man den deutschen Film der 1920er- Jahre ähnlich wie Kracauer rückwärts, findet man nicht nur eine Tradition des „Tyrannenfilms“, sondern ebenfalls antisemitische Untertöne in teils sehr bekannten Klassikern jener Zeit. Paul Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam (1920) korreliert den Horror der unheimlichen Fremdartigkeit zeichenhaft mit der Fremdartigkeit seiner jüdischen Figuren, und auch Friedrich Wilhelm Murnaus Vampirhorrorfilm Nosferatu von 1921 erzählt, wie der fremde Eindringling aus dem jüdisch geprägten Transsylvanien die Pest mitbringt, als er sich westwärts nach Deutschland begibt. Natürlich lassen sich beide Filme nicht auf diese Punkte reduzieren, sie sind aber eine Illustration, wie Film - nicht nur, aber auch in Deutschland - über Markierungen des Eigenen und des Fremden, der Normalität und der Abweichung - eine große gestalterische Macht bezüglich der Inszenierung und Wiedergabe von Gesellschaftsbildern besitzt. Insgesamt wird die experimentelle Tradition der ersten Hälfte der 1920er-Jahre in Deutschland jedoch auch hundert Jahre später noch ohne Pendant bleiben. In der frühen Weimarer Republik floriert der Film als eigenständiges, diverses und mit einem ausgeprägten formalen Gestaltungswillen gesegnetes Medium. Das bleibt auch im einzigen noch lukrativeren Markt nicht unbemerkt, sodass eine erste Massenemigration von Filmbranchenangehörigen nach Hollywood die deutsche Filmproduktion nachhaltig schwächt. 1922 geht Ernst Lubitsch nach Übersee, Mitte des Jahrzehnts folgen ihm unter anderem die Regisseure Paul Leni und Friedrich Wilhelm Murnau sowie die Schauspieler: innen Pola Negri und Emil Jannings. 1920er: USA as Kino Hollywoods ist derweil ebenfalls von einer spürbaren Aufbruchsstimmung geprägt. Die Industrie hat sich durch die Umsiedlung von Thomas Edison und der MPPC befreit und sich auf eine als Oligarchie organisierte Balance der Studiomächte geeinigt. Durch eine bis dahin beispiellose Fusion entsteht 1924 Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) und avanciert durch sukzessive vertikale Integration zum zweitgrößten Studio nach Paramount. Der gesellschaftliche Wandel, der sich in den USA in den 1920er-Jahren vollzieht, ist partiell vergleichbar mit demjenigen in Europa, allerdings gibt es hier einen zusätzlichen Auslöser: den Volstead Act von 1919, der die Prohibition von Alkohol durchsetzt und eine D <?page no="66"?> 66 Handbuch Filmgeschichte regelrechte Gegenreaktion des Exzesses provoziert, welche den Begriff der roaring twenties mit Leben füllt. Auch die florierende Filmindustrie gibt sich dem Exzess hin, vor allem architektonisch. Die Studios bauen große picture palaces - wie etwa derjenige von Fox in San Francisco, die oft exotischen Stilen folgen oder Varianten mediterraner Paläste - ägyptischer, italienischer, spanischer - imitieren. Was Starsystem und die ersten Monumentalepen von D.W. Griffith vorweggenommen haben, mündet nun in Hollywoods erste große Glamourphase, die bis zur Studiokrise in den 1960er-Jahren und erneut ab den 1980er-Jahren einen wesentlichen Bestandteil der Identität des US-amerikanischen Mainstream-Films ausmachen wird. Für viele Filmschaffende ist es eine Zeit der Anfänge. John Ford startet in die erste Dekade seiner Karriere, ebenso Erich von Stroheim (1885-1957). Letzterer ist zwar dem zeitgenössischen Publikum eher als Darsteller denn als Regisseur bekannt, aber aus heutiger Sicht einer der relevantesten Filmgestalter seiner Zeit. Von Stroheims Opus magnum Greed (1924) basiert auf dem literarischen Epos McTeague von Frank Norris, eine komplexe Liebesgeschichte, die davon überschattet wird, dass die Hauptfigur ohne Zulassung als Zahnarzt arbeitet - eine soziale Bombe, die irgendwann platzen muss. Sowohl Norris’ Roman als auch von Stroheims Adaption stellen sich leicht ironisch und sozialanalytisch in die Tradition der naturalistischen Standesdramen. Greed ist ursprünglich um die neun Stunden lang, wird jedoch von MGM auf 145 Minuten gekürzt. Das Problem ist dem Studio nicht unbekannt, denn der Vorgängerfilm Foolish Wives von 1922 wurde vom Regisseur in einer Sechs- Stunden-Schnittfassung eingereicht. Wie es in den ersten Jahrzehnten des Films üblich ist, überleben nur die kommerziellen Fassungen der Filme - der Rest wird vernichtet. Im Falle von Greed ist das eine folgenschwere filmhistorische Tragödie, die auch für von Stroheim für immer einen blinden Fleck hinterlässt. Heutzutage ist eine Rekonstruktion im Umfang von 245 Minuten verfügbar, die durch die Montage etlicher production stills die fehlenden Szenen zumindest notdürftig auffüllen kann. Von Stroheims Unfähigkeit sich an Budgets und Absprachen zu halten, sorgt in der Folge dafür, dass er immer weniger als Regisseur engagiert wird. Andere Emigranten halten sich indessen stärker an die Regeln: Friedrich Wilhelm Murnau erlangt schon rasch großen Einfluss bei Fox und darf den teuren (und nicht besonders erfolgversprechenden) Sunrise (1927) drehen. Die Nachfolge von D.W. Griffiths Epen der 1910er-Jahre tritt der Blockbuster der 1920er- Jahre an, der sich immer mehr als normales, wiederkehrendes Saisonphänomen etabliert. Zwei der Hauptprotagonisten sind dabei die alten Kollegen und Konkurrenten Cecil B. DeMille und D.W. Griffith. DeMille versucht sich an religiösen Epen ( The Ten Commandments , 1923; The King of Kings , 1927), die allerdings gerade bei den zahlreichen fundamentalistisch religiösen Gruppen in den USA die Ansicht, Hollywood sei die neue ‚Hure Babylon‘, nur bestärken. D.W. Griffith dreht indessen große historische Epen, die heute aber bei Weitem nicht mehr so bekannt sind wie seine Filme der 1910er- Jahre: Orphans of the Storm (1922) handelt von der französischen, America (1924) von der amerikanischen Revolution - beide werden später eher spärlich rezipiert. Als dritter großer Name für die Umsetzung von Blockbuster-Stoffen tritt King Vidor (1894-1982) auf den Plan, der sowohl Anti-Kriegsfilme wie The Big Parade (1925) als auch sozialrealistische Dramen wie The Crowd (1928) verantwortet und sich damit ebenfalls mit antireaktionären Stoffen auseinandersetzt. Generell gibt es einen breiten Trend zur Verarbeitung des Ersten Weltkriegs im Film; neben The Big Parade sind z. B. Raoul <?page no="67"?> 1921 bis 1930 Die Vielfalt des späten Stummfilms 67 Walshs What Price Glory? (1926) oder William A. Wellmans Wings (1927) zu erwähnen. Was Metropolis für die deutschen Frauen ist, ist Clarence Badgers It aus demselben Jahr (1927) für die US-amerikanische Damenmode der auslaufenden 1920er-Jahre. Der Film macht Clara Bow (1905-1965) zum „It-Girl“ , zum quintessentiellen „Jazz Age flapper“ und damit zu einem emanzipierten Sexsymbol ihrer Zeit. Ferner erreichen die sogenannten big three des Slapstick-Films ihr goldenes Zeitalter: Charlie Chaplin geht gestärkt aus der Gründung der United Artists 1919 hervor, Harold Lloyd macht indessen (erfolgreich) weiter wie bisher und Roscoe „Fatty“ Arbuckle wird durch seinen Sekundanten Joseph Frank „Buster“ Keaton (1895-1966) ersetzt, da er angeblich betrunken eine junge Schauspielerin auf einer Party erschlägt, wodurch seine Karriere schlichtweg am Ende ist - obwohl er freigesprochen wird. Sein ehemaliger Sidekick Buster Keaton erweist sich jedoch als großer Erneuerer und obwohl er nicht so politisch wie Chaplin ist, avanciert er in Sachen Virtuosität und Stil zum experimentellsten Slapstick-Komiker der USA. Während Chaplin später zum Weltstar wird und Keaton zumindest bei Stummfilmkenner: innen in bester Erinnerung bleibt, wird Harold Lloyd oft auf seine wohl berühmteste Szene aus Safety Last (1923) reduziert, die freilich spektakulär ist. Während Chaplin als überzeugter Linker sein sozialrealistisches Modell in den 1920er-Jahren immer deutlicher in seinen Filmen formuliert und einen hohen Grad an Autonomie in der Produktion erlangt - The Kid von 1921 ist in der Hinsicht ein Meilenstein -, pflegt Keaton die Inszenierung präzise einstudierter und oft halsbrecherischer Set-Pieces in Verbindung mit einer häufig selbstreferentiellen Note - wie in Sherlock jr. von 1924 oder in The General zwei Jahre später (1926). Auch Douglas Fairbanks bleibt hochgradig populär, wechselt jedoch das Ressort vom Slapstick-Film, wo es beileibe genügend starke Konkurrenz gibt, hin zum Abenteuerfilm, zu dessen Gesicht er in den 1920er-Jahren allmählich aufsteigt. Man vergleiche nur die kokainselige, anarchische Komödie The Mystery of the Leaping Fish von 1916 mit dem sehr viel gewichtiger angelegten Seeräuberfilm The Black Pirate von 1926. Durch den internationalen Erfolg von Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari , der auch in den USA, gelegentlich um ein angehängtes Theater-Happy-End ergänzt, hohe Wellen schlägt, etabliert sich mit dem Horrorfilm ein weiteres der klassischen Genres im US-Kino. Wallace Worsley verantwortet 1923 eine groß angelegte Verfilmung von The Hunchback of Notre Dame und Emigrant Paul Leni dreht 1927 den selbstironisch-selbstreflexiven The Cat and the Canary . Nach dem Vorbild Robert Wienes bieten die Horrorfilme der Zeit oft eine Rücknahme der übernatürlichen Elemente zumindest als mögliche Lesart an - eine Tendenz, die sich in den 1930er-Jahren in einer fast vollständigen Aufkündigung jeglicher Fantastik in dem Genre fortsetzt. Auch der Gangsterfilm wird maßgeblich vom deutschsprachigen Raum aus in den USA instatiert - Josef von Sternberg liefert mit Underworld von 1927 die Blaupause für das Genre, welches Anfang der 1930er-Jahre seine erste klassische Phase erleben wird. Auf der Ebene des Filmmaterials gibt es in den 1920er-Jahren einen massiven Wechsel, der für einen neuen Look des Jahrzehnts sorgt: Das orthochromatische (lila, blau und grün stärker betonende) Material wird durch panchromatisches - also gleichmäßiger alle Farben einbeziehendes - Filmmaterial abgelöst. Zeitgleich wird das heute noch übliche three point lighting , also die Ausleuchtung des Geschehens von drei Quellen aus ( key <?page no="68"?> 68 Handbuch Filmgeschichte light , fill light , back light ), zur produktionsästhetischen Norm. Wie in den 1910er-Jahren setzt sich der große Erfolg etlicher Drehbuchschreiberinnen im Hollywood-Studiosystem auch in den 1920er-Jahren ungebrochen fort. Allen voran ist nach wie vor Frances Marion gefragt, bekannt und außerordentlich produktiv. Aber auch Adela Rogers St. Johns (1894- 1988), die unter anderem Lady of the Night (1925) schreibt, sowie Bess Meredyth (1890- 1969), die The Mysterious Lady (1928) schreibt und Greta Garbo für die Hauptrolle vorschlägt, prägen mit ihren Büchern maßgeblich das Kino ihrer Zeit. Die Kollaboration über die Geschlechtergrenzen hinweg, wie sie in den folgenden Jahrzehnten im Hollywood-System lange eher die Ausnahme denn die Regel sein wird, ist in den 1920er- Jahren vielerorts selbstverständlich. Ein typisches Beispiel stellt Victor Sjöströms The Wind von 1928 dar, der auf einer Idee von Lilian Gish und einem Drehbuch von Frances Marion basiert. Als Resultat ist der Film ein Südstaaten-Drama, das Sjöströms Stil mit Hollywood-Kontinuität und Marions spezifisch naturbezogener Art Drehbücher zu schreiben verbindet. Dorothy Davenport (1895-1977) ist eine der ersten ‚confessional‘-Filmemacher: innen, als sie den drogeninduzierten Verfall ihres Ehemanns, des Regisseurs Wallace Reid, in Human Wreckage (1923) verarbeitet. Sie spielt in ihrem Film ebenfalls mit und quasi ‚sich selbst‘, wie man es später sagen würde. The Red Kimona (mit einem Drehbuch von Adela Rogers St. Johns, 1925) befasst sich mit Prostitution, The Road to Ruin (1934) mit illegaler Abtreibung und Teenager-Schwangerschaft und Linda (1929) mit häuslicher Gewalt. Davenport verfolgt diese zu jener Zeit progressiven und tabubrechenden Themen nicht nur, sondern benennt sie explizit in kurzen Prologen, die den Filmen vorangestellt sind. Für viele der Filme erhält sie keinen Regie-credit oder wird lediglich als Co- Regisseurin unter dem Namen „Mrs. Wallace Reid“ eingeführt. Als Schauspielerin ist der credit bei ihren 148 Rollen indessen niemals ein Problem. 1922 führt Theresa „Tressie“ Souders (1897- 1995) bei dem von ihr geschriebenen und produzierten Film A Woman’s Error Regie. Souders ist Afroamerikanerin und dreht nur den einen Film, im Auftrag der segregierten Firma Afro-American Film Exhibitors Company. 1923 dreht Maria P. Williams (1866- 1932) Flames of Wrath , der ebenfalls ihr einziger Film bleiben wird. Darin geht es um einen geflohenen Häftling, der einen Diamantring vergräbt, ehe er festgenommen wird. Ein Junge findet ihn und gibt ihn seinem Bruder, daraus ergeben sich Verwicklungen, die einen gierigen Anwalt auf den Plan rufen. Der Ring kann jedoch den rechtmäßigen Findern erhalten bleiben. Ende der Dekade arbeitet Eloyce King Patrick Gist (1892-1974) mit ihrem Mann James Gist an religiösen Stummfilmen, unter anderem dem moralischen Kurzfilm auf 16mm Hell Bound Train (1929). Die Filme dieser drei Regisseurinnen entstehen unter prekären Bedingungen und verleihen einer marginalisierten Gesellschaftsschicht in einem Medium, von dem diese noch weitgehend ausgeschlossen ist, eine Stimme. Der Großteil derartiger Produktionen ist heute nicht erhalten und hat in aller Regel nicht den Weg in den US-amerikanischen Filmkanon geschafft. 1920er: Europa n der noch sehr jungen Sowjetunion hält am 10. Februar 1919 Vladimir Gardin einen Vortrag über die Montage als Grundlage der Filmkunst. Im Publikum sitzt unter anderem Lev Kuleshov (1899-1970), dessen Schlüsse aus Gardins Vortrag in seinem eigenen Namen als Montage-Ex- I <?page no="69"?> 1921 bis 1930 Die Vielfalt des späten Stummfilms 69 perimente bekannt werden, insbesondere der berühmte Kuleshov-Effekt . Dieser beschreibt das Phänomen, dass die Umgebung eines Bildes die Wahrnehmung des Bildes selbst stark beeinflusst. Wird ein ambivalentes oder neutrales Bild neben Aufnahmen trauernder Menschen geschnitten, liegt eine traurige Deutung nahe und umgekehrt. 1919 jedenfalls beginnt die sowjetische Filmgeschichte im engeren Sinne - mit Gardins Vortrag, mit dem Dreh von staatlich veranlassten Propagandafilmen, Agitki genannt, die mit Kinomobilen und „Agit-Zügen“ durch das Land reisen und die Menschen von der kommunistischen Doktrin der neuen Regierung unterrichten, sowie Kuleshov und seine „Montage-Leute“, die angeblich in Lederjacken und mit Revolvern eine Gangsterbande mimen und alte Filmrollen konfiszieren, um den „von der Bourgeoisie gefilmten Müll“ des Zarenreichs zu neuen, revolutionären Filmen umzuschneiden, da die Produktionsmittel zu jener Zeit teuer und schwer erhältlich sind. 1920 wird mit Vzjat’ Simnevo Dvorca eine der frühen wahrhaftig sowjetischen Arbeiten realisiert, insbesondere aufseiten der Produktion: Der Film wird nicht einer verantwortlichen Regieperson zugeschrieben, sondern von einem „Autorenkollektiv“, bestehend aus 13 Regisseur: innen realisiert. Es spielt kein kleines Theaterensemble mit, sondern 10.000 Schauspieler: innen, und selbst beim Dreh sind bereits 100.000 Zuschauer: innen anwesend. Der Film ist sehr einflussreich dadurch, dass er die Gründung etlicher Autor: innengruppen in der Sowjetunion inspiriert und die Grenzen von Theaterbühne und Film aufgibt und verwischt. Auch in der Filmheorie entsteht eine radikale Gruppierung um Dziga Vertov (1896-1954) und Elizaveta Svilova (1900-1975). Unter dem Namen Kinoglaz ( Kino-Auge ) fordert sie die Kinopravda ( Wahrheit ), womit eine neue Ästhetik und Philosophie gemeint ist, nach der das alltägliche Leben unbemerkt abgefilmt wird und der als gefährliche Beeinflussung empfundene Spielfilm abgeschafft wird. Andernorts ist der wichtigste Regisseur der 1920er-Jahre, Sergei Eisenstein (1898- 1948), 1923 an der Gründung des Darstellerkollektivs „Eiserne Fünf“ beteiligt. Kurz darauf erscheint sein Text zur „Montage der Attraktionen“, eine theoretische Wasserscheide zur Umsetzung von Gardins und Kuleshovs Forderungen. Als erste Umsetzung dieser Theorie gilt Eisensteins (Streik, 1925), in dem die Masse als „Held“ fungiert und Einzelbild-Schocks durch teils verstörende, zum Nachdenken anregende Montageübergänge erzeugt werden. Die Verbindung von Theorie und Praxis ist bei den sowjetischen Filmemacher: innen sehr ausgeprägt - auch Vertov ist immer wieder betrebt, seine Forderungen in Filmen umzusetzen. Aus heutiger Sicht am berühmtesten ist sein vielzitierter Tschelowek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera) von 1929, ein in formalästhetischer Hinsicht hochgradig experimenteller und selbstreflexiver Film. Während Vertov jedoch ein wichtiger Meilenstein für die Entwicklung des Dokumentarfilms und dessen Theorie darstellt und später ein großer kreativer Fixpunkt für politische Regisseur: innen wie Anne-Marie Miéville und Jean-Luc Godard sein wird, ist der sowjetischen Montage-Bewegung an der Weiterentwicklung des Spielfilms zu einem kreativen, explosiven und im politischen Sinne lehrreichen Genre gelegen. Das Publikum soll durch die Schocks aus der Fiktion gerissen werden und somit eine kreative Co- Autorschaft des Films ausfüllen - die aktive Partizipation wird, im Gegensatz zur passiven Unterhaltung, dezidiert gewünscht und gefordert. Nicht alle sowjetischen Filme der 1920er- Jahre sind hochgradig experimentell, aber <?page no="70"?> 70 Handbuch Filmgeschichte erstaunlich viele versuchen sich daran, eine neue, eigene Formsprache zu finden. Selbst in komischen Kurzfilmen werden oft exzentrische Techniken eingesetzt, die aus Zirkus und Vaudeville stammen, was damit zusammenhängt, dass Charlie Chaplin auch in der UdSSR ein Vorbild ist, passt er doch als bekennender Kommunist und im Studiosystem relativ unabhängig produzierender Filmemacher geradezu idealtypisch als „Alternative zur vorrevolutionären Tradition“ (Nussinova 1998, 158) zum bestehenden Konzept, während das zaristische Kino pauschal als bourgeoises, russisches Hollywood verworfen wird. Die vorrevolutionäre Tradition lebt jedoch in Filmen derjenigen weiter, die bereits vor 1917 auf dem jetzigen Gebiet der UdSSR gedreht haben - Aleksandr Ivanovskij (1881-1968) oder Jakov Protazanov, der aus dem Exil schon bald wieder zurückkehrt. Einige dieser Filme sympathisieren unterschwellig mit den Held: innen statt mit den Massen und ihre Enden deuten die kommunistische Utopie als irrealen Traum, wenngleich sie dies so subtil tun, dass die Zensur es oft nicht bemerkt - ein besonders schlagendes und gelungenes Beispiel ist Protazanovs Science-Fiction-Film Aelita aus dem Jahre 1924. In einem weiteren Versuch der Abgrenzung vom ‚alten Kino‘ gibt es in den 1920er- Jahren erste Findungsversuche neuer unbesetzter Genres - unter anderem des „historischen, revolutionären Epos“, das Mitte der 1920er-Jahre aufkommt und das sowjetische Kino weltweit bekannt macht. Insbesondere in diesem Ressort schreibt die sowjetische Montage-Bewegung sich in die internationale Filmgeschichte ein. Die unkonventionellen Erzählstrukturen, die intensive Montagearbeit, der reiche Gebrauch von Metaphern und filmsprachlichen Experimenten, die Behandlung revolutionärer Themen finden sich in den populären und einflussreichen Filmen von Sergej Eisenstein und Vsevolod Pudovkin (1893-1953) wie Bronenosec „Potëmkin“ (Panzerkreuzer Potemkin, 1925, UdSSR, Sergej Eisenstein), Mat (Die Mutter, 1926, Vsevolod Pudovkin) oder Konets Sankt- Peterburga (Das Ende von St. Petersburg, 1927, ebenfalls Pudovkin). Häufig werden dabei vorrevolutionäre historische Ereignisse nachträglich als ‚logische Vorläufer‘ der Revolution umgedeutet, um das neue Geschichtsbild im Nachhinein als unvermeidlichen, natürlichen Verlauf der Befreiung des Proletariats von der Diktatur der Bourgeoisie zu inszenieren. Die anfängliche Konkurrenz zwischen dem gespielten und dem ungespielten, ergo dokumentarischen, Film, entwickelt sich im Verlauf der Dekade zu einem Streit, der bis in die späten 1920er-Jahre hinein anhält. Während Dziga Vertov wenig überraschend der Extrempol des radikal dokumentarischen Films ist, fordert Ippolit Sokolov (1902-1974) auf der anderen Seite das Primat des „eisernen Drehbuchs“. Eisenstein positioniert sich mit der Idee eines „emotionalen Drehbuchs“, das einen Kompromiss darstellt und mit der „stenografischen Aufzeichnung der Impulse“ argumentiert, welche de: r Regisseur: in bei der visuellen Umsetzung ihrer bzw. seiner Vorstellungen helfen soll, aber den Film nicht vollständig und in Sokolovs Sinne vorbestimmt. Um dieselbe Zeit etwa entstehen mit dem Alltagsfilm und dem Stadtfilm zwei neue ‚sozialrealistische‘ Genres, welche die Lebensrealität des Publikums in den Fokus rücken sollen. Beim Stadtfilm geht es dabei in der Regel um die Geschichte einer individuellen Landflucht, in deren Verlauf sich ein Neuankömmling erst mit den urbanen Gepflogenheiten arrangieren muss - ein plot, wie er in den 1930er-Jahren auch in vielen sozialrealistischen Dramen Hollywoods zum Einsatz kommen wird. Als die Dekade sich ihrem Ende nähert, können drei Tendenzen des sowjetischen Kinos als vorläufig etabliert gelten: Eisensteins „intellektueller Film“, den <?page no="71"?> 1921 bis 1930 Die Vielfalt des späten Stummfilms 71 er mit seiner Regiearbeit Oktjabr (1927, Oktober) verknüpft; ein lyrischer bzw. emotionaler, stark mit Bildsymbolen arbeitender Film wie beispielsweise Nikolaj Sengelajas Eliso (1928) sowie der kommerzielle Genrefilm sowjetischer Couleur, der nach und nach bei allem Idealismus auch hier das Gros der Produktionen ausmacht. Dieses produktive Klima der Konkurrenz wird jedoch um die Jahrzehntwende durch die ideologische Überformung der Literaturzirkel, den politischen Klimawechsel, der mit radikalen Säuberungen von unliebsamen Künstler: innen verbunden ist, und den Beginn des Tonfilms zunichte gemacht. Vier Jahre nach Lenins Tod führt Josef Stalin im Jahre 1928 die sogenannte Kommandowirtschaft ein, deren Prinzipien sich auch bald der Film unterordnen muss - die Zeit des experimentellen Films im Dienste der Revolutionsideale nähert sich in der Sowjetunion bereits wieder ihrem Ende. Frankreichs Filmindustrie muss sich nach dem Verlust ihrer globalen Vormachtstellung im Verlauf des Ersten Weltkriegs in den 1920er-Jahren erst einmal neu sortieren. Gegen Ende des Kriegs stammen in Paris bisweilen weniger als zehn Prozent der in den Kinos laufenden Filme aus Frankreich. Die USA dominierten das Geschäft mit einem Verhältnis von 5: 1. Industriegründer Charles Pathé verliert durch mehrere Neugründungen seiner Firma schließlich die Kontrolle über sie, und das Pathé- Konsortium gibt Anfang der 1920er-Jahre sehr teure Produktionen in Auftrag und macht durch wirtschaftlich ungeschickte Entscheidungen direkt weiter Verluste. Gaumont zieht sich indessen nach und nach aus der Produktion zurück und Louis Feuillades Tod im Jahre 1925 führt bezeichnenderweise gar nicht erst dazu, dass das entstehende kreative Vakuum neu gefüllt wird. Auch die ohnehin schon deutlich kleinere Film d’Art verkleinert sich zusehends weiter. Während die traditionellen Stützen der französischen Filmindustrie also Anfang der 1920er-Jahre schwächeln, entstehen jedoch etliche kleine unabhängige Produktionsfirmen und die französische Jahresproduktion steigt dadurch bis 1922 immerhin wieder auf 130 Filme an. Eine weitere Tendenz zur Unterstützung des regionalen Marktes gegenüber der Vormacht Hollywoods ergibt sich, als Paramount in Paris eigene Produktionsstätten aufbaut und damit noch unverhohlener auf den französischen Markt ausgreift. Einer der Auswege ist die internationale Koproduktion innerhalb Europas - insbesondere mit Deutschland wird intensiv kollaboriert, um Produktionskosten anteilig zu senken. Aus heutiger Sicht ist dies der Beginn einer fruchtbaren Tradition, die auch in der Gegenwart noch existiert. Dennoch sind die Filmbudgets mittlerweile so stark angestiegen, dass die Produktionsrate, auch aufgrund einer Inflation, die Frankreich in den Anfangsjahren des Jahrzehnts stark beutelt, bis 1925 wieder auf 55 Filme pro Jahr sinkt. Ab 1923 tritt indessen Jacques Grinieff als großzügiger Mäzen auf den Plan, insbesondere für die Förderung von Filmen mit französischen Anliegen. Überdies führt eine Umstrukturierung um die Jahrzehntmitte, in vielen Fällen verbunden mit der Einbeziehung ausländischer Investoren, zu einer vorläufigen Konsolidierung der Industrie. Bedauerlicherweise steht zeitgleich der Filmverleih in Frankreich vor dem Ausverkauf und die Integrität der Industrie wird durch deutsche und amerikanische Studios gefährdet, die den schwächelnden Verleihsektor in Teilen aufkaufen. Der Sektor der Filmvorführung bleibt jedoch stabil und die Zahl der Kinos nimmt stetig zu. Auch in Frankreich hat das nationale Historiendrama Konjunktur, wenngleich unter völlig anderen Vorzeichen und mit anderen Spielregeln als in der Sowjetunion. Besonders beliebt sind Filme, welche die nationale <?page no="72"?> 72 Handbuch Filmgeschichte Einheit Frankreichs heraufbeschwören, etwa Raymond Bernands Le miracle des loups (1924), der vom Aufkommen ebenjener Idee im 15. Jahrhundert handelt, sowie Napoléon (1927) von Abel Gance (1889 - 1981), ein monumentales Riesenepos mit einem bis dahin ungesehenem Pluralismus aufwendiger und ambitionierter Filmtechniken und einer Laufzeit von fünfeinhalb Stunden. Andere Filme widmen sich dem französischen Mittelalter, wie etwa La Passion de Jeanne d’Arc (1928) von dem nach Frankreich emigrierten dänischen Filmemacher Carl Dreyer, oder Le tournoi (1928) von Jean Renoir, der bald zu einem der bedeutendsten französischen Regisseure avancieren wird. Das Kino der zaristischen Filmemacher: innen, die im Zuge der Revolution aus Russland fliehen mussten, siedelt sich ebenfalls in Paris an und dreht dort historische Epen, die sich wechselweise als kritische oder auch rühmende Auseinandersetzungen mit dem zaristischen Russland positionieren. Auch Serien und Komödien bleiben in den 1920er-Jahren in Frankreich ungebrochen populär. Indessen etabliert sich analog zum US-amerikanischen Blockbuster das Studio- Spektakel als eine hochbudgetierte Kinokonvention, welche die französischen années folles - das nationale Pendant zu den roaring twenties - bebildert. Als Beispiel sei Léonce Perrets Film La femme nue von 1926 genannt. Die darin abgebildeten konsumkapitalistischen Exzesse werden wiederum von anderen Filmemacher: innen wie etwa Marcel L’Herbier (1888-1979) als Reaktion darauf parodistisch auf die Spitze getrieben und damit schon wieder ins Konsumkritische verkehrt - beispielsweise in seinen Filmen L’inhumaine und L’argent , beide von 1928. Weitere Trends der Zeit sind wie vielerorts Exotismus und Kolonialismus , wie es sich in Jean Renoirs Le bled (1929) niederschlägt, sowie ein Hang zur Fantastik, wie in L’Herbiers meisterhaftem Feu Mathias Pascal (1925). Das Kunstmelodram der 1910er-Jahre, mit seinen Stimmungsbildern und seinen Versuchen das Innenleben der Protagonist: innen stärker in den Fokus zu rücken, mündet in den französischen Impressionismus der 1920er-Jahre, welcher in filmhistorischen Darstellungen oft als Kontrastmodell zum deutschen Expressionismus aufgebaut wird, was jedoch eine starke Verknappung darstellt. Filme, die dem Impressionismus zugerechnet werden, verfügen über eine ausgeprägte Formsprache und integrieren subjektive Sequenzen, rhythmische Montagefolgen, assoziative Anschlüsse anstelle von Kausalitätsfolgen sowie rhetorisch geprägte Muster, um neben der als faktischnarrativ postulierten Außensicht auf die Protagonist: innen deren Beweggründe und Emotionen stärker in den Fokus zu rücken. Mit Abel Gance, Germaine Dulac (1882-1942) und Marcel L’Herbier zählen die drei großen Stilist: innen des Jahrzehnts zum französischen Impressionismus. Gance’ J’accuse und Dulacs La Cigarette stehen 1919 am experimentellen Anfang dessen, was später unter dem Label zusammengefasst werden wird. Am deutlichsten treten die definitorischen Merkmale in Gance’ La Roue (1921) zum Vorschein, der tragischen Geschichte um einen Lokführer und sein Findelkind, die um die sieben Stunden Laufzeit füllt. Ferner können Dulacs La mort du soleil (1922) und L’Herbiers El Dorado zu den Ausprägungen des impressionistischen Kinos gezählt werden. 1928 dreht Germaine Dulac, die den introspektiven, subjektiven Stil über das Jahrzehnt hinweg konsequent weiterentwickelt, La Coquille et le Clergyman (1928, Die Muschel und der Kleriker). Die darin erzählte Dreiecksgeschichte bedient sich intensiv psychoanalytischer Annahmen von Sigmund Freud und stellt eine Brücke zum ein Jahr später lautstark deklarierten Beginn des Surrealismus dar. Aus heutiger Sicht gilt La Coquille et le Clergyman , der mit seinen absurdistischen Aufkündigungen von filmischen Kausalitätsprinzipien die <?page no="73"?> 1921 bis 1930 Die Vielfalt des späten Stummfilms 73 Prinzipien des Impressionismus radikalisiert, bisweilen selbst als der erste surrealistische Film, der vom skandalträchtigeren Un Chien Andalou (Der andalusische Hund) in der allgemeinen Wahrnehmung überschattet wird. Die Wurzeln des Surrealismus , einer extrem kurzlebigen, aber ebenso einflussreichen Bewegung, die das Unterbewusste an die Stelle des Bewussten, das Assoziative an die Stelle des Kausalen und das Verstörende an die Stelle des Verlässlichen setzt, liegen nicht nur durch Germaine Dulacs Films im Jahr 1928. Zur selben Zeit arbeitet der Spanier Luis Buñuel (1900-1983) als Assistent bei Jean Epstein an der Edgar-Allan-Poe- Verfilmung La Chute de la Maison Usher , der im Rückblick als ein weiterer Brückenfilm gelten kann. Buñuel schließt in der Folge kurz, aber intensiv Freundschaft mit dem Maler Salvador Dalí (1904-1989) und sie schreiben nach selbstdeklarierten Prinzipien der écriture automatique , des unbewussten, ungesteuerten Schreibens, ein Drehbuch, das in den am 6. Juni 1929 uraufgeführten Un Chien Andalou Eingang findet. Der Film ist angekündigt als Schock der Pariser Bourgeoisie, ein kalkulierter Skandal, der jedoch weitgehend ausbleibt, auch, weil das Publikum größtenteils aus Eingeweihten wie Pablo Picasso, Le Corbusier, Jean Cocteau, Georges Auric und André Bretons Surrealistengruppe besteht. Die beiden Filmemacher sind davon zwar kurzfristig enttäuscht, das Nachleben und der Einfluss des Films erweisen sich jedoch als enorm und seine Ästhetik ist Steinbruch und Vorläufer für so verschiedene kreative Persönlichkeiten wie David Lynch, Sofia Coppola, Monty Python’s Flying Circus oder Federico Fellini. Surrealistische Segmente im Film bleiben in der Nachfolge von Impressionismus und Surrealismus geprägte Stilmittel, um Traum, Wahn, Halluzination, Todeskampf oder Gesellschaftskritik auszudrücken. Wenngleich das Ende der eigentlichen Bewegung in vielen Darstellungen bereits mit Buñuels zweitem Film L’âge d’or (Das goldene Zeitalter) von 1930 zusammenfällt, bleibt der ästhetische Einfluss des Surrealismus bis heute spürbar. Während die dänische Filmindustrie nach dem Ersten Weltkrieg allmählich verfällt und alle etablierten Talente ins Ausland übersiedeln, konsolidiert sich die Filmwirtschaft Schwedens in der ersten Hälfte der 1920er- Jahre weiter. Nicht ohne Grund werden jedoch die Jahre 1916-1921 heutzutage oft als ‚goldenes Zeitalter‘ des schwedischen Films bezeichnet, denn die Jahre zwischen 1921 und 1925 muten im Rückblick wirtschaftlich wie künstlerisch als eine Phase der Stagnation an. Um die Jahrzehntwende jedoch drehen schwedische Filmemacher- : innen einige der eindrucksvollsten Filme jener Zeit: Victor Sjöströms Körkarlen (Der Fuhrmann des Todes, 1921) nach einem Stoff der ersten Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf (1914) ist ein düsteres, vielschichtiges Sozialdrama, in dem der Regisseur selbst die Hauptrolle übernimmt. Körkarlen ist ein stilistischer und dramaturgischer Erfolg und beschert dem schwedischen Kino weltweite Aufmerksamkeit. Die Pluralität der Handlungen - eine mystische Legende über den namensgebenden Fuhrmann des Todes, ein Familiendrama um den Alkoholiker David, der vom Fuhrmann seine Vergangenheit und seine Fehler präsentiert bekommt, und die Reflexion über die Schuld des sozialen Abstiegs einer ganzen Klasse durch die Arbeitsbedingungen der Industrialisierung - bringt dem Film häufig das Label als ‚bester schwedischer Film aller Zeiten‘ ein. Wir werden von diesen ‚besten Filmen‘ Schwedens zumindest noch zwei weiteren begegnen. Der Däne Benjamin Christensen dreht in Schweden 1921 das freizügige Dokudrama Häxan (Die Hexe), das in vier sehr verschiedenen Teilen geradezu diskursiv die historische Praxis der Hexenverfolgung reflektiert: in dokumentarischen Teilen, die sich einerseits der historischen Praxis und andererseits <?page no="74"?> 74 Handbuch Filmgeschichte einer Rekonstruktion des mittelalterlichen Glaubens widmen, in stärker narrativ geprägten Teilen, die eine Hexenverfolgung exemplarisch nacherzählen. Mit einem Blick in die Gegenwart endet der Film und die Methoden der Psychiatrie werden mit den Methoden des Mittelalters kritisch verglichen. 1923 schließlich erscheint Mauritz Stillers Zweiteiler Gösta Berlings Saga , der Greta Garbo (1905- 1990) zum Durchbruch verhilft. Allerdings geht im selben Jahr Victor Sjöström nach Hollywood und zwei Jahre später folgen 1925 Greta Garbo und Mauritz Stiller sowie Lars Hanson und Benjamin Christensen. Die schwedische Filmindustrie erholt sich von diesem Aderlass vorerst nicht und das Land fristet bis in die 1950er-Jahre hinein ein peripheres Dasein auf der globalen Filmlandkarte. 1920er: Globales Kino n Japan setzt sich die Idee des ‚reinen Filmdramas‘ der späten 1910er-Jahre direkt fort. Anfang der 1920er-Jahre gilt dieses als etabliert und die alten Filmformen bezeichnet man als veraltet. Vor dem großen Kanto-Erdbeben, das 1923 besonders Tokyo und das Umland extrem hart trifft, ergibt sich aus dieser Opposition eine Trennung der ‚alten Filmkunst‘, die sich Historiendramen widmet, von der ‚neuen Schule‘, die moderne Stoffe auf westlich inspirierte Weise verfilmt. In diese Tradition fallen die Filme von Teinosuke Kinugasa, einer von etlichen japanischen Regisseuren (allen voran später Kurosawa), die schon früh weltweit rezipiert werden, da sie stilistisch an den globalen Continuity-Stil anschlussfähig sind. Es werden aber auch andere Trends aus Europa adaptiert, so entsteht in Japan eine radikale Weiterentwicklung des deutschen Expressionismus in Filmen wie Reiko no wakare von Kiyomatsu Hosoyama (‚An der Schwelle des spirituellen Lichts‘, 1922). Eine dritte Tradition versucht derweil ein japanisches Äquivalent zum US-amerikanischen Unterhaltungskino zu schaffen. Maßgeblicher Produktionsträger ist das Taikatsu-Studio, welches z. B. The Amateur Club (1920) von Kisaburo Kurihara verantwortet. Der japanische Unterhaltungsfilm zeichnet sich durch die Ausstellung weiblicher Erotik, durchchoreographierte Verfolgungsjagden und elaborierte Slapstick-Sequenzen aus. Die als ‚amerikanisierte‘ Ware kritisierten Taikatsu-Filme werden von den Produktionen des Studios Shôchiku Kinema indessen noch übertroffen. Shôchiku passt sogar die eigenen Produktionsvorgänge dem Vorbild Hollywood an. Nikkatsu, die in der Gemengelage der 1920er-Jahre noch traditionellste Firma, lenkt nach kurzer Zeit bereits ebenfalls ein und gründet im Januar 1921 eine Abteilung für „intellektuelles Filmemachen“, deren spiritueller Vater der Regisseur Eizô Tanaka (1886- 1968) ist. Diese soll die japanische Tradition international vermarkten, was sich unter anderem in den zweisprachigen Zwischentiteln niederschlägt, die einen Export deutlich erleichtern. Eizô Tanaka dreht 1922 seinen wichtigsten Film Kyôya Erimise (Der Kragenladen Kyôya), der die unüblich gewordene Theatertradition des Oyama (Mann in Frauenrollen) wiederbelebt. Der Film schildert auf künstlerische Weise und durch zwischengetitelte Haikus getrennt den Niedergang einer Familie über vier Jahreszeiten hinweg. Zwischentitel sind indessen in Japan gar nicht mal unumstritten und beileibe nicht die Norm. Der traditionelle japanische Stummfilm wird von einem Live-Erzähler, dem sogenannten benshi , begleitet, und Zwischentitel gelten demgegenüber lange als unangenehme Unterbrechungen des Erzählflusses. Auch Kenji Mizoguchi (1898-1956) beginnt in den frühen 1920er-Jahren als Assistent Eizô Tanakas und wird bald darauf bekanntermaßen zu einem der wichtigsten japanischen I <?page no="75"?> 1921 bis 1930 Die Vielfalt des späten Stummfilms 75 Regisseure überhaupt. 1923 ist der Umbruch vom theaterhaften und konservativen japanischen Kino der Anfangsjahre hin zu einer verwestlichten und dennoch eigenständigen nationalen Filmtradition vollzogen, wie auch Hiroshi Komatsu feststellt: „Das japanische Kino hatte 1923 praktisch seine alte traditionelle Form hinter sich gelassen, einerseits durch die Assimilation an das amerikanische Kino, zum anderen durch die Inspiration von avantgardistischen Filmformen wie des deutschen Expressionismus und des französischen Impressionismus. Dennoch bestand das japanische Kino nicht nur aus Assimilation und Imitation. Beispielsweise war die ‚subjektive Einstellung‘ selbst Mitte der 20er Jahre noch immer extrem selten. Dies resultierte aus der Abhängigkeit des japanischen Kinos von der Kraft des narrativen Illusionismus, der durch die Stimme des benshi erzeugt wurde, und aus der langjährigen Tradition, die eine Distanz zwischen dem Objekt und der Optik der Kamera vorschrieb.“ (1998, 171) Nach dem einschneidenden Ereignis des großen Kanto-Erdbebens von 1923 zieht mit Nikkatsu eine der wichtigsten Filmproduktionsfirmen nach Kyoto um und dreht dort seine gendaigeki , Filme, die der ‚Neuen Schule‘ verpflichtet sind. Regisseur Yutaka Abe lässt sich dabei sehr von Lubitschs Komödien inspirieren und erweitert das bisher auf Melodramen beschränkte Repertoire der gendaigeki um ein publikumswirksames neues Genre. Die ‚alte Industrie‘ bleibt indessen in Tokyo, wodurch nach der spirituellen nun auch eine räumliche Trennung vollzogen wird. Dort entsteht jedoch eine nicht minder spannende Transformation der Kostümdramen der ‚Alten Schule‘ in die neue, heute noch existierende Form des jidaigeki . Als der große Star des Alten Dramas, Matsunosuke Onoe, stirbt, verwandelt sich das jidaigeki freimütig in ein Genre der moderneren Bearbeitung historischer Stoffe. Die Weiterentwicklung der Gegenpole von jdaigeki und gendaigeki prägt die finalen Jahre der Dekade. Das jidaigeki thematisiert plötzlich Volksaufstände und die Unterdrückung durch das feudalistische System, bewegt sich mithin weg vom leicht reaktionären und unkritischen Fokus auf den edlen Adel. Das gendaigeki befasst sich indessen mit sozialen Fragen des modernen Stadtlebens, wie beispielsweise in Kenji Mizoguchis richtungsweisenden Filmen Tokai Kôkyôgaku (Stadtsinfonie, 1929) und Tokyo Koshinkyoku (1929), welche den Trend des japanischen Stadtfilms der 1930er-Jahre vorwegnehmen und den realistischen Ansatz der Vorjahre weiterentwickeln. Viele Stadtfilme bzw. Tendenzfilme werden aufgrund ihrer Nähe zur Lebensrealität in Japan zensiert und sind jahrelang nicht in ihrer intendierten Form zu sehen. Besonders politisch unliebsame Inhalte wie revolutionäres Gedankengut fallen in Japan der Schere zum Opfer, nicht so sehr vulgäre Elemente wie in manchen anderen Ländern. In Indien wird in den 1920er-Jahren die Grundlage für das spätere Studiosystem von Bombay gelegt. Alle vier großen Bombay- Studios werden im selben Jahrzehnt gegründet - Kohinoor, Imperial, Ranjit Movietone und Sagar Film Company. Das Studiosystem von Bombay folgt dabei in vielerlei Hinsicht dem internationalen Vorbild der Hollywood-Studios mit vergleichbaren Ansätzen etwa bezüglich vertikaler Integration und des Starsystems. Auch kleine Produktionshäuser entstehen in großer Zahl - beispielhaft sei Fatma Begums (1892-1983 ) „Fatma Films“ genannt, das 1926 gegründet wird. Die namensgebende Filmemacherin ist in den 1920er-Jahren eine Pionierin im indischen fantastischen Film. Ihr erster Titel Bulbul-e-Paristan erscheint noch im Jahr der Gründung ihres Studios und ist vermutlich der erste von einer Filmemacherin gedrehte indische Film. Er spielt in einem Märchenland, oder auch Paristan, und hat auf- <?page no="76"?> 76 Handbuch Filmgeschichte grund der damit verbundenen Ausstattungsanforderungen für einen Debütfilm ein vergleichsweise großes Budget. Ansonsten ist der Film in den 1920er-Jahren noch tendenziell durch koloniale und orientalistische Stereotypen geprägt, wie es im Kunstbetrieb der britischen Besatzungsmacht vorgesehen ist. Es gibt jedoch bereits zu jener Zeit erste Tendenzfilme wie Mojili Mumbai (1925, Sklaven des Luxus) von Manilal Joshi, der die Bombayer Handelskapitalisten scharf verurteilt. Aus diesen frühen Tendenzen wird in einigen Jahren der indische Reformfilm entstehen, der in den 1930er-Jahren dazu führt, dass das Folgejahrzehnt eines der spannendsten des indischen Films ist. Sowohl Korea als auch Ägypten nutzen das neue Medium auch im Sinne der eigenen nationalen Identitätsfindung. Beide Länder etablieren den Film als eine Möglichkeit punktuell nationale Identität zu kommunizieren und damit ihre Unabhängigkeit zu betonen, jedoch sieht die politische Realität in beiden Fällen in den 1920er-Jahren noch anders aus. Ägypten ist trotz der unilateralen Unabhängigkeitserklärung von 1922 noch de facto britische Kolonie und Koreas Filmstudios werden nach wie vor von Japan aus geleitet. 1927 kommt in Ägypten unter der Regie von Wadad Orfi Laila , der erste nationale Spielfilm, heraus. Laila ist ein Liebesdrama, das maßgeblich von der Hauptdarstellerin Aziza Amir getragen wird. In ihrem zweiten Film Bint el Nil (Tochter des Nils, 1929) hat Amir einen noch größeren Einfluss auf die kreative Gestaltung des Films und erhält einen credit als Co-Regisseurin neben Ahmed Galal. Amir bleibt bis in die späten 1940er- Jahre eine gefragte Schauspielerin und wird in ihrem letzten vollständigen Schaffensjahrzehnt zudem als Produzentin und Drehbuchautorin tätig. Über ihre zweite Regiearbeit Kaferi am khatiatak (Pay for Your Sins) aus dem Jahre 1933 ist heute wenig bekannt, aber neben dem Ko-Credit mit Mustafa Wali an höchster Stelle ist sie als alleinige Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin tätig. In den 1930er-Jahren steigt Ägypten allmählich zur kinematographischen Großmacht auf, weil insbesondere der Umbruch zum Tonfilm das Kino in der gesamten Region nochmals stärker popularisiert. In Korea kommt 1926 der ausgesprochen erfolgreiche Film Arirang heraus. Er basiert auf einem Volkslied, kommuniziert jedoch keine umstürzlerischen Tendenzen. Dennoch macht er das Kino auch durch diese subtile Erinnerung an die eigene nationale Identität über die nächsten fünf bis sechs Jahre hinweg zu einem sehr populären Medium. Die japanische Zensur wird indessen häufig auf anderer Ebene umgangen. Der byeonsa , das koreanische Äquivalent zum japanischen benshi, greift in die harmlosen Narrationen der Filme häufig ein und politisiert das Kino je nach Vorführungsort und -kontext bisweilen stark. Na Woon-Gyu, der Regisseur von Arirang , wird zu einem der wichtigen Protagonisten des folgenden goldenen Zeitalters des koreanischen Stummfilms, das sich in einem für die Produktionsmittel des Landes beachtlichen Output von 70 Filmen bis zum Ende der Dekade niederschlägt. Auch Nigeria nimmt in den 1920er-Jahren endgültig den Filmbetrieb auf: Geoffrey Barkas’ Palaver von 1926 mit nigerianischen Schauspieler: innen ist eine Art Pilotprojekt, und damit ein großer Erfolg, der die Vorbedingung für die Expansion der Filmindustrie in den 1930er-Jahren darstellt. Französische Kolonien in Afrika sind zu jener Zeit insgesamt unterprivilegierter, was die Entwicklung des eigenen Kulturbetriebs allgemein und des Films im Speziellen angeht, da die Produktion eigener Filme von der Kolonialmacht nicht erwünscht und 1934 gar per Dekret verboten ist. Erst in den 1950er- <?page no="77"?> 1921 bis 1930 Die Vielfalt des späten Stummfilms 77 Jahren können auch dort allmählich eigene Kinokulturen entstehen. <?page no="78"?> 78 Handbuch Filmgeschichte Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts Die Ismen Expressionismus, Impressionismus und Surrealismus sind aus den allgemeinen Künsten übernommene Schlagwörter, die im Film jedoch eine andere Bedeutung erhalten - in erster Linie sind es Vereinfachungen des Geschichtsbildes , die stilistische Gemeinsamkeiten und Trends unter Einzelbegriffe fassen sollen. Insbesondere der Surrealismus steht dabei stark in der Kritik, da die Frage nach der Existenz einer solchen Strömung bis heute Gegenstand der Forschung ist. cinéma pur/ Absolutes Kino/ Reines Kino Etliche Kinokulturen fordern in den 1920er- Jahren die Abspaltung von den anderen Künsten, zumeist den nationalen Theatertraditionen, um zu einem ‚reineren‘ Kino zu gelangen. Von Japan bis Frankreich ist dieses Anliegen in Theorie und Filmschaffen zu finden, wobei der Inhalt der Reform extrem unterschiedlich ist - handelt es sich beim französischen cinéma pur um eine Art Pendant zur abstrakten Kunst, ist das japanische ‚reine Kino‘ der westlich orientierten Überwindung erstarrter alter Formen gewidmet. „Die Forderung nach einem cinéma pur war Mitte der 1920er Jahre ein avantgardistischer Schlachtruf. Im März 1923 hatte Paul Valéry von der Kunst eines ‚reinen Kinos, das sich auf seine eigenen Mittel beschränkt‘, gesprochen. Es war aber Henri Chomette, der Bruder René Clairs, der den Begriff cinéma pur prägte: ‚Filmrhythmus ist eine Potenz, die jenseits von Tatsachenlogik und Realität Visionen erzeugt, wie sie nur im Verein von Linse und Filmband zustande kommen.‘ Seiner Konzeption, reale Aufnahmen nach den Regeln des abstrakten Films zu behandeln, entsprechend drehte Henri Chomette Jeux des reflets et de la vitesse (1923-25) und Cinq minutes de cinéma pur (1925). Erstgenannter Film wurde z.T. in der Pariser Métro gedreht, wobei durch den Einsatz von Zeitraffer die Fahrt völlig abstrahiert wird.“ (zu Hüningen 2012) Segregation und Film „In den 1920er Jahren sind afroamerikanische Rollen in den Mainstream-Hollywood-Filmen unbedeutend und basieren immer noch auf Stereotypen. Afroamerikaner erscheinen als Diener, Tunichtguts, komische Kinder und dergleichen. Afroamerikanische Schauspieler: innen fanden selten reguläre Arbeit und mussten sich mit anderen, meist geringfügigen, Jobs beschäftigen, um zu überleben. Als Kinobesucher: innen hatten die Afroamerikaner: innen kaum eine andere Wahl, als Theater zu besuchen, in denen Filme gezeigt wurden, die für weißes Publikum konzipiert waren. Die meisten Theater in den Vereinigten Staaten waren segregiert. Im Süden forderten die Gesetze, dass die Aussteller ihre weißen und schwarzen Kund: innen trennen sollten. Im Norden war es trotz der bürgerlichen Rechtsnormen an vielen Orten üblich, dass die Angehörigen verschiedener ‚Rassen‘ in verschiedenen (Teilen von) Auditorien saßen. Einige Theater, die sich normalerweise im Besitz von Weißen befanden, befanden sich in schwarzen Vierteln und waren auf lokale Zuschauer: innen ausgerichtet. In solchen Theatern waren Filme mit Belangen von Afroamerikaner: innen beliebt. Es gab sogar eine kleine Anzahl von Filmen, die speziell für das afroamerikanische Publikum produziert wurden. Diese verwendeten ausschließlich afroamerikanische Schauspieler: innen, obwohl die Regisseur: innen und andere Filmemacher: innen normalerweise weiß waren.“ (Thompson/ Bordwell 2019, 148). <?page no="79"?> 1921 bis 1930 Die Vielfalt des späten Stummfilms 79 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Varieté » Regie: Ewald André Dupont » Land | Jahr: D | 1925 Abseits des wesentlich bekannteren Expressionismus und der Filme von Fritz Lang ist dies ein Testament dessen, was in Sachen Formgestaltung im Film der Weimarer Republik möglich gemacht wurde. Filmtipp Lonesome » Regie: Pál Fejös » Land | Jahr: USA | 1928 Ein wundervolles Kaleidoskop von Stimmungen und inszenatorischen Einfällen anhand des Dates zweier Menschen in der großen Stadt New York, umgesetzt von dem emigrierten Ungarn Pál Fejös. Filmtipp La mort du soleil » Regie: Germaine Dulac » Land | Jahr: F | 1922 Gesellschaftskritischer Film über eine Frau zwischen ihrem Beruf in einem Tuberkuloseheim und ihrer Ehe mit einem beeindruckenden formalen Einfallsreichtum. <?page no="81"?> 1931 bis 1940 · Die Ankunft des Tons Am Beginn der 1930er-Jahre steht mit der radikalen Umstellung auf den Tonfilm einer der größten Umbrüche der gesamten Filmgeschichte, was sich auch auf den Filmstil der Dekade überträgt. Insbesondere Studioproduktionen können die überbordende Vielfalt an visuellen Stilmitteln anfangs nicht mit dem schwerfälligen, ortsgebundenen und insgesamt noch recht unbekannten Synchronton verbinden, wodurch der Film zeitweilig an seine theaternahen Anfänge zurückgeworfen wird. Diese Phase des frühen Tonfilms wird zwar bald überwunden, Mitte des Jahrzehnts steht das Kino jedoch in etlichen Ländern vor einer anderen Herausforderung: Totalitäre Regimes übernehmen weltweit in überdurchschnittlich vielen Industrieländern die Macht und in den allermeisten Fällen geht das mit der staatlichen Kontrolle des jungen, effektiven audiovisuellen Mediums zu Propagandazwecken einher - die Freiheit des Films in den 1920er-Jahren geht an vielen Produktionsstandorten für eine ganze Weile verloren. 1930er: Globales Kino n Japan setzt sich der Tonfilm langsamer durch als in fast allen anderen Ländern der Erde. Stumm- und Tonfilm koexistieren hier noch bis 1938, was einerseits mit den hohen Kosten der Umstellung zu tun hat und andererseits mit dem für das japanische Stummfilmkino typischen benshi (Erzähler), der sich offensichtlich einer größeren nationalen Beliebtheit erfreut als andernorts die Stummfilmmusiker: innen und damit noch eine Weile zumindest Teile der japanischen Filmproduktion kommentieren darf. Kenji Mizoguchi geht in eines seiner produktivsten Jahrzehnte und entwickelt sein in den 1920er-Jahren entworfenes Konzept von Realismus Schritt für Schritt weiter. Insbesondere seine minutiös konstruierten Szenenbilder werden immer elaborierter, was sich am schlagendsten in dem Film Zangiku monogatari (1939; „Geschichte von der letzten Chrysantheme“) zeigt. Der andere ‚große Name‘ des japanischen Films der folgenden Jahrzehnte dreht seit 1927. Dabei handelt es sich natürlich um Yasujirô Ozu (1903-1963), der von Anfang an besonders als Tonfilmregisseur ins Rampenlicht tritt. Er verändert den Tendenzfilm der 1920er-Jahre durch eine persönlichere Herangehensweise. Während in den Tendenzfilmen die soziale Struktur für Probleme der Isolation und einen gene- I <?page no="82"?> 82 Handbuch Filmgeschichte rellen Pessimismus sorgt, steht bei Ozu die Einsamkeit des Menschen auf existenzialistische Weise im Zentrum. Ein weiterer Regisseur, der nicht zu ganz so großem Arthouse- Nachruhm gelangt ist, aber bemerkenswerte Filme macht, ist Hiroshi Shimizu (1903-1966). Shimizu verlegt die existenziellen Fragen des Stadtfilms häufig aufs Land und verhandelt dadurch dialektisch Fragen von Individuum und Kollektiv, Zentrum und Peripherie. Arigatô-san von 1936 handelt von einem Busfahrer und seinen Fahrgästen bzw. den Anwohner: innen, deren Geschichten er hört und kommentiert. Begegnungen wechseln mit Landschaftsmontagen, die oft - wie eine Fahrt durch einen Tunnel etwa - symbolisch aufgeladen werden; im Rückblick wird der Film häufig als eine frühe japanische Variante des erst viel später etablierten Road-Movie-Genres gelesen. Japan geht insgesamt in den 1930er-Jahren den Sonderweg eines relativ ‚ernsten‘ Unterhaltungskinos, das immer noch stark vom Theater - im jidaigeki (‚neuen Film‘) handelt es sich besonders um Gegenwartsdramen - beeinflusst ist, aber allmählich zu einer eigenen Filmsprache findet. Dabei reflektiert und berücksichtigt der japanische Film in Produktionsweisen und Genre- und Erzählformen auch europäische und besonders amerikanische Modelle. In Indien spielt das Genre des Reformromans eine wesentliche Rolle für die Ausprägung eines sozialreformerischen Kinos, das immer auch eine politische Dimension bezüglich der Unabhängigkeitsbestrebungen des Landes hat. Das pan-indische (all-Indian) Kino, wie es heute international bekannt ist, konstituiert sich allerdings erst in den späten 1940er-Jahren, sodass es zur Zeit der 1930er- Jahre noch sehr verschiedene lokale Ausprägungen, Stile, Stoffbearbeitungen (auch je nach religiöser Erzähltradition) gibt, die nebeneinander her existieren. Oft ist das gewählte Lokalkolorit dabei von Studio zu Studio sehr unterschiedlich: Ranjit Movietone und Sagar Film Company verlegen sich auf die Produktion von hinduistisch geprägten Melodramen, die Themen der Reformliteratur, insbesondere die häusliche (Opfer-)Rolle der Frau, verhandeln. „Glorious“ Gohar Mamajiwala (1910-1985) ist der große Star von Ranjit und verkörpert oft ebenjene Frauenrollen. In Gunsundari (1934) etwa spielt sie in ihrer berühmtesten Rolle eine Ehefrau, die sich für ihren launischen Ehemann und ihre große Familie aus Pflichtbewusstsein aufopfert. Zu etwa jener Zeit beginnt auch Starregisseur V. Shantaram (1901-1990) mit der Arbeit. Shantaram ist ein hinduistischer Regisseur, der auf seiner Muttersprache Marathi dreht und bei seinem Studio Prabhat im Prinzip kreative carte blanche hat. 1931 dreht er den ersten Marathi-Talkie und damit gleichzeitig seinen und des Studios ersten Tonfilm Ayodhyecha Raja . Wie auch heute noch viele Hindu-Filme basiert der Film auf einer Geschichte aus der Mahabharata; es handelt sich für die Zeit um einen Big- Budget-Film mit eigensinniger Ausstattung und vielen langen Musikeinlagen. Die Story geht in etwa so: Eine Königsfamilie wird von einem weisen Mann herausgefordert ihr Königreich zu opfern, um mehr Weisheit zu erlangen. Der König folgt dem Ratschlag und die Familienangehörigen werden als Sklaven verkauft; der Sohn stirbt gar, als er seine Mutter vor sexueller Belästigung schützen will. In der Folge wird die Mutter des Mordes angeklagt, aber hier ist es genug und die Kashi-Vishveshwara-Gottheit greift ein, holt den Jungen von den Toten zurück und setzt das Paar wieder auf den Thron. In China wird durch die japanische Besatzung, die 1931 ihren Anfang nimmt, das Kino nobilitiert und von seinem anrüchigen Status als abzulehnende Populärkultur kurzfristig befreit. Der sogenannte ‚linke Film‘ findet <?page no="83"?> 1931 bis 1940 Die Ankunft des Tons 83 einen Weg, die japanischen Besatzer nicht direkt zu nennen, aber als gegnerische Bourgeoisie bzw. Großgrundbesitzer darzustellen. Die sich in vielen Filmen der 1930er-Jahre entfaltende Geschichte eines Klassenkampfes gilt somit auch als Befreiungsparabel gegenüber der Besatzungsmacht. Der ‚linke Film‘ lässt das Kino in China erstmals eine gesellschaftsrelevante Position besetzen und weicht die frühere Skepsis der Hardliner-Konfuzianisten gegenüber dem neuen Medium etwas auf. Er nimmt zudem das revolutionäre Kino in seiner marxistischen Anlage und seinem Faible für ‚kleine, alltägliche Geschichten‘, die für größere soziale Phänomene stehen, geradezu vorweg. Eines der bekanntesten und wirkmächtigsten Beispiele ist Dalu [Breiter Weg] (1935, Sun Yu). Darin schließen sich sechs Arbeiter einem Straßenbautrupp an. Aufgrund ihres Eigensinns entspinnen sich jedoch Konflikte mit dem Antagonisten, einem bourgeoisen Landbesitzer, der sich von den Japanern hat kaufen lassen. Von einer breiten Solidaritätsfront lässt er sich zwar beeinflussen, aber der Film macht deutlich, dass der Arbeiter nur verbündet mit seinesgleichen eine gesellschaftliche Veränderung bewirken kann - eine protorevolutionäre Fabel. Interessant ist auch, wie Dalu mit dem neuen Paradigma des Tonfilms umgeht. Anders als in anderen Filmkulturen spielt die Musik eine große Rolle, dafür gibt es keine gesprochenen Dialoge - jene werden nach wie vor durch Inserts repräsentiert. Manche Einlagen weisen gesungene Musik auf und oft sind einzelne Geräusche zu hören, für heutige Ohren geradezu entkoppelt von der ansonsten omnipräsenten Stille des Films - etwa das Geräusch der Menge oder eine Synchronisierung der geräuschhaften Slapstickbegleitung zweier Arbeiter, die nach dem Vorbild von Laurel & Hardy durch den Film tollpatschen. 1930er: USA uch in den USA ist der Übergang zum Ton eines der bestimmenden Themen zumindest der frühen 1930er-Jahre. In den Jahren 1922 bis 1923 wird kurzzeitig eine Art US-amerikanisches Pendant zu den in Deutschland um die Jahrhundertwende populären „Tonbildern“ verbreitet: Lee De Forests sogenannte „Phonofilms“. Die Geburt des eigentlichen Tonfilms wird jedoch nahezu überall im Jahre 1927 angesetzt, als The Jazz Singer in die Kinos kommt. Alan Croslands Film mit dem berühmten Sänger und Performer Al Jolson in der Hauptrolle ist nicht durchweg vertont, sondern vor allem bei den musikalischen Darbietungen Jolsons. Das liegt daran, dass der Film in dem altmodischen Nadeltonverfahren synchronisiert ist, ein veraltetes und umständliches Modell, das einige Passagen des Films punktuell an Schallplatten koppelt, die dazu erklingen. Nur ein Jahr später folgt mit Bryan Foys Lights of New York (1928) der erste vollständig vertonte Film, jedoch steigt die Branche erst in den 1930er-Jahren auf das effizientere Lichtton-Verfahren um, das in Deutschland bereits 1922 als gescheitert galt. Der frühe Tonfilm ist entsprechend seinen holprigen Produktionsbedingungen oft dialoglastig und enthält fast nur diegetische Musik. Es gibt darin nach heutigem Empfinden sehr lange Stilleperioden, einfache Kulissen und eine schlichte Inszenierung, was man sehr plastisch sieht (und hört), wenn man die frühe Verfilmung des Dashiell- Hammett-Romans The Maltese Falcon von 1931 (Roy Del Ruth) mit seinem bekannteren Pendant eine Dekade später vergleicht. Die Studiowerbung ist beim frühen Tonfilm eine nicht zu unterschätzende treibende Kraft und das Bedürfnis, die neue technische Errungenschaft radikal zu vermarkten und das Kino damit umsatzstärker zu machen, läuft A <?page no="84"?> 84 Handbuch Filmgeschichte zu Beginn häufig den technischen Fähigkeiten der Filmproduktion noch davon. Die als ‚klassisch‘ geltende erste Tonfilmdekade des Studiosystems Hollywoods ist indessen von mehr Kalamitäten geprägt als im Rückblick häufig behauptet wird. Zunächst sind die 1930er-Jahre eine Phase der Rezession. Die Weltwirtschaftskrise (Great Depression), ausgelöst und befördert durch den sogenannten Black Tuesday, einen New Yorker Börsencrash im Oktober 1929, dominiert nahezu alle Bereiche der US-amerikanischen Ökonomie. Franklin Roosevelts massive Arbeitsbeschaffungspolitik (New Deal) ist jedoch für Hollywood besonders angenehm, da Oligopolien als paktwürdige Arbeitgeberkonglomerate temporär unter weniger scharfer Beobachtung durch den Staat stehen als in den Jahren zuvor. Das System selbst differenziert sich derweil in drei „Klassen“ aus: die big five oder „Majors“, die in absteigender Reihenfolge nunmehr Paramount, MGM, Fox (1935 umbenannt in 20th Century Fox), Warner Bros. und RKO darstellen. RKO wird Ende der 1920er-Jahre als Tonfirma neu gegründet, etabliert sich aber aufgrund des großen Musical-Booms der 1930er-Jahre schon rasch als vertikal integriertes Studio mit eigener Distribution und Kinokette. Indessen steigen die folgenden Studios zu den Little Three oder auch „Minors“ ab: Universal, Columbia, und United Artists. Neben den acht führenden Studios gibt es die zahlreichen B-Movie-Firmen, die manchmal ironisch als Poverty Row zusammengefasst werden - darunter Marken wie Republic oder Monogram, die auch heute noch bekannt sind. Neben der wirtschaftlichen Herausforderung der Krisenzeiten bringen die 1930er-Jahre auch in den USA einen konservativen Wandel mit sich, der wie so oft als Gegenreaktion auf ein liberalisierendes Jahrzehnt folgt. Die vorauseilende Selbstzensur wird plötzlich sehr wichtig, um staatlichen Maßnahmen vorzubeugen, und dies gipfelt im reaktionären Motion Picture Production Code, der nach dem Vorsitzenden der MPPDA Arthur Garfield Hays oft als Hays Code bezeichnet wird und von 1930 bis 1968 gilt. Ab 1934 wird der Hays Code oft sklavisch umgesetzt und besiegelt Hollywoods Image als prüdes, nationalistisches und reaktionäres Studiosystem. Im Hays Code werden Nacktheit und Drogenverherrlichung, aber auch sexuelle Aufklärung und die Lächerlichmachung des Klerus untersagt. Der Widerspruch der amerikanischen Verfassung zur De-facto-Behandlung von Afroamerikaner: innen als Menschen zweiter Klasse wird auch im Hays Code deutlich, indem die „willful offense to any nation, race or creed“ darin untersagt ist, jedoch miscegenation, also eine sexuelle Interaktion zwischen den Rassen, ebenso auf der Verbotsliste steht. Am Ende geht die Filmindustrie gestärkt aus den gesellschaftlichen und ökonomischen Kalamitäten hervor und floriert in den 1930er-Jahren wie nie zuvor. Auf Ebene der Vorführung werden durch den Tonfilm um 1930 nunmehr reine Filmvorführungen, also ohne Rahmenprogramm, Musikbegleitung usw., die Norm. Neben der Flankierung der Features durch Kurzfilme werden oft double oder triple features in Kopplung mit günstigen B-Movies gespielt. Aufgrund der daraus resultierenden längeren Aufführungsdauer etabliert sich zu jener Zeit die heute noch mit Kinos weltweit verknüpfte Konvention des Popcorn- und Softdrinkverkaufs im Foyer. Der Film entwickelt sich indessen nicht nur auditiv, sondern auch visuell weiter, z. B. in der Technicolor-Technik , einem Drei- Farb-System , bei dem ein Prisma vor der Kameralinse das Licht in drei Anteile spaltet, die auf drei schwarzweiße Streifen aufgeteilt werden, einen für jede Primärfarbe (rot, grün und blau). Während die Zwei-Farb-Technik von Technicolor sich nicht durchgesetzt hat, <?page no="85"?> 1931 bis 1940 Die Ankunft des Tons 85 feiert das Drei-Farb-System nach einigen Experimenten am Ende der Dekade seinen endgültigen Durchbruch. Der erste Film, der in Technicolor erscheint, ist der kurze Disney-Trickfilm Flowers and Trees aus dem Jahre 1932. Nur ein Jahr später erscheint mit La Cucaracha der erste Farbspielfilm, der in etwa 21 Minuten umfasst. Sehr viel interessanter sind indessen die Filme von Roy Mack (1889-1962), einem der wichtigsten Pioniere seiner Zeit, der erste Kurz-Farbmusicals dreht, welche narrativ ebenso innovativ sind wie stilistisch. Service with a Smile (1934) und Good Morning, Eve! (1934) sind Macks erste zwei Farbfilme; beide sind absolut einen Blick wert, auch der zuletzt genannte, ein irrwitziger Zeitreisefilm. Die Popularisierung des Farbfilms kulminiert am Ende der Dekade in dem Blockbuster The Wizard of Oz (1939), an dem mit Victor Fleming, George Cukor, Mervyn LeRoy, Norman Taurog, Richard Thorpe und King Vidor sechs Regisseure beteiligt sind. Der Film beginnt im grauen, schwarzweiß dargestellten Kansas und mit dem Übergang in die magische Welt von Oz wechselt auch der Film in strahlendes Technicolor. Eine Gattung, die wie bereits erwähnt sehr früh zum Farbfilm wechselt und die in den 1930er-Jahren einen steilen Aufstieg nimmt, ist die des Animationsfilms. Disney positioniert sich mit Steamboat Willie (1928) als große Partei, aber ist zu dem Zeitpunkt noch kein eigenes Studio - die Produktionsfirma ist erst bei Columbia unter Vertrag, dann ab 1932 bei United Artists und ab 1937 schließlich bei RKO. Dort wird der erste Disney- Langfilm Snow White and the Seven Dwarfs (1937) produziert, der einen Wendepunkt in der Geschichte der Gattung markiert. Bei Paramount arbeiten indessen Max und Dave Fleischer, die mit dem „sexy flapper“ Betty Boop (besonders vor Durchsetzung des Hays Code ) und Koko the Clown einen erwachseneren Ansatz wählen. Der heute noch bekannte Popeye beginnt sein Leben als Betty-Boop-Nebenfigur. Warner Bros. gründet bereits 1930 eine eigene Cartoon- Division, die Hugh Harman, Rudolf Ising und Friz Freleng einstellt. Hier entstehen die Looney Tunes, und die WB-Studios bauen gewissermaßen ihr eigenes Cartoon-Starsystem auf, das aus Bugs Bunny, Daffy Duck, Porky Pig, Elmer Fudd und vielen anderen besteht. Frederick Bean „Tex“ Avery (1908- 1980) fängt ebenfalls bei WB an und wird wohl zu dem kunstvollsten und avantgardistischsten Cartoonisten seiner Zeit. Viele der Stummfilm-Regisseure der 1920er- Jahre drehen in den 1930er-Jahren unbenommen weiter: John Ford, Howard Hawks, Ernst Lubitsch, William Wyler und Raoul Walsh haben keinerlei Probleme mit dem Umstieg auf den Tonfilm. Besonders Schauspieler: innen und Drehbuchautor: innen fallen dem neuen System indessen zum Opfer, auch für die meisten Slapstick-Komiker ist es gleichbedeutend mit dem Karriereende. Charlie Chaplin verweigert auch deshalb noch ein Jahrzehnt lang den Umstieg und dreht zwar zwei Tonfilme - City Lights (1931) und Modern Times (1936) - jedoch keine talkies (Filme mit Dialog). John Ford (1984-1973) begründet am Ende der Dekade mit Stagecoach (1939), der ersten Hauptrolle von John Wayne, den klassischen Western und nobilitiert das größtenteils als B-Movie-Stock wahrgenommene Genre als das große amerikanische Genre der kommenden zwei Dekaden. Somit ist Ford eine Art spiritueller Pate des Western, hat er doch an frühen Stummfilmvarianten ebenso mitgewirkt wie am Wechsel in den A-Bereich und wird zuletzt 1962 gar des Genres Schwanengesang The Man Who Shot Liberty Valance , zeichenhafterweise wieder in schwarzweiß gedreht, verantworten. <?page no="86"?> 86 Handbuch Filmgeschichte Das andauernde Wachstum der Frauenrechtsbewegung schlägt sich auch in einem neuen Typus des Liebesfilms, der screwball comedy , nieder. Die weiblichen Hauptfiguren dieses Filmzyklus sind selbstbewusst, zielorientiert, schlagfertig und oft patenter als ihre männlichen Gegenparts. Bis heute erscheinen die screwball comedys oft moderner als aktuelle romantic comedys . Kann King Vidors The Patsy (1928) im Rückblick schon als Vorläufer gelten, verhilft It Happened One Night von Frank Capra dem Subgenre endgültig zum Durchbruch. Der Screwball-Zyklus zieht sich bis in die 1940er- Jahre und wird in den 1950er-Jahren durch ein sehr viel konservativeres Modell der romantic comedy abgelöst. Der Typus der Filmemacherin, schon immer vom Aussterben chronisch bedroht, verschwindet indessen im Hollywood der 1930er-Jahre fast vollständig von der Bildfläche. Dorothy Arzner (1897-1979) beginnt in den späten 1920er-Jahren als Stummfilmregisseurin ( Fashions for Women , 1927) und wird bereits 1928 zur ersten Tonfilmregisseurin der USA ( Manhattan Cocktail , 1928). In der Folge verantwortet sie den ersten Tonfilm von It-Girl Clara Bow ( The Wild Party , 1929) und erfindet dort am Set spontan das Boom-Mikrophon (an einem Stab oberhalb der Darstellerin). Sie tritt als erste Frau der Directors Guild of America bei und ist in den 1930er-Jahren in dieser Funktion und als Regisseurin überhaupt in Hollywood absolut allein. Mit der Einführung des Tonfilms und der konservativen Wende des Jahrzehnts, die sich nachdrücklich in den Hays Code einschreibt, werden Frauen in wichtigen Positionen nach und nach aus dem Studiosystem aussortiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Lage noch drastischer. Arzner wird an der UCLA Filmdozentin und unterrichtet dort später unter anderem Francis Ford Coppola. Das heute noch weitgehend gültige Genresystem des klassischen Hollywood-Films wird in der frühen Tonfilmzeit allmählich noch verbindlicher. Der Horrorfilm konsolidiert sich mit Frankenstein (1931, James Whale) und Dracula (1931, Tod Browning, Karl Freund). Mit Mark of the Vampire (1935, Tod Browning) parodiert er sich indessen schon wieder selbst. Der Gangsterfilm erfährt eine erste Hochphase mit Little Caesar (1930, Mervyn LeRoy), The Public Enemy (1931, William A. Wellman) und Scarface (1932, Howard Hawks, Richard Rosson). Ebenso profitiert das Musical selbstverständlich von den neuen auditiven Möglichkeiten, was durch Klassiker wie 42nd Street (1933, Lloyd Bacon), Gold Diggers of 1933 (1933, Mervyn LeRoy) und Broadway Melody of 1938 (1937, Roy del Ruth) verbrieft ist. Schließlich sind Literaturverfilmungen groß in Mode und häufig der Stoff für substanzielle Blockbuster, die auch Dekaden später noch bekannt in Namen und Inhalt bleiben werden, so etwa All Quiet on the Western Front (1930, Lewis Milestone), Dr. Jekyll & Mr. Hyde (1932, Rouben Mamoulian) und natürlich Gone with the wind (1939, Victor Fleming). Der Tonfilm bringt überdies einen Paradigmenwechsel in Sachen Filmmusik mit sich. Während in der Stummfilmzeit die Begleitungspraxis von freier Improvisation über eine Titelliste (cue sheet) bis hin zu vorgegebenen Partituren für Filmorchester sehr unterschiedlich war, setzt sich das Paradigma der orchestralen Begleitung allmählich als das bei Weitem üblichste durch. Oft erschöpft sich die Musik in einer Untermalung der Filmhandlung. Insbesondere die motivische Zuordnung (Leitmotiv- und Kennmelodie-Techniken) sowie die Dopplung des visuellen Geschehens (Mickey Mousing) passen insofern zum Continuity-Stil, als sie dessen Bestreben um Klarheit und Verständlichkeit tragen und unterstützen. Beide Techniken kommen im Animationsfilm in besonders <?page no="87"?> 1931 bis 1940 Die Ankunft des Tons 87 expliziter Form vor, finden aber auch schon früh ihren Weg in den Spielfilm-Blockbuster. Max Steiner (1888-1971) verknüpft in seinem Soundtrack zu King Kong (1933, Merian C. Cooper, Ernest B. Schoedsack) beides, indem er eine aufsteigende Melodiebewegung mit dem kletternden Riesenaffen korrespondieren lässt und zugleich tiefe Klangregister wählt, die stereotyp dessen Größe und Gewicht untermauern. 1930er: Deutschland ie Kopplungsversuche von Grammophon und Phonograph haben um die Jahrhundertwende in Deutschland die frühen ‚Tonbilder‘ hervorgebracht und auch bei der Erfindung des Tonspielfilms ist die deutsche Filmindustrie technisch gesehen sehr früh dran. Anfang der 1920er- Jahre erfinden Josef Engl, Joseph Massolle und Hans Vogt den Lichtton nach ihrem sogenannten „Tri-Ergon-System“. Dabei liegen die Ton- und Bilddaten auf derselben Filmrolle vor, es müssen also nicht mehrere Geräte gekoppelt werden, um synchronen Ton zu erzeugen. Am 17. September 1922 erfolgt die erste öffentliche Aufführung eines Films mit Tonspur. Aufgrund der Schallwellenfotografie, die ihrerseits einigen Platz auf der Filmrolle beansprucht, wird dieser mithilfe von 42-Millimeter-Filmmaterial projiziert. Es handelt sich um Erwin Barons Spielfilm Der Brandstifter , der ein vernichtender Misserfolg wird. Die Patente werden daraufhin 1923 in die Schweiz verkauft und gelangen über diesen Weg später schließlich in die USA. Soweit die kanonische Geschichtsschreibung, allerdings gibt es in Schweden bereits 1921 eine experimentelle Aufführung nach einem frühen Lichttonverfahren, das sich ebenfalls nicht durchsetzen kann. Auch der -Tykociner hat zu jenem Zeitpunkt bereits ein Lichttonverfahren entwickelt, das rudimentär funktional ist. Nach Deutschland kehrt der Tonfilm jedenfalls erst im Januar 1929 zurück, als der Film Ich küsse Ihre Hand, Madame aufgeführt wird, der immerhin eine einzige Tonszene enthält. Darin bewegt Harry Liedtke seine Lippen zum Titelsong des Films, der indessen von Richard Tauber eingesungen wurde. Auch wenn es noch etwas dauert, ehe die deutsche Filmindustrie sich nochmal am Tonfilm versucht - immerhin ist sie ein gebranntes Kind - liegt die Idee 1929 eindeutig in der Luft. Walter Ruttmanns Melodie der Welt kommt im März in die Kinos und lässt seine Tonspur aus Lautsprechern erklingen statt via Live-Performance im Saal. Am 3. Juni feiert Lloyd Bacons The Singing Fool (USA 1928) mit Al Jolson in Deutschland Premiere und löst eine neue Debatte über den Tonfilm aus. Dieser beginnt sich von nun an in Deutschland rasant durchzusetzen, besonders durch die aggressive Arbeit der Ufa, die ein großes ökonomisches Interesse am bevorstehenden Medienwandel hat. 1929 kommen noch 175 Stummfilme auf 8 Tonfilme, 1930 bereits 101 Tonfilme auf 45 Stummfilme und 1931 sind nur noch zwei Stummfilme in den Kinos zu sehen, 1932 besteht das Programm bereits ausschließlich aus Tonfilmen. Auch der deutsche Tonfilm ist jedoch anfangs hölzern und unbeholfen. Im Oktober 1929 kommt Ewald André Duponts Atlantic in die Kinos und wird als maximaler Kontrast zu dessen Meisterwerk Varieté von 1925 wahrgenommen. Auch Anton Kaes (2004, 82) vergleicht die beiden Filme und bringt damit die Ästhetik des frühen Tonfilms weltweit auf den Punkt: „Der Kontrast zwischen Varieté , dem Höhepunkt spezifischer Stummfilmkunst, und Atlantic , dem ‚Tonfilmwunder‘, könnte nicht größer gewesen sein: Die Kamera, die bei Varieté entfesselt war wie nie zuvor, schien jetzt des Tones D <?page no="88"?> 88 Handbuch Filmgeschichte wegen statisch und starr. Die langen Dialoge wurden wie in einer Theateraufzeichnung halbnah aus einer starren Perspektive wiedergegeben; die Sprache verhinderte den eigenständigen visuellen Ausdruck.“ Da Musik häufig noch einfacher umzusetzen ist, wird analog zum US-Musical auch der deutsche Musikfilm zu einem sicheren Kassenschlager. Im Dezember 1929 erscheint Melodie des Herzens unter der Regie von Hanns Schwarz, der vornehmlich mit Musik und Geräuscheffekten ausgestattet ist und nur wenige Dialoge aufweist. Er wird zum Welterfolg. Während sich in der späten Weimarer Republik allmählich eine Radikalisierung der politischen Extreme des Kommunismus und des Nationalsozialismus abzeichnet, existiert das Epitom der „goldenen Zwanziger“ in den frühen 1930er-Jahren punktuell ungebrochen fort. Insbesondere der Aufstieg von Marlene Dietrich (1901-1992), die in den 1920er- Jahren in mindestens 18 Stummfilmen mitspielt, fällt in diese Zeit. Mit dem Tonfilm Der blaue Engel (1930) feiert „die Dietrich“ endgültig ihren Durchbruch als singende Stilikone. Sie dreht vier weitere Filme mit Josef von Sternberg, ehe sie - als scharfe Kritikerin der Nationalsozialisten - nach Hollywood emigriert, wo sie bis in die Nachkriegszeit hinein erfolgreich ins Starsystem integriert wird. Auch andere Stummfilmkünstler: innen schaffen den Übergang in die Tonfilmzeit: Fritz Lang findet mit M (1931) die ideale Mischung aus true crime, Gesellschaftsbild und Unterhaltungskino. Der audiovisuelle Stil des Films nimmt seine Arbeiten im Hollywood der 1930er-Jahre indessen bereits vorweg, die im Nachhinein wie eine Vorahnung des Film-noir-Stils der folgenden Dekade erscheinen. Die Massenerfolge feiern jedoch weiter Tonfilme mit Musikbezug: Die Drei von der Tankstelle (1930) wird wie Der blaue Engel ein Riesenerfolg und prägt den deutschen Musikfilm bis in die späten 1950er-Jahre hinein. Ansonsten schlägt sich der politische Extremismus beider Lager (KPD und NSDAP) auch auf das Kino nieder: Das Verbot von All Quiet on the Western Front durch die Zensur führt in Deutschland zu einem Boom der Antikriegsfilme. Georg Wilhelm Pabst dreht z. B. Westfront 1918 (1930) und Kameradschaft (1931). Aus dem linken Lager stammt die Idee proletarisch-aktivistischer Kunst, die von intellektuellen Künstlern wie Hanns Eisler und Bertolt Brecht unterstützt wird. Dieser Idee folgend entsteht 1932 Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? Die im Sowjetkino der 1920er-Jahre eingeführte Idee der Distanzierung des Publikums vom Film, die letztlich auch mit Brechts Idee vom Verfremdungseffekt auf dem Theater zusammenhängt, wird hier noch konsequenter durchgesetzt. Wenngleich der Film sich als Zwitter aus Unterhaltungs- und Bildungskino versteht, wird er doch eher als Unterrichtsstunde rezipiert. Als „Mischung aus Spielfilm, Reportage und Propagandafilm“ (aus der richterlichen Zensurentscheidung, zit. nach Kaes 2004, 81) wird Kuhle Wampe folgerichtig bald verboten und für eine Zeit lang zum ‚Mythos‘. Im Lager der NSDAP wird indessen 1931 die erste Parteifilmstelle unter Leitung von Joseph Goebbels gegründet, die bereits unverhohlen dafür zuständig ist, Propagandafilme zu erstellen und die Gleichschaltung der Filmindustrie vorzubereiten. 1932 werden bereits mehrere Dutzend Filme in diesem Sinne produziert, meist Zusammenschnitte von Hitler-Reden und kurze Propaganda- Narrative. Die Titel dieser Filme sind z. B. Blutendes Deutschland , Das junge Deutschland marschiert oder Hitler über Deutschland - sie positionieren sich offen als martialische und faschistische Alternative zum Antikriegskino der Zeit. Fast jede Aufführung politischer oder als politisch emp- <?page no="89"?> 1931 bis 1940 Die Ankunft des Tons 89 fundener Filme beider Lager führt in großen Städten zu Krawallen; viele Premieren, z. B. diejenige von Das Flötenkonzert von Sanssouci (1930, Gustav Ucicky), das einer beliebten Konvention der Zeit folgend Friedrich den Großen von Preußen als idealen deutschen Staatsdenker und -lenker inszeniert, finden unter Polizeischutz statt. Nach der selbstbenannten „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Januar 1933 dauert es nur etwa zwei Monate, bis Joseph Goebbels in seiner Kaiserhof-Rede vom 28. März gegenüber Gewerkschafts- und Industriekräften des Films die Zerschlagung der Gewerkschaft „Dacho“ und die Zwangsintegration der Industrievertreterorganisation „Spio“ in die „Reichsfilmkammer“ signalisiert. Am 30. März wird Fritz Langs Das Testament des Dr. Mabuse verboten, da er die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährde - dies sind die Anfänge einer umfänglichen Gleichschaltung und Umstrukturierung der Filmindustrie im Dritten Reich. Zwar ist die Gesamtverstaatlichung erst 1942 abgeschlossen, aber Goebbels lenkt fortan als selbsternannter Schirmherr des Films die Geschicke und greift mitunter in Details wie Filmtitel oder Dialoge persönlich ein. Insgesamt entstehen zwischen 1933 und 1945 rund tausend Filme; davon sind relativ wenige explizite Propaganda, und vor allem jener Teil ist ausgiebig erforscht worden. Auch das Genrekino hat mitunter unterschwellige Tendenzen zur Systemdarstellung, jedoch kann das wohl über jede Filmproduktion gesagt werden. Die NS-Einteilung in ‚Ohren- und Augenfilme‘ ermöglicht indessen trotz Vorzensur, Verbotspraxis und Kritikverbot die Existenz von nichtnationalsozialistischen Filmen und seltenen Beispielen von Filmen der (milden) ästhetischen Opposition. Da die Parteifilmstelle bereits 1931 gegründet worden ist, folgt die erste Welle von propagandistischen Filmen sehr unmittelbar: Bereits am 19. September 1933 findet die Premiere von Hans Steinhoffs Hitlerjunge Quex statt, der den Auftakt zur ersten Welle der Propagandafilme „zur Festigung des nationalsozialistischen Menschenbildes“ im Jahre 1933 darstellt. Der Schlossersohn Heini Völker (Jürgen Ohlsen) wird darin in Berlin von der kommunistischen und der nationalsozialistischen Jugendorganisation umworben - zitiert wird Karsten Witte (2004, 122), der die oppositionelle Logik des Films gut auf den Punkt bringt: „Der Klassenkampf zwischen den Linien wird inszeniert wie einer zwischen Hell und Dunkel. Die linke Jugendgruppe ist unordentlich und sexuell promisk, die HJ enthaltsam und ordentlich in Reih und Glied. Heini Völkers Übergang erfolgt am Seeufer, von einem Zeltlager ins andere: aus dem Wald an den Strand, von anstößigen Liedern hin zur Trompete.“ Witt deutet „Quex“ ferner als Variation des alten linken Films (z. B. sowjetischer Herkunft), der die formalen Vorlagen liefert. Die populärste Regisseur: in der Nazizeit wird Leni Riefenstahl (1902-2003), deren im Bergfilm Das blaue Licht von 1932 bereits erarbeitete Überwältigungsästhetik nun im Dienste des Nationalsozialismus ihren Einsatz findet. Riefenstahl dreht die Dokumentarfilme Der Sieg des Glaubens (1933), Triumph des Willens (1935), Tag der Freiheit - unsere Wehrmacht (1935), Olympia in zwei Teilen - Fest der Völker, Fest der Schönheit (1938), die allesamt Aufmärsche und Massenchoreografien ästhetisieren, als Naturgewalten darstellen, in Montagefolgen NSDAP-Funktionäre und „das deutsche Volk“ zu einer Einheit verschmelzen. Riefenstahl bestreitet nach 1945 vehement die Autorschaft an überlieferten Texten (mitsamt ihrer Signatur) bezüglich der Propagandawirkung ihrer Montagetechnik und ihrer Dramaturgie; ebenso wird sie ihre Filme niemals als Propagandafilme bezeichnen, sondern immer darauf verweisen, dass es sich um Dokumentar- <?page no="90"?> 90 Handbuch Filmgeschichte filme handle. Aus einer Beschreibung des Anfangs von Triumph des Willens wird jedoch unmittelbar ersichtlich, dass nichts davon der Wahrheit entspricht (Witte, 126): „Zu Wagners ‚Meistersinger‘-Ouvertüre fliegt Hitler nach Nürnberg ein. Kaum setzt das Flugzeug zur Landung an, überblendet die Musik ins Horst-Wessel-Lied. Die Massen huldigen seiner Ankunft. Die Schauplätze wechseln zwischen Halle, freiem Feld und Zeltlager. Hitler spricht, die Parteibonzen ergreifen das Wort. Die Massen melden sich im Sprechchor zur Stelle. Sie definieren sich als ‚Stämme‘ oder als ‚die Männer vom Bauernstand‘.“ Riefenstahls Film dokumentiert freilich die Selbstinszenierung der Nationalsozialisten auf dem Reichsparteitag 1934. Schnitttechnik, Kamerawinkel, Musikeinsatz sowie die Fokalisierung auf den vom Himmel steigenden Adolf Hitler sind aber selbstverständlich filmische Mittel, die die Inszenierung überhöhen, verstärken, ästhetisieren und rahmen - zur nationalsozialistischen Propaganda machen. Auch andere Protagonist: innen des Weimarer Films arbeiten im NS-Regime weiter: Emil Jannings, Heinrich George, Thea von Harbou oder Veit Harlan haben zu jener Zeit durchaus illustre Karrieren und können sich über mangelnde Aufträge nicht beschweren. Einige versuchen sich an vermeintlich unpolitischen Filmgenres wie Komödien oder Melodramen; die Geburt des deutschen Revuefilms fällt ebenfalls in die 1930er-Jahre. Etliche Filme bieten dabei im Rückblick Deutungen im Sinne des Nationalsozialismus an, ohne im eigentlichen Sinne Propagandafilme zu sein: So etwa Carl Froelichs Melodram Heimat von 1938 mit Zarah Leander und Heinrich George in den Hauptrollen. George, wie so oft auch hier auf die Figur des autoritären Vaters abonniert, erwartet die Rückkehr seiner mit ihm zerstrittenen Tochter (gespielt von Leander), die mittlerweile eine erfolgreiche Sängerin ist. Die Überwindung des wilhelminischen Ehr- und Autoritätsbegriffs durch einen naturgegebenen Familiensinn passt zur Heimatideologie der Nationalsozialisten in Friedenszeiten, wenngleich eine solche Argumentation in den 1940er- Jahren bereits überholt sein wird. Subtil, aber dennoch verräterisch wird außerdem die Kriminalität des kapitalistischen Bankdirektors, der aufgrund seiner Machenschaften Selbstmord begeht, kommuniziert. 1930er: Europa er frühe Tonfilm in Europa verbleibt zunächst in der gängigen Praxis der internationalen Distribution, wozu die gängige Übersetzung der Zwischentitel nunmehr durch die parallele Produktion mehrerer Sprachfassungen (etwa Die drei von der Tankstelle auf französisch) ersetzt wird. Manchmal werden noch Parallelfassungen in stumm und mit Ton produziert, da etliche Kinos noch nicht umgestellt sind; diese Praxis stirbt aber in den meisten Ländern schon nach wenigen Jahren aus. Das politische Kino spielt in etlichen europäischen Ländern eine Rolle, neben der Sowjetunion insbesondere im seit 1922 von Benito Mussolini regierten faschistischen Italien und im bürgerkriegsgeschüttelten Spanien. Der frühe Tonfilm in Großbritannien ist in technischer Hinsicht von amerikanischen Modellen dominiert, was die ohnehin deutliche Orientierung am US-Film weiter verstärkt. Alfred Hitchcock (1899-1980), der sich bereits als Stummfilmregisseur einen Namen gemacht hat, wird nach Einführung des Tonfilms beauftragt, seinen Film Blackmail (1929) teilweise nachzudrehen, um nachträglich Synchronton einzufügen. Hitchcock passt sich der neuen Technik schnell an, unterscheidet sich aber von den später als ‚Auteurs‘ gefeierten Regisseur: innen von Beginn an dadurch, dass er sich nur kurz an Drehbüchern versucht und in seinen berühmtesten D <?page no="91"?> 1931 bis 1940 Die Ankunft des Tons 91 Filmen auf Drehbücher anderer Autor: innen vertraut. Zu Hitchcocks wichtigsten Filmen der Dekade gehören The Man Who Knew Too Much (1934), The 39 Steps (1935) und The Lady Vanishes (1938), in denen seine präferierten Genres Spionagefilm, Kriminalfilm und Thriller, allesamt mit melodramatischen Tendenzen, bereits angelegt sind. Neben Hitchcocks Filmen, die damals schon als eigenständige Marke begriffen (und beworben) werden, sind besonders Musikkomödien und Historienfilme im Großbritannien der 1930er erfolgreich. Die allgemeine soziale Trennung in Mittel-/ Ober- und Unterklasse des Vereinigten Königreichs schlägt sich auch im Besuch verschiedener Kinos nieder, sodass dort noch mehr als in anderen Ländern eine nach Klassen und Kaufkraft unterschiedliche Filmsozialisation die Folge ist. In Frankreich beginnt der Tonfilm wie in Deutschland im Jahre 1929 mit zwei Filmen, die wie The Jazz Singer nur einige gesungene Passagen enthalten - L’Eau du Nil von Marcel Vandal und Le Collier de la Reine von Tony Lekain und Gaston Ravel. Den Durchbruch feiert der französische Tonfilm ausgerechnet mit René Clairs Sous les toits de Paris (1930), der in Frankreich floppt, aber weltweit ein Erfolg ist. René Clair (1898-1981) gehört ohnehin zu den interessantesten Filmemacher: innen im Europa der 1930er-Jahre. Er beginnt seine Karriere in den 1920er-Jahren im ‚abstrakten Film‘ ( Entr’acte , 1924) und etabliert sich in der Folge als wandelbarer Regisseur. Die Musikkomödien Le Million (1931) und À nous la liberté (1931) gehören zu den stilistisch ausgereiftesten Filmen des frühen Tonfilms in Frankreich. Insgesamt fängt sich die französische Filmindustrie in ökonomischer Hinsicht durch den Tonfilm. Abgesehen von den weltkriegsgeprägten 1940er-Jahren produziert Frankreich von 1931/ 32 an etwa 130 Filme pro Jahr - eine Quote, die sich bis heute hält. Zwei Emigrant: innenwellen - aus dem neusowjetischen Russland in den 1920er-Jahren und aus Nazideutschland sowie Ostmitteleuropa in den 1930er-Jahren - prägen die Pariser Filmszene stark. Unter den Franzosen schaffen neben René Clair auch Jean Renoir, Abel Gance und Marcel L’Herbier problemlos den Übergang in die Tonfilmzeit. Jean Renoir (1894-1979) dreht mit dem Weltkriegs-Film La grande illusion (1937), der Zola-Adaption La bête humaine (1938) sowie La règle du jeu (1939) drei seiner wichtigsten Filme. Wie Clair zeichnet auch Renoir maßgeblich für viele der Drehbücher verantwortlich, die er verfilmt - diese Praxis wird zwei Jahrzehnte später als vorbildlich für die aufkommende Nouvelle Vague und die Verkündung des Autorenfilms gelten. Neben diesen Altbekannten ist auch Jean Vigo (1905-1934) zu erwähnen, der nach nur drei Kurzfilmen und einem Langfilm - ein weiterer ist umstritten - im Alter von 29 Jahren an Tuberkulose stirbt. Sein großes Werk L’Atalante (1934) über eine märchenhafte Reise mit dem gleichnamigen Schiff ist einer der zentralen Filme, die sich der Weiterentwicklung der subjektiv-assoziativen Erzählweise der Impressionist: innen widmen und manchmal als Beispiel für den filmischen „poetischen Realismus“ herangezogen werden. Stilistisch weicht Vigos Film jedoch stark von den eher dunklen, auf Kontrast hin beleuchteten Filmen der poetischen Realisten wie Julien Duvivier oder Pierre Chenal ab. Die Straßenfilme von Chenal (wie etwa La Rue sans Nom , 1933) gelten neben Fritz Langs Filmen manchmal als stilistische Vorläufer des Film noir. Auch die Dominanz US-amerikanischer Stars bröckelt im Frankreich der 1930er-Jahre, indem sich eine neue Generation von Varieté- Schauspieler: innen dem Film zuwendet und dort ein eigenes französisches Starsystem begründet. <?page no="92"?> 92 Handbuch Filmgeschichte In der Sowjetunion kommt 1922 bereits Josef Stalin an die Macht. Er benötigt nach Lenins Tod 1924 jedoch einige Jahre, um die autokratische Position des Generalsekretärs noch weiter zu stärken und auszubauen. Zwischen 1928 und 1932 findet infolgedessen eine massive Umwälzung statt, die mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaftsbetriebe, dem Aufbau des Industriesektors und der sogenannten „Kulturrevolution“, einer De-facto-Gleichschaltung des in den 1920er-Jahren blühenden Kulturbetriebs, im Zusammenhang steht. Die daraus resultierende ‚neue Ordnung‘ macht das Kino zwar erschwinglicher und attraktiver für einfache Bürger: innen, künstlerisch wird die ursprüngliche Spannbreite der sowjetischen Filmproduktion jedoch stark reduziert. Die intensive Diskussion um die Einführung des Tonfilms - Eisenstein etwa ist ein populärer Gegner - ist eine der letzten ideologischen Schlachten, die abseits von Politbüros und Zensurbehörde geschlagen wird. Ab 1934 gilt die neue Doktrin des „sozialistischen Realismus“, von der z. B. die Forderung ausgeht, dass präzise ideologische Formeln in die Filme zu integrieren seien - etwa die Vorstellung, dass die KPdSU von der Gesellschaft Unterstützung erfahren müsse. Das Stichwort partijnost - Parteilichkeit - wird dafür repräsentativ. Die Filme des sozialistischen Realismus sind zumeist dialektische Erzählungen um Helden, die einem positiv konnotierten Vorbild folgen - das kann etwa ein Parteifunktionär oder eine historische Persönlichkeit sein - und dadurch einem Feind widerstehen oder ihn erkennen und enttarnen, wodurch sie als bessere Menschen aus dem Konflikt hervorgehen. Bevorzugte Genres sind der Kinderfilm zwecks einer früh einsetzenden sozialistischen Erziehung, historische Schauspiele, in denen historische Heldentaten oft auf anachronistische Weise ‚aktualisiert‘ werden, Revolutions- und Bürgerkriegsfilme sowie musikalische Komödien. Hingegen bringt das Sowjetkino der 1930er-Jahre nur noch sehr wenige Arbeiterfilme hervor. Und nicht zuletzt prägt die allgemeine politische Lage unweigerlich ein spiegelbildliches Kino der Paranoia aus, was sich darin zeigt, dass etliche Filme über Saboteure und Verräter gedreht werden. Einigen wenigen Filmen gelingt der Spagat zwischen Parteilinie und künstlerischem Ausdruck, sodass in dieser Dekade neben viel einheitlicher Kost auch Sergei Eisensteins und Dmitri Wassiljews Aleksandr Nevskiy (1938) und Grigori Alexandrows Vesyolye rebyata [Lustige Burschen] (1934) entstehen. <?page no="93"?> 1931 bis 1940 Die Ankunft des Tons 93 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts Propaganda Durch die Umfunktionierung etlicher Nationalkinos im Sinne totalitärer (oft faschistischer) und martialischer Regimes zu staatlichen Kommunikationsorganen wird der Missbrauch des Kinos zu Propagandazwecken in den 1930er-Jahren in etlichen Ländern zur Normalität. Neben dem Naziregime in Deutschland, das wohl am weitreichendsten auf das Kino als Indoktrinationsmaschine vertraut, nutzen auch die Faschisten in Italien und Spanien sowie die Nationalshintoisten in Japan und die Sowjets in der Sowjetunion Mittel der Propaganda, um ihr an starken Führerpersönlichkeiten ausgerichtetes Weltbild zu lehren und zu festigen. Da der Begriff ‚Propaganda‘ oft vorschnell für alle Arten von ideologischer Kommunikation verwendet wird, bietet sich hierbei eine klare Differenzierung und eine präzise Definition an, wie sie etwa Richard Taylor in seiner Arbeit zu Propaganda und Film anbietet: „Propaganda ist der Versuch, durch die Weitergabe von Ideen und Werten die öffentliche Meinung eines Publikums zu beeinflussen. [...] [Sie] kann sowohl die Bestätigung bestehender Neigungen als auch die ‚Umwandlung‘ in bisher nicht offensichtliche Neigungen umfassen; Propaganda bestätigt und ‚konvertiert‘ [...] [Sie] richtet sich an ein bestimmtes Publikum und manipuliert dieses Publikum für seine eigenen Zwecke.“ (Taylor 1979, 15) Mickey Mousing Der Aufstieg des Animationsfilms in den 1930er- Jahren bringt auch eine Vertonungskonvention mit sich, die immer wieder abschätzig als dümmste aller Filmmusik-Techniken verschrien wird und bis in die Jetztzeit als Schimpfwort für mit dem Bild besonders deckungsgleiche Musikbegleitungen verwendet wird. Mickey-Mousing reicht aus heutiger Sicht von Treppenanstiege begleitenden Tonleitern bis hin zu Hans Zimmerschen Rhythmusschlägen in dynamischen Action-Sequenzen. Thomas Cohen liefert eine insgesamt gute Arbeitsdefinition dazu: „[Es] wurde abfällig als ‚Mickey Mousing‘ bezeichnet, [wenn] der Rhythmus und die melodische Kontur der Musik genau der Bewegung der visuellen Ereignisse auf der Leinwand entsprechen. In Disneys The Mail Pilot (1933) z. B. führt, als Mickeys Flugzeug über Berge springt, die Serie von Tonhöhen in der begleitenden Flötenlinie synchron ebenfalls ‚Sprünge‘ aus.“ (Cohen 2012, 3f) Lichttonverfahren Der frühe Tonfilm widmet sich insgesamt drei Techniken zur Herstellung synchronen Filmtons - dem schon bald obsoleten, weil ungenauen und umständlichen Nadeltonverfahren , dem bald wieder verworfenen Magnettonverfahren sowie dem Lichttonverfahren , das sich mehr oder weniger bis zum Beginn des digitalen Zeitalters durchgesetzt hat. Dieses basiert auf einer auch materiellen Synchronität, was seine Bevorzugung intuitiv klarer erscheinen lässt als die anfänglichen Debatten in den 1930er-Jahren suggerieren mögen. Wolfgang Mühl- Benninghaus bringt die Technik wie folgt auf den Punkt: „Das Lichttonverfahren basiert auf der photographischen Abbildung des Tons am Rand des Filmstreifens. Auf diese Weise sind Bild und Ton untrennbar miteinander verbunden, und bei einer etwaigen Beseitigung eines Filmrisses werden beide Medien in gleichem Maße gekürzt.“ (Mühl-Benninghaus 2001, 206) <?page no="94"?> 94 Handbuch Filmgeschichte Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Arigatô-san » Regie: Hiroshi Shimizu » Land | Jahr: J | 1936 Eine Reise durch die ländlichen Gefilde Japans, die Sorgen und Nöte der dortigen Bewohner: innen auf poetische Weise in den Mittelpunkt rückt. Filmtipp Good Morning, Eve! » Regie: Roy Mack » Land | Jahr: USA | 1934 Irrwitziges Kurzmusical, das eines der frühesten Farbfilm-Experimente darstellt und manche narrative Überraschung beinhaltet. Filmtipp L’Atalante » Regie: Jean Vigo » Land | Jahr: F | 1934 Die wundersame Reise des Schiffes „Atalante“ ist wie eine lyrische Lebensreise, auf der die Vielfalt der menschlichen Existenz auf die räumliche Enge des dahinschippernden Gefährts projiziert wird. <?page no="95"?> 1941 bis 1950 · Krisengeschütteltes Kriegskino Die 1940er-Jahre sind einerseits vom Zweiten Weltkrieg und andererseits von der Neuorganisation der größtenteils in Trümmern liegenden Filmproduktionsapparate in seinem Nachfeld geprägt. Die relativ liberale Phase im US-Kino des frühen Tonfilms nimmt damit ebenfalls ein Ende und neben die strikte Umsetzung des Hays Codes tritt eine veritable Jagd auf echte und vermeintliche Kommunist: innen, die insbesondere etliche europäische Immigrant: innen aus dem Studiosystem aussortiert und auf eine berüchtigte ‚schwarze Liste‘ der nicht arbeitsberechtigten personae non gratae setzt. In Italien beginnt derweil mit dem noch während des Zweiten Weltkriegs Fuß fassenden Neorealismus die erste Strömung des häufig so genannten ‚modernen Films‘, der für etliche Neuerungsbewegungen der folgenden Dekaden prägend und beispielhaft sein wird. 1940er: Globales Kino exiko erlebt von 1946 bis 1952 durch die freimütige Filmpolitik der Regierung ein erstes ‚goldenes Zeitalter‘. Konkret bestehen die Maßnahmen darin, dass die Filmindustrie von der Einkommenssteuer befreit wird sowie eine nationale Filmbank zur Finanzierung von populären Filmen gegründet wird. Das Attribut „populär“ sollte dabei jedoch hellhörig machen, es handelt sich also vornehmlich ökonomisch gesehen um einen Aufschwung: Die meisten Filme sind im Resultat sehr formelhaft, da die Bank nur Projekte mit guten Erfolgsaussichten finanziert. Nur wenige Talente dürfen Regisseure werden, darunter Emilio „El Indio“ Fernández (1904-1986), der allen ungünstigen Umständen zum Trotz einen eigenen Stil und qualitativ hochwertige Filme produziert wie z. B. die Shakespeare-Adaption Enamorada (1946). Auch wenn der Spanier Luis Bu ñ uel eher zufällig und als Konsequenz der Wirren des Spanischen Bürgerkriegs, in dem sich unter Franco letztlich die Faschisten durchsetzen und bis in die 1970er-Jahre hinein an der Macht halten, in Mexiko landet, mag ihn das ‚goldene Zeitalter‘ doch angelockt haben bzw. die richtigen Produktionsbedingungen geschaffen haben. Wie nahezu überall, wo er Filme dreht, macht sich Bu ñ uel jedoch so- M <?page no="96"?> 96 Handbuch Filmgeschichte gleich bei den Obrigkeiten unbeliebt, indem er den italienischen Neorealismus nach Mexiko importiert und mit Los Olvidados (1950) eine schonungslose Kritik der Lebensbedingungen in den Slums von Mexico City schafft. 1939 wird nach einer Verfügung durch den Präsidenten in Brasilien eine nationale Filmquote eingeführt, die die Produktion substanziell anregt. In den 1940er- und 50er- Jahren wird infolgedessen das Studio Atlântida Cinematográfica als Qualitätsproduzent berühmt. Es greift die in den 1930er- Jahren etablierte Tradition des chanchada auf. Chanchada ist ein ursprünglich pejorativ gemeintes Wort für die Musikdramödien von Cinédia (Studio). Diese sind stilbildend für die besonders teuer produzierte und realistischere brasilianische Telenovela, die unter den lateinamerikanischen Konkurrenten seit den 1970er-Jahren hervorsticht. Der frühe Film Ghanas kann als besonderes Beispiel des ‚Kolonialkinos‘ gelten. Mit der Gründung der Gold Coast Film Unit beginnt 1948 die Filmgeschichte des westafrikanischen Staates. Die Screenings finden in großen gelben Bussen statt und kosten keinen Eintritt. Dafür handelt es sich nicht um Unterhaltung, sondern um den von einem rückständigen kolonialen Menschenbild geprägten Versuch der „Erziehung“ des Publikums. Gezeigt werden Dokumentarfilme, Newsreels und Aufklärungsfilme der Regierung. Insbesondere findet im Zuge dessen auch eine Zweitverwertung von Kriegspropaganda statt. Später kommen Bildungs- und Spielfilme hinzu, die die westliche Zivilisation als strahlendes Positivbeispiel der als rückständig inszenierten traditionellen afrikanischen Zivilisation gegenüberstellen und für Aufklärung über abergläubische Praktiken sorgen sollen. Unter den wenigen positiven Effekten dieser kulturchauvinistischen Praxis ist die damit einhergehende technische Ausbildung regionaler Filmemacher: innen zu nennen, welche das Personal für die eigene ghanaische Filmproduktion stellen werden. Diese wird jedoch erst in den 1960er-Jahren angeschoben werden und erst in den 1980er- Jahren nach dem heutzutage überregional berühmten Gollywood-System organisiert werden. Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist für China gleichbedeutend mit dem Ende der japanischen Besatzungszeit. Aus filmhistorischer Sicht bedeutet dies die Geburt des sogenannten zweiten ‚goldenen Zeitalters‘, das von Melodramen geprägt ist. Als paradigmatisch dafür gilt in der Regel Yijiang chun shui Xiang Dong Liu (1948, Die Wasser des Frühlingsstromes fließen nach Osten), das als Chinas Gone with the Wind angesehen wird. Ein perfektes Ehepaar wird darin vom Krieg getrennt, weil der Mann sich der Kuomintang-Regierung anschließt, dem faschistischen Regime, das China in der Realität von 1928 bis 1949 regiert. Dort steigt er im Rang auf und heiratet eine Dame, für die seine Ehefrau später als Dienstmädchen eingestellt wird. Als dieses Drama herauskommt, verstößt der Mann seine erste Frau und ertränkt sich anschließend im Yangtse- Fluss. 1940er: Deutschland ie Filme im Nazideutschland der 1940er-Jahre unterscheiden nach wie vor zwischen der von Joseph Goebbels deklarierten Opposition von Unterhaltungs- und Propagandafilm. Im Alltagsgeschäft des Unterhaltungskinos nehmen Historienepen einen noch größeren Stellenwert ein, so etwa diejenigen Filme, die der Vereinnahmung von Bismarck - wie in Bismarck (1940) und Die Entlassung (1942) von Wolfgang Liebeneiner - sowie Friedrich II. - wie in Der große König (1942) - als nationale Mythosgestalten gewidmet sind. D <?page no="97"?> 1941 bis 1950 Krisengeschütteltes Kriegskino 97 Indessen werden im Verlauf des Zweiten Weltkriegs, und insbesondere nach dessen entscheidender Wende, Verbote von ursprünglich groß angelegten und teuer produzierten Filmen immer üblicher. Insbesondere die Darstellung des Militärs ist ein üblicher Anlass für derartige Verbote in letzter Minute. Untersagt wird unter anderem die Aufführung von Titanic (1943, Herbert Selpin) und Große Freiheit Nr. 7 (1944, Helmut Käutner). War die erste Propagandaphase um 1933 dem Dekret nach für die Etablierung des nationalsozialistischen Menschenbildes verantwortlich, folgt ab 1939 die zweite Propagandaphase zur Festigung des Feindbildes. Es ist naheliegend, dass zu jener Zeit einige der beschämendsten und niederträchtigsten Filmzeugnisse der gesamten Filmgeschichte entstehen, die sich insbesondere im antisemitischen und antibolschewistischen Film in ihrem ganzen menschenverachtenden, faschistischen Hass manifestieren. Erich Waschnecks Die Rothschilds von 1940 befeuert die gängigen antisemitischen Verschwörungstheorien, während im selben Jahr Fritz Hipplers Der ewige Jude den vorläufigen Tiefpunkt markiert. Dieser gibt sich als Dokumentarfilm, um seine angebliche Faktizität zu untermauern, und zeigt, wie der „deutsche Idealismus“ vom „jüdischen Egoismus“ ‚bedroht‘ wird. Die erschreckendste Szene in Der ewige Jude steht in seinem Nachleben oft metonymisch für den gesamten Film: In einer Montage werden jüdische Menschen mit Ratten gleichgesetzt, was das traurige Erbe dieser Art von Propaganda auf den Punkt bringt. Aufgrund des anstehenden Krieges mit der UdSSR erfolgt schon bald die Verschmelzung des jüdischen mit dem bolschewistischen Feindbild in Ohm Krüger (1941, Hans Steinhoff), Heimkehr (1941, Gustav Ucicky) und ... reitet für Deutschland (1941, Arthur Maria Rabenalt). Andererseits wird für die Alliierten leicht durchschaubare Kriegspropaganda produziert, um die Existenz von Konzentrations- und Vernichtungslagern zu einer bloßen, vergleichsweise harmlosen Umsiedelungsmaßnahme umzudeuten. Im KZ Theresienstadt muss Kurt Gerron 1944 unter Zwang den Film Der Führer schenkt den Juden eine Stadt drehen, für den das Lager komplett umgestaltet und als lebenswerter Ort inszeniert wird. Viele der Insassen des Konzentrationslagers, die darin zu sehen sind, werden, nachdem der Film abgedreht ist, geradewegs nach Auschwitz deportiert und kommen dort ums Leben. Gerron selbst war als jüdischer Regisseur 1933 geflüchtet und wurde nach Kriegsbeginn von den Nationalsozialisten in den Niederlanden gefasst; er stirbt ebenfalls nur zwei Monate, nachdem er den Propagandafilm abgedreht hat, im KZ Auschwitz. Der größte wirtschaftliche Erfolg und gleichzeitig ein weiterer ideologischer Tiefpunkt der Epoche ist Jud Süß (1940, Veit Harlan). Um die 20 Millionen Zuschauer: innen sehen zu, wie die dergestalt inszenierte „Ermächtigung“ des jüdischen Protagonisten Süß Oppenheimer mit dessen Tod ‚bestraft‘ wird. Insbesondere die so deklarierte „Rassenschande“, das heißt das intime oder ehelich festgeschriebene Verhältnis eines sogenannten „Juden“ mit einem sogenannten „Deutschen“ wird in Jud Süß als Gipfel der Sünden Oppenheimers inszeniert. Harlan wird in den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik ein etablierter Regisseur und von seiner Propaganda geradezu freigesprochen sein. Sein Sohn Thomas Harlan, der in späteren Jahren zu einem hochinteressanten Filmemacher avancieren wird, setzt sich immer wieder mit der Nazizeit im Allgemeinen und seinem Vater im Speziellen, besonders im 2011 erschienenen Buch Veit, auseinander. Gegen Kriegsende wird der antisemitische Film zunehmend unwichtiger, da die Massenvernichtung und Deportation schon weit <?page no="98"?> 98 Handbuch Filmgeschichte vorangeschritten ist und das Feindbild längst selbstverständlicher Teil der nationalsozialistischen Ideologiediktatur geworden ist. Stattdessen werden Durchhaltefilme gedreht, deren berühmtester wohl Veit Harlans Kolberg ist, ein mit irrwitzigem Aufwand produzierter Farbfilm, der parabelartig das Städtchen Kolberg als heroisches Vorbild für den aufrechten Untergang inszeniert, dessen Bewohner: innen angesichts der napoleonischen Übermacht bis zum Letzten kämpfen und zwar verlieren, aber von der Geschichte mythifiziert werden. Wie in den meisten NS- Filmen ist die ideologische Parallele leicht durchschaubar. Kolberg wird jedoch nur noch von wenigen gesehen, da, wo die Kinos noch nicht zerbombt sind, nur noch selten eine Vorführung besucht wird - man hat 1945 in der Regel andere Sorgen. Lediglich an der Front gibt es vielerorts Screenings im kleinen Kreis der jeweiligen Militäreinheit. Als Deutschland nach der Kapitulation im Mai 1945 in vier Besatzungszonen aufgeteilt wird, laufen in den einzelnen Sektoren dominant Filme der jeweiligen alliierten Mächte. Diese sind neuen deutschen Produktionen der Nachkriegszeit in den ersten Jahren aus naheliegenden Gründen in jeder Hinsicht überlegen und wesentlich attraktiver für ein kriegsgebeuteltes Publikum auf der Suche nach neuen Eindrücken aus dem zu diesem Zeitpunkt schon exotisch erscheinenden Ausland. Auch wenn Via Mala oft als erster deutscher Film nach dem Krieg gilt, ist er jedoch bereits 1943 von Thea von Harbou geschrieben und 1944 gedreht worden - die Nationalsozialisten hatten ihn aufgrund seiner düsteren Stimmung und seines Themas des Tyrannenmordes abgelehnt, im Trümmerfilm findet er einen merkwürdigen und etwas fehlgeleiteten Platz am Anfang einer neuen Tradition. Viele Filme der Epoche nutzen die Trümmer als Kulisse und diskutieren anhand von kleinen Ensembles im Nachgang die Gesellschaft des Dritten Reiches und erörtern die Frage, wie die neue Ordnung aussehen sollte - darunter fallen Zwischen Gestern und Morgen (1947, Harald Brauns), der in einem zerbombten Hotel spielt, oder Die Mörder sind unter uns (1946, Wolfgang Staudte), der im zerbombten Berlin die Geschichte von Schuld und Entnazifizierung erzählt - die Selbstjustiz gegenüber einem Massenmörder des Dritten Reiches wird darin mit Verweis auf die wiederhergestellte Gewaltenteilung im neuen System vom Protagonisten unterlassen. Film ohne Titel (1947, Rudolf Jugert) setzt sich ironisch und selbstreflexiv mit dem anstehenden Richtungsstreit auseinander - dies führt jedoch nicht zu einer poetologischen Diskussion, sondern die Folgejahre zeitigen keine neorealistische Bewegung wie in anderen Nachkriegskinos. Das zerbombte Deutschland und Österreich werden auch Drehort für andere europäische Regisseure, wobei mit The Third Man (1949, Der dritte Mann, Carol Reed) und Germania anno zero (1948, Roberto Rossellini) zwei der bedeutendsten Filme der 1940er-Jahre entstehen. 1940er: Europa ach der Besatzung Frankreichs bemüht sich die rechte Vichy-Regierung die Kontrolle der Nationalsozialisten über die Filmindustrie zu begrenzen. Zu diesem Zweck gründet sie eine neue leitende Körperschaft mit Sitz in Paris namens Comité d’Organisation de l’Industrie Cinématographique, oder kurz: COIC. Zur Vichy-Zeit entsteht ein zu großen Teilen eskapistisches Kino, das gestützt von einer neuen Filmschule (Institut des hautes études cinématographiques, IDHEC) hervorgebracht wird. Riskante Themen sollen wegen N <?page no="99"?> 1941 bis 1950 Krisengeschütteltes Kriegskino 99 der deutschen Zensur vermieden werden, sodass Musicals, Kostümfilme, fantastische Filme oder Komödien Konjunktur haben. Neben viel Stangenware entstehen in den 1940er-Jahren jedoch auch einige große Klassiker des französischen Kinos wie Marcel Carnés Les enfants du Paradis (1945) oder Jean Grémillons Lumière d’été (1943). In diesen Filmen setzt sich ästhetisch der Trend der 1930er-Jahre relativ unbehelligt fort - solange das Kino nur unpolitisch ist, kann es sich in Ruhe formal austoben. Ausgerechnet Henri-Georges Clouzots Le Corbeau (1943) wird indessen als antifranzösisch und pronationalsozialistisch vom zeitgenössischen Publikum abgelehnt, wenngleich sich Clouzot darin an einer eindeutig antifaschistischen Parabel auf die Kollaborateure in Frankreich versucht: Ein anonymer „Rabe“ verschickt Briefe mit Denunziationen, die bald zur allgemeinen Praxis werden - der Clou der Geschichte ist, dass alle „der Rabe“ sind. Der Film bringt Clouzot nach dem Krieg massive Probleme ein, was seine Karriere beim Film angeht, und der Film wird erst 1969 neu veröffentlicht. Filme, die sich auf ästhetische und kulturelle Eigenheiten Frankreichs besinnen, sind indessen ungleich beliebter, da sie die ungeliebte Frage der Kollaboration schlichtweg ausblenden. Les enfants du Paradis wird im Gegensatz zu Le Corbeau beispielsweise als ‚urfranzösisch‘ angesehen. Das vornehmlich weibliche Publikum der Kriegszeit ist eine ideale Zielgruppe für den neuen melodramatischen ‚Frauenfilm‘, der sich im Frankreich der 1940er-Jahre entwickelt. Altmeister Abel Gance dreht im Zuge dieses Trends 1941 Vénus aveugle - darin begibt sich eine erblindete Frau mit ihrer körperlich beeinträchtigten Schwester auf eine imaginäre Reise auf der „Tapageur“ (‚lautes Boot‘). Viele Nachkriegsfilme holen die vom Eskapismus der 1940er-Jahre gerissenen Lücken auf und beschäftigen sich explizit mit dem Krieg. Die mit dem COIC etablierte milde staatliche Kontrolle setzt sich in der Vierten Republik ab 1946 mit dem CNC (Centre National de la Cinématographie) fort, was zu einer Stabilisierung der Filmindustrie führt, die bis heute anhält und dem französischen Nachkriegsfilm wieder zu einer wichtigen Position im internationalen Feld verhilft. Der Diktator Benito Mussolini deklariert in Italien wie fast alle seiner zeitgenössischen Berufskollegen den Film zu einer wichtigen Industrie, auch, da er sich zu Propagandazwecken anbietet. 1937 ruft er für die italienische Industrie die Vorgabe von „100 Filmen pro Jahr“ aus, was zu einem von Luchino Visconti später (im Jahre 1943) so genannten „Kino der Leichen“ führt. Tatsächlich stehen zu jener Zeit wenige im eigentlichen Sinne faschistische Filme einem Meer an eskapistischen Filmen in Fließbandproduktion gegenüber, die Standardgenres und beliebte Stars vermarkten. Besonders erfolgreich ist das Studio Cines, die beliebtesten Genres sind das der Komödie, das Melodram und der historische Kostümfilm. Das adlige Milieu der meisten Filme, die schillernde Illusion und der absurde Luxus der Protagonist: innen ohne ernsthafte Probleme reduziert sich in dem Bonmot der telefoni bianchi, der weißen Telefone, als welche die Adelskomödien und Kostümschmonzetten bald metonymisch und ironisch verschrien sind. In diese Abwesenheit jeden Realitätsbezugs zum Publikum stößt nun eine neue Generation von Filmemacher- : innen direkt hinein. Um 1940 unternimmt man erste Versuche, die Kunstprosa des 19. Jahrhunderts in Filmen zu adaptieren, um dem Kino wieder zu mehr Ernsthaftigkeit zu verhelfen - der daraus resultierende Trend ist heute fast verges- <?page no="100"?> 100 Handbuch Filmgeschichte sen. In Konkurrenz dazu positioniert sich eine dem Dokumentarfilm und dem frühen sowjetischen Kino gleichermaßen verpflichtete Gruppe von Filmschaffenden, die einen Bezug zur Realität herstellen will und gleichermaßen viel Geld durch den Dreh on location und die verhältnismäßig unschillernde Optik einspart. Nach einigen dem System noch verpflichteten Vorläufern um 1940/ 41 treten der Schauspieler Vittorio De Sica (1901-1974) und der frühere Jean-Renoir- Assistent Luchino Visconti (1906-1976) auf den Plan. Visconti regt auch mit seinem ausgestellten Privatleben zu sozialen Veränderungen an: Er ist einer der ersten offen homosexuellen Regisseure der Filmgeschichte. De Sicas I Bambini ci guardano (1942, ‚Die Kinder bewachen uns‘) und Viscontis Regie- Debüt Ossessione (1943) sind bereits Kino der Oppositon; De Sicas Film wird erst 1944 veröffentlicht und Viscontis Film läuft nur kurz im Kino, ehe er 1943 verboten wird. Sie sind ästhetische und thematische Gegenentwürfe, die den Fokus auf verarmte Figuren legen, die in einer dysfunktionalen Gesellschaft aufwachsen oder überleben: Der Neorealismus ist geboren. Zwischen 1945 und 1950 entstehen im Zuge dieser anti-illusionistischen Bewegung einige der größten Klassiker der italienischen Filmgeschichte: Roberto Rossellini (1906-1977) dreht 1944 und 1945 unter gefährlichen Bedingungen Roma, città aperta , der die humanistischen Bestrebungen des neuen italienischen Kinos europaweit bekannt macht. Klassensolidarität (in einem nicht-marxistischen Sinne), Mitgefühl und Empathie sind gewünschte Werte in einer vom Faschismus gebeutelten Gesellschaft - wie viele Bewegungen dieser Art ist auch diese an einen schriftlichen Vorläufer, hier die Zeitschriften Cinema (seit 1936) und Bianco e nero (seit 1937), gekoppelt. Der Output liest sich wie ein Katalog der Arthouse-Boxen: Vittorio De Sica dreht Sciuscià (1946) und Ladri di biciclette (1948), Roberto Rossellini Paisà (1946), Luchino Visconti La Terra Trema (1948) und Giuseppe De Santis (1917-1997) Riso Amaro (1949). Der Neorealismus wird einen starken Einfluss auf etliche Kinokulturen der 1950er- und 1960er-Jahre haben und bringt mit Visconti und Rossellini zwei der berühmtesten Regisseure Italiens überhaupt hervor. In Großbritannien kauft Michael Balcon 1938 die Ealing Studios, die für Musikkomödien bekannt sind, und fordert dort ebenfalls einen neuen Realismus im Kino. Um dieses Ziel zu erreichen, engagiert er Harry Watt und Alberto Cavalcanti (1897-1982), die aus dem Dokumentarfilm kommen. Diese probieren sich erst an mehreren Genres, woraus der experimentelle, episodische Horrorfilm Dead of Night (1945, Alberto Cavalcanti, Charles Crichton, Basil Dearden, Robert Hamer = Ealings Crème de la Crème) entsteht, außerdem das Melodram Pink String and Sealing Wax (1945, Robert Hamer). Ende der 1940er-Jahre konzentriert sich das Studio auf Komödien und schafft so die bekannten „Ealing-Komödien“. Das anfangs ausgerufene Primat des Realismus wird in Großbritannien hingegen eher von anderen umgesetzt, allen voran Jill Craigie. Jill Craigie (1914-1999) beginnt ihre Karriere als Autorin und Regisseurin in Personalunion mit den halbdokumentarischen Nachkriegsstatements Out of Chaos (1944) und The Way We Live (1946). Der Fokus auf die dörfliche Arbeiterklasse findet sich auch in ihrem letzten Spielfilm Blue Scar von 1949, der den walisischen Film stärkt und die Politisierung des britischen Kinos bildgewaltig repräsentiert. Damit nimmt Craigie etliche zentrale Elemente des britischen Kinos der 1950er- und 1960er-Jahre zurück, das als eines der ersten auf die neorealistischen Impulse aus Italien reagieren wird. 1951 dreht sie den Dokumentarfilm To Be A Woman , der sich mit dem Gehaltsgefälle zwischen <?page no="101"?> 1941 bis 1950 Krisengeschütteltes Kriegskino 101 den Geschlechtern kritisch auseinandersetzt und bereits zu diesem relativ frühen Zeitpunkt eine Angleichung der Gehaltsniveaus fordert, die es bekanntlich bis heute nicht gibt. 1940er: USA uch in den USA stellt das Kriegsende 1945 für die Filmindustrie in einigen Aspekten eine Zäsur dar, weshalb sich die Dekade der 1940er-Jahre hier wie fast überall in zwei Hälften teilen lässt. Die Emigrant: innenwelle nach dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland einerseits und nach Kriegsbeginn - und damit der Besatzung etlicher Länder Europas - andererseits bringt eine Vielzahl neuer Impulse in die USA, sodass sich etliche stilistische Entwicklungen der 1920er- und 1930er-Jahre jetzt in einem ungewöhnlich experimentellen Hollywood-Umfeld weiterentwickeln. Künstler: innen aller Couleur von Hanns Eisler über Charlie Chaplin bis hin zu Fritz Lang, Robert Siodmak und Maya Deren profitieren von der sogenannten „Red Decade“, in der eine große Offenheit gegenüber linksliberalen Gesellschaftsentwürfen zu stilistischer und ideologischer Vielfalt führt. Mit der Antagonisierung der dem Namen nach kommunistischen Sowjetunion gegen Kriegsende kippt die Stimmung in dieser Hinsicht gewaltig und etliche vormals respektierte Filmpersönlichkeiten gelangen auf die antikommunistische „Schwarze Liste“, müssen sich in Tribunalen verantworten und häufig das Land wieder verlassen. Während West-, Süd- und Teile Nord- und Mittel- Europas nach der flächendeckenden Befreiung vom Faschismus aufatmen und sich aus den Trümmern allmählich das Bedürfnis nach liberaler Kunst vielerorts wieder durchsetzt, durchleben die USA eine radikale konservative Wende, die das neue Feindbild des Kalten Krieges vom ersten Tag an schärft und quasi nahtlos Nazideutschland und Japan durch die ehemals alliierten Sowjets ersetzt. Aber nun zu den Filmen selbst: Die Animationsfilm-Koryphäe Tex Avery wechselt das Studio und heuert bei MGM an, wo ihm noch größere künstlerische Freiheiten zuteil werden und er einige seiner irrwitzigsten Filme produziert, die Dekaden später nachhaltigen Einfluss auf das Genre der erneuerten ‚erwachsenen‘ Animationsserie, wie es sich Ende der 1980er-Jahre mit den Simpsons etabliert, nehmen wird. In Averys Who Killed Who? erweist sich in einem selbstreflexiven Regelbruch der nicht-animierte Ansager des gleichnamigen Binnenfilms als der gesuchte Mörder in der irrwitzigen whodunit -Geschichte, während in The Cat That Hated People (1948) das gesamte Arsenal absurdistischer Anthropomorphisierungen zum Tragen kommt, wie es im Fernsehcartoon ab der folgenden Dekade zum Klischee gerinnen wird. Mit Alfred Hitchcock geht indessen einer der wichtigsten Stilisten Europas nach Hollywood und dreht dort in den 1950er-Jahren seine berühmtesten und formvollendetsten Filme. Der umtriebige Produzent David O. Selznick (1902-1965) ist es, der ihn anfangs für nur eine Produktion anwirbt. Dabei handelt es sich um Rebecca (1940), der für Hitchcock ein großer künstlerischer Erfolg ist und Selznicks ökonomischen Riecher bestätigt. Zwar knüpft der Produzent damit nicht an seinen Welterfolg Gone with the Wind von 1939 an, aber das wird tatsächlich kein einziger Film jemals tun, denn noch heute ist die etwas schwülstige Literaturadaption der inflationsbereinigt gesehen wirtschaftlichste Film aller Zeiten, wenn man transmediale Sekundärvermarktungswerte einmal ausklammert. Selznick hatte sich bereits Mitte der 1930er-Jahre mit Selznick International Pictures (SIP) unabhängig gemacht und damit eine neue Produktionsstudio-Kultur vor- A <?page no="102"?> 102 Handbuch Filmgeschichte weggenommen, wie sie in den 1950er-Jahren allmählich zur Norm werden wird. Nach Rebecca nimmt der Produzent ungewöhnlicherweise eine längere Auszeit vom Film und kehrt 1944 mit der Neugründung The Selznick Studio in die Branche zurück. Dort schreibt er Drehbücher, produziert weitere Filme für Hitchcock und ist mit Alexander Korda zusammen für einen weiteren großen Wurf der 1940er-Jahre verantwortlich: den im teils zerstörten Wien gedrehten Paranoia- Thriller The Third Man (Der dritte Mann) von Carol Reed, der den Zeitgeist der Täter-, Opfer- und Schwarzmarktgeschicke des kriegsgebeutelten Europas unter den schwierigen Bedingungen des Wiederaufbaus für das breite Publikum plastisch macht wie kaum ein zweiter. Weil Selznick von der zeitgenössischen Kritik und den Studiokolleg: innen immer wieder an Gone with the Wind gemessen wird, zieht er sich Ende der Dekade für eine Weile zurück und verantwortet in den 1950er-Jahren nur noch wenige Filme als Produzent. Er wendet sich kurzzeitig dem Fernsehen zu, aber seine ökonomische Glückssträhne ist mittlerweile abgerissen. Aus späterer Sicht wird Selznick für seinen Umgang mit Schauspieler: innen starker Kritik ausgesetzt sein, da er nach Rebecca systematisch seine größten Stars bei anderen Studios anpreist und ihnen dort teils ohne Vorabsprachen neue Anstellungen verschafft. Insbesondere die Schwedin Ingrid Bergman (1915-1982), eine der bekanntesten Schauspielerinnen des Jahrzehnts, wird sich später scharf von Selznick distanzieren und sein Vorgehen als „moderne Sklaverei“ kritisieren. Eine weitere in späteren Jahren für ihren grenzenlosen Narzissmus teilweise kritisierte Macherpersönlichkeit, die in den 1940er- Jahren unumstritten für Virilität und Gestaltungswillen steht, ist Schauspieler, Regisseur, Produzent und selbststilisiertes Genie Orson Welles (1915-1985). Wenngleich Welles’ Einfluss auf die Filmgeschichte enorm ist und sein stilpluralistischer Ansatz insbesondere Citizen Kane bis heute immer wieder als ‚besten Film aller Zeiten‘ an die Spitze verschiedener Top-Listen gelangen lässt, ist dies doch in erster Linie einem sehr stark USzentrierten Filmgeschichtsbild geschuldet. Welles hat zweifelsohne die notwendigen Ellenbogen, um im Hollywood-System der klassischen Phase zu bestehen und setzt damit neben einer rigorosen Selbstinszenierung etliche Innovationen durch - am bekanntesten diejenige des deep focus , der Tiefenschärfe, wie sie in Citizen Kane (1941) und The Magnificent Ambersons (1942) auf verschiedenste Weise durchexerziert wird. Dabei wird häufig vergessen, dass die vielen ästhetisch umwerfenden deep focus shots , also Bilder, in denen sowohl der Vorderals auch der Hintergrund gleichermaßen scharf zu erkennen sind, auf den Kameramann Gregg Toland zurückgehen, mit dem Welles zwar nur für Citizen Kane zusammenarbeitet, der jedoch seine Ästhetik mutmaßlich nachhaltig prägt. Citizen Kane kommt dabei von der ersten bis zur letzten Sekunde als ‚großer Film‘ daher und die eventifizierende Inszenierung sowie die selbstreflexive Nabelschau werden im ‚neuen Blockbuster‘ ab den späten 1970er-Jahren, der ebenso großen Wert auf seine weltöffnenden Expositionen und seine vielfältigen Bezüge zur eigenen Produktionsästhetik legt, wiederentdeckt und bis zum heutigen Tag zur Hollywood- Norm werden. Typischer als diese von den Zeitgenoss: innen doch recht ambivalent bewerteten und experimentelleren Versuche, mithilfe stilistischer Neuerungen und technischer Innovationen den Film weiterzuentwickeln, sind die groß angelegten Hollywood-Fabeln, die etablierte Genres vermischen, Realbezug und überzeitliche Fantastik paaren und wieder und wieder die großen amerikanischen Narrationen wie den ‚American Dream‘, die glückselige Immigration sowie die Erfüllung durch die eigene Familie - beruflich wie privat durch <?page no="103"?> 1941 bis 1950 Krisengeschütteltes Kriegskino 103 die Gründung eines Haushalts und eines Familienunternehmens - in den Fokus rücken. Mit An American Romance (1944) gibt es sogar einen ziemlich irrwitzigen Film, der gleich alle dieser Fäden aufnimmt und in seiner durchgetakteten Hochglanzproduktion in strahlendem Technicolor miteinander vereint. Ein stilistischer Impuls, der sich in allergrößten Teilen abseits der großen Produktionen im B-Movie-Segment der 1940er- und 1950er-Jahre etabliert, ist der Film noir. Neue Kamera- und Beleuchtungsstile, wie sie unter anderem von dem Kameramann John Alton in seinem Buch Painting With Light (1949) theoretisiert werden, führen zu einem neuen Look, der bis heute immer wieder aufgegriffen werden wird. Insbesondere B-Kriminal- und Boxer-Filme machen sich die Optik zunutze, um die urbane moralische Zwischenwelt, in die sich ihre Protagonist: innen begeben, zu beschreiben. Oft führt jene eine undurchsichtige, aber hochattraktive Frau - die femme fatale - in eine Zwangslage, aus der sie sich nicht mehr befreien können. Derartige Filme sind oft auch morality tales , sie gehen im Gegensatz zum üblichen Hollywoodfilm bisweilen nicht einmal gut aus. Die subjektiv verzerrte Perspektive des existenzialistisch von der Gesellschaft isolierten Subjekts drückt sich im chiaroscuro -Stil, also der aus der bildenden Kunst entnommenen Kontrastierung heller und dunkler Bildelemente, ebenso aus wie in Gitterbzw. Jalousienmustern, Inszenierungen von Undurchsichtigkeit (Rauch, Nebel etc.), Voice- Overs, manchmal von Totgeweihten, die sich auch inhaltlich bereits in einer Zwischenwelt befinden ( D.O.A. , Rudolph Maté, 1949). Das Thema der urbanen Unterwelt, deren verworrene, private Verbindungen nicht von der inkompetenten oder korrupten Polizei, sondern nur von einem Privatdetektiv oder einem privaten Subjekt durchschaut werden können, knüpft die A-Produktionen der Zeit oft an die populären hardboiled novels von Raymond Chandler [Philipp Marlowe] und Dashiell Hammett [Sam Spade], wie in The Maltese Falcon (1941, John Huston, Hammett) oder The Big Sleep (1946, Howard Hawks, Chandler). Diese Filme machen jedoch nur einen Bruchteil des Genres aus und sind stilistisch gesehen nicht gerade besonders typische Vertreter des Film noir. Ebenso wie die Inhalte sind jedoch auch die Themen nicht einheitlich: Altons Stil dehnt sich auch auf Filme wie He Walked By Night (1948, Alfred L. Werker, Anthony Mann) aus, der eher Polizei-, denn Kriminalfilm ist. Das alles liegt daran, dass der Film noir keine zeitgenössische US-amerikanische Bezeichnung, sondern ein in Europa etabliertes Kritikerlabel ist. Der italienischstämmige Franzose Nino Frank benutzt 1946 für die neue Gestaltungstendenz erstmals den Namen „Film noir“, im Deutschen oft „Schwarze Serie“, der von Filmemacher: innen und Studios jedoch erst Jahrzehnte später aufgegriffen werden wird. Zugehörige Genres sind der Kriminalfilm, der Sportfilm, das Melodram, der Roadmovie uvm., sodass der Film noir nur schwerlich als Genre, sondern eher als Stil, Strömung oder Modus im Sinne des Expressionismus oder des Neorealismus zu bezeichnen ist. Das Label Film noir bezieht sich indessen tatsächlich auf eine zu jenem Zeitpunkt bereits existierende schwarze Serie, nämlich die Bücher von Edition Gallimard, die seit 1945 in Frankreich herauskommen und Kriminalromane versammeln - auch hier ist die oft kolportierte Verbindung des Film noir zu Hard-boiled-Romanen jedoch brüchig, da erst nach nach Franks Artikel ab etwa 1948 Romane der Hard-boiled-Schule Teil der ‚Schwarzen Serie‘ werden. Aber lassen wir Nino Frank, der oft genannt, aber selten direkt zitiert wird, einmal selbst zu Wort kommen - hier der einflussreiche Schnipsel aus seinem Artikel zum „neuen Kriminalabenteuer“ in L’écran francais (1946): „[Es] haben diese „Noir“-Filme keine <?page no="104"?> 104 Handbuch Filmgeschichte Gemeinsamkeit mehr mit normalen Polizeidramen. Psychologische Verschwörungen, gewalttätige oder emotionale Handlungen haben weniger Auswirkungen als Mimik, Gesten, Äußerungen […]. Dies ist eine deutliche Verbesserung: Nach solchen Filmen wirken die Figuren im üblichen Polizeifilm wie Schaufensterpuppen.“ Was heute als Film noir stereotypisiert wird, findet sich besonders schlagend in den Filmen des deutschen Exilanten Robert Siodmak (1900-1973), der eine Zeit lang als Stilist einen vergleichbaren Ruf zu Alfred Hitchcock oder Orson Welles genießt, aber nicht dieselben nachhaltigen Marketing-Strategien verfolgt und bald nach Europa zurückkehrt. Criss Cross (1949) enthält geradezu paradigmatisch Stil- und Inhalts-Elemente des Film noir, wie er später zumeist verstanden werden wird. Die Ausdifferenzierung des Publikums und die Dominanz afroamerikanischer Künstler: innen im Jazz-Sektor führt in den 1940er- Jahren zu dem Trend des all black musicals : 1943 dreht Andrew L. Stone Stormy Weather mit Cab Calloway, Fats Waller und Lena Horne, im selben Jahr erscheint Cabin in the Sky von Vincente Minnelli, wiederum mit Lena Horne sowie mit Louis Armstrong und Duke Ellington. Die Jazzgrößen, die darin zu sehen sind, waren in den Jahrzehnten zuvor insbesondere in musical shorts , einer Art Vorläuferformat des späteren Musikvideos, inszeniert und vermarktet worden. Diese shorts laufen analog zu anderen Kurzfilmen als Vorfilme und bilden anfangs musikalische Novitäten und Kuriositäten ab, werden aber zunehmend zu einem Forum für die Kanonisierung des Jazz, in dem insbesondere afroamerikanische Performer: innen einen Platz finden, den sie andernorts in der Kinotradition in den 1920er- und 1930er-Jahren noch nicht innehaben. Auch andere Genres wie der Horrorfilm Son of Ingagi (1940, Richard C. Kahn) oder der Boxfilm Lucky Ghost (1942, William Beaudine) setzen all-black casts ein, jedoch meist im B-Movie-Bereich. Die A-Movie- Musicals sind daher für den afroamerikanischen Film ein großer Schritt vorwärts, der von der NAACP entsprechend sehr begrüßt wird. Das heißt aus heutiger Sicht natürlich nicht, dass diese Filme nicht von beschämenden Stereotypen durchsetzt wären: Immer wieder werden das Jazz-Setting als halbseiden inszeniert und Afroamerikaner: innen in einem kriminellen Milieu verortet. Einige Performer: innen machen sich diesen Ruf sogar aus einer unterprivilegierten Position heraus durch geschicktes Image-Marketing zunutze, nicht unvergleichbar den sehr viel späteren Gangsta-Rappern der 1980er- und 1990er-Jahre: In Hi De Ho (1947, Josh Binney) beispielsweise spielt der exzentrische Bandleader Cab Calloway vorgeblich „sich selbst“ als Dreh- und Angelpunkt einer kriminellen Unterwelt. Stuart Heisler dreht 1944 The Negro Soldier , einen Dokumentarfilm über die Kriegsbeiträge der Afroamerikaner, hier beispielhaft an einem Soldaten gezeigt. Auf den ersten Blick erscheint das wie wichtige Aufklärungsarbeit, letztlich handelt es sich jedoch auch um einen geschickt verkleideten Werbefilm, um zum Kriegsende hin mehr Afroamerikaner als Freiwillige an die Front zu locken. 1943 beginnt auch die ukrainischstämmige Filmemacherin Maya Deren (1917-1961) ihre Karriere mit Meshes in the Afternoon , den sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Alexander Hammid und einem Budget von 250 US- Dollar im eigenen Zuhause dreht. Der Film wird eine Experimentalfilmsensation und belebt die audiovisuelle Surrealismus- Debatte quasi eigenhändig neu. Außerdem ist er ein bleibendes Vorbild für die Low- Budget-Independent-Szene, die sich in den 1950er-Jahren stärker als zuvor positioniert und insbesondere auch Filmemacherinnen <?page no="105"?> 1941 bis 1950 Krisengeschütteltes Kriegskino 105 ein ansonsten wenn überhaupt nur spärlich vorhandenes Forum bietet. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führt der Personalmangel in mehreren Dokumentationsabteilungen dazu, dass mehr Frauen beschäftigt werden. Dies bedeutet nicht, dass in den 1940er-Jahren eine Welle von Frauen das Filmemachen übernähmen. Vielmehr wird es dadurch im nonfiktionalen Sektor einfacher, als Frau Regisseurin und gar Produzentin zu werden, im Gegensatz zu den eher traditionellen Rollen von Laborarbeit, Kontinuität, Garderobe und Make-up im Spielfilmbereich. Noch heute zieht sich die hier sichtbare Geschlechterlinie entlang der Linie von Spielfilm und Dokumentation, da die Egalität im dokumentarischen Bereich zumindest graduell mehr gegeben ist. Allerdings scheint eine direkte Verbindung zur um ein Vielfaches höheren ökonomischen Viabilität des Spielfilms, der Frauen in Regie- und Produktionsfunktionen immer noch häufig vorenthalten bleibt, zu bestehen, und selbst im Dokumentarfilmbereich kritisieren Filmemacher: innen wie Ruth Beckermann nach wie vor, dass die teuren, erfolgsversprechenden Dokumentarfilme etablierte Männer unter ihresgleichen aufteilen. Nach dem Krieg wird das Studiosystem Hollywoods zunächst von neuen Besucherrekordzahlen verwöhnt, die bis Ende der 1950er-Jahre mehr oder weniger anhalten - der bis heute gültige Box-Office-Rekord des Jahres 1946 wird indessen nie wieder übertroffen, was im Rückblick als erster Anhaltspunkt erscheint, dass der Zenit vorerst erreicht ist. Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg sind die USA jedoch als nicht im Krieg zerstörtes Land und Siegermacht in einer finanziell privilegierten Situation - die Gründung des House of Un-American Activities Committee (HUAC) 1947 ist jedoch Symptom und Triebfeder eines extremen gesellschaftlichen Wandels, der für die Filmbranche insbesondere in kreativer Hinsicht einschneidend ist. Die paranoiden Hexenjagd-Untersuchungen des Un-American Activities Committee (HUAC) zielen vorgeblich darauf ab, mutmaßliche Kommunist: innen und politisch Subversive innerhalb der Hollywood-/ Tinseltown-Community und der Filmindustrie auszumerzen, de facto handelt es sich jedoch um eine Denunziationsmaschine, die auch etliche Nicht-Kommunist- : innen die Karriere kostet. 1948 formiert sich eine zehn Personen starke Gruppe, die als „Hollywood Ten“ bekannt wird und aus denjenigen Drehbuchautoren, Produzenten und Regisseuren besteht, die sich weigern, vor dem Komitee auszusagen und die angebliche unamerikanische Beteiligung an kommunistischen Aktivitäten oder deren Sympathie zu bekennen. Die Namen dieser mutigen Freiheitskämpfer sind Lester Cole - Drehbuchautor, Dalton Trumbo - Drehbuchautor, Edward Dmytryk - Regisseur, Herbert Biberman - Regisseur/ Produzent, Alvah Bessie - Drehbuchautor, Ring Lardner Jr. - Drehbuchautor, John Howard Lawson - Drehbuchautor, Albert Maltz - Drehbuchautor, Samuel Ornitz - Drehbuchautor sowie Robert Adrian Scott - Produzent/ Autor. Wegen ihrer Weigerung zu kollaborieren, gelten die „Zehn“ als Verbrecher und werden teils bis zu einem Jahr lang inhaftiert. Sie werden mit einer Geldstrafe von 1.000 US- Dollar belegt, weil sie den Kongress missachten. Sie werden auch inoffiziell von der US- Filmindustrie auf die schwarze Liste gesetzt, was teils weitreichende und lang andauernde Konsequenzen für sie hat. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die das Spiel mitspielen und von den Säuberungen profitieren: Walt Disney, Louis B. Mayer, Elia Kazan, Bud Schulberg, Gary Cooper und Ronald Reagan, der seit 1947 Präsident der Screen Actors Guild ist, bezeugen die Existenz des um sich greifenden Kommunismus in der Branche. Schauspieler, Schriftsteller und Regisseure, die von unfreundlichen <?page no="106"?> 106 Handbuch Filmgeschichte Zeugenaussagen „auf die schwarze Liste“ gesetzt worden sind, dürfen in den Filmstudios nicht arbeiten, was letztendlich ihre Karriere verkürzt oder beendet, es sei denn, sie können heimlich unter einem Synonym arbeiten - wie Dalton Trumbo - oder in Europa. Auf diese Weise werden die Karrieren von über 300 Filmschaffenden und Stars auf der schwarzen Liste zwischen 1947 und 1952 ruiniert, ehe die HUAC-Untersuchung Mitte der 1950er-Jahre endet. An einem anderen Schauplatz zeichnet sich indessen das Ende der lange florierenden Hollywood-Oligarchie ab. Nach einem zehn Jahre andauernden Prozess wird 1948 das sogenannte Paramount-Urteil gefällt und macht Epoche. Die big five und die little three werden demnach gezwungen, ihre vertikale Integration einzuschränken, was ihre Vormacht beträchtlich schwächt und das System nachhaltig verändert. Dies ermöglicht insbesondere den Aufstieg des Independent-Films, aber auch die Etablierung des ‚next big thing‘-Prinzips, einer Konzentration der Studios auf spezifische, ökonomisch groß angelegte Etappenfilme, da Kinobetreiber nunmehr wieder größere Entscheidungsmöglichkeiten haben, wo das block booking durch die Studios faktisch der Vergangenheit angehört. Im Prinzip existiert diese Mechanik in abgewandelter Form bis heute - die meisten Studios sind nach wie vor abhängig vom Erfolg einiger großer Blockbuster und differenzieren mit den übrigen Filmen überspitzt gesagt mehr oder weniger den Geldspiegel in der Portokasse aus. Das Paramount-Urteil bedeutet im Rückblick den Anfang vom Ende des alten Studiosystems - zwar lässt die Erneuerungsbewegung noch eine ganze Weile auf sich warten, jedoch werden in den 1950er-Jahren bei unserem Patienten Film bereits erste Krankheitssymptome sichtbar - die ‚klassische Phase‘ neigt sich dem Ende zu. <?page no="107"?> 1941 bis 1950 Krisengeschütteltes Kriegskino 107 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts Das Tatsachen-Bild/ Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild Der Neorealismus ist für viele Filmtheoretiker: innen ein entscheidender Wendepunkt in der Filmgeschichte. Am Beispiel von Paisà entwickelt beispielsweise André Bazin seine Idee vom „Tatsachen-Bild“: „An die Stelle feststehender und vom Zuschauer lediglich mitverfolgter Handlungen nach dem Schema von Situation-Aktion- Situation, tritt […] das ‚Tatsachen-Bild‘, das zunächst für nichts Anderes, als für sich selbst steht. Die Ursache-Wirkungs-Logik wird aufgegeben, nun liegt es am Zuschauer aus der elliptischen Folge von Bildern einen Sinn zu konstitutieren, die Lücken zwischen den Fragmenten […] aufzufüllen.“ (Sandra Potsch, Fragmentierte Welten und verknüpfte Schicksale , 2014, 92) Gilles Deleuze folgt André Bazin darin, als er deutlich später sein berühmtes Konzept vom „Zeit-Bild“ ausarbeitet: „Eine entscheidende Wendung erfährt die Konstruktion von Erinnerung im Film, wenn sie nun teilweise autonom wird, sich von dem Gedächtnis des Subjekts oder der bereits erzählten Geschehnisse absetzt und eine eigene Qualität erhält, die sich nicht mehr in den Bewegungen der Gegenwart fortsetzt. In diesem Fall wären Erinnerung und Gedächtnis eigenständige Momente, die nicht mehr in der Sukzessionslogik des Films aufgingen. Die Organisation der Bilder im Film wäre dann nicht mehr sukzessiv und kausallogisch, sondern simultan, als Durchdringung von Schichten zu begreifen. […] Deleuze versucht deutlich zu machen, dass die von der Filmgeschichtsschreibung immer wieder herausgehobene historische Neuorientierung des Mediums, die sich zur Zeit des Neorealismus schon andeutete, entscheidend mit der Krise des Aktionsbildes zusammenhängt.“ (2002, 99) Zur Kunstphilosophie des Films (Béla Balázs, 1938) Béla Balázs richtet sich indessen bereits 1938 gegen die Idee, die Kunstfertigkeit des Films aus der neuen Technik der Kinokamera (mit allen metaphysischen Implikationen) abzuleiten. Die ersten zehn Jahre gab es laut Balázs in Europa nur mechanisch-industrielle Filmindustrie, aber noch keine Filmkunst. Diese konnte nicht in Europa entstehen, da dort ausschließlich Künste aus vorkapitalistischen Zeitaltern existierten; die Filmkunst ist die einzige Kunst des kapitalistischen Zeitalters und die Ideologie der amerikanischen Bourgeoisie war durch vorkapitalistische Traditionen nicht belastet. Der Film habe sich gegenüber anderen Künsten derart schnell entwickelt, dass frühere Stufen bereits 1938 lächerlich wirken. Diese beschreibt Balázs als „fotografiertes Theater“, eine Übergangsform vom Theater zum Film. Der frühe Film folgt den Prinzipien des Theaters: räumliche Totalität, gleichbleibende Distanz in einer Szene, gleichbleibende Einstellung des Bildes. Die Prinzipien des Films seien dagegen: 1. innerhalb der Szene wechselnde „Pläne“ (= Rahmen/ Kader); 2. innerhalb der Szene wechselnde Distanzen; 3. innerhalb der Szene wechselnde Einstellungen (Perspektiven); 4. Montage („Regisseur führt unser Auge“). Die Spezifika der Filmkunst sind darüber hinaus: a) Film kann per Parallelmontage/ Gleichzeitigkeit nicht nur suggerieren, sondern tatsächliche Gleichzeitigkeit erwirken; b) Film kann eine Szene aus verschiedenen Blickwinkeln zeigen (Auflösung in einzelne Einstellungen - „wechselnde Einstellungen“). on location als Authentifizierungsstrategie Ebenfalls geboren aus der Idee des Neorealismus ist das Filmen on location , das zwar oft aus der finanziellen Not geboren ist, aber zugleich als Authentifizierungsstrategie legitimiert wird. Etliche dem Realismus verpflichtete Strömungen werden gerade diese Strategie - verbunden mit der Nutzung natürlichen Lichts, der Hinwendung zu Laienschauspieler: innen und später der Präferenz für die verwackelte Handkamera - immer wieder kopieren und aufgreifen. „Dreharbeiten außerhalb eines Studios oder Nachbaus (also gewissermaßen ‚am Ort der Erzählung‘) erfolgen on location. Insbesondere dann, wenn Landschaften oder Städte, an denen die Handlung spielt, signifikant und signifikativ eingesetzt werden und als besondere Orte erkennbar sind, werden sie auch als Originalschauplätze bezeichnet. Sie wurden erst nach dem 2. Weltkrieg üblich - Filme wie Roma, Città aperta (1945) wurden zum Vorbild; die Straßenaufnahmen zu Wilders The Lost Weekend (1945) wurden z. B. in den frühen Morgenstunden in New York gedreht, die Szenen in der nächtlichen Klinik im <?page no="108"?> 108 Handbuch Filmgeschichte Bellevue-Hospital; Jules Dassin, der Naked City (1948) an mehr als 100 Außendrehorten in New York realisierte, verwendete sogar einseitig verspiegelte Autoscheiben, hinter denen er die Kameras verbarg, um Blicke in die Kamera zu vermeiden. Leichtere Kameras, empfindlicheres Filmmaterial, verbesserte Tonaufnahmen vereinfachten es zunehmend, die Studios zu verlassen. Mit den Programmatiken der Neuen Wellen anfangs der 1960er wurde der Dreh an Originalschauplätzen dann sogar zur ästhetischen Forderung. Die gestalterische Aufgabe, die die Requisite zu erfüllen hat, spricht oft gegen einen Dreh on location. Der Ausstatter kann die wichtigsten Elemente des Raums auswählen, sie nebeneinander anordnen und so eine Dichte schaffen, die man in der Realität nie erzielen kann. Dagegen sind die natürlichen Objektumgebungen oft unkontrolliert und heterogen.“ (Wulff 2011) <?page no="109"?> 1941 bis 1950 Krisengeschütteltes Kriegskino 109 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Sciuscià » Regie: Vittorio De Sica » Land | Jahr: I | 1946 Neben dem weltberühmten Meisterwerk „Ladri di biciclette“ gerät allzu häufig dieser fast ebenso brillante Film De Sicas zu Unrecht in Vergessenheit. Filmtipp Blue Scar » Regie: Jill Craigie » Land | Jahr: GB | 1949 Eine Milieustudie mit sozialkritischen Anliegen, die dem kitchen sink cinema um einige Jahre vorausgeht und auch heute noch anrührt und bewegt. Filmtipp Detour » Regie: Edgar G. Ulmer » Land | Jahr: USA | 1945 Die Malteser Falken fliegen meist eher in Sichtweite, aber das eigentliche Kerngeschäft des Film noir waren die vielen charmanten B-Movies, die seit einigen Jahren wiederentdeckt werden - Detour ist einer der schönsten. <?page no="111"?> 1951 bis 1960 · Im Angesicht des Fernsehens Die 1950er-Jahre sind insgesamt ein Jahrzehnt der Reinstatierung, der konservativen Wenden und gleichzeitig des Aufbegehrens einer neuen Jugendkultur, die mit der wiedergekehrten Kriegsgeneration bricht und diese erstmals offen kritisiert. Die Reaffirmation traditioneller Rollenbilder, die im Zuge der 1950er-Jahre in etlichen westlichen Gesellschaften vonstattengeht, wird insbesondere im sozialkritischen Regiefilm der Zeit reflektiert. Die Abhängigkeit der Frau vom Mann findet sich in Alfred Hitchcocks Vertigo (1958) ebenso wie in Luis Buñuels Él (1952), der erklärtes stilistisches Vorbild für Hitchcocks Film ist und sich mit der gesellschaftlichen Akzeptanz häuslicher Gewalt auseinandersetzt. Auch Federico Fellinis (1920-1993) La Strada oder Otto Premingers (1905-1986) Anatomy of a Murder (1959) thematisieren offen Gewalt gegenüber Frauen - während der eine die gesellschaftlichen Umstände zur Erweckung von Mitleid nutzt, drängt der andere in Form eines Gerichtsdramas zur Aufklärung eines Vergewaltigungsfalls. Gerade die Verbindung von Alkoholismus und häuslicher Gewalt ist wirksam, da hier eine kausale Verknüpfung der Verbrechen mit Drogenmissbrauch möglich ist - Billy Wilders (1906- 2002) The Lost Weekend von 1945 kann in der Hinsicht als stilbildend gelten. 1950er: USA n den 1950er-Jahren ist die Praxis des blacklisting politisch unliebsamer Personen im Hollywood-Studiosystem nach wie vor eine gängige Praxis. Dalton Trumbo, einer der „Hollywood Ten“ und einer der begabtesten Drehbuchautoren seiner Zeit, gewinnt jedoch an dieser Praxis vorbei im Jahre 1956 unter einem Pseudonym den Oscar für das beste Drehbuch. 1960 ergreifen Otto Preminger und Kirk Douglas (als Produzent) Partei für ihn und geben ihm die fälligen credits für Exodus und Spartacus . Diese Enthüllung ist der Anfang vom Ende der Blacklist-Praxis Hollywoods. Auch der restriktive Hays Code wird in diesem oft als extrem konservativ verschrienen Jahrzehnt allmählich aufgeweicht. Dem Regisseur Otto Preminger kommt auch hier eine Vorreiterrolle zu, da er bei United Artists das Risiko in Kauf nimmt, mehrere seiner Filme ohne das zuvor dringend notwendige Siegel der Kontrollbehörde trotzdem zu veröffentlichen. Überhaupt erscheinen die 1950er-Jahre im Rückblick als Auftakt für eine ganze Serie an Herausforderungen, denen sich das etablierte Studiosystem ausgesetzt sieht. Der wohl größte Einschnitt, der direkt die Quantität des Kinopublikums betrifft, ist der Aufstieg des Fernsehens - die 1950er-Jahre werden in etlichen späteren Fernsehgeschichtsschrei- I <?page no="112"?> 112 Handbuch Filmgeschichte bungen zum golden age of television deklariert. Auch wenn Gerät und Sender bereits in den 1940er-Jahren verfügbar waren, steigt es nunmehr zum Massenmedium mit eigenen Spielregeln und Konventionen auf. 1951 gibt es in den USA bereits 10 Mio. Fernsehzuschauer: innen; die Geräte sind zwar wie erwähnt seit etlichen Jahren auf dem Markt, aber nur wenige konnten sie sich aufgrund der hohen Preise leisten, und die Ausstrahlungen selbst fügen sich erst Ende der 1940erbis Anfang der 1950er-Jahre zu einem regulären Programm. NBC, CBS und ABC existieren bereits als die ‚öffentlichrechtlichen‘ Marken, die sie bis heute sind - anfangs gab es nur NBC, aber ähnlich wie in anderen Ländern gehen die nächsten Sender - CBS und ABC - aus NBC direkt hervor. In seiner Ur- und Frühgeschichte ist das Fernsehen noch weniger ein eigenständiges ästhetisches Medium, sondern vielmehr ein technischer Übertragungsapparat. Die Airtime muss zwangsweise irgendwie gefüllt werden, also wird ein Potpourri aus musikalischen Performances, Boxkämpfen, Predigten und alten Filme gesendet. Radio und Film sind die zentralen Vorbilder für diejenigen Unterhaltungsgenres, die sich binnen weniger Jahre auch als TV-Formate entwickeln: Sitcoms, Arztserien, Polizeiserien, Western, Abenteuer, Spielshows, Soap-Operas - alljene gelten bereits Anfang der 1950er-Jahre als etabliert. Neben Aufzeichnungen sind für die 1940er- und frühen 1950er-Jahre aber auch zwei Liveformate typisch: (1) die Comedy- Varieté-Show und (2) das anthology drama . Das Format Toast of the Town, später nach dem ersten erfolgreichen host in Ed Sullivan Show umbenannt, gilt mit seiner Mischung von verschiedenartigen Auftritten talentierter Personen lange als synonym zum erstgenannten Typus. Das anthology drama wird hingegen vom New Yorker Theater beliefert, wodurch die Bezeichnung als golden age of television herrührt - es handelt sich primär um ein inhaltlich-wertendes Label. Das Kraft Television Theater , Studio One , Philco TV Playhouse , Robert Montgomery Presents , Goodyear TV Playhouse , The U.S. Steel Hour und Playhouse 90 gestalten ein Programm, das einen enormen Kunstanspruch mit sich bringt - das Fernsehen wird erst später seinem Ruf als minderwertiges Unterhaltungsmedium in größerem Umfang gerecht werden. Durch den Komfort einer audiovisuellen Übertragung in die eigenen vier Wände wird Mitte der 1950er-Jahre die starke Konkurrenz des jungen Mediums für den Film längst spürbar. Die verspätete Reaktion der Filmbranche besteht derweil im Einstieg in TV- Produktionen als Erweiterung der vertikalen Integration der Studios. Vorreiter ist dabei Disney mit einer ABC-Serie ( Walt Disney’s Disneyland und zahllose Nachfolger, ab 1954), dann folgen Western- und Abenteuerserien von Warner Bros (ab 1955), ebenfalls für ABC. Um die Jahrzehntmitte setzt dann bereits der erste umfängliche Wandel des Fernsehens ein: vom Live-TV zum fiktionalen Programm. 1953 werden noch 80 Prozent des US-amerikanischen Fernsehprogramms live ausgestrahlt, 1960 sind es nur noch 36 Prozent. Serien mit wiederkehrenden Protagonist: innen lösen im Zuge dessen die theaterorientierten Anthologieserien weitgehend ab. Die Veränderungen im Lebenswandel des Publikums, die das Fernsehen mit sich bringt, sind für die Filmbranche geradezu niederschmetternd. Die stärkere Hinwendung zu zielgruppenkompatiblen Filmen wird auch vom Fernsehen mit geschärft, außerdem gehen junge Familien im Zuge des demographischen Wandels nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich seltener ins Kino als zuvor. Zwischen 1947 und 1957 halbieren sich die wöchentlichen Zuschauerzahlen. Die erste sichtbare Konsequenz daraus ist, dass eines der Big-five-Studios Konkurs anmeldet: 1957 schließt RKO seine Tore. <?page no="113"?> 1951 bis 1960 Im Angesicht des Fernsehens 113 Schon bald hat das adaptionsfähige und lernwillige Studiosystem Hollywoods jedoch eine Strategie parat: Es reagiert mit der Produktion zielgruppenspezifischer Blockbuster, trotzt dem noch in Schwarzweiß sendenden Fernsehen mit einer deutlichen Erhöhung der Farbfilm-Quote, und lässt überhaupt die technischen Muskeln spielen. Im Bereich der Farbe wird das mittlerweile althergebrachte Technicolor-System bald durch das einfacher zu produzierende Eastman Color verdrängt. Das Bild vergrößert sich durch verschiedene Widescreen -Formate, wie sie bis heute üblich sind - in den 1950er-Jahren werden sie unter den Namen Cinerama, Cinemascope und Vista Vision vermarktet. Später kommt eine Verdopplung der üblichen Bilddiagonale auf 70 Millimeter für Filme besonderen ökonomischen Interesses hinzu, der 3D-Film geht in seine erste Mainstream-Phase, die so verschiedene Produkte wie House of Wax (1953) und Dial M for Murder (1954) hervorbringt, und sogar der Geruchssinn wird in manchen Kinos durch die missglückte Pionierarbeit von AromoRama und Smell-O- Vision (beide 1958) angesprochen. Da das Fernsehen sich ideal für die Distribution von Kurzformaten eignet - vor allem fallen darunter Animationsfilme und Nachrichten, die aus dem Kinosaal folglich weitgehend verdrängt werden - reagiert Hollywood auch hier mit der Nutzung von Synergieeffekten, maßgeblich der Produktion von TV-Formaten durch die großen Studios. Aber nun zu den vielfältigen Entwicklungen des US-amerikanischen Films selbst. Nachdem Regisseurinnen in den 1930er- und 1940er-Jahren im Studiosystem weitgehend von der Bildfläche verschwunden sind, beginnt um die Jahrzehntwende die Schauspielerin Ida Lupino (1918-1995) ihre abwechslungsreiche Karriere. Nach ihrem Debütfilm Not Wanted (1949) dreht sie den innovativen Film-noir-Krimi The Hitch-Hiker (1953) über einen psychotischen Anhalter, der von zwei Fischern mitgenommen wird, sowie das Film-noir-Drama The Bigamist (1953) über einen Mann, der aufgrund einer Affäre von Gewissensbissen geplagt wird. Lupinos Filme haben einen starken psychologischen Fokus und einen wiedererkennbaren Personalstil; oft arbeitet sie auch an den Drehbüchern mit und ist keine reine Schauspielerin-Regisseurin, spielt nicht immer mit. Abseits der großen Studios vollzieht sich indessen in der Nachfolge des Paramount- Urteils der allmähliche Aufstieg des Independent -Kinos. Independent bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die dazu gezählten Produktionsfirmen nicht vertikal integriert sind, keiner Distributionsfirma angehören und auch keine solche besitzen. Eine der zentralen Figuren zu jener Zeit ist Roger Corman (*1926). 1953 beginnt er mit der Produktion sehr günstiger Filme - anfangs gibt er nur läppische 2000 US-Dollar für Highway Dragnet aus -, die sich an A- Vorbildern orientieren, diese aber auf sehr viel einfachere Weise nachahmen. Neben der Orientierung am A-Kino wird der Einfluss popkultureller Vorbilder aus Comic und Groschenroman deutlich. Mitte der 1950er- Jahre entsteht aus dem älteren Studio American Releasing Company (ARC) die AIP (American International Pictures), zu deren Hauptregisseur Corman avanciert. Oft zeichnen seine Filme kleine innovative Genre-Einfälle aus, die eine inhaltliche und formale Nähe zu B-Anthologieserien der Zeit aufweisen. Als Beispiel für einen dieser einfallsreichen Filme könnte man den von Corman geschriebenen und verantworteten Teenage Caveman (1958) nennen, der seine Handlung in der Steinzeit ansiedelt, welche sich jedoch in einem sozialkritischen Dreh als post-apokalyptische Gesellschaft herausstellt. Das ist ein Markenzeichen Cormans: trashige Filme, die zugleich gesellschaftlich Position beziehen. Oft spielen unbekannte Schauspieler: innen und die B-Movies haben aufgrund ihrer Distribution seit jeher eine <?page no="114"?> 114 Handbuch Filmgeschichte geringere Laufzeit (im genannten Beispiel sind es z. B. 65 Minuten), da sie oft als ‚zweite Filme‘ im Kino laufen. Die Systeme (Hollywood - AIP) durchdringen sich abgesehen von diesen gemeinsamen Ausstrahlungsterminen indessen nahezu gar nicht. Dies ändert sich jedoch in den 1960er-Jahren ein wenig, als Corman nicht nur maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des sogenannten New-Hollywood-Kinos nimmt, sondern sowohl für größere Studios arbeitet als auch ‚größere‘ Stars verpflichten kann. Aber auch Ed Wood (1924-1978), dem populären Label nach ‚schlechtester Regisseur aller Zeiten‘, da er den ‚schlechtesten Film aller Zeiten‘ Plan 9 from Outer Space (1959) verantwortet, arbeitet für AIP. 1980 wird ihm posthum der Golden Turkey Award als schlechtester Regisseur aller Zeiten verliehen - dies ist der Beginn einer ‚Trash-Revival‘- Bewegung, die als popkulturelles Phänomen bis heute andauert. Oft wird vernachlässigt, dass die 1950er- Jahre ein veritables Aufbruchsjahrzehnt für die US-amerikanische Popkultur darstellen. Die Beatniks verfassen einige ihrer Kerntexte in jenem Jahrzehnt und Chuck Berry, Elvis Presley, Fats Domino und Buddy Holly - um nur einige zu nennen - verändern für immer den Sound populärer Musik. Der schwelende Konflikt zwischen einer eigenständigen, aufbegehrenden Jugend- und Gegenkultur und dem konservativen Wertesystem der älteren Generation entlädt sich auch im Film - sehr einflussreich, wenngleich aus heutiger Sicht ein wenig handzahm in den Mainstream- Filmen mit Jung-Weltstar James Dean (1931- 1955) sowie weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit im experimentellen Beatnik-Film wie z. B. Pull My Daisy (Robert Frank, Alfred Leslie) von 1959. Die Dialektik des Innovativen und des Konservativen ist im Hollywood-Kino freilich kein neues Phänomen und wie immer orientiert sich das Studiosystem auf anpassungsfähige Weise an dem, was finanziellen Ertrag bringt. Viele der Grundlagen späterer filmischer Narrations-Kniffe werden in jenen Jahren popularisiert oder erstmals probiert: Der Film noir The Lady in the Lake (1946, Robert Montgomery) erhebt den point of view shot zum ästhetischen Primat und präsentiert gleich die gesamte Diegese ausschließlich aus der Perspektive seiner Hauptfigur. Eine derartig rigorose formale Insistenz zahlt sich jedoch selten aus, und so ist es auch hier: Das Beispiel macht nicht Schule, wird aber bisweilen retrospektiv als frühe Pionierleistung im Hinblick auf die für andere Medien - etwa das Videospiel - so wichtige Ego- oder First Person-Perspektive begriffen. Vier Jahre später nutzt Alfred Hitchcock Marlene Dietrichs Ruf als undurchdringliche femme fatale für die Inszenierung einer Rückblende, die aus gezielt gestreuten Falschinformationen der Hauptfigur besteht. Diese lying flashback genannte Technik wird später das sogenannte unzuverlässige Erzählen im Film stark beeinflussen. Stanley Kubrick (1928-1999) versucht sich in seinem Frühwerk The Killing (1956) derweil an einer formal durchstilisierten nichtlinearen Narration, wie sie zu jener Zeit noch sehr viel Aufsehen erregt. Neben der zweiten großen Phase des Filmnoir-Stils, die oft in den 1950er-Jahren angesetzt wird, entwickeln sich auch traditionelle Genres wie der Western und das Melodram in jenem Jahrzehnt in neue Richtungen. Der epische Western führt zur Monumentalisierung des mittlerweile extrem breitenwirksamen Genres, in welchem häufig nationale Gründungsmythen und Gesellschaftsmodelle verhandelt werden, und einige der berühmtesten Genrevertreter entstehen zwischen 1945 und 1959: Duel in the Sun (1945, King Vidor), Shane (1953, George Stevens), Rio Bravo (1959, Howard Hawks) sowie The Searchers (1956, John Ford). Das Melodram wird insbesondere als populärer Frauenfilm <?page no="115"?> 1951 bis 1960 Im Angesicht des Fernsehens 115 beworben und erlebt durch den Hamburger Exilanten Detlev Sierck, der in Hollywood als Douglas Sirk (1897-1987) bekannt wird, eine Blüte. All That Heaven Allows (1955) verurteilt scharf den Druck, den die Gesellschaft durch die genaue Beobachtung und Beurteilung des Individuums ausübt, und Imitation of Life (1959) beschäftigt sich kritisch mit der faktischen Situation der rassistisch motivierten Apartheid in den USA - in dem Film sagt sich die Hauptfigur Lora von ihrer Mutter los, da sie erkennt, dass sie hellhäutig genug ist, um ihre Wurzeln zu verleugnen. Dennoch wird ihre Herkunft immer wieder zum Thema und der Versuch des sozialen Aufstiegs scheitert Mal um Mal. Imitation of Life ist das Remake eines Films von 1934 und bleibt Sirks letzte Regiearbeit. Sozialkritische Filme der Zeit reflektieren also nicht nur Rolle der Frau, sondern auch der Afroamerikaner: in mit humanistischer Stoßrichtung. Auch Sidney Poitiers (*1927) Karriere als Schauspieler beginnt in jener Dekade und ist als bahnbrechend für die Etablierung afroamerikanischer Protagonist: innen im Hollywood-Kino anzusehen. Poitiers Debüt etwa, Joseph L. Mankiewicz‘ (1909-1993) No Way Out von 1950, lässt den afroamerikanischen Protagonisten als moralischen Sieger gegenüber seinen weißen Folterern hervortreten. In The Defiant Ones (1958, Stanley Kramer) sind zwei rassistisch verfeindete Gefängnisflüchtige aneinandergekettet und müssen die Zusammenarbeit trotz ihrer Differenzen zwangsweise erlernen. Stanley Kramer wird neun Jahre später den noch wesentlich einflussreicheren Guess Who’s Coming to Dinner (1967) - ebenfalls mit Poitier - drehen, in dem die Tochter einer weißen Familie, die sich selbst als liberal begreift, diese Auffassung zu reflektieren gezwungen ist, als sie ihren afroamerikanischen Verlobten zum Abendessen mitbringt. Natürlich gibt es auch die prominente Schattenseite der 1950er-Jahre, welche sie ultimativ als extrem konservatives Jahrzehnt berüchtigt werden lässt, das sich in sexistischen Manifestationen z. B. der romantic comedy niederschlägt. Gerade die Filme mit Doris Day lassen keinen Zweifel, welchen Platz die Frau nach all den Irrungen und Wirrungen der Courtship, in denen noch Spielraum existiert, einzunehmen hat. Am Ende von Michael Gordons (1909-1993) Pillow Talk (1959) wird sie gar buchstäblich unter Gegenwehr in die „Höhle“ des Protagonisten verschleppt. Auch das historische Epos, oft als „Sandalenfilm“ bezeichnet, zementiert eher althergebrachte Weltordnungen und macht einen nicht unerheblichen Teil des Hollywood- Blockbusters der Dekade aus. Einer der Hauptverantwortlichen für diese groß angelegten Monumentalfilme ist nach wie vor einer seiner Urheber, Cecil B. DeMille, der den in der Antike angesiedelten The Ten Commandments (1956) dreht. Auch Mervyn LeRoys Quo Vadis? (1951) wird ein großer Erfolg. Am Ende der Dekade filmt William Wyler mit Ben-Hur (1959) den wohl bekanntesten Genrevertreter überhaupt. Auch der Kriegsfilm hat - ähnlich wie in den 1920er-Jahren - Konjunktur und bereitet nunmehr häufig, am prominentesten wohl in The Bridge on the River Kwai von 1957, den Zweiten Weltkrieg auf. Das in den 1930er- und 1940er-Jahren zu immer größerer Opulenz und Exzentrik neigende Musical vertieft seine genretypische reflexive Note in den 1950er-Jahren noch stärker. Bis heute ist das Genre aufgrund seines Hangs zur Nabelschau ein beliebter Typus in systemnahen Produktionsumgebungen - 1952 entsteht mit Singin’ in the Rain (Gene Kelly, Stanley Donen) der möglicherweise berühmteste Vertreter der Zunft und setzt sich selbstironisch mit der Umstellung des Hollywood-Films zum Tonfilm, die ja wiederum das Musical erst ermöglicht hat, <?page no="116"?> 116 Handbuch Filmgeschichte auseinander. Auch Carousel (1956) und - einige Jahre später - My Fair Lady (1964) werden große Erfolge. Insbesondere My Fair Lady trägt noch die sexistische Handschrift der 1950er-Jahre, während der erzkonservative Flair von The Sound of Music den Film wie einen verspäteten Gruß aus der vergangenen Dekade 1965 zum breitenwirksamsten Musical überhaupt macht - zumindest in den USA. Es scheint, als hätten Gangster- und Kriminalfilm in dieser restriktiven Produktionsumgebung keinen Platz mehr, und tatsächlich wandert der Polizeifilm als relativ weichgespültes Format Dragnet erst ins Radio und dann ins Fernsehen. Der Film noir existiert derweil jedoch durchaus weiter und präsentiert sich immer ausgefallener, wird allerdings fast nur noch für den B-Movie- Bereich produziert. Eine wesentliche Ausnahme ist Orson Welles‘ Spät-Noir Touch of Evil von 1958 - der zweite des Regisseurs nach The Lady from Shanghai (1947). Der B-Sektor bringt aber insgesamt die interessanteren Filme jener Machart hervor und überbietet sich mit wahnwitzigen Produktionen wie Gun Crazy (1949), D.O.A. (1949), Nightmare (1956), The Big Heat (1953) und insbesondere den Filmen von Phil Karlson (1908-1982) wie Kansas City Confidential (1952), 99 River Street (1953) oder 5 Against the House (1955) fortwährend selbst. Auch die wichtigsten Filme von Alfred Hitchcock (1899-1980) fallen in diese Zeit, so z. B. Rear Window (1954), der als virtuose selbstreflexive Inszenierung der Montagetechnik des Kinos, von Hitchcocks Suspense -Idee sowie der neuartigen medialen Erfahrung des Fernsehens gleichermaßen gelesen werden kann - neben etlichen anderen Deutungen. Vertigo (1958) widmet sich der Unzuverlässigkeit des points of view und der Konstruktion von weiblichen Figuren durch den männlichen Blick - nicht zufällig greift Laura Mulvey den Film in den 1970er- Jahren als zentrales Beispiel ihrer feministischen Filmtheorie auf. Und ganz am Ende der Dekade steht natürlich Psycho (1960), dessen berühmte Duschszene den Hays Code an seine Grenzen bringt, da sowohl die explizite Nacktheit als auch der eigentliche Gewaltakt darin gar nicht zu sehen sind und durch die schnellen Schnitte suggestiv in die Köpfe des Publikums gesetzt werden. Auch die Inszenierung von Norman Bates‘ dissoziativer Identitätsstörung hat ein langes Nachleben, und der popkulturell hoch wirksame Film wird oft als erster Psychothriller der Filmgeschichte bezeichnet, wobei solche Labels immer mit Vorsicht zu genießen sind. Auch weitere Hitchcock-Filme der Dekade - North by Northwest (1959) etwa, oder Strangers on a Train (1953) - geben der Filmtheorie und Regisseur: innen in seiner Nachfolge viel Material zur Reflexion. Alfred Hitchcock perfektioniert in dieser Zeit seine selbstreflexiv aufgeladenen Psychogramme, die er mit melodramatischen Affekten und Suspense-Thriller-Narrativen vermischt. Da Hitchcock zudem ein singuläres Talent für die Selbstvermarktung besitzt, die sich auch in seiner relativ langlebigen TV- Anthologieserie Alfred Hitchcock Presents (1955 bis 1962) niederschlägt, werden etliche Zeitgenoss: innen von ihm häufig darüber vergessen. Aber auch Samuel Fuller (1912-1997) dreht mit dem Gangsterfilm Pickup on South Street (1953) einen seiner interessantesten Filme, dessen schonungslose Milieuzeichnung er zehn Jahre später in The Naked Kiss (1963) nochmals deutlich radikalisiert. Der Film wird vor allem durch seine eindringliche Eröffnungssequenz berühmt. In dieser verprügelt aus einem veridikalen point of view shot heraus die Protagonistin Kelly (Constance Towers) ihren Zuhälter, für den das Publikum somit gewissermaßen stellvertretend die Schläge entgegennimmt. Joseph L. Mankiewicz dreht indessen 1950 sein Opus magnum All About Eve und <?page no="117"?> 1951 bis 1960 Im Angesicht des Fernsehens 117 Richard Brooks (1912-1992) 1960 das seine, die Literaturadaption Elmer Gantry . Mit dem langsamen Ableben des live broadcast drama treibt es eine Gruppe von Regisseuren nach Hollywood, die durch ihre Erfahrungen mit Live-Fernsehen ganz eigene Inszenierungskonventionen an den Tag legen und damit bereits die ersten stilistischen Fährten zum New-Hollywood-Kino der 1960er- und 1970er-Jahre legen. Sidney Lumet (1924-2011) dreht 1957 das für einen Kinofilm höchst ungewöhnliche one-room drama Twelve Angry Men . John Frankenheimer (1930-2002) verantwortet im selben Jahr abseits von James Dean den eigentlichen Teenager-Film der Dekade, die Low-Budget- Produktion The Young Stranger . Und Arthur Penn (1922-2010), der mit Bonny and Clyde fast zehn Jahre später den Startschuss für das junge New-Hollywood-Kino geben wird, obwohl er selbst noch einer anderen Filmemacher: innengeneration angehört, dreht 1958 The Left-Handed Gun . Dieser ist einerseits ein repräsentatives Beispiel für Paul Newmans spezifischen Schauspielstil. Method acting , manchmal auch the Method , zielt auf die besondere Identifikation mit der verkörperten Figur ab und trägt in den 1950er-Jahren zu einem wesentlichen Wandel des Filmschauspiels bei. Andererseits stellt der Film ein frühes Beispiel für die Reflexionen und Neuausrichtungen des Western-Genres dar, die in den 1960er- und 1970er-Jahren als Subgenre oder vielleicht eher Trend des revisionist western Schule machen werden. 1950er: Deutschland eit 1949 existieren zwei deutsche Staaten und damit zwei nebeneinander her produzierende nationale Filmkulturen, die teilweise unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie werden daher ab diesem Zeitpunkt getrennt voneinander behandelt. In der Bundesrepublik Deutschland , gegründet am 23. Mai 1949, erlebt das Fernsehen, immer mit wenigen Jahren Verzug im Vergleich zu den tonangebenden USA, in den 1950er-Jahren ebenfalls seinen ersten großen Aufschwung. Existieren 1952 noch zu vernachlässigende 300 Apparate im gesamten Bundesgebiet, sind es 1955 bereits derer 100.000. 1957 wird die Millionengrenze überschritten und 1960 haben bereits 3,5 Millionen Haushalte ein Fernsehgerät vorzuweisen. Ähnlich wie in den USA wandern kürzere Formate wie Nachrichten ins Fernsehen ab, jedoch wird das Medium in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an stärker auf Unterhaltung ausgelegt, und von einem ‚goldenen Zeitalter‘ kann in jener Phase eher nicht gesprochen werden. Die bundesdeutsche Filmindustrie setzt sich indessen aus Neuanfänger: innen, Altnazis und Rückkehrer: innen zusammen. Einige Exegeten isolieren die Vaterfigur, die im NS- Film sehr dominant und autoritär gewesen ist, im Film der Bundesrepublik Deutschland durch ihr Fehlen, ihre Schwäche oder ihre Schuld als zentrales Motiv des Nachkriegskinos. Robert Siodmak kehrt aus den USA zurück und wendet den Stil des Film noir, den er dort mitgeprägt hat, auf etliche seiner BRD-Produktionen an, sogar auf die Gerhart-Hauptmann-Verfilmung Die Ratten (1955). Das schlagendste Beispiel ist jedoch Siodmaks eindringliche Abrechnung mit Triebmördern im Naziregime Nachts wenn der Teufel kam (1957). Das Idiom noir wird überhaupt im bundesdeutschen Film schon früh aufgegriffen, z. B. in Rudolf Jugerts Lkw-Fahrer-Drama Nachts auf den Straßen von 1952. Auch die Jugend- und Gegenkultur des US- Films ist ebenso wie die dazugehörige Rock’ n’Roll-Musik der 1950er-Jahre einflussreich S <?page no="118"?> 118 Handbuch Filmgeschichte für die Begründung des bundesdeutschen Nachkriegs-Pop. Ein erstes Symptom davon findet sich in Georg Tresslers (1917-2007) Die Halbstarken von 1956, der insbesondere an James Dean und dessen Film Rebel Without A Cause angelehnt ist. Insgesamt wird das Kino der 1950er-Jahre jedoch eher als ein Kino des Alters und der Überalterung wahrgenommen - im Vergleich zu einem jugendlichen und formal befreienden italienischen Neorealismus etwa. Die neue Generation derjenigen Filmemacher: innen, die dem italienischen Beispiel gern folgen möchte, existiert bereits, kann sich jedoch noch nicht durchsetzen. Der Gangfilm Am Tag als der Regen kam (1959, Gerd Oswald) hat dabei eine Art Scharnierstellung inne - der wiedergekehrte Exilant Oswald verlegt sich in den 1950er-Jahren auf sozialanalytische Krimis und setzt hier auf eine junge Schauspieler- : innengeneration (unter anderem Mario Adorf) und eine Desillusionierung des Jugendfilms, die in einer direkten Bezugslinie zu einer neuen Filmemacher: innengeneration in den 1960ern stehen wird. Während also Teile der Filmindustrie sich dezidiert und explizit oder eben allegorisch und symbolisch der Aufarbeitung der Nazidiktatur und ersten Versuchen der formalen Erneuerung widmen, steht auf der anderen Seite ein eskapistischer Unterhaltungsfilm, der ironisch als ‚Kino der leeren Schlösser‘ bezeichnet wird. Darin wird der mittlerweile irrelevant gewordene deutsche Adel filmisch wiederhergestellt. Durch den Riesenerfolg der Sissi -Trilogie (1955) beispielsweise wird Romy Schneider zum Star, leidet unter diesem Image jedoch bis zuletzt. Sie gilt schon unter einigen Zeitgenoss: innen als deplatziert in den formschwachen, konservativen Filmen und wechselt für das lesbische Liebesdrama Mädchen in Uniform (1958), in dem sich Schneider als Schülerin in ihre Lehrerin verliebt, erst die Rolle und dann am Ende der Dekade das Land, indem sie in die kreativere Arbeitsumgebung Frankreich entflieht. Diejenigen, die bereits im Naziregime oben schwammen, erhalten indessen größtenteils die Möglichkeit, in die Schaltstellen der Industrie zurückzukehren - während Leni Riefenstahls Karriere mehr oder weniger am Ende ist, werden Veit Harlan, Carl Froelich, Helmut Käutner oder Wolfgang Liebeneiner problemlos reintegriert und können bis auf geringfügige Proteste und harmlose Prozesse, die ab und zu die Stimmung trüben, ungehindert weiterdrehen - nicht nur im deutschen Bundestag lässt die Entnazifizierung klaffende Lücken. Und in den 1950er-Jahren wird ein typisch deutsches Genre geradezu berüchtigt: der Heimatfilm . Der Filmhistoriker Ulrich Kurowski (vgl. Götter 2004, 193) bringt all seinen Abscheu demgegenüber in einer Bewertung des frühen Heimatfilm-Regisseurs Hans Deppe (1897-1969) auf den Punkt: Ob das Zynismus sei, diese Indifferenz: dieses katastrophale Desinteresse, das nicht die geringste Sorgfalt in der Inszenierung kennt. Den Heimatfilm als Pendant zum Americana-Kino zu verstehen, greift deutlich zu kurz. In den 1950er-Jahren existiert in der jungen Bundesrepublik eine starke Desorientierung, was Heimat im Angesicht der Katastrophe des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs überhaupt noch sein könne. Hans Deppes Grün ist die Heide löst auch deshalb bereits 1951 den ersten Heimatfilm-Boom aus. Die ideologisch fragwürdige Position dieser Filme, in der oft sozialdarwinistische Konzepte der Nationalsozialisten stillschweigend fortexistieren, ist schon häufig Gegenstand der Forschung geworden. Andere Filme, wie Rosen blühen auf dem Heidegrab von 1952 (Hans Heinz König), inszenieren die Heide als unberührten, vorzivilisatorischen, dadurch subversiven, manchmal anarchi- <?page no="119"?> 1951 bis 1960 Im Angesicht des Fernsehens 119 schen Ort - nicht alle Heimatfilme entsprechen daher exakt ihrem späteren Image. Dies gilt auch für ein weiteres typisch deutsches Genre, nämlich den Schlagerfilm , der in den 1930er-Jahren bereits mit dem Revuefilm seinen Anfang genommen hat; jetzt aber wird er mit einem zuvor verbotenen Exotismus aufgeladen, der sich in Gastauftritten vornehmlich afroamerikanischer Künstler: innen niederschlägt, deren Jazz-Idiome sich mehr schlecht als recht in das varietéartige Schlagerkonzept einpassen lassen. In Deutschland (BRD wie DDR) prägt sich die Show-Big-Band aus, die eine Art „Schlagerjazz“ performt - Kitt und Bindeglied der neuen Revuefilme (z. B. Schlagerparade , Erik Ode, 1953, oder Musik, Musik und nur Musik , Paul Martin, 1955, Remake von Wir machen Musik , 1942, Helmut Käutner), die oft auch in Heimatfilm-Settings angesiedelt sind - wie etwa der Gipfel des schlagercineastischen Irrsinns, Übermut im Salzkammergut von Hans Billian (1963). Zuletzt ist auch eine dezente realistische Strömung im bundesdeutschen Film der 1950er-Jahre zu beobachten, die sich etwa in Das ewige Spiel (1951, „Franz Cap“, eigentl. Es geschah am hellichten Tag (1958, Ladislao Vajda) niederschlägt. Beide verzichten teilweise auf Studiohintergründe und künstlich wirkendes Licht, wenngleich die Geschichte des ersten eine bizarre Fantastik-Parabel über die Ehe ist: Die weibliche Hauptfigur unterhält eine Affäre, weil ihr vielreisender Mann sie vernachlässigt; als die Männer einander begegnen, läuft sie in die Stadt davon. Eine Gasse, in die sie einbiegt, wird plötzlich zur Sackgasse, und eine Seherin zeigt ihr drei Varianten ihrer Biographie, in denen sie jeweils mit einem anderen der beiden Männer zusammen ist, und die allesamt aufgrund ihrer Untreue in der Katastrophe enden - diese spielen respektive im Jahre 1500, 1661 und 1850. Trotz der avancierten Erzählform ist die erzkonservative Botschaft verbunden mit dem progressiven ästhetischen Realismus verblüffend. Es geschah am hellichten Tag hingegen ist ein Krimi, der das Thema Kindesmissbrauch thematisiert und auf einem Drehbuch von u. a. Friedrich Dürrenmatt basiert. Der Stoff wird noch häufiger verfilmt werden, u. a. unter dem Titel The Pledge (USA 2001, Sean Penn). Die Ausgangslage in der Sowjetischen Besatzungszone, in der das Gros der deutschen Filmproduktionsstätten anno 1945 noch verortet ist, gestaltet sich als schwierig: Babelsberg ist von Sowjets besetzt und bis 1947 für Deutsche nicht zugänglich. In den halbzerstörten Tobis-Studios in Johannisthal beginnen jedoch erste Filmtechniker: innen schon früh mit der von der Besatzungsmacht befürworteten Synchronisation sowjetischer Filme. Bereits am 17. April 1946 wird die DEFA (Deutsche Film AG) nach Vorgesprächen mit der Besatzungsmacht als expliziter Gegenentwurf bzw. ideologischer Neuaufbau der nationalsozialistisch besetzten Ufa gegründet. Sie besteht anfangs aus Mitgliedern der Gruppe „Filmaktiv“, die KPD-Verbindungen pflegt. Die DEFA ist direkt finanziell von den Sowjets abhängig, die sie 1947 in eine Sowjetische Aktiengesellschaft umwandeln. Nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949 geht sie jedoch in die Kontrolle der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) über. Am 1. Oktober 1950 gründet sich das DEFA- Studio für Spielfilme in Babelsberg; zeitgleich entsteht in Dresden ein Studio für Animationsfilme - noch heute einer der Fokalpunkte des deutschen Animationsfilms. Ein drittes Babelsberg-Studio widmet sich ausschließlich Nachrichten (Wochenschauen) und Dokumentarfilmen. Ähnlich wie ihre Besitzerin, die SED, ist die DEFA in der DDR eine Studioproduktionsfirma ohne Konkurrenz, ge- <?page no="120"?> 120 Handbuch Filmgeschichte leitet vom Staat, der ästhetische Direktiven vorgibt. 1954 wird dies zusätzlich durch die Gründung der Hauptverwaltung Film im Kulturministerium institutionalisiert und bürokratisiert. Die DEFA handhabt die Wiedereingliederung von NS-Filmproduktionsbeteiligten jedoch grundlegend anders als die Filmindustrie in der Bundesrepublik Deutschland, wie der Filmhistoriker Hans-Michael Bock (1998, 583) zusammenfasst: „Das Dilemma der frühen DEFA bestand darin, wie man auf die ‚Ufa-Tradition‘ der Nazifilme reagieren sollte, und wie man antifaschistische Geschichten produzieren konnte mit vielen Technikern und Künstlern, die in der Filmindustrie des Dritten Reichs Karriere gemacht hatten - für ein Publikum, das den glatten Zerstreuungsstil des Nazikinos gewöhnt war. Die offizielle Politik war, keine Regisseure und Autoren einzustellen, die ihren Namen mit Propagandafilmen belastet hatten. Auf der anderen Seite akzeptierte man alle, die ‚nur‘ Techniker gewesen waren.“ Unter den wichtigsten Regisseur: innen des frühen DDR-Films ist z. B. Kurt Maetzig (1911-2012), dessen erster Spielfilm Ehe im Schatten (1947) sich sogleich explizit mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzt. Er handelt von einem Schauspielerpaar - die Frau ist jüdischer Abstammung und beide werden schließlich von den Nationalsozialisten in den Selbstmord getrieben. Da die Komposition von Filmmusik jedoch als technischer Faktor begriffen wird, stammt die Musik zu Maetzigs Debüt ausgerechnet aus der Feder von Wolfgang Zeller, der sieben Jahre zuvor für die Musik zu Jud Süß verantwortlich gewesen ist. Das eskapistische Kino ist der DDR-Produktion tendenziell eher fremd. Fast alle frühen DDR-Filme beschäftigten sich mit der Vorkriegs- und Kriegsgeschichte Deutschlands und arbeiten so intensiv die Vergangenheit auf. Oft stehen darin Familien im Mittelpunkt, anfangs noch der Konvention halber bürgerliche, kurz darauf schon proletarische wie in Kurt Maetzigs Die Buntkarierten (1949). Wolfgang Staudtes Verfilmung von Heinrich Manns Der Untertan (1951) ist bezeichnenderweise in der Bundesrepublik jahrelang verboten. Um 1950 endet diese liberale Zeit jedoch bereits wieder. Die DEFA wird durch eine Gruppe um den stalintreuen Generaldirektor Sepp Schwab übernommen und durch die resultierende ideologische Detailkontrolle in der Filmproduktion werden 1952 und 1953 jeweils nur fünf Filme produziert. Das Diktat des „sozialistischen Realismus“, das in den 1930er-Jahren bereits den Sowjetfilm ästhetisch lahmgelegt hat, wird auf die DDR- Produktion übertragen, was unter keinem guten Stern steht. Damit konkurrierend entwickelt sich jedoch ein Bildungsauftrag, der sicherstellt, dass etliche Klassiker der hohen Literatur dem breiten Publikum zugänglich gemacht werden sollen. Martin Hellberg (1905-1999) etwa verfilmt 1957 Lessings Emilia Galotti und 1959 Schillers Kabale und Liebe . Internationale Koproduktionen - vor allem mit Frankreich - adaptieren Stoffe von Victor Hugo bis zu Jean-Paul Sartre. Die Früchte des sozialistischen Realismus sind demgegenüber sehr tendenziös und deuten historische Ereignisse und Persönlichkeiten oft großzügig im Sinne der Regierung um, beispielsweise den zum Arbeiterführer stilisierten Ernst Thälmann, dem mit Thälmann - Sohn seiner Klasse und Thälmann - Führer seiner Klasse (1953, 1955, Kurt Maetzig) gleich zwei große Biopics gewidmet werden. Nach Stalins Tod am 5. März 1953 und der drei Jahre später mit der Verurteilung des Stalinismus durch seinen Nachfolger Nikita Chruschtschow (1956) einsetzenden Tauwetter-Periode in der UdSSR, die durch synchronisierte Sowjetfilme auch in der DDR ankommt, ändern sich <?page no="121"?> 1951 bis 1960 Im Angesicht des Fernsehens 121 die Produktionsbedingungen jedoch erneut und die DDR geht in eine ihrer interessantesten Filmproduktionsphasen über. Die Anfänge von Konrad Wolf (1925-1982) fallen ebenfalls in jene Zeit, darunter die deutsch-bulgarische Koproduktion Sterne (1959), die in Cannes den Sonderpreis der Jury gewinnt und die Liebesgeschichte einer jüdischen Frau und eines Nazioffiziers im Jahre 1943 erzählt. 1950er: Globales Kino as die internationale Rezeption des Filmschaffens aus Japan angeht, sind die 1950er-Jahre im Rückblick vielleicht das bedeutendste Jahrzehnt, da zu jener Zeit Akira Kurosawas (1910-1998) bekannteste Filme entstehen. Kurosawa ist immer in erster Linie ein Exportschlager; seine Filme werden in den USA und in Europa oft höher geschätzt als in seinem Heimatland. Das alles beginnt mit Rashômon (1950), der 1951 den Goldenen Löwen in Venedig gewinnt und mit seinen konkurrierenden, perspektivierten Erzählungen über ein Ereignis den Glauben an die filmische Narration programmatisch erschüttert. 1952 folgt Kurosawas Ikiru mit seinem Stammschauspieler Takashi Shimura in einer durchaus anderen Rolle als sonst. Er mimt darin einen alten Mann, der eingedenk seines nahenden Todes bemerkt, dass er sein Leben mit Arbeit und Zurückhaltung verschwendet hat und es nunmehr zu spät ist, ein emphatisches Dasein nachzuholen. Die melancholische Ode an die Jugend ist wohl einer der eindringlichsten Filme überhaupt. Berühmt werden Kurosawa und Shimura indessen eher dafür, dass sie gemeinsam nach Vorbild des US-amerikanischen Western den jidaigeki reformieren und mit dem resultierenden ‚neuen Samuraifilm‘ wiederum großen Einfluss auf die US- Gruppenwestern der 1960er-Jahre, den Italowestern sowie die Spätwestern von Sam Peckinpah (1925-1984) ausüben. Shichinin no Samurai (1954) wird von John Sturges (1910-1992) als The Magnificent Seven (1960) adaptiert und Kakushi-toride no san-akunin (Die verborgene Festung, 1958) liefert gar die direkte Vorlage zu einer der erfolgreichsten Franchises überhaupt: Star Wars (1977). Yasujirô Ozu dreht mit Tôkyô monogatari (1953) indessen den vielleicht wichtigsten Film seiner Karriere - darin besucht ein altes Paar vom Land die Kinder in der großen Stadt. Die Kinder wollen sie jedoch nur ‚wegorganisieren‘, was den Generationenkonflikt und die Differenzen von Stadt und Land in Japan auf virtuose und tragische Weise verhandelt. Auch in Japan gibt es überdies einen Jugendfilm, der Generationenkonflikte verhandelt und sich um die Jahrzehntmitte nach dem Vorbild der James- Dean-Filme als Trend formiert. Das Studiosystem Japans steuert indessen unaufhaltsam auf die Katastrophe zu: Es gibt sechs wichtige Studios, die in den 1960er- Jahren alle in eine Krise geraten; das Sensationsfilmstudio Shin Tôhô geht 1961 gar pleite. Daiei etabliert sich auf der anderen Seite als das Studio der Klassiker - Kurosawas Filme werden hier produziert, aber auch Kenji Mizoguchis Spätwerk, z. B. Ugetsu monogatari (1953), ein Historiendrama, das parallel verschiedene Menschenschicksale im Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts verfolgt. Die Zahl der einfallsreichen Regisseure, die im Japan der 1950er-Jahre parallel zueinander arbeiten, ist zu groß, um sie alle aufzuzählen. Erwähnt seien noch das mutige Drama Inazuma (Blitz, 1952) von Mikio Naruse (1905-1969) über eine Mutter von vier Kindern mit vier verschiedenen Vätern, so- W <?page no="122"?> 122 Handbuch Filmgeschichte wie das großartige Drama Enjô (1958, Kon Ichikawa) nach einem Buch von Yukio Mishima, das die Geschichte eines buddhistischen Tempels (Kinkaku-ji in Kyoto) an die Lebensgeschichte eines angehenden Mönchs knüpft und in Rückblenden dessen Kindheit im und am Tempel nacherzählt - die Rahmenerzählung ist ein Polizeiverhör. Dies ist ein Beispiel für extrem komplexes, modernes Filmerzählen, das Kurosawas Rashômon explizit zu überbieten sucht - auch hier geht es um Fragen der Identität und Erinnerung. Der Staat Indien erklärt am 15. August 1947 seine Unabhängigkeit und wird 1950 zur souveränen demokratischen Republik. Für das Studiosystem resultiert das in einem gewaltigen Aufschwung. Das neue Interesse an der Definition einer nationalen, panindischen Identität schlägt sich auf den Film ganz besonders nieder. Ein erstes spürbares Resultat ist eine massive Umstrukturierung der althergebrachten Studiolandschaft in sich. Etliche alte Studios wie Prabhat, New Theatres, Bombay Talkies und Vauhini schließen, während sich neue Studios - oft im Zusammenhang mit anderen Institutionen aus der Politik - etablieren. Die Suche nach der nationalen Identität findet sich jedoch besonders auf inhaltlicher Ebene im indischen Film wieder. Oft werden die Widersprüche zwischen einer realistischen Verwurzelung und einer einheimischen Massenkultur verhandelt - nationalistische Utopien stehen regionalistischen Elementen eines Lokal-Patriotismus entgegen, was in vereinfachter Weise gegeneinander ausgespielt wird. Das schlagendste Beispiel für die erwähnte Verknüpfung von Filmproduktion und Politik ist die IPTA (Indian People’s Theatre Association). Dabei handelt es sich um eine von der kommunistischen Partei unterstützte Theater- und Filmbewegung, die sich in den 1940er-Jahren durch „extremen“ Realismus ausdrückt und in den 1950er-Jahren in die populäre Mitte des Hindifilms gelangt. Dabei stehen Filme über Klassenabstiege ( Nagarik , 1952, [Der Bürger], Ritwik Ghatak) neben offenen Kritiken am Kastensystem ( Neelakuyil , 1954, [Das blaue Koel], P. Bhaskaran/ Ramu Kariat) und V. Shantarams späteren Filmen mit antijapanischimperialistischer Stoßrichtung. Raj Kapoor (1924-1988), der zeitweise der weltbekannteste Schauspieler, aber auch ein angesehener Regisseur ist, hat zwei Riesenerfolge mit einer Verknüpfung sozialer Fragen und extremer Dramaturgien: Awara (Der Tramp, 1951) handelt von einem verstoßenen Sohn, der von Banditen aufgezogen wird und erst seinen Stiefvater und dann fast seinen leiblichen Vater tötet - ein zeichenhafter Übergang zu Modernität und Unabhängigkeit (der Nation). Shri 420 (Herr 420, 1955) setzt hingegen Reichtum mit Verwestlichung gleich und schafft eine an Chaplin angelehnte Kapitalismuskritik, die das indische System dezidiert demgegenüber positioniert. Noch stärker vereint die heterogenen Publika Indiens jedoch das epische Melodram der Zeit, in dem Erzählungen privater Unabhängigkeit dominieren, die allegorisch auf die nationale Unabhängigkeit Indiens übertragen werden können. Auch die von vielen als traumatisch für den Nationalstaat begriffene Gründung Pakistans (1947) mit der damit einhergehenden Massenemigration wird häufig verhandelt. Den längsten filmhistorischen Atem und einen riesigen, auch globalen Einfluss hat derweil eine eher als Underdog zu bezeichnende Produktion: die sogenannte „Apu- Trilogie“ von Satyajit Ray (1921-1992), die der Regisseur zwischen 1955 und 1959 realisiert. Für Pather Panchali (Lied der Straße, 1955) muss Ray noch die Juwelen seiner Frau versetzen, um seine Drehschulden zu begleichen, und kann den Film nur fertigstellen, da die westbengalische Regierungsabteilung für <?page no="123"?> 1951 bis 1960 Im Angesicht des Fernsehens 123 Straßenbau ihm durch ein Missverständnis des Filmtitels weitere Mittel zur Verfügung stellt. Die Vergangenheit bekommt in Rays Film eine zukunftsoptimistischere Perspektive und etabliert das ‚neue Indien‘ als industrialisierte, blockfreiheitliche (nicht im Kalten Krieg allierte) Alternative zum westlichen Kapitalismus. 1956 folgt Aparajito und 1959 Apur Sansar , welche die soziale Aufstiegsgeschichte der Hauptfigur aus Rays erstem Film weitererzählen. Wenngleich Rays Filme kein Massenkino sind, repräsentieren sie auf Festivals weltweit das Selbstbewusstsein des neuen indischen Kinos und werden dadurch zu großen Auslandserfolgen. Im populären Film sind indessen nach wie vor Mythological, Liebesfilm und Komödie die drei zentralen Genres, aber die 1950er- Jahre bereiten mit ihren sozialkritischen Bewegungen bereits den „Neuen Indischen Film“ der 1960er-Jahre und den Aufstieg zur produktivsten Filmnation der Welt, die Indien auch heute noch ist, in den 1970er-Jahren vor. Ägypten hat wie erwähnt bereits im Jahre 1922 die eigene Unabhängigkeit von den Kolonialherren aus Großbritannien deklariert, aber erst 1956 wird im Zuge der Suezkrise, die in der Befreiung des Suezkanals aus westlicher Herrschaft resultiert, der britische Einfluss praktisch nonexistent. Auch in Ägypten trägt der nationale Aufschwung filmische Früchte: Die ägyptische Filmindustrie steigt in den 1950er-Jahren zur drittgrößten der Welt auf. Salah Abou Seif (1915-1996) hat seine Arbeit am Film bereits in den 1930er-Jahren begonnen, aber erst in den 1950er-Jahren existieren entsprechende Produktionsbedingungen, um Filme wie seine großen Klassiker Shabab imra (Die Jugend einer Frau, 1955), die Geschichte eines jungen Mannes vom Land, der von seiner reichen Vermieterin sexuell verführt wird, was ihn seine Familie, seine Ausbildung und seine Religion vernachlässigen lässt, oder die Sozialstudie Alusta Hassan (1953) über den im Titel erwähnten Vorarbeiter zu produzieren. Auch Youssef Chahine (1926-2008) etabliert sich in den 1950er-Jahren als anerkannter Regisseur - wie viele dem Realismus verpflichtete Filmemacher: innen widmet auch er sich den Widersprüchen von individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Pflichten sowie den sozialen Problemen, die durch gesellschaftlich-ökonomische Konstellationen für den Einzelnen entstehen: Sein Drama Ibn Al-Nil (Sohn des Nils, 1951) verschafft ihm einen ersten Achtungserfolg. In seinem Melodram Sira’ Fil-Wadi (Tödliche Rache, 1954) debütiert ein gewisser Omar Sharif, und mit Bab al-Hadid (Cairo Station/ Tatort … Hauptbahnhof Kairo, 1958) schreibt er Filmgeschichte: Darin geht es um den Fußlahmen Qinawi (Youssef Chahine selbst), der aus Mitleid einen Job als Zeitungsverkäufer im Hauptbahnhof von Kairo erhält. Dort verliebt er sich in die Getränkeverkäuferin Hannuma (Hind Rostom), die aber von ihm nichts wissen will; aufgrund der Ablehnung wird Qinawi verrückt und plant, sie nach dem Vorbild eines Mordfalls, von dem er in der Zeitung (! ) liest, umzubringen. Durch einige Verwirrungen ersticht er die falsche Frau; der Fall endet in einer Geiselnahme und Qinawi in einer Zwangsjacke. Vergleichbar einigen Filmen des italienischen Neorealismus ist Bab al-Hadid das Porträt des psychologischen Zusammenbruchs der Armen und Entrechteten durch die unveränderlichen sozialen Rahmenbedingungen, unter denen sie ihr Alltagsleben bestreiten müssen. 1950er: Europa n Frankreich werden 1951 die einflussreichen Cahiers du cinéma begründet, die bis heute ein zentrales Forum für I <?page no="124"?> 124 Handbuch Filmgeschichte Filmkritiker: innen bieten, die den zeitgenössischen Film eloquent verurteilen, Individualist: innen der vergangenen Jahrzehnte (in den 1950er-Jahren etwa Alfred Hitchcock oder Charlie Chaplin) lobend hervorheben und - im Falle der Anfangsjahre der Zeitschrift - wortreich den neuen Autorenfilm fordern, woraus die nouvelle vague unmittelbar entspringt. Die Nouvelle Vague ist nämlich nicht nur ein filmhistorischer, sondern gleichfalls ein medienpolitischer coup d’etat - Jean-Luc Godard, François Truffaut (1932-1984), André Bazin, Jacques Rivette (1928-2016), Claude Chabrol (1930-2010), Éric Rohmer (1920-2010) und einige andere revolutionieren nicht nur durch ihre Filme die europäische Kinolandschaft, sondern gleichfalls durch ihre passionierten Kritiken und ihre lautstark geäußerten Ansichten, was Film sein könne und leisten solle. Man kann dazu neigen, die Nouvelle Vague in zwei wesentliche Abschnitte zu unterteilen - die Zeit zwischen 1951 und 1959, in der die späteren Filmemacher vornehmlich als Kritiker in den von Bazin gegründeten Cahiers du cinéma aktiv sind, und die Zeit ab 1959, in der die stilbildenden Filme der Gruppe entstehen. Aber entgegen geltender Vorurteile wird im Frankreich der 1950er-Jahre nicht nur Einheitskost produziert, ganz im Gegenteil - die Vorläufer der Nouvelle Vague sind ebenfalls für ein formalästhetisch ambitioniertes Genrekino bekannt. Jean-Pierre Melville (1917- 1973) ist einer der Regisseure, der ganz und gar nicht zu jener Gruppe um Bazin, Godard und Truffaut gehört, die ihn zu Lebzeiten als Traditionalisten verwirft und nur sporadisch - wie durch einen kleinen Gastauftritt in Jean-Luc Godards Debütlangfilm À bout de Souffle - seine Relevanz anerkennt. Ein ähnliches Schicksal teilen viele hochbegabte französische Regisseure der 1950er-Jahre, vornehmlich, da die Nouvelle Vague sich als selbsternannte neue Macht im französischen Filmgeschäft von allem anderen kategorisch abgrenzen muss. Édouard Molinaro (1928- 2013) (der wenig später vor allem durch seine Louis-de-Funès-Komödien bekannt werden wird), Marcel Carné (der schon in den 1940er-Jahren mit Les enfants du paradis [Kinder des Olymp] weltberühmt geworden ist) und Roger Vadim (1928-2000) (der später nach Hollywood gehen und Barbarella drehen wird) sind drei der Regisseure, die im Vorfeld der Nouvelle Vague stilistisch innovative und formal einfallsreiche Filme drehen; nicht zuletzt ist auch Louis Malle (1932- 1995) zu erwähnen, dessen Spielfilmdebüt Ascenseur pour l’échafaud 1958 erscheint und die Karriere einer der wichtigsten Schauspielerinnen der Nouvelle Vague, nämlich Jeanne Moreau, begründet. Auch wenn das Modell zu jenem Zeitpunkt längt schon in alle Welt exportiert worden ist, bleibt die Gruppe der Regisseure des Neorealismus in Italien auch in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre hochgradig aktiv und dreht weiter im mittlerweile gefestigten Stil eindrucksvolle Filme wie Vittorio De Sicas Umberto D (1952) oder Roberto Rossellinis Viaggio in Italia (1954), eine internationale Co-Produktion, die den Blick auf Italien in die touristische Fremdbetrachtung Ingrid Bergmans und George Sanders verlegt. Auch Federico Fellini (1920-1993) verschreibt sich zu Beginn seiner Karriere einem realistischen Stil, der seine frühesten Filme kennzeichnet. 1954 dreht er dann La Strada , das Drama um die junge Gelsomina, die an einen fahrenden Kleinkünstler namens Zampanò verkauft wird, der sie körperlich misshandelt und ihr bei den gemeinsamen Auftritten nur unwichtige Aufgaben zutraut. Als sich beide einem Zirkus anschließen, lernt Gelsomina einen Seiltänzer namens Matto kennen, und zwischen den Männern entbrennt ein dauerhaft schwelender Konflikt, der nach einigen Begegnungen mit Mattos Tod endet. Das Duo geht getrennte Wege und als Zampanò Jahre später von Gelsominas Tod erfährt, bricht er am Strand zusammen. La Strada <?page no="125"?> 1951 bis 1960 Im Angesicht des Fernsehens 125 etabliert Fellini als einen der weltweit bekannten Regisseure - er gewinnt dafür einen Oscar sowie den Silbernen Löwen in Venedig. Der Film ist stilistisch noch stark im Neorealismus verwurzelt, verändert jedoch etliche Spielregeln gewaltig und gilt mit seinem neuartigen Konzept des magischen Realismus als Anfang vom Ende der neorealistischen Bewegung. Auch in Großbritannien entsteht in den 1950er-Jahren eine stark auf eine gemeinsame musikalische Sprache, die sich von derjenigen der Älteren abgrenzt, begründete Jugendkultur, die insbesondere mit dominanten und bis dahin als verbindlich erachteten Lebensentwürfen der Arbeiterklasse bricht. Der gebürtige Tschechoslowake Karel Reisz (1926-2002) und Tony Richardson (1928-1991) drehen in dieser Zeit erste Dokumentarfilme wie den Zwanzigminüter Momma Don’t Allow (1956, über den Jazzclub „Wood Green“) oder den Fünfzigminüter We Are the Lambeth Boys (1959, nur Reisz, über einen Jugendclub in London). Lindsay Anderson (1923-1994) beginnt seine einflussreiche Karriere zwar etwas früher, geht aber bald ebenfalls in dieser Gruppe auf, die ihr Filmkonzept als free cinema dem kommerziellen britischen Film gegenüberstellt und erstmals seit Dziga Vertov dokumentarisches Kino als oppositionelles Kino positioniert, wenngleich auch die Neorealisten natürlich einen Teilfokus ihres Schaffens auf Natürlichkeit bzw. Realismus gelegt haben und damit einen direkteren Einfluss auf das free cinema hatten als Vertovs Manifeste. Gegen Ende der Dekade mündet diese Dokumentarfilmarbeit (a) in eine Kollaboration mit den am Theater tätigen angry young men wie John Osborne und Alan Sillitoe und (b) in erste Spielfilme, die Ästhetik und Milieublick von den Dokumentarfilmen übernehmen: Saturday Night and Sunday Morning (1960, Karel Reisz) etwa und Look Back in Anger (1959, Tony Richardson). In Polen hat das sozialistische „Tauwetter“ von 1953 bis 1956 unter den Staaten des Warschauer Pakts am schnellsten einen direkten Effekt auf die Filmproduktion - die sogenannte Polnische Filmschule widmet sich insbesondere historischen Stoffen und setzt als Erneuerungsbewegung einen ideologiekritischen Kontrapunkt zum allgemeinen Konsenskino, ohne dass dieser den Zensurbehörden immer direkt auffällt. Andrzej Wajda (1926-2016) dreht einige seiner einflussreichsten Filme in den 1950er-Jahren, darunter seine „Kriegs-Tetralogie“ von 1955 bis 1959 - Pokolenie (Eine Generation, 1955), (Der Kanal, 1957), diament (Asche und Diamant, 1958) und Lotna (1958). Alle diese Filme spielen im besetzten Polen und stellen Tragödien dar, die das Aufwachsen einer Generation unter widrigsten Umständen porträtieren. <?page no="126"?> 126 Handbuch Filmgeschichte Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts Erstes Zeitalter des 3D-Films Jede Generation von Kinozuschauer: innen hat ihren 3D-Film - „Der 3-D-Boom der 1950er Jahre basiert auf der Technologie mit zwei Kameras und Projektoren. Der 3-D-Zyklus der 1980er Jahre basiert auf Einzelkamera- und Projektortechnologie. Beide Formate nutzten die optische Konvergenz der Kameraachsen, um eine negative Parallaxe zu erzeugen, wobei Bilder außerhalb des Bildschirms in den Zuschauerraum gelangen. Es war dieser visuelle Effekt, der das Markenzeichen der Ära der Konvergenz darstellte, als Werbemittel und als ästhetisches Leitmotiv. In der Ära der Konvergenz verschmolz auch die Hollywood-Spielfilm-Narration mit Stereografie, während der Kinofilm durch Eastmancolor und Widescreen-Format in eine neue Ära aufbrach, die 1953 durch die Einführung von Cinemascope durch 20th Century Fox eingeläutet worden war.“ (Ray Zone, 3-D Revolution , 2012, 2) Tauwetter „Der Begriff ‚Tauwetter‘ entstammt dem Titel des Romans Ottepel (1954-56) des Schriftstellers Ilja Ehrenburg, doch er wird ebenso auf alle anderen Künste angewandt. Schriftsteller begannen, ‚Wahrheit‘ und ‚Ehrlichkeit‘ in der Kunst zu fordern, und wandten sich wieder intensiver Einzelschicksalen zu. Sie lehnten den Sozialistischen Realismus nicht ab, gaben ihm aber ein sanfteres, menschlicheres Antlitz. Künstler und Publikum hatten genug von literarischen und filmischen Werken mit stereotypen, positiven Helden in schematischen, monumentalen Epen, die Geschichte verfälschten. Nach […] Chruschtschows Verurteilung des stalinistischen ‚Personenkults‘ auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 ergriff das Tauwetter alle Bereiche des politischen und kulturellen Lebens. Die ersten wichtigen Tauwetter-Filme kamen 1956 heraus, und Filmkritiker betrachten die folgende Periode von 1957 bis 1967 als die Zeit, in der die liberale ‚Generation der 60er‘ […] das Kino prägte.“ (Vida Johnson, Russland nach dem Tauwetter , 1998, 601) Rashômon-Effekt „Der Rashomon-Effekt ist in der Anthropologie, Psychologie und der Filmindustrie bekannt. Er bezieht sich auf eine Situation, in der unterschiedliche Personen unterschiedliche Geschichten über dasselbe Ereignis liefern. Daher können wir nicht sicher sein, wessen Geschichte wahr ist. […] Basierend auf [Kurosawas] Film benutzen Anthropolog: innen den Begriff Rashomon- Effekt, um sich auf Einflüsse, Vorurteile oder persönliche Rechtfertigungen zu beziehen, die bei der qualitativen Forschung eine Rolle spielen könnten.“ (Jeong-Hee Kim, Understanding Narrative Inquiry , 2016, ch. 8.2) <?page no="127"?> 1951 bis 1960 Im Angesicht des Fernsehens 127 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Ikiru » Regie: Akira Kurosawa » Land | Jahr: J | 1952 Zu Tränen rührende Elegie über einen alten Mann, der im Angesicht des Todes sein Leben verschenkt zu haben glaubt. Filmtipp Vertigo » Regie: Alfred Hitchcock » Land | Jahr: USA | 1958 Die Quintessenz dessen, was Hitchcock zu leisten in der Lage war - vieldeutig, formverliebt, meisterhaft. Filmtipp Bab al-Hadid » Regie: Youssef Chahine » Land | Jahr: ÄGY | 1958 Ein ägyptischer Beitrag zur sozialrealistischen Seite des Films der 1950er-Jahre - empathisch inszeniert und überzeitlich bewegend. <?page no="129"?> 1961 bis 1970 · Experimente der Erneuerung Die 1960er-Jahre sind für das amerikanische und das europäische Kino ein Jahrzehnt des Umbruchs - Gruppen von Filmemacher: innen bemühen sich um ästhetisch-politische Reformen, die sowohl im Dokumentarfilmals auch im Spielfilmbereich oft selbsternannte ‚neue Wellen‘ auslösen. Diese folgen häufig den Forderungen früherer Reformator: innen nach mehr Einflussnahme des Kreativpersonals auf die Filmgestaltung, mehr inhaltlicher Unabhängigkeit, mehr Realitätskompatibilität und weniger Illusionismus sowie einer eindeutigen Abgrenzung vom konventionellen Nationalkino des jeweiligen Landes unter Berufung auf eine alternative Ahnengalerie. Im Rückblick erscheint der italienische Neorealismus ebenso wie das etwas später formierte britische free cinema als eine Vorläuferbewegung, welche diese oft als Anbruch der filmgeschichtlichen Moderne verstandene Epoche vorweggenommen hat, jedoch reichen die Wurzeln der ‚Neuen Wellen‘ in einigen Ausprägungen bis zu Dziga Vertovs Forderungen eines Wahrheitskinos zurück. Spätestens ab der Mitte der 1960er-Jahre stehen die ‚neuen Wellen‘ auch im Kontext der allgemeinen gesellschaftlichen Umbrüche, die sich in Studierendenunruhen, Frauenrechts- und Bürgerrechtsbewegungen und einer weitreichenden Regimekritik in demokratischen und nicht-demokratischen Staaten gleichermaßen niederschlagen und im internationalen Jahr des Umbruchs 1968 kulminieren, das eine ganze Generation prägt. Das Entstehen sämtlicher neuen Wellen um die Jahrzehntwende oder kurz danach ist überdies an die Entwicklung von leichterem Kamera- und Ton- Equipment gebunden, das den spontanen Dreh an Originalschauplätzen sowie das Nachstellen komplexerer Kamerabewegungen ohne entsprechende Schienen überhaupt erst möglich macht und den Anti-Studio-Stil der meisten ‚neuen Wellen‘ prägt. 1960er: Deutschland m Film der Bundesrepublik Deutschland setzen sich bis in die späten 1960er- Jahre im Mainstream-Bereich die Trends der 1950er-Jahre relativ ungebrochen fort. Insbesondere der ‚deutsche Krimi‘ wird zu einem Massenphänomen und bringt die höchst erfolgreichen Edgar-Wallace-Filme hervor, die mit Der Frosch mit der Maske (1959) ihren Siegeszug (bis 1972) in Kino und Fernsehen beginnen, ehe das Genre mit Tatort ab 1970 endgültig seine Heimat auf der Mattscheibe findet. Demgegenüber stehen drei Erneuerungsbewegungen, die im Fokus der Betrachtung dieser Epoche stehen sollen. Einerseits beginnt ab etwa 1967 eine Auseinandersetzung mit Geschlechtlichkeit, wie sie im deutschen Film im engeren, pädagogischen Sinne seit dem Sittenfilm der Weimarer Republik in den 1910er-Jahren nicht stattgefunden hat. Formal sind die Filme zwar aus heutiger Sicht ein wenig ungewöhnlich, das liegt in vielen Fällen aber eher in ihrem bemühten Dilettantismus. Gerade inhaltlich lösen sie jedoch eine große Welle aus. Mit der Helga- Reihe ( Helga - Vom Werden des menschlichen Lebens , 1967, Erich F. Bender) beginnt das Zeitalter des bundesdeutschen Aufklärungsfilms. Dieser schlägt bereits mit den frühen Oswalt-Kolle-Filmen wie Das I <?page no="130"?> 130 Handbuch Filmgeschichte Wunder der Liebe (1968, Franz Josef Gottlieb, Buch: Oswalt Kolle) und Oswalt Kolle: Deine Frau, das unbekannte Wesen (1969, Alexis Neve, Buch: Oswalt Kolle) eine sensationalistischere Richtung ein. Parallel dazu etabliert sich jedoch das Genre der bundesdeutschen Sexkomödie, die in den 1970er-Jahren Hochkonjunktur haben wird und eher dem schlichten Voyeurismus als einer sexualpädagogischen Intention verpflichtet ist. Der damit einhergehende Tabubruch ist aus heutiger Sicht dennoch - in Deutschland wie anderswo - ein Meilenstein der freien Meinungsäußerung dahingehend, was im direkt abbildenden und damit realitätsnahen Medium Film auch abseits von dedizierten Bahnhofskinos gezeigt und erzählt werden darf. Auch die Frauenrechtsbewegung nimmt diese neue Auseinandersetzung mit Körperlichkeit auf und nutzt sie für den Hinweis auf die Ausbeutung des weiblichen Körpers durch seine mediale Reduktion auf erotische Reize. Die Performancekünstlerin VALIE EXPORT (bürgerlich heute Waltraud Stockinger, *1940), eine österreichische Feministin, die ursprünglich als Designerin zum Film stößt, dort aber zunächst nur als script girl arbeiten darf, lässt schon bald ihre ersten Performances aufzeichnen. Aus naheliegenden Gründen interessiert sich EXPORT als Performancekünstlerin besonders für die Idee des expanded cinema (heute würde man wohl sagen: multimediales Kino) und überträgt ihre Konzepte der feministischen Adhoc-Kunst auf Film-Installationen wie das Tapp- und Tastkino (1968). Es sind derweil ausschließlich Männer, die in der für Frauen in der Bundesrepublik immer noch weitgehend unzugänglichen Filmbranche unter sich eine Erneuerung anstoßen und am 28. Februar 1962 programmatisch erklären: „Papas Kino ist tot.“ Dabei handelt es sich um eine gebräuchliche Reduktion des wesentlich umfangreicheren sogenannten Oberhausener Manifests auf einen Satz. Es wird von 26 Filmemachern - darunter spätere Berühmtheiten wie Alexander Kluge (*1932), Edgar Reitz (*1932), Hansjürgen Pohland (1934-2014) und Peter Schamoni (1934- 2011) - unterschrieben und ist von Anfang an der Versuch, eine ‚deutsche Neue Welle‘ zu starten und das Kino der 1950er-Jahre hinter sich zu lassen. Eine derartige Rudelbildung von Künstlern hat in der Bundesrepublik zu jener Zeit ein starkes Vorbild in der literarischen Gruppe 47, der auch Nobelpreisträger Heinrich Böll angehört und die bis 1967 Bestand hat. Böll ist dann auch ein wichtiger Fixpunkt für den Jungen Deutschen Film, der mit Vorliebe dessen Stoffe verfilmt. Als Startschuss der Bewegung gilt entsprechend die Heinrich-Böll-Adaption Das Brot der frühen Jahre (Herbert Vesely, Musik: Attila Zoller), die am 22. Mai 1962 uraufgeführt wird. Darin verliebt sich der gutbürgerliche Elektriker Walter Fendrich (Christian Doermer) bei einem Wiedersehen schlagartig in seine Jugendfreundin Hedwig Muller (Karen Blanguernon) - er lässt folglich seinen gutbürgerlichen Alltag hinter sich und fängt ein neues Leben an. Neben der Verbindung zu Böll passt der Film mit seinem avancierten Stil und seiner geradezu programmatischen Handlung perfekt zu den Forderungen des Oberhausener Manifests, mit dem er allerdings wenig bis gar nichts zu tun hat, ist er doch bereits 1961 abgedreht worden. Die eigentlichen Reaktionen auf Oberhausen lassen jedoch noch ein wenig auf sich warten. Das liegt einerseits daran, dass die ästhetische Findungsphase mit der Produktion etlicher Kurzfilme ein wenig andauert, ehe die dedizierten Erneuerer sich an die Spielfilmlänge wagen. Aber auch Geldmangel stellt eine große Anfangsschwierigkeit dar - neue Wellen sind selten leicht zu vermarkten, wollen sie doch gerade nicht eingespielten Regeln des kommerziellen Films folgen. <?page no="131"?> 1961 bis 1970 Experimente der Erneuerung 131 1964 wird durch Bundesinnenminister Hermann Höcherl das „Kuratorium Junger Deutscher Film“ eingerichtet, wodurch die Jahre 1966 und 1967 zu Zeiten des Umbruchs werden können; der dergestalt bezeichnete Junge Deutsche Film wird zwischen 1966 und 1968 mit insgesamt 5 Millionen DM angeschoben, ehe er sich in der Kinolandschaft etabliert und fortan etwas besser selbst refinanzieren kann. Der Junge Deutsche Film lässt sich insgesamt grob in drei Tendenzen unterteilen. Einerseits ist da das intellektuelle Kino, das am prägnantesten von den verkopften, schwerfälligen Produktionen des Teams aus Danièlle Huillet (1936-2006) und Jean-Marie Straub (*1933) repräsentiert wird. Sie beginnen ihre Karriere mit einer weiteren Heinrich-Böll-Adaption, dem Mehrgenerationenfamiliendrama Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht (1965). Auch Alexander Kluge gehört zu den sehr programmatisch und poetologisch arbeitenden Filmemachern. 1966 erscheint Abschied von Gestern - Anita G. , der erste Langfilm des später sehr experimentellen intermedialen Künstlers, der sich mit einer DDR-Flüchtigen namens Anita G. und ihrer Assimilation im Westen auseinandersetzt. Sowohl Nicht versöhnt als auch Abschied von Gestern sind kaleidoskopische Erzählungen, die mit ihrer komplexen Narration und ihrem sozialanalytischen Stil Vorbildcharakter für große Teile des Neuen Deutschen Films haben, der sich an den Jungen Deutschen Film, ohne dass eine klare Trennung möglich wäre, anschließen wird. Neben dem intellektuellen Kino Straubs, Huillets und Kluges etabliert sich zweitens ein am europäischen Kino z. B. der französischen Nouvelle Vague orientierter Stil: Edgar Reitz dreht 1967 Mahlzeiten über die Fotoschülerin Elisabeth (Heidi Stroh), deren Ehe und Elternschaft mit Rolf (Georg Hauke) der Film vornehmlich aus ihrer Perspektive erzählt. Der Film wirft einen ironischen Blick auf das verantwortungslose Gründen einer Großfamilie (es sind ganze fünf Kinder am Ende des Films) und verwebt absurdistischkomische Situationen mit einer eigentlich dramatischen Erzählung. Kopfstand, Madam! (1966, Christian Rischert) ist ebenfalls ein mit Belangen seiner Protagonistin befasster Film über zwei befreundete Paare, aus deren Alltagsfreundschaft die eine Ehefrau durch eine Ménage-à-trois mit einem anderen Bekannten ihres Mannes auszubrechen versucht. Wie in etlichen Filmen Godards oder Rivettes und später Rainer Werner Fassbinders (1945-1982) wird die Rolle der Frau in der Gesellschaft anhand einer starken Protagonistin reflektiert, deren Perspektive die Narration dieser Filme dominiert. Drittens gibt es im Jungen Deutschen Film eine weitere, linksliberale Schule, die sich aus Autor: innensicht dem literarischen Kino widmet, ohne jedoch dem analytisch-distanzierten Stil Straubs und Huillets zu folgen. Volker Schlöndorff (*1939) etwa verfilmt Robert Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) als Der junge Törless (1966). Zwei der Hauptprotagonisten des Neuen Deutschen Films nehmen ganz am Ende des Jahrzehnts die Filmarbeit auf. Workaholic und Aushängeschild des jungen deutschen Kinos wird Rainer Werner Fassbinder, der sich mit Liebe ist kälter als der Tod 1969 als Autorenfilmer etabliert, einem Zuhälterdrama in der Münchner Unterwelt, das neorealistische Züge trägt, indem es auf Originalschauplätze, lange analytische Kameraeinstellungen und eine verspielte Dekonstruktion eines Gangsterfilms setzt. Fassbinder wird sich in seinem schier übermenschlichen Output als Vermittler zwischen literarischem, intellektuellem und europäisierendem Kino erweisen - seine stilistische und stoffliche Variabilität bleibt auch Jahrzehnte später verblüffend. <?page no="132"?> 132 Handbuch Filmgeschichte Wim Wenders (*1945) dreht derweil 1969 den hochinteressanten Fernsehkurzfilm Drei amerikanische LPs (1969) zusammen mit dem heute umstrittenen Nobelpreisträger Peter Handke. Auch wenn Wenders und Fassbinder damit am Ende der Dekade erste Duftmarken setzen, werden die 1970er-Jahre ihr Jahrzehnt werden. In der DDR werden die 1960er-Jahre zu einer Dekade des Kampfes mit der parteilichen Zensurbehörde. Die Verschärfung des Partei- Dogmas führt Anfang des Jahrzehnts zu einer drastischen Reduktion künstlerischer Freiheiten, die auch in der Filmproduktion spürbar wird. Gerhard Klein (1920-1970), der in den 1950er-Jahren alltagsrealistische Berlin-Filme wie Berlin, Ecke Schönhauser (1957) gedreht hat, ist gezwungen, sich subtiler in Regimekritik zu üben - etwa im zur Zeit des in diese reaktionäre Phase fallenden Mauerbaus (13. August 1961) veröffentlichten Der Fall Gleiwitz (1961; uraufgeführt nur elf Tage danach am 24. August 1961) über den von Hitler fingierten Kriegsanlass des polnischen Überfalls auf einen deutschen Radiosender. Konrad Wolf (1925-1982) dreht 1963 Der geteilte Himmel nach dem Buch von Christa Wolf, der sich der Parteilinie trotz der brisanten Buchvorlage geschickt annähert, indem der Film sehr stark von Form-Experimenten geprägt und damit dem von der SED kritisch gesehenen Realismus entrückt ist. Deutlichere Oppositionstöne finden sich in Ralf Kirstens (1930-1998) Auf der Sonnenseite (1962), der Manfred Krugs illustre Karriere startet. Krug spielt darin einen Stahlschmelzer, der Schauspieler werden will, was gleichsam eine Reihe von Arbeiter-Künstler- Portraits in der DDR der 1960er-Jahre fortsetzt, die mit Jürgen Böttchers (*1931) verbotenem Dokumentarfilm Drei von vielen (1961) angehoben hat. In der westdeutschen Zeit des Umbruchs in den Jahren 1966 und 1967 wird der Einfluss der Neuen Wellen auch in der DDR stärker spürbar. Die SED reagiert darauf mit einer rigorosen Zensurpolitik. Frank Beyers (1932- 2006) Spur der Steine etwa wird 1966 paradoxerweise verboten, da die paranoiden Regimetreuen den sozialistischen Optimismus der eigenen Filmemacher nicht mehr zu erkennen vermögen. Das desillusioniert auch Größen wie Kurt Maetzig, die kurz vorher noch von der Idee eines sozialistischen deutschen Staates überzeugt gewesen sind. Ein vorläufiger Punkt der Eskalation in dem Für und Wider von Partei und Künstler: innen wird erreicht, als Egon Günthers (1927-2017) Auftragsfilm Abschied (1968) über den Werdegang des Parteigängers Johannes R. Becher (er hat unter anderem den Text der Nationalhymne Auferstanden aus Ruinen verfasst) starke satirische Untertöne enthält - so geht es bis zum Ende der Dekade ohne nennenswerte Entspannung dahin. Konrad Wolf dreht indessen unbehelligt weiter - da die Zensurkrise an ihm vorbeigegangen ist, darf er 1968 seinen autobiographischen und dezent russlandkritischen Film Ich war neunzehn (1968) veröffentlichen. 1960er: Europa ie berühmteste und einflussreichste Erneuerungsbewegung der 1960er- Jahre ist wohl die Nouvelle Vague Frankreichs . Dort widmen sich um die Jahrzehntwende die Filmkritiker der Cahiers du cinéma , die vormals nur Kurzfilme oder Dokumentarfilme gedreht haben, erstmals Langformaten - zuerst Claude Chabrol (1930-2010) mit Le Beau Serge (1958), dann François Truffaut (1932-1984) mit Les 400 Coups (1959). Beide wählen einen vom Neorealismus beeinflussten, aber auch auf poetische Weise ästhetisierenden Stil, der formal viel Kamerabewegung und inhaltlich viel D <?page no="133"?> 1961 bis 1970 Experimente der Erneuerung 133 Systemkritik aufweist. Die Grundlagen dieser Filme sind zudem stark konstruierte Drehbücher, welche ihren ästhetischen Realismus Lügen strafen. Éric Rohmer (1920- 2010) und Jacques Rivette (1928-2016) sind weitaus enigmatischer und ihr am Theater orientierter Stil ist analytischer, die Dialoge stärker improvisiert, die Handlungen kaum noch kausal zusammenhängend. Besonders Rivettes Filme avancieren immer mehr zu einem scheinbar unstrukturierten Schauspieler: innenkino, das unter der Oberfläche jedoch unzählige Bedeutungsschichten entfaltet. Rohmer und Rivette beginnen ihre jeweiligen Langfilm-Karrieren mit Le Signe du Lion (1959) und Paris nous appartient (1960). Jean-Luc Godard (*1930) veröffentlicht ebenfalls 1960 À bout de Souffle , der mit seinen ironischen Genrereflexionen den USamerikanischen Gangsterfilm herausfordert, und durch Schnitt- und Tonexperimente sowie selbstreflexive Normverstöße einen sehr auffälligen Personalstil an den Tag legt, der Godards Werk bis 1967 zu einer Art Korpus theoretischer Abhandlungen in Filmform werden lässt. À bout de Souffle wird neben Truffauts Les 400 Coups zum bekanntesten Film der Bewegung - zumindest, bis Godard 1963 in Le mépris Fritz Lang als Schauspieler neben Brigitte Bardot auftreten lässt. Aber vielen von Godards Filmen wird internationale Aufmerksamkeit zuteil, die er in seiner noch stärker marxistisch geprägten Phase ab 1967/ 68 zeitweise etwas verliert; er macht allerdings auch heute noch aufsehenerregende Filme. Ein Beispiel für seinen überdeterminierten Stil findet sich in Pierrot le Fou (1965), dessen Farbkomposition ebenso explizit mit Bedeutungen aufgeladen ist wie die von Godard seit jeher ins Zentrum gerückte Ebene des Tons. Godard und Rivette beteiligen insbesondere ihre Schauspielerinnen intensiv am kreativen Prozess, dabei wird Godards Ehefrau, die Dänin Anna Karina (1940-2019) , neben Jeanne Moreau (1928- 2017) zum Gesicht der Nouvelle Vague. Auch die kürzlich verstorbene Belgierin Agnès Varda (1928-2019) gerät bald in den Dunstkreis der Filmemachergruppe und dreht in Paris Cléo de 5 à 7 (1962) und Le bonheur (1965). In den Sog der Gruppe geraten indessen auch Filmemacher einer älteren Generation wie der letztmals erwähnte Louis Malle mit Zazie dans le métro (1960) sowie Alain Resnais (1922-2014), der in den 1950er-Jahren die Konzentrationslager-Dokumentation Nuit et bruillard (1954) und den formal sehr experimentellen Hiroshima Mon Amour (1959) gedreht hat und nun mit L’année dernière à Marienbad (1961) seine Reflexionen über die Subjektivität (und Fehlbarkeit) von Erinnerung fortsetzt. Es sind insgesamt 97 Regisseur: innen, die zwischen 1958 und 1962 in Frankreich als Filmemacher: innen debütierten - davon überleben verhältnismäßig wenige Namen, wenngleich die Zahl der bis heute hochgradig bekannten Filmemacher: innen, die in jenen Jahren die Arbeit aufgenommen haben, nach wie vor beeindruckend ist. Aber auch wenn die lautstark proklamierte Programmatik der ‚Nouvelle Vague‘ das nahelegen mag, dreht sich nicht das gesamte französische Kino der 1960er-Jahre um jene Gruppe ehemaliger Filmkritiker, nicht einmal der gesamte künstlerische Film geht darin auf. Bereits seit den 1930er-Jahren geht z. B. Jacques Tati (1907-1982) einen eisernen Sonderweg. Tati verantwortet im Laufe seiner Karriere insgesamt nur acht Filme als Regisseur, darunter lediglich sechs Langfilme. Mit Jour de fête (1949) feiert er seinen populären Durchbruch, der immer an seine chaplineske Figur Monsieur Hulot geknüpft ist, in der Tradition des Stummfilm- Slapstick-Films ein wiederkehrender Charakter, der gegen die Tücke des Objekts in der Welt kämpft. In den 1950er-Jahren folgen zwei weitere Monsieur-Hulot-Filme und nach einer langen Pause überträgt Tati sein modernisiertes Slapstick-Konzept, das auch in den 1960er-Jahren noch ohne relevante <?page no="134"?> 134 Handbuch Filmgeschichte Dialoge auskommt, auf eine Art übertechnisiertes, aber gleichzeitig dysfunktionales Paris, das den Schauplatz für Playtime von 1967 darstellt. Und auch der Dokumentarfilm ist um die Dekadenwende einem Wandel unterworfen, und während der Spielfilm vielerorts mehr Realismus in der Inszenierung, in der mise en scène und im Schauspielstil einfordert, versucht sich der Dokumentarfilm indessen programmatisch an noch mehr „Wahrheit“. In Frankreich heißt das cinéma vérité und geht aus der Ethnographie hervor, deren Prinzipien der Objektivität Edgar Morin (*1921) und Jean Rouch (1917-2004) nunmehr auf den großstädtischen Dokumentarfilm übertragen - wie auch das direct cinema sind die Bewegung und ihr Begründungsfilm Chronique d’un été von 1961 nur durch die neuen bezahlbaren tragbaren Kameras möglich. In Italien etabliert sich in den 1960er-Jahren jene künstlerische Spannung zwischen explosiv-formalistischem Genrekino und distinktem Autorenfilm, welche die folgenden drei Dekaden prägen wird. Mit dem Italowestern tritt eines der berühmtesten und wiedererkennbarsten Subgenres des überbordenden italienischen Genrefilms seinen weltweiten Siegeszug an. Auch hier sind Akira Kurosawas Filme modellbildend, die sich in den 1950er-Jahren am Western und Abenteuerfilm der USA orientieren und dort wiederum rezipiert und re-adaptiert werden. Auch Yojimbo von 1961 fällt in diese Kategorie Film, jedoch ist es diesmal Sergio Leone (1929-1989), der den Stoff aufgreift und mit seinem in Spanien gedrehten Film Per un pugno di dollari (1964) den Italowestern begründet. Der Italowestern ist langsamer, panoramaverliebter, schmutziger, wortkarger, (noch) sexistischer, pessimistischer und brutaler als sein amerikanisches Pendant - er beeinflusst damit wiederum den revisionistischen und desillusionierenden US-Western der 1970er-Jahre. Neben der „Dollar“-Trilogie von Leone und dem weltweit bis heute sehr erfolgreichen C’era una volta il West (1968) entstehen zahllose B-Produktionen, die oft in den Exploitation-Bereich hineinragen und Brutalität, Fetisch, Trivialdialoge und Stilüberhöhung der A-Vorbilder noch steigern. Die Zusammenarbeit mit Leone begründet außerdem den Weltruhm des wohl bekanntesten Filmkomponisten überhaupt, Ennio Morricone (1928-2020). Überhaupt steigt im Italien der 1960er-Jahre der Genrefilm zur visuellen Experimentierfläche auf. Das Giallo, ein psychologischsadistisches Kriminalfilm-Modell, das oft einen frauenfeindlichen Serienmörder als Täter und/ oder Protagonisten hat, entsteht ebenfalls in dieser Zeit. Das Gelb (giallo) des Namens bezieht sich, ähnlich wie das noir des Film noir, auf eine Bezeichnung für Kriminalliteratur, nämlich die italienische letteratura gialla, die allerdings eher auf der noch niedrigeren Groschenromanebene angesiedelt ist. Mario Bavas (1914-1980) Sei donne per l’assassino (Blutige Seide, 1964) und Dario Argentos (*1940) L’uccello dalle piume di cristallo (Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe, 1969) definieren den Stil des Genres, das in den 1970er-Jahren eine internationale (auch spanische, französische, deutsche) Hochphase erleben wird. Das Autorenkino entwickelt sich in Italien derweil zu einem hochkulturellen Kontrapunkt des populären Films. Federico Fellini dreht mit La Dolce Vita (1960) einen Welterfolg, der in seiner episodischen Verhandlung des Lebens eines Paparazzo in Rom das ausländische Italienbild maßgeblich prägen sollte. 1963 folgt 8½ , ein selbstbewusster autobiographischer Film, der neben die Erlebnisse des Regisseurs Guido (Marcello Mastroianni), das Alter Ego Fellinis, dessen Träume und Filme montiert und so ein selbstironisches Künstlerstatement pro Autorenkino abgibt. 1965 folgt der surrealismen- <?page no="135"?> 1961 bis 1970 Experimente der Erneuerung 135 reiche Giulietta degli Spiriti (1965) mit Fellinis Ehefrau Giulia Masina in der Hauptrolle, deren fiktiver Ehemann (ebenso wie Fellini) sie betrügt und mithilfe der Hinwendung zum Mystischen von ihr verlassen und überwunden werden kann. Pier Paolo Pasolini (1922-1975) beginnt als literarischer Autor und wird später Filmemacher, wodurch er sowohl einen sehr starken künstlerischpolitischen Anspruch als auch einen sehr speziellen Stil zum Kino mitbringt. Accatone (1961) ist ein Angriff auf Kirche und Bürgertum, der die Geschichte eines Zuhälters in den Mittelpunkt stellt, während Teorema (1968) das spießbürgerliche Lebensmodell vollständig infrage stellt: Ein unbekannter Gast kommt in eine Familie und verkehrt mit allen Angehörigen der ansässigen Familie sexuell. Dann reist er plötzlich ab und alle sind gezwungen, ein komplett neues Leben zu führen, was zu Entwürfen von Wahnsinn über Heiligenleben bis hin zu abstrakter Malerei führt. Lina Wertmüller (*1928) dreht mit I basilischi (1963) ein hochgradig ironisches Kleinstadtporträt, das die Ausbruchsträume seines Protagonisten letztlich im Keim ersticken lässt. Die Regisseurin dreht auch unter Pseudonym Erotik-Italowestern wie The Belle Starr Story (1967), ihr Nachruhm gründet aber mehr auf den ironischen und gesellschaftskritischen Komödien wie dem Episodenfilm Questa volta parliamo di uomini von 1965. Der Film im Großbritannien der 1960er- Jahre tritt als Unterhaltungsindustrie in den Sektoren Horrorfilm, Agentenfilm (vor allem durch die James Bond -Reihe, deren erster Film Dr. No 1962 erscheint), Musikfilm (revitalisiert durch die Beatles und A Hard Day’s Night , 1964) und Komödie gestärkt hervor. Dies liegt auch an der amerikanischen Querfinanzierung und einer engen Verbandelung mit manchen amerikanischen Studios, die sich als geschickter ökonomischer Schachzug erweist. Aus dem free cinema der 1950er-Jahre geht das sogenannte kitchen sink cinema hervor, das aufgrund seines Klassen- und Alltagsfokus so benannt ist. Ursprung des Namens ist ein Gemälde von John Bratby, das sich der hässlichen Normalität einer Küchenspüle widmet - in den 1950er-Jahren findet der Begriff dann Anwendung als Theaterlabel, ehe er auf die daraus hervorgehenden Filme wie A Taste of Honey (1961, Tony Richardson) übertragen wird. Die Bewegung erstreckt sich auch zeitgleich über mehrere Medien - wie Theater, Literatur und Fernsehen - und hat eine noch stärkere politische Prägung und einen radikaleren Hang zum Tabubruch als vergleichbare neue Wellen. In A Taste of Honey werden beispielsweise Teenagerschwangerschaft, Homosexualität und eine Beziehung zwischen einer sogenannten ‚weißen‘ Britin und einem Afro- Europäer thematisiert, was - einmal ganz abgesehen von der enormen Eigenständigkeit der 17-jährigen Protagonistin - gleich auf mehreren Ebenen das gutbürgerliche Weltbild herausfordert und infrage stellt. Die etablierten Free-Cinema-Regisseure drehen mit Vorliebe Filme über die junge, befreite Generation: Coming-of-age- und Jugend-Filme, wie Tony Richardsons The Loneliness of the Long Distance Runner (1962) und Lindsay Andersons If… (1968), der sich äußerst kritisch und offen mit britischen public schools auseinandersetzt. Der linksliberale Regisseur Ken Loach (*1936) beginnt mit Anthologiedramen für das Fernsehen und leitet daraus sein modellhaftes Sozialdrama-Konzept ab, das er erstmals mit Kes (1969) auf die Leinwand bringt. Darin geht es um einen fünfzehn Jahre alten Außenseiter, der eines Tages einen Turmfalken stiehlt und durch die Aufzucht des Vogels Selbstvertrauen gewinnt und sich sozial fortan anders integrieren kann. Der ‚andere <?page no="136"?> 136 Handbuch Filmgeschichte Ken‘, Ken Russell (1927-2011), beginnt auch beim Fernsehen und dreht dort innovative Künstlerporträts, die mit bürgerlich-althergebrachten Konzeptionen von Beginn an brechen. 1969 wird er mit seinem dritten Kinofilm Women in Love berühmt und berüchtigt - wegen der offenherzigen Darstellung von Homosexualität gleich zweier Geschlechter, die im Nacktringkampf zweier Figuren gipfelt. London avanciert Ende der 1960er-Jahre zum liberalen Zentrum der swinging sixties und zieht dementsprechend Filmemacher: innen aus ganz Europa an, welche die lukrativen und freiheitlichen Arbeitsbedingungen dort wertschätzen. Michelangelo Antonioni (1912- 2007) hat bereits in den 1950er-Jahren erste Erfolge in Italien gefeiert, erlebt aber mit L’avventura (1960) und La notte (1961) seinen internationalen Durchbruch. Antonioni geht wie viele andere Mitte der Dekade nach London, das sich in den späten 1960ern zum filmischen Mittelpunkt Europas entwickelt. Dort dreht er Blow up (1966), eine sezierende Dekonstruktion der swinging sixties, die einen Fotografen porträtiert, der möglicherweise versehentlich einen Mord fotografiert hat. Das „Blow up“, die Großaufnahme, gibt keinen endgültigen Aufschluss, und die Unsicherheit, was faktisch ist und was subjektiv, parodiert die narzisstische Stoßrichtung der porträtierten Zeit - so eine von vielen möglichen Deutungen. Die meisten Emigranten kommen aus der restriktiven Arbeitsumgebung Polens - so z. B. Andrzej Wajda oder Jerzy Skolimowski (*1938), die um die Jahrzehntwende nach London gehen. Auch Roman Polanski (*1933) geht 1965 in die britische Hauptstadt und dreht dort Repulsion und Cul-de-Sac (1966). Francois Truffaut verlebt in England derweil nur ein kurzes Intermezzo und dreht dort 1966 die Ray-Bradbury-Verfilmung Fahrenheit 451 . In Schweden arbeitet in den 1950er- und 1960er-Jahren einer der größten Namen der Filmgeschichte: 1956 gewinnt Ingmar Bergman (1918-2007) in Cannes mit Sommarnattens leende (Das Lächeln einer Sommernacht) und kann damit wiederum Das siebente Siegel finanzieren. 1958 gewinnt er den Goldenen Bären mit Smultronstället (Wilde Erdbeeren), 1960 und 1961 gewinnt er zwei Mal hintereinander den Oscar für den besten fremdsprachigen Film - für Jungfrukällan (Die Jungfrauenquelle) und Såsom i en spegel (Wie in einem Spiegel). Dadurch avanciert er zu einem der bekanntesten Regisseure weltweit, aber kaum jemals für ein großes Publikum: Bergmans reflexive, ruhige, existenzialistische Filme beschäftigen sich mit Glauben, Erinnerung, Erotik, der Tektonik und Dynamik von Beziehungen. Der Regisseur schart ein festes Team um sich, das fast ebenso populär wird wie er - namentlich der Kameramann Sven Nykvist (von 1960 bis 1983) und die norwegische Schauspielerin Liv Ullmann (von 1966 bis in die späten 1970er-Jahre hinein). Als bester schwedischer Film dieses ‚zweiten goldenen Zeitalters‘ des skandinavischen Staates gilt aber häufig Bo Widerbergs (1930- 1997) Kvarteret Korpen (Das Rabenviertel, 1963), der in einem Malmöer Elendsviertel spielt - eine komplexe Sozialstudie über Aufstiegs(un)möglichkeiten, Verfall und Generationenkonflikte, die sich an der schwedischen Literatur des Naturalismus zu orientieren scheint. Widerbergs Stil wird in diesem Sinne manchmal als „poetischer Naturalismus“ bezeichnet. Selbst aus einem Armenviertel stammend, wirkt die Regisseurin, Autorin und Schauspielerin Mai Zetterling (1925-1994) nach Erfahrungen in England ab 1964 wieder in Schweden und auf Schwedisch. Flickorna (Die Mädchen, 1968) ist ein hochgradig genderpolitischer Film, der sich mit dem Status quo der Emanzipation anhand in komplexe Erzählrahmen (wie Theaterbühnen, Fernsehen, historische Situationen) eingebundenen Szenen mit dem Geschlechterkampf auseinandersetzt. <?page no="137"?> 1961 bis 1970 Experimente der Erneuerung 137 Carlos Saura (*1932), der trotz der Machtübernahme des faschistischen Franco- Regimes in Spanien geblieben ist, versucht sich mit seinen Werken an einer Anknüpfung des weitgehend isolierten spanischen Kinos an den Weltmarkt. Seine dezent kritischen Gesellschaftsporträts wie das Ehedrama La madriguera (Höhle der Erinnerungen, 1969) werden auf politischen Filmfestivals stets hochgeschätzt. 1961 holt Saura eine Sondergenehmigung ein, sein großes Vorbild Luis Buñuel, im Franco- Regime eine Persona non grata, nach Spanien holen zu dürfen. Buñuel soll mit dem vorsichtigen Segen Francos und der katholischen Kirche sein Talent dem Patriotismus unterordnen, dreht aber stattdessen seinen bis dahin vielleicht subversivsten Film Viridiana (1961), dessen Abendmahlsparodie eines von Viridiana veranstalteten Bettlermahls in der Katastrophe endet, da Viridiana fast vergewaltigt wird und die Bettler den Gutshof, auf dem Viridiana selbst zu Gast ist, verwüsten. In Spanien wird der Film sogleich wieder verboten, in Frankreich gewinnt er die Goldene Palme von Cannes. Die katholische Kirche will Buñuel in der Folge kurioserweise nach wie vor für sich beanspruchen (oder hat den Film nicht verstanden) und schickt eine Delegation nach New York, um ihm einen Sonderpreis für seinen nicht weniger kirchenkritischen Film Nazarín (1958) zu überreichen - der Regisseur ist für die Priester jedoch nicht zu sprechen. Unter den vielen neuen Wellen, die sich in Ostmitteleuropa in Folge des Tauwetters etablieren, sticht die Nova Vlna der Tschechoslowakei hervor. Seit etwa 1962 werden die Filmemacher: innen Schritt um Schritt immer systemkritischer, aber auch formal verspielter, sodass die Werke aus dieser Zeit nicht nur politisch, sondern auch filmästhetisch hochgradig ungewöhnlich sind. Miloš Forman (1932-2018) befasst sich in Petr (Schwarzer Peter, 1963) und Lásky jedné plavovlásky (Die Liebe einer Blondine, 1965) mit unangepassten Jugendlichen beider Geschlechter, bevor er in dem dörflichen Setting von (Der Feuerwehrball, 1967) durch eine Serie von Katastrophen, die das titelgebende Fest erschüttern, die Inkompetenz des Systems vorführt - der Film wird in der Tschechoslowakei „für immer verboten“ und Forman geht nach dieser enttäuschenden Erfahrung ins Exil. Auch (1938-2020) bevorzugt oft dörfliche Settings für seine hochgradig ironischen Filme. Der Widerspruch zwischen einem allgemeinen Humanismus und den Positionen des Systems sorgt hier oft für den zentralen Konflikt; meistens ist dies jedoch subtil versteckt. Eine Ausnahme bildet (Lerchen am Faden) von 1969, in dem die Umerziehung von Bürgerlichen durch Zwangsarbeit auf einem Schrottplatz eindeutigst dargestellt wird - was Menzel eine explizite Verwarnung einbringt. Der Film wird zudem bis 1990 verboten. Die formal herausragendste Regisseurin der Zeit ist indessen (1929-2014), deren Sedmikrásky (Tausendschönchen - kein Märchen, 1966) eine scheinbar beliebige Montage aus ernsten und komischen Elementen, schwarzweiß, Farbe und Kolorierung, Slapstick und Reflexion darstellt. Die Mädchen Marie und Marie essen darin vom Baum der Erkenntnis und hören insgesamt kaum noch auf zu essen. Sie reisen durch Zeit und Raum und zerstören dabei symbolisch (z. B. phallisches Essen wie Gurken und Eier) oder real ihre Umgebung. Viele Filme des Prager Frühlings 1968 richten sich offen gegen das Regime und erwecken den Eindruck, die Zwangsherrschaft sei bereits vorbei - bis bekanntermaßen die Sowjets am 21. August 1968 einmarschieren und die Freiheitsbewegung mitsamt der Neuen Welle bis auf Weiteres gewaltsam zerschlagen. <?page no="138"?> 138 Handbuch Filmgeschichte Das Tauwetterkino der Sowjetunion ist geprägt von Coming-of-age-Filmen und revisionistischen Kriegsfilmen, die nunmehr nicht die Helden des Krieges, sondern seine Opfer fokussieren. Andrej Tarkowskij (1932- 1986) dreht in diesem Sinne seinen Debütfilm Ivanovo Detstvo (Iwans Kindheit, 1962), der beide Themen miteinander verbindet und die Geschichte, Leben und Tod eines jungen Armeekundschafters erzählt. Tarkowskijs kontrastreiche, stilistisch sehr deutliche Darstellung macht den Film schlagartig berühmt und seinen Regisseur mit ihm. Ab seinem zweiten Film hat Tarkowskij allerdings bis zu seiner Auswanderung nach Italien 1983 immer wieder Probleme mit der Zensur. Der Historienfilm Andrej Rubljow wird zwar 1966 fertiggestellt, aber erst 1969 wird eine - bereits nach Zensurauflagen veränderte - Fassung in Cannes gezeigt. In der Sowjetunion wird der Film aufgrund seines Menschen-, Künstler- und Gesellschaftsbildes erst 1973 freigegeben, und dann in einer geradezu entstellen Fassung. Der Film ist hochgradig autopoietisch bezüglich Tarkowskijs Selbstverständnis als Bildkünstler; die finale Inszenierung der Ikonenbilder Rubljows wechselt plötzlich in Farbe, um den dauerhaften Wert der Kunst zu untermalen. Die über drei Stunden lange Originalfassung liegt mittlerweile auf Blu-Ray vor. 1960er: USA n seinem Ende angelangt, verfällt das klassische Studiosystem Hollywoods im Verlauf der 1960er-Jahre zunehmend in Dekadenz. Große ökonomische Erfolge werden ausgerechnet mit den konservativsten aller Filme erzielt - mit Musicals und Sandalen- oder Abenteuerfilmen, die keine neue junge Zielgruppe generieren, welche Hollywood ohnehin schon dringend fehlt. Dafür spielen Mary Poppins (1964), My Fair Lady (1964), The Sound of Music (1965), Lawrence of Arabia (1962) und Cleopatra (1963) immer noch beachtliche Summen ein. Verglichen mit den Riesenerfolgen des monumentalen Films in den 1950er-Jahren - beispielsweise mit Quo Vadis? (1951) und The Ten Commandments (1956) - ist die Marge angesichts der hohen Produktionskosten jedoch vergleichsweise gering. Ein idealtypisches Beispiel dafür, dass das Hollywood-Rezept für viele mittlerweile den Geschmack verloren hat, ist der relativ erfolgreiche, aber nicht gerade bahnbrechende Film Camelot (1967, Joshua Logan). Eigentlich sollte dieser eine ‚eierlegende Wollmilchsau‘ des Studiokinos sein, handelt es sich doch um ein Monumental-Musical mit historischem Stoff und Broadway- Vorlage, gespickt mit Stars und ironischen, augenzwinkernden Bezugnahmen auf die sogenannte Gegen- und Jugendkultur der 1960er-Jahre. Als solche perfekte Mischung bleibt Camelot , obwohl er fast das Dreifache des 13-Millionen-Dollar-Budgets einspielt, letztlich hinter den Erwartungen zurück. Hollywood ist erfasst von einer Atmosphäre des Rückgangs und erneuert sich zu wenig selbst. Aufgrund eines Rückgangs der Kinobesucher: innenzahlen verschlechtert sich die Marge von Budget und Einnahmen, klassische Genres haben sich selbst überholt, und bisweilen lesen sich clevere Genre- Reflexionen wie John Fords Spätwestern The Man Who Shot Liberty Valance (1962) bereits als resignierter Abgesang, ein Nachruf nicht nur auf den klassischen Western, sondern das klassische Hollywoodkino an sich. Der rettende Schachzug besteht jedoch in der Selbsterneuerung. Mit Low-Budget-Produktionen unternehmen einige altgediente und etliche junge, unverbrauchte Regisseure eine dedizierte Ausweitung der Zielgruppe auf die ebenfalls junge, unbeleckte Gegenkultur. Arthur Penns Bonnie & Clyde gilt 1967 mit seiner offenen Darstellung von sex & crime als Startschuss jener Bewegung, die später A <?page no="139"?> 1961 bis 1970 Experimente der Erneuerung 139 als New Hollywood bekannt werden wird. Die große Marge, die derartige Low-Budget- Produktionen bei extrem reduziertem Risiko aufweisen können, ist verlockend und führt dazu, dass sich in den USA plötzlich B- Movie-Produktionen von A-Studios mit Stoffen auseinandersetzen, die kurz zuvor noch Roger Corman und AIP vorbehalten gewesen wären. In Filmen wie Greetings (1968, Brian De Palma) oder M*A*S*H (1970, Robert Altman) findet sich offene Kritik am zeitgenössischen Vietnam-Krieg, Dennis Hopper (1936-2010) revidiert in Easy Rider (1969) gar die gesamte Idee der Americana. Und der Corman-Bezug ist nicht zufällig, denn es ergeben sich plötzlich Schnittmengen, Berührungspunkte und Begegnungen zwischen den big four und den Independents, z. B. im AIP-Film The Trip von 1967, der von Roger Corman gedreht und produziert und von Jack Nicholson geschrieben wird; Peter Fonda, Dennis Hopper, Susan Strasberg und Bruce Dern spielen mit und Mike Bloomfield sowie The Electric Flag liefern den Soundtrack. Ansonsten etabliert sich der Drogenfilm eher in obskuren Nischen, wie in Chappaqua von 1966, Conrad Rooks’ (1934- 2011) autobiographischer Geschichte vom eigenen Entzug, die als Ausläufer des Beatnikfilms erscheint und gleichzeitig eine Scharnierstellung zum aufkommenden psychedelischen Kino um 1967 innehat. Auch die zeitgenössische Popmusik wird vermarktet und ausgeschlachtet, wodurch sich unter anderem die heute noch ökonomisch viable Konvention des Songscorings etabliert. Die Blaupause dafür liefert Mike Nichols’ (1931- 2014) Film The Graduate (1967), der auch in anderer Hinsicht häufig als gesellschaftsanalytischer Standard für das New-Hollywood- Kino gilt. Die Versuche, zielgruppenübergreifende Mischformen zu schaffen, sind häufig nicht von großem Erfolg gekrönt: Neben Camelot ist Don Siegels (1912-1991) Coogan’s Bluff (1968) mit Clint Eastwood in der Hauptrolle zu erwähnen. Der Schauspieler möchte damit nach seiner prominenten Italowestern- Phase sein Image neu definieren - wie in einer ganzen Reihe von Filmen, in denen er zwischen 1968 und 1973 mitwirkt - und ermittelt hier als naiver Ermittler vom Land im städtischen Gegenkultur-Milieu, das ihn in mehrfacher Hinsicht überfordert. Insgesamt hat das ‚neue‘ Hollywood-Kino der späten 1960er-Jahre ein breites Spektrum an Stilen und Stoffen aufzuweisen. Es rangiert von Zielgruppen-Kino, in dem das ökonomische Kalkül leicht durchschaubar ist, bis hin zu einer Art amerikanischen Pendants zum europäischen „Autorenfilm“ wie etwa Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968). Kubrick etabliert sich nach seinen formalen Experimenten der 1950er-Jahre bereits 1964 mit Dr. Strangelove, or: How I learned to stop worrying and love the bomb als ironischer und gesellschaftskritischer Regisseur - 2001 zementiert seinen Ruf als ambitionierter Perfektionist. Insgesamt ist das amerikanische Kino der Gegenkultur genau wie ihr realweltlicher politischer Unterbau eine eher kurzlebige Bewegung mit relativ schnellen (Re-)produktionszyklen. So ist die Hippie-Fabel Hair 1967 noch ein angesagtes Off-Broadway- Musical, und 1968 schon im Mainstream von Broadway und West End angekommen. Bereits 1977 erfolgt dann die Historisierung des Stoffes durch ein Broadway-Revival, das 1979 zu dem Film von Miloš Forman (1932- 2018) führt. Ein weiteres Beispiel ist Jacques Rivettes knapp dreizehn Stunden langes Meisterwerk Out 1, noli me tangere , das 1970 gedreht wird und bereits zu jenem Zeitpunkt das Scheitern der Bewegung von 1968 kritisch reflektiert. Der eigentliche US-Independent-Film spielt sich indessen abseits der Hochzeit von AIP und Hollywood in Zeiten der New-Hollywood-Erneuerung ab. So entwickelt John Cassavetes (1929-1989) sein theaterorientier- <?page no="140"?> 140 Handbuch Filmgeschichte tes Independent-Kino, das er als „improvisiertes Kino“ etikettiert. 1959 feiert er mit Shadows einen kleineren Erfolg und adaptiert für seinen Film Faces von 1968 die dokumentarischen Techniken des cinéma vérité. Im Dokumentarfilm selbst etabliert sich derweil das direct cinema als politisches und ästhetisches britisch-amerikanisches Äquivalent (aber nicht ganz) vom cinéma vérité, sodass die Begriffe manchmal durcheinandergeraten. Das cinéma vérité integriert jedoch stärker die Subjektposition de: r Macher: in, während das direct cinema sich der Idee verschreibt, wie eine fly on the wall als reine Beobachtungsinstanz am Geschehen teilzunehmen. Die Hauptprotagonist: innen des direct cinema sind Robert Drew (1924-2014), Richard Leacock (1921-2011, GB), DA Pennebaker (1925-2019), Frederick Wiseman (*1930), Charlotte Zwerin (1931-2004). Sie beginnen mit politischen Dokumentationen zum Vorwahlkampf von John F. Kennedy und drehen später Tourneedokus (Pennebaker, Dont Look Back , 1965/ 67), soziologische Studien (Zwerin, Maysles & Maysles, Salesman , 1969) oder elaborierte Analysen durch Beobachtung in diskreten Institutionen (Wiseman, Titicut Follies , 1967, und sämtliche weitere Filme). Neben alledem etablieren sich in den USA neue Spielorte für Exploitation- und B-Filme: die Grindhouse-Kinos. Dabei handelt es sich um ehemalige Striptease- und Tanzclubs, die in den 1960er-Jahren umgewandelt werden. Oft laufen solche Filme auch in Drive-In Movie Theatres , die mit dem Auto besucht werden können und für die kommenden Dekaden ein üblicher Date-Treffpunkt junger Publika sind. 1960er: Globales Kino In Ägypten führt die Verstaatlichung der Filmindustrie im Jahre 1961 erst einmal zu einem Aufschwung und die Folgejahre sind von einer Verstetigung der Tradition des hochklassigen ägyptischen Kinos aus den 1950er-Jahren geprägt. Zuletzt führt ebenjene Verstaatlichung jedoch in eine finanzielle Katastrophe, die das ägyptische Kino in eine ökonomische Krise stürzt, und während sich in anderen islamischen Ländern wie dem Iran oder Marokko ‚neue Wellen‘ formieren, stagniert das ägyptische Kino in den 1960er- Jahren, was einige seiner wichtigsten Köpfe ins Exil treibt. In Südkorea resultiert die Lockerung der Zensur bis etwa 1963 in einer Blütezeit des südkoreanischen Kinos. Mabu (Der Kutscher, 1961 ,Dae-jin Kang) ist der erste große internationale Erfolg und gewinnt den Silbernen Bären. Das Familiendrama thematisiert die Entwurzelung der Agrararbeiterfamilien durch Modernisierung und schildert dabei geradezu surrealistisch übertriebene Zustände des Elends. Obaltan (1961, Yu Hyun-mok) handelt von einer durch den Krieg gebeutelten Familie, die ebenfalls Integrationsschwierigkeiten in der neuen Gesellschaftsordnung hat. Der Film ist sehr einflussreich auf jüngere Regisseur: innengenerationen und gilt oft als bester koreanischer Film überhaupt. Aufgrund all der Familienkrisen kommt der Protagonist Cheolho erst, als sein Bruder für einen Banküberfall verhaftet wurde und seine Frau im Kindbett gestorben ist, dazu, den Zahnarzt zu besuchen - und jetzt benötigt er das Geld nicht mehr so dringend. Dieser zieht ihm nur einen von zwei kaputten Zähnen und der Film endet, wie er begonnen hat, mit Cheolhos Zahnschmerzen, die symbolisch für die sozialen Probleme seines Milieus stehen. 1960 erscheint Kim Ki-youngs (1919-1998) Hanyo (Das Hausmädchen), in dem ein Fa- <?page no="141"?> 1961 bis 1970 Experimente der Erneuerung 141 milienvater ein Hausmädchen schwängert, das ihn erst verführt und dann erpresst, was zum Niedergang der Familie führt. Der auch heute noch oft irrwitzige Output südkoreanischer Regisseure beginnt in den 1960er- Jahren, da die hohe Nachfrage in den Kinos anders kaum befriedigt werden kann und es relativ wenig Personal gibt. Kim Soo-yong (*1929) dreht bis zu zehn Filme pro Jahr, die häufig auf populären Romanen basieren. Oft haben sie, wie Sanbul (Flamme im Tal, 1967) mit persönlichen Konflikten zwischen (kommunistischen) Nordkoreanern und Südkoreanern zu tun, die z. B. geflüchtet sind und versteckt werden. In Brasilien formiert sich Anfang der 1960er-Jahre die charakteristischste unter den Neuen Wellen Lateinamerikas: das cinema novo. Dieses orientiert sich stark am Neorealismus und inszeniert vornehmlich von einer sozialkritischen Warte aus die Missstände in brasilianischen Armenschichten. Die Settings sind anfangs oft ländlich und gegenwartsbezogen, so wie in Nelson Pereira dos Santos‘ (1928-2018) Vidas Secas (Nach Eden ist es weit, 1963). Schon bald erstreckt sich der Wunsch nach einer neuen Ästhetik jedoch auch auf historische Stoffe, wie in Carlo Diegues‘ (*1940) Ganga Zumba (1963), der im 17. Jahrhundert angesiedelt ist und von der Flucht, Umzingelung und erneuten Befreiung einer Gruppe von Sklaven erzählt. Komödien, Adaptionen literarischer Stoffe, Sozialstudien und historische Filme sind die vier bevorzugten Genres des cinema novo, es definiert sich aber generell durch seinen spielerischen Umgang mit Filmkonventionen und eine Reflexion des potenziellen Realismuscharakters des Bildes. Das schwarzafrikanische Kino erlebt ausgerechnet im Senegal , der zuvor filmhistorisch weniger stark in Erscheinung getreten ist, ein epochales Ereignis. Dort dreht Ousmane Sembène (1923-2007), der deshalb oft als ‚Vater des afrikanischen Kinos‘ gilt, den ersten originär schwarzafrikanischen Spielfilm: La Noire de… (1966), der dazu auf seiner eigenen Kurzgeschichte basiert. 1968 dreht Sembène Mandabi in seiner Muttersprache Wolof (! ), was das neue kulturelle Selbstbewusstsein des senegalesischen Films eindrucksvoll untermauert. In den 1970er- Jahren folgen viele in Ghana und besonders in Nigeria seinem Vorbild, wodurch die postkoloniale schwarzafrikanische Filmproduktion in eine neue autonome Phase gelangt. <?page no="142"?> 142 Handbuch Filmgeschichte Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts Postmoderne Filmtheorie Nach einigen Geschichtsschreibungen beginnt die filmische Moderne zwischen 1940 und 1960 mit den Autonomiebestrebungen des Filmbildes gegenüber Narration und Dramaturgie. Bisweilen wird der Neorealismus auch als eine von manchen Vorläuferbewegungen betrachtet, die schließlich im Beginn einer Moderne im Zuge der verschiedenen ‚Neuen Wellen‘ der 1960er- Jahre münden. Oliver Fahle differenziert indessen zwischen einer Ersten und einer Zweiten Moderne, wie es auch in Kunst und Soziologie üblich ist, und setzt 1960 bereits den Film der Zweiten Moderne an. Nun beginnt jedoch in etlichen Kunstgeschichtsdarstellungen 1960 gleichsam bereits die Postmoderne, und auch in den Filmen Ken Russells oder Jean-Luc Godards kann man ebenjene Merkmale verdichtet finden, die später immer wieder auf sogenannte postmoderne Regisseur: innen bezogen werden. Auf gewisse Weise führt dies vor allem vor, wie stark eine Filmgeschichtsschreibung generalisieren muss, die von derartigen großen Umbrüchen geprägt ist. Dementsprechend soll der Film der Postmoderne in diesem Kontext auch nicht als eine chronologisch gebundene Phase zwischen zwei Epochen begriffen werden, sondern als eine spezifische Spielart des Films, die potenziell - wie auch sogenannte „moderne“ Filme - große Teile der Filmgeschichte mit unterschiedlicher Quantität abdeckt. Die Merkmale, die Jens Eder dafür herausgestellt hat, häufen sich sicherlich in jüngeren Jahrzehnten, sind aber in etlichen Filmen der 1960er-Jahre bereits genau so auffindbar, sodass die Frage, ob man das postneorealistische Kino nun modern, zweitmodern, postmodern oder eben post-neorealistisch nennt, letztlich vollkommen müßig und beliebig erscheint. Allen Erneuerungsbewegungen ist eine Hinwendung zu mehr ‚Realismus‘, und damit zu einer stärkeren sozialen Verbindlichkeit des Kunst-Kommunikats Film, gemein, und ebenso allen Avantgarden eine Hinwendung zu Selbstreflexivität und Intertextualität. Häufig finden beide Pole - sozialrealistische Stilmarker und referentiell-intertextuelle Manierismen - in ein und derselben Erneuerungsbewegung zusammen und stellen dabei nicht einmal besonders ausgeprägte Gegensätze dar. Nach Jens Eder fußt die Postmoderne, die wechselweise zwischen 1960 und 1985 angesiedelt wird, im filmgeschichtlichen Rückblick auf den Merkmalen der Spektakularität bzw. Ästhetisierung (v. a. auch der Mischung derartiger Elemente aus verschiedenen Genres), der Selbstreferentialität (Ironie und Stereotypie), der Anti- Konventionalität, die sich z. B. in dekonstruktiven Erzählverfahren niederschlägt, und der Intertextualität. Nicht alle Kriterien sind notwendig; das Merkmalsgeflecht Postmoderne ist zudem komplexer als die Summe seiner Teile. Sie können qualitativ (auf ihr Vorkommen hin) oder quantitativ (auf die Stärke ihrer Ausprägung hin) analysiert werden. (vgl. Eder 2002) Auteur-Theorie Die Forderung nach mehr ‚Handschrift‘ ist häufig ein industriepolitisch motivierter Versuch der kreativen Instanzen des Films, mehr Macht über den Produktionsprozess des Produkts zu beanspruchen - symbolisch wie reell - und damit im Resultat als Urheber- oder eben Autor-Instanz für das Produkt die Verantwortung zu tragen. Narrative dieser Art bestehen häufig aus der Opposition zwischen dem unterdrückten künstlerischen Subjekt und der normativhegemonialen Produktionsinstanz - dem Individuum und dem Kollektiv. Natürlich handelt es sich in den meisten Fällen um radikale Vereinfachungen, die auf das Marketing und Branding der eigenen Persona häufig mindestens genauso stark einzahlen wie auf die eigentliche künstlerische Freiheit. In den 1960er-Jahren wird verschiedentlich die Regie führende Person (USA) und die Person, die das Drehbuch verfasst hat (Frankreich), als „Auteur“ hervorgehoben. In der Beschäftigung mit dem Film sollte jedoch klar sein, dass es sich dabei seit der Etablierung der sich arbeitsteilig entwickelnden Filmindustrie im frühen 20. Jahrhundert stets um ein metonymisches Verhältnis zwischen „Auteur“-Name und Produktionsteam handelt, was zwar unseren Gewohnheiten der Genie-Konstruktion widerspricht, aber näher an der Realität ist als die Reduktion der Produktion und Vision einer komplexen Teamarbeit, wie jeder Film eine ist, auf eine einzige Person. „Die Frage der Autorschaft ist zumeist eng an einen singulären Autor gebunden. Film jedoch, zumal Hollywood-Filme, sind bekanntermaßen das Produkt vieler daran Beteiligter. Eines der Hauptprobleme der Autorentheorien ist das Ver- <?page no="143"?> 1961 bis 1970 Experimente der Erneuerung 143 haftetsein in dem von Sarris stammenden Ranglistendenken. ‚Autor‘ wird dabei zum Adelsprädikat, welches per Kritiker/ Wissenschaftler-Urteil verliehen wird. […] Ein Film ist kein ‚Text‘ eines singulären Autors, er beinhaltet eine Fülle von Stimmen, er ist ein Orchesterwerk, an dem viele beteiligt sind.“ (Claus Tieber, Schreiben für Hollywood , 2008, 15) nouvelle(s) vague(s)/ Neue Wellen Auch bei den ‚Neuen Wellen‘ ist der marktökonomische Impetus der jeweiligen Erneuerungsbewegung stets mit zu berücksichtigen. Jede ‚Neue Welle‘ richtet sich gegen ein ‚altes Kino‘, das generalisierend als veraltet, reaktionär und formelhaft abgetan wird. Damit soll den ‚Neuen Wellen‘ nicht der gestalterische Wille zur Erneuerung abgesprochen werden, aber die Notwendigkeit der eigenen Positionierung im gesamten medialen Feld ist bei der Betrachtung derartiger Erneuerungsbewegungen nicht zu vernachlässigen. „Die französische Neue Welle war eine kohärente Bewegung, die nur für einen begrenzten Zeitraum existierte und deren Entstehung durch eine Reihe gleichzeitiger Faktoren begünstigt wurde, die Ende der 1950er-Jahre und insbesondere während der Jahre 1958 bis 1959 auftraten. […] Die Neue Welle war zuallererst ein journalistischer Slogan, der mit einer kritischen Bewegung verbunden war […]. Eine Analyse kann um die wirtschaftlichen und technischen Trends organisiert werden, die mit dem Erscheinen ihrer Filme zusammenhängen, wobei thematischen und stilistischen Faktoren vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt würde.“ (relativ frei übersetzt nach: Michel Marie, The French New Wave , 1997, 2) <?page no="144"?> 144 Handbuch Filmgeschichte Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Les Carabiniers » Regie: Jean-Luc Godard » Land | Jahr: F | 1963 Häufig im Schatten seiner berühmteren Filme aus dieser Periode, aber keinesfalls weniger faszinierend, durchdacht und revolutionär. Filmtipp Sedmikrásky » Regie: » Land | Jahr: CZ | 1966 Ein Fest der Emanzipation durch Anarchie auf allen Ebenen - bildgewaltig, facettenreich und für tausendfache Wiederholungen gerüstet. Filmtipp Giulietta degli Spiriti » Regie: Federico Fellini » Land | Jahr: F | 1963 Auch hier nicht der erste Film, der mit dem Namen Fellini verknüpft wird, aber in seiner vollständigen Verneigung vor der überragenden Schauspielleistung Giulia Masinas vielleicht der rundeste. <?page no="145"?> 1971 bis 1980 · Eine Dekade der Umbrüche Mit den 1970er-Jahren beginnt eine Phase der stärkeren globalen Ausdifferenzierung dadurch, dass etliche neue Nationalkinos in den Fokus einer weitreichenderen Wahrnehmung gelangen. Die Umbrüche sind häufig rasch und von kurzer Dauer - während sich in den USA bereits der neue Blockbuster etabliert, arbeiten sich die europäischen Länder vielfältig am Scheitern der utopischen 68er-Bewegung(en) ab. Gleichzeitig wird das politische Kino in marginalisierten Gruppen, die sich im Mainstream nicht wiederfinden, zu einem wichtigen sozialkritischen Sprachrohr. Begleitet vom Aufschwung beispielsweise des feministischen und des afroamerikanischen Kinos konkurrieren somit Restaurationsbemühungen der Studiosysteme mit dem Andauern von Erneuerungsbewegungen. 1970er: USA wischen den späten 1960er-Jahren und der Mitte der 1980er-Jahre formiert sich eine Gruppe von Filmstudierenden an der UCLA, die narrative, stilistische und filmpraktische Innovationen diskutiert und umzusetzen sucht. Sie befasst sich intensiv mit emanzipatorischem Gedankengut und insbesondere der negativen Darstellung von people of color im Medium Film - sie gibt sich selbst verschiedenartige Namen, wird aber in der Regel als L.A. Rebellion oder new black cinema gelabelt. Ihr Ziel ist es, eine Alternative zum Hollywood-Bild von Afroamerikaner: innen sowie zum erfolgreichen B-Movie-Konzept der Blaxploitation-Filme der frühen 1970er-B- Movies zu schaffen. Die erste Gruppe des new black cinema formiert sich unter anderem aus Charles Burnett (*1944), Larry Clark (*1948), Haile Gerima (gebürtiger Äthiopier, *1946) und Jamaa Fanaka (1942-2012). In der zweiten Welle sind auch erste Filmemacherinnen wie Alile Sharon Larkin (*1951) und Julie Dash (*1952) vertreten. Die Filme beider Generationen der L.A. Rebellion sind durchweg mit sozialen Fragen befasst und entwickeln zugleich einen Individualstil anhand von, aber auch in Abgrenzung von den weltweit seit den 1960er-Jahren boomenden neuen Wel- Z <?page no="146"?> 146 Handbuch Filmgeschichte len: Es geht darin z. B. um Drogen ( A Day in the Life of Willie Faust, or Death on the Installment Plan , Jamaa Fanaka, 1972), Arbeitslosigkeit ( Welcome Home, Brother Charles , 1975, Jamaa Fanaka), Jugendarbeit ( Emma Mae , 1976, Jamaa Fanaka), klassistische Ausnutzung ( Daydream Therapy , 1977, Bernard Nicolas), kulturellen Imperialismus ( The Diary of an African Nun , Julie Dash, 1977), urbane Armut ( Your Children Come Back To You , Alile Sharon Larkin, 1979), Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ( The Kitchen , Alile Sharon Larkin, 1975), ungewollte Schwangerschaft und Abtreibung ( Bush Mama , Haile Gerima, 1975). Die andere, populärere Form der Etablierung afroamerikanischer Figuren im Film findet sich in den 1970er-Jahren im B-Movie-Impuls der sogenannten blaxploitation (1971- 75), die vom new black cinema als populistisch und stereotyp verworfen wird. Allerdings tragen die frühen Titel des Blaxploitation-Zyklus ebenfalls liberale und emanzipatorische Züge und erreichen mit ihren Anliegen ein breiteres Publikum. Sweet Sweetback’s Baadasssss Song von Melvin Van Peebles (1971) skizziert eine afroamerikanische Gegenkultur, die unter der hegemonialen Bedrohung durch „the Man“, personifiziert durch rassistische Polizisten, zusammenhält - ein Thema, das gerade jetzt, 50 Jahre später, traurigerweise nach wie vor aktuell ist. Shaft (1971, Gordon Parks) und Super Fly (1972, Gordon Parks jr.) machen sich Genres weißer Potenz- und Allmachtsfantasien zueigen und produzieren einen frühen Kontrapunkt, der stilbildend für das immer wieder reproduzierte Muster eine: r sich der sozialen Missstände bewussten Held: in im Kampf gegen einen weißen Bandenführer ist. Damit einher geht die inszenierte sexuelle Befreiung seiner Stars wie Melvin van Peebles (*1932) oder Pam Grier (*1949), die das vormalige Tabuthema der afroamerikanischen Sexualität offen verhandelt. Das Blaxploitation-Label bezieht sich auf den Exploitation-Film, der laut Thomas Doherty (2002, 7) a) kontroverse, bizarre oder zeitgenössische Gegenstände sensationalistisch aufbereitet, b) mit einem Budget unter dem Standard arbeitet sowie c) ein Teenager- Publikum anspricht. Blaxploitation ist demnach eine Aneignung vormals ‚weißer‘ Popkultur-Genres wie des Vampirfilms ( Blacula , 1972, William Crain) oder des Agenten- oder Undercover-Films ( Shaft , Cleopatra Jones , 1973, Jack Starrett; Foxy Brown , 1974, Jack Hill), die gleichzeitig soziale Anliegen formuliert, aber als sensationalistische ‚Popkultur‘ vermarktet und von manchen entsprechend kritisch gesehen wird. Zwei einflussreiche Texte bilden Anfang der 1970er-Jahre die theoretische Grundlage der feministischen Filmtheorie: Claire Johnstons Women’s Cinema as Counter Cinema (1973) und Laura Mulveys Visual Pleasure and Narrative Cinema (1973/ 75). Zeitgleich kehren etliche Regisseurinnen, meist ebenfalls im Zuge eines unabhängigen und künstlerischen Kinos, in den internationalen Film zurück. Diese Tendenz beginnt mit den ‚neuen Wellen‘ der 1960er-Jahre und setzt sich mit den zuletzt erwähnten Regisseurinfort. Verantwortet indessen eine nichtmännliche Filmemacherin einen Mainstream-Hollywood-Film, wird das auch im Jahre 2021 noch in Kritik und Feuilleton hervorgehoben, stellt also nach wie vor keinesfalls die Norm dar. Drei Beispiele für das feministische Kino der 1970er-Jahre: Die Belgierin Chantal Akerman (1950-2015) hat bereits 1968 ihren einflussreichen Kurzfilm Saute Ma Ville produziert und feiert mit Jeanne Dielman, 23, quai du commerce , 1080 Bruxelles (1975) über eine verwitwete, alleinerziehende Hausfrau, die als Gelegenheitsprostituierte über die Runden kommt, einen bleibenden Erfolg. Der Film spielt über drei Tage hinweg, die durch <?page no="147"?> 1971 bis 1980 Eine Dekade der Umbrüche 147 ihre quälende Routine geprägt sind, bis Titelfigur Jeanne am dritten Tag einen Kunden mit der Schere ersticht - ein deutungsoffenes, politisches Ende. Laura Mulvey (*1941) selbst überträgt gemeinsam mit Peter Wollen (1939-2019) ihr psychoanalytisches Konzept vom ‚Kino als politische Waffe‘ auf den Film, als sie 1977 Riddles of the Sphinx dreht. Der aus 13 Szenen bestehende Film bricht mit Konventionen des Hollywood-Erzählkinos und bemüht sich um eine Rekodierung der Filmsprache aus feministischer Perspektive. Mulveys Hauptanliegen ist dabei die Auflösung etablierter Point-of-View-Strukturen, die sie als hegemonial, heteronormativ und sexistisch begreift. Barbara Loden (1932- 1980) dreht bereits 1970 die feministische Hitchhiker-Tragödie Wanda , in der die titelgebende Hauptfigur ihren Ehemann verlässt, ihre Arbeit verliert und in der Folge schutzlos und allein davonläuft. Loden gilt einigen als weibliches Pendant zu John Cassavetes und dreht einige wenige Filme, die heutzutage fast vergessen sind. Auch im Mainstream des US-Kinos setzt sich die Erneuerungsbewegung des New Hollywood ungebrochen fort und erreicht am Anfang der Dekade ihren Höhepunkt. Verglichen mit den zuvor erwähnten Gegenkino- Bewegungen des new black cinema , women’s cinema und sogar der blaxploitation ist jenes zwar formal und narrativ ebenfalls innovativ, jedoch bewegt es sich inhaltlich in vergleichsweise eher konservativen, kleinen Schritten vorwärts und wird schon nach insgesamt knapp einem Jahrzehnt wieder von einer neuen Spielart des Blockbuster-Kinos verdrängt und bis heute - zumindest als Speerspitze des Mainstream-Kinos - abgelöst. Die liberalen Jahre Hollywoods bleiben zwar einflussreich und prägen eine nachhaltige Kultur der ‚zweiten Reihe‘ aus, in der sich Regiepersönlichkeiten unter Studiobedingungen hervortun und Filme für etwas kleinere Publika produzieren können, jedoch ist die Bewegung nur für kurze Zeit tonangebend und wird bald wieder zu einem flavor der nunmehr stärker ausdifferenzierten Produktionslandschaft des US-Films. Alles in allem ist die Erneuerung durch das New-Hollywood-Kino für den US-Film jedoch die Geschichte einer nahezu mirakulösen ökonomischen Wiedergeburt. Schaut man sich die Einspielergebnisse der Top- Ten-Filme ab 1972 an, kommt man in jenem Jahr noch auf 123 Millionen US-Dollar. 1977 sind es bereits 424 Millionen US-Dollar und 1988 spielen nur die Top 5 der erfolgreichsten Filme gemeinsam mehr als 600 Millionen US-Dollar ein - auch inflationsbereinigt ist das ein enormer Trend. Der Anfang vom Ende des New Hollywood wird indessen im Rückblick gelegentlich bereits 1969 angesetzt, in dem die bereits leicht abflauende ‚Gegenkultur‘ nachhaltig erschüttert wird, als ein junger Afroamerikaner namens Meredith Hunter bei einem Konzert der Rolling Stones unter unklaren Motiven und starkem Drogeneinfluss eine Schusswaffe zieht und von einigen als Ordner auf dem Festival arbeitenden Angehörigen der Hell’s Angels erstochen wird, ehe er die Bühne erreicht. Die Hell s Angels errichten zudem Sperrzonen vor der Bühne und greifen wahllos Angehörige des Publikums an, sodass das Konzert auch in der Karriere der Rolling Stones als Wende- und Tiefpunkt begriffen wird. Zufällig ist ein Filmteam aus der Direct-Cinema - Bewegung vor Ort und Albert Maysles, sein Bruder David Maysles sowie Charlotte Zwerin verarbeiten die Ereignisse in ihrem Film Gimme Shelter . Und während um die Jahrzehntwende inhaltlich die neue Eigenständigkeit des US-Films zelebriert wird, hat sich im ökonomischen Bereich eine heimliche Wachablösung vollzogen, die eine Art Tiefpunkt der US- Filmindustrie darstellt. 1971 gehören etliche Studios mittlerweile Großkonzernen, wodurch sich die Interessenlage gewandelt hat: MGM gehört einem Hotelkonzern aus Las Vegas, Warner Bros. einer kanadischen Hol- <?page no="148"?> 148 Handbuch Filmgeschichte ding, später dann Coca-Cola; Universal gehört dem Musikkonzern MCA, United Artists gehört der Bank of America und Paramount der Gulf and Western Oil. Es erscheint entsprechend widersprüchlich, dass dieser relativ reaktionären, kapitalistischen Güterneuverteilung zum Trotz in den folgenden Jahren nach Vorbild des Erfolges von Easy Rider (1969) Road-Movie um Road-Movie und auf der Welle des Planeten der Affen (Planet of the Apes, 1968, Franklin J. Schaffner, ist der Auftakt der Franchise) Dystopie um Dystopie erscheinen - zwei der dominanten New-Hollywood- Genres, welche besonders gut zur Verhandlung von Gesellschaftskonflikten und -kritik taugen: Zu den Road-Movies gehören The Sugarland Express (1974, Steven Spielberg), Thieves Like Us (1974, Robert Altman), Badlands (1973, Terrence Malick), Alice Doesn’t Live Here Anymore (1974, Martin Scorsese), die Dystopien tragen so berühmte Namen wie A Clockwork Orange (1971, Stanley Kubrick), The Omega Man (1971, Boris Sagal) und Soylent Green (1973, Richard Fleischer). Während die Avantgarde des Hollywood- Kinos der späten 1960er-Jahre um Dennis Hopper und Peter Fonda mittlerweile so erfolglos ist, dass sie bereits Anfang der 1970er-Jahre die Segel streicht und sich nur noch dem lukrativeren Schauspiel widmet, etablieren sich einerseits erste independents bzw. Individualist: innen innerhalb oder am Rande des Studiosystems und andererseits eine Schule von Regisseuren, die aus dem Kontext der noch jungen amerikanischen Filmhochschulen stammen - die sogenannten movie brats. Zu jenen Individualist: innen gehört beispielsweise Robert Altman (1925-2006), der von Anfang an zu einem sehr eigenen Stil findet, der sich in seinen zahlreichen Genre- Revisionen niederschlägt: McCabe & Mrs. Miller (1971) dekonstruiert den Western, The Long Goodbye (1973) ist ein frühes Beispiel für einen neo noir. Einige Jahre später prägt Altman mit seinen Ensemblefilmen und seiner akustischen Überlappungstechnik mehrerer Spuren, overlapping genannt, einen neuen eigenständigen Typus, der hochgradig innovativ und gesellschaftskritisch ist: Frühe Beispiele hierfür sind Nashville (1976) oder auch A Wedding (1978). Altman stößt mit seinem offiziell im Koreakrieg angesiedelten, aber im übertragenen Sinne als Vietnamfilm lesbaren M*A*S*H 1970 überdies die intensive filmische Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg an, der aus USamerikanischer Perspektive von 1963 bis 1975 andauert und eine ungewohnte traumatische Kriegsniederlage für die USA darstellt. Während sich M*A*S*H und Little Big Man (1970, Arthur Penn) über andere Spielorte wie Korea oder die sogenannten „Indianerkriege“ metaphorisch Vietnam nähern, sind Taxi Driver (1976, Martin Scorsese) und Apocalypse Now (1979, Francis Ford Coppola) kurz nach Kriegsende bereits ungleich expliziter. Bereits im frühen New- Hollywood-Kino spielt der Vietnamkrieg - etwa in Brian De Palmas (*1940) bereits im vorherigen Kapitel erwähnten Frühwerk Greetings (1968) - eine Rolle, was eine bis dahin ungewohnte zeitgenössische filmische Auseinandersetzung mit den militärischen Aktivitäten der USA darstellt. Kommen wir jedoch jetzt zu einigen der anderen Individualist: innen, die sich in den frühen 1970er-Jahren pendelartig zwischen Mainstream und Autor: innenkino bewegen. Schauspielerin-Regisseurin Elaine May (*1932) dreht drei Filme in den 1970ern, darunter Mikey and Nicky (1976); Terrence Malick (*1943) verantwortet neben Badlands (1973) noch Days of Heaven (1978) und bleibt dann für ganze 20 Jahre verschollen; Woody Allen (*1935) dreht anfangs Filme in der Tradition des Slapstickfilms und seiner Stand-up-Performances - wie Bananas <?page no="149"?> 1971 bis 1980 Eine Dekade der Umbrüche 149 (1971) oder Love and Death (1975) -, gerät dann mit der Revisionist RomCom Annie Hall (1977) in den Mainstream und beendet die Dekade mit drei Kunstfilmen - Interiors (1978), Manhattan (1979) und Stardust Memories (1980). Stanley Kubrick (1928- 1999) festigt sowohl seinen Ruf als Perfektionist und Kontrollfreak als auch seinen Personalstil, was beides in seinem legendär geringen Output zusammenläuft. In den 1970er-Jahren entsteht neben dem bereits erwähnten A Clockwork Orange noch Barry Lyndon (1975) und 1980 erscheint The Shining . Letzterer ist nach Carrie die zweite profilierte Stephen-King-Adaption - ein Trend, der in den 1980er-Jahren kurzzeitig sehr dominant werden wird. Während Elaine May aus dem Kontext des Theaters, Woody Allen indessen aus der Tradition der Stand-up-Comedy stammt und Robert Altman seine Karriere in den 1950er-Jahren vor allem im Fernsehen begonnen hat, ist Terrence Malick bereits einer jener erwähnten movie brats, die am 1965 gegründeten American Film Institute oder einer der Westküsten-Universitäten Film studiert haben. Die AFI-Absolvent: innen sind jedoch bis heute unter den Filmabsolvent: innen eher die Abgehobeneren, Kunstvolleren, was man auch in den deutlichen Unterschieden von Malicks eher europäisch erscheinendem Stil zu den Filmen der übrigen movie brats sieht, die klar in der US-amerikanischen Filmtradition verankert bleiben. Die berühmtesten Namen unter ihnen gehören zu den berühmtesten Namen der US-Filmgeschichte überhaupt. Francis Ford Coppola (*1939) ist UCLA-Absolvent und verantwortet 1972 das oft an der Spitze von Bestenlisten platzierte Mafiaepos The Godfather sowie 1974 den etwas unbekannteren, eigentlich aber interessanteren The Conversation . George Lucas (*1944) ist USC-Absolvent und dreht 1971 die eindringliche Dystopie THX 1138 sowie zwei Jahre später das meisterhafte Jugendporträt der 1950er-Jahre American Graffiti . Martin Scorsese (*1942) ist NYU-Absolvent und dreht neben dem erwähnten Riesenerfolg Taxi Driver seinen ersten Gangsterfilm Mean Streets (1973), das symbolisch aufgeladene Musical New York, New York (1977), das den gleichnamigen Song popularisiert, sowie den opernartigen Boxerfilm Raging Bull (1980). Brian De Palma ist Columbia- Absolvent und setzt sich besonders intensiv mit dem Personalstil Alfred Hitchcocks auseinander, was sich in seinen extrem stilverliebten Horrorthrillern Sisters (1972), der ersten Stephen-King-Adaption Carrie (1976) sowie dem Quasi-Psycho-Remake Dressed to Kill (1980) sichtbar niederschlägt. Auch Steven Spielberg (*1946) wird zu jenem Zirkel der movie brats dazugezählt, jedoch hat er bereits im Alter von elf Jahren Filme gemacht und ist eine Art Autodidakt. In den 1960ern produziert Spielberg bereits Lowest- Budget-(500$)-Filme, erst in den 1970er- Jahren erzielen seine Werke Breitenwirkung. Spielberg kommt wie Altman aus dem Fernsehen und sein erster vollständig erhaltener Spielfilm Duel (1971) wird noch fürs Fernsehen produziert, ehe er sich mit Sugarland Express (1974) dem Studiofilm verschreibt. Mit seinem Riesenerfolg Jaws (Der weiße Hai) reformiert und beendet Spielberg 1975 die New-Hollywood-Bewegung und zeigt, dass mit den richtigen filmischen Ausdifferenzierungsmitteln der zielgruppenübergreifende Blockbuster wieder viabel sein kann. Jaws spielt im Inland 260 Millionen US- Dollar und im Ausland 210 Millionen US- Dollar ein und startet einen Trend, der an das klassische Hollywood-Kino anknüpft und gleichzeitig zahlreiche Impulse aus der Zeit des New Hollywood aufgreift. 1977 folgt George Lucas’ Megaseller Star Wars (1977), der im US-Inland 307 Millionen US-Dollar und im Ausland 314 Millionen US-Dollar einspielt. Sowohl Jaws als auch Star Wars haben ein Budget zwischen neun und elf Millionen US-Dollar - die Marge ist enorm. Star Wars löst zudem im Verbund mit Spielbergs im selben Jahr erscheinenden <?page no="150"?> 150 Handbuch Filmgeschichte Close Encounters of the Third Kind die New-Hollywood-Dystopie selbstbewusst durch ein mainstream-kompatibleres Fantasy-Science-Fiction-Modell ab, das über die nächsten Jahrzehnte hinweg eines der erfolgreichsten Blockbuster-Genres darstellen wird. Diejenigen Regisseure, die dem New Hollywood treu bleiben, verzocken sich zeitgleich mit ihren Großproduktionen erheblich: Francis Ford Coppolas Apocalypse Now spielt bereits nur 78 Millionen US- Dollar ein, was ein paar Jahre vorher sehr viel gewesen wäre, aber angesichts von Jaws und Star Wars nicht mehr ausreicht. Michael Ciminos (1939-2016) legendärer Flop von Heaven’s Gate (1980), der 44 Millionen kostet und 3 Millionen US-Dollar einspielt, gilt zusammen mit Coppolas One from the Heart (1981), der 26 Millionen kostet und läppische 360.000 US-Dollar einspielt, als im Duett verklingender Schwanengesang des New Hollywood. Jaws nimmt diesen Paradigmenwechsel auch auf der Inhaltsebene geradezu vorweg, beginnt der Film doch bedeutungsschwanger mit einer Inszenierung junger Leute, Repräsentant: innen des New-Hollywood-Publikums, bei einer nächtlichen Feier am Strand, verbleibt jedoch nicht in diesem Milieu, sondern begibt sich im Laufe des Films in verschiedene Gesellschaftsschichten (und somit Zielgruppen ) und konsolidiert sich als Wiedergeburt der mehrere plots vereinenden Hollywood-Formel des klassischen Studiosystems unter Beibehaltung neuer Stilmittel aus der New-Hollywood-Strömung, als erfolgsversprechendes Scharnier beider vormals in Konkurrenz zueinander befindlicher Paradigmen. 1970er: Deutschland m in den deutschen Film der 1970er- Jahre einzuführen, beginne ich mit einem Zitat von Claudia Lenssen (2004, 245): „Der bunte Strom der Medienereignisse spannt [] sich wie eine Folie über den Alltag. Die Realität, in Bildern präsentiert, enth[ä]lt immer mehr Momente von Irrealität. Die internationalen Konflikte w[e]rden mehr in Formen ausgetragen, die an das Action-Kino erinner[]n: Spektakuläre Flugzeugentführungen und Attentate, Personenkidnapping und Polizeieinsätze [sind] Teil einer Kriegsführung, die eine eindeutige Parteinahme wie zu Zeiten des weltweiten Protestes gegen den amerikanischen Vietnamkrieg nicht mehr zul[ässt]. Die Bilder w[e]rden in den siebziger Jahren aufdringlich, und man beg[innt] zu spüren, daß, mit ihnen umzugehen, nicht mehr nur heißen [kann], sich kritisch zu distanzieren.“ Diese von Lenssen konstatierte Insistenz der Bilder durchzieht das größtenteils politische oder zumindest politisch lesbare Kino in der Bundesrepublik Deutschland der 1970er- Jahre in vielen seiner Spielarten. Der ‚Neue Heimatfilm‘ dekonstruiert die dörfliche Idylle als trügerische Fassade: Volker Vogelers (1930-2005) Jaider - Der einsame Jäger (1971) macht den Anfang mit einem historischen politischen Lehrstück, Volker Schlöndorff dreht im selben Jahr Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach , der von einem Bankraub acht hessischer Bauern im Jahre 1822 handelt, die sich mit dem Geld ihre Auswanderung finanzieren wollen. Der Rückbezug auf das 19. Jahrhundert setzt die Dekonstruktion von Heimat früher an als bisher und hinterfragt somit das Konzept von der nationalen Einheit, die oft mit jenem Jahrhundert assoziiert wird, grundlegend, was wiederum einen Bezug zur Gegenwart des geteilten Deutschlands nahelegt. U <?page no="151"?> 1971 bis 1980 Eine Dekade der Umbrüche 151 Der Junge Deutsche Film der 1960er-Jahre wird indessen vom sogenannten Neuen Deutschen Film abgelöst, und jener erlebt unter vergleichbaren Vorzeichen seine Blütezeit. Werner Herzog (*1942) dreht etliche Dokumentar- und Spielfilme, darunter den die Überwältigungsästhetik Riefenstahls rekontextualisierenden Herz aus Glas (1976) mit Herbert Achternbusch als Co-Autor, das Auswandererdrama Stroszek (1977), die Dokumentation über die Sinneseindrücke von Blinden und Taubstummen Land des Schweigens und der Dunkelheit (1971) sowie die ersten drei Kollaborationen mit Klaus Kinski, die mittlerweile zu Kultfilmen avanciert sind: die Kolonialfilmrevision Aguirre, der Zorn Gottes von 1972, die Reimagination Nosferatu: Phantom der Nacht von 1979 sowie die Literaturadaption Woyzeck aus demselben Jahr. Stilistisch ist Herzogs Behandlung der Landschaft als Akteur und Determinator der psychischen Umstände seiner Hauptfiguren ein gemeinsamer Nenner, der viele seiner Filme durchzieht. Soziale Umstände werden oft eher analytisch seziert, während Natur und Landschaft einen ‚erhabenen‘, überkategorialen Charakter der Überwältigung zugewiesen bekommen, dem der Mensch selten gewachsen ist. Wim Wenders geht anders mit den Schauplätzen um und entwirft eine extreme Dialektik zwischen dokumentarischem On-location-Dreh und nahezu überdehnter Künstlichkeit der Filmhandlungen, die sich davor abspielen. Seine Roadmovie-Trilogie aus Alice in den Städten (1974), Falsche Bewegung (1975) und Im Lauf der Zeit (1976) setzt sich mit dem zeitgenössischen amerikanischen Modell der Erkundung und Reflexion durch Bewegung auseinander und transformiert es in ein wiederum anderes Heimatfilm-Modell. Das Sich-Abarbeiten an Amerika rückt Wenders auf den ersten Blick in die Nähe von Godard, mit dem er ansonsten aber gar nicht viel gemeinsam hat. Der amerikanische Freund (1977) verhandelt des Regisseurs Verhältnis zum US-Kino auch reflexiv, indem viele Rollen mit Regiekollegen aus Übersee besetzt sind: Dennis Hopper, Nicholas Ray, Samuel Fuller. Fast absurd produktiv ist derweil Rainer Werner Fassbinder (1945- 1982), der ohne jede Rücksicht auf gesundheitliche Verluste 34 seiner 44 Regiearbeiten zwischen 1970 und 1980 vollendet. Er probiert sich als Drehbuchautor, Schauspieler, Kameramann, Cutter und Produzent, um verschiedene Schritte des Filmemachens zu verstehen, setzt sich mit Theater und erzählender Literatur auseinander, dreht experimentelle und narrative Filme gleichermaßen und versucht sich an Kurz- und Lang-, Fernseh- und Kinofilmformaten. Literaturadaptionen wie Fontane Effi Briest (1974), Die Ehe der Maria Braun (1978), Wildwechsel (1973) oder die 14-teilige TV-Produktion Berlin Alexanderplatz (1980) stehen neben Familiendramen wie Warum läuft Herr R. Amok von 1970 oder selbstreflexiven Dramödien wie Warnung vor einer heiligen Nutte (1971) aus eigener Feder. Science- Fiction-Meditationen wie Welt am Draht (1973) stehen neben zeitgenössischen Dokumentarfilmen wie Deutschland im Herbst (1978), einem Omnibus-Film, an dem Fassbinder teilhat und der sich mit den RAF- Attentaten beschäftigt. Fassbinder-Filme sind schwer auf einen Nenner zu bringen und bis auf wenige Beispiele oft unzugänglich für die Erstsichtung. 1970 schreibt auch meine Heimatstadt Kiel kurz Filmgeschichte, da Rosa von Praunheims (*1942) Underground- Klassiker Die Bettwurst hier gedreht wird. Die Liebesfilm-Parodie etabliert von Praunheim als Kultregisseur; seine Rolle als Kritiker der Unterdrückung von Homosexualität entwickelt er wenig später in dem Semi- Dokumentar-Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von 1971. Das Exploitation-Kino floriert wie andernorts auch in Deutschland; viele Filme sind Koproduktionen Deutschlands, Italiens und Spaniens, manchmal auch Frankreichs. <?page no="152"?> 152 Handbuch Filmgeschichte Der Spanier Jesús Franco (1930-2013), oft auch bekannt als Jess Franco, dreht viel in Deutschland, z. B. den Sex-Giallo Sie tötete in Extase (1971). Aber auch rein deutsche Filme widmen sich Sex-Krimi-Formaten, wie Hans Billians und Lothar Gündischs Hörig bis zur letzten Sünde , der 1970 erscheint. Die Pflege solcher Formate unternehmen mittlerweile Liebhaberinitiativen wie das Nürnberger „Hofbauer-Kommando“, nachdem diese Filme jahrzehntelang als Schund gebrandmarkt in den Archiven versauerten. Nur vorgeblich eine edlere Intention als das in der Hinsicht zumindest ehrliche Exploitation-Kino verfolgt der deutsche Aufklärungsfilm der 1970er-Jahre. Kann man in den 1960er-Jahren noch einen realen didaktischen Impetus unterstellen, befeuert die pseudodokumentarische Herangehensweise seiner Fortsetzung in den 1970er-Jahren eigentlich ein urvoyeuristisches Trash-Kino. Insbesondere die Report-Reihen - Schulmädchen-, Hausfrauen-, Lehrmädchen-Report - sind Softpornos mit Exploitation-Zugang, eine sensationalistische Nebenspielart des Aufklärungsfilms, die allenfalls Bedürfnisse von Boulevard-Pädagog: innen befriedigt. Roland Klick (*1939) geht stilistisch indessen einen Sonderweg und stellt dem intellektuellen Neuen Deutschen Film eine Art reflektiertes B-Kino entgegen. Deadlock (1970) ist eine Italowestern-Groteske, die Elemente des psychedelischen Kinos mit Gangsterfilm- Klischees mischt. Vier Jahre später verantwortet Klick Supermarkt (1974), eine Hamburger Geschichte, die plotmäßig an die Tragödien des Film noir erinnert, inszenatorisch jedoch ähnlich stark die Trostlosigkeit der mise en scène ästhetisiert wie Deadlock (1970). In der DDR hält man es deutlich länger mit Stalin als in etlichen anderen Staaten des Warschauer Pakts sowie der UdSSR selbst, die den Diktator im Zuge des sogenannten Tauwetters längst verworfen haben. 1971 übernimmt jedoch Erich Honecker die Leitung der SED, wodurch zwar der Stalinkult der DDR beileibe nicht für beendet erklärt ist, zumindest die Kulturpolitik sich jedoch erheblich liberalisiert. Bereits ein Jahr später erscheint ein Film, der auf einem verbotenen Stoff von Ulrich Plenzdorf basiert und dementsprechend die neue Öffnung idealtypisch repräsentiert: Heiner Carows (1929-1997) Die Legende von Paul und Paula (1972) erzählt die Geschichte einer komplizierten Liebe (zwischen Paul und Paula), die mit dem bewusst für das Kind in Kauf genommenen Kindbetttod der Protagonistin endet. Der Film erfreut sich beim zeitgenössischen Publikum sehr großer Beliebtheit. 1974 erscheint Frank Beyers Jakob der Lügner . Beyer war in den 1960er-Jahren noch in politische Querelen geraten, darf jetzt jedoch mit Gutdünken von oben einen dezidiert nicht-sozialistisch-realistischen Film drehen, der einen KZ-Stoff mit einem sentimentalen Märchen kreuzt. Das Resultat ist der einzige DDR- Film, der in der gesamten Geschichte des Staates für den Oscar nominiert wird. Nachdem Konrad Wolfs Künstlerfilm Der nackte Mann auf dem Sportplatz (1973) das Verhältnis von Kunst und Proletariat allzu pessimistisch beleuchtet, begehrt das Regime jedoch sogar gegenüber seinem einstigen Liebling auf, und die zweite Hälfte der Dekade ist insgesamt dann doch zu großen Teilen von sogenannten „Sicherheitsfilmen“, d. h. unverfänglichen Goethe-Adaptionen oder dezidiert antifaschistischen Stoffen, geprägt. Wolf selbst gerät in seiner Pendelbewegung pro und contra Regime Ende der Dekade mit seinem vielleicht wichtigsten, aber zugleich letzten Film Solo Sunny (1979) wieder einmal mit der Partei in Konflikt. Die Schlagersängerin Sunny basiert dabei einerseits auf einer realen Person, und ihre dadurch als authentisch lesbaren Identitätskonflikte sind dem Regime andererseits als Jugenddarstellung zu pessimistisch. <?page no="153"?> 1971 bis 1980 Eine Dekade der Umbrüche 153 1970er: Europa n Italien erlebt in den 1970er-Jahren das Exploitation-Kino seine Hochphase. Einerseits durch das in den 1960er-Jahren etablierte Giallo. Neben Argento und Bava widmen sich etliche weitere Regisseure in den 1970er-Jahren dem Genre. Besonderen Ruhm erlangt Lucio Fulci (1927-1996) für Una lucertola con la pelle di donna (1971) und Non si sevizia un paperino (1972). Auch Dario Argento ist weiterhin im Zentrum der Aufmerksamkeit, etwa mit 4 mosche di velluto grigio (1971, Dario Argento). Das Poliziottesco etabliert sich neben dem Giallo mit dem allmählichen Ausklingen des Italowestern und des Sandalenfilms bzw. Muskelmann-Films als zweites großes B- Genre. Dabei handelt es sich um einen Typ Polizeifilm, der oft die Handlungsarmut der staatlichen und städtischen Instanzen im Angesicht des Verbrechens anprangert und seine Hauptfiguren oft auf sehr grausame, oft illegale und gewalttätige Weise ermitteln lässt. Duccio Tessari (1926-1994), Umberto Lenzi (1931-2017) und Fernando Di Leo (1932- 2003) sind drei Regisseure, die unter anderem hochgradig stilsichere Poliziotteschi zu verantworten haben; als typische Beispiele des Genres seien Milano calibro 9 (1972, Fernando di Leo) oder Roma violenta (1975, Marino Girolami) genannt. Auch einer der italienischen Filmemacher, der gern vergessen wird, sei hier kurz erwähnt: Francesco Rosi (1922-2015) dreht in den 1970er-Jahren mit Uomini contro (1970), Lucky Luciano (1973) und Cadaveri Eccellenti (1976) seine drei vielleicht wichtigsten Filme. Uomini contro handelt von der Revolte einer italienischen Division im Ersten Weltkrieg, Lucky Luciano ist das gesellschaftskritische Biopic des titelgebenden Mafiabosses, der zwischen 1946 und 1962 kriminell aktiv war, und Cadaveri Eccellenti ist eine Detektivgeschichte, die von unaufgeklärten Morden von Richtern am obersten Gerichtshof handelt. Rosis analytischer Fokus auf italienische Korruption und gesellschaftliche Missstände - insbesondere bezogen auf das organisierte Verbrechen - hat ihm nicht nur Freunde eingebracht. In Frankreich setzt sich in den 1970er- Jahren die Ausdifferenzierung der Nouvelle Vague weiter fort: Agnès Varda dreht Filme mit dezidiert feministischen Anliegen wie L’une chante, l’autre pas (1977), Claude Chabrol wendet sich dem Unterhaltungskino zu und produziert Psychothriller wie Les noces rouges (1972). Jacques Rivette verfolgt stringent seine Bewegung in die Isolation und legt erst den ursprünglich als Serie geplanten 13-Stunden-Film Out 1, noli me tangere (1971) vor und drei Jahre später Céline et Julie vont en bateau (1974), den viele als sein Opus magnum ansehen. Alain Resnais bebildert in Providence (1976) die Gedanken eines sterbenden Autors, der zeitgleich ein letztes Buch über seine Familie verfasst. François Truffaut entwickelt seinen melodramatischen Stil weiter und nimmt Fellinis Vorlage aus 8½ auf, um La nuit américaine (1973), einen weiteren Film übers Filmemachen, zu realisieren. Jean-Luc Godard feiert nach seiner Zeit als quasianonymes Mitglied der Groupe Dziga Vertov sein offizielles Comeback mit Tout va bien (1972) und versucht sich mit Numéro deux (1975) an einer Art Reflexion des voyeuristisch-pornographischen Bedürfnisses des Publikums nach Realität. Fast alle Filme dieser Phase entstehen in Zusammenarbeit mit der Schweizerin Anne-Marie Miéville (*1945), mit der sich Godard in der Regel den Regie- Credit teilt. Luis Buñuel kehrt zum Ende seiner Karriere nach Frankreich zurück und dreht dort - und nach Francos Tod auch wieder in Spanien - seine letzten drei Filme, allesamt wütende Angriffe auf das Bürgertum, deren Surrealismus sich nicht mehr auf I <?page no="154"?> 154 Handbuch Filmgeschichte kurze narrative Intermezzi beschränken lässt, sondern die gesamten Narrationen infiziert. Le charme discret de la bourgeoisie (1972), Le fantôme de la liberté (1974) und Cet obscur objet du désir (1977) werden als Spätwerk euphorisch rezipiert und gelten zusammen mit Buñuels Anfängen oft als seine Meisterstücke. In Großbritannien stellen die 1970er-Jahre ein schwieriges Jahrzehnt dar, was die Wirtschaftlichkeit der Studios angeht. 1969 werden 90 Prozent britischer Filme aus den USA finanziert - dies erweist sich jedoch als Blase, die umgehend zerplatzt, da die US-Filmindustrie starken Umwälzungen unterworfen ist. Auch wenn das kommerzielle Kino sich in einer Krise befindet, sind die zahlreichen künstlerischen Entwicklungen jener Zeit umso eindrucksvoller: Nicolas Roeg (1928- 2018), der das Ressort vom Kameramann zum Regisseur wechselt, experimentiert stark mit Montagetechniken und ergänzt den klassischen Anschlussschnitt durch aus dem Experimental- und Kunstfilm stammende rapid edits und Assoziativbzw. Motivmontagen. 1971 dreht er mit Protagonisten aus der australischen New Wave Walkabout , zwei Jahre später folgt Don’t Look Now (1973), der aufgrund einer expliziten Sexszene und seines drastischen Endes für Aufsehen sorgt. 1976 folgt eine Zusammenarbeit mit David Bowie, der in The Man Who Fell To Earth die Hauptrolle spielt und den Film als Anlass für einen seiner zahlreichen Imagewechsel nutzt. Den Bezug zur Pop- und Jugendkultur hat Roeg bereits zu Beginn seiner Karriere etabliert, als er 1970 gemeinsam mit Donald Cammell (1934-1996) den Mick-Jagger-Film Performance verantwortet. Roegs Vergangenheit als gelernter Kameramann lässt seinen Filmen eine sehr visuell orientierte Denkweise angedeihen. 1972 kehrt Alfred Hitchcock nach einigen in den USA eher enttäuschend aufgenommenen Filmen nach London zurück, um dort Frenzy zu drehen. Jener gilt zwar ebenfalls als mittelmäßiges Spätwerk, ist jedoch zugleich eine interessante Reflexion der Anfänge des Regisseurs, namentlich seines zweiten Films The Lodger von 1927. Ken Russell geht indessen in sein produktivstes Jahrzehnt und dreht 1971 sowohl den kontroversen Tschaikowsky-Film The Music Lovers als auch den zu jener Zeit als ultrahart geltenden Horrorfilm The Devils , der Russell in subkulturellen Kreisen zum Horrorpapst avancieren lässt. 1974 folgt der bilderstürmerische Mahler über den gleichnamigen Komponisten und 1975 das ästhetische Blitzlichtgewitter Tommy , die Verfilmung der Rockoper von The Who, Gipfel des bunten, postmodernen Blitzlichtgewitter- Pop-Kinos. Im selben Jahr erscheint auch Lisztomania , ein Angriff auf die klassische Musikszene und deren Biographen, eine verpoppte und kulturell hochgradig aufgeladene Fantasiegeschichte um den Konflikt zwischen Franz Liszt und Richard Wagner, der am Ende als Proto-Nazi mit Maschinengewehr-E-Gitarre die Welt zu erobern droht, während Franz Liszt, mittlerweile in den Himmel aufgefahren, ihn nur mithilfe einer quasi-nuklearen Weltraumorgel stoppen kann. 1970er: Globales Kino n Japan werden seit 1963 pinku eiga (Sexfilme) und seit den 1970er-Jahren roman poruno (Softpornos) zu zwei der künstlerisch ambitionierteren Genres, was weltweit eine Ungewöhnlichkeit darstellt. Besonders die Filme von Tetsuji Takechi (1912-1988) enthalten avantgardistische Elemente und Nikkatsu, eines der großen Studios, produziert in den 1970er-Jahren fast nichts anderes mehr. I <?page no="155"?> 1971 bis 1980 Eine Dekade der Umbrüche 155 Einige Regisseure, wie Nagisa Ôshima (1932- 2013), fordern das repressive Zensursystem mit immer freizügigeren Inszenierungen heraus, da Gewalt geduldet, Sex aber größtenteils verboten ist. Dadurch ergeben sich starke Verbindungen zwischen Underground- und Mainstream-Kino, was eine Allianz darstellt, welche auch die folgenden Jahrzehnte des japanischen Kinos ästhetisch prägen wird. In der zweiten Hälfte der Dekade finden insbesondere drastische Gewaltdarstellungen als Schock-Elemente ihren Einsatz. Die nächste Generation von Filmemachern, wie Kazuki Ômori (*1952) oder Sôgo Ishii (*1957), kommt teilweise aus dem Amateurbereich und verwirft die schockierende Inszenierung von Gewalt, wie sie im vergangenen Jahrzehnt zuletzt üblich gewesen ist, fast gänzlich. Jimmy Wang Yus (*1943) Chinese Boxer begründet 1970 einen neuen Kung-Fu-Boom, der zur weltweiten Popularität das Hongkong -Kinos führt. Dies geht auch mit einer Maskulinisierung einher. Kämpferinnen, wie sie im wu xia (Kampfsportfilm) der 1960er- Jahre noch üblich sind, gibt es in jenen Filmen kaum noch. Die beiden großen Namen, die auch heute noch bekannt sind, erweisen sich damals als sehr einflussreich für die Popularisierung des Martial-Arts-Kinos: einerseits Bruce Lee (1940-1973), der nur in vier Filmen zwischen 1971 und 1973 mitspielt, ehe er stirbt, aber gerade dadurch zur nachhaltigen Legende wird, sowie Jackie Chan (*1954), der die alte Tradition des chinesischen Slapstick auf die ursprünglich ernsthafteren Kung-Fu-Filme überträgt und somit das Hybridgenre der Kung-Fu-Komödie in seiner Entstehung maßgeblich beeinflusst. 1960 wird Nigeria zu einem unabhängigen Staat, jedoch schüttelt das noch junge Land bereits 1967 ein blutiger Bürgerkrieg. Dessen Ende im Jahr 1970 ist die Vorbedingung für den Beginn des sogenannten „golden age“ des nigerianischen Kinos, das von dem 1973 einsetzenden und bis 1978 andauernden Ölboom im Land sowie von dem 1972 verfügten indigenization decree von Präsident Yakubu Gowon begünstigt wird. In jenem Dekret wird veranlasst, dass über 300 Kinos nigerianischen Besitzer: innen übertragen werden, um den Besitzstand der vormaligen Kolonialherren zu verringern und zu regulieren. Kongi’s Harvest (1970) ist der erste originär nigerianische Film, produziert von Ola Balogun und realisiert von einem zu diesem Zweck zugereisten Afroamerikaner namens Ossie Davies. Ola Balogun (*1945) ist neben Hubert Ogunde (1916-1990) eine der maßgeblichen Figuren der nigerianischen Kulturindustrie. Sie verfolgen die Interessen der neuen nationalen Identität, indem sie Filme in Zeiten vor dem Bürgerkrieg ansiedeln, um ein geschlosseneres, noch nicht intern verfeindetes Nigeria heraufzubeschwören. Balogun arbeitet oft als Regisseur, Produzent und Drehbuchautor in Personalunion und filmt in seiner Heimatsprache Yorunde, so z. B. in Amadi (1975), in dem ein junger Mann aus der Stadt in sein Dorf zurückkehrt und sich wieder traditionellen (religiösen) Werten zuwendet - das moderne Nigeria wird gegen das traditionelle Nigeria ausgespielt. Ajani-Ogun (1975), Baloguns nächster Film, ist das erste schwarzafrikanische Musical und erzählt von einem jungen Jäger, dem titelgebenden Ajani-Ogun, der entschlossen ist, das Land seines verstorbenen Vaters zurückzuerobern, welches seiner Familie von einem korrupten Politiker entrissen wurde - beide lieben jedoch dieselbe Frau. Der Film nutzt seine direkte Geschichte, um die Entwicklung der Korruption aus kolonialen Gepflogenheiten heraus darzustellen und das zeitgenössische Nigeria als ein immer noch nicht unabhängiges Land zu zeichnen, solange es die Kolonialherren imitiert. Der Film basiert auf einem bekannten Theaterstück der Zeit und wird zu einem Riesenerfolg. <?page no="156"?> 156 Handbuch Filmgeschichte Nach einem Flop und einem kurzen Exilaufenthalt in Brasilien arbeitet Balogun erstmals mit Hubert Ogunde zusammen, der seinerseits ein großer Star des reisenden Theaters in Yoruba-Sprache ist. Ogundes Schauspiel Aiye , in dem Ogunde wie später im Film (1979) die Hauptrolle spielt, handelt von einem übernatürlichen Konflikt zwischen einem babalawo (Heiler/ Priester) und bösen Mächten, die von Hexen heraufbeschworen worden sind - auch hier zeigt sich die dialektische Inszenierung des alten, abergläubischen Nigeria im Konflikt mit dem neuen, aufgeklärten Staat. Laut Yusuf Kaplan (1998, 620) droht 1970 „die türkische Filmindustrie zusammenzubrechen: Es existiert […] keine Basis für eine kontinuierliche Filmproduktion, es [gibt] keine verläßlichen Auslandsmärkte, die technische Qualität der meisten türkischen Filme [ist] armselig und fast die Hälfte der bestehenden Filmtheater [ist] aufgrund der Konkurrenz des Fernsehens geschlossen worden. Die türkische Filmindustrie überlebt […] jedoch, vor allem dank einer neuen Generation innovativer Regie-Talente, die auf den Plan tr[e]ten und die Neue Welle des türkischen Films [schaffen].“ Diese Regie-Talente aus der Türkei sind unter anderem Yilmaz Güney (1937-1984) und Zeki Ökten (1941-2009), die beiden Hauptprotagonisten der türkischen Neuen Welle in den 1970er-Jahren. Am Anfang dieser Welle steht Güneys Film Umut (Die Hoffnung, 1970), die Geschichte eines Analphabeten, der sein Einkommen als Pferdekutschenlenker verdient. Eines seiner Pferde wird von einem Auto angefahren und diese auch symbolisch zu lesende Herausforderung des Alten durch das Neue leitet seinen sozialen Abstieg ein. Weil er das nicht wahrhaben will, glaubt er einem Priester, der ihm verspricht, er finde in der Wüste einen mythischen verlorenen Schatz. Aufgrund einiger Filme, die vom ländlichen Aufstand gegen die Autoritäten handeln, wird Güney beim Militärputsch von 1971 verhaftet. 1974 darf er wieder drehen und filmt (Der Freund), über zwei ungleiche Freunde mit sehr unterschiedlichen Biographien - Ahmed hat Karriere in der großen Stadt gemacht und ist als Geschäftsmann in die Kreise der Großbourgeoisie aufgestiegen, während Azem auf dem Dorf geblieben ist, wo er mit politischem Aktivismus die Notlage verbessern möchte. Als sie einander nach langer Zeit wieder begegnen, reflektiert Ahmed sein Leben und sieht ein, dass es sein Freund ist, der den richtigen Weg beschritten hat. In weitläufigen Montagesequenzen werden die beiden einander diametral gegenübergestellten Sphären der Stadt und des Landes am Anfang und kurz vor Ende zusammengefasst und miteinander kontrastiert. Zeki Ökten verbindet hingegen epische Erzählungen mit präzisen psychologischen Charakterisierungen und folgt so einer Art Gegenentwurf zu seinem anfänglichen Kollegen Güney, etwa in seinen Filmen Hasret (1974) oder Hanzo (1975). <?page no="157"?> 1971 bis 1980 Eine Dekade der Umbrüche 157 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino (1973) Laura Mulveys Anliegen ist: „Es soll gezeigt werden, wie das Unbewußte der patriarchalischen Gesellschaft die Filmform strukturiert hat.“ Dazu wird „Psychoanalyse als politische Waffe gebraucht.“ Sie beschreibt dazu zwei gegensätzliche Aspekte der lustbringenden Strukturen des Schauens: a) skopophilisch (andere Person wird durch Anschauen als Objekt sexueller Stimulation genutzt); b) narzisstisch (erwächst aus der Identifikation mit dem Bild). Die Lust am Schauen an sich sei dabei in aktiv/ männlich und passiv/ weiblich geteilt: „Der bestimmende männliche Blick projiziert seine Phantasie auf die weibliche Gestalt, die dementsprechend geformt wird.“ Frauen im Film werden laut Mulvey also gleichzeitig angesehen und zur Schau gestellt, sie konnotieren „Angesehen-werden-Wollen“. Entsprechend den Prinzipien der herrschenden Ideologie und den sie fundierenden psychischen Strukturen kann der Mann hingegen nicht zum Sexualobjekt gemacht werden (heterosexuelles Dogma). (Mulvey 1973/ 75) cinema of urban crisis Ein den Strömungen übergeordnetes Thema des US-Films der 1970er-Jahre ist dasjenige des urbanen Verfalls ( urban decay ). Lawrence Webb (2014) bezeichnet das (westliche) Kino der 1970er-Jahre in seiner buchlangen Studie als cinema of urban crisis und macht die Verhandlung dessen auf Ebene der mise en scène (Coppolas The Conversation in leerstehenden Gebäuden, Ferreris Anti-Western Touche pas à la femme blanche in einem Pariser Bauloch) ebenso fest wie an der Neuverhandlung urbaner Territorien, wie sie in Sidney Lumets Dog Day Afternoon oder den Dirty Harry -Filmen vollzogen wird. Exploitation-Film Exploitation-Filme, auf Deutsch in etwa ‚ausbeuterische Filme‘, sind diejenigen audiovisuellen Erzählungen, die laut Thomas Doherty (2002, 7) a) kontroverse, bizarre oder zeitgenössische Gegenstände sensationalistisch aufbereiten, b) mit einem Budget unterhalb des industriellen Standards arbeiten und c) ein Publikum im Teenager-Alter ansprechen. <?page no="158"?> 158 Handbuch Filmgeschichte Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp The Diary of an African Nun » Regie: Julie Dash » Land | Jahr: USA | 1977 Die reduzierte Ästhetik und die eindringliche Performance der Hauptdarstellerin machen diesen Film zu einem der emotionalen Kernmomente des New Black Cinema. Filmtipp Jeanne Dielman, 23, quai du commerce, 1080 Bruxelles » Regie: Chantal Akerman » Land | Jahr: B | 1975 Ein feministischer Paukenschlag, der mit einer all-female crew gedreht wurde und mit seiner analytischen und formalen Tiefe nichts von seiner Faszination verloren hat. Filmtipp » Regie: Yilmaz Güney » Land | Jahr: TÜR | 1974 Der heterogene Entwurf zweier Welten im selben Land - eine multiperspektivische Erzählung, die virtuos den Kontrast zwischen dem dekadenten Istanbul und dem einfachen Dorfleben in der Türkei zu einer filmischen Einheit verwebt. <?page no="159"?> 1981 bis 1990 · Ein Hybridkino der Oberflächen Die 1980er-Jahre stehen einerseits für die endgültige Globalisierung der Kinokultur und andererseits für die neoliberale Wende in den westlichen Ländern, die sich auf Produktion, Inszenierung und ideologische Positionen des Film-Outputs deutlich niederschlägt. Viele der Strömungen propagieren zudem ein Primat des Stils über den Inhalt und können somit als eine Reduktion der dialektischen Komplexität des Kinos der Neuen Wellen gelesen werden. Oberflächen, Körperbilder und opulente Farbkontraste determinieren den Film der 1980er-Jahre ebenso wie die Stärkung sekundärer Bedeutungssysteme wie Mode, aber auch Montage und Genre in ihrer Hybridisierung. 1980er: Globales Kino ereits seit 1968 findet alle zwei Jahre das Filmfestival von Carthage statt, auf dem sich in Tunesien die Crème des arabischen Kinos versammelt. Dort ist auch Nouri Bouzid (*1945) aktiv, dessen erster Film Rih Al-Sadd (1986, Der Mann aus Asche) bereits nach Cannes eingeladen wird. Darin geht es um die anstehende Hochzeit von Hachemi, dessen bester Freund Farfat stadtweit in Schmierereien und Gesprächen als unmännlich bezeichnet wird. Dies wühlt die Vorgeschichte der beiden auf, da sie in ihrer Jugend von einem ansässigen Zimmermann sexuell belästigt worden sind. Während Farfat von seinem Vater auf die Straße gesetzt wird, steht Hachemi vor der Entscheidung, zu seiner Vergangenheit zu stehen oder sie für seine Zukunft zu leugnen. 1989 folgt Bouzids Safa’ih min dhahab (Goldene Hufeisen), dessen Hauptfigur sich ebenfalls zwischen ihren liberalen Gedanken, für die sie Ende der 1960er-Jahren Folter erleiden musste, und ihrem angepassten Lebensentwurf in der Zukunft entscheiden muss. Die gesellschaftsanalytischen Filme Bouzids zeigen exemplarisch ein Land (und eine Filmkultur) im Aufbruch. Im Iran werden im Zuge der Revolution 1978 Kinos in Brand gesteckt, da die Filmindustrie als organisierte Maschine zur Reprä- B <?page no="160"?> 160 Handbuch Filmgeschichte sentation des Schah-Regimes gilt. Die islamische Regierung, die 1979 an die Macht kommt, etabliert schon schnell ein rigides Zensursystem und viele Filmemacher, die die liberalen Bedingungen der 1970er-Jahre gewöhnt sind, müssen sich maßgeblich umstellen. Der berühmteste iranische Filmemacher Abbas Kiarostami (1940-2016) ist im Zuge der ‚iranischen neuen Welle‘ der 1970er-Jahre zu nationaler Bekanntheit gelangt, wird jedoch erst in den 1980er-Jahren zu einer internationalen Berühmtheit. Die Dialektik von stilistischer Komplexität und einfacher Handlung bei einem starken Fokus auf Realismus, für die Kiarostami berühmt wird, überträgt sich im Nachhinein auch auf die Rezeption seines ersten Produktionsjahrzehnts. Nach dem Regimewechsel dreht er einige Jahre lang nur noch Kurz- und Dokumentarfilme, ehe ihm mit Khane-ye doust kodjast? (Wo ist das Haus meines Freundes? , 1987) der internationale Durchbruch gelingt. Wie in vielen Filmen Kiarostamis geht es darin um Freundschaft, hier um einen achtjährigen Jungen, Ahmed, der versehentlich das Notizbuch eines Klassenkameraden eingesteckt hat, wodurch jenem der Schulverweis droht. Ahmed sucht seinen Freund überall, findet ihn jedoch nicht und rettet seinen Freund schließlich, indem er selbst die Hausaufgaben für ihn anfertigt. Kiarostamis Rückkehr in die Spielfilmproduktion ist Teil einer Welle neuer Filme, die von der mehrdimensionaleren Darstellung von Frauenfiguren im Kino ebenso begleitet wird wie von einem künstlerischen Aufschwung in formaler Hinsicht - die Zensur lockert sich zumindest minimal und der Film wird als wichtiges Kulturgut des Irans reinstatiert. Nach der sogenannten Kulturrevolution von 1966 bis 1976, die in vielerlei Hinsicht eine Legitimation für politische Morde und kulturelle Säuberungen war, normalisiert sich ab 1977 allmählich das Klima in der Filmindustrie Chinas . Die sogenannte „Viererbande“, Führungskräfte aus dem linken Flügel der Kommunistischen Partei, hatte in den Jahren vor Maos Tod 1976 die Macht de facto übernommen und viele Geschehnisse der Kulturrevolution zumindest mit verantwortet. Nach Maos Tod werden die meisten Mitglieder der Bande verhaftet und angeklagt. Fortan werden verbotene Filme aus den 1950er- und 1960er-Jahren wieder aufgeführt und zwischen 1977 und 1984 entstehen die sogenannten „Wunden- und Narbenfilme“, die sich explizit mit der Zerstörung von Karrieren und Beziehungen durch die ungerechte Verfolgung während der Kulturrevolution auseinandersetzen. Um 1984 ist die kinematographische Aufarbeitung weitgehend abgeschlossen und die Filmemacher: innen widmen sich nunmehr der Modernisierung Chinas. Die sogenannte Fünfte Generation, eine Bewegung junger chinesischer Filmemacher: innen, tritt auf den Plan und bringt filmsprachlich revolutionäre Ideen von den Filmakademien mit. Chen Kaige (*1952), Zhang Junzhao (1952-2018) und Zhang Yimou (*1950) finden zu einem asketisch strengen Kamerastil, der sich auf traditionelle chinesische Malerei bezieht und für Nicht- Kenner: innen der Materie bisweilen bis auf sein ästhetisches Potenzial unverständlich bleibt. Als Gründungsfilme gelten Yige he bage (Einer und acht, 1984) sowie Huang tudi (Gelbe Erde, 1984), von denen letzterer ein internationaler Kritiker: innenerfolg wird. Viele der Filme der Fünften Generation setzen sich mit der symbolischen Unterdrückung durch den Aufbau des chinesischen Gesellschaftssystems auseinander und wählen dafür lange Panoramaeinstellungen, große Figurendistanzen, karge Dialoge als Stilmittel. Die Filme und ihre Macher: innen differenzieren sich in der Folge jedoch stark aus, sodass weder eine große personelle noch stilistische Einheitlichkeit gegeben ist, was dem etablierten Label der Fünften Generation zuwiderläuft. Speziell Zhang Yimous Stil wandelt sich, als er vom Kameramann zum Regisseur wird, zu einem poetischeren. Seine Filme der späten 1980er- und frühen 1990er- <?page no="161"?> 1981 bis 1990 Ein Hybridkino der Oberflächen 161 Jahre machen die Schauspielerin Gong Li (*1965) zum Weltstar. In China finden sie jedoch nicht selten nicht einmal einen Verleih. Hong Gaoliang (1987, Rotes Kornfeld) gewinnt in Berlin den Goldenen Bären, Dahong Denglong Gaogaogua (1991, Rote Laterne) gilt oft als einer der besten Filme aller Zeiten. Hong Gaoliang spielt in der chinesischen Provinz und erzählt die Situation der verlobten Jiu’er („meine Großmutter“) vor einer Zwangsheirat. Einer ihrer Sänftenträger (Yu, „mein Großvater“) rettet sie vor einer Vergewaltigung durch einen Räuber und stellt ihr selbst nach, was Jiu’er bereitwillig zulässt. Ihr Verlobter stirbt indessen und Jiu’er erbt dessen Schnapsbrennerei - mit Yu ergibt sich doch noch eine Liaison, ehe die japanischen Besatzer kommen und sich die Geschicke wandeln. Schnaps ist das persistente Motiv des Films - es wird hineingepinkelt, er wird als Explosivum benutzt, es werden Lobhymnen auf ihn gesungen. Die „Vierte Generation“ bekommt erst nach der Benennung der ‚Fünften‘ ihren Namen - als eine Art ‚die sind auch noch da‘ des älteren chinesischen Autor: innenkinos. Sie verfilmen oft humanistische Ausbruchsfantasien aus dem System, die in der Regel zum Scheitern verurteilt sind - oft sind es Bauern, die sich an der Wirtschaftsreform abarbeiten oder das Problem der Modernisierung, die mit dem dörflichen, gewachsenen Lebensstil im Konflikt steht. In Lao Jing (1987, Der alte Brunnen, Wu Tianming) z. B. sucht ein Dorf nach Wasser, um zu überleben, weshalb ein junger Mann aus der Stadt zurückkehrt, um seinem Dorf und seiner Familie zu helfen. In den 1980er-Jahren debütieren zudem etwa 20 Regisseurinnen in der Volksrepublik. Sie haben es anfangs nicht leicht: Feminismus gilt als ausländisch und Jiang Qing aus der berüchtigten „Viererbande“ hat das Bild von weiblicher Autorität noch kürzlich negativ geprägt. Zhang Nuanxin (1940-1995) und Wang Haowei (*1940) jedoch widmen sich wechselweise erprobten Dramenthemen, aber auch den Belangen von Frauen, insbesondere deren sozialem Zwang der Festlegung auf traditionelle Rollen ( Shaou , Sport ist ihr Leben, Zhang Nuanxin, 1981). Nach dem Overkill der 1970er-Jahre kehren die japanischen Filme der 1980er-Jahre zu Gewaltfreiheit, Nostalgie und traditionelleren Themen zurück. Insbesondere der Alltagsfilm der 1950er-Jahre hat wieder Konjunktur, was vergleichbar mit der neoliberalen US-Nostalgie jenes Jahrzehnts ist. Akira Kurosawas Spätwerk hat indessen ebensowenig eine Anbindung ans japanische Kino wie seine früheren Filme - das historische Verwechslungsdrama Kagemusha (1980) und die King-Lear-Adaption Ran (1985) rufen Kurosawa vor allem international wieder in Erinnerung und werden weltweite Kritiker: innenerfolge. Ab Mitte der 1980er-Jahre werden in Japan zudem Manga-Adaptionen populär, während zeitgleich Hayao Miyazaki (*1941) mit seinen künstlerischen Filmen für eine Wiederbelebung des Animationsgenres sorgt - besonders durch Tonari no Totoro (1988, Totoro, der Geist von nebenan). Seine größten weltweiten Erfolge wird er jedoch in den folgenden Jahrzehnten mit Mononokehime (1997, Prinzessin Mononoke) und Sen to Chihiro no kamikakushi (2001, Chihiros Reise ins Zauberland) feiern. Die Bewertung des japanischen Kinos um die Jahrzehntwende als ‚infantiles Kino‘ rührt neben Animationsfilm und Manga-Adaptionen auch von der Popularität von Langfilmen, die ihre Hauptrollen mit Tieren besetzen, was einen kurzlebigen, aber prägnanten Trend darstellt. Der „10BA“-Steuerplan, der von 1980 bis 1988 in Kraft tritt, macht Investitionen z. B. in die Filmbranche so verlockend, dass die Produktionszahlen in Australien massiv gesteigert werden. Bedingung ist ein nationaler Australien-Bezug, um mit höheren Budgets eine Alternative zum auch hier do- <?page no="162"?> 162 Handbuch Filmgeschichte minanten Hollywood-Kino zu schaffen. Die durchschnittliche Jahresproduktion australischer Spielfilme steigt von den 1970ern zu den 1980ern von 15 auf 27 an. Die beiden ersten Mad-Max -Fortsetzungen profitieren davon ebenso wie Historiendramen à la Gallipoli (1981, Peter Weir) oder Paul-Hogan- Schoten wie die Crocodile Dundee -Filme (1986, 1988). Mel Gibson dreht nach seinem Mad Max -Überraschungserfolg von 1979 viel mit Peter Weir (*1944) - später im Jahrzehnt wird Gibson zum Hollywood-Star. Auch Weir geht nach dem globalpolitisch ambitionierten The Year of Living Dangerously (Ein Jahr in der Hölle, 1982) nach Hollywood und dreht dort Witness (1985) und Dead Poets Society (1989). Neben Gibson und Weir ist Bruce Beresford (*1940) der wichtigste Australien-Export jener Zeit - auch er beginnt Down Under, z. B. mit dem Football-Drama The Club (1980), wird aber erst mit seinen US-Produktionen wie dem Alkoholiker-avec-Countrysinger-Drama Tender Mercies (1983) und dem um die Jahrzehntwende populären racial-relations- Drama Driving Miss Daisy (1989) weltbekannt. 1980er: Deutschland er Tod Fassbinders 1982 gilt zusammen mit der Wahl Helmut Kohls als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland im selben Jahr oft als Markierung des Endes des Neuen Deutschen Films . Das hängt nicht so sehr mit Kohl selbst als vielmehr mit seinem neuen CSU- Innenminister Friedrich Zimmermann zusammen, der sich ab März 1983 massiv gegen das Autorenkino des Neuen Deutschen Films wendet und stattdessen das Recht des Steuerzahlers auf gutes Unterhaltungskino betont. Eine erste Eskalation entzündet sich an Herbert Achternbuschs Das Gespenst (1982), der von CSU-Seite als blasphemisch eingestuft wird (was er auch ist) - Achternbusch wird daraufhin die letzte Rate seines Filmpreises vorenthalten. Diese versuchte Neuordnung der Kulturindustrie hängt direkt mit politischen Aversionen zusammen, da der Neue Deutsche Film sich in den vergangenen Jahren von einer unabhängigen Instanz immer mehr zu einem ‚sozialliberalen Staatsfilm‘ gewandelt hat - zumindest wird er so wahrgenommen. Gegen was für ein gebündeltes internationales Renommee sich Zimmermann hier wendet, wird vielleicht an der Zahl der Ehrungen für den Neuen Deutschen Film anno 1982 deutlich: Der Goldene Bär geht an Die Sehnsucht der Veronika Voss (Fassbinder), Herzogs Fitzcarraldo gewinnt in Cannes den Preis für die beste Regie, Alexander Kluge erhält einen Goldenen Löwen für sein Gesamtwerk, während Wenders’ Der Stand der Dinge den Goldenen Löwen des Wettbewerbs erhält. Margarethe von Trotta (*1942) erhält für Die bleierne Zeit den Bundesfilmpreis. Gerade Wenders’ Der Stand der Dinge (1981) wird im Nachhinein fast symbolisch für das Ende des Neuen Deutschen Films als ein Film über einen Film, dessen Filmemacher das Geld ausgeht, weshalb er unvollendet bleiben muss. Tatsächlich bleibt die erwartete neoliberale Wende im Kino der Bundesrepublik Deutschland dennoch erst einmal aus, und viele Filmemacherinnen jüngerer Generation entfalten sich: Ulrike Ottinger (*1942) reflektiert in ihren Filmen formal Mulveys Beschreibung der Frau als passives Objekt des männlichen Blicks - Bildnis einer Trinkerin (1979) begleitet eine Frau, die trinkt, auf einer Reise durch Berlin, während Johanna d’Arc of Mongolia (1989) die teils komische, teils tragische Geschichte einer multinationalen Frauengruppe erzählt, die an Bord der transsibirischen Eisenbahn von einer Kriegerprinzessin gefangen genommen wird. Margarethe von Trotta dreht 1981 Die bleierne Zeit , der von zwei Schwestern handelt, D <?page no="163"?> 1981 bis 1990 Ein Hybridkino der Oberflächen 163 die jede auf ihre Weise - die eine als Journalistin, die andere als Terroristin - für die Frauenrechtsbewegung kämpfen wollen. Der Film wird oft als Stammheim-Reflexion begriffen, da er schon früh zu einem Gefängnisdrama wird. 1983 folgt Heller Wahn über die Freundinnen Olga und Ruth, die intertextuell frühere Frauenfreundschaften, wie diejenige der Karoline von Günderrode und Bettina Brentanos im 19. Jahrhundert, widerspiegelt. 1986 veröffentlicht von Trotta ein Biopic über Rosa Luxemburg . Wolfgang Petersen (*1941) hat nach etlichen Fernseharbeiten einen Riesenerfolg mit Das Boot (1981) und geht nach der deutschamerikanischen Koproduktion Die unendliche Geschichte (1984) im Hollywood- Mainstream auf. Auch andere Export- Handwerker wie Roland Emmerich (*1955) und Hans Zimmer (*1957) beginnen ihre Karrieren - der eine in deutschen Mainstream- Produktionen, der andere in französischen und britischen Arthouse-Filmen von Skolimowski, Frears und Roeg. Der Aufstieg dieser drei Filmschaffenden begleitet nicht zufällig den Übergang vom Autorenfilm zum Genrekino, mithin auch den finanziellen Abstieg des Kinos gegenüber der immer stärkeren Konkurrenz von Fernsehen und Video. VHS-Kassetten sind in Deutschland 1976 eingeführt worden, Mitte der 1980er-Jahre beginnt in der Bundesrepublik Deutschland die Videoperiode, die bis zur Einführung der DVD um die Jahrtausendwende andauern wird. Außerdem dominieren US-Filme den Unterhaltungsmarkt - nur etwa 1/ 8 der Filme sind nationale Produktionen, und während US-Filme oft mehr als 4 Millionen Zuschauer: innen haben, gilt ein deutscher Film mit 100.000 bis 150.000 Zuschauer: innen bereits als Erfolg. Vor allem Komödien mit Otto Waalkes, Gerhart Polt, Loriot, Didi Hallervorden oder Manta-Filme und die Supernasen -Reihe mit Mike Krüger und Thomas Gottschalk können sich kommerziell behaupten. Genrekino ist jedoch nicht gleich Genrekino: Während Doris Dörrie (*1955) sich in Männer (1985) oder Geld (1989) nach eigenen Angaben eher auf Cassavetes und Scorsese bezieht, sieht Dominik Graf (*1952) keine Diskrepanz zwischen Genre und Qualität. Grafs Verwechslungskomödie Drei gegen drei (1985) oder der Bankraubthriller Die Katze (1988) versuchen sich an formal interessantem Unterhaltungskino, wie es auch in den USA zu jener Zeit als middle ground nicht unüblich ist - man vergleiche Grafs Filme z. B. mit Roger Donaldsons No Way Out (1987) aus dem Vorjahr. Percy Adlon (*1935) hat mit Zuckerbaby (1985), der Liebesgeschichte zwischen einer vereinsamten und übergewichtigen Enddreißigerin und einem jungen hübschen U-Bahn-Lenker, der ihre Einfühlsamkeit und Intelligenz im Gegensatz zum oberflächlichen Rest der Gesellschaft zu schätzen weiß, einen Überraschungserfolg. In weiteren Filmen verhandelt Adlon die deutsche Identität anhand von Culture-clash-Momenten mit den USA: 1987 versetzt er die Hauptfigur Jasmin aus Out of Rosenheim in die Mojave-Wüste, wo diese ein heruntergekommenes Café auf Vordermann bringt; in Rosalie Goes Shopping von 1989 hat es die Titelfigur, eine Bayerin, aus Gründen der Liebe nach Stuttgart, Arkansas verschlagen, wo sie aus Langeweile erst Kreditkarten und Schecks fälscht und später zu einer versierten Hackerin wird. Viele bundesdeutsche Filme der 1980er-Jahre setzen sich kritisch mit dem US-amerikanischen Neoliberalismus auseinander oder positionieren sich vergleichbar zum bundesdeutschen Konsumsystem. Die unterhaltsame Oberfläche führt in den meisten Filmen dazu, dass die ironische Note oft verwischt wird, wodurch sich das deutsche Kino jener Zeit in seiner relativ systemtreuen Inszenie- <?page no="164"?> 164 Handbuch Filmgeschichte rung ähnlich wie das US-Kino in der Reagan- Dekade positioniert. Das finale Jahrzehnt des DDR -Films delegiert eigentliche Propaganda-Formate ans Fernsehen, während die Zensur des Kinofilms gleichzeitig verstärkt wird - statt den Untergang des Systems zu begleiten, wird versucht, den sozialistischen Schein mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Als Reaktion verlegt sich der Film immer stärker auf die Imitation westlicher Formate, die illusionistisch fremde Welten inszenieren, statt sich dem geradezu verbotenen Realismus anzunähern. Manche Regisseur: innen finden innovative Wege, ihre sozialen Botschaften so in die Parteilinie zu integrieren, dass sie einen Grad an Kunstfreiheit erhalten: Herrmann Zschoches (*1934) Bürgschaft für ein Jahr (1981) porträtiert zwar eine geschiedene, alleinerziehende Frau, die ihre Kinder vernachlässigt, aber als ihr das Sorgerecht entzogen wird, ist es die Nachbarschaft - ergo die Gesellschaft - die ihr wieder auf die Füße hilft. Trotz mehrerer Rückschläge kann sie zum Schluss immerhin zwei ihrer drei Kinder zurückgewinnen und gibt die älteste Tochter derweil ‚verantwortungsvoll‘ zur Adoption frei. Als Evelyn Schmidt (*1949) ein Jahr später einen ähnlich gelagerten Film, Das Fahrrad (1982), anders ausgehen lässt, indem die Hauptfigur die Hilfe ablehnt und sich selbst hilft, erscheint dies den Zensoren zu feministisch. Das Fahrrad läuft zwar in den Kinos der DDR, wird jedoch übereinstimmend verrissen und seine Auslandsauswertung untersagt. Mitte der 1980er-Jahre gerät der DEFA-Film in eine finale Phase der Stagnation und produziert immer weniger gesellschaftsrelevante Filme, oder, wie es der junge DEFA-Autor Thomas Knauf 1985 (zit. nach Gersch 2004, 401) ausdrückt: „Wir stehen vor unserer Realität wie vor einem brennenden Haus und dürfen es nicht mal photographieren.“ 1980er: Europa n Frankreich kommt in den 1980er- Jahren das von Kritiker: innen der Cahiers du cinéma unter diesem Namen ausgerufene cinéma du look in Mode. Dieses zeichnet sich durch eine sehr manieristische Inszenierung mit unnatürlicher Farbgebung, ungewöhnlicher Beleuchtung oder artifiziellen Szenenbildern aus, bevorzugt die Form gegenüber dem Inhalt und bricht so filmhistorisch mit den sozialrealistischen Traditionen des Landes und politisch mit der Konsenskultur zur Zeit des Präsidenten Mitterrand. Die in Luc Bessons (*1959) Subway (1984) titelgebende U-Bahn ist auch in der außerfilmischen Realität häufiger (Untergrund-)Treffpunkt für Jugendgruppen oder Ausgestoßene einer Gegenkultur. Der Anarchist Fred trifft dort, unter der Erde, auf eine solche Parallelgesellschaft, die ihm hilft, vor dem von ihm bestohlenen Geld- Establishment zu fliehen. Auch Jean-Jacques Beneix (*1946) oder Leos Carax (*1960) drehen Filme, die zum cinéma du look gezählt werden. Während die Filme von Wissenschaftler: innen häufig als reine formalistische Gegenbewegung zu ideologieschwangeren Alternativen gedeutet werden, wehrt sich Phil Powrie (1997) in seiner exzellenten Analyse von Subway , die den Film in die Tradition des (hochgradig ideologischen) französischen Polar-Genres (Polizeifilm) einordnet, gegen dieses Vorurteil. Auch das unbekanntere cinéma beur („Araber-Kino“) beginnt in den 1980er-Jahren und wird von Maghreb-Migrant: innen bzw. der integrierten zweiten Generation Migrant: innen-Kinder gedreht. Mehdi Charef (*1952) oder Rachid Bouchareb (*1959) drehen Filme wie Le thé au harem d’Archimède (1985, Charef) über zwei Kleinkriminelle in einem Pariser Vorort oder Bâton Rouge (1985, Bouchareb) über drei verarmte Pariser, die von einem besseren Leben in den USA träumen und dies mit einer geliebten Touris- I <?page no="165"?> 1981 bis 1990 Ein Hybridkino der Oberflächen 165 tin, der Passion für Jazzmusik oder der Flucht vor der eigenen Familie verbinden. Das cinéma beur begründet eine Tradition, die im französischen Kino bis heute anhält und gerade in den letzten Jahrzehnten viel internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, so z. B. mit Tony Gatlifs (*1948) Exils (2004) über die Reise eines französischen Liebespaares in die algerische Herkunft ihrer Vorfahren. Jean-Jacques Annaud (*1943) verfolgt in den 1980er-Jahren einen exzentrischen Ansatz - neben seinem Welterfolg, der deutschfranzösisch produzierten Verfilmung von Ecos Erfolgsroman Der Name der Rose (1986), experimentiert er mit dem dialoglosen Film. Im in der Steinzeit angesiedelten La guerre du feu (1981) sprechen die Protagonist: innen eine sprachwissenschaftlich rückentwickelte Kunstsprache, während in L’ours (1988) der Protagonist ein junger Bär ist, dessen Mutter zu Beginn stirbt, woraufhin er familiären Anschluss bei anderen Beschützern sucht. Maurice Pialat (1925-2003) dreht ebenfalls einige seiner eindringlichsten Filme wie das Kriminalliebesdrama Loulou (1980) mit Isabelle Huppert und Gérard Depardieu oder den poetischen Erotikfilm À nos amours (1983) mit Sandrine Bonnaire. Während Anfang der 1970er-Jahre Agnès Varda, Anne-Marie Miéville und Marguerite Duras quasi die einzigen französischen Regisseurinnen sind, ergibt sich in Folge der um 1968 bestärkten Frauenbewegung eine stetige Zunahme von Filmemacherinnen in Frankreich. Während Nelly Kaplan (*1931) im Jahre 1969 mit La fiancée du pirate (Moneten fürs Kätzchen, 1969), der von einer missbrauchten Frau handelt, die als Prostituierte nach und nach lernt ihr Dorf zu kontrollieren, feministische Pioniersarbeit leistete, haben Yannick Bellon (1924-2019), Coline Serreau (*1947) und Diane Kurys (*1948) in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren neben vielen anderen ihren Durchbruch. In Bellons L’amour nu (1981) geht es um die physischen und sozialen Auswirkungen einer Brustkrebserkrankung, während La triche (1984) eine Polizeigeschichte auf den Homosexuellen-Strich verlegt, wo sich der Ermittler in den Hauptverdächtigen verliebt. Les enfants du désordre (1989) befasst sich mit jungen Mädchen auf der Reformschule. Coline Serreau hat derweil einen großen kommerziellen Erfolg mit der Komödie 3 hommes et un couffin (1985), in der drei Singlemänner plötzlich ein Baby großziehen müssen. Das Spektrum ist groß und reicht vom Autorinnenkino über Mainstream- Komödien bis hin zu Schauspielerinnenfilmen und dem cinéma du look - Frankreich erwirbt sich eine Vorreiterrolle, was die Integration von Frauen im Filmgeschäft angeht, und ist Vorbild für viele andere europäische Länder. Zwei wichtige Regisseure der älteren Generation drehen in den 1980er-Jahren ihr beginnendes bzw. endendes Spätwerk: Franç ois Truffaut verantwortet drei Filme, die vom Historiendrama (1980, Le dernier métro ) bis zur Krimikomödie (1983, Vivement dimanche! ) reichen, ehe er im Alter von nur 52 Jahren stirbt. Louis Malle dreht bis zu seinem Tod Mitte der 1990er-Jahre weiter und hat nach dem Skandalfilm Pretty Baby (1978) Anfang der 1980er-Jahre ein kleines Comeback mit dem US-Kriminaldrama Atlantic City, USA (1980) und dem irrwitzigen Ensemblestück My Dinner With Andre (1981). Auch Jean-Luc Godard bleibt ein relevanter Regisseur und legt mit Passion (1982) eine über tableaux vivants erzählte Reflexion von Kunst und Film vor. (Auch seine anderen Filme des Jahrzehnts verdienen mehr Aufmerksamkeit, v. a. Prénom Carmen , 1983, Je vous salue Marie , 1985, und Détective , 1985.) Auf der Mainstream-Seite verbucht Großbritannien mit dem Monumentalepos Chariots of Fire (1981, Hugh Hudson) einen <?page no="166"?> 166 Handbuch Filmgeschichte Welterfolg - der Film gewinnt vier Academy Awards. Ein Jahr später folgt Richard Attenboroughs (1923-2014) Gandhi (1982) und gewinnt gleich acht Oscars, sodass allerseits von einer internationalen ökonomischen Renaissance des britischen Kinos ausgegangen wird. Andererseits ist Großbritannien mit dem Aufstieg Margaret Thatchers zur Premierministerin 1979 noch früher als die USA in den zweifelhaften Genuss einer neoliberal ausgerichteten Regierungspartei gekommen - schon früh sorgen ihre gewerkschaftsfeindliche Politik, ihre Steuererhöhungen und ihre Privatisierungsmaßnahmen für die Begründung einer substanziellen Opposition, die sich auch im Thatcher-Film, einem Gegenkino der Dekade, niederschlägt. Stephen Frears (*1941) etabliert sich im Zuge dessen nicht nur als ein hochgradig ideologiesensibler Regisseur, sondern dreht mit seinem kommerziellen Durchbruch My Beautiful Laundrette (1985), der Geschichte einer pakistanischen Großfamilie, die in Großbritannien die Prinzipien des Thatcherismus nachzuahmen versucht und gleichzeitig mit der Homosexualität ihres Haupterben, der in einen ehemaligen Faschisten verliebt ist, klarkommen muss, eine Art Vorläufer des new queer cinema in den 1990er-Jahren. Sammy and Rosie Get Laid (1987) erzählt die Geschichte eines intellektuellen Londoner Pärchens, das exzessiv freie Liebe praktiziert - außer miteinander. Ihr Lebensstil wird auf den Prüfstand gestellt, als Sammys Vater Raffi aus Indien zu Besuch kommt. Auch Mike Leigh (*1943), der jahrzehntelang beim Fernsehen gearbeitet hat, übt Sozialkritik in Form einer Komödie: In High Hopes (1988) geht es um kulturelle Differenzen von sozialen Klassen und Glaubensgemeinschaften. Terry Gilliam (*1940), der sich mit Brazil (1985) endgültig von seiner Monty-Python-Mitgliedschaft emanzipiert, hüllt seine Gesellschaftskritik in die Form einer dystopischen Satire und etabliert sich zugleich als ernstzunehmender Auteur, ehe er wie viele andere nach Hollywood geht. Zwei Individualisten, die einen eher philosophisch-künstlerischen Zugang zum Film haben und beide aus der Malerei kommen, sind Peter Greenaway (*1942) und Derek Jarman (1942-1994). Während Jarmans Caravaggio (1986) jedoch noch ein scheinbar weltentrücktes Biopic über den Barock-Maler ist, stellt der Nachfolger The Last of England (1987) eine wütende Abrechnung mit dem zeitgenössischen England Margaret Thatchers dar. Jarmans 1986 bekannt gewordene AIDS-Erkrankung wird oft als autobiographische Deutung auf den Film gelegt, was seiner umfassenderen politischen Stoßrichtung keinesfalls gerecht wird. 1993 dreht Jarman mit Wittgenstein einen seiner letzten Filme - eine experimentelle Meditation über des Philosophen Leben und Schriften, die wie eine Theatervariante von Ken Russells opulenten Popfilmen anmutet. Der im selben Jahr erschienene Film Blue (1993) ist nun tatsächlich autobiographisch und verhandelt meditativ Jarmans Erfahrungen mit dem Thema AIDS und verwebt diese assoziativ mit etlichen anderen Ideen. Peter Greenaways Filme zeigen in ihrer verschachtelten Ästhetik starke Anleihen an barocke Malerei. Ist sein erster Spielfilm The Draughtman’s Contract (1982) noch ein relativ konventioneller Kostümfilm, widmet sich A Zed & Two Noughts (1985) dem Symmetriefetisch zweier Zwillinge, die in einer Menage-à-trois mit einer Frau leben. Greenaway montiert lange Stroboskopaufnahmen von verwesenden Tieren in den Film, die jede Obsession auch immer mit dem Thema der Vergänglichkeit assoziieren - eine filmisch-freudianische Verknüpfung von Eros und Thanatos. The Cook, the Thief, His Wife & Her Lover (1989) spielt derweil mit dem Thema Farbe, indem szenische Übergänge oft mit vollständig neuen Einfärbungen der mise en scène einhergehen. <?page no="167"?> 1981 bis 1990 Ein Hybridkino der Oberflächen 167 Auch The Belly of an Architect (1987) und Drowning By Numbers (1988) sind herausragende Filme. Greenaways Werk war niemals abwechslungsreicher und ausdifferenzierter als in seiner ersten Schaffensdekade. In der Sowjetunion kommt 1985 Michail Gorbatschow an die Macht und leitet fast direkt im Anschluss die Phasen der Glasnost (Offenheit, Transparenz, 1986-1988) und Perestrojka (Umstrukturierung, 1988-1991) ein, die ultimativ mit zum Untergang der Sowjetunion führen, aber auch weitreichende Konsequenzen für die sowjetische Filmindustrie haben. Einerseits ist die Zensur fortan deutlich sanfter und andererseits kann die Anfang der 1980er-Jahre ohnehin populäre realistische Bewegung sich ungehindert weiterentwickeln. Während Gorbatschows Ernennung für den 1983 nach Italien ausgewanderten und 1986 in Frankreich verstorbenen Andrej Tarkovskij zu spät kommt, setzt unter anderem Aleksandr Sokurov (*1951) dessen Tradition, das Kino mehr und mehr verstummen zu lassen und visuelle Qualitäten in den Vordergrund zu stellen, was dem Ideal des sozialistischen Realismus mithin diametral widerspricht, radikalisiert fort. Der extrem systemkritische Film Dni Zatmenija (1988, Tage der Finsternis) macht Sokurov international berühmt. Tarkovskij selbst ist über Solaris (1972), Zerkalo (Der Spiegel, 1975), Stalker (1979) hinweg bis zu Nostalghia (1983) immer bildorientierter, epischer und stummer geworden. Zur Zeit der Glasnost werden neben den neuen Filmen auch etliche vormals verbotene Filme wieder freigegeben, darunter das eindrucksvolle Werk Aleksej Germans (1938-2013). Auch der georgische Film profitiert von den neuen Konditionen. Georgiy Danelia (1930-2019), der seit den 1950er-Jahren als Regisseur tätig ist, dreht 1986 die fantastische Groteske Kin-dza-dza! (1986), die den Maßgaben des üblichen sowjetischen Science-Fiction-Films auf nahezu allen Ebenen widerspricht. Der primitive Planet „Pluke“, auf dem der Großteil der Handlung stattfindet, besteht aus Fragmenten und sozialen Analogien zum Moskau der 1980er-Jahre, wodurch die Groteske von „Pluke“ sich leicht als Groteske der Sowjetunion dechiffrieren lässt. Auch Nana Djordjadze (*1948) wird Ende der 1980er-Jahre nach längerer Pause wieder als Filmemacherin tätig und dreht Robinzoniada, anu chemi ingliseli Papa (1987), der das Genre der Robinsonade mit dem realhistorischen Hintergrund eines Bürgerkrieges in Georgien im Jahre 1920 verknüpft. Neben den nationalen Untertönen, die in sowjetischen Republiken vorher unerwünscht gewesen sind, ist auch die freimütige Inszenierung des Gegensatzes zwischen Großbritannien und der UdSSR bemerkenswert. Djordjadze wird eine aufregende Filmemacherin bleiben und z. B. Shekvarebuli kulinaris ataserti retsepti (1996, Die Rezepte eines verliebten Kochs) sowie 27 Missing Kisses (2000) verantworten. Das italienische Kino verfällt in den 1980er- Jahren bis auf einige Höhepunkte wie den Welterfolg Nuovo Cinema Paradiso (1988, Giuseppe Tornatore), der auf reflexive Weise eine Freundschaft vor dem Hintergrund der Sozialisation durch das Kino erzählt. Auch der Exploitationfilm widmet sich dem eher geschmacklosen und ästhetisch meist unergiebigen Genre des Kannibalenfilms, der 1980 mit dem Erfolg von Cannibal Holocaust (Ruggero Deodato) eingeläutet wird und über die folgenden Jahre etliche Epigonen wie Cannibal Ferox (1981, Umberto Lenzi) oder Mangiati vivi! (1980, Umberto Lenzi) nach sich zieht. Ein Vorläufer des Trends mag Joe D’Amatos (1936-1999) Emannuelle e gli ultimi cannibali von 1977 mit Exploitation-Star Laura Gemser gewesen sein, was das Phänomen insgesamt jedoch zugegebenermaßen nicht gerade nobilitiert. <?page no="168"?> 168 Handbuch Filmgeschichte Nach dem Tod Francos im Jahre 1975 setzt in Spanien eine jahrelange Aufarbeitung ein, die auch das Kino erfasst. Gerade Carlos Saura, der jahrzehntelang in Spanien ausgeharrt hat, genießt sichtlich die neuen Freiheiten und dreht mit der Flamenco-Trilogie aus Bodas de Sangre (1981), Carmen (1983) und El amor brujo (1986) sein vielleicht zentrales filmisches Statement. Pedro Almodóvar (*1949) widmet sich nach etlichen Jahren der Kurzfilme dem langen Spielfilm. Seine grotesken, oft schwarzhumorigen, manchmal surrealistischen Explorationen der gesellschaftlichen Konzeptionen von Sex und Gewalt beginnen bereits mit Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón (1980), in dem die Titelfigur Pepi von einem Polizisten vergewaltigt wird, der ihre (falsche) Marijuanaplantage entdeckt. Ihre Freunde lauern dem Polizisten auf und verprügeln ihn, es handelt sich jedoch um dessen unschuldigen Zwillingsbruder. Man kann sich vorstellen, in welcher Weise sich die Handlung weiter entfaltet. Nach etlichen anderen hochgradig eigensinnigen Filmen dreht Almodóvar 1988 Mujeres al borde de un ataque de nervios , der ihm endgültig zum internationalen Durchbruch verhilft. Auch dies ist eine schwarze Komödie voller irrwitziger Wendungen. Der spanische Begriff „ataque de nervios“ spielt mit der machistischen Zuweisung von weiblicher Hysterie und dekonstruiert diese im Verlauf der Filmhandlung. 1989 folgt Almodóvars ¡Átame! (Fessle mich! ), der international weniger bekannt ist, jedoch eines von Almodóvars formvollendetsten Gedankenspielen darstellt. Darin geht es um einen ehemaligen Nervenheilanstaltsinsassen, der einen ehemaligen Pornostar entführt, um sie zu überzeugen, ihn zu heiraten. Die Verhandlungen von Moral und Gesellschaft im spanischen Kino haben oft einen sehr eigenständigen, surrealen Charakter und einen Hang zu extrem irrealen Szenarien. Auch das „surrurale“ Kino von José Luis Cuerda (*1947), der z. B. 1989 den großen nationalen Erfolg Amanece, que no es poco dreht, geht in eine vergleichbare Richtung und verlegt die fieberhaften Erzählungen Almodóvars in ein nicht weniger bizarres spanisches Hinterland. Der spanische Riesenerfolg Jamón Jamón , 1992 unter der Regie von Bigas Luna (1946-2013) gedreht, ist womöglich ein vorläufiger Höhepunkt dieser in den 1980er-Jahren begonnenen Entwicklung. 1980er: USA ie Reagan-Dekade in den USA beginnt natürlich mit des Schauspielers Amtsantritt als Präsident am 20. Januar 1981. Reagans neoliberale Wirtschaftspolitik und gleichzeitige rhetorische Rückbesinnung auf uramerikanische, konservative Identitätsmuster der 1950er-Jahre hat in seiner Widersprüchlichkeit auch das Hollywood-Kino interessiert und geprägt. Etliche Filme verhandeln die Figur des young upwardly mobile professionals (Yuppies) manchmal als Diener des Systems, der den Reaganschen Werten doch besser verhaftet bleiben soll wie in Adrian Lynes (*1941) Fatal Attraction von 1987, manchmal als entmaskuliniertes Opfer der Wirtschaftskrise der frühen 1980er-Jahre, das sich über einen Umweg wieder behaupten muss wie in Stan Dragotis (1932-2018) Mr. Mom von 1983, oder - seltener und im subversiven Blickwinkel seines Regisseurs Oliver Stone - als monströse Personifizierung des Raubtier- Kapitalismus in Wall Street (1987). Die Rückbesinnung auf die 1950er-Jahre findet sich auch in der Deklaration und Wahrnehmung eines second golden age of television wieder: Einerseits liefert die neue Verquickung von episodischem und seriellem Erzählen in Hill Street Blues (1981-1987, NBC) und St. Elsewhere (1982-1988, NBC) ein Modell für die Quality-TV-Serie, wie sie bis heute immer wieder Konjunktur hat. An- D <?page no="169"?> 1981 bis 1990 Ein Hybridkino der Oberflächen 169 dererseits werden Remakes von Anthologieformaten der 1950er-Jahre produziert, die sich als Franchise neu beleben lassen können: so Alfred Hitchcock Presents lange nach seines Schöpfers Tod, oder auch The Twilight Zone . Der Video-Boom führt zu einer Umstrukturierung des B-Movie-Business. Insbesondere der Horrorfilm der 1980er-Jahre richtet sich noch stärker an ein Teenager-Publikum als derjenige der 1970er-Jahre, wodurch das altehrwürdige Genre mit einem Exploitation- Publikum - sowie den entsprechenden Spielorten wie Autokino oder Videorekorder - zusammengeführt wird. Wer ein paradigmatisches Beispiel sehen möchte, schaue sich George Clooneys erste Rolle in Return to Horror High von 1987 an (Bill Froehlich). Die Science-Fiction-Dystopie des New Hollywood hat sich in ein fantastisches Science- Fiction-Modell einerseits ( Star Wars -Fortsetzungen; Back to the Future ; E.T. ; Starman etc.) und ein Aufgreifen des postutopischen, manchmal als Endzeitfilm betitelten Impulses von Mad Max (1979), andererseits ausdifferenziert: John Carpenter (*1948), der aus dem Independent-Bereich stammt und in den 1970er-Jahren bereits mit Dark Star (1974), Assault on Precinct 13 (1976) und Halloween (1978) erste Erfolge feiern konnte, produziert neben weiteren Horrorfilmen unter anderem Escape from New York (1981, Die Klapperschlange). Auch Ridley Scotts (*1937) Blade Runner (1982), die britische 1984 -Adaption von Michael Radford (*1946) sowie Paul Verhoevens (*1938) RoboCop (1987) passen zu diesem Modell. Stephen King wird zum meistadaptierten Autor überhaupt, und viele der Adaptionen sind nicht nur Kassenschlager, sondern ziehen nach Brian De Palma und Stanley Kubrick nun auch Regisseure wie David Cronenberg, George Romero (1940-2017), John Carpenter und Rob Reiner (*1947) an. Nicht nur Back to the Future von Robert Zemeckis (1985) symbolisiert den nostalgischen Blick zurück in die 1950er-Jahre - insgesamt ist es ein Jahrzehnt, das auffällig oft die (Eltern-)Folie der Baby-Boomer- Generation und der verlässlichen (konservativen) Wertstrukturen repräsentiert. Auch dazu passend hat John Hughes (1950-2009) extrem erfolgreiche Jahre als Drehbuchautor und Regisseur - neben den National- Lampoon -Filmen verantwortet er Sixteen Candles (1984), The Breakfast Club (1985), Ferris Bueller’s Day Off (1986), Planes, Trains & Automobiles (1987) und Home Alone (1990). Die Konzeption der Komik in vielen dieser Filme wird in den letzten Jahren immer stärker kritisch rezipiert - so haben Sixteen Candles und The Breakfast Club nicht zu übersehende Probleme mit ihrer Euphemisierung von rape culture und der unreflektierten Reproduktion rassistischer und sexistischer Stereotype. Home Alone oder zu Deutsch Kevin - Allein zu Haus sorgt nicht nur für einen Benennungsboom in Deutschland, sondern ist auch symptomatisch für den Hang der 1980er-Jahre zu Kinderstars, die oft - wie Drew Barrymore, Brooke Shields oder eben Macaulay Culkin - mit dem Ruhm überfordert sind und sehr jung sehr drogenabhängig werden. Auch das Genre der romantic comedy macht sich zwar alle Insignien der liberaleren 1970er-Jahre weiter zu eigen, dreht sich aber massiv ins Konservative: Man vergleiche Rob Reiners When Harry Met Sally von 1989 mit seinem expliziten Vorbild Annie Hall von 1977. Der High-School-Film differenziert, auch über den Horrorfilm hinaus, nach und nach eine neue Zielgruppe aus und befasst sich mit sozialer Zugehörigkeit, coming of age und „Außenseiterfiguren“, die dennoch meist zur weißen Mittelschicht gehören. Der wiedergeborene Blockbuster der 1970er-Jahre wird vor allem von Steven Spielberg und George Lucas weitergetragen: E.T. , die Indiana Jones -Franchise und die Star Wars -Franchise werden immer erfolgreicher - jedoch steigen auch jüngere Regisseure wie erwähnter Robert Zemeckis (*1952) <?page no="170"?> 170 Handbuch Filmgeschichte in das Modell ein, und Spielberg tätigt immer häufiger Reinvestitionen als Produzent, setzt sich aber anders als Lucas als Regisseur nicht zur Ruhe. Überhaupt beginnen einige langlebige Franchises in den 1980er-Jahren: James Camerons (*1954) The Terminator (1984), John McTiernans (*1951) Die Hard (1988), Ridley Scotts Alien (1979) wird fortgesetzt durch James Camerons Aliens (1986), sowie Ivan Reitmans (*1946) Ghostbusters (1984). Der zeitgleiche kommerzielle erste Aufstieg des Videospiels von den Arcades in die Wohnzimmer (vgl. zuvor noch Jaws und War Games , 1983, John Badham) eröffnet sogleich neue Möglichkeiten der crossmedialen Franchise-Verwertung neben Literatur, Comic und Spin-off-Serie . Abseits des Mainstreams etablieren sich die eigentlich interessanten Einzelgänger des Jahrzehnts: David Lynch (*1946) und David Cronenberg (*1943) prägen mit ihrer eigenwilligen Ästhetik neue Formen des psychologischen Terrors und des körperlichen Horrors aus - zu nennen sind z. B. stark verkürzt Blue Velvet (1986) und Videodrome (1983). Lynch ist zudem einer derjenigen Qualitätsregisseure, die sich wie viele andere von Spielberg bis Eastwood im Zuge des Quality- Booms wieder dem Fernsehen zuwenden ( Twin Peaks , 1990-1991 und 2017, ABC bzw. Showtime ). Jonathan Demme (1944- 2017) findet seine Nische in einem stark humanistisch-analytischen Kino, das sich in Something Wild (1986) oder Married to the Mob (1988) innerhalb des, aber am Rande des Mainstreams bewegt. Eine ähnliche Position bekleidet Brian De Palma, der neben reflexiven Kinomeditationen wie Blow Out (1981) und Body Double (1984) den Gangsterfilm neu belebt ( Scarface , 1983; The Untouchables , 1987), aber auch nach wie vor sozialkritische Anliegen verfolgt wie in Casualties of War (1989) und The Bonfire of the Vanities (1990). Noch radikaler positioniert sich diesbezüglich Oliver Stone (*1946), der unter anderem mit dem schonungslosen Antikriegsfilm Platoon (1986) Schlagzeilen macht. Der Sendestart von MTV anno 1981 sorgt für einen Aufschwung des Musikvideos, der sich auch auf die Ästhetik von experimentelleren Filmen direkt auswirkt. Shirley Clarke (1919-1997), die zeitlebens fast nur Kurzfilme gedreht hat, überträgt die mehrschichtige Pop-Ästhetik mit ihrem letzten Film Ornette: Made in America (1985) gar auf einen Dokumentarfilm. Eigentlich abseits des Mainstreams bewegt sich auch Spike Lee (*1957), der im Independent-Bereich Porträts afroamerikanischer Milieus filmt - wie She’s Gotta Have It (1986), eine Komödie über weibliche Promiskuität, School Daze (1988) über afroamerikanische Colleges und deren Bruderschaften sowie Do the Right Thing (1989) über die sozialen Unruhen in Brooklyn. Auch in der Folge ist Lee für seine Dekonstruktionen von Klischees über Afroamerikaner: innen bekannt, so etwa in dem Jazzfilm Mo’ Better Blues (1990), der dem Jazz gegenüber eher skeptisch eingestellt ist. Auch die Brüder Joel (*1954) und Ethan Coen (*1957) beginnen ihre Karriere im Independent-Sektor - erst am Set von Independent-Größe Sam Raimi, schon 1984 mit ihrem ersten Low-Budget- Film Blood Simple. (1984). Es folgen die Komödie Raising Arizona (1987) und der Mafiafilm Miller’s Crossing (1990), die filmhistorisch bewusste und formal durchkomponierte Genre-Reflexionen darstellen und den Coens schon früh eine Fangemeinde bescheren. Einer der wichtigsten Namen im Independent-Bereich ist derweil Jim Jarmusch (*1953), dessen europäisch geprägter Stil großen Einfluss auf das Independent- Mainstream-Kino der 1990er- und 2000er- Jahre, die sogenannte Indiewood-Bewegung, hat. Mit seinem zweiten Film Stranger Than Paradise (1984), einem als absurdistische Komödie vermarkteten Reisefilm in drei Akten, etabliert er seinen Personalstil und feiert einen ersten großen Erfolg. Es folgen der dialoggetriebene Prison-break-Film <?page no="171"?> 1981 bis 1990 Ein Hybridkino der Oberflächen 171 Down By Law (1986) und Jarmuschs erster Anthologiefilm Mystery Train (1989) - ein Typus, für den er später berühmt werden wird. Die drei Storys des Films ereignen sich in der selben Nacht in Memphis und beschäftigen sich allesamt mit Phänomenen des Unbeschreiblichen - Verehrung, Mythos, Mysterium. Auch Michael Mann (*1943) nimmt die Arbeit in den 1980er-Jahren auf und personifiziert womöglich am besten die Vorliebe des Jahrzehnts für ein Kino der Oberflächen und der Ästhetisierung. Bereits in Thief (1981) probiert er sich an einer entsprechenden Ästhetik, und auch in der Red Dragon / Hannibal- Lector-Verfilmung Manhunter (1986) zeigt sich geradezu paradigmatisch die Stiltendenz der Epoche gebündelt. Auch die Eröffnungssequenz von To Live and Die in L.A. (1985, William Friedkin) vermittelt einen Eindruck davon, wie hier Attraktions- und Narrationskino endgültig zusammenfinden - eine Synthese, die als Hollywood-Formel bis heute Bestand hat. <?page no="172"?> 172 Handbuch Filmgeschichte Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts direct to video Im Heimvideo-Zeitalter wurden viele Low- Budget-Produktionen weder für die Kinoauswertung noch für die Fernsehausstrahlung, sondern ‚ direct-to-video ‘ produziert. Dies galt oft für Sequels bekannter Serien oder Formate, die aufgrund ihrer Produktionsbedingungen kommerziell nicht viabel genug für größere Vermarktung waren, aufgrund ihrer Genrezugehörigkeit aber auch nicht vollständig erfolglos sein würden. Für kleinere Produktionsfirmen und den Independent-Sektor waren direct-to-video -Margen bisweilen sogar sehr attraktiv. MTV-Ästhetik/ Musikvideo-Ästhetik „In den vielen Jahren, in denen das Programm von Musikvideos dominiert wurde, bot MTV einen riesigen Ausstellungsort für Kurzfilme, ähnlich dem von Werbespots, aber mit größeren Möglichkeiten für kreative Freiheit. So wie Werbespots in der vorherigen Generation wichtige Regisseur: innen hervorgebracht haben, umfassen […] Videos, die für MTV gemacht wurden, die Ausbildung mehrerer wichtiger Gen-X- Regisseur: innen. […] Die MTV-Ästhetik aus schnellen Schnitten, auffälliger Beleuchtung und beschleunigter Erzählung wurde jedoch so schnell zu einem Klischee, dass es in den späten 1980er-Jahren eine Beleidigung war, sich auf die MTV-Ästhetik eines Films zu beziehen - eine Art Codewort für ‚style over substance‘. Trotzdem haben Fincher, Jonze und andere bewiesen, dass Regisseur: innen MTV, Werbung und andere nicht-theatralische Veranstaltungsorte als Erweiterung oder Alternative zur Filmschule nutzen können.“ (Peter Hanson, The Cinema of Generation X , 2002, 20) Hybrid-Genres/ Genre-Hybridisierung „Die [...] Typen der generischen Transformation, die in den 1960er und 1970er Jahren gleichzeitig ausprobiert wurden, mögen sich in Bezug auf den Grad des Respekts gegenüber einem bestimmten Genre unterscheiden, aber in jedem Fall bleibt die Transformation innerhalb der Grenzen eines bestimmten Genres, während die eklektischen, hybriden Genrefilme der achtziger und neunziger Jahre, wie Road Warrior (1981) [...], alle eine spezifische Transformation über die Genregrenzen hinweg vollziehen.“ (Jim Collins, Genericity in the Nineties: Eclectic Irony and the New Sincerity, 1993, 245) <?page no="173"?> 1981 bis 1990 Ein Hybridkino der Oberflächen 173 Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Le Pont Du Nord » Regie: Jacques Rivette » Land | Jahr: F | 1981 Alles, was an Jacques-Rivette-Filmen wunderbar ist (und das ist tautologischerweise wiederum: alles), drückt dieser Film für mich am klarsten und stärksten aus. Neben „Out 1, noli me tangere“ der Gipfel einer Höhenkamm-Karriere. Filmtipp Sans toit ni loi » Regie: Agnès Varda » Land | Jahr: F | 1985 Beklemmende Dekonstruktion des Freiheit und Selbstbestimmtheit ausstrahlenden Road-Movie-Genres, nunmehr erzählt aus der Sicht einer jungen Frau. Narrativ, inszenatorisch, genrereflexiv und sozialkritisch ein wahres Meisterinnenstück. Filmtipp Blade Runner » Regie: Ridley Scott » Land | Jahr: USA | 1982 Zu seiner eigenen Zeit gilt er vielen als missraten und wird teilweise heftig verrissen, auf besonders unterhaltsame Weise von Pauline Kael: „Baby, the Rain Must Fall.“ Heutzutage wird ihm jedoch zumeist das fragwürdige Label „Kultfilm“ zugewiesen. Gerade wegen seiner kleineren Flausen für mich einer der atmosphärischsten Filme, die in den USA jemals entstanden sind, insbesondere in der völlig zu Unrecht geschmähten Originalfassung von 1982. <?page no="175"?> 1991 bis 2000 · Der Spaß an der Selbstreferenz Gilbert Adair, The Independent , 28.11.1999: „Was vor allem anderen im filmhistorischen Kontext als Erinnerung an das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts bleiben wird, ist die Weihe des amerikanischen Kinos. In dem spezifischen Sinne, den Francis Fukayama intendierte, als er über das „Ende der Geschichte“ schrieb, - seine Theorie, dass es, da jeder dasselbe will und es nur durch die Befürwortung desselben liberalen Marktsystems erreichen kann, es keinen berechtigten Grund mehr für die globalen ideologischen Konflikte der alten Zeit geben wird - es ist nicht zu abgehoben, dies auf das Ende der Filmgeschichte zu beziehen. Kurz gesagt, Hollywood hat gewonnen.“ Die 1990er-Jahre beginnen tatsächlich wie eine Fortführung des ökonomisch starken Ensembles aus US-Blockbustern und Genrehybridisierungs-Experimenten. Das Körperkino bricht sich zwar häufig bereits ironisch selbst und gilt im Clinton-Jahrzehnt als augenzwinkernder Rückgriff auf vergangene Zeiten, aber das Erfolgsmodell wird noch erfolgreicher. Sowohl die Grenzen von Nationalkinos als auch diejenigen von ökonomischen Produktionskontexten (Avs. B-Movie) werden von etlichen Filmemacher: innen aufgeweicht und die globale Ausdifferenzierung des Massenmediums setzt sich fort. Ab der Jahrzehntmitte ist der Post-Kalter-Kriegs- Optimismus in vielen Staaten auch in der zugehörigen Popcorn-Kino-Produktion spürbar. Zudem gelangen postmoderne Ästhetiken mehr und mehr in den Mainstream. Die in den 1980er-Jahren noch vage spürbare Tendenz dem Körper- und Oberflächenkino ein kognitives Mindfuck-Kino zum Mehrfachsichten und Nachdenken entgegenzustellen, wird allmählich definierter und gipfelt in dem Siegeszug des Wiederholbarkeits-Mediums DVD und davon profitierender ( twist ending , mind game etc.) Filme. 1990er: Europa as new queer cinema ist ein weltweites Phänomen und wird aufgrund einer Überleitung hier in Europa angesiedelt. Europa ist zudem ästhetischer Referenzpunkt vieler der Filme. Wie manche vergleichbare Bewegungen ist das NQC ein Begriff aus der Filmkritik, der 1992 aufkommt und die neuen Herausforderungen der queeren Community durch die neoliberale Wende der 1980er-Jahre, die Auswirkungen von AIDS auf Außenwahrnehmung und eigene Gesundheit sowie die postmoderne Idee einer sozialen Konstruktion von menschlicher Identität und damit auch Sexualität, die entsprechend nicht per se festgelegt ist, als Kennzeichen eines Kinos mit neuen sozialen Anliegen der Community sichtbar macht. Gus Van Sant (*1952) ( My Own Private Idaho , 1991) rahmt ( Milk , 2009) die Bewegung in gewisser Weise, da in den 2010er-Jahren eine neue PC-Welle intersektionaler orientierte Anliegen verhandelt, welche gleichzeitig inklusiver gegenüber weiteren Minderheiten ist. Auch Todd Haynes (*1961), der Brite Isaac Julien (*1960), der Kanadier Laurie Lynd (*1959) sowie Gregg Araki (*1959) werden in B. Ruby Richs Gründungsaufsatz von 1992 mit der Bewegung in Verbindung gebracht. Neben dem Anti- Roadmovie-Statement My Own Private Idaho über einen jungen homosexuellen D <?page no="176"?> 176 Handbuch Filmgeschichte Prostituierten sollen Poison (1991, Todd Haynes) und The Living End (1992, Gregg Araki) kurz erwähnt werden: Poison ist ein symbolisch aufgeladener Dreiteiler über einen Jungen, der seinen übergriffigen Vater erschießt, eine Body-Horror-Episode über zur Flüssigkeit destillierte Sexualität sowie eine homosexuelle Gefängnisgeschichte - die drei Teile beziehen sich lose aufeinander und ermöglichen so eine Lesart über das gesellschaftliche ‚Gift‘, welchem Minderheiten durch die heteronormative Hegemonie ausgesetzt sind. The Living End ist ein Roadmovie über ein homosexuelles, HIV-positives Paar, deren einer Protagonist aufgrund einer erfahrenen Demütigung einen homophoben Polizisten erschießt - woraufhin die beiden als Outlaws auf der Flucht sind: nicht zufällig eine Gegenlesart zum von einigen als Establishment-Film begriffenen Roadmovie Thelma & Louise aus dem Vorjahr. Ebenfalls 1992 erscheint in einem anderen kulturellen Umfeld der britische Thriller The Crying Game von Neil Jordan, der sich auf innovative Weise mit Transgender auseinandersetzt und ebenfalls die soziale Konstruktion von Gendergrenzen auf bis dahin ungewohnte Weise in einem Mainstream- Film per Zuschauer: innenimmersion inszeniert. Bis auf gelegentliche Mainstream-Erfolge wie The English Patient von 1996 (Anthony Minghella), den erfolgreichsten (bzw. hier britisch koproduzierten) Film aus Großbritannien seit Gandhi aus dem Jahre 1982 oder Four Weddings and a Funeral (1994, Mike Newell), der Hugh Grant zum Star macht und die britische Verhaltenskomödie zum neuen Exportschlager, bleibt der britische Film in den 1990er-Jahren oft ein Anti-Film. Alan Parkers The Commitments (1991) über eine irische Working- Class-Soulband sowie Peter Cattaneos The Full Monty (1997) spielen komödiantisch mit Genderrollen in oft klassistisch als rückständig betrachteten Milieus (man vergleiche auch Stephen Daldrys Billy Elliot von 2000), während Danny Boyle (*1956) mit Trainspotting (1996) die Generation X Schottlands ironisch als gesellschaftliche Tunichtguts überzeichnet. Mike Leigh dreht weiter innovative, ironische soziale Dekonstruktionen wie Topsy-Turvy (1999), der ein zu jener Zeit ungewöhnliches Bild von der viktorianischen Gesellschaft zeichnet. Sally Potter (*1949) schließlich feiert mit der feministischen Virginia-Woolf-Adaption Orlando (1992) ihren größten Erfolg - eine Geschichte über Geschlechtsumwandlung im elizabethanischen Großbritannien, die stellvertretend für eine Krise (oder gar positive Überwindung) der Maskulinität gelesen werden kann. Lars von Trier (*1956), Zeit seiner Karriere einer der kontroversesten Filmemacher weltweit, hat seinen ersten kleineren Durchbruch mit der in seinem Heimatland Dänemark gedrehten Europa-Trilogie von 1984 bis 1991, die aus der brillanten Film-noir- Groteske Element of Crime (1984), der spröden selbstreflexiven historischen Analyse Epidemic (1987) und dem noch kulturpessimistischeren Europa (1991) besteht. 1995 legen von Trier und Kollege Thomas Vinterberg (*1969) ihr Dogma-Manifest Dogme 95 vor und ihr filmästhetisches Keuschheitsgelübde ab, um sich ihrem Regelwerk zu verpflichten. Die resultierende Bewegung ist langlebig, aber weltweit zerfasert, und kaum ein Film hält sich an alle zehn Regeln: shooting on location, keine props oder sets; nur on location sound; nur Handkamera; nur Film, keine Sonderbeleuchtung; keine Nachbearbeitung, keine Filter; keine unrealistischen Vorkommnisse (z. B. Morde als plot device); ein Jetztbezug ist nötig; keine Genrefilme; nur 35mm; kein Regisseurs-Credit. Die ersten 35 Dogme-Filme werden nummeriert und Vinterberg macht mit Festen (1998, Das Fest) den Anfang. Darin geht es um ein Familienfest, das durch die plötzliche Offenbarung sexueller Missbrauchsfälle innerhalb <?page no="177"?> 1991 bis 2000 Der Spaß an der Selbstreferenz 177 der Familie mittendrin zerrüttet wird; der Film analysiert besonders die Leugnungsmechanismen der Gesellschaft, die die Opfer wiederum zu Ausgestoßenen machen. Von Triers Idioterne (1998, Idioten) begleitet eine Gruppe von Außenseiter: innen, die sich zum Ziel macht, in der Öffentlichkeit aufzutreten, als seien ihre Angehörigen geistig behindert. Dadurch nehmen sie sich anarchische Verhaltensmuster heraus, der Film changiert jedoch auf verstörende Weise zwischen Cripsploitation und Sozialkommentar. Noch vor Beginn seiner Dogma-Arbeit dreht von Trier Breaking The Waves (1996), der ebenfalls eine Trilogie begründet, die mit Dancer in the Dark (2000) abgeschlossen wird. Alle drei Filme setzen sich mit Behinderung, sexueller Obsession und gesellschaftlicher Ausgrenzung von triebhaftem Verhalten auseinander und gehören zu von Triers bekanntesten künstlerischen Statements. Auch die gerade zurzeit hochgradig erfolgreiche Regisseurin Susanne Bier (*1960) erlangt in den 1990er-Jahren bereits große internationale Aufmerksamkeit. 1991 dreht sie in Schweden Freud flyttar hemifrån , der sich erstmals mit jüdischer Kultur in Schweden auseinandersetzt; auch Det bli’r i familien (1993) und Den eneste ene (1999) sind Komödien, die sich jedoch mit ernsten gesellschaftlichen Tabuthemen auseinandersetzen: inzestuösen Beziehungen und Ehebruch. Bier begründet damit einen neuen dänischen Komödientypus, ehe sie in den 2000ern maßgeblich an der Begründung des Neuen Dänischen Dramas beteiligt ist. Der polnische Regisseur Krzysztof Kieslowski (1941-1996) dreht zwischen 1993 und 1994 auf dem Höhepunkt seiner Karriere in Frankreich die französisch-polnischschweizerische Koproduktion Trois Couleurs , die aus den drei Teilen der französischen (oder amerikanischen) Nationalflagge - blau, weiß, rot - besteht. Die drei Filme nehmen vielfältig Bezug aufeinander und fungieren als ein komplexes Netzwerk aus psychologischen Figurenporträts und gesellschaftlichen Missständen; eine Reflexion von Verlust und Verarbeitung sowie der Freiheit bzw. Privatsphäre des Menschen. Die im cinéma beur der 1980er-Jahre begründeten Vorstadtfilme, die sich oft auch mit Migration und Identität befassen, kulminieren in dem formal insistenten Film La Haine (1995, Mathieu Kassovitz, Der Hass). Ein jüdischer, ein arabischstämmiger und ein afroeuropäischer Franzose erleben die 24 Stunden nach Ausschreitungen in ihrem Viertel. Einer der Freunde findet eine im Zuge dessen verlorengegangene Polizeiwaffe und schwört sie gegen einen Polizisten zu richten, sollte sein Freund an den Folgen der rassistisch motivierten Polizeigewalt der vergangenen Nacht im Krankenhaus versterben. Ein weiterer Filmkritiker, der zum Regisseur wird, ist Olivier Assayas (*1955). Sein hochgradig cinephiler und selbstreflexiver Personalstil erreicht seinen Höhepunkt in der Hommage Irma Vep (1996), die als Anagram auf Louis Feuillades Vampirserie aus den 1910er- Jahren verweist und zugleich eine Verneigung vor seiner Hauptdarstellerin, dem Hongkong-Star Maggie Cheung, darstellt, die sich selbst als Star eines gleichnamigen, fiktiven Les-Vampires -Remakes spielt. Etliche ästhetische Reflexe des cinéma du look finden sich im Werk von Jean-Pierre Jeunet (*1953), der mit seinem Debütlangfilm Delicatessen (1991) sogleich einen Erfolg feiert und nach dem eher durchwachsen aufgenommenen vierten Alien -Teil Resurrection (1997) mit Amélie (2001) einen Welthit landet. Marion Vernoux (*1966) beginnt auch in den 1990er- Jahren als Filmemacherin und veröffentlicht z. B. 1999 Rien à faire über zwei arbeitslose Menschen sehr verschiedenen Vermögens und Bildungsstandes, die sich in einem Supermarkt begegnen, sich anfreunden und ineinander verlieben, obwohl sie beide verheiratet sind und Familie haben. <?page no="178"?> 178 Handbuch Filmgeschichte Der bosnische Filmemacher Emir Kusturica (*1954) ist bereits im jugoslawischen Kino der 1980er-Jahre eine der ungewöhnlichsten Persönlichkeiten. Seine langen grotesken Gesellschaftsporträts voller schwarzem Humor und ungewöhnlicher Dialoge werden in den 1990er-Jahren auch international bekannter. So dreht er 1993 in den USA mit Johnny Depp, Jerry Lewis und Faye Dunaway Arizona Dream , der jedoch moderater ist als seine folgenden, in Europa produzierten Filme: die Balkankriegsgroteske Underground von 1995, besonders aber die epische Dorfgangsterballade Crna macka, beli macor (1998, Schwarze Katze, weißer Kater), die eine Art Überspitzung des ohnehin sehr bunten und absurdistischen Balkan-Kinostils der Zeit darstellt. Seine Filme der 2000er-Jahre sind ähnlich eigenwillig, können jedoch nicht an die früheren Erfolge anknüpfen. In Finnland etabliert sich Aki Kaurismäki (*1957) seit den 1980er-Jahren nach und nach als Regisseur mit einem sehr ausgeprägten Personalstil und von internationalem Rang. Kaurismäkis schonungslose Figurenporträts und seine wortkarge, langsame, aber immer ironische und analytische Erzählweise ist im Europa der 1990er- und 2000er-Jahre als Arthouse-Alternative zum Mainstream-Kino durchgehend sehr erfolgreich. Ariel (1988) erzählt die Geschichte eines Mannes, der aus sozialem und privatem Druck (Arbeitslosigkeit, Selbstmord des Vaters) in die Stadt geht um dort neu anzufangen. Auch in Kauas pilvet karkaavat (1996, Wolken ziehen vorüber) verlieren zwei Eheleute ihre Jobs, diesmal in der großen Stadt Helsinki. Wie auch in Juha von 1999 geht es dort um neue Lebensentwürfe, die Suche nach etwas Anderem aus einer Notwendigkeit heraus, die oftmals katastrophale Konsequenzen für die Hauptfiguren hat: Im zuletzt genannten Film brennt die Frau eines Landwirts mit einem jüngeren Stadtbewohner durch und wird von ihm in die Prostitution gezwungen. Aki Kaurismäki kann ebenso wie sein Bruder Mika auch deshalb relativ kompromisslos einen eigenen Personalstil entwickeln, da beide von einer eigenen Produktions- und Distributionsfirma aus agieren. Auch der in Österreich arbeitende, in München geborene Michael Haneke (*1942), selber Jahrgang übrigens wie der Münchner Werner Herzog, der sich seither zum europäischen Autorenfilmer entwickelt hat, erfährt in den späten 1990er-Jahren mit seinem Psychoterrordrama Funny Games (1997) einen großen Erfolg, der ihm neue Produktionsmöglichkeiten eröffnet. Hanekes stiller, psychologischer, beobachtender Stil bringt ihm besonders in den 2000er-Jahren noch nachhaltigeren Ruhm ein. Funny Games , von dem er zehn Jahre später ein eigenes US- Remake dreht, gilt jedoch vielen als erstes rundum gelungenes ästhetisches Statement des Regisseurs. 1990er: USA s sind auch etliche technische Innovationen, die der globalen Vermarktung des Hollywood-Kinos mit den 1990er- Jahren das - wie es derzeit aussieht - wohl letzte ungetrübte Spitzenjahrzehnt beschert haben: 1990 erscheint mit Dick Tracy (Warren Beatty) der erste Spielfilm mit einem digitalen Soundtrack; Jurassic Park nutzt 1993 erstmals das DTS (Digital Theater Systems)-Soundsystem. Forrest Gump setzt 1994 erstmals das ein, was man heute wohl „photoshoppen“, also digitale Bildbearbeitung, nennen würde. Peter Jackson wird im selben Jahr durch Heavenly Creatures zu einem CGI -Pionier. Die wenig geliebte Rückkehr George Lucas’ auf den Regiestuhl (in Star Wars Episode I: The Phantom Menace , 1999) wird von ersten vollständig digital gerenderten Charakteren (wie dem ebenso wenig geliebten Jar-Jar Binks) begleitet. Das Sequel von 2002 ist der erste große E <?page no="179"?> 1991 bis 2000 Der Spaß an der Selbstreferenz 179 Hollywood-Film, der vollständig digital gedreht wird. Auch in der Industrie selbst ergeben sich einige Veränderungen. Im Oktober 1994 erfolgt die Gründung von Dreamworks , dem ersten Studio seit etlichen Dekaden, durch Steven Spielberg und David Geffen, einer Größe der Musikindustrie. Und das Starsystem wird endgültig zum Superstar- System: Julia Roberts, Sandra Bullock, Tom Cruise und Tom Hanks stellen die vier Extremverdiener: innen jener Zeit dar. Der im vorigen Kapitel unerwähnt gebliebene Muskelmann-Action-Film (manchmal auch Hardbody-Film) der 1980er-Jahre mit Stars wie Arnold Schwarzenegger, Chuck Norris, Bruce Willis oder Sylvester Stallone setzt sich in den 1990er-Jahren oft in Komödienform oder als A-minusbzw. B-Movie (mit Jean-Claude Van Damme oder Vin Diesel etwa) fort. Der Action-Thriller etabliert sich derweil als extrem erfolgreiches Folgegenre ( Speed , 1994, Jan de Bont; Face/ Off , 1997, John Woo; Mission: Impossible , 1996, Brian De Palma; The Rock , 1996, Michael Bay; Con Air , 1997, Simon West; Air Force One , 1997, Wolfgang Petersen u. v. m.). Dazu passt auch, dass John Grisham allmählich Stephen King als Literaturgoldgrube ablöst. Fast ebenso erfolgreich sind derweil Katastrophenfilm und Verwandte ( Armageddon , 1998, Michael Bay; Twister , 1996, Jan De Bont; Independence Day , 1996, Roland Emmerich; Dante’s Peak , 1997, Roger Donaldson; Apollo 13 , 1995, Ron Howard). Endlich etablieren sich auch eine Reihe von Filmemacherinnen nachhaltig im Mainstream, und diesmal ist die Aufzählung nicht einmal erschöpfend: Nora Ephron ( Sleepless in Seattle , 1993), Penny Marshall ( Big , 1988), Kathryn Bigelow ( Blue Steel , 1990; Point Break , 1991; Strange Days , 1995) und die Neuseeländerin Jane Campion ( The Piano , 1993) haben jedoch nach wie vor einen verhältnismäßig geringeren Output und werden gemeinhin seltener engagiert. Besonders Jane Campion ist mit ihren stilistisch höchst eigenwilligen Inszenierungen patriarchaler Unterdrückung hervorzuheben und schafft einige der faszinierendsten Filme der Dekade wie An Angel at My Table (1990) und The Portrait of a Lady (1996). Martin Scorsese und Michael Mann behaupten sich in den 1990er-Jahren mit großen Erfolgen: der eine mit Goodfellas (1990) und Casino (1995), der andere mit The Last of the Mohicans (1992) und Heat (1995). Brian De Palma dreht mit Carlito’s Way (1993) seinen vielleicht besten Film. Die Clipästhetik und die Multimaterialität des Experimentalfilms vereinen sich zu postmodernen Montagekonzepten, wie etwa in Oliver Stones Materialgewitter Natural Born Killers (1994). Andere Regisseure wie Roberto Rodriguez und - insbesondere - Quentin Tarantino (*1963) durchziehen ihre Filme mit einem kulturellen Netzwerk von Allusionen. Während Tarantinos Erstling Reservoir Dogs (1992) in dieser Hinsicht noch verhältnismäßig zurückhaltend ist, geht Pulp Fiction (1994) auch für seine Dichte an Verweisen in die Filmgeschichte ein. Die unkonventionellen Erzählformen legt der Regisseur für Jackie Brown (1997) zwar ab, es handelt sich dabei jedoch um seinen am stärksten intertextuell aufgeladenen Film, voller Bezüge auf Blaxploitation, Stanley Kubrick, amerikanische Sexkomödien und die Nouvelle Vague. Das Urvertrauen in die Erzählung erschüttert bereits ein Jahr vor Pulp Fiction der ebenfalls einflussreiche Short Cuts (1993) von Robert Altman, der ein Jahr zuvor mit einer bitteren Satire auf das Hollywood-System und seine Produktionsabläufe, The Player (1992), bereits eine Art Comeback nach mehr als einer Dekade der künstlerischen Obskurität gefeiert hat. Die neue Generation afroamerikanischer Filmemacher: innen baut auf die Vorarbeit <?page no="180"?> 180 Handbuch Filmgeschichte der ersten New-Black-Cinema-Generation weiterhin auf. Spike Lee dreht 1992 Malcolm X und 1998 den Basketballfilm He Got Game , etabliert sich mithin immer weiter im Mainstream. Mario Van Peebles (*1957) widmet sich ebenfalls dem politischen Kino, etwa mit dem Black-Panther-Film Panther von 1995. Der Aufstieg des Gangsta-Rap in den Mainstream wird von etlichen Filmen begleitet, die Milieustudien von rassistischer Benachteiligung und Gewaltsozialisation in den Hoods von L.A. spielen lassen. John Singleton (1968-2019) debütiert mit Boys N the Hood (1991), dem vielleicht radikalsten dieser Filme. Julie Dash, Protagonistin des new black cinema, dreht mit Daughters in the Dust (1991) den ersten Mainstream-Kinofilm einer Afroamerikanerin; der erste Major- Studio-Film dieser Art stammt im selben Jahrzehnt von Darnell Martin (*1964): I Like It Like That (1994). Der Hollywood-Middle-Ground-Film zwischen Blockbuster und Independent-Kino interessiert sich zunehmend für die Verunsicherung der Eindeutigkeit von Wahrnehmung. Dies wird oft über Lügen oder psychische Erkrankungen der Protagonist: innen kommuniziert, was die Bezeichnung Mindfuck- oder Mindgame-Film popularisiert. Bereits Alan Parkers Angel Heart (1987) gehört in diese Linie, die mit dem vietnamkritischen Jacob’s Ladder (1990) von Adrian Lyne, Bryan Singers Überraschungserfolg The Usual Suspects (1995) und David Lynchs Lost Highway (1997) fortgesetzt wird, ehe Fight Club und The Sixth Sense (beide 1999) Ende der Dekade das Thema mitsamt der Erzählstrategie in den Mainstream befördern. Mindgame-Filme sind zudem ideal für das neue Medium der DVD geeignet, das sich Paratexte stärker zueigen macht und zur Mehrfachsichtung einlädt. Filme wie Donnie Darko (2001, Richard Kelly) signalisieren schon früh die Ausdifferenzierung des Phänomens für eine jüngere Zielgruppe. The Sixth Sense macht nicht zuletzt auch den Inder M. Night Shyamalan (*1970) weltberühmt, der im Folgenden eine Art kleines Mystery-Revival einleitet - ein Genre, das im Fernsehen durch The X-Files bereits seit 1993 wieder hochgradig populär ist. Für David Fincher (*1962) ist Fight Club der Endpunkt einer produktiven Dekade, in der er mit Se7en (1995) und The Game (1997) zeitkritische Kritikerlieblingsfilme hervorgebracht hat. Clint Eastwood dreht 1992 Unforgiven , was von vielen Seiten als selbstkommuniziertes Ende des Western angesehen wird. Der Film zeigt alternde Figuren, welche die vollständig besiedelte Welt nicht mehr verstehen - tatsächlich handelt es sich um eine weitere Variation von Eastwoods in seinen Filmen ubiquitärem ‚Rückkehrer‘-Motiv, scheint aber einen Nerv zu treffen. Der Western ist auch vor 1992 nahezu tot und nur wenige Filme wie eben Unforgiven feiern noch größere Erfolge. Im Independent-Bereich sorgt die Umbenennung des US/ Utah Festivals in Sundance letztlich auch für das Eingeständnis, dass es mittlerweile ein Mainstream-Independent- Festival gibt. Das 1979 von den Weinstein- Brüdern gegründete Miramax-Studio ermöglicht vielen jungen Filmemachern wie Steven Soderbergh (*1963, Sex, Lies, and Videotape , 1989), Quentin Tarantino, dem Fotografen Larry Clark (*1943, Kids , 1995) oder Kevin Smith (*1970, Clerks , 1994; Chasing Amy , 1997) den Einstieg. Todd Solondz (*1959) überträgt seine zutiefst verstörenden Porträts dysfunktionaler amerikanischer Suburbia-Lebensentwürfe mit Welcome to the Dollhouse (1995) und Happiness (1998) auf den Langfilm, und auch Harmony Korine (*1973) widmet sich in Gummo (1997) den aus dem Mittelstand Ausgestoßenen. Den gutbürgerlichen Independent- Mittelstand repräsentieren indessen die in Nachfolge von Woody Allen, Diane Keaton und Elaine May agierenden Indiewood- <?page no="181"?> 1991 bis 2000 Der Spaß an der Selbstreferenz 181 Regisseure wie Richard Linklater (*1960) und Noah Baumbach (*1969). Linklater übernimmt seine Vorliebe für Gesprächsexperimente aus Europa und von John Cassavetes - so in Slacker (1990) oder Before Sunrise (1995). Baumbachs Filme spielen oft wie diejenigen von Woody Allen mit Neurosen und handeln von therapiebedürftigen Großstädtern - wie Mr. Jealousy (1997) - transformieren aber Allens Stil in einen jüngeren, hipperen Look. Am Ende der Dekade steht mit Sam Mendes’ Riesenerfolg von American Beauty (1999) der Independent-Film mehr im Mainstream-Fokus als je zuvor, wodurch sich in den folgenden Jahrzehnten eine Art eigener Kinostil mit einer jüngeren Zielgruppe ausprägt, was der New- Hollywood-Situation - wenngleich in gefestigteren Gesamtstrukturen - nicht ganz unvergleichbar ist. Mit The Truman Show (1999, Peter Weir) ist das Jahr von Fight Club , American Beauty und Being John Malkovich (Spike Jonze) komplett und lässt nahezu den Anschein entstehen, das postklassische Hollywoodkino barockisiere sich zunehmend in seiner Selbstreferenzialität auf allen Ebenen. Auch Daniel Myricks und Eduardo Sánchez’ The Blair Witch Project (1999) gehört in diesen Trend - der Film startet quasi eigenhändig den Found-Footage- Horror-Boom der Folgedekade und ist das erste Beispiel für die Nutzung einer erfolgreichen Internet-Kampagne zur Bewerbung des eigentlich viel kleiner angelegten Films. Eher unter Ausschluss der Öffentlichkeit dreht derweil John Sayles (*1950) einige seiner großartigsten Filme - wie Lone Star (1996) oder Limbo (1999). Auch der High-School-Film der Generation X ist dezidiert hip, aufgeklärt und meta. Mit Clueless (1995, Amy Heckerling), 10 Things I Hate About You (1999, Gil Junger) und nicht zuletzt Wes Cravens Meta- Teenage-Horror-Comeback Scream (1997) stellen sich drei klassische Genres des Teenage-Sektors: coming of age, RomCom und Horrorfilm - neu auf und nehmen ihre neue metabewusste Zielgruppe mit. Es ist sicher kein Zufall, dass parallel mit Sex and the City auf Fernsehebene ein vergleichbares Angebot für die Twentysomethings einen Riesenerfolg einfährt (ab 1998-2004, HBO). Im eigentlichen Mainstream ist derweil die Melange aus Historienepos und Kostümfilm - egal, ob in der Vergangenheit oder in einer alternativen Zeit angesiedelt - groß in Mode. Die Schauspieler-Regisseure Kevin Costner (*1955) und Mel Gibson (*1956) feiern mit Dances With Wolves (1990) und Braveheart (1995) große Erfolge, können diese jedoch nicht wiederholen. Kevin Reynolds’ und Kevin Costners’ Waterworld (1995) wird der legendäre Flop der Dekade. James Cameron (*1954) etabliert sich derweil als der Techniktüftelmegablockbusterer schlechthin - auch mit Terminator 2 - Judgment Day (1991) und True Lies (1994), aber vor allem mit Titanic (1997), dem zu jenem Zeitpunkt erfolgreichsten Film aller Zeiten, der in seiner Inszenierung und seiner stofflichen Wahl Hollywood von seiner klassischen Phase träumen lässt. Auch Steven Spielberg ist weiterhin wahnwitzig erfolgreich und hat nicht nur sein Konzept der Filme mit family values perfektioniert, sondern alterniert auch geschickt zwischen franchise-tauglichen Fantasy-Stoffen wie Jurassic Park (1993) und didaktisch wie künstlerisch anspruchsvollen Filmen à la der Schwarzweißproduktion Schindler’s List (1993) und dem drastischen Kriegsfilm Saving Private Ryan (1998), der eine Debatte über die angemessene Darstellung von Gewalt - für den richtigen Stoff - im Mainstream-Kino auslöst. Am anderen Ende der Skala wird die Grossout-Comedy populär - z. B. durch There’s Something About Mary (1998). Die an sexuellen Zoten orientierten Komödien legen die Grundlage für die Omnipräsenz des so- <?page no="182"?> 182 Handbuch Filmgeschichte genannten frat pack Ben Stiller, Jack Black, Owen Wilson, Luke Wilson, Will Ferrell, Steve Carrell und Vince Vaughn in den 2000er-Jahren. Und aus heutiger Perspektive das kommerziell folgenreichste Comeback hat die zwischenzeitlich nahezu gescheiterte Walt Disney Company. Mit Little Mermaid (1989), Beauty and the Beast (1991), Aladdin (1992) und The Lion King (1994) erlebt das Studio eine zweite klassische Phase und etabliert sich wieder als kaufkräftiger und einflussreicher Mitspieler am Markt. Die Kollaboration mit Pixar, die 1995 mit Toy Story beginnt, erweist sich ebenfalls als genialer Marketing-Coup, wenngleich machtpolitisch als zweischneidiges Schwert - aber dazu in einem anderen Kapitel mehr. Vormalige Independent-Filmemacher, die sich mehr und mehr im Mainstream wiederfinden, sind z. B. Tim Burton, der um die Jahrzehntwende seine beiden Batman -Filme dreht und mit Ed Wood (1994) und Mars Attacks! (1996) seinen ungewöhnlichen Stil auch weiterhin auf Studioproduktionen überträgt. Die Coen-Brüder haben mit Fargo (1996) ihren endgültigen Durchbruch, wenngleich sie auch Barton Fink (1991) schon zum Kritikerliebling macht. Ihr in meinen Augen wichtigstes künstlerisches Statement geben sie vielleicht mit dem als „Kultfilm“ leider oft falsch eingeschätzten The Big Lebowski (1998) ab, der ihre durchkonstruierte Ästhetik idealtypisch auf den Punkt bringt. Terry Gilliam dreht mit der urbandecay-Groteske The Fisher King (1991), dem Science-Fiction-Film 12 Monkeys (1995), der auf einem Photoroman von Chris Marker basiert, sowie der Hunter-S.- Thompson-Adaption Fear and Loathing in Las Vegas (1998) drei ästhetisch eigenständige Filme, die das Bild von ihm als Auteur nachhaltig prägen und ihn gleichzeitig vom dem Brazil-Stempel befreien. Gus Van Sant widmet sich mit Good Will Hunting (1997) nach einem Drehbuch der beiden Hauptdarsteller Matt Damon und Ben Affleck wieder den Integrationsproblemen von jungen Männern, die nicht althergebrachten Maskulinitätsidealen entsprechen, ehe er mit einem Frame-by-Frame-Remake von Alfred Hitchcocks Psycho (1998) ein filmhistorisches Kuriosum hervorbringt. 1990er: Deutschland ie Konsequenz der Zimmermannschen Mainstream-Politik aus den 1980er-Jahren ist die manchmal als ‚dunkles Jahrzehnt‘ bezeichnete Periode des deutschen Films. Kein Neuer Deutscher Film ist mehr zur Stelle, um sich der Wiedervereinigung kritisch anzunehmen, sodass das Thema größtenteils in mehr oder weniger harmlosen Mainstream-Komödien verhandelt wird. Ich zitiere dazu Katja Nicodemus: „Zu Beginn der neunziger Jahre hatte die bundesrepublikanische Gesellschaft mit der neudeutschen Komödie genau das Kino, das sie verdiente. Es war die Komödie des Mittelstandes, mit Filmen, die sich um privatistische Großstadtbeziehungen drehten. Das yuppiehafte Personal dieser Produktionen und ihr Verzicht auf jede Art von psychosozialer Tiefe bescherten dem deutschen Film in den Boomjahren 1996 und 1997 allerdings Marktanteile von 16,2 und 17,3 %.“ (2004, 319) Diesseits des Formelkinos der 1990er-Jahre finden sich Regisseure wie Sönke Wortmann (*1959), der Der bewegte Mann (1994), Das Superweib (1996) und Der Campus (1998) verantwortet. Oder die erfolgreichen Werner -Filme, eine Art kleinere Fortsetzung des Otto-Booms der 1980er. Wendekomödien wie Go Trabi Go (1991, Uwe Timm) oder Wir können auch anders (1993, Detlev Buck) sind sich nicht immer ganz klar, wie sie „Ossi“ und „Wessi“ nun politisch korrekt darstellen sollen, sodass es trotzdem noch genug Raum für Bananenwitze gibt, und D <?page no="183"?> 1991 bis 2000 Der Spaß an der Selbstreferenz 183 Helmut Dietl (1944-2015) bestückt das kulturelle Wasteland nach dem Ausreißer nach oben Schtonk (1992) mit Rossini, oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief (1997) und Late Show (1999). Bernd Eichinger produziert alles von Manta, Manta (1991) bis Ballermann 6 (1997) und beweist dabei oft ein beeindruckendes Gespür für kommerzielle Superhits. Der Bad Segeberger Detlev Buck (*1962) deutet derweil mit Filmen wie Karniggels (1991) allenfalls an, dass er später Filme wie Knallhart (2006) drehen wird. Doris Dörries Happy Birthday, Türke! (1992) startet zwar eine intensive, dekadenlange Auseinandersetzung mit deutsch-türkischen Freundschaften, Kulturdifferenzen und Parallelgesellschaften im bundesdeutschen Kino, kann aber nicht verhehlen, dass Dörrie nach ihrem Debüt Männer mittlerweile auch eher zum Formelkino übergegangen ist. Irgendwo zwischen Mainstream und persönlicher Note verortet sich derweil Tom Tykwer (*1965), der mit Winterschläfer (1997) einen kunstvollen Thriller vorlegt und mit Lola rennt (1998) den narrativen Spieltrieb- Nerv der Zeit trifft und internationale Aufmerksamkeit erzeugt. Es ist derweil nicht alles schlecht. Mit Hans- Christian Schmid (*1965) betritt ein talentierter neuer Drehbuchautor und Filmemacher die Szene und legt mit Nach fünf im Urwald (1995) und 23 - Nichts ist so wie es scheint (1998) zwei der interessantesten Filme der Dekade vor. Altersgenosse Romuald Karmakar (*1965) dreht mit Der Totmacher (1995) einen seiner wenigen Spielfilme - ein karges, verstörendes Psychoporträt über den Serienmörder Fritz Haarmann. Viele wie Karmakar, so auch der seit den 1970er- Jahren aktive, hochgradig kreative Theoriefilmmacher und Sozioanalytiker Harun Farocki (1944-2014) arbeiten im Dokumentarfilm- oder Fernsehbereich. Auf eine Weise bleibt das analytische Anliegen des Neuen Deutschen Films in diesen beiden audiovisuellen Kulturen durchgehend am Leben. Auch Katja von Garnier (*1966) bewegt sich mit ihren Filmen zwischen den Welten und im Nachhinein erscheinen ihre Filme fast wie ein ironischer Kommentar auf die oberflächlichen, neokonservativen Rollenbilder, wie sie in der neudeutschen Komödie vermittelt werden. Abgeschminkt! (1993) und Bandits (1997) sind zudem erfolgreich, und viele Filmemacher: innen werden sich in den 2000er-Jahren ähnlich zwischen den Stühlen positionieren wie sie. Nicht unerwähnt bleiben soll zuletzt ein Film der Polin Agnieszka Holland (*1948), deren Karriere hochgradig international verläuft. 1990 dreht sie Europa, Europa , in Deutschland als Hitlerjunge Salomon vermarktet, der die historisch verifizierte Geschichte eines Juden im Dritten Reich erzählt, der seine Herkunft verleugnet und in die Hitlerjugend eintritt. Der Film entsteht mit bundesdeutschem, polnischem und französischem Geld und wird damit auch als Symbol für eine neue Kultur der Zusammenarbeit zwischen vormals stärker voneinander isolierten Nationen nach dem Ende des Kalten Krieges gesehen. 1990er: Globales Kino n Hongkong verbreitet sich die etwa ab 1979 angesetzte neue Welle des ansässigen Kinos allmählich auch international, sodass durch den neuen Ruhm von Regisseuren wie John Woo (*1946) und Wong Kar-Wai (*1956) nun auch ältere Filme der Neuen Welle synchronisiert oder untertitelt werden. Insbesondere John Woos Ying hung boon sik (1986, City Wolf) und Lat sau san taam (1992, Hard Boiled) werden als Meisterwerke des stilisierten Action-Kinos gefeiert, und die Einladung nach Hollywood, wo bekanntlich gerade der Action-Thriller boomt, lässt nicht lange auf sich warten. Auch Wong Kar-Wais Filme spielen öfter im Gangster- oder Poli- I <?page no="184"?> 184 Handbuch Filmgeschichte zeimilieu, konzentrieren sich jedoch häufig auf melodramatische Handlungsstränge - wie in Chung Hing sam lam (1994, Chungking Express), der ihm internationale Achtung einbringt. Wong Kar-Wai dreht in Übersee entsprechend eher Independent- Filme und positioniert sich in der Folge, vor allem durch Faa yeung nin wa (2000, In the Mood for Love) als Meister des Hong-Kong- Dramas. Johnnie To (*1955) gründet 1996 die unabhängige Produktionsfirma Milkyway Image und etabliert sich in der Nachfolge des französischen Kriminalfilms der 1950er- und 1960er-Jahre und des Film noir als angesehener Auteur des Hong-Kong-Kinos. Filme wie The Mission (1999), Running Out Of Time (1999) oder PTU (2003) haben durch ihre Time-limit-Dramaturgie und die Ansiedlung in einem gut ausgestatteten Polizei- oder Gangstermilieu (was oft dasselbe ist) dennoch eine große Affinität zum Action- Kino Hong Kongs. Die Kombination aus Schauwerten und interessanten Figuren- und Plot-Konstellationen macht Tos Filme zu einem innovativen Sonderweg. Der Dreh mit günstig erhältlichem Videofilmmaterial löst in Nigeria Ende der 1980er- Jahre die sogenannte Video film era aus, die als eine Fortsetzung und ein Gegenpol des goldenen Zeitalters der 1970er-Jahre und 1980er-Jahre verstanden werden kann. Filmemacher: innen produzieren auf Video für die Heimsichtung, was die Sehgewohnheiten stark verändert und im westafrikanischen Raum gemeinhin Schule macht. Nachdem die Industrie Anfang der 1990er-Jahre bereits quasi auf Video umgestellt ist, popularisierte der Erfolgsfilm Living in Bondage von Chris Obi Rapu von 1992 den Trend nochmals substanziell. Der Film erzählt die Geschichte eines aus der Not geborenen satanistischen Teufelspaktes, der sich negativ auf den Protagonisten auswirkt: Er opfert in einem Ritual seine geliebte Partnerin und der versprochene Reichtum stellt sich erst ein, bringt jedoch mehr Probleme mit sich als dadurch gelöst wurden. Zur selben Zeit nimmt eine der wichtigsten afrikanischen Filmemacherinnen, Ngozi Onwurah (*1966), die Arbeit auf und dreht dokumentarische Analysen von Genderkonzepten, spielt sich in manchen Filmen selbst, dreht dann aber auch politische Action-Thriller wie Welcome II the Terrordome (1994). Immer geht es dabei um die Rolle afrikanischer Frauen im afrikanischen oder im fremden Blick sowie die Rolle des dunkelhäutigen Körpers in der globalen Argumentation. Nachdem sich in Ghana seit den späten 1970er-Jahren das rudimentäre Studiosystem, später als Gollywood bekannt, etabliert hat, folgte das Land ebenfalls dem Videoboom der späten 1980er-Jahre. Dabei etabliert sich ein regionales, nicht englischsprachiges Produktionssystem, das in der bevölkerungsreichsten Region Ghanas angesiedelt ist: Kumawood. Die Filme aus dieser Region sind auf Akan gedreht und widmen sich selbstbewusst ‚ghanaischen‘ Anliegen im Gegensatz zum als fremd empfundenen englischsprachigen Kino. Dabei kann es um Rollenmodelle ebenso gehen wie um tägliche Praktiken, ghanaische Bräuche etc. Das Kino jener Zeit wird immer wieder als sehr wichtig für die Entwicklung des westafrikanischen Films angesehen, jedoch ist es wenig aufbereitet und kaum erhältlich, sodass der Eindruck sich oft in der Beschreibung erschöpft. Besser dokumentiert ist das Werk des Kamerun ers Jean-Pierre Bekolo (*1966), seines Zeichens mutmaßlich der bedeutendste Regisseur seines Landes. Auch sein Film Quartier Mozart von 1992 setzt sich mit traditionellen Konzepten von Magie ebenso auseinander wie mit den geschlechterspezifischen Rollenentwürfen in einer westafrikanischen Gesellschaft. Ein junges Mädchen, das sich für Männer zu interessieren beginnt, wird in dieser Körpertauschkomödie von einer Hexe in einen Mann verwandelt und kann nunmehr Erfahrungen aus erster Hand sammeln. <?page no="185"?> 1991 bis 2000 Der Spaß an der Selbstreferenz 185 In Brasilien nimmt Walter Salles (*1956) den internationalen Ruhm vieler lateinamerikanischer Regisseur: innen der 1990er- und 2000er-Jahre in der Folgedekade bereits vorweg. Zwischen 1995 und 2001 dreht „Waltinho“ einige seiner renommiertesten Filme, unter denen Central do Brasil (1998) wohl heraussticht. Darin geht es um die Protagonistin Dora, deren Job es ist, im Busbahnhof von Rio Briefe für diejenigen Kunden zu formulieren, die selbst nicht schreiben können. Darüber gerät sie durch Zufall in die Lebensgeschichte des neunjährigen Josué, für dessen Mutter Dora einen Brief schreibt. Als jene stirbt, kümmert sich Dora um Josué und die beiden erleben eine wechselhafte Beziehung, in der Dora den Jungen immer wieder loswerden will und es doch nicht übers Herz bringt. Aus dem Klassengegensatz der Mobilen und der Immobilen, der Hilfsbedürftigen und der Hilfsunwilligen entwickelt Salles nur auf einer Ebene eine persönlich anrührende Geschichte - im größeren Kontext ist Central do Brasil jedoch wohl eher ein Porträt einer aus Gründen der sozioökonomischen Ungerechtigkeiten dysfunktionalen Gesellschaft. Die vertikale Integration von Musik führt in Indien zu einem neuen Blockbuster-Modell, das maßgeblich für die westliche Wahrnehmung des Bollywood -Kinos verantwortlich ist. Wie so oft ist es in Indien längst nicht so einfach, aber das Genre des Liebesfilms erfährt durch die Kreuzung mit der Popmusik- Produktion eine veritable Renaissance. Insbesondere begleitet dies den Aufstieg von Shah Rukh Khan (*1965), des berühmtesten zeitgenössisschen Bollywood-Schauspielers überhaupt. Viele Filme mit dem King of Bollywood sind mittlerweile ganz um seine Auftritte herum arrangiert, sodass sie eine Art kinematischer Popkonzertsituation schaffen. Dies passt zur in einigen Rezeptionskontexten üblichen Praxis, im Kino zu den dargebotenen Musicaleinlagen zu tanzen. Abseits des sogenannten new Bollywood mainstreams , der sich in den verbleibenden drei Dekaden zu einer gigantischen Industrie entwickelt, die mit Abstand die meisten Filme produziert, bricht sich das neue feministische Kino in Indien ab den späten 1980er- Jahren allmählich Bahn. Besonders Deepa Mehta (*1950) feiert mit ihrer feministisch ausgerichteten Elemente-Trilogie (1996- 2005) Fire (1996), Earth (1998) und Water (2005) internationale Erfolge, während in Indien Fire Proteste gegen seine zu jener Zeit im Bollywood-Film ungewöhnliche Darstellung von Homosexualität auslöst. Der zweite Teil Earth befasst sich mit der Trennung von Lahore in pakistanische und indische Gebiete, die aus religiösen und nationalistischen Gründen vormals intakte Freundschaften zerstört - ein Thema, das im indischen Film bereits seit den 1950er-Jahren immer wieder aufgegriffen wurde, hier jedoch aus einer dezidiert weiblichen Perspektive einer poliokranken Frau erzählt wird. In Japan normalisiert sich der Kinomarkt in den 1990er-Jahren weitgehend und die Filmkultur wird ausdifferenzierter. Die Einführung der Multiplex-Kinos belebt den populären Film, während hochgradig begabte Filmemacher wie Mamoru Oshii (*1951), Takashi Miike (*1960), und Takeshi Kitano (*1947) die Arbeit aufnehmen. Oshii ist vornehmlich bekannt für die filmische Adaption des Animes Ghost in the Shell (Film 1995, Anime ab 1989), der auf Cyberpunk-Ästhetik und Transhumanismus-Diskussionen zurückgreift. Kitano, der auch als Komiker und Bühnenkünstler unter dem Namen Beat Takeshi bekannt ist, beginnt mit dem Selbstjustiz-Polizeifilm Sono otoko, kyoubou ni tsuki (Violent Cop, 1989) seine Karriere als Regisseur, und hat mit Hana-bi (Feuerblume, 1998) seinen internationalen Durchbruch. Hana-bi verkehrt quasi die Prämisse von Violent Cop ins Gegenteil, indem hier ein gewalttätiger Polizist den Dienst quittieren muss und sich auf sein Privatleben fo- <?page no="186"?> 186 Handbuch Filmgeschichte kussiert, in dem er sich um seine leukämiekranke Frau kümmern muss und in finanzielle Abhängigkeit von der Yakuza gerät. Miike letztlich studiert an der Hochschule von Shôhei Imamura, der zur Neuen Welle der 1970er-Jahre gehörte. Dessen Vorliebe für das Emotionale und Sinnliche, das von der rationalen Oberfläche gesellschaftlicher Konventionen verdeckt wird, teilt Miike mit ihm, jedoch inszeniert er es auf deutlich drastischere Weise. In (1999, Audition) zögert der Protagonist, ein Witwer, eine neue Beziehung einzugehen und veranstaltet ein vorgespieltes Casting, um angeblich eine Hauptdarstellerin, tatsächlich aber eine Frau zu finden. Als sich eine geeignete Kandidatin findet, driftet der Film in ein extremes Folterszenario ab, das durch seine eindringliche Inszenierung die verbal nicht kommunizierbare emotionale Situation des Witwers sublimiert. Der dadurch infrage gestellte Gegensatz von Realität und Fantasie überträgt sich wiederum auf die Differenz von Rationalität und Emotion. 1998 hat Hideo Nakata einen großen Erfolg mit seinem selbstreflexiven Horrorfilm Ringu . Dieser wird für ein US- Remake aufgegriffen und die Geschichte von den verfluchten Videobändern wird zu einem internationalen Phänomen - es passt auch schließlich sehr gut in den zeitgenössischen Trend des selbstreflexiven amerikanischen Horrorkinos. <?page no="187"?> 1991 bis 2000 Der Spaß an der Selbstreferenz 187 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts Cineplex, special effects, Technik-Kino „In den neunziger Jahren war die Zahl der Kinobesuche größtenteils gestiegen - landesweit galt das hauptsächlich für Cineplex-Komplexen mit mehreren Bildschirmen. Obwohl das durchschnittliche Filmbudget 1998 bei fast 53 Millionen US-Dollar lag, kostete die Produktion vieler Filme über 100 Millionen US-Dollar, und einige der teuersten Blockbuster waren sogar noch teurer. In den frühen neunziger Jahren waren die Einnahmen an den Abendkassen teilweise aufgrund der amerikanischen Wirtschaftskrise von 1991 erheblich gesunken, zogen dann aber 1993 wieder an und stiegen noch weiter. Der durchschnittliche Eintrittspreis für einen Film lag zwischen $ 4,25 zu Beginn des Jahrzehnts und $ 5 zum Ende des Jahrzehnts. Da sich die Anzahl der Indoor-Multiplexe von fast 23.000 im Jahr 1990 auf 35.600 im Jahr 2000 vervielfachte, ging gleichzeitig die Anzahl der Drive-Ins weiter zurück. (von 910 im Jahr 1990 auf 667 im Jahr 2000).“ (Tim Dirks, Film History of the 1990s , o. J.) one-room drama Eine besondere, theaternahe Form des Films ist das one-room drama . Es spielt, wie bereits der Name andeutet, ausschließlich oder vornehmlich an einem abgeschlossenen Ort und stellt dadurch eine Sonderform des Kammerspiels dar, die einen noch stärkeren Fokus auf das Drehbuch und die Schauspielleistung legt. Dabei reichen die Beispiele von der Diskussion ( 12 Angry Men , USA 1957, Sidney Lumet) bis zur Reflexion ( Secret Honor , USA 1984, Robert Altman; Ein ganz gewöhnlicher Jude , D 2005, Oliver Hirschbiegel). Das one-room drama kann aber auch Klaustrophobie ( Misery , USA 1990, Rob Reiner) oder situativ bedingte Abschottung ( Der Totmacher , D 1995, Romuald Karmakar; Homicide: Three Men and Adena , S01E05, USA 1993, Martin Campbell) inszenieren. twist ending Das twist ending ist eine Finalisierungskonvention, welche die diegetischen Prämissen des Films durch die Aufdeckung neuer Informationen vollständig umdeutet und die vorangegangenen Annahmen im Zuge dessen als fehlerhaft markiert. Es bewirkt eine Re-Evaluation der bis zum Ende einer Erzählung dominanten Diegese- Ebene und macht damit eine weitere, bis dahin verborgene Diegese-Ebene sichtbar. Diese zweite diegetischen Ebene kann in Modus, Genre oder Gattung verschieden von der bis dahin als verbindlich angenommenen Ebene sein; der Ebenenwechsel wird über einen plot twist , häufig im Zusammenspiel mit einer Anagnorisis , kommuniziert, der das Ende - ungeachtet vom Spannungsaufbau, der schon vorher erfolgt sein mag - einleitet. Plot twist und Anagnorisis lösen eine Peripetie aus, die auf verschiedenen Ebenen ansetzen kann - abhängig von der vorliegenden Art des Normverstoßes. Diese macht einen Synthetisierungsprozess erforderlich, in dem die zweite (verborgene) Diegese-Ebene mit der ersten (offenen) Diegese-Ebene abgeglichen und re-evaluiert wird. Oft begleitet ein flashback tutorial , das die zentralen umzudeutenden Szenen nochmals aneinander montiert, die Inszenierung dieser Anagnorisis. In vielen Fällen schließt sich außerdem ein kurzer Epilog an, der entweder die Konsequenzen des twist endings vertieft oder noch einen weiteren plot twist enthält, der nunmehr als Schlusspointe fungiert. <?page no="188"?> 188 Handbuch Filmgeschichte Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Earth » Regie: Deepa Mehta » Land | Jahr: IND/ KAN | 1998 Der zweite Film aus Deepa Mehtas Elemente-Trilogie widmet sich der Frage, was passiert, wenn das Private durch das Politische zerstört bzw. wenn das Individuelle durch die Regeln des Kollektivs beschränkt wird. Ein kraftvoller, kunstvoll inszenierter Film mit überzeitlicher Botschaft. Filmtipp Carlito’s Way » Regie: Brian De Palma » Land | Jahr: USA | 1993 Die große Frage in Sachen De Palma war für mich: Body Double (1984) oder Carlito’s Way (1993)? Der eine ist zwar typischer und legt Hitchcocks Vertigo auf vielschichtige wie urkomische Weise neu auf, aber Carlito’s Way ist in vielerlei Hinsicht die Vollendung von dem, was De Palma für mich so faszinierend macht. Filmtipp Chungking Express » Regie: Wong Kar-Wai » Land | Jahr: HK | 1994 Eine Liebeserklärung an den Film in zwei Episoden, die als hybride Mischung von Emotionen und Affekten daherkommt. All das vor der Folie zweier Polizisten, die mit dem Ende ihrer Beziehung umgehen zu lernen versuchen. Die ideale Einführung in Wong Kar-Wais eigenwilligen und faszinierenden Stil. <?page no="189"?> 2001 bis 2010 · Kino der Versehrtheit Die 2000er-Jahre sind das erste Jahrzehnt, das dominant durch die digitale Revolution geprägt ist: 1994 wird Amazon gegründet, 1998 nimmt die Firma den Betrieb auf. Im selben Jahr (1998) folgt Google, 2004 Facebook, 2005 YouTube. 2007 eröffnet Netflix sein Streaming-Angebot, wenngleich es Netflix als eine Art Onlinevideothek bereits seit 1997 gibt. Auch der Wiederaufstieg von Apple fällt in jene Zeit: Zwischen 1999 und 2006 popularisiert das iBook als Vorgänger des MacBooks die Apple-Computer in Form von Notebooks, der iPod wird 2001 eingeführt, das iPhone 2007, das iPad 2010. Ebenfalls um die Jahrhundertwende wird die VHS -Kassette von der DVD abgelöst; bereits am Ende der Dekade setzt sich das Blu-Ray -Format einigermaßen durch und die ersten Streaming-Services nehmen den Betrieb auf. Die Demedialisierung durch die Abwesenheit von singulären Datenträgern, die ein bis zwei Filme pro Medium enthalten, schreitet voran. Bereits 2007 gibt es den online release des ersten Major- Breitbandfilms: Es ist, und vielleicht sagt das fast zu viel über unsere zeitgenössische Kultur aus, Jackass 2.5 . Die Anschläge auf das World Trade Center und andere Orte in den USA am 11. September 2001 durch die terroristische Organisation Al-Qaida stellen eine historische Zäsur dar, die einen erheblichen Einfluss auf Bildmedien hat. Während der Mindgame -Trend der späten 1990er-Jahre noch einige Jahre anhält, wird eine Ästhetik des versehrten Körpers - Bilder von Folter und Krieg, aber auch von Alter und Verstümmelung zum zentralen Metier von Horrorfilm, Kriegsfilm und Thriller. Die Erschütterung des Vertrauens in Bild und Realität geht häufig Hand in Hand mit dem Aufdecken der stillen Oberfläche, unter der ein animalischer Abgrund lauert. 2000er: USA ie digitale Revolution geht an den Produktionsbedingungen nicht vorbei. Von November 2007 bis Februar 2008 streikt die Writer’s Guild of America, weil sie eine Kompensation für die Distribution kreativen Eigentums über Neue Medien verlangt. Hintergrund ist, dass die durch die Digitalisierung entfallenden Beträge bis dahin noch nicht ausgeglichen werden. Das digitale Studiosystem gliedert sich zunächst in eine Landschaft der neuen alten big six: TimeWarner (ehemals Warner Bros.); 20th Century Fox (bald 21st Century Fox, das mittlerweile Rupert Murdoch gehört), Viacom (ehemals Paramount), Sony (ehemals Columbia), Walt Disney/ Pixar, und NBC Universal (gehört GE, ehemals Universal). Auch DreamWorks geht 2005 in Viacom auf, bevor es 2009 wieder unabhängig wird, aber dafür in Abhängigkeit von Disney gerät. Aber wer tut das nicht? Die Disneyfication Hollywoods hat Mitte der 2000er-Jahre begonnen, und aktuell ist kein Ende abzusehen: Miramax geht 2005 in Disney auf. 2009 kauft Disney Marvel Entertainment. 2001 wird ein Oscar für lange Animationsfilme eingeführt. Diesen gewinnen jedoch zunächst weder Disney noch Pixar, sondern DreamWorks mit dem Film Shrek . D <?page no="190"?> 190 Handbuch Filmgeschichte Bei den Preisvergaben scheint sich einiges in Richtung Diversität zu ändern: 2001 gewinnen die Academy-Awards für die beste Darstellerin und den besten Darsteller Halle Berry ( Monster’s Ball ) und Denzel Washington ( Training Day ), beide Afroamerikaner- : innen. 2008 ist mit Will Smith erstmals ein Afroamerikaner der bestbezahlte Hollywoodschauspieler (80 Millionen). Schaut man auf die üblichen Filmtechniken, ist besonders der Aufstieg von CGI zu verzeichnen. Im Verbund mit motion bzw. performance capturing wird computer-generated imagery zu einer zentralen Technik: Hervorzuheben sind als Entwicklungsstufen Andy Serkis als Gollum (2002/ 03), Tom Hanks in The Polar Express (2004, Robert Zemeckis) und die Na’vi-Darsteller: innen in James Camerons Avatar (2009). Jener Film löst ebenfalls den 3D-Boom wieder aus, die Technik kommt jedoch bereits sechs Jahre zuvor schon wieder in die Kinos: Ab 2003 rüsten erste Kinos um, damit sie 3D- Kinderfilme zeigen können. Zur gleichen Zeit erlebt die IMAX-Technik ebenfalls eine Renaissance, sodass der (Multiplex-)Kinobesuch wieder stärker zum Event wird. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 verändern das optimistische Post-Kalter- Kriegs-Klima insbesondere politischer Filme. Terrororganisationen häufen sich als neues filmisches Feindbild und die Anschläge selbst werden metaphorisch oder historisch in etlichen Genres verschiedenartig verhandelt. Viele neue Kriegsfilme widmen sich in patriotischer Weise Einsätzen im Nahen Osten (im Golfkrieg der frühen 1990er, oder sogar zeitgenössisch in Afghanistan und dem Irak). Bereits 2006 erscheint mit Home of the Brave (Irwin Winkler) der erste Film über den zeitgenössischen Irakkrieg, was eine ungewöhnlich kurze Latenzzeit zwischen Ereignis und Verarbeitung darstellt. Die in Frankreich populäre New-French- Extremity -Welle findet auch Eingang in den US-Horrorfilm: Das Torture-Porn- Phänomen hat in Form der Hostel- und Saw-Filme (ab 2005 bzw. 2004) Konjunktur, auf eine Weise passt auch Final Destination (ab 2000) zu dem voyeuristischen Wandel des Genres. Schule machen zudem Fantasien der Überwachung und der Authentizitätsfiktion, wie z. B. in Paranormal Activity (ab 2007), und setzen damit den Found-Footage- Boom mit anderen Mitteln fort. Abgesehen davon nimmt der Horrorfilm der 2000er- Jahre den generellen Remake-Trend der 2010er-Jahre vorweg. 2010 wird das Jahr der Fortsetzungen und Remakes, was sich als stilbildend für eine Dekade der remakes, reboots und late sequels erweisen wird. Ein weiteres Phänomen ist die fortschreitende Ausdifferenzierung des Publikums: Teenage-Blockbusters und -Franchises beinhalten Erfolgsmodelle wie The Twilight Saga (2009-2012), Harry Potter (2001-2011) und High School Musical 1-3 (2006-2008); auch die teenage sex comedy hat mit Mainstream-Titeln wie American Pie (1999, Paul & Chris Weitz) oder Independent-Titeln wie Superbad (2007, Greg Mottola) Konjunktur. American Pie steht überdies in personeller Verbindung zu den Filmen des sogenannten frat pack , einer Gruppe junger Filmschaffender aus dem Komödien-Bereich, die mit Zoolander (2001, Ben Stiller) und Anchorman: The Legend of Ron Burgundy (2004, Adam McKay) zwei ihrer reiferen Filme vorlegt. Die relativ erfolgreichen Klamauk-Komödien, zu deren Kontext auch die Adam-Sandler-Filme gehören, werden flankiert vom ähnlich gelagerten bro-cinema ( Dude, where’s my Car? , 2000, Danny Leiner; The Hangover , 2009, Todd Phillips). Erste Marvel-Adaptionen starten den Trend der Comicverfilmungen, der sich bis heute <?page no="191"?> 2001 bis 2010 Kino der Versehrtheit 191 hartnäckig im Mainstream hält: Erste X- Men-Filme werden zwischen 2000 und 2009 produziert, die ersten drei Spider-Man - Reboots zwischen 2002 und 2007. Der Brite Christopher Nolan (*1970) gründet seinen Hauptruhm in dieser Dekade ebenfalls auf seine zwei ersten Batman -Filme Batman Begins (2005) und The Dark Knight (2008), die häufig als politische Statements gelesen und nobilitiert werden. Die Landkarte der Filmgeschichte hat er mit seinem ersten kleineren Erfolg Memento (2001) betreten, einem rückwärts erzählten Kabinettstückchen zum Thema Erinnerung und Subjektivität. Die großen epischen Genres des klassischen Hollywoodkinos - Historienfilm, Abenteuerfilm und Fantasy - nähern sich dramaturgisch extrem aneinander an: Unterschiede zwischen Gladiator (2000, Ridley Scott), der Lord of the Rings -Trilogie (2001-2003, Peter Jackson) und den ersten drei Pirates of the Caribbean -Teilen (2003-2007, Gore Verbinski) finden sich vor allem im Setting. Durch Baz Luhrmanns Überraschungserfolg mit Moulin Rouge (2001) beginnt ein kurzes Musical-Revival, das sich mit Chicago (2002, Rob Marshall) und Nine (2009, Rob Marshall) fortsetzt. Auch Filme wie Mamma Mia! (2008, Phyllida Lloyd) schwimmen auf dieser kurzen Erfolgswelle mit. Einige Individualist: innen stechen auch im US-Kino der 2000er-Jahre besonders hervor. Die Coen-Brüder erleben nach kurzem Niedergang Anfang des Jahrzehnts durch No Country For Old Men (2007) und True Grit (2010) ausgerechnet im vormals totgesagten Genre des Western ein veritables Revival. Der Neo-Western-Trend zwischen 2007 und 2015 umfasst auch The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford (2007, Andrew Dominik) und das Remake 3: 10 to Yuma aus demselben Jahr (James Mangold). Kathryn Bigelow (*1951) stiehlt ihrem Ex-Mann James Cameron (*1954) die Show und erhält für ihren Kriegsfilm The Hurt Locker (2008) mehr Oscars als jener für Avatar (2009), unter anderem für den besten Film und die beste Regie. The Hurt Locker ist in der Retrospektive besonders für sein innovatives vielschichtiges Sounddesign historisch relevant, eine Technik, die gegenüber der immer minimalistischeren (und austauschbareren) Filmmusik im 21. Jahrhundert mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Im Independent-Bereich macht sich Sofia Coppola (*1971) einen Namen und dreht mit The Virgin Suicides (1999), Lost in Translation (2003) und Marie Antoinette (2006) gleich mehrere der vielbeachteten Filme der Dekade. Coppolas objektbezogene Inszenierungsweise knüpft ihre Figuren an die Elemente der mise en scène und verdeutlicht damit den Aspekt des Konsums bei der sozialen Determination in der Identitätsbildung. Nicole Holofcener (*1960) verhandelt in ihren Filmen Lovely & Amazing (2001) und Please Give (2010) zeitgenössische urbane Familienkonstellationen sowie den Einfluss des Kapitals auf Lebens- und Freundschaftsentwürfe in Friends with Money (2006). Woody Allen erfährt mit seinen ersten Europa-Filmen ein gewisses Comeback: Der Thriller Match Point (2006), die ironische Künstlerliebesgeschichte Vicky Cristina Barcelona (2008) und die Bildungsbürgerzeitreisegeschichte Midnight in Paris (2011) führen zu einem kurzzeitigen Revival des Regisseurs, der in der Folge wieder einen unwahrscheinlichen Output von mindestens einem Film pro Jahr verantwortet. Des Weiteren etabliert sich ein manieristisches Independent-Kino, das einen ästhetischen Sonderweg geht. Nach Charlie Kaufmans (*1958) Drehbüchern entstehen Filme von Michel Gondry (*1963) und Spike Jonze (*1969) wie Adaptation (2002) oder Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004). <?page no="192"?> 192 Handbuch Filmgeschichte Gondry und Jonze haben sich ihre Sporen im Musikvideogeschäft verdient und sind deshalb formal auf der Höhe der Zeit. Kaufman selbst verfilmt schließlich seinen eigenen Stoff in Synecdoche, NY (2008), während Gondry und Jonze ebenfalls andere Wege als Regisseure einschlagen. Die barocke Schachtelungsästhetik der Meta-Weltentwürfe dieser Filme hat eine gewisse Verwandtschaft zu Wes Andersons (*1969) Vorliebe für Theatralität, Symmetrie und Modellbau, wie sie in The Royal Tenenbaums (2001) oder The Life Aquatic of Steve Zissou (2004) sichtbar wird. Beide Bewegungen haben ästhetisch großen Einfluss auf Christopher Nolans spätere Filme wie The Prestige (2006) oder Inception (2010). Quentin Tarantino und Robert Rodriguez verknüpfen in ihrem grindhouse double feature Planet Terror und Death Proof (2007) ihre Vorlieben für das Genrekino und die Spielorte des B-Movies vor den 1980er- Jahren. Tarantino widmet sich außerdem mit dem Zweiteiler Kill Bill (2003/ 04) dem Martial-Arts-Film und mit Inglorious Basterds (2009) begründet er eine kleine Naziploitation-Welle. Tarantinos Art Dialoge zu schreiben, macht insbesondere in selbstironischen Gangsterkomödien Schule, z. B. in den Filmen des Briten Guy Ritchie wie Snatch (2000) oder Martin McDonaghs In Bruges (2008). Mit Andrew Bujalskis (*1977) Film Funny Ha Ha beginnt im Jahre 2002 die sogenannte Mumblecore-Bewegung. Ihre Filme verhandeln Geschlechterrollen, Arbeitsbedingungen, die Ubiquität digitaler Gadgets und sind - anders als viele der zuvor genannten Filme von Anderson oder Jonze, die manchmal auch als smart cinema bezeichnet werden - dezidiert unironisch. Ihr Low-Budget-Status spiegelt sich oft in den Produktionsbedingungen - Funny Ha Ha ist beispielsweise auf 16mm gedreht -, so dass sich in ihrem Look retro und contemporary auf verschiedenen filmischen Ebenen begegnen. Die genannte Ubiquität von digitalen Gadgets wird dominant in Joe Swanbergs (*1981) LOL (2006) verhandelt, dessen Figuren sich fast als Extensionen der Interfaces - und nicht umgekehrt - lesen lassen. Auch Greta Gerwig (*1983) beginnt ihre Karriere im Kontext der Mumblecore-Bewegung. Sie dreht, schreibt und produziert mit Joe Swanberg zusammen 2008 Nights and Weekends , der vom Alltag in einer Fernbeziehung erzählt. Alltäglichkeit, Beiläufigkeit und der sichtbare Anfang der später im Mainstream populären Retro-1980er-Jahre-Ästhetik finden sich auch im Werk von Ti West (*1980), der 2009 mit dem Horrorfilm The House of the Devil einen kleinen Independent-Erfolg verbuchen kann und sich in der Folge als Independent- Horror-Name etabliert. Zurück zum baren Mainstream: Die Wechselbeziehung von Film und Videospiel geht in eine neue Runde. Nachdem in den 1990er- Jahren etliche Adaptionen eher verlacht wurden und bei Kritik und Publikum durchfielen - wie Wing Commander (1999, Chris Roberts) oder Super Mario Bros. (1993, Rocky Morton, Annabel Jankel) - gerät die Videospiel-Franchise-Adaption in den 2000er-Jahren allmählich in den Mainstream, was natürlich wertvolle neue Crossmedia- Marketing-Potenziale eröffnet. Lara Croft: Tomb Raider (2001, Simon West) mit Angelina Jolie und Resident Evil (2002, Paul W. S. Anderson) mit Milla Jovovich weisen Stars und illustre Regisseure auf, wodurch den Adaptionen eine neue kommerzielle Ernsthaftigkeit zugestanden wird. Eine andere intermediale Verbindung lässt sich zum Aufschwung des Quality-Dramas auf Bezahlsendern wie HBO (ab 1997), FX (ab 2002), amc (ab 2007) und Showtime (ab 2011) ziehen. Die Serien des third golden age of television, das in der Regel mit Ausstrahlungsbeginn von Oz (1997, HBO) angesetzt <?page no="193"?> 2001 bis 2010 Kino der Versehrtheit 193 wird und Serien wie The Sopranos , The West Wing , The Wire , Deadwood , Breaking Bad , The Shield , Damages , Sex and the City , Girls , Fargo , Game of Thrones uvm. hervorbringt, weist eine große Affinität zu Kinofilm-Genres und Spielfilm-Inszenierungskonventionen auf. HBO wirbt explizit mit den hohen production values seiner Serien und tritt damit offensiv als Heimkino- Alternative zum Multiplex-Lichtspielhaus auf. Ein zu diesem Zeitpunkt fast unwahrscheinliches künstlerisches Hoch erlebt Clint Eastwood (*1930) mit den Filmen, die er zwischen 2003 und 2008 dreht und die zu jener Zeit bereits als sein Spätwerk begriffen werden. Mystic River (2003), Million Dollar Baby (2004), Flags from our Fathers , Letters from Iwo Jima (2006), The Changeling und Gran Torino (2008) sind allesamt Genre-Revisionen und -Hybride, die narrativ und inszenatorisch auf höchstem Niveau Eastwoods vormals oft auf fast zynische Weise konservative Positionen geradezu verblassen lassen. Gran Torino wird von vielen als späte Rücknahme seiner Dirty Harry -Figur interpretiert und mit 73 Jahren ist der Schauspieler/ Regisseur plötzlich im Zentrum einer künstlerisch orientierten Mainstream-Aufmerksamkeit wie nie zuvor. Darren Aronofsky (*1969) passt derweil in keine der Sektionen so richtig hinein - seine Filme wie Pi (1998), Requiem for a Dream (2000), The Wrestler (2008) und Black Swan (2010) sind ästhetisch sehr eigenständige, oft verstörende Werke, die sich mit Wahnvorstellungen und dem Verfall des menschlichen Körpers durch extremen Drill, Altern und Drogenerfahrungen auseinandersetzen. In eine ähnliche Richtung bewegt sich Brad Anderson mit The Machinist (2004), der ebenfalls den mental turn der Jahrzehntwende aufgreift und mit dem kühlen Look der 2000er-Jahre verbindet. Das vormals bereits erfolgreiche Studio Pixar bringt mit Finding Nemo (2003), WALL-E (2008) und Up (2009) seine vielleicht mutigsten künstlerischen Statements hervor, die das generelle Niveau des abendfüllenden Animationsfilms mehrfach anheben und nachträglich die Einführung eines entsprechenden Oscars legitimierend bekräftigen. Sowohl explizite Sexualität als auch die Darstellung von Homosexualität im Mainstream-Film werden nach Jahrzehnten der Prüderie wieder üblicher. Wichtige Türöffner sind Bernardo Bertoluccis The Dreamers (2003), des Briten Michael Winterbottoms 9 Songs (2004) sowie Ang Lees Brokeback Mountain (2005). Die Wiederentdeckung des globalen Regisseurinnenkinos sowie die postfeministische Kritik am männerdominierten Kinosystem werden im Mainstream präsenter - Yvonne Welbons programmatische Dokumentation Sisters in Cinema von 2003 ist ein erster kinematographischer Schritt im Kontext dieser andauernden öffentlichen Diskussion. 2000er: Globales Kino m die Jahrzehntwende beginnt in Nigeria gegenüber dem Videoboom ein neues Bewusstsein für 35mm- Produktionen, die auch transnational verbreitet und auf Festivals präsentiert werden. In Anlehnung an das Kino der 1970er- und 1980er-Jahre wird dieser Trend manchmal als new nigerian cinema oder New Nollywood bezeichnet. Jeta Amatas (*1974) Film The Amazing Grace (2006) und Kunle Afolayans (*1974) Araromire (The Figurine, 2009) sind dabei zwei namhafte Vorläufer, die zu einer stärkeren Präsenz des nigerianischen Kinos auf den Festivals der 2010er- Jahre und dem enormen Aufstieg zur zweiten Produktionsmacht der Welt - noch vor Hollywood - im Jahre 2009 hinführen. The U <?page no="194"?> 194 Handbuch Filmgeschichte Amazing Grace erzählt die Geschichte der gleichnamigen Hymne anhand der Biographie ihres Komponisten John Newton, der vom Sklavenhändler zum Sklavereigegner wird, als er in Nigeria aus erster Hand die Brutalität des Gewerbes bezeugen muss. In Araromire geht es um eine Skulptur, der in einer populären Erzählung übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden - die Vorgeschichte spielt im ländlichen Nigeria des Jahres 1908, ehe die Statue 2001 in Lagos wieder auftaucht. Sie steht möglicherweise stellvertretend für den Aberglauben der Bevölkerung, der immer auch mit ihrer kulturellen Identität verknüpft ist, sodass jede unternommene Aufklärung auch immer eine Verwestlichung und Entfernung von der eigenen Kultur bedeutet. Ob die Figur tatsächlich übernatürliche Kräfte besitzt, wird in dem Film daher offengelassen und als Frage an die Rezipient: innen weitergegeben. Der Senegal ese Ousmane Sembène, der aufgrund seiner frühen Pionierarbeiten oft als „Vater des afrikanischen Kinos“ bezeichnet wird -Jahre), dreht nach seinen bahnbrechenden Werken der 1960er-Jahre und einigen internationalen Erfolgen in den 1970er-Jahren auch in seinem letzten Lebensjahrzehnt vielbeachtete Filme. Insbesondere die feministische Stoßrichtung seiner letzten beiden Werke, Faat Kiné (2000), der sich mit der Rolle der Frau im zeitgenössischen Senegal beschäftigt, sowie Moolaadé (2004), der sich höchst kritisch gegenüber der verbreiteten Praxis der Verstümmelung weiblicher Genitalien positioniert, sind künstlerisch und sozialkritisch auf einem beeindruckenden Niveau. Nachdem sich die ostasiatischen Ökonomien von der Asian Financial Crisis (AFC) im Jahre 1997 erholt haben, werden Japan, China und Südkorea wieder als global relevante Filmproduktionsländer wahrgenommen. Eine der politischen Folgen der Krise ist das Ausrufen der sogenannten ‚Politik der offenen Tür‘ zwischen den Machthabern Japans und Südkoreas, die sich auch in Interdependenzen der Filmindustrien niederschlägt. Japan nimmt jedoch im Angesicht der aufsteigenden koreanischen Filmproduktion eine geringere Rolle ein, und während z. B. Takashi Miike und Takeshi Kitano auch weiterhin hochgeschätzte Filme hervorbringen, steht das Land nicht ganz so sehr im Zentrum der globalen Aufmerksamkeit und wird vornehmlich über vereinfachende Labels wie „Japan Extrem“ im Westen vermarktet. Ein großes popkulturelles Phänomen des Jahrzehnts wird die Buchadaption Batoru Rowaiaru (2000, Battle Royal, Kinji Fukasaku), in dem die in Japan kompetitiven Abenteuer- Fernsehformate in ein dystopisches Setting eines Kampfes auf Leben und Tod zwischen Junior-High-School-Gänger: innen übertragen werden. Die reduktive „Casting“- Struktur von Battle Royale ist global einflussreich auf Videospiele, Filme, Fernsehformate und literarische Medien - insbesondere die The Hunger Games -Produkte weisen große Ähnlichkeiten dazu auf. Der Lebensentwurf einer permanenten Casting- Situation, in der sich junge Heranwachsende im Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts befinden, wie sie in Formaten vom Horrorfilm bis zum High-School-Musical inszeniert wird, findet sich in Battle Royale bereits als frühe Vorwegnahme wieder. Ein wenig am Mainstream vorbei soll hier noch die Regisseurin Naomi Kawase (*1969) erwähnt werden, die in den 2000er-Jahren einige ihrer interessantesten Filme dreht. Wie viele Filme des Jahrzehnts sind sie oft mit japanischer Identität und globalen Einflüssen befasst. Die Frage nach der eigenen Identität wird dabei gelegentlich in totaler Isolation und in Situationen der extremen Belastung verhandelt, so in Mogari no mori (2007, Der Wald der Trauer), der von einer Krankenschwester handelt, die sich mit einem älteren trauernden Witwer in einen <?page no="195"?> 2001 bis 2010 Kino der Versehrtheit 195 Wald zurückzieht, da beide hoffen, dort mit ihren lebensprägenden Verlusterfahrungen umgehen zu können. Der Film bringt Kawase den großen Preis von Cannes ein. Die transnationale Stoßrichtung des Jahrzehnts wird in Kawases Nachfolgefilm Nanayomachi (2008, Nanayo) deutlicher, in dem eine junge Frau namens Saiko ihr Land und ihren Liebhaber zurücklässt und in Thailand einen Neustart wagt. Der Topos von der unerreichbaren Heimat in der Fremde findet sich auch in den Filmen von Kiyoshi Kurosawa (*1955), vor allem in Tokyo Sonata (2008), der an die Gesellschaftsdramen der 1930er- und 1950er-Jahre anknüpft, sowie in Kishibe no tabi (2015, Journey to the Shore), wo das symbolische Konzept von Heimat gar ins Jenseits verlegt wird, indem der ertrunkene Ehemann der Protagonistin Mizuki nach drei Jahren plötzlich wieder auftaucht. In Südkorea beginnt in den 1990er-Jahren die sogenannte Hallyu oder Koreanische Welle, die einen extremen Popularitätsschub koreanischer Popkultur erst in Asien und später weltweit hervorruft. Dieser Kontext ist ein guter Nährboden für die filmische koreanische neue Welle, die seit der Jahrtausendwende ihren Protagonist: innen zu weltweiten Erfolgen verhilft und das Land seitdem zu einem der interessantesten Filmländer weltweit werden lässt. 2000 dreht Park Chan-wook (*1963) Joint Security Area , der zum bis dahin erfolgreichsten koreanischen Film aller Zeiten wird. Die kommerziellen Anfänge der Neuen Welle sind damit gemacht, die künstlerische Blüte lässt nicht lange auf sich warten: 2004 folgt Park Chan-wooks Oldboy , eine stilisierte Rachegeschichte, deren geradezu archaischer Ausgang das koreanische Kino aufgrund seiner Drastik weltbekannt werden lässt. Bong Joon-ho (*1969) dreht indessen den stilisierten historischen Thriller Memories of Murder (2003) und nutzt für Madeo (2009, Mutter) erneut eine ähnliche Genrefolie für eine analytische Gesellschaftsstudie. Die Vermischung von unterhaltsamem Genre, großer Drastik bzw. Tragik und sozialanalytischen Anliegen macht die koreanische Neue Welle weltweit berühmt. Auch die Filme des bereits etwas erfahreneren Kim Ki- Duk (*1960) (der im Zuge der südkoreanischen #MeToo-Bewegung etwa eine Dekade später in ein neues Licht gerückt werden wird) werden oft dazugezählt - etwa Seom (2000, Seom - Die Insel), der den koreanischen Inselfilm begründet, in dem oft archaische Praktiken und furchtbare Gräueltaten auf den von der Zivilisation abgeschiedenen Eiländern angesiedelt werden. Die Bewegung ist aber mithin deutlich vielschichtiger: Man nehme als Beispiel die in ein groteskes Gewand gehüllte Reflexion über Zwischenmenschlichkeit Saibogeujiman kwenchana (2006, I’m a Cyborg, But That’s OK, Park Chan-wook) etwa, oder die Filme von Hong Sang-Soo (*1960), der mit seinen statischen Gesprächsfilmen und immerwährenden Repetitionen derselben Themen einen dezidierten Sonderweg geht - häufig sind es selbstreflexive Künstlerporträts von unsympathischen Protagonist: innen, deren Welt sich um sich selbst dreht und die den gesamten Film über das Was-wäre-wenn reflektieren oder sich Tischgesprächen und Trinkgelagen hingeben. Haebyonui yoin (2006, Woman on the Beach), Bam gua Nat (2008, Night and Day) und Hahaha (2010) verorten Hong Sang-Soo auch in Europa als einen der bemerkenswertesten Auteurs seiner Zeit. In ganz Lateinamerika bringt das 21. Jahrhundert die Beendigung der bis dahin üblichen staatlichen Finanzierung der Kinobranche mit sich. Dadurch werden neue transnationale Vereinbarungen wichtiger, das Kino richtet sich stärker global aus und erfährt im Umkehrschluss auch eine neue Wertschätzung auf Festivals weltweit. Der Output des neuen lateinamerikanischen Kinos, das daraus resultiert, ist gigantisch, sodass nur einige wenige Beispiele als globale Erfolgsge- <?page no="196"?> 196 Handbuch Filmgeschichte schichten in künstlerischer wie in kommerzieller Hinsicht herhalten sollen. Da wäre einerseits Alejandro González Iñárritu (*1963), der sich zunächst in Mexiko auf elaborierte Episodenfilme spezialisiert und in seinem Debüt Amores perros (2000) die Geschichten dreier Personenpaare in Mexico City erzählt, deren Schicksale durch einen Autounfall verknüpft werden. Für seine zweite Regiearbeit 21 Grams (2003) geht Iñárritu bereits nach Hollywood und verfeinert dort mit jenem Film und dem Nachfolger Babel (2006) sein episodisches Erzählkonzept, in dem die Einzelgeschichten jedoch immer auf verschiedene, oft schicksalhafte Weise miteinander verbunden sind. Gerade der global ausgerichtete Babel liest sich so nahezu wie ein filmisches Manifest des transnationalen Kinos, das in den 2000er-Jahren besonders, aber nicht nur in Lateinamerika zur noch stärkeren Vernetzung von überregionalen Großräumen führt. Alfonso Cuarón (*1961) entstammt derselben Generation mexikanischer Filmemacher: innen. Mit seinem Roadmovie Y tu mamá también (2001), der im Kontext des in Lateinamerika zu jener Zeit neu popularisierten Genres steht, gelingt ihm der internationale Durchbruch und auch er geht nach Hollywood, um dort den dritten Harry Potter - Teil (2004), die spiritualistische Dystopie Children of Men (2006) und - später - den Riesenerfolg Gravity (2013) zu verantworten. Auch Guillermo del Toro (*1964) geht aus dieser mexikanischen Filmrenaissance hervor und bringt seinen auf exzentrischen mise en scènes basierenden Personalstil auch in seine Mainstream-Produktionen wie die Graphic-Novel-Adaption Hellboy (2004) oder das Historiendrama mit Fantasyelementen El laberinto del fauno (2006, Pans Labyrinth) ein. Wenngleich Argentinien Anfang des Jahrtausends von einer heftigen Wirtschaftskrise geschüttelt wird, floriert die Filmbranche zwischen 2000 und 2005 wie im Rest Lateinamerikas. Auch hier sind actionreiche, zugleich formal innovative Filme in Mode, wie etwa Fabián Bielinskys (1959-2006) Heist- Movie Nueva reinas (2000), aber auch die Tragikomödien von Juan José Campanella (*1959), wie etwa El hijo de la novia (2001, Der Sohn der Braut). Neben Walter Salles, der mit The Motorcycle Diaries (Die Reisen des jungen Ché, 2004) einen seiner erfolgreichsten Filme dreht, wird Fernando Meirelles (*1955) zu einer der bekanntesten Filmemacher: innen Brasiliens . Der von Quentin Tarantino und Martin Scorsese beeinflusste Favela-Krimi Cidade de Deus (2002, City of God) passt mit seiner beiläufigen Ästhetisierung von Gewalt, die im Verlauf des Films jedoch mehr und mehr dekonstruiert wird, idealtypisch in den globalen Trend und macht Meirelles auf Anhieb weltbekannt. Als nächstes dreht er in Großbritannien das Postkolonialzeit-Drama The Constant Gardener (2005) nach einem Roman von John LeCarré sowie die transnationale Literaturadaption Blindness (2008) nach dem bekanntesten Roman des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago, in dem offenbar grundlos von einem Moment auf den anderen nahezu alle Menschen erblinden, woraus sich eine radikale Neuordnung der gesamten Gesellschaft ergibt. Auch die Peru anerin Claudia Llosa (*1976) feiert mit ihren Coming-of-age-Filmen Madeinusa (2006) und La teta asustada (2009, in etwa: Die vergiftete Brust; deutcher Titel: Eine Perle Ewigkeit) internationale Erfolge. Die unmöglich anmutende Kombination des halbdokumentarischen Stils zur Inszenierung der szenischen Armenviertel mit magischrealistischen Plot-Entwicklungen macht die Filme von Claudia Llosa zu einem innovativen Sonderweg. Die Coming-of-age-Geschichten der jungen Protagonistinnen sind zudem Anlass zur Verhandlung feministischer <?page no="197"?> 2001 bis 2010 Kino der Versehrtheit 197 Themen wie die Unterdrückung weiblicher Sexualität durch die Kirche und die Tabuisierung der weiblichen Intimbereiche. 2000er: Deutschland n Deutschland wird - kurz nach Marktbeginn in den USA - 1999 die DVD eingeführt. Ab 2002 hat sie einen relativ hohen Marktanteil, der Höhepunkt ihrer Verkaufszahlen liegt in den Jahren 2006 bis 2011. Die damit einhergehende Transformation der Sichtungskonventionen - nach der Ausstrahlung von Spielfilmen im Fernsehen und der Markteinführung von Videoformaten ein dritter Einschnitt - verändert auch die deutsche Kinolandschaft. Mainstream-Produktionen werden aufwändiger und folgen häufig spezifischen Trends. Um die Jahrtausendwende etabliert sich etwa kurzzeitig eine kommerziell viable Ostalgie-Welle mit den Filmen Sonnenallee (1999, Leander Haußmann) oder Good Bye Lenin! (2003, Wolfgang Becker). Historienfilme wie Der Untergang (2004, Oliver Hirschbiegel), Sophie Scholl - Die letzten Tage (2005, Marc Rothemund) und Dresden (2006, Roland Suso Richter) nutzen die aufgestockten Babelsberg-Ressourcen für Titel mit hohen Production-Values, die das Kinoerlebnis aufwerten sollen. Regie-Veteran Uli Edel (*1947) hat mit großen Produktionen wie dem RAF-Drama Der Baader Meinhof Komplex (2008) und dem Bushido-Film Zeiten ändern Dich (2010) ein kurzlebiges Kino-Comeback, eher er sich wieder dem Fernsehen zuwendet. Florian Henckel von Donnersmarck (*1973) hat mit der Stasi-Ballade Das Leben der Anderen (2005) einen Welterfolg und gilt als neues deutsches Auteur- Versprechen, ehe The Tourist (2010) gewaltig floppt. Jenseits der Megalomanie des neuen deutschen Blockbusters positionieren sich weiterhin Filmemacher: innen zwischen Mainstream und Anspruchskino. Hans-Christian Schmid (*1965) dreht mit der europaanalytischen Grenzgeschichte Lichter (2003) und dem Drama Requiem (2006) seine beiden eindringlichsten Filme. Requiem handelt von einer religiös erzogenen jungen Frau, die ihre epileptischen Anfälle auf ihr sündhaftes Leben zurückführt. Sie glaubt vom Teufel besessen zu sein und stirbt schließlich in der heimischen Repression an den Folgen eines Exorzismusversuchs. Andreas Dresen (*1963) analysiert in Halbe Treppe (2002) die Wohnsituation zweier Paare in Frankfurt an der Oder. Als zwischen den Paaren eine Affäre beginnt, droht der gesamte bürgerliche Lebensentwurf zu zerbrechen. Auch in Sommer vorm Balkon (2004) gefährdet die Affäre mit einem LKW-Fahrer die enge Freundschaft der beiden Protagonistinnen Katrin und Nike. Und in Wolke 9 (2008) ist es wiederum eine Affäre, die eine langjährige Ehe infrage stellt. Man könnte Dresen fast für extrem wertkonservativ halten, aber gerade die Darstellung der Sexualität über 70- Jähriger in Wolke 9 wurde als Beitrag zu einem neuen „Kino des Alters“ deklariert und auch verstanden - ein globaler Trend, der zuvor schon etlichen stark gealterten Hollywood-Stars in Übersee neue Jobs verschafft hat. Der türkischstämmige Hamburger Regisseur Fatih Akin (*1973) hat seinen Durchbruch 2000 mit dem transnationalen Roadmovie Im Juli , der den Protagonisten Daniel und die Tramperin Juli zusammen bei der Reise von Hamburg nach Istanbul zeigt. Noch weitaus erfolgreicher wird 2004 das Drama Gegen die Wand , das von der Scheinehe zwischen dem drogensüchtigen Deutschtürken Cahit und einer jungen Türkin in Deutschland, die ihrem repressiven religiösen Elternhaus entkommen möchte, handelt. Die transnationalen Verbindungen zwischen Deutschland und der Türkei verhandelt Akin auch in Auf der anderen Seite (2007), ehe er sich mit I <?page no="198"?> 198 Handbuch Filmgeschichte Soul Kitchen (2009) einer Hamburger Milieustudie zuwendet, die sich um das Frikadellenrestaurant „Soul Kitchen“ dreht. Schauspieler Sebastian Schipper (*1968) dreht indessen unregelmäßig seine für das bundesdeutsche Kino ungewöhnlich leichtfüßigen Tragikomödien. Zuerst führt er Regie bei Absolute Giganten (1999), der von der letzten gemeinsamen durchzechten Nacht dreier Hamburger Freunde handelt, ehe der eine von ihnen nach Übersee geht. Es folgt Ein Freund von mir (2006), der sich anhand einer ungewöhnlichen Menage-à-trois der Verhandlung von gesellschaftlichen Konventionen widmet. Mitte Ende August (2009) schließlich ist ein zeitgenössisches Update der Handlung von Goethes Wahlverwandtschaften und erneut Ensemblekino im engeren Sinne. Der deutsche Schauspielfilm lebt auch in Oliver Hirschbiegels One-Room- Drama Ein ganz gewöhnlicher Jude (2005) mit Ben Becker und dem provokativen Vergewaltiger-Psychogramm Der freie Wille (2006) von Matthias Glasner mit Jürgen Vogel weiter. Die drei dffb-Absolvent: innen Christian Petzold (*1960), Thomas Arslan (*1962) und Angela Schanelec (*1962) drehen bereits seit den 1990er-Jahren Filme, die in der Tradition des Neuen Deutschen Films einen sozialkritischen, analytischen und stilreflektierten Ton bevorzugen. Ihr Werk wird von Kritiker: innen euphorisch unter dem Stichwort der Berliner Schule zusammengefasst, als in den 2000er-Jahren ihre Filme insgesamt eine breitere, auch internationale Wirkung durch eine erhöhte Präsenz auf Festivals entfalten. Die erste Generation der Berliner Schule wird bald um weitere Filmemacher: innen wie Christoph Hochhäusler (*1972), Benjamin Heisenberg (*1974), Maren Ade (*1976) und Valeska Grisebach (*1968) ergänzt. Die zweite Generation der „Berliner Schule“ hat jedoch eine eher süddeutscheösterreichische Anbindung: Hochhäusler, Heisenberg und Ade haben in München studiert, Grisebach in Wien. Christian Petzold widmet sich in den 2000er- Jahren vornehmlich seiner Gespenster- Trilogie bestehend aus der Linksradikalismus-Studie Die innere Sicherheit (2000), der Inszenierung von 24 Stunden im Leben eines Waisenmädchens Gespenster (2005) sowie der teils imaginierten Ausbruchsgeschichte Yella (2007). Die langsame, analytische Erzählweise und die hochgradig zeichenhafte Argumentationsweise nähern Petzolds Werk an theorieerfahrene Regisseure wie Harun Farocki oder Romuald Karmakar an. Der intellektuelle Zugang vieler seiner Filme macht Petzold nicht zum Publikumsliebling, seine Filme werden aber auf internationalen Festivals zu großen Erfolgen. Thomas Arslan wird häufig für seine präzisen Figurenporträts gelobt, die ihn vom populären deutschen Film mit seinen holzschnittartigen Typen deutlich absetzen. Der schöne Tag (2001) über die Synchronsprecherin Deniz ist ein gutes Beispiel hierfür - er handelt letztlich von Deniz’ Alltag und begleitet ihren intendierten Jobwechsel von der Sprecherin zur Schauspielerin. Die zeitliche Begrenzung der Handlung spielt auch in Angela Schanelecs Marseille von 2004 eine Rolle - der kurzzeitige Ausbruch der jungen Fotografin Sophie aus ihrem trüben Berliner Alltag ins sonnige Marseille verhandelt die Dauerhaftigkeit utopischer Lebenswünsche und findet dafür eine spezifische, unter anderem über Sofies Fotografien vermittelte Bildsprache der Impressionen. Christoph Hochhäuslers Milchwald (2003) handelt von zwei kurzzeitig verschwundenen Kindern und dem Effekt, den dieses Trauma auf die Beziehung ihrer Eltern hat - der Film ist mit Anleihen an das Märchen von Hänsel und Gretel überzogen und etabliert Hochhäuslers extrem distanzierten Erzählstil, der auf nahe Einstellungsgrößen quasi komplett verzichtet. <?page no="199"?> 2001 bis 2010 Kino der Versehrtheit 199 Valeska Grisebachs zweiter Film Sehnsucht (2006) porträtiert derweil minutiös die Infragestellung einer intakten Ehe zwischen einem Stahlarbeiter und seiner Jugendliebe, als jener sich in eine Kellnerin verliebt. Benjamin Heisenbergs berühmtester Film Schläfer (2005) analysiert derweil anhand einer Geschichte über Spionage durch den Verfassungsschutz das paranoide Klima in europäischen Gesellschaften post 9/ 11 und den durch die Institutionen erhobenen Generalverdacht gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund (bevorzugt aus muslimisch geprägten Kulturen). Während das Misstrauen in die Gesellschaft und die Analyse traditioneller Familienkonstellationen - am deutlichsten wohl im dezidiert symbolischen Umgang mit allen Aspekten des Eigenheims in Ulrich Köhlers Montag kommen die Fenster (2006) - Anliegen sind, die sich in etwas anderer Form auch im Jungen Deutschen Film finden, befassen sich die Filme von Maren Ade häufig mit gesellschaftlichen Erwartungen und der Verortung der Individuen in durch Fremdprojektion geprägten Umgebungen. In ihrem Debüt- Langfilm Der Wald vor lauter Bäumen (2003) tritt eine Junglehrerin ihre erste Stelle an, schafft es jedoch entgegen den eigenen Erwartungen weder mit Autorität ihre Klasse zu leiten noch besonders tiefgehende Freundschaften einzugehen. Alle anderen (2009) ist derweil eine Art Kammerspiel, in dem das Pärchen Chris und Gitti berufliche, persönliche und auf die Beziehung abzielende Ideale verhandelt und versucht Kompromisse zwischen den gegenseitigen Erwartungshaltungen im Lichte althergebrachter Genderkonstruktionen zu finden. Maren Ade ist neben Christian Petzold vielleicht die wiedererkennbarste deutsche Filmemacherin, deren Stil sich deutlich von anderen abgrenzt. Ihr Werk ist bis dato schmal (drei Langfilme), aber durchweg hochgradig eindrucksvoll. 2000er: Europa n Frankreich sorgt - mal wieder - ein Kritikerbegriff für die Zusammenfassung eines Filmzyklus, diesmal handelt es sich um die new french extremity . Die oft auf Folter und Zerstörung des Körperlichen ausgerichteten Horror- und Psychodrama-Filme der 2000er-Jahre haben auch einen Reflex im (harmloseren) US-Horrorfilm ausgelöst, in Frankreich stehen sie aber im größeren Kontext des cinéma du corps , das mithin leidenschaftslose Konzepte von Sexualität in den Mittelpunkt rückt oder die Aggressivität als Vorbedingung aller Intimität darstellt. Im Kontext des Körperhorrors ist dabei Alexandre Ajas Haute Tension (2003) ein Vorläufer, der sich extrem brutaler und expliziter Gewaltdarstellungen ebenso bedient wie der Inszenierung (und Anschlussfähigkeit) eines sadistischen Voyeurismus. Xavier Gens’ Frontière(s) von 2007 verbindet das Foltersetting mit Nazisploitation und nutzt diese Folie einer dunklen sadistischen Gewaltvergangenheit, die unter der gesellschaftlichen Oberfläche weiter existiert; von der zeitgenössischen Kritik wird er jedoch ebenfalls als Metapher für den Wiederaufstieg des Rechtsextremismus in Frankreich verstanden, was zu einer kleinen Kontroverse führt. Martyrs von Pascal Laugier aus dem Jahre 2008 schließlich überbietet die Missbrauchs- und Gewaltdarstellungen nochmals und macht die New French Extremity endgültig zu einer kontrovers diskutierten, als notorisch geltenden Bewegung. Eine Brücke zum cinéma du corps schlagen indessen die verstörenden Filme des Argentiniers Gaspar Noé (*1963), der 1998 mit Seul contre tous (Der Menschenfeind) über einen nur als „Schlachter“ bezeichneten Soziopathen, in dessen Weltsicht der Film das Publikum via Voice-Over und dominante Fokalisierungsstrategien einbezieht, debütiert. Weltbekannt wird Noé mit dem rückwärts erzählten Vergewaltigungsdrama Irré- I <?page no="200"?> 200 Handbuch Filmgeschichte versible (2002), das aufgrund seiner ungeschönten Schlüsselszene - einer sehr langen, schmerzhaften Darstellung der Vergewaltigung - Lob und Tadel gleichermaßen erfährt. Catherine Breillat (*1948) dreht mit Anatomie de l’enfer (2004) eine Adaption ihres eigenen Romans Pornocratie (2001), in der eine einsame Frau einen homosexuellen Mann bezahlt, damit er sie vier Tage lang intim beobachtet. Daraus resultiert eine extreme Befreiung von sexuellen Gesellschaftszwängen und eine Reflexion über den Einfluss von Tabu und Trieb auf die menschliche Psyche. Für die Hauptrolle des Mannes engagiert Breillat einen Pornodarsteller, um bei der Inszenierung problemlos die Möglichkeit unsimulierter sexueller Handlungen zu haben. Auch in Une vielle maîtresse (2007) spielt eine Pornodarstellerin eine der Hauptrollen, wodurch das konventionelle französische Filmdramen-Modell einer Ménage-à-trois weitaus expliziter und schonungsloser verhandelt wird als gemeinhin üblich. Breillats radikale Befreiung des Körperlichen für die Darstellung des Films stellt jetzt schon ein bleibendes Erbe für den französischen Film dar. Es ist sicher kein Zufall, dass neben Gaspar Noé auch Michael Haneke in den 2000er- Jahren nach Frankreich geht, um dort Caché (2005) zu drehen. Die Reflexion eines verborgenen Grauens mit politischen Implikationen passt zu Hanekes Interessen jener Zeit ebenso wie zu etlichen Trends des französischen Kinos des frühen 21. Jahrhunderts. 2009 dreht er die internationale Koproduktion Das weiße Band, Eine deutsche Kindergeschichte , die ein noch größerer Erfolg für ihn wird - darin geht es um eine durch religiöse Blendung unterdrückte dörfliche Gesellschaft im Deutschland der Jahre 1913 und 1914, parabolisch bezieht sie sich aber stärker auf Geschehnisse des Zweiten, denn des Ersten Weltkriegs. Auch der bereits seit den 1970er-Jahren etablierte Darsteller und Regisseur Patrice Chéreau (1944-2013) nimmt sich der stärkeren Fokussierung auf das Körperliche in jener Zeit an, dreht in Großbritannien 2001 Intimacy und erzählt in Son Frère (2003) die Geschichte zweier zerstrittener Brüder, deren einer schwer erkrankt, was eine Reflexion über ihrer beider Leben und der Zusammenhänge des Körperlichen mit dem Geistigen auslöst. Der Stilist François Ozon (*1967) wird indessen manchmal als Kopf einer neuen „neuen Welle“ ( nouvelle nouvelle vague ) angesehen, die einen Kompromiss zwischen dem kunstvollen Genrekino der 1950er- und 1990er-Jahre und den moderateren experimentellen Anliegen eines Truffaut oder Chabrol einschlägt. Sein Musical 8 femmes (2002) und der Thriller Swimming Pool (2003) sind auch heute noch seine bekanntesten Werke; Swimming Pool wird wegen seines Fokus auf die Ästhetisierung von Sexualität und Versehrtheit manchmal ebenfalls als Werk des cinéma du corps angesehen. Auch die belgischen Brüder Jean-Pierre (*1951) und Luc Dardenne (*1954) haben in den 2000er-Jahren eine erste Hochphase und gewinnen binnen sechs Jahren zwei Mal die Goldene Palme von Cannes (1999, 2005). Ihr naturalistischer Stil und ihr Fokus auf klassenspezifische Probleme insbesondere der Arbeiterklasse nähern ihr Werk den zeitgenössischen britischen Filmen etwa von Ken Loach an. Rosetta (1999) ist ein Porträt eines 17-jährigen, in Armut lebenden Mädchens, das am Ende ihrer Probezeit ihren Job verliert und sich zu Hause mit ihrer alkoholkranken Mutter auseinandersetzen muss, die ihre Bestrebungen ihr Leben zu ordnen immer wieder unterläuft. L’enfant (2005) handelt von einem in Armut lebenden Paar, das sein Kind auf dem Schwarzmarkt zur Adoption feilbietet, was zuerst die Beziehung zerrüttet und in der Folge zu etlichen weiteren <?page no="201"?> 2001 bis 2010 Kino der Versehrtheit 201 Katastrophen und Momenten der Entfremdung führt. Menschen, die aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit angesichts des neoliberalen Systems in eine bedeutungs- und chancenlose Peripherie gedrängt werden, sind auch in den Filmen von Ken Loach (*1936) nach wie vor im Fokus. Wenngleich der Filmemacher aus Großbritannien sein ganzes Leben lang - und bis heute - hochgradig relevante und kunstvolle Filme realisiert und man ihn ab den 1960er-Jahren in jeder Dekade erwähnen könnte, gerät er in den 2000er-Jahren mit dem Gewinn der Goldenen Palme für The Wind That Shakes The Barley (2006) auch wieder stärker in den Fokus einer allgemeineren Öffentlichkeit. Der Film stellt auf radikale Weise - berühmt etwa die Szene, in der zur Folter einem Gefangenen die Fingernägel ausgerissen werden - den Irischen Bürgerkrieg der 1920er-Jahre dar und repräsentiert Loachs mittlerweile enorme Bandbreite. In den 2000er-Jahren allein dreht er z. B. das Teenager-Drama Sweet Sixteen (2002), die Liebesgeschichte zwischen einem Pakistani und einer irischen Katholikin; Ae Fond Kiss… (2004), ein Drama über die traumatischen Auswirkungen des Irakkriegs auf die Beteiligten; Route Irish (2010) sowie Looking for Eric (2009), eine virtuose Auseinandersetzung mit dem Starkult um Fußballer, in dem Eric Cantona als er selbst auftritt. Andrea Arnold (*1961) betritt 2003 die internationale Filmbühne direkt mit einem Oscargewinner (2004): Ihr Kurzfilm Wasp über eine alleinerziehende Mutter, die sich zwischen ihren Kindern und einer neuen alten Beziehung entscheiden muss, bringt ihr schlagartig internationales Renommee. Dieses wächst noch durch ihre Langfilme Red Road (2006) und Fish Tank (2009). Red Road ist ein Dogma-Film, der zudem einem Konzept bzw. einer Aufgabe der Advance Party of Filmmakers folgt und die Geschichte einer CCTV-Überwacherin erzählt, die auf den Kamerabildschirmen ihres Sektors einen Bekannten erblickt und verfolgt. Fish Tank ist die ungeschönte Coming-of-age-Geschichte einer einsamen 15-jährigen, die durch ihre Gewaltbereitschaft auffällt und sich durch mehrere (oft scheiternde) Versuche als Performerin aufzutreten aus ihrer Isolation zu befreien sucht. Nach ihren Verdiensten für die Neue Dänische Gesellschaftskomödie in den 1990er- Jahren hat Susanne Bier (*1960) mit ihren Filmen Brødre (2004, Bruder), Efter brylluppet (2006, Nach der Hochzeit) und Hævnen (2010, In einer besseren Welt; wörtlich: Die Rache; Golden Globe und Oscar) großen Einfluss auf das Neue Dänische Drama. Neue dänische Dramen sind durch ihre extrem emotionalisierten Konflikte oft dem anrührenden Melodram nahe und weisen häufig eine stark affektorientierte Dramaturgie auf. Biers Filme handeln von den traumatischen Folgen einer Kriegsgefangenschaft in Afghanistan, von durch Entfremdung zerrissenen Familien, von tödlichen Krankheiten und dem Verhältnis von Gewalt und Selbstjustiz, oft vor dem Hintergrund einer globalisierten Gesellschaft, die zwischen Dänemark und Afghanistan, dem Sudan oder Indien bloß kulturell oder tatsächlich physikalisch hin- und herchangiert. Auch Pernille Fischer Christensen (*1969) ist im Kontext des Neuen Dänischen Dramas zu sehen - ihr Film En Familie (2010) zeigt die allmähliche Zersetzung einer erfolgreichen Kaufmannsfamilie durch den langsamen, zähen und folgenreichen Tod ihres beliebten Patriarchen. Lars von Trier bleibt einer der flexibelsten Regisseure weltweit und dreht die ganz auf theaterhafte Verfremdung hin inszenierte Tragödie Dogville (2003), die Auftakt einer weiteren (Amerika-)Trilogie sein soll, die bis heute jedoch unvollendet bleibt. 2006 folgt die metareflexive Komödie The Boss of It All (2006) und schließlich die Depressions - <?page no="202"?> 202 Handbuch Filmgeschichte Trilogie, die 2009 mit dem Film Antichrist (2009) beginnt, der von den furchtbaren Folgen (Verstümmelung und Selbstverstümmelung) der selbstauferlegten Trauerbewältigung eines Pärchens in einer Hütte im Wald berichtet. Von Trier reflektiert damit den Trend der 2000er-Jahre, das Psychologische und das Körperliche in einen direkten, oft schmerzhaften Zusammenhang zu bringen - ein Trend, der sich in torture porn, cinéma du corps und post-9/ 11-Traumabewältigung ebenso wiederfindet wie in einer düsteren Weiterentwicklung der Mindgame-Filme. Schwedens und Norwegens Filmindustrien haben neben den Exportschlagern des allmählich aufkommenden, aber vornehmlich im Fernsehen verbleibenden Nordic-Noir- Genres größere internationale Erfolge im Independent-Bereich. Tomas Alfredsons Vampir-Romanze Låt den rätte komma in (2008, Let the Right One In), Stian Kristiansens Coming-of-age-Verhandlung von Homosexualität Mannen som elsket Yngve (2008, Der Mann, der Yngve liebte) und Lukas Moodyssons romantische Milieudramödien Fucking Åmål (1998), Lilja-4-ever (2002) und Mammoth (2009) oder Rune Denstad Langlos Schnee- Roadmovie Nord (2009) sind nur einige Beispiele für den Skandinavien-Boom im europäischen Independent-Kino, der bis heute andauert. Aki Kaurismäkis Mies vailla menneisyyttä (2002, Der Mann ohne Vergangenheit), eine schwarze Komödie über einen Mann, der in Helsinki infolge eines gewalttätigen Angriffs sein Gedächtnis verliert, ist einer seiner größten internationalen Erfolge sowie einer seiner letzten Filme nach dem bewährten Muster seiner Vorgänger. In Rumänien ergibt sich durch die filmische -Diktatur (1965- 1989) eine Art Neue Welle, die sich im Werk von Filmemachern wie Cristian Mungiu (*1968) oder (*1972) niederschlägt. Mungius 4 luni, 3 saptamâni si 2 zile (2007, 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage) handelt von einer jungen Frau, die im -Rumänien der 1980er-Jahre eine illegale Abtreibung vornehmen lassen will. Cum mi-am petrecut (2006, Wie ich das Ende der Welt erlebte) erzählt die Coming-of-age- Geschichte der 17-jährigen Eva parallel zur Kindheitsgeschichte des 7-jährigen Lilu, die cus miterleben. Die Jahre des (privaten) Aufwachsens und Umbruchs werden metaphorisch auf die Kinder- und Jugendjahre des freien Rumänien übertragen - Mitulescus poetischer Realismus ist einer der wiedererkennbarsten Personalstile innerhalb der rumänischen Neuen Welle. Der Exil-Rumäne Radu Mihaileanu (*1958) dreht 1998 die internationale Koproduktion Train de Vie (Zug des Lebens), eine tragische Groteske über ein jüdisches Schtetl in Osteuropa anno 1941, das angesichts der Bedrohung durch die anrückenden Nationalsozialisten beschließt, sich in einem elaborierten Verwirrspiel selbst nach Palästina zu deportieren. Va, vis et deviens (2005, Geh und lebe) verfolgt ebenfalls das Muster einer ‚Komödie der Irrungen‘. Im Jahre 1980 entflieht ein christlicher Junge aus Äthiopien dem Hunger seines Landes, indem er sich als Jude ausgibt und somit ins wohlhabendere Israel gelangt. Wenngleich Mihaileanus Filme selten in Rumänien spielen, setzen sie sich doch oft mit dem Umgang mit marginalen Bevölkerungsgruppen metonymisch auseinander - so spielen in Train de Vie auch Roma und Sinti eine tragende Rolle. Nach einer turbulenten Dekade kommt das Kino in Russland allmählich zur Ruhe und produziert wie schon in den späten 1980er- Jahren poetische, langsame, durchkomponierte Filme, die sich in oft philosophisch aufgeladenen Gedankenkonstellationen mit <?page no="203"?> 2001 bis 2010 Kino der Versehrtheit 203 der menschlichen Existenz und der Gesellschaft auseinandersetzen. Andrey Zvyagintsevs (*1964) Vozvrashcheniye (2003, Die Rückkehr) handelt von der abrupten Rückkehr eines Vaters in das Leben zweier junger Brüder. Dieser nimmt sie in den Angelurlaub mit, der sich jedoch als bizarres Erlebnis erweist, in dessen Verlauf sich die Beziehungen zwischen dem launischen, uneinschätzbaren Vater und den Brüdern sowie den beiden untereinander permanent verändern und neu verhandelt werden müssen. Die Bezugnahme auf Naturmotivik und die minutiöse Erzählweise erinnern an das Werk Tarkovskiys, das auf Zvyagintsev einen großen Einfluss hatte. Alexei Popogrebski (*1972) dreht 2010 Kak ya provyol etim letom (Wie ich diesen Sommer beendete), der ebenfalls die Verhandlung menschlicher Beziehungen in einer Situation nahezu totaler Isolation und Konfrontation mit der Natur, hier in einer Wetterstation zur Zeit der Sowjetunion, zum Thema hat. Auch Popogrebskis Stil ist nicht auf Tempo oder Dramaturgie, sondern vielmehr auf eine analytische und symbolreiche Erzählweise ausgerichtet. Altmeister Aleksandr Sokurov (*1951) dreht mit Russkiy kovcheg (2002, Russian Ark) ein formales Experiment, das Filmgeschichte schreibt - in einer einzigen, 96 Minuten andauernden Plansequenz wird innerhalb der Rahmenhandlung eines zaristischen Balls im 19. Jahrhundert eine episodische, nach den Räumen des Winterpalastes in St. Petersburg aufgeteilte Landesgeschichte Russlands inszeniert - die Plansequenz betont dabei die alles umfassende und verbindende Macht der Zeit, die auch auf den ersten Blick verschiedene Geschehnisse in denselben Kontext setzt. Ich möchte mit ein paar Namen das Kapitel beenden, die aber nicht als repräsentativ für die jeweiligen Produktionsländer angesehen werden können. Nanni Moretti (*1953) schafft in Italien einen Spagat zwischen unterhaltsamem und kunstvollem Kino, der ihm 2001 die Goldene Palme von Cannes für La stanza del figlio (Das Zimmer meines Sohnes) einbringt. Der Film handelt von einem tödlichen Tauchunglück eines 17jährigen, das die Familie mit Trauer und Schuldgefühlen zurücklässt. Il Caimano (Der Italiener) von 2006 wird durch seinen politischen Einfluss weltweit berühmt - die Komödie wird als offener Angriff auf Silvio Berlusconi konzipiert und in einem Wahljahr veröffentlicht. Dass Berlusconi in jenem Jahr die Wahl verliert, tut der Mythifizierung des Films natürlich keinen Abbruch. Die Balkankriege 1996 und 1999 überführen nicht nur die jugoslawische Filmindustrie in ein neues transnationales System, sondern machen Produktionsmöglichkeiten und -bedingungen selbst für die Beteiligten zwischenzeitlich sehr unübersichtlich. Die meisten Regisseur: innen drehen im Exil oder werben Geld aus verschiedenen Ländern ein; so auch (*1969), der für seinen Kriegsfilm mlja (2001, No Man’s Land) Geld aus Bosnien-Herzegowina, Slowenien, Großbritannien, Italien, Belgien und Frankreich zur Verfügung hat. Der Film wählt einen ungewöhnlichen Zugang zur Kriegsdarstellung, indem er eine Kammerspielsituation auf das „Niemandsland“ eines Minenfeldes verlegt. Dort treffen zwei Bosniaken und ein Serbe im Bosnienkrieg aufeinander und können weder kämpfen noch fliehen, da einer der drei auf einer Mine liegt, bis Hilfe kommt und sie aus der Zwangslage befreit werden. Die resultierenden Gespräche entlarven die Sinnlosigkeit des Krieges und machen den Film bisweilen zu einer absurdistischen Komödie. Auch die Spanierin Isabel Coixet (*1960) wird in den 2000er-Jahren weltberühmt durch ihre Filme My Life without me/ Mi vida sin mí (2003) über eine todkranke Frau, die ihre Krankheit verschweigt und im Stillen ihren Nachlass regelt sowie eine Liste von Dingen abarbeitet, die sie unbedingt noch erleben <?page no="204"?> 204 Handbuch Filmgeschichte will. Auch La vida secreta de las palabras (2005, Das geheime Leben der Worte) ist ein globaler Erfolg - eine paneuropäische Geschichte über Traumatisierung und Verarbeitung. Wieder ist auch Pedro Almodóvar einer der auffälligsten spanischen Regisseure der Dekade: Das Drama Habla con ella (2002, Sprich mit ihr) erzählt die Geschichte zweier Angehöriger von Komapatientinnen, die sich bei der nötigen Körperpflege ihrer Frauen miteinander anfreunden. Dies schließt sich an die Körperlichkeitsdiskurse der Dekade an, die neben Versehrung (Verwundung, Vernarbung, Behinderung, Beeinträchtigung) und Nacktheit auch kranke, alte und tote Körper verhandeln - in Koma- und Krebs-, Sterbehilfe- und Sterbediskursen. La mala educación von 2004 erzählt vom Aufwachsen zweier Freunde in einer repressiven religiösen Schule im frankistischen Spanien der 1960er-Jahre und verhandelt auch das zu jener Zeit mehr und mehr an die Oberfläche gelangte Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern in vergleichbaren Umfeldern - wie etwa in Wolfgang Murnbergers Silentium aus demselben Jahr oder der Reihe von Dokumentationen, die 2006 zu dem Thema erscheint: Deliver us from Evil (Amy Berg), Hand of God (Joe Cultrera) und Sex Crimes and the Vatican (Colm O’Gorman). Mit Volver (2006) kehrt Almodóvar zu seinem früheren, surrealismenreichen Stil zurück - der Titel ist durchaus programmatisch zu verstehen - und kreuzt hier Roadmovie und Geistergeschichte auf eine ironisch-freudianische Weise miteinander. <?page no="205"?> 2001 bis 2010 Kino der Versehrtheit 205 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts sound design „Das Sound Design bezeichnet sowohl die Tonmischung in der Post-Produktion eines Films, einer Serie oder eines Computerspiels wie auch die Gestaltung von deren gesamtem Soundtrack. Seine Kernelemente sind Sprache und Geräusche (zuzüglich der Musik) sowie deren Gestaltung, Mischung und Abstimmung. In der Regel arbeiten 20 bis 50 Fachkräfte in amerikanischen Großproduktionen an der Gestaltung der Filmtonspur.“ (Möhle 2014) In den 2000er-Jahren wandelt sich der Stellenwert des Sound Designs und es wird - je nach Genre - mehr und mehr als die ‚neue Filmmusik‘ begriffen. Dadurch, dass untermalende Geräusche mehr und mehr ‚Raum‘ auf der Tonspur einnehmen, wird zugleich die Filmmusik immer stärker reduziert, sodass minimalistisch arbeitende Komponisten wie Hans Zimmer und Alexandre Desplat Konjunktur haben. torture porn „David Edelstein von der New York Times […], der Saw zusammen mit The Devil’s Rejects, The Passion of the Christ und Wolf Creek beschrieb, hat sich den Begriff ‚Torture Porn‘ ausgedacht und sieht in solchen Filmen ein ‚prickelndes und schockierendes‘ Spektakel, das das Publikum an die Grenzen der Verdorbenheit treibt, damit es ‚etwas fühlt‘ […].“ (Aaron Michael Kerner, Torture Porn in the Wake of 9/ 11: Horror, Exploitation, and the Cinema of Sensation , 2015, ch. 1) Torture Porn ist seither wechselweise als Subgenre des Horrorfilms und als ästhetische Strategie beschrieben worden; gemeinsam ist beiden Sichtweisen die Interpretation als filmischer Reflex auf die in den post-9/ 11-Kriegen bekannt gewordenen Folterdelikte und die Angst vor der staatlichen Übermacht, die durch neue Ermächtigungsgesetze auch Unschuldige willkürlich in eine Situation des körperlichen Leidens versetzen kann. Digitalisierung Die Digitalisierung hat in den 2000er-Jahren enorme Auswirkungen auf die Produktionsmöglichkeiten des Mediums Film - der endgültige Beginn des Digitalen Films 2002 ( Star Wars: Attack of the Clones ) durch den durchgängigen Einsatz von HDCAM-Apparaten führt rasch zur Abschaffung des analogen Films. Neben digitaler Bild(nach)bearbeitung und Schnitttechnik wird insbesondere computer generated imagery (CGI) immer zentraler. CGI wurde zwar erstmals in Alfred Hitchcocks Vertigo (für die Spiraleffekte im Vorspann) benutzt, aber gerade die Kombination mit Motion Capturing führt in den 2000ern zu neuen visuellen Modellen. Nicht selten führt dies zu der Problematik des sogenannten uncanny valley , die besagt, dass eine große Menschenähnlichkeit einer nichtmenschlichen (z. B. computergenerierten) Figur zu einem Gefühl des Unheimlichen ( uncanny ) führen kann - das dadurch hervorgerufene Distanzgefühl entspricht einem valley , also einem starken Abnehmen der Empathiefähigkeit mit dem als unheimlich begriffenen ‚Subjekt‘. „[…] Der Polarexpress ist ein leuchtendes Beispiel für Moris Uncanny Valley , da die Charaktere fast vollständig menschlich wirken. Wenn wir die Beziehung zwischen Stilisierung und Fotorealismus betrachten, können wir dieses Versagen besser verstehen. Ein Teil des Problems ergibt sich meiner Meinung nach aus der merkwürdigen Dissonanz zwischen einem zu menschlichen Verhalten und einer stilisierten Erscheinung. Diese Dissonanz betrifft jedoch hauptsächlich die Kinder, den Vater und den Charakter des Dirigenten, von denen nicht weniger als drei von Tom Hanks gespielt werden.“ (Barbara Flückiger, Visual Effects , 2008, 460) <?page no="206"?> 206 Handbuch Filmgeschichte Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Fish Tank » Regie: Andrea Arnold » Land | Jahr: GB | 2009 Ein ungeschönter Blick auf das Aufwachsen jenseits der Komfortzone des bürgerlichen Filmpublikums verortet Andrea Arnold firm auf der Landkarte der aufregendsten jungen Regisseur: innen unserer Zeit. Filmtipp Moolaadé » Regie: Ousmane Sembène » Land | Jahr: SEN | 2004 Sembènes Spätwerk ist weiterhin kritisch und angriffslustig, übermittelt seine Botschaften jedoch durch gekonnte, zum Mitleid bewegende Inszenierungen von auswegloser Tragik. Moolaadé ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Filmtipp Mogari no mori » Regie: Naomi Kawase » Land | Jahr: J | 2007 Die Verbindung von Natur und individueller Emotion spielt in der japanischen Kultur Rolle wie in Naomi Kawases eindringlichem, poetischem Film über Trauerbewältigung und Einsamkeit. <?page no="207"?> 2011 bis 2020 · Reboots, Remakes, Franchises: Ewige Reproduktion und Nostalgie-Maschine Das jüngst vergangene Jahrzehnt ist geprägt von Neuaufnahmen und Retro-Trends, remakes und reboots - Franchises werden nach langer Pause wiederbelebt, zeitgleich ist die Medienwirtschaft geprägt von Zusammenschlüssen und Fusionen, sodass am Ende nur noch wenige Marktakteure übrigbleiben. Neben den Hang zum Recycling tritt eine durch Algorithmen getragene Feedback- Maschinerie, durch die Serien und Filme von Video-on-Demand -Anbietern wie Netflix, Prime Video oder Apple TV einer ganz direkten Produktionsdynamik von Nachfrage und Angebot folgen. Neben die Verlagerung in den Onlinerahmen, die durch die Covid-19- Pandemie beschleunigt und erweitert wird, tritt eine Verhandlung von Produktionspraktiken über Social Media, die seit einigen Jahren dringend notwendige und tiefgreifende Veränderungen in etlichen Filmproduktionsindustrien angestoßen hat. Diskurse wie #OscarsSoWhite und #MeToo decken Machtmissbrauch und Privilegiertenförderung im Studiosystem rigoros auf und verändern damit die Diskussions- und Produktionskultur nachhaltig. Auch begleitet der Film mit wachsender öffentlicher Aufmerksamkeit soziale Umsturzbewegungen, Revolutionen und Befreiungen von Diktaturen - vom „arabischen Frühling“ zu Beginn der Dekade bis zu den Protesten in Belarus an ihrem Ende. Wenngleich die resultierenden Filmprodukte dem ähneln, was Dokumentarfilmmacher: innen bereits seit Jahrzehnten zu ihren gesellschaftsrelevantesten Produktionen gezählt haben, verändern die Ubiquität von kleinen, portablen, zugleich hochauflösenden Kameras und die Möglichkeit der weltweiten Onlinedistribution sowohl quantitativ als auch diskursiv die globale Wahrnehmung sozialer Missstände und Veränderungsversuche nachhaltig. 2010er: Deutschland ie Ausdifferenzierung von Filmtraditionen zwischen Babelsberg-Blockbuster und Mainstream-Komödie einerseits und dem Autor: innenkino der Berliner bzw. Münchner Schule andererseits - sowie ambitionierten Regisseur: innen, die einen Kompromiss aus beidem bespielen, - setzt sich auch im deutschen Film der 2010er-Jahre fort. Drei Trends, die dabei herausragen, sind auch der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Diskursen geschuldet - erstens Filme über ein multikulturelles Deutschland bzw. kulturelle Begegnungen in Deutschland; zweitens Filme, die sich mit dem Wiedererstarken der rechtsradikalen Szene seit dem Bekanntwerden des NSU- Komplexes 2011 auseinandersetzen; sowie drittens Verfilmungen zeitgenössischer Belletristik-Erfolge. Fragen der multikulturellen Identität werden sowohl i Die Fremde , 2010) als auch Komödien (wie Almanya - Willkommen in Deutschland , 2011) verhandelt, wodurch sich neue präsente Regisseurinnen, Produzentinnen und Autorinnen etablieren, die selbst aus einem interkulturellen Umfeld stammen. Große Crossover-Erfolge feiern unter anderem die Fack ju, Göhte -Trilogie D <?page no="208"?> 208 Handbuch Filmgeschichte von Bora Dagtekin (2013, 2015, 2017) und Simon Verhoevens Komödie Willkommen bei den Hartmanns über die sogenannte Flüchtlingskrise aus dem Jahre 2015. Viel Beachtung erfährt auch der Film des in Deutschland lebenden syrischen Dokumentarfilmemachers Talal Derki (*1977), der für Of Fathers and Sons - Die Kinder des Kalifats 2017 nach Syrien zurückkehrt und dort eine islamistische Familie in ihrem Alltag porträtiert. Das junge Regietalent David Wnendt (*1977) dreht 2011 sein Porträt Kriegerin über die 20-jährige Marisa und ihren zum Scheitern verurteilten Versuch eines Ausstiegs aus der zeitgenössischen jugendlichen Neonaziszene in einer ostdeutschen Kleinstadt. Fatih Akin durchlebt insgesamt eine sehr produktive Dekade, in die auch die fiktionalisierte Neuimagination der NSU-Morde Aus dem Nichts (2018) fällt, für den er den Golden Globe gewinnt. Jan Bonny (*1979) dreht 2018 den Film Wintermärchen , der von einer - ebenfalls fiktionalisierten - Terrorzelle in der Nähe von Köln handelt, die rechtsradikal motivierte Anschläge plant und durchführt. Verfilmungen zeitgenössischer Literatur sind ein wichtiges crossmediales Marktelement im deutschen Film der Gegenwart. David Wnendts Feuchtgebiete (2013) und Er ist wieder da (2015) greifen zwei Skandalromane auf und entfachen auch eine Diskussion über die unterschiedlichen Inszenierungsbedingungen der dadurch verbundenen Medien. Fatih Akin adaptiert Wolfgang Herrndorfs Tschick (2016) und Heinz Strunks Der goldene Handschuh (2019) - während Tschick angesichts von Herrndorfs Selbstmord 2013 als angemessene Reverenz wahrgenommen wurde, hat die Strunk-Adaption zu einer Verhandlung des ‚neuen Ekelkinos‘ beigetragen, das hier anders als der feministisch orientierte Feuchtgebiete eine klassenanalytische Lesart möglich macht. Jan-Ole Gerster (*1978) arbeitet derweil bereits seit 2015 an einer Adaption von Christian Krachts Imperium , die 2023 endgültig in die Kinos kommen soll. Auch Andreas Dresens Halt auf freier Strecke (2011) über einen jungen Familienvater, der an einem tödlichen Hirntumor erkrankt ist, erfährt internationale Aufmerksamkeit. Die höchsten Wellen schlägt aber mithin Maren Ades Toni Erdmann (2016), dessen Nominierung für einen Auslands- Oscar die Regisseurin popularisiert und Gerüchte über ihren Abgang nach Hollywood für ein selbstverantwortetes Remake à la Hanekes Funny Games US befeuert. Auch wenn es für den Oscar nicht ganz reicht, gewinnt Toni Erdmann reihenweise Auszeichnungen und ist in seiner Auseinandersetzung mit dem globalisierten Neoliberalismus einerseits und der Idylle von spießbürgerlichen Familienstrukturen andererseits einer der intelligentesten und vielseitigsten Filme der Dekade. Das neue künstlerische Selbstbewusstsein des deutschen Films zeigt sich auch in Sebastian Schippers Erzählexperiment Victoria von 2015, der die 96 Minuten lange Plansequenz, aus der Russian Ark (2002) besteht, um 44 Minuten übertrifft, indem er die Geschichte einer Berliner Partynacht in 140 am Stück gedrehten Minuten (on location in ebenjener Berliner Partynacht des 27. April 2014 von 4: 30 Uhr bis 7: 00 Uhr) inszeniert. Auch Schippers bereits erwähnter Schauspielerfreund Jan-Ole Gerster probiert sich für Oh Boy (2012) als Regisseur und greift darin Inszenierungskonventionen des französischen und US-amerikanischen Independent-Kinos auf, um ein alternatives Bild Berlins zu zeichnen, das Gerster und seinem Film das ironische Label „Berliner Sonderschule“ einbringt. Christian Petzold erzählt die oftmals aufgegriffene Geschichte einer geplanten Flucht aus der DDR anno 1980 in Barbara (2012) neu und gewinnt der fast schon stereotypen Narration ungewöhnli- <?page no="209"?> 2011 bis 2020 Reboots, Remakes, Franchises: Ewige Reproduktion und Nostalgie-Maschine 209 chen Tiefgang ab. Florian Henckel von Donnersmarck kehrt nach seinem Flop The Tourist acht Jahre später (2018) mit Werk ohne Autor zurück, der als eine Art verdecktes Biopic des Malers Gerhard Richter lesbar ist und in der Kritik erneut sehr stark polarisiert. Margarethe von Trotta dreht den vielbeachteten Film Hannah Arendt (2012), der sich 26 Jahre nach ihrem Porträt Rosa Luxemburg einer weiteren feministischen Interpretation einer historischen Persönlichkeit widmet - es geht darin vor allem um Arendts Auseinandersetzung mit Adolf Eichmann anlässlich dessen Verurteilung Anfang der 1960er-Jahre. Ein deutscher Reflex der überfälligen neofeministischen Umwälzungen der Filmindustrie in den 2010er-Jahren etabliert sich 2014 mit der Gründung von ProQuote Film, die unter dem Slogan „Mehr Frauen vor und hinter der Kamera, damit Geschichten, Sichtweisen und der kulturelle Output von Frauen sichtbar werden! “ für die Stärkung weiblichen Filmschaffens eintritt und sich 2017/ 18 der Berliner Erklärung von 17 Frauenverbänden zur Verankerung der Gleichstellung in allen Bereichen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Medien angeschlossen hat. 2010er: Globales Kino Im Dezember 2010 beginnt eine transnationale Serie von Protesten und Umsturzbemühungen in etlichen Staaten der arabischen Welt , die gemeinhin als ‚arabischer Frühling‘ zusammengefasst wird. Darunter sind sowohl Dokumentarfilme wie Al Midan (2013, The Square, Jehane Noujaim) zu fassen, der aus der Sicht von sechs verschiedenen Demonstrant: innen die Geschehnisse auf dem Kairoer Tahrir-Platz verfolgt, als auch etliche Spielfilme, die direkt vom Vorabend der Revolution in ihrem jeweiligen Land handeln wie etwa Leyla Bouzids (*1984) À peine j’ouvre les yeux , entstanden in Tunesien im Jahre 2015. Aber auch Filme, die durch den arabischen Frühling möglich werden, weil sie gegen zuvor gültige Produktionsbedingungen und ästhetische Maximen verstoßen - wie Farès Naânaâs (*1975) Chbabek el jenna (Borders of Heaven, Tunesien 2015), der von einem jungen Ehepaar handelt, das um sein verstorbenes Kind trauert, oder Mohamed Khans letzter und einziger postrevolutionärer Film Qabl Zahmet El Seif (Before the Summer Crowds, 2016), eine Satire über die saturierte ägyptische Mittelklasse in Zeiten des politischen Umsturzes -, gehören zum Kontext des neuen Arabischen Kinos. Der international berühmteste dieser Filme ist vermutlich Ali Samadi Ahadis The Green Wave (2010), ein Dokumentarfilm über die dem Arabischen Frühling vorgelagerte grüne Revolution im Iran und ein einflussreiches Beispiel, das vielerorts Schule gemacht hat. Überhaupt ist der iranische Film aktuell mal wieder im Aufwind. Majid Majidi (*1959) entwickelt mit seinem Film Âvâz-e gonjeshk-hâ (2008, The Song of Sparrows) eine individuelle poetische Bildsprache, welche die Gegensätze zwischen dem Prekariat in der Stadt (Teheran) und auf dem Land in eine starke argumentative Opposition bringt. 2015 erhält er - teils vom Staat - das größte Budget eines iranischen Films überhaupt für das religiöse Biopic Mohammad Rasulollah (Muhammad: The Messenger of God). Noch bekannter sind indessen Asghar Farhadis (*1972) häusliche Tragödien, welche die Verhandlung über gesellschaftliche Erneuerungen im Privatraum ansiedeln. Jodaí-e Nadér az Simín (2011, Nader und Simin) wird ein internationaler Erfolg und gewinnt in Berlin den Goldenen Bären sowie den Auslands-Oscar. Er handelt von dem im Iran gesellschaftlichen Tabuthema der Ehescheidung. Für Forušande (2016, The Salesman) <?page no="210"?> 210 Handbuch Filmgeschichte erhält Farhadi einen weiteren Auslands- Oscar. Darin wird ein Theater spielendes Ehepaar in den Mittelpunkt gerückt. Als dieses gemeinsam Arthur Millers Death of a Salesman aufführt, wird im Privatraum ein Anschlag auf die Ehefrau verübt - der Film verhandelt damit vordergründig die (geduldete) Gewalt gegen Frauen und die daraus resultierende häusliche Tragödie, deutet aber auch den Unmut religiöser Extremist: innen gegenüber Theater (oder Film) schauspielernden Frauen an. Das japanische Kino befindet sich zurzeit im ökonomischen Abwind, weil es nicht gelingt, langfristig neue (jüngere) Publika zu binden. Der Großteil der Mainstream- Produktion orientiert sich an finanziell wenig riskanten Genres, sodass Familiendramen und Mangabzw. Anime-Adaptionen weiter Konjunktur haben. Neben dem in Japan immer verhältnismäßig rentablen Underground-Splatterund/ oder Gore-Film - wie die Filme des Gore-Großmeisters Yoshihiro Nishimura - etablieren sich einige Regisseur: innen im Independent-Sektor, die neue Impulse ins japanische Kino geben. Da wäre zunächst die Regisseurin Naoko Ogigami (*1972), deren Filme auf westlichen Festivals regelmäßig die Publikumspreise gewinnen. Rentaneko (2012) erzählt von einer einsamen Frau, die es zu ihrem Beruf erkoren hat, anderen einsamen Menschen Katzen leihweise zu überlassen. Karera ga honki de amu toki wa (2017, Close-knit) erzählt die Geschichte eines von seiner alleinerziehenden Mutter vernachlässigten Mädchens, das von ihrem Onkel und dessen Trans-Partnerin aufgenommen wird, die nach und nach die Mutterrolle für die Protagonistin annimmt und auszufüllen weiß. Ogigamis Filme sind absurd, farbenfroh und formal sehr verspielt. Die Regisseurin schreibt ihre eigenen Drehbücher voller unerwarteter Wendungen und ist einer der großen Geheimtipps unter den japanischen Auteurs unserer Zeit. Sion Sono (*1961) kombiniert ebenfalls eine extrem expressive mise en scène mit ungewöhnlichen Sujets - jedoch eher in sexueller Hinsicht. In zahllosen abrupten Wechseln von der metaphorischen zur realitätsgetreuen Darstellung geht er in seinem Werk sexuellen Obsessionen und Fetischen nach, so in dem kontroversen Neustart der „Roman Poruno“- (japanischen Softporno)Tradition aus den 1970er- und 1980er-Jahren, in dessen Zuge Sonos Anchiporuno (2016, Anti-Porn) entstanden ist. Auch Sonos übrige Filme changieren oft zwischen extremen Gewaltund/ oder Sexdarstellungen, was ihn auch in Europa seit der Jahrtausendwende als kontroversen Filmemacher etabliert hat. Auch SABU (*1964), bürgerlich Hiroki Tanaka, widmet sich der japanischen Tradition des Kinos der Extremen - Miss Zombie (2013) oder Ryu san (2017, Mr. Long) werden vornehmlich wegen ihrer Gewaltdarstellungen diskutiert - wie Sono ist auch SABU nicht nur inhaltlich, sondern auch formal ein sehr experimentierfreudiger Filmemacher. Sono und SABU arbeiten sich also mit einer erneuerten Ästhetik an Genres ab, die bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren hochgradig populär waren. Wie es im japanischen Kino häufiger zu beobachten ist, verlaufen Trends oft zyklisch, was auch für die Komödie der unangepassten Familie gilt. Gakuryû Ishiis Gyakufunsha kazoku (1984, Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb) war modellbildend für etliche absurde Familienkomödien, auf die sich auch einer der jüngsten japanischen Welterfolge, der Cannes- Gewinner Manbiki kazoku (2018, Shoplifters - Familienbande, Hirukazu Koreeda), bezieht. Darin geht es um eine Familie am unteren Ende der Einkommensskala, die sich deshalb mit Kind und Kegel auf Ladendiebstahl verlegt hat, um über die Runden zu kommen. Als sie ein junges hilfsbedürftiges <?page no="211"?> 2011 bis 2020 Reboots, Remakes, Franchises: Ewige Reproduktion und Nostalgie-Maschine 211 Mädchen aufnehmen, wird die fragile Chemie, die das Familienkonstrukt intakt hält, infrage gestellt. Oft verweisen die crazy families in derartigen Filmen auf gesellschaftliche Missstände, die sie auf absurdistische oder magisch-realistische Weise karikieren. Südkorea ist auch im aktuellen Jahrzehnt eines der spannendsten Filmherkunftsländer weltweit. Hong Sang-Soo (*1960) dreht weiter seine filigranen Gesprächsfilme und gerät besonders mit dem Diptychon Ji-geumeun-mat-go-geu-ddae-neun-teul-li-da (2015, Right Now, Wrong Then) und Bamui haebyun-eoseo honja (2017, On the Beach at Night Alone) verstärkt in den Fokus der europäischen Festival-Öffentlichkeit. In beiden Filmen spielt Kim Min-hee die Hauptrolle - im ersten verliebt sich ein verheirateter Filmregisseur in eine Malerin, im zweiten geht es um das Nachspiel einer vergleichbaren Affäre. Auch wenn die Figuren nicht identisch sind, spiegeln die beiden Filme die in Südkorea weitläufig publizierte Affäre zwischen Hong und Kim wider - sie werden daher oft als autobiographisches Statement und besonders persönliche Filme Hongs gelesen, funktionieren aber ohne diesen Hintergrund tatsächlich gar nicht so anders als sein übriges Werk. Bong Joon-ho (*1969) hat 2013 einen großen Erfolg mit der Dystopie Snowpiercer , der an Bord eines nach Klassen sortierten Zuges spielt, welcher die wenigen Überlebenden einer weltweiten Katastrophe vor dem, was außerhalb liegt, im Jahre 2031 dürftig schützt. Snowpiercer ist eine international besetzte koreanisch-tschechische Koproduktion, die Bongs ikonoklastischen visuellen Stil einem breiteren europäischen Publikum geläufig gemacht hat. Die weltweite Rezeption seines Werks mündet in die Netflix- Produktion Okja (2017) über die Zusammenhänge von Tierversuchen und Turbokapitalismus. Park Chan-wook (*1963) hat indessen mit Ah-ga-ssi (2016, Die Taschendiebin) seinen nach Oldboy zweiten großen globalen Crossover-Erfolg. Das Historiendrama spielt zur Zeit der japanischen Besatzung in den 1930er-Jahren und erzählt von einer klassenübergreifenden Dreiecksbeziehung, die mit einer ungewöhnlichen Konstellation endet und die Korruption und Unzuverlässigkeit der höfischen Gesellschaft kritisch bloßstellt. Ähnlich wie Oldboy ist der Film erzählerisch komplex, wird jedoch insbesondere wegen seiner expliziten Sexszenen von der Kritik gleichermaßen gelobt und getadelt. Als ostafrikanische Antwort auf Nollywood und Gollywood werden 2005 die Ramon Film Productions aka Wakaliwood in einem Slum von Kampala, der Hauptstadt Ugandas, gegründet. Die mit extrem geringem Budget realisierten Produktionen wie Nabwana Isaac Geoffrey Godfreys (kurz I.G.G.) Who Killed Captain Alex? (2010) sind häufig filmhistorisch gebildete Actionkomödien, die über die globale Bewerbung auf YouTube weltweiten Nachhall gefunden haben. Mit dem Film Roma (2018) kehrt der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón in sein Heimatland zurück. Der Film erzählt von den Geschicken einer bürgerlichen Familie im Colonia-Roma-Viertel von Mexiko City und wird weniger aufgrund seines Gebrauchs anachronistischer Filmtechniken (von Schwarzweißbild zu klassischen Montagefolgen) in die Schlagzeilen gehoben, sondern vielmehr aufgrund der industrieverändernden Tatsache, dass dies ein von Netflix finanzierter Film ist, der den Goldenen Löwen und den Auslands-Oscar (sowie zwei weitere Oscars) gewinnt. Tatsächlich ist das jedoch nur zur Hälfte korrekt: Die Distributionsrechte werden erst knapp zwei Jahre nach Produktionsbeginn von Netflix erworben, entsprechend läuft der Film in etwa so im Kinovertrieb, wie er sonst auch gelaufen wäre. Ungewöhnlich ist indessen die teils parallele <?page no="212"?> 212 Handbuch Filmgeschichte Distribution über Netflix und Kino, welche die neuere Tendenz der Synthese ursprünglich konträr aufgestellter Distributionssysteme voranbringt. Auch für Bird Box , den aktuellen Film der Dänin Susanne Bier (2018), einen postapokalyptischen Horrorfilm über übernatürliche Wesen, deren Anblick Menschen in den Wahnsinn und infolgedessen in den Selbstmord treibt, sichert sich Netflix relativ spät im Produktionsprozess die Distributionsrechte, was sich neben Eigenproduktionen derzeit als eine Art Geschäftsstrategie des Streaming-Anbieters herauskristallisiert. 2010er: Europa ie europäische Tendenz eines Kinos der Peripherie, das in den 2000er- Jahren eine Art Trend darstellte, hat sich im aktuellen Jahrzehnt fortgesetzt. Die Schweizerin Ursula Meier (*1971) hat einen besonderen Blick für die Topologien von Reichtum und Armut, wie es sich in ihren Spielfilmen Home (2008) und L’enfant d’en haut (Winterdieb, 2012) zeigt. Home erzählt die Geschichte einer Familie, die direkt neben einer unvollendeten Autobahn lebt, die jedoch eines Tages überraschend doch in Betrieb genommen wird, während L’enfant d’en haut von einer alleinerziehenden Mutter handelt, deren 12-jähriger Sohn aus ihrem prekären Haushalt mit dem Skilift in die Reichenwelt eines direkt über ihren Köpfen gelegenen Skiressorts fährt, um dort Ausrüstung zu stehlen und weiterzuhehlen. In Lars von Triers Melancholia (2011) wird in zwei deutlich unterschiedenen Teilen die jeweilige Geschichte zweier Schwestern erzählt, während ein Planet namens Melancholia symbolisch aufgeladen mit der Erde zu kollidieren droht. Berühmter als der Film, der sich noch stärker als von Triers frühere Werke durch das Zitieren von Wagner- Opern und Brueghel-Gemälden mit bürgerlicher Hochkultur auseinandersetzt, wird die dazu anberaumte Pressekonferenz von Cannes, in der sich von Trier selbst als Nazi bezeichnet und für ein Jahr von dem Festival ausgeschlossen wird. Sein nächster Film NYMPH()MANIAC setzt den in Melancholia erahnbaren Hang zum Diptychon fort und wird 2014 tatsächlich in zwei Teilen uraufgeführt. NYMPH()MANIAC knüpft sowohl thematisch als auch durch sein Casting (Charlotte Gainsbourg) in vielerlei Hinsicht an Melancholia an. Der Film, der in einer autodiegetischen Nacherzählung das Leben der selbstdiagnostizierten Nymphomanin Joe verhandelt, bildet zugleich den Abschluss der Depressions -Trilogie, die von Trier mit Antichrist 2009 begonnen hat. Sein aktueller Film The House that Jack Built (2018) porträtiert den titulären Serienmörder Jack und seine Taten und nimmt dabei dominant des Mörders Perspektive ein. Eine Verbindung zu der Depressions-Trilogie findet sich in von Triers darin fortgesetztem Anliegen, das logische Nebeneinander von bürgerlicher Kultur und animalischer Blutbzw. Fleischeslust offenzulegen. Er sieht sich zudem als Kommentar auf den in unserer Zeit befremdlich erfolgreich gewordenen „homo trumpus“. In Italien steht die Aufarbeitung der staatlichen und privaten Vergangenheit im Fokus vieler aktueller Filme. Realistische Aufbereitungen der Probleme mit dem organisierten Verbrechen wie Matteo Garrones Gomorrah (2008) oder Paolo Sorrentinos Il Divo (2008) sorgen bereits Ende des Vorjahrzehnts für internationale Aufmerksamkeit. Paolo Sorrentino (*1970) erforscht diesen Impetus der Aufarbeitung auch in seinen aktuellen Filmen - wie der internationalen Koproduktion This Must Be The Place (2011), in dem Sean Penn als der alternde irische Rockstar Cheyenne der Auschwitz-Vergangenheit seines Vaters nachforscht, indem er dessen Peiniger sucht. Für den Nachfolger La Grande Bellezza (2013) gewinnt Sorrentino D <?page no="213"?> 2011 bis 2020 Reboots, Remakes, Franchises: Ewige Reproduktion und Nostalgie-Maschine 213 den Auslands-Oscar. Auch hier geht es um den Rückblick eines alternden Mannes auf sein vergangenes Leben, eine oberflächliche Feier des Dolce Vita der Oberschicht, welcher er anlässlich seines 65. Geburtstages abschwört. Youth - La giovinezza (2015) zieht ebenfalls Verbindungen zur Vergangenheit seiner Protagonisten - und erneut zu Federico Fellini. War La Grande Bellezza eine Art Hommage an dessen La Dolce Vita , reflektiert La giovinezza gewissermaßen die Grundideen von Ottoemezzo 1960er-Jahre). Ein zweiter Trend - neben dem der analytischen Aufbereitung persönlicher wie öffentlicher Lebens- und Staatenschicksale - im zeitgenössischen italienischen Film ist die Auseinandersetzung mit der italienischen Jugend und der mannigfaltigen Ausprägungen ihrer Subkulturen. Viele Filme sind zudem eigenständige Reflexe auf internationale Mainstream-Trends. Luca Guadagnino (*1971) verbindet mit seinem Coming-of-age- Drama Call Me By Your Name (2017) beides, da der Film nicht nur in die aktuelle Coming-of-age-Welle des internationalen Independent-Kinos passt, sondern auch in die populäre 1980er-Stil-Renaissance: Der Film spielt im Jahre 1983. Gabriele Mainettis Lo chiamavano Jeeg Robot (2015, Sie nannten ihn Jeeg Robot) ist eine ungewöhnliche Mangabzw. Anime-Adaption, welche die in der Vorlage skizzierten Subkulturen nicht (wie im Mainstream-Kino oft üblich) marginalisiert, sondern im Zentrum der Erzählung belässt. Daraus entsteht die merkwürdige Verbindung eines surrealistischen Films mit stilistischen Elementen des italienischen B-Movies (giallo, Italowestern) vor der Folie eines Superheldenfilms. Vermutlich nur der Auftakt einer breiteren Welle von Filmen, die sich mit der sogenannten Mittelmeer-Route von Geflüchtetenströmen aus Afrika und dem Nahen Osten auseinandersetzen, ist Gianfranco Rosis vielbeachteter Dokumentarfilm Fuocoammare (2016), der in Berlin den Goldenen Bären gewinnt und das Leben der Anwohner: innen von Lampedusa gegen das Schicksal der Neuankömmlinge montiert und damit der Welle von Reportagen den Versuch eines persönlichen Porträts entgegenstellt. Abdellatif Kechiche (*1960) ist in Frankreich schon länger kein Unbekannter, als er 2013 mit La vie d’Adèle (Blau ist eine warme Farbe) - einer weiteren Coming-of-age- Geschichte zum Thema der sexuellen Identität - einen Welterfolg feiert. Zwar wird die Graphic-Novel-Adaption größtenteils aufgrund ihrer expliziten Sexszenen diskutiert und fälschlich in den Kontext eines neuen Mainstream-Porno-Kinos - neben Fifty Shades of Grey (2015), das ja eben auch eine Farbe im Titel hat - gestellt, wobei jedoch der detailversessene visuelle Stil des Films in den Hintergrund gerät, der ihm die Goldene Palme von Cannes einbringt. Xavier Beauvois‘ (*1967) Historiendrama Des hommes et des dieux (2010, Of Gods and Men) inszeniert die (historische) Situation des friedlichen Zusammenlebens von Christen und Muslimen im Algerien der 1990er- Jahre, bis diese durch einen (terroristischen) Einfluss von außen zerstört wird. 2014 hat er einen weiteren Achtungserfolg mit La Rançon de la gloire (Der Preis des Ruhmes), in dem eine verarmte Patchwork- Familie sich anschickt, den Sarg von Charlie Chaplin zu stehlen, um durch das Lösegeld den eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Das cinéma du corps der Vorjahrzehnte geht an einigen Stellen in eine neue Erotikwelle über, sodass nun in Gaspar Noés Love (2015) und Jean-Luc Godards Adieu au Langage (2014) explizit Körperlichkeit als Kunstgegenstand verhandelt wird. Während Noés Fokus auf Sexualität liegt, widmet sich Godards Cannes-Gewinner auch üblicherweise tabuisierten Körperfunktionen wie dem Stuhlgang. Beide verbindet außerdem, dass sie 3D- Filme sind. Somit adaptieren sie die Technik <?page no="214"?> 214 Handbuch Filmgeschichte für den Kunst- und Experimentalfilmsektor - Adieu au Langage wird von David Bordwell auf seinem Blog gar als bester 3D-Film aller Zeiten geadelt. Wie in Godards Filmen der 1960er-Jahre ist die erzählerische Ausgangssituation geradezu unterkomplex - eine Affäre, in der über Konzepte von Liebe, Identität, Einsamkeit, Loyalität uvm. diskutiert wird. Die Form dominiert jedoch den Inhalt total, sodass der Titel auch als vorangestelltes Motto eines Abschiedes von der Filmsprache verstanden werden kann. Der Essayfilm ist hochgradig komplex und verhandelt quasi en passant Themen wie Tierrechte, den Einfluss des Zweiten Weltkriegs auf die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts oder die Konsequenzen der Kolonialzeit für das kulturelle Bewusstsein der involvierten Nationen. Adieu au Langage ist auch eine Apotheose der Filme des späten Godard von seinen komplexen Montagen der Histoire(s) du cinéma (1988-1998) bis hin zu Film socialisme (2010). Godards bis dato jüngster Film Le livre d’image (2018) folgt ähnlichen formalästhetischen Grundlagen, verzichtet jedoch auf die 3D-Inszenierung und etabliert stattdessen einen Kommentar auf die multimedialen Möglichkeiten des Filmemachens in Zeiten von Smartphone und Mikrokamera sowie die daraus entstehende politische Verantwortung jede: r einzelnen Amateur-Filmemacher: in. Ein letzter Gruß aus Frankreich: Das Comeback des Niederländers Paul Verhoeven ( RoboCop , Basic Instinct etc.) wird mit Elle (2016) zu einem zeitgemäßen, formalen und inhaltlichen Triumph. Isabelle Huppert spielt eine Frau, die in ihrer Wohnung von einem Unbekannten vergewaltigt wird; sie geht jedoch aufgrund ihrer negativen Vorerfahrungen (ihr Vater ist ein verurteilter Serienmörder) nicht zur Polizei. Der Täter meldet sich weiterhin anonym bei ihr und setzt sie emotional unter Druck, bis sie ihn stellt und herausfindet, wer er ist - die beiden gehen eine Beziehung ein, die zwischen Gewalttat und gegenseitigem Einvernehmen pendelt, wodurch Verhoeven einerseits das Verhältnis von Sexualität und Gewalt auf kontroverse Weise reflektiert, andererseits zugleich zur zeitgenössischen Diskussion der katastrophalen kulturellen Auswirkungen einer patriarchal dominierten rape culture beiträgt. Auch Shame , entstanden 2011 unter der Regie des Briten Steve McQueen (*1969), reiht sich in den Trend einer Neuverhandlung von Sexualität, Fetisch und Obsession im Angesicht einer immer stärker sexualisierten Medienkultur ein - der Film handelt von zwei Geschwistern, die unter Sexabhängigkeit (er) und Abhängigkeit von externer Wertschätzung (sie) leiden. Ansonsten tritt McQueen eher als politischer Auteur in Erscheinung: Hunger (2008) schmückt die historische Situation um den berühmten Hungerstreik von IRA-Gefangenen in einem britischen Gefängnis im Jahre 1976 aus, während der Oscar-Gewinner 12 Years a Slave die Memoiren eines früheren afroamerikanischen Sklaven inszeniert. Mit dem Heist-Movie Widows (2018) hat sich McQueen dem Unterhaltungskino zugewandt, verzichtet dabei jedoch nicht gänzlich auf sozialkritische Untertöne. Andrea Arnold springt 2011 für das Finale der zwischenzeitlich regisseur: innenlosen Literaturadaption Wuthering Heights ein und prägt den Film mit ihrem visuellen Stil, sodass insbesondere die Inszenierung in der Kritik hervorgehoben wird. Wuthering Heights ist einer der meistadaptierten Romane der Filmgeschichte: Der Titel von Emily Brontë wurde unter anderem von William Wyler (1939), Luis Bunuel (1954) und Jacques Rivette (1985) adaptiert. Mit American Honey (2016) dreht auch Arnold einen Newcoming-of-age-Film über eine Teenagerin, die vor den desaströsen Umständen in ihrem eigenen Zuhause davonläuft und sich einer <?page no="215"?> 2011 bis 2020 Reboots, Remakes, Franchises: Ewige Reproduktion und Nostalgie-Maschine 215 Gruppe Drifter anschließt, die durch den mittleren Westen der USA reist. Ken Loach beendet seine Karriere 2014, um zwei Jahre später mit I, Daniel Blake (2016) erneut die Goldene Palme zu gewinnen. Der Film ist wie eine Zusammenfassung von Loachs Hauptanliegen: das drastische Porträt einer Arbeiterklassen-Familie, die unter den katastrophalen Zuständen des britischen Gesundheitssystems für Geringverdiener- : innen ebenso leidet wie unter den miserablen Jobchancen. Er endet mit einer Rede des toten Daniel Blake, die auf seiner Billig- Beerdigung von seiner Frau verlesen wird, und die all seine Wut gegenüber dem System zum Ausdruck bringt. Von konservativer Seite - insbesondere der Boulevard-Zeitschrift The Sun - wird seit 2007 eine Art Gegenlesart etabliert, die das metonymisch broken Britain genannte Prekariat des Landes für seine eigene Misere verantwortlich zeichnet. Die nichtsnutzigen, Hoodie tragenden Arbeiter: innen (manchmal deshalb auch vereinfacht selbst als „Hoodies“ bezeichnet) führten zum Verfall von Kultur und Arbeitsethos im Lande. Ein Zyklus von zeitgenössischen Horrorfilmen um die Jahrzehntwende greift diese Argumentation diskursiv auf - wie James Watkins’ Eden Lake (2008) oder Philip Ridleys Heartless (2009), Paul Andrew Williams’ Cherry Tree Lane (2010) oder Johannes Roberts’ F (2010) - und verhandelt damit die Äquivalenz des Armen mit dem Monströsen vor der Folie des Übernatürlichen. Der künstlerische Erfolg dieser Kombination bleibt international kein Geheimnis, sodass ein vergleichbares Revival des US-Horrorfilms hiermit bereits vorweggenommen wird. Die generelle Politisierung des Mainstream- Films - nicht nur im Horror-Genre - spiegelt sich auch in Aki Kaurismäkis zwei jüngsten Filmen wider: In der Komödie Le Havre (2011) verhandelt er die Freundschaft eines ehemaligen Autors, der aktuell als Schuhputzer arbeitet, mit einem illegal in Frankreich lebenden geflüchteten Kind. Toivon tuolla puolen (2017, The Other Side of Hope), nach Kaurismäkis Angaben sein letzter Film, aber man sieht anhand von Ken Loach, was solche Aussagen bisweilen wert sind, handelt von der Ankunft illegaler Geflüchteter in Helsinki, deren Wege diejenigen eines wohlsituierten finnischen Restaurantbesitzers kreuzen, der glaubte, ernsthafte Probleme zu haben, bis er mit den Bedingungen und Bedrohungen, denen Menschen im Zuge der Migration ausgesetzt sind, konfrontiert wird. 2010er: USA n den USA sorgt der Erfolg von James Camerons Avatar (2009) für eine kurze Blüte des zweiten Zeitalters des 3D-Films. 2008 sind es noch acht 3D-Filme , die in die Kinos kommen, 2009 bereits 20, 2010 sind es 26 und 2011 ganze 45. Dieser Wert hat sich bis heute in etwa eingependelt; die Einnahmen, die mit 3D durch höhere Ticketpreise zu erzielen sind, lassen aber seit dem Boomjahr 2010 allmählich nach. Dies beschleunigt auch die Digitalisierung des Films allgemein, da viele Lichtspielhäuser umgerüstet werden müssen, um die aktuellen Blockbuster überhaupt zeigen zu können. Die Erneuerung von analog auf digital geht häufig mit dem Anschaffen von 3D-Equipment einher. Paramount ist 2013 das erste Studio, das komplett auf digitale Filme umstellt - Anchorman 2 ist deren letzter Film auf Film, Martin Scorseses The Wolf of Wall Street indessen ihr erster reiner Digitalfilm. Peter Jackson setzt mit seiner zweiten Tolkien-Trilogie, diesmal basierend auf The Hobbit (ab 2012), vor allem technische Maßstäbe. Die Filme sind nicht nur 3D-Filme, sondern verwenden eine verdoppelte Frame- I <?page no="216"?> 216 Handbuch Filmgeschichte rate von 48 fps - gegenüber bislang üblichen 24. Der oft kolportierte Rückgang der Filmindustrie ist derweil nur teilweise eine korrekte Darstellung der Ereignisse: Die Verluste liegen im Bereich von sechs Prozent, sodass insgesamt noch problemlos mit Eintrittspreisen nachjustiert werden kann. Es gehen weniger Menschen ins Kino und mehr Menschen in immer weniger Filme - seit 2012 wird es daher parallel zum allgemeinen leichten Rückgang üblich, dass die größten Filme des Jahres Beträge im Milliardenbereich einspielen. Mit Barry Jenkins (*1979), Jordan Peele (*1979), Ryan Coogler (*1986) und Ava DuVernay (*1972) betritt eine neue Generation von afroamerikanischen Regisseur: innen die Bildfläche, die anders als ihre oft noch ausgegrenzten Vorgänger: innen fest im Mainstream etabliert ist. Coogler dreht 2018 den Marvel-Film Black Panther ab und Ava DuVernay verantwortet im selben Jahr den Disney-Film A Wrinkle in Time , wodurch die beiden Top-Blockbuster des Jahres erstmals in der Filmgeschichte von zwei Afroamerikaner: innen vorgelegt werden. Jenkins und Peele sind derweil die wiedererkennbareren Filmemacher. Mit Moonlight (2016) ist Jenkins erst der vierte afroamerikanische Regisseur, der in der Kategorie „bester Film“ für einen Oscar nominiert wird und der erste, der ihn gewinnt. Zugleich ist Moonlight der erste LGBTQ-Film, der einen Oscar gewinnt. Sein Nebendarsteller Mahershala Ali ist der erste muslimische Schauspieler, der einen Oscar gewinnt. Und Moonlight ist der erste „beste Film“ ohne ein einziges „weißes“ Cast-Mitglied. Wer das nur als Reaktion auf den #OscarsSoWhite -Hashtag des Vorjahres liest, verkennt die enormen filmischen Qualitäten von Jenkins’ Mainstream-Debüt. Sein nächster Film, die James-Baldwin- Adaption If Beale Street Could Talk (2018), erhält vergleichbare Kritiken, wodurch sich Jenkins jetzt schon als einer der wichtigsten studionahen Auteurs in Hollywood etabliert hat. Apropos studionahe Auteurs: Alejandro González Iñárritu gewinnt 2014 und 2015 zwei Mal nacheinander den Oscar für die beste Regie - für den hochgradig selbstreflexiven und formal verspielten Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance) (2014) sowie den bildgewaltigen The Revenant (2015). Sein Landsmann Guillermo del Toro bleibt dem fantastischen Film - sowie seinem Hang für ausgetüftelte mise en scènes - treu und hat mit Pacific Rim (2013) einen großen kommerziellen und mit The Shape of Water (2017) einen riesigen Kritiker: innen-Erfolg, durchaus vergleichbar mit Birdman und The Revenant . Diese beiden Protagonisten der mexikanischen neuen Welle im frühen 21. Jahrhundert sind somit endgültig in Hollywood angekommen. Wie in den 1930er-Jahren und in den 1990er- Jahren feiert sich Hollywood aktuell wieder gern selbst - autopoietische Titel wie The Artist (2011, Michel Hazanavicius), ein Stummfilm mit metareflexivem Tonfilm- Ende, Argo (2012, Ben Affleck), ein Historiendrama über als Filmemacher getarnte CIA-Agenten im Trubel der iranischen Revolution im Jahre 1979, der erwähnte Birdman oder auch La La Land (2016, Damien Chazelle) sind sichere Oscar-Kandidaten. Die Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter ist auch in der Wiederbelebung klassischer Genres - insbesondere des Musicals und des Western - sichtbar. Mit Damien Chazelle (*1985) sei ein weiterer Studio-Regisseur genannt, der mit Whiplash (2014) und La La Land (2016) gleich zwei große Inszenierungs- und Kritiker: innenerfolge vorzuweisen hat. Auch wenn seine Filme - insbesondere Whiplash - aus gesellschaftskritischer Perspektive oft Fragen offenlassen, liegt seine Überwälti- <?page no="217"?> 2011 bis 2020 Reboots, Remakes, Franchises: Ewige Reproduktion und Nostalgie-Maschine 217 gungsästhetik deutlich im Trend der Zeit. Zu zeigen, was technisch möglich ist, kann natürlich auch als Anliegen eines Hollywood- Systems gedeutet werden, das sich wünscht, sich in einem goldenen Zeitalter zu befinden. Chazelles Filme sind in ihrer Rückwärtsgewandtheit zudem nicht gerade allein. Auch sein aktueller Film First Man (2018) bedient einerseits die aktuell wieder extrem gestiegene Nachfrage nach Biopics sowie andererseits die wiedergekehrte Vorliebe für große nationale Erzählungen, indem er Neil Armstrongs Geschichte bis zur und inklusive der Apollo-11-Mission dramatisiert. Große Erfolge hat auch der stets unkonventionelle Filmideen verfolgende Ex-Independent- Regisseur David O. Russell (*1958) in den 2010er-Jahren vorzuweisen. Hervorzuheben sind das Sportlerdrama The Fighter (2010), die psychologische Neo-RomCom Silver Linings Playbook (2012) sowie der Kostüm- oder besser noch Frisurenfilm American Hustle von 2013. Martin Scorsese kehrt nach einer kleineren Durststrecke der mittleren Erfolge durch das Hong-Kong-Remake The Departed (2006), den psychologischen Thriller Shutter Island (2010) und das Post-Wirtschaftskrisen- Lamento The Wolf of Wall Street (2013) auf die ganz große Bühne zurück. Alle drei Filme folgen zwar virulenten Trends der Zeit, implementieren jedoch Scorseses dominanten Personalstil in der Schauspieler: innenleitung ( The Departed ), visueller Innovation und filmgeschichtlicher Tiefe ( Shutter Island ) und der ihm eigenen Spielart des epischen persönlichen Dramas ( The Wolf of Wall Street , vgl. besonders Goodfellas ). Der Däne Nicholas Winding Refn (*1970) setzt sich derweil nicht nachhaltig im Mainstream fest; seine extremen Stilisierungen und Gewaltdarstellungen bringen ihm nur zwischenzeitlich Erfolge ein. Drive (2011) ist dennoch ein idealtypisches Beispiel für eine frühe Stil-Rezeption der 1980er-Jahre in jener Dekade, was den Soundtrack sowie die visuellen Elemente angeht. Der Film ist inspiriert vom Neo-noir-Stil der 1980er, insbesondere aber dem Werk von Michael Mann ( Thief , aber auch Miami Vice ) und John Carpenter ( Escape from New York ). Auch der Horrorfilm blickt sehnsüchtig in Richtung der 1980er-Jahre zurück, findet dabei jedoch eine eigene neue Begeisterung für das Psychologische ( It Follows , 2014, David Robert Mitchell; The Conjuring , 2013, James Wan; Australien: The Babadook , 2014, Jennifer Kent) und das Gesellschaftliche ( The Witch , 2015, Robert Eggers) - oder beides zugleich ( Get Out , 2017, Jordan Peele). Damit kommen wir auch mit Verzögerung auf Jordan Peele zurück, der in Get Out systemischen und kognitiven Rassismus innerhalb eines Horrorfilms diskutiert und damit eine dezidiert afroamerikanische Perspektive in den Crossover- Mainstream bringt. Auch der Science-Fiction-Film ist in der Nachfolge von Avatar und Chrisopher Nolans Inception (2010) wieder ein lukratives Genre. Alfonso Cuaróns Gravity (2013) ist ebenso ein Erfolg wie Nolans Interstellar (2014). Nolan ist nicht der einzige Exilbrite unter den Science-Fiction-Reformern: David Bowies Sohn Duncan Jones (*1971) dreht das Science-Fiction-Kammerspiel Moon (2009) in der Nachfolge des Mindfuck-Trends der frühen 2000er-Jahre, und Alex Garland (*1970) hat mit Ex Machina (2014), einem weiteren Kammerspiel, einen großen Achtungserfolg, ehe er mit Annihilation (2018) wie viele andere Science-Fiction-Filme der vergangenen Dekaden (z. B. Contact , Interstellar ) melodramatische Aspekte verfolgt. Jones und Garland knüpfen ebenso wie Nolan bei Kubricks 2001 an und stellen damit den Menschen wieder stärker ins Zentrum der philosophischen Disposition des Genres. <?page no="218"?> 218 Handbuch Filmgeschichte Angelagert an den Science-Fiction-Film sind etliche Darstellungen übertechnisierter Gesellschaften, die oft nur marginal in der Zukunft angesiedelt sind: Neben Ex Machina wären Spike Jonzes Her (2013) und Terry Gilliams The Zero Theorem (2013) zu erwähnen, während Black Mirror die Idee für das Fernsehen serialisiert und dabei die totgeglaubte Anthologieserie wieder stärker popularisiert. Auch der derzeit populäre Diskurs über Künstliche Intelligenz wird von etlichen der genannten Filme mit aufgegriffen, was ebenfalls die These eines vorherrschenden human turn in der Science-Fiction des 21. Jahrhunderts bekräftigt. Im ganz breiten Mainstream aber regieren Franchises, und das mehr denn je. Das Marvel Expanded Universe wird ausgeschlachtet, Reboots, Remakes und Late Sequels sind an der Tagesordnung. Dabei werden im Sinne des Kapitalismus unversöhnliche Serien schlichtweg miteinander verbandelt, und niemand protestiert: Star Wars (2015) und Star Trek (2009) werden beide (! ) vom selben Regisseur J.J. Abrams (*1966) rebootet, was nur zwei Dekaden zuvor undenkbar gewesen wäre. Die Zyklen werden zudem kurzlebiger: Die Tomb Raider -Franchise erfindet sich alle paar Jahre neu und die neue Filmadaption basiert schon wieder auf einer vollständig anderen Franchise als die letzte. Mad Max: Fury Road (2015, George Miller), Tron: Legacy (2010, Joseph Kosinski) und Blade Runner 2049 (2017, Denis Villeneuve) sind Beispiele für genannte späte Sequels, die neue crossmediale Franchises etablieren sollen. Im semikommerziellen Bereich wird 2012 das große Jahr der Kickstarterbzw. allgemein Crowdfunding-Kampagnen, und selbst Filme werden teilweise fan(ko)finanziert. Diese Feedback-Schleife findet sich in der Quadratwurzel auch im System selbst wieder: Die movie brats des 21. Jahrhunderts sind Franchise-Fans der 1980er- Jahre, die nunmehr als Fans „ihre“ Franchises wiederbeleben dürfen - J.J. Abrams gehört dazu, aber auch Damon Lindelof (*1973) oder Colin Trevorrow (*1976). Es ist dementsprechend nicht unüblich, dass Regisseure sich als Fans der Franchise zu erkennen geben - wie Lindelof bei Prometheus oder Villeneuve bei Blade Runner 2049 . Nicht selten ist die Franchise zudem der Zugang, das Trittbrett zum Hollywood- System - der erwähnte Kanadier Denis Villeneuve (*1967) nutzt seinen Blade Runner - Auftrag, um nunmehr Dune nachzuschieben (2021), dabei ist er vorher durch vielbeachtete Filme wie Sicario (2015) und Arrival (2016) eigentlich in eine eigenständigere Richtung unterwegs gewesen. Das US-Kino der 2010er-Jahre ist jedoch nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch von etlichen Umbrüchen geschüttelt. Da wäre einerseits der Celluloid Ceiling Report, der zwar seit 1998 in Auftrag gegeben wird, aber in den letzten Jahren erhöhte mediale Aufmerksamkeit erfahren hat. Er misst den Anteil von Frauen an der Filmproduktion in den Top-100-, Top-250- und Top-500-Filmen eines jeweiligen Jahres. Dabei geht es um kommerzielle Einnahmen, also gewissermaßen indirekt um die ökonomische Macht von Frauen im Filmgeschäft. Auch Direktvergleiche von Spitzenverdiensten sind Teil des Reports. Vergleicht man die bestbezahlten Schauspieler des jeweiligen Jahres mit ihren weiblichen Pendants, fallen regelmäßig Unterschiede von mindestens 20 bis 30 Millionen ins Auge. Dabei hat sich nicht viel getan: 2011 ist der bestbezahlte Mann im Business Leonardo Di Caprio mit 77 Millionen gegenüber Angelina Jolie mit 30. 2018 ist zwar ein Extremfall, dessen Drastik jedoch zeigt, dass sich nicht viel verändert haben kann: George Clooney verdient in jenem Jahr 239 Millionen Dollar gegenüber Scarlett Johanssons dagegen fast bescheiden wirkenden 40,5 Millionen: knapp das Sechsfache. Auch der Altersunterschied fällt dabei ins Gewicht: Clooney ist 58 Jahre alt, Johansson 34 - <?page no="219"?> 2011 bis 2020 Reboots, Remakes, Franchises: Ewige Reproduktion und Nostalgie-Maschine 219 Schauspielerinnen verlieren jedoch tendenziell im Alter an ‚Marktwert‘, wovon Schauspieler weniger stark bis gar nicht betroffen sind. Zwei Hashtags stehen zudem repräsentativ für zentrale Umbrüche in der Dekade. Einerseits das bereits erwähnte #OscarsSoWhite , das von Journalist: innen und am Film Beteiligten angesichts des Line-ups der Oscarverleihung 2015 verwendet wird, um auf den Mangel an Diversität darin hinzuweisen. #OscarsSoWhite ist indirekt als gutes Zeichen zu werten, da die mediale Öffentlichkeit den Organisator: innen ein solches line-up nicht mehr ohne Weiteres durchgehen lässt. Das Medienecho führt entsprechend zu deutlichen Umstrukturierungen. Ein positiver Aspekt der Oscarvergabe in den 2010er- Jahren wird durch den inoffiziellen Slogan „Oscars so niche“ betont: Anders als in den vergangenen Dekaden gewinnt selten der Film mit den besten Einspielergebnissen; stattdessen ein deutlich geringerer Erfolg, dem gesellschaftliche und/ oder künstlerische Bedeutung beigemessen wird. Als noch potenter erweist sich fortwährend der Hashtag #MeToo , der seit etwa Oktober 2017 dazu genutzt wird, auf sexuelle Belästigung und damit einhergehenden Machtmissbrauch insbesondere am Arbeitsplatz hinzuweisen. Popularisiert wird der Hashtag unter anderem durch Beispiele aus der Filmbranche. Insbesondere eine Reihe derartiger Anzeigen gegenüber Harvey Weinstein sorgt für weitreichende Konsequenzen für den Produzenten. Auch Schauspieler wie Kevin Spacey oder Comedians wie Louis C.K. werden im Zuge dessen als Täter benannt, was sich in fast allen Fällen auch auf die Karriere oder den Status der Beschuldigten auswirkt. Wenngleich #MeToo auch kritische Stimmen hervorgerufen hat, ist die Wirkung der Bewegung nicht zu leugnen - nicht nur die Verhältnisse haben sich bereits punktuell dadurch verändert, sondern insbesondere die Sensibilität für Konstellationen, die derartige Strukturen begünstigen. 2017 erscheint mit Wonder Woman unter der Regie von Patty Jenkins, die vormals durch Monster (2003) berühmt geworden ist, und wird vielmals als Erfolg für die neo- oder postfeministische Kritik am Hollywood- System verbucht. Tatsächlich ist dies vielleicht etwas hoch gegriffen, aber mit seiner Regisseurin und seiner titelgebenden Superheldin ist Wonder Woman mit Sicherheit ein weiterer kleiner Schritt in die richtige Richtung. Nicht nur gesellschaftliche Veränderungen im Studiosystem werden zukunftsprägend für das Kino der 2020er-Jahre sein, sondern auch technische. Wir befinden uns längst im Zeitalter des On-demand-Streamings , das eine erneute und die vielleicht bislang größte Herausforderung für Film und Fernsehen darstellt. Hollywood hat die Zeichen der Zeit jedoch früh erkannt und das Klagelied der Filmproduzent: innen muss immer auch im Kontext der crossmedialen Erweiterungen gesehen werden, die das Studiosystem zugleich zukunftsfähig machen. Im September 2011 ist Hollywood sehr früh mit dem Wechsel auf punktuelle Distribution über Video on Demand. Das Home-premiere-Konzept besteht aus einem Deal von vier Major-Studios, die ausgewählte Titel zuerst für den Hausgebrauch herausgeben. Zwar ist dies nicht viel mehr als eine aufgemotzte Variante von direct-to-video- oder -DVD-Strukturen, jedoch sind die damit verbundenen production values sicher auch ein Resultat der Schlachtrufe seitens HBO und Co. seit der Jahrtausendwende. Umgekehrt greifen die Streaming -Anbieter und digitalen Multi-Konglomerate immer stärker ins Filmgeschäft ein. Netflix produziert 2015 Spike Lees Chi-Raq (2015) und Cary Joji Fukunagas Anti-Kriegsfilm Beasts of No Nation (2015). Amazon Studios kofi- <?page no="220"?> 220 Handbuch Filmgeschichte nanziert den bereits im Vorhinein aufgrund seines Regisseurs Kenneth Lonergan hoch gehandelten Manchester by the Sea (2016). Oft steigen beide in eine Art bidding war gegen Ende der Produktionsphase ein, um Filme zu erwerben, die offensichtlich einen künstlerischen und kommerziellen Wert besitzen, jedoch einen Mangel an Unterstützung seitens ihres Studios aufweisen. Auch auf die Gepflogenheiten der Award- Vergaben schlägt sich dieses Kaufverhalten früh nieder: 2017 erhält Netflix bereits den ersten Oscar für den Sportdokumentarfilm Icarus (Bryan Fogel). Parallel dazu setzt sich eine Merger-Welle fort, deren Ende nur schwer abzusehen ist: 2012 kauft Disney für über 4 Milliarden Dollar Lucasfilm, 2019 für 71 Milliarden 21st Century Fox. Damit gehören die Simpsons nunmehr Disney - ein ähnliches ‚Ding der Unmöglichkeit‘ aus früheren Zeiten wie die Zusammenführung von Star Trek und Star Wars unter einem Regie-Hut. NBCUniversal ist jedoch bei alledem nicht untätig und kauft 2016 DreamWorks für den Preis von knapp 4 Milliarden US-Dollar. Zumindest das System selbst wird bald nicht mehr die Oligopolie des goldenen Zeitalters widerspiegeln, sondern womöglich bald nur noch von den neuen big two regiert werden. Und bei all dem Retro-, Franchise-, Consumer-Oriented-, Corporate-Identity-Wahn der aktuellen Dekade ist vielleicht Peter Jacksons aktuelle technische Innovation - die totale Aktualisierung von dokumentarischem Material für einen Kompilationsfilm - mit ihrem sprechenden Titel am besten geeignet, um das kommerzielle Anliegen des Hollywood- Systems gegenüber seinem Publikum als Slogan zu formulieren. In aller Kürze: They Shall Not Grow Old . <?page no="221"?> 2011 bis 2020 Reboots, Remakes, Franchises: Ewige Reproduktion und Nostalgie-Maschine 221 Wichtige Stichwörter des Jahrzehnts reboot „Es kann […] argumentiert werden, dass ein Film-Remake ein einzelner Text ist, der in ein in sich geschlossenes Erzählschema eingebunden ist, wohingegen ein Reboot versucht, eine Reihe von Filmen zu fälschen, um ein neues Franchise aus der Asche eines alten oder gescheiterten Eigentums zu beginnen. Mit anderen Worten, ein Remake ist eine Neuinterpretation eines Films; ein Reboot startet eine Reihe von Filmen neu, die die Gültigkeit ihres Vorgängers verleugnen und irrelevant erscheinen lassen sollen.“ (William Proctor, Regeneration & Rebirth: Anatomy of the Franchise Reboot , 2012, 4) transmedia storytelling „In den 2000er Jahren entstehen innovative Formen von narrativen Erweiterungen, die unter dem Begriff transmedia storytelling zusammengefasst wurden und den Anwendungsbereich einer Fernsehserie auf eine Reihe anderer Medien ausweiten, von Videospielen über Puzzles bis hin zu Büchern und Blogs.“ (Jason Mittell, Strategies of Storytelling on Transmedia Television , 2014, 253) Jan-Oliver Decker zeigt sich mit Jenkins‘ Lesart nicht zufrieden und kritisiert, dass der Begriff Transmedialität oft zu weit gefasst wird - er findet, dass gut erforschte Phänomene wie Serialität, Intertextualität und Intermedialität nicht als transmedial zu betrachten sind, da sich daraus kein zusätzlicher methodischer oder theoretischer Wert ergibt. Er schlägt stattdessen vor, Transmedialität als eine spezifische - intermediale - Form der Multimodalität zu definieren: Während Multimodalität auf einen einzigen medialen Kontext reduziert werden kann, überschreitet Transmedialität die medialen Grenzen mit dem gleichen Effekt. (Jan-Oliver Decker, Transmediales Erzählen , 2016, 146-148) Das vierte Zeitalter des 3D-Films „Die vierte Ära des stereoskopischen Kinos ist die des digitalen 3D-Kinos. Sie begann offiziell am 4. November 2005 mit der Veröffentlichung von Chicken Little in 3D in 84 3D-Kinos und in 2.500 2D-Kinos. 3-D-Filme haben maßgeblich zur Verbreitung des digitalen Kinos in den Kinos beigetragen, und mit dem digitalen 3-D-Kino und seine durchdachten neuen stereographischen Techniken, die vor allem für computergenerierte 3-D-Filme verwendet werden, ist das stereoskopische Kino zu neuen Höhen der bildenden und erzählerischen Kunst angeregt worden. Diese künstlerischen Techniken, die Individuen, die an ihrer Entstehung beteiligt sind, und die allmählich zunehmende Anzahl digitaler Kinos, die zur 3-D- Projektion fähig sind, […] [kulminieren in] einem Wendepunkt für das stereoskopische Kino [...]: der Veröffentlichung von James Camerons Avatar am 15. Dezember 2009.“ (Ray Zone, 3-D Revolution , 2012, 2f) <?page no="222"?> 222 Handbuch Filmgeschichte Drei Filme aus dieser Dekade, die Sie gesehen haben sollten Filmtipp Toni Erdmann » Regie: Maren Ade » Land | Jahr: D/ Ö | 2016 Eine brillante Dekonstruktion deutscher Peinlichkeitsdiskurse gepaart mit einem Generationenkonflikt einer neoliberalen Overachieverin mit ihrem Alt-68er-Clown- Vater. Filmtipp Karera ga honki de amu toki wa » Regie: Naoko Ogigami » Land | Jahr: J | 2017 Ein Familienporträt, das althergebrachte Genderzuweisungen herausfordert und negiert, inszeniert im bunten, magischrealistischen Stil einer Regisseurin, die es verdient hätte, bekannter zu sein. Filmtipp Bamui haebyun-eoseo honja » Regie: Hong Sang-Soo » Land | Jahr: SKR | 2017 Ein Brückenschlag von Südkorea nach Norddeutschland, der Hongs bewährte Formel einerseits reproduziert, andererseits jedoch wieder einmal neu erfindet - so wie es bei seinen Filmen schon Usus ist. <?page no="223"?> Websites, die Sie kennen sollten https: / / www.imdb.com International Movie Database | größte Online-Datenbank zum Thema Film https: / / www.allmovie.com All Movie Guide | redaktionell betreute Datenbank mit eigenen Rezensionen, Überblicksartikeln u. v. m. https: / / www.critic.de/ Critic.de | aktuelle Filmkritiken auf Deutsch, die ausformulierten Leitsätzen und hohen Standards verpflichtet sind https: / / www.cargo-film.de/ cargo · Zeitschrift für Film, Medien und Kultur | hier versammeln sich - wie auf critic.de - einige der interessantesten deutschsprachigen Autor: innen, um über Film zu reüssieren https: / / www.rottentomatoes.com Rotten Tomatoes | Datenbank für einen schnellen Überblick zu Filmrezensionen https: / / www.filmsite.org filmsite · The Greatest Films | Liebesarbeit des Filmhistorikers Tim Dirks mit endlos viel Lesestoff https: / / www.metacritic.com Metacritic | ein weiteres Nachschlagewerk für Kritiker: innen-Meinungen https: / / filmlexikon.uni-kiel.de Lexikon der Filmbegriffe | größtes Online-Lexikon zum Nachschlagen von Filmbegriffen https: / / www.nachdemfilm.de/ Nach dem Film | Onlinepublikation mit filmtheoretischem Fundament, die zum Nachdenken anregt http: / / www.rabbiteye.de/ Rabbit Eye · Zeitschrift für Filmforschung | Filmwissenschaftliches E-Journal mit thematischen Ausgaben <?page no="225"?> Literatur Abel, Richard (1998) The Ciné goes to Town. 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Lexington: University Press of Kentucky. <?page no="229"?> Filme und Personen ... reitet für Deutschland 97 ¡Átame! 168 1 - 10 10 Things I Hate About You 181 12 Monkeys 182 12 Years a Slave 214 2001 139, 217 A Space Odyssey 139 21 Grams 196 23 - Nichts ist so wie es scheint 183 27 Missing Kisses 167 3: 10 to Yuma 191 3 hommes et un couffin 165 4 luni, 3 saptamâni si 2 zile 202 4 mosche di velluto grigio 153 42nd Street 86 5 Against the House 116 8 femmes 200 8½ 134, 153 9 River Street 116 9 Songs 193 A À bout de Souffle 124, 133 A Clockwork Orange 148, 149 A Day in the Life of Willie Faust, or Death on the Installment Plan 146 A Hard Day’s Night 135 À nos amours 165 À nous la liberté 91 À peine j’ouvre les yeux 209 A Taste of Honey 135 A Wedding 148 A Woman’s Error 68 A Zed & Two Noughts 166 Abgeschminkt! 183 Abrams, J.J. 218 Abschied 132 Abschied von Gestern 131 Absolute Giganten 198 Accatone 135 Acres, Brit 26 Adaptation 191 Ade, Maren 198, 222 Adieu au Langage 213, 214 Adlon, Percy 163 Ae Fond Kiss… 201 Aelita 70 Afgrunden 35, 40 Afolayans, Kunle 193 Agitki 69 Aguirre, der Zorn Gottes 151 Ah-ga-ssi 211 Air Force One 179 Aiye 156 Ajani-Ogun 155 Akerman, Chantal 146, 158 Akin, Fatih 197 Al Midan 209 Aladdin 182 Aleksandr Nevskiy 92 Alfred Hitchcock Presents 116, 169 Alice Doesn’t Live Here Anymore 148 Alice in den Städten 151 Alien 170, 177 All About Eve 116 All Quiet on the Western Front 86, 88 All That Heaven Allows 115 Alle anderen 199 Allen, Woody 148, 191 Almanya - Willkommen in Deutschland 207 Almodóvar, Pedro 168 Altman, Robert 148 Am Tag als der Regen kam 118 Amadi 155 Amanece, que no es poco 168 Amatas, Jeta 193 Amélie 177 America 66 American Beauty 181 American Graffiti 149 <?page no="230"?> 230 Handbuch Filmgeschichte American Hustle 217 American Pie 190 Amores perros 196 Amy Muller 19 An Angel at My Table 179 Anatomie de l’enfer 200 Anatomy of a Murder 111 Anchiporuno 210 Anchorman 2 215 Anchorman: The Legend of Ron Burgundy 190 Anders als die Anderen 62 Anderson, Lindsay 125 Anderson, Wes 192 Andrej Rubljow 138 Angel Heart 180 Animation 36 Anna Boleyn 62 Annaud, Jean-Jacques 165 Annie Hall 169 Annie Oakley 19 Annihilation 217 Antichrist 202, 212 Antonioni, Michelangelo 136 Aparajito 123 Apocalypse Now 148, 150 Apollo 13 179 Apur Sansar 123 Araki, Gregg 175 Araromire 193, 194 Arbuckle, Roscoe „Fatty“ 49 Argentos, Dario 134 Argo 216 Ariel 178 Arigatô-san 82, 94 Arirang 76 Arizona Dream 178 Armageddon 179 Arnold, Andrea 201, 206 Aronofsky, Darren 193 Arrival 218 Arslan, Thomas 198 Ascenseur pour l’échafaud 124 Assault on Precinct 13 169 Assayas, Olivier 177 Atlantic 87 Atlantic City, USA 165 Atlantis 54, 59 Attenborough, Richard 166 Auf der anderen Seite 197 Auf der Sonnenseite 132 Aus dem Nichts 208 Avatar 190, 191, 215, 217 Âvâz-e gonjeshk-hâ 209 Avery, Frederick Bean „Tex“ 85 Awara 122 Ayodhyecha Raja 82 B Bab al-Hadid 123, 127 Babel 196 Back to the Future 169 Badlands 148 Ballermann 6 183 Balogun, Ola 155 Bam gua Nat 195 Bamui haebyun-eoseo honja 211, 222 Bananas 148 Bandits 183 Barbara 208 Barbarella 124 Barry Lyndon 149 Barrymore, Drew 169 Barton Fink 182 Basic Instinct 214 Batman 182, 191 Batman Begins 191 Bâton Rouge 164 Batoru Rowaiaru 194 Battle Royale 194 Baumbach, Noah 181 Bavas, Mario 134 Bazin, André 124 Beasts of No Nation 219 Beauty and the Beast 182 Beauvois, Xavier 213 Before Sunrise 181 Begum, Fatma 75 Being John Malkovich 181 Bekolo, Jean-Pierre 184 Bellon, Yannick 165 Beneix, Jean-Jacques 164 <?page no="231"?> Filme und Personen 231 Ben-Hur 115 Beresford, Bruce 162 Bergman, Ingmar 136 Bergman, Ingrid 102 Berlin 64 Berlin, Ecke Schönhauser 132 Berliner Hochbahnkatastrophe 40 Besson, Luc 164 Betty Boop 85 Beyer, Frank 132 Bhatavdekar, Harishchandra Sakharam 27 Bielinskys, Fabián 196 Bier, Susanne 177, 201 Big 179 Bigelow, Kathryn 191 Bildnis einer Trinkerin 162 Billy Elliot 176 Bint el Nil 76 Bird Box 212 Birdman 216 Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance) 216 Bismarck 96 Black Mirror 218 Black Panther 216 Black Swan 193 Blackmail 90 Blacktons James Stuart 36 Blacula 146 Blade Runner 169, 173 Blade Runner 2049 218 Blindness 196 Blom, August 59 Blood Simple 170 Blow Out 170 Blow up 136 Blue 166 Blue Scar 100, 109 Blue Steel 179 Blue Velvet 170 Blutendes Deutschland, Das junge Deutschland marschiert 88 Board of Censorship 39 Bodas de Sangre 168 Body Double 170 Bonnie & Clyde 117, 138 Bonny, Jan 208 Böttchers, Jürgen 132 Bouchareb, Rachid 164 Bouzid, Nouri 159 Bouzids, Leyla 209 Bow, Clara 67 Boyle, Danny 176 Boys N the Hood 180 Braveheart 181 Brazil 166 Breaking Bad 193 Breaking The Waves 177 Breillat, Catherine 200 Broadway Melody of 1938 86 Brødre 201 Brokeback Mountain 193 Bronenosec „Potëmkin“ 70 Brooks, Richard 117 Buck, Detlev 183 Bujalskis, Andrew 192 Bulbul-e-Paristan 75 Bürgschaft für ein Jahr 164 Burnett, Charles 145 C C’era una volta il West 134 Cabin in the Sky 104 Cabiria 55 Cadaveri Eccellenti 153 Call Me By Your Name 213 Camelot 138, 139 Cameron, James 170, 191 Cammell, Donald 154 Campion, Jane 179 Cannibal Ferox 167 Cannibal Holocaust 167 Caravaggio 166 Carax, Leo 164 Carlito’s Way 179, 188 Carmen 168 Carousel 116 Carows, Heiner 152 Carpenter, John 169 Carrie 149 Casino 179 Cassavetes, John 139 <?page no="232"?> 232 Handbuch Filmgeschichte Casualties of War 170 Céline et Julie vont en bateau 153 Central do Brasil 185 Cet obscur objet du désir 154 Chabrol, Claude 124, 132 Chahine, Youssef 127 Chan, Jackie 155 Chan-wook, Park 195, 211 Chaplin, Charles 49 Chappaqua 139 Charef, Mehdi 164 Chariots of Fire 165 Chasing Amy 180 Chazelle, Damien 216 Chéreau, Patrice 200 Cherry Tree Lane 215 Chicago 191 Children of Men 196 Chinese Boxer 155 Chi-Raq 219 Chronique d’un été 134 Chung Hing sam lam 184 Chungking Express 188 Cidade de Deus 196 Ciminos, Michael 150 Cinderella 25 cinéma du corps 202 Citizen Kane 102 City Lights 85 Clair, René 91 Clark, Larry 180 Clarke, Shirley 170 Cléo de 5 à 7 133 Cleopatra 138 Cleopatra Jones 146 Close Encounters of the Third Kind 150 Clueless 181 Coen, Ethan 170 Coen, Joel 170 Cohl, Émile 36, 44 Coixet, Isabel 203 Con Air 179 Contact 217 Coogan’s Bluff 139 Coogler, Ryan 216 Coppola, Frances Ford 149 Coppola, Sofia 191 Corbett-Fitzsimmons Fight 20 Correas, Eduardo, Jimeno 27 Costner, Kevin 181 Craigie, Jill 109 Criss Cross 104 Crna macka, beli macor 178 Crocodile Dundee 162 Cronenberg, David 170 Cuarón, Alfonso 196 Cul-de-Sac 136 Culkin, Macaulay 169 Cum mi- D D.O.A. 103, 116 Dahong Denglong Gaogaogua 161 Dalu 83 Damages 193 Dancer in the Dark 177 Dances With Wolves 181 Dante’s Peak 179 Dardenne, Jean-Pierre 200 Dardenne, Luc 200 Dark Star 169 Das blaue Licht 89 Das Boot 163 Das Brot der frühen Jahre 130 Das Cabinet des Dr. Caligari 64, 67 Das ewige Spiel 119 Das Fahrrad 164 Das Flötenkonzert von Sanssouci 89 Das Gespenst 162 Das Gift im Weibe 62 Das indische Grabmal 62 Das Lächeln einer Sommernacht 136 Das Leben der Anderen 197 Das Liebesglück der Blinden 51 Das siebente Siegel 136 Das Superweib 182 Das Testament des Dr. Mabuse 89 Das Wachsfigurenkabinett 65 Das weiße Band, Eine deutsche Kindergeschichte 200 Das Wunder der Liebe 130 <?page no="233"?> Filme und Personen 233 Dash, Julie 145, 158 Daughters in the Dust 180 Davenport, Dorothy 68 Daydream Therapy 146 Days of Heaven 148 De Palma, Brian 148, 188 De Sica, Vittorio 100, 109 Dead of Night 100 Dead Poets Society 162 Deadlock 152 Deadwood 193 Dean, James 114 Death of a Salesman 210 Death Proof 192 del Toro, Guillermo 196 Delicatessen 177 Deliver us from Evil 204 DeMille, Cecil B. 46, 49 Demme, Jonathan 170 Den eneste ene 177 Deppe, Hans 118 Depression 201, 212 Der amerikanische Freund 151 Der Andere 51 Der Baader Meinhof Komplex 197 Der bewegte Mann 182 Der blaue Engel 88 Der Brandstifter 87 Der Campus 182 Der dritte Mann 98, 102 Der ewige Jude 97 Der Fall Gleiwitz 132 Der freie Wille 198 Der Frosch mit der Maske 129 Der Führer schenkt den Juden eine Stadt 97 Der geteilte Himmel 132 Der goldene Handschuh 208 Der Golem 51 Der Golem, wie er in die Welt kam 65 Der große König 96 Der junge Törless 131 Der letzte Mann 52, 63 Der müde Tod 65 Der nackte Mann auf dem Sportplatz 152 Der Name der Rose 165 Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach 150 Der schöne Tag 198 Der Sieg des Glaubens 89 Der Stand der Dinge 162 Der Stolz der Firma: Die Geschichte eines Lehrlings 52 Der Student von Prag 51 Der Totentanz 50 Der Totmacher 183 Der Untergang 197 Der Untertan 120 Der Wald vor lauter Bäumen 199 Der weiße Hai 149 Deren, Maya 104 Derki, Talal 208 Des hommes et des dieux 213 Det bli’r i familien 177 Détective 165 Detour 109 Deutschland im Herbst 151 Di Leo, Fenando 153 Dial M for Murder 113 Dick Tracy 178 Dickson, William Kennedy Laurie 18 Die Abenteuer des Prinzen Achmed 64 Die Austernprinzessin 52, 62 Die Bergkatze 62 Die Bettwurst 151 Die bleierne Zeit 162 Die Buntkarierten 120 Die drei von der Tankstelle 90 Die Drei von der Tankstelle 88 Die Ehe der Maria Braun 151 Die Entlassung 96 Die Firma heiratet: Drei Kapitel aus dem Leben einer Probiermamsell 52 Die Fremde 207 Die freudlose Gasse 63 Die Halbstarken 118 Die Hard 170 Die innere Sicherheit 198 Die Kaiserflottenparade von Helgoland 40 Die Katze 163 Die Landstraße 51 Die Legende von Paul und Paula 152 Die Mörder sind unter uns 98 Die Nibelungen 63 Die Puppe 62 <?page no="234"?> 234 Handbuch Filmgeschichte Die Ratten 117 Die Rothschilds 97 Die Sehnsucht der Veronika Voss 162 Die Straße 63 Die Sünden der Väter 50 Die unendliche Geschichte 163 Die Wahrheit 41 Die weiße Sklavin 62 Die zappelnde Leinwand 52 Diegues, Carlos 141 Dietl, Helmut 183 Dietrich, Marlene 88 Dirty Harry 193 Disney, Walt 105 Djordjadze, Nana 167 Dni Zatmenija 167 Do the Right Thing 170 Dogme 95 176 Dogville 201 Don’t Look Now 154 Donnie Darko 180 Dont Look Back 140 Dörrie, Doris 163 dos Santos, Nelson Pereira 141 Down By Law 171 Dr. Jekyll & Mr. Hyde 86 Dr. Mabuse, der Spieler 63 Dr. No 135 Dr. Strangelove, or: How I learned to stop worrying and love the bomb 139 Dracula 86 Dragnet 116 Dragotis, Stan 168 Drei amerikanische LPs 132 Drei gegen drei 163 Drei von vielen 132 Dresden 197 Dresen, Andreas 197 Dressed to Kill 149 Drew, Robert 140 Drive 217 Drive-In Movie Theatres 140 Driving Miss Daisy 162 Drowning By Numbers 167 Dude, where’s my Car? 190 Duel 149 Duel in the Sun 114 Dulac, Germaine 72, 79 Dune 218 Dupont, Ewald André 79 Duske, Alfred 40 DuVernay, Ava 216 E E.T. 169 Earth 185, 188 Eastman, George 17 Eastwood, Clint 193 Easy Rider 139, 148 Ed Sullivan Show 112 Ed Wood 182 Edel, Uli 197 Eden Lake 215 Edison, Thomas Alva 18 Efter brylluppet 201 Egypte Panorama des rives du Nil 25 Ehe im Schatten 120 Ein Freund von mir 198 Ein ganz gewöhnlicher Jude 198 Eisenstein, Sergei 69 Él 111 El amor brujo 168 El Dorado 72 El hijo de la novia 196 El laberinto del fauno 196 Element of Crime 176 Elemente 185 Elemente-Trilogie 188 Eliso 71 Elle 214 Elmer Gantry 117 Emannuelle e gli ultimi cannibali 167 Emilia Galotti 120 Emma Mae 146 Emmerich, Roland 163 En Familie 201 Enamorada 95 Enjô 122 Entr’acte 91 Epidemic 176 Er ist wieder da 208 Erste Liebe 51 <?page no="235"?> Filme und Personen 235 Es geschah am hellichten Tag 119 Escamotage d’une dame chez Robert-Houdin 25 Escape from New York 169, 217 Eternal Sunshine of the Spotless Mind 191 Europa 176 Europa, Europa 183 Europa-Trilogie 176 Ex Machina 217, 218 Exils 165 Exodus 111 Explosion of a Motor Car 26 F F 215 Faa yeung nin wa 184 Faat Kiné 194 Face/ Off 179 Fack ju, Göhte 207 Fahrenheit 451 136 Falsche Bewegung 151 Fanaka, Jamaa 145 Fantasmagorie 36, 44 Fantômas 53 Fargo 182, 193 Farhadis, Ashgar 209 Farocki, Harun 183 Fashions for Women 86 Fassbinder, Rainer Werner 131, 151 Fatal Attraction 168 Fear and Loathing in Las Vegas 182 Fejös, Pál 79 Fellini, Frederico 124, 144 Fernández Emilio „El Indio“ 95 Ferris Bueller’s Day Off 169 Festen 176 Feu Mathias Pascal 72 Feuchtgebiete 208 Feuillade, Louis 33 Fifty Shades of Grey 213 Fight Club 180, 181 Film noir 176 Film ohne Titel 98 Film socialisme 214 Film von der Königin Luise 50 Final Destination 190 Fincher, David 180 Finding Nemo 193 Fire 185 Fire! 34, 35 Fireman 36 First Man 217 Fischer Christensen, Pernille 201 Fish Tank 201, 206 Fitzcarraldo 162 Flags from our Fathers 193 Flames of Wrath 68 Flickorna 136 Flowers and Trees 85 Fontane Effi Briest 151 Foolish Wives 66 Forman, Miloš 137, 139 Forrest Gump 178 Forušande 209 Fotografie 15 Four Weddings and a Funeral 176 Foxy Brown 146 Franchise 190 Frankenheimer, John 117 Frankenstein 86 Fräulein Seifenschaum 52 Frears, Stephen 166 Fred Ott’s Sneeze 19 Frenzy 154 Freud flyttar hemifrån 177 Friends with Money 191 Frontière(s) 199 Fucking Åmål 202 Fulci, Lucio 153 Fuller, Samuel 116 Funny Games 178 Funny Games US 208 Funny Ha Ha 192 Fuocoammare 213 G Gad, Urban 35 Gallipoli 162 Game of Thrones 193 Gance, Abel 72 Gandhi 166 <?page no="236"?> 236 Handbuch Filmgeschichte Garbo, Greta 74 Gardin, Vladimir 68 Garland, Alex 217 Garrones Gomorrah 212 Gatlifs, Tony 165 Gaumont, Léon 25 Gegen die Wand 197 Geld 163 Gerima, Haile 145 Germain 53 Germania anno zero 98 Germans, Aleksej 167 Gerster, Jan-Ole 208 Gerwig, Greta 192 Gespenster 198 Get Out 217 Ghost in the Shell 185 Ghostbusters 170 Giallo 153 Gibson, Mel 181 Gilliam, Terry 166 Gimme Shelter 147 Girls 193 Gist, Eloyce King Patrick 68 Giulietta degli Spiriti 135, 144 Gladiator 191 Go Trabi Go 182 Goban Tadanobu 42 Godard, Jean-Luc 144 Godard, Luc 133 Gold Diggers of 1933 86 Gollywood 184 Gondry, Michel 191 Gone with the Wind 86, 101, 102 González Iñárritu, Alejandro 196 Good Bye Lenin! 197 Good Morning, Eve! 85, 94 Good Will Hunting 182 Goodfellas 179, 217 Gordon. Michael 115 Gösta Berlings Saga 74 Graf, Dominik 163 Gran Torino 193 Gravity 196, 217 Greed 66 Greenaway, Peter 166 Greetings 139, 148 Grier, Pam 146 Griffith, David Wark 38, 46, 48 Grisebach, Valeska 198 Große Freiheit 97 Grün ist die Heide 118 Guadagnino, Luca 213 Guess Who’s Coming to Dinner 115 Gummo 180 Gun Crazy 116 Güney, Yilmaz 156, 158 Gunsundari 82 Günther, Egon 132 Guy, Alice 24, 32, 44 Gyakufunsha kazoku 210 H Habla con ella 204 Haebyonui yoin 195 Hævnen 201 Hahaha 195 Hair 139 Halbe Treppe 197 Hall, Annie 149 Halloween 169 Hallyu 195 Halt auf freier Strecke 208 Hand of God 204 Haneke, Michael 178 Hannah Arendt 209 Hanyo 140 Hanzo 156 Haowei, Wang 161 Happiness 180 Happy Birthday, Türke! 183 Harakiri 62 Harry Potter 190, 196 Hasret 156 Hassan, Alusta 123 Haute Tension 199 Häxan 73 Haynes, Todd 175 He Got Game 180 He Walked By Night 103 Heartless 215 Heat 179 Heaven’s Gate 150 <?page no="237"?> Filme und Personen 237 Heavenly Creatures 178 Heimat 90 Heimkehr 97 Heißes Blut 50 Helga - Vom Werden des menschlichen Lebens 129 Hell Bound Train 68 Hellboy 196 Heller Wahn 163 Helm, Brigitte 63 Henckel von Donnersmarck, Florian 197 Henning, Hanna 51 Hepworths, Cecil 26 Her 218 Herz aus Glas 151 Herzog, Werner 151 Hi De Ho 104 High Hopes 166 High School Musical 190 Highway Dragnet 113 Hill Street Blues 168 Hiroshima Mon Amour 133 Histoires du cinéma 214 Hitchcock, Alfred 90, 116, 127, 154 Hitler über Deutschland 88 Hitlerjunge Quex 89 Hitlerjunge Salomon 183 Hochhäusler, Christoph 198 Holland, Agnieszka 183 Holofcener, Nicole 191 Home 212 Home Alone 169 Home of the Brave 190 Homunculus 53 Hong Gaoliang 161 Hongkong 155, 183 Honnouji gassen 42 Hopper, Dennis 139 Hörig bis zur letzten Sünde 152 Hosoyam, Kiyomatsu 74 Hostel 190 House of Wax 113 Huang tudi 160 Hughes, John 169 Huillet, Danièlle 131 Human Wreckage 68 Hunger 214 Hyänen der Lust 62 I I Bambini ci guardano 100 I basilischi 135 I, Daniel Blake 215 Ibn Al-Nil 123 Icarus 220 Ich küsse Ihre Hand, Madame 87 Ich war neunzehn 132 Idioterne 177 If Beale Street Could Talk 216 If… 135 Ikiru 121, 127 Il Caimano 203 Il Divo 212 Im Banne des Schweigens 51 Im Juli 197 Im Lauf der Zeit 151 Imitation of Life 115 Imperium 208 In Bruges 192 Inazuma 121 Inception 192, 217 Independence Day 179 Indiana Jones 169 Ingeborg Holm 54, 59 Inglorious Basterds 192 Interiors 149 Interstellar 217 Intimacy 200 Intolerance 48, 49 Irma Vep 177 Irréversible 200 Ishii, Sogo 155 It 67 It Follows 217 It Happened One Night 86 Italien 34 Ivanovo Detstvo 138 Ivanovskij, Aleksandr 70 J J’accuse 72 Jackie Brown 179 <?page no="238"?> 238 Handbuch Filmgeschichte Jacob’s Ladder 180 Jaider - Der einsame Jäger 150 Jakob der Lügner 152 James Bond-Reihe 135 Jamón Jamón 168 Jarman, Derek 166 Jarmusch, Jim 170 Jaws 149, 150, 170 Je vous salue Marie 165 Jeanne Dielman, 23, quai du commerce, 1080 Bruxelles 146, 158 Jenkins, Barry 216 Jeunet, Jean-Pierre 177 Ji-geum-eun-mat-go-geu-ddae-neun-teul-lida 211 - Johanna d’Arc of Mongolia 162 Joint Security Area 195 Jones, Duncan 217 Jonze, Spike 191 Joon-ho, Bong 195, 211 Jour de fête 133 Jud Süß 97, 120 Juha 178 Julien, Isaac 175 Jungfrukällan 136 Jurassic Park 178, 181 K Kabale und Liebe 120 Kaferi am khatiatak 76 Kagemusha 161 Kaige, Chen 160 Kak ya provyol etim letom 203 Kakushi-toride no san-akunin 121 Kameradschaft 88 Kämpfende Herzen 62 Kansas City Confidential 116 Kaplan, Nelly 165 Kapoor, Raj 122 Karera ga honki de amu toki wa 210, 222 Karina, Anna 133 Karlson, Phil 116 Karmakar, Romuald 183 Karniggels 183 Kar-Wai, Wong 183 Kauas pilvet karkaavat 178 Kaufman, Charlie 191 Kaurismäki, Aki 178 Kawase, Naomi 194, 206 Keaton, Joseph Frank (Buster) 67 Kechiche, Abdellatif 213 Kes 135 Khane-ye doust kodjast? 160 Kiarostami, Abbas 160 Ki-Duk, Kim 195 Kieslowski, Krzysztof 177 Kill Bill 192 Kinderstars 169 Kin-dza-dza! 167 King Kong 87 King Lear 161 Kinugasa, Teinosuke 74 Kirsten, Ralf 132 Kishibe no tabi 195 Kitano, Takeshi 185 Ki-young, Kim 140 Klein, Gerhard 132 Klick, Roland 152 Kluge, Alexander 130 Knallhart 183 Kolberg 98 Konets Sankt-Peterburga 70 Kongi’s Harvest 155 Kopfstand, Madam! 131 Korine, Harmony 180 Körkarlen 73 Kriegerin 208 Kubrick, Stanley 149 Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? 88 Kuleshov, Lev 68 Kumawood 184 Kurihara, Kiyomatsu 74 Kurosawa, Akira 127 Kurosawa, Kiyoshi 195 Kurosawas, Akira 121 Kurys, Diane 165 Kusturica, Emir 178 Kvarteret Korpen 136 Kyôya Erimise 74 <?page no="239"?> Filme und Personen 239 L L’affaire Dreyfus 25 L’âge d’or 73 L’amour nu 165 L’année dernière à Marienbad 133 L’argent 72 L’arrivée d’un train en gare 29 L’arrivée d’un train en gare de la Ciotat 23, 24 L’arroseur arrosé 23 L’Assassinat du Duc de Guise 33 L’Atalante 91, 94 L’avventura 136 L’Eau du Nil 91 L’écran francais 103 L’enfant 200 L’enfant d’en haut 212 L’Enfant de Paris 53 L’Herbier, Marcel 72 L’inhumaine 72 L’ours 165 L’uccello dalle piume di cristallo 134 L’une chante, l’autre pas 153 La bête humaine 91 La Caduta de Troia 35 La Chute de la Maison Usher 73 La Cigarette 72 La Coquille et le Clergyman 72 La Cucaracha 85 La Dolce Vita 134, 213 La Fée aux Choux 24 La femme nue 72 La fiancée du pirate 165 La Gare Saint-Lazare 24 La giovinezza 213 La Grande Bellezza 212, 213 La grande illusion 91 La guerre du feu 165 La Haine 177 La La Land 216 La madriguera 137 La mala educación 204 La mort du soleil 72, 79 La naissance, la vie et la mort 44 La naissance, la vie et la mort de notreseigneur Jésus-Christ 33 La Noire de… 141 La notte 136 La nuit américaine 153 La Passion de Jeanne d’Arc 72 La Rançon de la gloire 213 La règle du jeu 91 La Roue 72 La Rue sans Nom 91 La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon (Arbeiter verlassen die Fabrik) 23 La stanza del figlio 203 La Strada 111, 124 La Terra Trema 100 La teta asustada 196 La triche 165 La vida secreta de las palabras 204 Ladri di biciclette 100 Laila 76 Land des Schweigens und der Dunkelheit 151 Lang, Fritz 62 Lao Jing 161 Lara Croft Tomb Raider 192 Larkin, Alile Sharon 145 Lásky jedné plavovlásky 137 Lat sau san taam 183 Late Show 183 Lawrence of Arabia 138 Lawrence, Florance 38 Le Beau Serge 132 Le bled 72 Le bonheur 133 Le charme discret de la bourgeoisie 154 Le cheval emballé 32 Le Collier de la Reine 91 Le Corbeau 99 Le dernier métro 165 Le fantôme de la liberté 154 Le Havre 215 Le livre d’image 214 Le mépris 133 Le Million 91 Le miracle des loups 72 Le Pont Du Nord 173 Le Prince, Louis Aimé Augustin 29 Le Roman d’un Mousse 53 <?page no="240"?> 240 Handbuch Filmgeschichte Le Signe du Lion 133 Le thé au harem d’Archimède 164 Le tournoi 72 Le voyage dans la lune 31, 32, 35 Leacock, Richard 140 Lee, Bruce 155 Lee, Spike 170 Leigh, Mike 166 Lenzi, Umberto 153 Les 400 Coups 132, 133 Les Carabiniers 144 Les enfants du désordre 165 Les enfants du Paradis 99 Les noces rouges 153 Les Trois Mousquetaires 53 Les Vampires 53, 177 Les victimes de l’alcoolisme 32 Let Me Dream Again 27 Letters from Iwo Jima 193 Li, Gong 161 Lichter 197 Liebe ist kälter als der Tod 131 Life of an American Fireman 35, 44 Lights of New York 83 Lilja-4-ever 202 Limbo 181 Linda 68 Lindelof, Damon 218 Lisztomania 154 Little Big Man 148 Little Caesar 86 Little Mermaid 182 Living in Bondage 184 Lloyd, Harold 49 Lo chiamavano Jeeg Robot 213 Loach, Ken 135, 201 LOL 192 Lola rennt 183 Lone Star 181 Lonesome 79 Look Back in Anger 125 Looking for Eric 201 Lord of the Rings 191 Los Olvidados 96 Lost Highway 180 Lost in Translation 191 Lotna 125 Loulou 165 Love 213 Love and Death 149 Løvejagten 35 Lovely & Amazing 191 Lubitsch, Ernst 51 Lucas, George 149 Lucky Ghost 104 Lucky Luciano 153 Lumière d’été 99 Lumière, Auguste und Louis 23, 29 Luna, Bigas 168 Lynch, David 170 Lynd, Laurie 175 Lynes, Adrian 168 M M 88 M*A*S*H 139, 148 Mabu 140 Mack, Roy 94 Mad Max 162, 169 Fury Road 218 Madame Dubarry 62 Mädchen in Uniform 118 Madeinusa 196 Madeo 195 Maetzig, Kurt 120 Mahler 154 Mahlzeiten 131 Main de fer 53 Majidi, Majid 209 Malcolm X 180 Male and Female 49 Malle, Louis 124 Mamajiwala, Gohar 82 Mamma Mia! 191 Mammoth 202 Manbiki kazoku 210 Manchester by the Sea 220 Mandabi 141 Manga 161, 210 Mangiati vivi! 167 Manhattan 149 Manhattan Cocktail 86 Manhunter 171 <?page no="241"?> Filme und Personen 241 Mankiewicz, Joseph L. 115 Mann, Michael 171 Mannen som elsket Yngve 202 Männer 163, 183 Manta, Manta 183 Marey, Étienne Jules 17 Marie Antoinette 191 Mark of the Vampire 86 Married to the Mob 170 Mars Attacks! 182 Marseille 198 Martyrs 199 Mary Poppins 138 Match Point 191 May, Elaine 148 McCabe & Mrs. Miller 148 McQueen, Steve 214 McTeague 66 McTiernans, John 170 Mean Streets 149 Mehta, Deepa 185, 188 Meirelles, Fernando 196 Melancholia 212 Méliès, Georges 25 Melodie der Welt 87 Melodie des Herzens 88 Melville, Jean-Pierre 124 Memento 191 Memories of Murder 195 Menschen am Sonntag 64 Menschen untereinander. Acht Akte aus einem interessanten Hause 64 Meredyth, Bess 68 Meshes in the Afternoon 104 Messter, Oskar 39 Mest’ kinematograficheskogo operatora 55, 59 Metropolis 63, 67 Miami Vice 217 Midnight in Paris 191 Mies vailla menneisyyttä 202 Miéville, Anne-Marie 153 Mihaileanu, Radu 202 Mikey and Nicky 148 Milano calibro 9 153 Milchwald 198 Milk 175 Milkyway Image 184 Miller’s Crossing 170 Million Dollar Baby 193 mindgame 180 Miss Zombie 210 Mission Impossible 179 Mitte Ende August 198 Miyazaki, Hayao 161 Mizoguchi, Kenji 74 Mo’ Better Blues 170 Modern Times 85 Mogari no mori 194, 206 Mohammad Rasulollah 209 Mojili Mumbai 76 Molinaro, Édouard 124 Momma Don’t Allow 125 Mononoke-hime 161 Monsieur-Hulot-Filme 133 Monster 219 Monster’s Ball 190 Montag kommen die Fenster 199 Moolaadé 194, 206 Moon 217 Moonlight 216 Moreau. Jeanne 133 Moretti, Nanni 203 Morin, Edgar 134 Morricone, Ennio 134 Moulin Rouge 191 Mr. Jealousy 181 Mr. Mom 168 Mujeres al borde de un ataque de nervios 168 Mungiu, Cristian 202 Murnau, Friedrich Wilhelm 63 Musik, Musik und nur Musik 119 Mutter 51 Muybridge, Edward (Eadweard) 17 My Beautiful Laundrette 166 My Dinner With Andre 165 My Fair Lady 116, 138 My Own Private Idaho 175 Mystery Train 171 <?page no="242"?> 242 Handbuch Filmgeschichte Mystic River 193 N Naânaâs, Farès 209 Nach fünf im Urwald 183 Nachts auf den Straßen 117 Nachts wenn der Teufel kam 117 Nagarik 122 Nanayomachi 195 Napoléon 72 Nashville 148 National Lampoon 169 Natural Born Killers 179 Neelakuyil 122 Neuen Dänisches Drama 177 New Hollywood 150 new queer cinema 166 New York, New York 149 Nichol, Mike 139 Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt 151 Nicht versöhnt 131 Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht 131 Nielsen, Asta 35 Nièpce, Joseph Nicéphore 16 Nigeria 76 Nightmare 116 Nights and Weekends 192 Nine 191 No Country For Old Men 191 No Way Out 115, 163 Noé, Gaspar 199 Non si sevizia un paperino 153 Nord 202 North by Northwest 116 Nosferatu 65 Nosferatu: Phantom der Nacht 151 Nostalghia 167 Not Wanted 113 Nuanxin, Zhang 161 Nueva reinas 196 Nuit et bruillard 133 Numéro deux 153 Nuovo Cinema Paradiso 167 NYMPH()MANIAC 212 O Obaltan 140 Of Fathers and Sons - Die Kinder des Kalifats 208 Ogigami, Naoko 210, 222 Ogunde, Hubert 155 Oh Boy 208 Ohm Krüger 97 Okja 211 Ökten, Zeki 156 Oktjabr 71 Oldboy 195, 211 Olsen, Ole 35 Olympia in zwei Teilen - Fest der Völker, Fest der Schönheit 89 Ômori, Kazuki 155 One from the Heart 150 Onwurah, Ngozi 184 Opus 1 64 Orlacs Hände 65 Orlando 176 Ornette Made in America 170 Orphans of the Storm 66 Oshii, Mamoru 185 Ôshima, Nagisa 155 Ossessione 100 Oswald, Richard 62 Oswalt Kolle: Deine Frau, das unbekannte Wesen 130 Otets Sergiy 56 Ottinger, Ulrike 162 Ottoemezzo 213 Out 1, noli me tangere 139, 153 Out of Chaos 100 Out of Rosenheim 163 Ozon, François 200 Ozu, Yasujirô 81 P Pabst, Georg Wilhelm 63 Pacific Rim 216 <?page no="243"?> Filme und Personen 243 Painting With Light 103 Paisà 100 Palaver 76 Pans Labyrinth 196 Panther 180 Paranormal Activity 190 Paris nous appartient 133 Pasolini, Pier Paolo 135 Passion 165 Pastronem Giovanni 35 Pathé, Charles 25 Pather Panchali 122 Paul, Robert William 26 Peckinpah, Sam 121 Peele, Jordan 216 Pennebaker, DA 140 Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón 168 Per un pugno di dollari 134 Performance 154 Persona non grata 137 Petersen, Wolfgang 163 Petzold, Christian 198 Phalke, Dhundiraj Govind „Dadasaheb“ 56 Pi 193 Pialat, Maurice 165 Pickup on South Street 116 Piel. Harry 50 Pierrot le Fou 133 Pillow Talk 115 Pink String and Sealing Wax 100 pinku eiga 154 Pippa Passes 39 Pirates of the Caribbean 191 Plan 9 from Outer Space 114 Planes 169 Planet der Affen 148 Planet Terror 192 Platoon 170 Playtime 134 Please Give 191 Pohland, Hansjürgen 130 Point Break 179 Poison 176 Poitier, Sidney 115 Pokolenie 125 Polanski, Roman 136 Poliziottesco 153 Popeye 85 Popogrebski, Alexei 203 Pornocratie 200 Porten, Henny 40, 51 Porten, Rosa 51 Porter, Edwin S. 44 Porter, Edwin Stanton 35 Post-Kalter-Kriegs-Optimismus 175 Potter, Sally 176 Prénom Carmen 165 Pretty Baby 165 Prometheus 218 Protazanov, Yakov 56 Providence 153 Psycho 116, 182 Pudovkin, Vsevolod 70 Pull My Daisy 114 Pulp Fiction 179 Q Qabl Zahmet El Seif 209 Quartier Mozart 184 Questa volta parliamo di uomini 135 Quo Vadis? 115, 138 R Radford, Michael 169 Raging Bull 149 Raising Arizona 170 Raja Harischandra 56 Ran 161 Rashômon 121 Ray, Satyajit 122 Rear Window 116 Rebecca 101, 102 Rebel Without A Cause 118 Red Dragon 171 Red Kimona 68 Red Road 201 Reiko no wakare 74 Reiniger, Lotte 64 Reisz, Karel 125 Reitman, Ivan 170 Reitz, Edgar 130 <?page no="244"?> 244 Handbuch Filmgeschichte Rentaneko 210 Repulsion 136 Requiem 197 Requiem for a Dream 193 Rescued by Rover 34 Reservoir Dogs 179 Resident Evil 192 Resnais, Alain 133 Resurrection 177 Return to Horror High 169 Rêve et Realité 27 Richardson, Tony 125 Riddles of the Sphinx 147 Riefenstahl, Leni 89 Rien à faire 177 Rih Al-Sadd 159 Ringu 186 Rio Bravo 114 Riso Amaro 100 Rivette, Jacques 124, 133, 173 Robinzoniada, anu chemi ingliseli Papa 167 RoboCop 169, 214 Roeg, Nicolas 154 Rogers St. Johns, Adela 68 Rohmer, Éric 124, 133 Roma 211 Roma violenta 153 Roma, città aperta 100 Romero, George 169 Rook, Conrad 139 Rosa Luxemburg 163, 209 Rosalie Goes Shopping 163 Rosetta 200 Rosi, Francesco 153 Rossini, oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief 183 Rough Sea at Dover 26 Route Irish 201 Rübezahls Hochzeit 51 Running Out Of Time 184 Russell, David O. 217 Russell, Ken 136 Russian Ark 208 Russkiy kovcheg 203 Ruttmann, Walter 64 Ryu san 210 S SABU 210 Safa’ih min dhahab 159 Safety Last 67 Saibogeujiman kwenchana 195 Salesman 140 Salles, Walter 185 Sammy and Rosie Get Laid 166 Sanbul 141 Sandow the Bodybuilder 19 Sang-Soo, Hong 195, 211, 222 Sans toit ni loi 173 Såsom i en spegel 136 Saturday Night and Sunday Morning 125 Saura, Carlos 137 Saute Ma Ville 146 Saving Private Ryan 181 Saw 190 Sayles, John 181 Scarface 86, 170 Schamoni, Peter 130 Schanelec, Angela 198 Schindler’s List 181 Schipper, Sebastian 198 Schläfer 199 Schlöndorff, Volker 131 Schmid, Hans-Christian 183, 197 Schmidt, Evelyn 164 Schneider, Romy 118 School Daze 170 Schtonk 183 Schuhpalast Pinkus 52 Schwarzes Blut 50 Sciuscià 100, 109 Scorsese, Martin 149 Scott, Ridley 169, 173 Scream 181 screwball comedys 86 Se7en 180 Sedmikrásky 137, 144 Sehnsucht 199 Sei donne per l’assassino 134 Sei no Kagayaki 57 Seif, Salah Abou 123 Selznick, David O. 101 Sembène, Ousmane 141, 206 <?page no="245"?> Filme und Personen 245 Sen to Chihiro no kamikakushi 161 Senegal 141 Seom 195 Serreau, Colline 165 Service with a Smile 85 Seul contre tous 199 Sex and the City 181, 193 Sex Crimes and the Vatican 204 Sex, Lies, and Videotape 180 Shabab imra 123 Shaft 146 Shame 214 Shane 114 Shantaram, V. 82 Shaou 161 She’s Gotta Have It 170 Shekvarebuli kulinaris ataserti retsepti 167 Sherlock jr. 67 Shichinin no Samurai 121 Shields, Brooke 169 Shimizu, Hiroshi 82, 94 Short Cuts 179 Showtime 170 Shri 122 Shutter Island 217 Shyamalan, M. Night 180 Sicario 218 Sie tötete in Extase 152 Siegel, Don 139 Silentium 204 Silver Linings Playbook 217 Simpsons 101, 220 Sinfonie der Großtadt 64 Singin’ in the Rain 115 Singleton, John 180 Sinn und Industrie (Studie der Filmgeschichte) 31 Sirk, Douglas 115 Sissi 118 Sissi-Trilogie 118 Sisters 149 Sisters in Cinema 193 Sixteen Candles 169 Sjöström, Victor 54, 59 Skladanowsky, Emil 22 Skladanowsky, Max 22 Slacker 181 Sleepless in Seattle 179 Smultronstället 136 Snatch 192 Snow White and the Seven Dwarfs 85 Snowpiercer 211 Soderbergh, Steven 180 Softporno 210 Sokolov, Ippolit 70 Sokurov, Aleksandr 167 Sokurov, Aleksandr 203 Solaris 167 Solo Sunny 152 Solondz, Todd 180 Something Wild 170 Sommarnattens leende 136 Sommer vorm Balkon 197 Son Frère 200 Son of Ingagi 104 Sonnenallee 197 Sono otoko, kyoubou ni tsuki 185 Sono, Sion 210 Soo-yong, Kim 141 Sophie Scholl - Die letzten Tage 197 Souders, Theresa „Tressie“ 68 Soul Kitchen 198 Sous les toits de Paris 91 Soylent Green 148 Spartacus 111 Speed 179 Spider-Man 191 Spielberg, Steven 149 Sprengung eines Fabrikschornsteins 40 Spur der Steine 132 St. Elsewhere 168 Stagecoach 85 Stalker 167 Star Trek 218, 220 Star Wars 121, 149, 150, 169, 218, 220 Star Wars Episode I: The Phantom Menace 178 Stardust Memories 149 Starman 169 Steamboat Willie 85 Steiner, Max 87 <?page no="246"?> 246 Handbuch Filmgeschichte Sterne 121 Stockinger, Waltraud 130 Stone, Oliver 170 Stormy Weather 104 Story of Film 32, 36 Strange Days 179 Stranger Than Paradise 170 Strangers on a Train 116 Straßenfilm 63 Straub, Jean-Marie 131 Stroszek 151 Subway 164 Sugarland Express 149 Sundance 180 Sunrise 66 Super Fly 146 Super Mario Bros. 192 Superbad 190 Supermarkt 152 Supernasen 163 Suspense 49, 116 Svilova, Elizaveta 69 Swanberg, Joe 192 Sweet Sixteen 201 Sweet Sweetback’s Baadasssss Song 146 Swimming Pool 200 Synecdoche, NY 192 T Tag der Freiheit - unsere Wehrmacht 89 Tagebuch einer Verlorenen 63 Takechi, Tetsuji 154 Tango 32 Tarantino, Quentin 179, 180 Tarkowskij, Andrej 138 Tati, Jacques 133 Tatort 129 Taxi Driver 148, 149 Teenage Caveman 113 Tender Mercies 162 Teorema 135 Terminator 2 - Judgment Day 181 Tessari, Duccio 153 Thälmann - Führer seiner Klasse 120 Thälmann - Sohn seiner Klasse 120 The 39 Steps 91 The Amateur Club 74 The Amazing Grace 193, 194 The Artist 216 The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford 191 The Babadook 217 The Belle Starr Story 135 The Belly of an Architect 167 The Big Heat 116 The Big Lebowski 182 The Big Parade 66 The Big Swallow 27, 29 The Bigamist 113 The Birth of a Nation 48 The Black Pirate 67 The Blair Witch Project 181 The Bonfire of the Vanities 170 The Boss of It All 201 The Breakfast Club 169 The Bridge on the River Kwai 115 The Cat and the Canary 67 The Cat That Hated People 101 The Changeling 193 The Ciné goes to Town 53 The Club 162 The Commitments 176 The Conjuring 217 The Constant Gardener 196 The Conversation 149 The Cook, the Thief, His Wife & Her Lover 166 The Corbett-Fitzsimmons Fight 41 The Crowd 66 The Crying Game 176 The Dark Knight 191 The Defiant Ones 115 The Departed 217 The Devils 154 The Diary of an African Nun 146, 158 The Draughtman’s Contract 166 The Dreamers 193 The English Patient 176 The Fighter 217 The Fisher King 182 The Full Monty 176 The Game 180 <?page no="247"?> Filme und Personen 247 The General 67 The Godfather 149 The Graduate 139 The Great Train Robbery 35, 36 The Green Wave 209 The Hangover 190 The Haunted Hotel 36 The Hitch-Hiker 113 The Hobbit 215 The House of the Devil 192 The House that Jack Built 212 The Hunchback of Notre Dame 67 The Hunger Games 194 The Hurt Locker 191 The Jazz Singer 83, 91 The Kid 67 The Killing 114 The King of Kings 66 The Kitchen 146 The Kleptomaniac 36 The Lady from Shanghai 116 The Lady in the Lake 114 The Lady Vanishes 91 The Last of England 166 The Last of the Mohicans 179 The Left-Handed Gun 117 The Life Aquatic of Steve Zissou 192 The Lion King 182 The Living End 176 The Lodger 154 The Lonedale Operator 47 The Loneliness of the Long Distance Runner 135 The Long Goodbye 148 The Lost Weekend 111 The Machinist 193 The Magnificent Ambersons 102 The Magnificent Seven 121 The Maltese Falcon 83, 103 The Man Who Fell To Earth 154 The Man Who Knew Too Much 91 The Man Who Shot Liberty Valance 85, 138 The Mission 184 The Motion Picture Story Magazine 46 The Motorcycle Diaries 196 The Music Lovers 154 The Mysterious Lady 68 The Mystery of the Leaping Fish 67 The Naked Kiss 116 The Negro Soldier 104 The Omega Man 148 The Painted Lady 47 The Patsy 86 The Piano 179 The Player 179 The Pledge 119 The Polar Express 190 The Portrait of a Lady 179 The Prestige 192 The Public Enemy 86 The Revenant 216 The Road to Ruin 68 The Rock 179 The Royal Tenenbaums 192 The Searchers 114 The Shape of Water 216 The Shield 193 The Shining 149 The Singing Fool 87 The Sixth Sense 180 The Sopranos 193 The Sound of Music 116, 138 The Story of the Kelly Gang 41 The Sugarland Express 148 The Sun 215 The Ten Commandments 66, 115, 138 The Terminator 170 The Third Man 98, 102 The Tourist 197, 209 The Trip 139 The Truman Show 181 The Twilight Saga 190 The Twilight Zone 169 The Untouchables 170 The Usual Suspects 180 The Virgin Suicides 191 The Way We Live 100 The West Wing 193 The Wild Party 86 The Wind 68 The Wind That Shakes The Barley 201 The Wire 193 The Witch 217 The Wizard of Oz 85 <?page no="248"?> 248 Handbuch Filmgeschichte The Wolf of Wall Street 215, 217 The Wrestler 193 The Wrestlers 27 The X-Files 180 The Year of Living Dangerously 162 The Young Stranger 117 The Zero Theorem 218 Thelma & Louise 176 There’s Something About Mary 181 Thief 171, 217 Thieves Like Us 148 This Must Be The Place 212 THX 1138 149 Ti West 192 Timtschenko, Jossif 27 Titanic 97, 181 Titicut Follies 140 To Be A Woman 100 To Live and Die in L.A. 171 To, Johnnie 184 Toivon tuolla puolen 215 Tokyo Koshinkyoku 75 Tôkyô monogatari 121 Tomb Raider 218 Tommy 154 Tonari no Totoro 161 Toni Erdmann 208, 222 Topsy-Turvy 176 Touch of Evil 116 Tout va bien 153 Toy Story 182 Traffic Crossing Leeds Brigde 29 Train de Vie 202 Training Day 190 Trains & Automobiles 169 Trainspotting 176 Tressler, Georg 118 Trevorrow, Colin 218 Triumph des Willens 89, 90 Trois Couleurs 177 Tron Legacy 218 True Grit 191 True Lies 181 Truffaut, François 124, 132 Tschelowek s kinoapparatom 69 Tschick 208 Turner, Florance 38 Twelve Angry Men 117 Twentysomethings 181 Twin Peaks 170 Twins’ Tea Party 26 twist ending 187 Twister 179 Tykwer, Tom 183 U Übermut im Salzkammergut 119 Ugetsu monogatari 121 Uirijeok Gutu 57 Ulmer, Edgar G. 109 Ultimi giorni di Pompei 34, 35 Umberto D 124 Umut 156 Un Chien Andalou 73 Una lucertola con la pelle di donna 153 Underground 178 Underworld 67 Une vielle maîtresse 200 Unforgiven 180 Unverstanden 51 Uomini contro 153 Up 193 V Va, vis et deviens 202 Vadim, Roger 124 VALIE EXPORT 130 Van Peebles, Mario 180 van Peebles, Melvin 146 Van Sant, Gus 175 Vanity Fair 45 Varda, Agnès 133, 173 Varieté 63, 79, 87 Vénus aveugle 99 Verhoeven, Paul 169 Vernoux, Marion 177 Vertigo 116, 127 Vertov, Dziga 69 Vesyolye rebyata 92 Via Mala 98 Viaggio in Italia 124 Vicky Cristina Barcelona 191 <?page no="249"?> Filme und Personen 249 Victoria 208 Vidas Secas 141 Videodrome 170 Vier um die Frau 62 View from an Engine Front - Barnstaple 26 Vigo, Jean 91, 94 Villeneuve, Denis 218 Vinterberg, Thomas 176 Violent Cop 185 Viridiana 137 Visconti, Luchino 100 Visual Pleasure and Narrative Cinema 146 Vivement dimanche! 165 Vogeler, Volker 150 Volver 204 Von Caligari zu Hitler 64 von Garnier, Katja 183 von Harbou, Thea 62 von Praunheim, Rosa 151 von Trier, Lars 176 von Trotta, Margaretha 162 Vozvrashcheniye 203 Vzjat’ Simnevo Dvorca 69 W Wahlverwandtschaften 198 Wajda, Andrzej 125 Walkabout 154 Wall Street 168 WALL-E 193 Wanda 147 Wang Yus, Jimmy 155 War Games 170 Warnung vor einer heiligen Nutte 151 Warum läuft Herr R. Amok 151 Wasp 201 Water 185 Waterworld 181 We Are the Lambeth Boys 125 Weber, Lois 49 Wegener, Paul 51 Weir, Peter 162 Welcome Home, Brother Charles 146 Welcome II the Terrordome 184 Welcome to the Dollhouse 180 Welles, Orson 102 Welt am Draht 151 Wenders, Wim 132, 151 Werk ohne Autor 209 Werner 182 Wertmüller, Lina 135 Western 36, 117 Italo 213 Westfront 1918 88 What Price Glory? 67 When Harry Met Sally 169 Whiplash 216 Who Killed Captain Alex? 211 Who Killed Who? 101 Widerberg, Bo 136 Widows 214 Wildwechsel 151 Williams, Maria P. 68 Williamson, James 27, 29 Willkommen bei den Hartmanns 208 Winding Refn, Nicholas 217 Wing Commander 192 Wings 67 Wintermärchen 208 Winterschläfer 183 Wir können auch anders 182 Wir machen Musik 119 Wiseman, Frederick 140 Witness 162 Wittgenstein 166 Wnendt, David 208 Wolf, Konrad 121, 132 Wolke 9 197 Women in Love 136 Women’s Cinema as Counter Cinema 146 Wonder Woman 219 Woo, John 183 Wood, Ed 114 Wortmann, Sönke 182 Woyzeck 151 Wrinkle in Time 216 Wuthering Heights 214 X X-Men-Filme 191 <?page no="250"?> 250 Handbuch Filmgeschichte Y Y tu mamá también 196 Yella 198 Yige he bage 160 Yijiang chun shui Xiang Dong Liu 96 Yimou, Zhang 160 Ying hung boon sik 183 Yojimbo 134 Your Children Come Back To You 146 Youssef Chahine 123 Youth - La giovinezza 213 Z Zangiku monogatari 81 Zazie dans le métro 133 Zecca, Ferdinand 32 Zeiten ändern Dich 197 Zemeckis, Robert 169 Zerkalo 167 Zetterling, Mai 136 Zigomar 53 Zimmer, Hans 163 Zoolander 190 Zschoches, Herrmann 164 Zuckerbaby 163 Zumba 141 Zvyagintsevs, Andrey 203 Zwerin, Charlotte 140 Zwischen Gestern und Morgen 98 <?page no="251"?> Stichwörter #MeToo 195, 219 #OscarsSoWhite 207, 216, 219 1-10 180-Grad-Regel 48 30-Grad-Regel 48 35 Millimeter 18 3D 126, 190, 213, 215, 221 9-foot line 36 A absolutes Kino 78 actualities 20 afroamerikanische Figuren im Film 146 afroamerikanische Künstler 104 afroamerikanischer Film 104 Ägypten 42, 76, 123, 140 all-black casts 104 all-black musicals 104 American Mutoscope & Biograph (AM&B) 21 American Mutoscope Company 19 American Vitagraph 21 Anagnorisis 187 angry young men 125 Anime 185, 210, 213 années folles 72 Anschlussmontage 48 anthology drama 112 Apple TV 207 Araber-Kino 164 arabische Welt 209 Argentinien 196 Ästhetik 45 audiovisuelles Gesamtkunstwerk 33 Aufbruchsutopie 32 Aufklärungsfilm 62 Ausdifferenzierung 175 Australien 161 Auteur-Theorie 51, 142 Authentifizierungsstrategie 107 Autorenfilm deutscher 51 B back light 68 backlots 47 Belgien 200 benshi 74, 76, 81 Berliner Schule 198 bewegte Bilder 16 bidding war 220 big budget 82 big five 46, 84, 106, 112 big four 139 big six 189 big two 220 Biograph girl 38 Biophon 40 Bioscop 22 Black Maria 19 blacklisting 111 blaxploitation 145, 146, 147 block booking 106 Blockbuster 145, 190 Blu-Ray 138, 189 Bollywood 185 Bombay-Studios 75 Bosnien 178 Brasilien 96, 141, 185, 196 bro-cinema 190 broken Britain 215 Bundesrepublik Deutschland 117, 120, 129, 150, 162, 163 byeonsa 76 C Cahiers du cinéma 123, 124, 132, 164 Caligari 64 Camera Obscura 15 carello 55 carte blanche 82 <?page no="252"?> 252 Handbuch Filmgeschichte Celluloid Ceiling Report 218 CGI 178 chanchada 96 chase film 36 chiaroscuro-Stil 103 China 82, 96, 160 Chronofotografie 17 Cinema (Zeitschrift) 100 cinéma beur 164, 165 cinéma du corps 199, 200, 213 cinéma du look 164, 165, 177 cinema novo 141 cinema of attractions 28 cinema of urban crisis 157 cinéma pur 78 cinéma vérité 134, 140 Cineplex 187 Class 36 Columbia University 33 comedy 86, 112, 115, 149, 169, 181, 190 Comedy-Varieté-Show 112 comic relief 49 coming of age 135, 138, 196, 201, 202, 213 new 214 company girl 38 contemporary 192 continuity scripts 46 Continuity-Stil 35, 45, 47 coup d’etat 124 Covid-19 207 crazy families 211 credit 38, 51, 68, 76, 111, 153, 176 opening 46 Crossmedia-Marketing-Potenzial 192 cue sheet 86 culture clash 163 cut-ins 36, 48 D Daguerreotypien 16 Dänemark 35, 54, 176, 201 DDR 119, 120, 121, 131, 132, 152, 164, 208 deep focus 102 Demedialisierung 189 Deutscher Film 151, 162, 198 Deutschland 117, 119, 120, 129, 162, 163 1900er-Jahre 39 1910er-Jahre 50 1920er-Jahre 61 1930er-Jahre 87 1940er Jahre 96 1950er-Jahre 117 1960er-Jahre 129 1970er-Jahre 150 1980er-Jahre 162 1990er Jahre 182 2000er-Jahre 197 2010er-Jahre 207 früher Film 21 Digital Theater System 178 digitale Revolution 189 Digitalisierung 205 Dioramen 16 direct cinema 134, 140, 147 direct to video 172, 219 Disneyfication 189 Disneyland 112 Diversität 190 Dokumentarfilm 207, 213 Doppelbildprojektor 22 double features 84 Dreamworks 179 Drehbuchschreiberinnen 68 Drei-Farb-System 84 DTS 178 DVD 163 E écriture automatique 73 Edison’s Vitascope 19 Emergenz 28 Erneuerungsbewegungen 145 Erster Weltkrieg 32, 45, 50, 52, 54, 55, 56, 66, 71, 73, 105, 153 Europa 1900er-Jahre 31 1910er-Jahre 53 1920er-Jahre 68 1930er-Jahre 90 1940er-Jahre 98 1950er-Jahre 123 1960er-Jahre 132 <?page no="253"?> Stichwörter 253 1970er-Jahre 153 1980er-Jahre 164 1990er-Jahre 175 2000er-Jahre 199 2010er-Jahre 212 früher Film 22 Exotismus 72 expanded cinema 130 Exploitation-Film 157 Expressionismus 64 eyeline match 48 F family values 181 Fantasy 150, 181, 191, 196 femme fatale 103, 114 fiction film 20, 36 fill light 68 Film 78 als Kunst 58 Film d’Art 34, 71 Film noir 88, 91, 103, 104, 114, 116, 117, 134, 152, 176, 184 Filmfestival von Carthage 159 Filmmusik 86 Filmstar 35 Filmtheorie postmoderne 142 Filmtipp 1826-1900 29 1901-1910 44 1911-1920 59 1921-1930 79 1931-1940 94 1941-1950 109 1951-1960 127 1961-1970 144 1971-1980 158 1981-1990 173 1991-2000 188 2001-2010 206 2011-2020 222 Finnland 178 flashback 187 flavor 147 fly on the wall 140 Fotografie 16 found footage 190 Fox Film Corporation 46 Franchise 220 Frankreich 22, 31, 53, 71, 91, 98, 123, 132, 153, 177, 199 frat pack 182, 190 Frauen 22, 38, 47, 55, 62, 67, 68, 82, 86, 105, 129, 130, 134, 147, 152, 157, 160, 161, 162, 163 Bewegung 22, 130, 163, 165 Film 99, 114 Gewalt gegen 111 Männer in Frauenrollen 74 Vereine 22 free cinema 125, 129, 135 Regiesseure 135 G Gangsterfilm 86 Gehrockfilm 55 gendaigeki 75 Genre-Hybridisierung 172 Georgien 167 Ghana 96, 184 giallo 134, 213 globale Ausdifferenzierung 145 globales Kino 27 1900er-Jahre 41 1910er-Jahre 56 1920er-Jahre 74 1930er-Jahre 81 1940er-Jahre 95 1950er-Jahre 121 1960er-Jahre 140 1970er-Jahre 154 1980er-Jahre 159 1990er-Jahre 183 2000er-Jahre 193 2010er-Jahre 209 Globalisierung 159 golden age of television 112 second 168 third 192 goldenes Zeitalter 73 Goldwyn 46 <?page no="254"?> 254 Handbuch Filmgeschichte Goodyear TV Playhouse 112 Grand Café, Paris 23 Great Northern 35 grindhouse double feature 192 Großbritannien 26, 34, 90, 100, 125, 135, 154, 165, 176, 201 H handwerkliche Filmbetrieb 33 Hannoversche Tageblatt 40 happy ending 56 hardbody 179 hardboiled novels 103 Hard-boiled-Romane 103 Hegemonie der USA 45 Heimatfilm 118, 119, 151 neuer 150 High-School-Film 181 Historienfilm 55, 197 historische Epos 34 Hofbauer-Kommando 152 Hollywood-Spielfilm 58 Home-premiere-Konzept 219 Homosexualität 62, 100, 135, 136, 151, 165, 166, 175, 176, 185, 193, 200, 202 Horror 65, 67, 100, 104, 149, 154, 169, 170, 176, 181, 186, 189, 190, 192, 194, 199, 205, 212, 215, 217 Horrorfilm 86 Horses 17 host 112 Hunde-Filmstar 34 Hybrid-Genres 172 I Impressionismus 72 Independent 104, 113, 148, 169, 191 Independent Motion Picture Company (IMP) 37 Indien 27, 56, 75, 82, 122, 185 indigenization decree 155 Inserts 32, 43, 48 Integration vertikale 33 Iran 159, 209 Ismen 78 Italien 55, 99, 124, 134, 153, 167 It-Girl 67 J Japan 41, 56, 74, 81, 121, 154, 161, 185, 194, 210 jidaigeki 41, 75, 82, 121 Jugend-Filme 135 Jugendkultur 111 Junger Deutscher Film 131, 151 K Kamerafahrt 55 Kamerun 184 Kampfsportfilm 155 key light 68 Kinetograph 18 Kinetoskop 18, 27 Kino-Auge 69 kitchen sink cinema 135 Kodak 17 Kollektivgut 43 Kolonialismus 72 Komödie 23, 35, 51, 61, 67, 72, 75, 90, 91, 92, 99, 100, 123, 124, 130, 135, 141, 155, 163, 165, 166, 168, 170, 176, 177, 179, 181, 182, 183, 184, 190, 192, 196, 198, 201, 202, 203, 207, 208, 210, 215 Koproduktionen 151 Korea 42, 57, 76 Kraft Television Theater 112 Krise, erste 20 Kuleshov-Effekt 69 Kulturrevolution 160 Kunstfilm 34 Künstlerblut 40 künstlerische Strömung 61 künstlerischer Filmbetrieb 33 Kunstphilosophie des Films 107 L L.A. Rebellion 145 Langfilm 41 late sequels 190 Lateinamerika 195 Laterna Magica 16 <?page no="255"?> Stichwörter 255 Latham Loop 19 letteratura gialla 134 Lichtspielhäuser 41 Lichttonverfahren 93 light 68 line-up 219 little three 106 live broadcast drama 117 Liveformate 112 Lochstreifen 18 Louis-de-Funès-Komödien 124 low budget 104, 117, 138, 139, 149, 170, 192 Lumière-Brüder 32 lying flashback 114 M Machtmissbrauch 207 Maghreb 164 Manga 161, 213 Mary Jane’s Mishap 34 Massenmedium 175 master shots 34 Mayer 46 Melodram 53, 54, 56, 61, 72, 75, 82, 90, 91, 96, 99, 100, 103, 114, 116, 122, 123, 153, 184, 201, 217 mental turn 193 method acting 117 Metro 46 Metropolis 63 Mexiko 95, 196, 211 Mickey Mousing 86, 93 middle ground 163 Mindfuck-Film 180 Mindfuck-Kino 175 Mindfuck-Trend 217 mindgame 180, 189, 202 Miramax 180 mise en scène 32, 53, 54, 64, 134, 152, 166, 191, 196, 210, 216 Moderne 129 Montage 31, 35 morality tales 103 motion 190 Motion Picture Patent Company (MPPC) 37, 45 movie brats 148, 149, 218 MTV 170 Ästhetik 172 musical shorts 104 Musikvideos 172 N Nachkolorierung 32 Nachrichtenfilme 40 Nähmaschine 18 narratives Kino 157 National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) 48 Nationalkino 58 Negativ-Positiv-Verfahren 16 neo noir 148, 217 neoliberale Wende 159 Neorealismus 95 Netflix 207 neue Welle 129, 143 neuen Sachlichkeit 63 Neuer Deutscher Film 151, 162 new black cinema 145, 146, 147, 180 new french extremity 190, 199 New Hollywood 139, 147, 150 new nigerian cinema 193 New Nollywood 193 new queer cinema 175 Nickelodeon 38 Nigeria 42, 155, 184, 193 Nordic noir 202 Norwegen 202 nouvelle nouvelle vague 200 nouvelle vague 124, 143 NSDAP 88 NS-Film 117, 120 NSU-Morde 208 O on demand 219 on location 46, 100, 107, 151, 208 shooting 176 sound 176 one-room drama 117, 187 online release 189 Ordnungsutopie 32 <?page no="256"?> 256 Handbuch Filmgeschichte Österreich 178 Osteuropa 27 overlapping 148 P Parallelmontage 48 Paramount 46 Paramount-Urteil 106 Pathé Frères 25 people of color 145 performance capturing 190 Peru 196 phantom ride 26 Phenakistiskop 17 Philco TV Playhouse 112 Phonographen 16 picture palaces 66 Playhouse 90 112 Pleographen 27 plot 36, 53, 63, 64, 70, 150, 152, 184, 187, 196 device 49, 176 twist 187 point of view 48 shot 31, 49, 114 Point-of-View-Strukturen 147 points of view 116 Polar-Genre 164 Polen 125 Praxinoskop 17 Primat des Stils 159 Prime Video 207 Prison-break-Film 170 Privilegiertenförderung 207 Problemata Physica 15 production stills 66 production values 54, 193, 219 Propaganda 93 props 176 ProQuote Film 209 public schools 135 Q queer cinema 166 R rape culture 214 rapid edits 154 Rashômon-Effekt 126 Rassismus 48, 217 Rauschlied 40 Reaffirmation 111 Realität 28 Realitätsnähe 32 reboot 190, 207, 221 Regisseurin (erste der Geschichte) 24 reines Kino 78 Reinstatierung 111 Reisefilme 25 remakes 190, 207 rensageki-Genre 42 retro 192 revisionist western 117 roaring twenties 66, 72 Robert Montgomery Presents 112 Rollenbilder 111 roman poruno 154 romantic comedy 86, 169 Roundhay Garden Scene 23 Rumänien 202 Russland 55, 202 S scenics 20, 36 Schlagerfilm 119 Schlagerparade 119 Schnellseher 21 Schnitt überlappend 43 schwarze Liste 95 Schweden 54, 73, 136, 202 science fiction 31, 70, 150, 151, 167, 169, 182, 217, 218 screwball comedy 86 script girl 130 Segregation 78 Seitenverhältnis 20 Senegal 194 Serienfilm 53 sets 176 sex & crime 138 Sexfilme 154 Sexualität 62 <?page no="257"?> Stichwörter 257 sexy flapper 85 shorts 104 shot point of view 49 shots 25, 31, 36, 48 establishing 47 master 48 point of views 51 reverse 48 Shrek 189 Sittenfilm 62 Skladanowsky-Streit 21 Slapstick 49, 67, 148, 155 Slumming 53 smart cinema 192 Soap-Opera 112 Softpornos 154 Songscoring 139 sound design 205 Sowjetunion 68, 70, 92, 119, 120, 138, 152, 167 Sozialkritik 111 Spanien 137, 168 special effect 187 screening 48 Spielshow 112 Spin-off-Serie 170 staatliche Kontrolle 81 Stadtfilme 75 Stadtmontagefilme 64 Starsystem 51 Start-Stop-Technik 18 Steinheil-Verfahren 16 Stephen-King-Adaptionen 149 Stil 159 stilistische Findungsphase 31 Stopmotion 55 story conferences 46 Story of Film 47 Streaming 219 Studio One 112 Studiosystem 61 Südkorea 140, 195, 211 Surrealismus 73 swinging sixties 136 T tableaux vivants 34, 165 Tachyskop 21 talkies 85 Tapp- und Tastkino 130 Tatsachen-Bild 107 Tauwetter 126 Technicolor-Technik 84 Technik-Kino 187 technischen Entwicklungen 15 teenage sex comedy 190 telefoni bianchi 99 Tendenzfilme 75 the Method 117 The U.S. Steel Hour 112 three point lighting 67 time limit 184 Tokai Kôkyôgaku 75 Tonbilder 40 Tonfilm 81 topicals 20, 36 torture porn 190, 202, 205 totalitäre Regimes 81 Traffic Crossing Leeds Bridge 23 transmedia storytelling 221 triple features 84 true crime 88 Trümmer 95 Tschechoslowakei 137 Tunesien 159 Türkei 156 twist endings 187 U Übergänge 48 weiche 48 überlappender Schnitt 43 Ubiquität 207 Umbruch 129 United Artists 50 Universal 46 USA 1900er-Jahre 35 1910er-Jahre 45 1920er-Jahre 65 1930er-Jahre 83 <?page no="258"?> 258 Handbuch Filmgeschichte 1940er-Jahre 101 1950er-Jahre 111 1960er-Jahre 138 1970er-Jahre 145 1980er-Jahre 168 1990er-Jahre 178 2000er-Jahre 189 2010er Jahre 215 früher Film 18 Utopie Aufbruchs- 32 Ordnungs- 32 V Versehrtheit 189 VHS 163 Video film era 184 video on demand 207 Vitagraph girl 38 Vitascope 19 W Wahrheit 69 Wakaliwood 211 Walking Man 17 Walt Disney 105, 112 Warner Bros. 46 Weimarer Film 62 Weltkrieg 61, 200 Erster 32, 45, 50, 52, 54, 55, 56, 66, 71, 73, 105, 153 Zweiter 86, 95, 96, 97, 105, 112, 115, 118, 214 Weltwirtschaftskrise 84 Western 112, 117 Italo- 153 Westküste (USA) 38, 46 whodunit 101 widescreen 113 Wintergarten-Programm 22 women’s cinema 147 wu xia 155 Y Yuppies 168 Z Zeitalter der Neuordnung 61 Zeit-Bild 107 Zeitschrift deutscher Lichtbildtheater- Besitzer 50 Zelluloidfilm 17 Zentralperspektive 24 Zielgruppen 150 Zoetrope 17 Zweiter Weltkrieg 86, 95, 96, 97, 105, 112, 115, 118, 214 <?page no="259"?> Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Der gesellschaftliche, politische und technische Wandel spiegelt sich in der Filmgeschichte wider. Willem Strank demonstriert dies eindrucksvoll. Seit über einem Jahrhundert faszinieren Filme Menschen rund um den Erdball. Willem Strank geht diesem Phänomen auf den Grund. Er skizziert die Filmgeschichte in 13 Kapiteln, die jeweils eine Dekade beleuchten. Pro Kapitel legt er das Hauptaugenmerk auf filmgeschichtliche Besonderheiten aus den USA, Europa und Deutschland. Auch auf globale Phänomene geht er ein, etwa aus Asien, Südamerika oder Afrika. Wichtige filmwissenschaftliche Begriffe aus den Dekaden erklärt er am Kapitelende. Dort finden sich auch Tipps zu sehenswerten Filmen aus der Zeit. Dieses Handbuch ist ein fundierter und zugleich faszinierender Einstieg in die Filmgeschichte und bietet zudem denjenigen, die bereits Vorkenntnisse haben, die Möglichkeit zur gezielten Vertiefung. Über 100 Jahre Filmgeschichte Film- und Theaterwissenschaft Medien- und Kommunikationswissenschaft ,! 7ID8C5-cfgjjj! ISBN 978-3-8252-5699-9